Das literarische Kunstwerk: Mit einem Anhang: Von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel [4th unrev. Edition] 9783110938487, 9783484100374


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German Pages 454 [456] Year 1972

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Table of contents :
Vorwort
Vorrede zur zweiten Auflage
Vorrede zur dritten Auflage
I. Abschnitt. Vorfragen
§ 1. Einleitung
1. Kapitel. Ausgangsprobleme
2. Kapitel. Ausscheidung der nicht zum Aufbau des literarischen Werkes gehörenden Elemente
II. Abschnitt. Der Aufbau des literarischen Werkes
3. Kapitel. Die Grundstruktur des literarischen Werkes
4. Kapitel. Die Schicht der sprachlichen Lautgebilde
5. Kapitel. Die Schicht der Bedeutungseinheiten
6. Kapitel. Die Rolle der Schicht der Bedeutungseinheiten im literarischen Werk. Die Darstellungsfunktion der rein intentionalen Satzkorrelate
7. Kapitel. Die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten
8. Kapitel. Die Schicht der schematisierten Ansichten
9. Kapitel. Die Rolle der Schicht der schematisierten Ansichten im literarischen Werke
10. Kapitel. Die Rolle der dargestellten Gegenständlichkeiten im literarischen Kunstwerk und die sogenannte „Idee“ des Werkes
11. Kapitel. Die Ordnung der Aufeinanderfolge im literarischen Werke
III. Abschnitt. Ergänzungen und Konsequenzen
12. Kapitel. Betrachtung der Grenzfälle
13. Kapitel. Das „Leben“ des literarischen Werkes
14. Kapitel. Die ontische Stelle des literarischen Werkes
15. Kapitel. Abschließende Betrachtung des literarischen Kunstwerkes
Anhang
Von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel
Philosophische Schriften Roman Ingardens in fremden Sprachen
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Das literarische Kunstwerk: Mit einem Anhang: Von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel [4th unrev. Edition]
 9783110938487, 9783484100374

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ROMAN INGARDEN DAS LITERARISCHE KUNSTWERK

ROMAN I N G A R D E N

DAS L I T E R A R I S C H E KUNSTWERK M I T E I N E M ANHANG VON D E N F U N K T I O N E N D E R SPRACHE IM T H E A T E R S C H A U S P I E L

Vierte, unveränderte Auflage

MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 1972

1. Auflage 1931 2. Auflage 1960 3. Auflage 1965

© Max Nieraeyer Verlag Tübingen 1972 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Druck der Omnitypie- Gesellschaft Nachf. Leopold Zechnallin Stuttgart Einband von Heinr. Koch, Tübingen

N U N A ZU E I G E N

INHALT Vorwort Vorrede zur zweiten Auflage Vorrede zur dritten Auflage

XI XVII XIX

I. Abschnitt. Vortragen. § I. Einleitung . . . 1. K a p i t e l . A u e g a n g s p r o b l e m e § 2. Vorläufige Begrenzung dee Bereiches der Beispiele § 3. Das Problem der Seinsweise des literarischen Werkes § 4. Die psychologistischen Auffassungen und das Problem der Identität dee literarischen Werkes § 5. Das literarisohe Werk als ein,,Vorstellungsgegenstand" 2. K a p i t e l . A u s s c h e i d u n g der n i c h t zum A u f b a u des l i t e r a r i s c h e n Werkes gehörenden Elemente § β. Engere Begrenzung des Themas § 7. Was gehört nicht zu dem literarischen Werke Τ II. Abschnitt. Der Aulbau des literarischen Werkes. 3. K a p i t e l . Die G r u n d s t r u k t u r des l i t e r a r i s c h e n W e r k e s . . . . § 8. Das literarische Werk als ein mehrschichtiges Gebilde 4. K a p i t e l . Die S c h i c h t der s p r a c h l i c h e n L a u t g e b i l d e § 9. Das einzelne Wort und der Wortlaut § 10. Verschiedene Typen von Wortlauten und ihre Funktionen . . . . §11. Sprachlautliche Gebilde höherer Stufe und ihre Charaktere . . . § 12. Der Umkreis der sprachlautlichen Gebilde, die zu dem literarischen Werke gehören $ 13. Die Rolle der sprachlautlichen Schicht im Aufbau des literarischen Werkes · .' 6. K a p i t e l . Die S c h i c h t der B e d e u t u n g s e i n h e i t e n § 14. Vorbemerkung § 15. Die Elemente der Wortbedeutung a) Die Bedeutung der Namen b) Der Unterschied zwischen Namen und funktionierenden Wörtern c) Die Bedeutung des Verbum finitum § 16. Aktueller und potentieller Bestand der Wortbedeutung § 17. Die Wortbedeutungen als Elemente des Satzes und ihre damit zusammenhängenden Verwandlungen § 18. Wortbedeutungen, Sätze und Satzzusammenhänge als Produkte subjektiver Operationen § 19. Allgemeine Charakteristik des Satzes § 20. Der rein intentionale Gegenstand eines schlichten Meinungsaktes §21. Die abgeleitet rein intentionalen Korrelate der Bedeutungseinheiten § 22. Das rein intentionale Korrelat des Satzes

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VII

§ 23. Zusammenhänge von Sätzen. Die sich darin konstituierenden höheren Sinneinheiten § 24. Die rein intentionalen Korrelate der in zusammenhängenden Sätzen sich konstituierenden höheren Sinneinheiten § 25. Der quasi-urteilsmäßige Charakter der in einem literarischen Werk auftretenden Aussagesätze § 25a. Gibt es keine Quasi-Urteile im literarischen Kunstwerk Î . . . . § 26. Eine analoge Modifikation aller im literarischen Werk auftretenden Sätze β. K a p i t e l . Die Bolle der Schicht der B e d e u t u n g s e i n h e i t e n im l i t e r a r i s c h e n Werk. Die D a r s t e l l u n g s f u n k t i o n der rein intentionalen Satzkorrelate . . § 27. Die Unterscheidung der verschiedenen Funktionen der Sätze und Satzzusammenhänge § 28. Die Entwerfungsfunktion der Sätze, Sachverhalte und ihr Verhältnis zu den dargestellten Gegenständlichkeiten § 29. Die Darstellungs- und die Zurschaustellungsfunktion der Sachverhalte . . . . § 30. Andere Weisen der Darstellung durch Sachverhalte § 31. Die Rolle der Bedeutungseinheiten als eines besonderen Materials im Aufbau des literarischen Werkes 7. K a p i t e l . Die Sohicht der d a r g e s t e l l t e n G e g e n s t ä n d l i c h k e i t e n § 32. Rekapitulation und Einleitung § 33. Der Realitätshabitus der dargestellten Gegenstände § 34. Der dargestellte Raum und der „Vorstellungsraum" .· § 35. Verschiedene Weisen der räumlichen Orientierung der dargestellten Gegenständlichkeiten § 36. Die dargestellte Zeit und die Zeitperspektiven § 37. Die Abbildungs- und die Repräsentationsfunktion der dargestellten Gegenstände § 38. Die Unbestimmtheitsstellen der dargestellten Gegenständlichkeiten 8. K a p i t e l . Die Schioht der s c h e m a t i s i e r t e n A n s i c h t e n §39. Einleitung § 40. Das wahrgenommene Ding und die konkreten wahrnehmungsmäßigen Ansichten § 41. Die schematisierten Ansichten § 42. Die schematisierten Ansiohten in literarischen Werken . . . . . § 43. Die „inneren Ansichten" der eigenen psychischen Geschehnisse und Charaktereigenschaften als Elemente des literarischen Werkes . . 9. K a p i t e l . Die Rolle der Schicht der s c h e m a t i s i e r t e n Ansiohten im l i t e r a r i s c h e n Werke § 44. Die Scheidimg der Grundfunktionen der schematisierten Ansichten im literarischen Werke § 45. Die Bestimmungsfunktion der Ansichten. Der Einfluß der Verschiedenheiten unter den Ansichten auf dên Gesamtcharakter des Werkes § 46. Dekorative und andere ästhetisch relevante Eigenschaften der Ansichten · 10. Kapitel. Die Rolle der d a r g e s t e l l t e n G e g e n s t ä n d l i c h k e i t e n im l i t e r a r i s c h e n K u n s t w e r k u n d die s o g e n a n n t e „ I d e e " des Werkes §47. Hat die gegenständliche Sohicht überhaupt eine Funktion im literarischen Kunstwerke Î

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§ 48. Metaphysische Qualitäten (Wesenheiten) § 49. Die metaphysischen Qualitäten im literarischen Kunstwerke . . . § 50. Ist die Offenbarung der metaphysischen Qualitäten wirklich eine Funktion der gegenständlichen Schicht ? § 61. Die Symbolisierungsfunktion der gegenständlichen Schicht . . . § 52. Das Problem der „Wahrheit" und der „Idee" eines literarischen Kunstwerkes § 53. Abschluß der Schichtenbetrachtung 11. K a p i t e l . Die Ordnung der A u f e i n a n d e r f o l g e im l i t e r a r i s c h e n Werke . . . § 54. Einleitung. Änderung oder Zerstörung des Werkes durch die Umstellung seiner Teile § 55. Der Sinn der Aufeinanderfolge der Teile eines literarischen Werkes ΠΙ. Abschnitt. Ergänzungen and Konsequenzen. 12. K a p i t e l . B e t r a c h t u n g der Grenzfälle §56. Einleitung §57. Das Theaterstück § 58. Das kinematographische Schauspiel §59. Die Pantomime §60. Das wissenschaftliche Werk. Der bloße Bericht 13. K a p i t e l . Das „ L e b e n " des l i t e r a r i s c h e n Werkes §61. Einleitung § 62. Die Konkretisationen des literarischen Werkes und die Erlebnisse seiner Erfassung § 63. Das literarische Werk und seine Konkretisationen § 64. Das „Leben" des literarischen Werkes in seinen Konkretisationen und seine Verwandlungen infolge der Wandlungen der letzteren 14. K a p i t e l . Die ontische Stelle des l i t e r a r i s c h e n Werkes . . . . §65. Einleitung § 66. Die intersubjektive Identität des Satzes und sein ontisohes Seinefundament § 67. Die Identität der spraohlautlichen Sohicht des literarischen Werkes 15. K a p i t e l . Abschließende B e t r a c h t u n g des l i t e r a r i s c h e n K u n s t werkes § 68. Das literarische Kunstwerk und seine polyphone Harmonie ästhetischer Wertqualitäten Anhang Von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel Philosophische Schriften Roman Ingardens in fremden Sprachen

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IX

Vorwort. Die Untersuchungen, die ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, haben die Grundstruktur und die Seinsweise des Uterarischen Werkes und insbesondere auch des literarischen Kunstwerks zu ihrem Hauptthema. Sie wollen vor allem seinen eigentümlichen Aufbau herausstellen und seine Auffassung von den verschiedenen Trübungen befreien, die sich in den bisherigen Betrachtungen einerseits aus den immer noch starken psychologistischen Tendenzen, andererseits aus den Rücksichten auf eine allgemeine Theorie der Kunst und der Kunstwerke ergaben. Mit den ersteren beschäftige ich mich ausführlicher in dem I. Abschnitte dieses Buches, so kann ich mich hier mit dem bloßen Hinweis begnügen. Was aber die letzteren betrifft, so hat man seit Lessings Zeiten zwischen zwei entgegengesetzten Auffassungen geschwankt. Entweder brachte man das literarische Werk, und insbesondere das literarische Kunstwerk, in eine zu enge Verwandtschaft zu den „Anschauungskünsten" (in erster Linie zur Malerei), oder man1 versuchte — dem ersten Impuls Lessings folgend — (wie z.B. Th. A. Meyer), das rein sprachliche Element des Uterarischen Werkes zu scharf zu betonen und damit die anschauUchen Elemente des literarischen Kunstwerkes zu leugnen. Diese beiden Extreme ergaben sich meines Erachtens daraus, daß man das literarische Werk immer für ein einschichtiges Gebilde hielt, während es tatsächlich aus mehreren heterogenen Schichten besteht, und daß man dabei immer nur einige und bei den verschiedenen Theorien jeweils andere Elemente des Werkes für das einzig Konstitutive betrachtete. Da meine Betrachtungen den mehrs c h i c h t i g e n A u f b a u und die damit zusammenhängende P o l y phonie als das Wesentliche für das Uterarische Werk herauszustellen suchen und damit alle in ihm vorhandenen Elemente berücksichtigen wollen, so nimmt mein Standpunkt eine MittelsteUung

1

Zur Geschichte dee Problems vgl. u.a. Jonas Cohn, Zeitschr. f. Ästhetik u.a. K. 1907, H.III; außerdem R. Lehmann, Deutsche Poetik, § 8.

XI

zwischen den beiden streitenden Parteien ein. Um eine unnötige Erweiterung meines ohnehin schon umfangreichen Buches zu vermeiden, wie auch, um bei dem Leser die reine Einstellung auf den Gegenstand der Untersuchung zu fördern, habe ich auf eine ausführliche Anknüpfung an die bestehenden Theorien verzichtet. Eine solche Anknüpfung hat ja gewöhnlich zur Folge, daß der Leser vor allem auf die schon bestehenden begrifflichen Schemata eingestellt ist, wodurch die reine Erschauung der wirklich vorliegenden Sachlagen wesentlich erschwert wird. Sosehr aber meine Untersuchungen das literarische Werk bzw. Kunstwerk zum Hauptthema haben, sind die letzten Motive, die mich zu der Bearbeitung dieses Themas bewogen haben, allgemein p h i l o s o p h i s c h e r Natur und gehen über dieses besondere Thema weit hinaus. Sie stehen mit dem Problem Idealismus-Realismus, das mich seit Jahren beschäftigt, im engen Zusammenhang. Wie ich in meinen „Bemerkungen zum Problem Idealismus-ßealismus" zu zeigen suchte1, birgt der Streit zwischen dem sog. „Realismus" und „Idealismus" verschiedene Gruppen von sehr verwickelten Problemen in sich, die geschieden und einzeln für sich herausgestellt und bearbeitet werden müssen, ehe man an das metaphysische Hauptproblem herantritt. Infolgedessen gibt es verschiedene Wege, auf denen man sich auf dieses Hauptproblem vorbereiten muß. Der eine hängt mit dem Versuch des sog. transzendentalen Idealismus E. Huseerls zusammen, die reale Welt und deren Elemente als rein intentionale Gegenständlichkeiten aufzufassen, die in den Tiefen des konstituierenden reinen Bewußtseins ihren Seins- und Bestimmungsgrund haben. Um zu dieser Theorie, die durch E. Husserl mit äußerster Feinheit und unter Herausstellung höchst wichtiger und schwer erfaßbarer Sachlagen ausgebildet wurde, Stellung nehmen zu können, ist es u.a. nötig, die Wesensstruktur und die Seinsweise des rein intentionalen Gegenstandes herauszustellen, um nachher nachzusehen, ob die realen Gegenständlichkeiten ihrem eigenen Wesen nach dieselbe Struktur und Seinsweise haben können. Zu diesem Zwecke suchte ich einen Gegenstand, dessen reine Intentionalität außer jedem Zweifel stünde und an welchem man die wesensmäßigen Strukturen und die Seinsweise des rein intentionalen Gegenstandes studieren könnte, ohne den Suggestionen zu unterliegen, die sich aus dem Hinblicken auf die realen Gegenständ1

XII

Vgl. Festschrift für E. Husserl, S. 169—190.

lichkeiten ergeben. Und da erschien mir das literarische Werk als ein besonders geeignetes Untersuchungsobjekt für diesen Zweck. Sobald ich mich aber mit ihm näher beschäftigte, eröffneten sich mir die spezifisch literaturwissenschaftlichen Probleme, deren Bearbeitung im Zusammenhang mit den eben angedeuteten Grundtendenzen das vorliegende Buch ergab. Da ich mich bei der Abfassung dieses Buches von so verschiedenen Motiven leiten ließ, so mußten verschiedene Sachlagen etwas genauer bearbeitet werden, als es für ein Buch unentbehrlich wäre, das sich lediglich mit den philosophischen Grundlagen einer Theorie des literarischen Werkes beschäftigte. Andererseits ergab gerade die Mannigfaltigkeit der Gebilde, die zu dem Aufbau des Uterarischen Werkes gehören, eine Reihe von Betrachtungen, die, für das besondere Problem unumgänglich, zugleich für verschiedene philosophische Diaziplinen von Wichtigkeit sind. So liefern die Untersuchungen des 5. Kapitels einen Beitrag zur Logik und ihrer Neuorientierung, die Betrachtungen über die Sachverhalte und die im literarischen Werke dargestellten Gegenständlichkeiten suchen einige formalontologische Probleme weiterzuführen, die Untersuchungen über die Seinsweise der dargestellten Gegenstände haben für die allgemeine existentiale Ontologie ihre Bedeutung. Um die Einheitlichkeit des Buches nicht zu gefährden, habe ich vermieden, die sehr wichtigen Folgen zu besprechen, die aus den entsprechenden Ergebnissen sowohl für das Problem „Idealismus-Realismus" wie für andere philosophische Probleme fließen. Das vorliegende Buch wurde in den Wintermonaten 1927/28 während eines Studienurlaubs niedergeschrieben. Die Vorbereitung anderer, nicht zu verschiebender Veröffentlichungen und meine sehr schwierigen Arbeitsbedingungen haben es verursacht, daß die letzte Vorbereitung des Textes zum Drucke noch volle zwei Jahre gedauert und das Erscheinen des Buches um diese Zeit verschoben hat. Dies hatte zur Folge, daß manche Ergebnisse, die ich in eigener Arbeit erworben habe, inzwischen in anderen Werken veröffentlicht wurden. Dies bezieht sich auf manche Ausführungen im 5. Kapitel dieses Buches und auf die „Formale und transzendentale Logik" Edmund Husserls. Die nahe Verwandtschaft einiger meiner Analysen mit den Ausführungen meines hochverehrten Lehrers hat mir bei der Lektüre seines neuen Werkes eine besondere Freude bereitet. Zugleich hat aber die Vergleichung der beiden Texte gezeigt, daß neben den Berührungspunkten auch weitgehende Unterschiede bestehen, und XIII

das vielleicht in den für mich wichtigsten Punkten. So war es mir unmöglich, einfach durch nachträgliche Einfügung einer Reihe von Zitaten von dem genannten Werke Notiz zu nehmen. Ich habe also den Text meines Buches ohne jede Änderung drucken lassen und will hier nur auf die Punkte hinweisen, wo die Verwandtschaften und Unterschiede liegen, in der Hoffnung, daß es mir möglich sein wird, eine besondere Veröffentlichung dem neuen, so bedeutungsvollen Werke meines hochverehrten Lehrers zu widmen. Meine Ausführungen stimmen mit den Husserlschen in der „Formalen und transzendentalen Logik" in der Ansicht überein, daß die Wortbedeutungen, Sätze und höheren Sinneinheiten Gebilde sind, die aus den subjektiven Bewußtseinsoperationen hervorgehen. Sie sind also keine idealen Gegenständlichkeiten in dem Sinne, wie sie Husserl selbst in seinen „Logischen Untersuchungen" bestimmt hat. Während aber Husserl den Terminus „ideal" an den meisten Stellen seiner „Logik" beibehält und nur manchmal in der Parenthese das Wort „irreal" hinzufügt, verzichte ich ganz auf diese Benennung und suche diese Gebilde den idealen Gegenständlichkeiten im strengen Sinne scharf gegenüberzustellen. Darin zeigt sich die erste sachliche Differenz: Husserl hält jetzt alle, ehemals für ideal — in dem alten Sinne — gehaltenen Gegenständlichkeiten für intentionale Gebilde besonderer Art und gelangt dadurch zu einer universalen Erweiterung des transzendentalen Idealismus, während ich auch heute die strenge Idealität verschiedener idealer Gegenständlichkeiten (der idealen Begriffe, idealen individuellen Gegenstände, Ideen und Wesenheiten) aufrechterhalte und sogar in den idealen Begriffen ein ontisches Fundament der Wortbedeutungen sehe, das ihnen ihre intersubjektive Identität und seinsheteronome Seinsweise ermöglicht. Zugleich entspringt bei Husserl die neue Auffassung der logischen Gebilde vor allem den p h ä n o m e n o l o gischen Untersuchungen und den allgemeinen transzendentalidealistischen Motiven, während meine Betrachtungen o n t o l o gisch orientiert sind und an den logischen Gebilden selbst eine Reihe von Tatbeständen zu zeigen suchen, die ihnen das Idealsein im strengen Sinne unmöglich machen und die zugleich auf ihren Seinsursprung aus den subjektiven Operationen zurückweisen. Und erst nachher suche ich einige zugehörige phänomenologische Skizzen zu geben. Dabei enthalte ich mich in meinem Buche eines jeden Urteils betreffs des transzendental-idealistischen Standpunkts und insbesondere der idealistischen Auffassung der realen Welt. Mein XIV

Buch enthält aber eine Reihe von Einzelergebnissen, die — wenn sie wahr sind — gegen diese Auffassung sprechen würden. Dies bezieht sich z.B. auf die eigentümliche Doppelstruktur der rein intentionalen Gegenständlichkeiten, auf die in ihren Gehalten auftretenden Unbestimmtheitsstellen und auf ihre Seinsheteronomie. Wae die Einzelheiten betrifft, die mit der angedeuteten Verwandtschaft mit der „Logik" Husserls zusammenhängen, so wird es wohl genügen, wenn ich hier von meinen Ausführungen die folgenden als entsprechenden Behauptungen Husserls verwandt hervorhebe: 1. die Auffassung der subjektiven satzbildenden Operation und die Unterscheidung zwischen dem reinen Aussagesatz und dem Urteil; 2. die Unterscheidung zwischen dem materialen und formalen Inhalt der nominalen Wortbedeutung und die Gegenüberstellung der vollen Bedeutung eines isolierten Wortes und der syntaktischen Momente, welche seine Bedeutung im Satze annimmt; 3. die Analyse der Konstituierung einer rein intentionalen Gegenständlichkeit in einer Mannigfaltigkeit von zusammenhängenden Sätzen. Endlich kommt es einige Male vor, daß, wo Husserl nur im Vorbeigehen eine Behauptung oder ein Problem andeutet, weil er sich in seinem Zusammenhange damit nicht näher beschäftigen kann, ich für meine Zwecke ausführliche Analysen gebe. Dies betrifft z.B. meine Betrachtung der Seinsweise der im literarischen Werke dargestellten Gegenständlichkeiten, während Husserl nur zweimal bemerkt, daß „auch die Fiktionen ihre Seinsart haben" (1. c. S. 149 u. 226). S. 230 seines Werkes wirft Husserl die „peinliche Frage" auf, „wie die Subjektivität in sich selbst rein aus Quellen ihrer Spontaneität Gebilde schaffen kann, die als ideale Objekte einer idealen 'Welt' gelten können. Und dann weiter (als eine Frage neuer Stufe), wie diese Idealitäten in der doch als real anzusprechenden Kulturwelt — als einer im raumzeitlichen Universum beschlossenen — zeit-räumlich gebundenes Dasein annehmen können, Dasein in der Form der historischen Zeitlichkeit, wie eben Theorien und Wissenschaften". Diese „peinlichen Fragen", insbesondere die zweite, bildeten für mich einst den Ausgangspunkt meiner Betrachtung des literarischen Werkes. Sie ergab das Resultat, daß derartige Gebilde aus dem Bereich der Idealitäten im strengen Sinne, aber auch aus der realen Welt auszuschließen sind. Ob es mir gelungen ist, dies zu begründen, möge der Leser auf Grund meines Buches selbst entscheiden. All diese Bemerkungen sollen dem Leser die Orientierung in den XV

Beziehungen erleichtern, die zwischen meinem Buche und der „Formalen und transzendentalen Logik" Husserls bestehen. Wenn ich dabei auf einige Differenzpunkte zu den Ansichten meines hochverehrten Lehrers hinweisen muß, so vergesse ich nicht, wieviel ich ihm schuldig bin. Heute nach 12 Jahren eigener Arbeit weiß ich besser als je, wie weit Edmund Husserl mit seinen tiefen Einsichten und mit der Beherrschung unübersehbarer Horizonte uns allen überlegen ist. Wenn es uns gelingt, etwas zu entdecken, was er im Vorbeigehen nicht bemerkt hat, so verdanken wir das vor allem den großen Erleichterungen, die Husserl uns mit seiner unermüdlichen Forscherarbeit geschaffen hat. Endlich möchte ich noch denen, die mir bei der Herstellung dieses Buches Hilfe leisteten, meinen besten und wärmsten Dank aussprechen: So haben mich vor allem die Herren Professoren Julius Kleiner und Zygmunt Lempicki durch wertvollen Rat und Kritik unterstützt. Einige Kapitel habe ich mit Herrn Dr. W. Auerbach (der mir zugleich bei der Durchsicht der Korrekturen behilflich war) und Frl. Dr. M. Kokoszyñska durchdiskutiert und bin ihnen für manche richtige Bemerkung Dank schuldig. Frl. Dr. Edith Stein hatte die Güte, die großen Mühen der sprachlichen Korrektur des Textes zu übernehmen, und hat mir dadurch einen wertvollen Freundschaftsdienst erwiesen. Einen besonderen Dank möchte ich Herrn Max Niemeyer aussprechen, der trotz der allgemeinen Krisis sich entschlossen hat, mein Buch in seinen Verlag zu übernehmen, und Sorge trug, ihm eine möglichst gute Ausstattung zu geben. Lemberg, im Oktober 1930

XVI

Der Verfasser

Vorrede zur zweiten Auflage. Es sind mehr als 30 Jahre dahin, seit ich dieses Buch schrieb. Vieles hat sich seit dieser Zeit in der Welt verändert. Wenn ich mich heute entschließe, dieses Buch aufs neue zu veröffentlichen, so bewegt mich dazu nicht nur der Umstand, daß es seit vielen Jahren vergriffen und auch in den Bibliotheken nur selten zu haben ist, sondern auch die Tatsache, daß es sich trotz gewaltiger Wandlungen in der kulturellen Atmosphäre noch immer am Leben erhält und sogar in den letzten Jahren mehr beachtet wird als bei seinem Erscheinen. Damals, im Jahre 1930, war es ein gewagtes Unternehmen, Ontologie des literarischen Kunstwerks zu treiben und sowohl rein strukturelle als existential-ontologische Probleme zu diskutieren und dabei das literarische Werk im Lichte des Idealismus-Realismus-Problems zu behandeln. Aber gerade in dieser Hinsicht hat sich die Sachlage in diesen 30 Jahren wesentlich geändert. Im Laufe dieser Zeit hat man von verschiedenen Seiten und von verschiedenen Gesichtspunkten aus diese oder analoge Probleme aufgegriffen und sie oft in einem mir sehr verwandten Geiste behandelt. Das Interesse für derartige Fragen hat sichtlich zugenommen, und zwar nicht bloß in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern. Ob dies unter dem Einfluß meines Buches oder ganz unabhängig von ihm geschah, spielt hier keine wesentliche Rolle. Es wurde auch das Bewußtsein dafür wach, daß die ontologischen Probleme, die das literarische Kunstwerk betreffen, keinesfalls bloß eine relativ isolierte Angelegenheit der Literaturwissenschaft sind, sondern daß sie mit verschiedenen grundwichtigen Fragen der Philosophie in engem Zusammenhang stehen — eine Problemstellung also, wie sie dieses Buch intendierte. So wird es heute nicht so vereinsamt in der wissenschaftlichen Welt dastehen wie zu Anfang seiner Existenz. Zugleich will es mir scheinen, daß die in ihm gegebenen Analysen und Ausblicke auf weiter sich ergebende Probleme noch gar nicht in befriedigendem Maße ausgenutzt sind oder durch die Erxvn

gebnisse, die in anderen Büchern und Abhandlungen enthalten sind, derart überholt sein sollten, um nicht auch heute noch ihre Bedeutung zu haben. Im Gegenteil glaube ich, daß es Ergebnisse bringt, die weiter führen als all das, was von anderen auf diesem Gebiet geleistet wurde. Ich hoffe auch, daß sich die Lage in den diesbezüglichen Forschungen für dieses Buch günstig gestaltet hat, und vielleicht werden die in ihm enthaltenen Betrachtungen heute für die Leser zugänglicher sein, als dies am Anfang der dreißiger Jahre sein konnte. So übergebe ich dieses Buch dem lesenden Publikum mit der Hoffnung, daß es sich weiterhin nützlich erweisen möge. Ich habe es auch im wesentlichen unverändert gelassen. Nur an einzelnen Stellen habe ich versucht, die bisherigen Formulierungen etwas genauer den Gegebenheiten anzupassen. Hie und da ergänzte ich eine Ausführung durch eine weitere Bemerkung. Ich bin mir voll bewußt, daß das Buch für Literaturforscher viel zugänglicher und plastischer wäre, hätte ich eine Reihe konkreter Analysen der einzelnen Kunstwerke gegeben. Aber schon bei der ersten Abfassung mußte ich darauf verzichten, weil das Buch sonst zu umfangreich geworden wäre. Außerdem scheute ich davor zurück, Kunstwerke zu analysieren, die in einer mir fremden Sprache geschrieben sind, weil dabei leicht falsche Deutungen entstehen können. So habe ich auch jetzt darauf verzichtet, einzelne Kunstwerke einer Analyse zu unterziehen. Dagegen habe ich an mehreren Stellen neue Literaturangaben eingefügt und fremde Ansichten zitiert, die mir eine Bestätigung meines Standpunktes in verschiedenen einzelnen Fragen zu sein schienen. Besonders wertvoll waren dabei für mich Bestätigungen von Autoren, die mein Buch sichtlich nicht kannten. An einigen Stellen habe ich auf Einwände geantwortet, die man mir im Laufe der Jahre gemacht hat. Leider wurde" die neuere Literatur nur partiell berücksichtigt, da nur ein kleiner Teil der entsprechenden Publikationen in meine Hände kommen konnte. Zum Schluß möchte ich noch meinem getreuen Verleger, Herrn Dr. Hermann Niemeyer, Tübingen, bestens danken, daß er gewillt war, mein Buch aufs neue zu verlegen. Krakau, 1959

XVIII

Der Verfasser

Vorrede zur dritten Auflage. Die neue Auflage dieses Buches erscheint in dem Moment, da sein ursprünglicher „Anhang", jetzt „Untersuchungen zur Ontologie der Kunst", bereits den deutschen Lesern zugänglich gemacht worden ist. Erst jetzt wird ersichtlich, daß die dem literarischen Kunstwerk gewidmeten Betrachtungen von vornherein nur einen Teil einer viel umfassenderen Problematik bildeten und in einer weiterreichenden theoretischen Absicht geführt wurden. Abgesehen von dem Zusammenhang mit dem Idealismus-Realismus-Problem, der nach der Veröffentlichung meines Buches „Der Streit um die Existenz der Welt" vielleicht deutlich zur Sicht kommt, wird es jetzt klar, daß ich von Anfang an durch eine gründliche Analyse der Struktur und der Seinsweise der Werke der einzelnen Künste eine konkretere Grundlage für die phänomenologische Ästhetik, als sie bis dahin vorlag, schaffen wollte. Damit ging die methodologische Forderung zusammen, daß die Literaturwissenschaft und die Kunstforschung überhaupt sich in ihren Analysen auf die Kunstwerke selbst konzentrieren soll1 und daß alle anderen sie betreffenden Probleme erst auf dieser Grundlage zu behandeln sind2. Freilich bilden die beiden genannten Bücher nur den Hauptteil meiner in polnischer Sprache erschienenen Schriften. Ich hoffe aber, dem deutschen Leserkreis wenigstens mein Buch „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes" und eine Sammlung meiner Vorträge im deutschen Text zur Verfügung zu stellen. Dann werden sich die Umrisse einer phänomenologisch behandelten Ästhetik, wie ich sie verstehe, abzuzeichnen beginnen. Ich hatte ursprünglich die Absicht, in der neuen Auflage auf einige Theorien, die in den letzten Jahren erschienen sind, kritisch 1 Dies nannte René Wellek später „die innerliterarische Methode der Literaturwissenschaft". ' Damals, im Jahre 1931, wurde ich — wenigstens bei uns in Polen — von allen Seiten dafür angegriffen. Ich würde mich freuen, wenn diese Forderung heute für eine Trivialität gehalten würde.

XIX

einzugehen. Da aber diese Auflage in photomechanischem Nachdruck erscheint, muß ich darauf verzichten und werde hier nur einige Bemerkungen zu der „Theorie der Literatur" von René Wellek und Austin Warren machen, und zwar bezüglich jener Stellen, an denen René Wellek ausdrücklich mein Buch erwähnt3. Es sind nur zwei Stellen (S. 169 und S. 175), wo mein Name im Text der „Theorie der Literatur" genannt wird4. An erster Stelle wird über meine Schichtenauffassung des literarischen Kunstwerkes referiert, indem im Grunde nur diese Schichten aufgezählt werden. Dabei wird aber behauptet, daß ich fünf Schichten unterschieden hätte, und zwar u.a. die Schicht der metaphysischen Qualitäten. Dies ist ein Irrtum. Ich habe freilich u.a. die metaphysischen Qualitäten betrachtet, sie aber nie für eine der Schichten des literarischen Werkes gehalten. Es wäre auch durchaus falsch, wenn ich es getan hätte. Sie gelangen an gewissen Geschehnissen und Lebenssituationen in der dargestellten Welt nur relativ selten zur Erscheinung. Bildeten sie eine Schicht des Werkes, so müßten sie zu der Grundstruktur des literarischen Kunstwerks gehören und als solche in allen derartigen Werken auftreten. Dies ist durchaus nicht der Fall, was Wellek übrigens auch notiert. Trotzdem ist ihre Rolle im Kunstwerk sehr bedeutend. Sie stehen mit dem ästhetischen Wert desselben im engsten Zusammenhang und wurden eben aus diesem Grunde von mir behandelt5. Sie können auch in Werken anderer Künste, wie vor allem in der Musik, aber auch in der Malerei, in der Architektur usw. zur Erscheinung gebracht werden und können dabei oft zu der „Idee" des Werkes, wie ich sie aufgefaßt habe, gehören. Ihr Vorhandensein ist somit gar nicht an das Literarische des Werkes gebunden. Wenn man sie für eine Schicht des literarischen Kunstwerks halten würde, würde man den „anatomischen"

* „Die Theorie der Literatur" ist zuerst in englischer Sprache im Jahre 1942 erschienen, in einer Zeit also, da Polen durch fremde Truppen besetzt war und wir für viele Jahre aus dem wissenschaftlichen Leben der Welt ausgeschlossen waren. Mein Buch war dabei in dieser Zeit fast vergriffen und in den USA kaum zu haben. Die deutsche Übersetzung der „Theorie der Literatur" erschien zwar im Jahre 1959, ich habe davon aber erst mehrere Jahre nach der Veröffentlichung der zweiten Auflage meines Buches erfahren. 4 In den Anmerkungen und in der Bibliographie wird der Titel meines Buches einige Male angegeben. Ein Leser, der mein Buch nicht kennt, kann daraus aber nicht ersehen, in welchem Maße sich das Buch René W e l l e k s an meine Ausführungen anlehnt. * Das ist schon ein Zeichen dafür, daß der sogleich zu besprechende Vorwurf W e l l e k s unbegründet ist.

XX

Zug und die strukturelle Rolle der Schichten im literarischen Kunstwerk und im Kunstwerk überhaupt übersehen. Meine Schichten-Auffassung wurde dabei von René Wellek unter dem mir fremden und mißverständlichen Aspekt der „Norm" und des „Normensystems" dargestellt*. Zudem bleibt die zweite strukturelle Eigenart des literarischen Kunstwerks —die Aufeinanderfolge der Teile — von Wellek ganz unberücksichtigt. Dies bedeutet eine wesentliche Verunstaltung sowohl des Auf baus des literarischen Werkes als auch meiner Auffassung. Die Nichtberücksichtigung der Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile des Werkes macht Wellek unmöglich, wichtige Probleme der literarischen K u n s t zu behandeln. S. 175 macht mir R. Wellek den folgenden Vorwurf: „Wir haben nicht die Frage der künstlerischen Werte berührt. Die obige Untersuchung sollte jedoch gezeigt haben, daß es außerhalb von Normen und Werten keine Strukturen gibt7. Wir können ein Kunstwerk ohne Bezugnahme aufWerte nicht verstehen und analysieren. Allein die Tatsache, daß ich eine bestimmte Struktur als .Kunstwerk' erkenne, enthält ein Werturteil. Der Irrtum der reinen Phänomenologen liegt in der Annahme, daß eine solche Trennimg ( !R. J. ) möglich ist, daß Werten Strukturen auferlegt sind, ihnen irgendwie, .anhaften'. Dieser Irrtum in der Analyse mindert leider den Wert des tiefschürfenden Buches von Ingarden, der das Kunstwerk ohne Bezug auf Werte zu analysieren sucht8. Die Wurzel des Übels liegt natürlich in der Vorstellung der Phänomenologen von einer ewigen, außerzeitlichen Ordnung der .Wesenheiten', denen die empirischen Individualisationen erst später ( ! R. J. ) hinzugefügt werden." Darauf ist zu antworten : 1. Es ist mir völlig unbekannt und auch persönlich ganz fremd, daß die „reinen Phänomenologen" die „Annahme" machen, daß „den Werten Strukturen auferlegt sind, ihnen irgendwie ,an• Ich werde mich damit anderenorts beschäftigen. ' Wenn sich diese Wendung auf den vorangehenden Teil des XII. Kapitels der „Theorie der Literatur" bezieht, so behandelt diese Untersuchung überhaupt nicht die Beziehung zwischen Normen, Werten und Strukturen. Sie referiert im Grunde m e i n e Betrachtungen über die Natur und die Seinsweise des literarischen Kunstwerks, ohne meinen Namen im Texte zu erwähnen. Erst S. 169 folgt ein Besumé meiner Schichtenauffassung. ' Diesen Spruch E. W e l l e k s haben andere Verfasser oft wiederholt, ohne nachgeprüft zu haben, wie es damit in Wirklichkeit steht. Deswegen komme ich hier darauf zurück.

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haften' ". Das Wort „Struktur" ist zwar bei R. Wellek so vieldeutig9, daß dieser Satz kaum verständlich ist. Was aber die Worte „Wert" und „Struktur" auch bedeuten sollen, das Zeitwort „auferlegen" suggeriert, daß das Zugrundeliegende der „Wert" und das sich darauf Aufbauende eben „Struktur" sein soll. Das wäre gerade das Umgekehrte dessen, was ich behaupten würde. Mit anderen Worten : Die Strukturen (und zwar nicht alle, sondern ganz besondere Strukturen) sind das Zugrundeliegende, Fundierende, und das Fundierte sind die Werte. 2. Max Scheler hat zwar von Werten als idealen Gegenständen bzw. Wesenheiten gesprochen, von ihnen aber die „Güter" unterschieden, die individuell und insbesondere real sind und deren Wertmomente ebenfalls individuell sind. Daß aber diesen „Wesenheiten" „die empirischen Individualisationen erst später hinzugef ü g t werden" sollten, das würde kein Phänomenologe behaupten. 3. Es ist zweierlei — was René Wellek nicht beachtet! —, ein einzelnes Kunstwerk, z.B. Goethes „Faust", zu analysieren und eine allgemeine philosophische Theorie des literarischen Kunstwerks aufzubauen. Im ersten Falle wäre es ein Fehler, ein bestimmtes individuelles Kunstwerk völlig „ohne Bezug" — wie R. Wellek sagt — auf seinen künstlerischen oder ästhetischen Wert zu betrachten, obwohl es auch da Phasen der Untersuchung geben muß, wo die wertneutralen Momente des Kunstwerks betrachtet werden, ohne daß man in diesem Augenblick auf den Wert desselben achtet. Im zweiten Falle dagegen, wo die Untersuchung auf Grund einer Analyse des Gehalts der allgemeinen Idee des Kunstwerks geführt wird, muß man zwar daran festhalten, daß Kunstwerke überhaupt künstlerisch bzw. ästhetisch wertvoll sind bzw. einen Wert in sich verkörpern sollen, dasjenige aber, was für einen b e s t i m m ten Wert ein Kunstwerk im gegebenen Falle hat und haben kann, muß hier aus dem Grunde außer Betracht gelassen werden, weil diese Besonderheit des Wertes im Gehalte der allgemeinen Idee des Kunstwerks überhaupt eine Veränderliche bildet. Nur die einzelnen Fälle dieser Veränderlichen können in den individuellen Kunstwerken auftreten. Es ist auch ganz unmöglich, anders zu verfahren. Und René Wellek — trotz des mir gemachten Vorwurfs — macht es ja selbst nicht anders. Er sagt ganz ausdrücklich — und zwar ganz in meinem Sinne und auch nach meinem Vorbild — • Ich werde es anderenorts aufzeigen.

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S.26ff. seines Buches: „Eine solche Auffassung von Literatur ist beschreibend, nicht wertend. Keinem großen und einflußreichen Werk wird irgendein Schaden dadurch entstehen, daß man es der Rhetorik, der Philosophie, der politischen Publizistik zuweist. Sie alle stellen wohl Probleme der ästhetischen Analyse, der Stilistik dar, doch fehlt ihnen eben die Haupteigenschaft der Literatur, nämlich der besondere Bezug zur Wirklichkeit, der .Schein'. Diese Auffassung wird daher denn auch alle Arten der Dichtung in sich begreifen, selbst den schlechtesten Roman, das unbrauchbarste Gedicht und das schlechteste Drama. Die Einordnung von Kunstwerken ist nicht identisch mit ihrer Bewertung." Das ist gerade ganz meine Meinung. Zu beachten ist auch, daß nach R. Wellek die Literatur von anderen Werken nicht ihr Wert, sondern — nach Welleks Ausspruch — ihr „besonderer Bezug zur Wirklichkeit" unterscheidet. Das ist wiederum ganz meine Meinung. In dieser vagen Formulierung ist es übrigens eine alte Geschichte. In Deutschland reicht sie mindestens bis auf Lessing zurück. So versuchte ich, in dieser Frage einen wesentlichen Schritt vorwärts zu gehen, indem ich jenen „Schein" etwas näher zu bestimmen suchte und zugleich auf die Quasi-Urteile hinwies, welche das Mittel bilden, jenen „Schein" hervorzubringen. 4. Endlich habe ich weder versucht noch gefordert, „das Kunstwerk ohne Bezug aufWerte zu analysieren". Bei mir heißt es wörtlich (S. 19): „Endlich lassen wir zunächst (!) alle die allgemeinen Fragen beiseite, die sich auf das Wesen des Wertes eines Kunstwerkes, und insbesondere eines literarischen Kunstwerkes, beziehen. Wir werden wohl finden, daß in dem letzteren Werte und Unwerte vorfindbar sind und zur Konstituierung eines eigentümlich qualifizierten Gesamtwertes . . . führen. Was aber das Wesen solcher Werte ausmacht, muß außerhalb unserer Betrachtung bleiben, weil die Beantwortung dieser Frage einerseits die Lösung des Problems des Wertes überhaupt, andererseits die Einsicht indie Struktur des literarischen Werkes voraussetzt. Aus demselben Grunde lassen wir bei der Betrachtung des literarischen Werkes völlig außer acht, ob es sich um positiv wertvolle oder um wertlose Werke handelt." Das heißt mit anderen Worten, daß ich sowohl die positiv wertvollen als auch die „wertlosen", d.h. die negativ wertigen Werke betrachten will. Das einzige, hier vielleicht mißverständliche Wort ist das Wort „wertlos". Da es aber im Gegensatz zu „positiv wertvoll" verwendet wurde, so sollte es eigentlich nicht XXIII

mißverstanden werden. Erst die Berücksichtigung aller, sowohl der positiv als der negativ wertigen Kunstwerke kann uns die Klärung bringen, warum manche Werke eben „wertvoll", und zwar ästhetisch bzw. künstlerisch wertvoll, sind und die anderen eben — wie René Wellek selbst sagt — „schlecht" sind. Und was habe ich in meinem Buche wirklich getan ? Das allgemeine Wesen des Wertes habe ich tatsächlich nicht untersucht. Dafür habe ich in jeder Schicht des literarischen Kunstwerks und auch in der Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile des Werkes die Stellen gesucht, wo Werte (genauer : künstlerische bzw. ästhetische Wertqualitäten) auftreten können. Ich habe auch auf mehrere solche Stellen hingewiesen. Ich suchte mir zugleich das Spezifische des künstlerischen bzw. ästhetischen Wertes des literarischen Kunstwerks zum Bewußtsein zu bringen und habe diesen Wert dahingehend charakterisiert, daß er in einer p o l y p h o n e n Harmonie der W e r t q u a l i t ä t e n besteht. Das mag natürlich falsch sein oder noch so sehr unbefriedigend. Es ist aber kein Anzeichen dafür, daß ich literarische Kunstwerke „ohne Bezug auf Werte" zu analysieren suchte. 5. Ich kann mich hier nicht mit dem Sinn und dem Geltungswert des vonR. Wellek als Begründung seiner Stellung ausgesprochenen Satzes beschäftigen: „Die obige Untersuchung sollte jedoch gezeigt haben, daß es außerhalb von Normen und Werten keine Strukturen gibt." Die Klärung des Sinnes dieses Satzes sowie die Erwägung seiner Gründe könnte nur in einer umfangreicheren Betrachtung durchgeführt werden, für die hier kein Platz ist. Ich werde es anderenorts tun. Krakau, im September 1965

Der Verfasser

I. A b s c h n i t t .

Vorfragen. § 1. Einleitung. Wir stehen vor einer merkwürdigen Tatsache. Täglich fast beschäftigen wir uns mit literarischen Werken1. Wir lesen sie, wir werden durch sie gerührt, sie entzücken oder mißfallen uns, wir bewerten sie, fällen über sie verschiedene Urteile, führen über sie Diskussionen, wir schreiben Abhandlungen über einzelne Werke, wir beschäftigen uns mit ihrer Geschichte, sie sind oft fast wie eine Atmosphäre, in welcher wir leben — es scheint somit, daß wir die Gegenstände dieser Beschäftigungen allseitig und erschöpfend kennen. Und doch, wenn uns jemand die Frage stellt, was das literarische Werk eigentlich sei, so müssen wir mit einer gewissen Verwunderung zugeben, daß wir keine rechte und befriedigende Antwort darauf finden. Unser Wissen über das Wesen des literarischen Werkes ist tatsächlich nicht nur sehr unzureichend, sondern vor allem sehr unklar und unsicher. Man könnte meinen, es sei nur bei uns Laien so, die wir mit den literarischen Werken nur verkehren, aber kein theoretisches Wissen über sie besitzen. Indessen ist dem nicht so. Wenden wir uns den Literarhistorikern oder den Kritikern, ja denen, die die Literaturwissenschaft betreiben, zu, so erhalten wir keine wesentlich besseren Antworten auf die aufgeworfene Frage. Die mannigfachen Urteile, mit denen man uns beschenkt, widersprechen einander oft und bilden im Grunde kein haltbares Ergebnis einer eigens auf das Weeen des literarischen Werkes gerichteten Untersuchung. Sie drücken eher die sog. „philosophischen" Überzeugungen des betreffenden Verfassers aus, d.h. gewöhnlich nichts 1 Wir verwenden den Ausdruck „literarisches Werk" zur Bezeichnung eines jeden Werkes der sog. „schönen Literatur" ohne Unterschied, ob es sich dabei um ein echtes Kunstwerk oder um ein wertloses Werk handelt. Nur dort, wo wir diejenigen Seiten des literarischen Werkes herauszuarbeiten suchen, die für das literarische Kunstwerk konstitutiv sind, verwenden wir diesen letzteren Ausdruck.

1 Ingaeden, Das literarische Kunstwerk

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anderes als gewisse unkritische, durch Erziehung und Gewöhnung befestigte Vorurteile, die aus einer bereits vergangenen Epoche stammen. In den literaturwissenechaftlichen Werken bedeutender Schriftsteller finden wir sogar gewöhnlich keine klar g e s t e l l t e Frage nach dem Wesen des literarischen Werkes überhaupt, als ob es sich um eine allen bekannte und ganz unwichtige Angelegenheit handelte1. Und wenn man auch hie und da diese Frage aufwirft, so ist sie von vornherein mit verschiedenen, sachlich damit nicht zusammenhängenden Problemen und Voraussetzungen verwickelt, die ihre sachgemäße Beantwortung unmöglich machen. Während aber die zentrale Frage nicht gestellt wird, beschäftigt man sich eifrig mit verschiedenen speziellen Problemen, die — so interessant sie an sich sind — sich nie restlos lösen lassen, wenn man über das Wesen des literarischen Werkes überhaupt im unklaren bleibt. Dieser zentralen Frage wollen wir die folgenden Untersuchungen widmen. Das Ziel, das wir uns hier setzen, ist im Grunde bescheiden. Wir wollen zunächst nur eine „Wesensanatomie" des literarischen Werkes geben, deren Hauptergebnisse erst den Weg zu seiner ästhetischen Betrachtung eröffnen sollen. Die speziellen ästhetischen und kunsttheoretischen Probleme, die heute von verschiedenen Seiten her behandelt werden, bleiben außerhalb unserer Betrachtung und müssen erst später unter Berücksichtigung unserer Ergebnisse in Angriff genommen werden. Aber schon ihre richtige Formulierung ist — unserer Meinung nach — von den hier vorgelegten Ergebnissen abhängig. Wir wollen natürlich die Bedeutung, die die Resultate anderer Forscher für die Entwicklung der Literaturwissenschaft haben, gar nicht herabsetzen, wenn wir auch zu anderen Grundbehauptungen gelangen. Es lassen sich eben manche Fragen nicht lösen, wenn man nicht den richtigen Weg einschlägt. Wir fordern nur eine von den bis jetzt noch vorherrschenden psychologischen und psychologistischen Tendenzen prinzipiell verschiedene Ausgangseinstellung dem literarischen Werke gegenüber, die dann von selbst zur Reinigung und Änderung der bisher vertretenen Ansichten führt. Solange man den Forschungsgegenständen gegenüber nicht die rein aufnehmende und auf das Wesen der Sache gerichtete Haltung des Phänomeno1 Dies bezieht sich natürlich auf die damals, im Jahre 1927, ab diese Worte geschrieben wurden, herrschende Sachlage. Seit dieser Zeit hat sich viel geändert.

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logen eingenommen hat, ist man immer geneigt, das für sie Spezifische zu übersehen und es auf etwas anderes, schon Bekanntes „zurückzuführen". Das ist auch bei Betrachtungen des Uterarischen Werkes der Fall. Sie sind fast durchwegs „psychologistisch" oder mindestens psychologisch gefärbt. Sogar in solchen Werken, die gerne mit dem Psychologismus brechen möchten — wie z.B. in dem interessanten Buch von D o h m („Die künstlerische Darstellung als Problem der Ästhetik") oder in der in polnischer Sprache erschienenen Arbeit Z y g m u n t Lempickis („Zum Problem der Begründung einer reinen Poetik"x) — ist die Tendenz einer Zurückführung des literarischen Werkes auf gewisse psychische Tatsachen und Zusammenhänge und seiner Auflösung in die letzteren noch immer sehr stark. Ja, vielen bedeutenden Forschern scheint es so selbstverständlich zu sein, daß das literarische Werk etwa« Psychisches sei, daß man in diesem Falle überhaupt nicht von einer Zurückführung auf etwa« anderes wird reden wollen. Demgegenüber glauben wir in dem literarischen Werke einen Gegenstand von ganz eigentümlichem Aufbau herausstellen zu können, der für uns auch aus den bereits in der Vorrede angedeuteten anderen Gründen interessant ist.

1. Kapitel. Ausgangsprobleme. § 2. Vorläufige Begrenzung des Bereiches der Beispiele. Wir wollen zunächst den Bereich der Gegenstände, die wir untersuchen wollen, durch die Auswahl einer Reihe von Beispielen vorläufig bestimmen. Wir tun es „vorläufig", d.h. wir sind im vorhinein immer bereit, eine Änderung an der zunächst auf diese Weise 1

„W sprawie uzasadnienia poetyki czystej", erschienen in der Festschrift für K. Twardowski, Lwów 1922. Einen wesentlichen Schritt zur Befreiung vom Psychologismus bilden manche Ausführungen Lempickis in seiner in der Zeitschrift für Philologie Bd.X erschienenen Rezension über 0. Walzeis „Gehalt und Gestalt". Der u. W. erste Versuch, das literarische Werk rein für sich zu betrachten, den W. Conrad in seiner Abhandlung „Der ästhetische Gegenstand" (Zeitschr. f. Ästhetik, Bd. ΠΙ—IV) unternommen hat, blieb leider ohne weitere Wirkung. Aber Conrad geht zu weit und sieht in dem literarischen Werke einen idealen Gegenstand, was — wie wir zeigen wollen — unhaltbar ist. 1

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gemachten Bestimmung des Gegenstandsbereiches vorzunehmen, falls der Verlauf der Untersuchung uns dazu zwingen sollte. Dadurch wird der Untersuchung eine Richtung gegeben, sie kann aber jederzeit modifiziert werden. Eine e n d g ü l t i g e Bestimmung des Bereiches der literarischen Werke setzt die Erfassung und die begriffliche Bestimmung des Wesens des literarischen Werkes überhaupt voraus. Sie wäre also erst nach Abschluß der Untersuchung möglich. Wollen wir nun die Beispiele unter der Richtschnur des vom täglichen Leben mitgebrachten und ungeklärten, vielleicht sogar falschen, Begriffes eines „literarischen Werkes" wählen, so können wir da Werke einer jeden nur möglichen „literarischen Gattung" aufzählen. Es gilt uns also vorläufig für ein literarisches Werk sowohl die Ilias Homers, wie Dantes Göttliche Komödie, irgendeines von Schillers Dramen, aber mit demselben Rechte auch irgendein Roman (z.B. Der Zauberberg von Thomas Mann) oder eine Novelle oder endlich ein lyrisches Gedicht. Wir wollen aber nicht nur Werke, die einen hohen literarischen oder kulturellen Wert haben, für literarische Werke halten. Das wäre durchaus verfehlt. Wir wissen ja momentan weder, was wertvolle Werke von den wertlosen unterscheidet, noch was es eigentlich bedeutet, daß ein bestimmtes Werk einen Wert und insbesondere einen literarischen Wert habe. Außerdem ist nicht einzusehen, warum es keine „schlechten", wertlosen literarischen Werke geben sollte. Zudem ist es gerade unsere Absicht, eine Grundstruktur herauszustellen, die allen literarischen Werken gemeinsam ist, ungeachtet dessen, welchen Wert sie haben. Wir müssen also zu Beispielen für unsere Untersuchung auch Werke und Werkchen wählen, die nach dem gemeinüblichen Urteil wertlos sind, z.B. irgendeinen Kriminalroman aus einer Zeitung oder ein banales Liebesgedicht eines jungen Schülers1. 1

Zu diesem methodologischen Vorschlag, wie überhaupt zu der Grundhaltung der in diesem Buche durchgeführten Untersuchungen schrieb R. Odebrecht in seiner „Ästhetik der Gegenwart" (19), S.25ff.: „Wir können wertend der ,Sache' zugewendet sein, ohne den Wert selbst zum Gegenstande zu haben (Husserl). Dazu gehört erst wieder eine eigene „vergegenständlichende" Wendung. Das wird von allen Phänomenologen übersehen, die aus übertriebener Angst vor dem Psychologismus das ästhetische Erlebnis ausschalten und sich mit dem neutralen Wert„Träger" beschäftigen, als „hafte" der Wert an dem Träger (wie es die RickertSchule annimmt) und könne von ihm nach Gutdünken entfernt werden. Von diesem grundsätzlichen Irrtum ist auch die Arbeit Roman I n g a r d e n s über das literarische Kunstwerk nicht frei. Die scharfsinnigen Untersuchungen über den mehrschichtigen Aufbau des literarischen Werkes, die Kennzeichnung von vier besonderen Schichten (sprachliche Lautgebilde, Bedeutungseinheiten, dargestellte Gegenständlichkeiten,

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An die eben genannten Beispiele reihen sich aber andere an, bei denen wir im Zweifel sein können, ob wir es in ihnen wirklich mit „literarischen Werken" zu tun haben, die wir aber aus unserem Augenmerk nicht verberen wollen. Es sind das z.B. alle „wissenschaftlichen Werke", die sich von den Werken der sog. „schönen Literatur", die wir da untersuchen wollen, deutlich unterscheiden, von denen man aber oft sprechen hört, sie hätten einen großen oder einen kleinen oder endlich überhaupt keinen „literarischen" Wert, schematisierte Ansichten) schweben, ästhetisch betrachtet, in der Luft. Man kann nicht das Werk einmal als schlicht vorstellbares und darauf als wertvolles betrachten, denn es handelt sich dann um zwei verschiedene „Gegenstände". Es gilt von vornherein bei einem Gegenstand, der als Kunstwerk gedacht ist, die doppelte intentio im Auge zu behalten." Dazu ist zu bemerken: Weder H u s s e r l (den ja O d e b r e c h t ausdrücklich erwähnt) noch ich haben die Möglichkeit und die Verschiedenheit der zwei Einstellungen gegenüber dem ästhetisch wertvollen Gegenstand übersehen. Ja, genauer besehen, handelt es sich da — wie ich es in meinem in polnischer Sprache im Jahre 1937 veröffentlichten Buche „Über das Erkennen des literarischen Werkes" gezeigt zu haben glaube — um m e h r e r e verschiedene, oft miteinander verflochtene Einstellungen dem literarischen Werke gegenüber. Und gewiß handelt es sich dabei nicht — wie O d e b r e c h t richtig sieht — bloß darum, daß man einmal das Werk o h n e den „an ihm haftenden" Wert, das zweite Mal mit diesem Werte erfaßt. Je nach der Einstellung kommt es zu einer völlig anders gebauten und sich in v i e l e n Zügen anders gestaltenden K o n k r e t i s a t i o n des betreffenden Werkes (worüber an dieser Stelle noch nicht gesprochen werden kann, vgl. unten Kapitel 13). Aber dies schließt nicht aus, daß man das Werk selbst — eben als den letzten Grund aller in ihm fußenden Potentialitäten der in ästhetischer und auch in außerästhetischer Einstellung sich konstituierenden Konkretisationen — rein erkenntnismäßig erfassen könnte, natürlich unter Berücksichtigung der verschiedenen Weisen, in denen es sich uns in den verschiedenen Phasen des ästhetischen Erlebnisses zeigt. In dem erwähnten Buche über das Erkennen des literarischen Werkes habe ich u.a. eine ausführliche Analyse des ästhetischen Erlebnisses gegeben. Ein kurzes Résumé davon habe ich am II. Internationalen Kongreß für Ästhetik und allg. Kunstwissenschaft in Paris, 1937, gegeben. Destò mehr: Diese rein erkenntnismäßige Erfassung des Werkes muß — schon im individuellen Fall — gefordert werden, soll es überhaupt zu einem Verständnis kommen, wie man auf der Grundlage des einen identischen Werkes zu seinen verschiedenen Konkretisationen gelangt. Um so mehr muß dies bei einer ganz allgemeinen Betrachtung des Wesens des literarischen Werkes (und auch Kunstwerkes) überhaupt gefordert werden, wie sie eben das vorliegende Buch zu realisieren sucht. Daß dies kein „Fehler" ist, wie Odebrecht meint, ergibt sioh schon daraus, daß das literarische Werk als sozusagen das identische Skelett in eine jede adäquat konstituierte Konkretisation eingeht, welche dieses Skelett nur mit verschiedenen Zügen und Einzelheiten — wie mit einem lebendigen Leib — umkleidet. Es ist auch sozusagen durch diese Umkleidung, welche u. a. ästhetisch wertvolle Qualitäten in sich birgt und den in ihnen gründenden ästhetischen Wert zur Schau trägt, sichtbar und auch aus ihr herausschälbar. Nur indem dieses Skelett in der Konkretisation enthalten und auch sichtbar ist, ist die Identität des Werkes in allen seinen Wandlungen während seines Lebens in der Geschichte aufweisbar gesichert.

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als ob sie überhaupt mit den Werken der „schönen" Literatur vergleichbar und letzten Endes desselben Wesens wären. Hierher gehören weiter alle Zeitungsartikel, ohne Unterschied, ob sie irgendein wichtiges Ereignis bzw. Problem behandeln oder nichts anderes als eine Polizeinotiz sind. Dann kommen alle Tagebücher, Autobiographien, Aufzeichnungen von Erinnerungen an gewesene Ereignisse usw. in Betracht. Einen anderen Typus von zweifelhaften Fällen bilden die kinematographischen Werke (Lustspiele, Dramen u.dgl.), alle Pantomimen, aber auch das im Theater aufgeführte „Schauspiel". Wir wenden uns jetzt der ersten Reihe von Beispielen zu, um an ihnen die Grundstruktur des literarischen Werkes herauszustellen. Wir fangen mit der Erörterung mancher Ausgangsprobleme an, die sich später als Hauptprobleme erweisen werden. § 3. D a s P r o b l e m der S e i n s w e i s e des l i t e r a r i s c h e n Werkes. Die erste Schwierigkeit bietet uns die Frage, zu welchen Gegenständen wir ein literarisches Werk rechnen sollen: zu den realen oder zu den idealen ? Die Scheidung aller Gegenstände in ideale und reale scheint die allgemeinste und zugleich eine vollständige zu sein. Man könnte somit glauben, etwas Entscheidendes von dem literarischen Werke ausgesagt zu haben, wenn man das aufgeworfene Problem gelöst hat. Indessen ist es nicht so leicht zu lösen. Und zwar aus doppeltem Grunde. Vor allem, weil die Bestimmimg der idealen, wie auch der realen Gegenstände ihrem Seinsmodus nach bis heute trotz mancher bedeutender Versuche nicht endgültig durchgeführt ist. Andererseits ist es augenblicklich nicht klar, was ein literarisches Werk eigentlich ist. Sosehr wir uns da aber mit nicht genügend geklärten Begriffen der realen bzw. idealen Gegenständlichkeiten werden vorläufig begnügen müssen, werden uns die mißlingenden Versuche, das literarische Werk für eine ideale bzw. für eine reale Gegenständlichkeit zu halten, aufs empfindlichste zeigen, wie unklar und dürftig unser Wissen über das literarische Werk ist. Wir sprechen hier von realen und idealen Gegenständlichkeiten nur im Sinne eines Etwas, was in sich s e i n s a u t o n o m und dem jeweiligen auf es gerichteten Erkenntnisakte gegenüber seins-unab6

hängig ist 1 . Wäre aber jemand nicht geneigt, mit uns die Seinsautonomie der idealen Gegenstände2 anzunehmen, so müßte er die Scheidung zwischen ihnen und den realen Gegenständlichkeiten wenigstens im Hinblick darauf machen, daß die letzteren in irgendeinem Zeitpunkt entstehen, einige Zeit dauern, sich in ihr evtl. verändern und endlich aufhören zu existieren3, während sich von den idealen Gegenständen nicht dasselbe aussagen läßt. Mit der Zeitlosigkeit der idealen Gegenstände steht auch im Zusammenhang, daß sie sich nicht verändern können, wenn es auch bis jetzt nicht aufgeklärt ist, worin ihre Unveränderlichkeit gründet. Dagegen können die realen Gegenstände — wie eben festgestellt — sich zweifellos verändern, und sie tun es auch in der Tat, obwohl es wiederum fraglich sein mag, ob sie sich ihrem Wesen nach immer verändern müssen. Setzen wir dies voraus und fragen, ob ein ganz bestimmtes literarisches Werk, z.B. Goethes „Faust", ein realer oder ein idealer Gegenstand sei. Wir überzeugen uns gleich, daß wir in diesem „Entweder-Oder" keine Entscheidung zu treffen wissen. Denn f ü r jede von den sich gegenseitig ausschließenden Möglichkeiten scheinen wichtige Argumente zu sprechen: Goethes „Faust" ist in einer bestimmten Zeit entstanden. Wir können auch den Zeitabschnitt seiner Entstehung mit verhältnismäßig großer Genauigkeit angeben. Wir stimmen alle überein, daß er seit seiner Entstehungszeit existiert, wenn wir auch nicht recht verstehen, was die Bede von seiner Existenz eigentlich besagen soll. Vielleicht würden wir uns schon nicht mit derselben Sicherheit darauf einigen, daß dieses Goethesche Meisterwerk seit seiner Entstehungszeit diesen oder jenen Veränderungen unterliegt und daß es eine Zeit geben wird, in welcher es aufgehört haben wird zu existieren. Niemand wird aber bestreiten, daß es m ö g l i c h sei, ein literarisches Werk zu verändern, 1 Auch Frau Conrad-Martius betont die „Daseinsautonomie" idealer Gegenständlichkeiten ; sie scheint aber darunter nur die „Seinsunabhängigkeit" in unserem Sinne zu verstehen. Vgl. Realontologie, S.6: „Daß es eine ,Zahl Drei' in vollständig zeitloser Untangierbarkeit und somit absoluter Daseinsautonomie gibt, kann keinem Zweifel mehr unterliegen" (Jahrb. f. Philos., Bd.VI, S.164). 2 Der Kürze halber verwende ich hier den Ausdruck „idealer Gegenstand" in einem weiteren Sinne, als ich es in meinen „Essentialen Fragen" getan habe. Ich habe dort ideale Gegenstände, Ideen und ideale Wesenheiten unterschieden. Hier bezeichnet dieser Ausdruck alle drei Typen von Idealitäten. 3 Ich will hier nur von Dingen unserer direkten Erfahrung sprechen und die Möglichkeit eines ewigen realen Gegenstandes sowie die Frage, wie es mit seinem Verhältnis zur Zeit steht, unerörtert lassen.

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falls vom Verfasser selbst oder von den Herausgebern einer neuen Auflage z.B. diese oder jene Teile weggelassen und andere an ihre Stelle gesetzt werden. Trotz dieser Veränderungen kann ein literarisches Werk noch „dasselbe" bleiben, wenn die Veränderungen nur nicht zu weit gehen. Auf Grund der obigen Feststellungen inüßte man somit das literarische Werk für einen realen Gegenstand halten. Wer wird aber zugleich leugnen können, daß derselbe „Faust" ein idealer Gegenstand sei ? Denn was ist er eigentlich anderes als eine bestimmt geordnete Mannigfaltigkeit von Sätzen ? Em Satz ist aber nichts Reales ; er soll — wie man oft behauptet hat — ein bestimmter idealer Sinn sein, der sich in einer Mannigfaltigkeit von idealen Bedeutungen aufbaut, welche zusammen eine Einheit sui generis bilden. Wenn aber das literarische Werk ein idealer Gegenstand sein sollte, so wäre es unverständlich, wie es zu einer bestimmten Zeit entstehen und sich während seiner Existenz verändern könnte, wie es doch tatsächlich ist1. In dieser Hinsicht unterscheidet es sich jedenfalls radikal von solchen idealen Gegenständlichkeiten, wie z.B. von einem bestimmten geometrischen Dreieck oder der Zahl Fünf oder der Idee eines Parallelogramms oder endlich der Wesenheit „Röte". So scheinen die beiden entgegengesetzten Lösungen des Problems undurchführbar zu sein. Vielleicht aber kommen wir zu diesem Ergebnis nur deswegen, weil wir fälschlich und ohne es zu wissen manches für einen Teil bzw. für eine Eigenschaft des literarischen Werkes halten, was ihm tatsächlich fremd ist ? Ließe sich da eine Korrektur durchführen, so könnte man vielleicht zu einer Entscheidung kommen. Und da die zeitliche Entstehung des literarischen Werkes außer jedem Zweifel zu sein scheint, so liegt der Gedanke nahe, die Annahme, nach welcher die idealen Sätze einen Bestandteil des literarischen Werkes bilden, fallenzulassen und das literarische Werk einfach für einen realen Gegenstand zu halten. Eine genauere Erwägung zeigt indessen, daß man dadurch zu neuen Schwierigkeiten gelangt, insbesondere, wenn man zugleich mit den Psychologisten die Existenz 1 W. Conrad, der das literarische Werk für einen i d e a l e n Gegenstand hält, bringt sich diese Schwierigkeit überhaupt nicht zum Bewußtsein. Vgl. „Der ästhetische Gegenstand", Zeitschrift für Ästhetik, Bd. III und IV. Auch Frau Conrad? M a r t i u s scheint wenigstens manche literarische Werke (oder bloß literarische Gestalten) für ideale Gegenständlichkeiten zu halten. Vgl. I.e. S. 163. Dagegen könnte man an die bekannte Unterscheidung von de Saussure zwischen „langue" und „parole" denken, wenn der Begriff der „langue" scharf genug gefaßt worden wäre.

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dor idealen Begriffe leugnet1 und damit zugibt, daß die letzteren auch bei der Erfassung eines literarischen Werkes durch den Leser nicht zur Hilfe genommen werden können. Führen wir das näher aus.

§ 4. Die p s y c h o l o g i s t i s c h e n A u f f a s s u n g e n und das Problem der I d e n t i t ä t des literarischen Werkes. Was bleibt unter den eben gemachten beiden Voraussetzungen von dem literarischen Werk übrig ? Wie es zunächst scheint, nichts anderes als eine Mannigfaltigkeit von geschriebenen (gedruckten) Schriftzeichen (bzw. bei einem laut gelesenen Werke von „Wortlauten"); genauer besehen sogar nicht eine, sondern so viele Mannigfaltigkeiten, als es Exemplare des betreffenden Werkes gibt. Die Elemente und die Anordnung der einzelnen Mannigfaltigkeiten können dabei einander sehr ähnlich sein. Wenn aber nichts anderes als diese Ähnlichkeit die einzelnen Exemplare „eines und desselben" Werkes (z.B. eines Romans) miteinander vereinigte, so gäbe es keinen ausreichenden Grund, sie für „Exemplare" dieses einen Romans zu halten. Zudem dürfte man nicht von „einem und demselben" literarischen Werk (z.B. von dem „Zauberberg") reden, sondern man müßte so viele annehmen, als es „Exemplare" gibt. Man wird vielleicht diese Schwierigkeit überwinden wollen, indem man einwendet, diese Zeichen seien nur ein Mittel zur Mitteilung bzw. zur Erkenntnis des literarischen Kunstwerkes selbst; das letztere sei aber nichts anderes als das, was der Verfasser bei seiner Entstehung erlebt hat2.

1 Diese zweite Voraussetzung ist von der ersten unabhängig. Man könnte somit die Auffassung vertreten, daß es zwar ideale Sinneinheiten („Begriffe") gibt, daß sie aber keinen Bestandteil des literarischen Werkes bilden. Wir werden später diese Möglichkeit genau erwägen. 2 Die Auffassung, daß das literarische Werk mit den Erlebnissen seines Verfassers identisch sei, wurde in der Blütezeit des Psychologismus oft vertreten (vgl. z.B. R. M. Werner, „Lyrik und die Lyriker"). Wir finden sie aber auch in viel später erschienenen Abhandlungen vor. So lesen wir z.B. bei Pierre A u d i a t („La Biographie de l'œuvre littéraire, Esquisse d'une méthode critique", Paris 1925) : „L'œuvre est essentiellement un acte de la vie mentale, elle est une impulsion de tout notre passé vers un avenir incertain . . . " (S. 40). „Elle représente une période dans la vie de l'écrivain, période qu'on pourrait à la rigueur chronométrer." pour se réaliser, l'œuvre est obligée de durer et parce qu'elle diu«, nécessairement elle change" (S. 39). Auch in den polnischen literaturwissenschaftlichen Abhandlungen

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Wäre diese Auffassung richtig, so könnte man vor allem, unter den gemachten Voraussetzungen, nie mit einem literarischen Werk selbst u n m i t t e l b a r verkehren und es erkennen1. Kann überhaupt finden wir charakteristische Beispiele dieser Auffassung des literarischen Werkes. I n der Abhandlung „Zur Methode der ästhetischen Analyse der literarischen Werke" (Pamiçtnik Literacki, Lwów 1923) leugnet E. K u c h a r s k i , daß die Sprache das Material des literarischen Werkes bilde, und glaubt dieses Material nur in dem „lebendigen, ununterbrochen wirksamen und ewig beweglichen menschlichen Bewußtsein" und insbesondere in den „Vorstellungen" finden zu können. Das Werk führt dabei sozusagen sein zweites Dasein in den Erlebnissen der Leser, das eigentliche, ursprüngliche Werk liegt gewissermaßen im Bewußtsein des Autors und besteht aus seinen „Vorstellungen". „Der Inhalt der Dichtung ist also das, was im Dichter im Moment des Schaffens lebte und was in uns während der Perzeption des Werkes wieder aufleben soll" (der rekonstruierte „Inhalt"). „Zu dem Begriffe der Gestalt gehören also z. B. alle Vorstellungen, die Mickiewicz im gegebenen Moment des Dichtwerkes von den geschaffenen Gestalten hatte. " ( K u c h a r s k i spricht da von einer Dichtung, die Adam Mickiewicz verfaßt hat. Die „Gestalt" soll ein Element der künstlerischen Form bilden.) Auch der bedeutendste Stowacki-Forscher in Polen, J u l i u s K l e i n e r , spricht von dem „Werke in der Seele des Autors", dem er „das Werk in der Seele des Lesers" gegenüberstellt (vgl. „Analyee des Werkes", „Charakter und Gegenstand der literarischen Untersuchungen' ' [zuerst im Jahre 1913 erschienen] und „Inhalt und Form in der Dichtung", drei Abhandlungen, die in dem Sammelband „Studien zur Literatur und Philosophie" [polnisch] im Jahre 1925 erschienen sind). K l e i n e r e endgültige Bestimmung des literarischen Werkes als des Gegenstandes der Literaturforschung lautet freilich etwas anders und läßt neben verschiedenen interessanten Bemerkungen, die wir in seinen Betrachtungen finden, erkennen, daß K l e i n e r manche Schwierigkeiten, mit welchen die psychologistische Auffassung verbunden ist, durchschaute, sich aber doch von dem Psychologismus nicht zu befreien vermochte. Wir lesen bei ihm nämlich: „Das Ganze, mit welchem die Untersuchung rechnet, ist kein wirklich gegebener individueller Gegenstand, sondern das möglich reichste p s y c h i s c h e G a n z e , das der Gehalt des Textes bei irgendeinem entsprechend empfindlichen, perzipierenden Individuum hervorrufen kann." Dabei soll der „Gehalt des Textes" „alle in ihm enthaltenen p s y c h i s c h e n E l e m e n t e " , also sowohl den „Inhalt" wie die „Form", bedeuten (von mir übersetzt und gesperrt). Das auf diese Weise bestimmte Ganze sei ein I d e a l , das die Literaturwissenschaft erst herauszuarbeiten habe. Aber wenn sie überhaupt zu ihm greife, so liege der Grund davon nur darin, daß das „eigentliche" literarische Kunstwerk, das „in der Seele des Autors", der Forschung unmittelbar unzugänglich sei. Die Herausarbeitung dieses Ideals soll also dazu dienen, um sozusagen auf einem Umwege zu dem Werke in der Seele des Autors zu gelangen und es aufzuklären. So darf auch die Auffassung J. K l e i n e r s zu den psychologietischen gerechnet werden. 1 Das gibt übrigens auch J . K l e i n e r zu, wenn er auch seine Erwägungen nicht unter positivem Ausschluß der idealen Bedeutungen aus dem literarischen Werk durchführt. Aber der „Gehalt des Textes" bedeutet für ihn „alle in ihm enthaltenen psychischen Elemente" ; entweder also sind die Bedeutungen bei K l e i n e r als „psychische Elemente" aufgefaßt, oder sie gehören nicht zu dem Gehalte des Textes; wir müssen uns für das cratere entscheiden, da wir an einer anderen Stelle lesen: „Der Gehalt des Textes ist kein System der Bedeutungen allein, er ist ein System heterogener (mannigfacher) Beize" (1. c. S. 163).

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eine Mannigfaltigkeit von sinnlosen 1 Farben-Flecken (bzw. Lauten), mit denen wir es dann ausschließlich unmittelbar zu tun hätten, die Erfassung fremder Erlebnisse ermöglichen ? Niemand wird es zugeben. Man wird aber vielleicht entgegnen: Die Schriftzeichen sind zwar sinnlos in dem Sinne, daß die „ideale Bedeutung" eine wissenschaftliche Fiktion ist, sie sind aber keine bloßen Farbenflecke. Sie „verbinden" sich nämlich immer — dank der Gewohnheit oder einer Konvention — mit unseren entsprechenden Vorstellungen, in welchen wir das vorstellen, was die Schriftzeichen „bezeichnen", d.h. in unserem Falle die Erlebnisse des Autors. Dabei erleben wir noch andere „psychische Zustände", die durch diese Vorstellungen hervorgerufen werden. Indessen ändert diese ganze Argumentation nichts an unserer Behauptung. Denn alles, was uns dabei u n m i t t e l b a r zugänglich wäre, wären — abgesehen von den wahrgenommenen Schriftzeichen — nur unsere Vorstellungen, Gedanken und evtl. Gemütszustände. Und niemand würde die Identität der von uns während der Lektüre erlebten konkreten psychischen Inhalte mit den schon längst vergangenen Erlebnissen des Autors behaupten wollen. Entweder ist also das literarische Werk für uns nicht unmittelbar erfaßbar, oder es ist mit unseren Erlebnissen identisch. Wie dem auch sei, ist der Versuch, das literarische Werk mit einer Mannigfaltigkeit von psychischen Erlebnissen des Autors zu identifizieren, ganz absurd. Die Erlebnisse des Autors hören ja gerade in dem Momente auf zu existieren, in welchem das von ihm geschaffene Werk erst zu existieren anfängt2. Es gibt auch absolut kein Mittel, diese ihrem Wesen nach v e r g e h e n d e n Erlebnisse irgendwie so dauerhaft zu machen, daß sie selbst noch weiter dauern könnten, nachdem sie einmal durchlebt wurden. Abgesehen davon wäre es auch ganz unverständlich, warum wir z.B. gar nicht geneigt sind, zu dem Roman „Die polnischen Bauern" von Reymont die Erlebnisse des von dem letzteren evtl. während des Schreibens erlittenen 1

Denn sinnlos müßten sie sein, wenn ihre Bedeutung als nicht existierend betrachtet werden soll. 2 Mehrere Wochen nachdem ich diese Bemerkung in meinen Universitätsvorlesungen im Sommersemester 1927 gemacht hatte, fand ich eine gleichlautende Behauptung im II. Band der „Psychologie" von Wladyslaw Witwicki(in polnischer Sprache). Leider zieht W i t w i c k i in seinen weiteren Betrachtungen über das literarische Werk nicht die notwendigen Folgerungen daraus. Schon die Tatsache, daß er über das literarische Werk in einem Lehrbuch der Psychologie handelt, ist bezeichnend genug.

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Zahnwehs zu rechnen, dagegen es für durchaus berechtigt finden, es in bezug auf das Liebesverlangen der Jagusia Boryna zu tun, das der Autor gewiß nie selbst erlebt hat noch erleben konnte. Schließen wir aber die Erlebnisse des Autors aus dem von ihm geschaffenen Werke aus, so blieben unter den gemachten Voraussetzungen von dem Werke nur die individuellen Schriftzeichen auf dem Papier übrig, und wir müßten die echon angedeutete Konsequenz annehmen, daß es z.B. nicht eine einzige, sondern beliebig viele „Göttliche Komödien" von Dante gibt und daß ihre Anzahl je nach der Anzahl der gerade vorhandenen Exemplare variiert. Zudem müßten die meisten bis jetzt für wahr gehaltenen Urteile über literarische Werke ganz falsch, ja sinnlos sein, während andere, ganz widersinnige Sätze wahr sein müßten, z.B. daß die einzelnen literarischen Werke sich durch chemischen Gehalt unterscheiden oder der Wirkung des Sonnenlichtes unterliegen u. dgl. mehr. Aber auch diejenige Auffassung, nach welcher das literarische Werk nichts anderes ist als eine Mannigfaltigkeit der von den Lesern bei der Lektüre erlebten Erlebnisse, ist durchaus falsch, und ihre Konsequenzen sind absurd. Es gäbe dann z.B. sehr viele untereinander verschiedene „Hamlets". Und in welchem Maße sie untereinander verschieden sein müßten, das zeigt am besten die Tatsache, daß die Verschiedenheiten unter den Erlebnissen einzelner Leser nicht nur aus rein zufälligen, sondern aus tief liegenden Gründen — wie es z.B. das kulturelle Niveau, der Typus der Individualität des betreffenden Lesers, die allgemeine kulturelle Atmosphäre der Zeit, ihre religiösen Anschauungen, ihr System anerkannter Werte usw. sind — sehr weitgehend sein müssen. Jede neue Lesung bildete dann im Grunde ein ganz neues Werk1, falls sie überhaupt möglich wäre. Man müßte zudem wiederum verschiedene falsche Sätze für wahr halten. So könnte es dann z.B. keinen ein einheitliches Ganzes bildenden „Zauberberg" von Thomas Mann geben, da es noch keinen Menschen gab, der imstande wäre, diesen Roman auf einmal, ohne Unterbrechung zu lesen. Es blieben nur einzelne, miteinander nicht verbundene „Stücke" dieses Werkes, und es wäre schwer zu verstehen, warum sie Teile eines und desselben sein sollten. Andererseits müßten verschiedene Urteile, die sien auf einzelne literarische Kunstwerke beziehen, falsch oder widersinnig sein. Was sollte dann 1 Diese Konsequenz sieht auch J. K l e i n e r (vgl. I.e. S.151), und sie führt ihn u.a. zu seiner oben wiedergegebenen Bestimmung des literarischen Werkes.

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z.B. bedeuten, daß die Iliaa „in Hexametern" geschrieben ist? Können irgendwelche Erlebnisse oder psychische Zustände „in Hexametern geschrieben" sein oder die Form eines Sonetts haben ? Das sind lauter Widersinnigkeiten, die wir nur deshalb anführen, um zu zeigen, zu welchen Konsequenzen man kommen muß, wenn man mit der psychologistischen Auffassung des literarischen Kunstwerkes einmal wirklich Ernst machen und sich nicht mit vagen Allgemeinheiten begnügen will1. Es mag wohl fraglich sein, ob es überhaupt literarische Werke als etwas für sich Bestehendes gibt oder ob sie nur „bloße Fiktionen" in irgendwelchem Sinne sind, man darf aber nicht dem literarischen Werk verschiedene, ihm durchaus fremde Gegenständlichkeiten unterschieben, die wir nie im Auge haben, wenn wir von einzelnen literarischen Werken sprechen und Urteile über sie fällen, und auf welche angewendet die letzteren lauter Widersinnigkeiten ergeben. Wollen wir aber diese Widersinnigkeiten nicht mitmachen und an der Behauptung festhalten, daß ein jedes literarische Werk ein in sich identisches Etwas ist2, so müssen wir — wie es scheint — die Schicht der bedeutungsvollen Worte und Sätze für einen Bestandteil des literarischen Werkes halten. Sind aber die letzteren ideale Gegenständlichkeiten, dann kehrt das Problem der Seinsweise des literarischen Werkes in seiner ganzen Schärfe wieder. — Es eröffnet sich aber noch ein möglicher Ausweg aus dieser Situation, den wir auch aus dem Grunde nicht unbeachtet beiseite lassen dürfen, weil er als Einwand gegen die eben durchgeführte Argumentation gerichtet werden kann.

1 Richtig hat dies bereits Herder („Kalligone", Werke ΧΧΠ) gesehen: „Das Symbolische der Laute oder gar der Buchstaben bleibt in einer uns geläufigen Sprache außerhalb der Seele. Diese schafft und bildet sich aus Worten eine diesen ganz fremde, ihr selbst aber eigene Welt, Ideen, Bilder, wesenhafte Gestalten." — Man muß aber eine positive Theorie des Wesens und der Seinsweise der Bedeutungseinheiten bilden, um die Richtigkeit und Wichtigkeit dieses Herderschen Ausspruchs würdigen zu können. 2 Wenn wir hier auf die Identität des literarischen Werkes so Gewicht legen, so fühlen wir uns mit M. Scheler vollkommen einig, wenn er sagt: „Ein Werk geistiger Kultur kann gleichzeitig von beliebig vielen erfaßt und in seinem Werte gefühlt und genossen werden." Vgl. „Der Formalismus in der Ethik und materiale Wertethik", Jahrb. f. Philos., Bd.I, S.496.

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§5. Das literarische Werk als ein „Vorstellungsgegenstand". Der mögliche Einwand lautet: Die im vorigen Paragraphen dargestellten Schwierigkeiten ergeben sich allein aus einer falschen Interpretation der Ansicht, nach welcher das literarische Kunstwerk eine Mannigfaltigkeit des vom Autor während des Verfassens des Werkes Erlebten sei. Es handle sich hier nämlich gar nicht um die fließenden Erlebnisse selbst, d.h. um das Erleben von etwas, sondern lediglich um das, worauf sich diese subjektiven Erlebnisse beziehen, also um die Gegenstände der Gedanken und Vorstellungen des Autors. Diese Gegenstände — also gewisse Personen und Sachen, deren Schicksale im Werke geschildert werden — bilden das Wesentliche im Aufbau des Uterarischen Werkes. Sie seien dasjenige, was zwei Uterarische Werke radikal voneinander unterscheidet, ohne das kein solches Werk möglich wäre. Sie seien zugleich von den Schriftzeichen und Wortlauten, aber auch von den Sätzen selbst — wie diese auch aufgefaßt werden mögen — ganz verschieden. Andererseits seien sie nichts Ideales, sondern nur — wie man sagt — Gestaltungen der freien Phantasie, pure „VorsteUungsgegenstände" des Autors, welche von seiner Willkür durchaus abhängen und eo ipso von den sie schaffenden subjektiven Erlebnissen nicht zu trennen seien. Als solche müßten sie selbst für etwas Psychisches gehalten werden. Damit wäre zugleich verständüch, wie ein Uterarisches Werk in der Zeit entstehen und vergehen und diesen oder jenen Veränderungen — dem sie iubeo des Autors gehorchend — unterUegen könne. Die Einheit und Einzigkeit eines hterarischen Werkes der Mannigfaltigkeit der einzelnen „Exemplare" bzw. „Lesungen" gegenüber wäre dabei durch die Identität dieser „VorsteUungs-Gegenstände" verbürgt. Man brauche somit nicht zu der von verschiedenen Seiten bezweifelten Hypothese von der IdeaUtät der Satzbedeutungen zu greifen, um die Einzigkeit und Identität des Uterarischen Werkes zu sichern. Indessen ist auch diese Auffassung — wenigstens in der angedeuteten FormuUerung und unter den Voraussetzungen, die sie mit sich führt — unhaltbar. Sie übersieht vor aUem die Hauptschwierigkeit, die sich nach der Beseitigung der idealen Sinneinheiten aus dem Aufbau des Uterarischen Werkes und nach der Leugnung ihrer Existenz ergibt. Wohl ist es wahr, daß die im literarischen Kunstwerk dargestellten Gegenstände sein wichtiges und 14

unentbehrliches Element bilden. Sobald man sie aber zu „Vorstellungsgegenständen" (was übrigens noch sehr vieldeutig ist!) im Sinne von irgendwelchen K o m p o n e n t e n des psychischen Lebens des Autors macht, zugleich aber genötigt ist, sie doch aus diesem konkreten Leben irgendwie herauszulösen, entsteht das unter den gemachten Voraussetzungen unlösbare Problem, wie es möglich sei, zu jenen „Vorstellungsgegenständen" als identischen Entitäten vorzudringen und ihre Identität sicherzustellen. Es ist nicht so, als ob die dargestellten Gegenstände die Identität des literarischen Werkes begründeten, sondern umgekehrt müssen gerade diese Gegenstände selbst in ihrer Identität begründet werden. Unter den Voraussetzungen der wiedergegebenen Ansicht gibt es ja überhaupt nur zwei Grundbereiche von existierenden Gegenständen: die physischmateriellen Dinge und die psychischen Individuen mit ihren Erlebnissen und Zuständen. In keine dieser beiden Seinssphären können die im literarischen Kunstwerke dargestellten Gegenstände eingereiht werden : in die psychische Sphäre nicht, da sie — obwohl sie nur „Vorstellungs-", „Phantasiegegenstände" genannt werden — doch zugleich den subjektiven Erlebnissen gegenübergestellt und damit tatsächlich aus der psychischen Sphäre herausgestellt werden1. Diese Herausstellung wäre aber unentbehrlich, wenn sie als identische Einheiten die Identität des Werkes der Mannigfaltigkeit der individuellen psychischen Erlebnisse gegenüber begründen sollten. Und zu den physischen Gegenständen dürfte man sie auch nicht rechnen, da sie „bloße Vorstellungsgegenstände", im Grunde ein Nichts sein sollen. Zwar könnte man bei oberflächlicher Betrachtung versuchen zu behaupten, daß die dargestellten Gegenstände im Falle „historischer" Dramen, Romane u.dgl. mit den einst real existierenden Personen, Dingen und deren Schicksalen identisch seien. Aber beim genaueren Zusehen läßt sich weder diese Identität erweisen, noch diese Argumentation auf alle literarischen Werke anwenden. Denn es gibt viele Werke, welche völlig fiktive Gegenständlichkeiten zur Darstellung bringen und in keinem Sinne „historisch" sind. Gegen die angebliche Identität spricht aber am besten die Tatsache, daß man dargestellte Gegenständlichkeiten als solche (z.B. C. J. Caesar in dem shakespeareschen Drama) mit den ent1

Läßt mau sie aber in der Erlebnissphäre untersinken; dann müßte das literarische Werk mit einer Mannigfaltigkeit von Erlebnissen des Autors (bzw. der Leser) identisch sein, und man käme zu der schon besprochenen, unhaltbaren Situation zurück.

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sprechenden realen b e r e c h t i g t e r w e i s e vergleicht und sachliche Unterschiede zwischen ihnen herausstellt. Ist aber jede dargestellte Gegenständlichkeit (ob „historisch" oder nicht) von jeder realen radikal verschieden und ist sie in ihrem Sein und Sosein nur auf die zugehörigen Erlebnismannigfaltigkeiten des Autors angewiesen, so läßt sich — unter den gemachten Voraussetzungen — nicht nur sozusagen kein Ort finden, an dem sie eigenständig wäre, sondern zugleich bedarf ihre eigene Identität und Einzigkeit einer Begründung. Da sie in subjektiven Erlebnissen konzipiert und sozusagen von ihnen getragen wird, da es zu ihr — den gemachten Voraussetzungen nach — keinen anderen Zugang als durch subjektive Erlebnisse des Autors gibt, so müßte ihre Identität in diesen Erlebnissen allein ihren Grund haben. Die Erlebnisse sind aber individuelle, voneinander sachhaltig verschiedene Einheiten, und somit muß alles, was einen B e s t a n d t e i l eines jeden von ihnen bildet, bzw. in einem Erlebnis allein seinen Ursprung schöpft, ebenso individuell, wie das Erlebnis selbst, sein und sich von allem unterscheiden, was in anderen Erlebnissen seinen Ursprung hat oder eine K o m p o n e n t e der letzteren bildet. Dadurch wird aber nicht bloß unmöglich, daß der Leser die vom Autor konzipierte „Vorstellungsgegenständlichkeit" erfassen, sondern auch, daß der Autor sie als dieselbe mehrmals vorstellen könnte. Wie ließe sich dann — unter den gemachten Voraussetzungen — noch z.B. von einem und demselben C. J. Caesar als einer im shakespeareschen Drama dargestellten Persönlichkeit sprechen ? — So mißlingt auch dieser Versuch, die Einheit und die Identität des literarischen Werkes zu retten. Es bleibt somit, um aus der schwierigen Situation herauszukommen, nur der einzige Weg übrig, daß man die idealen Sinneinheiten in ihrer Existenz anerkennt und sie zwar dem literarischen Werk nicht einverleibt — um die früher dargelegte Schwierigkeit zu vermeiden —, sie aber doch zu Hilfe ruft, um die Identität und Einzigkeit eines literarischen Werkes zu sichern. Wie dieser Gedanke durchzuführen sei, werden unsere späteren Untersuchungen zeigen. Wenn aber auch dieser Versuch mißlingen und es sich zugleich zeigen sollte, daß man nur zwei Gegenstandsbereiche : das der realen und das der idealen Gegenständlichkeiten, annehmen darf, dann ließe sich weder das Problem der Seinsweise noch das der Identität des literarischen Werkes positiv lösen, und man müßte die Existenz des letzteren überhaupt leugnen. Die bisherigen Erwägungen haben aber nicht bloß die Schwierig16

keiten ans Licht gebracht, mit denen eine haltbare Theorie des literarischen Werkes zu kämpfen hat, sondern auch gezeigt, wie unklar und unsicher unser Wissen über das Wesen des literarischen Werkes ist. Wir wissen nicht, welche Elemente zu ihm gerechnet werden sollen : ob die Sinneinheiten der Sätze, oder die dargestellten Gegenstände, oder vielleicht manche bis jetzt nicht berührte Elemente, oder endlich eine Mannigfaltigkeit von ihnen. Auch über die näheren Beschaffenheiten der eventuell in Frage kommenden Elemente sind wir bis jetzt vollkommen im unklaren. Und wenn vielleicht eine Mehrheit von ihnen an dem Aufbau des literarischen Werkes teilnehmen sollte, so ist uns momentan auch die Weise ihres Zusammenschlusses zu einem literarischen Werke unbegreiflich. Von seinem wesensmäßigen Aufbau ist aber auch seine Seinsweise und der Grund seiner Identität abhängig. Sollen also die oben besprochenen Probleme gelöst werden, so ist es nötig, sie zunächst beiseite zu lassen und zuerst das literarische Werk, wie es uns in zahlreichen Beispielen vorliegt, in seinem Aufbau direkt ins Auge zu fassen, es gründlich zu analysieren und von diesen vagen Allgemeinheiten, mit denen wir uns vorläufig begnügen mußten, zu konkreten Sachlagen überzugehen. Zu diesem Zwecke muß zunächst alles aus dem Weg geräumt werden, waa uns den Blick verlegt. Insbesondere muß vor allem festgestellt werden, was zu dem literarischen Werke unzweifelhaft n i c h t gehört, ganz unabhängig davon, was es in sich selbst ist. In dieser Hinsicht können uns die Resultate der bisherigen Diskussion wesentlich behilflich sein.

2. Kapitel. Ausscheidung der nicht zum Aufbau des literarischen Werkes gehörenden Gebilde. § 6. Engere Begrenzung des Themas. Wir begrenzen vor allem das Feld der Gegenstände unserer Betrachtung und scheiden alle Fragen aus, welche erst nach der Erfassung des Wesens des Uterarischen Werkes erfolgreich in Angriff genommen werden können. Wir beschäftigen uns hier ausschließlich mit dem f e r t i g e n literarischen Werke. Für „fertig" erachten wir aber ein literarisches Werk, wenn alle Sätze und einzelnen Worte, die in ihm auftreten, 2 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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ihrem Sinne, ihrem Wortlaute und ihrer gegenseitigen Anordnung nach, eindeutig bestimmt und festgelegt wurden. Dagegen scheint uns für sein Fertigsein unwesentlich zu sein, ob es tatsächlich niedergeschrieben oder nur mündlich vorgetragen wurde, falls es nur — bei eventuellem mehrmaligem Vortrag — ohne wesentliche Änderungen geschieht1. Damit lassen wir sowohl die P h a s e des E n t s t e h e n s des Uterarischen Werkes selbst wie auch alle Fragen, die das k ü n s t l e r i s c h e S c h a f f e n betreffen, außerhalb unserer Erwägungen. Wir tun es aus keiner sachlich unbegründeten Willkür, sondern weil wir in der immer von neuem begangenen Vermengung der beiden Arbeitsgebiete: der Ontologie des l i t e r a r i schen Werkes und der P s y c h o l o g i e des k ü n s t l e r i s c h e n bzw. l i t e r a r i s c h e n S c h a f f e n s einen der Gründe der zahlreichen Problemverschiebungen und künstlich geschaffenen Probleme sehen und sie somit vermeiden wollen. Nur dort, wo der Aufbau des literarischen Werkes selbst auf Bewußtseinsakte und Aktmannigfaltigkeiten zurückweist, müßten wir uns mit den letzteren beschäftigen, soweit das zur Aufklärung seines Wesens notwendig wäre. Aber auch dann bliebe die Analyse dieser Bewußtseinsakte von der Psychologie des künstlerischen Schaffens verschieden, und diese Bewußtseinsakte dürften mit dem literarischen Werke selbst nicht vermengt werden. Außerhalb unserer Betrachtungen bleiben weiter alle Fragen, welche die E r k e n n t n i s des literarischen Werkes, ihre besonderen Weisen und Grenzen betreffen. Fragen also wie z.B.: In welchen Bewußtseinsakten wird die Erkenntnis eines literarischen Kunstwerkes gewonnen ? — Welche Bedingungen von seiten der Subjekte müssen erfüllt werden, wenn ein literarisches Werk von vielen Erkenntnissubjekten als „ein und dasselbe" erkannt werden soll ? — Welche Kriterien sind es, die uns eine „objektive" Erkenntnis von einem literarischen Werke von falschen subjektiven Meinungen zu unterscheiden erlauben ? — Gibt es überhaupt eine objektive Erkenntnis der literarischen Werke ? u. dgl. mehr. Alles Fragen, die die Möglichkeit einer „ L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t " betreffen. Es sind Probleme, die — unseres Wissens — bis jetzt kaum einmal voll bewußt gestellt und richtig formuliert wurden, an die man aber auch nicht herantreten kann, solange in bezug auf das Wesen des 1 Welche Änderungen dabei „wesentlich" und welche es nicht sind, wird allerdings erst viel später gezeigt werden können.

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literarischen Werkes ein derartiges Chaos und ein solcher Streit der Meinungen herrscht, wie es bis jetzt der Fall ist1. Wir wollen uns weiter mit den verschiedenen S t e l l u n g n a h m e n , die seitens der Leser dem literarischen Werke gegenüber möglich sind, nicht ausführlich beschäftigen. Nur wo es zum Verständnis des letzteren unentbehrlich ist, wo es sich um die Herausstellung des literarischen Werkes als eines ä s t h e t i s c h e n Gegenstandes handelt, müssen wir auf die subjektive Einstellung, in welcher derartige Gegenstände überhaupt zur Gegebenheit gelangen, zurückgreifen. Endlich lassen wir zunächst alle die allgemeinen Fragen beiseite, die sich auf das Wesen des Wertes eines Kunstwerkes und insbesondere eines literarischen Kunstwerkes beziehen. Wir werden wohl finden, daß in dem letzteren Werte und Unwerte vorfindbar sind und zur Konstituierung eines eigentümlich qualifizierten Gesamtwertes des ganzen literarischen Kunstwerkes führen. Was aber das Wesen solcher Werte ausmacht, muß außerhalb unserer Betrachtung bleiben, weil die Beantwortung dieser Frage einerseits die Lösung des Problems des Wertes überhaupt2, andererseits die Einsicht in die Struktur des literarischen Werkes voraussetzt. Aus demselben Grunde lassen wir bei der Betrachtung des literarischen Werkes zunächst völlig außer acht, ob es sich um positiv wertvolle oder um wertlose Werke handelt.

§ 7. Was gehört nicht zu dem literarischen Werke? Die bisherigen Ausführungen lassen schon vermuten, was aus dem Aufbau des literarischen Werkes als ein ihm wesensfremdes Element — unserer Ansicht nach — auszuscheiden ist. Wir wollen es ausdrücklich sagen. 1. Vor allem bleibt vollständig außerhalb des literarischen Werkes der Autor selbst samt allen seinen Schicksalen, Erl e b n i s s e n und p s y c h i s c h e n Zuständen. Insbesondere bilden 1

Diesen Problemen ist mein Buch „Über das Erkennen des literarischen Werkes" (polnisch, Lemberg 1937) gewidmet. 2 Trotz der bedeutenden Beiträge, die in den zwanziger Jahren, besonders durch Max Scheler, zur Lösung des Problems des Wertes überhaupt gegeben worden sind, glaube ich nicht, daß man sie hier als fertiges und einwandfreies Resultat voraussetzen darf. In einem noch weniger befriedigenden Zustand befinden sich die Untersuchungen, welche die einzelnen Gebiete der Werte (z.B. die ethischen, ästhetischen usw.) betreffen. Vgl. z.B. Ch. Lalo, „L'art et la morale", Paris 1925. 2*

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aber die Erlebnisse des Autors, die er während des Schafifens seines Werkes hat, keinen Teil des geschaffenen Werkes. Mögen — wie nicht bestritten werden soll — zwischen diesem Werke und dem psychischen Leben und der Individualität des Autors mannigfache enge Beziehungen bestehen, mag insbesondere das Entstehen des Werkes durch ganz bestimmte Erlebnisse des Autors bedingt sein, mag der ganze Aufbau des Werkes und seine einzelnen Eigenschaften von den psychischen Eigenschaften des Autors, von seiner Begabung und dem Typus seiner „Ideenwelt" und seines Gemüts funktionell abhängig sein und somit mehr oder weniger ausgeprägte Spuren seiner gesamten Persönlichkeit an sich tragen und dadurch die letztere „zum Ausdruck bringen", so ändern all die Tatsachen nichts an dem primitiven und doch oft genug verkannten Faktum, daß der Autor und sein Werk zwei h e t e r o g e n e Gegenständlichkeiten bilden, die schon ihrer radikalen Heterogenität wegen völlig getrennt sein müssen. Erst die Feststellung dieser Tatsache erlaubt, die mannigfachen Beziehungen und Abhängigkeiten, die zwischen ihnen bestehen, richtig herauszustellen. Es wird sich freilich unter den Forschern, die sich mit dem Wesen des literarischen Werkes beschäftigt haben, kaum jemand finden, der bewußt und ausdrücklich das Gegenteil behaupten wollte1. Tatsächlich hat man aber die Scheidung zwischen den beiden Gegenständlichkeiten nie reinlich vollzogen und geriet dadurch oft in verschiedene, im Grunde ganz absurde Vermengungen, auf welche wir oben hingewiesen haben. Diese Absurditäten sind es eben, die uns zunächst zu der oben ausgesprochenen Behauptung zwingen; der weitere Verlauf unserer Analysen wird diese Auffassung bestätigen. Andererseits darf man nicht meinen, daß das literarische Werk eo ipso ein seinsautonomer Gegenstand sei. Auch der Regenbogen bildet keinen Teil des wahrnehmenden Menschen (und umgekehrt), und doch kann man ihm keine Seinsautonomie zuerkennen. Wie diese Frage im Falle des literarischen Werkes zu beantworten ist, das können erst die späteren Betrachtungen zeigen. Aber wenn sie überhaupt in diesem oder anderem Sinne beantwortet werden soll, so darf die Entscheidung darüber nur aus der Einsicht in den wesensmäßigen Aufbau des literarischen Werkes gewonnen, nicht aber aus zuvor gefaßten Meinungen und Theorien gefolgert werden, welche sein Wesen in völligem Dunkel stehen lassen. 1 Daß aber auch dies möglich ist, zeigt z.B. das schon zitierte Buch von Pierre Audiat.

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2. Zu seinem Aufbau gehören andererseits keinerlei Eigenschaften, Erlebnisse bzw. psychische Zustände des Lesers. Diese Behauptung scheint eine offensichtliche Banalität zu sein. Und doch sind die Suggestionen des positivistischen Psychologismus unter den Literaturforschern, Kunsttheoretikern und Ästhetikern noch immer1 lebendig. Wir brauchen nur irgendein beliebiges Buch in die Hand zu nehmen und die immerfort wiederkehrenden Reden von „Vorstellungen", „Empfindungen", „Gefühlen" dort zu finden, wo es sich um Kunstwerke bzw. um literarische Werke handelt, um uns von der Richtigkeit dieser Feststellung zu überzeugen. Die psychologistischen Tendenzen treten besonders da sehr stark zutage, wo es sich um die Schönheit oder allgemeiner um den künstlerischen Wert eines Werkes handelt. In diesem Falle wird nämlich die allgemeine Tendenz, alle Werte auf etwas Subjektives zu reduzieren, noch verstärkt, und zwar einerseits durch die besondere Einstellung, die man bei der Lektüre eines literarischen Kunstwerkes oft einnimmt, andererseits aber durch die Rücksicht auf die subjektiven Bedingungen, die erfüllt werden müssen, wenn ein Wert einem Bewußtseinssubjekte sich überhaupt — um das Heideggersche Wort zu benutzen — nur „enthüllen", aber nicht gegenständlich von ihm erfaßt werden soll. Statt in den lebendigen geistigen Verkehr mit dem Kunstwerk (und insbesondere mit dem literarischen) zu treten, sich ihm im unmittelbaren Schauen (das gar nicht mit dem theoretischen gegenständlichen Erfassen zu identifizieren ist!) hinzugeben, in einer charakteristischen Selbstvergessenheit es zu genießen und in diesem Genießen es schlicht zu bewerten, ohne eine Wertobjektivation zu vollziehen2, benutzt der Leser oft das literarische Kunstwerk nur 1 Dieses „noch immer" bezog sich auf die Situation vor dem Jahre 1930. Es will mir aber scheinen, daß sich die Sachlage auch im Jahre I960 nicht wesentlich anders verhält, wenn es sich um nichtphänomenologisch eingestellte Forscher handelt. Man braucht nur etwa in das Buch von André Lurçat „Formes, compositions et lois d'harmonie, Eléments d'une science de l'esthétique architecturale" hineinzusehen, um festzustellen, daß alle ästhetisch wertvollen Momente des Kunstwerks für „impressions" des Betrachters gehalten werden. Die positivistischen Tendenzen, und somit auch die psychologistische Umdeutung aller in sich qualitativ bestimmten Gegenständlichkeiten, haben sich nach 1930, vor allem unter der Ausbreitung des Wiener Positivismus, wesentlich verstärkt. Die Kulmination dieser Tendenz lag in den dreißiger Jahren, aber noch jetzt sind, besonders in den angelsächsischen Ländern, die positivistischen Tendenzen allzu stark und gelten in den breiten, philosophisch ungebildeten Kreisen für den einzig „wissenschaftlichen" Standpunkt. 2 Vgl. E. Husserl, „Ideen zu einer reinen Phänomenologie", S.66f.

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als eine äußere Anregung, die in ihm Gefühle und andere von ihm gewertete psychische Zustände auslöst, und läßt das Kunstwerk nur insofern in Sicht kommen, als es unentbehrlich ist, ihm diesen Dienst zu erweisen. Er gibt sich seinen eigenen Erlebnissen hin, schwelgt in ihnen, und je tiefer, ungewöhnlicher und reicher seine eigenen Zustände (vor allem die ausgelösten und doch zugleich nur an-phantasierten Gefühle) sind, je vollkommener er dann alles andere (und auch das Kunstwerk und seine eigenen Werte) „vergessen" kann, desto höher ist er das betreffende Kulistwerk einzuschätzen geneigt. Aber er schätzt es tatsächlich nicht um seiner eigenen Werte willen, die ihm bei dieser Einstellung überhaupt nicht aufgehen und durch die Fülle subjektiver Gefühle sogar verdeckt werden. Er b e u r t e i l t es bloß als „wertvoll", weil es ein M i t t e l ist, die für ihn angenehmen Erlebnisse auszulösen1. Diese Einstellung dem Kunstwerk gegenüber kommt aber — besonders bei musikalischen Werken — sehr oft vor. Es ist dann kein Wunder, wenn man im literarischen Kunstwerk dasjenige für das Wesentliche und Wertvolle betrachtet, was in dem Leser unter dem Einfluß der Lektüre entsteht. Denn das eigentlich Wertvolle liegt dann für einen solchen Leser t a t s ä c h l i c h in den besonderen Qualitäten und in der Fülle der durch die Dichtung ausgelösten Gefühle, während der Wert des Kunstwerkes selbst überhaupt nicht zur Erscheinung gelangt. Die subjektivistische Auffassung der künstlerischen Werte ist somit im Grunde eine Folgeerscheinung der mangelnden Kultur im Verkehr mit dem Kunstwerke. Allerdings wird die psychologistische Subjektivierung der ästhetischen Werte — wie schon bemerkt — durch einen Faktor begünstigt, dessen tatsächliches Vorhandensein im Zusammenhang mit einer allgemeinen, aber mindestens zweifelhaften erkenntnistheoretischen Überzeugung diese Subjektivierung erzwingt. Es ist nämlich unzweifelhaft, daß ästhetische und sonstige Werte nur dann zur Gegebenheit gelangen, wenn von seiten des Bewußtseinssubjektes eine bestimmte Einstellung — in unserem Falle die ästhetische — eingenommen wird. Die ästhetische Einstellung zeichnet freilich — im Gegensatz zu der starken Rührung des unkultivierten Lesers — eine gewisse kontemplative innere Ruhe aus, ein Sich-Vertiefen in das Werk selbst, das uns nicht erlaubt, uns mit eigenen Erlebnissen zu beschäftigen. Aber diese kontemplative Ruhe, die sehr wohl mit 1

Vgl. dazu die sehr beachtenswerten Ausführungen M. Geigers in „Vom Dilettantismus im künstlerischen Erleben" („Zugänge zur Ästhetik", 1928).

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höchster Entzückung zusammen bestehen kann, bedeutet nicht das kalte, oder besser gesagt, das völlig neutrale, rein betrachtende und jedem Fühlen fremde Verhalten, das für die rein t h e o r e t i s c h e und rationale Erfassung eines Gegenstandes charakteristisch ist und das zur Folge hat, daß die wertqualitativen Momente des Kunstwerks nicht zur p h ä n o m e n a l e n Sichtbarkeit gelangen. Es ist somit möglich, das literarische Kunstwerk auf verschiedene Weisen unmittelbar zur Gegebenheit zu bringen : einmal — in ästhetischer Einstellung — in seinen wertqualitativen Momenten, das andere Mal — in einer schlichten theoretischen Betrachtung — ohne die letzteren und endlich — bei einer thematisch objektivierenden Erfassung der in jenen wert-qualitativen Momenten sich konstituierenden Werte — als Träger von diesen ästhetischen Werten. Hier greift das oben erwähnte erkenntnistheoretische Vorurteil ein. Es lautet: „Objektiv" ist nur das, was für jedes beliebige Erkenntnissubjekt und bei dessen völliger P a s s i v i t ä t , sonst aber unter beliebigen subjektiven (und evtl. objektiven) Bedingungen des Erkennens sich immer als Eigenschaft eines Gegenstandes gibt. Dabei betrachtet man die rein theoretische rationale Erkenntnisweise für diejenige, die wenigstens dem Prinzip nach diese Bedingungen erfüllt. Wo aber die Gegebenheit einer Gegenständlichkeit besondere Einstellungen und Operationen seitens des Subjekts erfordert, um überhaupt zustande zu kommen, wo der Wechsel der Einstellung einen Wechsel im Bereich des Gegebenen mit sich führt, da faßt man das in diesem Falle Gegebene eo ipso für etwas „bloß Subjektives" auf, das „in Wirklichkeit" nicht besteht. Dieses „Subjektive" deutet man dann aber ohne weiteres in etwas Psychisches im Sinne einer Komponente des psychischen Seins um und gelangt dann u. a. zu einer psychologischen Theorie der Werte. Es würde uns hier zu weit führen, die Falschheit der wiedergegebenen erkenntnistheoretischen Ansicht ausführlich zu zeigen. Es genügt uns, auf sie als auf einen der Gründe, die zur psychologistischen Subjektivierung der Werte führen, hinzuweisen und damit auch anzudeuten, wie sich hinter der scheinbar selbstverständlichen Argumentation der Psychologisten unkontrollierte und mindestens sehr zweifelhafte erkenntnistheoretische Voraussetzungen verbergen. 3. Endlich muß aus dem Aufbau des Uterarischen Kunstwerkes die Sphäre der Gegenstände und S a c h v e r h a l t e ausgeschieden werden, die gegebenenfalls das Vorbild der in dem Werke 23

„auftretenden" Gegenstände und Sachverhalte bilden. Wenn z.B. die Handlung in dem Roman „Quo vadis" von H. Sienkiewicz sich „in Rom" abspielt, so gehört Rom selbst — die reale Hauptstadt des römischen Reiches — nicht zu dem betreffenden Werke. Wie man dann die Ausdrucksweise, daß sich diese Handlung „in Rom abspielt", zu verstehen hat und wie das reale Vorbild trotz dieser Ausscheidung im literarischen Werke in gewissem Sinne doch sichtig wird, das ist ein besonderes Problem, mit welchem wir uns erst viel später werden beschäftigen können. Nachdem wir auf diese Weise das Thema unserer Betrachtung eingeengt und eine Reihe von Gegenständlichkeiten aus dem Aufbau des literarischen Werkes ausgeschieden haben, können wir uns jetzt der Analyse dieses Werkes selbst zuwenden.

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II. Abschnitt.

Der Aufbau des literarischen Werkes. 3. Kapitel. Die Grundstruktur des literarischen Werkes. § 8. Das literarische Werk als ein mehrschichtiges Gebilde. Wir wollen vor allem die Grundstruktur des literarischen Werkes skizzieren und damit die Häuptlingen unserer Auffassung seines Wesens festlegen. Die wesensmäßige Struktur des literarischen Werkes liegt u.E. darin, daß es ein aus mehreren heterogenen Schichten aufgebautes Gebilde ist1. Die einzelnen Schichten unterscheiden sich untereinander 1. durch das für eine jede von ihnen charakteristische Material, aus dessen Eigentümlichkeit sich besondere Eigenschaften jeder der Schichten ergeben, 2. durch die R o l l e , die jede von ihnen sowohl den anderen Schichten gegenüber wie in dem Aufbau des ganzen Werkes spielt. Trotz der Verschiedenheit des Materials der einzelnen Schichten bildet aber das literarische Werk kein loses Bündel von zufällig nebeneinandergereihten Elementen, sondern einen organischen B a u , dessen Einheitlichkeit gerade in der Eigenart der einzelnen Schichten gründet. Denn es gibt unter den letzteren eine ausgezeichnete, nämlich diejenige der Sinneinheiten, die das strukturelle Gerüst für das ganze Werk bildet, indem sie alle übrigen Schichten ihrem Wesen nach fordert und einige von ihnen von sieb aus so bestimmt, daß sie in ihr ihren Seinsgrund haben und in ihrem Gehalt von ihren Eigenschaften 1 Wae der bildhafte Ausdruck „Schicht" hier bedeuten soll, werden die folgenden Untersuchungen zeigen.

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abhängig sind. Sie sind somit als Elemente des literarischen Werkes von dieser zentralen Schicht unabtrennbar1. Die Verschiedenheit des Materials und der Rollen (bzw. Funktionen) der einzelnen Schichten macht es zugleich, daß das ganze Werk nicht ein eintöniges Gebilde ist, sondern einen ihm wesentlichen p o l y p h o n e n Charakter trägt. Das heißt: Infolge der Eigenart der einzelnen Schichten wird jede von ihnen auf ihre eigene Weise in dem Ganzen sichtbar und trägt etwas Eigenes zu dem Gesamtcharakter des Ganzen bei, ohne dadurch der phänomenalen Einheit des letzteren Abbruch zu tun. Insbesondere hat jede dieser Schichten ihre eigene Mannigfaltigkeit von Eigenschaften, die zur Konstituierung von spezifischen ästhetischen Wertqualitäten führen. So entsteht eine Mannigfaltigkeit von ästhetischen Wertqualitäten, in welcher eine p o l y p h o n e und doch einheitliche Wertqualität des Ganzen sich konstituiert. Man unterscheidet gewöhnlich verschiedene Gattungen von literarischen Kunstwerken. Wenn aber die Rede von „Gattungen" hier überhaupt zulässig sein soll, so muß es sich aus dem Wesen des literarischen Werkes überhaupt2 ergeben, daß seine verschiedenen Abwandlungen und Modifikationen überhaupt möglich sind. Es muß sich also zeigen, daß zwar eine bestimmte Anzahl und Auswahl von Schichten in jedem literarischen Werke unentbehrlich ist, daß aber trotzdem der wesensmäßige Aufbau jeder dieser Schichten sowohl verschiedene, nicht immer notwendige Rollen einer jeden von ihnen, wie auch das Auftreten neuer, nicht in jedem literarischen Werk vorkommender Schichten möglich macht. Welche Schichten sind es also, die für jedes literarische Werk überhaupt notwendig sind, wenn seine innere Einheit noch bewahrt und sein Grundcharakter aufrechterhalten werden soll ? Es sind — um schon hier das endgültige Resultat unserer Betrachtungen vorwegzunehmen — die folgenden: 1. die Schicht der W o r t l a u t e und der auf ihnen sich aufbauenden L a u t g e b i l d e höherer Stufe; 2. die Schicht der Bed e u t u n g s e i n h e i t e n verschiedener Stufe; 3. die Schicht der mannigfaltigen schematisierten A n s i c h t e n und Ansicht-Kontinuen und -Reihen und endlich 4. die Schicht der d a r g e s t e l l t e n Gegens t ä n d l i c h k e i t e n und ihrer Schicksale. Die späteren Analysen 1

Damit soll nicht gesagt werden, daß die Schicht der Sinneinheiten die zentrale Rolle bei ästhetischer Apperzeption des literarischen Kunstwerkes spielt. 2 In der korrekteren Terminologie meiner „Essentialen Fragen": aus dem Gehalte der allgemeinen Idee des literarischen Werkes.

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werden zeigen, daß diese letzte Schicht noch sozusagen „doppelseitig" ist: einerseits die „Seite" der darstellenden intentionalen Satzkorrelate (und insbesondere der Sachverhalte), andererseits die „Seite" der in ihnen zur Darstellung gelangenden Gegenständlichkeiten und deren Schicksale. Wenn wir hier trotzdem nur von einer Schicht reden, so hat das seine wichtigen Gründe, die wir später besprechen werden. — Ob in jedem literarischen Werk die Schicht der im Werke ausgedrückten „Idee" enthalten sein muß und was hier der Ausdruck „Idee" bedeutet, wollen wir hier vorläufig nur als Problem aufwerfen. In jeder der herauszustellenden Schichten konstituieren sich die für die jeweilige Schicht charakteristischen ästhetischen Wertqualitäten. Im Zusammenhang damit kann die Frage gestellt werden, ob es nicht nötig wäre, noch eine besondere Schicht des literarischen Werkes abzuscheiden, welche sozusagen „quer" zu den oben genannten gelagert wäre und die in allen übrigen das Fundament ihrer Konstitution hätte: die Schicht der ästhetischen Wertqualitäten und der sich in den letzteren konstituierenden Polyphonie. Darüber kann aber erst auf Grund der Analyse der einzelnen Schichten entschieden werden. Infolgedessen kann auch die Frage, was in dem ganzen Aufbau des literarischen Werkes den eigentlichen Gegenstand der ästhetischen Einstellung bildet, erst später behandelt werden. Die Vielschichtigkeit des Aufbaus erschöpft das eigentümliche Wesen des literarischen Werkes noch nicht. Es wird noch nötig sein, dasjenige strukturelle Moment in ihm aufzudecken, welches bewirkt, daß jedes literarische Werk einen „Anfang" und ein „Ende" besitzt, und welches ihm erlaubt, sich während einer Lektüre in seiner eigentümlichen Spannweite vom Anfang bis zum Ende zu „entfalten". Die Feststellung des vielschichtigen polyphonischen Aufbaus des literarischen Werkes ist im Grunde eine Trivialität. So groß sie aber ist, hat doch keiner der mir bekannten Autoren klar gesehen, daß darin die wesensmäßige Grundstruktur des literarischen Werkes liegt1. Man bat wohl praktisch, d.h. bei Besprechung der einzelnen 1 Julius Kleiner führt zweimal eine Scheidung zwischen den verschiedenen „Schichten" bzw. „Sphären" des literarischen Werkes durch: 1. in der Abhandlung „Inhalt und Form in der Dichtung", 2. in dem Artikel „Charakter und Gegenstand der literarischen Untersuchungen". Im ersten Falle handelt es sich aber nicht um die Schichten des fertigen literarischen Werkes, sondern eigentlich um einzelne Phasen seiner Entstehung, die dann freilich auch in dem Werke selbst sichtbar sein sollen. Diese einzelnen „Schichten" sind folgende: a) der Zustand einer starken psychischen

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Werke, bei Herausstellung der verschiedenen Typen von ihnen, bei Kontrastierung verschiedener literarischer Richtungen und Schulen usw. die einzelnen Elemente des literarischen Werkes gegenübergestellt und ihre Eigenschaften im einzelnen Falle herauszustellen gesucht. Man hat aber nie gesehen, daß es sich da um heterogene Erregung, der zum „Ausdruck" drängt, b) irgendeine Gestalt, Situation, Reflexion, welche jenen Drang nach einem Ausdruck stillt und jenem psychischen Inhalt eine festlegende Bestimmung gibt, c) eine Gliederung dessen, was in b) schon enthalten war, die einen ausführlichen Plan und genaue Bestimmung der literarischen Gattung des betreffenden Werkes bringt, endlich d) ein ganz besonderes System von V o r s t e l l u n g e n und das ihm äquivalente System von Worten. — Leider sagt uns K l e i n e r nicht, wie diese einzelnen „Schichten" in dem fertigen Werke auftreten. So interessant diese Ausführungen sind, sie betreffen nicht dasjenige, was wir im Auge haben, wenn wir von „Schichten" des literarischen Werkes sprechen, was schon daraus folgt, daß wir diese Schichten erst in dem f e r t i g e n literarischen Werke voneinander unterscheiden. Es ist auch mehr als zweifelhaft, ob unsere Schichten den einzelnen von K l e i n e r geschiedenen Phasen der Entstehung des literarischen Werkes entsprechen. — In der zweiten der zitierten Abhandlungen beschäftigt sich K l e i n e r schon mit dem fertigen Werk und glaubt in dem „Gehalte des Textes" eine „eigene Sphäre der menschlichen Wirklichkeit" sehen zu können. In dieser Sphäre scheidet er vier weitere „Sphären" ab: „Diese eigene Wirklichkeit umfaßt vier Regionen, vier Sphären: 1. das gesamte Wortmaterial (Individualisierung und Organisierung des Materials), 2. die erkenntnismäßige Auffassung und Umkomposition des Inhalts, 3. das System von Vorstellungen, die der .LebensWirklichkeit' analog, aber von ihr isoliert und dem Bewußtsein auf bestimmte Weise aufgedrängt sind, 4. die im Schaffen und Gestalten sich kundgebende geistige Kraft und Geschicklichkeit." Dabei ist es auf Grund der beigefügten Ausführungen nicht klar, ob diese vier Sphären Elemente des Textes selbst oder die unter dem Einfluß des gelesenen Textes in der Seele des Lesers entstehenden psychischen Resonanzerscheinungen sind. Verwirrend wirkt auch die früher wiedergegebene Erklärung, daß der Gehalt des Textes „alle psychischen Elemente" enthalte. Endlich glaubt K l e i n e r , daß die Abscheidung der einzelnen „Sphären" eine durchaus u n t e r g e o r d n e t e Angelegenheit sei (vgl. I.e. S.280). Wie eich unsere Auffassung zu derjenigen K l e i n e r s verhält, kann erst der weitere Gang der Untersuchung zeigen. Vorläufig ist nur zu bemerken, daß K l e i n e r nur in der 1. und 3. „Sphäre" etwas im Auge haben kann, was, r e i n h e r a u s g e s t e l l t und von psychologistischer Auffassung befreit, wahrscheinlich einzelnen der von uns unterschiedenen Schichten entspricht. Aber die Nebeneinanderstellung dieser „Sphären" und der Sphäre 2 und 4 zeigt, daß K l e i n e r unter „Sphäre" doch etwas anderes als wir unter der „Schicht des Werkes"· versteht. — Was andere Autoren betrifft, so steht meine Auffassung derjenigen, welche W. C o n r a d in seiner Abhandlung „Der ästhetische Gegenstand" (Zeitschrift für Ästhetik, Bd. I I I u. IV) entwickelt hat, noch am nächsten. Auch C o n r a d unterscheidet vier verschiedene „Seiten" — wie er sagt — des literarischen Werkes: Lautzeichen, Bedeutung, gemeinter Gegenstand, Ausdruck (bzw. ausgedrückter Gegenstand). An einer anderen Stelle der genannten Abhandlung gibt er übrigens bloß d r e i wesentliche „Momente" des literarischen Werkes an: Symbol, Bedeutung und Gegenstand (vgl. I.e. S.489). Jedenfalls scheidet er die Schicht der Ansichten (die er dort „Vorstellungsbilder" nennt) aus dem Werke aus. Trotz dieser Verwandtschaft unterscheidet sich unsere Auffassung des literarischen Werkes von der Conradschen in vielen Punkten, besonders was die Resultate der Einzelanalysen betrifft. Es ist mir unmöglich, alle einzelnen Punkte hier zu besprechen bzw. eine

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Schichten handelt, die sich gegenseitig bedingen und in mannigfachen Beziehungen zueinander stehen ; man hat sie auch nie in ihrer allgemeinen Struktur reinlich geschieden und den aus dieser Struktur sich ergebenden Zusammenhang zwischen ihnen gezeigt. Aber erst eine eingehende Analyse sowohl der einzelnen Schichten wie endlich der Art ihres daraus sich ergebenden Zusammenhanges kann die Eigenart der Struktur des Uterarischen Werkes darlegen. Sie kann auch erst den festen Boden für die Lösung der speziellen literarischen und literarisch-ästhetischen Probleme schaffen, an denen man sich bis jetzt vergeblich versucht hat. Denn gerade die Nicht-Beachtung der Vielschichtigkeit des literarischen Werkes hat zur Folge, daß man in der Behandlung verschiedener Probleme nicht zur Klarheit kommen kann. So läßt sich z.B. das viel diskutierte Problem des Unterschiedes zwischen „Form" und „Inhalt" (bzw. „Gestalt" und „Gehalt"1) des literarischen Kunstwerkes ohne die Berücksichtigung seines vielschichtigen Aufbaus überhaupt nicht Diskussion durchzuführen. Nur auf folgendes möchte ich hier hinweisen: 1. C o n r a d sieht nicht, daß die Polyphonie der heterogenen Schichten für das literarische Werk wesentlich ist. Er hat sich überhaupt das Bestehen dieser Polyphonie nicht zum Bewußtsein gebracht. Seine Unterscheidung der verschiedenen „Seiten" des Werkes — obwohl im Prinzip richtig — geht nicht tief genug, um die Grundetruktur des literarischen Werkes in ihrem eigentümlichen Bau und ihrer Einheit ins rechte Licht zu stellen. 2. Seine Auffassung des „ästhetischen Gegenstandes" als einer i d e a l e n Gegenständlichkeit ist — wie die letzten Ergebnisse dieses Buches zeigen — unhaltbar. C o n r a d steht da zu stark unter dem EinfluB des Husserlschen Standpunkts in den „Logischen Untersuchungen", um die eigentümliche Seinsweise des literarischen Werkes zu erfassen. Aber auch er fühlt, daß ein Unterschied zwischen dem literarischen Werke und z.B. den mathematischen Gegenständlichkeiten in dieser Hinsicht besteht, wenn auch seine diesbezüglichen Behauptungen noch sehr primitiv klingen. Und es ist nicht zu verwundern. Ohne existential-ontologische Untersuchungen, die in der damaligen Zeit kaum möglioh waren, läßt sich das Problem der Seinsweise des literarischen Werkes nicht angreifen. — Trotz alledem halte ich die Conradsche Arbeit für einen wichtigen Anfang. 1 Vgl. 0 . W a l z e l , „Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters", S.192. Übrigens sind auch die Worte „Form", „Inhalt" außerordentlich vieldeutig, was auch W a l z e l dazu geführt hat, daß er neben den traditionellen Ausdrücken noch die Worte „Gehalt" und „Gestalt" verwendet. Genaue Analyse des Werkes 0 . W a l zeis zeigt aber, daß er trotzdem verschiedenen Äquivokationen dieser Ausdrücke unterliegt. Wie ich in meinem Buche „Der Streit um die Existenz der Welt" (polnisch, 2 Bde. 1947/48, Krakau) gezeigt habe, lassen sich 9 verschiedene, gewöhnlich vermengte Begriffe der „Form" bzw. des „Inhalts" unterscheiden. In einer besonderen Abhandlung „Über ,Form' und .Inhalt' im literarischen Kunstwerk", die im II. Bande meiner „Studien zur Ästhetik" (polnisch, Warschau 1957/58) erschienen ist, habe ich dann die verwickelten Sachlagen gezeigt, die bei Anwendung dieser verschiedenen Form- und Inhalt-Begriffe im literarischen Kunstwerk vorliegen.

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richtig stellen, weil alle nötigen Termini vieldeutig und verschiebbar sind. Insbesondere muß jeder Versuch, das Problem der Form des literarischen Kunstwerkes zu lösen, mißlingen, wenn man stets nur eine aus den vielen Schichten ins Auge faßt und die übrigen außer Spiel setzt, weil man damit übersieht, daß die Form des Werkes sich erst aus den Formmomenten der einzelnen Schichten und aus ihrer Zusammenwirkung ergibt. Im Zusammenhang damit läßt sich auch das Problem, was das „Material" des literarischen Kunstwerkes bildet, nicht ohne die Berücksichtigung unserer Ergebnisse lösen. Auch das schon erwähnte Problem der „literarischen Gattungen" setzt die Einsicht in den vielschichtigen Aufbau des literarischen Werkes voraus. So ist vor allem hier Klarheit zu schaffen.

4. Kapitel. Die Schicht der sprachlichen Lautgebilde. § 9. Das einzelne Wort und der Wortlaut. Es ist ein altes Problem, ob die „Sprache" ein wesentliches Element des literarischen Kunstwerkes bildet; man hat es oft im bejahenden, nicht selten aber auch im negativen Sinne beantwortet. Wir wollen dieses Problem zunächst an Hand derjenigen Beispiele erörtern, bei welchen kein Zweifel besteht, daß wir in ihnen mit literarischen Werken zu tun haben. Wir stellen da fest, daß zu dem Aufbau des in diesem Sinne genommenen literarischen Werkes die Schicht der Sprache tatsächlich gehört. In jedem der gewählten Beispiele stoßen wir in erster Linie auf Worte, Sätze, Satzzusammenhänge. Aber diese bloße und zunächst rein faktische Feststellung läßt verschiedene Fragen offen, von deren Beantwortung erst sowohl ihr genauer Sinn wie ihre Wichtigkeit abhängt. Denn erstens ist es eine Frage, in welchem Sinne des Ausdrucks „Sprache" sie zu dem literarischen Werk gehört; dann aber, ob sie in ihm — wie manche Forscher behaupten1 — nur ein vielleicht unentbehrliches, aber doch nur ein Mittel bildet, welches bloß den Zugang zu dem literarischen Werk ermöglicht, oder ob sie vielmehr ein wesentliches Konstituens des Werkes selbst ist, und zwar ein Konstituens, das 1 Vgl. z.B. E. K u c h a r s k i , „Zur Methode der ästhetischen Analyse der literarischen Werke", 1. c.

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insbesondere in ihm als einem Kunstwerk eine wesentliche Rolle spielt. Wir müssen somit diese Probleme der Reihe nach erwägen. „Sprache" kann zunächst eine physiologisch bedingte psychische F u n k t i o n bedeuten, und zwar entweder als Sprechen zu einem anderen oder als das sogenannte „innere Sprechen" zu sich selbst1. Es ist klar, daß „Sprache" in diesem Sinne hier für uns nicht in Betracht kommt. Aber auch „Sprache" in dem Sinne, in welchem man z.B. von der „englischen Sprache" redet, muß hier ausgeschieden werden. Worauf es hier allein ankommt, ist, daß in jedem literarischen Werk Sprachgebilde — Worte, Sätze, Satzzusammenhänge — auftreten. Was sind sie ? — Das ist das erste Problem. In jedem von diesen Gebilden muß man bekanntlich zwei verschiedene Seiten bzw. Komponenten unterscheiden: einerseits ein bestimmtes Lautmaterial 2 , das mannigfach differenziert und auf verschiedene Weise geordnet ist, andererseits den mit ihm „verbundenen" Sinn. Sie treten in jedem Sprachgebilde auf, ganz unabhängig davon, welche Funktion es im sprachlichen Verkehr zwischen psychischen Individuen oder z.B. in einem literarischen Werke ausübt. Man muß also zunächst diese beiden Komponenten für sich und in ihrer Beziehung zueinander untersuchen. Das einfachste — wenn auch nicht das ursprüngliche — Gebilde der Sprache bildet das einzelne Wort3. Wir finden in ihm einerseits 1

Auf den Unterschied zwischen „Sprechen" und „Reden", den H. A m m a n n (vgl. „Die menschliche Rede", Bd.I, S.38ff.) macht, kommt es uns hier nicht an. 2 Das Wort „Lautmaterial" ist freilich noch vieldeutig. Vgl. die folgenden Betrachtungen. 3 Wir haben hier vor allem die „gesprochenen" Worte im Auge. Es gibt aber auch „geschriebene" bzw. „gedruckte" Worte. Man kann dabei in zweifachem Sinne von einem „geschriebenen" Worte reden: 1. von einem individuellen, realen, entstehenden, einige Zeit dauernden und vergehenden Zeichnungsgebilde, das in der eigentümlichen Funktion eines S t e l l v e r t r e t e r s f ü r das gesprochene Wort steht. Sowohl seine Individualität wie Realität ist für diese Funktion irrelevant. Im Zusammenhang damit sprechen wir von dem geschriebenen Worte auch in einem zweiten, eigentlichen Sinne, in welchem man darunter einen gewissen vagen Typus von einer Gestaltqualität versteht, der in einem realen Zeichen zur Konkretisierung gelangt, wenn dieses letztere als „Wort" fungieren soll. Da das geschriebene Wort im ersten Sinne zu dem literarischen Werke überhaupt nicht gehört, im zweiten dagegen nur, wenn es sich um geschriebene (bzw. gedruckte) und visuell gelesene Werke handelt, so werden wir uns erst später mit dem geschriebenen Worte im zweiten Sinne etwas beschäftigen müssen. Vgl. Kap. 14. Ob zu dem Wesen des Wortes nur sein Wortlaut und nicht das visuelle Zeichen gehört, wiedas W. C o n r a d (vgl. I.e. S.479) behauptet, scheint mir mindestens zweifelhaft zu sein. Daß aber der Wortlaut p r i m ä r zu dem Worte gehört, darin hat C o n r a d recht. Übrigens unterscheidet er den Wortlaut in unserem Sinne nicht von dem konkreten Lautmaterial.

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den Wortlaut, andererseits seine Bedeutung. Insbesondere wird ein bestimmtes Lautmaterial nur dadurch zu einem Wortlaut, daß es eine mehr oder weniger bestimmte „Bedeutung" hat. Es erfüllt die Funktion, eine Bedeutung zu tragen und sie eventuell in dem geistigen Verkehr zwischen vielen Bewußtseinssubjekten zu übermitteln. Sogar die Abgrenzung eines Lautmaterials zu einem einheitlichen, in sich abgeschlossenen t o n a l e n Ganzen vollzieht sich bekanntlich erst durch die Ausübung der erwähnten Funktion1. Aber das konkrete tonale Ganze, bzw. das konkrete Lautmaterial und der „Wortlaut", ist — wie sich gleich zeigen wird — noch nicht dasselbe. Und zur Konstituierung des Wortlautes trägt die mit ihm verbundene, bei mehrmaliger Verwendung streng identische2 Bedeutung auch in einem anderen Sinne wesentlich bei : Wir sagen mit Recht: „Dasselbe" Wort (z.B. „Haus") wird mehrere Male ausgesprochen, und zwar einmal z. B. in einem hohen und scharfen, das andere Mal in einem tiefen und weichen Tone. Wir haben dabei gewiß auch die in beiden Fällen identisch gemeinte Bedeutung im Auge, aber zugleich glauben wir die Dieselbigkeit des Wortes auch im Hinblick auf seinen Wortlaut zu erfassen, der ein und derselbe ist, obwohl das konkrete Lautmaterial nicht bloß ein in jedem Falle individuell neues, sondern auch ein in verschiedener Hinsicht anderes ist (z.B. hinsichtlich der Intonation, der Art der Klangfarbe, der Stärke usw.). Es fragt sich, was dieser selbe „Wortlaut" eigentlich sei und was seine Gegebenheit beim Aussprechen eines Wortes bedingt ? In bezug auf das erste kann die Ansicht vertreten werden, der Wortlaut sei nichts anderes als eine bestimmte Auswahl und Anordnung der aus dem konkreten Lautmaterial ausgewählten Teile, die sich in vielen sonst verschiedenen Lautganzen wiederholen und dadurch den individuell verschiedenen Lautmaterialien den Anschein der Identität verleihen. Korrelativ müßte man zugeben, daß bei der Erfassung eines Lautmaterials ein Auswählen stattfindet : manche Teile und Merkmale des eben gehörten, konkreten Lautmaterials werden so ignoriert, als wenn sie überhaupt nicht vorhanden wären, die übrigen dagegen werden besonders beachtet und ausgewählt, wodurch sie in den Vordergrund treten

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Auf diese Tatsache hat m. W. zuerst H. Bergson in seinem Buche „Matière et mémoire" hingewiesen. 2 Daß trotzdem gewisse Veränderungen in dem Gehalte einer und derselben Bedeutung vor sich gehen können, dazu vgl. im folgenden §§ 16 und 17.

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und gewissermaßen die Stelle des ganzen Lautmaterials einnehmen1. Wir halten diese Auffassung für falsch. Nicht auf bestimmte besonders ausgewählte Teile bzw. Merkmale des eben gehörten konkreten Lautmaterials, die ebenso konkret und individuell wie es selbst sind, sind wir eingestellt, wenn wir ein bestimmtes Wort hören, sondern auf eine t y p i s c h e lautliche Gestalt. Sie bietet sich uns nur an dem konkreten Lautmaterial dar. Sie gelangt an ihm zur Gegebenheit und hält sich durch, wenn auch oft ziemlich weitgehende Unterschiede in ihm vor sieb gehen. Sie wird auch — falls wir wirklich auf Worte eingestellt sind — gar nicht als das hic et nunc Erklingende erfaßt. Diese unveränderliche, bei wiederholter Aussprache des Wortes streng identische, lautliche Gestalt2 ist es eben, Avas man „denselben Wortlaut" eines Wortes nennt. Sie ist keine „Auswahl" von Eigenschaften bzw. Teilen des konkreten Lautmaterials, sondern baut sich auf ihm auf, gelangt an ihm zur Selbstpräsentation, indem sie sich in ihm konkretisiert. Sie darf dabei weder mit diesem Lautmaterial noch mit ihrer individuellen Konkretion identifiziert werden, weil sie eine und dieselbe ist, während das ihre Konkretion tragende Lautmaterial vieles und mannigfaltiges ist. Sie darf somit auch nicht für etwas Reales gehalten werden. Denn Reales kann seinem Wesen nach nicht in vielen realen Individuen oder realen individuellen Vorkommnissen als identisch dasselbe auftreten. Andererseits wäre es aber natürlich falsch, in einem Wortlaut im Sinne einer lautlichen Gestalt einen idealen, seinsautonomen Gegenstand zu sehen und ihn auf gleiche Stufe z.B. mit mathematischen Gegenständlichkeiten zu stellen. Man müßte dann zugeben, daß wir Wortlaute in demselben Sinne 1

Einige Monate nach dem Erscheinen dieses Buches wurde von K. Bühler ein Vortrag unter dem Titel „Phonetik und Phonologie", Travaux du Cercle Linguistique de Prague, 1931, veröffentlicht (mein Buch ist Anfang Dezember 1930 erschienen), in welchem B ü h l er analoge Probleme behandelt. Vgl. auch „ Axiomatik der Sprachwissenschaften" von demselben Verfasser, Kantstudien Bd. 38, H.I/II, 1933. 2 H. Spiegelberg hat in seiner Rezension in der „Zeitschrift für Ästhetik und allg. Kunstwissenschaft", Bd. LXXV, an dieser Identität gerüttelt, indem er auf gewisse theoretische Gefahren, die daraus zu fließen scheinen, hinwies. Im Zusammenhang damit muß betont werden, daß es sich dabei sozusagen um eine reinqualitative und nicht um eine „numerische" (in ihrer Individualität in der Konkretion genommene) Identität dieser Gestalt handelt. Daß sie dann „konkretisiert" wird und an verschiedenem konkretem Lautmaterial zur Erscheinung gelangt und insofern sozusagen „vervielfältigt" wird, ist nicht zu leugnen, aber auch nicht zu bezweifeln. Es ist ein besonderer Fall des allgemeinen Problems der sog. „Participation", dae hier nicht für sich behandelt werden kann. 3 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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als zeitlose, unveränderliche Einheiten entdeckend erkennen und einfach als vorhanden vorfinden, wie das in bezug auf mathematische Gegenständlichkeiten oder auf reine Wesenheiten der Fall ist. Indessen bildet sich ein Wortlaut unzweifelhaft erst im Laufe der Zeit unter dem Einfluß verschiedener realer und kultureller Bedingungen aus und unterliegt mit dem Wandel der Zeit mannigfachen Veränderungen und Modifizierungen. Er ist nicht real und doch in der Realität verankert und mit ihrem Wandel selbst wandelbar. Aber seine Wandlung ist von der Veränderung des konkreten Lautmaterials, daa einmal entsteht, dauert und für immer verschwindet, grundsätzlich verschieden. Während das Wort unzählige Male ausgesprochen wird und somit das konkrete Lautmaterial immer ein neues ist, bleibt der „Wortlaut" derselbe. Und erst eine radikale Wendung in der kulturellen Atmosphäre einer Epoche oder eine Änderung der äußeren Umstände, unter welchen ein bestimmtes Wort verwendet wird, kann auch eine Wandlung des Wortlauts mit sich bringen. Es würde uns hier zu weit führen, dies im einzelnen zu verfolgen. Wichtiger für uns ist die Frage, was den Unterschied zwischen einem Wortlaut und dem konkreten Lautmaterial hervorruft. Und da scheint uns, daß die Verwendung eines Lautmaterials zum Tragen1 einer, und zwar einer und derselben Bedeutung, zur Abhebung des Wortlauts als einer identischen lautlichen Gestalt von dem konkreten Lautmaterial führt. Die Bedeutung des Wortes fordert eine äußere Hülle, in welcher sie „zum Ausdruck" kommen kann. Die Verwendung einer bestimmten Bedeutung unter einer Mannigfaltigkeit von anderen, von ihr verschiedenen Bedeutungen, die in mannigfachen Beziehungen zueinander stehen, führt mit sich, daß eine eindeutige Zuordnung zwischen Bedeutungen und ihren äußeren Ausdrücken statuiert werden muß. Es ist somit sinngemäß, wenn „zum Ausdruck" einer und derselben Bedeutung etwas gewählt wird, was ebenso identisch ist wie die Bedeutung selbst. Aber sowohl die Natur des konkreten (akustischen, optischen usw.) Materials, das man zur Bildung des „Wortlautes" verwenden kann, wie andererseits die prinzipiell unbegrenzte Zahl der Fälle, in welchen eine und dieselbe Bedeutung in verschiedenen Zusammenhängen auftreten kann, macht es unmöglich, daß dasjenige, was als äußerer 1 Was übrigens nicht ganz korrekt gesagt ist, weil nicht das konkrete Lautmaterial, sondern der Wortlaut der Träger einer Bedeutung ist.

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Ausdruck ein und derselben Bedeutung fungiert, irgendein individueller, realer Gegenstand oder ein reales Vorkommnis sei. So ist es unumgänglich, sich in den einzelnen Fällen eines konkreten Materials zu bedienen, das nicht dasselbe, sondern bloß ähnlich ist, dafür aber selbst nicht den „Wortlaut", sondern nur die „sinnliche" U n t e r lage zur Konkretisierung einer und derselben typischen Gestalt bildet, die dann als „Wortlaut" fungiert. Diese wortlautliche Gestalt wird dem konkreten Lautmaterial sozusagen durch die identische Bedeutung „oktroyiert" und dadurch zur Erscheinung gebracht. Sie ist es auch, die zu der Bedeutung gehört und dieselbe trägt. Diese Auffassung wird auch durch die Tatsache bestätigt, daß bei Worten, die — wie wir uns unkorrekt ausdrücken — „denselben Wortlaut" und verschiedene Bedeutungen haben, der Wortlaut genau besehen gewöhnlich nicht streng identisch ist, sondern eine fühlbare Verschiedenheit in sich aufweist. Er wird — wenn er eine andere Bedeutung trägt — gewöhnlich nicht bloß rein phonetisch auf eine etwas andere Weise ausgesprochen, sondern trägt auch bestimmte differenzierende Charaktere an sich, die — wenn sie auch noch Charaktere des Wortlauts sind — doch über das rein Phonetische (bzw. Optische) hinausgehen. Diese Gestaltcharaktere sind wie merkwürdige Reflexe, die von der Bedeutung her auf den Wortlaut zurückfallen1. Wie also einerseits die Verschiedenheit der Bedeutung eine Verschiedenheit in einem anscheinend „demselben" Wortlaut hervorruft, so führt andererseits auch die Identität der Bedeutung eine Identität des Wortlauts mit sich und zwingt uns, von dem konkret Individuellen zu der nicht konkreten, sondern im Konkreten sich bloß zeigenden, wortlautlichen Gestalt überzugehen2. 1

Das bekannte Beispiel J. Stenzels: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen" und „Der Herr hat seinen Schirm vergessen" gehört hierher. Vgl. J. S t e n z e l , „Sinn, Bedeutung, Begriff, Definition", Jahrbuch f. Philologie, Bd.I, S. leOff. Auch in seiner „Philosophie der Sprache" (1935) gibt S t e n z e l gute Beispiele dafür. Vgl. S.16—17. 2 Aus diesem Grunde scheint es mir unrichtig zu sein, wenn man gewöhnlich (vgl. neuerdings bei E. Cassirer, „Philosophie der symbolischen Formen", Bd.I, „Die Sprache", Berlin 1923, an vielen Stellen) von dem Wortlaut ale von der „sinnlichen Seite" der Sprache redet, sofern „sinnlich" so viel bedeutet wie „in der schlichten äußeren Wahrnehmung gegeben". Denn der Wortlaut im strengen Sinne ist in der schlichten Wahrnehmung nie gegeben. Es muß immer zu der Wahrnehmungsmeinung noch eine besondere Auffassung hinzutreten, deren intentionales Korrelat erst so etwas wie „Wortlaut" ist. — Auf den Unterschied zwischen dem konkreten Lautmaterial und dem Wortlaut scheint bereite E. Husserl in den „Logischen Untersuchungen" hinzuweisen, wenn er behauptet: „Die Idealität des Verhältnisses zwischen Ausdruck und Bedeutung zeigt sich in Beziehung auf beide

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Was nun im einzelnen Falle zu dem Wortlaut gehört, läßt sich nicht allgemein sagen, da die Bildung des Wortlauts von sehr verschiedenen Umständen abhängt. Falsch wäre es jedenfalls zu meinen, daß hier nur eine bestimmte Anordnung von Silben in Betracht kommt, wenn sie auch in dem gewöhnlichen Falle unzweifelhaft die wichtigste Rolle spielt. Wie die Erfahrung lehrt, kann auch die Höhe des Tones, in dem die einzelnen Silben ausgesprochen werden, zum „Wortlaut" gehören (z.B. das hohe ,,ie" — wie in „Liebe" in der deutschen Sprache). Und manchmal kann auch die bloße Änderung des Tones bei Festhaltung der Silbenanordnung eine Differenzierung des Wortlauts und auch der mit ihm verbundenen Bedeutung hervorbringen1. Endlich können auch verschiedene, ihrem Wesen nach nicht mehr rein lautliche und doch an dem Lautlichen haftende Charaktere zu dem Wortlaut gehören, die schon direkt von dem Inhalt der zugehörigen Bedeutung abhängen. Unserer Auffassung des Wortlauts widerspricht nicht die Tatsache, daß ein und dasselbe Wort bei Verwendung in verschiedenen Sätzen und Satzzusammenhängen hinsichtlich seines Wortlauts auf sekundäre Weise differenziert werden kann, je nach der Stelle, die es in einer höheren Sinneinheit einnimmt, und je nach der Funktion, die es da auszuüben hat. (Es kommen da z.B. die durch den Sinn des Satzes vorgeschriebenen B e t o n u n g e n in Frage.) Denn diese Tatsache spricht nicht dafür, daß es keine „Wortlaute" in unserem Sinne gäbe und daß man somit nur mit dem ständig wechselnden Lautmaterial zu tun habe, sondern macht uns nur darauf aufmerksam, daß eine und dieselbe wortlautliche Gestalt Glieder sofort daran, daß wir, nach der Bedeutung irgendeines Ausdrucks fragend, unter Ausdruck selbstverständlich nicht dieses hic et nunc geäußerte Lautgebilde meinen, den flüchtigen und identisch nimmer wiederkehrenden Schall. Wir meinen den Ausdruck in specie" (I.e. S.42, Bd.II). Nur muß man bemerken, daß der Wortlaut keine „Spezies" im damaligen Husserlschen Sinne ist, weil er kein idealer, zeitloser Gegenstand ist. 1 Vgl. E. Cassirer, I.e. S. 141: „Daneben sind es insbesondere die Sudansprachen, die durch den verschiedenen Ton der Silben, durch Hochton, Mittel- oder Tiei'ton oder durch zusammengesetzte Tonschattierungen, wie den tiefhohen-steigenden oder hochtiefen-fallenden Ton die mannigfachsten Bedeutungsnuancen zum Ausdruck bringen können. Teils sind es etymologische Unterschiede, die auf diese Weise bezeichnet werden, d.h. die gleiche Silbe dient, je nach ihrem Ton, zur Bezeichnung ganz verschiedener Dinge oder Vorgänge; teils drücken sich bestimmte räumliche und quantitative Unterscheidungen in der Verschiedenheit des Silbentons aus, indem z. B. hochtonige Wörter zum Ausdruck großer Entfernungen, tiet'tonige zum Ausdruck der Nähe, jene zum Ausdruck der Schnelligkeit, diese zum Aasdruck der Langsamkeit usf. gebraucht werden."

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sich unter Umständen mit sekundären, aber ebenfalls typischen Gestaltqualitäten verbinden kann und dadurch weitere Nuancierungen der mit dem Wortlaut verbundenen Bedeutung auszudrücken vermag. Die nähere Analyse der Struktur der Bedeutung, die wir später durchführen, wird auch deutlich machen, welche Rolle diese wechselnden Lautcharaktere spielen1. Zur Widerlegung der von uns bekämpften Auffassung des Wortlauts muß noch folgendes hinzugefügt werden : Es ist gar nicht wahr, daß die von Fall zu Fall wechselnden Eigenschaften des konkreten Lautmaterials, welche auf die Konkretisierung des Wortlauts keinen Einfluß haben, von uns beim Hören gar nicht beachtet bzw. erfaßt werden. Sie interessieren uns freilich in dem gewöhnlichen Falle gar wenig, da bei der primären Tendenz zur Erfassung der Bedeutung ausschließlich der Wortlaut in Betracht kommt. Die Besonderheiten des konkreten Lautmaterials werden aber doch immer von uns mitwahrgenommen und, sobald sie nur von dem Durchschnittston der Rede etwas abweichen, auch beachtet und manchmal mit voller Aufmerksamkeit erfaßt 2 . Die Verschiedenheit in der Erfassung einerseits des Wortlauts und andererseits der Eigentümlichkeiten des konkreten Lautmaterials entspricht dem Unterschied zwischen den Funktionen, die der schon konstituierte Wortlaut im Vergleich zu den wechselnden Eigentümlichkeiten des konkreten Lautmaterials in der lebendigen Verwendung der Worte als Mittel zum wechselseitigen Verständnis hat. Der Wortlaut kennzeichnet nämlich das betreffende Wort für sich und bestimmt seine Bedeutung in dem Sinne, daß seine Erfassung durch den Hörer die Richtung des Verstehens auf die entsprechende Bedeutung hinleitet und zum Vollzug der Bedeutungsintention durch den Verstehenden führt. Dadurch richtet sich — in dem gewöhnlichen Falle des Verstehens — der Hauptstrahl der Aufmerksamkeit des Verstehenden s.z.s. mit der verstandenen Bedeutung auf den durch sie bestimmten Gegenstand. Dagegen tragen die wechselnden Eigentümlichkeiten des konkreten Lautmaterials zu d i e s e r Wortfunktion nichts We1 Ein besonderes, hier nicht näher zu behandelndes Problem bildet die Frage, wie sich die identische wortlautliche Gestalt in den Umformungen, die das Wort in der Deklination bzw. Konjugation annimmt, durchhält. Daß es aber wirklich der Fall ist, spricht gerade für die hier von uns vertretene Auffassung. Die lautliche Wandlung des Wortes geht mit einer entsprechenden Abwandlung des Sinnes zusammen. 2 In diesen Fällen springt auch der Unterschied zwischen Wortlaut und dem konkreten Lautmaterial am besten ins Auge.

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sentliches bei. Ob z.B. das betreffende Wort einmal in einem tiefen, das andere Mal in einem hohen Tone ausgesprochen wird, das ändert, falls die Höhe des Tones nicht von vornherein zu dem betreffenden Wortlaut gehört, nichts an seiner Bedeutung, an seinem rationalen Sinn. Dagegen spielen diese Eigentümlichkeiten eine wesentliche Rolle bei der Funktion der Kundgabe1, die das gesprochene Wort im lebendigen Verkehr hat ; außerdem können sie einen bedeutenden Einfluß auf die Bildung des gesamten konkreten psychischen Inhalts, der in dem Angeredeten beim Erfassen der Rede entsteht, sowie auf die Verhaltungsweise der im sprachlichen Verkehr miteinander Stehenden haben. Ein und dasselbe Wort, einmal in einem scharfen und unangenehmen Tone, das andere Mal auf eine milde und klangvolle Weise ausgesprochen, drückt z.B. die Unhöflichkeit bzw. die Liebenswürdigkeit des Sprechenden aus. Andererseits ruft es im Angeredeten in beiden Fällen ganz verschiedene emotionale Zustände hervor und bewirkt seine verschiedenen Verhaltensweisen (vgl. z.B. den „scharfen" Ton eines Befehls, den höflichen einer Einladung usw.). Natürlich ist in beiden Hinsichten auch der reine Wortlaut nicht ohne jede Bedeutung, und aus diesem Grunde werden wir gleich verschiedene Typen von Worten unterscheiden. Aber trotzdem, die primäre und wesentliche Funktion des Wortlauts selbst bleibt es, die Bedeutung des betreffenden Wortes zu bestimmen.

§ 10. Verschiedene T y p e n von W o r t l a u t e n und ihre F u n k t i o n e n . Wenn wir Worte in Absehung von der mannigfachen Verwendung und Funktion, die sie im lebendigen Verkehr der psychischen Individuen untereinander finden, nehmen und bloß auf die eindeutige Zuordnung von Wortlauten und Bedeutungen in einem terminologischen System Gewicht legen, so gilt der Satz, daß die Verbindung eines bestimmten Wortlauts" mit einer bestimmten Bedeutung ganz zufällig und beliebig ist. Jeder Wortlaut kann 1 Über die „Funktion der Kundgabe" vgl. E. Husserl, „Log. Unters.", Bd.II, Unters. I. Vor H u s s e r l hat K. Twardowski die verschiedenen Funktionen des Wortes (insbesondere der Namen) unterschieden, vgl. „Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen", Wien 1894. In seiner im Jahre 1934 veröffentlichten „Sprachtheorie" hat K. B ü h l e r für diese Funktion den Terminus „Ausdrucks· funktion" benutzt, der sich übrigens schon bei T w a r d o w s k i findet.

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dann prinzipiell mit jeder Bedeutung verbunden werden. Dafür spricht u. a. auch die Tatsache, daß eine und dieselbe Bedeutung in verschiedenen Sprachen mit mehr oder weniger verschiedenen Wortlauten verbunden wird. Indessen im Rahmen einer und derselben l e b e n d i g e n Sprache und innerhalb ihrer mannigfachen Verwendung in verschiedenen Lebenssituationen scheinen manche Wortlaute sozusagen besonders dazugeeignet zu sein, ganz bestimmte Bedeutungen zu tragen und, im Zusammenhang damit, besondere Sprachfunktionen ausüben zu können. Natürlich hat diese Prädisposition nicht in den rein lautlichen, aus dem konkreten Lebenszusammenhang herausgelösten Eigenschaften des Wortlauts oder in dem rein rationalen Inhalt der Wortbedeutung ihren Grund. Die Worte und insbesondere auch die Wortlaute haben aber — wie allgemein bekannt — eine Entwicklungsgeschichte durchgemacht, die im engen Zusammenhang mit der Geschichte des ganzen Lebens einer Menschengemeinschaft steht. In ihr hegen eben die Gründe, die bewirken, daß manche Worte uns — im Rahmen einer und derselben Sprach- und Lebensgemeinschaft — besonders geeignet zu sein scheinen, eine bestimmte Bedeutung mit sich zu führen und somit nicht bloß sozusagen von vornherein „verständlicher" zu sein, sondern auch verschiedene besondere Verwendungsmöglichkeiten in sich zu bergen1. 1 Zu der hier durchgeführten Erwägung vgl. M. D e s s o i r , „Ästhetik", S.366: „Die Möglichkeit aber, überhaupt Gegenstand oder Eigenschaft oder Zustand zu treffen, in all ihrer sinnlichen Beschaffenheit, erklärt man gegenwärtig daraus, daB der ursprüngliche Sprachlaut eine Lautgebärde und demgemäß gleich anderen Gebärden die Äußerung des vom Objekt gewonnenen Eindrucks sein soll." Vgl. auch W. W u n d t „Völkerpsychologie", Bd.I, 2. S.607. Einige Jahre nach dem Erscheinen meines Buches schrieb Julius S t e n z e l in seiner Philosophie der Sprache (1935) : „Einmal kann die notwendige Beziehung zwischen Sinn und Zeichen zwar vorausgesetzt, aber der Gehalt des gemeinten Sinnes yon allem „Zufalligen" der Bezeichnung soweit wie möglich abgelöst werden. Dies gelingt dort am leichtesten, wo das Zeichensystem frei festgesetzt wird, in der mathematischen Sprache, soweit mathematische Sachverhalte „konstruiert", d.h. in ihrem Wesen fest umgrenzt und von allem Zufälligen befreit werden können. Von den Schwierigkeiten, die trotzdem die „Anschauung", die intuitiven Züge, auch auf diesem Boden bereiten, darf hier abgesehen werden, weil durch den Gegensatz lediglich die gänzlich andere Situation überall dort bezeichnet werden soll, wo keine freie Symbolisierung vorliegt, sondern der Ausdruck sich unabhängig von jeder Willkür an und mit dem Gemeinten bildet, ein Fall, der wieder in der natürlichen Sprache am deutlichsten ist. Die engere Verbindung von Sinn und Ausdruck dort wird zum maßgebenden Typus für alle die höheren Ausdrucksmöglichkeiten, die in der dichterischen Sprache und in den anderen ästhetischen Ausdrucksgebieten im Aufbau der Kultur sich verwirklichen" (I.e. S . l l ) .

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Im Hinblick darauf lassen sich verschiedene Typen von Worten — und insbesondere von Wortlauten — unterscheiden, von denen einige von besonderer Wichtigkeit für den Aufbau des literarischen Werkes sind. Um mit demjenigen Typus anzufangen, der am wenigsten für die Verwendung in literarischen Kunstwerken in Betracht kommt, seien hier vor allem die „leblosen", „toten" Worte erwähnt, deren ausgeprägtesten Fall die wissenschaftlichen „Termini" einer künstlich geschaffenen wissenschaftlichen Terminologie bilden. Ihre ganze Funktion erschöpft sich darin, klare, eindeutig bestimmte Bedeutungen zu haben und die letzteren bei Wechselverständigung zu übermitteln. Ihr Wortlaut ist in dem Sinne für ihre Funktion irrelevant, daß er prinzipiell durch einen beliebigen anderen ersetzt werden könnte. Aus diesem Grunde eben muß er in einer bewußt abgeschlossenen Konvention festgelegt werden. Dabei ist es charakteristisch, daß nicht einzelne Wortlaute regellos festgelegt werden, sondern daß immer ein ganzes S y s t e m von „Terminis" auf Grund eines e i n h e i t l i c h e n Prinzips gebildet wird. Als Ideal gilt es dann, die Worte oder „Zeichen" so zu gestalten, daß ihre äußere Gestalt die Beziehungen der zugehörigen „Begriffe" widerspiegeln (vgl. Leibnizens Idee einer „ars combinatoria", die „Begriffssprache" der modernen Logistik usw.). Der Zweck, den man dabei verfolgt, spiegelt sich in der Tendenz, sich möglichst weit von der intuitiven Erfassung der zugehörigen Gegenstände zu befreien und sie durch eine Kombinatorik der Termini zu ersetzen. Für denjenigen, der das Prinzip der Bildung der Termini und die entsprechenden Nominaldefinitionen nicht kennt, sind diese Termini entweder überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in dem Sinne verständlich, in welchem sie in der betreffenden Wissenschaft verwendet werden. Aber auch in der täglichen Umgangssprache gibt es zahlreiche Worte, die sozusagen auf das Niveau der wissenschaftlichen Termini herabgesunken sind: die leblosen, gedankenlos wiederholten Schlagworte, die der Funktion, die intuitive Beziehung des Sprechenden zu den entsprechenden Gegenständen herzustellen, beraubt sind. Allen derartigen Worten müssen die „lebendigen" und insbesondere die „lebensvollen", „kräftigen" Worte, die man vorzugsweise im direkten Verkehr im täglichen Leben verwendet, gegenübergestellt werden. Unter ihnen gibt es vor allem diejenigen Worte, deren Wortlaut die Funktion des unmittelbar verständlichen „Ausdrückens" — und zwar sowohl im Sinne der „Kundgabe" wie auch 40

des „den gemeinten Sinn zum Ausdruck Bringens" — auszuüben vermag. Und zwar handelt es sich bei ihnen nicht darum, daß derjenige, an den solche Worte gerichtet sind, ü b e r h a u p t und m i t t e l s e i n e r „ L e e r m e i n u n g " — wie Husserl sagt — w e i ß , daß der Sprechende gerade diese Erlebnisse hat, denn dies kann auch durch die ganz leblosen Worte hervorgebracht werden, sondern darum, daß die besonderen Charaktere der Wortlaute — wie übrigens auch der „Ton", in welchem sie ausgesprochen werden — die konkreten, sich gerade abspielenden Erlebnisse des Sprechenden „ e n t h ü l l e n " , so daß dem Zuhörenden dieselben ohne Mithilfe irgendwelcher Schlüsse auf a n s c h a u l i c h e Weise s e l b s t gegeben werden. Die Erlebnisse bzw. die psychischen Zustände des Sprechenden werden da sozusagen „zur Schau gestellt". Den eben besprochenen reihen sich andere Typen von „lebhaften" Worten an, die sich dadurch auszeichnen, daß die auf rein phonetischer Gestaltqualität sich aufbauenden Charaktere, die von der Bedeutung her auf den Wortlaut zurückfallen, sich deutlicher in dem Wortlaut ausprägen und ihn sozusagen mit dem charakteristischen quale des zugehörigen Gegenstandes färben (Beispiel: alle „obszönen", alle „groben" Worte u.dgl. mehr). Dadurch tritt bei ihnen nicht die Ausdrucksfunktion (Kundgabe), sondern die Aktualisierung der Beziehung des ein derartiges Wort Erfassenden zu dem durch die Bedeutung des Wortes bestimmten Gegenstande auf den ersten Plan. Sie rufen in dem Hörer lebhafte a n s c h a u l i c h e Vorstellungen der betreffenden Gegenstände hervor und können sogar die intuitive Erfassung der letzteren wesentlich erleichtern. Es werden bei ihrer Verwendung mannigfache „Ansichten" von den betreffenden Gegenständen in der Vorstellungsmodifikation reaktualisiert, die uns erlauben, die Gegenstände quasi zu „sehen" 1 . Man könnte sagen, daß eine ihrer wesentlichsten Funktionen darin liegt, die den durch sie gemeinten Gegenständen zugehörigen „Ansichten" p a r a t z u h a l t e n und den Gegenständen eine anschauliche Fülle zu geben. Daß in dieser Hinsicht die besonderen Charaktere des Wortlauts, und nicht etwa die zugehörige Bedeutung selbst, die wesentliche Rolle spielen, zeigt am besten die Tatsache, daß es möglich ist, die besondere Wirkung z.B. der obszönen Worte zu vermeiden durch Verwendung anderer, die dasselbe bedeuten, aber einen in dieser 1

Über die „Ansichten" vgl. Kapitel 8 unserer Arbeit.

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Hinsicht neutralen Wortlaut haben, wenn es sich darum handelt, etwas Delikates auf möglichst „ungefährliche" Weise zu sagen. Die eben angedeuteten Unterschiede unter den Worten, welche in dem Typus ihres Wortlauts ihr Fundament haben, spielen — wie sich zeigen läßt und wie auch zu erwarten ist — eine wichtige Rolle in dem Aufbau des literarischen Werkes. Denn von dem Typus der da verwendeten Worte hängt nicht bloß der besondere Charakter der lautlichen Schicht des betreifenden Werkes — was sich natürlich auch in dem Gesamtcharakter des ganzen Werkes spiegelt — ab, sondern auch die Weise, in welcher die Schicht der Sprache ihre Rolle den anderen Schichten des Werkes gegenüber ausübt. Wir werden darauf noch später zurückkommen müssen. Endlich muß noch folgendes bemerkt werden: Schon der rein phonetische Gehalt des Wortlauts, aber vorzugsweise der ganze Wortlaut kann in sich Qualitäten enthalten, die ästhetisch relevant sind. So unterscheidet man z.B. oft „schön" und „häßlich" klingende Worte (genauer: Wortlaute!)1. Es gibt dann weiter „leichte" und „schwere" Worte, Worte, die „lächerlich" und die „ernst" klingen, solche, die „feierlich" und „pathetisch" und solche, die „schlicht und „einfach" sind — alles Unterschiede und Charakteristika, die in ihrem Wortlaut selbst ausgeprägt sind, wenn es auch nicht geleugnet werden soll, daß sie sowohl mit den zugehörigen Bedeutungen im engen Zusammenhang stehen, wie auch den Worten vorzugsweise durch die Art der Aussprache, durch den „Ton" gegeben werden. § 11. S p r a c h l a u t l i c h e Gebilde höherer S t u f e und ihre Charaktere. Das einzelne Wort ist bloß ein Element der Sprache, welches in seiner Abgegrenztheit wahrscheinlich erst verhältnismäßig spät erfaßt und als ein Ganzes für sich hingestellt wurde. In der lebendigen 1 Besonders wenn man verschiedene Sprachen in dieser Hinsicht vergleicht, sieht man, daß eine jede von ihnen in ihrem wortlautlichen Material andere „Schönheiten" birgt. Dasselbe tritt beim Vergleich verschiedener „Aussprachen" einer und derselben (z.B. der französischen) Sprache deutlich zutage. Dabei wird immer eine bestimmte Weise der Aussprache als eine „eigentliche", „ideale" vorausgesetzt, und zwar in der Meinung, daß sie besonders geeignet ist, die in dem wortlautlichen Material der betreffenden Sprache sich bergenden Schönheiten auszuprägen. —• Natürlich gibt es in jeder Sprache mannigfache Abwandlungen der Wortlaute einzelner Worte, welche die lokalen Färbungen ausprägen. Aber dies beweist nichts gegen unsere Auffassung des Wortlauts.

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Sprache wie auch in literarischen Werken tritt es aber nie oder fast nie in der Isolierung auf. Auch dort, wo es als etwas sich selbst Genügendes isoliert aufzutreten scheint, bildet es nur eine Abkürzung, welche die Stelle eines ganzen Satzes oder sogar Satzzusammenhanges einnimmt. Das wahrhaft selbständige Gebilde der Sprache bildet eben nicht das einzelne Wort, sondern der Satz1. Nicht also eine bloße Anhäufung von Wörtern führt zu besonderen Wortgruppen, die man dann etwa nur zur Abkürzung „Satz" nennt, sondern umgekehrt weist der Satz, als eine Sinneinheit und ein den Wörtern gegenüber vollständig neuartiges Gebilde, eine Gliederung in sich auf, die zuletzt auf Worte als relativ unselbständige Elemente des Satzes zurückführt2. Wenn aber der Satz ein den einzelnen Worten gegenüber neuartiges Gebilde ist, so ist er dies l e d i g l i c h dank der besonderen Struktur seines Sinngehaltes. Mit anderen Worten: Es gibt unzweifelhaft „Wortlaute" als einheitliche, typische Gestalten, es gibt aber — im gleichen Sinne — keine „Satzlaute". Gewiß, die Einheit des Satzsinnes sowie die Besonderheiten der Satzfunktionen bewirken es, daß auch die Wortlaute der zu einem Satze gehörenden Worte zusammengehören8 und daß sich sogar eine für den Satz als solchen charakteristische Satzmelodie ausbildet, die übrigens noch verschiedene Modifikationen zuläßt4. Trotzdem bilden die Sätze, was ihre rein sprach1 Daß aber auch der Satz ein nur relativ selbständiges Gebilde ist, wenn er als Glied in einem Satzzusammenhang auftritt, wird sich später zeigen. Vgl. § 23 dieser Arbeit. 2 Vgl. z.B. schon bei W. v. H u m b o l d t : „ I n der Wirklichkeit wird die Bede nicht aus ihr vorangehenden Wörtern zusammengesetzt, sondern die Wörter gehen umgekehrt aus dem Ganzen der Bede hervor." („Üb. d. Versch. d. menschl. Sprachbaus", Akad. Ausg. VII, I, 72.) » Vgl. unten S. 51. * Von der Satzmelodie spricht neuerdings H. A m m a n n , „Die menschliche Rede", Bd.II, Lahr i.B. 1928. Auch die Sprachmelodie, die J. S t e n z e l (I.e.) im Auge hat, gehört hierher. Wenn aber S t e n z e l behauptet: „Von der Sprachmelodie aus kann ja allein eine Theorie des Satzes aufgebaut werden, nur muß die Sprachmelodie in ihrem unmittelbaren Bezug zur gegliederten Bedeutungsreihe erkannt sein" (I.e. S. 188), so geht das sioher zu weit. Man muß aber S t e n z e l zustimmen, wenn er später (Philosophie der Sprache, 1935) schrieb: „Also nicht nur in dem artikulierten Einzellaute ist die akustische Gestalt der Sprache wesentlich, sondern in dem ganzen aus der einheitlichen Energie der Sinngebung geformten Satze. Diese Energie — ich spreche später von der „satzbildenden Operation"! —, die also vorher das Ganze des Satzes intendiert, ist nun nicht etwa nur für die pathetische, emotionale Sphäre von Wichtigkeit, sondern in der rhythmischen „Gliederung" jedes Satzes liegt seine „Überschaubarkeit" begründet. Wer beim Vorlesen das Ganze nicht übersieht, „versteht" den Satz im konkreten SinnVollzug nicht und wird auch nicht verstanden" (I.e. S. 17).

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lautliche Seite betrifft, kein dem Wortlaute g l e i c h w e r t i g e s sprachlautliches Gebilde und insbesondere kein sprachlautliches E l e m e n t , mit dem — wie mit dem Wortlaute — operiert und das zur Bildung andersartiger Ganzheiten verwendet werden könnte1. Es bilden sich zwar in der täglichen Umgangssprache unzweifelhaft manche „Phrasen" aus, die auch der lautlichen Seite nach etwas Einheitliches, dem Wortlaute Analoges zu sein scheinen. So k l i n g t z.B. die Begrüßung: „Guten Tag" oder das englische „How do you do?" fast wie ein Wort. Genau besehen sind es aber gewisse inkomplett ausgesprochene, abgekürzte Sätze. Die Einheit ihres Sinnes wirft auf die zugehörige Wortlautmannigfaltigkeit gerade deswegen einen Schein der Einheitlichkeit, weil ihr Sinn sozusagen „komprimiert", in der Abkürzung zusammengedrängt, nicht diejenige Gliederung zeigt, welche in einem voll entwickelten Satze auftritt und welche die Abgrenzungen der einzelnen Wortlaute betonen kann. Ist aber der Satz voll entwickelt bzw. ausgesprochen, dann bilden die Wortlaute eine aus selbständigen Elementen zusammengesetzte Mannigfaltigkeit. Trotz dieser Sachlage führt das Aufeinanderfolgen von Wortlauten zur Bildung gewisser neuartiger lautlicher Gebilde und Lauterscheinungen bzw. Charaktere, die der einzelne Wortlaut hervorzubringen nicht imstande wäre. Andererseits ist auch — wie schon bemerkt — die Einheitlichkeit und der eigenartige Aufbau des Satzsinnes nicht ohne jede Folge für die zugehörigen Wortlautmannigfaltigkeiten. In diesen beiden Richtungen müssen also die Betrachtungen des vorangehenden Paragraphen ergänzt werden. Fangen wir mit der ersten Gruppe der sprachlautlichen Erscheinungen an2, so fällt uns vor allem auf, daß das Aufeinanderfolgen von Wortlauten gewisse sekundäre, an den Wortlauten sich aufbauende Charaktere hervorbringt. Freilich verändern sich die einzelnen Wortlaute durch das Auftreten in einer bestimmten Mannigfaltigkeit nicht in dem Sinne, daß ein Wortlaut sich dadurch in einen anderen, zweiten verwandeln würde, daß ihm ein bestimmter anderer vorangeht und ein noch anderer folgt. Nichtsdestoweniger aber treten manchmal an ihnen fühlbare — wenn man so sagen darf — relative Charaktere auf, die ihren Ursprung in der 1

Vgl. dagegen die wirklich lautlichen, über die Einheit des Wortlautes hinausgehenden Ganzheiten, die wir unten S. 48 besprechen. 2 Vgl. zu dem Folgenden: Th. L i p p s , „Grundlegung der Ästhetik", Leipzig 1903, S. 487—492.

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Nachbarschaft anderer Wortlaute haben. Dabei kommen vor allem die rein lautlichen Momente der Wortlaute in Betracht, aber auch die übrigen Momente können sowohl den Grund dieser sekundären Modifizierungen bilden wie auch als solche Modifizierungen auftreten. Wenn z.B. auf Wortlaute mit lauter weichen Klängen ein ausgesprochen scharfer und harter Wortlaut folgt, so tritt eine Betonung der Schärfe des letzteren als eine besondere Kontrasterscheinung auf. Eine analoge Situation ergibt sich, wenn in einer Phrase, die aus lauter „feinen" Worten besteht, auf einmal ein nicht bloß seiner Bedeutung, sondern auch seinem Wortlaute nach „grobes" Wort auftritt. Dann k l i n g t es viel gröber, als wenn es eine weniger „feine" Umgebung hat. Es gibt natürlich eine große Mannigfaltigkeit von solchen „relativen" Charakteren. Viel wichtiger als die eben besprochenen sind diejenigen den Wortlauten gegenüber völlig neuartigen, sprachlautlichen Erscheinungen, die eine ganze Mannigfaltigkeit von Wortlauten charakterisieren. Dazu gehört vor allem der Rhythmus und das Tempo. Beschränken wir uns hier nur auf derartige Rhythmen, die sich auf einem Laut material aufbauen1, so beruht der Rhythmus bekanntlich auf der Wiederkehr einer bestimmten Abfolge von akzentuierten und nichtakzentuierten Lauten. Er ist sowohl von der absoluten wie auch von der relativen Höhe der Laute, aber auch von der sonstigen Qualifizierung des Lautmaterials relativ unabhängig. Man kann ja „denselben" Rhythmus sowohl mit Hilfe des sprachlichen Lautmaterials wie auch mit den für dies oder jenes musikalische Instrument charakteristischen Klängen, wie endlich mit Paukenschlägen und anderen Geräuschen hervorbringen. Natürlich ist der Rhythmus selbst nicht mit einer solchen Akzentabfolge zu identifizieren. Er ist eine spezifische G e s t a l t q u a l i t ä t 2 , die sich nur in der Wiederkehr solcher Abfolgen konstituiert. Dabei gibt es zwei verschiedene Grundtypen dieser Rhythmusqualitäten: einerseits solche, die zu ihrer Konstituierung eine streng regelmäßige Wiederkehr von immer derselben Aufeinanderfolge von Akzenten erfordern, andererseits solche, bei welchen eben diese strenge Regelmäßigkeit 1 Es gibt ja auch einen Rhythmus der visuell oder innerleiblich gegebenen Bewegungen, Rhythmuserscheinungen in der Zeichnung und Architektur usw. Vgl. dazu 0. Walzel, „Wechselseitige Erhellung der Künste" (1917) und die von ihm referierten Betrachtungen von Schmarsow, Pinder, R u s s a c k usw. Für uns ist diese Frage von untergeordneter Bedeutung. 8 Daß der Rhythmus eine „Gestalt" ist, behauptet auch J. Stenzel in dem zitierten Artikel, 1. c. S. 175.

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nicht unbedingt nötig ist. Die letzteren setzen im Gegenteil eine bis zu einem gewissen Grade gehende Veränderlichkeit in dieser Hinsicht voraus. Wir wollen die ersteren „regelmäßige", die der zweiten Art „freie" Rhythmen nennen. Nur in Versen, welche strenge Wiederholung der Versordnung erfordern, gelangen die rhythmischen Qualitäten der ersteren Art zur Konstituierung, während schon bei dem sogenannten „freien" Vers und erst recht bei verschiedenen Typen der Prosa die freien Rhythmen in Frage kommen. Natürlich braucht ein literarisches Werk nicht in allen seinen Teilen in demselben Rhythmus geschrieben zu werden, um überhaupt rhythmisch charakterisiert zu sein. Im Gegenteil bringt ein in bestimmten Grenzen gehaltener Wandel des Rhythmus rhythmische Charaktere höherer Stufe hervor. Nur darf er nicht zu oft eintreten. Genau besehen ist jeder literarische Text mit irgendwelchen rhythmischen Qualitäten ausgestattet. Es gibt aber verschiedene Stufen der Ausgeprägtheit und der Eindringlichkeit der letzteren, besonders unter denjenigen, die zu den „freien" Rhythmen gehören. Wenn aber eine Rhythmusqualität sehr wenig „eindringlich", auffällig oder markant, oder umgekehrt zu kompliziert und „schwierig" ist, dann kommt ihre Besonderheit kaum zum Bewußtsein. Aus diesem Grunde ist man manchmal geneigt, ihr Vorhandensein überhaupt zu leugnen. Dabei muß noch zweierlei unterschieden werden: 1. der Rhythmus, der von einer bestimmten Wortlautsmannigfaltigkeit sozusagen vorgeschrieben, ihr i m m a n e n t ist und 2. derjenige, welcher bei einer b e s t i m m t e n Lesung durch diese oder jene Art des Vortrage mehr oder weniger künstlich hervorgerufen und dem vorliegenden Texte a u f g e z w u n g e n werden kann. Der aufgezwungene Rhythmus kann den immanenten verunstalten oder ganz verändern und verdecken1. Die ungerechtfertigte Identifizierung dieser beiden verschiedenen Angelegenheiten und die Tatsache, daß der aufgezwungene Rhythmus in den einzelnen Lesungen desselben Textes weitgehende Unterschiede aufweisen kann, sowie endlich die Abhängigkeit des letzteren von der Willkür des Lesers können leicht zu der falschen Ansicht verleiten, daß die Sprache des literarischen Werkes selbst jeder rhythmischen Qualifizierung bar ist. Tatsächlich aber bestimmt die Wahl und die Anordnung der Wortlaute die rhythmischen Qualitäten des Textes und stellt bestimmte Forderungen betreffs der Vortragsweise. Diese können zwar im einzelnen 1

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Ob dies in jedem beliebigen Fall möglich ist, möchte ich hier nicht entscheiden.

Falle nicht befolgt werden, aber das führt zu einer v e r f ä l s c h e n den Umbildung der sprachlautlichen Schicht des betreffenden Werkes und kann manchmal in dem Grade seinem Wesen widersprechen, daß auch die übrigen Schichten in der betreffenden Lesung gar nicht zur Ausprägung gelangen. Von dem Rhythmus der Sprache, der durch die Eigentümlichkeiten ihrer l a u t l i c h e n Seite allein hervorgebracht wird, müssen diejenigen rhythmischen Charaktere unterschieden werden, welche durch den Sinn der Sätze bewirkt werden. Wir werden uns mit den letzteren sogleich beschäftigen. Die verschiedenen Rhythmen und rhythmischen Charaktere führen ein neues sprachlautliches Phänomen mit sich, nämlich das Tempo. Unter dem Tempo verstehen wir nicht die willkürlich hervorzubringende und zu ändernde objektive G e s c h w i n d i g k e i t des V o r t r a g e bei einer i n d i v i d u e l l e n Lesung, sondern einen bestimmten C h a r a k t e r der wortlautlichen Seite der Sprache, z.B. den der „Schnelligkeit" oder der „Langsamkeit", aber auch der „Leichtigkeit" oder der „trägen Schwere". Dieser Charakter wird durch Eigentümlichkeiten des dem Texte immanenten Rhythmus bedingt und durch eine von dem Rhythmus vorbestimmte, ihm „eigene" Geschwindigkeit hervorgebracht. Wie wir aus der Musik wissen, läßt ein und derselbe Rhythmus verschiedene objektive Geschwindigkeiten zu, ohne durch ihren Wechsel zu einem anderen Rhythmus zu werden. Trotzdem gibt es aber gewisse — übrigens nur vag bestimmte — Grenzen, innerhalb welcher die Geschwindigkeit des Vortrage sich zwar ändern kann, bei deren Überschreitung aber sie für den betreffenden Rhythmus „ungeeignet", ihm „unnatürlich" zu sein scheint, weil sie Charaktere des Tempos mit sich führt, die mit der betreffenden rhythmischen Gestaltqualität in einer „Disharmonie", in einem „Widerstreit" stehen1. Aus diesem Grunde und in dem dadurch bestimmten Sinne dürfen wir behaupten, daß ein bestimmter Rhythmus objektive Geschwindigkeiten der Aufeinanderfolge der Laute „vorbestimmt" und fordert. Trotzdem können natürlich bei einer individuellen Lesung Geschwindigkeiten angewendet werden, die zu Charakteren des Tempos führen, welche mit der betreffenden Rhythmusqualität disharmonieren. Aber diese Möglichkeit betrifft im allgemeinen nicht das Uterarische Werk Am leichtesten lassen sich diese Abhängigkeiten zwischen Tempo und Rhythmus an Beispielen der griechischen Metrik zeigen. 1

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selbst, sondern nur seine individuellen Lesungen, und sie besteht nur dann, wenn wir von der Frage ganz absehen, ob die individuelle Lesung die eigenen Charaktere des Werkes selbst getreu wiedergibt oder nicht. Handelt es sich aber um eine getreue Wiedergabe der Eigentümlichkeiten des Werkes, so wird der Bereich der da vorliegenden Möglichkeiten wesentlich eingeschränkt. Andererseits kann das Zustandekommen der erwähnten disharmonischen Erscheinungen durch entsprechende Mittel des Werkes selbst gefordert werden, wenn z.B. in einem „dramatischen" Werke der „Nebentext" 1 „informiert", daß ein Held z.B. „sehr schnell" oder „sehr langsam" sprechen soll, um einen zu dem Aufbau des Werkes gehörenden Widerstreiteffekt hervorzubringen. Das Auftreten der verschiedenen Tempo-Charaktere ist auch davon abhängig, ob die Worte, die in einem Satze oder Satzzusammenhange vorkommen, kurze oder lange (einsilbige oder mehrsilbige) Wortlaute besitzen, bzw. Wortlaute, die ihrer Gestaltqualität gemäß eine kurze oder lange Aussprache fordern. Endlich steht das Tempo auch mit dem Sinn der Sätze und ihrer Gliederung im Zusammenhang. So führen z.B. kurze Sätze auch schnellere Tempi mit sich. Andererseits wirft eine Reihe von rasch wechselnden „Sachverhalten"2, die durch den Sinn der Sätze bestimmt werden, einen Reflex auf die lautliche Seite der Sprache und modifiziert die durch die letztere allein bestimmten Tempo-Charaktere. Das Vorhandensein eines „regelmäßigen" Rhythmus führt zur Konstituierung l a u t l i c h e r Einheiten höherer Stufe, wie sie z.B. der „Vers" und die „Strophe" bilden. Diese Einheiten sind nur insofern von dem Wortlautmaterial abhängig, als die Abfolge der Wortlaute den Rhythmus bestimmt. Sie sind auch nicht auf eine Stufe mit der Einheit eines Wortlauts zu stellen. Zugleich müssen sie von der Zusammengehörigkeit der Wortlaute unterschieden werden, die durch die Einheiten des Sinnes hervorgebracht wird. Die Einheiten des „Verses" z.B. könnten auch dann bestehen, wenn der Sinn ganz fortfallen würde, wie das z.B. der Fall ist bei individuellen Lesungen, die in einem „sinnlosen Rezitieren" bestehen; der Charakter des Zusammengehörens entsprechender Worte fällt dann dagegen fort. Beiderlei Einheitsbildungen können sich übrigens im Prinzip kreuzen. 1 2

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Vgl. unten § 30. 6. Vgl. unten § 22.

Eine andere Gruppe von sprachlautlichen Eigentümlichkeiten bilden verschiedene „Melodien" und melodische Charaktere. Sie sind vor allem durch die Aufeinanderfolge der in den Wortlauten auftretenden und eine bestimmte Tonhöhe mit sich führenden Vokale1 bedingt bzw. konstituiert. So ist es natürlich, daß bei der Konstituierung der melodischen Charaktere der „Reim" und die „Assonanz" eine wichtige Rolle spielen. Wesentlich für sie sind auch die schon früher besprochenen relativen Charaktere der einzelnen Wortlaute, welche sich aus ihrer Umgebung ergeben. Sie bilden sozusagen den Anfang einer Organisierung der distinkten Wortlaute zu Gestaltungen höherer Stufe und insbesondere zu verschiedenartigen Melodien. Jede lebendige Sprache, und in noch höherem Grade jeder Dialekt, hat ihre charakteristischen melodischen Eigenschaften. Man kann sagen, daß die Sprache fast eines jeden einzelnen Menschen (wobei hier auch die Standes- und Klassenunterschiede eine bedeutende Rolle spielen) ein ihr eigentümliches melodisches Gepräge besitzt. Das hat natürlich seine Wichtigkeit, wenn die lebendige Sprache als Material zur Gestaltung eines literarischen Werkes verwendet wird. In dieser Richtung unterscheiden sieb die einzelnen Werke stark untereinander, da die melodischen Eigentümlichkeiten der lebendigen Sprache des Autors sich auch in seinen Werken gewöhnlich fühlbar machen. Es gehört aber auch zu der K u n s t des Dichters, die verschiedenen melodischen Eigenschaften der Sprache zu Zwecken entweder rein melodischer Schönheiten des Textes oder der mannigfachen Darstellungszwecke, die wir noch später näher besprechen werden, zu beherrschen und sie kunstgemäß zu verwenden. Endlich müssen wir noch einer ganz besonderen Eigentümlichkeit der lautlichen Seite der Sprache gedenken, die ihren Grund in der Aufeinanderfolge von bestimmten Wortlauten hat. Es handelt sich hier um Charaktere, die selbst nicht mehr rein lautlich sind, die aber in den rein lautlichen Eigenschaften der Wortlautfolge und den da entstehenden Gestaltungen (wie in der Art des Rhythmus, des Tempos, der Melodie, der Klangfarbe der einzelnen Wortlaute usw.) ihre Fundierung haben und auch an ihnen zur Erscheinung gelangen. Es sind die mannigfachen „Gefühls-" oder „Stimmungsqualitäten", wie z.B. „traurig", „wehmütig", „lustig", „gewaltig" 1 Vgl. die diesbezüglichen Untersuchungen, die man in der empirischen Psychologie angestellt hat, z.B. Gesa Révész. — Vgl. dazu z.B. Dessoir, „Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft", S. 385.

4 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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u.dgl.1. Ihr Auftreten kann auch durch den mit den Wortlauten verbundenen Sinn bedingt und beeinflußt werden2. Aber — wie der Fall musikalischer Werke deutlich zeigt — können sie auch ausschließlich durch das lautliche Material hervorgebracht werden. Oft brauchen wir z.B. ein in einer fremden Sprache vorgelesenes Gedicht gar nicht zu verstehen, um die hier in Frage kommenden Charaktere deutlich zu erfassen. Und wiederum kann die Weise, in welcher z.B. ein Gedicht vorgelesen wird, auf das Auftreten dieser Gefühlsqualitäten einen Einfluß ausüben, indem das konkrete Lautmaterial auf diese oder jene Weise modifiziert wird. Andererseits kann auch die Stimmung, in welcher sich gerade der Hörer befindet, das „Zur-ErscheinungKommen" dieser Qualitäten stören oder begünstigen. Aber es wäre wiederum falsch zu meinen, daß die lautliche Seite der Sprache eines literarischen Werkes in dieser Hinsicht ganz neutral ist und daß die Gefühlsqualitäten nur von Seiten des Lesers bzw. des Hörers willkürlich auf das Werk — wie man sagt — „projiziert" werden. Die Fälle, in denen wir von einer in dieser Hinsicht „falschen" Weise des Lesens mit vollem Rechte sprechen, bzw. in denen uns trotz dieser oder jener subjektiven Stimmung, in welcher wir das betreffende Werk lesen oder zu hören beginnen, gewisse dieser Stimmung ganz entgegengesetzte „Gefühlsqualitäten" direkt aufgedrängt werden, sprechen m. E. deutlich genug dagegen. Am deutlichsten spüren wir das Vorhandensein der an der lautlichen Seite der Sprache zur Erscheinung kommenden „Gefühlsqualitäten" gerade in jenen Fällen, wo zwischen ihnen und denjenigen, die in anderen Schichten des literarischen Werkes zur Erscheinung kommen, ein Widerstreit herrscht. Wenn wir uns jetzt der zweiten Gruppe der sprachlautlichen Erscheinungen zuwenden, derjenigen nämlich, die durch den Sinn der Sätze bedingt sind, so finden wir vor allem die schon früher 1 Von solchen „Gefühlsqualitäten" spricht einmal Max Scheler in seinem Aufsatz „Zum Phänomen des Tragischen". Er beschäftigt sich da mit solchen „Gefühlequalitäten", die z.B. eine Landschaft an sich tragen kann. Sie treten aber auch an verschiedenen sprachlautlichen Gebilden auf. 2 W. Wundt schreibt in seiner Völkerpsychologie, I. 1. S.326: „Lautmetapher heißt eine Beziehung des Sprachlauts zu seiner Bedeutung, die sich dadurch dem Bewußtsein aufdrängt, daß der Gefühlston des Lautes dem an die bezeichnete Vorstellung gebundenen Gefühl verwandt ist." Es ist zwar eine Formulierung, die wir heute nicht billigen würden, aber rein sachlich betrachtet will W u n d t mit ihr gerade das treffen, was wir hier im Auge haben.

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erwähnten sekundären Modifikationen der einzelnen Wortlaute1, welche sich daraus ergeben, daß die entsprechenden Worte verschiedene Funktionen in dem Satzganzen haben. Es handelt sich hier vorwiegend um B e t o n u n g e n (Unterstreichungen) derjenigen Worte, auf deren Sinn ein Nachdruck im Satzganzen liegt, dann aber um die t o n a l e Zusammengehörigkeit von mehreren Worten und ihre Abgrenzung von anderen Wortgruppen. Die letzteren — die in der Schriftsprache ihre Korrelate in den ver schiedenen Zeichen der Interpunktion haben — weisen eine ganze Mannigfaltigkeit von verschiedenen Typen der Abgrenzung auf, je nach dem, ob es sich um die Abgrenzung eines ganzen Satzes oder nur eines Satzgliedes handelt. Im allgemeinen werden sie durch eingeschachtelte, verschieden lange Pausen hervorgebracht, aber auch durch die Weise, in welcher das letzte vor der Pause stehende Wort ausgesprochen wird. Die zusammengehörenden Worte dagegen werden möglichst immittelbar, ohne Unterbrechung ausgesprochen2. Natürlich haben wir hier wiederum nicht die i n d i v i d u e l l e n Vorkommnisse der einzelnen Lesungen im Auge, sondern die typischen, zu der Wortlautmannigfaltigkeit als solcher gehörigen, sprachlautlichen Erscheinungen. Ihre Zugehörigkeit zu der lautlichen Seite des literarischen Werkes ergibt sich gerade aus ihrer Bedingtheit durch den Sinn der Sätze. Sie spiegeln — wenn man so sagen darf — in dem sprachlautlichen Material manche Eigentümlichkeiten der Satzsinne wider, und ihr Vorhandensein zeigt uns am besten, wie eng die beiden verschiedenen Seiten der Sprache : die lautliche und die des Sinnes, miteinander verbunden sind3.

§ 12. Der U m k r e i s der s p r a c h l a u t l i c h e n Gebilde, die zu dem l i t e r a r i s c h e n Werke gehören. Es ist jetzt an der Zeit, die Frage zu beantworten, was von der lautlichen Seite der Sprache einen Bestandteil des literarischen Werkes bildet. Schon die oben gemachte Scheidimg zwischen dem konkreten Lautmaterial und dem Wortlaut läßt vermuten, daß das konkrete Lautmaterial aus dem literarischen Werke zu eliminieren 1

Vgl. oben S. 36. All dies hat wohl J. Stenzel im Auge (obwohl nicht nur das), wenn er von .Sprachmelodie" spricht. * Hierin hat Stenzel vollkommen recht. 8



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ist. Und in der Tat bildet es nur die lautliche Unterlage für die in den einzelnen Lesungen zur Konkretion gelangenden Wortlaute und die anderen sprachlautlichen Erscheinungen, auf welche wir in dem vorigen Paragraphen hingewiesen haben. Es kann aber auch fraglich sein, ob der Wortlaut in unserem Sinne als ein Bestandteil des literarischen Werkes zu betrachten ist. So scheint E. Kucharski der Ansicht zu sein, daß die lautliche Seite der Sprache nicht dazu gehört, da er einerseits die Sprache überhaupt nicht als das Material des literarischen Werkes anerkennen will, andererseits auch ausdrücklich sagt, daß durch die lautliche Seite der Sprache ein dem Wesen der Dichtung prinzipiell fremder Faktor, der der sinnlichen Empfindung, eingeführt wird1. Wir glauben, daß diese Ansicht unhaltbar ist und nur einen Verlegenheiteausweg aus der Situation bildet, die sich für den genannten Verfasser aus seiner falschen Annahme ergibt, daß das Wesen der literarischen Werke in den Erlebnissen liege. Demgegenüber glauben wir behaupten zu müssen, daß die Wortlaute aus dem Aufbau des literarischen Werkes — wenigstens bei den Werken, die zu der ersten Reihe der von uns genommenen Beispiele gehören2 — n i c h t zu eliminieren sind. Dies läßt eich aber nicht durch den bloßen Hinweis darauf beweisen, daß alle f a k t i s c h uns bekannten literarischen Werke eine Schicht der Wortlaute enthalten, da unsere Frage sich nicht auf das Tatsächliche, sondern auf das zum Wesen Gehörige richtet. Außerdem dürften wir uns hier nicht auf diese Tatsache berufen, weil es bis jetzt nicht entschieden wurde, ob z.B. die kinematographischen 1

Vgl. I.e. S.35. Kucharski scheint übrigens einen ähnlichen Standpunkt einzunehmen wie Eduard v. H a r t m a n n in der „Philosophie des Schönen", S.715f.: , , . . . daß es nur der Wortsinn ist, von welchem die poetische Wirkung als solche abhängt, nicht die schöne Sprache und deren schöner Vortrag; wo die Wirkung durch die beiden letzteren verstärkt wird, haben wir es mit dem Hinzutreten einer außerpoetiachen ästhetischen Wirkung zu der poetischen, also mit der zusammengesetzten Wirkung eines aus mehreren Künsten zusammengesetzten Kunstwerkes zu tun." Es ist klar, daß v. H a r t m a n n hier von vornherein einen Begriff des „Poetischen" voraussetzt, der sich nicht aus der konkreten Analyse der Dichtwerke ergibt. Er ist somit dann genötigt, diese Werke als „zusammengesetzt" zu betrachten, so als ob es Dichtwerke gäbe oder gar geben könnte, die der sprachlautlichen Schicht beraubt sein würden und zu denen erst eine andere „Kunst" (die Musik ?) hinzutreten müßte, um dadurch „zusammengesetzte Kunstwerke" zu schaffen. Es gibt natürlich „zusammengesetzte" Kunstwerke — wie z.B. die Lieder oder die Oper —, aber dann tritt der Faktor der Musik in einem völlig anderen Sinne als all das hinzu, was die sprachlautliche Schicht im rein literarischen Kunstwerk leisten kann. 2 Vgl. oben S.4.

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Werke zu den literarischen zu rechnen sind. Erst der positive Aufweis der Funktionen, die die lautliche Seite der Sprache in dem literarischen Werke ausübt, sowie die Unentbehrlichkeit dieser Funktionen kann die Entscheidung bringen. Ehe wir dazu übergehen, muß aber noch bemerkt werden, daß man das literarische Werk bedeutender, manchmal unentbehrlicher Elemente berauben würde, wenn man ihm von der lautlichen Seite der Sprache nur die Wortlaute zurechnen würde. Es gehören tatsächlich zu ihm auch andere typische lautliche Gestaltqualitäten. Darunter kommen vor allem diejenigen in Betracht, die bei den verschiedenen Weisen des Aussprechens der Worte zur Konkretion gelangen und die Funktion des „Ausdrückens" der gerade vom Sprechenden erlebten psychischen Zustände ausüben. Diese Gestaltqualitäten kommen in jenen Werken in Betracht, in welchen sprechende Personen dargestellt werden1, wie das z.B. in jedem dramatischen Werke der Fall ist. Es gibt nämlich verschiedene Gestaltqualitäten des Tones, in welchem man spricht: z.B. den „klagenden" und den „freudigen", den „lebhaften" und den „müden", den „leidenschaftlichen" und „ruhigen" Ton der Rede. Andererseits gibt es Gestaltqualitäten des Tones, in dem man andere anredet, wie z.B. einen „scharfen" und einen „gnädigen" Ton, einen Ton, in welchem man „von oben herab", „freundlich", „mürrisch", „liebevoll", „gehässig" usw. zu anderen Leuten redet. Wir meinen hier natürlich die lautlichen Gestaltqualitäten selbst, sie sind aber so stark mit dem, was sie unmittelbar zum Ausdruck bringen, verbunden, daß wir sie nur sozusagen sub specie des Ausgedrückten benennen können. Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um verständlich zu machen, was wir hier im Auge haben. Wir wollen sie Manifestati onsqualitäten nennen, weil in ihnen die verborgenen psychischen Zustände des Sprechenden „manifest" werden. Wollten wir sie aus den entsprechenden Werken eliminieren, so würden wir manches Werk so stark verunstalten, daß vielleicht seine wichtigsten Elemente sich überhaupt nicht konstituieren könnten. Es kann aber auch Werke oder mindestens Teile von denselben geben, in welchen keine derartigen Manifestationsqualitäten vorhanden sind, wie z.B. in ruhigen, „objektiv gehaltenen" Beschreibungen von Gegenden und Geschehnissen2. 1

Über den Begriff der „Darstellung" vgl. unten § 29. Es ist übrigens ein Problem für sich, welche Mittel der Dichter hat, derartige Manifestationsqualitäten in das Werk einzubauen und sie auch dem Leser zu über2

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Außer den eben genannten Manifestationsqualitäten können auch die anderen, in dem vorigen Paragraphen besprochenen, sprachlautlichen Erscheinungen, wie der Rhythmus, das Tempo, die Melodie, die auf den Sinn oder auf den Rhythmus sich beziehenden Einheitsbildungen usw. zu dem literarischen Werke gehören, aber immer nur im Sinne von besonderen typenhaften Gestaltqualitäten und nicht als Vorkommnisse, die nur an dem konkreten Lautmaterial vorfindbar sind. Diese sprachlautlichen Gestaltungen müssen nicht in jedem literarischen Werke auftreten; sie sind in einem Werke vorhanden, wenn die Mannigfaltigkeit und die Anordnung der sie bedingenden Wortlaute sie nach sich zieht. Sie sind sozusagen nur Folgeerscheinungen dieser primären Elemente der wortlautlichen Seite der Sprache. Indem wir auf diese Weise den Umkreis dessen, was u. E. von den sprachlautlichen Gebilden und Charakteren zu dem literarischen Werke gehört bzw. gehören kann, festgelegt haben, können wir jetzt zu der Begründung dieses unseres Standpunktes durch den Aufweis der Funktionen, die sie in ihm spielen, übergehen.

§ 13. Die R o l l e der s p r a c h l a u t l i c h e n S c h i c h t im A u f b a u des l i t e r a r i s c h e n W e r k e s . Die besprochenen sprachlautlichen Gebilde und Charaktere spielen im Aufbau des literarischen Werkes auf zwei verschiedene Weisen eine bedeutsame Rolle: erstens bilden sie dank ihren mannigfachen Eigenschaften und Charakteren ein b e s o n d e r e s E l e m e n t in dem Aufbau des Werkes, zweitens aber üben sie eigene F u n k t i o n e n aus bei der Entfaltung und ζ. T. auch bei der Konstituierung seiner anderen Schichten. Im ersteren Falle bereichern sie das Ganze des Werkes um ein eigenes geformtes Material und um eigene ästhetische Wertqualitäten, die mit den anderen, von den übrigen Schichten des Werkes stammenden, Wertqualitäten jene eigentümliche Polyphonie des literarischen Kunstwerkes konstituieren, deren Bestehen wir oben mittein. Denn die Sachlage ist hier eine viel kompliziertere als dort, wo es sich bloß am die Festlegung einer Mannigfaltigkeit von Wortlauten handelt, die durch das Hilfemittel der Schriftzeichen bestimmt werden. Wie aber diese Aufgabe gelöst werden mag (wir werden uns damit noch beschäftigen), so ändert das nichts an der von uns festgestellten Tatsache.

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angekündigt haben. Daß die sprachlautlichen Gebilde und Charaktere in dieser Polyphonie wirklich ihre „eigene Stimme" führen, beweist am besten die durchgreifende Veränderung, welcher das ganze Werk unterliegt, wenn es in eine „fremde" Sprache übersetzt wird. Mag man die Übersetzung noch so getreu gestalten und auf die Ähnlichkeit der lautlichen Qualitäten eine noch so große Rücksicht nehmen, niemals wird man erreichen, daß die Übersetzung dem Original in dieser Hinsicht völlig gleich wäre, weil die Andersheit der einzelnen Wortlaute unvermeidbar andere sprachlautliche Gebilde und Charaktere mit sich führt. Zudem ist die lautliche Seite der Sprache in bezug auf das künstlerisch Wertvolle nicht irrelevant. Manche ihrer Eigenschaften und Gebilde führen zur Konstituierung von ganz eigentümlichen Charakteren, die wir gewöhnlich mit den Worten: „schön", „häßlich", „hübsch", „niedlich", „kräftig", „machtvoll" u.dgl. mehr benennen1. Diese Worte vermögen aber nicht die ganze Mannigfaltigkeit untereinander verschiedener ästhetisch relevanter Charaktere wiederzugeben. Es mag richtig sein, daß in allen denjenigen Fällen, wo wir z.B. von „Schönheit" sprechen, ein gemeinsames Moment vorfindbar ist. Gewöhnlich kommt es uns aber gar nicht auf dieses Gemeinsame an, sondern wir meinen darunter den vollen, konkreten Charakter, der dem individuellen Kunstwerk anhaftet, und dann paßt dieses Wort auf das Gregebene gar wenig. Es gibt eben nicht nur verschiedene „Schönheiten", sondern auch verschiedene Typen von ihnen, die sich nach den Arten der ihnen zugrunde liegenden Qualitäten und deren Mannigfaltigkeiten differenzieren. Es ist z.B. nicht bloß eine romanische Kirche in spezifisch anderem Sinne „schön" als ein gotisches Münster, sondern es sind auch die „Schönheiten", die ein lautliches und insbesondere ein musikalisches Gebilde aufweisen kann, ihrem eigenen Wesen nach typisch anders als ζ. B. die Schönheit eines beliebigen architektonischen Kunstwerkes. Und ebenso sind die verschiedenen „Schönheitscharaktere", die sich auf der Unterlage von Laut-Kombinationen und -Abfolgen in zwei verschiedenen Sprachen (z.B. der deutschen und der französischen) konstituieren, ihrem vollen Gehalte nach völlig heterogen gegenüber jenen Schönheits1 Ob zur Konstituierung derartiger Charaktere neben der Fundierung durch bestimmte Mannigfaltigkeiten von Lautqualitäten noch eine bestimmte Einstellung und Auffassung seitens des erfassenden Subjektes notwendig ist, das ist ein besonderes Problem, das hier nicht gelöst werden soll. Wenn aber diese verschiedenen herauszustellenden subjektiven Bedingungen erfüllt werden, so werden die genannten Charaktere an den lautlichen Gebilden als etwas ihnen Anhaftendes vorgefunden.

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Charakteren, die z.B. eine tragische Situation, aber auch die Wucht einer Gestalt aufweisen kann. Und diese Heterogenität gründet eben in der Heterogenität derjenigen diese Charaktere fundierenden Qualitäten, die einerseits ein sprachliches Lautgebilde, andererseits das Seelische haben kann. Nennt man — wie es oft nicht ganz passenderweise geschieht — die die Schönheitscharaktere fundierenden Gebilde bzw. Qualitäten das „Material", so kann man sagen, daß die grundverschiedenen Haupttypen von Schönheitscharakteren von den Eigentümlichkeiten des „Materials" abhängig "sind und sich nach ihnen differenzieren. Dasselbe betrifft auch einen jeden von den verschiedenartigsten ästhetisch relevanten Charakteren, die mit den oben aufgezählten Worten benannt werden1. Das Auftreten einer entsprechend ausgewählten Mannigfaltigkeit von solchen Charakteren in einem und demselben Werke führt zur Konstituierung ästhetisch relevanter Charaktere höherer Stufe,( zu gewissen eigentümlichen synthetischen Momenten, die letzten Endes das Einzigartige eines Kunstwerks konstituieren: seinen eigenen künstlerischen Wert. Nun ist aber das literarische Kunstwerk ein mehrschichtiges Gebilde; das besagt jetzt vor allem: Das „Material", dessen Eigentümlichkeiten zur Konstituierung ästhetisch relevanter Charaktere führen, besteht aus mehreren heterogenen Bestandteilen, „Schichten". Das Material einer jeden Schicht führt zur Konstituierung eigener, der Materialart entsprechender, ästhetischer Charaktere. Infolgedessen kommt es, oder wenigstens kann es zur Bildung synthetischer ästhetischer Charaktere höherer Stufe kommen, und zwar nicht nur innerhalb einer jeden derjenigen Gruppen von Charakteren, die den einzelnen Schichten eigen sind, sondern auch zu Synthesen noch höherer Stufe unter den ästhetischen Momenten verschiedener Gruppen. Mit anderen Worten : Die Mehrschichtigkeit des „Materials" führt in literarischen Kunstwerken zu einer merkwürdigen P o l y p h o n i e von ästhetischen Charakteren heterogener Typen, wobei die zu verschiedenen Typen gehörenden Charaktere nicht sozusagen fremd nebeneinander liegen, sondern verschiedene Beziehungen zueinander eingehen. Dadurch kommt es zu ganz neuartigen Synthesen, Harmonien und Disharmonien, in den verschie1

Zu dem Begriffe des Schönheitscharaktere bzw. allgemeiner der Wertqualitäten und ihrer spezifischen Abwandlungen vgl. Max Scheler, „Der Formalismus in der Ethik und materiale Wertethik", Kap. I. § 1. Güter und Werte (Jahrb. f. Philos. Bd.I. S.412ff.).

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densten möglichen Abwandlungen1. Und jede solche synthetisch aufgebaute Harmonie enthält diejenigen Elemente, die zu den synthetischen Bildungen führen, in solcher Weise in sich, daß sie hinter den synthetischen Momenten nicht verschwinden, sondern sozusagen hinter den letzteren für sich selbst fühlbar, sichtig sind. Das Ganze ist eben eine Polyphonie. An dieser Polyphonie nehmen die in der sprachlautlichen Schicht zur Konstituierung gelangenden ästhetischen Wertcharaktere teil und bereichern sie. Zugleich aber führen sie zur Konstituierung besonderer Harmonien von synthetischen ästhetischen Wertcharakteren, die nur beim Vorhandensein der sprachlautlichen Schicht im Ganzen des Werkes möglich sind. Diese Tatsache gibt uns ein wichtiges Argument dafür in die Hand, daß die sprachlautliche Schicht kein bloßes Mittel zur Enthüllung des literarischen Werkes ist, sondern in der Weise zu dem letzteren gehört, daß ihr Nichtvorhandensein im Werke zu dessen weitgehender Veränderung führen müßte. Die Polyphonie des Werkes müßte dann nicht nur um eine „Stimme" ärmer sein, sondern sie müßte auch eine durchaus a n d e r e sein, da sich dann andere Typen von Harmonien ausbilden müßten. Wenn aber die sprachlautliche Schicht nur durch die Bereicherung und Modifizierung der Polyphonie des Werkes zu seinem Aufbau beitrüge, so würde ihr Fortfallen noch nicht das B e s t e h e n des literarischen Werkes unmöglich machen. Anders stellt sich die Sachlage dar, wenn ihre Rolle für die Enthüllung und zum Teil auch für die Konstituierung der übrigen Schichten des Werkes in Erwägung gezogen wird. Diese Rollen müssen von zwei verschiedenen Standpunkten betrachtet werden: einmal rein ontologisch in bezug darauf, was die sprachlautliche Schicht für das Bestehen anderer Schichten leistet, das andere Mal phänomenologisch im Hinblick darauf, welche Funktion sie bei der Gegebenheit und Enthüllung des ganzen Werkes für ein psychisches Subjekt ausübt. 1 Insbesondere eröffnen sich hier die Probleme des Zusammenhangs zwischen den Eigentümlichkeiten und ästhetischen Charakteren der sprachlautlichen Schicht (darunter Versmaß, Form des Gedichts, ästhetische Charaktere der Versmelodie usw.) und den Eigentümlichkeiten der dargestellten Welt, sowie den in derselben auftretenden ästhetisch werthaften Momenten. Wir werden später darauf näher eingehen. Diese Zusammenhänge wurden relativ schon sehr früh, ζ. B. von W. Schlegel (Ges. Schriften, Bd. 2), beachtet und analysiert, worauf Oskar Walzel in seinem „Gehalt und Gestalt des Dichtwerkes" mit Recht hinweist (vgl. I.e. S.182ff.).

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Im ersteren Falle bildet die sprachlautliche Schicht und insbesondere die Mannigfaltigkeit der Wortlaute die äußere, festgelegte Hülle des literarischen Werkes, in welcher alle seine übrigen Schichten ihren äußeren Stützpunkt oder — wenn man will — ihren äußeren Ausdruck finden. Das eigentliche konstitutive Fundament des einzelnen literarischen Werkes liegt freilich in der Schicht der Bedeutungseinheiten niederer und höherer Stufe. Aber die Bedeutungen sind w e s e n s m ä ß i g mit den Wortlauten verbunden1. Freilich läßt sich das nicht in bezug auf b e s t i m m t e , mit den Bedeutungen f a k t i s c h verbundene Wortlaute behaupten, da ein und dieselbe Bedeutung prinzipiell mit verschiedenen Wortläuten — z.B. in verschiedenen Sprachen — verbunden werden kann. Zur Idee der Bedeutung gehört es aber, mit irgendeinem Wortlaut (oder mit irgendeinem Wortzeichen visueller, akustischer, taktueller Art) verbunden und damit eben seine Bedeutung zu sein. Sie findet in ihm ihre äußere Hülle, ihren „Ausdruck", ihren äußeren Träger. Ohne einen „Wortlaut" (in dem jetzt erweiterten Sinne eines irgendwie beschaffenen gestaltqualitativen Faktors) könnte sie überhaupt nicht bestehen. Insofern ist freilich das b e s t i m m t e wortlautliche Material, das ein literarisches Werk in einer bestimmten (deutschen, französischen) Sprache besitzt, nicht wesensmäßig unentbehrlich. Aber mit dem Fortfallen eines jeden wortlautlichen Materials würde die Schicht der Bedeutungseinbeiten ihr Bestehen verlieren, und mit ihr müßten auch die übrigen Schichten des literarischen Werkes — in dieser Gestalt wenigstens, welche für sie im l i t e r a r i s c h e n Kunstwerk charakteristisch ist — fortfallen2. Aber gerade deswegen, weil die wortlautliche Schicht die äußere unentbehrliche Hülle der Schicht der Bedeutungseinheiten und damit auch des ganzen Werkes bildet, spielt sie bei der Erfassung des letzteren durch ein psychisches Subjekt eine wesentliche Bolle. Sosehr die Wortlaute nur „Hülle" und somit ein Etwas sind, das dem Material nach von all dem, was sonst im Werke vorfindbar ist, wesensverschieden ist (so daß sie bei unangemessener Einstellung des Lesers dem letzteren das sonst noch im Werke Vorfindbare „verhüllen", verdecken können), so können sie eben als Träger von Bedeutungen das ganze Werk zur Enthüllung bringen. Die wesent1

Vgl. die folgenden Untersuchungen (Kap. 5). Man darf nur die Bedeutungeeinheiten nicht mit dem idealen Sinn eines Begriffes verwechseln, wie das jetzt fast allgemein gesohieht. Vgl. die folgenden Betrachtungen (Kap. 6). 1

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liehe Leistung der Wortlaute liegt dabei darin, daß sie die zugehörigen Bedeutungen „bestimmen", sobald die Zuordnung der Wortlaute und der Bedeutungen einmal festgelegt ist. Das heißt: Wird ein bestimmter Wortlaut durch ein psychisches Subjekt erfaßt, so führt diese Erfassung unmittelbar zu dem Vollzug eines intentionalen Aktes, in welchem der Gehalt einer bestimmten Bedeutung vermeint wird. Dabei wird diese Bedeutung nicht selbst gegenständlich gegeben, sondern sie wird in Funktion gesetzt, und ihr InFunktion-Treten führt seinerseits dazu, daß die entsprechende, zu der Wortbedeutung oder zu dem Satzsinne gehörige Gegenständlichkeit vermeint wird, womit die weiteren Schichten des literarischen Werkes zur Enthüllung gelangen. Aber neben dieser für die Wortlaute primären und eigentlichen Funktion des „Bestimmens" der entsprechenden Bedeutungen üben die Wortlaute oder — vorsichtiger gesagt — mindestens manche von ihnen noch andere Funktionen bei der Enthüllung des literarischen Werkes aus. So bewirken vor allem die „lebendigen" Wortlaute, daß die zu ihrer Bedeutung gehörige Gegenständlichkeit nicht bloß leer vermeint, sondern auch in zugehörigen „Ansichten" voll anschaulich „vorgestellt" wird. Das Auftreten solcher lebendiger, kraftvoller Worte bestimmt auch die Auswahl der Mannigfaltigkeiten der Ansichten, in welchen die dargestellten Gegenstände zur Erscheinung gelangen sollen1. Aber nicht nur die Weise, in welcher diese Gegenstände zur Erscheinung kommen, wird durch die wortlautliche· Schicht mitbestimmt, sondern auch die Konstitution mancher Elemente der dargestellten Gegenständlichkeiten kann in gewissen Fällen nur durch Verwendung bestimmter sprachlautlicher Mittel erreicht werden. Überall da, wo das Wort nicht nur in der Sinnbestimmungsfunktion steht, sondern zugleich die „Kundgabefunktion" (im Sinne E. Husserls) ausübt, also vor allem in den sog. „dramatischen" Werken, spielt das wortlautliche Material und insbesondere die verschiedenen Manifestationsqualitäten des Tons, in welchem die Worte ausgesprochen werden, die durch nichts ersetzbare Rolle des „Manifestierens" verschiedener psychischer Zuständlichkeiten der dargestellten Personen. Erst auf diesem Wege gelangt das konkrete psychische Leben der letzteren, das sich nicht auf Gedanken und Gedachtes reduzieren läßt, zur Konstituierung. Fielen die entsprechenden Wortlaute fort, so daß die Bedeutungs1

Vgl. unten Kapitel 8 und Th. A. Meyer, „Das Stilgesetz der Poesie", S. 160ff.

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einheiten sozusagen nackt blieben (wenn das überhaupt möglich wäre), dann würden wir von dem dargestellten Helden wissen, daß er dies oder jenes denkt, wir könnten durch entsprechende Beschreibungen auch verschiedenes von seiner psychischen Konstitution und seinen psychischen Wandlungen erfahren, aber das Unsagbare, das begrifflich nicht zu Bestimmende des psychischen Lebens, das sich in Manifestationsqualitäten anschaulich zeigen kann, würde trotzdem unbestimmt bleiben. So führt das Vorhandensein der sprachlautlichen Schicht im literarischen Werke zu einer wichtigen Vervollständigung der Schicht der dargestellten Gegenstände, ohne welche die einzelnen literarischen Werke wesentlich anders sein müßten. Aber auf diesem Wege kann es auch zu einer Vervollkommnung der schon besprochenen Funktionen der Wortlaute kommen, welche in der „Bestimmung" der Bedeutungseinheiten liegt. Denn das Mitgegebensein der manifestierten psychischen Zuständigkeiten präzisiert oft erst genau den Sinn der ausgesprochenen Sätze, indem dieser Sinn entweder zur vollen Ausgestaltung gelangt oder auf bestimmte Weise modifiziert wird1. So gewinnt z.B. ein in derselben Mannigfaltigkeit von Wortlauten ausgesprochener Satz einen in jedem Falle anderen Sinn, je nachdem er einmal — dank den lautlichen Manifestationsqualitäten — als ein in höchster Wut ausgesprochener dasteht, das andere Mal aber als einer, der mit vollkommener Ruhe, dagegen in sublimierter Bosheit und etwa in boshafter Ironie ausgesprochen wird. Auch die verschiedenen sprachlautlichen, gestaltqualitativen Gebilde und Charaktere höherer Stufe, auf die wir früher hingewiesen haben, spielen sowohl bei der Bestimmung des Sinnes, wie auch bei der Konstitution der übrigen Schichten des Werkes eine unersetzbare Rolle, indem sie vor allem die irrationalen Momente der zur Darstellung gelangenden Gegenständlichkeiten mitkonstituieren. Die Bedeutung dieser Funktion wird allerdings erst später von uns genauer klargelegt werden können8. Vorläufig läßt sich jedenfalls zusammenfassend sagen: Die sprachlautliche Schicht bildet ein wesentliches Konstituens des literarischen Werkes; fiele sie fort, so müßte auch das ganze Werk aufhören zu existieren, weil die Bedeutungseinheiten ein wortlautliches Material notwendig 1

Vgl. in dieser Hinsicht die interessanten, wenn auch noch stark psychologistisch gefärbten Ausführungen in Th. A. Meyers „Das Stilgesetz der Poesie", S.19f. 2 Vgl. unten §§ 47—50.

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fordern. Würde sie eine anders gestaltete sein, als sie in einem bestimmten Werke faktisch ist, so müßte das Werk durchgreifende Änderungen erfahren. Enthielte sie endlich keine besonderen wertqualitativen Elemente in sich, so müßte die Polyphonie des Werkes um ein bedeutendes Element ärmer sein. Also nicht bloß ein Mittel des Zugangs zum Werke, nicht ein „der Poesie wesensfremder Faktor", sondern im Gegenteil ein für das literarische Kunstwerk unentbehrliches Element bildet diese erste, äußere Schicht seines Aufbaus.

5. Kapitel. Die Schicht der Bedeutungseinheiten. § 14. Vorbemerkung. Die jetzt folgenden Untersuchungen sollen die sehr mannigfachen Gestaltungen und Funktionen herausstellen, die alle zusammen die zweite Schicht des literarischen Kunstwerkes, nämlich diejenige der B e d e u t u n g s e i n h e i t e n , bilden. Insbesondere sollen sie alle diejenigen Faktoren dieser Schicht näher bestimmen, deren Kenntnis erst die Rolle der Bedeutungseinheiten im literarischen Werk zu verstehen ermöglicht. Zugleich aber muß das allgemeine Wesen der Wortbedeutung und der höheren Bedeutungseinheiten so weit aufgeklärt werden, als es nötig ist, um die Frage nach der Idealität der Bedeutungseinheiten zu beantworten. Da wir hier keine ausführliche Theorie der Bedeutungseinheiten geben können, so ist es selbstverständlich, daß wir mehrere sich aufdrängende Fragen unbeantwortet lassen und verschiedenes nur andeutungsweise skizzieren müssen.

§ 15. Die E l e m e n t e der W o r t b e d e u t u n g . Ohne uns hier zunächst mit dem Wesen der Wortbedeutung überhaupt zu beschäftigen, wollen wir jetzt die verschiedenen Elemente, die in einer Wortbedeutung auftreten können, unterscheiden und ihren Zusammenhang bestimmen. 61

Wenn wir verschiedene Wortbedeutungen nebeneinanderstellen, so fällt uns vor allem auf, daß nicht jede Wortbedeutung auf dieselbe Weise aufgebaut ist : so haben wir einerseits solche Worte, wie z.B. „Tisch", „Röte", „schwarze", andererseits aber Worte und Wörtchen, die man früher „Synkategorematika" nannte und fast gar nicht untersuchte, die aber in der neueren logischen Literatur — insbesondere von E. Husserl ab1 — immer mehr an Bedeutung gewinnen und von A. P f ä n d e r „funktionierende Begriffe" genannt werden2. Es handelt sich in dem letzteren Falle um solche Worte wie z.B. „und", „oder", „ist" u.dgl. mehr. Sowohl die Worte der ersten wie die der zweiten Gruppe haben eine Bedeutung, deren Aufbau aber in beiden Fällen ein durchaus verschiedener ist. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks werden wir die Worte, die zu der ersten Gruppe gehören, „Namen" und die zugehörigen Bedeutungen „nominale Wortbedeutungen" nennen3 und uns zuerst mit ihnen beschäftigen. a) D i e B e d e u t u n g d e r N a m e n .

Nennen wir vorläufig all das, was mit einem Wortlaut verbunden ist und mit ihm zusammen ein „Wort" ausmacht, die „Bedeutung"4, so lassen sich in der Bedeutung eines Namens, falls er für sich isoliert, also nicht als Glied eines Satzes genommen wird, folgende verschiedene Elemente unterscheiden : 1. der intentionale Richtungsfaktor, 2. der materiale Inhalt, 3. der formale Inhalt, 1

Vgl. „Log. Unters.", Bd.II, Untersuchung I und IV. Vgl. A. Pfänder, „Logik", Jahrbuch für Philosophie, Bd.IV. Ob hier die Rede yon „Begriffen" ganz am Platze ist, wird sich später zeigen. 3 Pfänder nennt sie in seiner Logik „Gegenetandsbegriffe". Da wir in den folgenden Betrachtungen auf eine Scheidung zwischen Wortbedeutungen und „Begriffen" abzielen, so wollen wir diesen Terminus vermeiden. 4 Um jedes Mißverständnis auszuschließen, ist besonders zu betonen, daß weder die durch den Wortlaut jeweils kundgegebenen konkreten psychischen Erlebnisse und Zustände des Sprechenden noch die durch den Wortlaut „paratgehaltenen" Ansichten der zugehörigen Gegenständlichkeit zu der „Bedeutung" des Wortes gehören. Sie sind auch mit dem Wortlaut nicht „verbunden" und gehören der Einheit des Wortes nicht zu, sondern kommen überhaupt erst dann in Frage, wenn das Wort zu mannigfachen Funktionen im lebendigen sprachlichen Verkehr verwendet wird. — Vgl. dazu H u s s e r l , „Log. Unters.", B d . n , Untersuchung I. 2

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4. das Moment der existentialen Charakterisierung und manchmal auch 5. das Moment der existentialen Position. Natürlich darf man nicht meinen, daß die Bedeutung eines Namens eine Summe oder eine Mannigfaltigkeit von von sich abgelösten und nur irgendwie künstlich zusammengehaltenen Elementen bilde. Im Gegenteil, diese Bedeutung bildet eine Sinneinheit, an der manche Momente zu unterscheiden sind, die innerlich zusammenhängend und auf verschiedene Weise voneinander abhängig sind. Ganz besonders bezieht sich dies auf den engen Zusammenhang zwischen dem materialen und dem formalen Inhalt des Namens. Gerade dieser innige Zusammenhang hat es bewirkt, daß die Verschiedenheit der von uns da zusammengestellten Elemente der nominalen Bedeutung fast durchwegs übersehen wurde. Tritt ein Name als Glied einer höheren Bedeutungseinheit und insbesondere eines Satzes auf, dann gibt es in seiner vollen Bedeutung noch eine sechste Gruppe von Elementen, und zwar die apophantisch-syntaktischen Elemente. Mit den letzteren werden wir uns erst später beschäftigen. ad 1. Nehmen wir ζ. B. solche Ausdrücke wie a) „der Mittelpunkt der Erde" und b) „ein Tisch", so bemerken wir, daß jeder von ihnen sich auf einen Gegenstand b e z i e h t , einen Gegenstand b e z e i c h n e t , sich auf ihn r i c h t e t , andererseits es aber nur deswegen tut, weil er in seiner Bedeutung Momente enthält, die sozusagen darüber entscheiden, um was für einen oder um einen wie beschaffenen Gegenstand (eben um einen „Tisch", um den „Mittelpunkt der Erde") es sich in dem gegebenen Falle handelt. Diejenigen Momente der Wortbedeutung, welche den Gegenstand hinsichtlich seiner qualitativen Beschaffenheit bestimmen, nennen wir den m a t e r i a len Inhalt der Wortbedeutimg, dagegen dasjenige Moment, in welchem sich das Wort gerade auf diesen und auf keinen anderen oder — in anderen Fällen — auf einen solchen Gegenstand „bezieht", nennen wir den i n t e n t i o n a l e n R i c h t u n g s f a k t o r 1 . 1 Husserl unterscheidet in seinen „Log. Unters." zwischen „Bedeutung" und „gegenständlicher Beziehung" (I.e. Bd.Π,Unters. 1, §§ 12 u. 13). Soviel ich Husserl verstehe, hat er dasselbe im Auge, was ich hier den materialen Inhalt und den intentionalen Richtungsfaktor nenne. Allerdings passen nicht alle seine Beispiele auf meine Unterscheidung. Nach Husserl macht nur die „Bedeutung" in seinem Sinne dae Wesen des Ausdrucks aus, was jedoch nur insofern richtig ist, als nicht jede Bedeutung einen Richtungsfaktor aufweist. Für nominale Ausdrücke dagegen ist der inten-

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Wir bemerken sogleich, daß der intentionale Richtungsfaktor des nominalen Ausdrucks verschiedenartig sein kann. So kann er einstrahlig sein, wie in den beiden angeführten Beispielen, er kann aber auch auf bestimmte oder unbestimmte Weise mehrstrahlig sein. So ist er unbestimmt mehrstrahlig in dem Wort „Menschen", dagegen bestimmt mehrstrahlig in dem Ausdruck „meine drei Söhne" — ebenso in der in manchen Sprachen noch erhaltenen Dualform1. Andererseits kann der Richtungsfaktor k o n s t a n t und a k t u e l l oder aber variabel und p o t e n t i e l l sein. Das erstere tritt in solchen Worten wie „der Mittelpunkt der Erde", „die Hauptstadt Polens" u.dgl. mehr, aber auch in dem Ausdruck „das Dreieck" (im Sinne der allgemeinen Idee) auf, im Falle also, wo das Wort einen numerisch ganz b e s t i m m t e n realen oder idealen Gegenstand (bzw. eine Idee) bezeichnet. Nehmen wir dagegen das Wort „Tisch", und zwar in dem Sinne „ein Tisch", so ist sein Richtungsfaktor potentiell und variabel. Daß er da nur potentiell ist, aber aktualisiert werden kann, merken wir am besten, wenn wir z.B. das Wort „Tisch" auf einen bestimmten individuellen Gegenstand anwenden und etwa auf die Frage, „was ist dies ?" antworten: ein „Tisch"2 (wobei nicht „ein Tisch", als Exemplar der Klasse „Tisch" gemeint ist, sondern wo dieser individuelle Gegenstand da durch ein „Schema"3 als er selbst erfaßt und benannt wird). Das Wort „Tisch" kann aber auf v e r s c h i e d e n e individuelle Gegenstände angewandt werden, und darin zeigt sich eben die Variabilität seines Richtungsfaktors4. Natürlich ist derselbe potentiell und tionale Richtungsfaktor wesentlich. — Es wäre noch genauer zu erwägen, in welchem Verhältnis der nominale Richtungsfaktor zu der Funktion des Nennens steht, die u. a. K. Twardowski (vgl. „Zur Lehre vom Gegenstand und Inhalt der Vorstellungen", S. 11 f.) den Funktionen des Äusdrückens und des „Bedeutens" gegenüberstellt. Die Funktion des Bedeutens beruht nach T w a r d o w s k i darauf, daß der Name ein Vorstellungserlebnis in dem Hörer hervorruft. Sie hat mit der „Bedeutung" in meinem Sinne nichts zu tun. 1 A. Pfänder unterscheidet zwischen „Individual-" und „Pluralbegriffen". Er unterscheidet aber den intentionalen Richtungefaktor nicht von den anderen Bedeutungselementen, so daß bei P f ä n d e r nicht klar ist, worauf der Unterschied zwischen Individual- und Pluralbegriffen beruht. 2 Auf diese Tatsache weist bereits E. Husserl in den „Log. Unters." hin, wenn er auch vom Richtungsfaktor nicht spricht. 3 Vgl. dazu meine Ausführungen in den „Essentialen Fragen", S.31f. *• Damit hängt die Frage zusammen, wie man die sog. „allgemeinen" Namen bzw. gegenständlichen Begriffe zu bestimmen hat. Seit B e r k e l e y bis in unsere Tage hat sich die Tradition ausgebildet, daß man den „allgemeinen" Begriff als denjenigen definiert, der mehr als einen Gegenstand bezeichnet. Dies wird fast

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variabel, solange das Wort nicht auf einen ganz bestimmten Gegenstand angewendet wird. Bei der Anwendung geht er in einen aktuellen und s t a b i l i s i e r t e n über. Der intentionale Richtungsfaktor ist in jeder nominalen Wortbedeutung vorhanden, er tritt sowohl bei den Hauptwörtern wie bei den Adjektiven auf, er fehlt dagegen fast bei allen rein funktionierenden Wörtchen, wie z.B. „und", „oder" u.dgl. mehr. Seine Art — ob konstant oder variabel usw. — ist von dem m a t e r i a l e n Inhalt der nominalen Wortbedeutung abhängig. Nur dort, wo dieser Inhalt den intentionalen Gegenstand der Bedeutung mit solchen Beschaffenheiten bestimmt, die — falls sie einem Gegenstand überhaupt zukommen — ihn als I n d i v i d u u m vollkommen eindeutig bestimmen, kann der Richtungsfaktor auf Grund der Bedeutung s e l b s t konstant und aktuell sein. Er ist aber immer variabel und potentiell, wenn der materiale Inhalt der Wortbedeutung den Gegenstand („Tisch") durch ein Moment („Tischheit") bestimmt, das zwar zu der individuellen konstitutiven Natur des Gegenstandes gehört, aber dieselbe nicht allein zu konstituieren vermag1. Der materiale Inhalt kann in diesem Falle sozusagen die Aktualität und Konstanz des Richtungsfaktors nicht von selbst erzwingen, so daß erst eine bestimmte Anwendung des Wortes auf einen konkreten Fall dazu führt. Daß es aber zu einer solchen Wandlung der vollen Bedeutung eines Wortes bei einer Anwendung kommen kann und tatsächlich kommt, ist für das Problem der Seinsweise der Bedeutungseinheiten von besonderer Wichtigkeit. Wir werden später noch auf andere solche Wandlungen hinweisen. Die Grenzen der Variabilität eines variablen Richtungsfaktors sind eben dasjenige, was man tatsächlich im Auge hatte, als man von dem „Umdurchweg von den Logiken der Gegenwart behauptet, z. B. in Polen durch T. Kotarbinski in dessen „Elementy teorii poznania, logiki formalnej i metodologii" (Elemente der Erkenntnistheorie, der formalen Logik und der Methodologie, 1929). A. Pfänder behauptet mit Recht, daß nur Pluralbegriffe mehr als einen Gegenstand bezeichnen. Die sog. allgemeinen Namen dagegen sind im allgemeinen keine Pluralbegriffe und müssen anders definiert werden. Ein Name ist nämlich „allgemein", wenn er einen b e l i e b i g e n Gegenstand (ein beliebiges Individuum) aus einer durch den materialen Inhalt des Namens eindeutig bestimmten Klasse von Gegenständen bezeichnet. Ein Name ist dagegen „individuell", wenn er ein durch seinen materialen Inhalt eindeutig bestimmtes Individuum (Mittelpunkt der Erde) oder eine eindeutig bestimmte Gruppe von Individuen (die vier Brüder des Königs Kasimir dea Großen) bezeichnet. Im letzten Fall ist er dann zugleich individuell und plural. 1 Es gehört zu den „doppelt unselbständigen" Momenten der unmittelbaren Morphe des Gegenstandes, vgl. „Essentiale Fragen", S.62ff. & Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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fang" eines „Begriffes" sprach, und was man ganz irrtümlicherweise mit dem Bereich der unter den „Begriff" fallenden Gegenstände identifizierte1. ad 2. Der materiale Inhalt, den wir so nennen, weil er die q u a l i t a t i v e Beschaffenheit des Gegenstandes bestimmt, ist ebenfalls in erster Linie für die Namen charakteristisch und tritt bei rein funktionierenden Worten2 nicht auf. Seine Leistung beruht auf der B e s t i m m u n g s f u n k t i o n . Er kann sie nur deswegen ausüben, weil er seinem Wesen nach ein intentionales Vermeinen ist 8 . Zum Wesen des intentionalen gegenständlichen Vermeinens gehört es aber, daß durch dessen Vollzug ein von ihm selbst verschiedenes Etwas — der „intentionale Gegenstand" als solcher — „entworfen", in einem übertragenen Sinne „geschaffen" wird. Und die Funktion des materialen Inhalts beruht auf dem „Bestimmen" dieses Gegenstandes hinsichtlich seiner qualitativen Beschaffenheit4. Der materiale Inhalt „weist" mit anderen Worten dem intentionalen Gegenstande bestimmte materiale Merkmale „zu" und „schafft" ihn dadurch im Verein mit dem formalen Inhalt der nominalen Bedeutung. Man könnte sagen, daß in jedem solchen materialen Inhalt ein Moment eines sie iubeo, eines „es sei so und so bestimmt" steckt. Wie der rein intentionale Gegenstand der nominalen Wortbedeutung qualitativ bestimmt ist, das hängt a u s s c h l i e ß l i c h von dem materialen Inhalt der nominalen Wortbedeutung ab8. Oder dasselbe von der anderen Seite her betrachtet : der zu der nominalen Wortbedeutung wesensmäßig gehörende rein intentionale Gegenstand weist hinsichtlich seiner qualitativen Beschaffenheit solche und nur solche Momente auf, welche ihm in dem materialen Inhalt der Bedeutung zugedeutet werden. Der intentionale Richtungsfaktor 1 Unsere Unterscheidungen vorausgesetzt, könnte man also auch definieren : Ein Name ist allgemein, wenn sein Richtungefaktor variabel und potentiell ist, er ist aber i n d i v i d u e l l , wenn sein Richtungsfaktor auf Grund seiner Bedeutung selbst konstant und aktuell ist. 2 Im Sinne A. P f ä n d e r s , vgl. „Logik", S.299ff. 3 Woher diese Intentionalität stammt und welcher Art sie ist, ist ein besonderes Problem, mit dem wir uns noch beschäftigen werden. Vgl. § 18. 4 Der Ausdruck „qualitative Beschaffenheit" soll hier in einem sehr weiten Sinne gebraucht werden, in welchem er alle Bestimmtheiten des Gegenstandes umfaßt, welche nicht zu der „Form" des Gegenstandes im analytisch-formalen Sinne der formalen Ontologie, wie sie E. Husserl versteht, gehören. 5 Dieser Satz ist nicht ganz korrekt formuliert. Eine strengere Fassung kann aber erst nach der Einführung der Scheidung zwischen dem intentionalen Gegenstande und seinem Gehalte erreicht werden, da der Satz nur in bezug auf die qualitative Ausstattung dieses Gehaltes gilt. Vgl. im folgenden §§ 20 und 21.

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des Namens — wenn wir den betreffenden nominalen Ausdruck rein an sich, d.h. vor jeder möglichen Anwendung auf etwas realiter oder idealiter Existierendes betrachten — weist eben auf diesen von dem materialen Inhalt bestimmten Gegenstand1 hin und hängt in seiner Richtung durchaus von diesem Inhalt ab. Zu beachten ist noch folgendes : Es ist nicht notwendig, daß der materiale Inhalt der nominalen Wortbedeutung den intentionalen Gegenstand ausschließlich durch niederste, nicht weiter differenzierbare Momente bestimmt. Es ist im Gegenteil möglich, daß neben solchen intentionalen Momenten, die dies tun, auch solche auftreten, welche den Gegenstand mit Artmomenten höherer Stufe ausstatten. Es ist auch möglich, daß der Gegenstand nur durch Artmomente intentional bestimmt wird, ohne daß zugleich die niedersten Differenzen ausdrücklich (explicite) angegeben werden. Wenn wir z.B. den Ausdruck „farbiges Ding" nehmen, so bestimmt sein materialer Inhalt den intentionalen Gegenstand nur hinsichtlich dessen, daß es ein Ding und ein farbiges Ding sein soll; welcher Farbe aber dieses Ding sein soll, ist in der Bedeutung in keinem Sinne angedeutet. Aber daß es irgendeine der Farbenqualitäten haben muß, das liegt darin einbeschlossen, da das Ding eben ein „farbiges" sein soll. Es muß also in dem materialen Inhalt der betreffenden Wortbedeutung einerseits dasjenige Moment vorhanden sein, das den intentionalen Gegenstand hinsichtlich dessen bestimmt, daß er überhaupt „farbig" sein soll, andererseits aber auch dasjenige, welches bestimmt, daß er „irgendeine" b e s t i m m t e Farbe hat. Die eben gegenübergestellten Momente des materialen Inhalts unterscheiden sich wesentlich dadurch, daß, während das erste den Gegenstand durch eine feste, eindeutig bestimmte Konstante bestimmt, ihm das zweite eine ganz eigentümliche Unbestimmtheit zuweist, welche aber nur auf eine durch das betreffende konstante Moment („farbiges") vorgeschriebene Weise beseitigt, d.h. durch ein eindeutig festgelegtes niederstes Qualitätsmoment (z.B. „rot" einer ganz bestimmten Nuance) in ein Bestimmtsein verwandelt werden kann. Wir wollen diejenigen Momente des materialen Inhalts, deren Beispiel das erste Moment bildet, die „konstanten" Momente dieses Inhalts nennen. Diejenigen aber, die zu dem zweiten Typus gehören, nennen wir die im materialen Inhalt auftretenden „Variablen", eben

1

An der intentionalen Entwerfung dieses Gegenstandes ist auch der formale Inhalt des nominalen Ausdrucks wesensmäßig beteiligt. Vgl. unten S. 68.

ε·

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im Hinblick darauf, daß ein solches Moment dem intentionalen Gegenstande nicht bloß eine Unbestimmtheit zuweist, sondern zugleich eine Variabilität der möglichen einzelnen Momente zuläßt (mit sich führt), welche das Unbestimmtsein beseitigen könnte1. Es ist ein besonderes Problem, das wir hier nicht zu lösen beabsichtigen, ob in jeder nominalen Wortbedeutung neben den „Konstanten" auch „Variable" des materialen Inhalts auftreten müssen und ob die Weise des Auftretens der Variablen die gleiche ist wie die der Konstanten. Wie immer es damit stehen mag, wichtig ist es jedenfalls, daß Variable in dem materialen Inhalt der nominalen Bedeutung auftreten können. Erst die Berücksichtigung ihres Vorhandenseins erlaubt, verschiedene wichtige logische Probleme, z.B. das Problem der Anordnung verschiedene? — wie man gewöhnlich sagt — „Begriffe", ihrer Allgemeinheitsstufe nach2 zu lösen. Die Nichtberücksichtigung der „Variablen" hat u.a. zu einer ganz schiefen Auffassung des sog. „Inhalts" eines „Begriffs" geführt. Man hatte nämlich ausschließlich den Bereich der „Konstanten" des majterialen Inhalts einer nominalen Wortbedeutung im Auge, als man vom „Inhalt des Begriffs" sprach, und glaubte damit schon den vollen Inhalt des Begriffs erschöpft zu haben, was zu verschiedenen weitgehenden Irrtümern geführt hat. Dabei hat man den „Inhalt des Begriffs" auf ganz widersinnige Weise als den Bereich der „gemeinsamen Merkmale" der unter den Begriff fallenden Gegenstände definiert. Endlich muß betont werden, daß die Variabilität des intentionalen Richtungsfaktors eines Namens mit dem Auftreten der „Variablen" in seinem materialen Inhalt im engen Zusammenhang steht. Und zwar ist der Richtungsfaktor immer dann variabel, wenn in diesem Inhalt irgendeine „Variable" vorhanden ist, die zur Bestimmung der individuellen konstitutiven Natur des Gegenstandes gehört, falls zugleich nicht durch eine besondere Aufgabe im zusammengesetzten Namen in dem materialen Inhalt eine individuierende Eigenschaft bestimmt wird. Dies ist immer der Fall, wenn der intentionale Gegenstand durch ein doppelt unselbständiges Moment seiner Natur als durch ein „Schema" aufgefaßt wird, so daß 1 Die Variablen müssen natürlich nicht immer die niedrigsten Qualitätsarten bestimmen, immer aber Momente der jeweilig niedrigeren Art, als es diejenige ist, welche durch eine entsprechende Konstante bestimmt wird. 2 Es handelt sich da um die r e l a t i v e Allgemeinheit, welche mit der früher (S.64) bestimmten a b s o l u t e n Allgemeinheit nicht verwechselt werden darf.

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die früher gegebene Bedingung der Variabilität des Richtungsfaktors (vgl. S. 64f.) der eben angegebenen äquivalent ist. Ob dagegen der materiale Inhalt eines i n d i v i d u e l l e n Namens aus lauter Konstanten bestehen muß, muß hier dahingestellt bleiben. ad 3. Wenn aber in der nominalen Wortbedeutung nichts anderes als der materiale Inhalt und der intentionale Richtungsfaktor enthalten wäre, so könnten sie zusammen noch keinen G e g e n s t a n d , insbesondere aber keinen Gegenstand vom Typus „individuelles Ding" entwerfen. Denn zum Wesen eines jeden wirklichen idealen oder bloß intentionalen Gegenstandes gehört es, nicht bloß eine bestimmte Mannigfaltigkeit von qualitativen Soseinsbestimmtheiten zu haben, sondern auch eine charakteristische formale Struktur aufzuweisen. Und diese Struktur ist eine je andere, je nachdem es sich um einen seinsselbständigen Gegenstand (um eine „Substanz"), insbesondere um ein „Ding" oder z.B. um eine Beschaffenheit oder einen Zustand u. dgl. mehr handelt. Die in Betracht kommenden Gegenständlichkeiten werden auch in nominalen Wortbedeutungen als so oder anders formal gebaute tatsächlich vermeint. So ist es notwendig, neben dem „materialen Inhalt" auch einen „formalen Inhalt" dieser Bedeutungen anzunehmen. Wenn man es bis jetzt fast nirgends getan hat und damit die nominale Wortbedeutung bloß auf ihren materialen Inhalt reduzierte, so hat dies seinen Grund in der besonderen Weise, in welcher der formale Inhalt in der gesamten nominalen Wortbedeutung auftritt. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich radikal von dem materialen Inhalt. Wenn wir z.B. die zusammengesetzte Wortbedeutung „ein gleichseitiges Dreieck" betrachten, so besteht ihr materialer Inhalt in einer Reihe von untereinander zu einer Sinneinheit verbundenen intentionalen Momenten. Diese einzelnen Momente, die die einzelnen Züge der zugehörigen Gegenständlichkeit bestimmen, lassen sich in der Bedeutung einzeln für sich als besondere Elemente auffinden. Das trifft auf Momente des formalen Inhalts im allgemeinen nicht zu. Die formale Struktur des Gegenstandes (z.B. des Dreiecks, des Tisches) wird in der nominalen Wortbedeutung im allgemeinen nicht in derselben Weise explizite vermeint wie seine materialen Bestimmtheiten. Trotzdem werden die Momente der formalen Struktur auch m i t v e r m e i n t , und zwar auf eine f u n k t i o n e l l e Weise. Man kann sagen, daß die nominale Wortbedeutung ihrem durch den materialen Inhalt qualitativ bestimmten Gegenstand gegenüber (der durch denselben allein freilich noch kein „Gegenstand" ist) eine for69

m e n d e Funktion ausübt, indem sie das durch den materialen Inhalt Bestimmte als eine formal bestimmt strukturierte Einheit, z.B. als ein „Ding", eine „Beschaffenheit von Etwas", ein „Prozeß", ein „Zustand" u.dgl. mehr b e h a n d e l t . Dieses ,Etwas als ein Ding (oder als eine Beschaffenheit von Etwas) Behandeln' ist es, was im normalen Falle den „formalen Inhalt" der nominalen Bedeutung bildet. Freilich ist es möglich, daß der formale, gewöhnlich nur in funktioneller Weise vorhandene Inhalt sozusagen expliziert wird, so daß der entsprechende Zug der formalen Struktur-des betreffenden Gegenstandes auf dieselbe Weise explizite vermeint wird, wie die materialen Bestimmtheiten desselben. (Es ist das z.B. in der zusammengesetzten nominalen Wortbedeutung : „Die Rotbestimmtheit des Dinges Tisch" der Fall.) Aber dies ist die sozusagen anomale Weise des Auftretens des formalen Inhalts der nominalen Wortbedeutung. Die Möglichkeit einer solchen „Explizierung" beweist auch am besten, daß der formale Inhalt tatsächlich in der nominalen Wortbedeutung vorhanden ist. ad 4 und 5. Endlich tritt in der nominalen Wortbedeutung immer ein existentiales Charakterisierungsmoment in funktioneller und manchmal auch in expliziter Weise auf. Z.B. in der Bedeutung des Ausdrucks „Hauptstadt Polens" wird die betreffende Stadt nicht bloß als „ S t a d t " usw., sondern auch als etwas, was seinem Seinsmodus nach „real" ist, vermeint. Und ähnlich wird der Gegenstand der Bedeutung „das gleichseitige Dreieck" — im mathematischen Sinne — als etwas idealiter Existierendes aufgefaßt. Dieses Moment der existentialen C h a r a k t e r i s i e r u n g darf aber nicht mit dem Moment der existentialen P o s i t i o n verwechselt werden. So meint z.B. der Name „Hamlet" (im Sinne der Gestalt des Shakespeareschen Dramas) zwar einen Gegenstand, der nie realiter existierte bzw. existieren wird, der aber, falls er existierte, zu den Gegenständlichkeiten des existentialen Modus „Realität" gehören würde. Es gibt somit in der vollen Bedeutung dieses Namens ein existentiales Charakterisierungsmoment, die realexistentiale Position fehlt aber in ihm durchaus. Der Ausdruck „Hauptstadt Polens" kann dagegen so verwendet werden, daß in seiner Bedeutung neben dem existentialen Charakterisierungsmoment auch die realexistentiale Position auftritt. Sein Gegenstand wird dann nicht bloß als ein seinem Seinsmodus nach realer, sondern zugleich als ein t a t s ä c h l i c h realiter existierender vermeint. Aber auch der Ausdruck „Hamlet" kann so verwendet werden, daß in ihm neben dem existentialen Charakteri70

sierungsmoment noch das Moment einer eigentümlichen existentialen Position enthalten ist, das den zugehörigen Gegenstand zwar nicht in der faktisch existierenden raum-zeitlichen Realität, aber doch in der f i k t i v e n , durch den Sinngehalt des Shakespeareschen Dramas geschaffenen „Wirklichkeit" setzt. Da liegen besonders schwierige Sachlagen, die noch später untersucht werden. Vorläufig handelt es sich nur darum, die beiden existentialen Momente: das Moment der existentialen Charakterisierung und dasjenige der existentialen Position, auseinanderzuhalten und ihr mögliches Vorhandensein schon bei bloßen nominalen Ausdrücken — und nicht erst bei Sätzen bzw. Urteilen — hervorzuheben. Die von mir unterschiedenen Momente bzw. Gruppen von Momenten der nominalen Wortbedeutung stehen in verschiedenen funktionellen Abhängigkeiten untereinander, so daß z.B. ein Unterschied im materialen Inhalt einen entsprechenden Unterschied im formalen Inhalt mit sich führen kann. Es herrschen da bestimmte apriorische Gesetzmäßigkeiten, die hier nicht näher untersucht werden können. Wie sich gleich zeigen wird, reicht die Unterscheidung der verschiedenen, in einer nominalen Bedeutung enthaltenen Momente zu ihrer Charakterisierung als einer n o m i n a l e n noch nicht aus. Diese Unterscheidung ist aber unentbehrlich, um diese Charakterisierung in der Gegenüberstellung zu anderen Typen von Bedeutungseinheiten durchzuführen. b) D e r U n t e r s c h i e d z w i s c h e n Namen und f u n k t i o n i e r e n d e n Wörtern.

Um dem Wesen des nominalen Ausdrucks näher zu kommen, stellen wir ihn zunächst den sog. .funktionierenden Wörtern' gegenüber. Auf den ersten Blick scheint es, daß die Unterscheidung zwischen den beiden Wortarten sehr leicht durchzuführen sei, und zwar in dem Sinne, daß erstens die nominalen Ausdrücke sich durch das Vorhandensein des Richtungsfaktors und des materialen Inhalts in ihrer Bedeutung auszeichnen, welche beide in den funktionierenden Wörtern fehlen, und zweitens, daß die letzteren verschiedene Funktionen ausüben, wogegen die nominalen Ausdrücke keinerlei Funktionen ausüben können. Indessen läßt sich diese Scheidung nicht so leicht machen. Denn erstens gibt es unter den rein funktionierenden Wörtern solche, 71

deren Funktion vor allem darin besteht, daß sie in ihrer Bedeutung einen intentionalen Richtungsfaktor h=vben; das sind jene, von A. Pfänder abgegrenzten und in verschiedenen Modifizierungen auftretenden, „hinweisenden" funktionierenden Wörter wie z.B.: „dieser", „jener", „hier" usw. Ob dieser Richtungsfaktor variabel oder konstant ist und in welcher Richtung er hinweist, das hängt durchaus davon ab, mit welchen anderen — und zwar nominalen — Wortbedeutungen das betreffende Wörtchen zusammen auftritt1. Andererseits ist es auch nicht wahr, daß die funktionierenden Wörter keinen materialen Inhalt oder wenigstens kein Analogon dazu besitzen. Denn einen solchen haben alle diejenigen funktionierenden Wörter, von welchen Pfänder mit Recht behauptet, sie setzten eine „sachliche" Beziehung zwischen den Gegenständen. Wenn wir z.B. das Wort „neben" für sich nehmen, so b e s t i m m t zwar seine Bedeutung allein keinen Gegenstand hinsichtlich seiner qualitativen Beschaffenheit, sie schreibt ihm keine Eigenschaft zu, da sie überhaupt keinen Gegenstand „entwirft". Sobald aber ein Gegenstand von einer nominalen, mit dem betreffenden funktionierenden Wort verbundenen Wortbedeutung, etwa in dem Ausdruck „der Stuhl neben dem Tische", entworfen wird, charakterisiert das Wort „neben" den Gegenstand des zugehörigen Namens hinsichtlich seiner Lage im Räume im Vergleich zu einem anderen Gegenstand. Es ist also da wenigstens ein Analogon des materialen Inhalts einer nominalen Wortbedeutung vorhanden. — Endlich ist es auch nicht wahr, daß die nominalen Wortbedeutungen keine Funktionen ihren Gegenständen gegenüber ausüben können. Schon der formale Inhalt ist gewöhnlich in ihnen in funktioneller Weise enthalten. Die eigentlichen Funktionen der nominalen Bedeutungen treten aber erst da deutlich zutage, wo eine nominale Wortbedeutung als Glied einer zusammengesetzten nominalen Bedeutung auftritt2. Nehmen wir z.B. den Ausdruck „die rote, glatte Kugel" vor und betrachten wir die Wandlungen, die in den zunächst isoliert genommenen Wortbedeutungen „rote" und „glatte" vor sich gehen, wenn sie zu Bestandteilen des angegebenen zusammengesetzten Ausdrucks wer-

1

Vgl. dazu auch die Husserlschen Betrachtungen über die „okkasionellen" Bedeutungen („Log. Unters.", Bd. II, Unters. 1). 2 Ganz besondere — und zwar syntaktische — Funktionen werden von nominalen Wortbedeutungen ausgeübt, wenn dieselben Glieder eines S a t z e s sind. Zu betonen ist jedoch, daß diese Funktionen schon bei zusammengesetzten nominalen Ausdrücken möglich sind, die keine Glieder eines Satzganzen sind.

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den. Ein jedes von diesen Worten hat in der Isolierung neben seinem eigenen materialen und formalen Inhalt auch einen eigenen Richtungsfaktor, der auf einen je eigenen Gegenstand hinweist. Sobald sie zu Bestandteilen des genannten zusammengesetzten Ausdrucks werden, üben sie ganz bestimmte Funktionen ihren Gegenständen gegenüber aus. Vor allem wird da ihr Richtungsfaktor auf eigentümliche Weise, absolut oder nur relativ, stabilisiert und aktualisiert1; er richtet sich nämlich auf identisch denselben Gegenstand, auf welchen das Wort „Kugel" hinweist. Ist der Richtungsfaktor des letzteren Wortes bereits stabilisiert2, so ist es auch der Richtungsfaktor des Wortes „rote" (bzw. „glatte") und erlangt damit auch seine volle Aktualisierung. Ist aber der Richtungsfaktor des Hauptworts noch variabel, so kommt es zu einem „Zusammenlauf" aller drei Richtungsfaktoren. Dieser Zusammenlauf beruht aber auf zwei verschiedenen Umständen. Erstens kommt es zu einer Modifizierung der Variabilitätsgrenzen der Richtungsfaktoren aller in dem betreffenden Ausdruck auftretenden Worte, und zwar in dem Sinne, daß die zunächst verschiedenen Variabilitätsgrenzen sich gegenseitig beschränken, woraus eine Variabilitätsgrenze des dem ganzen zusammengesetzten Ausdruck eigenen Richtungsfaktors resultiert. Diese gegenseitige Anpassung der einzelnen Variabilitätsgrenzen ist aber nur dadurch möglich, daß es zugleich zweitens zu einer Verschmelzung der in Frage stehenden Faktoren zu einem einzigen kommt, so daß der ganze Ausdruck sich nur auf einen Gegenstand richtet, falls der Richtungsfaktor einstrahlig ist und stabilisiert wird. Aber diese Verschmelzung der Richtungsfaktoren zu einem einzigen bildet sozusagen nur den äußeren Ausdruck einer viel tiefer gehenden Vereinheitlichung der drei Bedeutungsgebilde zu einer Bedeutungseinheit, einer Vereinheitlichung, welche ihrerseits in den besonderen Funktionen gründet, die durch die als Beiworte auftretenden Eigenschaftsworte ausgeübt werden. Wenn z.B. das Wort „rote" ganz isoliert genommen wird, so entwirft es mittels seines materialen und formalen Inhalts einen nur durch die Beschaffenheit „Röte" qualitativ bestimmten Gegenstand, der aber zu1

Wenn diese Worte in Isolierung genommen werden, so ist ihr Riehtungsfaktor variabel und potentiell. 2 Dazu reicht — wie zu beachten ist — der bestimmte Artikel noch nicht aus. Aus diesem Grunde wird in der deutschen Sprache der bestimmte Artikel besonders unterstrichen, wenn der betreffende Ausdruck einen vollkommen stabilisierten Richtungsfaktor haben soll.

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gleich hinsichtlich seiner Natur, hinsichtlich dessen also, was er ist, u n b e s t i m m t bleibt1. Die voll entwickelte, aber dadurch unzweifelhaft eine Modifizierung erleidende Bedeutung des Wortes „rote" läßt sich somit mit dem Ausdruck „ein rotes Etwas" angeben. Insofern ist seine Bedeutung in dem Sinne unselbständig, als sie eine Ergänzung fordert, welche den Träger dieses Gegenstandes hinsichtlich seines Was bestimmen würde. Sobald es aber mit dem Substantiv „die Kugel" verbunden ist, hat es keinen eigenen intentionalen Gegenstand und hat ihn gerade deswegen nicht, weil es seinem eigenen Gegenstande gegenüber eine ganz bestimmte Funktion ausübt. Als „Eigenschaftswort" dem Substantiv beigefügt, behandelt es seinen eigenen intentionalen Gegenstand so, als ob er derjenige wäre, der durch das Hauptwort entworfen und seiner Natur nach als „Kugel" bestimmt ist. Die Funktion des Beiwortes besteht hier also 1. in der Identifizierung seines intentionalen Gegenstandes mit demjenigen des Hauptwortes und in eins damit 2. in der näheren Qualifizierung des letzteren durch das Rotmoment, so daß der letztere eine entsprechende Modifizierung erfährt, indem er jetzt als Korrelat des ganzen Ausdrucks „rote, glatte Kugel" diejenigen qualitativen Bestimmtheiten trägt, die bei isoliertem Auftreten der betreffenden Eigenschaftswörter qualitative Bestimmtheiten ihrer intentionalen Gegenstände waren2. Unser Beispiel zeigt also, daß die nominalen Wortbedeutungen bestimmte Funktionen den zugehörigen Gegenständlichkeiten gegenüber ausüben können. Infolgedessen läßt sich die Scheidung zwischen nominalen und funktionierenden Wortbedeutungen auch vom Standpunkte der Ausübung und Nichtausübung solcher Funktionen nicht durchführen, und somit bleibt auch das Wesen der nominalen 1

Insofern ist das Wort „rote" von dem Wort „rot", wenn das letztere z.B. in dem Satze „die Kugel ist rot" auftritt, verschieden. Das letztere — rein für sich genommen — entwirft keinen eigenen Gegenstand. Seine Bedeutung ist unselbständig. Sie wird durch das „ist" und auch durch das Subjekt des Satzes verselbständigt. Dann übt es die Funktion der Bestimmung des Merkmals aus, das dem Subjektgegenstande durch das ganze Prädikat zugesprochen wird. 2 A. Pfänder hat als erster in seiner „Logik" (1. c. S. 306ff.) daraufhingewiesen, daß die nominalen Wortbedeutungen („Gegenstandsbegriffe" in seiner Terminologie) bestimmte Funktionen ihren Gegenständen gegenüber ausüben. Die von mir oben aufgewiesenen Funktionen sind aber von denen, die P f ä n d e r im Auge hat, verschieden. Ich kann auch den Einzelheiten seiner Auffassung nicht beistimmen. Es würde uns hier aber zu weit führen, dies ausführlich auseinanderzusetzen. Auf das meiner Ansicht nach Richtige in der P f ä n d e r sehen Auffassung werde ich noch im folgenden zurückkommen.

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Wortbedeutungen nicht voll geklärt. Zwar taucht der Gedanke auf, daß sich der Unterschied zwischen den beiden Bedeutungsarten an der Verschiedenheit der von ihnen ausgeübten Funktionen durchführen ließe. Indessen die große Mannigfaltigkeit der in Betracht kommenden Funktionen und die damit zusammenhängende Unübersichtlichkeit ihrer Arten und Artverhältnisse würde uns bei der Lösung dieser Aufgabe große Schwierigkeiten bereiten. So liegt es viel näher, diesen Unterschied als vor allem durch die Besonderheit des formalen Inhalts nominaler Bedeutungen bedingt zu sehen. Während nämlich die letzteren unter der wesentlichen Mitwirkung des formalen Inhalts vor allem einen intentionalen Gegenstand bestimmen („entwerfen") und erst an diesem schon konstituierten Gegenstande verschiedene Funktionen ausüben, vermögen die „funktionierenden" Wörter keinen Gegenstand von sich aus intentional zu entwerfen. Sie üben nur verschiedene rein formal oder auch material bestimmende Funktionen betreffs Gegenständlichkeiten, die von anderen — und zwar gewöhnlich nominalen — Wortbedeutungen entworfen werden1. So scheint es, daß der formale, gegenstandformende Inhalt der nominalen Ausdrücke dasjenige ist, was sie eben zu nominalen macht, und daß sie somit richtig mit Pfänder als „Gegenstandsbegriffe" zu charakterisieren sind. Indessen tauchen da neue Schwierigkeiten auf, wenn man beachtet, daß 1. die nominalen Ausdrücke sich untereinander hinsichtlich ihrer formalen Inhalte erheblich unterscheiden können (es können in ihnen formale Inhalte auftreten, die die formale Struktur des Dinges, der Beschaffenheit, des Zustandes, des Vorgangs, der Tätigkeit, der Relation usw. entwerfen), und daß 2. mindestens einige von diesen formalen Inhalten in Wortbedeutungen auftreten können, welche von den nominalen Ausdrücken radikal verschieden sind, nämlich in den rein verbalen Ausdrücken. Im Hinblick auf das erste ist es aber sehr vorteilhaft, die nominalen Ausdrücke mit den verbalen zu kontrastieren, was uns auch aus dem Grunde von Nutzen sein wird, weil wir uns dadurch zugleich zu der Erfassung des Wesens des Satzes aufs günstigste vorbereiten werden. Als auf einen weiteren Punkt des Unterschiedes zwischen den nominalen Wortbedeutungen und den funktionierenden Wörtern 1

Darin liegt der Grund, weshalb die Verbindung von lauter „funktionierenden" Wörtern, wie z.B. „und" oder „ist" zu keiner Sinneinheit führt.

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könnte man darauf hinweisen, daß in der Bedeutung eines Namens viele heterogene Elemente zu unterscheiden sind, während es in der Bedeutung der funktionierenden Wörter solche Vielheit nicht gibt, so daß jedes dieser Wörter nur eine Funktion auszuüben scheint. Indessen ist wiederum fraglich, ob sich dies ganz allgemein behaupten läßt, und zwar mit Rücksicht darauf, daß es manche funktionierende Wörter gibt, die zugleich mehrere Funktionen ausüben (wie das „ist" im kategorischen Satze, das gewöhnlich sowohl die Behauptungsfunktion als auch die Prädikatsfunktion ausübt). Wahr ist indessen, daß es immer möglich ist, in solchen Fällen die einzelnen Funktionen auseinanderzuhalten und jede von ihnen einem anderen funktionierenden Wort zuzuweisen, was bei einem Namen nicht möglich ist. Es ist also z.B. nicht möglich, nominale Bedeutungen zu bilden, welche n u r den materialen Inhalt ohne jedweden formalen Inhalt und ohne den Richtungsfaktor enthielten. Die volle Bedeutung eines Namens scheint demnach ein aus verschiedenartigen, aber entsprechend gewählten, Elementen innerlich zusammenhängendes Ganzes zu bilden, während nichts derartiges in den funktionierenden Wörtern auftritt. c) D i e B e d e u t u n g d e s V e r b u m f i n i t u m .

Zur Untersuchung nehmen wir jetzt das i s o l i e r t e Verbum finitum in irgendeiner bestimmten Form, also z.B. „schreibt", „steht", „(ich) gehe", „amatur" u.dgl. Gibt es in seiner vollen Bedeutung dieselben heterogenen Elemente, deren Vorhandensein wir in nominalen Wortbedeutungen aufgewiesen haben ? Vor allem ist es unzweifelhaft, daß wir auch bei dem Verbum finitum von einem „materialen Inhalt" sprechen dürfen. Wenn wir zwei Verba genau derselben „grammatischen Form" nehmen, z.B. „schreibt" und „geht", so ist — formal gesprochen — der „materiale Inhalt" dasjenige, worin sich die Bedeutungen dieser Worte unterscheiden. In beiden Worten handelt es sich — wie man gewöhnlich sagt — um eine „Tätigkeit", aber in jedem von ihnen um eine andere, um eine material anders bestimmte. In den Worten dagegen: „geht", „ging", „(wir) werden gehen" usw. tritt trotz der Verschiedenheit der „grammatischen Form" etwas Identisches auf: überall handelt es sich um eine Tätigkeit genau derselben Art. Anders gesagt: Der materiale Inhalt des Verbum finitum ist dasjenige Element seiner vollen Bedeutung, das darüber entscheidet, 76

um was für eine, um eine wie q u a l i f i z i e r t e Tätigkeit es sich jeweilig handelt. Es scheint demnach zunächst, daß zwischen dem m a t e r i a l e n Inhalt einer nominalen Wortbedeutung und dem eines Verbum finitum kein Unterschied bestehe. Dafür scheint auch die Tatsache zu sprechen, daß der Vergleich der Worte „schreibt" und „das Schreiben" uns zur Festhaltung eines identischen Elements führt, und zwar, daß es sich in beiden Fällen um eine Tätigkeit genau derselben Art handelt. Bestünde also der Unterschied zwischen den beiden Wortarten lediglich darin, daß ein anderer formaler Inhalt in ihren Bedeutungen auftritt? — Ist aber der formale Inhalt nicht dasjenige in der Bedeutung des Wortes, was die formale Struktur des jeweilig Vermeinten bestimmt, und hat das Vermeinte der Worte „schreibt" und „das Schreiben" nicht dieselbe formale Struktur, eben einer „Tätigkeit" ? Zwar wird sie einmal „substantivisch", das andere Mal „verbal" vermeint; aber ist das für die B e d e u t u n g der beiden Worte nicht ein durchaus irrelevanter Umstand, der rein „grammatischer" Natur ist ? Niemandem fällt es ja ein, daß bei Verwendung des Wortes „das Schreiben" es sich um ein Ding handeln sollte, weil das Wort ein „Substantivum" ist. Und ebenso fällt es niemandem ein zu denken, es handle sich um eine Tätigkeit, wenn jemand sagt: „Der Himmel blaut"1. Trotz der „rein grammatischen" verbalen „Wendung" ist hier das Blau des Himmels als eine E i g e n s c h a f t des Himmels gemeint; es tritt da also in einem „Zeitwort" ein formaler Inhalt auf, der bei nominalen Wortbedeutungen oft vorkommt. Gibt es also keinen wesenhaften Unterschied zwischen den nominalen und den verbalen Wortbedeutungen2 ? Dies muß indessen entschieden verneint werden, wenn auch manche von den angeführten Behauptungen wahr sind. Sie entspringen aber einer oberflächlichen Analyse der beiden Typen von Bedeutungen. Vor allem ist zu bemerken, daß in der nominalen Wortbedeutung ein intentionaler Richtungsfaktor enthalten ist, während 1

Dies Beispiel ist allerdings eine Redewendung, die in der lebendigen Sprache wenig üblich ist. Und wo im Deutschen in lebendiger Sprache verbale Ausdrücke gebraucht werden („Die Wiesen grünen"), wird auch der Sinn ala verbal empfunden. 2 Es ist natürlich nicht meine Absicht, diesen Unterschied im Hinblick auf das Auftreten analoger formaler Inhalte zu verwischen. Es gibt aber in der Tat Forscher, die ihn leugnen. Z.B. A. Marty sieht in der Bedeutung, der beiden Wortarten keinen Unterschied und sucht ihn nur in der „äußeren und inneren Sprachform" (vgl. „Satz und Wort"). Allerdings versteht Marty unter „Bedeutung" ein psychisches Erlebnis, also etwas, was mit der Bedeutung in unserem Sinne nichts zu tun hat. 77

im Ver bum finitum ein solcher Richtungsfaktor, der auf die durch den materialen Inhalt des Verbums (z.B. schreibt) qualifizierte Tätigkeit hinwiese, durchaus fehlt 1 . In dem Fehlen bzw. Auftreten eines solchen Richtungsfaktors zeigt sich aber nur die tiefer gehende Verschiedenheit der beiden Bedeutungsarten an. Diese Verschiedenheit liegt in dem ganz verschiedenen Typus der I n t e n t i o n a l i t ä t , in der Weise, in welcher die intentionalen Korrelate von den betreffenden Bedeutungen intentional geschaffen werden. Kontrastieren wir in dieser Hinsicht z.B. die Worte: „das Schreiben" und „schreibt" (also Wörter mit genau demselben materialen und formalen Inhalt), so springt uns dieser Unterschied sofort ins Auge. Im ersteren Falle wird eine bestimmte Tätigkeit (oder bei anderen nominalen Ausdrücken ein „Ding", eine „Eigenschaft", ein „Zustand" usw.) als etwas F e r t i g e s und in seinem Fertigsein S e i e n des, in sich so oder anders B e s t i m m t e s und U m g r e n z t e s und in seinem Bestimmtsein auf einmal alsein Ganzes, U m f a ß t e s „entworfen" und als ein so Entworfenes auch dem bedeutenden Wort (oder dem das Wort verwendenden und die in ihm enthaltenen Intentionen aufnehmenden Ich) gegenübergestellt, ihm entgegengesetzt. Und erst in dieser Gegenüberstellung2 wird sie (bzw. der jeweilige „Gegenstand" der nominalen Bedeutung) zum d i r e k t e n Treffpunkt des intentionalen Richtungsfaktors3. 1 Es ist zu beachten, daß ich hier da« Verbum finitum in rein verbaler Funktion nehme und es lediglich so untersuche. Es ist aber möglich, das Verbum finitum auch in nominaler Funktion zu verwenden. Dann gilt der eben ausgesprochene Satz nicht. Wenn ich z.B. auf die Frage „Was tut er eigentlich?" antworte: „Er s c h r e i b t " , so b e n e n n e ich nur die schon durch die Frage entworfene und als bestehend vorausgesetzte Tätigkeit, ich gebe ihr noch unbestimmtes Was an. Dann hat das Verbum „schreibt" einen ausgesprochenen intentionalen Richtungsfaktor auf die ausgeübte Tätigkeit. — Daß das Verbum finitum auch in rein verbaler Verwendung einen Richtungsfaktor besitzt, aber einen gam, a n d e r e n , wird sich bald zeigen. 2 Vgl. die „Distanzstellung", die Frau C o n r a d - M a r t i u s als für die gegenständliche Gegebenheitsweise charakteristisch ansieht. Cf. „Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt", Jahrbuch f ü r Philosophie, Bd.III, S.470. 3 A . P f ä n d e r , der dabei allerdings nur die von ihm so genannten, .Hauptbegriffe" im Auge hat, wogegen wir hier a l l e nominalen Wortbedeutungen, also auch einige seiner „Nebenbegriffe", bestimmen wollen, sagt (vgl. „Logik", 1. c. S.307f.): „Die Hauptbegriffe sind also n i c h t dadurch charakterisiert, daß sie selbständige Gegenstände meinen, ja es kann sogar in einem Hauptbegriff die Unselbständigkeit des gemeinten Gegenstandes mitgemeint sein. . . Sondern das Gemeinsame und Entscheidende ist, daß die Hauptbegriffe den gemeinten Gegenstand, mag er sachlich selbständig oder unselbständig sein, g e d a n k l i c h voll umgrenzen und abgrenzen, ihn für sich herausheben, kurz ihn g e d a n k l i c h v e r v o l l s t ä n d i g e n oder substantivieren." Und dann fügt P f ä n d e r noch hinzu: „Nennen wir diese Form der

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Nicht also ein solcher oder ein anderer Gehalt der formalen und materialen Inhalte einer Wortbedeutung, sondern die Weise dee Entwerfens, Schaffens, der eigentümliche Typus der I n t e n t i o n a li t a t dieser Inhalte (welcher sich in den eben angegebenen Charakteren des Korrelats spiegelt) entscheidet darüber, daß eine Bedeutung „nominal" ist. Und diese Weise, dieser Typus, läßt sich auch von einer anderen Seite her charakterisieren als ein durch den formalen Inhalt s t a t i s c h e s Entwerfen eines „fertigen" formalen Schemas (welcher Abwandlung auch immer), das durch den materialen Inhalt sozusagen wiederum „statisch" mit qualitativen Momenten „ausgefüllt" wird. Natürlich ist die Rede vom „Ausfüllen" eines Schemas nur ein Bild, das nicht in dem Sinne verstanden werden darf, als ob es qualitative Momente, die jeder formalen Struktur bar wären, und formale Schemata, die jeder qualitativen Bestimmung entbehrten, gäbe. Beides geht untrennbar miteinander zusammen. Trotzdem ist die bildliche Rede vom statischen Ausfüllen, Zuweisen, durchaus am Platze, um die besondere Weise der nominalen Intentionalität zu charakterisieren. Diese nominale Weise des intentionalen Bestimmens ist nicht die einzig mögliche. Eine andere Weise findet eben bei den rein verbalen Ausdrücken statt. Die nominale Bestimmungsweise aber ermöglicht den intentionalen, direkt hinweisenden Richtungsfaktor — den wir von nun an den „nominalen" nennen werden — und führt ihn zugleich notwendig mit sich. Die nominale Wortbedeutung ist eben eine organisch aufgebaute Einheit, in welcher alle Elemente nicht nur sinngemäß zueinander gehören und sich gegenseitig bedingen, sondern auch alle „in einem Sinne" „wirken" (wenn man uns hier das Wort erlaubt). Die Gesamtleistung aller ihrer so funktionierenden Elemente ist

Selbständigkeit eine l o g i s c h e K a t e g o r i e , so ist diese logische Kategorie streng von der s a c h l i c h e n K a t e g o r i e des .Dinges' zu unterscheiden" (I.e. S.308). Wohl ist es richtig, wenn Pfänder diese letzte Unterscheidung macht und betont, daß Gegenständlichkeiten sehr verschiedener formaler Struktur durch nominale Wortbedeutungen bestimmt werden können und daß es somit — nach Einführung unserer Unterscheidungen und unserer Terminologie — für die nominalen Wortbedeutungen nicht wesentlich ist, einen bestimmten, die Struktur des Dinges entwerfenden, formalen Inhalt zu besitzen. Aber mit der Gegenüberstellung „Selbständigkeit" und „Unselbständigkeit" und dann mit der Behauptung, daß etwas „sachlich" Unselbständiges „gedanklich" verselbständigt wird, kommt man hier nicht aus, insbesondere auch deswegen, weil es unklar ist, wie und wodurch ein und dieselbe Gegenständlichkeit in einander so entgegengesetzte „Kategorien" gefaßt werden kann.

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eben dasjenige, was man die „Vergegenständlichung" des Vermeinten als solchen nennen kann und was für die Nennfunktion des nominalen Ausdrucks charakteristisch ist. Die „Vergegenständlichung" — die Pfänder wahrscheinlich im Auge hat, wenn er von der „Substantivierung" redet — steht aber weder im Zusammenhang noch im Widerspruch mit der jeweiligen formalen Struktur der entsprechenden intentionalen Gegenständlichkeit, welche von dem formalen Inhalt entworfen wird. Sie beruht — falls es sich z.B. am eine Tätigkeit handelt — lediglich darauf, daß diese Tätigkeit in ihrem Tätig-Sein als Subjekt von besonderen Merkmalen, als ein „Im-sichAbspielen-so-Seiendes" statisch aufgefaßt wird. Sie steht nicht im Zusammenhang mit der formalen Struktur der jeweiligen Gegenständlichkeit, weil z.B. dieselbe Tätigkeit auch auf eine andere Weise — eben durch das Verbum finitum — entworfen werden kann. Und sie steht auch nicht im Widerspruch dazu, weil alles und jedes, sofern es überhaupt Etwas ist, also überhaupt ist, ein „Subjekt von Merkmalen" ist, ganz unabhängig davon, ob es in sich selbst Ereignis, Tätigkeit, Zustand, Relation oder endlich ein substantielles, allseitig abgeschlossenes, seinsselbständiges Ding ist. Nur braucht es nicht notwendig in seinem „Subjekt-Sein" erfaßt zu werden. Die nominale Wortbedeutung kehrt nur sozusagen diese seine „Seite" durch den besonderen Typus ihrer Intentionalität hervor, ohne an der besonderen, durch den betreffenden formalen Inhalt entworfenen formalen Struktur irgend etwas zu ändern1. Ganz anders ist es dagegen bei einem Verbum finitum. Die Bedeutung z.B. des Verbums „schreibt" führt zu keinem Auffassen eines Etwas als eines Subjekts von Merkmalen. Deswegen fehlt ihr nicht nur der direkt hinweisende Richtungsfaktor, sondern auch der materiale Inhalt dieser Bedeutung bestimmt qualitativ die in Frage stehende Tätigkeit auf eine durchaus andere Weise, als es beim nominalen materialen Inhalt der Fall ist. Denn wenn ein Subjekt von Merkmalen nicht entworfen bzw. wenn etwas nicht unter dem 1

Im II. Bande meines im Jahre 1947/48 veröffentlichten Buches „Der Streit um die Existenz der Welt" (polnisch) habe ich gezeigt, daß eine Tätigkeit, allgemeiner: ein Prozeß oder eine Relation, eine merkwürdige zweiseitige Struktur hat. So ist ein Prozeß einerseits ein im Wachsen begriffenes Ganzes von Phasen, die aufeinander folgen, andererseits ein strukturell einzigartiges Subjekt von Eigenschaften, das mit dem Ablaufe der aufeinander folgenden Phasen immer neue Eigenschaften gewinnt und während des Ablaufs des Prozesses nie voll konstituiert wird. Damit stimmt die hier gegebene Analyse des Unterschiedes zwischen nominalen und rein verbalen Bedeutungen überein.

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Aspekte eines Subjekts von Merkmalen hingestellt wird, dann wird auch die Qualifizierung nicht in dem Aspekte der Qualifizierunng eines Subjektes von Merkmalen vollzogen. Und doch findet auch im Verbum finitum eine Qualifizierung statt, so daß die Rede von einem „materialen Inhalt" auch bei ihm durchaus berechtigt ist. Nur die Weise des Qualifizierens muß eine ganz andere sein. Es fragt sich nur, welche. In dem nominalen Ausdruck „das Schreiben" wird — wie wir sagten — eine Tätigkeit als ein „So-und-so-Seiendes" statisch aufgefaßt. In dem Worte „schreibt" dagegen ist das durchaus nicht der Fall. Sie wird da — wenn man uns das Wort hier erlaubt — dynamisch e n t f a l t e t als ein Sich-Abspielendes, Werdendes oder besser als ein Sich-Abspielen, Werden, Vollziehen1. Im r e i n e n G e s c h e hens-Charakter wird sie da entfaltet, zur Darstellung gebracht, ohne als Etwas, als Subjekt von Merkmalen aufgefaßt zu sein. Das „Im-reinen-Geschehen-Entfalten" ist die wesenhafte Leistung des Verbum finitum. Dieses reine Geschehen wird da natürlich als ein bestimmt q u a l i f i z i e r t e s zur Entfaltung gebracht, und daß es dazu kommt, hängt ausschließlich von dem materialen Inhalt des Ver bums ab. Aber nicht diese Qualifizierung selbst und ebenso wenig der Gehalt des formalen Inhalts des Verbums (welcher im gewöhnlichen Falle die formale Struktur eines Geschehens, einer „Tätigkeit" entwirft) — denn beides kann auch in einer nominalen Wortbedeutung auftreten —, sondern die ganz eigenartige Weise des Entfaltens unterscheidet den materialen und formalen Inhalt des Verbum finitum von dem einer nominalen Wortbedeutung und schließt das Vorhandensein des nominalen intentionalen Richtungs1 Wir kämpfen da mit einer unvermeidlichen Schwierigkeit der sprachlichen Ausdrucksweise. Denn indem wir die Bedeutung des Verbum finitum und ihr intentionales Korrelat analysieren, müssen wir die Aufmerksamkeit des Lesers auf das lenken, was wir im Auge haben, und das geschieht notwendig durch einen n e n n e n d e n Hinweis. Indem wir dies aber tun, müssen wir uns nominaler Wortbedeutungen bedienen und damit den vergegenständlichenden Modus der Intentionalität einführen, welcher eben das in das intentionale Korrelat eines Verbum finitum hineinlegt, was in dem letzteren bei schlichter Verwendung des Verbums nicht vorhanden ist und was notwendig beseitigt werden muß, wenn es sich um eine getreue Wiedergabe der bei dem Verbum finitum vorhandenen Sachlage handelt. Streng genommen läßt sich diese Sachlage durch keine nominalen Wortbedeutungen angeben und ist nur intuitiv durch Versenkung in den Sinn des Verbum finitum erfaßbar. Deswegen sind alle unsere Redewendungen nur technische Mittel, dem Leser diese intuitive Versenkung zu erleichtern, und wollen nicht als streng zu nehmende „Bestimmungen" der zu erschauenden Sachlage gelten.

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Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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faktors aus. Nur diese besondere Weise der Entfaltung „im reinen Geschehen" macht es auch verständlich, daß die Verba finita in verschiedenen „Zeitformen" auftreten können und die betreffende „Tätigkeit" einmal als eine sich „jetzt" abspielende (oder genauer: als das material bestimmt qualifizierte sich jetzt Abspielen), das andere Mal als das in der Vergangenheit bestimmt qualifizierte sich Abgespielt-Haben usw. zur Entfaltung bringen1. Bei nominalen Wortbedeutungen ist eine derartige zeitlich ohne weiteres charakterisierende Entfaltung nicht möglich. Zwar können wir von einem „gewesenen Ereignis", von einem „aktuell existierenden Zustand", ja, von einem „jetzt seienden Haus" reden, aber dies ist nur dadurch möglich, daß in dem m a t e r i a l e n Inhalt einer zusammengesetzten nominalen Bedeutung ein besonderes Moment auftritt, durch welches die durch die übrigen Elemente des materialen und formalen Inhalts durchaus zeitlos entworfene Gegenständlichkeit erst eigens

1 Diese besondere Intentionalität des „Entfaltens" im zeitlichen Geschehen hat P f ä n d e r vielleicht im Auge, wenn er über die „Tunbegriffe", in seinem Sinne, die zunächst schwer verständlichen und streng genommen unhaltbaren Sätze ausspricht: „Sie unterscheiden sich aber von den BeilegebegrifFen wesentlich dadurch, daß sie den unselbständig gefaßten Gegenstand gedanklich in die Form eines sich z e i t l i c h e r s t r e c k e n d e n T u n s kleiden. Sie behaupten dabei aber wiederum in keiner Weise, daß der Gegenstand selbst ein Tun sei, sie ordnen ihm das Tun nicht sachlich zu" („Logik", I.e. S.311). Unhaltbar nenne ich diese Sätze, weil 1. die „Tunbegriffe" (Verba finita) keine Gegenstände, Subjekte von Merkmalen, „entwerfen"; diese „Seite" der entfalteten „Tätigkeit" (des Geschehens) bleibt hier eben verborgen oder, wenn man sich streng an das rein Intentionale hält, nicht bestimmt; 2. irgend etwas,,behaupten' ' können weder die Begriffe im P f ä n d e r sehen Sinne noch Wortbedeutungen als solche. Recht hat P f ä n d e r aber wiederum hierin, daß weder die intentionalen Korrelate des Verbum finitum die formale Struktur der Tätigkeit haben müssen (vgl. „der Himmel blaut" — ein Beispiel P f ä n d e r s ! ) , noch daß ihre formale Struktur von der besonderen Entfaltungs-Intentionalität des Verbums irgendwie abhängig ist oder von ihr betroffen wird. Was die Weise des Entfaltens betrifft, so sind in dieser Hinsicht die Sätze, die wir bei H. L o t z e in seiner „Logik" finden, beachtenswert: „Um den Sinn solcher Verba, wie wir sie eben als Beispiele brauchten, vollständig zu denken, haben wir mehrere einzelne Inhalte durch eine Bewegung unseres Vorstellens zu verknüpfen, eine Bewegung, die ausführlich freilich nur in der Zeit, aber doch in dem, was sie bedeutet oder sagen will, von allem Zeitverlauf unabhängig ist. Mit einem Wort: Nicht ein Geschehen, sondern eine Beziehung zwischen mehreren Beziehungspunkten ist der allgemeine Sinn der verbalen Form ; und diese Beziehung kann ebensogut zwischen Inhalten vorkommen, die stets unzeitlich nur in der Welt des Denkbaren zusammen, wie zwischen solchen, die, der Wirklichkeit angehörig, einer zeitlichen Veränderung zugänglich sind" (1. c. S. 18f.). Gewiß darf man hier weder von einer „Bewegung unseres Vorstellens" noch von Beziehungen zwischen mehreren Beziehungspunkten reden, aber doch scheint mir hier sozusagen eine Vorahnung dessen vorzuliegen, was ich oben „Entfalten" einer Tätigkeit nannte.

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auf nominale Weise zeitlich bestimmt wird. Indessen tritt weder in dem materialen noch in dem formalen Inhalt der verbalen Bedeutung ein solches Element auf, und trotzdem wird das zeitliche Moment durch den besonderen Modus der für die Verba finita überhaupt charakteristischen Intentionalität eo ipso eingeführt1. Diese zeitlich immer irgendwie ursprünglich charakterisierende, geschehensmäßige Darstellungsweise ist mit anderen Worten die eigentümliche Funktion des Verbum finitum, eine Funktion zugleich, die die Weise des Auftretens und Leistens der materialen und formalen verbalen Inhalte wesensmäßig von anderen Bedeutungseinheiten unterscheidet. Der Unterschied zwischen nominalen und verbalen Wortbedeutungen wird noch deutlicher hervortreten, wenn man beachtet, daß jedes Verbum finitum, in der Isolierung genommen, eine ergänzungsbedürftige („unselbständige" im Sinne E. Husserls) Bedeutung hat2, während es selbständige nominale Wortbedeutungen mindestens geben kann. Diese Tatsache weist schon von selbst darauf hin, daß das Verbum finitum eine besondere Zugehörigkeit zu einer höheren Sinneinheit — und zwar zu dem Satze — auszeichnet, so daß es, in der Isolierung genommen, das Resultat einer besonderen Abstraktion ist. Die Ergänzungsbedürftigkeit des isolierten Verbum finitum zeigt sich aber in einem eigentümlichen Element des Verbum finitum, das ein Analogon zu dem nominalen intentionalen Richtungsfaktor bildet und das es jetzt herauszustellen gilt. Ein Verbum wird u.a. dadurch zu einem Verbum finitum, daß es — wie die Grammatiker sagen — in einer bestimmten „Person" und „Zahl" steht. Dabei sind noch bekanntlich die beiden verschiedenen Formen möglich: entweder das schlichte „amat", „legimus" usw. oder aber das, z.B. in der deutschen Sprache übliche, „er schreibt", „wir gehen" usw. Im Zusammenhang damit muß man vor allem beachten, daß sowohl das „amo" wie das „ich denke" (bzw. „er schreibt") auf zwei durchaus v e r s c h i e d e n e Weisen verwendet und verstanden werden kann: 1. als Satz, 2. als isoliertes Verbum finitum. Wie sich die Sachlage im ersteren Falle darstellt, werden wir erst später (§ 19) untersuchen. Hier ist zu betonen, daß es vollkommen möglich ist, den Ausdruck „amo" oder 1 Auch die Form des nicht deklinierbaren Partizipiums ist nur als ein Modus der allgemeinen verbalen intentionalen Entfaltung möglich. 2 Vgl. A. Pfänder, „Logik", S.312.

β·

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„er schreibt" nicht als Satz, sondern als ein i s o l i e r t e s V e r b u m zu nehmen, etwa wenn ich mir den Unterschied des Sinnes zweier lateinischer Formen, z.B. „amabam" und „amarem", klarlege oder wenn ich, jemanden belehrend, die deutsche Form der dritten Person der Einzahl angebe und sage : ,,er denkt." Dann wird weder das ,,er" als Subjekt noch das „denkt" als Prädikat eines Satzes verwendet. Mit den Worten „ich", „du", „er (sie, es)" wird da nur ein bestimmtes Bedeutungselement des Verbum finitum expliziert, das in seiner vollen Bedeutung n o t w e n d i g enthalten ist und das in anderen Sprachen im unexplizierten Zustande gelassen wird. Dieses Element ist n i c h t mit dem Subjekt eines Satzes zu identifizieren. Wenn zwischen „ich denke" als Satz und „ich denke" als isoliertem Verbum finitum (bzw. zwischen dem Sinne des „ich" in beiden Fällen) kein Unterschied bestünde, so wäre es ganz unverständlich, warum es z.B. im Lateinischen möglich ist zu sagen: „C. J. Caesar exercitum contra hostem misit.", o h n e daß ein d o p p e l t e s Subjekt in diesem Satze entstünde. Es wäre ebenfalls unerklärbar, zu welchem Zwecke man z.B. sagt : „Exercitus Romanus hostem vicit.", statt einfach zu sagen: „hostem vicit.", wenn das Subjekt des Satzes bereits in dem Worte „vicit" enthalten wäre 1 . Wenn ich nicht irre, ist die lateinische Form des in der Isolierung genommenen „venit" seiner Bedeutung adäquater als die deutsche: „er (sie, es) kommt", weil die letztere sozusagen in der Explizierung eines bestimmten Elements der verbalen Bedeutung um einen Schritt zu weit geht und ihm durch die Verwendung eines besonderen Wortes den Anschein eines satzmäßigen „Subjektsbegriffs" — um hier das Pfändersche Wort zu benutzen — verleiht, der diesem Bedeutungselement fremd ist, bzw. eine unerlaubte Vervollständigung des letzteren darstellt. Die volle Bedeutung eines Verbum finitum regt freilich die Sprachbildung dazu an, das in ihr enthaltene Element, das sich in vielen Sprachen nur in der „grammatischen Form" der „Person" ausdrückt, durch ein besonderes Wort — und zwar durch ein h i n w e i s e n d e s funktionierendes Wörtchen — zu explizieren. 1 Zwar können wir in lateinischen Texten viele Sätze der Gestalt „hostem vicit" finden. Aber erstens sind es deutlich e l l i p t i s c h e Sätze, deren Sinn sich aus dem Zusammenhang der aufeinanderfolgenden Sätze ergänzt, zweitens aber stehen sie da als S ä t ζ e, so daß der Leser von vornherein auf diejenige Funktion der Worte „ v i c i t " , „ a m o " usw. eingestellt ist, die sie nur im Satze ausüben können. Daß sie es tun können, wollen wir gar nicht bestreiten. Wir behaupten nur, daß sie dann eine a n d e r e Bedeutung haben, als wenn sie isoliert genommen werden. Und um den letzteren Fall handelt es sich in unserer Betrachtung.

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Denn dasjenige Element, das hier zur Explikation drängt, ist ein jedem Verbum finitum immanenter, hinweisender oder besser, rückweisender Faktor. Die durch den materialen und formalen Inhalt des Verbums entfaltete Tätigkeit ist hier von vornherein als eine durch irgendein T ä t i g k e i t s s u b j e k t 1 vollzogene gedacht. Dieser rückweisende Faktor s u c h t sozusagen irgendeinen (passiven oder aktiven) Träger (Vollzieher) dieser Tätigkeit. Das Verbum „amat" sagt uns sozusagen, es müsse irgend jemanden geben, der „liebt", wenn es überhaupt zum Vollzug, zum Geschehen dieses Liebens kommen soll. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß dieses „Suchen" nach einem Subjekt sein Ziel e r r e i c h t hat, daß es mit anderen Worten einen solchen Träger gibt, der es tut, und daß die betreffende Tätigkeit aus ihm fließt, durch ihn bewirkt, vollzogen oder erlitten wird. Dazu gelangt es erst im Satze. Im i s o l i e r t e n Verbum finitum dagegen wird dieses Subjekt nicht nur nicht näher bestimmt (es ist immer irgendein „er", „sie", „es"), sondern es wird auch nicht g e s e t z t . Es wird da nur g e f o r d e r t ; es wird hier auf den Tätigkeitsträger als auf einen geforderten hingewiesen. Damit wird zugleich die zur Entfaltung gelangende Tätigkeit zwar noch immer „rein im Geschehen", aber doch nichtalseine „wirklich" durch den Tätigkeitsträger vollzogene dargestellt. In dem Vorhandensein des suchend rückweisenden Faktors, den wir den verb a l e n Richtungsfaktor nennen wollen, tritt die Unselbständigkeit eines jeden isolierten Verbum finitum deutlich zutage. Dabei ist dieser Faktor — bei i s o l i e r t e m Verbum — immer variabel und potentiell, er läßt den Tätigkeitsvollzieher unbestimmt und erreicht ihn sozusagen nicht. Nur der Zahl nach wird das Tätigkeitssubjekt durch die bloße Form des Verbum finitum bestimmt — sei es ein einzelnes Subjekt, sei es eine Vielheit von ihnen. Diese Vielheit kann ihrerseits unbestimmt gelassen werden, wie im „Plural", oder aber genau bestimmt, wie im Dual. Im Zusammenhang damit differenziert sich auch der verbale rückweisende Richtungsfaktor. Von dem nominalen Richtungsfaktor unterscheidet ihn: 1. daß er bei der Isolierung des Verbums nie in einen konstanten, aktuellen, den tätigen Gegenstand erreichenden übergeben kann (was bei den isolierten nominalen Wortbedeutungen möglich ist) und 2. daß er sich nicht auf die durch den materialen und formalen Inhalt des Ver bums 1 Man muß das Subjekt einer (aktiven oder passiven) Tätigkeit von dem Sub· jekt der Merkmale streng unterscheiden.

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entfaltete Tätigkeit richtet, sondern gerade umgekehrt von ihr weg auf etwas von ihr völlig Verschiedenes rückweist1. So glauben wir den Unterschied zwischen nominalen und verbalen Wortbedeutungen herausgestellt und gesichert zu haben2.

§ 16. Aktueller und p o t e n t i e l l e r B e s t a n d der Wortbedeutung. Es fällt uns auf, daß dasselbe Wort — und zwar mit identisch derselben Bedeutung — doch in verschiedenen Fällen auf verschiedene Weise verwendet werden kann, so daß trotz der Identität der Bedeutung doch eine deutliche Wandlung der letzteren feststellbar ist. Wir sagen etwa: „Das Wort .Quadrat' b e d e u t e t (d.h. in unserer Terminologie: hat den folgenden materialen Inhalt) ,ein gleichseitiges, rechtwinkliges Parallelogramm'." (1). Wir können aber auch sagen: ein gleichseitiges, rechtwinkliges Parallelogramm mit Seiten von irgendwelcher Länge (2), oder auch: ein gleichseitiges, rechtwinkliges Viereck mit zwei Paaren von parallelen Seiten von irgendwelcher Länge (3). In solchen Redewendungen geben wir die „Bedeutung" des Wortes an. Und unzweifelhaft wird jedermann zugeben, daß das Wort „Quadrat" diese Bedeutung hat. Es fragt sich aber, welche von den drei eben angegebenen ? Oder vielleicht jede von ihnen ? Oder vielleicht doch keine von ihnen ? Und was soll hier die Rede vom „Haben" einer Bedeutung bzw. vom „Bedeuten" eigentlich besagen? Denn das Wort „Quadrat" hat doch seine eigene Bedeutung, und die verschiedenen Worte, deren Mannigfaltigkeit die Bedeutung des Wortes „Quadrat" angeben soll, haben auch ihre eigenen Bedeutungen. Es kann sich hier also nicht um eine 3 , sondern nur um mehrere Bedeutungen handeln, 1 A. Pf ander scheidet den verbalen Richtungsfaktor nicht ab, aber die von uns dargestellte Sachlage hat er wahrscheinlich doch im Auge, wenn er behauptet: „Der im Tunbegriff gemeinte Gegenstand wird einstufig unselbständig gefaBt und in der aktiven Form des Tunbegriffs dem gedanklichen Tätigkeitssubjekt, in der passiven Form dagegen dem Tätigkeitsobjekt hingeordnet als demjenigen Gegenstand, der ihm den vollen gedanklichen Halt gibt" („Logik", S.312). 2 Unsere Unterscheidungen beziehen sich lediglich auf die Verschiedenheiten des Aufbaus und der Funktionen der Wortbedeutungen und lassen die Frage, ob diese Verschiedenheiten mit den Unterschieden unter den in einzelnen Sprachen f a k t i s c h ausgebildeten Wortkategorien im s p r a c h g e n e t i s c h e n Sinne zusammenstimmen, außer Betracht. 8 Wie das z.B. bei den Worten „Tisch", „la table", „mensa" usw. der Fall ist.

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die aber alle in irgendeinem noch zu bestimmendem Sinne „dieselben" sind. Daß sie aber nicht in jeder Hinsicht „dieselben" sind, folgt schon daraus, daß die Bedeutung des Wortes „Quadrat" mindestens insofern von denjenigen der Ausdrücke 1—3 verschieden ist, als die letzteren z u s a m m e n g e s e t z t e Sinneinheiten bilden, während sich das nicht in demselben Sinne von der Bedeutung des Wortes „Quadrat" sagen läßt. Worauf bezieht sich also hier die „Dieselbigkeit" dieser Bedeutungen, und was soll sie besagen ? Und endlich: meinen wir wirklich unter dem Wort „Quadrat" die zusammengesetzten Bedeutungen der angegebenen Ausdrücke, wenn wir etwa den Satz: „Das Quadrat hat zwei gleiche Diagonalen", aussprechen ? Man wird vielleicht das hier vorliegende Problem mit der Bemerkung zu lösen versuchen, es handle sich da zwar um zwei v e r s c h i e dene Bedeutungen, sie seien aber „äquivalent", weil sie sich auf einen und denselben G e g e n s t a n d * beziehen. Indessen trifft diese Lösung nicht zu. Zwar beziehen sich die beiden Bedeutungen in dem Sinne auf denselben Gegenstand, daß sie einen identisch gerichteten intentionalen Richtungsfaktor haben. Aber die Ausdrücke: 1. „das Quadrat" und 2. „ein Parallelogramm mit zwei gleichen und senkrechten Diagonalen" beziehen sich ebenfalls auf identisch denselben Gegenstand, sofern man unter „Gegenstand" das „objectum materiale" versteht, und haben trotzdem in einem ganz anderen Sinne v e r s c h i e d e n e Bedeutungen, als sich dies von den oben gegenübergestellten Bedeutungen sagen läßt. Der Bezug auf einen und denselben „materialen" Gegenstand reicht also zu der „Äquivalenz" der Bedeutungen nicht aus. Auch der eventuelle Rekurs auf die „formalen Objekte" 2 der betrachteten Bedeutungen ergibt keine Lösung des Problems: das formale Objekt ist zwar bei den Ausdrücken „das Quadrat" und (1) bzw. (2) oder (3) in dem Sinne identisch, als es sich durch den Rekurs auf das entsprechende materiale Objekt m i t t e l b a r zeigen läßt, daß die Richtungsfaktoren der beiden Bedeutungen identisch gerichtet sind. Wenn man aber unter dem „formalen Objekt" einer Bedeutung etwas versteht, was a u s s c h l i e ß l i c h diejenigen qualitativen Beschaffenheiten besitzt, die ihm in dem materialen Inhalt der Bedeutung explizite zugewiesen sind, so sind die formalen 1 Und zwar auf denselben der Bedeutung und ihrem intentionalen Gegenstand t r a n s z e n d e n t e n Gegenstand. 2 Vgl. A. P f ä n d e r , „Logik", S.273f.

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Objekte der untersuchten Bedeutungen in genau demselben Maße v e r s c h i e d e n wie diese Bedeutungen selbst. Während das formale Objekt des Wortes „das Quadrat" ein Etwas ist, das ausschließlich durch die Quadratheit als das qualitative Moment seiner Natur konstituiert ist, ist das „gleichseitige, rechtwinklige Parallelogramm" durch eine ganz andere „unmittelbare μορφή"1 (nämlich durch die „Parallelogrammheit") konstituiert und außerdem durch zwei Merkmale, die Gleichseitigkeit und die Rechtwinkligkeit, ausgezeichnet. Gewiß, ist etwas durch die Quadratheit konstituiert, so muß es in sich — dank den apriorischen Beziehungen zwischen den entsprechenden Wesenheiten — auch ein Parallelogramm sein und durch die beiden genannten Merkmale ausgezeichnet sein. Aber das ist eine ontologische Sachlage, die unabhängig von der rein bedeutungsmäßigen Bestimmungsweise des durch die Bedeutung entworfenen intentionalen Gegenstandes besteht. Das f o r m a l e Objekt der ersten Bedeutung dagegen ist in ihr auf eine andere Weise (sowohl hinsichtlich seiner qualitativen Beschaffenheit wie auch hinsichtlich der formalen Struktur) aufgefaßt als das der zweiten Bedeutung, und insofern sind die beiden formalen Objekte untereinander verschieden. Die vermeintliche „Dieselbigkeit" der untersuchten Bedeutungen läßt sich somit nicht auf die Dieselbigkeit ihrer formalen Objekte reduzieren. Man wird vielleicht sagen: Implizite enthält die Bedeutung des Wortes „das Quadrat" genau „dasselbe", was explizite in dem zweiten Ausdruck gemeint ist. Indessen könnte man dem erst dann zustimmen, wenn man schon wüßte, was dieses „implizite" und „explizite" in unserem Falle besagt, und wenn gezeigt worden wäre, daß wirklich die erste Bedeutung durch „Explizierung" (in einem noch zu bestimmenden Sinne) in die zweite übergeführt werden kann. Soviel ich sehe, handelt es sich hier einerseits um zwei v e r s c h i e d e n e B e d e u t u n g e n , die zu e i n e m u n d d e m s e l b e n i d e a l e n B e g r i f f derselben Gegenständlichkeit gehören, andererseits aber auch um zwei verschiedene W e i s e n , in welchen die Elemente einer und derselben Bedeutung auftreten können.2 Es gehört 1 Vgl. J. Hering, „Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee", Jahrbuch f. Philosophie, Bd.IV, S.495ff., auch meine „Essentialen Fragen", S.27f. 2 Zwischen „Begriff" und „Bedeutungsgehalt" eines Wortes scheidet auch A.Pfänder (vgl. „Logik", S.272f.). Ich könnte aber mit P f ä n d e r nicht sagen, daß Begriffe Bedeutungsgehalte von Worten sein können. Bs ist auch nicht klar, ob Pfänder den Begriff für eine ideale Gegenständlichkeit hält, denn seine einzelnen Behauptungen darüber widersprechen einander.

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nämlich zu dem Begriff des Quadrats, daß dasselbe durch die Quadratheit als das qualitative Moment seiner konstitutiven Natur konstituiert ist, andererseits aber (und wesensmäßig), daß es eo ipso in seiner Natur das doppelt unselbständige Moment der „Parallelogrammheit" bergen und zugleich der „Rechtwinkligkeit" und „Gleichseitigkeit" ausgestattet sein muß. Zugleich ist die Wesenheit „Quadratheit" eine abgeleitete Wesenheit, die der bestimmt geordneten Mannigfaltigkeit von Wesenheiten „Parallelogrammheit", „Rechtwinkligkeit" und „Gleichseitigkeit" äquivalent ist1. Die B e d e u t u n g des Wortes „das Quadrat" enthält in ihrem materialen Inhalt aktuell nur einen Teil dessen, was im Begriff des Quadrats bzw. in der Idee „das Quadrat" enthalten ist; die Bedeutung dagegen des Ausdrucks: „gleichseitiges, rechtwinkliges Parallelogramm" enthält aktuell einen anderen Teil des Inhalts desselben Begriffs, aber zugleich einen solchen, daß er den Gegenstand des Begriffs mit einer der Quadratheit ä q u i v a l e n t e n Mannigfaltigkeit von Wesenheiten sich konstituieren läßt. Außerdem enthalten diese beiden Bedeutungen — aber schon auf durchaus andere, p o t e n z i e l l e Weise — etwas, was ebenfalls im idealen Begriff des Quadrats enthalten ist, nämlich, daß das Quadrat Seiten von „irgendwelcher absoluten Länge" besitzt, was nur in den zusammengesetzten Bedeutungen (2) und (3) aktuell auftritt. Oder anders gesagt: Jede Wortbedeutung eines n i c h t zusammengesetzten nominalen Ausdrucks, die in ihrem formalen Inhalt ein Etwas in g e g e n s t ä n d l i c h e r Struktur vermeint, ist eine A k t u a l i s i e rung eines Teiles des idealen Sinnes, welcher im Begriff der entsprechenden Gegenständlichkeit enthalten ist, falls es überhaupt einen solchen Begriff gibt. Diese Aktualisierung macht vor allem ihren materialen und formalen Inhalt aus. Zu einem jeden idealen Begriff gibt es mehrere Wortbedeutungen derselben Gegenständlichkeit. Das, was jeweilig von dem idealen Sinn des Begriffs aktualisiert wird, macht den a k t u e l l e n B e s t a n d der Bedeutung aus. Was dagegen in dem betreffenden Begriff noch außerdem enthalten ist und dem aktualisierten Bestand unmittelbar folgt, bildet den p o t e n t i e l l e n B e s t a n d der betreffenden Bedeutung, also etwas, was ebenfalls aktualisiert werden kann, ohne daß der bereits aktuelle Bestand der Bedeutung irgendwie umgestaltet zu werden brauchte. Durch die Überführung des potentiellen Bestandes einer nominalen 1

Zu dieser ganzen Betrachtung vgl. die entsprechenden Ausführungen in meinen „Essentialen Fragen", Kap. V, insbesondere § 26.

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Wortbedeutung in den aktuellen Bestand wird also die volle Wortbedeutung zwar m o d i f i z i e r t , diese Modifizierung beruht aber nur auf einer B e r e i c h e r u n g des aktuellen Gehalts ihres materialen Inhalts, mit welcher auch eine Modifizierung ihres formalen Inhalts zusammengehen kann. Geschieht diese Überführung des potentiellen Bestandes in den aktuellen auf diese Weise, daß jedes der neu aktualisierten Elemente vor allem des materialen Inhalts einen eigenen „Ausdruck" findet, d. h. in eine entsprechende Wortmannigfaltigkeit oder ein einzelnes Wort „gekleidet" wird, so tritt der neu aktualisierte Bestand „explizite" in der Bedeutung des betreffenden Ausdrucks auf, andererseits gelangen wir auf diesem Wege zu einem z u s a m m e n g e s e t z t e n nominalen Ausdruck. Die Verwandlung des potentiellen Bestandes in den aktuellen kann aber auch so durchgeführt werden, daß sowohl diejenige Bedeutimg, welche noch einen potentiellen Bestand, wie auch diejenige, welche den letzteren (oder mindestens einen Teil von ihm) schon in aktueller Form in sich enthält, mit d e m s e l b e n Wortlaut (oder mit derselben Mannigfaltigkeit von Wortlauten) verbunden wird. Der neu aktualisierte Teil des aktuellen Bestandes findet also in diesem Falle keinen entsprechenden eigenen Ausdruck. Dann ist dieser Bestand „implizite" in der entsprechenden Wortbedeutung enthalten. Sofern die nominale Wortbedeutung sich nicht auf ursprüngliche einfache Wesenheiten bezieht, so hat sie einen aktuellen und einen potentiellen Bestand. Andererseits kann jedes einzelne nominale Wort oder ein zusammengesetzter nominaler Ausdruck eine in der impliziten oder expliziten Form auftretende Bedeutung haben. Es scheint unzweifelhaft zu sein, daß es das implizite Auftreten potentieller Elemente der nominalen Wortbedeutungen gibt. Sofern wir aber die mögliche Berufung auf Erlebnisse des den Text verstehenden Lesers nicht in Betracht ziehen, sondern uns lediglich auf den Gehalt des Textes beschränken, so entsteht die Schwierigkeit, wie man sich auf Grund des Textes allein davon überzeugen kann, daß der Text und insbesondere die in ihn eingehenden nominalen Wortbedeutungen einen i m p l i z i e r t e n potentiellen Bestand enthalten. Denn in dem bloßen Wortlaut ist davon keine Spur. In der lebendigen Sprache, und insbesondere in der Deklamation, können die nicht explizierten potentiellen Bedeutungselemente sich an der Intonation kenntlich machen. Beim stummen Lesen bleibt davon aber nichts übrig. Eine besondere Schwierigkeit scheint bei 90

rein literarischen künstlerischen Texten vorzuliegen, bei welchen man sich nicht auf Erkenntnisergebnisse berufen kann. In dieser Sachlage können zwei Hilfsquellen nützlich sein. Erstens kann man das Bedeutungssystem der betreffenden Sprache zur Hilfe nehmen. In diesem System besitzen die einzelnen Wörter, insbesondere die Namen, ihre volle Bedeutung, und zwar infolge der verschiedenartigen Zusammenhänge, die das betreffende Wort mit anderen, ausgewählten Worten besitzt. Von dieser vollen Bedeutung wird aber gewöhnlich nur ein Bruchteil aktualisiert, der Rest bleibt potentiell und implizit. Es ist aber immer möglich, eine entsprechende Explikation vorzunehmen oder mindestens als möglich zu betrachten. Zweitens aber treten in einem bestimmten literarischen Werk die einzelnen Worte mehrmals in verschiedenem Kontext auf, der s. z. s. seinerseits suggeriert, welche potentielle Momente der Bedeutung mit diesen Worten implizite mitvermeint sind bzw. werden sollen. Diese beiden Umstände erlauben uns, eine Unterscheidung innerhalb der potentiellen Elemente der Wortbedeutungen zu machen, und zwar zwischen denjenigen „potentiellen" Elementen der Bedeutung, deren Potentialität s. z. s. eine bloße Möglichkeit bildet, und denjenigen „potentiellen" Elementen der Wortbedeutung, die zwar noch nicht aktualisiert sind, aber doch s. z. s. dieser Aktualisierung naherücken, indem sie gewissermaßen „suggeriert" werden. Nennen wir die erste die „leere" Potentialität, die zweite dagegen die „parate" Potentialität, dann kann man sagen : Je besser die Kenntnis des Wortschatzes und der möglichen Wortverbindungen der betreffenden Sprache ist und je aktiver der Beistand der Kontexte ist, in denen die in Frage kommende Wortbedeutung in dem betreffenden Werke auftritt, desto reicher ist der Bestand der „parat potentiellen" Elemente dieser Wortbedeutung. Von welchen Eigentümlichkeiten der Aktivität der Kontexte dieser Bestand abhängt, das ist ein weiteres Problem, mit dem wir uns hier nicht näher beschäftigen können. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß die Texte der einzelnen literarischen Werke in dieser Hinsicht große Unterschiede aufweisen. Jedenfalls ist es klar, daß man den potentiellen, und insbesondere den parat potentiellen, Bestand einer Wortbedeutung nicht bei deren Isolierung von dem Kontexte erfassen kann. Der Hinweis auf diese Potentialitäten bildet auch für uns den Übergang von der Betrachtung der einzelnen Wörter zur Untersuchung zusammenhängender Bedeutungseinheiten höherer Ordnung. 91

Wir gewinnen die Erkenntnis eines Gegenstandes und, im Zusammenhang damit, auch die Erfassung seines idealen Begriffs in einer zeitlich ausgedehnten Mannigfaltigkeit von Erkenntnisoperationen1. Je weiter die Erkenntnis fortgeschritten ist, desto mehr erfassen wir von dem Gehalte des idealen Begriffs der betreffenden Gegenständlichkeit. Im Zusammenhang damit geht auch eine Wandlung in der zugehörigen nominalen Wortbedeutung vor. Ihr aktueller Bestand, der zunächst verhältnismäßig arm ist, bereichert sich allmählich immer mehr, indem der potentielle Bestand immer mehr in die Aktualisierung übergeht. Geht man dabei von der einfachen Wortbedeutung zu immer zusammengesetzteren Wortbedeutungen über, so nimmt, statt des zunächst armen aktuellen Bestandes, ein viel reicherer aktueller Bestand derselben Bedeutung die explizite Form an. Wenn dagegen beständig derselbe Wortlaut verwendet wird, so wird die zugehörige Bedeutung zwar reicher, sie verbleibt aber immer in der impliziten Form. Am leichtesten ist diese Verwandlung der Bedeutung eines und desselben Wortes z.B. bei der Lektüre eines wissenschaftlichen Werkes zu erfassen. Man kann sie aber auch in der Geschichte einer Wissenschaft leicht verfolgen. Auch in dichterischen Kunstwerken kann man im Verlaufe immer neuer Phasen des Werkes verfolgen, welche Wandlungen hinsichtlich des aktuellen und potentiellen Bestandes der einzelnen Wortbedeutungen sich vollziehen. Und es scheint da, daß wenigstens in vielen Werken der Bestand der parat potentiellen Elemente der Wortbedeutungen im Laufe der Entwicklung immer neuer Phasen bzw. Teile des Werkes beträchtlich wächst. Doch wir greifen da schon weiteren Betrachtungen des literarischen Kunstwerks vor. Bei diesen verschiedenen Verwandlungen des aktuellen und des potentiellen Bestandes der Wortbedeutungen kann es zu verschiedenen besonderen Weisen dieser Verwandlung kommen. Es kann z.B. passieren, daß der aktuelle Bestand einer Bedeutung Aktualisierung der Elemente nicht e i n e s , sondern z w e i e r (oder mehrerer) von uns noch nicht unterschiedener Begriffe ist. Der potentielle Bestand dieser Bedeutung (von dem wir uns zunächst fast gar nichts zum Bewußtsein bringen) kann dann Inhaltselemente in sich enthalten, deren ganzer Mannigfaltigkeit überhaupt kein einheitlicher idealer Begriff entspricht. Erst der weitere Gang des Er1 Wie es in dieser Hinsicht mit der Erkenntnis der ursprünglichen Wesenheiten steht, möchte ich hier dahingestellt sein lassen.

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kennens und die damit zusammenhängende Verwandlung des potentiellen Bestandes in den aktuellen bringt uns zum Bewußtsein, daß wir zwar noch eine B e d e u t u n g , aber zwei verschiedene Begriffe haben. Dann kommt es zu dem, was man gewöhnlich „Sonderung der Begriffe" nennt und was tatsächlich auf der Sprengung einer bis dahin für einheitlich gehaltenen Bedeutung in zwei oder mehrere verschiedene Bedeutungen beruht. Die ursprüngliche, gesprengte Bedeutung verwerfen wir dann als die „nicht-objektive" oder gar widerspruchsvolle. Kommt es zu einer solchen „Sprengung" nicht, obwohl der neu aktualisierte Bestand Aktualisierung vers c h i e d e n e r Begriffe ist, so hat man es mit einer besonderen Form „nicht-objektiver" bzw. widerspruchsvoller Wortbedeutungen zu tun. Es kann passieren, daß bei der Verwendung eines solchen Wortes einmal nur ein Teil des neu aktualisierten Bestandes wirklich gemeint wird, und zwar derjenige, welcher zu dem Begriffe A gehört ; das andere Mal wird aber ein anderer Teil dieses neu aktualisierten Bestandes gemeint, und zwar derjenige, welcher zu einem anderen Begriffe Β gehört. Der sich in beiden Fällen wiederholende Bestand von Inhaltsmomenten verführt uns dazu, diese Tatsache zu verkennen, so daß wir noch immer überzeugt sind, mit einer Bedeutung zu tun zu haben, die in jeder Hinsicht dieselbe ist. Dann haben wir es mit „zwei-" oder „mehr-deutigen" Worten zu tun, deren Mehrdeutigkeit unserem Blick entschwindet. Kommt es endlich zu einer Bereicherung des ursprünglich inhaltsarmen aktuellen Bestandes einer Bedeutung, die zu einem Begriff" gehört, so können auch nach dem Abschluß dieses ganzen Prozesses (wenn nämlich der Prozeß der Erkenntnis eine Zeitlang aufgehalten wird und unsere nominalen Wortbedeutungen „erstarren") noch Wandlungen des aktuellen Bestandes der Wortbedeutungen eintreten, indem dasselbe Wort in verschiedenen Fällen mit einem reicheren oder ärmeren aktuellen Bestand verwendet wird. Im Zusammenhang damit kann auch der Grad der „Implizitheit" der Wortbedeutungen schwanken. Es ist klar, daß bei diesen Wandlungen in erster Linie der materiale Inhalt der Bedeutung in Frage kommt. Dasselbe kann aber mit ihrem formalen Inhalt geschehen. Dabei ist noch zu beachten, daß, eben weil der formale Inhalt ein funktioneller ist, er auch gewöhnlich zu dem potentiellen Bestände der Bedeutung gehört1. Erst eine besondere Besinnung auf die formale Struktur 1

Dies betrifft vor allem isolierte Wortbedeutungen.

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des entsprechenden Gegenstandes oder die Verwendung des Wortes in einem Satze bewirkt es, daß der formale Inhalt in den aktuellen Bestand der Bedeutung übergeht, wobei die entsprechenden Funktionen bei der Verwendung der Bedeutung entweder nur bewußt vollzogen oder auf besondere Weise vergegenständlicht werden. Aber das würde uns hier schon zu weit führen. § 17. Die W o r t b e d e u t u n g e n als E l e m e n t e des S a t z e s und ihre damit z u s a m m e n h ä n g e n d e n Verwandlungen. Das einzelne, isolierte Wort, dessen Bedeutungsseite unsere letzten Untersuchungen gewidmet waren, kommt in literarischen Werken — wie schon früher bemerkt — nicht als isoliertes vor, sondern tritt da immer als Element des Satzes und manchmal — aber dann wesentlich verwandelt — auch als ein ganzer Satz auf. Seine Isolierung ist unzweifelhaft das Ergebnis einer künstlichen, zu Betrachtungszwecken durchgeführten Operation. Wir haben sie aber so durchzuführen gesucht, daß keine wesentliche Verunstaltung der Bedeutungseinheiten daraus entspringt und daß zugleich die Grundstrukturen ihrer verschiedenen Typen zur Abhebung gelangen. Es läßt sich aber nicht leugnen, daß beachtenswerte Wandlungen in den Wortbedeutungen bei dieser Isolierung bzw. bei der Rückversetzung des Wortes in das Ganze des Satzes vor sich gehen. Es ist auch unsere nächste Aufgabe, diesen Wandlungen nachzugehen und insbesondere zu zeigen, welchen Wandlungen ein und dasselbe Wort hinsichtlich seiner Bedeutung unterliegt, wenn es verschiedene Stellen im Satze einnimmt. Diese Wandlungen ergeben sich aber daraus, daß das einzelne Wort nicht einfach in einem Satze auftritt (wie z.B. ein Ding in einer Klasse von Dingen es tut) und das Satzganze lediglich um ein Bedeutungselement bereichert, sondern daß es zugleich im Satze diese oder jene F u n k t i o n ausübt. Da diese Funktionen sehr zahlreich und mannigfach sind, so können wir nur einige von ihnen als Beispiele behandeln. Das Eingehen der Wortbedeutungen in das Satzganze zieht vor allem eine strukturelle Wandlung in einer jeden von ihnen nach sich. Vergleichen wir folgende zwei Beispiele : 1. Die Wortmannigfaltigkeit: „Jeder. Körper. Ist. Schwer." und 2. den Satz: „Jeder Körper ist schwer." 94

Wir bemerken sofort, daß, während in 1. jede Wortbedeutung ein in sich a b g e s c h l o s s e n e s Ganzes bildet, diese Abgeschlossenheit in 2. durchbrochen wird. Das einzelne Wort hört als ein Element des Satzes nicht auf, das zu sein, was es ist, und trotzdem hat es sich in seiner Struktur merklich verwandelt. Die eine Wortbedeutung verbindet sich in fast wörtlichem Sinne mit anderen Wortbedeutungen, ja noch mehr, sie v e r e i n i g e n sich untereinander zu einer Sinneinheit, in welcher sie nicht vollkommen verschwinden, sondern nur ihre gegenseitige starre Abgrenzung verlieren. Und erst diese ihre Vereinigung ermöglicht es, so etwas wie einen „Satz" zu konstituieren. Wie jeweils die „Abgeschlossenheit" der einzelnen Wortbedeutungen im Satze durchbrochen wird, ist eine Sache für sich, die hier nicht näher untersucht werden kann. Als Beispiel einer Anfangsanalyse kann hier die früher durchgeführte Betrachtung der Funktionen dienen, die einzelne Worte in einem zusammengesetzten nominalen Ausdruck ausüben1. Die Verwandlungen aber, denen die Wortbedeutungen und insbesondere die nominalen Bedeutungen im Satze unterhegen, gehen über das rein Strukturelle weit hinaus. Stellen wir folgende Sätze nebeneinander : 1. C. J. Caesar, der römische Konsul, hat den Rubikon überschritten. 2. Der römische Konsul übte im römischen Staate einen großen Einfluß auf die politischen Angelegenheiten aus. 3. L. Brutus hat eben den römischen Konsul erschlagen. Vergleichen wir nun die volle Bedeutung des Ausdrucks: „der römische Konsul", die er in diesen Sätzen hat, mit derjenigen, welche er besitzt, wenn er in voller Isolierung (4) auftritt. In allen diesen vier Fällen ist der materiale Inhalt seiner Bedeutung völlig identisch. Hinsichtlich der übrigen Komponenten seiner vollen Bedeutung bestehen dagegen merkliche Unterschiede. Was zunächst den intentionalen Richtungsfaktor betrifft, so ist er im Falle (2) und (4) variabel und potentiell, wobei die Grenzen seiner Variabilität durch den materiellen Inhalt des Ausdrucks bestimmt sind. Dagegen ist er im Falle (1) und (3) aktuell und konstant. Aber auch zwischen diesen beiden letzteren Fällen besteht ein Unterschied 1 Durch welche subjektiven Operationen diese strukturelle Verwandlung vor sich geht, ist eine Frage für sich, mit welcher wir uns hier nicht beschäftigen können, wie wir hier überhaupt von phänomenologischen Problemen absehen.

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bezüglich des Richtungsfaktors. Während er dank der besonderen Funktion dieses Ausdrucks im Satze (1) nicht nur auf einen individuell ganz bestimmten römischen Konsul hinweist, sondern zugleich auf denjenigen, der eben C. J. Caesar ist, so daß letzten Endes der letztere den Endpunkt seiner Richtung bildet, ist er im Satze (3) zwar auch auf einen individuell ganz bestimmten Gegenstand gerichtet, er gelangt aber schon in demselben zur Ruhe, da aus dem Inhalt des Satzes zwar ganz unzweifelhaft hervorgeht, daß Brutus nur einen individuell ganz bestimmten Konsul erschlagen konnte, aber zugleich aus ihm allein nicht klar ist, daß es eben C. J. Caesar war. Erst wenn wir den Satz (3) im Zusammenhang mit anderen Sätzen (bzw. mit unseren historischen Kenntnissen) nähmen, würde der intentionale Richtungsfaktor demjenigen, welcher im Satze (1) auftritt, durchaus gleichen. Diese Eigentümlichkeit des Richtungsfaktors im Satze (1) führt es mit sich, daß die beiden Ausdrücke: ,,C. J. Caesar" und „der römische Konsul" in diesem Satze sich letzten Endes auf einen und denselben Gegenstand beziehen, wenn auch ihre materialen Inhalte zunächst nichts Gemeinsames haben. Sie bilden dadurch eine Bedeutungseinheit höherer Stufe, deren Konstitution ihren Grund in der besonderen grammatisch-logischen Funktion der Apposition hat, die der Ausdruck ,,der römische Konsul" in diesem Satze spielt. Dadurch kommt es korrelativ zu einer merkwürdigen Deckung der intentionalen Gegenstände der beiden Ausdrücke. Von all dem ist in den übrigen Fällen nichts vorhanden. Auch hinsichtlich des formalen Inhalts des untersuchten Ausdrucks lassen sich in diesen verschiedenen Fällen bedeutende Unterschiede aufweisen. Beachten wir nun folgendes: Wenn wir den untersuchten Ausdruck in der Isolierung betrachten, so steckt in seinem formalen Inhalt dasjenige Moment, welches den intendierten Gegenstand als einen s e l b s t ä n d i g e n Träger gegenüber den ihm anhaftenden Beschaffenheiten (insbesondere, daß er ein r ö m i s c h e r Konsul ist) bestimmt. Im Falle (2) wird dieses Moment modifiziert. Es handelt sich da auch noch um einen selbständigen Träger von Beschaffenheiten, aber diese Trägerschaft wird mit einem besonderen Moment verflochten, das der formale Aufbau des Gegenstandes notwendig aufweist, sobald der letztere als S u b j e k t einer auf ihn bezogenen e x p l i z i t e n Prädikation behandelt wird, wie das gerade in dem Satze (2) der Fall ist. Dasselbe Moment des Ausdrucks (4) wird im Falle (1) auf eine ganz andere Weise modifiziert: 96

der durch das Wort „Konsul" bestimmte Gegenstand steht da freilich noch immer als Träger von Beschaffenheiten da, aber er ist zugleich im gewissen Sinne kein selbständiger Träger mehr. Der Ausdruck „der römische Konsul" hat in diesem Falle sozusagen den eigenen selbständigen Gegenstand verloren. Der selbständige letzte Träger, der hier zugleich Subjekt der Prädikation ist, ist durch den Namen ,,G. J. Caesar" bestimmt; der letztere ist es auch, der „römischer Konsul" ist, er ist es mit anderen Worten, der eine besondere Rolle bekleidet, welche ihn zum römischen Konsul näher bestimmt. Diese Rolle findet in ihm ihr Seinsfundament, ist in ihm seinsmäßig fundiert. Eine wiederum andere Modifikation desselben Moments des formalen Inhalts des untersuchten Ausdrucks liegt in dem Falle (3) vor. Auch hier wird der zugehörige Gegenstand als selbständiger Träger seiner Eigenschaften aufgefaßt, zugleich aber steht er als ein Objekt, auf welches sich eine Handlung richtet, da. Dadurch wird der Träger von Eigenschaften in einen solchen verwandelt, der Handlungen, die auf ihn gerichtet sind, erleidet. Diese Modifikation rührt von der grammatikalisch-logischen Funktion des Akkusativs, die der betreffende Ausdruck in unserem Satze ausübt, her und steht mit dem materialen Inhalt und der Funktion des Prädikats „hat erschlagen" im unmittelbaren Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist ein so enger, daß der Ausdruck „den römischen Konsul" wesentlich u n s e l b s t ä n d i g wäre, wenn er in voller Isolierung (also nicht im Satze) auftreten würde. Die eben angedeutete, aus der Funktion des Ausdrucks im Satze herrührende Modifikation ist also so durchgreifend, daß sie einen selbständigen nominalen Ausdruck in einen unselbständigen verwandelt, ihn also wesenhaft als ein Glied einer höheren Sinneinheit stempelt. Es ist zu beachten, daß die von uns eben angeführten Modifikationen des formalen Inhalts im Grunde eine Bereicherung des letzteren bedeuten. Sie stammen alle von den besonderen Funktionen, die die nominalen Wortbedeutungen im Satze ausüben, und sind für diese Funktionen wesentlich. Fallen diese Funktionen fort, so sind auch die untersuchten Modifikationen nicht vorhanden. Die Verwendung des isolierten Wortes zum Aufbau des Satzes führt in seine vollen Bedeutungen verschiedene Modifikationen und Momente ein, welche dem isolierten Worte fremd sind. Wenn wir es also mit einer nominalen Wortbedeutung, die ein Glied eines Satzes bildet, zu tun haben, so müssen wir streng zwischen denjenigen Momenten 7 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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ihres formalen Inhalts unterscheiden, die sie auch in der Isolierung beibehalten würde, und denjenigen, die erst die satzmäßigen (syntaktischen) Funktionen in ihr herbeiführen. Diese Unterscheidung hat besonders dann große Wichtigkeit, wenn man zu den intentionalen Korrelaten der Wortbedeutungen übergeht und den formalen Aufbau der schlichten intentionalen Gegenständlichkeiten im Unterschied von demjenigen der „Sachverhalte", „Tatsachen" usw. untersucht. Es wird sich im folgenden zeigen, daß auch der m a t e r i a l e Inhalt der nominalen Wortbedeutung verschiedenen Wandlungen unterliegen kann (auf die wir z.T. schon oben hingewiesen haben), wenn sie zum Aufbau von Sätzen verwendet wird. Aber diese Wandlungen treten gewöhnlich erst da auf, wo wir mit einer Mannigfaltigkeit von z u s a m m e n h ä n g e n d e n Sätzen zu tun haben. Wir verschieben somit ihre Behandlung bis zu dem entsprechenden Punkte unserer Arbeit (§ 23).

§ 18. W o r t b e d e u t u n g e n , S ä t z e und S a t z z u s a m m e n h ä n g e als P r o d u k t e s u b j e k t i v e r Operationen. Die in den letzten drei Paragraphen durchgeführten Untersuchungen sollten uns nicht nur mit den wesentlichen Zügen der Wortbedeutungen und ihrer Struktur bekannt machen, sondern auch unsere Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Tatsachen hinlenken, die berücksichtigt werden müssen, wenn die allgemeine Idee der Wortbedeutung herausgestellt und insbesondere, wenn das Problem ihrer Seinsweise gelöst werden soll. In den modernen Untersuchungen der Bedeutungseinheiten lassen sieb vor allem zwei radikal entgegengesetzte Auffassungen unterscheiden: die psychologistische, die unter den Logikern der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts die vorherrschende war, und die — wenn man so sagen darf — „idealistische", deren bedeutendster Vertreter E d m u n d Husserl in seinen „Logischen Untersuchungen" ist1. Seine schlagende Kritik des logischen Psychologis1 In den dreißiger Jahren hat die logistisch-physikalistische Auffassung der Sprache große Popularität gewonnen, die von dem sog. „Wiener Kreis" propagiert wurde. Tatsächlich habe ich die Grundthesen dieser Auffassung in Warschau bereits im Jahre 1919 gefunden. Sie herrschte unter den dortigen Logistikern, wie Le$nie wski, Tarski usw. Aber erst in den ersten dreißiger Jahren ist es zu einem theo-

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mus scheint für alle Zeiten jene Lehre überwunden zu haben, nach welcher die Wortbedeutungen („Begriffe", wie man damals gewöhnlich sagte) und Sätze psychische Zuständlichkeiten bzw. Elemente des konkreten Erlebnisstromes sein sollten. Und wenn auch Husserl selbst im II. Band der „Logischen Untersuchungen" die Analyse der „Bedeutung" von der Untersuchung des Wesens intentionaler Bewußtseinsakte aus — also auf phänomenologischem Wege — unternahm, so kulminiert doch seine Lehre in der Behauptung, die Bedeutungen seien „ideale Spezies" eines besonderen Typus. Es schien auch, daß dies die einzig mögliche Lösung des Problems sei, wollte man nicht in die Mißverständnisse des Psychologismus zurückfallen. Indessen ist es fraglich, ob Husserl hier — wenigstens in der Zeit der „Logischen Untersuchungen" — nicht um einen Schritt zu weit gegangen ist1. Denn unabhängig davon, wie sich die Lehre von idealen Gegenständlichkeiten und „Wesen" bei Husserl selbst (nach den „Logischen Untersuchungen") und seinen Schülern2 ausgebildet hat, mußte die Identifizierung der Wortbedeutungen mit „idealen Spezies" eines besonderen Typus (nach Husserls eigener Erklärung) retischen Bündnis zwischen der Warschauer logistischen Gruppe (zu der auch u.a. A j d u k i e w i c z gehörte) und den Vertretern des Wiener Kreises gekommen. Das Jahr 1934 (Prager Philosophen-Kongreß) war der Höhepunkt dieses Bündnisses und auch der Aktivität der „physikalistischen" (mit Anstrichen des „Operationismus") Auffassung der Sprache. Nach dem Prager Kongreß und nach der Veröffentlichung der Abhandlung Τ a r s k i s über den Wahrheitsbegriff kam es einerseits zu einer Lockerung zwischen den polnischen Logistikern und dem „Wiener Kreis", andererseits auch zur Bildung eines wesentlich geänderten Standpunkts in der Auffassung der Sprache. Es würde uns zu weit führen, auf die Einzelheiten sowohl der ganzen Auffassung als auch auf die verschiedenen Wandlungen, die sie in den letzten Jahrzehnten bis auf die letzten Publikationen von C a r n a p und W i t t g e n s t e i n durchgemacht hat, einzugehen. Gegen die ursprüngliche, bis zum Jahr 1934 herrschende konventionalistisch-physikalistische Auffassung der sprachlichen Gebilde habe ich mich (was meine ausländischen Publikationen betrifft) zunächst in einem Vortrag am Prager Kongreß, dann aber in einem etwas erweiterten Artikel in der Revue Philosophique, „Essai logistique d'une refonte de la philosophie" (1936) ausgesprochen. Dort möge der sich dafür interessierende Leser nachlesen. Einen Teil meiner Gegenargumente enthält bereits § 9 dieses Buches. 1 Wie ich zuerst aus einem Briefe des Herrn Geheimrat H u s s e r l und dann während meines Aufenthaltes im Jahre 1927 in Freiburg auch mündlich von meinem hochverehrten Lehrer erfahren habe, hat H u s s e r l seinen alten logischen Standpunkt verlassen und im Jahre 1922 eine „transzendentale Logik" vorgetragen. Leider kenne ich diese seine Vorlesungen nicht, und ich kann somit auch nicht sagen, ob meine in diesem Werke dargestellten Behauptungen denjenigen E. H u s s e r l s verwandt sind. Vgl. dazu die Vorrede. 2 Vgl. insbesondere die Arbeiten von W. S c h a p p , J . H e r i n g , H. C o n r a d M a r t i u s und auch meine „Essentialen Fragen". 7·

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ihre U n z e i t l i c h k e i t und somit ihre absolute U n v e r ä n d e r l i c h k e i t mit sich führen. Wie wäre es aber dann verständlich, daß eine und dieselbe Wortbedeutung — wie wir eben gezeigt zu haben glauben — einmal mit diesen, das andere Mal mit jenen Bedeutungen zu einer Einheit höherer Ordnung sich v e r e i n i g e n , daß sie an verschiedenen Stellen des Satzes auftreten und dabei verschiedenen Modifizierungen ihres intentionalen Richtungsfaktors und ihres formalen Inhalts unterliegen, ja, verschiedene Modi der Aktualität bzw. Potentialität, der Explizitheit und Implizitheit annehmen kann ? Darf sie dann noch für eine ideale Spezies betrachtet und auf gleiche Stufe etwa mit den idealen Wesenheiten oder Ideen gestellt werden ? Darf man aber andererseits die Wortbedeutungen aus dem eben angegebenen alleinigen Grunde für p s y c h i s c h e Realitäten, für K o m p o n e n t e n des psychischen Seins oder der Bewußtseinserlebnisse halten ? Oder etwa die Existenz idealer Sinneinheiten, idealer Begriffe überhaupt leugnen ? Daß weder die psychologische noch die idealistische Lösung haltbar ist, haben uns auch die unlösbaren Schwierigkeiten deutlich gezeigt, als wir am Anfang unseres Werkes das Problem der Seinsweise und der Idealität des literarischen Werkes aufgeworfen haben1. Wie soll aber die neue positive Lösung lauten ? Vor allem ist folgendes zu beachten: 1. Bei den verschiedenen Wandlungen der vollen Wortbedeutung, auf die wir oben hingewiesen haben, handelt es sich um gar keine psychischen oder subjektiven Bewußtseinsgeschehnisse, die sich beim Denken eines Satzes bzw. einer Wortbedeutung abspielen bzw. abspielen können. Diese subjektiven Bewußtseinsgeschehnisse, die den dargelegten Wandlungen eventuell parallel laufen können, wurden oben auch mit keinem Wort erwähnt. Sie können auch bei einem und demselben Satze noch sehr verschieden sein. Die konkret erlebten Inhalte des Bewußtseins können sich nämlich sowohl in bezug auf die mehr oder weniger weit gehende konkrete Explikation des materialen Inhalts der zugehörigen Wortbedeutungen, wie in bezug auf die Weise, wie 1 Diese Schwierigkeiten, die ich mir schon im Jahre 1918 zum Bewußtsein brachte, als ich einen Dialog über das literarische Kunstwerk zu schreiben begann, gaben mir auch den ersten Impuls zu der Einsicht, daß man den „idealistischen" Standpunkt in der Auffassung der Wortbedeutungen verlassen muß. Aber zunächst ging ich in der entgegengesetzten Richtung zu weit, so daß ich in der Zeit, wo ich die „Essentialen Fragen" schrieb (1923), geneigt war, die Existenz der Bedeutungen bzw. Begriffe überhaupt zu leugnen.

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ihr formaler Inhalt konkret gedacht wird, voneinander erheblich unterscheiden, abgesehen schon von den mannigfachen Klarheitsund Verschwommenheits-Modifikationen, die da möglich sind. Wir sprachen dagegen ausschließlich von Verwandlungen, die in den B e d e u t u n g e n selbst vor sich gehen, wenn dieselben verschiedene Stellen in einem Satz oder in verschiedenen Sätzen einnehmen, und die sich aus der Analyse des gesamten Bedeutungsgehaltes eines Satzes selbst (bzw. eines Wortes) auch dann ergeben, wenn wir von den konkreten Bewußtseinsgeschehnissen des Sprechenden gar nichts wissen. Trotz der Verschiedenheit der zwei Reihen von Verwandlungen — der Bedeutungseinheiten einerseits und der konkreten Bewußtseinserlebnisse andererseits — besteht die Möglichkeit, daß wir im Falle eines Satzes mit einem Etwas zu tun haben, das sowohl seiner Seinsweise wie auch seiner inhaltlichen und formalen Bestimmtheiten nach auf den Vollzug ganz bestimmter Bewußtseinsoperationen angewiesen ist. Aber auch in dem Falle, daß sich diese Möglichkeit als Tatsache erweisen sollte, bildet der Satz mitsamt allen seinen Teilen und Momenten eine in sich abgeschlossene Einheit, die mit keinerlei konkreten Bewußtseinsinbalten oder deren reellen Teilen zu identifizieren ist. Und ausschließlich diejenigen Tatbestände, die sich in dieser Einheit auffinden lassen, sollen uns das Material zur Lösung des Problems ihrer Idealität bzw. ihrer Veränderlichkeit und somit auch ihrer Beziehung zu konkreten, im Zeitablauf sich vollziehenden Bewußtseinsoperationen liefern. 2. Es fragt sich, inwiefern in den von uns besprochenen Fällen von einer Verwandlung einer und derselben Wortbedeutung die Rede sein darf und, im Zusammenhang damit, ob es nicht richtiger wäre, zu behaupten, daß die Wortbedeutungen absolut unverwandelbar seien, daß dagegen nur wir, die Denkenden, bei der Verwendung der Wortbedeutungen zur Bildung der Sätze von einer Bedeutung zu einer anderen übergehen. Wäre es tatsächlich so, so fiele das Argument gegen die idealistische Auffassung der Wortbedeutungen fort, und der gesamte Tatbestand würde sich dann (augenscheinlich) viel einfacher gestalten1. Indessen führt dieser Lösungsvorschlag zu bedeutenden Schwierigkeiten. Vor allem müßte man eine viel zahlreichere Mannigfaltigkeit von Bedeutungen als beim Vorhandensein der von uns be1 Dies ist die Lösung, die H u s s e r l in seinen „Logischen Untersuchungen" betreffs der „okkasionellen Bedeutungen" durchzuführen suchte.

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haupteten Bedeutungsverwandlungen annehmen. Z.B. statt der einen Wortbedeutung „Tisch" müßte man so viele verschiedene, wenn auch verwandte, Bedeutungen annehmen, als es Modifikationen dieser Bedeutung bei den verschiedenen Fällen ihrer Verwendung geben kann1. Es wäre dann auch falsch, daß ein und dasselbe Wort in verschiedenen Sätzen in mannigfachen Funktionen gebraucht werden kann. Man müßte dagegen zugeben, daß nur ein und derselbe Wortlaut mit verschiedenen Bedeutungen „verbunden" werde und somit sehr vieldeutig sei. Dies wäre an sich noch kein Widersinn. Schlimmer wäre es aber schon, daß man dann konsequenterweise auch in dem Falle von zwei Bedeutungen reden müßte, wo es sich allein um den Unterschied des aktuellen bzw. potentiellen Bestandes einer Bedeutung handelt. Man käme dadurch nicht nur zu einer ungeheuren Vermannigfaltigung des Bedeutungsschatzes, sondern es wäre dann auch unmöglich, genau anzugeben, worin eine Bedeutung ihren einzelnen Elementen nach besteht, da man es nur mit Hilfe anderer Wortbedeutungen, die von der betreffenden verschieden wären, machen könnte. Auch hätte ein Wort, das in der Isolierung steht, eine andere, z w e i t e Bedeutung, als wenn es im Satze auftritt (infolge der strukturellen Unterschiede, auf die wir oben hingewiesen haben). Es gäbe dann einerseits Worte, die ihrem Wesen nach nur in einem bestimmten Satz auftreten und aus dessen Zusammenhang nicht herausgerissen werden können, und andererseits Worte, die nie das Element eines Satzes sein können. Im Zusammenhang damit müßte man auch eine unendliche Mannigfaltigkeit von Sätzen annehmen, die von vornherein „fertig" und von uns nur entdeckt werden würden. Es wird sich aber zeigen, daß der gesamte Sinngehalt eines Satzes verschiedenen, manchmal sehr wesentlichen Modifikationen dadurch allein unterliegt, daß der betreffende Satz an einer bestimmten Stelle einer bestimmt angeordneten Mannigfaltigkeit von Sätzen auftritt. Würde er an einer anderen Stelle oder in einer anderen Mannigfaltigkeit von Sätzen vorkommen, so wäre sein Sinngehalt ein veränderter. Man müßte also — in der Konsequenz des von uns bekämpften Lösungsversuches — auch in diesem Falle von zwei verschiedenen idealen „Sätzen an sich" sprechen. Endlich müßte man diejenigen Mannig-

1 Es wären also durchaus verschiedene Bedeutungen: „der Tisch", „ein Tißch", „ich kaufe einen Tisch", „ich sitze an einem Tische", „mein Tisch ist groß" usw.

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faltigkeiten von Sätzen, die dank ihrem gesamten Sinngehalt und der Anordnung ihrer Abfolge einen Sinnzusammenhang höherer Ordnung (einen Satzzusammenhang) bilden, als fertige, zeitlos existierende ideale Gebilde betrachten, während es doch augenscheinlich ist, daß man aus einem solchen Satzzusammenhang durch Umordnung seiner Glieder eine große Anzahl anderer Satzmannigfaltigkeiten auf behebige Weise entstehen lassen kann. Hätte der von uns bekämpfte Lösungsversuch recht, so müßte man einen Schriftsteller nicht für den Schöpfer seines Werkes, sondern nur für einen Entdecker von Satzzusammenhängen halten. Bei all dem wäre der Gedanke, daß die Wortbedeutungen und alle Sinneinheiten höherer Ordnung ideale unveränderliche Gebilde seien und daß lediglich zeitlich sich abspielende Vorkommnisse des Ü b e r g a n g e s von einer zu einer anderen Sinneinheit stattfinden, nicht absurd. Aber nicht alles, was nicht absurd ist, ist eo ipso wahr. Könnten wir zeigen, daß nicht lediglich Übergänge von Bedeutungen bzw. von Sätzen zu Sätzen, sondern wirklich satzbildende subjektive Operationen vorhanden sind, so hätten wir ein entscheidendes Argument in der Hand, daß Bedeutungseinheiten höherer und niedrigerer Stufe keine idealen Spezies sind. 3. Sind aber die Wortbedeutungen und die Sinneinheiten höherer Stufe weder Elemente des psychischen Seins bzw. des konkreten Bewußtseins, noch ideale Spezies eines besonderen Typus, und ist ihre Existenz doch nicht zu leugnen, so ist — da es von vornherein klar ist, daß die Bedeutungseinheiten keine physischen Gegenständlichkeiten sind — daraus vor allem ersichtlich, daß die übliche Scheidung aller Gegenständlichkeiten in „reale" und „ideale" nicht vollständig ist. Es ist somit notwendig, noch einen anderen Typus von Gegenständlichkeiten anzunehmen. Andererseits ist es auch nicht notwendig, die Existenz idealer Begriffe zu leugnen. Nur muß man die letzteren von den Bedeutungseinheiten streng unterscheiden. 4. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, eine phänomenologische Analyse der subjektiven Operationen zu geben, aus welchen die Bedeutungseinheiten niedrigerer und höherer Stufe entspringen. Es wird genügen, wenn wir auf folgende Tatsachen hinweisen : Das Wesentliche des Wortes liegt darin, daß es eine Bedeutung hat und kraft der letzteren entweder einen Gegenstand intentional vermeint und in diesem Vermeinen ihn materialiter und formaliter bestimmt oder bestimmte intentionale Funktionen dem intentional schon entworfenen Gegenstande gegenüber ausübt. Dieses mit dem 103

Wortlaut verbundene intentionale Vermeinen ist — wie schon früher bemerkt — keine lautliche E i g e n s c h a f t des Wortlauts selbst, es ist im Vergleich zu ihm vollständig heterogener Natur und doch mit ihm verbunden. Diese Het'erogenität ist es eben, die es dem Wortlaute unmöglich macht, sozusagen aus eigener Kraft (dank den ihm zukommenden Eigenschaften) mit dem intentionalen Vermeinen verbunden zu werden bzw. die verschiedenen intentionalen Funktionen auszuüben. Wenn es zu dieser „Verbindung" überhaupt kommt, oder besser, wenn der Wortlaut die Bedeutung überhaupt trägt, so ist dies nur dadurch möglich, daß ihm diese Funktion sozusagen von außen her aufgezwungen, verliehen wird. Und diese Verleihung kann nur durch einen subjektiven Bewußtseinsakt Zustandekommen. Tatsächlich kennen wir auch solche Bewußtseinsakte, in welchen wir einem Wortlaut einen Sinn, eine Bedeutung verleihen. Ein zunächst Sinnloses, auf keine Weise über sich selbst Hinausweisendes, wird zur äußeren Stütze von etwas ihm Heterogenem verwendet, indem wir z.B. einen (undinsbesondere einen abwesenden) Gegenstand intentional vermeinen und dabei, ein Lautmaterial zum Wortlaut gestaltend, den letzteren zum „Namen" des vermeinten Gegenstandes machen. Das in der Bedeutung enthaltene intentionale Vermeinen ist sozusagen ein Spiegelbild des in dem bedeutungsverleihenden Akte1 enthaltenen intentionalen Meinens. Die Intentionalität des Wortes ist eine von dem entsprechenden Akte geliehene Intentionalität. Während aber das in dem Bewußtseinsakte enthaltene intentionale Vermeinen ein k o n k r e t e s , reelles Moment des Aktes bildet und mit dem ganzen Akte seine absolute, seinsautonome Seinsweise teilt (im gleichen Sinne, wie der Akt selbst, existiert), ist das dem Worte verliehene intentionale Vermeinen nicht bloß etwas dem Bewußtseinsakte völlig Trans z e n d e n t e s , sondern zugleich ein Etwas, das in einem durchaus anderen Seinsmodus existiert, und zwar in einem solchen, bei welchem die Gegenständlichkeit in sich selbst auf ein anderes Sein, aus dem sie ihren Ursprung schöpft und auf das sie angewiesen ist, hinweist. Der Bewußtseinsakt s c h a f f t hier im eigentlichen Sinne etwas, was früher nicht vorhanden war, wenn er auch nichts zu schaffen vermag, was einmal geschaffen, s e i n s a u t o n o m existieren könnte. Das Geschaffene ist hier nämlich im Vergleich zum realen, wie zum idealen, wie endlich zum Sein des reinen Bewußtseins nur 1

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Vgl. E. Husserl, „Log. Unters." Bd.II. Unters. I und V.

etwas dem „Schein" Analoges, etwas, was nur ein Etwas zu sein vorgibt und es im seinsautonomen Sinne doch nicht ist1. Jede Wortbedeutung, in der Isolierung genommen, ist eine in sich abgeschlossene Sinneinheit. Trotzdem birgt die überwiegende Mehrheit von ihnen — wie unsere Analysen zeigten — eine Mannigfaltigkeit von verschiedenartigen Elementen in sich, besonders, wenn es sich um eine zusammengesetzte nominale Wortbedeutung handelt. Diese Elemente sind durch den bedeutungsverleihenden Bewußtseinsakt aus allen möglichen ausgewählt und zu einer Einheit zusammengefaßt. Gewöhnlich geschieht dies in einer diskreten Mannigfaltigkeit von Bewußtseinsakten, so daß die Bedeutung erst a l l m ä h l i c h gebildet und umgebildet wird, bis ein Moment kommt, wo sie als etwas Fertiges, nicht mehr lebendig Erzeugtes vor uns steht und mit dem Wortlaut zusammen ein „Wort" bildet, das wir beliebig oft, bei verschiedenen Gelegenheiten als identisch dasselbe, d.h. genauer, mit gleichem Wortlaut und gleichem Sinngehalt, verwenden können. Übrigens kommt die bewußte, beabsichtigte Bildung von isolierten Wortbedeutungen relativ nur sehr selten vor. Der gewöhnliche Fall ist, daß wir, ganze Sätze und Satzzusammenhänge denkend, die schon v o r h a n d e n e n Wortbedeutungen zum Aufbau der Sätze verwenden. Auf das zu bildende Satzganze eingestellt, finden wir die Wortbedeutungen ohne weiteres vor, sie stellen sich ein und fügen sich unserem ordnenden und zusammenfassenden Griff. Die ursprüngliche sprachbildende Operation ist eben die s a t ζ bildende. Daß es solche satzbildende subjektive Operationen gibt, zeigt sich am besten in jenen Fällen, in welchen wir einen schon begonnenen Satz, sozusagen im Laufe seiner Bildung, noch im letzten Moment, auf eine andere Weise gestalten, als es ursprünglich unsere Absicht war, oder wenn wir z.B. schon einen „Gedanken" gefaßt haben und jetzt nur um eine ihm genau angepaßte, möglichst einfache und durchsichtige satzmäßige Formulierung ringen und den ursprünglich geplanten (und vielleicht auch schon niedergeschriebenen) Satz auf mehrfache Weise umbilden, bis endlich der „fertige" Satz ausgesprochen bzw. niedergeschrieben wird. Aber nicht bloß der umgestaltete, sondern ein j e d e r Satz wird in einer zeitlich ausgedehnten subjektiven Operation gebildet. Er ist nichts anderes als 1 Wir werden darauf noch genauer eingehen (S. 127f.). Vgl. unsere Arbeit „Bemerkungen zum Problem Idealismus-Realismus" (Festschrift für E. Husserl) und § 20 dieses Werkes.

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das Korrelat einer solchen, verschiedene Modi zulassenden Operation, die in ihrem Vollzug die Wortbedeutungen nicht bloß verwendet, sondern sie auch bildet und so gestaltet, daß aus ihnen eine Sinneinheit höherer Stufe entspringt. Dem zu bildenden Satze liegt sozusagen ein durch den allgemeinen Typus der satzbildenden Operation vorgezeichnetes, leeres, formales Schema zugrunde, das in dem einheitlichen Vollzug der satzbildenden Denkoperation durch entsprechende, einen materialen Inhalt besitzende Wortbedeutungen ausgefüllt wird und erst dann einen sinnhaltigen Satz bildet. Die satzbildende Denkoperation ist es eben, die jene vorhin analysierten Umwandlungen in den einzelnen in Frage kommenden Wortbedeutungen hervorbringt, sie dem Grundschema und dem Typus des eben zu bildenden Satzes anpaßt und die Einheit des Satzes statuiert. Gäbe es keine satzbildenden Operationen, so würde es auch keine Sätze geben. Somit sind auch die Hand in Hand mit der Satzbildung vor sich gehenden Umwandlungen in den einzelnen im Satze auftretenden Wortbedeutungen auf den Vollzug dieser Operationen durchaus relativ, sie e n t s t e h e n in ihr im echten Sinne des Wortes. Aber eben deswegen bilden sowohl das Satzganze als auch die in ihm auftretenden, untereinander organisch zusammenhängenden Teile ein Etwas, das sich in der rein idealen Sphäre der „Begriffe" und überhaupt der idealen Gegenständlichkeiten nicht findet, in einer Sphäre, in welcher die Gegenständlichkeiten jeder spontanen Aktivität des Bewußtseinssubjektes entrückt sind und jedem Versuch, eine Veränderung in ihnen hervorzubringen, trotzen. Der ganze Satz samt allen in ihm auftretenden bedeutungsmäßigen Elementen wird durch die satzbildende Operation „gestiftet" — um hier ein Wort Husserls zu benutzen — und wird sozusagen von dieser Operation in seinem Sein getragen. In welchem Sinne man hier von einem „Sein" des Satzes sprechen darf, das ist eine Frage, die wir erst im Zusammenhang mit anderen analogen Fragen beantworten werden (vgl. Kapitel 11). Vorläufig wird es nach dem schon Gesagten vielleicht verständlich sein, daß der Satz hinsichtlich seines Seins weder in sich selbst einen Ursprung hat, noch in dem Sinne seinsautonom ist, daß er während seiner Existenz das Fundament dieser Existenz in sich selbst hätte. Aber gerade dadurch sind die Sätze und — wie sich gleich zeigen wird — in noch höherem Maße die Mannigfaltigkeiten von zusammenhängenden Sätzen den subjektiven umbildenden Bewußtseinsoperationen zugänglich, sie entziehen sich den Verwandlungsversuchen nicht in dem Sinne, wie 106

das bei den im strengen Sinne idealen Gegenständlichkeiten der Fall ist. Sie können nicht bloß „entstehen", sondern auch in entsprechenden subjektiven Denkoperationen verändert, zu höheren Einheiten verknüpft oder endlich in ganz bestimmten „verwerfenden" Denkoperationen vernichtet, sozusagen aus der Welt geschafft werden1. Die satzbildende Denkoperation, die je nach ihren besonderen Eigenschaften verschieden gebaute Sätze hervorbringt, kann auf zwei grundverschiedene Weisen vollzogen werden. Entweder in der Form einer ursprünglichen wirklich satzbildenden Operation oder nur in der Form einer der ursprünglichen entsprechenden und doch wesensmäßig modifizierten n a c h b i l d e n d e n bzw. reaktualisierenden Operation. Nur die satzbildende Operation des erstgenannten Modus ist wirklich schöpferisch und erfordert zu ihrem Vollzuge eine ganz besondere spontane Aktivität des Bewußtseinssubjekts ; die satz-nachbildende Operation dagegen reaktualisiert nur, was schon einmal geschaffen wurde, und kann auch bei rein aufnehmender Ichhaltung vollzogen werden. Die satz-bildende oder -nachbildende Operation ist aber in den meisten Fällen nur eine relativ unselbständige Phase einer umfangreicheren subjektiven Operation, aus welcher nicht mehr einzelne zusammenhanglose Sätze, sondern ganze Satzzusammenhänge bzw. Mannigfaltigkeiten von zusammenhängenden Sätzen entspringen2. Wenn wir z.B. einen „Beweis" führen oder eine wissenschaftliche Theorie entwickeln oder einfach ein Ereignis erzählen, so sind wir gewöhnlich von vornherein auf das Ganze, das wir zu „entwickeln" haben, eingestellt, bevor wir die einzelnen Sätze, in welchen es „entwickelt" werden soll, gebildet haben. Dieses auf das Ganze Eingestelltsein kann verschiedene Formen einer mehr oder weniger bewußten impliziten Erfassung (Vorstellung) des Ganzen haben. Es schwebt uns dann ein bestimmtes „Thema" vor, das als das „Zubesprechende", „Zuentwickelnde" vor uns steht und sich mit einem Impuls, diese Entwicklung zu vollziehen, vereinigt. Gehen wir diesem Impuls nach, so setzt sich das Thema in eine Mannigfaltigkeit von Sätzen um, die wir der Reihe nach und immer im Hinblick auf 1 Eine noetisch gerichtete logische Untersuchung hätte den wesensmäßigen Bau der satzbildenden Denkoperation genau zu untersuchen und auch die möglichen Arten dieser Operation herauszustellen. Sie wäre das Gegenstück zu der noematisch orientierten „Apophantik der Sätze" im H u s s e r l s c h e n Sinne. 2 Welche Bedingungen durch die S ä t z e erfüllt werden müssen, damit eine zusammenhängende Satzmannigfaltigkeit entstehen könne, werden wir im folgenden (§ 23) erwägen.

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das Thema bilden. Dabei kann dasselbe Thema auf mannigfache Weisen „entwickelt", „dargestellt" werden. Eine jede von ihnen fordert eine andere Anordnung von Sätzen, die entsprechend der gewählten Anordnung anders „formuliert" werden müssen. So steht die jeweilige satzbildende Operation einerseits unter der Richtschnur des noch Vorzutragenden, andererseits aber unter dem Druck des schon Vorgetragenen, sie ist also relativ unselbständig und wird von dem ursprünglichen Impuls, ein Thema zu entwickeln, getragen. Aber auch dann, wenn wir kein vorgefaßtes Thema haben, das wir nur zu „entwickeln" hätten, kann eine bestimmte satzbildende Denkoperation derartig sein, daß sie sozusagen Keime zur Weiterbildung in sich birgt. Sie zieht dann eine Mannigfaltigkeit von anderen satzbildenden Operationen nach sich, in welchen sich erst ein Thema kristallisiert und es zur Bildung einer bestimmten „Erzählung", eines „Beweises" u.dgl. mehr kommt. Auch in diesem Falle werden die einzelnen satzbildenden Denkoperationen von dem allgemeinen Impuls getragen, sie werden durch das Vorangehende motiviert und dem unklar vorschwebenden Ziel in ihren Einzelheiten angepaßt, nur daß in diesem Falle in keiner aktuellen Phase eindeutig festgelegt ist, welche subjektiven Operationen aufeinanderfolgen werden. Wenn aber auch dieses Ziel noch so unklar und unbestimmt vorschwebt, immer ist die Tendenz vorhanden, die gerade aktuell vollzogene satzbildende Operation als etwas, dem noch andere Operationen nachfolgen werden, zu vollziehen, oder — falls es sich um die Bildung des „letzten" Satzes handelt — ihn eben als „Abschluß" einer zusammenhängenden Mannigfaltigkeit von Sätzen zu bilden. Die bekannte Erscheinung der „Unterbrechung" — wenn wir etwa beim Reden, Lesen oder Schreiben durch jemanden angeredet werden — ist eben nur deswegen möglich, weil die aktuelle Satzbildung nur eine Phase einer umfangreicheren Operation bildet, deren nachfolgende, wenn auch noch nicht vollzogene und öfters auch nicht vor bestimmte Phasen sich uns schon als kommende auf irgendwelche Weise ankündigen und das aktuell Vollzogene beeinflussen. Einer jeden solchen umfangreicheren Denkoperation, deren Durchgangsphasen die einzelnen satzbildenden Operationen bilden, entspricht eine zusammenhängende Satzmannigfaltigkeit, die eine Sinneinheit höherer Stufe: eine Erzählung, ein Beweis u.dgl. 1 ist. 1

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Vgl. im folgenden § 23.

Ihre Struktur, der Typus des Zusammenhanges der einzelnen Sätze, die Anordnung der letzteren usw. ist durchaus von dem gesamten Verlauf der zugrunde liegenden subjektiven Operation abhängig und auf sie relativ. Man kann „dasselbe" auf verschiedene Weisen erzählen, aber jede von diesen Erzählungen bildet eine Gegenständlichkeit für sich, die nur deswegen vorhanden ist, weil sie gerade so und nicht anders gebildet wurde. Und es wäre lächerlich zu glauben, daß all diese verschiedenen Behandlungen „desselben Themas ' sozusagen von aller Ewigkeit her als ideale Gegenständlichkeiten existierten, während wir doch im Erzählen ein ganz deutliches Bewußtsein haben, daß wir es auf beliebige andere Weise tun könnten, daß es in unserem Machtbereich liegt, falls wir durch äußere Umstände nicht gestört werden, die Erzählung so oder anders zu gestalten. Die auf diesem Wege entstehende „Erzählung", der „Beweis", die „Theorie" usw. — rein als Sinneinheit höherer Stufe, als Mannigfaltigkeit zusammenhängender Sätze verstanden — kann somit keinen Anspruch auf eine Seinsautonomie erheben, in noch höherem Grade als die einzelnen Sätze. Daraus folgt übrigens noch gar nicht, daß wir im Vollzug einer ursprünglichen, einen Satzzusammenhang hervorbringenden Denkoperation v o l l k o m m e n frei wären und nur dem schöpferischen Impuls zu gehorchen hätten. Bezüglich der Einschränkung unserer Freiheit bestehen erhebliche Unterschiede bei den die verschiedenen möglichen Typen von Satzzusammenhängen hervorbringenden subjektiven Denkoperationen. Aber wie wir einerseits nie vollkommen frei sind, so sind wir auch im Rahmen der strengsten Theorie nie vollkommen gebunden und können sie auf verschiedene Weisen gestalten und umgestalten. Und eben die Möglichkeit (und Tatsache) einer solchen Umbildung zeigt am besten, daß die von uns gebildeten „Theorien" (als Mannigfaltigkeiten von Sätzen genommen) keine idealen Gegenständlichkeiten sind. Dies werden die folgenden Untersuchungen über die Sätze und Satzzusammenhänge noch bekräftigen. Die vorläufige Lösung des uns in diesen Paragraphen bewegenden Problems lautet also : Die Schicht des literarischen Werkes, die sich aus Wortbedeutungen, Sätzen und Satzzusammenhängen aufbaut, hat kein autonomes ideales Sein, sondern ist auf ganz bestimmte subjektive Bewußtseinsoperationen, sowohl ihrem Entstehen wie ihrem Sein nach, relativ1. Sie darf aber andererseits mit keinem 1

Es kann natürlich bezweifelt werden, ob es sich bei jeder Art solcher Satzzusammenhänge immer nur um reine Denkoperationen handelt, als ob dabei keine 109

konkret erlebten „psychischen Inhalt" und auch mit gar keinem realen Sein identifiziert werden1. Wir haben es hier mit etwas ganz Spezifischem zu tun, dessen nähere Aufklärung, insbesondere hinsichtlich seiner Seinsweise, uns noch bevorsteht. Wir müssen aber in die Schicht der Sinneinheiten tiefer eindringen, um ihre Rolle im literarischen Werk aufzudecken.

§ 19. Allgemeine Charakteristik des Satzes 2 . Wir haben zuletzt von Sätzen und Satzzusammenhängen als Korrelaten bestimmter subjektiver intentionaler Operationen gesprochen, ohne uns näher mit dem Aufbau dieser Gegenständlichkeiten zu beschäftigen. Dies gilt es jetzt nachzuholen, soweit das für unsere Zwecke in Betracht kommt. In literarischen Werken können prinzipiell Sätze von allen möglichen Typen vorkommen. Es können da sogar „verstümmelte", anderen Faktoren, etwa gefühlsmäßiger Art, mitspielen könnten. Sicher ist aber, daß eine Denkoperation jedenfalls nicht fehlen darf, wenn sie auch selbst aus tieferen subjektiven Impulsen hervorgehen und sich ihnen anpassen sollte. 1 K. T w a r d o w s k i , der in seiner Abhandlung „Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen" (1894) bezüglich der Wortbedeutung ganz auf dem psychologistischen Boden steht, versuchte später in der Abhandlung „Über Tätigkeiten und Gebilde" (in polnischer Sprache, 1911), seinen Standpunkt in dieser Frage zu modifizieren. Er faßt da die Bedeutung als ein Gebilde der psychischen Funktionen. Es ist mir aber nicht ganz klar, welcher Art Gebilde das sein soll und was hier T w a r d o w s k i eigentlich unter „Bedeutung" versteht. Insofern vermag ich nicht zu sagen, in welchem Verhältnis meine Auffassung zu dem Standpunkt T w a r d o w s k i s steht. Eins scheint mir sicher zu sein, daß nämlich T w a r d o w s k i weder die abgeleitete Intentionalität der Wortbedeutung annimmt (und die Bedeutung eher für einen seiner „allgemeinen Gegenstände" hält, welcher aus allen „gemeinsamen" Momenten der psychischen „Inhalte" der entsprechenden Denkerlebnisse besteht), noch von einer Seinsheteronomie der einmal gebildeten Wortbedeutung sprechen würde. Da ich weder seiner Auffassung des „allgemeinen Gegenstandes" zustimmen noch seine Auffassung der Wortbedeutung voll verstehen kann, so möchte ich mich hier auf den Hinweis beschränken, daß zwischen meinem und T w a r d o w s k i s Standpunkt nur die Verwandtschaft besteht, daß in beiden Fällen die Bedeutung für ein Gebilde subjektiver Operationen gehalten wird. 2 Als ich diesen Paragraphen im Jahre 1927 schrieb und auch als mein Buch im Dezember 1930 erschien, war die Abhandlung von J . R i e s „Wae ist ein Satz ?" (Beiträge zur Grundlegung der Syntax, H . I I I . Prag 1931) noch nicht veröfiFentlicht. Ich habe diese Abhandlung erst viele Jahre später, am Anfang des letzten Krieges, gelesen und fand in ihr — obwohl sie von einem Sprachforscher und insbesondere einem Grammatiker geschrieben ist und natürlicherweise den Satz von einem anderen Standpunkt zu fassen sucht — verschiedenes, was dem hier von mir Ausgeführten nahesteht. Ich kann hier darauf nicht näher eingehen.

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nicht zu Ende konstruierte Sätze (z.B. im Dialog in einem Drama) auftreten. Gewöhnlich werden diese verschiedenen Arten von Sätzen nach dem benannt, was sie — wie man sagt — „ausdrücken"1. Es kann freilich bezweifelt werden, ob dies der richtige Einteilungsgrund ist. Wir können uns aber hier dieser Redeweise bedienen. Demgemäß findet man in literarischen Werken Sätze, die „Urteile", „Fragen", „Wünsche" oder „Befehle" ausdrücken, vor. Ferner können da Sätze in verschiedenen Modifikationen auftreten, wie sie sich z.B. in der Gegenüberstellung der sog. oratio recta und oratio obliqua kundgeben, u.dgl. mehr. Ohne auf diese einzelnen Typen von Sätzen näher einzugehen, wollen wir eine allgemeine Charakteristik des Satzes überhaupt, wenigstens andeutungsweise, durchführen, um auf dieser Grundlage seine Rolle im literarischen Werk zu umschreiben. Und zwar muß diese Charakteristik nach drei verschiedenen Richtungen gehen: 1. was der Satz in sich s e l b s t i s t , 2. was er als eine auf besondere Weise aufgebaute Gegenständlichkeit rein in sich selbst l e i s t e t , 3. welche Dienste er den psychischen Individuen im Zusammenhang mit deren Leben und Erleben erweist. ad 1. Wie die einzelnen Worte, so sind auch die Sätze zweischichtige Gebilde, in welchen a) die sprachlautliche Schicht, b) der Sinngehalt zu unterscheiden sind. Wie schon früher bemerkt wurde, gibt es keinen „Satzlaut", der eine dem Wortlaute gleichzustellende Einheit wäre. Wenn der Satz als eine Einheit dasteht, so verdankt er dies lediglich der Einheitlichkeit seines Sinngehaltes, den es jetzt näher zu charakterisieren gilt. Dieser Gehalt ist eine f u n k t i o n a l - i n t e n t i o n a l e Sinneinheit, die sich in einer Mehrheit von Wortbedeutungen als ein abges c h l o s s e n e s Ganzes aufbaut2. Die Wortbedeutungen gehen in ihn als seine Bestandteile ein, aber nichtsdestoweniger ist er keine 1

So teilt z.B. W u n d t die Sätze in: 1. Ausrufungs-, 2. Aussage- und 3. Fragesätze ein; A. Marty dagegen in 1. Aussagen, 2. emotive und 3. fiktive Reden u.dgl. mehr. Sehr interessante Ausführungen in dieser Hinsicht findet man bei K. Brugmann, „Die Syntax des einfachen Satzes im Indogermanischen" (vgl. Die Gestaltungen des Satzes nach der seelischen Grundfunktion, S. 187 ff.). 2 Damit wollen wir u. a. andeuten, daß wir das Wort „Satz" in dem engen Sinne gebrauchen, bei welchem der sog. „Nebensatz" ein Satzteil, aber kein Satz ist. Auf die abgeschlossene Ganzheit des Satzes bzw. seines Sinngehaltes haben sehr viele Autoren, wie z.B. W u n d t , Delbrück, Marty, Bühler, hingewiesen. Vgl. indessen die Modifikationen, die sich in dieser Hinsicht aus dem Zusammenhang zwischen den Sätzen ergeben (§ 23). 111

einfache Summe oder Menge von ihnen, sondern eine ihnen gegenüber durchaus neue Gegenständlichkeit, die eigene Eigenschaften hat. Da er sich aber eben aus Wortbedeutungen aufbaut, verdankt er ihnen eine Reihe von Eigenschaften. Und so ist er vor allem eine i n t e n t i o n a l e , d.h. eine auf etwas von ihm selbst Verschiedenes, über sich selbst h i n a u s w e i s e n d e Einheit. Nur ist die Weise, in welcher er über sich selbst hinausweist, eine andere, als dies bei den isolierten Worten der Fall ist. Andererseits ist er, wie wir sagten, eine f u n k t i o n a l e Einheit, weil er als Ganzes seinem Wesen nach eine F u n k t i o n ausübt, die sich aus den Funktionen seiner Bestandteile ergibt. Genauer gesagt: Er übt eine Funktion aus, die vorschreibt, welche Funktionen die in ihm auftretenden Wortbedeutungen (bzw. Worte) ausüben müssen, damit sie als seine Bestandteile auftreten können. Erst die Bestimmung dieser Funktion und der besonderen Art der satzmäßigen Intentionalität wird das Wesentliche des Satzes hervorheben. Darüber sofort genauer. Zunächst muß aber noch ein Einwand beseitigt werden. Wir haben gesagt, der Satz1 baue sich auf einer Mehrheit von Wortbedeutungen auf. Indessen gibt es die sog. „Einwortsätze", wie z.B. „Feuer!", aber auch das lateinische „amo." usw. Wir wollen liier den Streit um die „subjektlosen" Sätze nicht erneuern. Wie es damit auch stehen mag, sowohl der Satz „Feuer!" wie „amo." enthält eine Mehrheit von Wortbedeutungen in sich. Nur rein wortlautlich scheint er aus einem Worte zu bestehen. Denn in einem jeden solchen Satze treten die „Interpunktionszeichen" auf, welche ihrer Funktion nach nichts anderes als verschiedene unselbständige, funktionierende Wörtchen sind. Das Wort „Feuer" bildet natürlich keinen Satz, aber der Ausdruck „Feuer!", mit dem „Ausrufungszeichen" genommen, bildet — wie Marty mit Recht bemerkt — einen vollen Satz. Das Ausrufungszeichen übt hier eine besondere, ziemlich komplizierte und reichhaltige Funktion aus2. Der Satz „amo." birgt sogar drei Bedeutungselemente in sich, da man in diesem Falle mit voller Berechtigung explizieren darf: „Ego amo." Ähnliches ließe sich in allen anderen Fällen zeigen, ungeachtet der vielen „Einwortsätze", die deutlich elliptische Gebilde sind und

1

Wir verwenden hier und auch oft im folgenden der Bequemlichkeit wegen den kürzeren Ausdruck „Satz", statt genauer „der Sinngehalt dee Satzes" zu sagen. Das kann aber nicht zu MißVerständnissen fähren. s Vgl. z. B. den Aufsatz von F. Neumann in der Husserl-Festschrift, Halle 1929. 112

deren Sinn sich aus dem Zusammenhang der aufeinanderfolgenden Sätze ergänzt. Aber wie es damit auch sei, die Einwortsätze bilden jedenfalls nur einen Ausnahmefall und zugleich einen Grenzfall von Sätzen. Dagegen sind die zumeist auftretenden Sätze nicht bloß ihrem Sinngehalt nach, sondern auch rein wortlautlich aus mehreren Worten aufgebaut. Auf diese Sätze wollen wir unser Augenmerk richten. Κ. Βühier unterscheidet in seinem Artikel „Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes"1 drei Hauptarten des Satzes : den Kundgabe-, Auslösungs- und den Darstellungssatz, wobei er den letzteren mit dem Aussagesatz identifiziert. Der Darstellungssatz soll einen Sachverhalt „darstellen" ; über die Funktion der Darstellung erfahren wir aber nur, daß sie eine Zuordnung sei, und zwar bei den Worten zu Gegenständen, bei Sätzen aber zu Sachverhalten. Sowohl die Gegenstände wie die Sachverhalte sind dabei als Elemente der Wirklichkeit vermeint2. Ich will hier nicht darüber streiten, ob es wirklich drei solche Arten von Sätzen gibt, so daß jeder Satz eine, aber auch nur eine der unterschiedenen „Leistungen" ausübt, wiewohl es mir scheint, daß jeder Satz alle diese Funktionen ausübt oder wenigstens ausüben kann und daß die einzelnen Sätze sich in dieser Hinsicht nur darin unterscheiden, daß einmal die eine, das andere Mal die andere Leistung in den Vordergrund tritt. Viel wichtiger ist es zu betonen, daß die Leistung der „Darstellung" — richtig verstanden — jedenfalls in keinem Satze fehlen darf und daß sie die unentbehrliche Grundlage anderer Leistungen des Satzes bildet. Zugleich ist es nötig, das Wesen der „Darstellung" richtig herauszustellen. Denn daß es sich hier nicht um eine bloße „Zuordnung" zu realen Gegenständen und Sachverhalten handeln kann, ergibt sich schon daraus, daß es 1. viele Sätze — und zwar Aussagesätze — gibt3, die keine „Zuordnung" zu realen (oder gar auch zu idealen) Gegenständlichkeiten aufweisen4, 2. daß, falls den Satz nur diese „Zuordnung" zu etwas objektiv Bestehendem charakterisieren sollte, er diese Leistung von 1

Indogermanisches Jahrbuch, Bd.VI, Berlin 1920, S. 1—20. Das sagt Bühler nicht expressis verbis, es liegt aber unzweifelhaft im Sinne seiner Darlegungen. 3 Sätze also, die nach Bühlers eigener Erklärung in dem Maße die Darstellungsleistung ausüben sollen, daß er sie geradezu „Darstellungssätze" nennt. 4 Dazu gehören streng genommen schon alle falschen Aussagesätze, aber in erster Linie alle Sätze über rein f i k t i v e Gegenständlichkeiten. 2

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Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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sich, selbst aus nicht auszuüben vermöchte. Der Satz selbst muß mit anderen Worten solche Eigenschaften haben, die seine „Zuordnung" zu i r g e n d w e l c h e n (und manchmal auch zu real oder ideal existierenden) bestimmten Gegenständlichkeiten hervorbringen. Nach dem Vorangehenden ist es klar, daß wir diese Eigenschaft in der Intentionalität des Satzsinnes suchen müssen1. Sie muß sich von der Intentionalität der einzelnen, isolierten Wortbedeutungen unterscheiden, da sonst kein wesenhafter Unterschied zwischen Worten und Sätzen bestünde. Dieser Unterschied scheint aber gerade das gesichertste Resultat der bisherigen sprachwissenschaftlichen und logischen Untersuchungen zu sein. Diese besondere satzmäßige Intentionalität darf aber nicht an denjenigen Sätzen studiert werden, welche den Anspruch auf Wahrheit erheben und somit einen ganz besonderen Bezug auf seiende (reale oder ideale) Gegenständlichkeiten haben. Denn da könnte man leicht manches für eine Wesenseigentümlichkeit des Satzes halten, was allein für das U r t e i l (im logischen Sinne) Geltung hat. Jeder Satz ist — wie schon gesagt — das Resultat einer subjektiven satzbildenden Operation. Gewöhnlich steht diese Operation im Dienste anderer Operationen, welche sowohl sie selbst als auch ihr Produkt modifizieren. So kann sie z.B. im Dienste einer Erkenntnisoperation oder einer bloßen Wechselverständigung zwischen mehreren psychischen Individuen stehen Sie kann aber auch als Mittel der Beeinflussung anderer psychischer Individuen (politische Agitation usw.) oder lediglich zum Zwecke der Festlegung der Resultate eines willkürlichen Phantasieprozesses verwendet werden. Endlich kann sie nur eine ganz unbeabsichtigte Folge von der Abspielung bestimmter psychischer Prozesse sein, in welcher die letzteren ihren gedanklich-sprachlichen „Ausdruck" finden. Tritt sie z.B. in den Dienst des Erkennens von Realem ein, so wird sie gewöhnlich auf Grund der anschaulichen Erfassung eines objektiv bestehenden Sachverhalts vollzogen und in ihren Phasen dem Gehalte des letzteren mehr oder weniger genau angepaßt. Dadurch wird sie mit verschiedenen Momenten verbunden, die ihr nicht wesentlich sind. So wird sie mit einem besonderen intentionalen Moment verflochten, dank welchem das sie vollziehende Subjekt sich auf einen in der Realität bestehenden Sachverhalt nicht bloß 1 Wenn wir nicht in die widersinnige Auffassung zurückfallen wollen, nach welcher es einerseits sinnlose Laute, andererseits aber nur psychische Erlebnisse gibt, welche die „Bedeutung" der ersteren ausmachen sollen.

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„richtet", sondern auch ihn zu t r e f f e n meint und sich mit seinem treffenden intentionalen Blick in der Realität verankert zu haben glaubt. Der dabei zur Bildung gelangende Satz erlangt ein entsprechendes intentionales Moment, das über das jedem Satze — wie bald gezeigt wird — zugehörige rein intentionale Korrelat hinausgeht und einen in der Realität bestehenden Sachverhalt zu „treffen" vorgibt. Damit wird das rein intentionale Korrelat des Satzes auf eigentümliche Weise intentional in die Realität hinaus versetzt und nicht bloß mit einem real bestehenden Sachverhalt identifiziert, sondern zugleich mit ihm als real-seiend g e s e t z t . Der Satz selbst dagegen — als die Stätte sozusagen, an welcher diese Setzung ihren (übrigens nur sekundären) Ursprung hat — bereichert sich noch um ein Moment: er erhebt den Anspruch, „wahr" zu sein, wird mit einem Worte zu einem „Urteil" im logischen Sinne, das der Bewertung nach „wahr" und „falsch" unterliegt. All dies fällt weg, wenn wir die satzbildende Operation von den Diensten, die sie der Erkenntnis leistet, loslösen. Verwenden wir dagegen einen Satz zur Wechselverständigung mit einem anderen psychischen Individuum, z.B. über gewisse Sachlagen, an deren wirklichen Bestand wir beide gar nicht glauben (also wenn wir keine Urteile „aussprechen" und „vernehmen"), so ist der ausgesprochene Satz von den oben besprochenen Momenten frei, er gewinnt aber ein anderes intentionales Moment: er wird als ganzer an jemanden „gerichtet". Mag das auch an seinem Sinngehalt nichts geändert haben, so steht er dann trotzdem nicht als reiner Satz, sondern als eine „Anrede" oder eine „Antwort" da. Diese Beispiele werden genügen, um uns zu überzeugen, daß, wenn wir den Satz rein in sich untersuchen wollen, wir ihn ausschließlich als das Produkt der von allen sonstigen Diensten und Zwecken herausgelösten satzbildenden Operation nehmen müssen1. Nehmen wir zunächst einen ganz einfachen „kategorischen" Satz der Form „S ist p" (z.B. „Diese Rose da ist rot." und „Ein Wagenfährt vorbei."). Nehmen wir ihn dabei nicht als „Ausdruck" eines vollzogenen Urteils und beschränken wir uns lediglich darauf, was der Satz s e l b s t seinem Sinngehalt nach besagt, also ohne daß 1

Es ist fraglich, ob es gelingt, die satzbildende Operation von anderen Operationen und Funktionen, in die sie gewöhnlich verwickelt ist, zu befreien und sie ganz allein für sich zu haben. Aber dies ist auch für unsere Zwecke nicht unentbehrlich. Es genügt, sie in sich selbst zu erschauen, indem zugleich die anderen Funktionen, mit denen sie gegebenenfalls verbunden ist, gewissermaßen veränderlich gemacht und als beliebig behandelt werden. 8*

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er auf eine bestimmte, dem Erkenntnissubjekt anschaulich gegebene und in der realen Sphäre verwurzelte Sachlage angewendet wäre. Wir sagten oben, daß er seinem Sinngehalt nach eine funktionalintentionale Einheit ist, die eine besondere Intentionalität in sich birgt und eine besondere Funktion ausübt. Was soll das in dem Beispielsfalle besagen ? „Ein Wagen fährt vorbei." Wir unterscheiden in dieser Sinneinheit einerseits einen Namen: „ein Wagen" und einen verbalen Ausdruck: „fährt vorbei". Daß die Bedeutungen dieser beiden Ausdrücke nicht lose nebeneinandergereiht sind, haben wir schon früher bemerkt. Wie sind sie aber da zur Einheit verbunden ? Der Name : „ein Wagen" nennt einen Gegenstand, insbesondere ein Ding, er nennt ihn, indem sein nominaler Richtungsfaktor sich auf einen Gegenstand richtet. Damit er sich aber auf ihn richten kann, muß derselbe durch den materialen und formalen Inhalt bestimmt, entworfen werden. Die erste Leistung dieses Namens liegt also in der nominalen Entwerfung eines Gegenstandes. Der Ausdruck „fährt vorbei", für sich genommen, entfaltet eine. Tätigkeit und weist durch seinen verbalen Richtungsfaktor auf ein Tätigkeitssubjekt zurück. Als Glied des Satzes aber „sucht" er ihn nicht bloß — wie er es täte, wenn er isoliert dastünde —, sondern er hat ihn hier sozusagen schon gefunden, und zwar in dem durch den Namen „ein Wagen" entworfenen Gegenstand. Dadurch geschieht dreierlei: 1. die entfaltete Tätigkeit ist jetzt als eine durch diesen Gegenstand vollzogene, durch ihn bewirkte dargestellt; 2. der durch den Namen entworfene Gegenstand wird dadurch zu einem Tätigkeitssubjekt, und zwar, genauer, zu einem Subjekt derjenigen Tätigkeit, die durch das Verbum finitum entfaltet wird, er wird aber dadurch allein noch nicht als ein solcher genannt; aber noch mehr: 3. er wird zu einem Tätigkeitssubjekt, das gerade im Vollzuge der betreffenden Tätigkeit b e g r i f f e n ist1. Es steht nicht mehr lose nebeneinander : ein Tätigkeitssubjekt und eine sozusagen subjektlose Tätigkeit, sondern es ist eine Einheit hergestellt: „Ein Wagen fährt vorbei2." 1 Es ist zweierlei : einfach ein Tätigkeitssubjekt zu sein und ein Tätigkeitssubjekt zu sein, das seine Tätigkeit gerade ausübt: z.B. jemanden bloß als Lehrer und als einen seine Lehrtätigkeit gerade v o l l z i e h e n d e n Lehrer aufzufassen. 2 Auf die Einheitlichkeit des Satzes weist neuerdings H. Ammann („Menschliche Rede", II. Bd.) hin. Mit dieser bloßen Feststellung kommt man aber nicht aus, solange man nicht zeigt, wie die Einheit des Satzes herstellbar ist.

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Zu beachten ist: Der Satz: „Ein Wagen fährt vorbei." (1) und der nominale Ausdruck: „Ein vorbeifahrender Wagen" (2) sind nicht etwa bedeutungsidentisch. In (2) wird ein eine bestimmte Tätigkeit ausübender Gegenstand g e n a n n t , d.h. der nominale Richtungsfaktor weist hier auf einen Gegenstand hin, der von vornherein (und zwar durch den materialen Inhalt der zusammengesetzten Bedeutung) als „vorbeifahrender" b e s t i m m t wird. Daß er vorbeifährt, wird hier nicht gesagt, sondern der Gegenstand steht als ein mit einem besonderen, ihm im Hinblick auf eine von ihm ausgeübte Tätigkeit und in Folge ihrer Ausübung zukommenden Merkmal a u s g e s t a t t e t e r da. In dem Satze „Ein Wagen fährt vorbei." wird der Wagen durch den Namen gar nicht als ein mit diesem Merkmal schon ausgestatteter entworfen und genannt. Entworfen und genannt wird er da lediglich als ein „Wagen", und erst dadurch, daß die durch das Verbum entfaltete Tätigkeit dank dem verbalen Richtungsfaktor in ihm Fuß faßt, wird seine T ä t i g k e i t und somit er selbst in der Ausübung dieser Tätigkeit in der verbalen, aber wie es sich gleich zeigen wird, nicht rein verbalen Weise entfaltet1. 1 Vgl. dazu H e r l i n g , „Die Syntax der deutschen Sprache": „Im Satze erscheint die Beziehung als geschehend, im Worte als schon geschehen. In Der Vogel f l i e g t geschieht die Beziehung wirklich, in d e r f l i e g e n d e Vogel ist die Beziehung des Fliegens auf den Vogel schon als geschehen bezeichnet" (zitiert nach J. R i e s , „Wae ist ein Satz ?"). Dazu fügt R i e s hinzu: „Was Herlings Aufstellung besagt, ist dies: Der Satz ist die sprachliche Auswirkung eines psychischen Aktes in seinem gegenwärtigen Vollzug, die (enge) Wortgruppe der Ausdruck des Ergebnisses eines solchen früher vollzogenen Aktes. Im Satz wird die Vorstellungsverknüpfung als eine eben vor sich gehende sozusagen erlebt (oder von neuem erlebt), während sie in der Wortgruppe als eine im Bewußtsein schon fertig vorliegende erfaßt und dargestellt wird" (I.e. S.69). Auf eine noch andere Weise sucht diesen Unterschied J. K u r y t o w i c z in der Abhandlung „Les structures fondamentales de la langue: proposition et groupe des mots" (Studia Philosophica, vol.III. Cracoviae 1947). Ich glaube aber, daß der Unterschied doch anders verankert ist. Ich habe nämlich im II. Bande meines Buches „Der Streit um die Existenz der Welt" den Versuch gemacht, das Wesen des Vorgangs im Unterschied zu dem in der Zeit verharrenden Gegenstande (insbesondere zu dem Dinge) seiner Form nach zu fassen, und da hat es sich herausgestellt, daß man notwendigerweise den Vorgang, wie er sich im Laufe der Zeit als wachsendes Ganzes von Phasen entwickelt, von ihm als einem in dieser Entfaltung sich konstituierenden Gegenstand (als Subjekt von Eigenschaften) unterscheiden muß. Diesem Unterschied entspricht dann der Unterschied zwischen dem Satz und der Wortgruppe, in welcher ein Name mit einem Eigenschaftswort verbunden ist. Der Satz erfaßt eben den Vorgang in seiner ursprünglichen Form des sich entwickelnden Phasenganzen, während die Wortgruppe ihn als einen besonderen Gegenstand faßt. Dies ist natürlich schon bei dem Unterschied zwischen rein verbaler Fassung „fljegt" und der nominalen Fassung „Der Flug des . . ." der Fall.

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Die eben beschriebene Funktion des Verbum finitum in dem untersuchten Satz beleuchtet jedoch den Aufbau des Sinngehaltes dieses Satzes sozusagen nur vom Standpunkt des prädikativ auftretenden Yerbums aus. Man kann aber dieselbe Sachlage vom Standpunkt des Namens „ein Wagen" beleuchten: Er ist da kein bloßer Name; er funktioniert nämlich als Subjekt des Satzes. Das besagt zweierlei: 1. Er nennt nicht bloß einen Gegenstand, sondern er faßt ihn zugleich als etwas auf, das Träger entweder eines ihm noch zuzuweisenden Merkmals oder einet durch ihn zu vollziehenden Tätigkeit ist (in dem jetzt untersuchten Satze liegt natürlich nur das zweite vor). Er macht sozusagen den genannten Gegenstand „parat", diese oder eine andere Funktion auszuüben; und nur, weil er ihn dazu „parat" macht, kann der letztere als Endpunkt des suchenden verbalen Richtungsfaktors dienen. Und umgekehrt kann die durch das Yerbum finitum entfaltete Tätigkeit dadurch in ihm „Fuß fassen". Denken wir uns, daß an Stelle des Namens ein rein funktionierendes Wörtchen tritt, z.B. das Wörtchen „und", so daß wir dann die Phrase „und fährt vorbei" erhalten. Hier kann der suchend-rückweisende verbale Richtungsfaktor eben keinen Gegenstand finden, durch den die betreffende Tätigkeit bewirkt werden könnte ; er geht sozusagen an der durch das Wörtchen „und" geschaffenen Verknüpfungsform vorbei und weist über das ganze durch den Ausdruck „und fährt vorbei" entworfene Gebilde notwendig hinaus. Eben darum ist dieses Gebilde unselbständig, aber auch der Ausdruck selbst gibt sich als ein S t ü c k , das durch etwas ergänzt werden will. — 2. Der Name, der die Subjektstelle des Satzes einnimmt, fungiert zugleich als der Bedeutungsfaktor, der die Ergänzungsbedürftigkeit des prädikativ auftretenden Verbum finitum stillt. Er ermöglicht dem rückweisendsuchenden verbalen und bei der Isolierung des Verbums potentiellen Richtungsfaktor, sich zu aktualisieren und mit seinem eigenen nominalen Richtungsfaktor zu verschmelzen. Dadurch ermöglicht er es auch dem Verbum finitum, seine Funktion überhaupt auszuüben, die Tätigkeit als eine von einem T ä t i g k e i t s s u b j e k t herf l i e ß e n d e zu entfalten. Man kann natürlich die Frage aufwerfen, ob der formale Unterschied zwischen dem Vorgang als einem Subjekt der Eigenschaften und dem Vorgang als dem sich entfaltenden Phasenganzen ursprünglich ist, so daß der Unterschied zwischen behandelten Sprachgebilden nur seine sprachliche Spiegelung ist, oder ob umgekehrt er durch die verschiedenen Sprachgebilde in das Seiende intentional eingeführt wird. Dies ist aber ein Problem, das über unser Thema weit hinausgeht.

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Man kann also sagen: Yon beiden Seiten, von dem als Satzsubjekt fungierenden Namen und von dem als Prädikat fungierenden Verbum finitum, werden da Funktionen ausgeübt, die — bildlich gesagt — nur aufeinander warten, um, sich gegenseitig aufeinander stützend, sich voll auszuwirken und in dieser Auswirkung nicht bloß die Einheit des Sinngeb altes des Satzes zu statuieren, sondern auch die Funktion des g a n z e n Satzes, die in ihnen fundiert ist, zur Ausübung zu bringen. Diese Satzfunktion beruht in dem Beispielsfalle auf nichts anderem als auf der ganz eigentümlichen n o m i n a l - v e r b a l e n E n t f a l t u n g einer Tätigkeit, die durch einen Tätigkeitsträger vollzogen wird. Man kann freilich mit Recht einwenden, daß es sich nicht in jedem Falle um die Entfaltung einer Tätigkeit handelt; so schon in dem anderen Beispiel: „Diese Rose da ist rot." Das Prädikat „ist rot" erfüllt hier die Funktion des Zuweisens eines Merkmals 1 . Aber auch dieses Prädikat tut es auf dieselbe verbale Weise, wie sie in dem früher analysierten Beispiel vorliegt. Es entfaltet das sozusagen im Innern eines Gegenstandes bestehende „Haben" des Merkmals „rot"2. Der formale Inhalt des Ausdrucks „ist rot" enthält hier also nicht das die Tätigkeitsstruktur entwerfende Moment, sondern ein wesentlich anderes, welches das „rot" in der eigentümlichen Struktur des „einem Etwas als Merkmal Zukommens" faßt. Dagegen bleibt die verbal-prädikative Funktion dieses Ausdrucks erhalten. Im Zusammenhang mit dem in diesem Falle anderen formalen Inhalt des Prädikats entwirft der die Funktion des Satzsubjektes erfüllende Name keinen Tätigkeitsträger, sondern einen Träger des noch aufzunehmenden Merkmals. Und gerade darin, daß, je nachdem, welches Prädikat im Satze auftritt, auch in der Funktion des Satzsubjektes eine Wandlung eintritt, zeigt es sich, wie die Elemente des Satzsinngehaltes sich aneinander anpassen und in dieser Anpassung eine Sinneinheit bilden, so daß in jedem Falle dieselbe Gesamtfunktion des Satzes 1

Von der „Behauptungsfunktion" der „Kopula" — vgl. Pfänder, „Logik", I.e. S.182 — sehen wir hier ab, da wir nur einen Aussage- und nicht einen Behauptungeeatz analysieren. 2 Ob der sog. „rein nominale Satz", der in manchen indogermanischen Sprachen oft verwendet wird, von dem jetzt analysierten, die „Kopula" enthaltenden Satz seinem Sinngehalt nach zu unterscheiden ist, scheint mir zweifelhaft zu sein. Nur darin könnte ich einen Unterschied zwischen ihnen sehen, daß das Prädikat des rein nominalen Satzes seine verbale Funktion in impliziter Weise ausübt, während sie eben in Sätzen des zweiten Typus zur Explizierung gelangt. Daß der rein nominale Satz kein elliptisches Gebilde ist, darin wird K. Brugmann wohl recht haben (Lo. S.62).

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zur Auswirkung gelangt: eine nominal-verbale Entfaltung eines ,, S achverhaltes' '. Damit wäre eine der wesentlichen und jedenfalls die für uns wichtigste Funktion des Aussagesatzes umschrieben. Er ist in sich eine Sinneinheit, deren Besonderheit in der Ausübung der eben angedeuteten Funktion besteht1. In ihr zeigt sich zugleich die eigentümliche Art der Intentionali tat des Satzsinnes, die wir noch mit einigen Worten kennzeichnen müssen. Sie ist weder eine rein nominale, direkt hinweisend-bestimmende, noch eine reih verbale, entfaltende, sondern sie ist eine ganz spezifische, deren Besonderheit aber rein herauszustellen und intuitiv faßbar zu machen, eigene umfangreiche Analysen erforderte. So begnügen wir uns hier mit dem Hinweis, daß sie in einer eigentümlichen Synthese der beiden unterschiedenen Intentionalitätsarten — der nominalen und der verbalen — besteht. Dabei prävaliert aber immer das verbale Moment2. Ihr Korrelat ist auch ganz einzigartig: es ist kein „Gegenstand", aber auch kein reines „Verhalten" (das entworfen wäre, ohne daß es Verhalten eines Etwas wäre), das dem isolierten Verbum finitum entspräche. Es ist ein „ S a c h v e r h a l t " , wie man von mehreren Seiten treffend sagte3. ad 2. Die Leistung des Satzes beruht auf seiner Gesamtfunktion: ein Satzkorrelat wird durch sie intentional geschaffen und damit zugleich auch eine „Zuordnung" zu ihm. Insbesondere der vom Satz geschaffene und entfaltete Sachverhalt ist dem Satzsinngehalt gegenüber t r a n s z e n d e n t , aber er gehört ihm doch wesensmäßig zu. Er ist mit anderen Worten in seinem Bestehen wesensmäßig auf den Satz bzw. auf dessen Sinngehalt relativ, er findet in ihm sein Seinsfundament. Also : kein entfalteter Sachverhalt ohne einen Satz 1 Wenn es sieh um eine vollständige Theorie des Satzes handelte, müßte man ausführlich zeigen, daß diese Funktion durch jeden Satz — welcher Form und welchen Inhalte auch immer — ausgeübt wird. Und es ist gewiß keine leichte Aufgabe, einerseits die sehr mannigfachen Modifikationen und Komplikationen dieser Funktion, andererseits ihre Dieselbigkeit in allen diesen Abwandlungen zu zeigen. Aber dies würde uns hier zu weit von unserem Hauptthema ablenken. 2 In dieser Hinsicht hat wohl Fr. N e u m a n n , der das Verbum für das satzbildende Element hält, recht; vgl. „Die Sinneinheit des Satzes und das indogermanische Verbum", Festschrift für Husserl, S. 297 ff. 3 Von wem dieser Terminus eingeführt wurde, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls hat er sich seit den durch die Phänomenologen — Husserl, R e i n a c h , P f ä n d e r — durchgeführten Untersuchungen in der philosophischen Sprache eingebürgert. A. Meinong, der sich jedenfalls vor Reinach mit intentionalen Satzkorrelaten beschäftigt hat, benutzt den Terminus: „Objektiv". Auch K. S t u m p f verwendet den Terminus „Sachverhalt".

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und kein Satz ohne ein entfaltetes Satzkorrelat. Zu beachten ist noch: Diesen durch den Satz entfalteten und geschaffenen Sachverhalt muß man von dem in irgendeiner, dem Satz gegenüber seinsunabhängigen Seinssphäre „objektiv" bestehenden, in ihr „verwurzelten" Sachverhalt streng unterscheiden1. Wir werden auch den ersteren den „rein intentionalen Sachverhalt" oder das „rein intentionale Satzkorrelat" nennen. Daß beide „in Beziehung" gesetzt werden können und daß dadurch auch der Satz zu einem objektiv bestehenden Sachverhalt eine „Zuordnung" erhalten kann, werden wir noch später sehen (vgl. §§ 22 und 25). ad 3. Endlich : Jeder Satz kann die „Kundgabe-" und die „Auslösungsfunktion"2 in kommunikativer Rede auf mehr oder weniger ausgeprägte, in den Vordergrund tretende Weise ausüben. Daß aber nicht ein jeder Satz sie notwendig ausüben muß, zeigen am besten diejenigen Fälle, in welchen wir Sätze bilden, ohne sie an jemanden zu „richten" oder sie jemandem auch auf ganz unbeabsichtigte Weise kundzugeben3. Nur diejenigen Sätze, in welchen die Auslösungsfunktion vermöge ihrer besonderen Sinngehalte in den Vordergrund tritt, verlieren ihren eigentlichen „Sinn" (d.h. hier „Zweck"), wenn sie im einsamen, nicht veräußerten Denken gebildet werden. Um einige, für unsere Zwecke wichtige Sachlagen, welche mit dem Aufbau und der Leistung des Satzes und der Satzzusammenhänge in enger Beziehung stehen, leichter darzustellen, wird es von Nutzen sein, schon jetzt einiges über den Aufbau des rein intentionalen Korrelates des Satzes und der rein intentionalen Gegenständlichkeit überhaupt zu berichten, obwohl diese eigentlich schon zu der nächsten Schicht des literarischen Werkes gehören. Wir gehen jetzt dazu über. § 20. Der rein i n t e n t i o n a l e Gegenstand eines s c h l i c h t e n Meinungsaktes. Unter einer rein intentionalen Gegenständlichkeit4 verstehen wir eine Gegenständlichkeit, welche durch einen Bewußtseinsakt 1

Vgl. meine „Essentialen Fragen", S.3f. Vgl. K. Bühler, I.e. 3 Dasselbe Problem, auf das Wesen der Bedeutung zugespitzt, behandelt ausführlich E. Husserl, „Log. Unters.", Bd.II, Unters. I. 4 Über intentionale Gegenstände vgl. vor allem E. Husserl, „Ideen zu einer reinen Phänomenologie", passim. 2

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bzw. eine Mannigfaltigkeit von Akten oder endlich durch ein Gebilde (z.B. Wortbedeutung, Satz), das die verliehene Intentionalität in sich birgt, a u s s c h l i e ß l i c h vermöge der ihnen immanenten ursprünglichen oder nur verliehenen Intentionalität in einem übertragenen Sinne „geschaffen" wird und in den genannten Gegenständlichkeiten den Ursprung ihres Seins und ihres gesamten Soseins hat. In welchem Sinne hier von einer „schöpferischen" Leistung des Bewußtseinsaktes und korrelativ von einem „Geschaffensein" und Sein der rein intentionalen Gegenständlichkeit gesprochen werden darf, werden wir im folgenden Gelegenheit haben, genauer zu erwägen (S. 127f.). Vorläufig soll die eben gegebene Bestimmung nur dazu dienen, die rein intentionale Gegenständlich keit d e r I d e e n a c h von den dem Bewußtsein gegenüber seinsautonomen 1 Gegenständlichkeiten zu unterscheiden. Für die letzteren ist es durchaus zufällig ( f a l l s sie überhaupt existieren), daß sie zum Treffpunkt eines Bewußtseinsaktes und dadurch in einer sekundären Weise zu „auch intentionalen" Gegenständlichkeiten werden. Das in der modernen Literatur so oft verwendete Wort „intentional" ist vieldeutig. Einmal heißt „intentional" dasjenige, was eine „Intention" in sich birgt. In diesem Sinne sind ζ. B. die Bewußtseinsakte „intentional". Wo die Gefahr eines MißVerständnisses vorliegt, werden wir in diesen Fällen statt „intentional" den Ausdruck „Intentions-" (z.B. „Intentions-Akt") verwenden. Das andere Mal heißt „intentional" diejenige Gegenständlichkeit, welche den Treffpunkt einer Intention bildet. In diesem letzteren Sinne sind dann noch „rein intentionale" und „auch intentionale" Gegenständlichkeiten zu unterscheiden. Diesem Unterschied wollen die zu Anfang dieses Paragraphen gegebenen Bestimmungen gerecht werden. Endlich sind noch unter den „rein intentionalen" Gegenständlichkeiten die „ursprünglich rein intentionalen" und die „abgeleitet rein intentionalen" Gegenständlichkeiten zu unterscheiden. Die ersteren schöpfen den Ursprung ihres Seins und Soseins d i r e k t in den durch ein Ich vollzogenen konkreten Bewußtseinsakten, die letzteren verdanken ihr Sein und Sosein den eine „geliehene" Intentionalität in sich bergenden Gebilden, insbesondere den Bedeutungseinheiten verschiedener Stufe. Da derartige Gebilde auf die ur1 Vgl. meine „Bemerkungen zum Problem Idealismus-Realismus", Festschrift für E. Husserl.

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sprüngliche Intentionalität der Bewußtseinsakte zurückweisen, so haben auch die abgeleitet rein intentionalen Gegenständlichkeiten ihren l e t z t e n Seinsursprung in den Bewußtseinsakten1. Die rein intentionalen Gegenständlichkeiten sind den entsprechenden und überhaupt allen Bewußtseinsakten gegenüber in dem Sinne „transzendent", daß kein reelles Element (oder Moment) des Aktes2 ein Element der rein intentionalen Gegenständlichkeit ist und umgekehrt. Trotzdem gehören sie den entsprechenden Akten, aus denen sie ihren Ursprung schöpfen, zu, bilden ein aus dem Wesen des Bewußtseinsaktes fließendes und in diesem Sinne notwendiges „intentionales Korrelat" dieser Akte. Einen Spezialfall der rein intentionalen Gegenständlichkeiten bilden die ursprünglich rein intentionalen Gegenstände, die einem s c h l i c h t e n Meinungsakte (oder einer Mannigfaltigkeit von ihnen) zugehören. Mit ihnen werden wir uns zuerst beschäftigen. Vor allem muß in jedem rein intentionalen Gegenstande zwischen seinem Gehalte und seiner Struktur, die ihn als einen rein i n t e n t i o n a l e n auszeichnet, unterschieden werden. Man könnte auch von seinem Gehalte und dem rein intentionalen Gegenstande selbst reden oder endlich seinem Gehalte die spezifischen Intentionalitätscharaktere gegenüberstellen3. Im einzelnen handelt es sich um folgendes : Nehmen wir der Einfachheit halber den rein intentionalen Gegenstand eines schlichten Meinungsaktes, in welchem wir einen bestimmten „Tisch" „bloß vorstellen". Zu dem Gehalte dieses Gegenstandes gehört: 1. die formale Dingstruktur, 2. der Gesamt1 Sowohl die Intentionalität selbst wie auch die rein intentionalen Gegenstände sind natürlich nicht von mir entdeckt worden. Ohne die Untersuchungen E. Husserls, A. Pfänders und letzten Endes diejenigen Fr. B r e n t a n o s und K. Tward o w s k i s wäre ich auf diesen Qedanken nicht gekommen. Ich versuche im folgenden nur das Wesen der rein intentionalen Gegenständlichkeiten genauer herauszustellen und ihren „Begriff" von manchen Verunreinigungen zu befreien. Zwischen „rein intentionalen" und „auch intentionalen" Gegenständen unterscheidet Max Scheler, vgl. den Artikel „Idealismus-Realismus", Philos. Anzeiger II, 3. 2 Im Sinne E. Husserls („Log. Unters., II.Bd.). Über die Transzendenz der intentionalen Gegenstände vgl. E. Husserl, „Ideen zu einer reinen Phänomenologie", §§ 41 und 42. 3 In meinen „Essentialen Fragen", wo ich mich mit einem Spezialfall der den Sätzen entsprechenden rein intentionalen Gegenständlichkeiten (ich nannte sie: formale Objekte des Urteile bzw. der Frage) beschäftigt habe, sprach ich statt vom Gehalt und von der Struktur des intentionalen Gegenstandes von dessen „Materie" und „Form", wodurch ich dann mit einem unvermeidlichen Doppelsinn dieser Termini zu kämpfen hatte. Vgl. 1. c. S.3 und 8 f.

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bestand der materialen Bestimmtheiten, die, in dieser Struktur stehend, das Ganze zu einem „Tisch" qualifizieren, 3. irgendein Charakter des Seins, je nachdem wir einen „realen" 1 oder einen ganz fiktiven „Tisch" „vorstellen". In der formalen Dingstruktur tritt in diesem Falle als ihr Hauptmoment der selbständige Träger von sachhaltigen Beschaffenheiten bzw. Merkmalen auf, der selbst durch ein qualitatives Moment (die „Tischheit") als seine „unmittelbare μορφή"2 zur Natur 3 des betreffenden Gegenstandes bestimmt wird. Aber dieser Träger von Beschaffenheiten des vermeinten „Tisches" bildet nur einen sozusagen ausgezeichneten Punkt des G e h a l t e s des betreffenden rein intentionalen Gegenstandes und ist von dem Träger d i e s e s G e g e n s t a n d e s s e l b s t verschieden. Der betreffende rein intentionale Gegenstand als solcher hat eben für sich selbst einen Träger, und zwar einen Träger s e i n e r Beschaffenheiten bzw. Merkmale, die von denjenigen Beschaffenheiten, die in seinem G e h a l t auftreten und dem vermeinten „Tisch" zukommen, v e r s c h i e d e n sind. Zu den ersteren gehört es z.B., daß der rein intentionale Gegenstand nur ein „Vermeintes" ist, das dem betreffenden Bewußtseinsakte notwendig zugehört, daß er einen „Gehalt" in sich birgt (und zwar gerade diesen genau bestimmten Gehalt) usw. — Es ist somit eine merkwürdige Doppelseitigkeit und „Doppelträgerschaft" im Aufbau des rein intentionalen Gegenstandes vorhanden, und sie bildet selbst eine charakteristische formale Eigenheit des rein intentionalen Gegenstandes als solchen (sie gehört also n i c h t zu seinem Gehalt), eine Eigenheit, die bei den, gegenüber den Bewußtseinsakten seinsunabhängigen, individuellen Gegenständen nicht nur nicht vorhanden, sondern auch ihrem Wesen nach ausgeschlossen ist. Die Rede von den zwei in einem rein intentionalen Gegenstande vorfindbaren Trägern muß aber richtig verstanden werden. Vor allem hat von den beiden unterschiedenen Trägern derjenige das ontologische Vorrecht, welcher Träger der Beschaffenheiten des rein intentionalen Gegenstandes als s o l c h e n ist. Dagegen spielt der zweite Träger (derjenige der „tischhaften" Beschaffenheiten) in dem rein intentionalen Gegenstande als solchem nur die untergeordnete Rolle eines ausgezeichneten Moments im Rahmen seines 1

Genauer „als real vermeinten". Vgl. J. Hering, „Bemerkungen über daa Wesen, die Wesenheit und die Idee". Jahrbuch f. Philos., Bd.IV. 3 Vgl. meine „Essentialen Fragen", Kap. II. 2

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Gehalts. Ist das H a b e n eines Gehaltes eine Beschaffenheit des rein intentionalen Gegenstandes 1 , so gehört der „Tischträger" dem Bereiche des von ihm Gehabten an und übt in i h m selbst keine Trägerrolle aus. Er übt sie nur den anderen Momenten des Gehaltes (den Eigenschaften des vermeinten „Tisches") gegenüber aus, und auch dies „tut" er, z.B. im Unterschied zu der Trägerrolle eines seinsautonomen Gegenstandes, nur in einem sehr modifizierten Sinne (darüber später genauer2). Ferner: Um die beiden Träger sichtig zu machen, bedarf es einer besonderen Weise des Vollzugs des Meinungsaktes. G e w ö h n l i c h kommen uns die IntentionalitätsStrukturen und -Charaktere des rein intentionalen Gegenstandes und insbesondere sein Träger fast gar nicht zu Gesicht. Wir sind vorzugsweise direkt auf das gerichtet, was wir oben den „Gehalt" nannten, und haben es dann nicht a l s einen G e h a l t , sondern einfach als etwas Gegenständliches vor uns, dessen Träger eben das Trägermoment des G e h a l t e s des betreffenden rein intentionalen Gegenstandes als solchen ausmacht. Und unter dem Aspekte des „Was" dieses Moments wird dann nicht der Gehalt des betreffenden intentionalen Gegenstandes allein (wie es eigentlich sein sollte), sondern der g a n z e intentionale Gegenstand vermeint. In diesen Fällen spielt mit anderen Worten eben dieses durch eine unmittelbare μορφή qualifizierte Moment die Rolle des sozusagen eigentlichen Trägers des Vermeinten, wogegen der echte Träger des rein intentionalen Gegenstandes als solchen im latenten, fast verborgenen Zustand verbleibt. Erst eine besondere, sozusagen die v o l l e Leistung des Bewußtseinsaktes erschöpfende Vollzugsweise des Aktes macht den eigentlichen Träger des intentionalen Gegenstandes voll sichtig und verschiebt das Verhältnis der beiden Träger zueinander im Sinne unserer obigen Ausführungen. Diese merkwürdigen, nur bei rein intentionalen Gegenständlichkeiten vorfindbaren Wandlungen, die in ihnen bei der Änderung der Vollzugsweise des schlichten Meinungsaktes vor sich gehen, wäre man vielleicht geneigt zu leugnen und im Zusammenhang damit auch das Vorhandensein eines Trägerpaares in Abrede zu stellen. 1 Es wäre natürlich falsch, diesen Gehalt s e l b s t als eine Beschaffenheit des rein intentionalen Gegenstandes zu betrachten. Aber es ist auch schwer, diesen Gehalt für einen Teil dieses Gegenstandes zu halten, und zwar in dem Sinne, in welchem ein Fuß Teil des Tisches ist. Da liegen ganz besondere Sachlagen vor, die noch für sich untersucht werden müßten. 2 Vgl. Kapitel 7, § 33.

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Denn bei der im täglichen Leben natürlichen Einstellung auf die seinsautonomen Gegenständlichkeiten ist man geneigt, die bei ihnen vorgefundene gegenständliche Struktur auf alle Gegenständlichkeiten überhaupt auszudehnen und die Behauptung von dem Vorhandensein der beiden Träger als absurd zurückzuweisen. Höchstens würde man zugeben, daß ein Schein ihres Vorhandenseins bei den rein intentionalen Gegenständen dadurch entsteht, daß wir eine neuerliche Objektivierung vollziehen, indem wir, statt schlicht ein Intentionsmeinen zu vollziehen, uns in einem zweiten Akte intentional auf das Korrelat des ersten Meinens richten. Aber dann haben wir es — würde man sagen — im Grunde nicht mit e i n e m , sondern mit zwei verschiedenen rein intentionalen Gegenständen zu tun, die beide je einen Träger haben. Darauf ist zu antworten: Es ist natürlich prinzipiell möglich, das intentionale Korrelat eines Meinungsaktes einer neuerlichen, sozusagen höherstufigen Objektivierung zu unterwerfen. Sie ist aber nicht nötig, um den rein intentionalen Gegenstand in seiner eigentümlichen Doppelstruktur zur Erfassung zu bringen. Andererseits wird diese doppelseitige Struktur nicht erst durch eine zweistufige Objektivierung hervorgebracht. Um die Doppelstruktur zu erfassen, ist nur nötig, den schlichten Meinungsakt auf etwas modifizierte, die volle Leistung des Aktes zu Gesicht bringende Weise zu vollziehen, so daß die spezifisch intentionalen Charaktere und Strukturen aus ihrem latenten und gewöhnlich fast verborgenen Zustande ins volle Licht gestellt werden. Natürlich findet dabei auch eine Blickzuwendung zu diesen Charakteren statt. Sie hat aber nur ihre Aufhellung zur Folge und ist mit einem selbständigen Erfassungsakt, welcher einen eigenen rein intentionalen Gegenstand entwürfe, nicht zu verwechseln. Wenn man dagegen einen zweiten, auf den intentionalen Gegenstand eines anderen Meinens gerichteten Meinungsakt vollzieht, so gibt es dann weder einen e i n f a c h e n , rein intentionalen Gegenstand, noch zwei derartige Gegenstände, sondern ein rein intentionales Korrelat von zwei a u f e i n a n d e r g e b a u t e n Akten1, welches eine viel kompliziertere formale Struktur aufweist, als es diejenige des einfachen rein intentionalen Gegenstandes ist.

1

Und zwar so, daß der sozusagen „untere" Meinungsakt neben seinem intentionalen Korrelat und als etwas mit ihm wesentlich Verbundenes auch zu einem intentional vermeinten Gegenstand wird, wenn er auch nicht für einen rein intentionalen Gegenstand gehalten werden darf.

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Die bei der Änderung der Vollzugsweise des Aktes im Bereich des rein intentionalen Gegenstandes vor sich gehenden Aufhellungen und Wandlungen machen uns übrigens erst auf das eigentümliche Wesen des rein intentionalen Gegenstandes aufmerksam. Sie zeigen nämlich, in welchem Maße er von den Bewußtseinsakten abhängig ist, wie jede leiseste Änderung sowohl in der Weise des Vollzugs wie auch in dem Sinngehalt des Aktes notwendig eine Wandlung in dem Ganzen des zugehörigen rein intentionalen Gegenstandes hervorbringt. Es zeigt sich mit anderen Worten darin ganz deutlich, daß der rein intentionale Gegenstand in seinem gesamten Sein und Sosein — trotz seiner Transzendenz — auf das Sein und Sosein des zugehörigen Bewußtseinsaktes angewiesen ist. Er entspringt aus dem Vollzug bestimmt gearteter Bewußtseinsakte, die zu seiner „Konstitution" als eines diese Akte transzendierenden Ganzen führen. Aber gerade in diesem „Angewiesensein auf Bewußtseinsakte", in diesem „Vollkommen-in-dem-Machtbereich-des-Bewußtseins-Ich-Liegen" und andrerseits in dem Mangel einer echten schöpferischen Kraft des reinen Bewußtseins dieses Typus, den wir Menschen in unseren Erlebnissen zu realisieren imstande sind, liegt der letzte Grund dafür, daß der rein intentionale Gegenstand als solcher in sich selbst im Sinne der Seinsautonomie ein „Nichts" ist, daß er von sich aus weder zu sein, noch sich zu verändern vermöchte. Er wird — sagten wir — durch das intentionale Meinen „entworfen", „geschaffen"; aber dieses Schaffen ist, dem eigenen Wesen des intentionalen Meinungsaktes nach, kein echtes Schaffen, Hervorbringen, kein solches Hervorbringen nämlich, bei welchem das „Geschaffene" die ihm durch den Akt zugewiesenen Bestimmtheiten in sich i m m a n e n t e n t h i e l t e . Sie sind ihm lediglich zugewiesen, und dieses Zuweisen ist nicht in dem Sinne schöpferisch, daß es die dem Gegenstande — und insbesondere dem Gehalte des rein intentionalen Gegenstandes — zugewiesenen Bestimmtheiten in ihm zu „verkörpern" vermöchte. Bei dem nur intentionalen „ZugewiesenHaben" von Bestimmtheiten enthält der rein intentionale Gegenstand in seinem Gehalte nichts, was ihm ein eigenes Seinsfundament geben könnte. Er ist im echten Sinne seins-heteronom1. Insofern 1 Über die Seins-Heteronomie und -Autonomie vgl. meine Arbeit „Bemerkungen sum Problem Idealismus-Realismus'', I.e. S.165. Wo wir von der „Seinsheteronomie" sprechen, spricht Frau Conrad-Martius von der „immanenten Hinfälligkeit". Bei der Analyse der Seinsweise des bloß Halluzinierten sagt sie: „Das immanent Hinfällige kommt überhaupt nicht ,zu sich selbst', sondern bleibt Wurzel- und

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sind auch die beiden von uns unterschiedenen Träger keine Träger im echten Sinne. Der rein intentionale Gegenstand ist keine „Substanz". Wenn man so sagen dürfte, täuschen uns manche dem rein intentionalen Gegenstande zugewiesenen Momente den Habitus einer „Trägerschaft" nur vor, sie scheinen eine Rolle zu spielen, die sie wesensmäßig nicht wirklich zu spielen vermögen, weil dazu die echte Immanenz der Eigenbestimmtheiten in dem betreffenden Gegenstande unentbehrlich ist. Nur die in einem Gegenstande im echten Sinne immanent enthaltenen qualitativen und formalen Momente können ihn „bestimmen", ihn zu einem solchen und solchen gestalten. Der rein intentionale Gegenstand ist, mindestens seinem Gehalte nach, nicht im strengen Sinne „bestimmt". Im Vergleich zu einer jeden seinsautonomen Gegenständlichkeit ist er ein „Schein", ein Schein jedoch, der nicht in einer dem reinen Bewußtsein transzendenten realen Sphäre seinen Seinsgrund hat, sondern ein „Schein", der sein scheinhaftes Sein und Sosein aus der entwerfenden Intention (aus der „Sinngebung", wie Husserl sagt) des Meinungsaktes schöpft1. Andererseits ist der rein intentionale Gegenstand doch nicht ein v ö l l i g e s Nichts, ein Nichts, das in keiner Seinssphäre seinen Stütz- und Anknüpfungspunkt hätte. Wir werden noch Gelegenheit haben, darüber zu sprechen. Vorläufig ist noch zu erinnern2, daß zwar jeder Meinungsakt seinen eigenen rein intentionalen Gegenstand „hat", daß aber trotzdem auch eine diskrete Mannigfaltigkeit von Akten einen und denselben rein intentionalen Gegenstand haben kann. Der Gegenstand ist dann individuell derselbe, d.h. der Träger seines Gehaltes ist als identisch derselbe vermeint. Dabei kann sich der Gehalt sonst mindestens in dem Sinne verändern, daß er bei einer neuerlichen Vermeinung eine gewisse „Bekanntheitsqualität" an sich trägt. Die Veränderungen können aber viel umfangreicher und durchgreifender sein. Entweder beschränken sie sich auf eine Näherund Weiterbestimmung oder führen sogar zu einer Andersbestimmung, genauer, Umgestaltung des Gehaltes. Es ist natürlich ein hier kernhaft .eingesenkt' in den es nur aspektmäßig, also wesenlos produzierenden Geist, es wird überhaupt nicht eigentlich ,ins Dasein eingeführt'." Vgl. Realontologie, Jahrb. f. Philos., Bd. VI, S.185. 1 Es ist ungeheuer schwierig, diesen Scheincharakter genau zu beschreiben, weil alle Ausdrücke, die wir verwenden können, dank ihrer gewöhnlichen Verwendung zur Bezeichnung seinsautonomer Gegenständlichkeiten, in ihrem Sinngehalt den in den seinsautonomen Sphären vorliegenden Sachlagen angepaßt sind. 2 Vgl. E. Husserl, „Ideen" passim. 128

nicht näher zu behandelndes Problem, welche Andersbestimmungen bei einem einmal festgelegten und festgehaltenen „Was" des betreffenden rein intentionalen Gegenstandes möglich sind. Zu beachten ist hier nur, daß der Bereich dieser Möglichkeiten ein anderer bei den rein intentionalen, als bei den seinsautonomen, auch intentionalen Gegenständlichkeiten ist. So gibt es z.B. kein reales „hölzernes Eisen" oder ideales „rundes Quadrat", während rein intentionale Gegenstände mit derartigen Gehalten durchaus möglich sind, wenn sie auch nicht anschaulich vorgestellt werden können. Will sich das Bewußtseiiissubjekt im Rahmen der anschaulichen Vorstellbarkeit bewegen, so ist es — freilich nur durch den eigenen Entschluß, an dem einmal vermeinten („gestifteten", wie Husserl sagt) rein intentionalen Gegenstand festzuhalten — in bestimmten durch das Was des Gehaltes vorgezeichneten Grenzen gebunden. Läßt es aber einmal diesen Entschluß fallen, so erweitern sich die Grenzen, innerhalb welcher es frei ist, z.B. in der Weise, daß es sich innerhalb der von einem besonderen Typus der Gegenständlichkeit (also z.B. demjenigen der „realen" Gegenständlichkeiten) vorgeschriebenen Grenzen frei bewegen kann. Einen nicht zu übersehenden Grenzfall dieser Möglichkeiten bildet die „Entstiftung" eines früher einmal gestifteten rein intentionalen Gegenstandes: In einem besonderen Akte wird der Gegenstand als „nichtig", als „nicht mehr vorhanden" erklärt, wobei das intentionale Korrelat eines solchen aufhebenden Aktes ganz merkwürdige Sachlagen in sich birgt1. Besonders interessant ist es, daß ein schon einmal „entstifteter", „aufgehobener" Gegenstand als aufgehobener aufs neue vermeint werden kann.

1 Dem entgegen behauptet H. Conrad -Martius (vgl. Realontologie 1. c. S. 182): „Hamlet kann — poetisch einmal geschaffen — nicht vernichtet werden; denn er besitzt kein vernichtbares Selbst." — Natürlich, so „vernichtet" wie ein realer Mensch kann der Shakespearesche Hamlet nicht vernichtet werden, eben weil er nicht seinsautonom ist. Aber das schließt nicht aus, daß Hamlet aus seinem in gewissem Sinne scheinhaften, eben seinsheteronomen Sein durch ein intentionales „nicht" vertrieben werden kann. Der Dichter tut es oft seinen Kreationen gegenüber, die er verwirft oder fallen läßt als etwas, was seinen künstlerischen Willen nicht befriedigt. Frau Conrad-Martius macht übrigens dabei einen Unterschied zwischen dem dichterisch geschaffenen Hamlet und einem bloß halluzinierten Gegenstand und sieht eine wesentliche Verwandtschaft zwischen dem dichterisch Geschaffenen und den idealen Gegenständlichkeiten, wie etwa einem Dreieck, hinsichtlich ihrer Seinsweise. Meiner Ansicht nach ohne genügende Berechtigung. Aber dies ließe sich erst in einer systematisch entwickelten existentialen Ontologie zeigen (vgl. mein Buch über den „Streit um die Existenz der Welt", wo ich auch eine vertiefte Analyse des rein intentionalen Gegenstandes zu geben suchte).

9 Iiigarden, Das literarische Kunstwerk

129

Bei rein intentionalen Gegenständen, die einer Mannigfaltigkeit von diskreten Meinungsakten hinsichtlich des „Was" ihres Gehaltes als identisch Dasselbe entsprechen, bildet sich eine eigenartige „Transzendenz" aus, die mit der früher (S. 123) festgestellten Transzendenz eines jeden rein intentionalen Gegenstandes den zugehörigen Akten gegenüber nicht zu verwechseln ist. Ihr Typus ist von dem Typus des von der Gehaltsseite her aufgefaßten Gegenstandes abhängig. Z. B. : Wir fingieren — etwa den Plan eines Romans entwerfend — einen jungen Menschen, der durch seine inneren Anlagen unvorbereitet ist, in gewissen schwierigen Lebenssituationen sich siegreich durchzukämpfen. Inzwischen kommt ein schicksalsschweres Ereignis, angesichts dessen er sich vollkommen auf seine eigenen Kräfte angewiesen sieht. Die schweren inneren und äußeren Kämpfe, die er dabei durchmachen muß, entwickeln in ihm eine neue, früher vielleicht nur keimhaft in ihm verborgene Kraft, so daß er endlich, vollkommen verändert, als ein reifer und starker Mann aus der Krisis hervorgeht. Um dies alles im einzelnen zu konzipieren, müssen wir eine ganze Mannigfaltigkeit von Meinungsakten vollziehen, in welchen der „Held" nacheinander in immer neuen Situationen und als jeweils etwas veränderter und verschiedene psychische Zustände passierender, doch als identisch derselbe (dieselbe Person) vermeint wird. Dabei steht er in den einzelnen in der Aktmannigfaltigkeit „später" auftretenden Akten nicht als nur mit denjenigen Bestimmtheiten ausgestattet da, die in dem betreffenden Akte gerade explizite vermeint sind, sondern zugleich als derjenige, der „früher" einmal ein „anderer" war und der früher gerade solche und nicht andere Schicksale durchgemacht hat usw. Aber nicht nur im Hinblick darauf, was er „früher" war und welche Eigenschaften er „hatte", sondern auch in bezug auf seine „jetzigen" Eigenschaften ist er so vermeint, daß der Bereich seiner Eigenschaften sich nicht in dem erschöpft, was in dem jeweiligen Akte gerade explizite vermeint wird. Der Gesamtgehalt dieses rein intentionalen Gegenstandes geht also in verschiedenen Richtungen über das hinaus, was dem expliziten Meinungsgehalte des jeweiligen einzelnen Aktes entspricht und was den Gehalt des rein intentionalen Gegenstandes ausmachen würde, der ausschließlich dem betreffenden Akte zugehört (wenn die übrigen Akte überhaupt nicht vorhanden wären). Der Gesamtgehalt des in vielen Akten identisch vermeinten Gegenstandes „transzendiert" den Gehalt des Gegenstandes, der zu einem isolierten Meinungsakte gehören würde. Oder 130

dasselbe anders beleuchtet: Da der einzelne Akt in unserem Falle nicht isoliert ist und da er an einer bestimmten Stelle der zeitlich entfalteten Aktmannigfaltigkeit als ihr Glied steht, so weist der nur durch den expliziten Meinungsgehalt des Aktes bestimmte intentionale Gehalt über sich selbst hinaus auf die übrigen Momente des Gesamtgehalts des in vielen Akten identisch vermeinten intentionalen Gegenstands. Darin liegt eine besondere G e h a l t s i n t e n t i o n a l i t ä t . Woher sie stammt und wie sie überhaupt möglich ist, das sind besondere phänomenologische Probleme, die hier nicht behandelt werden können.

§ 21. Die

a b g e l e i t e t e n rein i n t e n t i o n a l e n der B e d e u t u n g s e i n h e i t e n .

Korrelate

Wir können hier nicht auf die verschiedenen Typen der ursprünglichen rein intentionalen Gegenständlichkeiten, die verschieden gebauten Bewußtseinsakten entsprechen, eingehen. Wichtiger für unsere Zwecke sind die Modifikationen, welche die abgeleiteten, durch die Wortbedeutungen geschaffenen, rein intentionalen Gegenständlichkeiten von den ursprünglichen unterscheiden. Sowohl isolierte Worte, wie ganze Sätze, zeichnet — wie schon gesagt — die geliehene, ihnen durch die Bewußtseinsakte verliehene Intentionalität aus. Sie erlaubt den rein intentionalen Gegenständlichkeiten, sich sozusagen von dem unmittelbaren Kontakt mit den im Vollzug begriffenen Bewußtseinsakten zu befreien und sich dadurch eine relative Unabhängigkeit den letzteren gegenüber zu verschaffen. Als rein intentionale bleiben die durch die Bedeutungseinheiten „geschaffenen" Gegenständlichkeiten seinsheteronom und seinsabhängig, aber diese ihre Seinsrelativität weist direkt auf die den Bedeutungseinheiten immanente Intentionalität und erst mittelbar auf diejenige der Bewußtseinsakte zurück. Durch diese Verschiebung ihrer Seinsrelativität gewinnen sie im Vergleich mit den ursprünglichen rein intentionalen Gegenständlichkeiten einen Vorzug. Denn während die letzteren in dem Sinne „subjektive" Gebilde sind, daß sie in ihrer Ursprünglichkeit nur dem einen Bewußtseinssubjekt unmittelbar zugänglich sind, welches die sie schaffenden Akte vollzogen hat, und daß sie in ihrer notwendigen Zugehörigkeit zu konkreten Akten von den letzteren nicht losgelöst werden können, sind die ersteren als Korrelate von Θ

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Bedeutungseinheiten „ i n t e r s u b j e k t i v " : sie können als identisch Dasselbe von verschiedenen Bewußtseinssubjekten vermeint bzw. erfaßt werden. Das hat seinen Grund darin, daß Worte (Sätze) und insbesondere Wortbedeutungen (Sinngehalte der Sätze) selbst intersubjektiv sind (vgl. Kapitel 14). Durch diese Ablösung von den konkreten, in der ursprünglichen Lebendigkeit und Fülle vollzogenen Bewußtseinsakten erleiden die intentionalen Korrelate der Bedeutungseinheiten auch verschiedene andere Modifikationen, von denen besonders eine für den Aufbau des literarischen Kunstwerkes wichtig ist. Sie liegt in einer gewissen S c h e m a t i s i e r u n g ihres Gehaltes. Die ursprünglichen rein intentionalen Gegenständlichkeiten gelangen gewöhnlich in Meinungsakten zur Vermeinung, die mit verschiedenen anderen Bewußtseinserlebnissen verwoben sind. So baut sich gewöhnlich der Meinungsakt auf verschiedenen a n s c h a u l i c h e n Inhalten auf und verwebt sich oft mit verschiedenen theoretischen und praktischen Stellungnahmen, er wird auch oft von mannigfachen Gefühlen und Willensakten begleitet usw. Dies alles hat zur Folge, daß der zugehörige rein intentionale Gegenstand in seinem Gehalte Fülle und Lebendigkeit erlangt und evtl. mit mannigfachen Gefühls- und Wertcharakteren ausgestattet wird, die über dasjenige, was der bloße Sinngehalt des schlichten Meinungsaktes entwirft, hinausgehen, aber trotzdem zu dem vollen Gehalte des betreffenden rein intentionalen Gegenstandes, der in diesem Falle das Korrelat des Gesamtbestandes der gerade sich entfaltenden Bewußtseinserlebnisse bildet, in ganz demselben Sinne gehören, wie der ausschließlich durch den Inhalt des Meinungsaktes bestimmte Teil des intentionalen Gehaltes1. Der Sinngehalt des Meinungsaktes kann natürlich auch so gestaltet werden, daß der entsprechende rein intentionale Gegenstand in seinem Gehalte als ein mit diesen verschiedenen Charakteren ausgestatteter bzw. als ein im besonderen Anschauungsmaterial vorgestellter vermeint wird, wobei er aber dadurch allein nicht die anschauliche Fülle und Lebendigkeit erlangt. Gewöhnlich werden diese verschiedenen Intentionsmomente in den Inhalt des Meinungsaktes nicht aufgenommen, der zugehörige ursprüngliche intentionale Gegenstand erlangt aber trotzdem seine Anschaulichkeit, Fülle und seinen emotionalen Charakter aus den anderen Ele-

1 Diesen letzteren Gehalt bzw. Gehaltsteil hat wohl E. Husserl im Auge, wenn er vom „noematischen Kern" spricht. Vgl. „Ideen", § 99.

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menten des gesamten Erlebnisses, in das die betreffende Meinung eingebettet ist, bzw. er bekommt seine intentionalen emotionalen oder Willenscharaktere aus dem Erlebnishintergrund, der das betreffende Meinen umgibt. Sie werden dann freilich in dem Gehalte nicht explizite erfaßt, sie sind aber in ihm doch „unthematisch" — um das Wort Husserls zu benutzen — vorhanden. Sobald aber der rein intentionale Gegenstand seinen unmittelbaren Kontakt mit dem Erlebnisse verliert (d.h. wenn er ein abgeleiteter intentionaler Gegenstand ist) und seine unmittelbare Seinsstütze in der geliehenen Intentionalität einer Wortbedeutung (bzw. eines Satzsinngehaltes) findet, verliert er sowohl seine phantasiemäßige Anschaulichkeit wie auch die mannigfachen Gefühlsund Wertcharaktere, da auch die volle Wortbedeutung nur dasjenige in sich enthält, was dem Inhalt des schlichten Meinungsaktes genau entspricht1. Es bleibt von dem ursprünglich vermeinten rein intentionalen Gegenstand sozusagen nur ein Skelett, ein Schema übrig. Dies ist für das literarische Kunstwerk, in welches die abgeleitet rein intentionalen Gegenständlichkeiten eingehen, ein besonders mißlicher Umstand, und es entsteht die Frage, ob die dadurch für das literarische Kunstwerk entstehende Einbuße mittels anderer, nicht-bedeutungsmäßiger Elemente des literarischen Kunstwerks rückgängig gemacht werden kann. Wir werden später sehen, daß es wirklich der Fall ist, und wir haben übrigens schon z.T. das hierbei relevante Material andeutungsweise gesammelt.

§ 22. Das rein i n t e n t i o n a l e Korrelat des Satzes. Das rein intentionale Korrelat des Satzes2 ist von den rein intentionalen Korrelaten der schlichten Meinungsakte bzw. der nominalen Wortbedeutungen in mancher Hinsicht verschieden. 1 Sofern es sich natürlich um eine Wortbedeutung handelt, in deren materialem Inhalt keine derartigen Charaktere bestimmt werden. 2 Man hat sich in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich mit den intentionalen Korrelaten der Behauptungesätze beschäftigt und dabei von „Sachverhalten" gesprochen. Da ich hier ein Wort haben will, das zur Bezeichnung des Korrelates eines b e l i e b i g e n Satzes brauchbar sein soll (was bei dem Wort „Sachverhalt" z.B. schon für die Korrelate der Fragesätze nicht der Fall ist), so wähle ich den allgemeinen Ausdruck „das rein intentionale Korrelat des Satzes". Spezialfälle dieses Korrelats bilden dann „Sachverhalte", „Probleme" usw. (Vgl. meine „Essentialen Fragen", Kap.I. S. lOf.)

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Es handelt sich also jetzt darum, die besondere Struktur der intentionalen Satzkorrelate, und insbesondere der „Sachverhalte", genauer zu umschreiben. Natürlich müssen wir uns hier — wie auch an vielen anderen Stellen unseres Buches — nur auf Beispielsanalysen beschränken, ohne eine allgemeine Theorie geben zu wollen, die alle Einzelheiten und möglichen Fälle berücksichtigt. Beschränken wir uns zunächst auf die Korrelate der Behauptungssätze, so ist hier vor allem — wie schon im § 19 bemerkt wurde — zwischen dem rein intentionalen Satzkorrelate und dem evtl. bestehenden „objektiven" Sachverhalte, welcher gegebenenfalls in einer dem Satz gegenüber seinsunabhängigen Seinssphäre besteht, zu unterscheiden1. Während der objektive Sachverhalt, falls er überhaupt besteht, in den existierenden Gegenständen seine Seinsstelle hat, mit dem betreffenden Gegenstande als ein nicht streng isolierbares Glied in die betreffende Seinssphäre eingeht und von uns im Urteilen nur e n t d e c k t wird, hat der rein intentionale Sachverhalt nicht nur sein Seinsfundament in dem betreffenden Behauptungssatze, durch dessen Sinngehalt er geschaffen wird, und „gehört" dem letzteren als sein Korrelat wesensmäßig „zu", sondern er ist zugleich — bei einem allein s t e h e n d e n Satze — ein für sich isoliertes, abgeschlossenes Ganzes. Ein solches „Zugehören", irgendein „Verbundensein" mit dem Satze ist dagegen bei dem objektiv bestehenden Sachverhalte nicht vorfindbar. Es ist für ihn durchaus zufällig, wenn er durch den Sinngehalt des Satzes gerade „getroffen" wird. Zwischen ihm und dem entsprechenden Satze besteht kein innerer, wesensmäßiger, ja, überhaupt kein Seinszusammenhang. Nur aus diesem Grunde kann es Sätze und sogar Behauptungssätze geben, denen kein objektiver Sachverhalt „entspricht"2. Ein Satz „hat" eben nicht den objektiven Sachverhalt. Er „hat" — und zwar wesensmäßig — lediglich den rein intentionalen Sachverhalt bzw. (allgemein gesprochen) das rein intentionale Satzkorrelat, wobei das „Gehabte" keinen Teil des Satzes bildet3. 1 In meinen „Esaentialen Fragen" sprach ich von dem „formalen" und „materialen" Objekt des Urteils, vgl. I.e. S.3f. 2 Tritt dieser Fall bei einem Behauptungssatze (einem „Urteil") ein, so haben wir es mit einem „falschen" Behauptungssatz zu tun. 3 Mit den Sachverhalten haben sich unter den Phänomenologen besonders E. Husserl („Log. Untersuchungen", passim), Α. R e i n a c h („Zur Theorie des negativen Urteils", Münchener Abhandlungen, S.217—235) und A. Pfänder („Logik", -Jahrbuch f. Philosophie, Bd. IV, S. 174—176, 185—189, 221 f.) beschäf-

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Nur den Behauptungssätzen können ihrem Wesen nach objektive Sachverhalte direkt entsprechen. (Wie dieses „Entsprechen" zustande kommt und überhaupt möglich ist, werden wir später sehen.) Dagegen ist ein solches direktes Entsprechen schon bei den sachhaltigen Fragesätzen ihrem Sinne gemäß vollkommen ausgeschlossen1. Dasselbe findet auch bei den Befehlssätzen, Wunschsätzen usw. statt. Wenn ich jemandem befehle: „Gib mir ein Glas Wasser!" und er es nachher wirklich tut, so ist das, was er gemacht hat, zwar Erfüllung des erhaltenen Befehls, aber es ist nicht das „Befohlene" im strengen Sinne. Das „Befohlene" als solches2 kann es überhaupt in keiner seinsautonomen bzw. realen Welt geben. Die Ausführung des Befehls vollzieht sich in der Realisierung eines Sachverhaltes (oder einer Mannigfaltigkeit von Sachverhalten). Als realisierter kann er zum „materialen Objekt" eines Behauptungssatzes gemacht werden und in Beziehung zu dem erhaltenen Befehl — als seine „Ausführung" — gebracht werden. Aber nicht das „Befohlene" als rolches, sondern ein Sachverhalt wird da realisiert, dessen Realisiesung zwar Folge des Gehorchens von jemandem ist, der den Befehl erhalten und verstanden hat. Der realisierte Sachverhalt in sich tigt. Von der anderweitigen Literatur kommt hier A. v. M e i n o n g (besonders „Über Annahmen", passim) und C. S t u m p f („Erscheinungen und psychische Funktionen," 1907) in Betracht. Bei keinem der angegebenen Autoren finde ich eine vollbewußt vollzogene und im einzelnen durchgeführte Scheidung zwischen dem objektiv bestehenden und dem rein intentionalen Sachverhalt. E. H u s s e r l und A. R e i n a c h verstehen unter „Sachverhalt" den objektiv bestehenden Sachverhalt. Besonders bei B e i n a c h ist das ganz deutlich. Dagegen verstehen P f ä n d e r (und wohl auch Meinong) darunter den rein intentionalen Sachverhalt. Bei diesen beiden Autoren findet man indessen auch Stellen, die dafür sprechen, daß sie von den rein intentionalen Sachverhalten die objektiv bestehenden unterscheiden. M e i n o n g spricht dabei von „tatsächlichen Objektiven", P f ä h d e r von den „Selbstverhalten des Gegenstandes" („Logik", S.221f.). Was Meinong betrifft, der bekanntlich das Wort „Objektiv" verwendet, so ist seine Theorie uneinheitlich. Es ist infolgedessen öfters schwer zu entscheiden, was er eigentlich im Auge hat. Der Einwand R e i n a c h s , daß M e i n o n g mit einem ungeklärten Begriff des Satzes operiert und deswegen zu einer schiefen Auffassung sowohl des Objektivs als auch seiner Beziehung zu dem Satze kommt, ist wohl begründet, wenn sich auch verschiedene Stellen bei M e i n o n g finden, die sich dem Standpunkte R e i n a c h s nähern. Meine im folgenden gegebenen Ausführungen suchen über das literarisch schon Vorhandene hinauszugehen und weichen in manchen Punkten von den vorliegenden Theorien ab. Eine Auseinandersetzung mit den letzteren würde mich hier zu weit führen. 1 Vgl. meine „Essentialen Fragen", Kap.I, § 3. 2 Das „Befohlene" als solches ist einerseits von dem objektiv bestehenden „Sollen", das für denjenigen erwächst, der dem gegebenen Befehl zu gehorchen hat, andererseits von dem Erlebnis dieses Sollens, wie endlich von dem rein intentionalen Korrelat dieses Erlebnisses zu unterscheiden.

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selbst trägt aber nicht etwa einen besonderen Charakter der „Befohlenheit" und ist somit von dem „Befohlenen" als solchem verschieden, für welches ein solcher Charakter wesentlich ist. Einen Charakter der „Befohlenheit", der einen realen Sachverhalt ganz unabhängig von allen Bewußtseins- oder Satzintentionen ausz e i c h n e t e , gibt es eben nicht. Denn zum Sinn des Befehlens gehört es, daß das, was da befohlen wird, noch nicht existiert, sondern erst „zu realisieren" ist. Das Befohlene als solches ist ein mit Rücksicht auf den Befehl „Zurealisierendes", und es gibt in der Realität nichts, was existierte und zugleich nur „Zurealisierendes" wäre. So läßt sich das „Befohlene" als solches nicht wirklich realisieren. Es ist nur das rein intentionale Korrelat eines Befehlssatzes oder eines subjektiven Intentionsaktes. Somit gibt es keinen objektiven Sachverhalt, welcher dem Befehlssatze genau und direkt entspricht1. Kurz: jeder Satz „hat", seinem eigenen Wesen nach, ein abgeleitet rein intentionales Satzkorrelat, aber nur Sätzen eines bestimmten, besonderen Typus entsprechen objektiv bestehende Sachverhalte. Wir werden uns später überzeugen, daß sogar Sätze, die die Form des Behauptungssatzes haben, so modifiziert werden können, daß sie im Unterschied zu echten „Urteilen" keinen Anspruch erheben, einen objektiven Sachverhalt zu treffen. In dem rein intentionalen Satzkorrelate muß man — in demselben Sinne wie bei einer jeden rein intentionalen Gegenständlichkeit — zwischen seinem Gehalte und seiner intentionalen Struktur und Seinsweise unterscheiden. Diese Unterscheidung ergibt sich hier sogar viel zwingender als bei den rein intentionalen Gegen1 Gerade in solchen Fällen, wie das „Problem", das „Befohlene" usw., sieht man am klarsten, daß die rein intentionalen Korrelate der Bedeutungen bzw. der Sätze keine willkürlichen, bequemen wissenschaftlichen Konstruktionen sind, sondern notwendig anerkannt und in ihrem eigentümlichen „Sein" hingenommen werden müssen. — Erst jetzt — fast 30 Jahre nach dem Erscheinen dieses Buches — untersucht man von verschiedener Seite das Problem der Seinsweise verschiedener Gegenständlichkeiten. U.a. hat im Jahre 1958 Etienne Sourriau (der übrigens im Jahre 1943 ein Buch, Les différents modes d'existence, publiziert hat) eine Abhandlung über die Seineweise des „zu Realisierenden", „zu Machenden" auf einer wesentlich erweiterten Basis publiziert. Seine Ausführungen sind unzweifelhaft interessant und enthalten verschiedene wahre Bemerkungen, der ganzen Erwägung fehlt aber eine befriedigende existential-ontologische Grundlage, da die existentialen Momente sowie die Seinsweisen nicht genug herausgearbeitet wurden. Vgl. dazu den I. Band meines Buches „Der Streit um die Existenz der Welt". Auch in den USA tritt in den letzten Jahren eine analoge Erscheinung auf. Probleme der Seinsweise, der Struktur und der Identität des Kunstwerks werden dort von verschiedenen Autoren aufs neue entdeckt.

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ständen der schlichten Meinungsakte (bzw. der nominalen Wortbedeutungen). Wollte man sie hier nicht machen, so müßte man zugeben, daß die rein intentionalen Satzkorrelate einander widersprechende Momente in sich enthalten. Z.B.: das rein intentionale Satzkorrelat als solches hat — eben als intentionales — immer eine und dieselbe heteronomische Seinsweise. Indessen ist der Seinscharakter des Gehaltes eines rein intentionalen Satzkorrelates ein je anderer, je nachdem es sich um einen anderen Satztypus handelt. So ist der Gehalt in einem Urteilssatze als „bestehend", in einem Fragesatze als „fraglich" usw. charakterisiert. Ja, schon innerhalb der Behauptungssätze (genauer der sog. „Urteilssätze") bestehen da beträchtliche und untereinander nicht vereinbare Unterschiede. Es tritt z.B. in dem Gehalte des intentionalen Korrelates eines kategorischen Behauptungssatzes der Seinscharakter des bedingungslosen, schlichten Seins auf; bei einem hypothetischen Urteil dagegen ist dieser Charakter durchaus verschieden, eben der eines so oder anders b e d i n g t e n Seins; bei einem problematischen Urteil ist es wiederum ein „Möglichsein", ein „Vermutlichsein" usw. Andererseits tritt in dem Korrelatsgehalte z.B. des Satzes „Freiburg liegt in Baden." der Charakter eines besonderen Seinsmodus, den wir Realität nennen, auf, während ein solcher Charakter in dem Korrelatsgehalte des Satzes: „Die Diagonalen des Quadrats schneiden sich in einem rechten Winkel." gar nicht vorhanden ist und, wenn man so sagen darf, durch den Charakter des idealen Seins ersetzt wird. Alles Seinscharaktere, die von dem Charakter des Intentionalseins streng verschieden und mit ihm unvereinbar sind. Außerdem hat der Gehalt des rein intentionalen Satzkorrelats einen formalen Bau, der ihm als einem Satzkorrelat eigen ist (im Falle des Behauptungssatzes ist es die besondere Struktur des „Sachverhaltes", im Falle eines Fragesatzes diejenige des „Problems" usw.) und der von der schlichten g e g e n s t ä n d l i c h e n Struktur, die auch dem rein intentionalen Satzkorrelate als solchem eigen ist, wesensmäßig verschieden ist1. Wäre das rein intentionale Satzkorrelat — wie eine jede rein intentionale Gegenständlichkeit — nicht „doppelseitig" und hätte es als eine Gegenständlichkeit nicht einen eigenen Träger und eigene Merkmale, die mit den in seinem Gehalte auftretenden Momenten nicht auf dieselbe Stufe zu stellen 1 Ich habe darauf schon in meinen „Essentialen Fragen" bei der Kontrastierung der Sachverhalte und Probleme hingewiesen.

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sind, so könnten all die Charaktere und Strukturen unmöglich in ein und demselben Gegenstand auftreten. Nur die von uns vollzogene Scheidung zwischen dem Satzkorrelat als solchem und seinem Gehalte sowie die für die rein intentionalen Gegenständlichkeiten wesensmäßige Seinsweise des „Bloßzugewiesenen", „Bloßvermeinten", macht uns das Vorhandensein dieser sich gegenseitig ausschließenden Charaktere und Strukturen verständlich. In dem Gehalte des rein intentionalen Satzkorrelates muß wiederum zwischen seiner Materie, seiner formalen Struktur und seinen existentialen Charakteren unterschieden werden. Es kann vorkommen, daß ein Sachverhalt und ein Problem genau dieselbe Materie haben und sich doch ihrer Seinscharakterisierung nach voneinander unterscheiden. Wenn ich z.B. frage: „Ist Eisen hart ?" und dann feststelle: „Eisen ist hart.", so ist die Materie der beiden rein intentionalen Korrelatsgehalte genau dieselbe. Dasselbe nämlich, nach dessen Bestehen gefragt wird, wird in dem betreffenden Behauptungssatze als bestehend hingestellt. Damit ändert sich aber der Seinscharakter des zugehörigen Korrelatsgehaltes1. Analog gibt es auch Sachverhalte mit identischer Gehaltsmaterie und verschiedener Gehaltsform und andererseits auch Sachverhalte mit derselben Gehaltsform und verschiedener Gehaltsmaterie. Als Beispiel des ersten Falles können uns die Korrelate der Sätze: „Das Haus, welches an der anderen Seite der Straße steht, ist vierstöckig." und „Das an der anderen Seite der Straße stehende Haus ist vierstöckig." dienen2. Den zweiten Fall können uns die Korrelate der Sätze: „Diese Rose da ist rot." und „Dieser Hund da ist braun." verdeutlichen. Überall ist die Materie der formalen Struktur gegenüberzustellen, wobei zu beachten ist, daß es nur Ausnahmefälle sind, in welchen zwei Korrelatsgehalte bei ganz identischer Materie nur hinsichtlich der formalen Struktur verschieden sind. Das Gewöhnliche ist eher der umgekehrte Fall, in welchem Korrelatsgehalte von derselben formalen Struktur eine verschiedene Materie haben. Trotz einer gewissen Variabilität der Gehaltsmaterie bei derselben 1 Dieser Sachverhalt wird als real v e r m e i n t , wenn er auch, rein als intentionales Korrelat des betreffenden Satzes genommen, doch ein Nurvermeintes, also etwas Seinsheteronomes ist. 2 Neben den rein formalen Unterschieden treten da noch Unterschiede in der Entfaltungsweise des Sachverhaltes auf, indem an die Stelle des Relativsatzes, welcher das „An-der-anderen-Seite-der-Straße-Stehen" satzmäßig entfaltet, die adjektivische Wendung tritt, die einen Teil der nominalen Subjektsbedeutung im zweiten Satze bildet.

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Gehaltsform (und umgekehrt) darf man aber sagen, daß im allgemeinen zwischen der formalen Struktur und der Materie des Gehaltes eine funktionale Abhängigkeitsbeziehung besteht. Welche Gesetzmäßigkeiten da im einzelnen herrschen, ist nicht unsere Sache. Ohne hier eine allgemeine Auffassung der Gehaltsform eines rein intentionalen Satzkorrelates zu entwickeln, wollen wir an einem Spezialfall, dem Sachverhalte, zeigen, wie sich diese Form von der formalen Struktur eines schlichten Gegenstandes 1 unterscheidet. Wenn wir von den mannigfachen Seinscharakteren, in denen der im Gehalt eines intentionalen Korrelats einer Aussage auftretende Sachverhalt stehen kann, absehen, so ist das dabei verbleibende Ganze sowohl materialiter wie formaliter bestimmt. Es ist natürlich unmöglich, die reine Form oder die reine Materie allein für sich zu haben. Nur eine Variationsoperation (um hier das treffende Wort E. Husserls zu benutzen), vermöge welcher wir die materialen Bestimmtheiten variieren lassen und damit variabel machen, erlaubt uns, die formale Struktur eines Sachverhaltes zur Abhebung zu bringen. Nehmen wir als Beispiel das intentionale Korrelat des Satzes: „Diese Rose da ist rot.", so ist vor allem zu bemerken, daß die eigentümliche formale Struktur des Sachverhalts nicht rein erfaßt werden kann, wenn man — wie man es bis jetzt gewöhnlich tat — sagt, daß er nichts anderes sei als das „Rot-Sein der Rose". Denn abgesehen schon davon, daß dieser nominale Ausdruck so formuliert ist, daß das Seins- oder genauer das Bestehensmoment in den Vordergrund gerückt wird (als ob sich der Sachverhalt gerade dadurch von einem schlichten Gegenstande unterschiede), ist dieser Ausdruck ein nominaler Ausdruck und führt in sein intentionales Korrelat eben dasjenige formale Moment ein, welches für schlichte Gegenstände charakteristisch ist. Dadurch wird die eigentümliche formale Sachverhaltsstruktur bis zu einem gewissen Grade verdeckt oder jedenfalls verunreinigt. Der Sachverhalt ist lediglich dann in seiner reinen Struktur zu erfassen, wenn wir ihn nicht nennen, sondern, eine satzbildende Operation vollziehend, ihn auf nominalverbale Weise zur Entfaltung bringen und dabei in einem besonderen Nebenbeibeachten auf seine formale Struktur hinblicken, 1

Ich verwende hier das Wort „Gegenstand" in demselben Sinne wie A. Reinach. Es entspricht — soviel ich Meinong verstehe — seinem Ausdruck „Objekt".

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ohne ihn dabei zu objektivieren1. Dann sehen wir, daß die formale Struktur des Sachverhaltes (bzw. allgemeiner des Satzkorrelates) sich prinzipiell von der Struktur eines schlicht vermeinten Gegenstandes unterscheidet. Erwägen wir dies etwas genauer: „Diese Rose da ist rot." Wenn wir die entsprechende satzbildende Operation wirklich vollziehen, so sind wir unzweifelhaft zunächst auf diese Rose da als auf einen Gegenstand (und insbesondere in diesem Falle als auf ein Ding) intentional gerichtet, aber doch nicht auf genau dieselbe Weise wie beim schlichten rein nominalen Vorstellen, Vermeinen2. Im letzteren Falle steht die Rose als etwas in sich A b g e s c h l o s s e n e s , in einem Griff „von außen" her Erfaßtes da, was sich uns, in seiner Abgeschlossenheit verharrend, nicht auftut. Wir dringen da — bildlich gesagt — in den betreffenden Gegenstand nicht ein und fassen ihn als eine, zwar durch mehrere verschiedene qualitative Momente bestimmte, aber trotzdem ungeschiedene, ihren einzelnen Qualifizierungen nicht gegenübergestellte Einheit auf. Außerdem sind wir mit dem Vermeinen (bzw. Wahrnehmen) des Gegenstandes „fertig", indem wir ihn als ein nichtaufgeschlossenes Ganzes einfach vor uns haben. Er dient in keiner Weise als Ausgangspunkt für etwas anderes, unabhängig davon, ob dieses Andere in ihm selbst enthalten oder ihm transzendent ist. Ganz anders liegt der Gegenstand „diese Rose da" uns dann vor, wenn er als ein Element eines satzmäßig entfalteten Sachverhaltes auftritt. Zwar wird er dann auch „vorgestellt", d.h. er bleibt „im Blick"; er verliert auch seine Abgeschlossenheit nicht in dem Sinne, als ob er jetzt seiner Begrenzung3 bar wäre. Aber trotzdem treten da deutliche Modifikationen auf. Vor allem dient uns der Gegenstand4 „diese Rose da" bei der Sachverhaltsentfaltung als Ausgangspunkt zu etwas anderem. Oder rein ontisch gesprochen : Er fungiert in dem Sachverhalt als Stützpunkt dessen, was sonst noch in dem Sachverhalte auftritt. In gewissem 1 Von der unmittelbaren, nicht signitiven Erfassung eines Sachverhalts, die auch möglich ist, sehen wir hier ab. Vgl. A. R e i n a c h , 1. c. S. 225f. 2 Vgl. oben unsere Ausführungen über den Satz, wo wir betont haben, daß auch der Subjektsgegenstand — wie wir uns ausdrückten — nominal-verbal vermeint wird. 3 Natürlich handelt es sich nicht um eine „Begrenzung" im räumlichen Sinne, wenn auch die räumliche Begrenzung bei räumlichen Gegenständen für die hier gemeinte Begrenzung mitkonstitutiv sein mag. 4 In welchem Sinne da vom „Gegenstand" die Rede sein kann, werden wir gleich sagen.

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Sinne gehört er selbst zu dem Sachverhalte als sein reeller Bestandteil, aber andererseits kann man sagen, daß sich der ganze Sachverhalt (in u n s e r e m Falle, wenn wir also mit einem Satze der kategorischen Aussagesätze vom Typus „ S ist p . " zu tun haben) 1 in ihm selbst, innerhalb seiner eigenen „Grenzen" abspielt 2 . Dies wird sogleich klar sein (und damit wird auch ein gewisser Doppelsinn behoben, in welchem von dem Gegenstande „diese Rose d a " gesprochen wird), sobald wir zu den verschiedenen Weisen übergehen, in welchen der Gegenstand „diese Rose d a " sich in dem Sachverhalte zeigt. Zunächst ist aber zu bemerken, daß dieser Gegenstand, als Element des Sachverhalts genommen, uns sich auf eine merkwürdige Weise a u f t u t , obwohl er noch ein abgegrenztes Ganzes bleibt. Er tritt uns da von vornherein als etwas „von Innen" her Zugängliches, Aufgeschlossenes entgegen. Und indem wir den betreffenden Sachverhalt zur Entfaltung bringen, tun wir eben nichts anderes, als daß wir von seiner „Aufgeschlossenheit" Gebrauch machen und in ihn selbst, in sein „Inneres" intentional eindringen. Diese „Aufgeschlossenheit" ist im a l l g e m e i n e n kein ontisches Moment, keine ontische Verhaltungsweise des seinsautonomen Gegenstandes selbst. Er ist im allgemeinen den Unterschieden gegenüber, die zwischen „Aufgeschlossenheit" und „In-sich-verschlossen-Sein" bestehen, unempfindlich3, wenn auch diese Unterschiede in der ontischen Struk1 Es ist da auf die große Mannigfaltigkeit τοπ Sachverhaltstypen hinzuweisen, deren Zusammenstellung man in der „Logik" A. Pfänders finden kann. Die Verschiedenheit des Sachverhaltstypus führt natürlich zu verschiedenen Modifikationen der formalen Gehaltsstruktur, auf die wir hier nicht näher eingehen können. 2 Die Bede vom „Sichabspielen" eines Sachverhaltes ist eigentlich nur da am Platze, wo es sich um Sachverhalte eines zeitlich seienden Gegenstandes handelt. Bei idealen Gegenständlichkeiten bzw. Sachverhalten ist das nur ein bildlicher Ausdruck. Aber auch in bezug auf zeitliche Gegenstände ist zu beachten, daß man dies „Sichabspielen" nicht etwa im Sinne eines Prozesses auffassen darf. Im Gegenteil setzt jeder Prozeß bestehende Sachverhalte voraus. Daß man aber trotzdem von einem „Sichabspielen" eines Sachverhalts eines zeitlichen Gegenstandes mit Recht sprechen darf, hat seinen Grund in den eigentümlichen Abwandlungen, denen jedes Zeitliche, also primär jeder zeitlich seiende Sachverhalt, als Zeitliches unterliegt. Vgl. dazu die außerordentlich interessanten Betrachtungen von H. Conrad-Martius, „Die Zeit", im Philosophischen Anzeiger, Bd.II. 8 Dies gilt vor allem in bezug auf „leblose", „tote" Dinge. Denn handelt es sich z.B. um psychische Individuen, dann gibt es sicher verschiedene Verhaltungsweisen, in welchen sie sich dem erkennenden bzw. mit ihnen im Verkehr stehenden anderen psychischen Individuum gegenüber „aufschließen" bzw. „sich in sich selbst verschließen". Max Scheler spricht im letzteren Falle von „Intimsphären". Vgl. „Wesen u. Formen der Sympathie". Es kann übrigens auch ein „Sich-vor-sichselbst-Verschließen" geben, wie es zahlreiche pathologische, aber auch viele durchaus normale Fälle beweisen.

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tur des Gegenstandes gründen. Es handelt sich in unserem Falle nur darum, daß w i r den Gegenstand sozusagen „aufschließen", sobald wir auf das Erfassen eines Sachverhaltes ausgehen. Die satzbildende Operation - in ihren verschiedenen Abwandlungen, aber vor allem diejenige, die zu einem kategorischen Behauptungssatz führt - ist eben eine Weise des „Aufschließens" des uns zunächst in seiner Ganzheit von außen her gegebenen Gegenstandes (insbesondere eines Dinges). Wenn er uns aber als ein schon „aufgeschlossener" entgegentritt, so sind wir genug vorbereitet, um einen Sachverhalt zur Entfaltung zu bringen bzw. zu erfassen, und haben dann mit ihm als mit einem „aufgeschlossenen" zu tun. In diesem Moment haben wir ihn auch nicht mehr rein „gegenständlich" gegeben. Denn zu einer schlicht gegenständlichen (nominalen) Gegebenheit gehört nicht bloß die Abgeschlossenheit im Sinne der Umgrenzung, sondern auch in dem Sinne, daß das Bewußtseinssubjekt, welchem der Gegenstand gegeben ist, ihn nur „von außen" her, mit e i n e m Griff erfaßt bzw. vermeint. Damit umgrenzt sich auch der Sinn, in welchem der Gegenstand „diese Rose da" in dem Sachverhalte „auftritt", einen reellen Teil in ihm bildet, obwohl zugleich der Sachverhalt sich „im Rahmen" des Subjektsgegenstandes „abspielt". Um das zu zeigen, müssen wir uns aber vorher in anderen Elementen des Sachverhalts besser orientieren. „Diese Rose da ist rot." sagen wir. Es tritt also in diesem Sachverhalte noch ein Rotmoment auf. Es ist aber in dem Sachverhalte, und überhaupt, kein Gegenstand für sich. Es ist etwas, was seinem Wesen nach nicht ens, sondern nur entis sein kann, um den treffenden scholastischen Ausdruck zu verwenden. Als solches ist es von der „Rose" selbst verschieden. Andererseits ist es aber in unserem Falle gerade etwas, was „in" der Rose „enthalten" ist, ihr — dem Sinne des Satzes nach — „zukommt". Und nur als ein solches „Enthaltenes", „Zukommendes" kann es überhaupt existieren. Als ein derart wesensmäßig Unselbständiges, in einem anderen (der Rose) den Stützpunkt seiner Existenz Habendes und nur mit diesem anderen in der Einheit eines Ganzen Seiendes bildet dieses Rotmoment — ebenso wie „diese Rose da" — einen reellen Bestandteil des Sachverhaltes. Es ist aber nicht ein bloß „Zugehörendes", „Zukommendes", sondern zugleich ein so Zukommendes, daß es in dem betreffenden Gegenstande als etwas ihn B e s t i m m e n d e s , ihn zum „roten Gegenstande" Ausgestaltendes, Begrenzendes enthalten ist. Dieses „bestimmende Enthaltensein" ist 142

das Eigentümliche eines jeden „Merkmals", einer jeden „Eigenschaft" als solchen. Und man kann ebensogut sagen : Es bestimmt den Gegenstand nur, indem es in ihm enthalten ist, wie : es ist in ihm nur enthalten, indem es ihn bestimmt. Als was tritt also der Gegenstand „diese Rose da" in unserem Sachverhalte auf? Als „rote Rose" oder als „Rose" samt allen ihren Eigenschaften und Merkmalen, dieses einzige Rotmoment ausgenommen, oder endlich in einem dritten, noch zu bestimmenden Sinne ? Wie es sich zeigen wird, tut er es auf all die drei verschiedenen Weisen, und daß er es „tut", ist gerade eine für den formalen Aufbau des Sachverhaltes besonders charakteristische Sachlage. Fangen wir zunächst mit diesem letzten, dritten Sinne an, so ist klar: man kann von „dieser Rose da" in dem Sinne sprechen, daß man sozusagen nur die Rose „selbst" im Auge hat, nämlich als einen der Natur des Gegenstandes nach schon sachhaltig zur „Rose" b e s t i m m t e n Träger von mannigfachen Eigenschaften, aber zugleich unter Absehen von den qualitativen Bestimmtheiten dieser Eigenschaften1. Indem von einem „Träger" {„substantia") die Rede ist, ist damit schon entschieden, daß er Träger nur als Träger von irgendwelchen Eigenschaften und anderen Bestimmungen ist. Es ist also bei der Einstellung auf einen Träger nicht möglich, von den ihm zugehörigen, von ihm „getragenen" Eigenschaften in der Weise abzusehen, als wenn die letzteren überhaupt fortfielen. Es ist nur möglich, es außer acht zu lassen, welche Eigenschaften es gerade sind; d.h. man kann nur von den qualitativen Bestimmtheiten der letzteren absehen. „Diese Rose da" fungiert in unserem Sachverhalte vor allem als ein solcher qualitativ zur „Rose" bestimmter Träger und insbesondere — bei vollzogener Entfaltung des betreffenden Sachverhalts — als Träger gerade desjenigen Bestimmungsmoments, dank welchem die Rose eben „rot" ist. Insofern tritt die so verstandene „Rose" als etwas dem ihr zukommenden Rotmoment Gegenübergestelltes auf. Diese Gegenüberstellung, die in der Ver1 Zu dem Begriff der „Natur" und genauer der „individuellen konstitutiven Natur" des Gegenstandes vgl. meine „Essentialen Fragen", S.27. Es ist zu betonen, daß wir durch die Einfuhrung dieses Begriffes zugleich die Auffassung des „bestimmungslosen Trägers" verwerfen, der durch die englischen Empiriker mit Recht bekämpft wurde. Nur daß sie zugleich damit auch die Idee des Trägers überhaupt widersinnigerweise verworfen haben, da sie weder das Wesen der Eigenschaft, noch das durchaus andersartige Wesen der Natur des Gregenstandea gesehen haben.

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schiedenheit der Funktionen des Trägerseins und des Eigenschaftseins gründet, wird aber gerade durch das Wesen dieser beiden Funktionen überwunden. Und in der Überwindung dieser zugrunde gelegten Gegenüberstellung liegt eben das eigentümliche Wesen des Sachverhaltes, welches erst durch die satzmäßige Intentionalität zur vollen Entfaltung gelangt1. Daß die Rose als ein, der konstitutiven Natur nach, sachlich bestimmter Träger eben Träger dieser Rotbestimmtheit ist, das bedeutet nichts anderes als : Diese Rose da i s t rot. Indem wir einen Gegenstand in der zugrunde gelegten Gegenüberstellung zu seiner Bestimmtheit und zugleich in der Überwindung dieser Gegenüberstellung durch die beiden genannten Funktionen erfassen, erfassen wir einen bestimmten Sachverhalt in seiner expliziten, voll entfalteten, ihm eigenen Form. Durch diese Überwindung wird das „rot" der „Rose" „zu eigen", es wird in die Seinsregion der Rose einbezogen, und wenn auch in diesem Sachverhalte selbst sozusagen das „Fazit" dieser Einbeziehung nicht gezogen wird (wodurch es als „Einbezogenes", als „Enthaltenes" dastände — wie es bei einer adjektivisch-nominalen Wortbedeutung der Fall wäre), so ist dazu schon alles vorbereitet, eben durch die Entfaltung des betreffenden Sachverhaltes. Im Sachverhalt selbst wird nur dieses Einbeziehen — wie es eben im Vollzug begriffen ist, wie es sich in der Entfaltung der beiden Funktionen des Trägerseins und Eigenschaftseins vollzieht — zur Exposition gebracht. In der Vollbringung dieser Exposition liegt eben — wie schon oben bemerkt, aber vielleicht erst jetzt ganz deutlich wurde — die eigentümliche Leistung des Satzes. Die Rede von der „Funktion" des Trägers ist dabei natürlich ein bildhafter Ausdruck, aus dessen Sinn notwendig jedes Moment irgendeiner „Tätigkeit", irgendeines „Geschehens" streng zu eliminieren ist. Damit, daß diese Rose da rot i s t , „geschieht" eben nichts. Wenn man will, handelt es sich hier um eine rein s t a t i s c h e Beziehung, die aber trotzdem als Korrelat eines Satzes in ihrem reinen Bestehen zur nominal-verbalen Exposition und Entfaltung 1 Es muß hier speziell betont werden, daß diese „Überwindung" etwas im Seienden selbst Vorhandenes ist, was bei der Entfaltung eines Sachverhalts in seiner Ursprünglichkeit nur entdeckt, aber nicht durch die prädikative Funktion geschaffen wird (falls es sich natürlich um einen objektiv bestehenden Sachverhalt handelt). Sie ist sozusagen der reine Ausdruck der beiden für einen Gegenstand wesensmäßig konstitutiven und aufeinander notwendig relativen Funktionen des „Trägerseins" und des „Eigenschaftseins".

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gelangt, während sie bei einer rein nominalen „gegenständlichen" Vermeinung nicht selbst in ihrer Entfaltung sichtbar ist, sondern sich nur in der durch ihr Bestehen konstituierten „fertigen" gegens t ä n d l i c h e n Form (d.h. in der gesamten Form eines bestimmt qualifizierten Etwas) anzeigt. Dann steht uns der Gegenstand als eine in sich zusammengefaltete Einheit, die wir nur „von außen" her erfassen, gegenüber. Die in dem Sachverhalte sich vollziehende Überwindung des Gegensatzes zwischen „Rose" als Träger und „rot" als ihrer Bestimmtheit führt es aber zugleich notwendig mit sich, daß „diese Rose da" in unserem Sachverhalte in einem anderen, merkwürdig potentiell-aktuellen Modus dasteht: nämlich als diese durch „rot" b e s t i m m t e Rose. Im „potentiellen" Modus, weil sie in diesem Sachverhalte selbst noch nicht als „rote Rose" dasteht; es bedarf einer besonderen nominalen „Objektivierung", welche sozusagen das „Fazit" dieses Sachverhaltes mit in Rechnung nimmt, damit sie als „rote Rose" vor uns dasteht. Daß bei dieser Objektivierung auch eine gewisse „logische" Form dem Gegenstande aufgezwungen wird, die das Spiegelbild der „adjektivischen" Verbindung des Wortes „rot" mit dem Worte „Rose" ist, ist unzweifelhaft. Man darf aber nicht meinen, daß diese Objektivierung dadurch den Gegenstand irgendwie ontisch umgestaltet bzw. in einer Weise anspricht, die ihm nicht eigen ist, so als ob die dem Gegenstande eigene statische Beziehung zwischen dem Träger und der Eigenschaft (allgemeiner Bestimmtheit) ihm nur in derjenigen Form eigen wäre, wie sie uns in der Erfassung des Sachverhaltes entgegentritt, und als ob der Gegenstand „rote Rose" auf die ihn „konstituierende" Objektivierung zu relativieren wäre. Daß es sich nicht so verhält, darauf weist eben jener merkwürdige potentiell-aktuelle Modus, in welchem diese „rote Rose da" sich in unserem Sachverhalte zeigt. Indem nämlich diese Rose da rot i s t , indem also die Überwindung der Gegenüberstellung zwischen „Rose" als Träger und „rot" als ihrer Bestimmtheit geleistet wird, ist die Rose aktuell eine rote Rose, nur daß sie in dieser Aktualität nicht besonders erfaßt und somit in ihrer Erscheinungsweise mit einem Moment der Potentialität behaftet wird. Aber in noch einem Sinne zeigt sich „diese Rose da" in unserem Sachverhalte an, und zwar als eine mit allen ihren Eigenschaften außer der einen einzigen, in welcher sie eben „rot" ist, ausgestattete Rose. Sie, dieselbe Rose, die duftet, weich ist usw., ist rot. Freilich 10 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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wird dies in unserem Falle nicht explizite vermeint und gelangt auch dadurch nicht zur expliziten Entfaltung in dem zugehörigen Sachverhalte. Aber trotzdem sind alle ihre (bekannten) Eigenschaften implizite und potentiell mitgemeint, sobald von einer und erst recht von dieser Rose da gesprochen wird1. Und infolgedessen, aber auch nur insofern, zeigt sie sich als solche potentiell in unserem Sachverhalte an. Daraus ergibt sich aber eine für uns besonders wichtige Konsequenz : Da nämlich eine jede einem Gegenstand zukommende Eigenschaft sozusagen hinter sieb einen bestimmten Sachverhalt birgt, der sich nur — bildlich gesagt — in einer zusammengefalteten Gestalt in dem mit der betreffenden Eigenschaft ausgestatteten Gegenstande (also z.B. in der „weichen Rose") mittelbar kundgibt, so führen von dem gerade zur Entfaltung gelangenden Sachverhalte aus sozusagen Richtlinien auf andere zu demselben Gegenstande (dieser Rose da) gehörende Sachverhalte hin, denen wir nur nachzugehen brauchen, um sie ebenfalls zur Entfaltung zu bringen2. Man kann sagen, daß der Gegenstand — wie er sich uns beim Eindringen in sein „Inneres" zeigt — nichts anderes sei als eine bestimmt umschriebene und geregelte Mannigfaltigkeit von Sachverhalten, die durch denselben Träger geeint sind, aus welchen wir jeweils nur einen zur besonderen, entfaltenden Exposition bringen, aber damit auch bis zu einem gewissen Grade von den übrigen abgrenzen. Richten wir uns in einem nominalen Akte auf den Gegenstand, so vermeinen wir den gesamten Seinsbereich, der durch eine solche geeinte Mannigfaltigkeit von miteinander verwachsenen Sachverhalten abgesteckt ist, in einem Griff und von außen her als ein einheitliches, so oder anders qualifiziertes Ganzes und nehmen dieses Ganze sub specie der konstitutiven Natur („Rose"), welche den gemeinsamen Träger all dieser jetzt schon zusammengefalteten und unsichtbaren Sachverhalte unmittelbar qualifiziert. Das Sein „dieser Rose da" ist, explizite genommen, das Zusammenb e s t e h e n all dieser durch den identisch in ihnen auftretenden Träger geeinten Sachverhalte. Und nur wenn man den Sinn des Wortes „Gegenstand" auf den Träger von Eigenschaften einengt, darf man sagen, daß der Gegenstand all diesen Sachverhalten zu] Wir erinnern da an unsere Unterscheidung zwischen „aktuellem" und „potentiellem Bestand" einer Wortbedeutung. Vgl. oben S.89. 2 Oder wenn wir unter dem Ausdruck „Diese Rose da" sie mit allen ihren Eigenschaften und Momenten zusammengenommen verstehen: auf andere ihr immanente, in ihr zusammengefaltete Sachverhalte.

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g r ü n d e l i e g t , sie alle fundiert. Er fundiert sie eben dadurch — und nur in diesem Sinne —, daß er in einem jeden von ihnen als Träger „fungiert". Aber ohne diese Sachverhalte könnte er überhaupt nicht existieren. Man kann somit sagen: Der b l o ß e Träger ist ein ebenso Seinsunselbständiges wie ein „Akzidens" 1 . Nur mit allen seinen „Akzidentien" (Eigenschaften, Momenten usw.) macht er einen seinsselbständigen Seinsbereich, ein „Individuum" aus, das nicht möglich wäre, wenn er in ihm nicht die Trägerfunktion ausübte. In der Mannigfaltigkeit der Sachverhalte (und um so mehr in derjenigen der intentionalen Satzkorrelate) findet man — wie schon oben bemerkt wurde — sehr mannigfache Abwandlungen der soeben von uns beschriebenen Struktur. Wir können hier auf sie nicht näher eingehen. Aber noch eins müssen wir hinzufügen, um einen möglichen Einwand zu beseitigen. Man wird uns fragen: Ist das Eindringen in das Innere des Gegenstandes — im Sinne eines seinsselbständigen Seinsbereiches — für einen jeden Sachverhalt charakteristisch ? Und wie steht es mit den Korrelaten solcher Sätze wie : „Ein Wagen fährt vorbei.", „Mein Hund bellt." usw. % Es ist zuzugeben, daß in diesen Fällen ein derartiges Eindringen in das Innere des Subjektsgegenstandes, wie in dem oben analysierten Beispiel, nicht statt hat. Als abgeschlossenes, nicht „aufgetanes" Individuum führt hier der Subjektsgegenstand eine Handlung aus. Aber trotzdem ist er nicht so in sich ruhend, innerhalb seiner eigenen Seinsgrenzen verharrend vermeint, wie es bei einer schlicht gegenständlichen, rein n o m i n a l e n Vermeinung geschieht. Wir dringen in ihn freilich nicht ein, aber er greift sozusagen über seinen eigenen Seinsbereich hinaus, nimmt mindestens an einem Geschehen teil oder vollführt eine Handlung. Damit wird an einer Stelle seines gesamten Seinsbereiches sozusagen eine Bresche geschlagen, durch welche wir in sein Inneres hineingreifen können, 1

H. Conrad-Martius schreibt in ihrer „Realontologie" § 14: „Auch der reelle Träger, also der durch seine faktisch aufgeladene Washeit zu einer realen Entität sich konstituierende, ist nicht etwas, das für sich •— also abgesehen von der ihm aufgeladenen Washeit und ohne dieselbe — gesetzt und vorausgesetzt werden könnte" (vgl. I.e. S.169). Dazu ist zu bemerken: Dies ist natürlich ganz richtig, aber der „Träger", im Sinne H. Conrad-Martius', ist nur eine reine Form, die natürlich ohne die in ihr stehende „Washeit", d.h. in meiner Ausdrucksweise, ohne die individuelle Natur, nicht existieren kann, also seinsunselbständig ist. Ich behaupte aber hier etwas mehr : Auch wenn der „Träger" schon mit seiner „Washeit" (Natur) genommen wird, so ist er auch dann auf die durch ihn „getragenen" Bestimmtheiten, d.h. auf die dem Gegenstande zukommenden Eigenschaften seinsunselbständig. 10

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wenn wir etwa den Sachverhalt „Ein Wagen ist vorbeifahrend."1 zur Entfaltung bringen. Aber auch abgesehen von dieser Möglichkeit steht der so oder anders qualifizierte und in seiner gesamten Qualifizierung von vornherein in einem Griff gefaßte Gegenstand als Träger einer von ihm ausgeübten Tätigkeit da, so daß die letztere in ihm nicht bloß ihr Seinsfundament, sondern auch ihren Quellpunkt findet. Sie fällt damit zwar nicht in seinen Seins-, aber doch in seinen Auswirkungsbereich. Infolgedessen haben wir den Subjektsgegenstand als einen sich in einer bestimmten Richtung seines Auswirkungsbereiches entfaltenden vor uns. Daß dieser mögliche Auswirkungsbereich auch zu dem Gegenstande gehört und durch sein gesamtes Sosein in seiner Ausgestaltung bedingt ist, zeigt sich gerade darin, daß wir bei Voraussetzung des Satzes „Ein Wagen fährt vorbei." zu dem dann voll geltenden Satze „Ein Wagen ist vorbeifahrend." oder, in der existentialen Wendung, „Es existiert ein vorbeifahrender Wagen." übergehen dürfen. Trotz der angedeuteten bemerkenswerten Unterschiede haben wir es auch im Falle der jetzt untersuchten Beispiele mit einem V e r h a l t e n eines Gegenstandes zu tun, nur daß hier nicht ein Verhalten des Eigenschaftsträgers zu seiner Eigenschaft, sondern das Verhalten eines irgendwie qualifizierten Tätigkeitsträgers in einer ihn umgebenden gegenständlichen Welt auf einer sich in seinem gesamten Auswirkungsbereiche befindenden Auswirkungslinie zur nominal-verbalen Entfaltung gelangt. Und genau so, wie in dem früher analysierten Beispiel „Diese Rose da ist rot." sich potentiellaktuell eine „rote Rose" anzeigt, zeigt sich in dem Sachverhalte „Ein Wagen fährt vorbei." potentiell-aktuell ein „vorbeifahrender Wagen" an, so daß wir dazu sofort übergehen und es nominal vermeinen oder sachverhältnismäßig entfalten können. Gehen wir dazu wirklich über, so erweitern wir sozusagen seinen reinen Seinsbereich um eine Linie seines Auswirkungsbereiches und fassen das Ganze nominal auf. Die zuletzt durchgeführte Analyse der Sachverhaltsstruktur war vor allem an seinsautonomen Sachverhalten orientiert. Aber das Gesagte behält seine Geltung auch für rein intentionale Aussagekorrelate, nur bezieht sich dann alles auf den formalen Bau des 1 Die Ausdrucksweise ist im Deutschen nicht üblich, aber andere Sprachen (ζ. B. die englische) haben sie, und es kommt hier nicht auf sprachübliche Wendun· gen, sondern auf Bedeutungsformen und ihren prinzipiell möglichen Ausdruck an.

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Gehaltes eines solchen Korrelats, wobei dieser Bau wie auch die in dieser Form stehende materiale Qualifizierung nur ein Bloßvermeintes, Seinsheteronomes ist. Man darf aber aus der eben festgestellten Parallelität zwischen den seinsautonomen und den rein intentionalen Sachverhalten nicht den falschen Schluß ziehen, daß alles, was für seinsautonome Sachverhalte überhaupt gilt, auch für rein intentionale Satzkorrelate seine Geltung behält und umgekehrt. Um uns hier nur auf einige Beispielsunterschiede zwischen ihnen zu beschränken, sei folgendes hinzugefügt : Die seinsautonomen Sachverhalte müssen, um überhaupt zu bestehen, eine Reihe von Bedingungen erfüllen, welche für die Gehalte der rein intentionalen Sachverhalte nicht bindend sind. Sie müssen nicht nur den Gesetzen genügen, die sich aus dem wesensmäßigen Aufbau einer jeden Gegenständlichkeit überhaupt ergeben (also den „analytisch-formalen" Gesetzmäßigkeiten im Husserlschen Sinne), sondern auch die Wesensgesetze erfüllen, welche in der sachhaltigen Region, der die Materie des betreffenden Sachverhaltes zugehört, herrschen. Handelt es sich aber um einen Sachverhalt, welcher in einer faktisch existierenden und in verschiedener Hinsicht kontingenten Welt bestehen soll, so müssen außerdem verschiedene „zufällige" Bedingungen erfüllt werden, über welche uns die entsprechende „Erfahrung" (im engen Sinne des Wortes) unterrichtet und die z.B. in den physikalischen, chemischen usw. Gesetzen ihren Áusdruck finden. Dies alles ist für die Gehalte rein intentionaler Sachverhalte nicht notwendig. Während es z.B. aus formal-ontologischen Gründen nicht möglich ist, daß ein objektiv bestehender seinsautonomer Sachverhalt in sich materiale Elemente enthält, die sich gegenseitig ausschließen, ist ein rein intentionaler Sachverhaltsgehalt mit einander widersprechenden Elementen wohl möglich. Ebenso: ein realiter bestehender Sachverhalt muß, wenn er überhaupt bestehen soll, vollkommen e i n d e u t i g b e s t i m m t sein. Dies trifft aber auf Gehalte rein intentionaler Satzkorrelate nicht zu. Ist ein Satz seinem Sinngehalt nach mehrdeutig, so spiegelt sich seine Mehrdeutigkeit in dem Gehalte des zugehörigen rein intentionalen Korrelates in einer merkwürdig opalisierenden Mehrf ältigkeit wieder. Vor allem wird dadurch seine Materie betroffen, aber im Zusammenhang damit weist auch seine formale Struktur eine besondere Kompliziertheit auf. In manchen Fällen ist es äußerst schwierig, diese komplizierten Sachlagen rein herauszuanalysieren, besonders, wenn die Vieldeutigkeit des zugehörigen Satzes nicht 149

offen zutage tritt, so daß der Satz zunächst eindeutig zu sein scheint. Wenn aber die Vieldeutigkeit des Satzes deutlich genug ist, so zeichnet sich die Mehrfältigkeit bzw. Mehrschichtigkeit in dem rein intentionalen Korrelatsgehalte klar ab. Die Vieldeutigkeit eines Satzes kann bekanntlich entweder in der Mehrdeutigkeit der einzelnen in ihm auftretenden Worte oder in einer Unübersichtlichkeit und damit auch Vieldeutigkeit der Satzkonstruktion gründen. Man kann einen solchen Satz auf verschiedene Weisen „lesen" und dadurch jeweils einen anderen (dann schon eindeutigen) Satz bekommen; aber weder die einzelnen Worte noch die Satzkonstruktion berechtigen uns, irgendeine von diesen Lesarten zu bevorzugen. Der vieldeutige Satz ist aber auch nicht mit der Mannigfaltigkeit der durch „Interpretation" gewonnenen eindeutigen Sätze zu identifizieren. Es ist gerade das Charakteristische der vieldeutigen Sätze, daß sie eine Mehrheit von „Interpretationen" zulassen1, ohne irgendeine von ihnen entschieden auszuschließen oder zu bevorzugen. Weil aber alle „möglichen" Interpretationen zugelassen und g l e i c h berechtigt sind, ist auch der rein intentionale Korrelatsgehalt „opalisierend" mehrfältig und birgt in sich widerstreitende Elemente. Da dies bei einem objektiv bestehenden seinsautonomen Sachverhalt unmöglich ist und da man gewöhnlich die Sphäre der rein intentionalen Korrelate übersieht, so wäre man vielleicht geneigt, die Auffassung zu vertreten, daß den mehrdeutigen Sätzen nicht ein einziges Korrelat, sondern eine Mehrheit von ihnen zugehört, deren Bereich durch die Anzahl der möglichen Interpretationen genau bestimmt ist. Die einzelnen Korrelate bildeten dann eine diskrete Mannigfaltigkeit, deren jedes Glied einem anderen Satze zugehören würde. Damit käme man zu der Behauptung, daß ein mehrdeutiger Satz eigentlich kein eigenes rein intentionales Korrelat hat, sondern erst eindeutig gemacht werden muß, um es zu haben. Diese Ansicht übersieht aber oder sucht gerade dasjenige wegzuschaffen, was aufzuklären ist, nämlich die Vieldeutigkeit selbst. Einem vieldeutigen Satze jedes eigene rein intentionale Korrelat absprechen, heißt im Grunde nicht auf· die rein intentionalen Korrelate, sondern auf die objektiv bestehenden seinsautonomen Sachverhalte hinblicken, die natürlich keine solche opalisierende 1

Um zwischen ihnen eine Wahl zu treffen und damit die Vieldeutigkeit zu beseitigen, muß man — wenn es möglich ist — andere damit im Zusammenhang stehende Sätze zur Hilfe nehmen, aber auch dann gelingt es oft nioht, zur Eindeutigkeit zu kommen.

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Mehrfältigkeit aufweisen können. Es heißt auch die bedeutsamen Unterschiede, die zwischen rein intentionalen und beliebigen seinsautonomen Gegenständlichkeiten bestehen, übersehen und damit auch leicht zu schiefen Auffassungen der l e t z t e r e n kommen. Es ist also noch einmal zu betonen, daß jeder Satz — auch der widersinnige und der mehrdeutige — ein eigenes rein intentionales Korrelat besitzt. Insbesondere aber ist es nicht wahr, daß das rein intentionale Korrelat eines mehrdeutigen Satzes in einer Mannigf a l t i g k e i t voneinander abgegrenzter Satzkorrelate besteht. Es ist im Gegenteil ein einziges Korrelat und genauer ein einziger Korrelatsgehalt, der eben „opalisiert". Das folgt schon daraus, daß ein Satz (aber auch ein einzelnes Wort) nur dann mehrdeutig ist, wenn er in seinem Sinngehalt neben den mehrdeutigen auch Elemente enthält, die nicht mehrdeutig sind. Erst die Verflechtung ein- und mehrdeutiger Bedeutungselemente führt zu einem mehrdeutigen Satze. Korrelativ ist auch sein rein intentionaler Korrelatsgehalt so aufgebaut, daß er einen Grundstock „gemeinsamer" Elemente besitzt, an die erst in einer merkwürdigen Mehrstrahligkeit die anderen, den mehrdeutigen Ausdrücken entsprechenden Elemente a n g e k n ü p f t sind. Und nur angeknüpft sind sie eben, weil nur ein loser, nicht endgültig festgelegter Zusammenhang zwischen den eindeutig bestimmten (den „gemeinsamen") Elementen des Gehalts und denen, die den mehrdeutigen Ausdrücken zugehören, besteht. Darin gründet jener „schillernde", „opalisierende" Charakter des ganzen Korrelatsgehaltes. Das Vorhandensein solcher „opalisierender" rein intentionaler Satzkorrelate ist für die Erfassung des Wesens des literarischen Werkes von besonderer Wichtigkeit. Vorläufig sei nur bemerkt, daß es einen besonderen Typus von literarischen Kunstwerken gibt, deren Grundcharakter und eigentümlicher Reiz darin besteht, Mehrdeutigkeiten in sich zu bergen. Sie sind auf das Auskosten der im „Schillern", im „Opalisieren" gründenden ästhetischen Charaktere berechnet und würden ihren eigentümlichen Reiz v e r l i e r e n , wenn man sie etwa dadurch „verbessern" wollte, daß man die Vieldeutigkeit beseitigte (was übrigens oft bei s c h l e c h t e n Übersetzungen vorkommt1). 1

Darin liegt auch eine der Hauptschwierigkeiten des Übersetzens, die im Original bestehenden Vieldeutigkeiten nicht nur nicht zu beseitigen, sondern auch darauf zu achten, daß die Übersetzung dieselben Vieldeutigkeiten enthält, die im Original vorkommen.

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Die eben durchgeführten Analysen der rein intentionalen Sachverhalte werden uns erlauben, die bei einer Mannigfaltigkeit von zusammenhängenden Sätzen sich neu eröffnenden Sachlagen und Probleme zu begreifen. Wir gehen jetzt dazu über.

§ 23. Z u s a m m e n h ä n g e v o n S ä t z e n . Die s i c h d a r i n k o n s t i t u i e r e n d e n h ö h e r e n S i n n e i n h e i t e n . Im Prinzip ist es nicht ausgeschlossen, daß mehrere Sätze aufeinander folgen, die in keinem Zusammenhang zueinander stehen. Ist es so, dann können sie beliebig umgestellt oder durch andere ersetzt werden; ihre Anordnung ist jedenfalls nicht durch ihren Sinngehalt bestimmt. Nicht nur enthält jeder Satz in diesem Falle einen einheitlichen „Gedanken", sondern mit einem jeden Satze wird auch der „Gedanke" endgültig abgeschlossen und fängt ein vollkommen neuer an, der weder an das schon Gesagte anknüpft noch auf das Darauffolgende hinweist. So können z.B. manchmal Irrsinnige stundenlang reden, und niemand kann aus dem Sinngehalt der Sätze erraten, warum gerade solche und so aufeinanderfolgende Sätze ausgesprochen wurden 1 . Indessen bildet eine Aufeinanderfolge solcher zusammenhangsloser Sätze eine Anomalität. Das A u f e i n a n d e r f o l g e n von Sätzen fordert selbst in gewissem Grade, daß sie von vornherein nicht als tote, nebeneinanderliegende Steinchen, sondern als G l i e d e r eines höheren Ganzen betrachtet werden. Man ist von Anfang an darauf eingestellt, die einzelnen Sätze nicht bloß zu verstehen, sondern sie auch nur als „Takte" zu nehmen und durch Befolgung der unter ihnen obwaltenden Zusammenhänge das in ihnen gründende Ganze zu erfassen2. Sind die Zusammenhänge zunächst unsichtbar, so sucht man sie zu finden, und man ist verwundert, wenn man sie — wie ζ. B. im Falle einer irrsinnigen Rede — nicht vorfindet. Daß im normalen Falle solche Zusammenhänge unter den aufeinanderfolgenden Sätzen vorhanden sind, kann somit nicht bezwei1

Dabei kann dieses „warum" wohl in der besonderen krankhaften psychischen Anlage des Redenden gesucht und gefunden werden. Aber dann werden die ausgesprochenen Sätze vor allem in ihrer Kundgabefunktion als „Symptome" dieser oder jener Krankheit genommen. 2 Darin zeigt sich eben, daß wir die satzbildende Operation mit Recht als eine im „normalen" Falle nur relativ selbständige hingestellt haben.

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felt werden1. Im Zusammenhang damit entstehen aber folgende Fragen : 1. Was ist ein Zusammenhang unter den Sätzen ? 2. In welchen Eigentümlichkeiten der einzelnen Sätze gründet er (wodurch wird er hervorgebracht) ? 3. Führt das Vorhandensein von Zusammenhängen unter den Sätzen zur Konstitution von etwas völlig Neuem, und, wenn es der Fall ist, was ist dieses Neue ? 4. Gibt es verschiedene Typen von Zusammenhängen unter den Sätzen, und welche sind es gegebenenfalls ? 5. Macht sich die Verschiedenheit der Typen von Satzzusammenhängen in den Eigenheiten des sich neukonstituierenden Ganzen kenntlich und auf welche Weise ? Doch setzt die Formulierung dieser Fragen voraus, daß das Primäre, Zugrundeliegende die einzelnen Sätze, das sich darauf Bauende, sich erst Konstituierende das Ganze z.B. einer „Erzählung", eines „Beweises" usw. ist. Und da können wir auf die entgegengesetzte Ansicht stoßen, daß gerade umgekehrt das Ganze das Primäre, Bestimmende, Konstituierende und die einzelnen Sätze das durch den Sinn des Ganzen Bestimmte, Konstituierte sei. Führen unsere eigenen, früher ausgesprochenen Bemerkungen über die relative Unselbständigkeit der satzbildenden Operation nicht gerade zu einer solchen Auffassung ? Sind wir da also nicht mit uns selbst im Widerspruch ? Soviel wir sehen, sind beide Auffassungen — richtig verstanden — im Recht und widersprechen sich gar nicht, weil sie sich auf v e r s c h i e d e n e Sachlagen beziehen. Die Rede von der „Konstitution" kann hier nämlich zweierlei bedeuten, je nach dem Standpunkte, von dem aus das Ganze z.B. einer Erzählung betrachtet wird. Man kann so ein Ganzes entweder „im Werden", wie es aus den subjektiven Operationen hervorgeht, oder als etwas schon F e r t i g e s betrachten, das wir ausschließlich durch das Verstehen der einzelnen in es eingehenden Sätze erfassen können. Im ersten Fall kann man zugeben, daß dieses Ganze in gewissem Sinne das Ursprünglichere sei. Sowohl beim Verfassen eines literarischen Werkes, wie auch oft im lebendigen Reden (besonders bei längeren, z.B. parlamentarischen Reden, wissenschaftlichen Vorträgen — natürlich, falls sie nicht zuvor aufgeschrieben wurden) ist die sogenannte 1

Mit Nachdruck betont dae Th. A. Meyer, I.e. S.18ff. 153

„Konzeption" des Ganzen das Primäre, zuerst Vorhandene. Sie ist es, die bestimmt, wie die einzelnen Sätze ausgestaltet werden und in welcher Ordnung sie aufeinanderfolgen sollen. Oder anders gesagt : Nur im Hinblick darauf, was das Ganze sein soll, werden die einzelnen Sätze ihrem Inhalte, ihrer Form und sogar ihrem sprachlautlichen Ausdruck nach konzipiert. Insofern wäre dieses Ganze dasjenige, was zu der Konstitution der einzelnen Sätze beiträgt, wenn auch die einzelnen Sätze letzten Endes für sich selbst in satzbildenden Operationen gebildet werden müssen. Oder subjektiv gewendet: der ursprüngliche Impuls, ein bestimmtes Ganzes (eine „Rede", eine „Erzählung", ein „Drama" usw.) zu schaffen, trägt die einzelnen satzbildenden Operationen und beeinflußt ihren Vollzug. Aber auch von da aus betrachtet, ist das Zugrundeliegende und Bestimmende nicht das schon g e b i l d e t e Ganze selbst, sondern nur seine „Konzeption", ein mehr oder weniger genauer Umriß dessen, was gebildet werden soll. Gewöhnlich unterscheidet sich dabei das letzten Endes gebildete Werk erheblich von dem, was zuerst durch den Autor vorgeahnt und geplant wurde. Denn das Ganze dés Werkes e n t w i c k e l t sich — auch bei einer noch so deutlichen und genauen Konzeption — erst durch die Festlegung der einzelnen Sätze und e n t f e r n t sich dabei mehr oder weniger von dem ursprünglich geplanten. Wie oft weiß der Autor nicht, was aus seinem Werke werden wird und wie es sich „unter seinen Händen" verwandelt. Nur daß eine gewisse P e r s p e k t i v e auf etwas, was über den einzelnen, jeweilig gebildeten Satz hinausgeht, notwendig ist, scheint mir richtig zu sein1. Anders stellt sich die Sachlage dar, wenn das ganze Werk8 als ein fertiges Gebilde vorliegt. Dann sind die einzelnen Sätze das Zugrundeliegende, dasjenige, was „zuerst" vorliegen muß, damit sich das Ganze überhaupt konstituieren kann. Das ganze Werk ist dann das Abhängige, das sich aus dem gesamten Sinngehalt und aus der Anordnung der einzelnen Sätze ergibt. Zu vergessen ist aber 1

Pierre A u d i a t hat wohl recht, wenn er vom Werden des literarischen Werkes spricht und eine „Biographie" dieses Werkes fordert (wie wir später sehen werden, kann man von einer „Biographie" in einem völlig anderen, passenderen Sinne reden, vgl. Kap. 13). Er irrt nur, wenn er das gebildete Werk mit den subjektiven Operationen, aus denen es hervorgeht und denen gegenüber es transzendent ist, identifiziert. 2 Vom „ganzen Werk" wird da zunächst im Sinne des ganzen sinnvollen T e x t e s gesprochen. Es wird sich aber zeigen, daß diese Rede auch in bezug auf das ganze Werk in allen seinen Schichten erlaubt ist. 154

dabei nicht, daß die einzelnen Sätze schon in einer bestimmten Aufeinanderfolge und in bestimmten Zusammenhängen auftreten und daß infolgedessen — wie sich gleich zeigen wird — ihr gesamter Sinngehalt (und sogar in manchen Fällen ihre sprachlautliche Seite) nicht ausschließlich durch die in dem jeweiligen (isoliert genommenen) Satze auftretenden Wortbedeutungen bestimmt wird, sondern gar oft durch die Sinngehalte anderer (vorangehender) Sätze näher ausgestaltet und in verschiedener Hinsicht modifiziert wird1. Im wesentlichen liegt dieselbe Sachlage auch dann vor, wenn wir uns mit einem literarischen Werke bekannt machen. Das, was uns zunächst vorliegt, was wir seinem Inhalt und seiner Form nach voll ausschöpfen müssen, um überhaupt zu dem ganzen Werk zu gelangen, sind die einzelnen Sätze. Diese können uns dabei nicht alle mit einem Male gegeben werden, sondern wir müssen sie in einem N a c h e i n a n d e r kennenlernen und verstehen2. Auch im Hinblick darauf sind die einzelnen Sätze das Primäre und Bestimmende, das ganze Werk dagegen das durch sie Konstituierte. Da aber alle unsere Analysen das f e r t i g e literarische Werk zum Gegenstand haben und da wir nur dort auf die subjektiven Operationen zurückgreifen, wo uns das im Werk selbst Vorgefundene dazu nötigt, so sind wir voll berechtigt, die oben formulierten fünf Fragen3 zu stellen. Gehen wir jetzt zu ihrer Beantwortung über. ad 1. Stellen wir zwei Beispiele gegenüber: A. 1. „Die Automobile machen einen unerträglichen Radau." 2. „Freiburg liegt in Baden." B. „Mein Sohn hat ein gutes Schulzeugnis bekommen. Er ist sehr vergnügt und spielt lustig im Garten." Ohne lange nachzudenken, werden wir sagen : Im Falle A besteht kein Zusammenhang zwischen den beiden Sätzen, im Falle Β dagegen liegt er vor4. Ja, aber was liegt eigentlich vor, wenn ein Zusammenhang unter den Sätzen besteht ? Nehmen wir zunächst 1

Oder anders und korrekter ausgedrückt: Die im Zusammenhang mit einem bestimmten Satze stehenden Sätze entscheiden oft darüber, in welchem Sinne die in dem betreffenden Satze auftretenden Worte genommen werden sollen. 2 Dies wird uns übrigens später zu einer ganz anderen Betrachtungsweise des literarischen Werkes zwingen, vgl. Kap. 11. 3 Vgl. oben S. 153. 4 Er würde noch deutlicher auftreten und sich auch enger gestalten, wenn wir dem Satze B2 die Formulierung gäben: „Er ist deswegen sehr vergnügt und spielt lustig im Garten."

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den Fall A vor, so haben wir es da mit zwei Sätzen zu tun, deren Sinngehalte nicht bloß für sich selbständige, sondern zugleich so in sich a b g e s c h l o s s e n e Sinneinheiten bilden, daß kein Bedeutungselement des ersten Satzes über die Sinneinheit dieses Satzes zu irgendeinem anderen Bedeutungsgebilde hinübergreift und umgekehrt. Und gerade dieses Hinübergreifen eines Bedeutungselements über den Sinngehalt des eigenen Satzes liegt im z w e i t e n Satze des Falles Β vor. Nehmen wir diesen Satz zunächst so hin, als wenn er ganz isoliert wäre und insbesondere nicht auf den Satz B! folgte, dann haben wir bloß : C. „Er ist sehr vergnügt und spielt lustig im Garten." Dieser Satz unterscheidet sich seinem Sinne nach ganz deutlich von dem Satze B¡¡. Es ist da irgendein, uns sonst nicht näher bekannter und unbestimmter, „er", der „vergnügt ist usw.", satzmäßig vermeint. Im Satze B2 dagegen hat dieses „er" eine ganz andere Bedeutung : es weist identisch auf denselben Gegenstand hin, der durch den Ausdruck „mein Sohn" bestimmt ist und von welchem wir im Moment, wo Bj abgeschlossen dasteht, noch wissen, daß er ein gutes Schulzeugnis bekommen hat. Das Wörtchen „er" entwirft in B„ nicht nur (wie es in C tut) ein sonst unbestimmtes Subjektselement in dem zugehörigen Sachverhalte, sondern versetzt zugleich dieses Subjektselement in das Subjektselement des nicht zu B2 (oder genauer zu C), sondern zu Bx gehörenden Sachverhalts. Oder anders gesagt: Die Bedeutung des Wortes „er" in B2 greift über den Sachverhalt, der durch diesen Satz, wenn er isoliert dastände (also durch C), entworfen wäre, in einen anderen, fremden Sachverhalt hinüber. Dieses Wort kann es aber nur dadurch tun, daß seine volle Bedeutung einer Modifikation unterliegt, d.h. indem es von vornherein so gedacht wird („er" — derselbe, der mein Sohn ist usw.), daß seine Bedeutung an ein Bedeutungselement des vorangehenden Satzes Bj anknüpft und dank dieser Anknüpfung mit seinem Richtungsfaktor in den „fremden" Sachverhalt hineingreift. Weiter: B2 wird in solcher Zusammenstellung gewöhnlich so verstanden, daß sein Sinngehalt einen potentiellen Bedeutungsbestand in sich enthält, welcher durch die Hinzufügung des Wörtchens „deswegen" zur Aktualisierung und Explizierung gebracht werden kann. Dadurch greift wiederum ein Bedeutungselement von B2 durch eine Anknüpfung an den g e s a m t e n Sinngehalt von Bx in den Sachverhalt Bj ein, ihn zugleich als Grund und andererseits den von B2 ent156

falteten Sachverhalt als Folge des ersteren charakterisierend. Überall, wo der Sinngehalt eines Satzes β (entweder als ganzer oder durch ein in ihm auftretendes Bedeutungselement) an ein Bedeutungselement oder an den gesamten Sinngehalt eines anderen Satzes a anknüpft und über den eigenen Sachverhalt in einen anderen Sachverhalt (des Satzes a) hinübergreift, ist sozusagen der erste Schritt getan, die unentbehrliche Grundlage zur Statuierung eines Zusammenhanges unter den beiden Sätzen geschaffen. Es wäre aber falsch zu behaupten, daß damit schon ein Zusammenhang statuiert werde und daß der letztere eben in diesem Anknüpfen und Hinübergreifen b e s t e h e . Denn es kann z.B. den folgenden Fall geben : D. „Das Kind weint. Es hat zwei senkrecht aufeinanderstehende, gleiche Diagonalen." Lesen wir diese Sätze, so sind wir beim Anfangen des zweiten Satzes darauf eingestellt, es handle sich weiter um das Kind, das weint. Indessen die Fortsetzung des zweiten Satzes zerstört diese Einstellung: es stellt sich heraus, daß kein Zusammenhang zwischen den beiden Sätzen besteht und daß sie bloß aus einem ganz unverständlichen Grunde aufeinander folgen. Das zunächst hinübergreifende Bedeutungselement des Wörtchens „es" vermag hier weder an ein Bedeutungselement noch an den ganzen Sinngehalt des Satzes Dx anzuknüpfen, da es durch den Sinn der übrigen Bedeutungselemente von D 2 daran gehindert wird: dasjenige „es", das zwei aufeinander senkrecht stehende gleiche Diagonalen hat bzw. haben soll, kann doch kein „Kind", sondern nur ein Quadrat sein. Ein Zusammenhang zwischen zwei Sätzen liegt also erst dann vor, wenn es wirklich g e l u n g e n ist, ein Bedeutungselement des einen Satzes an den Sinngehalt des anderen Satzes (bzw. an ein Bedeutungselement dieses Satzes) anzuknüpfen, und wenn infolgedessen auch die zugehörigen rein intentionalen Korrelate in eine vollzogene Verbindung miteinander eingehen. Ja, der Zusammenhang zwischen zwei Sätzen ist nichts anderes als eine derartig gelungene Anknüpfung eines Satzsinngehaltes an einen anderen. Das Charakteristische ist dabei, daß die beiden Satzsinngehalte trotz der gelungenen Anknüpfung weder ihre Einheit noch ihren Ganzheitscharakter verlieren. Die beiden Sätze, auch wenn sie im Zusammenhang stehen, bleiben zwei verschiedene Sätze, und ein jeder von ihnen entfaltet einen eigenen Sachverhalt. Ihre Selbständigkeit 157

zeigt sich aber ais keine absolute, denn ihr „Im-ZusammenhangStehen" vollzieht sich nur unter verschiedenen Modifizierungen ihrer gesamten Sinngehalte, und diese Modifizierungen vollziehen sich jeweilig unter der Richtschnur des Sinngehaltes des anderen Satzes (bzw. umgekehrt)1. Beide Sinngehalte passen sich sozusagen aneinander an, ihre Anpassung aber geht nicht so weit, daß die beiden Sätze aufhören würden, Sätze, d.h. besondere funktional-intentionale Sinneinheiten, zu sein. Das „Hinübergreifen" eines Bedeutungselements kann entweder von dem vorangehenden oder von dem nachfolgenden oder endlich von beiden Sätzen zugleich erfolgen. Andererseits kann es einen Zusammenhang von m e h r e r e n Sätzen geben, und ein solcher ist auch tatsächlich oft vorhanden. Das Hinübergreifen und Anknüpfen der Bedeutungselemente verschiedener Sätze, die gelungene Anknüpfung mehrerer Satzsinngehalte aneinander erfährt da verschiedene besondere Komplikationen, die wir hier nicht näher untersuchen wollen. Zu betonen ist nur, daß e i n Zusammenhang unter m e h r e r e n , manchmal unter sehr zahlreichen, Sätzen bestehen k a n n , was nicht ausschließt, daß sich manchmal Gruppen von Sätzen bilden, die im e n g e r e n Zusammenhang stehen, und daß dann die so entstandenen Satzgruppen wiederum in e i n e n weiteren, übergreifenden Zusammenhang treten. ad 2. Wie ist es aber möglich, daß einzelne Sätze, die doch ganzheitliche Sinneinheiten für sich sind, doch über sich selbst hinausweisen und in einen Sinnzusammenhang miteinander eingehen ? Wie schon aus dem Obigen hervorgeht, muß es in ihnen Bedeutungselemente geben, die das leisten. Es sind vor allem manche (aber nicht alle) der früher betrachteten rein funktionierenden Worte2, wie z.B. „und", „also", „somit", „weil", „deswegen", „dagegen", „andererseits", „dies", „derselbe", „dabei", „außerdem", „insofern" usw., aber auch manche sachhaltig funktionierende Worte, wie z.B. „nachher", „dahinter", „als" (cum temporale)t „während" usw.3. In den meisten Fällen treten mehrere solche Worte 1 Daß es wirklich zu solchen Sinnmodifikationen kommt, sieht man am besten, wenn man die im Zusammenhang stehenden Sätze aus ihrem Zusammenhang losreißt und sie als völlig isolierte ihrem Sinngehalte nach untersucht. 2 Vgl. A. Pfänder, „Logik", II. Abschn., Kap.VIII und X. 3 Es wäre natürlich für eine vollendete Theorie der Zusammenhänge unter den Sätzen unentbehrlich, den Bereich derjenigen funktionierenden Wörter genau zu bestimmen, welche dazu befähigt sind, einen Zusammenhang unter einzelnen Sätzen zu statuieren. Ihnen müßte man diejenigen gegenüberstellen, welche es nicht leisten

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— in verschiedenen Verbindungen mit nominalen Wortbedeutungen — in den Sätzen auf, und erst ihre Gesamtleistung führt zur Statuierung eines Zusammenhanges unter den betreffenden Sätzen. Einen durch ein rein funktionierendes Wort statuierten Zusammenhang haben wir z.B., wenn nach einer Behauptung ein anderer Satz (und zwar ein Hauptsatz) folgt, welcher mit „denn" anfängt. Dieses „denn" charakterisiert das in diesem Satze Ausgesagte als „Begründung" des vorangehenden Satzes und setzt die beiden Sätze in einen bestimmten, engen Zusammenhang. Der vorangehende Satz, der zunächst als eine sich selbst genügende und vollkommen unabhängige Sinneinheit dasteht, wird damit ex post als etwas Abhängiges, Begründetes charakterisiert. Diese Charakterisierung geht aber mit einer deutlichen Modifizierung seines Sinngehaltes zusammen : Nicht, daß dadurch allein etwas ganz anderes behauptet wäre, daß ein material anders bestimmter Sachverhalt zur Entfaltung gelangt ; die Modifikation geht aber dahin, daß das in dem Sinngehalte zunächst enthaltene Moment der s c h l e c h t h i n n i g e n , „kategorischen" Hinstellung des Sachverhaltes sich in ein Moment verwandelt, dessen Sinn sich in den Worten: „es ist so, weil" explizieren läßt. Das Auftreten solcher funktionierender Wörtchen ist aber zur Statuierung eines Zusammenhanges unter den Sätzen nicht notwendig. Wenn z.B. in zwei verschiedenen (und manchmal nicht unmittelbar aufeinander folgenden) Sätzen dasselbe Subjekt auftritt, auf das sich verschiedene Prädikate beziehen, so stehen die beiden Sätze im Zusammenhang. Dabei ist es sogar nicht notwendig, daß.in beiden Sätzen genau dieselbe, d.h. mit demselben materialen Inhalt ausgestattete nominale Wortbedeutung die Stelle des Subjekts einnimmt. An die Stelle eines Namens kann z.B. in dem zweiten Satze ein Pronomen oder ein denselben Gegenstand durch andere Eigenschaften bestimmender nominaler Ausdruck treten. Unentbehrlich ist in diesem Falle nur, daß der intentionale Richtungsfaktor in beiden Fällen absolut identisch gerichtet ist. In solchen Fällen zeigt sich am besten, daß das unmittelbare Aufeinanderfolgen von zwei Sätzen zwar für sich selbst nicht ausreicht, um einen Zusammenhang zwischen ihnen zu statuieren, aber zu können, wie z.B. „ist", „in", „aus", „ a b " usw. Es wäre auch notwendig, die Frage zu beantworten, welche Eigenschaften die einen Satzzusammenhang hervorbringenden Wörtchen haben müssen, um dies leisten zu können. 159

seiner Statuierung — bei schon vorhandenen, einen Zusammenhang statuierenden Faktoren — doch beiträgt. Und zwar tut es dies dadurch, daß es zu einer ganz bestimmten Modifizierung des Satzsinnes des nachfolgenden Satzes führt. Wenn ich z.B. sage: „Er ist vergnügt und spielt im Garten.", so ist der intentionale Richtungsfaktor des Wörtchens „er" potentiell und variabel, so daß dieser Satz auf unzählige verschiedene Fälle „angewendet" werden darf. Folgt aber dieser Satz unmittelbar auf den Satz „Mein Sohn hat ein gutes Schulzeugnis bekommen.", so ist der Richtungsfaktor schon aktualisiert und stabilisiert und weist genau auf denselben Gegenstand hin, den der Ausdruck „mein Sohn" bezeichnet1. Aber nicht das bloße unmittelbare Aufeinanderfolgen der Sätze, sondern auch die Stelle des Satzes in der Reihenfolge trägt hier zur Statuierung des Zusammenhanges bei2. Wenn wir z.B. sagen: „Er ist vergnügt usw. Mein Sohn hat ein gutes Zeugnis bekommen.", so hat sich in diesen Sätzen, dem reinen Ausdruck nach, im Vergleich zu dem früher analysierten Fall nichts geändert. Und trotzdem besteht jetzt kein Zusammenhang zwischen ihnen. Der Richtungsfaktor des Wörtchens „er" ist jetzt rein potentiell und unbeschränkt variabel, und es ist aus dem Sinngehalt dieser Sätze absolut nicht zu entnehmen, daß „er" eben „mein Sohn" sein soll. Ein anderes Beispiel, wo das Aufeinanderfolgen der Sätze in einer bestimmten Reihenfolge zur Statuierung eines Zusammenhanges beiträgt : Jemand erzählt: „Herr X hat keine Ahnung vom Automobillenken. Dabei ist er ungeschickt und sehr leichtsinnig. Er nahm gestern zwei Bekannte in seinem Auto mit, machte einen Ausflug nach Y und überfuhr unterwegs zwei Kinder. Beide sind tot. So ein Trottel kann so viel Unglück verursachen." Nur die bestimmte Anordnung der Sätze macht es, daß sich der Ausdruck „so ein Trottel" auf den Herrn X und das Wort „beide" auf die getöteten Kinder und nicht auf die Bekannten des Herrn X bezieht. Stellen wir die Sätze um, so wird ihr Sinn sich ändern, und es kann auch der Zusammenhang der Sätze verschwinden, oder er kann wenigstens so verun-

1 Vorausgesetzt natürlich, daß der Richtungsfaktor dieses letzteren Ausdrucks schon ebenfalls stabilisiert ist und somit auf ein ganz bestimmtes Individuum hinweist. Im entgegengesetzten Falle (wenn es also nicht auf irgendwelche Weise festgelegt ist, um wessen Sohn es sich da handelt) ist der Richtungsstrahl des Pronomens in denselben Grenzen variabel wie derjenige des Ausdrucks „mein Sohn". 2 Allgemein ist dies nicht bindend. Es kann Sätze geben, die im Zusammenhang stehen, unabhängig davon, in welcher Ordnung sie aufeinander folgen.

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staltet werden, daß wir zwar wissen, es sei irgendein Zusammenhang da, daß aber zunächst eine entsprechende Ordnung hergestellt werden muß, damit er in passender Gestalt vorliegt und deutlich hervorspringt. Es ist nicht nötig, daß die den Zusammenhang statuierenden nominalen Ausdrücke immer die Stelle des Subjekts im Satze einnehmen. Z.B. „Der Dieb hat uns bemerkt und versuchte zu entkommen. Er lief schnell. Wir haben ihn aber gefaßt und ihm unsere Sachen abgenommen." Endlich kann es auch die Form der Sätze sein, die ihren Zusammenhang herstellt (wobei übrigens gewöhnlich ein funktionierendes Wörtchen bzw. Zeichen die Form des Satzes angibt). Z.B. eine Frage postuliert, daß der ihr folgende Satz ihr als „Antwort" zugehört (wobei aber dieses Postulat nicht immer erfüllt werden muß). Ebenso : Rede und Gegenrede : „Gib mir ein Glas Wasser." — „Das Wasser ist hier sehr schlecht." — lautet die Antwort u.dgl. mehr. ad 3. Die eben durchgeführten Analysen — so ergänzungsbedürftig sie auch sind — zeigen uns deutlich genug, daß die im Zusammenhang miteinander stehenden Sätze ein durchaus neues Ganzes konstituieren, das einer bloßen Mannigfaltigkeit, einer Ansammlung von (isolierten) Sätzen nicht gleichzustellen ist. Dieses Ganze kann je nach dem Fall eine „Erzählung", ein „Beweis", eine „Theorie" usw. sein und hat in jedem der Fälle charakteristische, eigene Eigenschaften, die sich nicht auf die Eigenschaften der in das jeweilige Ganze eingehenden Sätze reduzieren lassen und die auch einer Ansammlung vollkommen zusammenhangsloser Sätze nicht zukommen. Wir sind noch nicht genug vorbereitet, um eine zufriedenstellende allgemeine Bestimmung des in zusammenhängenden Sätzen sich konstituierenden Ganzen zu geben. Aber einige Hinweise werden hier von Nutzen sein. Z.B.: Jedes solche Ganze hat eine eigene k o m p o s i t i o n e l l e Struktur, die freilich von den Sinngehalten und von der Anordnung der Sätze in ihrer Aufeinanderfolge und endlich von der Art ihres Zusammenhanges abhängig ist, die aber mit keiner Eigenschaft der einzelnen Sätze identisch ist. Und es gibt eine große Mannigfaltigkeit von verschiedenen Typen solcher Strukturen. So kann z.B. am „Anfang" eines Werkes die „Exposition" gegeben werden, die die „Vorgeschichte" entwickelt; dann folgt erst die eigentliche Darstellung der Ereignisse, und zwar z.B. in der Reihenfolge, wie sie sich in der Zeit nacheinander ab11 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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spielen, bis sie zum Kulminationspunkt und zum Abschluß gebracht werden. Als eine besondere Folge dieser oder einer anderen „Komposition" ergibt sich eine so oder anders gestaltete D y n a m i k des Werkes, andererseits aber eine D u r c h s i c h t i g k e i t und schlichte E i n f a c h h e i t der K o m p o s i t i o n , oder umgekehrt eine Verw i c k e l t h e i t und eine gewisse E x z e n t r i z i t ä t und K ü n s t l i c h keit usw. — alles Eigenschaften des Ganzen und nicht der einzelnen Sätze. Und wenn auch zuzugeben ist, daß auch der einzelne Satz diese oder jene kompositionelle Struktur hat, daß auch ihn eine Dynamik charakterisieren kann usw., so sind das jedenfalls nur analoge und nicht genau dieselben oder gar identische Eigenheiten. ad 4. Wie schon aus dem Gesagten hervorgeht, gibt es verschiedene Typen der möglichen Zusammenhänge unter den Sätzen. So kann es ganz lose und unsystematische Zusammenhänge geben, wie sie z.B. bei einer Aufeinanderfolge von Sätzen vorliegen, die durch eine lose und ungeregelte, launische Assoziation gebildet werden. Sie können andererseits sehr eng sein, wie es z.B. im Falle einer strengen deduktiven Theorie ist. Sie können unmittelbar oder in höherem oder geringerem Grade mittelbar sein, in expliziter oder impliziter Form auftreten usw. Es ist hier nicht der Ort, dies alles genau zu analysieren. Aber auf einen Unterschied möchten wir hier noch hinweisen, auf den Unterschied nämlich, der zwischen rein s a c h l i c h e n und denjenigen Zusammenhängen besteht, die durch verschiedene in den Satzsinngehalten auftretende oder durch die Sätze selbst ausgeübte logische Funktionen statuiert und evtl. zur Ausprägung gebracht werden1. Nehmen wir zum Beispiel zwei geometrische Sätze: „Das Quadrat ist ein gleichseitiges Parallelogramm. Seine Diagonalen halbieren sich und sind einander gleich." so stehen sie in einem Zusammenhang, der rein sachlich ist, miteinander. Auch wenn wir — etwa um diesen Zusammenhang enger zu gestalten — zwischen die beiden Sätze einen dritten einschieben : „Alle gleichseitigen rechtwinkligen Parallelogramme haben zwei gleiche, sich halbierende Diagonalen.", so bleibt der Zusammenhang ebenso wie früher ein rein sachlicher. Erst wenn wir auf den ersten Satz den zweiten in der Gestalt: „Seine Diagonalen halbieren sich und sind einander gleich, weil jedes gleichseitige rechtwinklige Parallelogramm solche Diagonalen besitzt." folgen lassen, gelangt einerseits, dank der l o g i s c h e n Funktion des Wörtchens „weil", 1

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Vgl. dazu Th. A. Meyer, I.e. S.210f.

ein besonderer logischer Zusammenhang zwischen diesen Sätzen zur expliziten Ausprägung, andererseits gewinnen die zugehörigen Sachverhalte neue intentionale Momente, die nicht nur die beiden Sachverhalte in einen n o t w e n d i g e n Zusammenhang bringen, sondern zugleich ihre Rollen in dem dadurch sich konstituierenden Sachverhaltskomplex kennzeichnen. Alle „Beweise", alle Systematisierung (z.B. Axiomatisierung) wissenschaftlicher Resultate beruht im wesentlichen darin, daß rein sachliche Zusammenhänge durch logische Funktionen und Operationen in ihrer mehr oder weniger großen Strenge und Engheit gezeigt werden und daß zugleich den Sätzen eine logisch-operative Leistung und die der jeweiligen Leistung zugehörige operative Rolle verliehen wird. ad 5. All die hier angedeuteten Unterschiede in der Art der Zusammenhänge unter den Sätzen sind für die Eigenschaften und überhaupt für den Typus des in den zusammenhängenden Sätzen sich konstituierenden Ganzen (der Sinneinheiten höherer Ordnung) von Bedeutung. Die Art des Zusammenhanges, der jeweilig in einer Mannigfaltigkeit von Sätzen der vorherrschende ist, aber auch die Auswahl der Zusammenhangsarten, die in einem Ganzen höherer Ordnung auftreten, charakterisieren dieses letztere auf eigene Weise. Und umgekehrt: Soll ein Ganzes von bestimmter Art und mit bestimmten Eigenschaften konstituiert werden, so schreibt seine Art und der Bereich seiner Eigenschaften den Bereich der in ihm „möglichen" Arten von Satzzusammenhängen bzw. das Vorwiegen eines Satzzusammenhanges von bestimmtem Typus vor. Und wenn sich gegebenenfalls manche Zusammenhänge in einem Ganzen befinden, welche mit dem Typus des letzteren nicht im Einklang stehen, so wird dieser Typus entweder nicht zur reinen Ausprägung gelangen können, oder es wird sich überhaupt ein Ganzes von einem durchaus anderen Typus als beabsichtigt konstituieren, welcher dann wieder mit den einzelnen Zusammenhängen im Einklang steht. Denken wir uns z.B., daß in einer schlichten Erzählung über ein kleines Ereignis aus dem Leben — wie wir sie z.B. in einer kleinen „Novelle" vor uns haben — an einer Stelle die wichtigsten allgemeinen psychologischen Voraussetzungen eingeschoben würden, die jenes Ereignis ermöglichen, und daß sie in strenger logischer Anordnung, den unter ihnen herrschenden logischen Beziehungen gemäß, entwickelt würden (wobei noch manche Partien der Erzählung mit aller logischen Strenge durchgeführt würden), so wäre der Charakter der schlichten Erzählung zerstört. 11

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Aber auch der Typus einer streng wissenschaftlichen psychologischen Abhandlung wird damit noch nicht erreicht. Wir erhalten ein buntes, mit nicht harmonisierenden Eigenschaften ausgestattetes Ganzes, eine Mißgeburt, mit der man wirklich „nichts anfangen kann". Wie wir sehen, eröffnen sich da weite Perspektiven auf besondere Gestaltungen und Strukturen der literarischen Werke, Perspektiven, die in den bisherigen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, aber auch in der Wissenschaftslehre kaum hier und da vorgeahnt wurden und deren systematische Erforschung aus verschiedenen Gründen sehr wichtig wäre. Wir müssen uns hier mit dem Hinweis auf diese Perspektiven begnügen.

§ 24. Die rein i n t e n t i o n a l e n Korrelate der in z u s a m m e n h ä n g e n d e n S ä t z e n sich k o n s t i t u i e r e n d e n höheren S i n n e i n h e i t e n . Werfen wir jetzt noch einige Blicke auf die rein intentionalen Korrelate, die den zusammenhängenden Sätzen bzw. den darin sich konstituierenden Sinneinheiten höherer Stufe zugehören. Nehmen wir z.B. folgende zwei Sätze: „Meine Schreibmaschine hat 43 Taster. Die Taster meiner Schreibmaschine sind leicht beweglich." Ihre rein intentionalen Korrelate sind, ihrem Gehalte nach, zwei verschiedene Sachverhalte, die sich aber beide auf ein und dieselbe Schreibmaschine „beziehen". Dieses „Sichbeziehen" kann hier aber zweierlei bedeuten, je nachdem die beiden Sätze als Behauptungssätze („Urteile") oder als reine Aussagesätze genommen werden. Im ersten Falle „beziehen" sich die beiden Sachverhalte auf eine und dieselbe reale, seinsautonom existierende und mir etwa zugleich wahrnehmungsmäßig gegebene Schreibmaschine. Dies geschieht dadurch, daß der in dem nominalen Ausdruck „meine Schreibmaschine" enthaltene intentionale Richtungsfaktor sozusagen über den rein intentionalen Gegenstand hinausgeht und den betreffenden seinsautonom existierenden Gegenstand trifft1.

1 Im Zusammenhang damit treten in den beiden rein intentionalen Sachverhalten noch besondere Eigentümlichkeiten auf, mit welchen wir uns in dem näohsten Paragraphen eingehend beschäftigen werden.

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Wenn wir aber von der genannten „Beziehung" absehen und die beiden Sachverhalte rein als intentionale Korrelate schlichter Aussagesätze nehmen, so „beziehen" sie sich (und zwar in erster Linie) auf den durch die Wortbedeutung „meine Schreibmaschine" entworfenen, rein intentionalen Gegenstand. Und zwar ist diese Beziehung in unserem Beispiel in jedem der Sachverhalte eine etwas andere. In dem ersten Sachverhaltsgehalt beruht sie darauf, daß die Schreibmaschine in ihm als sein reeller Teil auftritt und die Funktion des Trägers des Habens von solchen und solchen Teilen ausübt. Dadurch ist sozusagen der Rest des Gehaltes auf die Schreibmaschine als den Träger bezogen, insbesondere sind die „Taster" in dem Seinsbereiche der Schreibmaschine als ihre T e i l e enthalten. Im zweiten Falle dagegen übt die Funktion des Trägers nicht die Schreibmaschine selbst, sondern ihre Taster aus. Aber indem die letzteren in dem Korrelatgehalte von vornherein als Taster der S c h r e i b m a s c h i n e auftreten, wird ihre Trägerfunktion, die sie der Eigenschaft „leicht beweglich" gegenüber ausüben, auf bedeutsame Weise im Vergleich zu derjenigen Trägerfunktion modifiziert, die sie ausüben würden, wenn sie selbst nicht Teile eines Ganzen, das selbst kein „Taster" ist, wären, sondern einen seinsselbständigen Gegenstand bildeten. Freilich sind es die Taster s e l b s t , die „leicht beweglich" sind; da sie aber der Maschine zugehörige, wenn auch abstückbare, Teile sind, ist es letzten Endes die Schreibmaschine selbst, die so ist, daß sie leicht bewegliche Taster besitzt. Und somit tritt in die Trägerfunktion der Taster eine relative Unselbständigkeit in bezug auf dasjenige ein, dessen Teile die Taster sind. Zugleich weist diese Modifikation der Trägerfunktion auf die Schreibmaschine selbst zurück, und dadurch wird der ganze Sachverhalt auf sie mittelbar „bezogen". Wenn aber in den beiden Sätzen nur der Ausdruck „Schreibmaschine" oder sogar „meine Schreibmaschine" aufträte, ohne daß es klar wäre, daß es dasselbe Individuum sei, das sie besitzt und von der einen und selben Maschine redet, so müßten die durch die i s o l i e r t genommenen Sätze entfalteten Sachverhalte sich noch nicht auf eine und dieselbe Schreibmaschine beziehen. Erst dadurch, daß ein Zusammenhang zwischen diesen Sätzen besteht, „beziehen" sie sich auf ein und dieselbe (intentional vermeinte) Maschine. Damit wird auch etwas Neues statuiert, was das Verhältnis der beiden Sachverhalte zueinander grundsätzlich ändert: ein s a c h l i c h e r Seins Zusammenhang zwischen ihnen. Bei aller ihrer Verschieden165

heit bestehen sie dann innerhalb des abgeschlossenen Seinsbereiches eines und desselben Gegenstandes und gehören dadurch in erster Linie ihm zu, aber damit auch zueinander. Der zweite Sachverhalt spielt sich dabei nicht im Rahmen des ersten Sachverhalts ab, bedingt ihn nicht und wird auch von ihm nicht gefordert. Falls aber der erste Sachverhalt nicht bestünde, würde auch der zweite nicht bestehen können. Aus diesen Gründen handelt es sich in diesem Falle um einen losen Zusammenhang zwischen zwei Sachverhalten. Es kann natürlich sehr mannigfache Typen von Seinszusammenhängen zwischen zwei Sachverhalten geben. Aber wie es damit im einzelnen auch stehen mag, wichtig für uns ist lediglich die Tatsache, daß es zu solchen Zusammenhängen unter den Sachverhalten als Korrelaten von zusammenhängenden Sätzen überhaupt kommt und daß solche Seinszusammenhänge durch den eigenen Bau der Satzkorrelatgehalte (und insbesondere der Sachverhalte) zugelassen und in den meisten Fällen gefordert werden. Gibt es viele Sätze, die sich zusammenhängend auf einen und denselben Gegenstand beziehen (z.B. bei der Beschreibung eines Gegenstandes), so schließen sich die zugehörigen Sachverhalte — bildlich gesagt — zu einem „Netz" zusammen, in welches der betreffende Gegenstand „eingefangen" wird. Der eine Sachverhalt knüpft auf diese oder jene Weise an einen zweiten an bzw. wird durch einen dritten mit ihm verbunden, daran schließen sich andere Sachverhalte auf mannigfache Weise, und so entwickelt sich ein Feld zusammenhängender Sachverhalte, die alle innerhalb eines und desselben Gegenstandes bestehen und in ihrem Zusammenhang den abgegrenzten Seinsbereich des betreffenden Gegenstandes ausmachen. Und umgekehrt : der Seinsbereich eines Gegenstandes reicht gerade so weit, wie die gesamte Mannigfaltigkeit der Sachverhalte, die ausschließlich auf ihn „bezogen" sind, reicht. Natürlich ist zu beachten, daß jeder Gegenstand als Ganzes in mannigfachen Beziehungen zu anderen Gegenständen stehen kann und daß damit auch der Umkreis der Sachverhalte, die sich auf ihn „beziehen", sich bedeutend erweitert. Aber diese Sachverhalte beziehen sich nicht bloß auf ihn, sondern auch auf andere Gegenstände, so daß allmählich ein ganzes Feld von verschiedenartigsten Sachverhalten zur Entfaltung gelangt, in welchen eine Mannigfaltigkeit von Gegenständen, ein Ausschnitt einer bestimmten Seinssphäre, „eingefangen" wird. Oder genauer gesagt: Ein bestimmter Gegenstand oder eine ganze Mannigfaltigkeit von Gegenständen und ihren Schicksalen gelangt in einer Mannigfaltig166

keit von zusammenhängenden Sachverhalten zur Darstellung 1 . Indem wir beim Verstehen (oder Aussagen) aufeinanderfolgender zusammenhängender Sätze eine Mannigfaltigkeit von Sachverhalten eich gleichsam vor unseren Augen entfalten sehen, dringen wir in das „Innere" des betreffenden Gegenstandes ein und lernen ihn kennen, ebenso wie wir die Geschehnisse kennenlernen, an welchen er und andere Gegenständlichkeiten teilnehmen. Korrelativ stellt er sich durch die mannigfachen Sachverhalte in seinem eigenen Sosein dar. Er stellt sich uns aber hier auf eine ganz andere Weise dar, als wenn er uns schlicht in der Wahrnehmung oder auch in einer unmittelbaren (also n i c h t signitiven) Sachverhaltserfassung gegeben wird. Es handelt sich nämlich hier um eine besondere Weise, in welcher die rein intentionalen, durch zusammenhängende Sätze entfalteten Sachverhalte miteinander eine Verbindung eingehen: Sie verbinden sich da zwar miteinander und stehen sehr oft in engen und strengen Seinszusammenhängen ; trotzdem aber sind sie bis zu einem gewissen Grade voneinander a b g e g r e n z t , sie v e r w a c h s e n , verschmelzen n i c h t in jeder Hinsicht miteinander. Schon bei der originären unmittelbaren Erfassung eines seinsautonomen, objektiven Sachverhaltes wird dieser durch den Erfassungsakt intentional h e r a u s g e f a ß t aus dem einheitlichen Ganzen des Gegenstandes, in das er — rein ontisch gesprochen — versunken ist. Mit dieser Herausfassung erfolgt eine (übrigens nur intentionale — aber darauf kommt es hier gerade an) Abgrenzung, Abscheidung von dem gesamten sonstigen Sosein des betreffenden Gegenstandes. Seine übrigen Sachverhalte, die in seinem Seinsbereiche bestehen, entziehen sich sozusagen unserem Blick, so daß er actualiter in dem erfaßten Sachverhalte nur als qualifizierter Träger der ihm zukommenden und in dem betreffenden Sachverhalte auftretenden Bestimmtheit aufleuchtet. Gerade durch die thematische Konzentration auf den betreffenden Sachverhalt und durch das damit notwendig zusammengehende „Außer-Sicht-Lassen" der übrigen Sachverhalte des betreffenden Gegenstandes kommt es zu der erwähnten intentionalen Abgrenzung. Bei originärer, nichtsignitiver Erfassung des Sachverhaltes kann aber diese intentionale Abgrenzung beseitigt und jedenfalls — wenn man so sagen darf — für die letzten Endes resultierende Erfassung des Gegenstandes „unschädlich" gemacht werden, weil es möglich ist, in einem f l i e ß e n d e n Erfassen kon1

Vgl. die späteren Untersuchungen im § 29.

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t i n u i e r l i c h von einem Sachverhalte zu einem anderen überzugehen. Bei diesem Übergang oder bei einem Zusammenerfassen von Sachverhalten, die zunächst für sich separat erfaßt wurden, zeigen sich die Abgrenzungen verschiebbar und auf die Erfassungsakte relativ, wodurch ihr rein intentionaler Charakter ins Auge springt. Sobald es aber dazu kommt, stellen sich die Abgrenzungen als etwas dem betreffenden seinsautonomen Gegenstande Nichtzugehörigea dar und werden durch eine eigentümliche durchstreichende Elimination aus dem Seinsbereiche des Gegenstandes entfernt. Auf diesem Wege können wir beim originären Erfassen der objektiv bestehenden Sachverhalte doch zu der dem Gegenstande eigenen Struktur der K o n k r e t h e i t vordringen, vordringen also zu dem ursprünglichen Z u s a m m e n g e w a c h s e n s e i n alles dessen, was den abgeschlossenen und trotz der Heterogenität der einzelnen Bestimmtheiten ursprünglich einheitlichen Seinsbereich des Gegenstandes, ja, diesen selbst ausmacht. In diesem originären und in jedem Augenblick einer Änderung des Meinungsgehaltes fähigen Erfassen des Sachverhaltes können natürlich auch die kontinuierlichen Prozesse zur Erfassung gebracht werden. Wir machen dabei gewissermaßen einen Querschnitt in das fließende Geschehen und fließen in dieser querschneidenden Einstellung mit dem Geschehen, es erfassend, mit. Anders stellt sich die Sachlage dar, wenn die Sachverhalte von vornherein durch einmal festgelegte Satzsinngehalte signitiv zur Entfaltung gebracht werden oder wenn wir sie durch Verstehen vorliegender, fertiger Sätze erfassen. Schon dadurch, daß der Sinngehalt eines fertigen und in einmal festgelegten Satzzusammenhängen stehenden Satzes eine in sich starre Sinneinheit bildet, wird eine analoge Starrheit in den Gehalt des rein intentionalen Satzkorrelates eingeführt. Trotz des Vorhandenseins der Zusammenhänge unter den Sätzen und der Verbindungen unter ihren rein intentionalen Korrelaten bleiben die letzteren z.T. diskrete Einheiten. Wenn also ein Gegenstand uns nur durch Satzsinngehalte mehrerer zusammenhängender Sätze zugänglich ist, so s p a l t e t er sich wie ein Lichtstrahl im Prisma in eine diskrete Mannigfaltigkeit von untereinander verschiedenen, wenn auch verbundenen Sachverhalten. Dabei sind die Abgrenzungen unter den einzelnen Sachverhalten von demselben rein intentionalen Charakter wie der Sacbverhaltsgehalt selbst. So kann es hier sozusagen nicht von s e l b s t zu der Gegenüberstellung dieser Abgrenzungen und des sachhaltigen 168

Materials der einzelnen Sachverhalte noch zu ihrer durchstreichenden Beseitigung aus der Struktur des Gegenstandes kommen. Daß es dazu bis zu einem gewissen Grade und auf einem ganz neuen Wege doch kommt bzw. kommen kann, werden wir später sehen. Aber auch dann bleibt die Spur dieser satzmäßigen, spaltenden Darstellungsweise der Gegenstände an den letzteren sichtbar und ist nie ganz zu beseitigen. Der Gegenstand wird hier tatsächlich wie in ein „Netz" eingefangen. Und sofern wir uns rein auf das Verstehen der Sätze beschränken, gelangen wir zu ihm in diesem „In-einNetz-Aufgefangensein". Oder anders gewendet: Als ein solcher aufgespalteter, in ein Netz von Sachverhalten aufgefangener wird er durch die zusammenhängenden Sätze mittelbar entworfen, in den Sachverhalten zur Darstellung gebracht. Es ist unzweifelhaft, daß wir uns bei der Lektüre eines gut geschriebenen literarischen Werkes diese Spaltung der dargestellten Gegenstände nicht zum Bewußtsein bringen. Es eröffnet sich damit das Problem, wodurch diese Spaltung im literarischen Werk beseitigt wird. Es muß da irgendein neuer Faktor mitwirken, der über das reine Verstehen der Sätze und auch über ihren reinen Sinngehalt hinausgeht. Was für ein Faktor das ist, werden wir aber erst später sehen können, da er nicht mehr zu der jetzt behandelten Schicht des literarischen Werkes gehört (Kap. 8 und 9). § 25. Der q u a s i - u r t e i l s m ä ß i g e Charakter der in einem l i t e r a r i s c h e n Werk a u f t r e t e n d e n Aussagesätze 1 . Vergleichen wir die in einem literarischen Werk auftretenden Aussagesätze mit denjenigen, die z.B. in einem wissenschaftlichen Werk vorkommen, so merken wir gleich, daß sie sich von den 1

Zu dem § 26 sowie auch später zu dem § 52 ist als Motto das zu setzen, Wae einst Breitinger in dem Aufsatze „Von dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen" geschrieben hat: „Die eigentümliche Kunst des Poeten besteht demnach darinnen, daß er die Sachen, die er durch seine Vorstellung angenehm machen will, von dem Ansehen der Wahrheit bis auf einen gewiesen Grad künstlich entfernt, jedoch allzeit in dem Maße, daß man den Schein der Wahrheit auch in ihrer weitesten Entfernung nicht gänzlich aus dem Gesichte verlieret." Und ferner: „Man muß also das Wahre des Verstandes und daa Wahre der Einbildung wohl unterscheiden; es kann dem Verstände etwas falsch zu seyn dünken, das die Einbildung für wahr annimmt, hingegen kann der Verstand etwas für wahr erkennen, welches der Phantasie als ungläubig vorkömmt; und darum ist gewiß, daß das Falsche bisweilen wahrscheinlicher ist, als das Wahre" (vgl. J. Chr. Gottsched und die Schweizer J. J. Bodmer und J. J. Breitinger, hrsg. von J. Crüger, Berlin 1882, S. 163).

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letzteren trotz derselben Form und manchmal auch trotz anscheinend desselben Inhalts wesentlich unterscheiden : die letzteren sind echte U r t e i l e im logischen Sinne, in welchen etwas ernst behauptet wird und die nicht nur den Anspruch auf Wahrheit erheben, sondern auch wahr oder falsch sind, während die ersteren zwar keine reinen Aussagesätze sind, aber andererseits auch nicht für ernstgemeinte Behauptungssätze, für Urteile, gehalten werden können. Um das Wesen der Schicht der Sinneinheiten und ihre Rolle im literarischen Werk adäquat zu erfassen, ist es unentbehrlich, diese besondere Modifikation der Aussagesätze und, wie sich bald zeigen wird, aller im literarischen Werke auftretenden Sätze klarzulegen. Wie wir oben schon einmal bemerkten, kann die subjektive satzbildende Operation, deren reines Produkt im Spezialfall der reine Aussagesatz ist, im Dienste anderer subjektiver Operationen und insbesondere im Dienste der Erkenntnisoperationen stehen. Unter den letzteren ist eine der wichtigsten das Urteilen über etwas. Das, was .geurteilt wird, wird gewöhnlich in einem Aussagesatze ausgesagt, der dadurch zu einem Behauptungssatz, zu einem Urteil im logischen Sinne wird. Ungeachtet der Änderung, die dabei in der Kundgabefunktion des Aussagesatzes vor sich geht, erfährt sein Sinngehalt eine besondere Modifikation, die es jetzt genauer herauszustellen gilt. Verstehen wir den Satz „Meine Füllfeder liegt auf dem Schreibtisch." zunächst rein im Sinne eines Aussagesatzes und verwandeln wir ihn nachher in einen Urteilssatz, so merken wir vor allem, daß der Richtungsfaktor des nominalen Ausdrucks „meine Füllfeder", der zunächst auf den zugehörigen rein intentionalen Gegenstand gerichtet ist, in dem Urteilssatze sozusagen über diesen Gegens t a n d hinaus auf einen realen (bzw. als real vermeinten) Gegenstand hinweist, und zwar auf einen Gegenstand, welcher gerade diejenigen Bestimmtheiten haben soll, die in dem Ausdruck „meine Füllfeder" vermeint sind. Durch diesen Hinweis des intentionalen Richtungsfaktors wird zugleich der ganze, durch den Sinngehalt des Satzes entfaltete, rein intentionale Sachverhalt auf die reale Füllfeder bezogen, ja, als ein in ihrem Seinsbereich enthaltener hingestellt. Er wird in die reale Seinssphäre, in welcher die betreffende Füllfeder sich befindet und in welcher sie „verwurzelt" ist (um das treffende Wort H. Conrad-Martius' zu benutzen), intentional h i n a u s v e r s e t z t . Zugleich gewinnt das Prädikat des Urteilssatzes 170

neben der von ihm im reinen Aussagesatze ausgeübten Funktion der verbalen Entfaltung noch eine zweite Funktion, welche sozusagen die unmittelbare Auswirkung des Urteilens ist und durch welche die Setzung des von dem Satze bestimmten Sachverhaltes als eines in der betreffenden Seinssphäre (in unserem Falle in der realen Welt) wirklich b e s t e h e n d e n geleistet wird1. In diesen beiden Funktionen vor allem — in der H i n a u s v e r s e t z u n g in die betreffende (reale, ideale usw.) Seinssphäre2 und in der e x i s t e n t i a l e n Setzung 3 — gründet dasjenige, was man gewöhnlich den „Wahrheitsanspruch" des Urteils nennt. Das Urteil erhebt mit anderen Worten den Anspruch, daß der durch seinen Sinngehalt bestimmte Sachverhalt n i c h t als ein rein intentionaler, sondern als ein in einer dem Urteil gegenüber seinsunabhängigen Seinssphäre verwurzelter Sachverhalt t a t s ä c h l i c h besteht. Die Funktion der „Hinausversetzung" aber ist im U r t e i l mit einer anderen, für das letztere ebenfalls charakteristischen Funktion untrennbar verbunden: mit der Vermeinung, daß der Gehalt des rein intentionalen Satzkorrelats dem Sachverhalt, der in einer dem Urteil gegenüber seinsunabhängigen Seinssphäre besteht, hinsichtlich aller auf die Erkenntnisoperation nicht relativen materialen und formalen Bestimmtheiten so genau a n g e p a ß t sei, daß beide in dieser Hinsicht i d e n t i f i z i e r t werden können4. Die Erkenntnis1 Tritt in einem Urteilssatze die Kopula auf, so ist es in erster Linie sie, die die beiden unterschiedenen Funktionen ausübt. Vgl. A. P f ä n d e r , „Logik", 1. c. S. 182ff. 2 Auf diese Funktion der Hinausversetzung hat mich A. B o s e n b l u m aufmerksam gemacht. 3 Diese beiden Funktionen hängen im Urteil so eng zusammen, daß sie bei oberflächlicher Betrachtung für ein und dieselbe Funktion gehalten werden können. Indessen zeigen genauere, im folgenden angegebene Analysen, daß die Hinausversetzung in eine Seinssphäre — wenn auch dann wesentlich modifiziert — nicht notwendig mit der existentialen Setzung zusammengehen muß. Also muß man die beiden Funktionen auch dann unterscheiden, wenn sie beide zusammen auftreten. 4 Es ist besonders zu betonen, daß beim Vollzug eines Urteilsaktes, der in einem Urteil im logischen Sinne kulminiert, gewöhnlich k e i n e besondere subjektive O p e r a t i o n des I d e n t i f i z i e r e n s dieser beiden Sachverhalte vorzufinden ist. Diese Tatsache spricht aber nicht gegen unsere Auffassung. Denn es handelt sich darum, daß bei einem schlicht vollzogenen Urteil der Gehalt des rein intentionalen Korrelats des zugehörigen Aussagesatzes v o n v o r n h e r e i n als identisch derselbe wie der objektiv bestehende Sachverhalt betrachtet wird. Es gibt aber auch Fälle, wo eine bewußte Identifizierung dieser beiden Sachverhalte stattfindet, und zwar immer dann, wenn wir das betreffende Urteil erst nach einer Erwägung, ob es tatsächlich wahr ist, fällen. In dieser Erwägung kommt es eben ganz deutlich zur Gegenüberstellung der beiden Sachverhalte, die erst dann, wenn wir zwingende Gründe dafür finden, identifiziert werden.

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operation muß so verlaufen und so lange fortgeführt werden, bis der intentionale Sachverhalt, der in ihrer Kulminationsphase, dem endgültigen Urteilsakt, gebildet wird, so gestaltet werde, daß er diesen Grad der Anpassung erreicht. Rein ontisch gesprochen müssen dann die beiden Sachverhalte — hinsichtlich der genannten Momente — zwei verschiedenartige Konkretisationen derselben idealen Wesenheiten bzw. Ideen bilden : die rein intentionale, in der Form seinsheteronome, auf die subjektive Operation relative Konkretisation, die objektiv bestehende, in der Form der für die jeweilig in Betracht kommenden Seinssphäre charakteristische Konkretisation, also im Falle eines in der realen Welt bestehenden Sachverhaltes in der Form der seinsautonomen Realisation der entsprechenden Wesenheiten bzw. Ideen. Und im Hinblick auf die D i e s e l b i g k e i t dessen, was da auf zwei verschiedene Weisen konkretisiert wird, werden die beiden Sachverhalte identifiziert, wobei an der Art der seinsheteronomen Konkretisation (an der bloßen Intentionalität) des intentionalen Sachverhalts sozusagen vorbeigegangen wird und die Intentionen des Urteilssatzes sich direkt auf das dem Urteilssatze gegenüber seinsunabhängig Bestehende richten. Nur als ein so angepaßter kann der rein intentionale Sachverhalt in die betreffende Seinssphäre intentional hinausversetzt werden1. Infolge aller dieser Funktionen kommt es also dazu, daß der rein intentionale Sachverhalt als ein rein intentionaler sozusagen aus unserem Gesichtsfeld verschwindet, daß er für sich nicht zur Abhebung gelangt2. Und es bedarf dann einer besonderen Einstellung, um ihn in seiner Eigenschaft zu erfassen und dem objektiv bestehenden Sachverhalt gegenüberzustellen. Einen aus dem täglichen Leben gut bekannten Fall

1 P f ä n d e r behauptet, daß die „Übereinstimmung" zwischen Wirklichkeit und Urteil, in welcher er das Wesen der Wahrheit des Urteils sieht, darin besteht, „daß das Urteil in seiner behauptenden Setzung, die es in bezug auf seinen Subjektsgegenstand vollzieht, zusammentrifft mit dem Verhalten des Gegenstandes selbst" („Logik", I.e. S.221). Wenn ich unter dem „Verhalten des Gegenstandes selbst" den in einer bestimmten Seinssphäre objektiv bestehenden Sachverhalt verstehen soll, so scheint mir meine im Texte angegebene Auffassung der Pfänderschen nahezustehen. Allerdings unterdem Vorbehalt, daß das von P f ä n d e r angegebene Moment die ganze Sachlage, die bei einem wahren Urteil vorliegt, noch nicht erschöpft und daß das „Zusammentreffen" des Urteils in dem Sinne gedeutet wird, daß der rein intentionale Sachverhalt seinem Gehalte nach dem objektiv bestehenden Sachverhalt angepaßt ist und daß die beiden Sachverhalte identifiziert werden. Im anderen Falle wüßte ich nicht, was man unter „Zusammentreffen" noch verstehen sollte, das die Rede von einer „Übereinstimmung" noch berechtigte. 2 Man könnte bildlich sagen, daß er vollkommen „durchsichtig" wird.

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dieser Einstellung haben wir dann, wenn wir, einen Urteilssatz verstehend und somit den in ihm enthaltenen und einen Sachverhalt entwerfenden Intentionen nachgehend, zugleich dem Urteil keinen Glauben schenken und in prüfender Tendenz den von dem Satze entworfenen Sachverhalt mit einem uns zugleich intuitiv gegebenen objektiven Sachverhalt vergleichen. Aber schon die bloße Zurückstellung des dem Urteil immanenten Wahrheitsanspruches genügt, um das rein intentionale Korrelat als rein intentionales zur Abhebung zu bringen. In diesen und allen analogen Fällen haben wir es nicht mehr mit einem reinen Urteil, sondern mit einem modifizierten zu tun, in welchem der Wahrheitsanspruch unterbunden, in Frage gestellt wird. Sobald der Wahrheitsanspruch ernst v o l l z o g e n wird, stellt sich die Situation wieder her, die wir oben beschrieben haben. So einfach und verständlich diese ganze Sachlage zunächst zu sein scheint, kann es doch Bedenken gegen die Richtigkeit unserer Auffassung geben. So taucht folgender Gedankengang auf: Wäre es nicht viel richtiger zu sagen, daß im Falle eines wahren Urteils es bloß den einen objektiv bestehenden Sachverhalt gibt, der im Urteilsakte einfach erfaßt und in dem Urteilssatze als ein objektiv bestehender vermeint und gesetzt wird ? Es ist ja doch eine unleugbare Tatsache, daß wir schlicht urteilend keine zwei Sachverhalte — den rein intentionalen und den objektiv bestehenden — vermeinen und sie erst irgendwie „zur Deckung" bringen, sondern schlicht auf einen einzigen (und zwar auf den objektiv bestehenden) Sachverhalt gerichtet sind und ihn in seinem von dem Urteil seinsunabhängigen Bestehen festhalten bzw. festzuhalten glauben. — Wäre aber diese Auffassung richtig, so müßte damit auch die Rede von einer Hinausversetzung des rein intentionalen Sachverhalts falsch sein, andererseits aber würde auch die ganze Theorie der rein intentionalen Korrelate der Sinneinheiten in Frage gestellt. Denn dann entstünde der begründete Zweifel, ob es auch bei falschen Urteilen und bei anderen Sätzen ein solches Korrelat gibt. Indessen kann das Vorhandensein des rein intentionalen Korrelats bei einem derartigen Gebilde, wie es ein Satz ist, nicht bezweifelt werden. Somit wäre es unverständlich, warum nur die wahren Urteilssätze eines solchen Korrelats beraubt werden sollten. Andererseits läßt sich auch im Falle des wahren Urteils das Vorhandensein und die Verschiedenheit der beiden Typen von Sachverhalten leicht zeigen. Dies beweisen schon die oben erwähnten 173

Fälle, wo wir über die Wahrheit eines bestimmten Urteils nachdenken. Aber es gibt Fälle, wo dies auch ohne die „Zurückstellung" des Wahrheitsanspruches des Urteils, also ohne die damit verbundenen Modifizierungen in den Urteilssatz einzuführen, leicht zu zeigen ist. Nehmen wir z.B. die folgenden Urteilssätze, die wir als wahr voraussetzen dürfen: „Jeder Körper ist ausgedehnt." und „Diese Füllfeder ist ein deutsches Fabrikat, jene dagegen ist amerikanischer Herkunft." Es gibt in der R e a l i t ä t unzweifelhaft nicht „diese" oder „jene" Füllfeder, also keinen Gegenstand, der ein Merkmal oder irgendein Moment besitzen würde, welches dem Worte „diese" bzw. „jene" entsprechen könnte. Ebenso, wie es keinen Körper gibt, der „jeder" wäre1. Gewiß, wenn wir z.B. im Gespräch, auf ein Ding hinweisend, sagen „diese Füllfeder", so hat diese intentionale Zuwendung zu ihm und die damit zusammenhängende Abhebung desselben von anderen Dingen zur Folge, daß das betreffende Ding in seinem anschaulichen E r s c h e i n u n g s g e h a l t ein besonderes — auch anschaulich erfaßbares — Moment gewinnt, das dieser Zuwendung entspricht und auf sie relativ ist. Dieses Moment ist aber rein i n t e n t i o n a l e r Natur und vermag das betreffende wirkliche Ding — so wie es rein in sich ist — in keiner Hinsicht zu verändern, also insbesondere auch kein neues Merkmal in ihm hervorzubringen. Es hebt sich auch von dem Bestände der dem Dinge zukommenden realen Eigenschaften deutlich ab. Wenn wir also sagen: „Diese Füllfeder ist ein deutsches Fabrikat.", so bestimmt der Sinngehalt dieses Satzes den Subjektsgegenstand des zugehörigen rein intentionalen Sachverhalts nicht bloß als „Füllfeder", sondern auch als einen mit dem intentionalen Moment, das dem Wörtchen „diese" entspricht, ausgestatteten, und erst auf einen so aufgefaßten bezieht er den Rest des Sachverhaltes. In dem entsprechenden realen Sachverhalt findet sich aber dieses Moment nicht vor. Es unterscheiden sich also die beiden Sachverhalte deutlich voneinander. Weil aber die Richtung, die durch den intentionalen Richtungsfaktor des Wörtchens „dieser" bestimmt wird, mit der Richtung des Aktes, in dem das Subjekt des realen Sachverhaltes erfaßt wird, zur Deckung kommt, können die beiden 1 Einen ähnlichen Gedanken hat Frl. Dr. M. K o k o s z y flska in einem Vortrag, den sie in der Philosophischen Gesellschaft in Lemberg hielt, ausgesprochen, indem sie behauptete, daß der Ausdruck „Jedes S" bzw. „Alle S" nicht als ein — wie sie sagte ·—• selbständiger Name aufgefaßt werden kann und daß somit das „jedes" nicht zu dem Subjekts-, sondern zu dem Prädikatsbegriff gerechnet werden muß.

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Sachverhalte einander entsprechen und identifiziert werden, so daß uns ihre Verschiedenheit nicht deutlich zum Bewußtsein kommt. Trotzdem erstreckt sich — rein ontisch betrachtet — die Identität nicht auf alle Momente der beiden Sachverhalte, wenn wir nur den real bestehenden Sachverhalt in voller Reinheit, also nach Beseitigung aller rein intentionalen, auf Bewußtseinsoperationen relativen Charaktere, nehmen, d.h. wenn wir ihn so nehmen, wie wir ihn in jedem den Anspruch auf Wahrheit erhebenden Urteil nehmen sollen. Dann springt uns auch der von dem untersuchten Urteilssatze entworfene rein intentionale Sachverhalt in seiner reinen Intentionalität ins Auge. Also auch bei wahren Urteilen ist das Bestehen der beiden Sachverhalte — des rein intentionalen und des objektiv bestehenden — unleugbar. Und dem widerspricht nicht die andere, ebenfalls unleugbare Tatsache, daß uns beim Vollzug des in einem Urteilssatze enthaltenen Sinngehaltes nicht zwei verschiedene, sondern nur ein einziger Sachverhalt „zu Gesicht kommt" ; denn darin zeigt sich nur die Leistung der oben beschriebenen Urteilsfunktion, die u. a. zu der Identifizierung der Materie und der Form des rein intentionalen Sachverhalts mit dem objektiv bestehenden führt. Es ist auch kein Wunder, daß es zu einer solchen Identifizierung trotz der Verschiedenheit der Seinsmodi der beiden identifizierten Sachverhalte kommt, denn nicht das intentionale Korrelat des Urteilssatzes als solches, sondern nur sein Gehalt wird da „zur Deckung" gebracht mit dem objektiven Sachverhalt. In diesem Gehalte selbst aber steht das Sosein des betreffenden Gegenstandes gerade in demjenigen Seinsmodus, in welchem der in der betreffenden Seinssphäre bestehende Sachverhalt auftritt, das reine Intentionalsein kommt uns da dagegen gar nicht zu Gesicht, weil es nicht zu dem Gehalte des reinen intentionalen Korrelats gehört bzw. in ihm nicht vorzufinden ist. Und daß es gerade so und nicht anders ist, das ist eben die unmittelbare Auswirkung der oben angegebenen Funktionen des Urteilssatzes. Unsere Auffassung der Urteilsfunktionen und die Interpretation des Wahrheitsanspruches kann also als gesichert gelten. Betrachten wir jetzt als Gegensatz den reinen Aussagesatz, so überzeugen wir uns, daß all die mit dem Wahrheitsanspruch unmittelbar zusammenhängenden Funktionen und ihre Folgen wegfallen. Erstens weist der intentionale Richtungsfaktor des Satzsubjektes nicht durch den zugehörigen intentionalen Gegenstand hindurch auf einen seinsunabhängig existierenden, sondern gerade 175

auf diesen rein intentionalen Gegenstand selbst hin. Dies ist aber nur ein äußerer Ausdruck dessen, daß hier weder die identifizierende Anpassungsvermeinung noch die Hinausversetzung des Gehaltes des rein intentionalen Sachverhaltes vorhanden ist. Damit fällt auch die existentiale Setzung in einer dem Satze gegenüber seinsunabhängigen Seinssphäre fort. Wohl werden die in dem rein intentionalen Sachverhalte auftretenden Gegenstände bzw. die Sachverhalte selbst dem Seinsmodus nach charakterisiert, als z.B. reale, ideale, bloß mögliche usw., aber sie werden nicht als in dem Seinsmodus tatsächlich existierende g e s e t z t 1 . Der intentional entfaltete Sachverhalt schwebt da, trotz der existentialen Charakterisierung, vollkommen wie in der Luft, es fehlt ihm die „Verwurzelung" in einer von dem Aussagesatz seinsunabhängigen Seinssphäre. Vielmehr tritt uns beim Verstehen oder Aussprechen eines reinen Aussagesatzes der zugehörige Sachverhalt deutlich im Charakter des Getragenseins von der geliehenen I n t e n t i o n a l i t ä t des Satzsinnes entgegen. Zugleich aber — wie zu betonen ist, um jedem Mißverständnis vorzubeugen — ist der reine Aussagesatz nicht mit einem als falsch erkannten Urteilssatze oder mit einem n e g a t i v e n existentialen Urteil zu verwechseln. Mit anderen Worten: Das F e h l e n der existentialen Setzung in dem reinen Aussagesatz ist mit der D u r c h s t r e i c h u n g der existentialen Setzung oder mit der existentialen A u s s c h l i e ß u n g aus einer seinsselbständigen Sphäre nicht zu identifizieren. Bei einem als falsch erkannten Urteilssatze haben wir es eben mit einem Satze zu tun, dem die existentiale Setzung immanent und wesentlich ist, wenn sie auch als unberechtigt, ungültig erkannt und damit entkräftet wird. Auch das negative existentiale Urteil erhebt den Anspruch, wahr zu sein, und führt damit all die oben unterschiedenen Funktionen mit sich. In dem reinen Aussagesatz f e h l t dagegen einfach jeder Wahrheitsanspruch, und damit hängt der eigentümliche Charakter des „In-der-SchwebeGelassenseins" des rein intentionalen Sachverhalts untrennbar zusammen2. 1 Nach Ff ander scher Terminologie gibt es also in einem reinen Aussagesätze keine Behauptungsfunktion der Kopula, wo die letztere auftritt. 2 Sofern ich Meinonge Ausführungen richtig verstehe, ist der besondere Fall der reinen satzbildenden Operation, in welchem der reine Aussagesatz gebildet wird, dasjenige, was er „urteilsähnliche Annahme" nennt. Manchmal scheint es indessen, als ob er den reinen Aussagesatz selbst im Auge hätte, wenn er von einer „Annahme" spricht. Jedenfalls ist bei Meinong weder die Sphäre der Sinneinheiten rein herausgestellt, noch ist der Name „Annahme" für den reinen Aussagesatz passend.

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In der Mitte zwischen den beiden Extremen — dem reinen Aussagesatz und dem echten Urteilssatz — liegt diejenige Art von Sätzen, die wir in den (modifizierten) Behauptungssätzen in literarischen Werken vorfinden. Wir haben in dem Titel dieses Paragraphen den Ausdruck „der quasi-urteilsmäßige Charakter" der Behauptungssätze verwendet. Damit wollten wir andeuten, daß die Behauptungssätze, die in einem literarischen Werke auftreten, den äußeren H a b i t u s von Urteilssätzen haben, aber trotzdem keine e c h t e n Urteilssätze sind noch sein wollen. Wenn wir z.B. in einem Roman lesen, der Herr Soundso habe seine Frau ermordet, so wissen wir ganz genau, daß dies n i c h t ernst zu nehmen sei, daß niemand — falls die betreffenden Sätze sich als falsch erweisen sollten — dafür zur Verantwortung gezogen werden dürfte. Und es fällt uns überhaupt nicht ein, die betreffenden Sätze nach ihrer Wahrheit oder Falschheit zu befragen. Und trotzdem wird da unzweifelhaft etwas auf eine besondere Weise b e h a u p t e t , so daß wir es hier nicht mit reinen Aussagesätzen zu tun haben, wie das vielleicht manchem oberflächlichem Betrachter selbstverständlich scheinen mag. Es ist aber schwierig, diese eigentümliche Modifikation des Behauptungssatzes zu bestimmen, weil es in verschiedenen Typen von literarischen Werken verschiedene solcher Modifikationen gibt, von denen die einen den Behauptungssatz mehr dem Urteilseatze, die anderen dagegen mehr dem reinen Aussagesatze annähern. Den reinen Aussagesätzen am nächsten liegen quasi-urteilsmäßige Behauptungssätze in Werken, die in keinem Sinne „historisch" sein wollen, wie in einigen symbolischen Dramen Maeterlincks oder in den kleinen Dramen Hofmannsthals. Es kommt da unzweifelhaft zu einer Seinssetzung der intentional entworfenen Sachverhalte (bzw. der darin zur Darstellung gelangenden Gegenstände), die natürlich auch entsprechend existential charakterisiert sind. Aber es fehlt hier durchaus die für einen echten Urteilssatz charakteristische Vermeinung des genauen Angepaßtseins der entworfenen Sachverhalte an entsprechende objektiv bestehende und in einer seinsautonomen Sphäre vorgefundene Sachverhalte1. Damit kann auch von keiner Identifizierung mit den letzteren die Rede sein. 1 Es ist zu beachten, daß das Angepaßtsein nicht mit der inneren Konsequenz der Satzsinngehalte bzw. mit der für Gegenständlichkeiten eines bestimmten Typus charakteristischen Zusammengehörigkeit der einzelnen Eigenschaftsqualitäten vermengt werden darf. Es kann also sehr wohl das Erste fehlen, während das Zweite vorhanden ist.

12 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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Trotzdem werden auch hier die Satzkorrelate ihrem Gehalte nach in die reale Welt hinausversetzt. Das geht hier aber nur mit der Seinssetzung und nicht — wie es bei echten Urteilssätzen der Fall ist — zugleich mit der Vermeinimg des Angepaßtseins und mit der Identifizierung Hand in Hand. So sind wir hier beim Verstehen der auftretenden Sätze nicht direkt auf reale und in der realen Seinssphäre verwurzelte Sachverhalte bzw. Gegenstände gerichtet und auch nicht mit den Intentionen in dieser Sphäre verankert, so daß die rein intentionalen Korrelatgehalte unbeachtet passiert wären, sondern umgekehrt werden diese letzteren s e l b s t , mit dem nicht schwindenden Bewußtsein, daß sie in der Intentionalität des Satzeinnes ihren Ursprung haben, in die Realität hinausversetzt und dort gesetzt. Diese Setzung und Hinausversetzung wird aber hier — dem eigenen Sinne der so modifizierten Behauptungssätze nach — nicht in dem Modus des vollen E r n s t e s , wie bei den echten Urteilssätzen, sondern in einer eigentümlichen, diesen Ernst nur v o r t ä u s c h e n d e n Weise vollzogen. Deswegen werden die zugehörigen rein intentionalen Sachverhalte bzw. Gegenstände nur als r e a l e x i s t i e rende angesprochen, ohne daß sie — bildlich gesprochen — mit dem Realitätscharakter durchtränkt wären. Trotz der Hinausversetzung in die Realität bilden deswegen die intentional entworfenen Sachverhalte eine Welt für sich. Dabei ist zu beachten, daß die Hinausversetzung hier nicht durch den Richtungsfaktor der in den Sätzen auftretenden nominalen Bedeutungen geleistet wird, sondern daß es dazu eigener material-inh'altlicher Angaben bedarf, es handle sich z.B. um eine Situation, die sich in einem Park oder in einer Stadt, also irgendwo auf unserer Erde abspielt. Das Schillern des in die Welt Versetztseins und doch nur irgendwo im Schweben Bleibens und in der Realität nicht wirklich Fußfassenkönnens macht den besonderen, mit diesem Typus der quasi-urteilsmäßigen Behauptungssätze zusammenhängenden Zauber derartiger Werke aus. Einen anderen Typus der quasi-urteilsmäßigen Behauptungssätze findet man z.B. in manchen sogenannten „zeitgenössischen" Romanen oder auch Zeitromanen (Rokoko-, Biedermeierromanen u.dgl.), die ebenfalls nicht im eigentlichen Sinne „historisch" sein wollen, aber die in ihnen dargestellten Gegenständlichkeiten doch auf eine durchaus andere und zugleich — wenn man so sagen darf — engere Weise auf die reale Welt beziehen. Der den Ernst nur vortäuschende Charakter der Setzungsfunktion sowie der Hinaus178

Versetzung bleibt hier — wie in allen quasi-urteilsmäßigen Behauptungssätzen — erhalten. Wenn aber in dem vorigen Falle die Vermeinung des „Angepaßtseins" an objektiv bestehende Sachverhalte vollkommen fehlte und wenn deswegen die durch die Sätze intentional entfalteten Sachverhalte (bzw. die entworfenen Gegenstände) selbst in die Welt hineingestellt und dort existential gesetzt werden mußten, so ist in dem jetzt betrachteten Falle schon ein Ansatz einer Anpassungsvermeinung vorhanden. Und zwar kommt es hier nicht in erster Linie darauf an, daß verschiedene material-inhaltliche Elemente der Sätze die Sachverhalte bzw. Gegenstände mit Momenten ausstatten, die den Eigenschaften und Momenten ähnlich sind, welche an wirklichen Gegenständen und Sachverhalten einer bestimmten Zeitepoche in einem bestimmten kulturellen Milieu haften, sondern es kommt hier sozusagen auf die A b s i c h t an, in welcher die in einem „zeitgenössischen" Roman auftretenden Behauptungssätze ausgesprochen werden. Denn mit dieser Absicht hängt auch der besondere Modus der quasi-urteilsmäßigen Behauptungsfunktion dieser Sätze zusammen. Die einzelnen Behauptungssätze werden so hingestellt, daß die von ihnen entworfenen Sachverhalte keinem, in der betreffenden Zeitepoche wirklich bestehenden, i n d i v i d u e l l ganz b e s t i m m t e n Sachverhalt, sondern nur dem a l l g e m e i n e n Typus der in der betreffenden Zeit und in dem betreffenden Milieu „möglichen" Sachverhalte und Gegenstände angepaßt werden sollen. Die in einem solchen Roman auftretenden Sätze entwerfen natürlich Sachverhalte, die in oder an i n d i v i d u e l l e n Gegenständen bestehen bzw. selbst i n d i v i d u e l l sind. Aber nicht hinsichtlich dieser Individualität, oder vielleicht besser gesagt, nicht in dieser ihren vollen Individualität sollen die intentional entworfenen Gegenständlichkeiten dem Realen angepaßt sein, nicht hinsichtlich dessen also, daß z.B. eine im Roman dargestellte Persönlichkeit eine — wie man gewöhnlich sagt — „literarische Darstellung" einer bestimmten wirklich existierenden Persönlichkeit sein soll; sondern die den hier auftretenden Sätzen eigene Vermeinung der Anpassung bezieht sich auf den Typus, der an der dargestellten Persönlichkeit zur Ausprägung gelangt. So weisen zwar auch hier die Richtungsfaktoren der nominalen Bedeutungen nicht über die rein intentionalen Gegenständlichkeiten hinaus auf bestimmte reale Gegenständlichkeiten hin, so fehlt zwar auch hier die direkte Verankerung der Intentionen der Sinngehalte in der Realität, aber trotzdem werden die rein inten12·

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tionalen Sachverhalte (bzw. Gegenstände) bei der Seinssetzung nicht so in der Schwebe gehalten wie in dem früher erörterten Falle. V e r m ö g e der den allgemeinen Typus der Gegenständlichkeiten betreffenden A n p a s s u n g werden sie in die Realität hinaus versetzt und sogar hier und da, zwecks Verstärkung der Realitätsvortäuschung, zu objektiv bestehenden Sachverhalten in Beziehung gesetzt, die auch in echten Urteilssätzen festgestellt werden könnten. Ζ. B. es wird uns gesagt, daß diese und diese Angelegenheit sich in einer uns sonst als real bekannten Stadt (z.B. Paris) abspielt. Im engen Zusammenhang damit, daß es sich lediglich um eine Anpassung dem Typus nach handelt, kann diese Hinausversetzung nicht zur vollkommenen „Durchsichtigkeit" der rein intentionalen Sachverhalte führen; sie stehen noch immer als b l o ß hinausversetzte und bloß gesetzte, mit dem deutlichen Stempel ihrer intentionalen Relativität auf die zugehörigen Satzsinngehalte da. Wenn wir endlich zu literarischen Kunstwerken übergehen, die „historisch" sein wollen, und die sich sogar anheischig machen, möglichst „getreu" bestimmte, von der Geschichte her bekannte Tatsachen und Gegenständlichkeiten darzustellen, so haben wir es auch hier nicht mit echten Urteilssätzen zu tun. Vergleichen wir ζ. B. die Beschreibung einer Schlacht in einem historischen Roman — auch in Fällen, wo diese Beschreibung an der Hand der historischen Quellen möglichst getreu entwickelt wird — mit der Darstellung derselben Schlacht in einem w i s s e n s c h a f t l i c h e n Werke, so ist der Unterschied im Charakter der in beiden Fällen auftretenden Behauptungssätze unverkennbar. Und es kommt dabei nicht darauf an, daß in dieser Beschreibung in einem Roman hier und da „Abweichungen" von dem, was sich tatsächlich abgespielt hat, vorliegen. Denn eine a b s o l u t getreue Darstellung vermag auch die strengste wissenschaftliche Geschichte — und zwar aus Wesensgründen — nicht zu geben. Das Unterscheidende liegt hier wiederum in dem quasi-urteilsmäßigen Charakter der in solchen literarischen Kunstwerken auftretenden Behauptungssätze. Zwar kommen wir hier noch um einen Schritt den echten Urteilssätzen näher. Denn die Vermeinung der Anpassung an objektiv bestehende Sachverhalte (bzw. Gegenstände) erstreckt sich hier sogar auf das streng Individuelle und nicht bloß auf den allgemeinen Typus wie in dem vorigen Falle. Es sollen hier also nicht nur „solche", „derartige" Gegenständlichkeiten und Situationen dargestellt werden, wie sie in einer bestimmten Zeitepoche „möglich" wären, sondern es sollen da von 180

den Behauptungesätzen Sachverhalte entworfen bzw. Gegenstände dargestellt werden, die als ganz b e s t i m m t e I n d i v i d u e n den einstmals (oder auch „gegenwärtig") existierenden Gegenständen (Sachverhalten) genau angepaßt sind. Wird z.B. in „Wallensteins Tod" die Ermordung Wallensteins dargestellt, so sollen die rein intentional entworfenen Ereignisse — und zwar gerade als diese bestimmten i n d i v i d u e l l e n Ereignisse — jenen einst tatsächlich in der Geschichte vorgekommenen Ereignissen so angepaßt sein, daß die ersteren den letzteren vollkommen ähnlich wären, so ähnlich, als ob sie „dieselben" wären1. Und doch soll es hier zu keiner Identifizierung der beiderseitigen Sachverhalte (bzw. Gegenstände) kommen, so daß wiederum die intentional entworfenen Sachverhalte s e l b s t seinsmäßig als reale charakterisiert und gesetzt werden und in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit seinsmäßig gesetzte und in die reale Welt hinausversetzte Gegenstände zur Darstellung bringen, welche uns die Gegenständlichkeiten, die einstmals wirklich existiert haben, vermöge der zwischen ihnen bestehenden weitgehenden Ähnlichkeit nur abbilden, ja die letzteren — als ob sie sie selbst wären — vortäuschen sollen. Träten in einem solchen Roman echte Urteilssätze auf, so käme es hier weder auf diese „Abbildung" noch auf diese Vortäuschung an, sondern der intentionale Richtungsfaktor müßte letzten Endes auf die Gegenständlichkeiten, die einst wirklich bestanden haben, hinweisen. Die intentional entworfenen Sachverhalte müßten dabei völlig mit den wirklichen zur Deckung gebracht werden, so daß sie als solche beim Verstehen der Sätze aus unserem Gesichtskreis vollkommen verschwinden müßten. Hingegen sind es im Falle der künstlerischen historischen Darstellung gerade die rein intentionalen Korrelate, die uns beim Verstehen der Sätze sichtig sind und die, vermöge der — laut der Vermeinung — weitgehenden Ähnlichkeit, des Angepaßtseins an die objektiv bestehenden Sachverhalte, diese letzteren quasi-verkörpern, quasi-vergegenwärtigen. So ersteht vor unseren Augen die längst entschwundene und nichtig gewordene Vergangenheit in den nur intentionalen, sie verkörpernden Sachverhalten (Gegenständen) wieder, aber sie ist es nicht selbst, die da beurteilt wird, weil der letzte Schritt noch fehlt, der die quasi-urteilsmäßigen Behauptungssätze von den echten Urteilssätzen trennt: die Identifizierung und damit die im Modus des vollen Ernstes vollzogene Setzung sowie die Verankerung der 1

Was dieses „als ob" betrifft, vgl. im Kap. 7. 181

Intentionen der Sinngehalte in der betreffenden Realität. Erst mit dem Übergang zur w i s s e n s c h a f t l i c h e n Betrachtung oder zu einem schlichten Erinnerungsbericht wäre dieser letzte Schritt vollzogen, aber damit bekäme man auch die echten Urteilssätze. Wenn es aber in literarischen Werken nur quasi-urteilsmäßige Behauptungssätze verschiedener Typen gibt, so sind diese Sätze — wie schon festgestellt — keine reinen Aussagesätze. Und so vermögen sie — dank ihren beschriebenen Eigentümlichkeiten — die Illusion der Realität in niedrigerem oder höherem Grade hervorzurufen, wie es die reinen Aussagesätze nicht vermöchten. Sie führen mit anderen Worten eine suggestive Kraft mit sich, die uns bei der Lektüre erlaubt, uns in die fingierte Welt hineinzuversenken und wie in einer eigenen, eigentümlich nicht-wirklichen und doch wirklich scheinenden Welt zu leben. Diese große mysteriöse Leistung des literarischen Kunstwerkes hat ihre Quelle in erster Linie in dem eigentümlichen, von uns gewiß nicht erschöpfend erforschten, quasiurteilsmäßigen Charakter der Behauptungssätze. Andere, später zu besprechende Faktoren des literarischen Kunstwerkes tragen nur dazu bei. Um diese Erwägungen abzuschließen, muß ich noch eine Bemerkung hinzufügen, um eine falsche Deutung meines Standpunkts zu vermeiden. Man muß nämlich zwei verschiedene Verwendungen der prädikativen Sätze im literarischen Kunstwerk unterscheiden. Die einen von ihnen werden — wie man gewöhnlich sagt — „vom Verfasser" ausgesprochen, die anderen dagegen sind Aussagen der im literarischen Kunstwerke dargestellten Personen. Dies tritt sowohl im Epos bzw. im Roman, aber besonders deutlich in jedem dramatischen Werke ein, wo diese Sätze sogar einen besonderen Text und — wie sich zeigen wird — den Haupttext bilden1. Nun, wird ein Satz durch eine dargestellte Person als ein Urteil, das an eine andere dargestellte Person gerichtet ist, ausgesprochen, dann — sofern diese Person wirklich urteilt und aufrichtig ist — ist dieser Satz unzweifelhaft ein Urteil im strengen Sinne, aber zugleich ein Urteil, das nur im Bereiche der' dargestellten Welt und bezüglich der Gegenstände dieser Welt und endlich nur für die dargestellten, miteinander sprechenden Personen gilt bzw. wahr ist. Und zwar ganz unabhängig davon, ob es ein individuelles, partikulares oder allgemeines Urteil ist. Es ist dann nicht erlaubt — wie 1

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Vgl. unten §§ 30 und 57.

es oft von den Literarhistorikern und Kritikern getan wird —, diese durch die dargestellten Personen ausgesprochenen Urteile über die Grenze der in dem betreffenden Werke dargestellten Welt hinausführen und sie als Urteile über die reale Welt oder als Ansichten des Verfassers über gewisse, die reale Welt betreffende Fragen zu deuten. Eine solche Verfahrungsweise verunstaltet den eigenen Sinn solcher Sätze und verfälscht die eigene Struktur des Werkes. Denn sie sind nur Sätze, die durch die dargestellten Personen als Urteile vermeint sind, gehören selbst zu den dargestellten Gegenständlichkeiten innerhalb der dargestellten Welt und sind sowohl für den Verfasser als auch für den Leser nur vermeintliche, aber keine echten Urteile. Wenn dagegen ein prädikativer Satz zu dem Texte gehört, der die im Werke dargestellte Welt zur Darstellung bringt, wenn er ein Glied der „Erzählung" von den Schicksalen der dargestellten Personen und Dinge bildet und damit die Funktion der intentionalen Bildung des Dargestellten als solchen ausübt, dann ist er nur ein Quasi-Urteil, das vom Verfasser gerade zum Zwecke der Fingierung dieser Welt verwendet wird. Wenn er dann auch die äußere Gestalt eines Urteils über dargestellte Gegenständlichkeiten hätte — wie z.B. Sätze, die das Soaussehen und das Verhalten einer bestimmten dargestellten Person, z.B. des Herrn Senator Buddenbrock, beschreiben —, so ist er trotzdem kein Urteil sensu stricto, sondern bildet eine der oben beschriebenen Modifikationen des Urteils, ein Quasi-Urteil dieser oder jener Gestalt. Solche Sätze müssen bei der Lektüre und Interpretation nur in dieser besonderen Modifikation und Funktion genommen werden und dürfen nicht in echte Urteile verwandelt werden, und dabei in Urteile, die sich nicht auf dargestellte Gegenständlichkeiten, sondern auf reale, außerkünstlerische Dinge bezögen. Dies wäre ebenfalls eine Verfälschung des eigenen Sinnes dieser Sätze und damit auch des Werkes selbst, besonders, wenn diese Sätze als „Wahrheiten" hingestellt würden, die der Verfasser dem Leser zur Kenntnisnahme gibt. Im § 52, der dem Problem der sog. „Wahrheit" im literarischen Kunstwerk gewidmet ist, komme ich noch darauf zurück1.

1 Es eoli natürlich nicht geleugnet werden, daß die Verfaeser oft ihre Werke dazu benutzen, um in ihnen eigene Meinungen über verschiedene die reale Welt betreffende Fragen hindurchzuschmuggeln. Aber dies beweist nur, daß sie das Wesen des Kunstwerks verkennen und Kunstwerke zu verschiedenen außerkünstlerischen (politischen, religiösen u.a.) Zwecken mißbrauchen.

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§ 25a. G i b t es keine Q u a s i - U r t e i l e im l i t e r a r i s c h e n K u n s t w e r k ? Käte Hamburger hat in ihrer „Logik der Dichtung" gegen meine Auffassung der Quasi-Urteile und ihrer Rolle im literarischen Kunstwerk protestiert1. An deren Stelle sucht sie andere sprachliche Mittel zu finden, um zu erklären, wie es möglich ist, daß im literarischen Kunstwerk nicht die reale Wirklichkeit dasjenige bildet, worüber in ihm die Rede ist, also nicht das Dargestellte als solches bildet, sondern nur eine Mannigfaltigkeit — in meiner Sprache — rein intentionaler Gegenständlichkeiten, die im allgemeinen eine Realität nur vortäuschen bzw. sie abbilden. Sie richtet also zunächst eine Reihe von Einwürfen gegen meine Auffassung, und dann erst entwickelt sie ihre eigene Theorie. Ich will dem ersten einige Beachtung schenken. Die Einwände, die Frau Hamburger mir macht, lauten : 1. Es „kommt auch bei Ingarden letztlich nicht über eine Etikettierung der hier vorliegenden Denk- und Sprachphänomene hinaus". 2. Bei dem Versuche, „die Seinsweise der Dichtung von der ,Prosa' der Wirklichkeitsaussage zu scheiden", sei der bei mir verwendete „unterscheidende Begriff" „zu eng gefaßt" worden. 3. Es sei bei mir ein zu enger Begriff des literarischen Kunstwerks angewandt worden. Er sei nämlich „nur auf die epische und dramatische Dichtung angewandt" worden („wie es in dem Buche allzu stillschweigend vorausgesetzt wird, jedenfalls nur der englischen Terminologie angeglichen ist"). Dabei solle es sich um nichts anderes handeln „als [um] den Nachweis des Phänomens und des Erlebnisses der .Nicht-Wirklichkeit' dieser Dichtungsarten". 4. Zum Nachweis dieser ,,UnWirklichkeit" soll ich mich eines Erkenntnisinstrumentes bedient haben, „das zum mindesten sich als wenig kräftig erweist, nämlich des Begriffes des Quasi-Urteils." 5. Die Argumentation verschärft sich von Zeile zu Zeile, denn bald darauf lese ich: „Diese Reduktion des Nichtwirklichkeitscharakters einer mimetischen Dichtung auf die Sätze, aus denen sie besteht, scheint jedoch das Phänomen keineswegs befriedigend 1 Vgl. Käte Hamburger, „Die Logik der Dichtung", Stuttgart 1957, S.14ff. und an mehreren weiteren Stellen.

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zu erklären. Ja sie stellt letztlich nichts anderes als einen Zirkel dar. Die Sätze oder Aussagen eines Romans werden als , Quasi-Aussagen' erst dadurch konstituiert, daß sie in einem Roman stehen" (1. c. S. 15). Und weiter: „Die Bezeichnung der Sätze eines Romans oder Dramas als Quasi-Urteile besagt aber nichts anderes als die tautologische Tatsache, daß wir, wenn wir einen Roman lesen, wissen, daß wir einen Roman oder ein Drama lesen, d. h. uns nicht in einem Wirklichkeitszusammenhang befinden." 6. Bald darauf ist aber nicht von einer „Tautologie" die Rede, sondern einerseits von einem Übersehen eines wichtigen Faktors im literarischen Werke, andererseits direkt von der Unrichtigkeit meiner Auffassung. Ich soll nämlich die Verschiedenheit eines historischen Romans von einem wissenschaftlichen historischen Werk falsch dargestellt haben und deshalb auch gezwungen worden sein, meinen Begriff des Quasi-Urteils bei dessen Anwendung auf den historischen Roman zu ändern, wodurch sich die Falschheit meiner ganzen Auffassung erwiesen habe (vgl. I.e. S. 15 und 16). 7. Endlich noch ein ganz anderer Einwurf, „daß — nämlich — mit dem Begriffe des Quaei-Urteils keineswegs die sprachlich-literarische Struktur und spezifische Erscheinungsform des Romans beschrieben ist, sondern nichts anderes als eine unbestimmte ( ?) psychologische Haltung des Autors und entsprechend des Lesers" (I.e. S. 17). Auf diese Kritik folgt eine umfangreiche Untersuchung, die den eigenen Standpunkt Käte Hamburgers zur Darstellung bringt. Damit werde ich mich erst später kurz befassen. Wie steht es aber mit dieser Kritik ? Vor allem ist zu beachten, daß innerhalb weniger Seiten immer andere Einwände gemacht werden, die miteinander nicht harmonisieren. Es fängt mit dem Vorwurf einer „Etikettierung" und gewisser Schwächen („zu eng", „zu wenig kräftig" u.dgl. mehr) an, dann wird der Einwand der „Tautologie" und endlich der Vorwurf der F a l s c h h e i t meines Standpunkts erhoben. Zuletzt wiederum wird nur behauptet, daß ich irgendwie vorbeigeschossen habe und, statt das literarische Werk selbst zu analysieren, nur die „unbestimmte psychologische Haltung des Autors bzw. des Lesers" beschreibe. Schon diese Uneinheitlichkeit der Offensive gegen meinen Standpunkt weist auf ihre Schwäche hin. Entweder ist mein Standpunkt „tautologisch", oder er ist falsch, beides geht nicht zusam185

men ; und wenn er falsch ist, so ist er auch nicht „zu wenig kräftig" ; wenn er sich dagegen auf die psychologische Haltung des Lesers bzw. des Autors bezieht, so scheint er richtig zu sein, bloß sozusagen an die falsche Adresse gerichtet. Was ist also die eigentliche Meinung der Kritik ? Ich wende mich nun den einzelnen Einwürfen zu. ad 1. Es komme bei mir „letztlich nicht über eine Etikettierung" hinaus. Diesen Vorwurf aber kann man nur dann erheben, wenn ich bloß einen neuen Namen (Etikette) gegeben hätte und mich um die Klärung der Eigenschaften der so von mir genannten Quasi-Urteile nicht gekümmert hätte. Dies ist aber mitnichten der Fall. Der Leser des vorigen Paragraphen kann leicht feststellen, wie ich mich abmühe zu klären, worin sich ein Urteil von einem Quasi-Urteil unterscheidet, und später — eben bei der Behandlung der Sachlage im historischen Roman (vgl. §25, S. 180 f.) —gibt es noch eine Fortsetzung meiner Bemühungen, diesen neuen Begriff und seine Abwandlungen in seinem- Gehalt zu verdeutlichen. Gewiß, es 1st nicht leicht, diese Modifikation der Behauptungssätze zu erfassen und auch sie in ihrer Spezifität und in ihren Abwandlungen dem Leser vor Augen zu führen. Und ich würde mich nicht wundern, wenn mir Frau Hamburger gesagt hätte, meine Bemühungen um Klärung seien unzureichend, man müsse die ganze Sachlage noch weiter analysieren. Aber eine bloße „Etikettierung" ist dies gewiß nicht. Frau Hamburger zitiert ja selbst eine Reihe von Bestimmungen und Beschreibungen, die ich gebe, und zeigt eben dadurch, daß keine bloße „Etikettierung" bei mir vorliegt. Ich wundere mich aber nicht, daß für Frau Hamburger nicht so leicht zu fassen ist, worum es sich bei mir handelt. Sie wirft mir vor, ich beschäftige mich mit „unbestimmten" p s y c h o l o g i s c h e n Haltungen, und setzt mir — angeblich als etwas für mich Unbekanntes und Neues — die Forderung einer Analyse der sprachlichen Gebilde (oder, wie sie sagt, Phänomene) entgegen, während sie selbst aber bei der Bestimmung der Begriffe „Urteil", „Satz" und „Aussage" sich auf Sigwart ( !) beruft, auf Sigwart, der bekanntlich die Blüte des Psychologismus in der Logik darstellt, und somit diese Begriffe psychologisch orientiert, während ich eben gegen den Psychologismus kämpfe — und zwar gerade auf dem Gebiete der Betrachtung der Sprachgebilde und -funktionen — und mir alle Mühe mache, das literarische Kunstwerk als etwas, das zwar aus subjekti186

ven Bewußtseinsoperationen hervorgeht, zu fassen, das aber sowohl allem Bewußtsein als auch allem Psychischen transzendent ist. So ist es nicht richtig, wenn man mir Sigwarts Betrachtungen entgegensetzt, da ich ganz von Anfang an die Struktur des Satzes und des Urteils aus rein sprachlichen Elementen aufbaue und mich vor jeder Psychologisierung hüte. Ich fühle mich in meinem Verfahren wohl Husserl und Pfänder nahe und leugne auch diese Verwandtschaft nicht. Aber sowohl Husserl als Pfänder sind mir in ihrer Verfahrensweise noch nicht rein genug, wenn es darum geht, sich von dem Psychologismus zu befreien. Der Begriff des Quasi-Urteils hat zum Hintergrunde die Pfändersche Unterscheidung der beiden Funktionen der Kopula im Satze: der Behauptungsfunktion und der prädikativen Funktion. Denn das „Quasi" bezieht sich eben auf eine Modifikation der Behauptungsfunktion (der Assertion bei Russell), die einerseits dem kategorischen Urteil und dessen schlichter „kategorischer" (unbedingter) Behauptungsfunktion, andererseits der „Neutralitätsmodifikation" — wie sie von Husserl bestimmt wurde — oder endlich der vollkommenen Privation der Behauptungsfunktion — bei reinen Aussagesätzen (prädikativen Sätzen ohne jede Behauptung, den reinen „Annahmen" bei Meinong) — entgegengesetzt wird. Wer diese Untersuchungen Husserls und Pfänders (bzw. Meinongs) nicht kennt und nicht berücksichtigt, dem sind auch meine Analysen schwer zugänglich. Ich habe dabei den Versuch gemacht, über das bei Pfänder Vorliegende hinauszugehen, und suchte — z.T. unter Mithilfe Frau Conrad-Martius' — den Sinn oder, wenn man will, die Funktion, soweit dies möglich ist, auseinanderzulegen. Natürlich, zu Sprachgebilden — wie Sätze, literarische Werke u.dgl. mehr — gibt es als Pendant den Sprechenden und dessen Sprachfunktionen, Denkoperationen usw. Die Kopulafunktion z.B., sowie die Behauptungsfunktion des Urteils, bzw. ihre verschiedenen Abwandlungen werden im lebendigen Sprechen vom Sprechenden aufgenommen und vollzogen. Es gibt dann Behauptungsakte, Prädikationsoperationen usw. So gibt es auch entsprechend modifizierte Akte des Quasi-Urteilens, und es ist zu zeigen, wie diese subjektiven Operationen in concreto verlaufen. Aber dies alles gehört zu einer ganz anderen Betrachtung, als es diejenige ist, die in diesem Buche durchgeführt wird. Von einer Seite — der des Lesers — habe ich sie auch für sich untersucht, und zwar in dem Buche „Vom Erkennen des literarischen Werkes", das ich in polnischer Sprache im Jahre 187

1937 veröffentlicht habe. Ich habe mich bemüht, die beiden zueinandergehörenden Untersuchungsgebiete scharf voneinander abzuheben und sie ja nicht zu vermengen. Da brauche ich keine Warnung von Frau Hamburger. ad 2 und 4. Mit den Vorwürfen, daß mein Begriff des „QuasiUrteils" zu eng oder zu wenig kräftig sei, werde ich mich nicht beschäftigen, sie sind mir zu nichtssagend. ad 3. Nach Frau Hamburger soll mein Begriff des „literarischen Kunstwerks" zu eng sein, weil er die ganze Lyrik nicht mitumfasse. Der Leser wird gebeten, auf die Seite hinzublicken, wo der Umkreis der Ausgangsbeispiele bestimmt wird und wo neben epischen und dramatischen Werken auch das lyrische Gedicht genannt ist. Also ist es nicht wahr, daß ich aus dem Umfang des Begriffes des literarischen Werkes „allzu stillschweigend" die Lyrik beseitigt habe. Wahr ist nur, daß lyrische Gedichte in concreto in meinem Buche nicht analysiert werden, aber dies nur deswegen, weil ich damals fürchtete, Beispiele aus diesem Gebiet zu nehmen, da bei der Analyse von fremdsprachigen lyrischen Gedichten am leichtesten Fehler entstehen. Wenn Frau Hamburger meine polnischen Arbeiten kennte, so würde sie dort genug Beispiele lyrischer Gedichte und sogar eine ausführliche Betrachtung der Lyrik als solcher finden. Während des Krieges (1940/41) mußte ich an der Lemberger Universität als Germanist wirken und hatte u.a. über die Theorie der Literatur zu lesen: Meine Vorlesungen waren damals zum großen Teil an Rilkes lyrischen Gedichten orientiert. — Freilich bin ich zu einer völlig anderen Auffassung der lyrischen Dichtung als Frau Hamburger (und übrigens auch als E. Staiger) gekommen. Die Lyrik ist mir nicht minder „mimetisch" als die epische oder dramatische Dichtung, und das in ihr Dargestellte ist in gleichem Maße „nichtwirklich" wie die in den dramatischen oder in den epischen Werken dargestellte Welt, nur wird es anders dargestellt, und auch das Dargestellte ist anders. Nun — dies würde uns hier zu weit führen1. ad 5. Wie steht es nun mit dem Vorwurf der „Tautologie", des „Zirkels" ? Er wäre nur dann berechtigt, wenn meine Beschreibungen der Quasi-Modifikation der Urteile (notabene: meiner Ansicht nach gibt es nicht eine, sondern mehrere verschiedene Modifikationen, die ich auch in meinen in diesem Buche gegebenen Betrach1 Vgl. "Studia ζ eetetyki", 2 Bde., Krakau 1957/58. Es ist eine Sammlung von Arbeiten, die zum großen Teil viel früher erschienen sind.

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tungen deutlich auseinandergehalten habe) einen „circulus in definiendo" enthielten. Dies trifft weder zu, noch hat mir dies Frau Hamburger gezeigt. Der Vorwurf — so wie er formuliert ist — entspringt — wie mir scheint — der Vermengung zweier durchaus verschiedener Probleme durch Frau Hamburger: 1. Was ist das Quasi Urteil bzw. die Modifikation seiner Behauptungsfunktion, was deren Sinn und Leistung ? Und 2. : Woran erkennt im einzelnen Fall der Leser, daß er es mit einem Quasi-Urteil und nicht mit einem Urteil (oder wie Frau Hamburger sagt : einer Wirklichkeitsaussage1) zu tun hat ? Und da spielt ein Umstand eine wesentliche Rolle : Ein einzelnes Urteil, wenn es isoliert steht, unterscheidet sich seiner „Form" nach — sagt Frau Hamburger — in keiner Hinsicht von dem, was ich Quasi-Urteil nenne. Daß inan es als Quasi-Urteil lesen (bzw. verstehen) soll, erkennt man daran, daß es Satz eines Romans ist (eines literarischen Kunstwerks in meiner Terminologie). Aber umgekehrt unterscheide man literarische Kunstwerke (insbesondere Romane) von Nichtromanen (literarischen wissenschaftlichen Werken) nur dadurch (sagt Frau Hamburger, bzw. sie legt mir dieses „nur" in den Mund), daß sie aus lauter Quasi-Urteilen bestehen. Daher jener vermeintliche „Zirkel". Tatsache ist es, daß, wenn man unter „Form" die Schreibweise (bzw. Aussprache ?) des Satzes versteht, wir in der Umgangssprache kein besonderes Zeichen haben, das einen reinen Satz von einem Urteil unterscheiden könnte. Und daher, wenn wir von vornherein wissen, daß wir es mit einer Dichtung zu tun haben, wissen wir auch — wenn ich recht habe —, daß wir es auch mit lauter Quasi-Urteilen zu tun haben. Es ist bekannt, daß B. Russell gerade aus diesem Grunde das Assertionszeichen in der Logik bzw. im logischen System eingeführt hat, um die sog. „Thesen" des Systems von bloßen „Aussagen", d.h. reinen Sätzen, die zwar prädikative Gebilde sind, aber der Behauptungsfunktion beraubt sind, zu unterscheiden. Es wäre leicht, auch für die Quasi-Urteile ein besonderes Zeichen einzuführen, das man vor jeden solchen Satz hinsetzen könnte, um ein Quasi-Urteil von Urteilen einerseits und von den reinen Sätzen andererseits zu unterscheiden. Tatsächlich besitzen wir auch solche äußere sprachliche 1 Natürlich ist es nicht erlaubt, an Stelle des Wortes „Urteil" das Wort „Wirklichkeitsaussage" zu setzen, sofern unter „Wirklichkeit" die zeit-räumliche reale Welt verstanden wird. Es gibt Urteile, die keine „Wirklichkeitsaussagen" sind, also nicht auf die reale Welt sich beziehen und nichts von ihrem Urteilssein verlieren: alle mathematischen Sätze z. B.

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Zeichen, deren wir uns bedienen, um anzudeuten, daß wir es mit einem Quasi-Urteil zu tun haben : und zwar geben wir beim lauten Vorlesen den zu einem literarischen Kunstwerk gehörenden Sätzen eine andere I n t o n a t i o n (oft gibt es eine d e u t l i c h ausgeprägte D e k l a m a t i o n ) , die sichtlich anders ist als die Intonation, welche wir wissenschaftlichen Sätzen geben. Schriftlich setzen wir zwar vor die einzelnen Sätze kein „quasi-urteilsmäßiges Zeichen" (obwohl wir es tun könnten), dagegen informiert uns der Titel oder Untertitel, daß wir es mit einem Roman oder Drama zu tun haben. Es wird ja oft ausdrücklich gesagt: „Zeitgenössisches Drama", „Historisches aus der Zeit Karls des Großen" usw. Es gibt einen Typus der Titel selbst, der für literarische Kunstwerke benutzt wird. Wer z.B. „Der Zauberberg" oder „Buddenbrooks" oder „Tod in Venedig" usw. liest, der erwartet nicht, ein wissenschaftliches Buch vor sich zu haben, sondern ist von vornherein auf eine literarische Erzählung eingestellt. Es gibt natürlich auch Titel (beim Fehlen des informierenden Untertitels), die uns nicht genug informieren, mit was für einem Werke wir es zu tun haben: mit einer „Dichtung" oder mit einem wissenschaftlichen Werk (insbesondere mit einem historischen Werk). Z.B. „Wallenstein" kann sowohl „Geschichte" sein als der Roman von Döblin, besonders weil auch die Weise, wie dieses Buch geschrieben wurde, uns im Zweifel lassen kann. Dies sind aber außerordentlich seltene Fälle. Denn vor allem eines ist nicht wahr, was Frau Hamburger aussagt und mir in den Mund legt, daß nämlich nur die Quasi-Urteile das Werk von einem entsprechenden historischen Werk unterscheiden. Ich habe mir in meinem Buche viel Mühe gegeben, eine Reihe anderer Unterschiede zwischen Kunstwerken und wissenschaftlichen Werken herauszuarbeiten, — der Leser wird sie in den weiteren Kapiteln dieses Buches finden : ein anderer Stil der Sprache, eine andere Komposition, das Auftreten von Mannigfaltigkeiten der paratgehaltenen Ansichten, die Abbildungsfunktion und die Repräsentationsfunktion der dargestellten Gegenständlichkeiten, das Vorhandensein der ästhetisch valenten Qualitäten, insbesondere auch das Auftreten der metaphysischen Qualitäten, auf deren Offenbarung das literarische Kunstwerk eingestellt ist, während sie in wissenschaftlichen historischen Werken manchmal auch auftreten können, aber dann im Grunde mit der Erkenntnisfunktion und mit der Funktion der Übermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse nichts zu tun haben und nur aus Zufall vorhanden sind — nun, erst all das, zusammen mit 190

den Quasi-Urteilen, ist es, was darüber entscheidet, daß das betreffende Werk ein literarisches Kunstwerk ist und kein wissenschaftliches und auch kein Propagandaartikel. Ich stimme mit Frau Hamburger ganz überein, daß man „sprachliche Funktionen", die literarische Kunstwerke von Nichtkunstwerken unterscheiden, suchen muß. Dies ist aber keine Neuheit für mich, und ich habe selbst darauf großes Gewicht gelegt, sie zu bestimmen. Ich glaube aber, daß das Quasi-Urteil, als eine ganz besondere „sprachliche Funktion", durch die soeben aufgezählten charakteristischen Momente des literarischen Kunstwerks näher bestimmt wird. Aber dieses ganze Problem, an welchen äußeren Zeichen („Formen") man Quasi-Urteile von Urteilen unterscheidet und dank welchen Umständen man weiß, man habe gerade mit einem QuasiUrteil zu tun, hat mit dem völlig anderen Problem, was der eigentliche Sinn und die im Sinn begründete F u n k t i o n eines Urteils einerseits und eines Quasi-Urteils andererseits sind, nichts gemein. Und lediglich dieses Problem wurde in dem vorigen Paragraphen von mir behandelt. Nur die in der modifizierten Behauptungsfunktion begründete Verschiedenheit der Quasi-Urteile von den Urteilen führt dazu, daß sie auch eine andere Leistung im Rahmen des literarischen Werkes haben: sie führen zur Konstitution von dargestellten Gegenständlichkeiten, die lediglich in ihrem Gehalt einen Realitätshabitus vortäuschen oder, wenn man will, „spielen" und nicht selbst real sind noch sein können. D.h. : die Quasi-Urteile üben eine solche Funktion aus, daß wir es mit der — von Frau Hamburger so genannten — „fiktionalen" mimetischen Dichtung zu tun haben. Entscheidend ist aber an der ganzen Problemlage die Frage: Bilden nach Frau Hamburger literarische Kunstwerke (fiktionale Dichtungen) lauter Urteile (also in der Sprache Frau Hamburgers : lauter „Wirklichkeitsaussagen") oder nicht ? Es scheint mir außer Zweifel zu stehen, daß Frau Hamburger sagen muß : Nein, in keinem Falle. Dichtung bestehe nicht aus Urteilen. — Schön, dann frage ich: Was sind denn jene Sätze, die Bestandteile einer Dichtung sind? Es sind im allgemeinen prädikative Sätze (manchmal natürlich auch Fragesätze — aber darüber erst später). Sind sie also reine „Annahmen" im Sinne Meinongs ? Oder sind sie etwa „neutralisierte" Aussagesätze ? Beides scheint mir falsch zu sein, und ich glaube, dafür Argumente gegeben zu haben. Also muß es noch etwas anderes sein. Meiner Ansicht nach sind es eben „Quasi-Urteile". Leugnet dies 191

Frau Hamburger, so muß sie eine andere Theorie, eine andere Aufklärung des Sinnes und der Leistung jener „dichterischen" Sätze geben. Oder meint sie, es sind eben Quasi-Urteile, und es handelt sich nur darum, mit welchen sprachlichen bzw. grammatischen Mitteln es zu ihrer Konstituierung kommt ? — Dann besteht meine Auffassung zu Recht, und es handelt sich lediglich um eine Ergänzung derselben. Ob nun Frau Hamburger mit ihrer Ergänzimg recht hat, kann ich hier nicht sagen.

§ 26. Eine analoge M o d i f i k a t i o n von Sätzen anderer Typen. Im literarischen Werk unterliegen aber der „Quasi-Modifikation" nicht nur die Behauptungssätze. Vielmehr werden darin alle Sätze, welcher Art auch immer, auf eine analoge Weise modifiziert, wenn sie nur zu dem die dargestellte Welt darstellenden Texte gehören, also wie man sagt, „vom Verfasser" ausgesprochen werden. Haben wir da z.B. mit einem Fragesatz zu tun, so ist es keine echte Frage mehr, sondern nur eine Quasi-Frage ; Sätze, die einen Wunsch oder einen Befehl ausdrücken, sind keine echten Wunsch- oder BefehlsSätze, sondern nur Quasi-Wünsche, Quasi-Befehle usw. Auch die im darstellenden Texte auftretenden Werturteile, unabhängig davon, ob sie eine ethische oder soziale oder etwa ästhetische Bewertung aussprechen, sind keine echten Werturteile, sondern nur QuasiBewertungen, wenn sie sich auch in ihrer rein äußeren Gestalt von echten Bewertungen nicht unterscheiden. Ihre Funktion besteht nur in intentionaler Entwerfung gewisser seinsheteronomer Gegenständlichkeiten, die sich höchstens den Anschein einer Realität geben, aber sie mitnichten sein können. Treten aber im Texte des literarischen Kunstwerks Fragen, Wünsche, Bewertungen auf, die von den d a r g e s t e l l t e n Personen ausgesprochen werden, so steht es mit ihnen wie mit den bereits besprochenen Behauptungssätzen, die etwa in einem Drama von einer dargestellten Perso» ausgesprochen werden. Fragt z.B. eine dargestellte Person ihren Bekannten: „Warst du gestern im Theater ?" und fügt sie hinzu: „Das ist ein großartiges Stück und ausgezeichnet gespielt", so ist dies in ihrer Meinung eine echte Frage und echte Beurteilung, aber natürlich beziehen sich diese Sätze ausschließlich auf Gegenständlichkeiten und Sachlagen, die zu der dargestellten Welt gehören, und dürfen von dem Leser nicht für 192

Fragen bzw. Beurteilungen außerkünstlerischer realer Gegenständlichkeiten gehalten werden. Und soweit sie zu der Konstitution dieser oder jener Einzelheiten innerhalb der dargestellten Welt beitragen, ist das von ihnen Konstituierte nur eine seinsheteronome intentionale Gegenständlichkeit, und insofern unterscheiden sie sich doch von Fragen und Bewertungen, die wir bezüglich realer Gegenständlichkeiten in vollem Ernst stellen. Und als Fragen bzw. Bewertungen, die von dargestellten Personen aufgestellt werden, gehören sie selbst zu den dargestellten Gegenständlichkeiten und sind selbst seinsheteronom. Sie geben nur vor, echte Fragen und echte Bewertungen zu sein, während sie in Wirklichkeit nur intentionale Gegenständlichkeiten — freilich aus der Sphäre der Sprachgebilde — sind. Dies ist ihr merkwürdiger Charakter einer Doppelnatur, den sie mit den durch die dargestellten Personen ausgesprochenen Behauptungssätzen teilen. Natürlich kann es von dargestellten Personen ausgesprochene Sätze geben, die von denselben gar nicht ernst gemeint sind und dann auch für diese Personen selbst bloß Quasi-Urteile oder QuasiFragen usw. sind, wenn etwa diese Personen dichten oder dichterische Werke lesen oder Theater spielen usw. Dann ist die intentional entworfene Welt s. z. s. mehrstufig und führt bei der Lektüre solcher Werke zu besonderen künstlerischen Phänomenen. Aber dies brauchen wir schon nicht mehr weiter zu analysieren. Zu beachten ist aber noch eins. Der Fragesatz übt neben anderen Funktionen auch die Funktion der Kundgabe, vermöge welcher der Frageakt des Fragenden „ausgedrückt" wird. Für den Gefragten, wenn er die Frage sinnvoll vernimmt, gelangt dadurch auf eine ganz eigentümliche Weise ein Tatbestand zur Enthüllung, der sich in dem Fragenden abspielt. Gewöhnlich wird ihm keine besondere Beachtung geschenkt, aber er gelangt doch — wenn auch nur peripherisch — dem Gefragten zum Bewußtsein und kann auch rein thematisch erfaßt werden. Als kundgegebener gehört er wesentlich zu der wirklich gestellten Frage. Denken wir mis jetzt, daß durch eine Person in einem Roman eine bestimmte Frage gestellt wird. Dann unterliegt der „ Quasi-Modifikation" nicht bloß die Fragefunktion des Fragesatzes, sondern auch seine Funktion der Kundgabe wie auch — auf zugehörige Weise — das Kundgegebene selbst. Der Fragende ist nämlich mit all dem, was ihm zugehört und was er tut, zwar als wirklich vermeint, aber doch nur vermeint. Somit sind auch seine Erlebnisse und insbesondere das „während" des Aus13 Iiigarden, Das literarische Kunstwerk

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Sprechens des Fragesatzes vollzogene Fragen von demselben Charakter. Das letztere ist also hier auf doppelte Weise modifiziert: 1. als dasjenige, was nicht im echten Sinne wirklich, sondern nur als wirklich vermeint, zu der im literarischen Werk bloß dargestellten Welt gehört, 2. in seiner Fragefunktion — auf die oben angedeutete Weise. Aber auch das Aussprechen der Frage gehört zu dieser bloß dargestellten Welt. Das mit ihm verbundene Kundgeben ist somit in demselben doppelten Sinne modifiziert: 1. als bloß vermeintes Kundgeben, 2. als ein Kundgeben, das nicht von einem objektiv bestehenden Tatbestand, sondern nur von einem als real vermeinten Kunde gibt. Dabei läßt sich diese Sachlage noch von zwei verschiedenen Standpunkten betrachten: 1. vom Standpunkt des in dem betreffenden Werk dargestellten Gefragten: für denselben wird die Funktion der Kundgabe wirklich vollzogen, und auch das Kundgegebene ist wirklich — und 2. vom Standpunkt des sowohl den Fragenden wie den Gefragten betrachtenden Lesers, für welchen beides in dem eben angedeuteten Sinne modifiziert wird. All dies betrifft aber nicht bloß die Kundgabefunktion der ausgesprochenen Fragesätze, sondern auch die der Wunsch-, Befehlsund u.a. natürlich auch der Behauptungssätze, falls die letzteren von einer im literarischen Kunstwerk dargestellten Person ausgesprochen werden. Und darin liegt eben die notwendige Ergänzung unserer im vorigen Paragraphen durchgeführten Betrachtungen. Die Betrachtungen über die Kundgabefunktion und ihre Modifikation führen aber zu einer wichtigen Konsequenz. Es ist nämlich sehr wohl möglich (und es kommt in literarischen Werken sehr oft vor), daß eine der auftretenden Personen diese oder jene Sätze ausspricht und beim Aussprechen dies oder jenes erlebt, ohne daß wir durch besondere Sätze im Texte darüber informiert werden; wir erfahren es vielmehr durch das bloße Auftreten solcher durch eine Person ausgesprochenen Sätze. Es steht im Text z.B. einfach ein Fragesatz oder ein Behauptungssatz, und es ergibt sich aus der bloßen Aufeinanderfolge der Sätze, daß er eigentlich in Anführungszeichen stehen sollte. Ein solcher „angeführter" Satz übt dabei eine eigentümliche doppelte Funktion aus: 1. er gehört als ausgesprochener eigentlich nicht zu dem Text des Werkes, sondern zu der durch den Text entworfenen „dargestellten" Welt — dann gehören zu dem Text eigentlich nur die (übrigens oft fehlenden) Anführungszeichen; 2. als angeführter Satz fügt er sich aber doch dem Text ein — er, der bloß dargestellte, erlangt dadurch eine Aktua194

lität, die ihm als bloß dargestelltem eigentlich nicht zukommt. Aus der bei dem bloßen Auftreten des angeführten Satzes zur Ausübung gelangenden Kundgabefunktion ergibt sich ein Entwerfen eines zu der bloß dargestellten Welt gehörenden Tatbestandes, des kundgegebenen Fragens, Behauptens, Lügens usw. So scheint es zunächst, als ob es in der durch die Sinngehalte der Sätze intentional entworfenen Welt Elemente geben könnte, die durch keinen Sinngehalt bestimmt und somit von der Schicht der Sinneinheiten unabhängig sind. Wenn es wirklich so wäre, so würden wir hier auf eine bedeutende Schwierigkeit stoßen. Denn unser ganzes Absehen in diesen Analysen geht darauf, zu zeigen, daß kein material bestimmter Sachverhalt oder Gegenstand in der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten vorkommen kann, der nicht in einer der beiden, zusammen das Element der Sprache im literarischen Werk bildenden Schichten — derjenigen der sprachlichen Lautgebilde und der der Sinneinheiten — seinen letzten Ursprung hätte. Genauere Erwägung zeigt indessen, daß diese Gefahr nicht besteht. Denn das Sinnelement, das wir hier zunächst entbehren, ist eben durch die Funktion der explizite angegebenen oder nur implizite mitvermeinten Anführungszeichen vertreten. Die Anführungszeichen sagen uns nämlich: Die folgenden Worte oder der folgende Satz wird sinnvoll durch eine bestimmte Person ausgesprochen und wird hier nur wiederholt, angegeben. Als ein „wirklich" ausgesprochener führt er die Kundgabefunktion mit sich. Diese Funktion der Anführungszeichen entwirft also auf eine besondere, aber doch intentionale Weise einen Sachverhalt, den des Kundgebens. Und erst dieser Sachverhalt im Zusammenhang mit dem Sinn und Charakter des eben ausgesprochenen Satzes führt von sich aus zur Entwerfung eines neuen intentionalen Bestandes, desjenigen nämlich, der kundgegeben wird. Der kundgegebene, im Werk zu der dargestellten Welt gehörende Sachverhalt ist also auch hier, wenn auch nicht unmittelbar, in seinem Entworfensein von einem Bedeutungselement der Schicht der Sinneinheiten abhängig. Trotzdem muß aber zugegeben und betont werden, daß die Kundgabefunktion von dem rein intentionalen Entwerfen, das durch Bedeutungseinheiten zustande kommt, radikal verschieden ist. Wenn auch der Sinn des ausgesprochenen Satzes bei der Funktion der Kundgabe nicht ganz irrelevant ist, so ist es doch nicht er, sondern die Tatsache des Aussprechens eines bestimmten Satzes, die zu der Enthüllung des Kundgegebenen (des Fragens, Behauptens, Lügens usw.) führt. 13·

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Die nähere Aufklärung der Kundgabefunktion kann uns hier nicht beschäftigen. Wichtig ist für uns nur, daß es unter den Sachverhalten, die im literarischen Werk zur Entfaltung gelangen, solche geben kann, die — wie das Kundgegebene — von anderen, durch den Sinngehalt der Sätze unmittelbar entworfenen Sachverhalten abhängig sind und durch die Bedeutungselemente der Schicht der Sinneinheiten nur mittelbar bestimmt werden.

6. Kapitel. Die Bolle der Schicht der Bedeutungeeinheiten im literarischen Werk. Die Darstellungsfunktion der rein intentionalen Satzkorrelate. § 27. Die U n t e r s c h e i d u n g d e r v e r s c h i e d e n e n F u n k t i o n e n der Sätze und Satzzusammenhänge. Um die folgenden Betrachtungen zu vereinfachen, restituieren wir jetzt die Einheit des Satzes als eines Ganzen, in welchem die sprachlautliche Seite und die Seite des Sinnes zu unterscheiden sind. Wir werden Tins freilich da vor allem auf die Leistung und die verschiedenen Funktionen der Satzsinngehalte konzentrieren müssen, um ihre Rolle im literarischen Werk hervortreten zu lassen, es wird aber auch nötig sein, öfters auf die Rolle der sprachlautlichen Schicht zurückzugreifen, weil sie mit der Rolle der Sinneinheiten im engen Zusammenhang steht und ihre Leistung in verschiedener Hinsicht vervollständigt und unterstützt. Die Sätze und die Satzzusammenhänge spielen — wie ihre lautliche Seite — zwei grundverschiedene Rollen in dem Ganzen des literarischen Werkes. Und zwar 1. diejenige, die in der Leistung der Satzsinne, in der Erschaffung („Entwerfung") oder auch bloß in der genaueren Ausgestaltung der übrigen Schichten des literarischen Werkes hegt, 2. diejenige, welche darin besteht, daß die Sinneinheiten als ein besonderes Material in dem heterogenen Material des literarischen Werkes auftreten und durch ihre besonderen Eigenschaften und Wertqualitäten an der Polyphonie des Werkes teilnehmen, sie bereichern und die Ausgestaltung der in dieser Poly phonie gründenden Gesamtcharaktere — oder wenn man will — der Ganzheitsgestalten und Werte beeinflussen. 196

Was die erste der beiden Rollen betrifft, so handelt es sich hier noch um verschiedene Funktionen, die die Sinneinheiten ausüben können: 1. Es handelt sich vor allem um die (unmittelbare oder mittelbare) intentionale E n t w e r f u n g der dargestellten Gegenständlichkeiten sowohl ihrer Natur, ihrem qualitativen Beschaffensein wie ihrer formalen und existentialen Struktur nach, wobei diese Gegenständlichkeiten nicht bloß Dinge, Personen, sondern auch deren Schicksale, Zustände, Prozesse, an denen sie teilnehmen, ganze gegenständliche Situationen usw. sein können. 2. Aber nicht nur die dargestellten Gegenständlichkeiten selbst, sondern auch das Wie ihrer D a r s t e l l u n g wird durch die Satzsinne genau bestimmt, und diese Bestimmung gehört auch zu der Leistung der Satzsinngehalte. An ihr nimmt auch die sprachlautliche Seite der Sätze in manchen Fällen teil. 3. Wie unsere früheren Betrachtungen über die sprachlautliche Schicht gezeigt haben, beeinflussen sowohl die Bedeutungen der einzelnen Worte wie die Sinngehalte der ganzen Sätze die nähere Ausgestaltung der in dieser Schicht vorkommenden Gebilde und Charaktere. Wir werden uns damit hier nicht weiter beschäftigen. 4. Die Sinneinheiten führen zur Vorbestimmung der Mannigfaltigkeiten von Ansichten, in denen die dargestellten Gegenständlichkeiten zur Erscheinung gelangen sollen, wobei wiederum die sprachlautliche Seite eine wesentliche Rolle spielt. Wir werden darauf erst später näher eingehen können (Kap. 8). 5. Was endlich die Rolle der Sinneinheiten für die Konstituierimg der „Idee des Werkes" betrifft, so kann darüber erst nach der Aufklärung dessen, was unter der „Idee" eines Werkes verstanden werden kann, gehandelt werden. Jedenfalls muß der Ursprung dieser „Idee" — falls es so etwas gibt — ebenfalls in der Schicht der Sinneinheiten, aber auch vielleicht in derjenigen der Lautgebilde, gesucht werden.

§ 28. Die E n t w e r f u n g s f u n k t i o n der S ä t z e , S a c h v e r h a l t e und ihr V e r h ä l t n i s zu den d a r g e s t e l l t e n G e g e n s t ä n d l i c h k e i t e n . Die wichtigste der unterschiedenen Funktionen besteht darin, daß der Sinngehalt der Sätze das e n t s c h e i d e n d B e s t i m m e n d e für die im Werke dargestellten und demselben immanent wesensmäßig zugehörenden Gegenstände und deren Schicksale ist. Ihr Sein sowie ihr gesamtes Sosein hat seinen unmittelbaren oder mittel197

baren Ursprung in der abgeleiteten Intentionalität der Satzsinngehalte und ist durch die letzteren wesentlich bestimmt. Aus diesem Grunde haben wir uns bei der Analyse des Satzes auf ihre „Leistung" konzentriert, d.h. darauf, daß sie von sich aus Sachverhalte, bzw. allgemeiner : rein intentionale Satzkorrelate zur Entfaltung bringen. Denn diese ihre Leistung kann erst verständlich machen, wie es im literarischen Werk so etwas wie die dargestellten Gegenstände überhaupt gibt und aufweiche Weise es dazu kommt. Unsere früheren Betrachtungen suchten dies zu klären. Indessen ist das durch den Satzsinngehalt intentional u n m i t t e l b a r Entworfene der zur Entfaltung gebrachte Sachverhalt. Und somit fragt es sich, wie es von der intentionalen Entfaltung der Sachverhalte zur Konstituierung der Gegenstände und insbesondere der Dinge, Personen, Prozesse usw. — immer nur als rein intentionaler Korrelate — kommt. Wie wir früher gezeigt haben, besteht zwischen den rein intentionalen Satzkorrelaten, und insbesondere den rein intentionalen Sachverhalten, und den rein intentionalen Gegenständen ein sehr enger Zusammenhang. Die einen wie die anderen sind dem Satzsinngehalte t r a n s z e n d e n t und gehören zu dem durch den Satzsinngehalt oder dessen Elemente, die Wortbedeutungen, intentional Geschaffenen. Als solche gehören die rein intentionalen Satzkorrelate und insbesondere die Sachverhalte schon zu der „gegenständlichen Schicht" des literarischen Werkes. Bestehen aber die Sachverhalte — immer rein intentional genommen —, so existieren eo ipso die Gegenstände, in deren Seinsbereich die jeweiligen Sachverhalte enthalten sind oder die an einem Geschehen teilnehmen, falls es sich um einen Geschehensverhalt handelt. Aber auch umgekehrt: Existieren in ihrer rein intentionalen Weise die Gegenstände, von denen in einem bestimmten Werke die Rede ist, so bestehen eo ipso auch die zugehörigen Sachverhalte. Und zwar handelt es sich dabei bei einem s e i n s a u t o n o m e n Gegenstande um alle Sachverhalte, die in einem bestimmten Zeitmoment1 in seinem Seinsbereich liegen, bei einem rein i n t e n t i o n a l e n Gegenstande dagegen nur um diejenigen, die in dem betreffenden literarischen Werk tatsächlich zur Entfaltung gelangen2. Diese beiden, wenn man bildlich so sagen 1

Diese Einschränkung gilt natürlich nur für Gegenstände, die in der Zeit existieren; für seinsautonome ideale Gegenstände dagegen fällt sie fort. 2 Ob die Beschränkung auf das jeweilig „aktuelle" Zeitmoment auch in diesem Falle gilt und ob und in welchem Sinne von den jeweilig aktuellen Zeitmomenten, in welchen die dargestellten Gegenstände existieren, die Bede sein darf, lassen wir hier vorläufig dahingestellt.

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darf, Seiten des Seienden — welches Seinsmodus auch immer — gehören untrennbar zusammen. Bei einem seinsautonomen Gegenstande kann man nicht einmal sagen, welches von beiden das „Konstituierende" und welches das „Konstituierte" ist. Es findet hier wesensmäßig eine notwendige g e g e n s e i t i g e Fundierung statt, und vielleicht ist auch das schon zuviel gesagt. Wenn wir uns rein auf den Gehalt der im Uterarischen Werk entworfenen Gegenstände beschränken und sowohl von ihrer rein intentionalen Seinsweise und Struktur wie auch von ihrer Konstituierung durch Sinngehalte absehen, so gilt dies auch für diese Gegenstände und die zugehörigen Sachverhalte, falls es natürlich zu diesem Gehalte gehört, daß es sich um seinsautonome Gegenständlichkeiten handelt. Erst die Berücksichtigung der intentionalen Konstitution dieser Gegenstände zeigt, daß sich hier die Sachen doch etwas anders verhalten. Denken wir uns, daß wir es mit einem Satz zu tun haben, der in einem bestimmten literarischen Werk von einem Gegenstand X zum erstenmal irgendetwas aussagt. Dieses X wird darin durch die Subjektsbedeutung des Satzes entworfen. Konstitutiv betrachtet bildet es für den entsprechenden Sachverhalt und die sich darauf bauenden gegenständlichen Einheiten die erste konstitutive Unterlage, und zwar bildet es sie als ein so und nur so b e s t i m m t e r Gegenstand, wie sich dies aus der vollen Bedeutung des Subjektes ergibt1. Gewöhnlich wird er nur hinsichtlich seiner Natur und seiner gegenständlichen Struktur als ein Ding bestimmt. Zugleich fungiert er — vermöge der besonderen Funktion des Satzsubjektes — als Träger der ihm dem Sinngehalt des Satzes gemäß zugewiesenen Eigenschaft (oder Tätigkeit usw.). Auf dieser Unterlage baut sich erst — sie auf eigentümliche Weise in sich aufnehmend — der betreffende Sachverhalt auf. Indem aber der betreffende Sachverhalt durch den Satz (wenn auch der letztere im literarischen Werk nur ein quasi-urteilsmäßiger Behauptungssatz ist) als „bestehender" entfaltet wird, zeigt sich in ihm, auf die früher angedeutete potentiell-aktuelle Weise, der in ihm zur Konstituierung gelangende Gegenstand X mit der ihm in dem Satze zugewiesenen Eigenschaft A (bzw. als ein die betreffende Tätigkeit ausübender) an. In diesem seinem potentiell-aktuellen Angezeigtsein wird es eben sichtbar, daß er als der mit der Eigenschaft A ausgestattete Gegenstand sozusagen 1

Vgl. meine früheren Betrachtungen über den Sachverhalt, wo ich sagte, daß der Subjektsgegenstand in dem betreffenden Sachverhalt auftritt.

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auf der Unterlage des betreffenden Sachverhalts zur Konstituierung gelangt. Und wenn der Satz ein (wenn auch nur quasi-urteilsmäßiger) Behauptungssatz ist, so mutet er dem Gegenstand X zu, daß derselbe mit der Eigenschaft A schon behaftet war, „ e h e " ihn der Satz als einen solchen e r f a ß t hat. Nachdem der Satz sozusagen vollendet dasteht und wenn der nächste Satz nachfolgt, steht der Gegenstand X (A) als ein solcher da, den der betreffende Sachverhalt nur gezeigt, zur Darstellung gebracht hat, obwohl der letztere für ihn das Konstituierende, Bestimmende ist. Bezieht sich der nächste — oder der jeweilig „spätere" 1 — Satz auf denselben Gegenstand X (A), so ist wiederum X (A) die konstitutive Unterlage für den neuen Sachverhalt, der ihm z.B. die Eigenschaft Β zuweist und der seinerseits die konstitutive Unterlage für den Gegenstand X (A, B) bildet und nach seiner eigenen Vollendung ihn als einen X (A, B) zur Darstellung bringt usw.2. So spielen die intentional entworfenen Sachverhalte eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung der dargestellten Gegenständlichkeiten, wobei sie übrigens selbst zu ihrer Konstituierung der e r s t e n nominalen Entwerfung derselben Gegenständlichkeiten, wie sie „zu Anfang" waren, bedürfen. So hängt es von ihnen und letzten Endes von den Sinngehalten der Sätze ab, welche, wie beschaffene und welchen Schicksalen unterworfene Gegenstände in dem betreffenden Werke zur Konstituierung gelangen. Darin zeigt sich eben, daß die Schicht der Sätze in k o n s t i t u t i v e r H i n s i c h t die z e n t r a l e Rolle im literarischen Werk spielt. Zugleich aber bringen die Sachverhalte diese Gegenständlichkeiten zur Darstellung. Ihre Stellung in diesen beiden Funktionen zu den Gegenständen ließe sich bildlich auch auf folgende Weise bestimmen : Die intentional entworfene „gegenständliche Schicht" des Werkes kann sozusagen in zwei verschiedenen Orientierungen genommen werden: 1. Wenn man, den Aufbau des Werkes theoretisch betrachtend, den konstitutiven Beziehungen nachgeht, so liegen die Sachverhalte im Vergleich zu den jeweilig sich in ihnen konstituierenden Gegenständen „unten", und zuunterst liegt die Schicht der Sinngehalte. 2. Wenn man dagegen bei der Aufnahme des Werkes die Sätze mit Verständnis liest, so liegt die Sachverhaltsseite der „gegenständlichen Schicht" „außen". Wir müssen zunächst sozuWas dies heißt, werden wir später erörtern (Kap. 11). Wir nehmen natürlich einen möglichst einfachen Fall an. Gewöhnlich kommen sehr mannigfache Komplikationen und Modifikationen vor. 1

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sagen durch die Sachverhaltsseite hindurchgehen, um zu den Gegenständen und ihren Schicksalen zu gelangen. In und durch die Mannigfaltigkeit zusammenhängender Satzkorrelate (insbesondere der Sachverhalte) „enthüllen" sich uns die Gegenstände, ihre Zusammenhänge und Schicksale. Und da derselbe Gegenstand in mehreren und verschieden gebauten Sachverhalten sich enthüllen kann, da die Sachverhalte wie viele Fenster sind, durch die wir in ein und dasselbe Haus (jedesmal von einem anderen Standpunkt und von einer anderen Seite aus, in einen anderen Teil oder auch durch dasselbe Fenster zum zweitenmal usw.) hineinblicken können, so tritt damit eine gewisse Spaltung in der „gegenständlichen Schicht" des literarischen Werkes ein. Die Sachverhalte sind in ihrer Darstellungsfunktion das Darstellende, die sich in ihnen konstituierenden Gegenstände das Dargestellte. Da aber der Sachverhalt zugleich etwas ist, was zu dem eigenen Seinsbereich des (in ihm konstituierten) Gegenstandes gehört, so ist diese Darstellung letzten Endes eine Selbstdarstellung des Gegenstandes in dem, was ihm eigen ist1. Dabei aber geschieht noch etwas, was das Gleichnis mit den Fenstern berechtigt und was zugleich wesensnotwendig ist: die Sachverhaltsseite der gegenständlichen Schicht wird bei der Ausübung ihrer Darstellungsfunktion durch den Leser nur so weit beachtet, als es gerade notwendig ist, um zu dem Dargestellten zu gelangen. Sie ist wie ein Medium, durch das wir hindurchgehen, um uns erst bei den dargestellten Gegenständen aufzuhalten und sie gegeben zu haben. Dieses Medium selbst wird dagegen gewöhnlich nicht für sich thematisch erfaßt, besonders wenn es sich um Soseinsverhalte handelt2. Die Geschehensverhalte treten dagegen mehr in den thematisch erfaßbaren Vordergrund, aber auch sie stellen letzten Endes die „Tatsachen" dar, die sich in diesem Geschehen verwirklichen, oder die in den Gegenständen sich vollziehenden Wandlungen, welche durch dieses Geschehen hervorgebracht werden. Und es ist kein Zufall, daß unser Blick gewöhnlich geradenwegs auf die dargestellten Gegenstände gerichtet ist, die zugehörigen 1

„Darstellung" als Enthüllungefunktion der Sachverhalte bildet nur einen der vielen möglichen Begriffe von „Darstellung". Die anderen Begriffe von „Darstellung" werden wir später entwickeln (§ 37). 2 Natürlich sind seitens des Lesers Einstellungen möglich, in welchen die Sachverhalte selbst thematisch erfaBt werden, aber dann hören sie auch auf, die sich in ihnen konstituierenden Gegenstände darzustellen.

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Sachverhalte kaum streifend. Denn zum Wesen des Darstellenden als solchem gehört es, daß es in der Ausübung der Darstellungsfunktion bis zu einem gewissen Grade aus dem Blickfelde verschwindet, um vor allem dasjenige ans Licht treten zu lassen, was es darstellt1. §29. Die D a r s t e l l u n g s - und die Z u r s c h a u s t e l l u n g s f u n k t i o n der S a c h v e r h a l t e . Wir haben im § 27 bemerkt, daß durch die Satzsinngehalte und die in den Sätzen gründenden Sinneinheiten höherer Stufe nicht bloß die dargestellten Gegenständlichkeiten, sondern auch die Weise der Darstellung selbst genau bestimmt wird. Um welche Weisen der Darstellung kann es sich dabei handeln, und was leisten die Sätze in dieser Hinsicht ? Die Behauptungssätze lassen sich bekanntlich ihren Sachverhalten nach.in verschiedene Gruppen einteilen2. Für unsere Zwecke wollen wir auf folgende drei Gruppen von Sachverhalten unser Augenmerk richten: 1. Die Soseinsverhalte, 2. die „Soaussehensverhalte", 3. die Geschehensverhalte (Beispiele: „Das Gold ist schwer.", „Mein Zimmer sieht im Winter trübe aus.", „Mein Hund läuft schnell davon."). Die zu den einzelnen Gruppen gehörenden Sachverhalte sind — wie sich zeigen wird — zu einer besonderen Darstellungsweise besonders geeignet, sie können aber trotzdem noch verschiedene Darstellungsfunktionen ausüben, je nach den besonderen Elementen, die in ihnen auftreten, und je nach der Bevorzugung der einzelnen Elemente in ein und demselben Sachverhalte. Ein Satz, der einen Soseinsverhalt entfaltet, kann je nachdem, was für Elemente in ihm auftreten, gegebenenfalls in zwei verschiedenen Interpretationen verwendet werden. Z.B.: Der Satz „Diese Rose da ist rot." kann zunächst so verstanden werden, daß die betreffende Rose einfach so beschaffen ist. Man kann ihn aber auch so verstehen, daß er fast den Sinn des Satzes: „Diese Rose da sieht rot aus." annimmt, wobei dieses „Rotaussehen" nicht in dem Sinne verstanden wird, in welchem es einem „Rot s ein" gegenüber1 Aus diesem Grunde spricht E. H u s s e r l bei Gegenständlichkeiten, die etwas „darstellen" — in einem bei ihm sehr weiten Sinne —, von „Durchgangsobjekten". 2 Vgl. A. P f ä n d e r , „Logik", Le. S.141.

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gestellt und in dem Sinne des „Nur-so-Aussebens" gedeutet wird. Im Gegenteil: Gerade indem die Rose rot i s t und „rot" zu ihren sichtbaren Eigenschaften gehört, sieht sie auch (bei günstigen sonstigen Bedingungen) rot aus. Ähnlich ist es, wenn ich sage: „Der Weg nach X ist sehr holprig." oder „Dieses Stück Marmor ist sehr glatt." oder „Das Schreien der Menge war sehr laut." Alle diese Sätze können so gedeutet werden, als wenn es sich in ihnen um ein „Soaussehen" handelte. Dabei nehmen wir den Ausdruck „das Soaussehen" in einem sehr e r w e i t e r t e n Sinne, in welchem er nicht nur bei den v i s u e l l gebbaren, sondern auch bei a l l e n p h ä n o m e n a l direkt erfaßbaren Eigenschaften von Gegenständen, Prozessen, Tätigkeiten usw. verwendet werden darf. Wenn ich dagegen sage : „Das Holz ist ein schlechter Wärmeleiter.", so kann ich diesen Satz nicht so deuten, als wenn es sich in ihm um ein Soaussehen des Holzes handelte. Die hier dem Holze zugesprochene Eigenschaft ist zwar „erfahrbar", d.h. sie läßt sich in Erfahrungszusammenhängen als bestehende ausweisen, aber sie gehört nicht zu den p h ä n o m e n a l d i r e k t erschaubaren Eigenschaften. Schon unter den Sätzen, die Soseinsverhalte entfalten, läßt sich also ein bemerkenswerter Unterschied aufweisen, der mit den gleich zu besprechenden Unterschieden in der Weise der Darstellungsfunktion eng zusammenhängt. Nehmen wir jetzt z.B. Sätze wie: „Das Zimmer sah bei der schwachen Kerzenbeleuchtung trübe aus.", „Meine wollene Jacke fühlt sich so weich an.", „Diese Birne schmeckt süß.", „Diese Last ist so schwer zu tragen.", „Diese Rose duftet süß." usw., so handelt es sich bei ihnen allen um ein „Soaussehen" des betreffenden Gegenstandes, das Wort in dem erweiterten Sinne genommen. Dabei braucht ζ. B. der Satz „Das Zimmer sah trübe aus." nicht in dem Sinne genommen zu werden, daß das Zimmer nur für irgend jemanden aus irgendwelchen subjektiven Gründen so aussah, in Wirklichkeit aber ein ganz anderes Aussehen hatte. Der gewöhnliche Sinn ist gerade der, daß das betreffende Zimmer unter den gegebenen objektiven Bedingungen w i r k l i c h ein solches Aussehen hatte 1 . Die Sätze, die das „Soaussehen" des Gegenstandes zur Entfaltung bringen, können aber auch so verwendet werden, daß es sich in ihnen nicht nur, oder nicht in erster Linie, um das Soaussehen, sondern um das Sosein des betreffenden Gegenstandes han1 Die angegebenen Sätze können aber natürlich auch in dem anderen Sinne genommen werden.

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delt, das sich in diesem Soaussehen ausprägt. Ebenso wie bei der besonderen Verwendung mancher Soseinssätze auf das „Soaussehen" hingeschielt werden kann, so liegt hier umgekehrt ein Hinschielen auf das zugehörige Sosein des Gegenstandes vor. Die Kontrastierung der beiden Satztypen und ihrer möglichen doppelten Verwendung läßt uns erkennen, daß ihre Sachverhalte die in ihnen sich konstituierenden Gegenstände auf zwei verschiedene Weisen zur „Darstellung" bringen können und daß somit auch verschiedene Begriffe von Darstellung abzusondern sind. In dem einen, und zwar in dem a l l g e m e i n e r e n Sinne — den wir schon oben angedeutet haben — stellen all die hier angeführten Sachverhalte die dazu gehörenden Gegenstände dar, indem sie die letzteren in diesen oder jenen Zügen „enthüllen". Dabei soll dieses „Enthüllen" nichts mehr und nichts anderes besagen, als daß sie uns mit dem betreffenden Gegenstande b e k a n n t machen. Dort, wo früher, bevor ein Sachverhalt zur Entfaltung kam, für uns ein Unbekanntes und in diesem Sinne eine für uns verschlossene, wie verdeckte Seinssphäre lag oder sogar — wie es gerade bei literarischen Werken der Fall ist — einfach nichts vorhanden war, dringen wir vermöge des durch den Satz entfalteten Sachverhaltes ein ; es ist jetzt etwas für uns „aufgeschlossen", „aufgedeckt", wir gewinnen ein Wissen von etwas früher Unbekanntem oder für uns überhaupt Nichtvorhandenem, wobei es ganz irrelevant ist, ob wir dieses Etwas zugleich a n s c h a u l i c h erfassen oder nicht. Daß diese allgemeine Darstellungsfunktion durch die intentionalen Soseinsverhalte ausgeübt wird, wird wohl niemand bestreiten. Wer dies aber bei den Soaussehensverhalten bezweifeln möchte, der möge beachten, daß das „ w i r k l i c h e " Soaussehen eines Gegenstandes etwas ist, was ihm ebenso wie seine Eigenschaften zugehört, nur daß in diesem Falle — anders als bei den Eigenschaften — es noch eines das Soaussehen erfassenden und das letztere in Aktualität erhaltenden Bewußtseinssubjekts bedarf. Jedenfalls, ob es sich um ein Sosein des Gegenstandes oder um ein Soaussehen handelt, machen wir uns mit irgend etwas von dem betreffenden Gegenstande bekannt. Aber noch mehr. Die Soaussehensverhalte zeigen uns zwar thematisch und in erster Linie das Aussehen der Dinge. Sobald aber das Aussehen ein (unter entsprechenden Bedingungen) wirkliches ist, zeigt sich in ihm das entsprechende Sosein des Gegenstandes an. Nur deswegen ist die oben angegebene verschiedene Deutung der zugehörigen Sätze möglich. So „enthüllt" uns auch der „Soaussehens204

verhalt" — obwohl mittelbar — doch das Sosein des jeweiligen Gegenstandes. Dieser allgemeinen Darstellungsfunktion der Sachverhalte muß eine andere, besondere gegenübergestellt werden, die entweder durch die Soaussehensverhalte oder auch durch diejenigen Soseinsund Geschehensverhalte (auf die wir sogleich eingehen werden) ausgeübt wird, welche eine p h ä n o m e n a l erschaubare Eigenschaft (oder ein Geschehen) dem durch das Subjekt des Satzes genannten Gegenstand zuweisen, wo also ein Hinschielen auf das „Soaussehen" des Gegenstandes stattfinden kann. Es handelt sich da um etwas mehr und zugleich um etwas anderes als um ein bloßes Bekanntmachen mit Etwas. Es liegt da ein Darstellen vor, in welchem der Gegenstand in seinem p h ä n o m e n a l e n (direkt erschaubaren) Gehalt b e s t i m m t wird und dadurch sozusagen ohne weiteres fähig ist, sich in seinem phänomenalen Gewände zu zeigen. Der Sachverhalt bereitet da sozusagen alle auf der Gegenstandsseite liegenden Bedingungen dafür vor, daß der Gegenstand bei Erfüllung subjektiver Bedingungen phänomenal direkt erschaut werden könnte. Die besondere Weise der Darstellungsfunktion besteht hier darin, daß e i n e m m ö g l i c h e n S u b j e k t d e r p h ä n o m e n a l e B e s t a n d des betreffenden Gegenstandes (oder wenigstens eines seiner Züge) entgegengehalten, „zur S c h a u g e s t e l l t " wird. Natürlich liegt der „Zurschaustellung" die „Darstellung" in dem allgemeinen Sinne überall zugrunde. Die Zurschaustellung ist nur ein besonderer Modus der letzteren. All dies gilt selbstverständlich streng genommen nur von seinsautonomen Sachverhalten, die derart sind, daß sie selbst von einem Bewußtseinssubjekt unmittelbar erfaßt werden können 1 . Die Zurschaustellung kann durch material verschiedene Sachverhalte in größerem oder kleinerem Maße geleistet werden, je nachdem die letzteren reicher oder ärmer an direkt anschaubaren gegenständlichen Momenten sind, oder je nachdem sie so strukturiert sind, daß eine größere oder geringere Klarheit, Durchsichtigkeit ihres Baues und der in ihnen zur Darstellung gelangenden Gegenständlichkeiten vorhanden ist. Auch unter den direkt erschaubaren gegenständlichen Momenten gibt es noch Unterschiede hinsichtlich der Ausgeprägtheit, der „Plastizität" der einzelnen Züge sowie hinsichtlich desjenigen Moments, das man im Auge hat, wenn man sagt, etwas sei „auffallend", „springe besonder ins Auge" u.a. ' Vgl. unten S. 206.

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Von all diesen Faktoren ist die Größe der Leistung der Zurschaustellung bedingt. So haben die Geschehensverhalte oft in viel höherem Maße die Fähigkeit, die an dem jeweilig entfalteten Geschehen teilnehmenden Gegenstände zur Schau zu stellen, als es bei reinen Soseinsverhalten der Fall ist. Das hängt sowohl mit der verbalen Entfaltungsweise, die an reinen Geschensverhalten besser zur Ausprägung kommt, wie auch damit zusammen, daß viele gegenständliche Eigenschaften nur dann, oder mindestens dann viel ausgeprägter, sich manifestieren, wenn die entsprechenden Gegenstände in einem Geschehen begriffen sind. Außerdem stellen^ die Geschehensverhalte — als etwas sich in einer gegenständlichen Welt Abspielendes, da S t a t t h a b e n d e s — gewissermaßen sich selbst zur Schau 1 . Sie stellen zugleich die in ihnen sich realisierenden Tatsachen zur Schau, in denen das jeweilige Geschehen kulminiert und die ein System von „verwirklichten", miteinander zusammenhängenden, wenn auch auf verschiedene Gegenstände verteilten Soseinsverhalten bilden. So können durch Geschehensverhalte — besonders wenn sie durch zusammenhängende Sätze entworfen werden — nicht bloß Gegenstände (Dinge, Personen), die an dem betreffenden Geschehen teilnehmen, sondern auch andere Sachverhalte, die in diesem Geschehen den betreffenden Gegenständen zuwachsen, dar- und zur Schau gestellt werden. Die Geschehensverhalte sind dann wie Bindeglieder zwischen den Soseinsverhalten, die in den Seinsbereichen der einzelnen Gegenstände bestehen, und verhelfen dadurch auf wesentliche Weise zur Darstellung, öfters auch zur Zurschaustellung, ganzer Ausschnitte einer gegenständlichen Welt. Zur genaueren Erfassung der durch rein intentionale Satzkorrelate ausgeübten Zurschaustellung muß noch folgendes beachtet werden: Vor allem kann die Zurschaustellung nicht von selbst zur anschaulichen Gegebenheit der betreffenden Gegenstände führen, also nicht ohne die Unterstützung durch andere Faktoren. Sie ist eben nur eine „Zurschaustellung", aber damit noch keine Veranschaulichung. Damit etwas zur anschaulichen Erfassung gebracht werde, müssen nämlich zwei Reihen von Bedingungen erfüllt sein: 1. gegenständliche, 2. subjektive. Unter den 1 „Gewissermaßen", weil streng gesprochen von der „Zurschaustellung" nur dort die Bede sein kann, wo ein A ein von sich selbst verschiedenes Β „zur Schau" stellt.

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gegenständlichen Bedingungen steht an erster Stelle diejenige, daß der in Betracht kommende Gegenstand unter seinen Eigenschaften solche aufweist, welche qualitative Momente in sich enthalten, die s e l b s t p r ä s e n t i e r e n d sind. Alle sogenannten „sinnlichen Qualitäten" — aber nicht nur sie — sind selbstpräsentierend. Dagegen ist z.B. das Moment, das in Betracht kommt, wenn vom Silber als einem „guten Wärmeleiter" die Rede ist, nicht selbstpräsentierend. Die subjektiven Bedingungen indessen hegen in dem Vollzug ganz bestimmt gebauter Bewußtseinsakte, die die Aktualisierung von „Ansichten" mit sich führen1, in denen der jeweilig anschaulich zu erfassende Gegenstand „erscheint". Diese letzten Bedingungen können natürlich durch die von den Sätzen entworfenen Sachverhalte nicht erfüllt werden. Aber auch was die Erfüllung der angegebenen gegenständlichen Bedingung betrifft, so stellt sich die Sachlage bei den seinsautonom bestehenden Sachverhalten anders dar als bei den nur intentional durch den Satzsinngehalt entworfenen. Die im strengen Sinne „zurschaustellenden" Sachverhalte können nur die seinsautonom bestehenden sein, und zwar dann, wenn in ihnen Elemente vorkommen, die selbstpräsentierende qualitative Momente in sich enthalten. Bei rein intentionalen Sachverhalten dagegen, auch wenn sie derartige Elemente in sich bergen, ist dieses Enthaltensein der selbstpräsentierenden qualitativen Momente nur ein Quasi-Enthaltensein, ein solches, welches das bei seinsautonomen Sachverhalten oder Gegenständen vorkommende Enthaltensein nur v o r t ä u s c h t . Und wenn wir uns auch gewöhnlich bei der Einstellung auf den Gehalt des rein intentionalen Satzkorrelates die reine Intentionalität dieses Korrelats nicht zum Bewußtsein bringen und sozusagen der Täuschung, daß sein Gehalt seinsautonomen Bestand habe, fast unterhegen, so ändert dies doch nichts an der wesensmäßigen Tatsache der reinen Intentionalität des ganzen Korrelats und an den damit wesensmäßig verbundenen Sachlagen. Und darin liegt der Grund dafür, daß die Funktion der Zurschaustellung durch rein intentionale Sachverhalte nicht in dem echten Sinne, wie es bei seinsautonom bestehenden Sachverhalten der Fall ist, ausgeübt werden kann. Trotzdem hegt auch in diesem Falle sozusagen ein Ansatz zu ihrer Ausübung vor, der zur anschaulichen Gegebenheit der dargestellten Gegenständlichkeiten ausreichen würde, wenn nur auch die subjektiven Bedingungen der Ver1

Wir werden uns damit erst später beschäftigen. Vgl. Kap. 8 und 9. 207

anschaulichung erfüllt wären. Und da es keinem Zweifel unterliegt, daß wir bei der Lektüre eines Werkes die dargestellten Gegenstände oft auf anschauliche — wenn auch nur phantasie- und nicht wahrnehmungsmäßige — Weise erfassen und bei dieser phantasiemäßigen Veranschaulichung durch den Text des Werkes geleitet werden (falls wir uns natürlich getreu an das Werk halten wollen), so muß in dem literarischen Werk ein Faktor gesucht werden, der neben den zurschaustellenden Sachverhalten die Veranschaulichung — beim Vorhandensein eines Lesers — ermöglicht und den letzteren dabei leitet. Diesen neuen Faktor werden wir in der Schicht der „Aneichten" finden, welche zu dem gesamten Aufbau des literarischen Werkes gehört und in ihm, eben als einem Kunstwerk, eine bedeutende Rolle spielt. Auch die sprach lautliche Schicht wirkt dabei mit. § 30. Andere Weisen der Darstellung durch Sachverhalte. Der im vorigen Paragraphen klargelegte Kontrast zwischen der Darstellung im allgemeinen Sinne und ihrer besonderen Weise der Zurschaustellung erschöpft noch nicht alle Unterschiede, die bei der Darstellung durch Sachverhalte vorkommen. Es gibt im Gegenteil eine sehr reiche Mannigfaltigkeit von verschiedenen typischen Darstellungsweisen, von denen wir hier nur einige als Beispiele besprechen wollen, um dadurch auch die Rolle der Sätze in ein deutlicheres Licht zu bringen, in denen die verschiedenen Darstellungsweisen ihren letzten Ursprung haben. Zu beachten ist dabei, daß die jetzt zu besprechenden Darstellungsweisen sowohl bei rein darstellenden wie auch bei den zugleich zurschaustellenden Sachverhalten vorkommen können. 1. Die Weise der Darstellung durch Sachverhalte hängt vor allem davon ab, welche Sachverhalte von allen möglichen, die zu einem bestimmten Gegenstande, dem Gesamtbestande seiner Eigenschaften gemäß, gehören können, durch den Satzsinngehalt bestimmt und damit ausgewählt werden. Nehmen wir zunächst einen seinsautonomen, zeitlichen Gegenstand1, so gehört zu ihm eine unend1 Wir können uns hier auf zeitliche Gegenstände beschränken, da für literarische Werke fast ausschließlich solche in Betracht kommen.

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liehe, und zwar eine doppelt unendliche Mannigfaltigkeit von Sachverhalten. Eine doppelt unendliche, weil 1. zu einem jeden Zeitmoment seiner Existenz eine unendliche Mannigfaltigkeit von zusammengewachsenen1 Sachverhalten gehört und weil es 2. eine unendliche Mannigfaltigkeit von zeitlichen Momenten gibt, in welchen der betreffende Gegenstand existiert. Alle diese Sachverhalte bilden die ursprüngliche Einheit des Gegenstandes und machen seinen gesamten Seinsbereich aus. Wenn wir dagegen einen Gegenstand nur durch rein intentional satzmäßig entworfene Sachverhalte bestimmen können, so müssen wir — wie schon im § 24 ausgeführt wurde — diese ursprüngliche Einheit in einzelne Sachverhalte (manchmal auch in Sachverhaltsgruppen) spalten und sie erst durch Verwendung der zusammenhängenden Sätze bis zu einem gewissen Grade wieder restituieren. Da aber die Mannigfaltigkeit der zu diesem Zwecke verwendbaren Sachverhalte eine im Prinzip unendliche ist, so sind wir genötigt, nur einzelne Glieder aus dieser Mannigfaltigkeit — und zwar immer nur in einer endlichen Anzahl — auszuwählen. Damit ist die Möglichkeit einer v e r s c h i e d e n artigen Auswahl gegeben. Daraus ergibt sich aber zugleich die Möglichkeit, die Gegenstände auf verschiedene Weise durch Sachverhalte darzustellen — wenn auch bei dieser Behauptung eine gewisse Vorsicht geboten ist. Ein und derselbe intentionale Gegenstand kann nämlich in verschiedenen Kombinationen von Eigenschaften, Zuständen usw. dar- bzw. zur Schau gestellt werden, je nachdem er durch eine solche oder durch eine andere Mannigfaltigkeit dargestellt wird. Der Gegenstand wird da sozusagen von einer anderen Seite, in einer anderen Perspektive und — wenn man bildlich so sagen darf — auch in anderen perspektivischen Verkürzungen gezeigt, da bei verschiedenen Mannigfaltigkeiten von Eigenschaften eines Gegenstandes ein und dieselbe Eigenschaft eine verschiedene Rolle und Wichtigkeit in seinem gesamten Sosein annehmen zu können scheint. Die Rede von „ein und demselben" Gegenstand, der nur verschieden dargestellt wird, muß aber dabei mit einem gewissen Vorbehalt genommen werden. Denn es darf nicht vergessen werden, daß der Gegenstand in diesem Falle sich erst in der betreffenden Mannigfaltigkeit von Sachverhalten konstituiert, d.h. u. a. solche — und streng gesprochen nur solche — Bestimmtheiten erhält, welche durch die zugehörigen Satzsinngehalte in den Sach1

Insofern ist hier die Rede von einer Mannigfaltigkeit nicht ganz am Platze.

14 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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verhalten festgelegt werden. Die Verschiedenheit in der Zusammensetzung zweier Sachverhaltsmannigfaltigkeiten kann auch entsprechende Verschiedenheiten in die in ihnen dargestellten Gegenstände einführen, wenn die in Frage kommenden Sachverhalte einander nicht fordern; die Rede von „ein und demselben" Gegenstand muß also hier cum grano salis genommen werden. So ist auch die bei den Literaturwissenschaftlern übliche Rede von ein und demselben „Stoff", der durch verschiedene Dichter nur „verschieden gestaltet" wird, sowie auch die Rede vom „Stoff" selbst, streng genommen unrichtig, sofern durch „Stoff" nicht ein uns aus der Erfahrung bekannter realer Gegenstand oder ein reales Ereignis, sondern ein lediglich durch Sätze entworfener, fiktiver Gegenstand verstanden wird. Trotz dieser aus der Verschiedenheit der Sachverhalte möglicherweise entspringenden Verschiedenheit der Gegenstände ist die Rede von ein und demselben Gegenstand, der nur verschieden dargestellt wird, nicht ganz unbegründet. Denn wenn auch der intentionale Gegenstand explizite und sozusagen actualiter diejenigen und nur diejenigen Eigenschaften besitzt, die ihm durch Satzsinngehalte zugewiesen werden, so ist zugleich der potentielle Bestand der in die Sätze eingehenden Wortbedeutungen nicht zu übersehen, dessen Vorhandensein dazu führt, daß der intentionale Gegenstand (seinem Gehalte nach) als ein solcher vermeint wird, der außer den explizite und aktuell vermeinten Bestimmtheiten noch i r g e n d w e l c h e andere Eigenschaften besitzt, die einem bestimmten Typus angehören, aber nicht näher bestimmt sind. Dadurch bekommt die in einer Satzmannigfaltigkeit zur Entfaltung gelangende Mannigfaltigkeit von Sachverhalten das Gepräge einer Auswahl aus dem gesamten, z.T. nur leer mitvermeinten und explizite nicht genau bestimmten Bestände von Sachverhalten, die den Seinsbereich des betreffenden Gegenstandes auszumachen scheinen, wenn sie auch in überwiegender Mehrzahl überhaupt nicht zur intentionalen Entwerfung gelangen. Dieser durch den potentiellen Bedeutungsgehalt nur leer mitvermeinte Bestand an Sachverhalten kann gegebenenfalls sozusagen das Bindeglied zwischen — wie es zunächst scheinen mag — zwei Gegenständen, die durch zwei Sachverhaltsmannigfaltigkeiten dargestellt werden, bilden und damit dann ihre Identität erzwingen. So ist unter dem gegebenen Vorbehalte die Rede von verschiedenen Weisen der Darstellung ein und desselben Gegenstandes nicht unbegründet, obwohl die Weisen der Darstellung in diesem Falle zugleich Weisen der Gestaltung sind. 210

Unter diesen Weisen kann man verschiedene Typen unterscheiden, deren genaue Herausstellung einer besonderen Untersuchung bedürfte. Zur Bekräftigung unserer These, daß es verschiedene solcher Typen gibt, können wir hier nur auf einige von ihnen als Beispiele hinweisen. Ein Werk kann z.B. so geschrieben werden, daß sein Text vorwiegend Sachverhalte des Soaussehens des Gegenstandes entwirft und nur in seltenen Fällen auch solche, die den Gegenstand in seinen „inneren", anschaulich nicht direkt erfaßbaren, Eigenschaften darstellen. Dabei kann es noch solche Unterschiede geben, daß z.B. in einem Werke vorwiegend Sachverhalte entworfen werden, in denen visuelle Eigenschaften die wichtigste Rolle spielen, in einem anderen dagegen tonale oder taktile Momente mehr hervortreten oder endlich die ganze Fülle der heterogenen Momente in ihrer Buntheit und ihrem Reichtum zur Entfaltung gelangt. Auch bei Darstellung von Personen kann es analoge Unterschiede geben : Eine Person kann direkt durch Sachverhalte ihres leiblichen Beschaffenseins oder Soaussehens und erst mittelbar von da aus auch in ihrem seelischen Leben dargestellt werden. Es ist aber auch möglich, sie in lauter seelischen Vorkommnissen und Eigenschaften darzustellen, so daß ihr leibliches SoauBsehen überhaupt nicht direkt zum Vorschein kommt oder nur auf mittelbarem Wege hinzukonstruiert werden muß. Des weiteren können die Sätze durch ihren Sinngehalt nur ganz unwesentliche und zufällige Sachverhalte des betreffenden Gegenstandes entwerfen, hinter denen sich erst dasjenige verbirgt, was zu seinem Wesen gehört. Es kann aber auch das Entgegengesetzte der Fall sein. Ein anderer Unterschied ergibt sich, wenn einmal v o r w i e gend Beziehungssachverhalte entworfen werden, aus denen sich nachträglich die in diesen Beziehungen stehenden Gegenstände bestimmen, und wenn das andere Mal vorwiegend „innere" Sachverhalte entworfen werden, die erst zu Beziehungen zwischen den Gegenständen führen, u. dgl. mehr. 2. Von einem anderen Gesichtspunkt aus ergeben sich verschiedene Weisen der Darstellung im Hinblick darauf, ob die Satzsinngehalte Sachverhalte entwerfen, die ihre Rolle gewissermaßen darin erschöpfen, daß sie den Gegenstand als einen in ihnen selbst so und so bestimmten zeigen, oder ob es sich um Sachverhalte handelt, die so vermeint sind, daß sie zwar auch diesen Gegenstand als einen in ihnen bestimmten darstellen, daß aber diese ihre Rolle im Grunde nur nebensächlich ist, ihre hauptsächliche Darstellungs14·

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leistung dagegen darin liegt, a n d e r e Sachverhalte, die durch Satzsinngehalte nicht d i r e k t bestimmt werden, mittelbar zur Enthüllung zu bringen. Eine solche mittelbare Sachverhaltsbestimmung kommt oft vor. Sie führt zu einem besonderen Typus der Darstellung erst dann, wenn die Entwerfung von bestimmten Sachverhalten von vornherein darauf b e r e c h n e t ist, diese Rolle der m i t t e l b a r e n Entfaltung anderer Sachverhalte zu erfüllen, und wenn dabei in der Schicht der dargestellten Gegenstände nur das mittelbar Bestimmte das eigentlich Wichtige in dem Werke ist, also das ist, worum es sich in dem betreffenden Werke eigentlich handelt. Wenn eine solche Darstellungsweise in einem Werke als eine Hauptdarstellungsweise verwendet wird, so führt dies zu einem besonderen Typus literarischer Werke überhaupt. Vgl. z.B. einerseits die rein „naturalistischen" Werke, die aus Prinzip nichts mehr und nichts anderes sagen wollen als das, was in dem Satzsinngehalt direkt bestimmt wird, und die ganz schlichte, rein „sachliche" Redewendungen gebrauchen ; andererseits ζ. B. solche Werke, welche sich in ausgiebigem Maße der Metapher und der ganzen bildlich-metaphorischen Ornamentik bedienen, und endlich die s y m b o l i s c h e n Werke par excellence, in welchen das direkt durch den Satzsinngehalt Entworfene nur die nebensächliche Rolle der Brücke zu dem, was symbolisiert werden soll, spielt — z.B. die „Dramen" von Maeterlinck1). 3. Eine andere Reihe von Darstellungsweisen ergibt sich im Hinblick darauf, welches B e d e u t u n g s m a t e r i a l zu der Bildimg der Sätze verwendet wird. Zwar handelt es sich da in e r s t e r Linie um Weisen, auf welche die Sachverhalte selbst durch den Satzsinngehalt bestimmt werden, aber damit hängen auch die Weisen der Darstellung der Gegenstände durch Sachverhalte eng zusammen. Bis zu einem gewissen Grade ist es möglich, „denselben" Sachverhalt durch zwei verschiedene Sätze zu entwerfen, „denselben", der aber doch in verschiedener Hinsicht modifiziert ist. Die Sätze können dabei in doppelter Hinsicht verschieden sein: 1. in bezug auf das reine Bedeutungsmaterial, 2. in bezug auf den Wortlaut der verwendeten Worte. Man kann z.B. „denselben" Gedanken 1 Die Symbolisierungsfunktion ist nicht mit der Ausdrucksfunktion zu verwechseln, die manche Sachverhalte, die das Soaussehen eines beseelten Leibes bilden, dadurch spielen, daB dieses Aussehen „Ausdruck" seelischen Lebens ist. Ebenso ist die Symbolisierungsfunktion nicht mit der später zu besprechenden Abbildungefunktion der dargestellten Gegenstände zu verwechseln.

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einmal vorwiegend in sog. „abstrakte" Worte fassen, das andere Mal dagegen ihn in Worte „kleiden", die lauter „konkrete" Bedeutungsintentionen in sich bergen. Der Sachverhalt ist in beiden Fällen „derselbe" und doch verschieden, was sich schon darin zeigt, daß der erstere nur die Funktion des Darstellens, der zweite dagegen aber auch die des Zurschaustellens auszuüben vermag. Insofern spiegelt sich der Unterschied im Bedeutungsmaterial in der Weise der Darstellung durch Sachverhalte wieder. In derselben Richtung können die Verschiedenheiten in der sprachlautlichen Seite des Satzes bei demselben oder nahezu demselben Sinngehalt wirken. Es kommt dabei nicht in erster Linie darauf an, daß z.B.„derselbe" Satz — und zwar mit genau demselben Sinngehalt — in zwei verschiedenen Sprachen ausgesprochen wird. Denn damit allein braucht noch nicht notwendig ein Unterschied in der Weise der Darstellung verbunden zu sein. Tatsächlich ist es aber ein relativ seltener Fall, daß die Änderung der sprachlautlichen Seite der Sätze keine Folgen für die Konstituierung der gegenständlichen Schicht des literarischen Werkes nach sich zieht. Gewöhnlich ist das Umgekehrte der Fall. Das tritt z.B. vor allem dann ein, wenn in einem Satz ein, seinem Wortlaute nach, schon „totes" Wort durch ein anderes von derselben Bedeutung, aber von lautlicher Lebendigkeit ersetzt wird. Eine viel größere Bedeutung hat die Ersetzung der einzelnen Worte durch andere, wenn der neue Wortlaut bei demselben aktuellen Bedeutungsbestande einen anderen potentiellen Bedeutungsbestand mit sich führt und damit auch eine andere emotionale Färbung hervorbringt. Diese emotionale, stimmungshafte Färbung ist in literarischen Kunstwerken gewöhnlich von der allergrößten Bedeutung1, so daß von ihr und von der Art ihres Auftretens öfters sogar die Gattung des Werkes abhängt, ob es sich z.B. um ein „lyrisches" oder „dramatisches" oder „episches" Werk handelt. Sie kann den Sachverhalten und den in ihnen dargestellten Gegenständlichkeiten 1 Wir werden darauf noch in dem Paragraphen über die „Idee" des Werkes zurückkommen. Wae die emotionale Färbung — oder wie O. Walzel sagt: den „Gehalt" — betrifft, so findet man treffende Bemerkungen in Walzels „Das Wesen des dichterischen Kunstwerks" (vgl. „Das Wortkunstwerk", Leipzig 1926, S. lOOff.). Ob aber Walzel damit recht hat, daß dieser emotionale „Gehalt" nicht durch den Sinn der Sätze bestimmt bzw. hervorgerufen werden könne, darf wohl bezweifelt werden. Da fehlen wohl tiefere Einblicke in den wesensmäßigen Aufbau des literarischen Kunstwerkes, wie auch über das Wesen der Bedeutungseinheiten. Auch W. Conrad hebt die Bedeutung des „Stimmungsmoments" im literarischen Kunstwerke hervor (I.e. S.492).

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durch den nur zu einem gewissen Grade aktualisierbaren p o t e n tiellen Bedeutungsbestand der Worte sowie durch verschiedene, früher besprochene Eigentümlichkeiten der sprachlautlichen Gebilde und insbesondere auch durch die Manifestationsqualitäten der Wortlaute verliehen werden. Die Ersetzung eines einzigen Wortes in einem ganzen Satzzusammenhang durch ein anderes Wort kann diese emotionale Färbung vollkommen zerstören oder einen Umschlag in ihr herbeiführen1. Dies wird noch deutlicher hervortreten, wenn wir im folgenden die Rolle des Sinngehaltes "des Satzes wie auch seiner sprachlautlichen Seite für die Vorbestimmung der den dargestellten Gegenständen zugehörigen „Ansichten" besprechen werden. Die eigentümliche, undefinierbare emotionale Färbung legt sich bei der Lektüre über die aktualisierten Ansichten und umhüllt auch die zur Erscheinung gebrachten dargestellten Gegenstände mit ihrem Schimmer. Fiele dieser Schimmer fort, dann könnten — in vielen Fällen wenigstens — die in den Ansichten zur Erscheinung kommenden Gegenstände „dieselben" bleiben, aber der Gesamtcharakter des Kunstwerkes erführe dadurch eine durchgreifende Änderung, sein Wert könnte dadurch überhaupt zerstört werden. Die Wichtigkeit des Wortmaterials für die Weisen der Darstellung und der damit eng zusammenhängenden Erscheinung der Gegenstände in Mannigfaltigkeiten von aktualisierten Ansichten tritt noch besser hervor, wenn wir beachten, daß komplizierte und oft wesensmäßig bestimmte Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den emotionalen Färbungen selbst, aber auch zwischen ihnen, den Ansichten und den dargestellten Gegenständen bestehen und daß das Wortmaterial der einzelnen Sätze untereinander entsprechend gestaltet werden muß, wenn es zu einem derartigen bestimmten Zusammenhang kommen soll. 4. Die Art des Zusammenhanges zwischen den entworfenen Sachverhalten, der in dem Satzbau und in dem Typus des Satzzusammenhanges seinen Grund hat, führt zu eigenen Unterschieden in der Darstellungsweise. Interessante Beispiele findet man in dieser Hinsicht bei F r i t z S t r i c h , der sich freilich nicht ganz klar 1 Das ist besonders empfindlich, wenn die Literaturhistoriker uns belehren, was ein Dichter in einem lyrischen Gedicht eigentlich sagen wollte, und den Gehalt des Gedichtes „mit eigenen Worten" rekonstruieren. Darin liegt auch der Grund, daß literarische Kunstwerke, deren Hauptwert in der undefinierbaren emotionalen Färbung liegt, fast unübersetzbar sind.

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zum Bewußtsein bringt, worum es sich hier eigentlich handelt. Strich stellt den Satzbau Kleists demjenigen, den man bei Novalis findet, entgegen, um — wie er glaubt — einen Unterschied in der Zeit auf f a s sung der beiden genannten Dichter, die er in dieser Hinsicht Goethe gegenüberstellt, hervortreten zu lassen1. Darauf sagt er: „Die Form des Goetheschen Satzes enthebt seinen Gehalt der Zeit. Vom ruhenden Standpunkte des anschauenden Geistes aus ist alles in ihm gleichermaßen fern und vergangen, und in der Folge der Geschichte ist nur die Stetigkeit der Linie sprechend und das gleiche Maß der Entfernung. Kleist aber verläßt diesen Standpunkt und stürzt sich in die Tiefe der Zeit. Er rückt und schiebt die Dinge gleichsam so, daß sich ihre reine und stetige Folge in die Dreidimensionalität der Zeit verwandelt. Ein Augenblick der Vergangenheit wird ihm gegenwärtig und sein Standpunkt. Von diesem aus aber ist anderes noch vergangener und anderes zu gleicher Zeit und anderes künftig. Sein S a t z g e s t a l t e t d i e s e zeitlichen Dimensionen. Man mache den Versuch: Es wäre möglich, den gleichen Inhalt in einer reinen Folge zu entfalten. Aber er hätte dann für Kleist jeglichen Reiz, weil jede Bewegung, verloren. Kleist mußte sich, wie Hölderlin einmal von sich sagte, in die ,Mitte der Zeit' stellen und konnte sie nicht ausschauend und fern an sich vorüberziehen lassen. Dies ist es besonders, was man als so plastisch in seiner Sprache empfindet" (S.209). „Denn auch die Sprache des Novalis gestaltet in der Form der Zeit und der Geschichte. Nur tut sie es mehr im Geiste der Gotik als in dem des Barock. Denn ganz ohne jene Kleistsche Verschlungenheit und Tiefe geht diese Sprache in lauter kleinen und ganz einfach gebauten Sätzen fort 2 ." Es ist 1 Vgl. Fr. S t r i c h , „Deutsche Klassik und Romantik", 8.206. Auch Walzel macht darauf in dem schon zitierten Artikel'aufmerksam. 2 L.c. S.210. Zur Verdeutlichung geben wir noch die von S t r i c h gewählten Beispiele wieder: „Der Forstmeister fragte, ob er nicht glaube, daß die Person, die die Frau Marquise suche, sich finden werde? — .Unzweifelhaft!' versetzte der Graf, i n d e s s e n er mit ganzer Seele über dem Papier lag und den Sinn desselben gierig verschlang. D a r a u f , n a c h d e m er einen Augenblick, während er das Blatt zusammenlegte, an das Fenster getreten war, sagte er: , N u n ist es gut! Nun weiß ich, was ich zu tun habe !', kehrte sich s o d a n n um und fragte den Forstmeister noch, auf eine verbindliche Art, ob man ihn bald Wiedersehen werde; empfahl sich ihm und ging, völlig ausgesöhnt mit seinem Schicksal, fort." (Kleist) „Heinrich war erhitzt, und nur spät gegen Morgen schlief er ein. In wunderliche Träume flössen die Gedanken seiner Seele zusammen. Ein tiefer blauer Strom schimmerte aus der grünen Ebene herauf. Auf der glatten Fläche schwamm ein Kahn. Mathilde saß und ruderte." usw. (Novalis) Vgl. S t r i c h , I.e. II. Aufl. 1924, S.208—210. Die Unterstreichungen in dem Texte von S t r i c h stammen von mir; die in dem Texte von K l e i s t von S t r i c h selbst.

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in unserem Zusammenhange Nebensache, daß es sich hier um zwei verschiedene Weisen der Darstellung gerade der Zeit (und nach Strich eigentlich um zwei verschiedene Zeit auf fas s ungen) handelt. Auch die Ausführungen Strichs über die Zeitauffassung bei Goethe interessieren uns hier nicht. Wichtig ist für uns nur, daß Strich mit scharfem Blick gesehen hat, wie von dem Bau des Satzes selbst die Gestaltung der gegenständlichen Schicht des literarischen Werkes wesensmäßig abhängig ist. Er übersieht freilich die Sphäre der Sachverhalte und somit auch die für uns hier wichtigen Darstellungsprobleme, aber die Rolle der Sätze im Aufbau des literarischen Kunstwerkes hat er unzweifelhaft im Blick, wie dies auch seine anderen Erörterungen, auf die wir hier nicht eingehen können, deutlich beweisen. Weil er aber die Sphäre der Sachverhalte übersieht, so ist ihm auch der sehr wichtige Unterschied, der zwischen Kleist und Novalis besteht, entgangen, so interessant und treffend seine sonstigen Ausführungen sind1. Denn der Unterschied im Satzbau und in dem Zusammenhang der Sätze führt hier in erster Linie zu anders gebauten einzelnen Sachverhalten und zu einer anderen Art ihrer Zusammenhänge. Der Unterschied in der Zeitperspekt i v e — wie ich lieber sagen würde — ergibt sich erst aus diesen noch herauszustellenden Unterschieden in den Sachverhalten. Während nämlich der Kleistsche Satz einen Gesamtsachverhalt, eine ganze k o m p l i z i e r t e S i t u a t i o n entfaltet, in welcher verschiedene Teilsachverhalte in ihrer gegenseitigen Verschlungenheit und Bedingtheit in gewissem Sinne auf einmal in den Griff genommen werden und aus diesem Grunde von ihrer gegenseitigen Verwachsung zu einer Situation nichts verlieren, sehen wir bei Novalis bei jedem einzelnen Satze nur einen m ö g l i c h s t e i n f a c h e n und wie aus der ganzen Situation herausgerissenen Sachverhalt, so daß, wenn man sich auf einen einzigen Satz beschränkt, der ihm zugehörende Sachverhalt etwas für sich Abgeschlossenes, mit den anderen Sachverhalten nicht unmittelbar Verwachsenes ist. Erst die Folge von mehreren Sätzen statuiert einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Sachverhalten, und zwar einen Zusammenhang von ganz eigenem Typus. Zunächst wird ein alles umfassender Rahmen entworfen, dessen Leerstellen nacheinander und konzentrisch durch ganz einfache Sachverhalte ausgefüllt werden: „Ein tiefer blauer 1 Aue diesem Grunde stelle ich nicht die Texte von Kleist und Goethe nebeneinander (wie es Strich tut, da es ihm um den Gegensatz zwischen Klassik und Romantik geht), sondern diejenigen von Kleist und Novalis.

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Strom schimmerte aus der grünen Ebene herauf." — macht diesen Rahmen aus. In ihn wird jetzt hineingestellt ein neuer, zunächst für sich abgeschlossener und erst durch diese Hineinstellung mit dem ersten Zusammenhang gewinnender Sachverhalt: „Auf der glatten Fläche schwamm ein Kahn." Und wiederum: man weiß zunächst nicht, ob in diesem Kahn noch etwas zu sehen war — eine Leerstelle, die wiederum durch den von dem nächsten Satze entworfenen Sachverhalt ausgefüllt wird: „Mathilde saß und ruderte." Wenn dies „ruderte" nicht hinzugefügt wäre, so wüßte man auch nicht, ob Mathilde in diesem Kahn oder sonstwo saß. Dabei weiß man nicht, wie Mathilde aussah und was sie evtl. noch tat. Erst der nächste Satz ergänzt: „Sie war mit Kränzen geschmückt, sang ein einfaches Lied und sah nach ihm mit sanfter Wehmut herüber." Wenn sie nach ihm herübersah, so ist zu vermuten, daß er in einer gewissen Entfernung von ihr war. Aber darüber erfahren wir zunächst nichts. Dafür erhalten wir wiederum einen neuen, für sich ganz abgeschlossenen Sachverhalt: „Seine Brust war beklommen." usw. Wir sehen : jeder Satz entwirft einen unkomplizierten, für sich ein Ganzes bildenden Sachverhalt, nur einen einzigen Zug aus dem gesamten, sich letzten Endes konstituierenden Tatbestand, der aus diesen Zügen wie aus einzelnen Steinchen zusammengesetzt wird. Die einzelnen Sachverhalte werden sozusagen f l e c k e n a r t i g nebeneinander hingesetzt, sobald sie natürlich alle da sind. Man muß dabei zunächst von einem Sachverhalt zu einem anderen überspringen, besonders da wir zunächst visuelle, dann akustische und endlich rein psychische Sachverhalte bekommen. Aber man hat sozusagen Zeit : da die einzelnen Sätze bzw. Sachverhalte ganz einfach und übersichtlich sind, so läßt sich die ganze Situation in aller Ruhe und ohne den anstrengenden, alles auf einmal erfassenden Blick entfalten. Wie anders ist das bei dem oben angegebenen Satz von Kleist, der uns keine Zeit läßt, sondern einen Gesamtsachverhalt, der in seiner Verschlungenheit und Kompliziertheit, mit einem Ausblick nach dem schon Geschehenen und auch nach dem eben Geschehenden, in dem Zugleich- und Nacheinandersein die Einheit einer Situation bildet, sie auf einmal entfalten möchte, und der uns — wenn wir nur der uns gebotenen Anstrengung gewachsen sind — zu einer lebendigen Erschauung der ganzen Situation in ihrer schlichten Ursprünglichkeit zwingt. Kurz : Die Verschiedenheit im Bau der Sachverhalte und in der Art ihres Zusammenhanges führt eine Verschiedenheit in der Weise 217

der Darstellung der zugehörigen Gegenstände und ihrer Schicksale mit sich. Gegen diese Unterschiede bleibt natürlich auch das Dargestellte nicht unempfindlich. Und so ist es nur natürlich, wenn sich daraus die von Strich herausgearbeiteten Unterschiede in der Zeitperspektive und des weiteren auch vielleicht in der Zeitauffassung ergeben. Aber der Ursprung dieser letzten Unterschiede liegt in den verschiedenen Weisen der Darstellung durch Sachverhalte, welche ihrerseits — und dies sieht auch Strich — in den Sätzen ihren letzten Ursprung haben. — Es gibt natürlich eine sehr große Mannigfaltigkeit derartiger Unterschiede. Ihre genaue Herausstellung würde uns viele Werke in einem ganz neuen Lichte zeigen. Wir müssen uns hier mit dem Beispiel und dem bloßen Hinweis begnügen. 5. Ganz besondere, von den besprochenen unabhängige, Unterschiede in der Darstellungsweise ergeben sich im Hinblick darauf, ob und in welcher Weise das „erzählende" Subjekt vermöge der besonderen Gestaltung der Satzsinngehalte mit zu dem Werke gehört. Th. L i p p s behauptet freilich, daß bei jedem Satze, den wir lesen, das sprechende — wie er sagt — „ideelle" Ich gegeben ist. Indessen scheint mir diese Ansicht nicht ganz zutreffend1. Zwar sind wir gewöhnlich beim Lesen so eingestellt, daß wir uns die ganze Geschichte von dem Verfasser erzählen lassen, aber diese Einstellung ist in vielen Fällen durch den Sinngehalt der Sätze gar nicht gefordert und somit auch nicht angemessen. Gewöhnlich sagt nämlich der Sinngehalt der Sätze weder über den „Erzähler" noch darüber, daß die Sätze von irgend jemandem als Bestandteile einer Erzählung gesprochen werden, irgendetwas aus. Die Kundgabefunktion kann freilich durch jeden Satz ausgeübt werden, aber es ist für die „unpersönlich" geschriebenen Werke gerade charakteristisch, daß diese Funktion nicht zur Ausübung gelangt. Und wenn auch die Sätze rein intentionale Gebilde sind und als solche auf i r g e n d e i n e subjektive Operation und deren Ich zurückweisen2, so ist doch diese Tatsache nicht mit der ganz andersartigen Sachlage zu verwechseln, in welcher das sprechende oder „erzählende" Ich wirklich mitg e g e b e n ist. Mit anderen Worten: Weist der Sinngehalt der Sätze oder die Umstände, in denen sie auftreten, nicht auf den Verfasser 1 Vgl. Th. L i p p e , „Grundlegung der Ästhetik", Leipzig 1903, S.497: „Das ideelle Ich, das ich in das Dargestellte einfühle, ist mir schon durch die Natur der Sprache gegeben." 3 Wenn L i p p s in dem angeführten Satze bloß diese Tatsache im Auge hätte, so müfiten wir ihm recht geben.

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als den Erzähler hin, so ist auch das ganze Werk sozusagen außerhalb der Reichweite des Verfassers, er selbst gehört nicht als darg e s t e l l t e Person dem Werke zu. Anders ist es, wenn der Verfasser sich selbst als Erzähler in entsprechenden Sachverhalten darstellt. Dann ist uns der Erzähler (ob es der Verfasser selbst ist oder nur eine von ihm fingierte Person, spielt dabei keine wesentliche Rolle) als Erzählender mitgegeben 1 . Er selbst gehört dann zu den in dem Werke dargestellten Gegenständen, also zu der gegenständlichen Schicht des Werkes. Und im Zusammenhang damit gewinnt das ganze Werk einen neuen doppelschichten Aufbau. Die entsprechenden Sachverhalte sind da merkwürdig ineinandergeschachtelt. Wir haben einen sozusagen durch das ganze Werk von Anfang bis Ende sich hindurchziehenden Sachverhaltszusammenhang, in welchem die einzelnen Phasen des Erzählens zur Darstellung und oft auch zur Zurschaustellung gelangen, wobei es von Belang ist, daß die Erzählung gerade diesen Inhalt hat. Und durch diese Sachverhalte, die schon selbst intentional entworfen sind, werden — weil sie eben Erzählensverhalte sind — neue Sachverbalte entworfen, in welchen dasjenige zur Darstellung gelangt, was „Thema" der Erzählung ist. Dabei kann es zu weiterer Komplikation des Baues des Kunstwerkes kommen (wie es z.B. vorwiegend in den Platonischen Dialogen der Fall ist), wenn die „Erzählung" selbst zur dramatischen „Darstellung" — wie man gewöhnlich sagt — einer „Szene", einer Situation wird, in welcher verschiedene Personen auftreten und ein Gespräch führen und somit neue mehrschichtige Gebilde von sich aus entwerfen : die Rede selbst und die doppelseitige (sachverhaltsmäßige und „gegenständliche" im engeren Sinne) Schicht des Gemeinten als solchen. Von diesen Komplikationen ist in Fällen, wo in einem Werke schlichte, unpersönlich auftretende Sätze vorkommen, nichts zu finden. Zwar können auch in diesem Falle Personen zur Darstellung gelangen, die verschiedene Sätze aussprechen und somit eine neue gegenständliche Schicht von sich aus entwerfen. Aber wenn es der Fall ist, so ist der Bau des ganzen Werkes mindestens in dem Sinne einfacher, als hier jener Sachverhaltszusammenhang fehlt, der sich sozusagen das Werk entlangzieht und den Erzählenden und sein Erzählen zur Darstellung bringt2. 1

Vgl. z.B. P i a t o n e beliebte Schreibweise. Unter den modernen Schriftstellern bedient sich ihrer öfters J o s e p h Conrad, besonders in seinen Novellen. 2 Den Unterschied zwischen rein „objektiver" Darstellungsweise und derjenigen, die einen Erzähler einführt, hat man meines Wissens schon lange bemerkt.

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6. Von da aus können wir einen wichtigen Zug des Unterschiedes zwischen der „dramatischen" und der „nichtdramatischen" Form der literarischen Werke klar machen. Nehmen wir ein „Drama" vor, so ist vor allem zu beachten, daß das gelesene Drama mit dem a u f g e f ü h r t e n — mit dem „Schauspiel", wie wir später sagen werden (vgl. Kap. 12) — nicht in jeder Hinsicht zu identifizieren ist. Ohne uns hier augenblicklich mit diesem Unterschied zu beschäftigen, beschränken wir uns in den folgenden Ausführungen ausschließlich auf das geschriebene bzw. gelesene Drama und stellen dieses einem Roman oder irgendeinem lyrischen Gedicht gegenüber. Vor allem ist auffallend, daß in einem „geschriebenen" Drama zwei verschiedene Texte nebeneinander laufen : einerseits der Nebentext, d.h. die Angaben darüber, wo, in welcher Zeit usw. sich die betreffende dargestellte Geschichte abspielt, wer gerade spricht und eventuell auch, was er momentan tut usw. ; andererseits der Haupttext selbst. Der letztere besteht ausschließlich aus Sätzen, die von den dargestellten Personen „wirklich" a u s g e s p r o c h e n sind. Durch die Angabe der jeweilig sprechenden Person gewinnen die zu dem Haupttex'te gehörenden Sätze gewissermaßen ein „Anführungszeichen". Sowohl diese Sätze selbst als die Personen, die jeweils als sprechende angegeben werden, als endlich die Sachverhalte des Sprechens selbst werden dadurch zu dem durch die Elemente des Nebentextes D a r g e s t e l l t e n , sie gehören zu der „gegenständlichen Schicht" des Nebentextes. Aber die zu dieser Schicht gehörenden Sätze sind eben Sätze und entwerfen somit von sich aus eine neue gegenständliche Schicht, nämlich die der Gegenstände und der Schicksale, von denen in den ausgesprochenen Sätzen gerade die Rede ist. Es tritt hier also eine ähnliche „Einschachtelung" der intentionalen Sachverhalte auf wie diejenige, die wir schon oben besprochen haben. Dabei ist zu beachten, daß bei der Entwerfung der Sachverhalte die beiden Texte z u s a m m e n w i r k e n , insofern als die dargestellten, ausgesprochenen Sätze durch ihre Kundgabefunktion den Sachverhalt des Sprechens und auch die mannigfachen Das Neue, das ich hier zu geben meine, ist lediglich der Hinweis, daß in diesen beiden verschiedenen Fällen eine sozusagen doppelte Projektion von Sachverhalten zustande kommt. Darauf hinzuweisen war erst möglich, nachdem die Sphäre der rein intentionalen Sachverhalte von den dargestellten Gegenständen einerseits und von den Sätzen andererseits scharf abgegrenzt wurde. — Nota bene, wie ich unlängst aus einem Hefte der „Deutschen Vierteljahrssohrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte" (1959) erfuhr, soll erst W. K a y s e r den Erzähler im Roman entdeckt haben.

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Sachverhalte des psychischen Geschehens in der sprechenden Pereon, die „zum Ausdruck" gelangen, entwerfen, also den Nebentext in seiner Leistung ergänzen, andererseits aber auch insofern, als auch der Nebentext durch Angabe dessen, was die „handelnden" Personen tun, öfters die durch den Haupttext entworfenen Sachverhalte ergänzt. Zugleich ist es das Gewöhnliche, daß viele — wenn auch nicht notwendig alle — Gegenstände, die durch die dem Haupttexte zugehörigen Sachverhalte dargestellt werden, mit denjenigen, die durch den Nebentext entworfen werden, i d e n t i s c h sind. All die Vorkommnisse sind auch bei einem Roman nicht ausgeschlossen, wenn es dort auch nie zu einer so scharfen Abscheidung des Haupt- und des Nebentextes kommt wie im Falle eines „Dramas". Trotzdem besteht zwischen den beiden Typen von literarischen Werken ein unverkennbarer Unterschied. Es kann Romane geben, in welchen es kein einziges Mal zu einer Wiedergabe der Worte einer dargestellten Person kommt, es also keine „Einschachtelung" (oder mit einem anderen Bilde : keine doppelte Projektion) der Sachverhalte gibt. Eingelesenes Drama wäreaber ganz unmöglich, wenn diese doppelte Projektion fehlte. Zugleich aber — und das macht das Charakteristische der dramatischen Darstellungsweise aus — bilden die gesprochenen Sätze, welche charakteristischerweise immer in „direkter Rede" und nie in oratione obliqua angegeben werden, den H a u p t t e x t des Werkes. Darin liegt vor allem, daß diese Sätze so gestaltet werden müssen, daß sich aus ihrem Sinngehalt — wenigstens dem Prinzip nach — die ganze zur Darstellung zu bringende Geschichte ergibt. Die von ihnen entworfenen Sachverhalte bilden das Hauptmittel der Darstellung der Gegenstände und Schicksale, um die es sich in dem betreffenden Werke e i g e n t lich handelt. Mit anderen Worten: Aus den angegebenen Worten der sprechenden Personen sollten wir eigentlich alles erfahren, was für das betreffende Drama wesentlich ist. Und es ist gewissermaßen nur eine Erleichterung für den Dichter und für den Leser, wenn man sich öfters des Nebentextes bedient, um sich über einzelne Handlungen, von denen im Haupttexte vorläufig oder überhaupt nicht die Rede ist, auf kurzem Wege zu informieren. Aber diese Information könnte bei entsprechender Gestaltung des Haupttextes fast fortfallen. Nur eines darf nicht fehlen: die Angabe, daß die zum Haupttexte gehörenden Sätze eben „wirklich" gesprochene Sätze sind. Es darf mit anderen Worten von vornherein die „Einschachtelung", die doppelte Projektion der Sachverhalte nicht fehlen. In221

sofern kann der Nebentext in einem geschriebenen Drama nie ganz fortfallen. Er gehört wesentlich zu diesem Typus von literarischen Werken. Aber er bleibt immer nur Nebentext, welcher für sich allein nicht einmal ein Skelett des Werkes bilden kann. Denken wir uns den Haupttext fort, so bleibt uns ein unverständlicher Trümmerhaufen übrig. Ist aber der Nebentext neben dem Haupttexte vorhanden, so führt er nicht nur zu der „doppelten Projektion" der Sachverhalte, sondern auch dazu, daß manche Sachverhalte, die sachgemäß zu der durch die gesprochenen Sätze entworfenen „Wirklichkeit" gehören, durch ihn direkt bestimmt werden.

§ 31. Die Rolle der B e d e u t u n g s e i n h e i t e n als eines besonderen Materials im A u f b a u des l i t e r a r i s c h e n Werkes. Wir wollen uns mit diesen äußerst interessanten und unseres Wissens bisher von niemandem herausgestellten Sachlagen der verschiedenen Darstellungsweisen durch Sachverhalte nicht weiter beschäftigen. Die durchgeführten Beispielsanalysen, die unzweifelhaft in verschiedenen Richtungen ausgebaut und wesentlich ergänzt werden können, werden ausreichen, um die äußerst wichtige, für die Konstitution der anderen Schichten des literarischen Werkes entscheidende Rolle der Schicht der Sinneinheiten ins rechte Licht zu rücken. Aber darin erschöpft sich noch nicht die Rolle dieser Schicht im Aufbau des Werkes. Denn die Satzsinne und ganzen Sinnzusammenhänge bilden — wie schon oben angedeutet — im literarischen Werk eine Materialschicht für sich, die ihre eigenen, von ihrer Leistung für die Konstitution der anderen Schichten unabhängigen Eigentümlichkeiten besitzt, welche in der Polyphonie des Werkes „ihre eigene Stimme" führen und ihre Ausgestaltung beeinflussen. Freilich liegt hier die Ansicht nahe, daß die Schicht der Sinneinheiten in ihrer Leistung für die Konstituierung der anderen Schichten sozusagen vollkommen aufgeht und in dem Ganzen des Werkes als etwas für sich Nichtbemerkbares untergeht. Denn wir bedienen uns sowohl im lebendigen Sprechen als auch bei der Aufnahme eines literarischen Werkes der Satzsinngehalte zu diesem Zwecke, um unsere thematische Aufmerksamkeit dem Sachverhalte oder dem Gegenstande, auf den der Satz sich bezieht, zuzuwenden. 222

Und der Satzsinngehalt als solcher — würde man meinen — interessiert uns gewöhnlich nicht näher, wir passieren ihn sozusagen, ohne daß er uns für sich zum Bewußtsein käme. — Indessen, wenn auch diese Tatsache nicht geleugnet werden kann, so spricht sie nicht gegen unsere Auffassung. Denn erstens wenden wir uns bei der Lektüre öfters dem Satzsinngehalte zu, zweitens aber verschwindet er auch dann, wenn wir uns in erster Linie seinem intentionalen Korrelat zuwenden, nie vollkommen aus dem Felde unseres Bewußtseins, sondern tritt in ihm, wenn auch noch so peripher und unthematisch, immer auf. Und es ist für das unthematisch Auftretende überhaupt charakteristisch, daß es das thematisch Auftretende in verschiedener Hinsicht modifiziert. Endlich kommt es uns hier nicht darauf an, was jeweils von dem literarischen Werk uns bei der Lektüre zu Gesicht kommt, sondern es handelt sich um die rein ontisch zu verstehende Frage, was die Schicht der Sinneinheiten zu dem Ganzen des Werkes beiträgt. Und von diesem Standpunkt aus ist zu behaupten, daß diese Schicht zu eigenen charakteristischen Momenten des ganzen Kunstwerks führt, die in einer Polyphonie auftreten. Die Anwesenheit der Schicht der Sinneinheiten1 in dem literarischen Kunstwerk kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß dieses Werk — auch im Falle eines rein lyrischen Gedichtes — nie ein v o l l k o m m e n irrationales Gebilde sein kann, wie dies bei anderen Typen von Kunstwerken, aber besonders in der Musik, wohl möglich ist2. Auch in einem ganz auf das Stimmungshafte und Gefühlsmäßige eingestellten literarischen Kunstwerk ist das Moment der B a t io immer enthalten, auch wenn es nur undeutlich mitschwingen sollte. Bei der ästhetischen Aufnahme des Werkes gibt es ebenfalls immer eine Phase, in welcher wir sozusagen durch die Atmosphäre des Rationalen hindurchgehen, indem wir das Werk zunächst „begreifen" müssen, und zwar in dem Sinne „begreifen", in welchem nur Sinneinheiten begreifbar sind. Es macht gerade den bedeutendsten Unterschied in der Einstellung dem literarischen Kunstwerk gegenüber im Vergleich zu Einstellungen zu Kunstwerken anderer Art (Musik, Malerei usw.) aus, daß hier der Durchgang 1

Entgegen dem besondere in der geisteswissenschaftlichen Psychologie so verbreiteten Gebrauch des Ausdrucks „Sinn" in den verschiedensten, gewöhnlich unklar ineinanderlaufenden Bedeutungen, verwende ich diesen Ausdruck nur in der Anwendung auf Bedeutungen, Sätze und Satzzusammenhänge. 2 Es gibt, natürlich in einem übertragenen Sinne, auch eine „rationale" Musik.

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durch die Sphäre des Rationalen ganz unentbehrlich ist, um überhaupt zu den anderen Schichten des Werkes zu gelangen und sich gegebenenfalls in die irrationale Atmosphäre zu versenken. Natürlich kann der Grad des rationalen Beitrages und der Typus der Rationalität in verschiedenen Werken sehr verschieden sein. Es gibt Werke und ganze Stilarten, wo dieser Beitrag so groß ist, daß er nicht nur für sich selbst in dem Ganzen des Werkes deutlich hervortritt, sondern daß auch die übrigen Schichten, und insbesondere die gegenständliche Schicht, sub specie dieser Rationalität stehen. Dieses „sub-specie-der-Rationalität-Stehen" ist in jedem literarischen Werk bis zu einem gewissen Grade vorhanden, was schon aus unseren Erörterungen über den Aufbau der rein intentionalen Satzkorrelate und über ihre Verschiedenheiten zu originär erfaßten Sachverhalten hervorgeht. Aber es kann verschiedene Grade der Ausgeprägtheit haben. Lehrreich in dieser Hinsicht ist der Vergleich rein impressionistischer (aber auch der romantischen) Werke mit den „klassischen". Auch die Kontrastierung eines rein lyrischen Gedichtes (etwaVerlaines) mit einer „objektiv" gehaltenen Erzählung eines „naturalistischen" Romans kann uns davon überzeugen. Andererseits gibt es natürlich auch Typen von Lesern, die diesen Beitrag des Rationalen gewissermaßen aus dem Ganzen des Werkes vor allem hervorholen und in ihm besondere Werte des Kunstwerks entdecken1. Andere Lesertypen sind dagegen für diese Seite des literarischen Kunstwerkes bis zu einem gewissen Grade blind, und wenn sie sie auch miterfassen, so schieben sie das Rationale als etwas Störendes, Wertloses oder sogar Negativwertiges beiseite. Aber dies zeigt nur, daß nicht eine jede Lektüre dem Werke gerecht wird. Das Mitsprechen der Sinnschicht in der Polyphonie des literarischen Kunstwerkes zeigt auch die Tatsache, daß in dieser Schicht eigene ästhetische Werte ihre Ursprungsstätte haben. Es gibt auch eine Schönheit eines reinen Sinngehaltes, und zwar einen besonderen Typus von Schönheit bzw. Unschönheit. Bevor wir aber darauf eingehen, möchten wir noch auf einige Eigenschaften der Satzsinngehalte hinweisen, die bei der Betrachtung des literarischen Werkes von besonderer Wichtigkeit sind. 1. Da springt uns vor allem der Unterschied der „Klarheit" 1 Es scheint mir, daß dies besonders auf Werke der französischen klassischen Literatur und auf die Einstellung des französischen Lesers paßt.

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und „Unklarheit" ins Auge. Sowohl der Satzbau selbst als auch der Typus des Zusammenhanges zwischen den Sätzen und die Anordnung ihrer Abfolge bringt es mit sich, daß das eine Mal das Ganze „klar", das andere Mal „unklar" ist. Es ist natürlich sehr schwierig, das Phänomen der rationalen Klarheit zu beschreiben, da wir hier auf etwas Ursprüngliches stoßen. Aber wir kennen alle den Unterschied zwischen klaren und unklaren Texten und spüren ihn bei der Lektüre oft auf eine sehr empfindliche Weise. Es handelt sich nur darum, dieses Phänomen der Klarheit (bzw. Unklarheit) von anderen Phänomenen abzugrenzen und ihm dadurch eine größere Anschaulichkeit zu verleihen. Vor allem ist zu betonen, daß „Klarheit" (bzw. Unklarheit) ein Charakter der Sätze selbst ist und zugleich in ihrer Struktur ihre ontische Fundierung hat. Sie ist also nicht etwas, was erst durch den Leser in das Werk eingeführt wäre. Natürlich hängt die Beurteilung, ob ein Werk klar oder unklar ist, öfters von den subjektiven Fähigkeiten und von der Einstellung des Lesers ab. Aber der Bau der Sätze, der Typus des Bedeutungsmaterials, der in ihnen auftritt, wie endlich die Art des Satzzusammenhanges bewirken es selbst, daß auch der bestbefähigte Leser doch das Ganze z.B. „unklar" findet und es mit Recht tut, weil das betreffende Werk eben unklar ist. Die subjektiven Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit ein Werk mit Recht auf den Grad seiner Klarheit beurteilt werden könnte, können wir also hier beiseite lassen. Ferner ist zu beachten, daß es sich im Falle der Klarheit eines Satzes nicht um die, manche Sätze auszeichnende, Eigentümlichkeit handelt, vermöge welcher der Leser sofort und mühelos auf das im Satze Vermeinte gerichtet wird und es anschaulich lebhaft vorzustellen vermag. Vielmehr handelt es sich um etwas, was vor allem durch strukturelle Eigentümlichkeiten des Satzsinngehaltes und des Satzzusammenhanges hervorgerufen wird. Und zwar meinen wir unter „strukturellen Eigentümlichkeiten" diejenigen, welche bestehen: 1. in der scharfen Absonderung der einzelnen Bestandteile oder besser Glieder der Sinneinheit (in der Präzision ihrer Umrisse, wenn man uns diesen Ausdruck hier erlaubt), 2. in einer solchen besonderen Anordnung dieser Glieder zu einem Ganzen, daß sie in ihm von ihrer Gliederhaftigkeit nichts verlieren und doch das Ganze in seinem Gefüge auf einmal zu durchblicken und in seiner eigenen Struktur zu erfassen gestatten. 15 Iiigarden, Das literarische Kunstwerk

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Es ist nur ein anderes Wort, wenn wir statt „klar" „durchsichtig" sagen. Aber gerade diese „ D u r c h s i c h t i g k e i t " ist es, die uns das Phänomen der „Klarheit" am besten zu enthüllen erlaubt. Ist ein Werk „klar", so ist es wie ein Kristall, in dessen Aufbau wir uns ohne weiteres orientieren können. Diese Tatsache, daß wir uns da in dem Ganzen durch und durch orientieren können, daß wir überall „Durchblicke" erlangen können, daß uns nichts stört, diese Durchblicke zu gewinnen, daß das Eine das Andere nicht verdeckt und uns nicht unmöglich macht, mit einem Blick eine „Übersicht" über das Ganze in allen seinen Teilen, Strukturen und Momenten zu gewinnen, dies scheint uns das eigentümliche Phänomen der Klarheit mit sich zu führen. Es gründet, wie schon gesagt, in den strukturellen Eigentümlichkeiten der Sätze und Satzzusammenhänge. Aber natürlich müssen diese Eigentümlichkeiten noch dadurch unterstützt werden, daß die einzelnen in den Sätzen auftretenden Worte e i n d e u t i g sind. Die Eindeutigkeit sogar aller in einem Satze oder Satzzusammenhange auftretenden Worte allein vermag aber nicht die Klarheit des betreffenden Textes hervorzubringen. Den Gegensatz zu einem „klaren" Texte bildet der Fall, wo entweder die Anordnung der Teile oder überhaupt der Bau des ganzen „Gedankens" ein solcher ist, daß in ihm keine unterschiedenen Teile vorhanden sind, wo alles verschwommen ist, wo man das Gewicht des einzelnen Bestandteils für den Aufbau des Ganzen nicht bemessen kann, wo also der Satz bzw. der Satzzusammenhang „unübersichtlich" ist. Da haben wir das rational Unklare vor uns. Es braucht aber nicht immer an der Verschwommenheit der einzelnen Glieder des Ganzen zu liegen, wenn rationale Unklarheit vorhegt. Schon z.B. die — wie wir oft sagen — „undurchsichtige" Anordnung der einzelnen Sätze, die in sich ganz klar sind und sich voneinander präzis abheben, kann die Unklarheit des Ganzen mit sich führen. Endlich führt die Mehrdeutigkeit und besonders die nicht scharf umrissene Mehrdeutigkeit der einzelnen Worte die Unklarheit mit sich. Je nachdem, welche Faktoren das Phänomen der Klarheit bzw. Unklarheit hervorbringen, gibt es verschiedene Typen und Abstufungen der Klarheit (bzw. Unklarheit). 2. Neben den eben besprochenen weisen die Sinneinheiten noch viele andere Unterschiede auf, die wir hier nicht ausführlicher besprechen können, da es sich jetzt lediglich darum handelt, zu zeigen, daß die Schicht der Sinneinheiten überhaupt eigene Besonderheiten hat, welche ihr nicht erlauben, im Ganzen des literarischen 226

Werkes unterzugehen. So haben wir da Unterschiede der Ein- und Vieldeutigkeit, der Einfachheit und Schlichtheit oder Kompliziertheit und Yerschlungenheit des Satzbaues und Satzzusammenhanges, dann aber die Unterschiede der „Leichtigkeit" und „Schwere" sowohl der einzelnen Sätze als auch des ganzen Textes u.dgl. mehr. Oft hängen diese verschiedenen Eigenschaften des Textes eng zusammen. So geht ζ. B. gewöhnlich Unklarheit und Kompliziertheit des Textes zusammen. Die Vieldeutigkeit zieht — wie schon bemerkt — die Unklarheit nach sich. Verschiedene Kombinationen dieser Eigenschaften führen auch dazu, daß die Schicht der Sinneinheiten als Ganzes einen Gesamtcharakter bekommt, der für sich selbst oft nur zu erschauen, aber nicht begrifflich zu bestimmen ist. Er läßt sich auch in vielen Fällen nicht auf die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Eigenschaften und Momente reduzieren, in denen er gründet, sondern ist ihnen gegenüber etwas völlig Neues. Er ist eben dasjenige, was den Stil des Textes eines literarischen Kunstwerkes oder auch den Stil eines Dichters ausmacht. Wohl ist es möglich, durch Analyse des Satzbaues, der Anordnung der Sätze, des Bedeutungsmaterials, dessen sich der betreffende Dichter bedient, die einzelnen Eigenschaften der Schicht der Sinneinheiten herauszustellen, in welchen der Stil des Werkes gründet, aber das Eigenartige, Nichtnachzumachende, das, was den besonderen „Reiz" der Schreibweise ausmacht, läßt sich nur im unmittelbaren Kontakt mit dem Werke selbst erschauen. Und dieser Stil ist es eben, der einen besonderen Wert in die Polyphonie des ganzen Werkes mit sich hineinbringt. Es kann natürlich eine fast unübersehbare Mannigfaltigkeit von „Schönheiten" und auch von „Häßlichkeiten" des Stils geben. Aber all diese Typen der Schönheit bzw. Häßlichkeit, die hier in Frage kommen, bleiben innerhalb eines festen Rahmens, der durch den allgemeinen Schönheitstypus eines rationalen Sinngebildes umgrenzt ist. Dieser Schönheitstypus zeichnet sich vor allem durch eine besondere Kühle und Leichtigkeit aus. Damit hängt es zusammen, daß wir im ästhetischen Genüsse der Schönheit dieses Typus nicht tief erregt werden können. Wir erleben nur eine Freude an ihr, eine Freude aber, die uns nicht hinreißt. Wir bleiben in unserem seelischen Grunde vollkommen ruhig, indem wir uns in einer etwas spielerisch-heiteren Einstellung an dieser Schönheit freuen. Diese eigentümliche Kühle der Schönheit, die wir nur in der Satzschicht des literarischen Kunstwerkes finden können, ist aber bei Häßlichkeit bzw. Unschönheit derselben Schicht schon nicht 15·

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mehr in demselben Maße vorhanden. In der Häßlichkeit sowohl der einzelnen Sätze wie auch eines ganzen Satzzusammenhanges ist immer ein erregendes Moment enthalten, das manchmal so stark wirken kann, daß das betreffende Werk in uns einen emotional scharf ausgeprägten Widerwillen gegen das Werk hervorruft1. Gerade diese heitere, kühle, freudige Ruhe, diese Befriedigung, die wir beim Genießen der Schönheit eines schön gebauten Satzes empfinden können, diese Begeisterung, welche die klassischen Philologen so oft an den Tag legen, geht bei der Lektüre eines in dieser Hinsicht negativwertigen Werkes verloren. Wenn aber auch in diesem Falle die Wertqualitäten des Textes nicht so eigentümlich sind wie in dem entgegengesetzten positiven Falle, so ist es unzweifelhaft, daß auch sie in den Eigenschaften der Schicht der Sinneinheiten selbst gründen und auch als etwas vorgefunden werden, was hier seine Stätte hat. So zeigt es sich, daß in allen Fällen die Schicht der Sinneinheiten eine „eigene Stimme" in der Polyphonie des literarischen Kunstwerkes führt und an ihrer Ausbildung einen bedeutenden Anteil hat. Dies zeigt sich am fühlbarsten vielleicht gerade an den Fällen, wo die Schicht der Sinneinheiten so „charakterlos", so „durchschnittlich", so „ohne Gesicht" ist, daß ihr positiver Beitrag an besonderen Wertqualitäten fühlbar fehlt. Es stellt sich dann ein gewisses Manko, ein Fehlen von etwas ein, was sozusagen der Natur der Sache nach „eigentlich" zu dem Werke gehören sollte. Das besondere Mitsprechen der für diese Schicht charakteristischen Wertqualitäten wird endlich auch da deutlich spürbar, wo die Eigentümlichkeiten des Stils gar nicht zu den dargestellten Gegenständen und ihren Schicksalen passen und zu unangenehmen — wenn auch manchmal beabsichtigten — Disharmonien führen. Diese Disharmonie kann so weit gehen, daß sie die durch den Sinngehalt der Sätze sozusagen vorbereitete Zurschaustellung der Gegenstände verhindert, sich zu entfalten, und daß sie das Lebendigwerden der den dargestellten Gegenständlichkeiten zugehörigen Ansichten hemmt oder ganz unmöglich macht. Dies alles im einzelnen zu studieren, die besonderen Wertqualitäten herauszustellen und mit anderen zu kontrastieren usw., 1

Es ist übrigens zu betonen, daß die Häßlichkeit einzelner Partien der Satzachicht nicht notwendig etwas Negativwertiges in dem Ganzen eines Werkes sein muß. Sie kann oft als beabsichtigte Dissonanz ihre letzten Endes poaitivwertige Bolle im Ganzen des Werkes spielen. Auch als ein besonderes Mittel der Charakterisierung bestimmter im Werke dargestellter Personen und Situationen kann sie manchmal unersetzbar sein. 228

könnte natürlich nur eine spezielle Untersuchung, welche der positiven Literaturwissenschaft überwiesen werden muß. Aber sie muß die theoretischen Grundlagen aus dem Studium des Wesens des literarischen Werkes gewinnen, dessen Grundriß wir hier zu geben suchen und das ihr erst die richtig gezogenen Richtlinien geben kann.

7. Kapitel. Die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten. § 32. R e k a p i t u l a t i o n u n d E i n l e i t u n g . Wir gehen jetzt zur Analyse der im literarischen Werke dargestellten Gegenständlichkeiten über. Sie scheinen am bekanntesten von allen Schichten zu sein und werden auch tatsächlich gewöhnlich als das Einzige aus dem literarischen Kunstwerk thematisch erfaßt. Beim schlichten Lesen des Werkes sind sie jedenfalls das Erste, was dem Leser ins Auge fällt, wenn er den Bedeutungsintentionen des Textes folgt. Er bleibt gewöhnlich bei ihnen und ihren Schicksalen stehen1. Auch die überwiegende Mehrzahl der literarischen Studien richtet ihr Augenmerk vor allem auf diese Schicht des Werkes. Trotzdem ist die w i s s e n s c h a f t l i c h e Erfassung auch dieser Schicht des literarischen Werkes, was das Wesen ihrer Elemente, ihre strukturellen Eigentümlichkeiten sowie ihre Rolle im Ganzen des Werkes betrifft, im allgemeinen nicht befriedigend. Dies hat einerseits in der psychologisierenden Auffassung literarischer Werke, andererseits aber darin seinen Grund, daß der gewöhnliche Leser vermöge der natürlichen Funktionen der von ihm im Lesen verstandenen und nachvollzogenen Bedeutungsintentionen nur für die materiale Ausstattung der G e h a l t e der da in Betracht kommenden Gegenständlichkeiten ein Interesse hat. Infolgedessen werden die Strukturen und Eigentümlichkeiten der realen Gegenstände mit einer natürlichen Selbstverständlichkeit auf die dargestellten Gegenständlichkeiten ohne weiteres übertragen, so daß die Besonderheiten der letzteren übersehen werden. Um diese ins volle Licht zu bringen, bedarf es einer geänderten, untersuchenden und nicht 1

Vgl. dazu die Bemerkungen W.Conrads über die „InteresseVerteilung" (1. c.). 229

ästhetisch aufnehmenden Einstellung, die aber nichts anderes zur Folge hat als die Hervorholung und Aufklärung dessen, was auch bei dem gewöhnlichen Verkehr mit literarischen Werken unthematisch schon da ist und deren ästhetische Erfassung beeinflußt. Die im literarischen Werk dargestellten Gegenständlichkeiten sind abgeleitet rein intentionale, durch Bedeutungseinheiten entworfene Gegenständlichkeiten. Somit gilt von ihnen alles, was wir bisher über derartige Gegenständlichkeiten — insbesondere in den §§ 20, 21 und 24 — behauptet haben. Einiges daVon müssen wir aber hier rekapitulieren, um daran unsere weiteren Ausführungen anzuknüpfen. In jedem dargestellten Gegenstande ist demnach sein Gehalt von seiner rein intentionalen Gegenstandsstruktur zu unterscheiden. Bei der ästhetisch aufnehmenden Lektüre des Werkes sind wir seinem Gehalt zugewendet und gewöhnlich auf den im Gebalt auftretenden Träger primär gerichtet. Diesen Gehalt wollen wir deshalb etwas näher betrachten. Wie schon gezeigt, können die rein intentionalen Korrelate der zusammenhängenden Sätze in mannigfache Beziehungen und Zusammenhänge untereinander treten. Und da es unter den Satzkorrelaten sowohl Sachverhalte gibt, die sich in dem Seinsbereich eines und desselben Gegenstandes abspielen, wie auch Verhalte, in denen Geschehnisse und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Gegenständen dargestellt werden, so liegen auch die dargestellten Gegenstände nicht isoliert und fremd nebeneinander, sondern schließen sich vermöge der mannigfachen Seinszusammenhänge zu einer einheitlichen Seinssphäre zusammen. Sie bilden dabei — merkwürdig genug — immer einen A u s s c h n i t t aus einer nicht näher bestimmten, aber ihrem Seins- und Soseinstypus nach festgelegten W e l t , und zwar einen Ausschnitt, dessen Grenzen nie scharf gezeichnet sind. Es ist immer nur so, als ob ein Lichtkegel uns einen Teil einer Gegend beleuchte, deren Rest im unbestimmten Nebel verschwindet, aber in seiner Unbestimmtheit doch da ist. Gelangt z.B. in einem kleinen Gedicht nur ein einziger Gegenstand in einem einzigen Zustand oder in einer Situation zur Darstellung, so wird er doch immer als etwas in einem umfassenderen gegenständlichen Ganzen Seiendes dargestellt: ein mehr oder weniger bestimmter Hintergrund, der mit dem dargestellten Gegenstande eine Seinssphäre bildet, ist immer vorhanden. Dies wird natürlich durch entsprechende Sinngehaltsmomente und in der Folge durch entspre230

chende Momente der Sachverhalte bewirkt. Als Beispiel kann uns die Situation in der ersten Szene des I. Aktes aus Lessings Emilia Galotti dienen. Wir lernen da einen Prinzen in seinem Arbeitszimmer bei der Erledigung verschiedener Bittschriften kennen. Schon diese Bittschriften weisen uns auf Gegenständlichkeiten, die sich außerhalb des gesehenen Zimmers befinden. Aber auch dieses Zimmer selbst wird im vorhinein als ein Teil des fürstlichen Palastes erfaßt. Das Dargestellte hört nicht an den Wänden des Arbeitszimmers auf, sondern erstreckt sich weiter auf die übrigen Räume des Palastes, die Stadt usw., obwohl dies alles uns direkt nicht gegeben ist. Es ist eben ein Hintergrund. Dieser Hintergrund braucht dabei nicht durch den aktuellen Bestand der Wortbedeutungen explizite entworfen zu werden. Im Gegenteil. Gewöhnlich ist vielmehr, daß es dazu durch den potentiellen Bestand der in den Sätzen auftretenden Wortbedeutungen kommt1. Die zur Darstellung gelangende gegenständliche Sphäre ist gewöhnlich einheitlich. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß sich innerhalb ihrer Grenzen auch Gegenstände von grundsätzlich verschiedenem Seinstypus befinden. So ist es z.B., wenn in einem Roman ein Mathematiker dargestellt wird, der sich mit bestimmten mathematischen Gegenständlichkeiten beschäftigt, die auch explizite zur Darstellung gelangen. Dann ist natürlich die Welt, in welcher der Mathematiker lebt und verschiedene Handlungen ausführt, eine reale (genauer: eine quasi-reale), dagegen die der mathematischen Gegenständlichkeiten eine ideale. Trotzdem bilden beide Sphären als Korrelate eines literarischen Textes eine Gesamtsphäre, die zwar in zwei verschiedene Seinsgebiete zerfällt, zwischen welchen jedoch eine Beziehung dadurch statuiert wird, daß die mathematischen Gegenständlichkeiten das Thema der Betrachtung des dargestellten Mathematikers bilden. Die Heterogenität der dargestellten Gegenstände kann — wie wir später sehen werden — noch viel weiter gehen. Hier handelt es sich nur darum, festzustellen, daß dem einheitlichen literarischen Text eine einheitliche gegenständliche Sphäre entspricht, die in gewissem Sinne sogar über das durch die Sachverhalte explizite Dargestellte hinausgeht. Um mögliche Mißverständnisse zu beseitigen, möchte ich besonders hervorheben, daß der von mir verwendete Ausdruck „der 1 Vgl. die eich hier aufdrängende Lehre Husserls von den „Horizonten" der wahrnehmungsmäßig gegebenen Gegenstände („Ideen" S.49ff.). Mit einem Analogon zu diesen Horizonten haben wir es hier zu tun.

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dargestellte Gegenstand" (bzw. die Gegenständlichkeit) in dem sehr weiten Sinne zu verstehen ist, in welchem er zunächst jedes nominal entworfene Etwas, welcher gegenständlichen Kategorie und welchen materialen Wesens auch immer, bezeichnet. Er bezieht sich also sowohl auf Dinge als auf Personen, aber auch auf alle möglichen Geschehnisse, Zustände, personalen Akte usw. Zugleich kann aber die Schicht des Dargestellten auch verschiedenes nicht-nominal Entworfene, wie insbesondere das rein verbal Intendierte, enthalten. Zwecks Vereinfachung der Terminologie umspannen wir mit dem Ausdruck „dargestellte Gegenständlichkeit" — falls keine ausdrückliche Einschränkung hinzugefügt wird — alles Dargestellte als solches. Dabei ist noch zu beachten, daß sich in der Schicht der „dargestellten Gegenständlichkeiten" nicht notwendig „objektivierte" Gegenständlichkeiten befinden müssen. Und dies in verschiedenem Sinne : Es handelt sich da erstens nicht notwendig um die besondere Form der g e g e n s t ä n d l i c h e n Gegebenheit, in welcher der Gegenstand in einer ausgeprägten „Distanzstellung" zu dem Betrachter steht (was aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gerade statthat1). Zweitens braucht das Dargestellte nicht notwendig „objektive" Eigenschaften zu besitzen, d.h. solche, die als von jeder Daseinsrelativität frei vermeint sind. Vielmehr können die Gegenständlichkeiten im literarischen Werk so dargestellt werden, daß sie zum Leser in ausgesprochene „Nahestellung" rücken2; andererseits können sie mit verschiedenen daseinsrelativen, nur „subjektiven" Momenten, emotionalen Charakteren, emotionalen Beleuchtungen usw. behaftet werden und in ihnen auftreten3. Alle möglichen Gegebenheitsweisen, die in der originären Erfahrung verschiedener Art auftreten, können auch hier wiederkehren, nur daß sie alle denjenigen Modifikationen unterliegen, die erstens durch die Darstellung durch Sachverhalte, zweitens aber durch die

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Über die „gegenständliche" Gegebenheitsweise (im engeren Sinne) und die für sie charakteristische „Distanzstellung" vgl. H. Conrad-Martius, „Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt'.', Jahrbuch f. Philosophie, Bd. III, S.470. 2 Diese Darstellungsweise in der „Nahestellung" ist für die reine Lyrik charakteristisch. — Diese Unterschiede hat nach dem zweiten Weltkriege Emil Staiger zur Gegenüberstellung der Epik und Lyrik verwendet. Vgl. „Grundbegriffe der Poetik" (1946). 3 Natürlich bezieht sich diese Rede immer nur auf den Gehalt der intentionalen Bedeutungekorrelate und unter dem Vorbehalt, daß man die reine Intentionalit&t der dargestellten Welt außer acht läßt.

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phantasiemäßige Erscheinungsweise hervorgebracht werden. Die Darstellung durch Sachverhalte ist nicht bei allen Gegenständen notwendig, insbesondere bei denjenigen nicht, die mit Namen und nominellen Wendungen direkt entworfen werden.

§ 33. D e r R e a l i t ä t s h a b i t u s d e r d a r g e s t e l l t e n Gegenstände. Mit dem quasi-urteiismäßigen Charakter der Behauptungssätze und auch mit der früher besprochenen Modifikation aller sonstigen Sätze im literarischen Werk hängt es zusammen, daß der im Gehalte der dargestellten Gegenstände vorfindbare Seinscharakter einer korrelativen Modifikation unterliegt. Handelt es sich z.B. in einem Roman um Menschen, Tiere, Länder, Häuser usw. — also lauter Gegenständlichkeiten, die dem Typus des r e a l e n Seins angehören —, so treten sie im literarischen Werke in einem Realitätscharakter auf, wenn er auch dem Leser gewöhnlich nicht explizite zum Bewußtsein kommt. Dieser Realitätscharakter ist aber mit dem Seinscharakter der w i r k l i c h existierenden realen Gegenstände nicht vollkommen zu identifizieren. Es liegt im Falle der dargestellten Gegenständlichkeiten nur ein ä u ß e r e r H a b i t u s der Realität vor, der sozusagen nicht ganz ernst genommen werden will, obwohl es bei der Lektüre oft dazu kommen kann, daß der Leser die quasiurteilsmäßigen Sätze wie echte Urteile liest und somit die das Reale nur vortäuschenden intentionalen Gegenständlichkeiten für Realitäten hält. Aber die damit zusammenhängende Verwandlung gehört nicht zu dem Werke selbst, sondern zu einer seiner möglichen Konkretisationen 1 . Wenn die dargestellten Gegenständlichkeiten ihrem eigentümlichen Wesen gemäß erfaßt werden, so gehören sie — ihrem Gehalte nach — wohl zu dem Typus der realen Gegenständlichkeiten, aber trotzdem stehen sie von vornherein nicht als solche da, die in der realen Welt „verwurzelt" 2 sind und sich in dem realen Raum und in der realen Zeit v o n s e l b s t befinden, d.h. ganz unabhängig davon, ob ein Bewußtseinssubjekt gerade einen auf sie gerichteten Akt vollzieht. Eine eigentümliche Modifikation des Realitätscharakters tritt hier auf, die ihn nicht beseitigt und doch fast zu einem bloßen Anspruch auf Realität reduziert. Denn es 1 2

Vgl. unten Kap. 13. Vgl. H. Conrad-Martius, I.e. passim.

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wäre natürlich falsch zu behaupten, daß die dargestellten Gegenstände überhaupt keinen Realitätscharakter besäßen oder etwa den Charakter eines anderen Seinsmodus (z.B. den des i d e a l e n Seins) annähmen. Andererseits läßt sich die hier vorliegende Modifikation des Seinscharakters nicht einfach mit der „Neutralitätsmodifikation" im Sinne E. Husserls1 identifizieren2. Sie ist vielmehr etwas so Eigentümliches, daß sie sich kaum adaequat beschreiben läßt 3 . Das Merkwürdige ist dabei, daß ihr nicht bloß der Realitätscharakter, sondern gegebenenfalls auch die Charaktere sämtlicher anderer Seinsmodi unterliegen können. Dies zeigt sich z.B. ganz deutlich dann, wenn es innerhalb der dargestellten Welt zu einer Kontrastierung der „realen" Gegenständlichkeiten mit den von einer dargestellten Person nur „geträumten" Gegenständen kommt. An diesem Falle sehen wir nicht nur, daß die Seinscharaktere in der dargestellten Welt spürbar vorhanden sind, sondern auch, daß die hier „geträumte" Welt nicht eine im echten Sinne geträumte, sondern nur eine quasi-geträumte ist. Damit unterliegt auch das, was hier, geträumt wird, was der quasi-realen Welt als „Traum" gegenübergestellt wird, der eigentümlichen Modifikation des „Quasi", die ihren Ursprung in der von uns früher beschriebenen Modifikation der Sätze besitzt4. Vgl. E. Husserl, „Ideen", §§ 109—111. Unter Husserls Einfluß habe ich es selbst in meinen „Essentialen Fragen" getan. Ich sehe mich jetzt genötigt, meinen dort eingenommenen Standpunkt betreffs der „fiktiven" Gegenständlichkeiten fallenzulassen. Es fehlten mir damals noch die Begriffe der verschiedenen Seinscharaktere, ohne welche man den hier vorliegenden existentialen Sachlagen nicht gerecht werden kann. Andererseits bin ich in den „Essentialen Fragen" allzu einseitig rein ontologisch vorgegangen, ohne die verschiedenen Daseinsrelativitäten auf Bewußtseinsoperationen genügend zu würdigen. 3 Max Scheler sucht dies so zu beschreiben: „So sind alle ästhetischen Werte wesensgesetzlich Werte: 1. von Gegenständen, 2. Werte von Gegenständen, deren Realitätssetzung (in irgendeiner Form) aufgehoben ist, die also als „Schein" da sind, sei es auch, daß, wie z.B. im historischen Drama, das Realitätsphänomen Teilinhalt des bildhaft gegebenen Scheingegenstandes ist. . . " (vgl. „Formalismus in der Ethik . . . " , Jahrb. I. S.487). Ich glaube, daß die Frage nach dem Seinsoharakter des Dargestellten im Kunstwerk nicht bloß bei den äethetischen Werten auftaucht, sondern sich auf alles Dargestellte bezieht. Mit den Begriffen des „Scheine" und des „bildhaft Gegebenen" ist da nicht auszukommen. Die Sachlage ist da viel komplizierter. 1 Es ist natürlich, daß den verschiedenen Typen der Modifikation der Behauptungssätze, die wir früher (vgl. § 25) besprochen haben, noch verschiedene Abwandlungen der eben angedeuteten Modifikation des Seinecharakters der dargestellten Gegenstände entsprechen. Dies ausführlich zu zeigen, würde uns hier aber zu weit führen. 1

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§ 34. Der d a r g e s t e l l t e Raum und der „Vorstellungsrau m ". Handelt es sich in einem literarischen Werke um dargestellte Gegenstände, die ihrem Gehalte nach „real" sind, und soll ihr Realitätstypus bewahrt werden, so müssen sie als zeitliche und als sich im Räume befindende, evtl. auch als selbst räumliche, dargestellt werden. Der Raum aber, der hierbei in Frage kommt, ist nicht der reale, einzige Weltraum und auch nicht der „Orientierungsraum", welcher zu der wahrnehmungsmäßigen originären Gegebenheit von Dingen notwendig gehört, eine konstitutive Unterstufe der Erscheinung des einzigen realen Raumes bildet und als solcher in sich selbst eine Daseinsrelativität auf das wahrnehmende Subjekt aufweist1. Andererseits ist es auch nicht der ideale homogene, geometrische Raum, die reine drei-dimensionale Punktmannigfaltigkeit. Endlich ist es auch nicht der „Vorstellungsraum", der wesensmäßig zu jedem anschaulichen V o r s t e l l e n von ausgedehnten Gegenständen gehört und mit dem realen Raum nie zur Deckung und zur Einheit gebracht werden kann. Sondern es ist ein — wenn man so sagen darf — eigener Raum, der zu der dargestellten „realen" Welt wesensmäßig gehört. In gewissem Sinne ist er allen diesen Räumen verwandt, insofern, als er eine Struktur aufweist, die erlaubt, ihn noch „Raum" zu nennen, wenn auch das Haben dieser Struktur nur ein scheinhaftes, vorgetäuschtes Haben ist. Seiner S t r u k t u r nach steht er dem objektiven realen Raum (bzw. dem wahrnehmungsmäßigen Orientierungsraume) verhältnismäßig am nächsten. Aber auch in dieser Hinsicht ist er ihm nicht ohne weiteres gleichzustellen, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag, wenn man bloß daran denkt, daß die in ihm seienden dargestellten Gegenstände als real vermeint sind. Er unterscheidet sich nämlich von dem realen Räume durch die besondere Eigentümlichkeit, daß er zwar nicht positiv begrenzt und endlich, aber andererseits auch nicht in dem Sinne unbegrenzt ist wie der reale Raum. Nehmen wir z.B. an, daß in einem Roman eine Situation zur Darstellung gelangt, die sich in einem bestimmten Zimmer abspielt, und daß mit keinem 1 Über den Begriff des „Orientierungsraumes" — der eigentlich ein Husserlscher Begriff ist — und über die damit zusammenhängenden Einzelheiten, auf die wir hier nicht näher eingehen können, vgl. 0. Becker, „Zur phänomenologischen Begründung der Geometrie", Jahrbuch f. Philosophie u. phänom. Forschung, Bd. VI.

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Worte angedeutet ist, ob es außerhalb dieses Zimmers noch irgendetwas gibt. Dann kann man freilich nicht sagen, daß es außer dem Raumausschnitt, der durch die Wände dieses Zimmers begrenzt ist, absolut k e i n e n Raum und somit nur ein völliges Nichts gebe. Aber andererseits wäre es auch falsch zu sagen, daß es einen dieses Zimmer umgebenden Raum gebe, der durch entsprechende Bedeutungseinheiten b e s t i m m t bzw. durch entsprechende Sachverhalte positiv d a r g e s t e l l t wäre. Wenn der wirklich dargestellte Raum (innerhalb des Zimmers) nicht dort endet, wo die Wände des Zimmers stehen, so ist es nur deswegen, weil es zum W e s e n des R a u mes ü b e r h a u p t gehört, k e i n e n A b b r u c h zu h a b e n . Nur durch diese Unmöglichkeit des Raumabbruchs wird der Raum außerhalb des Zimmers m i t dargestellt; der Raum innerhalb des Zimmers dagegen wird dadurch zu einem Raumaus s c h n i t t . Ebenso : Wenn uns der Verfasser eines Romans von einer Gegend A in eine andere Gegend Β „versetzt", ohne uns den ganzen Weg von A nach Β zu zeigen, so ist der Zwischenraum zwischen A und Β nicht positiv bestimmt und dargestellt, sondern wiederum nur vermöge der Unmöglichkeit des Raumabbruchs mitdargestellt. Die explizite, wirklich dargestellten Räume sind dann wie durch Lücken getrennt, sie weisen sozusagen Unbestimmtheitsstellen auf. Alles Sachlagen, die in einem realen Räume durchaus unmöglich sind. Wir stoßen da auf eine Eigentümlichkeit der dargestellten Gegenständlichkeiten überhaupt, die wir im § 39 genauer besprechen werden. Der dargestellte Raum läßt sich auch weder in den realen Raum noch in die verschiedenen wahrnehmungsmäßigen Orientierungsräume als ein Stück von ihnen einordnen, und dies auch dann nicht, wenn die dargestellten Gegenstände ausdrücklich als solche dargestellt werden, die sich in einer bestimmten Gegend des realen Raumes (z.B. „in München") „befinden". Dieses d a r g e s t e l l t e München und insbesondere der Raum, in welchem diese Stadt als d a r g e s t e l l t e „liegt", läßt sich mit dem betreffenden Raumausschnitt, in welchem die reale Stadt München wirklich liegt, nicht identifizieren1. Ließe sich das tun, dann müßte es möglich sein, aus dem dargestellten Raum in den realen sozusagen hineinzuspazieren und umgekehrt, was doch eine augenscheinliche Absurdität ist. Daran kann die Tatsache nichts ändern, daß schon der Raum1 Daß es so ist, darüber will mich jetzt Frau Käte H a m b u r g e r überzeugen, als ob ich es nicht länget wüßte.

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ausschnitt, in welchem die reale Stadt München beständig und invariabel sich befindet, eine ausgesprochene Daseinsrelativität auf erkennende Subjekte hat (obwohl er mit dem auf ein besonderes erkennendes Subjekt daseinsrelativen Orientierungsraum noch nicht zusammenfällt), da ja diese reale Stadt offenbar beständig ihre Stelle in dem einen objektiven homogenen Weltraum — wenn es ihn überhaupt gibt — ändert, es also in diesem letzten Sinne tatsächlich keinen Raumausschnitt gibt, in welchem sie beständig und invariabel sich befinden würde. Auch mit diesem „immer selben" daseinsrelativen Raumausschnitt, in welchem die reale Stadt München liegt, ist der in einem literarischen Werk zur Darstellung gelangende Raumausschnitt nicht zu identifizieren. Es sind vollkommen getrennte Räume, zwischen denen es keinen r a u m h a f t e n Übergang gibt. Wie die Beziehung zwischen ihnen positiv zu bestimmen ist, werden wir noch später sehen (§ 37). Von besonderem Interesse ist es noch, daß trotz der Verschiedenheit zwischen dem dargestellten Räume und dem „Vorstellungsraume" des jeweilig vorstellenden Bewußtseinssubjektes1 die Möglichkeit besteht, bei der Lektüre des Werkes in den jeweilig dargestellten Raum in lebendigem, anschaulichem Vorstellen direkt hineinzuschauen und dadurch gewissermaßen die Kluft, die zwischen diesen beiden getrennten Räumen besteht, zu überbrücken. Damit hängt es auch zusammen, daß wir die dargestellten Gegenstände bei dem lebendigen geistigen Verkehr mit dem Uterarischen Werke doch direkt — wenn auch natürlich nicht in der wahrnehmungsmäßigen, leibhaften Selbstgegebenheit, die hier prinzipiell ausgeschlossen ist — zu erschauen vermögen2. Diese — unzweifelhaft ganz merkwürdige — Tatsache hat ihren Grund in der Weise der Zurschaustellung der dargestellten Gegenstände, welche unter der Aktualisierung der zu ihnen gehörigen Ansichten zustande kommt. Wir werden uns damit im Kapitel 8 beschäftigen. Wir weisen aber darauf schon jetzt hin, um zu betonen, daß diese Tatsache nicht gegen die Verschiedenheit zwischen dem dargestellten und dem Vorstellungsraume spricht, wie dies manchem oberflächlichen Betrachter scheinen mag. Die Gefahr der Vermengung der beiden Räume zwingt uns, den Unterschied zwischen ihnen sowie die VerWir werden gleich darüber sprechen. > Auf die direkte Erfassung der dargestellten Gegenstände weist auch Th. A. Meyer (I.e. S. 185) hin, wobei er von ihrer „Selbstgegenwart" spricht. 1

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schiedenheit zwischen dem dargestellten und dem Vorstellungsgegenstande ausführlich zu behandeln. Wae heißt eigentlich „Vorstellungsgegenstand" ? Wenn ich mir z.B. meinen Freund „vorstelle", der sich gegenwärtig in einer weit von mir entlegenen Stadt befindet, so ist er selbst kein Vorstellungsgegenstand. Er ist ein realer, seinsautonomer Gegenstand, für den es zufällig ist, daß er von mir anschaulich vorgestellt wird. Auch wenn ich einen realiter nie existierenden Kentauren anschaulich „vorstelle", ist dieser Kentaur selbst kein Vorstellungsgegenstand. Auch er — wenn er auch nur eine „Fiktion" ist — wird von mir nur vorgestellt und ist meinem Vorstellungserlebnis genau so transzendent und in ihm selbst nirgends zu finden wie mein realiter existierender Freund, den ich vorstelle1. Außer diesem meinem Erlebnis transzendenten Gegenstande gibt es noch mein Vorstellen, als einen ganz bestimmt gebauten und von „mir" vollzogenen Akt. Dieser Akt, als ein intentionaler Meinungsakt, hat einen eigenen, und zwar u n a n s c h a u l i c h e n Inhalt. Dieser Inhalt ist in dem Akte selbst, in dem Vorstellungsmeinen enthalten. Er ist der Gesamtbestand der ursprünglichen Intentionen, die das jeweilige Vorstellungsmeinen ausmachen. Jedes Vorstellungsmeinen ist beinhaltet, unabhängig davon, ob es klar oder unklar, eindeutig oder vieldeutig ist. Das gesamte Vorstellungserlebnis wird aber durch diesen Inhalt und durch die sonstigen Momente des Aktes und seine Vollzugseigentümlichkeiten noch nicht erschöpft2. Es ist noch etwas da, was das ganze Erlebnis zu einem Anschauungserlebnis macht: eine fließende Mannigfaltigkeit von anschaulichen Daten, die sich ihrem Typus nach von den bei der sinnlichen Wahrnehmung erlebten Daten radikal unterscheiden, die aber mit ihnen die Anschaulichkeit gemeinsam besitzen3. Diese fließenden und sich immerfort ändernden Daten weisen noch untereinander eine beachtenswerte Heterogenität auf. Es sind nämlich bei der visuellen Vorstellung — auf die wir uns hier beschränken wollen — einerseits qualitativ verschiedene Farbendaten vorhanden, die im allgemeinen zusammengehören und unter der unmittelbaren Direktive4 der in dem

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Wie Husserl schon vor vielen Jahren betonte. Vgl. Husserl, „Logische Untersuchungen", Bd.II, Unters.VI. ® Vgl. u.a. Ξ. Conrad-Martius, „Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt", Jahrbuch f. Philosophie, Bd. III. 4 Wir wollen durch diesen Ausdruck andeuten, daß die anschaulichen Vorstellungsdaten, die bloß erlebt, aber nicht vermeint sind, trotzdem für die Wand2

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Vorstellungsakte enthaltenen intentionalen Meinungsmomente stehen, andererseits ein gewöhnlich von dem Vorstellenden nicht beachtetes, nebelhaftes Medium, in welchem die erstgenannten Daten auftreten. Dieses Medium ist ebenso wie die Farbendaten selbst ein durchaus positives Phänomen eigener Art. Insbesondere hat es in Fällen, wo das Vorstellen mit geschlossenen Augen vollzogen wird, mit dem sogenannten subjektiven Augengrau1 nichts zu tun. Das letztere ist nur ein besonderer Fall von wahrnehmungsmäßigen Daten bzw. Gegenständen. Dagegen kommt das Medium, von dem hier die Rede ist, nur beim anschaulichen Vorstellen vor. Es ist kein Farbendatum, auch kein vorstellungsmäßiges Farbendatum. Es ist etwas Raumhaftes, das aber mit der Struktur des wahrnehmungsmäßig gesehenen Raumes nicht zu identifizieren ist. Es schafft sozusagen für die ihm hier gegenübergestellten Vorstellungsdaten „Raum", sie breiten sich in ihm aus und werden von ihm umgeben. Von a u s g e p r ä g t e n Dimensionen, z.B. von einer ausgeprägten Tiefe, wie sie bei visuellem Wahrnehmen, aber auch bei dem subjektiven Augengrau vorkommen kann, ist hier nichts zu finden2. Und doch ist es ein r a u m h a f t e s Medium, in welchem die Farbendaten, wie aus ihm emportauchend, auftreten und das einerseits nicht unendlich ist, andererseits aber auch keine scharfen Grenzen hat. Trotzdem ließe sich bildlich sagen, daß es nach den „Rändern" hin (die als solche hier nicht vorhanden sind) bis zur Unkenntlichkeit verschwimmt (wobei dieses Verschwimmen selbst gewöhnlich gar nicht erfaßt wird) und in diesem Verschwimmen — auf eigenlungen dee Inhalts des Voratellungeaktes empfindlich sind: sie ändern sich je nach dem Inhalte des Aktes, können auch in gewiesen Grenzen absichtlich von uns verwandelt werden, obwohl ihr Auftreten im allgemeinen von unseren Absichten unabhängig ist. Sie entstehen, ohne daß wir es im allgemeinen beabsichtigen. Natürlich sind aber auch Fälle möglich, wo wir sie absichtlich hervorbringen. 1 Vgl. D. K a t z , „Die Erscheinungsweisen der Farben", später als „Farbwelt" veröffentlicht. 2 Dies muß aber richtig verstanden werden. Wohl breitet es sich zweidimensional aus. Da aber dieses Medium von uns im gewöhnlichen Falle nicht beachtet wird, so werden auch seine Dimensionen nicht ausdrücklich erfaßt. Eben in dem Zustand des Nicht-erfaßt-Seins, des bloßen Erlebtseins, Empfundenseins liegt der Grund des Nichtausgeprägtseins der Dimensionen. Zugleich darf auch nicht gesagt werden, daß das Medium flächenhaft oder gar oberflächenhaft sei, obwohl es zugleich keine ausgeprägte Tiefe hat. Fläche, Oberfläche, Tiefe, Voluminita u.dgl. mehr — dae sind alles Charaktere bzw. Gebilde des vorgestellten G e g e n s t a n d e s bzw. des vorgestellten Raumes, nicht aber des bloß gehabten empfundenen, aber nicht gegenständlich vermeinten raumhaften Mediums, das jedem Vorstellungeerlebnis immanent ist.

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tiimliche Weise „weitergehend" — sich im Nichts verliert. Es zeichnet sich dabei immer durch eine gewisse nebelhafte Dunkelheit und Verschwommenheit aus. Die Dunkelheit ist auch dann vorhanden, wenn die in dem Medium auftretenden Daten selbst z.B. von hellen Farbenqualitäten sind und wenn auch der Gegenstand, den wir vorstellen, in einem hellen Raum vorgestellt wird (wenn es sich ζ. B. um eine Landschaft bei klarem, sonnigem Wetter handelt). Dieses Medium ist es eben, das im strengen Sinne „Vorstellungsraum" ist und das von dem v o r g e s t e l l t e n Raum — und um so mehr von dem in einem literarischen Werke d a r g e s t e l l t e n Raum — streng zu unterscheiden ist. Der Vorstellungsraum ist, im Unterschied zu dem vorgestellten Raum, dem Vorstellungserlebnis streng immanent, er ist sein echter „reeller Teil" — um hier den Husserlschen Ausdruck aus den „Logischen Untersuchungen" zu benutzen — und ist aus dem anschaulichen Vorstellungserlebnis nicht zu beseitigen. Die in dem Vorstellungsraum auftretenden vorstellungsmäßigeji Daten (z.B. Farbendaten) stehen gewöhnlich — wie ich mich ausdrückte — unter der „Direktive" des in dem Vorstellungsakte wesensmäßig enthaltenen intentionalen Meinens. Genauer gesagt handelt es sich um folgendes: Die Vorstellungsdaten haben ihre eigenen qualitativen Bestimmtheiten und ihre eigene Ordnung, welche nicht erst durch das Meinen sozusagen von außen her an sie herangebracht wird. Sie können im Vorstellungsraume auch dann auftreten, wenn das Ich sich vollkommen passiv verhält und k e i n e Meinungsakte vollzieht und somit auch nichts vorstellt, sondern einfach solche oder andere vorstellungsmäßigen Daten hat. Unter diesen Umständen ist aber das „Spiel" dieser Daten ein vollkommen anderes als dann, wenn das Ich einen bestimmten Vorstellungsakt vollzieht. Im ersteren Falle ist es ganz zufällig, regellos und im großen Maße vom Ich unabhängig, im letzteren dagegen sind die Qualitäten der Farbdaten, ihre — wenn man so sagen darf — Fleckengestaltung, ihre Abfolge und Verwandlung von dem jeweiligen Meinungsakte abhängig und seinem unanschaulichen Inhalt mehr oder weniger genau angepaßt. Es liegt dann — abgesehen von pathologischen Fällen — in dem Machtbereich des Vorstellenden, gerade diese oder jene anschaulichen Daten in seinem Vorstellungsraume zu haben, obwohl der Vorstellende gewöhnlich gar nicht darauf eingestellt ist, gerade solche und nicht andere Daten hervortreten zu lassen, sondern einfach einen bestimmten Meinungsakt 240

vollzieht, dessen Vollzug die entsprechende Ausgestaltung der Daten zur Folge hat. Mit anderen Worten : Die Daten stehen unter der Direktive des jeweiligen Vorstellungsaktes. Diese Direktive kann aber verschieden weit gehen. Vor allem ist es möglich, daß die Ausgestaltung und der Ablauf der Daten von anderen, übrigens sehr mannigfachen, Faktoren des seelischen und geistigen Lebens in niedrigerem oder höherem Maße abhängt und infolgedessen sich in verschiedenem Maße der Direktive des Vorstellungsaktes fügt. Andererseits kann diese Direktive sich entweder bloß auf das Auftreten und die Abfolge von bestimmt qualifizierten Daten beschränken, wobei die Intention des Vorstellungsaktes, sozusagen an den Daten vorbeigebend, sich direkt auf den v o r g e s t e l l t e n Gegenstand richtet, oder es kann dazu kommen, daß die Vorstellungsdaten selbst durch den unanschaulichen Inhalt des Vorstellungsaktes „beseelt", entsprechend geordnet und zu einem besonderen gegens t ä n d l i c h e n Ganzen gemacht werden, welches eventuell vermöge seiner Ähnlichkeit mit dem Gegenstande, der vorgestellt wird, diesen letzteren „repräsentiert". Ausschließlich dieser in den Vorstellungsdaten ontisch unmittelbar fundierte und eventuell die Funktion der Repräsentation ausübende besondere Gegenstand darf „Vorstellungsgegenstand" im strengen Sinne genannt werden1. Er darf mit dem intentionalen Gegenstande, welcher v o r g e s t e l l t wird und auf welchem die Intention des Aktes letzten Endes ruht, nicht verwechselt werden. Dieser Vorstellungsgegenstand ist — falls es zu seiner Konstitution kommt — ein unabtrennbarer, immanenter, „reeller Teil" des zugehörigen Vorstellungserlebnisses. Hält man das ganze Vorstellungserlebnis für etwas Psychisches, so ist er auch psychisch. Er ist ebenso konkret und real wie das ganze Erlebnis, das in bezug auf den v o r g e s t e l l t e n Gegenstand gar nicht wahr zu sein braucht. Übt er die Funktion der Repräsentation aus, so faßt ihn die Intention des Vorstellungsaktes als einen Stellv e r t r e t e r des eigentlich vorgestellten intentionalen Gegenstandes auf und bewirkt seine bis zu einer gewissen Grenze gehende Ähnlichkeit mit dem letzteren. Zu der Konstitutierung des Vorstellungsgegenstandes braucht es aber — wie gesagt — nicht immer zu kommen. Nicht eine jede Vorstellung hat somit ihren Vorstellungs1

Wenn ich Frau Conrad-Martius richtig verstehe, so hat sie die hier etwas genauer beschriebene Sachlage im Auge, wenn sie von dem Vorstellungstypus I spricht. (Vgl. „Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt", l.o. S.364—370.) 1β Ingarden. Bas literarische Kunstwerk

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gegenständ1. Gibt es den letzteren nicht, so kann es höchstens dazu kommen — aber auch dies nicht notwendig —, daß die vorstellungsmäßigen Daten zur Aktualisierung der Ansichten des vorgestellten Gegenstandes verwendet werden und dann auch einer entsprechenden Gestaltung und Beseelung unterliegen : die Intention des in dem Vorstellungserlebnis enthaltenen Meinungsmomentes richtet sich dann aber direkt auf den intentionalen vorgestellten Gegenstand, der dann sozusagen im Gewände der aktualisierten Ansicht erschaut wird. Es kommt hier also zu einer P r ä s e n t a t i o n des betreffenden Gegenstandes, wenn auch natürlich nicht zu einer wahrnehmungsmäßigen, den Gegenstand zur leibhaften Selbstgegebenheit bringenden Präsentation2. Diese letzte Art der Gegebenheit schließt der eigentümliche vorstellungsmäßige Charakter der im Vorstellungsraum auftretenden Daten aus. Der rein intentionale Gegenstand, auf den sich der Vorstellungsakt richtet, „gehört" zwar notwendig zu diesem Akte, er ist aber ihm und überhaupt jedem Bewußtseinserlebnis gegenüber wesensmäßig transzendent. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß er in dem Vorstellungserlebnis zur Präsentation gelangt. Als solcher kann er auch nicht aus dem bloßen Grunde psychisch sein, weil das Vorstellungserlebnis psychisch ist. Psychisch kann er nur dann sein, wenn sein Gehalt psychisch ist, d.h. wenn wir uns z.B. einen psychischen Zustand irgendeiner Person vorstellen. Handelt es sich aber um intentionale vorgestellte Gegenstände von anderem Gehalte, so liegt kein Grund vor, sie für psychisch zu halten. Und nie ist es zulässig, sie mit dem Vorstellungsgegenstande und gar noch mit der gesamten Vorstellung zu identifizieren. Nur das ganz rohe Gerede von „Vorstellung" könnte zu diesem Widersinn verleiten. Noch weniger dürfen aber die durch die Wortbedeutungen bzw. durch die Satzsinngehalte entworfenen, abgeleitet intentionalen Gegenständlichkeiten mit „Vorstellungsgegenständen" und somit mit etwas, was eine reelle Komponente der konkreten psychischen 1 Aber j e d e m Vorstellungeakte gehört ein intentionaler v o r g e s t e l l t e r Gegenstand zu. 2 Darin liegt vielleicht der Grund, warum H u s s e r l auch die Phantasieakte für „originär-gebende" hält. Vgl. seine Universitätsvorlesung „Einleitung in die Philosophie" vom Jahre 1922. Ich habe während meines Aufenthaltes im Jahre 1927 in Freiburg von Herrn Professor H u s s e r l das Manuskript dieser Vorlesung zur Lektüre geliehen bekommen, wofür ich hier meinem hochverehrten Lehrer wärmstens danke.

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Erlebnisse bildet, identifiziert werden. Ipso facto hat auch der durch Sachverhalte dargestellte Raum mit dem Vorstellungsraume nichts zu tun.

§ 35. Verschiedene Weisen der räumlichen Orientierung der d a r g e s t e l l t e n G e g e n s t ä n d l i c h k e i t e n . Kehren wir aber zu den Raumverhältnissen der in einem literarischen Werke dargestellten gegenständlichen Welt zurück. Werden im literarischen Werke Dinge, Tiere und Menschen dargestellt, so ist der mit ihnen zugleich zur Darstellung gelangende Raum nicht der abstrakte, geometrische oder der homogene physikalische, sondern derjenige Raum, der dem wahrnehmungsmäßig gegebenen Räume entspricht. Er muß dann sozusagen durch das Medium des Orientierungsraumes zur Zurschaustellung gebracht werden. Insbesondere müssen dabei Orientierungsräume verwendet werden, die zu den dargestellten psychischen Subjekten gehören, welche diesen dargestellten Raum „wahrnehmen". Ist das der Fall, so entsteht die Frage, wo das Orientierungszentrum (der „Nullpunkt der Orientierung", wie Husserl sagt) sich befindet. Daß er sich immer innerhalb der d a r g e s t e l l t e n Welt befindet, ist unzweifelhaft, zu beachten ist aber, daß noch verschiedene Fälle möglich sind. Dies hängt von der Darstellungsweise ab. Ist die Darstellung eine solche, daß der Dichter selbst uns die „Geschichte" „erzählt" und somit als Erzählender zu der in dem betreffenden Werke dargestellten Welt gehört, so liegt das Orientierungszentrum sozusagen im Ich des Dichters selbst, aber nicht des realen, sondern des zur Darstellung gelangenden Erzählers. Alle dargestellten Gegenstände (Dinge, Tiere, Menschen) werden dann so dargestellt, als wenn sie alle von dem Erzähler gesehen (getastet, gehört usw.) und in diesem Gesehenwerden auf sein Orientierungszentrum bezogen würden1. Gehört der Erzähler nicht ausdrücklich zu der dargestellten Welt, so kann daa Orientierungszentrum so gewählt werden, daß es sich zwar in der dargestellten Welt befindet, aber zugleich in keinen der dargestellten Gegenstände versetzt wird, so daß wiederum alle dargestellten Gegenstände als von einem bestimmten (manchmal im Laufe der 1

In diesem Falle ist die Behauptung von Theodor Lipps von dem „idealen loh der Kede" begründet (I.e. S.497).

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Darstellung wechselnden) Punkte aus gesehene zur Schau gestellt werden. Es ist, als ob eine unsichtbare und selbst nicht zur expliziten Darstellung gelangende Person in der dargestellten Welt herumwandelte und uns die Gegenstände so, wie sie von ihrem Standpunkte aus gesehen werden, zeigte. Dadurch kommt der Erzähler doch zu einer Mitdarstellung1. Es können aber auch andere Fälle vorkommen. So kann sich das Orientierungszentrum in dem IchNullpunkt einer dargestellten Person befinden und sich mit allen durch sie ausgeführten Ortsveränderungen verschieben8. Wollen wir dann bei der Lektüre die dargestellte Welt genau so, wie sie dargestellt wird, erfassen, so müssen wir uns sozusagen in das dargestellte Orientierungszentrum fiktiv hineinversetzen und mit der betreffenden Person durch den dargestellten Raum in fictione wandeln. Eine gute Darstellung zwingt uns von selbst, das zu tun. Wir müssen dann das eigene Orientierungszentrum, das zu unserer wahrgenommenen Welt gehört und mit uns überall wandert, bis zu einem gewissen Grade vergessen und uns somit in eine gewisse Weltentrücktheit versetzen. Dies wäre natürlich nicht möglich, wenn die dargestellten Gegenstände „Vorstellungsgegenstände" in dem oben bestimmten Sinne und als solche das Thema unserer Betrachtung wären. Sie müßten dann in der inneren Wahrnehmung

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Zu diesem ganzen Problem finden sich interessante und nützliche Betrachtungen bei Franz S t a n z e l , „Die typischen Erzählsituationen im Roman, dargestellt an Tom Jones, Moby-Dick . . . " , Wien 1955. S t a n z e l konzentriert sich aber nicht so sehr auf das Problem des dargestellten Raumes und des Orientierungszentrums, sondern auf die verschiedenen Weisen des Erzählens und der Anwesenheit des Erzählers im Roman. Er unterscheidet dabei drei verschiedene Typen des Romans: den „auktorialen", den „Ich-Roman" und den „personalen" Roman, und versucht, eine Typologie des Romans aufzubauen. Im allgemeinen kann ich seinen Ausführungen zustimmen, obwohl ich noch vom „Autor" im verschiedenen Sinne sprechen möchte. Ich habe mich mit diesem Problem im letzten Jahre vor dem Kriege beschäftigt, um eine Kritik an der damals von J. K l e i n e r verfochtenen Behauptung zu üben, daß zu jedem literarischen Kunstwerk der Autor immanent und notwendig gehört und daß somit die Literaturforschung notwendig den Autor zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtung nehmen muß. Es gibt bei S t a n z e l Stellen, aus denen hervorgeht, daß auch er geneigt wäre, verschiedene Begriffe des Autors auseinanderzuhalten. 2 P i e r r e A u d i a t untersucht diese Sachlagen in seinem schon zitierten Werke „La biographie de l'œuvre littéraire" (vgl. S. 226—229), wobei er übrigens vom „Orientierungszentrum" und „Orientierungsraum" nichts weiß. Außerdem macht er den Fehler, daß er diese ganze Frage als eine Angelegenheit des sprachlichen Stils eines Werkes behandelt, während es sich da um Eigenheiten der dargestellten Welt bzw. um ihre Darstellungsweise handelt, die nur von der Gestaltung der Schicht der Sinneinheiten abhängig ist.

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wahrgenommen werden, wobei das Orientierungszentrum notwendig das jeweilig unsrige sein müßte. Es kommt in der Romanliteratur oft vor, daß das Orientierungszentrum in ein und demselben Werk nicht konsequent in ein und dieselbe Person, sondern in mehrere Personen versetzt wird. Manchmal geschieht dies so, daß das Orientierungszentrum in die Person hineinversetzt wird, die in dem j e w e i l i g e n Abschnitt der dargestellten Geschichte die Hauptrolle spielt. Das Orientierungszentrum wechselt dann von Kapitel zu Kapitel. Es kann aber auch vorkommen, daß eine und dieselbe gegenständliche Situation (oder Phase einer sich entwickelnden Geschichte), an welcher mehrere Personen teilnehmen, gewissermaßen „zugleich" von v e r s c h i e d e nen Orientierungszentren aus zur Schau gestellt wird. Wenn dabei die in Betracht kommenden Dinge, Leiber usw. nicht in entsprechenden perspektivischen Verkürzungen dargestellt werden, so daß die einzelnen zu verschiedenen Orientierungszentren gehörigen perspektivischen Verkürzungen nicht „zusammenstimmen", dann kommt es dadurch zu einer Uneinheitlichkeit in der dargestellten Welt. Es ist dann unmöglich, die einzelnen, von verschiedenen Personen zugleich gesehenen Dinge zu identifizieren. Geht die Absicht des Werkes darauf, eine quasi-reale Welt, die ausschließlich durch psychisch gesunde Personen wahrgenommen wird, darzustellen, so bedeutet eine solche Uneinheitlichkeit der dargestellten Welt einen Fehler der Darstellungsweise. Aber im Prinzip braucht eine derartige Darstellungsweise nicht fehlerhaft zu sein. Sie kann im Gegenteil vollbewußt beabsichtigt werden und als ein besonderes Mittel künstlerischer Gestaltung und ästhetischer Wirkung dienen. Einen besonderen Fall der Art, wie das Orientierungszentrum in die dargestellte Welt und wohin es versetzt wird, bildet die Sachlage, die wir bei einem g e l e s e n e n „Drama" vorfinden. Wenn wir z.B. in dem Nebentexte eines Dramas lesen: „Links befinden sich zwei große Fenster, neben welchen ein altmodischer, schwerer Schreibtisch aufgestellt ist, vorn steht ein Stuhl . . .", so wird damit auch ein Orientierungszentrum oder wenigstens eine Richtung, in welcher es zu suchen ist, angegeben. Dieses Orientierungszentrum ist hier in den jeweiligen Zuschauer versetzt, den es übrigens bei einem nur gelesenen dramatischen Werke realiter nicht gibt. Es wäre auch ein Fehler zu meinen, daß es sich um einen der realen Zuschauer handelt, die bei der eventuellen Aufführung des Dramas vorhanden wären, und daß es nur nicht bestimmt ist, welcher von 245

ihnen in Betracht kommt. Im Gegenteil. Wie früher der unsichtbare Erzähler, so gehört jetzt der unsichtbare Zuschauer zu der dargestellten Welt, nur, daß er nicht zu einer e x p l i z i t e n Darstellung gelangt. Der Raum, in welchem er sich befindet, ist der d a r g e s t e l l t e Raum und keineswegs der reale Raumausschnitt eines Zuschauersaales. Daß freilich hier überhaupt ein Zuschauer zur nicht-expliziten und mittelbaren Mitdarstellung gelangt, ist nicht ohne jeden Einfluß auf die übrige dargestellte Welt. Denn das, was in ihr existiert und sich abspielt, gewinnt dadurch den- Charakter des D a r g e b o t e n e n , des irgendjemandem V o r g e f ü h r t e n , obwohl dies weder in dem Haupttexte noch in dem Nebentexte explizite angedeutet ist 1 . Man könnte vielleicht meinen, es käme dadurch bei der dramatischen Darstellungsweise zu jener „Ineinanderschachtelung" der darstellenden Sachverhalte, von der wir früher sprachen. Und zwar in dem Sinne, daß in den Sachverhalt, daß etwas dem Zuschauer vorgeführt wird, alle übrigen Sachverhalte eingeschachtelt wären. Indessen scheint uns diese Ansicht zu weit zu führen. In Wirklichkeit bereichern sich hier lediglich die darstellenden Sachverhalte noch um einen Sachverhalt, welcher, wie alle anderen, zu der gegenständlichen Schicht des Werkes gehört und dessen Vorhandensein es bewirkt, daß die durch die übrigen Sachverhalte dargestellten Gegenständlichkeiten den erwähnten intentionalen Charakter des „Vorgeführten" annehmen. Die dargestellte Welt will hier sozusagen gesehen werden. Mit anderen Worten: Der besondere Aufbau des dramatischen Werkes bewirkt es, daß jedes Drama erst als „ S c h a u s p i e l " zur vollen Geltung gelangt und auch bei der Lektüre für den lebendigen Verkehr mit ihm eine eigene Weise des Schauens fordert, welche für andere literarische Werke nicht erforderlich ist. Wird diese seine Forderung voll realisiert, d. h. wird das Drama aufgeführt, so wird es zu einem S c h a u s p i e l und ragt damit über das Gebiet der rein l i t e r a r i s c h e n Werke hinaus bzw. bildet einen ihrer Grenzfälle2.

1 2

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Vgl. W. Conrad, „Bühnenkunst u. Drama", Ztschr. f. Ästhetik, Bd.VI. Vgl. dazu Kapitel 12 dieser Arbeit.

§ 36. Die d a r g e s t e l l t e Z e i t u n d die

Zeitperspektiven.

Sind die dargestellten Gegenstände vom Typus der realen Gegenstände, so befinden sie sich — wie schon bemerkt — in einer eigen e n , dargestellten Zeit, die sowohl von der „objektiven" Zeit der realen Welt wie auch von der „subjektiven" Zeit 1 eines absoluten Bewußtseinssubjektes zu unterscheiden ist. Und dies aus verschiedenen Gründen. Vor allem zwingt uns dazu die Tatsache, daß die Geschehnisse, an denen die dargestellten Gegenstände teilnehmen, wesensmäßig zeitlich sind und außerdem als aufeinanderfolgende oder zugleichseiende dargestellt werden. Damit ist unter ihnen eine zeitliche Ordnung statuiert. Schon diese zeitliche Ordnung bringt es mit sich, daß einzelne Zeitphasen und Momente zur Darstellung gelangen. Aber sie werden öfters auch durch entsprechende Elemente der Satzsinngehalte auf ganz dieselbe Weise, wie die in ihnen seienden Gegenstände, intentional entworfen. Es besteht also kein Grund, in d i e s e r Hinsicht irgendeinen Unterschied zwischen den dargestellten Gegenständen (Dingen, Personen, Geschehnissen) und der dargestellten Zeit zu machen. Um aber denjenigen Tendenzen zu begegnen, die immer wieder das literarische Werk oder irgendeine seiner Schichten zu psychologisieren suchen, sei noch folgendes beigefügt: Es wäre grundverkehrt zu meinen, daß die Momente und Phasen der dargestellten Zeit mit denjenigen Zeitmomenten, in welchen der Autor sein Werk geschrieben, oder mit denjenigen, in welchen der jeweilige Leser das Werk liest, identisch sind, und zwar auch dann, wenn die dargestellten Geschehnisse sich „gegenwärtig" abspielen. Es ist bekanntlich zwischen 1. der homogenen, „leeren", physikalisch-mathematisch bestimmten „objektiven" Weltzeit, 2. der konkreten, anschaulich erfaßbaren, intersubjektiven Zeit, in der wir alle g e m e i n s a m leben, und 3. der streng subjektiven Zeit zu unterscheiden 2 . Es ist selbstverständlich, daß in literarischen Werken nur ein Analogon der k o n k r e t e n , intersubjektiven bzw. subjektiven Zeit zur Dar1

Vgl. E. Husserl, „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewufltseins" (Jahrbuch für Philosophie, Bd. IX). 3 Von dem Unterschiede zwischen der konstituierten subjektiven Zeit und den zeitlichen Urformen des „konstituierenden Zeitbewußtseins" im Husserlschen Sinne darf hier abgesehen werden. Vgl. E. Husserl, „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" (Jahrbuch für Philosophie, Bd. IX).

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Stellung gebracht wird und nicht die leere, physikalische Zeit. Und es ist bekannt, daß sowohl die intersubjektive wie die subjektive „erfüllte" Zeit in ihren einzelnen Phasen nicht streng homogen ist und kein leeres punktuelles Medium bildet, welches den in ihr sich abspielenden Geschehnissen gegenüber unempfindlich ist. Jede der vielen Gegenwarten, die wir im Leben nacheinander passieren, hat ihre eigentümliche, auf nichts anderes reduzierbare Färbung, die ihr deswegen zukommt, weil sich in ihr etwas ganz Bestimmtes abspielt und weil sie selbst auf eine andere, schon vergangene und sowohl einst als Gegenwart wie „jetzt" als Vergangenheit eigentümlich gefärbte Gegenwart folgt und einer anderen, uns zunächst nur im Erwarten zugänglichen zukünftigen „Gegenwart" vorangeht1. Die konkrete (intersubjektive oder subjektive) Zeit hat auch — wie es schon H. Bergson hervorgehoben hat — in ihren verschiedenen Phasen verschiedene Tempi, welche sowohl von dem, was sich in den Phasen abspielt, wie auch von den Erlebnissen, die wir bei der Perzeption der objektiven Geschehnisse haben, wie endlich von der Erlebnisweise abhängig sind. Wird nun im literarischen Werk ein Analogon der subjektiven oder der intersubjektiven Zeit dargestellt, so sind ihre einzelnen Phasen ebenfalls eigentümlich gefärbt. Und zwar hängt ihre Färbung lediglich davon ab, was sich innerhalb der d a r g e s t e l l t e n Welt „früher" und „jetzt" abspielt, und insbesondei% was von den dargestellten Personen erlebt wird. Diese Färbungen sind natürlich von denjenigen Färbungen verschieden, die für die Zeitphase des konkreten Lebens des Verfassers in der Zeit der Arbeit an dem Werke bzw. für die Zeitphase der Lektüre des jeweiligen Lesers charakteristisch sind. Eo ipso lassen sich die Phasen der dargestellten Zeit mit den in Frage kommenden Phasen der „wirklichen" intersubjektiven bzw. subjektiven Zeit nicht identifizieren. Aber auch in ihrer S t r u k t u r unterscheidet sich die dargestellte (intersubjektive bzw. subjektive) Zeit von der wirklichen Zeit auf ganz bestimmte Weise, so daß sie nur ein Analogon, eine Modifikation der letzteren bildet. Die jeweilige Gegenwart der wirklichen Zeit (und zwar sowohl der intersubjektiven wie der subjektiven) hat einen ausgesprochenen o n t i s c h e n Vorzug vor der „wirklichen" Vergangenheit und — in noch viel höherem Grade — vor der jeweiligen Zukunft2. Und zwar zeichnet sowohl das jeweilige 1 2

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Daraufhat vor allem H. Bergson hingewiesen. Vgl. H. Conrad-Martius, „Die Zeit" (Philosoph. Anzeiger, Bd.II).

Jetzt selbst, wie das in dem Jetztmoment wirklich Vorhandene, eine ausgeprägte A k t u a l i t ä t aus, welche weder der Vergangenheit noch der Zukunft eigen ist. Diese Aktualität soll hier aber nicht im Sinne einer besonderen Lebhaftigkeit oder Aufdringlichkeit verstanden werden, obwohl diese Momente das Gegenwärtige ebenfalls charakterisieren, sondern im Sinne des „in actu esse". Dieses „in actu esse" ist im strengen Sinne nur der Gegenwart und dem gegenwärtig Realseienden eigen. Zugleich ist es für das Realsein als solches wesensmäßig charakteristisch. Nichts vom Typus der realen Gegenständlichkeit kann existieren, wenn es nicht durch die Phase des „in actu esse" hindurchgeht. Andererseits e x i s t i e r t der reale Gegenstand überhaupt nur innerhalb der Spannweite des ,,in actu esse"1. Von da aus, von der Jetztphase, bestimmt sich erst das Vergangene und die Vergangenheit und in anderer Richtung auch die Zukunft und das Zukünftige : vergangen kann nur etwas sein, was einmal in der Jetztphase das „in actu esse" durchgemacht hat. Und auch das Zukünftige und die Zukunft selbst ist nur insofern Zukünftiges, als es einmal — wenigstens im Prinzip — in die Jetztphase kommen und in ihr „in actu" sein wird, zugleich aber dieses „in actu esse" noch nicht erreicht hat. Es muß es auch nicht in jedem Falle erreichen, insofern als nicht jedes als zukünftig Erwartete „in Erfüllung" geht. Aber seinem Wesen nach ist es ein solches, das nach dieser Erfüllung in dem „in actu esse" tendiert. Und noch eins: Gäbe es überhaupt keine Jetztphase und kein echtes „in actu esse", so würde es weder die Vergangenheit (bzw. das Vergangene) noch die Zukunft (bzw. das Zukünftige) überhaupt geben. Darin besteht eben die ontische Vorzugsstellung der Gegenwart sowohl der Vergangenheit wie der Zukunft gegenüber. Und tatsächlich, wo die entsprechenden Gegenständlichkeiten ihrem Wesen nach nicht „in actu" im strengen Sinne sein können, gibt es auch keine Jetztphase, aber auch keine Vergangenheit und Zukunft : die entsprechenden Gegenständlichkeiten sind überhaupt nicht in der Zeit, wie z.B. die individuellen idealen Gegenstände, die Ideen und die Wesenheiten. 1 Dies würde ich jetzt (1960) nicht mehr so schroff sagen können. Ich habe in dem Buch „Der Streit um die Existenz der Welt", Bd.I, eine umfassende Analyse der konkreten Zeit, als zu einer besonderen Seinsweise der Realität gehörenden, gegeben, die die hier gegebenen Beschreibungen als nicht genau genug charakterisieren müßte. Ich kann aber diese neuen Analysen hier nicht geben. Um so mehr, als das an der hier gegebenen Unterscheidung zwischen der zur Wirklichkeit gehörenden und der bloß im literarischen Kunstwerk dargestellten Zeit nicht rütteln würde.

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Nun sind die im literarischen Werke dargestellten Gegenstände abgeleitet rein intentionale Gegenständlichkeiten, welche wesensmäßig durch den Charakter der Seinsheteronomie ausgezeichnet sind, obwohl sie gewöhnlich ihrem Gehalte nach vom Typus der realen Gegenständlichkeit sind. Ihre Seinsheteronomie, die ihnen das reale Sein in ihren Gehalten nur vorzutäuschen erlaubt, bringt es auch notwendig mit sich, daß die zu der dargestellten quasirealen Welt gehörige Zeit nur ein Analogon der wirklichen Zeit ist. Natürlich muß auch in ihr zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft unterschieden werden, aber dieser Unterschied ergibt sich aus der gegenseitigen Ordnung der dargestellten Geschehnisse, nicht aber daraus, daß sie alle durch die ausgezeichnete Phase des echten „in actu esse" hindurchgehen; dies ist eben für sie im strengen Sinne unmöglich, weil sie sonst selbst wirklich sein müßten. Nur ein vorgetäuschtes „in actu esse", eine vorgetäuschte „Gegenwart" (und somit auch Vergangenheit und Zukunft) ist hier möglich und auch dies nur unter der Bedingung, daß wir bei der Lektüre des Werkes sozusagen die Abwicklung der dargestellten Geschehnisse mitmachen und dem jeweilig gerade Erschauten den Anschein unserer jeweiligen Aktualität verleihen. Rein auf das eingeschränkt, was in dem literarischen Werke selbst enthalten ist, hat die dargestellte Gegenwart keine Vorrangstellung der echten Gegenwart der dargestellten Vergangenheit und Zukunft gegenüber. Infolgedessen liegt eine gewisse Angleichung aller dargestellten Zeitmomente aneinander vor, ähnlich wie dies in bezug auf die „schon" zur Vergangenheit gehörenden ehemaligen Jetztmomente auch der wirklichen Zeit gilt. Es ist somit kein Zufall, daß in der überwiegenden Mehrheit der literarischen Werke die Geschehnisse und Gegenstände im Lichte der Vergangenheit zur Darstellung gebracht werden. Aber diese Gleichstellung der dargestellten Zeitmomente bleibt auch da erhalten, wo eine „Geschichte" in der Gegenwartsform gebracht wird, nur daß vielleicht in diesem Falle diese Gleichstellung der dargestellten Zeitmomente nicht so deutlich zur Ausprägung gelangt. Hier liegt auch der Grund dafür, daß man die Darstellung in der Gegenwartsform dort wählt, wo der Bealitätscharakter der dargestellten Welt dem Leser suggestiver aufgezwungen werden soll (vgl. das Drama). Der Unterschied zwischen der dargestellten und der wirklichen Zeit wird noch deutlicher hervortreten, wenn wir die Darstellungsweise der Zeit durch Sachverhalte, die durch Sätze entworfen 250

werden, in Erwägung ziehen. Die wirkliche Zeit ist ein k o n t i n u i e r l i c h e s Medium, das absolut keine Lücken aufweist. Ohne hier entscheiden zu wollen, ob es prinzipiell möglich sei, ein derartiges kontinuierliches Medium im literarischen Werke zur e x p l i z i t e n Darstellung zu bringen, ist festzustellen, daß es in keinem größeren Werke zu einer solchen Darstellung der Zeit kommt. Abgesehen von denjenigen Fällen, in welchen zeitliche Relationen oder einzelne Zeitmomente bzw. Phasen durch besondere Worte direkt bestimmt werden (z.B. durch Worte wie „früher", „später", „in diesem Moment" usw.), kommt es zur Darstellung der Zeit durch Entfaltung von Geschehensverhalten, welche zeitlich sich erstreckende Geschehnisse darstellen. Primär wird also gewöhnlich das dargestellt, was eine Zeitphase e r f ü l l t , und nicht die entsprechende Zeitphase selbst und für sich. Erst die Darstellung des Zeiterfüllenden führt dann die Darstellung der damit erfüllten Zeit herbei. Nun werden die zeiterfüllenden Geschehnisse nie in allen ihren P h a s e n zur Darstellung gebracht — und zwar weder ein einzelnes, ein Ganzes bildendes Geschehnis noch die Mannigfaltigkeit von aufeinanderfolgenden Geschehnissen. Weder ein einzelner isolierter Satz noch eine Mannigfaltigkeit von zusammenhängenden Sätzen vermag Sachverhalte zu entfalten, die dies leisten könnten. Immer werden nur e i n z e l n e , längere oder kürzere Phasen oder sogar nur momentane Ereignisse dargestellt, und dasjenige Geschehen, das zwischen diesen Phasen oder Ereignissen stattfindet, bleibt u n b e s t i m m t . Immer werden — mit Bergson zu reden — nur einzelne „Ausschnitte" aus der darzustellenden, aber in ihrer fließenden Kontinuität nie darstellbaren „Wirklichkeit" dargestellt. Der Grund dafür hegt eben darin, daß die dargestellte Welt den Ursprung ihres Seins und Soseins lediglich in einer endlichen Anzahl von S ä t z e n hat1. Infolgedessen schließen sich die dargestellten Zeitphasen nie zu einem einheitlichen k o n t i n u i e r l i c h e n Ganzen zusammen. Und wenn wir bei der Lektüre des Werkes keine Lücken in der dargestellten Zeit zu sehen bekommen und gewöhnlich zu der Einstellung geneigt sind, bestimmte Geschehnisse, von denen uns der Verfasser nicht berichtet, als nur für uns u n b e k a n n t anzunehmen, so daß auch die entsprechenden 1 Wir haben darauf schon bei unseren Analysen der Konstitution eines „Netzes" von zusammenhängenden Sachverhalten hingewiesen (vgl. § 23). Hätte B e r g s o n bloß dies bei seiner Behauptung über die Unfähigkeit der intellektuellen Erkenntnis, die konkrete fließende Wirklichkeit zu erfassen, im Auge gehabt, so hätte er vollkommen recht.

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Zeitphasen als vorhanden und „bloß" nicht dargestellt betrachtet werden1, so geschieht das vor allem aus einem analogen Grunde, wie demjenigen, auf welchen wir bei der Besprechung der Darstellung des Raumes hingewiesen haben2 : Wie der Raum, leidet auch die Zeit — ihrem Wesen nach — keinen Abbruch. Wo immer eine Zeitphase zur Darstellung gelangt, steht sie als eine solche da, die sich nach beiden Richtungen — der vorangehenden und der folgenden Zeitphase — unmittelbar und kontinuierlich verlängert. Werden zwei „getrennte" Zeitphasen, von welchen die eine „früher", die andere „später" ist, dargestellt, so wird eben vermöge der Unmöglichkeit des Zeitabbruchs auch der gesamte, zwischen diesen Phasen liegende Zeitabschnitt durch den Leser als bestehend gesetzt: die Zeitlücken, die den explizite nicht dargestellten Zeitphasen entsprechen, verschwinden aus unserem Blick. Trotzdem bestehen diese Lücken, wenn man sich nur streng daran hält, was e x p l i z i t e im literarischen Werke dargestellt wird. Und obwohl ihr Vorhandensein durch das vermöge der Unmöglichkeit des Zeitabbruchs Mitdargestellte bis zu einem gewissen Grade verdeckt wird, so ist es doch, daran erkennbar, daß es sich bei den bloß mitdargestellten Zeitphasen um „leere", qualitativ durch das Zeiterfüllende nicht gefärbte Phasen handelt. Ihre qualitative Färbung bleibt u n b e s t i m m t , sie wird höchstens nur als irgendwelche vermeint, im deutlichen Gegensatz zu denjenigen Phasen, die zur expliziten Darstellung gelangen. Hier stoßen wir zum zweiten Male auf einen Fall einer merkwürdigen Eigentümlichkeit der dargestellten Gegenständlichkeiten, mit der wir uns im § 39 näher beschäftigen werden. Wenn die eben besprochene Eigentümlichkeit der dargestellten Zeit an eine analoge Situation bei dem dargestellten Räume erinnert, so läßt sich diese Analogie auch in einer anderen Richtung durchführen. Wie bei der Zurschaustellung des Raumes immer ein Orientierungszentrum vorhanden ist und auf verschiedene Weise in die dargestellte Welt versetzt werden kann, so gibt es analoge Orientierungsnullpunkte und Perspektiven bei der dargestellten Zeit3. 1

Vgl. z.B. die „Buddenbrooks" von Th. Mann. Dies hat noch andere, besondere Gründe, die mit den Bedingungen der Lektüre eines Werkes und mit den Eigentümlichkeiten seiner Konkretisationen zusammenhängen. Wir werden darauf später eingehen. Vgl. 13. Kap. 3 Auch bei der wirklich erlebten Zeit spricht E. Husserl von „Zeitperspektiven". Vgl. „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins", Jahrbuch für Philosophie, Bd. IX. Diese Orientierungsnullpunkte nennt jetzt Frau Hamburger „Ich-Origo". 2

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In der wirklich erlebten Zeit ist die jeweilige Gegenwart der ursprüngliche Nullpunkt der Orientierung der Zeitperspektive, ein Nullpunkt, der — ähnlich wie bei einer Eisenbahnfahrt das räumliche Orientierungszentrum — in beständiger Verschiebung begriffen ist, die wesensmäßig nie zum Stillstand zu bringen ist und immer in ein und derselben Richtung sich fortpflanzt. Mit dieser Verschiebung geht eine stetige Verwandlung der eigentümlichen Zeitperspektive notwendig einher, einer Zeitperspektive, in welcher uns die vergangenen Erlebnisse oder die äußeren Ereignisse in unmittelbarer Retention oder Wiedererinnerung erscheinen1. Wie Husserl mit Recht bemerkt, gibt es hier ein Analogon zu den perspektivischen Verkürzungen im Räume: je „weiter" in der Vergangenheit ein Geschehen oder eine Zeitspanne liegt, desto „kürzer" scheint sie uns in der Wiedererinnerung zu sein, wenn wir uns nur in der jeweiligen Gegenwart festsetzen und von da aus auf das Vergangene rückblicken. Wir können uns aber gewissermaßen in einen bestimmten vergangenen Zeitmoment z u r ü c k v e r s e t z e n und von da aus das vergangene Geschehen (bzw. Erlebnis) aufs neue — vorwärtsschreitend — zur Erinnerung bringen; dann verschwindet die perspektivische Zeitverkürzung, von welcher soeben die Rede war. Das jeweilig aktuelle Jetzt können wir aber nie wirklich verlassen. Auch wenn wir uns in ein vergangenes Jetzt intentional hineinversetzt haben, schwimmen wir immer weiter mit der immer neuen Gegenwart vorwärts und entfernen uns tatsächlich von dem einst gewesenen Ereignis, das wir „jetzt" in der Wiedererinnerung nacherfassen. Dieses Immer-größer-Werden der zeitlichen Entfernung entschwindet bei einer derartigen Wiedererinnerung unserem Bewußtsein : die Zeitperspektive hat sich durch die intentionale Rückversetzung in die Vergangenheit wesentlich geändert. Es würde uns hier zu weit führen, dies alles im einzelnen auseinanderzusetzen und die verschiedenen Möglichkeiten, die dabei vorliegen, zu berücksichtigen. Wichtig ist für uns hier nur, daß analoge Erscheinungen auch in der d a r g e s t e l l t e n subjektiven Zeit möglich sind und auch oft zur Darstellung gelangen. Zugleich sind da aber verschiedene Modifikationen möglich, die in der wirklich erlebten Zeit ausgeschlossen sind. Sie sind z.T. damit verbunden, daß die dargestellte Gegenwart keine ontische Vorzugsstellung der Vergangenheit und der Zukunft gegenüber hat. Wenn infolgedessen 1

Zu dem Begriffe der Retention und der Wiedererinnerung vgl. ebenda S. 390 ff. 253

eine dargestellte Person in einem bestimmten Moment der dar gestellten Zeit sich in die Vergangenheit intentional zurückversetzt (ζ. B. sich an etwas erinnernd oder einem Freunde eine Geschichte erzählend), so gelingt diese Rückvereetzung in einem viel höheren Grade, als dies bei einer wirklichen Erinnerung einer wirklichen Person möglich wäre. Hier kann die dargestellte Person sozusagen ihre aktuelle Gegenwart verlassen. Wir erlangen dadurch die Darstellung der „gewesenen" Ereignisse fast so, als wenn es eine andere Gegenwart wäre: das „vergangene", „nicht mehr" existierende Geschehen wird hier — trotz entsprechender Andeutungen im Tefcte, die dies bewirken sollen — nicht durch eine solche Kluft von dem gerade Gegenwärtigen getrennt, wie dies bei dem wirklich Existierenden der Fall ist. Damit steht auch die Tatsache im Zusammenhang, daß ein und dasselbe Ereignis gewissermaßen zugleich von zwei verschiedenen Standpunkten der zeitlichen Orientierung dargestellt werden kann. Wenn z.B. über eine Reihe von Ereignissen so berichtet wird, als wenn sie sich „jetzt" — und in einer Kontinuität solcher „Jetzt" — abspielten, und dann auf einmal sozusagen eine Beleuchtung von einem „viel späteren" Zeitmoment auf das sich „eben jetzt" Abspielende geworfen wird, so daß es sofort den Aspekt des „längst Gewesenen", das von einem viel späteren Zeitmoment wiedererinnert wird, erlangt, so haben wir mit dem Phänomen der doppelten Zeitorientierung zu tun, das nur in der dargestellten Welt möglich ist. Besonders in der Romanliteratur tritt diese doppelte zeitliche Perspektive (oder, wenn man will, die zeitliche Beleuchtung) oft hervor, vgl. z.B. die Erzählungsweise Joseph Conrads (z.B. in „Nostromo") oder bei Bernanos im II. Teil von „Sous le soleil de satan" 1 . Eine andere Reihe von verschiedenen Zeitperspektiven eröffnet sich dort, wo durch die Darstellungsart die Perspektive des „Zugleichseins" in der jeweiligen Gegenwart enthüllt wird. Das früher gegebene Beispiel (nach F. Strich) der Texte von Kleist und Novalis mag hier verdeutlichen, um was es sich handelt. Bei Kleist wird diese Perspektive durch den eigentümlichen Satzbau hervorgebracht. 1 Zu den Erscheinungen der doppelten Zeitperspektive gehören dagegen nicht die Fälle, wo in einem „späteren" Teile des Werkes irgendetwas dargestellt wird, was sich zeitlich vor den in früheren Teilen des Werkes dargestellten Ereignissen ereignet haben soll. Nicht das Dargestellte als solches erlangt dadurch eine andere Zeitperepektive oder gar eine andere Zeitordnung, sondern es findet dann lediglich eine bestimmte Anordnung der Sätze bzw. der Darstellung selbst statt. Mit dieser letzteren werden wir uns im folgenden (vgl. Kap. 11) beschäftigen müssen.

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Sie kann aber auch dadurch zur Darstellung gelangen, daß die Erzählung — wenn es sich um die Romanliteratur handelt — sozusagen „vielspurig" geführt wird, indem über die verschiedenen Ereignisse, die „zugleich" stattfinden, zwar nacheinander, aber doch auf solche Weise berichtet wird, daß ihr Zugleichsein deutlich zur Darstellung gelangt. Wo aber aus der ganzen Fülle der gleichzeitig sich abspielenden Ereignisse immer nur eine Linie von Geschehnissen, Ereignissen, Taten dargestellt wird, da schrumpft die Gleichzeitigkeitsperspektive gewissermaßen zusammen: wir erhalten nur ein eindimensionales Kontinuum von Geschehnissen in einer nur zweiseitig orientierten Zeitperspektive, in der Richtung auf das Vergangene und in derjenigen auf das Zukünftige hin. Aber noch auf eine andere Darstellungsweise der zeitlichen Geschehnisse, die auch eine besondere Modifikation der dargestellten Zeit mit sich führt, möchten wir hier hinweisen. Sie kommt ebenfalls vor allem in der Romanliteratur vor. Nehmen wir die „Buddenbrooks" von Thomas Mann zum Beispiel, so merken wir, daß in der ganzen langen Erzählung zwei verschiedene Typen der Erzählungsund auch der Darstellungsweise sich deutlich voneinander abheben : einerseits haben wir kurze „Berichte" über die Schicksale der Familie Buddenbrook innerhalb längerer Zeitperioden, manchmal ganzer Jahre. Andererseits werden besondere, verhältnismäßig kurze Zeit dauernde Ereignisse ausführlich, Phase für Phase, mit allen möglichen Einzelheiten beschrieben und in einem besonderen Sinne zur Darstellung gebracht (vgl. z.B. die Wahl Thomas Buddenbrooks zum Senator). Während im ersteren Falle lediglich die Hauptlinien einer längeren Entwicklung summarisch gezeichnet und nur hier und da wichtigere Ereignisse, wie Wendepunkte, kurz g e n a n n t werden, wird im letzteren Falle ein Abschnitt, eine Szene, eine Situation in ihrer ganzen k o n k r e t e n F ü l l e und in ihrem ganzen k o n k r e t e n Verlauf langsam entwickelt und zur Schau gestellt. Aber damit tritt auch die dargestellte Zeit in zwei verschiedenen Modifikationen auf. Im ersteren Falle schwindet sie schnell dahin und ist in ihrer konkreten Färbung fast nicht fühlbar; Wochen, Monate und Jahre ziehen eigentümlich zusammengefaltet an uns vorbei als gewissermaßen fast leere Intervalle, die nur hier und da durch ein fast punktuell auftretendes Ereignis gefärbt und mit konkretem Leben ausgefüllt werden, ohne daß wir die sich abwickelnde Zeit in ihrer ganzen Kontinuität erfassen und Phase für Phase nachzuleben vermöchten. Die Zeit sinkt hier fast zu einem 255

leeren Schema herab, das uns lediglich die Orientierung in der zeitlichen Anordnung der angedeuteten Ereignisse ermöglicht. Erat wo eine Szene in ihrer konkreten Fülle und in ihrer vollen zeitlichen Ausbreitung zur Schau gestellt wird, haben wir wiederum mit der qualitativ bestimmten, dargestellten Zeit zu tun. Oder anders gesagt: Nur in dem letzteren Falle werden konkrete Zeitphasen in ihrer I n d i v i d u a l i t ä t dar- und evtl. zur Schau gestellt. In den anderen Fällen dagegen wird die zur Darstellung gelangende Zeit nur ihrer a l l g e m e i n e n Struktur nach als Zeit — oder als Zeitphase in einer bestimmten Lage in dem Zeitkontinuum — dargestellt, nicht aber als ein schlechthinniges Individuum in ihrer I n d i v i d u a l i t ä t . Sie wird zwar auch dann als etwas Individuelles vermeint, sie wird aber nicht durch diejenigen schlechthin individuellen Momente p o s i t i v bestimmt, die sie als Individuelles haben müßte. Die letzteren werden hier in Unbestimmtheit gelassen, gerade deswegen, weil sie nur als irgendwelche vermeint werden. Wir stoßen hier wiederum auf etwas, was nur in der dargestellten, aber nicht in der wirklichen Zeit möglich ist, und wir gewinnen dadurch ein neues Argument für die Verschiedenheit der beiden Zeiten. Aber mit diesen zwei verschiedenen Typen der Darstellungsweise der Zeit bzw. der dargestellten Zeit selbst gehen zwei verschiedene Typen der Zeitperspektive zusammen. Bei der bloß „berichtenden" Erzählungsweise werden die dabei dargestellten Zeitperioden immer als vergangen, von einem „späteren", übrigens sonst unbestimmten, Zeitmoment aus aufgefaßt. Eine charakteristische Zeitferne tritt deutlich zutage. Dagegen kann die in ihrer schlechthinnigen Individualität, Phase für Phase in ihrem Verlauf dargestellte Zeit zwar auch als vergangen aufgefaßt werden, sie tritt aber in einer eigentümlichen Nähe auf: der Nullpunkt der zeitlichen Orientierung wird da in jenen vergangenen Zeitmoment hineinversetzt, wo die darzustellende Szene anfängt, und verschiebt sich dann mit der Abwicklung der Geschehnisse stetig in dem zugehörigen Abschnitt des Zeitkontinuums bis zu dem „letzten" Moment dieser Szene. Die vergangenen Zeitphasen werden dadurch in eigentümlicher Weise — nacheinander — „gegenwärtig" gemacht, als ob wir Leser Zeugen der betreffenden Ereignisse wären und „damals" — genauer: in den „damaligen" „Jetzt" — lebten. Wird das Ganze im Modus der Gegenwart entworfen, dann haben wir eine besondere Darstellungsweise, die für die „dramatischen" Werke charakteristisch ist. 256

Die hier durchgeführten Betrachtungen erschöpfen natürlich nicht die sehr mannigfachen und komplizierten Sachlagen, die in der dargestellten Zeit und in ihrer Darstellungsweise möglich sind. Aber als vorläufige Beispielsanalysen können sie den Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen bilden. Sie reichen völlig aus, um uns zu überzeugen, daß es so etwas wie die dargestellte Zeit in der gegenständlichen Schicht des literarischen Werkes gibt und daß sie eine bedeutende Rolle im Aufbau des Werkes spielt1. § 37. Die Abbildungs- und die R e p r ä s e n t a t i o n s f u n k t i o n der d a r g e s t e l l t e n Gegenstände. Man hört oft die Behauptung, daß das literarische Kunstwerk eine „Darstellung" des Lebens oder der Wirklichkeit sei oder gar sein solle. Wie steht es damit in Wirklichkeit ? Vor allem ist es klar, daß diese Rede sich nicht auf das ganze literarische Werk, sondern lediglich auf seine gegenständliche Schicht bezieht. Andererseits handelt es sich bei der Rede von der „Darstellung" des Lebens offenbar um etwas ganz anderes als um die schon von uns untersuchte Darstellung der Gegenstände durch Sachverhalte. Erst die genaue Bestimmung des Sinnes dieser Rede wird uns ermöglichen, zu entscheiden, ob die „Darstellung" der Wirklichkeit in dem noch zu bestimmenden Sinne in einem jeden literarischen Werke vorhanden sein muß. Sehen wir uns nach einem Fall um, in welchem die im literarischen Werke dargestellten Gegenständlichkeiten selbst als eine „Darstellung von etwas" betrachtet werden können, so stoßen wir vor allem auf die sog. „historischen" Romane und Dramen, z.B. Schillers „Wallensteins Tod" oder Shakespeares historische Dramen. In allen diesen Fällen „handelt es sich" — wie man gewöhnlich sagt — z.T. um Peisonen und Geschehnisse, welche dem Leser 1 Es ließen sich z. B. — wie mir scheint — von der Analyse der dargestellten Zeit· aus die wesensmäßigen Unterschiede zwischen echter Lyrik, Epik und Dramatik aufzeigen, obwohl sich natürlich die Verschiedenheit dieser literarischen Gattungen darin gar nicht erschöpft. Was die rein lyrischen Gedichte betrifft, so glaube ich, in meinem Buche „Vom Erkennen des literarischen Werkes", 1937 (polnisch), und in der Abhandlung „Von der sogenannten Wahrheit im literarischen Werke", 1938 (polnisch), gezeigt zu haben, daß die Zeiterscheinung in ihnen auf die erlebte, erfüllte Gegenwart beschränkt ist, und zwar auch dann, wenn das Gewesene in der Form einer Erinnerung zu dieser Gegenwart gehört und sie auf eigentümliche Weise mitbestimmt.

17 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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aus der Geschichte als tatsächlich einmal existierende Personen und Geschehnisse bekannt sind. Dieses „es handelt sich um" hat aber einen besonderen Sinn. Denn wenn dieser Ausdruck so viel bedeuten sollte als „es ist etwas im Satze vermeint", so müßte es sich in einem literarischen Werke immer nur um die dargestellten Gegenständlichkeiten in unserem Sinne „handeln". Dieselben sind aber — unseren Analysen nach — immer von den realen, ehemals wirklich existierenden Personen (Dingen, Geschehnissen) verschieden. Und doch „handelt es sich" — in einem anderen Sinne — in „historischen" literarischen Werken um die realen, einst existierenden Gegenständlichkeiten. Denn z.B. die in literarischen Werken „auftretenden" Personen tragen nicht bloß solche Namen, wie „C. J . Caesar", „Wallenstein", „Richard II." usw., sondern sie sollen auch in gewissem Sinne diese einmal so benannten und tatsächlich existierenden Personen „ s e i n " . Sie sollen mit anderen Worten trotz ihrer prinzipiellen Verschiedenheit von den letzteren doch — ihrem Gehalte nach — so bestimmt sein, daß sie — wenn man so sagen darf — die wirklichen Personen „spielen" könnten, daß sie den betreffenden Personen ihren Charakter, ihre Handlungen, ihre Lebenssituationen „nachmachen" und sich „ganz so wie sie" verhalten könnten. Sie müssen also vor allem „Abbildungen" der einst existierenden und handelnden Personen (Dinge, Geschehnisse) sein, zugleich aber müssen sie das, was sie abbilden, repräsentieren. Wären sie bloße Abbildungen, so würden sie sich nicht bloß von dem, was abgebildet wird, deutlich abheben, sondern sie müßten auch dem letzteren gegenüber als dem „Original", dem „Modell", dem, was das Betreffende selbst ist, in die Rolle des „bloßen Bildes" herabsinken, in die Rolle eines Etwas also, das nicht das Abgebildete selbst ist und auch nicht die gleiche ontische Stelle wie das Abgebildete einnimmt, sondern im Vergleich zu ihm nur ein „Phantom" ist1. Demgegenüber sollen die literarischen „Gestalten" in „historischen" literarischen Werken etwas mehr sein: sie müssen — wie wir eben sagten — das Abgebildete „repräsentieren", d.h. sie müssen das Abgebildete so gut abbilden, daß man wenigstens bis zu einem gewissen Grade vergißt, daß sie „bloß Abbildungen" und nicht das Abgebildete selbst sind. Sie suchen — wie wir im § 25 sagten2 — das Abgebildete (d.h. die einst wirklich existierenden

1 2

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Wie es z.B. bei einer „Photographie" ist. Vgl. oben S. 180 ff.

Gegenständlichkeiten) in sich selbst zu „verkörpern", zu „vergegenwärtigen". Vermöge entsprechender intentionaler Charaktere — deren Seinsgrund in dem bestimmten Typus der quasi-urteilsmäßigen Behauptungssätze liegt — sollen sie sowohl ihr Eigenwesen als Gehalte rein intentionaler Gegenständlichkeiten wie auch ihre faktische Heterogenität dem Abgebildeten gegenüber möglichst verbergen und dadurch nur das zur Schau tragen, worin sie dem Abgebildeten nahekommen und es — wie man sagt — „darstellen" (repräsentieren — wie wir lieber sagen wollen). Gelingt dieses Verbergen der Eigenheiten der Abbildung als solcher, so verdecken die repräsentierenden Gegenständlichkeiten das Abgebildete, treten an seine Stelle und wollen sozusagen selbst das sein, was sie im echten Sinne nicht sind. „Repräsentation" (bzw. „Darstellung" in diesem Sinne) ist also auch ein „Bekanntmachen" mit etwas, sie ist aber von der „Darstellung" des Gegenstandes durch entsprechende Sachverhalte radikal verschieden. Denn es ist ein solches „Bekanntmachen" mit einem von dem Repräsentierenden verschiedenen Etwas, in welchem das Repräsentierende das Repräsentierte „nachmacht", sich selbst als Repräsentierendes verbirgt, um zugleich sich selbst als das vermeintlich Repräsentierte zu zeigen und dadurch das Andere, das es de facto nur repräsentiert, sozusagen aus der Ferne heranzubringen und es selbst in seiner eigenen Gestalt sprechen zu lassen. Es ist ein „Darstellen", in welchem das Darstellende unecht das Dargestellte ist und zugleich die Echtheit des „Originalseins" vortäuscht. Dadurch kommt das Dargestellte in den direkten Blick des Betrachters (wenn der letztere dieser nur vorgetäuschten Echtheit Glauben schenkt), obwohl es ihm de facto wesensmäßig nicht gegenwärtig ist. Und noch eins: Die Funktion der Repräsentation gründet hier in der Abbildungsfunktion der dargestellten Gegenstände (in unserem früher bestimmten Sinne). Sie ist somit von der Darstellungsfunktion der Sachverhalte in dieser Hinsicht radikal verschieden. Während nämlich die Sachverhalte keine „Bilder" der dargestellten Gegenstände sind, sondern sie nur „enthüllen", indem sie eben die in den entsprechenden Gegenständen bestehenden Sachverhalte sind, sind die „darstellenden", d.h. die repräsentierenden Gegenstände Abbilder des Abgebildeten vermöge der zwischen ihnen bestehenden Ähnlichkeit. Es ist also bei den l i t e r a r i s c h e n „historischen" Werken gerade umgekehrt wie bei einem w i s s e n s c h a f t l i chen historischen Werke. Während in dem letzteren die rein intentionalen Gegenständlich17·

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keiten, ihrem Gehalte nach, den entsprechenden wirklichen Gegenständen angepaßt und mit den letzteren identifiziert werden und dadurch — wie wir uns ausdrückten — vollkommen „durchsichtig" werden, so daß die Bedeutungsintentionen das Reale direkt in ihm selber treffen und das rein Intentionale aus dem Blickfelde verschwindet, tritt hier im Gegenteil der rein intentionale Gegenstand — als vermeintlich „realer" — auf den ersten Plan und sucht sozusagen den entsprechenden realen, repräsentierten Gegenstand zu verdecken, indem er sich selbst für ihn ausgibt. Es hängt natürlich von der Art ab, wie das Werk aufgefaßt wird, ob die durch die dargestellten Gegenständlichkeiten ausgeübte Funktion der Repräsentation wirklich erfaßt wird. Wird aber die Auffassung des Werkes durch den Leser dem Eigenwesen des Werkes gerecht, so kommt es trotz der Tendenz des repräsentierenden Gegenstandes, den repräsentierten zu vertreten, sich als er selbst zu geben, nie zur v o l l k o m m e n e n Verdeckung des repräsentierten Gegenstandes. Immer bleibt der Bezug auf das Repräsentierte, und immer wird das, was sich für einen anderen Gegenstand ausgibt, in seiner Unechtheit, in seinem „bloß den Anderen Repräsentieren" miterfaßt, solange natürlich der Leser die quasi-urteilsmäßigen Behauptungssätze nicht (fälschlich) für echte Urteile hält und nicht aus einem Werke „der schönen Literatur" einen Tatsachenbericht oder ein wissenschaftliches Werk macht. Die dargestellten Gegenständlichkeiten üben ganz zweifellos nicht in einem jeden literarischen Werke die Abbildungs- und die Repräsentationsfunktion aus. Wenn man also das Gegenteil behauptet, so ist das nur dann richtig, wenn die Rede von der „Darstellung" wiederum etwas anderes bedeutet. Man hat dann gewöhnlich im Auge, daß die dargestellten Gegenständlichkeiten ihrem Gehalte nach bestimmten realen, dem Verfasser oder dem Leser aus der Erfahrung bekannten Gegenständen in irgendeiner Hinsicht ähnlich sind1. Diese Ähnlichkeit wird dann oft durch den Leser im Sinne einer Abbildungsfunktion gedeutet. Der Leser tritt nämlich oft an die Lektüre eines Werkes mit der Erwartung heran, daß ihm der Verfasser irgend etwas Interessantes aus dem Gebiete seiner Erfahrung „erzählen" wird. Er sucht auch oft im literarischen Werke Gegenständlichkeiten und Situationen, die denjenigen, wel1 Über den Unterschied zwischen „Ähnlich-sein" und „Bild-sein" vgl. E. Husserl, „Log. Untersuchungen", Bd. II. Unters. VI.

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che er aus seinem Leben kennt, ähnlich wären, und hält das Werk für „wahr", wenn er solche Gegenständlichkeiten im Werke tatsächlich findet. Umgekehrt führt auch die naive Tendenz des Lesers, das Werk nach dem Gesichtspunkt der „Wahrheit" oder „Unwahrheit" zu beurteilen1, zu der Hineindeutung der Abbildungsund evtl. auch der Repräsentationsfunktion in die gegenständliche Schicht. Aber all diese Fälle sind nur durch eine unangemessene Weise zu lesen bedingt und haben mit dem wirklichen Aufbau der betreffenden Werke selbst wenig zu tun.

§ 38. Die U n b e s t i m m t h e i t s s t e l l e n der d a r g e s t e l l t e n Gegenständlichkeiten. Es ist jetzt an der Zeit, eine Wesenseigentümlichkeit der dargestellten Gegenständlichkeiten zu besprechen, welche sie von den realen Gegenständen radikal unterscheidet. Auf zwei besondere Fälle sind wir schon bei der Besprechung des dargestellten Baumes und der dargestellten Zeit gestoßen. Sie tritt mit besonderer Deutlichkeit dort hervor, wo die dargestellten Gegenständlichkeiten ihrem Gehalte nach dem Typus realer Gegenstände angehören, und ergibt sich daraus, daß diese Gegenständlichkeiten durch eine endliche Anzahl von Bedeutungseinheiten verschiedener Stufe entworfen werden. Im Wesen eines jeden realen Gegenstandes liegt u.a.: 1. Jeder reale Gegenstand ist a l l s e i t i g (d.h. in jeder Hinsicht) e i n d e u t i g b e s t i m m t . Allseitiges eindeutiges Bestimmtsein besagt, daß der reale Gegenstand in seinem gesamten Sosein keine Stelle aufweist, an welcher er in sich selbst überhaupt nicht, also weder durch ein A noch durch ein Non-Α, bestimmt wäre, und zwar nicht so bestimmt wäre, daß, solange A in einer bestimmten Hinsicht seine Bestimmtheit ist, er zugleich in derselben Hinsicht nicht Non-Α sein kann. Oder dasselbe kurz gesagt: Er weist in seinem Sosein keine Unb e s t i m m t h e i t s s t e l l e auf. Dies gehört zu dem einsichtigen Wesen des realen Gegenstandes, so daß es widersinnig wäre, das Gegenteil zu behaupten. 2. Alle Bestimmtheiten des realen Gegenstandes zu1 Ob und in welchem Sinne in einem literarischen Kunstwerke trotz der quasiurteilsmäßigen Modifikation der Behauptungssätze von „Wahrheit" oder „Unwahrheit" gesprochen werden kann, werden wir später sehen. Vgl. Kap. 10.

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sammen bilden eine ursprüngliche konkrete Einheit. Erst wenn sie durch ein Erkenntnissubjekt voneinander unterschieden und für sich erfaßt werden, werden sie aus ihrem ursprünglichen Zusammengewachsensem i n t e n t i o n a l hervorgeholt und bilden dann eine unendliche, d.h. unausschöpfbare Mannigfaltigkeit. Die Reihe der Erkenntnisoperationen, in welchen die einzelnen Bestimmtheiten eines und desselben realen Gegenstandes nacheinander zur Erfassung gelangen, ist wesensmäßig unabschließbar : so viele Bestimmtheiten des betreffenden Gegenstandes bis zu einem bestimmten Moment erfaßt wurden, immer bleiben noch weitere Bestimmtheiten, die noch zu erfassen sind. Infolgedessen können wir bei einer originären Erkenntnis, die sich in endlicher Mannigfaltigkeit von Akten vollzieht, nie wissen, wie ein bestimmter realer Gegenstand in jeder Hinsicht bestimmt ist; die überwiegende Mehrzahl seiner Eigenschaften bleibt uns immer verborgen. Aber das besagt nicht, daß er in sich selbst nicht allseitig eindeutig bestimmt wäre, sondern lediglich, daß er bei dieser Art seiner Erkenntnis, die auf dem Wege der Erfassung seiner einzelnen Bestimmtheiten vor sich geht, seinem Wesen nach in einer endlichen Reihe von Erkenntnisoperationen nur i n a d ä q u a t erfaßbar ist. 3. Jeder reale Gegenstand ist s c h l e c h t h i n i n d i v i d u e l l ; d.h.: Soll ihm überhaupt eine Bestimmtheit A zukommen, so muß sie individuell sein. Das bedeutet zweierlei: I. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß ihm eine Bestimmtheit Β zukommt, die hinsichtlich ihrer Washeit Konkretisierung einer „allgemeinen", generellen idealen Wesenheit ist ; soll aber Β einem realen Gegenstande zukommen, so muß die in Frage kommende Wesenheit „individuiert" werden. Z.B.: Ist ein realer Gegenstand „farbig", so ist dieses „Farbigsein" solcherart, daß beliebig viele reale Gegenstände „farbig" sein können. Die Wesenheit „Farbe" ist selbst eine generelle, gattungsmäßige Wesenheit, aber in dem einzelnen realen Gegenstande ist nur — wie Husserl sagen würde — ihre „Vereinzelung" vorhanden. II. Kein realer Gegenstand kann eine solche „generelle" (individuierte) Bestimmtheit in sich enthalten, ohne daß zugleich irgendeine der n i e d e r s t e n Differenzen (der „eidetischen Singularitäten" im Sinne Husserls) der in Frage kommenden „Gattung" in ihm konkretisiert wäre. Beispiel: Ist ein bestimmter realer Gegenstand in einer bestimmten Zeit „farbig", so ist auch die Farbenqualität eindeutig bestimmt und nicht mehr differenzierbar. Es ist somit wesensmäßig ausgeschlossen, daß ein realer Gegenstand „farbig", 262

aber weder „rot" in einer ganz bestimmten Nuance noch „gelb" (ebenfalls in einer ganz bestimmten Nuance) usw. wäre. Und dies betrifft eine jede ihm überhaupt in einem bestimmten Zeitmoment zukommende generelle Bestimmung1. Wesentlich anders verhält es sich in allen drei angegebenen Hinsichten mit den in literarischen Werken dargestellten und überhaupt mit allen rein intentionalen Gegenständlichkeiten. Und zwar betrifft diese Andersheit lediglich ihren Gehalt. Sie werden im literarischen Werke auf doppeltem Wege intentional entworfen : durch nominale Ausdrücke und durch volle Sätze, indem die letzteren bestimmte Sachverhalte entfalten, in welchen die Gegenständlichkeiten zur Darstellung und zur Konstitution gelangen. Die Vollendung eines jeden Sachverhaltes führt — wie wir früher gezeigt haben — zur Konstituierung einer absoluten oder relativen Bestimmtheit des Subjektsgegenstandes bzw. der an dem jeweiligen Sachverhalt beteiligten Gegenständlichkeiten. Hätten die Bestimmtheiten der dargestellten Gegenständlichkeiten ihren Konstitutionsgrund lediglich in den vollendeten Sachverhalten, so müßte ihre Zahl in jedem literarischen Werk, das eine endliche Anzahl von Sätzen enthält2, ebenfalls endlich sein. Indessen werden die dargestellten Gegenständlichkeiten auch durch die nominalen Ausdrücke, die in den Sätzen auftreten, entworfen. Infolgedessen scheint es möglich zu sein, daß ihnen — ihrem Gehalte nach — eine unendliche Mannigfaltigkeit von Bestimmtheiten zukommt. Dies ist um so wahrscheinlicher, als die nominalen Ausdrücke vermöge des formalen Inhalts ihre Gegenstände als ursprüngliche Einheiten entwerfen. Und unzweifelhaft : Was die Form der nominal entworfenen Gegenstände betrifft, so ist sie die Form einer ursprünglichen kon1 Wenn wir all dies hier mit einem solchen Nachdruck hervorheben, so geschieht es nicht nur, um den Kontrast der realen Gegenständlichkeiten zu den dargestellten zu enthüllen, sondern auch, weil man in verschiedenen idealistisch tendierenden philosophischen Werken unserer Zeit das Gegenteil von den realen Gegenständlichkeiten behauptet und eo ipso den Weg zu der Reduzierung der realen Gegenstände auf rein intentionale Gegenständlichkeiten geöffnet hat (vgl. E. Husserl, „Ideen", S.49). Ob die existentiale Setzung eines so gebauten realen Gegenstandes überhaupt begründet ist, das ist eine erkenntnistheoretische Frage; ihre Lösung hat aber die formal-ontologische Entscheidung über die formale Struktur der realen Gegenständlichkeit zur Voraussetzung. Und nur im Sinne einer formal-ontologischen Behauptung sind unsere obigen Feststellungen zu verstehen. Vgl. dazu meine Ausführungen in „Bemerkungen zum Problem Idealismus-Realismus" in der Festschrift für E. Husserl, Halle 1929. 2 Jedes faktisch existierende literarische Werk enthält nur eine endliche Anzahl von Sätzen. Ob dies aber wesensnotwendig ist, wollen wir hier nicht untersuchen.

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kreten Einheit, die in sich eine unendliche Mannigfaltigkeit von Soseinsbestimmtheiten potentiell enthält. Aber diese Form ist bei den dargestellten Gegenständlichkeiten nur ein Schema, das — im Unterschiede zu der Form der realen, bzw. allgemeiner: der seinsautonomen Gegenstände — nie voll durch materiale Bestimmtheiten ausgefüllt werden kann. Denn bei den einfachen nominalen Ausdrücken, wie z.B. „Tisch", „Mensch" usw., wird der zugehörige intentionale Gegenstand explicite und actualiter hinsichtlich seiner materialen Ausstattung nur in einem Moment seiner konstitutiven Natur entworfen, so daß schon z.B. die zum Menschsein gehörigen unentbehrlichen materialen Bestimmtheiten nur implicite und potentialiter mitvermeint werden. Wird ein individueller Gegenstand „Mensch" genannt und in dieser Nennung entworfen und materialiter als ein solcher bestimmt, so sind damit noch nicht alle seine (an Zahl unendlich vielen) Eigenschaften positiv eindeutig bestimmt. Die meisten von ihnen werden durch den potentiellen Bestand der nominalen Wortbedeutung nur als irgendwelche aus dem Bereich der möglichen Fälle eines bestimmten TypuB von Bestimmtheiten mitvermeint, aber zugleich in ihrer Washeit nicht eindeutig angegeben. Sie sind deswegen in dem betreffenden rein intentionalen Gegenstande in ihrer konkreten W a s h e i t überhaupt nicht vorhanden. Und gerade deswegen, weil dieser Gegenstand zugleich formaliter als eine konkrete Einheit, die unendlich viele, miteinander verwachsene Bestimmtheiten in sich birgt, vermeint und eben damit als ein solcher intentional geschaffen wird, entstehen in ihm „Unbestimmtheitsstellen", und zwar an Zahl unendlich viele. Diese Unbestimmtheitsstellen sind prinzipiell durch keine endliche Bereicherung des Inhalts eines nominalen Ausdrucks ganz zu beseitigen. Sagen wir statt bloß „Mensch" „ein alter, erfahrener Mensch", so werden zwar durch die Hinzufügung der attributiven Ausdrücke einige Unbestimmtheitsstellen beseitigt, aber es bleiben noch immer unendlich viele zu beseitigen, die erst in einer unendlichen Reihe von Bestimmungen verschwinden würden. Fängt z.B. eine Erzählung mit dem Satze an: „An einem Tische saß ein älterer Mann . . ." usw., so ist dieser dargestellte „Tisch" zwar „Tisch" und z.B. nicht ein „Sessel", ob er aber z.B. aus Holz oder aus Eisen, vierbeinig oder dreibeinig usw. ist, das ist überhaupt nicht gesagt und somit — bei einem rein intentionalen Gegenstand — n i c h t bestimmt. Das Material, aus dem er verfertigt ist, ist überhaupt unqualifiziert, obwohl er aus irgendwelchem bestehen 264

muß. Und somit ist seine Qualifizierung in dem betreffenden Gegenstande überhaupt nicht vorhanden: eine „Leer-", eine „Unbestimmtheitsstelle" ist da. Bei einem realen Gegenstande sind — wie gesagt — derartige Leerstellen nicht möglich. Höchstens kann z.B. das Material unbekannt sein1. Hier, wo der rein intentionale Gegenstand nur diejenigen Momente in seinem Gehalte enthält, die in der vollen Wortbedeutung ihren Entwerfungs- und somit auch ihren Seinsgrund haben, fehlt eben (in unserem Beispiel) der Seinsgrund der Materialqualifizierung, solange diese Qualifizierung nicht durch ein besonderes Bedeutungsmoment entworfen wird. Also weder ist der dargestellte Gegenstand seinem Gehalte nach allseitig eindeutig bestimmt, noch ist die Zahl der ihm p o s i t i v zugewiesenen, und auch der nur mitdargestellten, eindeutig bestimmten Bestimmtheiten unendlich: nur ein formales Schema von unendlich vielen Bestimmungsstellen wird entworfen, aber sie bleiben fast alle unausgefüllt2. In dem Gehalte des dargestellten Gegenstandes sind aber „Unbestimmtheitsstellen" auch aus einem anderen Grunde vorhanden, welcher mit der Individualität des realen Gegenstandes zusammenhängt. Denn auch hinsichtlich der Individualität unterscheidet sich der als real nur vermeinte dargestellte Gegenstand von dem im echten Sinne realen. Zwar wird er wiederum vermöge des entsprechenden Moments des formalen Inhalts einer nominalen Wortbedeutung als „individueller" vermeint und sogar evtl. zur Kennzeichnung dessen mit einem Eigennamen benannt. Aber dies allein reicht noch nicht dazu aus, zu erzwingen, daß zu einer jeden „generellen" Bestimmtheit, die ihm zugewiesen wird, auch eine entspre1

Dies wurde in einer Zeit geschrieben, in welcher die später so berühmt gewordene „Unbestimmtheitsrelation" H e i s e n b e r g s in der Quantenmechanik gar nicht bekannt war. Diese Relation ergibt sich bekanntlich nicht aus der Endlichkeit der Zahl der physikalischen Sätze, sondern aus den Prinzipien der Quantenmechanik selbst, allerdings bei der Einstellung der modernen Physik, nur das für real anzuerkennen, was durch die physikalischen Sätze bestimmt wird. Es wäre zu zeigen, in welchem Sinne diese Relation mit den „Unbestimmtheitsstellen" in rein intentionalen Gegenständen im Zusammenhang steht. 2 Trotz seines ganzen Psychologismus und einer erheblichen Mangelhaftigkeit seiner Analyse der Sprache sieht Th. A. Meyer ganz deutlich (und legt sogar Nachdruck darauf), daß die Bedeutungseinheiten verschiedener Stufe nur derartige „Fragmente" der Wirklichkeit, nur eine „Auswahl" von gegenständlichen Zügen — wie Meyer sagt — bestimmen können (vgl. I.e. S. 14,23,42 u.ö.). Meyer hat sich aber weder den eigentümlichen Bau der im literarischen Werke dargestellten Gegenständlichkeiten zum Bewußtsein gebracht, noch die Scheidung zwischen den einzelnen Schichten des Werkes bewußt vollzogen.

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chende „individuelle" Bestimmtheit (eine Bestimmtheit, die Konkretisation einer „eidetischen Singularität" ist) zugeordnet werde. Der materiale Inhalt der nominalen Wortbedeutung kann dies im allgemeinen nicht leisten. Die meisten von uns verwendeten nominalen Ausdrücke sind allgemeine Namen. Wir begnügen uns bei der Beschreibung der Dinge mit solchen Angaben wie z.B. „eichener" Stuhl oder „rote" Kugel usw. Die genaue Angabe z.B. der Rotnuance ist sehr umständlich und oft für uns und auch für den Zusammenhang in einem literarischen Werke völlig irrelevant. So bleibt es gewöhnlich bei der Verwendung von allgemeinen nominalen Ausdrücken, aber damit werden auch die „individuellen" Bestimmtheiten der entsprechenden dargestellten Gegenstände in Unbestimmtheit gelassen. Daß sie „irgendwelche" aus dem Variabilitätsbereiche einer „generellen" Bestimmtheit sind, ist unzweifelhaft. Und die „Variablen"1 in dem materialen Inhalt der entsprechenden nominalen Wortbedeutungen sind es eben, die solche „irgendwelche" Bestimmtheiten eines besonderen Typus intentional entwerfen. Aber welche es gerade sind, das bleibt vollkommen offen. Und erst' eine nachträgliche nominale Wortbedeutung oder ein entworfener Sachverhalt kann es nâhèr bestimmen. Also ist wiederum eine Unbestimmtheitsstelle in dem Gehalte des dargestellten Gegenstandes enthalten, obwohl eines anderen Typus als die oben besprochenen. Und der Grund ihres Vorhandenseins liegt in einer anderen Eigentümlichkeit der Bedeutungsschicht des literarischen Werkes. Im Resultat: Der dargestellte, seinem Gehalte nach „reale" Gegenstand ist kein im echten Sinne allseitig vollkommen eindeutig bestimmtes Individuum, das eine ursprüngliche Einheit bildet, sondern nur ein s c h e m a t i s c h e s Gebilde mit verschiedenartigen Unbestimmtheitsstellen und mit einer endlichen Anzahl von den ihm positiv zugewiesenen Bestimmtheiten, obwohl er formaliter als ein vollbestimmtes Individuum entworfen wird und ein solches Indidivuum vorzutäuschen berufen ist. Dieses schematische Wesen der dargestellten Gegenstände läßt sich in keinem endlichen literarischen Werke beseitigen, obwohl im Fortgange des Werkes immer neue Unbestimmtheitsstellen durch Ergänzung neuer, positiv entworfener Eigenschaften ausgefüllt und damit beseitigt werden können. Man könnte sagen, daß ein jedes literarische Werk in bezug auf die Bestimmung der in ihm dargestellten Gegenständlichkeiten prin1

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Vgl. unsere früheren Ausführungen im 5. Kapitel, § 15, S. 62 ff.

zipiell unfertig sei und eine immer weitergehende Ergänzung fordere, die aber textmäßig nie zu Ende geführt werden kann1. Die eben besprochenen Sachlagen bilden eine Eigentümlichkeit der literarisch dargestellten Welt, die sie radikal von jedem realen, aber auch von jedem idealen seinsautonomen individuellen Gegenstand unterscheidet und die zugleich den Grund und die Möglichkeit dessen bildet, was wir später das „Leben" des literarischen Werkes nennen und genauer analysieren werden2. Sie ist es auch, die eine streng genaue, in keiner Hinsicht über das rein textmäßig Festgelegte hinausgehende Realisierung der dargestellten Welt — etwa in einer Theateraufführung — ausschließt. Und doch — könnte uns jemand einwenden — spüren wir bei einer Lektüre keine „Lücken", keine „Unbestimmtheitsstellen" in den dargestellten Gegenständen. Die letzteren treten uns in der ästhetischen Erfassung ganz so, als ob sie in der erwogenen Hineicht reale Gegenstände wären, entgegen, nur daß sie — wie wir wissen — „bloß phantasiert" sind. Wir wollen diese Tatsache gar nicht bestreiten. Sie ändert aber nichts an unseren Feststellungen. Im Gegenteil. Es ist gerade bei unserer Auffassung selbstverständlich, daß wir uns gewöhnlich die Unbestimmtheitsstellen nicht zum Bewußtsein bringen. Denn erstens bekommen wir — bildlich gesagt — die dargestellten Gegenstände immer nur von derjenigen Seite zu Gesicht, die durch die Bedeutungseinheiten gerade positiv bestimmt wird. Erst eine nachträgliche Reflexion über die Bedingungen der Konstitution der dargestellten Gegenstände sowie über die Tatsache, daß manche Fragen nach einzelnen Bestimmtheiten der letzteren prinzipiell unbeantwortbar sind3, läßt in uns das Bewußtsein von dem Vorhandensein der Unbestimmtbeitsstellen aufkommen. Zweitens aber werden manche von den Unbestimmtheitsstellen durch die parat gehaltenen Ansichten verdeckt, die durch die Bedeutungseinheiten vorbestimmt und bei der Lektüre durch die Leser aktualisiert werden4. Drittens endlich wirkt in demselben Sinne die Tatsache, daß der Leser bei der Lektüre und 1

Wenn wir beachten, daß auch ein jedes wissenschaftliche Werk ein „literarisches Werk" besonderer Art ist, so hat dies sehr wichtige wissenschaftstheoretische Konsequenzen. 2 Vgl. im folgenden 13. Kapitel. 3 Eben alle diejenigen Fragen, die solche Bestimmtheiten betreffen, welche ein dargestellter Gegenstand besitzen würde, wenn eine seiner Unbestimmtheitsstellen b e s e i t i g t wäre. 4 Vgl. das nächste Kapitel.

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der ästhetischen Eifassung des Werkes gewöhnlich über das rein textmäßig Vorhandene (bzw. durch den Text Entworfene) h i n a u s geht und die dargestellten Gegenständlichkeiten in verschiedener Hinsicht ergänzt, so daß wenigstens manche von den Unbestimmtheitsstellen beseitigt und dabei übrigens oft durch solche Bestimmtheiten ausgefüllt werden, die durch den Text nicht bloß nicht bestimmt sind, sondern auch mit den durch ihn positiv bestimmten gegenständlichen Momenten nicht zusammenstimmen. Mit einem Wort: Es ist das literarische Werk selbst von seinen jeweiligen Konkretisationen zu scheiden, und nicht alles, was in bezug auf die Konkretieationen des Werkes gilt1, gilt auch von dem Werk selbst. Aber gerade daß von ein und demselben literarischen Werke beliebig viele Konkretisationen möglich sind, die sowohl von dem Werke selbst oft in erheblichem Maße abweichen, als auch untereinander gehaltlich sehr verschieden sind, hat seinen Grund u. a. in dem schematischen, die Unbestimmtheitsstellen zulassenden Aufbau der gegenständlichen Schicht des literarischen Werkes. Es ist aber noch folgendes zu beachten : Unter den Unbestimmtheitsstellen muß man diejenigen, die sich rein auf Grund des Textes durch Ergänzung beseitigen lassen, von solchen unterscheiden, bei welchen dies nicht in demselben Sinne statthat. Im ersteren Falle schreiben die darstellenden Sachverhalte eine fest umgrenzte Mannigfaltigkeit von möglichen Ausfüllungen der Unbestimmtheitsstellen vor, aus welcher wir dann bei der Lektüre diese oder andere auswählen können, falls wir diese Ausfüllung im Einklang mit den schon festgelegten Bestimmtheiten der dargestellten Gegenstände durchführen wollen. Im zweiten Falle dagegen reichen die durch den Text festgelegten Sachverhalte nicht aus, um eine fest umgrenzte Mannigfaltigkeit von möglichen Ausfüllungen vorzuschreiben. Jede solche faktisch durchgeführte „Ausfüllung" bzw. Näherbestimmung ist dann vollkommen von der Willkür des Lesers (bzw., bei einem „Schauspiel", des „Regisseurs") abhängig2. Aber auch in dem ersteren Falle ist der Leser nicht gezwungen, gerade eine aus den durch die darstellenden Sachverhalte vorbestimmten Möglichkeiten auszuwählen. Denn das literarische Werk muß nicht notwendig „konsequent" sein bzw. sich an die Grenzen des innerhalb der uns faktisch bekannten Welt Möglichen halten. Sowohl das bei 1

Vgl. im folgenden 13. Kap. Daß überhaupt so etwas wie ein „Regisseur" möglich und auch unentbehrlich ist, beweist aufs Neue die Richtigkeit unserer Auffassung. 2

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einem vorgegebenen Gegenstands- und Situationstypus „Unwahrscheinliche" als auch das in einer bestimmten Seinssphäre Unmögliche ist prinzipiell intentional entwerfbar und darstellbar, wenn es auch oft nicht zur Schau gestellt werden kann. Wenigstens die Ergebnisse der Betrachtung der bisher erwogenen Schichten des literarischen Werkes verbieten in keinem Sinne unwahrscheinliche und unmögliche Gegenstände und Situationen, falls es sich lediglich um die Frage nach der Seinsmöglichkeit der dargestellten Gegenständlichkeiten sowie nach ihrem möglichen Entworfensein durch Satzsinngehalte handelt. Es kann prinzipiell literarische Werke geben, die sich gar nicht um das Verbleiben innerhalb eines besonderen Gegenstandstypus kümmern, sondern gerade dadurch einen besonderen ästhetischen Eindruck ausüben können, daß sie eine faktisch unmögliche, aber auch über die Grenzen, welche durch das regionale Wesen der Realität bestimmt sind, hinausgehende, widerspruchsvolle Welt zur Darstellung bringen. Wir haben es dann mit einem grotesken Tanz von Unmöglichkeiten zu tun. Inwiefern eine solche „unmögliche" Welt zur Scbau gestellt werden kann und welche ästhetischen Wertqualitäten und Werte sie dann zuläßt, das sind Fragen, die ganz neue Gesichtspunkte einführen, welche unzweifelhaft fest geregelte Bindungen für die zulässigen Ausfüllungen der Unbestimmtheitsstellen fordern. Erst eine speziell darauf eingestellte Untersuchung könnte aber die entsprechenden Einzelheiten und Gesetzmäßigkeiten innerhalb einer allgemeinen Betrachtung der möglichen Stilarten herausstellen. Wir müssen uns hier mit dieser Andeutung begnügen. In unseren Zusammenhang gehört dagegen die früher schon gestreifte Tatsache, daß die Zwei- bzw. Mehrdeutigkeit des Textes eine Zwie- bzw. Mehrspältigkeit der intentionalen Korrelate herbeiführt. Schon das unmittelbare Satzkorrelat (der rein intentionale Sachverhalt) zeigt in diesem Falle, wie wir gesehen haben, eine opalisierende Zwiespältigkeit. Da er im literarischen Werke die Rolle des Konstituierens und des Darstellens der Gegenstände ausübt, so spiegelt sich seine Zwiespältigkeit in dem ihm zugehörigen Dargestellten wider. Dabei kann es natürlich noch verschiedene Fälle geben, je nach dem Maße und je nach der Art der gegebenenfalls vorhegenden Mehrdeutigkeit. Es kann vorkommen, daß die Zwiespältigkeit des Sachverhalts die Identität des dargestellten Gegenstandes nicht sprengt, sondern ihm nur sozusagen zwei verschiedene Eigenschaften beilegt, aber auf die Weise, daß keine von ihnen dem 269

Gegenstande endgültig zukommt, sondern beide zugleich den Anspruch erheben, ihm zuzukommen, und daß infolgedessen nicht beide mit ihm in die ursprüngliche Einheit der Inexistenz voll einzugehen vermögen. Daraus entspringt eine gewisse Unruhe in dem Gegenstande, ein Zustand, in welchem das Gleichgewicht gestört wird. Der Gegenstand neigt sozusagen dazu, jede der beiden Eigenschaften zu haben, und vermag dies nicht, weil die Eigenschaften, die ihm zukommen sollen, sich gegenseitig abstoßen und jede die andere zu verdrängen sucht. Es ist also auch hier das Phänomen der Opalisierung vorhanden, das wir früher zu beschreiben suchten. Im Grunde bleibt dieses Phänomen auch dann bestehen, wenn die Vieldeutigkeit des Textes so weit geht, daß die Identität des Gegenstandes nicht bewahrt werden kann. Nur daß in diesem Falle sozusagen zwei G e g e n s t ä n d e prätendieren, in der dargestellten Welt einen Platz einzunehmen, und keiner von ihnen sich wirklich darin festsetzen kann. Es kann auch vorkommen, daß die Vieldeutigkeit mit einer gewissen Konsequenz in mehreren Sätzen durchgeführt wird; dann betrifft dieses Opalisieren ganze Sphären von Gegenständen, so daß zwei verschiedene Welten gewissermaßen um den Vorrang streiten und keine von ihnen sich festzulegen vermag. Das sind natürlich ebenfalls Phänomene, die nur in der Sphäre der rein intentionalen, seinsheteronomen Gegenständlichkeiten möglich sind und die als solche besonders geeignet sind, die Eigentümlichkeit dieser Sphäre den seinsautonomen gegenständlichen Seinsregionen gegenüber zur Abhebung zu bringen. Ehe wir zu weiteren Eigentümlichkeiten der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten und zu der Besprechung ihrer Bolle im literarischen Werke übergehen, wird es praktisch sein, zunächst die Ansichten ausführlicher zu analysieren, welche diese Gegenständlichkeiten zur Erscheinung bringen. 8. Kapitel. Die Schicht der schematisierten Ansichten. § 39. E i n l e i t u n g . Wir haben früher darauf hingewiesen, daß die dargestellten Gegenstände durch die Sachverhalte nur zur Schau g e s t e l l t , aber nicht wirklich zur anschaulichen Erfassung gebracht werden können 270

und daß es im literarischen Werke noch eines besonderen Faktors bedarf, damit die anschauliche Erscheinung der dargestellten Gegenständlichkeiten vorbereitet werden kann. Diesen Faktor bilden eben — wie schon erwähnt — die Ansichten1 der dargestellten Gegenständlichkeiten. Sie bilden eine besondere und — wie sich zeigen wird — gerade in einem literarischen Kunstwerke sehr bedeutende Schicht. Es ist jetzt an der Zeit, an ihre Betrachtimg heranzutreten2. Lassen wir hier dahingestellt, ob im literarischen Kunstwerke auch Gegenstände zur Zurschaustellung gelangen können, die ihrem Gehalte nach nicht dem Typus der realen Gegenstände angehören, so ist es jedenfalls zunächst eine Tatsache, daß in den historisch vorliegenden literarischen Kunstwerken immer in erster Linie „reale" Gegenständlichkeiten dargestellt werden. Wenigstens für diese Werke gilt es also, daß sie mit den Bedingungen rechnen müssen, unter welchen die in ihnen dargestellten, ihrem Gehalte nach „realen" Gegenständlichkeiten zur anschaulichen Gegebenheit kommen können. Und da die letztere sich nach den Wesenszügen der orig i n ä r e n wahrnehmungsmäßigen Gegebenheit der realen Gegenstände richtet, so müssen wir uns zunächst mit den wahrnehmungsmäßigen Erscheinungsweisen der Dinge, wenigstens den Hauptpunkten nach, beschäftigen. § 40. D a s w a h r g e n o m m e n e D i n g und die k o n k r e t e n w a h r n e h m u n g s m ä ß i g e n Ansichten. Unter den realen Gegenständlichkeiten, die hier in Betracht kommen, können wir einerseits die realen Dinge und Vorgänge der dem jeweiligen psychischen Individuum „äußeren" Welt3, anderer1 Es wird sich bald herausstellen, daß hier nicht die konkreten Ansichten, sondern nur gewisse Schemata von ihnen in Betracht kommen. 2 Zu dem ganzen 8. Kapitel ist an die Betrachtungen zu erinnern, die L e s s i n g im „Laokoon" über das von ihm so genannte „poetische Bild" durchgeführt hat. Er richtet sich nicht gegen das Vorhandensein der schematisierten Ansichten im literarischen Kunstwerk, sondern lediglich gegen eine bestimmte, künstlerisch fehlerhafte Methode, das anschauliche Moment in das literarische Kunstwerk einzuführen, und weist auf das Wesen des „poetischen Bildes" hin, womit er nur demjenigen Moment des literarischen Kunstwerks sich nähert, das wir hier die Schicht der schematisierten Ansichten nennen. ® Worunter hier neben rein physischen Dingen auch fremde Leiber und fremde seelische Zustände, die in leiblichen Ausdruckserscheinungen zur Gegebenheit gelangen, verstanden werden sollen.

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seits „eigene" psychische Erlebnisse, Zustände und dauernde Charakterzüge gegenüberstellen. Diese verschiedenen Gegenständlichkeiten gelangen in sehr mannigfachen Erscheinungsweisen zur Gegebenheit1. Es liegt da ein sehr weites Feld von Phänomenen vor, das nur in einem kleinen Teile in den bisher erschienenen phänomenologischen Arbeiten durchforscht wurde. Da wir hier nicht eine besondere Untersuchung dieser Phänomene durchführen können, so greifen wir aus ihnen nur das heraus, was für unsere Zwecke ganz unentbehrlich ist2. Vor allem kommt hier die äußere „sinnliche" Wahrnehmung in Betracht. Von dem sehr komplizierten Gesamtbestande, der bei ihr vorliegt, richten wir unser Augenmerk nur auf die „Ansichten"®, in denen das wahrgenommene Ding zur leibhaften Selbstpräsentation gelangt. Wenn wir eine rote Kugel visuell wahrnehmen und sie in ihrer leibhaftig auftretenden Kugelgestalt erfassen, so belehrt uns eine entsprechende Einstellungsänderung, daß wir während des Wahrnehmens ständig wechselnde, ichfremde und doch nicht gegenständlich gegebene anschauliche „Ansichten" einer und derselben Kugel erleben 4 . Die Ansicht ist nicht die Kugel selbst, obwohl die letztere in ihr zur Erscheinung gebracht wird. Die Kugel — genau so genommen, als was sie wahrgenommen wird, — befindet sich „dort" im Räume, ist kugelig und hat somit auch eine von dem Wahrnehmenden gerade abgewandte Seite und das Innere. Sie ist uns als eine solche gegeben. Sie hat — falls sie überhaupt existiert — ihr Eigensein, und es ist für sie etwas ganz Zufälliges, daß sie von irgend jemandem wahrgenommen wird. Durch die Tatsache des 1

Vgl. unten § 43. Die nähere Begründung einer Reihe von Behauptungen, die wir in diesem Kapitel aussprechen, muß einer besonderen, späteren Publikation vorbehalten werden. Im übrigen verweisen wir hier auf die bekannten Arbeiten von E. Husserl, W. Schapp, H. H o f m a n n , H. Conrad-Martius und 0. Becker. 3 Den Ausdruck „Ansicht" hat Husserl in seiner Göttinger Zeit oft verwendet. Später gebrauchte er mehrere andere Ausdrücke, wie z. B. „Aspekt", „Abschattung". Ich ziehe es vor, bei dem alten Ausdruck zu bleiben. Auch W. Conrad verwendet ihn in dem schon mehrmals zitierten Artikel „Der ästhetische Gegenstand". 4 Über die Unterscheidung zwischen „gegenständlicher Gegebenheit", „Erleben" und „Durchleben" vgl. meine Schrift „Über die Gefahr einer Petitio Principii in der Erkenntnistheorie" (Jahrbuch f. Philosophie, Bd. IV). Das gegenständliche Meinen und die empfindungsmäßige Gegebenheit hat früher Frau Conrad-Martius in ihrer Arbeit „Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt" ausführlich untersucht. 2

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Wahrgenommenwerdens erleidet sie keine Veränderungen und ist uns als eine solche gegeben, die im Räume weiter existiert, nachdem wir die Augen geschlossen haben und sie nicht mehr wahrnehmen. Die Ansicht dagegen, oder genauer gesagt, die kontinuierliche Mannigfaltigkeit von Ansichten, die ständig ineinander übergehen, ist in ihrem Sein und Sosein ständig auf „mich", das wahrnehmende Subjekt, bezogen, obwohl sie nicht nur von mir abhängig ist und somit nicht rein „subjektiv" ist. Sie ist auch kein i c h l i c h e s Vorkommnis in meiner Seele; andererseits befindet sie sich nicht „im Räume", wenigstens nicht in dem Räume, in welchem die wahrgenommene Kugel sich befindet. Diese Bezogenheit der erlebten Ansicht auf das wahrnehmende Subjekt zeigt sich vor allem in ihrer wesenhaften Abhängigkeit von dem Verhalten des Subjekts. Es genügt, die Augen zu schließen, um das fließende Kontinuum von Ansichten zu unterbrechen, es einfach zum Nichtsein zu bringen. Es genügt, die Augen auf „Unendlichkeit" einzustellen (oder umgekehrt auf große Nähe), um die Ansichten erheblich zu verändern. Es genügt endlich, in manchen Fällen wenigstens, eine Ansicht durch einen entsprechenden Meinungsakt zu treffen, um radikale Änderungen in ihr hervorzurufen, die manchmal so weit gehen, daß in der veränderten Ansicht nicht mehr dasselbe Ding erscheinen kann. Die Ansichten sind also sozusagen in ständiger Berührung mit den zugleich vollzogenen Bewußtseinsakten des wahrnehmenden Subjektes und sind gegen die in den Akten und Aktmannigfaltigkeiten vor sich gehenden Wandlungen in hohem Grade empfindlich. Die kontinuierliche Mannigfaltigkeit der Ansichten ist andererseits einem eigenen Wandel unterworfen, der mit der ihr eigenen Zeitstruktur zusammenhängt. Der aktuelle Gehalt der gegenwärtigen Ansicht ist von den vorangehenden und nicht mehr aktuellen Ansichten funktionell abhängig. „Dieselbe" — wenn man so sagen darf — Ansicht wäre in verschiedener Hinsicht eine andere, wenn ihr nicht diejenigen Ansichten vorangingen, die ihr tatsächlich vorangegangen sind. Und diese Abhängigkeitsreihe der Ansichten ist von der Reihe der Abhängigkeiten, welche unter den Zuständen des in den betreffenden Ansichten erscheinenden Dinges bestehen, verschieden, wenn auch von den letzteren nicht unabhängig. Auch in ihren Gehalten sind die Ansichten von dem in ihnen zur Gegebenheit kommenden Gegenstande sehr verschieden. Zum Beispiel: Die wahrgenommene rote Kugel ist kugelig, aber weder ist irgendeine der Ansichten, die sie zur Erscheinung bringen, selbst 18 Iiigarden. Das Uterarische Kunstwerk

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kugelig, noch enthält sie in ihrem Gehalte die Kugelgestalt. Sie enthält in ihm nur eine — wenn man so inkorrekt sagen darf — „runde Scheibe", allerdings mit einem ganz eigentümlichen Hinweis auf die Kugelgestalt. Dieser Unterschied zwischen dem Gehalte der Ansicht und den Eigenschaften des zugehörigen Dinges wird noch deutlicher hervortreten, wenn wir einen Kreis oder ein Automobilrad, das hinsichtlich seiner Gestalt u.a. kreisrund ist, zum Beispiel nehmen: die zugehörigen Ansichten weisen in ihren Gehalten aJle möglichen Ellipsen auf, immer freilich mit einem besonderen Hinweis auf die kreisrunde Gestalt. Oder ein anderes Beispiel : Wird eine Kugel als eine gleichmäßig rote wahrnehmungsmäßig gegeben, so ist die in den Gehalten der zugehörigen Ansichten auftretende „kreisrunde Scheibe" durch verschiedene, kontinuierlich ineinander übergehende Rotnuancen und auch durch Nuancen anderer Farben erfüllt, allerdings wiederum mit einem analogen Hinweis auf die gleichmäßige Färbung der Kugel. Parallel nach dem Horizont hin laufende Eisenbahnschienen werden uns als solche gegeben, indem wir eine Ansicht von ihnen erleben, in deren Gehalt die entsprechenden Farbendaten ausgesprochen zusammenlaufen, u. dgl. mehr. Die eben angeführten Beispiele zwingen uns zugleich, eine wichtige Unterscheidung unter den Elementen, die in dem Gehalte einer Ansicht auftreten, durchzuführen, eine Unterscheidung, welche aufe neue die Verschiedenheit der Ansichten von den wahrgenommenen Dingen zeigt. Es ist die Gegenüberstellung von „erfüllten" und „unerfüllten Qualitäten". Wir sehen z.B. eine allseitig g e s c h l o s s e n e und b e s t i m m t e Kugel, die ein Inneres und eine von uns gerade abgewandte Seite hat. In der entsprechenden Ansicht finden wir indessen, daß nur die „vordere", uns gerade zugewendete Seite, sowie nur ihre „Oberfläche" durch entsprechende Farbenqualitäten präsentiert wird. Kein Vorurteilsloser wird aber bezweifeln können, daß uns nicht die „Vorderseite" der Kugel, die ü b e r h a u p t k e i n e hintere Seite und k e i n Inneres hätte, sondern die allseitig bestimmte K u g e l gegeben ist und daß uns somit auch ihre abgewandte Seite m i t g e g e b e n ist. Ihre bloße Mitgegebenheit aber spiegelt sich auf solche Weise in den zugehörigen Ansichten, daß die vordere Seite der Kugel in den Ansichten durch erfüllte Farbenqualitäten, die von uns gerade abgewandte Seite der Kugel dagegen nur durch einen e i g e n t ü m l i c h e n a n s c h a u l i c h e n C h a r a k t e r zur Erscheinung gebracht wird, der darauf h i n w e i s t , daß die Kugel 274

eine so und so bestimmte von uns abgewandte Seite besitzt, daß sie dort z.B. auch eine Kugeloberfläche besitzt, die rot gefärbt ist usw. Dieser eigentümliche Charakter, den wir eine „unerfüllte Qualität" nennen wollen, kann natürlich nur deswegen in dem Gehalte der Ansicht auftreten, weil es andere Ansichten von derselben Kugel gibt, die uns die jetzt abgewandte Seite der Kugel als ihre „vorder© Seite" in erfüllten Farbenqualitäten zur Erscheinung brachten, und weil der Gehalt der jeweilig aktuellen Ansicht zum Teil durch den Gehalt der ihm vorangehenden Ansichten bestimmt ist. Die Verwandlung der einen Ansicht in die entsprechende folgende spiegelt in sich die Verwandlung der ehemaligen „Vorderseite" in die jetzige „abgewandte, hintere Seite" und führt zu dem Auftreten jenes Charakters, der zwar durch keine Qualität wirklich erfüllt, aber doch auf eine bestimmte Qualität (der Farbe, der Gestalt usw.) hinweist. Aus diesem Grunde nennen wir ihn eben eine „unerfüllte Qualität"1. Eine unerfüllte Qualität kann eine nicht näher bestimmte dingliche Eigenschaft zur Erscheinung bringen, wenn ich z.B. ein farbiges Ding sehe, ohne die ganz bestimmte Farbennuance seiner von mir gerade abgewandten Seite zu erfassen. Es gibt aber auch solche unerfüllte Qualitäten in der Ansicht eines Dinges, die uns ganz bestimmte Eigenschaften zur Mitgegebenheit bringen. Wenn ich z.B. meinen Schreibtisch, der mir seit Jahren gut bekannt ist, wahrnehme, so gibt er sich mir als ein solcher, der an der eben von mir abgewandten Seite eine genau angebbare Gestalt und eine genau bestimmte Farbe hat. Ich „sehe" diese Farbe in dem gegebenen Moment nicht, aber die entsprechende unerfüllte Qualität in der von mir erlebten Ansicht ist vorhanden und führt zur Mitgegebenheit dieser abgewandten Seite des Schreibtisches in ihren q u a l i t a t i v e n B e s t i m m t h e i t e n . Und nur, weil ich eine solche Ansicht erlebe, die in sich eine genau bestimmte unerfüllte Qualität birgt, kommt mir der Schreibtisch als ein so bestimmter zur Gegebenheit. Dabei kann jede Wahrnehmung, welche eine bestimmte „abgewandte Seite" eines Dinges zur Mitgegebenheit bringt, in dieser Hinsicht falsch sein. D.h. ich kann z.B. denselben Schreibtisch von der anderen Seite wahrnehmen und unerwartet bemerken, daß er da jetzt einen großen Tintenfleck hat, der mir früher nicht mitgegeben und der somit durch keine unerfüllte Qualität der An-

1 Husserl spricht da von besonderen „intentionalen" Momenten, was für uns terminologisch unbequem ist.

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eicht präsentiert war. Aber gerade diese Fälle der Enttäuschung und der Verwunderung, die wir dabei erleben, zeigen am deutlichsten, daß die jeweilige „abgewandte Seite" wirklich durch eine unerfüllte Qualität (bzw. durch eine Mannigfaltigkeit von ihnen) zur Mitgegebenheit gelangt. Nicht so auffallend sind die Fälle, wo die zunächst unerfüllte Qualität sich beim Herumgehen um das betreffende Ding durch genau entsprechende Farben- und Gestaltqualitäten erfüllt. Aber auch sie sprechen für die Richtigkeit der entwickelten Auffassung. Und gerade die genaue Bestimmtheit und Dieselbigkeit der Qualität, die in den Ansichten auf zwei verschiedene Weisen auftritt und die dieselbe gegenständliche Eigenschaft zur Erscheinung bringt, zwingt uns, bei dem hier untersuchten hinweisenden Charakter der Ansicht von einer Q u a l i t ä t , obwohl von einer „unerfüllten", zu sprechen. Sie ist etwas phänomenal Anwesendes und nicht etwa bloß signitiv Vermeintes. Es gibt in jeder dinglichen, von uns erlebten Ansicht eine ganze Reihe von solchen unerfüllten Qualitäten verschiedener Art. Eine unerfüllte Qualität braucht aber nicht immer solche dingliche Bestimmtheiten zur Erschauung zu bringen, die die abgewandte Seite des Dinges oder dessen Inneres betreffen. Auch manche Eigenschaften der uns eben zugewandten Seite des Dinges können uns in unerfüllten Qualitäten einer Ansicht erscheinen. So wird z.B. die gleichmäßige rote Färbung einer Kugel in einer unerfüllten Qualität zur Erscheinung gebracht. Denn in der entsprechenden Ansicht treten erfüllte Farbendaten v e r s c h i e d e n e r Rotnuancen auf, die erst vermöge ihrer Gestalt, Anordnung und vermöge einer charakteristischen Abstufung der Qualitäten zur Konstituierung des hinweisenden Moments „gleichmäßig rote Färbung der Kugel" führt. Die gleichmäßige Färbung einer Kugel k a n n überhaupt nicht auf eine andere Weise, denn durch eine unerfüllte Qualität zur Erscheinung gebracht werden. Dasselbe betrifft z.B. die gesehene Glätte des Papiers oder die gesehene Weichheit der Seide usw. Nur daß es in diesen Fällen noch eine Tastwahrnehmung gibt, die die genannten dinglichen Eigenschaften in adäquater Weise in erfüllten Qualitäten zur Gegebenheit bringen. Die eben angegebenen Beispiele zeigen zugleich, daß sowohl der G r a d wie auch die Art der Unerfülltbeit einer Qualität in dem Gehalte einer Ansicht sehr verschieden sein kann. Der höchste Grad der Nichterfüllung und Unbestimmtheit tritt z.B. bei einer Wahrnehmung auf, in der uns ein bis jetzt vollkommen unbekanntes Ding gegeben wird. Wir erfassen es als ein 276

solches, das eine „abgewandte Seite" und ein „Inneres" besitzt, ohne daß irgendeine nähere Qualifizierung dieser Seite (bzw. des Inneren) zur Gegebenheit gelangt. Von da aus führt eine ganze Mannigfaltigkeit von Abstufungen der Erfülltheit und Bestimmtheit bis zu der anderen Grenze, wo eine Qualität in einer Ansicht wirklich erfüllt ist. Es eröffnen sich hier mannigfache Probleme, die für die Theorie der sinnlichen Erfahrung von allergrößter Bedeutung sind. Wir müssen uns hier auf die angegebenen Andeutungen beschränken. Nur die Betonung, daß in der Ansicht unerfüllte Qualitäten auftreten, war für uns unentbehrlich, denn die Nichtbeachtung dieser Qualitäten führt zu einer schiefen Auffassung des Wesens der Ansicht eines Dinges. Die Ansichten, die wir im Laufe der Erfahrung von ein und demselben Dinge erleben, verwandeln sich auf verschiedene Weise, und manches, was in einer früheren Ansicht nur in der Gestalt einer unerfüllten Qualität aufgetreten war, ist in der späteren unter der Gestalt einer erfüllten Qualität vorhanden und umgekehrt. Aber in j e d e r Ansicht eines Dinges sind erfüllte und unerfüllte Qualitäten vorhanden, und es ist prinzipiell unmöglich, die unerfüllten Qualitäten überhaupt zum Verschwinden zu bringen1. Der Einfachheit halber beschränkten wir uns in den eben durchgeführten Betrachtungen auf die visuellen Ansichten des Dinges. Es gibt aber verschiedenartige Ansichten von ein und demselben Dinge, z.B. taktuelle, tonale usw., in welchen entsprechende dingliche Eigenschaften zur Erscheinung gelangen. Genauer besehen gibt es keine rein visuellen (bzw. rein taktuellen usw.) Ansichten von Dingen. Es kommen immer eigentümliche Synthesen zustande, so daß z. B. in dem Gehalte einer visuellen dinglichen Ansicht verschiedene Momente auftreten, die entsprechende, ursprünglich taktuell gegebene dingliche Eigenschaften zur Erscheinung bringen und 1 Genauere Analysen zeigen, daß da noch sehr komplizierte Sachlagen vorliegen, die in viel tiefere Schichten als diejenigen der Ansichten führen. Die hier von uns beschriebene Schicht der Ansichten ist sozusagen nur eine Oberfläche, die anzeigt, wae sich in der Tiefe abspielt. Hier muB auf die Husserlschen Untersuchungen (besonders in den „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins") verwiesen werden. Außerdem kommen hier die schon zitierte Abhandlung von Frau Conrad-Martius und einige Kapitel der Beckerschen Arbeit „Zur phänomenologischen Begründung der Geometrie" in Betracht, in welcher B e c k e r über eine Reihe von den bis jetzt unveröffentlichten Husserlschen Untersuchungen referiert.

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somit auch auf entsprechende Momente der taktuellen Ansichten rückweisen. Jede visuelle Ansicht eines Dinges bildet einen Teil einer gleichartigen G e s a m t a n s i c h t der ganzen in dem gegebenen Momentwahrgenommenen Umgebung des wahrnehmenden Subjekts und ist mit den übrigen Elementen, die in dem Gehalte dieser Gesamtansicht auftreten, ursprünglich verwachsen, obwohl sie sich gewöhnlich von ihnen deutlich abhebt. Aber das u r s p r ü n g l i c h e konkrete Ganze bildet die jeweilige visuelle Gesamtansicht. Die Einheit einer zu dem betreffenden Gegenstand gehörigen Ansicht konstituiert sich gewöhnlich nicht durch scharfe, konturhafte Abgrenzung ihres Gehaltes von den übrigen Elementen der Gesamtansicht, sondern durch eine Zusammengehörigkeit der in ihr selbst enthaltenen Elemente, eine Zusammengehörigkeit, die selbst Folge sowohl der Aufeinanderfolge von mannigfachen, ganz bestimmt geordneten Ansichten, wie auch des Vollzuges der zugehörigen, inhaltlich entsprechend bestimmten Wahrnehmungsakte ist.

§ 41. Die s c h e m a t i s i e r t e n Ansichten. Wir versuchten im vorigen Paragraphen, die Verschiedenheit zwischen dem wahrgenommenen Dinge und den es zur Erscheinung bringenden Ansichten auf möglichst einfache Weise zu zeigen. Das muß uns hier genügen. Zu beachten ist aber noch folgendes: Genauere Analyse zeigt — wie E. Husserl mit Recht behauptet und erwiesen hat —, daß eine strenge Zugehörigkeit zwischen einer jeden wahrnehmungsmäßig gegebenen dinglichen Eigenschaft und einer streng gesetzlich geordneten Mannigfaltigkeit von Ansichten besteht, in denen die betreffende Eigenschaft erscheint. Und umgekehrt: sobald von uns eine bestimmte Mannigfaltigkeit von Ansichten erlebt wird, muß uns eine bestimmte dingliche Eigenschaft bzw. ein bestimmt qualifiziertes Ding leibhaft selbstgegeben werden. Dies im einzelnen zu zeigen und die Gesetzmäßigkeiten, die da obwalten, aufzusuchen, erfordert sehr umfassende und schwierige Untersuchungen, die bis jetzt trotz der bahnbrechenden Untersuchungen Husserls und seiner Schüler noch nicht abgeschlossen sind. Uns interessiert dabei nur der — im Vergleich zu dem bisher verwendeten — veränderte Sinn des Wortes „Ansicht", der bei der Aufstellung solcher regelmäßigen Zugehörigkeiten und Gesetz278

mäßigkeiten in Frage kommt. Versuchen wir, die eben angegebene Behauptung Husserls genau zu verstehen, so überzeugen wir uns, daß hier nicht von den einmalig erlebten und für alle Ewigkeit vergangenen Ansichten die Rede ist, sondern von gewissen I d e a l i s i e r u n g e n , die sozusagen nur ein S k e l e t t , ein S c h e m a der konkreten, fließend vorbeigehenden Ansichten sind. Es gibt nämlich keine zwei konkreten Ansichten von demselben, von derselben Seite wahrgenommenen Dinge, die durch ein und dasselbe Bewußtseinssubjekt n a c h e i n a n d e r erlebt und in j e d e r H i n s i c h t vollkommen gleich wären1. Immer müssen sowohl ihre voll konkreten Gehalte wie auch die Weise, in welcher sie erlebt werden, voneinander in verschiedenem Maße abweichen. Indessen setzt die Rede von einer gesetzmäßigen Zugehörigkeit einer bestimmten Mannigfaltigkeit von Ansichten zu einer bestimmten dinglichen Eigenschaft die Wiederholbarkeit der in Betracht kommenden Ansichten voraus. Es ist somit klar: 1. wenn diese gesetzmäßige Zugehörigkeit tatsächlich bestehen soll, so kann es sich dabei nicht um die in voller Konkretion genommenen Ansichten, sondern nur um gewisse, in ihnen enthaltene, aber nur ein Skelett von ihnen bildende Schemata handeln, die als dieselben erhalten werden können, trotz der mannigfachen Unterschiede, die sonst in den Gehalten der konkreten Ansichten und in der Weise ihres Erlebtwerdens vorhanden sind; 2. es gibt wirklich die Idee solcher Schemata bzw. der schematisierten Ansichten. Setzen wir dies voraus, so läßt sich behaupten, daß ein jedes dingliche Moment eine Mannigfaltigkeit von s c h e m a t i s i e r t e n Ansichten bestimmt, die das Skelett der konkreten Ansichten bilden, in denen es erscheint. Unter einer „schematisierten Ansicht" ist somit nur die Gesamtheit derjenigen Momente des Gehaltes einer konkreten Ansicht zu verstehen, deren Vorhandensein in ihr die ausreichende und unentbehrliche Bedingimg der originären Selbstgegebenheit eines Gegenstandes, bzw. genauer: der o b j e k t i v e n Eigenschaften eines Dinges ist. Und tatsächlich spielt nicht ein jedes Moment des Gehaltes einer Ansicht und nicht ein jeder Unterschied in der Weise ihres Erlebtwerdens eine entschei1 Wir können dies hier bloß feststellen. Die volle Allgemeinheit und Begründung dieser Behauptung ergibt sich erst aus dem wesensmäßigen Aufbau der konkret erlebten Ansichten, die in ihren Fundamenten in die Tiefe der ursprünglichen konstituierenden Empfindungsdaten (im Sinne E. H u s s e r l s ) reichen, sowie aus den mannigfachen Zusammenhängen und Abhängigkeiten, die zwischen den Ansichten und den zugleich durchlebten Bewußtseinsakten bestehen.

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dende Rolle für die Präsentation der objektiven (an sich bestehenden und dem gegebenen Gegenstand selbst zukommenden) Eigenschaften des wahrgenommenen Dinges. Mit anderen Worten: Es ist möglich, daß zwei Ansichten, die in verschiedenen Zeitmomenten erlebt werden und sich sowohl ihren Gehalten nach wie in der Weise ihres Erlebtwerdens unterscheiden, trotzdem eine und d i e s e l b e dingliche Eigenschaft (bzw. einen und denselben Gegenstand in derselben Kombination von unveränderten Eigenschaften) zur originären Erscheinung bringen, falls sie nur Konkretisierungen derselben schematisierten Ansicht in sich enthalten. Damit hängt natürlich zusammen, daß zwar in einer jeden konkreten Ansicht alle Elemente ihres Gehaltes eine zusammengewachsene Einheit bilden, in welcher ein jedes Element von den übrigen gefärbt wird, daß aber die Änderung dieser Färbungen keinen Einfluß auf die Dieselbigkeit wenigstens mancher im Gehalte der Ansicht auftretenden Elemente hat. Infolgedessen sind diese Elemente von den übrigen in der Ansicht auftretenden Elementen relativ unabhängig, so daß sie sich in einer kontinuierlichen Mannigfaltigkeit von sich verwandelnden Ansichten durchhalten können. Ihre Gesamtheit ist also in verschiedenen, auch zeitlich getrennten Ansichten wiederholbar und bildet dasjenige, was wir oben die „schematisierte" Ansicht genannt haben. Die übrigen Elemente einer konkreten Ansicht werden dabei nicht als nicht vorhanden, sondern nur als in solchen Grenzen v a r i a bel gedacht, in welchen sie es noch sein können, wenn die fortbestehenden, relativ selbständigen Elemente noch erhalten werden können. Erlebt werden kann natürlich nur eine konkrete Ansicht. Aber ein bestimmter Gegenstand in einer bestimmten Mannigfaltigkeit der ihm zukommenden Eigenschaften schreibt nur eine bestimmte Mannigfaltigkeit (bzw. Mannigfaltigkeit von Mannigfaltigkeiten) s c h e m a t i s i e r t e r Ansichten vor, in welcher er als er selbst und als ein so bestimmter zur unmittelbaren Gegebenheit kommen soll. Wie die nähere Ausfüllung dieser Schemata im gegebenen einzelnen Falle vor sich gehen wird, das hängt z.T. nicht mehr von dem Gegenstande selbst und von der Auswahl seiner Eigenschaften ab, sondern von verschiedenen Faktoren subjektiver Natur, die von Fall zu Fall wechseln.

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§ 42. Die s c h e m a t i s i e r t e n A n s i c h t e n in Werken.

literarischen

Die s c h e m a t i s i e r t e n Ansichten, die nichts Konkretes oder gar Psychisches sind, gehören als eine eigene Schicht zu dem Aufbau des literarischen Werkes. Nur als schematisierte können sie in ihm auftreten. Denn sie werden da nicht durch das Erleben irgendeines psychischen Individuums erzeugt, sondern haben den Grund ihrer Bestimmung und ihrer in gewissem Sinne potentiellen Existenz in den durch die Sätze entworfenen Sachverhalten bzw. in den durch die letzteren dargestellten Gegenständen. Aber nicht nur dieser theoretische Grund spricht dafür, daß in einem literarischen Werke nur schematisierte Ansichten, die bei der Lektüre noch verschiedene, aber nur in vorbestimmten Grenzen variierende aktualisierte Ansichten zulassen, auftreten können. Wir können uns davon auch sozusagen praktisch überzeugen1. Es kommt häufig vor, daß die dargestellten Gegenstände bestimmte reale Gegenständlichkeiten abbilden sollen. Z.B. „spielt sich" — wie wir gewöhnlich sagen — die Geschichte in dem Roman „L'âme enchantée" von Romain Rolland in Paris ab. Zur Darstellung gelangen darin auch manche Straßen der französischen Hauptstadt. Nehmen wir an, daß ein bestimmter Leser dieses Romans Paris nicht aus eigener Erfahrung kennt. Bei der Lektüre aktualisiert er natürlich u.a. die in dem genannten Werke vorbestimmten Ansichten von den betreffenden Straßen. Da er aber die entsprechenden Ansichten nie in concreto bei einer originären Wahrnehmung dieser Straßen erlebt hat, so gelingt ihm ihre Aktualisierung nie so, daß die Gehalte der von ihm aktualisierten Ansichten eine bis ins einzelne gehende Ähnlichkeit mit jenen aufweisen könnten, die er erlebt hätte, wenn er die betreffenden Straßen einmal wirklich wahrgenommen hätte. Die vorbestimmten Ansichtenschemata werden bei der Lektüre immer durch verschiedene Einzelheiten ergänzt und ausgefüllt, die eigent1

Th. A. Meyer verfügt nicht über den Begriff der Ansicht und insbesondere der schematisierten Ansicht. Er spricht nur von „sinnlichen Zügen", „inneren Wahrnehmungsbildern" u. dgl. mehr. Aber daß er dabei die Ansichten der sinnlich wahrnehmbaren Dinge im Auge hat, scheint mir sehr wahrscheinlich zu sein. Insbesondere sieht er ganz deutlich, daß es sich dabei nur um s c h e m a t i s i e r t e Gebilde handeln kann (vgl. I.e. S.45, 139f., 191, 196 usw.). In dieser Tatsache aber, die er mit Recht mit dem Wesen der Sprache in enge Beziehung bringt, glaubt er das ausreichende Argument gegen das Auftreten des „Anschaulichen" in literarischen Werken gefunden zu haben, worin ich mit ihm nicht übereinstimmen kann. 281

lieh nicht zu ihnen gehören und welche der Leser aus den Gehalten anderer ehemals erlebter, konkreter Ansichten schöpft. Bis zu einem gewissen Grade geschieht das auch im Falle, wo die dargestellten, in der Abbildungsfunktion begriffenen Gegenstände auf ein Urbild hinweisen, das dem Leser aus seiner unmittelbaren Erfahrung bekannt ist, da die von verschiedenen psychischen Individuen erlebten Ansichten von demselben Gegenstande sich prinzipiell in verschiedener Hinsicht unterscheiden müssen. Es ist somit unmöglich, daß der Leser ganz genau dieselben Ansichten aktualisiert, die der Autor des Werkes durch den Bau des Werkes vorbestimmen wollte. Hier zeigt es sich zum zweiten Male, daß das literarische Werk ein s c h e m a t i s c h e s Gebilde ist. Um dies einzusehen, ist es aber nötig, daß man es in seiner schematischen Natur erfaßt und das Werk nicht mit den einzelnen Konkretisationen, die bei den einzelnen Lesungen entstehen, vermengt. Rein theoretisch gesprochen, „gehören" zu den dargestellten Gegenständen die s ä m t l i c h e n schematisierten Ansichten, in welchen diese Gegenstände überhaupt zur Gregebenheit kommen können. Dieses „Zugehören" besagt dann aber nur eine auf Grund einer· strengen Vorbestimmung bestehende Zuordnung von möglichen schematisierten Ansiebten zu entsprechenden dargestellten Gegenständlichkeiten. Damit aber solche nur zugeordneten Ansichten aktualisiert werden können, bedarf es noch anderer, außerhalb der dargestellten Gegenstände liegender Faktoren1. Einige von diesen Faktoren können durch manche Eigentümlichkeiten der literarischen Werke selbst hervorgebracht werden, andere dagegen liegen in dem erlebenden psychischen Individuum, so daß die schematisierten Ansichten erst durch den Leser (bzw. durch den Autor) konkretisiert und aktualisiert werden können. Ist ein literarisches Werk so aufgebaut, daß die erstgenannten Faktoren der Aktualisierung der Ansichten wenigstens in manchen seiner Teile vorhanden sind, so werden die entsprechenden Ansichten dadurch noch nicht aktualisiert (weil dazu noch das erlebende Individuum unentbehrlich ist), aber sie werden dann sozusagen zu dieser Aktualisierung vorb e r e i t e t , so daß, falls es zu einer Lektüre kommt, sie dann dem Leser aufgezwungen werden. Wir sagen, daß die schematisierten Ansichten in diesem Falle den dargestellten Gegenständlichkeiten nicht bloß zugeordnet, sondern zugleich„paratgehalten" werden. 1

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Worin diese Faktoren bestehen, werden wir gleich besprechen.

Zu einem jeden literarischen Werke gehören also die den dargestellten Gegenständlichkeiten bloß zugeordneten schematisierten Ansichten, aber nur manche literarischen Werke enthalten (wenigstens in einigen ihrer Teile) paratgehaltene Ansichten. Die Faktoren, durch welche im literarischen Werke die Ansichten paratgehalten werden, hegen z.T. in einigen schoñ früher besprochenen Eigentümlichkeiten der intentionalen Satzkorrelate. Wir haben zwischen Sachverhalten, in denen das Sosein des Gegenstandes, und solchen Sachverhalten geschieden, in welchen sein „Soaussehen" zur Darstellung gelangt. Andererseits stellten wir der bloßen Darstellung die Zurschaustellung des Gegenstandes gegenüber. Die Zurschaustellung und insbesondere die Zurschaustellung des Soaussehens eines Gegenstandes führt mit sich auch die Parathaltung der zu dem dargestellten Gegenstande gehörigen Ansicht oder einer Mannigfaltigkeit von Ansichten. Bei der Parathaltung gehen die entsprechenden schematisierten Ansichten aus dem Zustande der bloßen Möglichkeit, in welchem sie sich vermöge der bloßen Zuordnung zu den dargestellten Gegenständlichkeiten befinden, in den Modus einer gewissen Aktualität über, die freilich nie die Aktualität einer konkreten erlebten Ansicht, aber auch nicht mehr die bloße Potenz ist1. Zur Parathaltung der Ansichten führen andererseits die verschiedenen in der dichterischen Sprache verwendeten „Bilder", „Metaphern", „Gleichnisse" usw.2, in welchen ganz andere Gegenständlichkeiten, als die eben darzustellenden, entworfen werden, und zwar bloß zu dem Zwecke, um die darzustellenden Gegenstände in entsprechenden paratgehaltenen Ansichten zur Erscheinung zu bringen. Zu der Parathaltung der Ansichten tragen nicht nur die entsprechend gewählten intentionalen Bedeu1 Dies begrifflich genau zu bestimmen und entsprechend zu verdeutlichen, ist überhaupt und besonders im Rahmen unserer Betrachtungen sehr schwierig, weil zu diesem Zwecke eine ausführliche Analyse der verschiedenen möglichen Seinsmodi und der existentialen Charaktere erforderlich wäre, die u. W. bis jetzt von niemandem ernstlich angegriffen, geschweige denn durchgeführt wurde. Jedenfalls ist es klar, daß die primitiven und schroffen Unterscheidungen zwischen Sein und Nichtsein, Aktualität und Potentialität usw., mit denen man sich gewöhnlich begnügt, nicht ausreichen, um der großen Mannigfaltigkeit der vorliegenden Unterschiede gerecht zu werden. Primitive dialektische Argumente können hier natürlich nur verdeckend wirken. — Vgl. dazu mein Buch „Der Streit um die Existenz der Welt", Bd.I (polnisch, 1947), wo die verschiedenen möglichen Seinsmodi herausgestellt und begrifflich bestimmt wurden. Ein kurzes Résumé davon vgl. in den Akten des X. Internationalen Kongresses für Philosophie in Amsterdam 1948. 2 Hier liegt wiederum ein weites Feld für spezielle Untersuchungen vor.

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tungs- und Satzkorrelate (und primär: die entsprechenden Satzeinngehalte) bei, sondern auch die dazu besonders geeigneten Wortlaute und sprachlautlichen Gebilde höherer Ordnung1. Wir haben darauf schon bei der Besprechung der Rolle, welche die Schicht der sprachlautlichen Gebilde im literarischen Werke spielt, hingewiesen. Sollen die entsprechenden Ansichten durch das literarische Kunstwerk paratgehalten und dem Leser bei der Lektüre aufgezwungen werden, so müssen in der Lautschicht vor allem Worte enthalten sein, die nicht bloß dem Wortschatze der lebendigen Sprache (und nicht dem einer abstrakten Terminologie) entnommen sind, sondern die zugleich in ihrem Wortlaut entweder eine Ähnlichkeit mit den entsprechenden Gegenständlichkeiten (onomatopoetische Ausdrücke) aufweisen oder „Manifestationsqualitäten"2 in sich bergen oder endlich durch ständige Verwendung in bestimmten konkreten Lebenssituationen feste Assoziationen mit Ansichten mannigfacher Art mit sich führen. In derselben Richtung wirken auch die — entsprechend gewählten — sprachlautlichen Gebilde höherer Ordnung, wie z.B. die verschiedenen Melodien der Sprache, der Rhythmus usw. Das Zusammenwirken aller dieser Faktoren bewirkt es, daß die Ansichten weniger schematisch bzw. konkreter gestaltet werden, als dies bei Verwendung schon „toter" Worte und Entwerfung ungeeigneter (z.B. rein abstraktiv bestimmter) Sachverhalte möglich wäre. Dieses „Konkreter-Gestalten" ist auch ein Zug dessen, was wir die „Parathaltung" der Ansichten genannt haben. Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß aber noch eins hervorgehoben werden: Es wäre vollkommen falsch zu meinen, daß die dargestellten Gegenständlichkeiten dann in voller Lebendigkeit zur Erscheinung gelangen, wenn die ihnen zugehörigen Ansichten s e l b s t im Texte des literarischen Werkes beschrieben werden. Tatsächlich ist es ganz anders. Wenn die Ansichten beschrieben würden, so wäre nicht die Gegenständlichkeit, die in ihnen erscheinen soll, sondern die Ansichten selbst das im Werke Dargestellte (was natürlich nicht ausgeschlossen ist), der zugehörige Gegenstand aber würde entweder überhaupt aus dem Bereiche des betreffenden Werkes verschwinden oder nur als etwas mittelbar Dargestelltes dazugehören. Jedenfalls könnte er durch die im Werke b e s c h r i e b e n e n Ansichten nicht zur Erscheinung gebracht werden. Dargestellt bzw. beschrieben müssen 1 Vgl. dazu die Ausführungen Th. A. Meyers über den „Empfindungston" der Worte und seine Bedeutung in literarischen Werken (I.e. S. 160ff., 171). 2 Vgl. oben S. 53.

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die Gegenstände, ihre Schicksale, ihr „Soaussehen", die gegenständlichen Situationen usw. werden. Die zu ihnen gehörigen und sie zur Erscheinung bringenden Ansichten dagegen können nur auf die schon angedeutete Weise paratgehalten werden, wenn sie überhaupt ihre Funktion des Zurerscheinungbringens ausüben sollen, bzw. wenn sie bei der Lektüre nur so wachgerufen werden sollen, daß sie dem Leser nicht thematisch, gegenständlich gegeben werden, sondern von dem letzteren nur erlebt werden und in diesem Erlebtwerden den zugehörigen Gegenstand zur Erscheinung bringen. Bei der Parathaltung und Bestimmung der Ansichten spielen zwei Umstände eine für den Aufbau und für die ästhetische Erfassung des literarischen Werkes besonders wichtige Rolle. Es ist unmöglich, alle Mannigfaltigkeiten und zugleich ganze K o n t i n u a von Ansichten, die zu den dargestellten Gegenständlichkeiten sinngemäß als Möglichkeiten gehören, durch die erwähnten Mittel paratzuhalten. Schon die Tatsache, daß die dargestellten Gegenständlichkeiten notwendig Unbestimmtheitsstellen in sich enthalten, bringt es mit sich, daß nur die Mannigfaltigkeit von Ansichten vorbestimmt werden kann, die zu den e x p l i z i t e dargestellten Seiten der Gegenständlichkeiten gehört. Freilich kommt es dabei oft zu dem früher erwähnten Phänomen der Verdeckung der Unbestimmtheitsstellen durch die paratgehaltenen (und evtl. bei der Lektüre aktualisierten) Ansichten, da die letzteren auch auf anderem Wege, z.B. durch geeignete sprachlautliche Gebilde, paratgehalten werden. Aber dies vermag die Lücken in den Mannigfaltigkeiten der Ansichten nicht zu beseitigen. Außerdem ist es nicht möglich, die Gegenstände ausschließlich in solchen Sachverhalten darzustellen, welche sie zur Zurschaustellung brächten und damit ihre Erscheinung in Mannigfaltigkeiten von Ansichten vorbereiteten. Damit steigert sich die Lückenhaftigkeit der Ansichtsmannigfaltigkeiten. Es werden immer nur wenige und oft nicht unmittelbar zusammenhängende Ansichten paratgehalten, so daß die Gegenstände bei der Lektüre nur von Zeit zu Zeit zur lebendigen Erscheinung in momentanen aktualisierten Ansichten gelangen. Damit hängt eine gewisse S t a b i l i s i e r u n g der paratgehaltenen Ansichten zusammen, die zwar nicht notwendig ein jedes Werk und einen jeden Teil eines Werkes auszeichnen muß, welche aber sehr oft vorkommt. Unter der Stabilisierung einer Ansicht verstehen wir die Tatsache, daß sowohl die erfüllten wie die unerfüllten Qualitäten in dem Gehalte einer Ansicht als etwas Unverändertes bzw. sich nur unmerklich 285

Änderndes auftreten. Dies ist bei konkreten wahrnehmungsmäßigen Ansichten ganz anders. Da befinden sich die Ansichten im beständigen Flusse und im kontinuierlichen Übergange ineinander, und zwar auch dann, wenn — um hier das Husserlsche Wort zu gebrauchen — „Sprünge" in den einzelnen Qualitäten ihrer Gehalte vorkommen. Genauer gesagt: Die Empfindungsdaten1, welche den Unterbau einer Ansicht bilden und uns als solche beim Erleben der Ansicht normaliter nicht zum Bewußtsein kommen, ändern sich beständig und in viel höherem Maße als die auf ihnen aufgebauten erfüllten und unerfüllten Qualitäten des Ansichtgehaltes, welche den Gegenstand unmittelbar zur Präsentation bringen2. Aber auch die letzteren sind in einer beständigen Änderung begriffen und gehen ineinander kontinuierlich über. Und zwar gibt es nicht nur kontinuierliche qualitative Übergänge zwischen gleichzeitig erlebten Ansichten verschiedener Gegenstände, sondern auch zwischen Ansichten, die einen und denselben Gegenstand zur Erscheinung bringen und von dem wahrnehmenden Subjekt nacheinander erlebt werden. Da aber die (schematisierten) Ansichten im literarischen Werke durch lückenhaft bestimmte Gegenstände oder durch nichtkontinuierliche Mannigfaltigkeiten von zur Schau stellenden Sachverhalten paratgehalten werden, so werden sie zu s p r u n g h a f t sich ablösenden Einheiten. Mit der Kontinuierlichkeit ihrer Übergänge geht aber auch die Mobilität ihrer Gehalte bis zu einem hohen Grade verloren. Und es bedarf erst der Hilfe des Lesers und der abrollenden Operation des Lesens, um diese Erstarrung zu überwinden und wiederum das Ganze ins Rollen zu bringen. Aber die Sprunghaftigkeit der Aufeinanderfolge der Ansichten läßt sich kaum vollkommen beseitigen. Und wenn sie auch bis zu einem gewissen Grade überwunden wird, so gehört das, was diese Überwindung leistet, und auch die Überwindung selbst nicht zu dem literarischen Werke selbst, sondern zu einer seiner Konkretisationen, die wesensmäßig auf die jeweilige Lektüre und den Leser bezogen sind3. 1 Über die Empfindungedaten vgl. E. Husserl, „Ideen zu einer reinen Phänomenologie", passim. 2 B e r g s o n würde hier sagen, daß eine jede Ansicht in ihrer Tiefe beständig vibriert und an ihrer Oberfläche erstarrt ist. Er hat bei seiner Analyse der äußeren Wahrnehmung (vgl. „Matière et mémoire", Kap. I) in einem von den zwei durch ihn gegenübergestellten Systemen von „Bildern" unzweifelhaft die Sphäre der wahrnehmungsmäßigen erlebten Ansichten im Auge. Es ist ihm aber nicht gelungen, sie deskriptiv rein zu erfassen und ihre Beziehung zu den wahrgenommenen Dingen richtig zu bestimmen. 3 Vgl. dazu Kap. 13.

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Eine zweite Tatsache, die hier zu berücksichtigen ist, bildet zwar nur eine Eigentümlichkeit der Konkretisationen des literarischen Werkes, folgt aber aus seinem wesensmäßigen Aufbau. Die dem Leser bei der Lektüre aufgezwungenen Ansichten können nämlich nie als echt wahrnehmungsmäßige Ansichten, sondern lediglich in der Phantasiemodifikation aktualisiert werden, obwohl sie in dem Werke selbst im allgemeinen als wahrnehmungsmäßige bestimmt sind. Aber sie werden dem Leser nur durch künstliche Mittel suggeriert und gehören nicht zu wirklich realen, sondern nur zu rein intentionalen, ihrem Gehalte nach quasi-realen Gegenständlichkeiten. Die phantasiemäßig aktualisierten Ansichten haben zu ihrem Unterbau nur ein quasi-empfindungsmäßiges Material, das trotz seiner Aktualität von den echten Empfindungsdaten wesensmäßig verschieden ist. Infolgedessen kann eine phantasiemäßig aktualisierte Ansicht u.a. nie die Lebendigkeit und Lebhaftigkeit haben wie eine wahrnehmungsmäßig erlebte. Sie besitzt auch gewöhnlich nicht die Präzision und Schärfe der letzteren. Außerdem kennzeichnet diese Art der Aktualisierung der Ansichten eine charakteristisch pulsierende Weise des Erlebens: Niemals kann infolgedessen ein ganzes Kontinuum von Ansichten mit gleichmäßiger Lebhaftigkeit und Schärfe durch den Leser erlebt werden. Immer gibt es Phasen, in welchen die aktualisierten Ansichten vollkommen verschwinden und dann wiederum auf einmal aufleuchten. Endlich unterscheiden sich die wahrnehmungsmäßigen Ansichten von den phantasiemäßigen durch die Weise, in welcher die Ansicht eines aufmerksam wahrgenommenen Dinges mit den Ansichten unserer gesamten Umgebung verwachsen ist. Die letzteren sind bei der Wahrnehmung zwar viel verschwommener als der zentrale Ausschnitt, der uns den thematisch wahrgenommenen Gegenstand präsentiert, aber sie bringen uns doch Dinge zur Erscheinung1. Infolgedessen ist jederzeit ein Überspringen oder ein kontinuierliches Übergehen der Intention von dem eben wahrgenommenen auf einen im Hintergrund liegenden Gegenstand möglich, wobei natürlich die entsprechenden Ansichten in verschiedener Hinsicht verändert werden. Man kann auch beim Festhalten des Blickes auf den gerade wahrgenommenen Gegenstand auf die im Hintergründe liegenden und dort verbleibenden Gegenstände hinschielen und sie eben als Hintergrundsgegenstände erfassen. Auch in diesem Falle erfahren die entsprechenden Hinter1

Vgl. E. Husserl, „Ideen", S.62. 287

grundsansichten eine Änderung, wobei aber die Art der Ansichten erhalten bleibt. Es sind eben noch immer Hintergrundsansichten, die uns Dinge zur Miterscheinung bringen, und zwar dieselben Dinge, welche uns bei entsprechender Zuwendung thematisch gegeben würden. All dies findet bei der phantasiemäßigen Aktualisierung von Ansichten eines Dinges gerade nicht statt. Hier taucht die aktualisierte Ansicht aus einem undifferenzierten, dunklen Nebel (was natürlich nur ein Gleichnis ist) auf, der wesensmäßig andersartig ist als die reaktualisierte Ansiebt selbst. Er ist u. a. nicht fähig, irgendwelche Dinge zur phantasiemäßigen Präsentation bzw. Repräsentation zu bringen. Die phantasiemäßig erscheinenden Dinge sind deswegen von einer nichtgegenständlichen Umgebung notwendig umringt, die gar nicht zu der betreffenden erscheinenden gegenständlichen Welt gehört und welche die dem phantasiemäßig erscheinenden Gegenstande zugehörige gegenständliche Umgebung verdeckt. Das phantasiemäßig zur Erscheinung Gebrachte kann natürlich eine ganze Mannigfaltigkeit von Gegenständen sein, die sich zu einer „Gegend" zusammenschließen. Aber auch dann ist der dunkle nebelhafte Umgebungsring vorhanden. Dieses Auftauchen aus einem wesensmäßig heterogenen Medium ist für die Weise der Erscheinung der Gegenstände bei der Lektüre eines literarischen Werkes besonders charakteristisch. Das ist auch ein Punkt, in welchem sich das literarische Werk selbst von seinen Konkretisationen wesentlich unterscheidet. Denn — wie schon bemerkt — die im literarischen Werke selbst vorbestimmten und paratgehaltenen Aneichten sind im allgemeinen als wahrnehmungsmäßige bestimmt. Erst die besonderen Bedingungen der Aktualisierung dieser Ansichten bei der Lektüre führen die soeben besprochenen Modifikationen herbei. Wir haben damit die Art des lebendigen Zugangs zu den in literarischen Werken dargestellten Gegenständlichkeiten umschrieben. In dieser Art liegt einerseits eine Grenze, über die wir bei der Lektüre nicht hinausgehen können — d.h. wir können die dargestellten Gegenstände nie wahrnehmungsmäßig erfassen—, andererseits zeigt uns das Bestehen dieser Grenze den Weg an, auf welchem sie überschritten werden kann, freilich nicht mehr in einem rein literarischen Werke, aber in einer seiner besonderen Abwandlungen, in welcher einige seiner Schichten bis zu einem gewissen Grade „realisiert" werden. Es gibt literarische Werke, die zu einer solchen „Realisierung" besonders prädisponiert sind: die „dramatischen" 288

Werke. Die Art ihrer „Realisierung" ist die Theateraufführung. Wir kommen noch darauf zu sprechen (§57).

§ 43. Die „inneren A n s i c h t e n " der eigenen p s y c h i s c h e n Geschehnisse und C h a r a k t e r e i g e n s c h a f t e n als E l e m e n t e des l i t e r a r i s c h e n Werkes. Wir haben uns bis jetzt auf Ansichten beschränkt, in denen tote Dinge und ihre Eigenschaften erscheinen. Es gibt aber auch Ansichten von verschiedenen anderen Gegenständlichkeiten, die nicht nur in literarischen Werken auftreten, sondern sogar in manchen von ihnen eine besonders wichtige Rolle spielen. Einen besonderen Fall bilden hier vor allem die Ansichten, in welchen uns lebendige, fremde Leiber gegeben werden. Sie haben unzweifelhaft Ansichtsgehalte, in welchen bloße Körper erscheinen, zur Unterschicht. Aber diese Unterschicht erschöpft den Gehalt einer Leibansicht nicht und muß außerdem einen besonderen Gehalt haben, da nicht jedes beliebige Ding Eigenschaften hat, die für einen Leib charakteristisch sind. Als Unterschicht fungierend, unterliegt sie dabei wesentlichen Modifikationen, indem wenigstens manche von den in ihrem Gehalt auftretenden, erfüllten bzw. unerfüllten, Qualitäten in die Funktion des Hinweisens auf andere schon für den Leib als solchen charakteristischen Eigenschaften treten. Endlich treten in dem Gehalte der Ansicht eines Leibes (bzw. einer leiblichen Eigenschaft), auf dieser Unterschicht aufgebaut, ganz besondere Qualitäten auf, die die für einen (lebendigen) Leib charakteristischen Eigenschaften zur Erscheinung bringen. Wenn z.B. die grünliche Farbe des Gesichts als „ungesunde" oder wenn überhaupt die Oberflächenfarbe als Farbe der H a u t gegeben wird, wenn rötliche kleine Flecken als „Ausschlag" wahrgenommen werden usw., so treten da überall in den entsprechenden Ansichten ganz besondere Qualitäten auf, die bei einer Ansicht eines bloßen Körpers keinen Sinn hätten. Viel komplizierter gestaltet sich der Gehalt einer Ansicht, wenn sie leibliche Eigenschaften und Charaktere als „Ausdruck" von s e e l i s c h e n und g e i s t i g e n Vorgängen und Eigenschaften des psychischen Individuums zur Erscheinung bringt. So schwierig es ist, diese komplizierten Sachlagen aufzuklären und zu beschreiben, so ist das Vorhandensein derartiger Ansichten — besonders nach dem Mißlingen der „Analogieschlußtheorie" und der Lippsschen 19 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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Einfühlungstheorie — kaum zu bezweifeln. Sowohl ihre Parathaltung wie ihre evtl. Aktualisierung ist für das literarische Werk und insbesondere für das literarische Kunstwerk, in welchem es sich ja in erster Linie um seelische und geistige Wirklichkeit handelt, von allergrößter Wichtigkeit. Auch wenn wir eine „innere" Wahrnehmung vollziehen und auf unsere Charaktereigenschaften, psychischen Zustände und sonstige Wandlungen in unserer Seele gerichtet sind, erfassen wir all diese Gegenständlichkeiten nicht „immanent" (so wie die eigenen Bewußtseinserlebnisse selbst), sondern immer in eigenartigen „inneren" Ansichten, in denen uns diese Gegenständlichkeiten erscheinen 1 . Natürlich hat hier das Wort „Ansicht" eine durchaus übertragene Bedeutung, da eine „Ansicht", die unsere Seele in einem bestimmten Zustand zur Erscheinung bringt, ihrem Gehalte nach in keiner Hinsicht mit den Gehalten „äußerer" Ansichten vergleichbar ist. Wenn wir aber dieses Wort auch für diese Fälle beibehalten, so geschieht es nicht nur, um einen einzigen Terminus zu haben, der uns die ganze Schicht des literarischen Werkes zu umspannen erlaubt, sondern auch, weil uns dazu rein sachliche Gründe zwingen. Das Entscheidende liegt darin, daß 1. das, worin unsere eigenen seelischen (evtl. auch geistigen) Eigenschaften und Zustände erscheinen, von den letzteren verschieden ist2; 2. daß es dieses von sich Verschiedene zur Selbst Präsentation zu bringen vermag; 3. aber, daß es, während es in dieser Funktion begriffen ist, dem Bewußtseinssubjekt, das eigene psychische Eigenschaften und Zustände erfaßt, nicht gegenständlich gegeben ist, sondern von dem letzteren nur erlebt wird. In diesen drei Punkten ist die „innere Ansicht" der Ansicht eines „sinnlich" gegebenen Dinges durchaus analog®. Eine andere Analogie zwischen den beiden Grundarten von Ansichten liegt darin, daß in beiden Fällen der Gehalt der Ansicht von ihren strukturellen Momenten, die sie als eine besondere Gegenständlichkeit charak1

Über den Unterschied zwischen „innerer" und „immanenter" Wahrnehmung vgl. E. Husserl, „Ideen zu einer reinen Phänomenologie". Vgl. auch M. Geiger, „Fragment über den Begriff des Unbewußten und die psychischo Realität" (Jahrbuch für Philosophie, Bd. IV) und E. Stein, „Beiträge zur philos. Begründung der Psychologie" (ebenda, Bd.V), S.18ff. 2 Eine durchaus andero und davon unabhängige Frage ist es, ob die Sphäre der konkret erlebten Ansichten der äußeren und inneren Wahrnehmung sich selbst innerhalb der Reichweite des Psychischen befindet. Wir wollen dies hier nicht entscheiden. 3 Natürlich ist die innere Ansicht nicht mit dem Gesamtbestande der inneren Wahrnehmung zu identifizieren.

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terisieren, zu unterscheiden ist und daß dieser Gehalt einen in beiden Fällen analogen Schichtenaufbau besitzt. Damit ist noch nicht gesagt, daß in dem Unterbau einer inneren Ansicht notwendig Empfindungedaten auftreten müssen. Wenn sie aber vorhanden sind, so sind sie jedenfalls durchaus heterogener Natur im Vergleich mit denjenigen, die in dem Unterbau einer zur äußeren Wahrnehmung gehörigen Ansicht vorkommen. Es sind vor allem in „meinem" eigenen Leibe lokalisierte Daten vorwiegend kinästhetischer Natur, dann „Gefühlsempfindungen" (im Sinne E. Husserls)1: z.B. Schmerzempfindungen, sexuelle Empfindungen usw., alles Daten, die von den Farben-, Ton-, Tast- oder Geruchsdaten vollkommen verschieden sind. Weiterhin sind es Daten, die keinem Teile meines Leibes eigen zu sein scheinen und doch „leiblich" sind, wie z.B. das Sichmattfühlen, Frischsein usw. Das übrige Datenfundament geht über das rein Leibliche hinaus und ist verschiedenartig je nachdem, welche seelische Teilsphäre gerade in die Erregung miteinbezogen wird bzw. ihr gerade fernbleibt, und je nach der Weise der Erregung selbst2. Von der Art und von der Mannigfaltigkeit der fundierenden Daten hängt der Gehalt der inneren Ansicht ab. Aber auch die Weise des Auftretens dieser Daten spielt hier eine bedeutende Rolle. Wenn z.B. bei einem psychischen Individuum die Gefühlsempfindungen mit großer Heftigkeit und mit rasch anwachsender Intensität aufzutreten pflegen, so offenbart sich darin die Leidenschaftlichkeit und eine gewisse Unstabilität des betreffenden Individuums u. dgl. mehr. 1

Vgl. „Log. Unters.", Bd. II. Unters. V. § 15. Die inneren Ansichten wurden bis jetzt fast ganz übersehen einerseits deswegen, weil die Psychologie des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß des englischen Empirismus unter „Psychischem" lediglich die bewußten Erlebnisse verstand und alles, was nicht Erlebnis ist, als „metaphysische Konstruktion" zurückwies; damit haben auch die mit den Erlebnissen unmittelbar verwachsenen inneren Ansichten ihre Funktion des „Zurerscheinungbringens" der psychischen Zuständlichkeiten und Charakterzüge eingebüßt und konnten als Ansichten nicht erkannt werden. Erst die durch die Phänomenologen (Pfänder, Scheler, Geiger, E. Stein) unternommenen Untersuchungen sowie manche Tendenzen in der Psychoanalyse haben uns den Weg zur Betrachtung des im echten Sinne Psychischen wiederum eröffnet. Andererseits liegt der Grund des Übersehens der inneren Ansichten darin, daß es wirklich sehr schwer ist, sie für sich selbst und in ihrer Funktion zu erschauen und zu beschreiben. Denn sowohl beim schlichten Innewerden als auch bei der inneren Wahrnehmung der psychischen Geschehnisse werden die inneren Ansichten wie auch das entsprechende Empfindungsmaterial — wie es ihrem eigenen Wesen entspricht — nur erlebt, aber nicht für sich gegenständlich erfaßt, was ihre Analyse wesentlich erschwert. Dazu bedarf es einer ganz besonderen Einstellung, welche uns erst sowohl den empfindungsmäßigen Unterbau der Ansicht, wie auch die letztere in Sicht bringt. Leichter sind sie in einer klaren Wiedererinnerung zu fassen. 1

19

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Von dem Gehalt der inneren Ansicht hängt es wiederum ab, was uns in der inneren Wahrnehmung von unseren psychischen Zuständen, Prozessen und Charakterzügen erscheint. Andererseits kann ein und derselbe Charakterzug in mannigfachen inneren Ansichten erscheinen, die einen verschiedenartigen empfindungsmäßigen Unterbau haben. Dieselbe Brutalität ζ. B. kann sich sowohl in einem Zornausbruch als auch in einer sexuellen Erregung offenbaren, und in beiden Fällen sind durchaus verschiedene Ansichten und die sie fundierenden Empfindungsdaten vorhanden. Es gibt natürlich sowohl psychische Zustände (evtl. Prozesse) wie auch Charaktereigenschaften, welche in solchen inneren Ansichten erscheinen, die keinen empfindungsmäßigen Unterbau haben. Wenn dann noch irgendwelche innere Empfindungen erlebt werden, so bilden sie nur eine „Begleiterscheinung" und nehmen an der Funktion der Präsentation des Psychischen nicht teil. Wenn sich mir ζ. B. irgendeine meiner rein geistigen Fähigkeiten in diesen oder jenen Ansichten kundgibt, so spielen dabei die evtl. vorhandenen inneren Empfindungen keine wesentliche Rolle. Vielmehr ist es die Weise des Vollzugs der subjektiven Operationen bzw. Akte, in welcher sich diese geistige Fähigkeit offenbart. Bin ich schwer von Entschluß, so ist es die charakteristische zögernde Weise des Sichentschließens, in welcher diese Eigenschaft meiner Person mir zur Erscheinung gelangt. Die Erlebnissituationen, der zu fassende Entschluß, meine Stellung zu mir selbst und zu dem, worüber ein Entschluß gefaßt werden soll, können dabei sehr verschieden sein. Und diese Verschiedenheit bedingt es eben, daß ein und dieselbe Unentschlossenheit mir unter verschiedenen Aspekten entgegentritt. Sie ist das Identische, Erscheinende, und die verschiedenen Erlebnissituationen bilden die Ansichten, in denen sie sich kundgibt. Zu den schon angedeuteten Verschiedenheiten unter den inneren Ansichten kommen noch die verschiedenen Modifikationen hinzu, die sich aus den Unterschieden des inneren Wahrnehmens ergeben : ob die Wahrnehmung gerade den betreffenden psychischen Zustand zum Hauptthema hat oder ob sie ihn nur auf periphere Weise faßt, ob sie mehr oder weniger aufmerksam und deutlich ist usw. Eine besondere Weise des Erscheinens des Psychischen (und damit auch einen besonderen Typus von inneren Ansichten) gibt es dann, wenn keine innere Wahrnehmung als ein besonderer refiektiv gewendeter Bewußtseinsakt existiert und wenn wir doch des sich gerade entwickelnden psychischen Prozesses schlicht „inne" werden. Ein Pro292

zeß oder ein psychischer Zustand äff i ziert uns hier gewissermaßen und gelangt dadurch zur Erscheinung. Erst die Folge dieser Affektion kann der Vollzug einer inneren Wahrnehmung dieses Zustandes sein, wenn er aus irgendeinem Grunde für uns von Interesse ist. Es kann aber auch vorkommen, daß wir im Moment, wo wir eines psychischen Zustandes innegeworden sind, ihn aber noch nicht wahrgenommen haben, an dem uns affizierenden Zustand vorbeigehen und ihn sogar bis zu einem gewissen Grade wiederum ins Unbewußte verdrängen (vgl. Freud). Dies führt wiederum andere Weisen der Erscheinung der psychischen Geschehnisse mit sich. Dies alles sollen nur skizzenhaft gegebene Beispiele sein, um unsere Behauptung zu bekräftigen, daß auch psychische Vorkommnisse und Gegenständlichkeiten in Mannigfaltigkeiten von Ansichten erscheinen. Die entsprechend schematisierten inneren Ansichten gehen in literarische Werke — ebenso wie die „äußeren" Ansichten — ein. Die große Kunst des Dichters liegt eben darin, von den psychischen Zuständen und Charakterzügen der „Helden" nicht bloß zu reden, sondern sie in solchen Sachverhalten darzustellen, daß die Erlebnissituationen und Ansichten, in welchen sich die betreffenden psychischen Realitäten offenbaren, bestimmt und in ihrer Präsentationsfunktion dem Leser aufgezwungen werden. Fehlt diese Darstellungsweise, werden die entsprechenden inneren Ansichten nicht paratgehalten und wird das betreffende psychische Individuum auch nicht in seinen „äußeren" Verhaltungsweisen gezeigt, dann hat man es nur mit leblosen, „papiernen" Gestalten zu tun1. 1

Durch unsere Betrachtungen über die schematisierten Ansichten in literarischen Werken glauben wir das alte, seit L e s s i n g oft behandelte Problem der Beteiligung des anschaulichen Elemente in literarischen Werken auf eine neue Basis gestellt und gelöst zu haben. Th. A. Meyer (vgl. „Das Stilgesetz der Poesie") bekämpft bekanntlich z.T. mit Recht die Überspanntheiten der ,.Anschauungsästhetiker" (insbesondere den Standpunkt V i s c h e r s ) und tritt gegen das Vorhandensein des anschaulichen Elements in literarischen Werken mit großer Schärfe auf. Zugleich sammelt er aber im IX. und X. Abschnitt seines interessanten Werkes ein reiches Material, das nicht nur für das Vorhandensein der schematisierten Ansichten (in unserem Sinne) in literarischen Werken spricht, sondern auch zur Bestätigung unserer Auffassung dienen kann, daß die schematisierten Ansichten u.a. durch die verschiedenen sprachlautlichen Gebilde und Charaktere paratgehalten werden. Die sich daraus ergebende Inkonsequenz sucht er dann durch seine Theorie der „Illusion des einheitlichen Bildes" (I.e. S. 186ff., 22) zu beseitigen. Alle diese Schwierigkeiten und Mißdeutungen ergeben sich daraus, daß Meyer weder das literarische Werk in seinem Schichtenaufbau und seiner Polyphonie rein herausgearbeitet, noch es seinen Konkretisationen und den subjektiven Erlebnissen des Lesers gegenübergestellt hat. Das interessante Buch Meyers ist vielleicht das beste

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9. Kapitel. Die Bolle der Schicht der schematisierten Ansichten im literarischen Werke. § 44. Die Scheidung der G r u n d f u n k t i o n e n der s c h e m a t i s i e r t e n A n s i c h t e n im literarischen Werke. Die Rolle, welche die Schicht der Ansichten im literarischen Werke spielt, ist eine doppelte : 1. Die paratgehaltenen Ansichten ermöglichen es, die dargestellten Gegenstände in vorbestimmten Typen der Erscheinungsweise anschaulich zu erfassen. Zugleich gewinnen sie über die dargestellten Gegenstände eine gewisse Macht, indem sie ihre Konstituierung beeinflussen. 2. Die Ansichten haben ihre eigenen Eigenschaften und konstituieren eigene ästhetische Wertqualitäten, die in der Polyphonie des ganzen Werkes ihre eigene Sprache führen und bei der ästhetischen Aufnahme des Werkes eine wesentliche Rolle spielen. Es gilt jetzt, die einzelnen möglichen Abwandlungen und Typen dieser beiden Funktionen der Ansichten genauer zu besprechen. Dadurch wird erst gezeigt werden, wie die Unterschiede unter den Werken auch durch die Verschiedenheiten der Ansichten beeinflußt werden. Unsere Behauptung über das Mitschwingen der Ansichten in der Polyphonie des Werkes (und insbesondere eines Uterarischen Kunstwerkes) wird darin ihre Begründung und Verdeutlichung finden. Wir wollen uns dabei nur auf einige typische Fälle beschränken. § 45. Die B e s t i m m u n g s f u n k t i o n der Ansichten. Der E i n f l u ß der V e r s c h i e d e n h e i t e n unter den A n s i c h t e n auf den G e s a m t c h a r a k t e r des Werkes 1 . Die erste und bedeutendste Funktion der Ansichten im literarischen Werke besteht darin, daß durch sie die dargestellten Gegenstände auf eine durch das Werk selbst v o r b e s t i m m t e Weise zur Erscheinung gebracht werden können. Würden die Ansichten im Beispiel dafür, wie die psychologistische Tendenz auch ganz vortreffliche Autoren auf Irrwege führt. 1 Wo keine Gefahr eines Mißverständnisses besteht, sagen wir der Kürze halber „Ansicht" statt „schematisierte Ansicht".

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Werke überhaupt fehlen, so müßten die dargestellten Gegenstände während der Lektüre nur leer vermeint, auf völlig unanschauliche Weise gedacht werden, natürlich falls der Leser sich streng an dae hält, was ihm das so verstandene (also keine Ansichten in sich enthaltende) Werk darbietet. Die dargestellten Gegenständlichkeiten wären dann leere, rein „begriffliche" Schemata, und nie hätte man dann den Eindruck, daß man es in ihnen mit einer eigenen, lebendigen Quasirealität zu tun hat: ihre Konkretheit, strenge Individualität, Lebendigkeit, ihre Verkörperung kann nur durch Aktualisierung der paratgehaltenen Ansichten hervorgebracht werden. Dort, wo diese Konkretheit und Lebendigkeit — wie bei einem literarischen Kunstwerk — von entscheidender Bedeutung ist, sind die paratgehaltenen Ansichten ganz unentbehrlich; sonst ist das Werk eher eine trockene Abhandlung oder eine „papierne" Rederei als ein Kunstwerk1. Freilich ist zu vermuten, daß auch dann, wenn die Ansichten im Werke nicht paratgehalten würden, der Leser bei der Lektüre verschiedene Ansichten sozusagen aus eigenem Impuls aktualisieren würde. Aber dann wäre er in dieser Hinsicht durch das Werk gar nicht gebunden, und es würde ganz vom Zufall abhängen, welche Ansichten er gerade aktualisierte. Daß er tatsächlich in hohem Maße gebunden ist, daß ihm ganz bestimmte Typen von Ansichten aufgezwungen werden, beweist am besten, daß sie im Werke selbst vorbestimmt und paratgehalten werden. Die Rolle der Ansichten geht aber — wie gesagt — in dieser Hinsicht noch weiter. Würden sie nur durch den reinen Sinngehalt der Sätze (bzw. durch die zugehörigen Sachverhalte) vorbestimmt und paratgehalten, so würden sie die dargestellten Gegenständlichkeiten nur zur Erscheinung bringen, aber keinen Einfluß auf ihre Konstitution haben. Indessen, zu der Parathaltung von Ansichten führen auch die verschiedenartigen sprachlautlichen Gebilde2, und so kommt es vor, daß z.B. bei Verwendung zweier bedeutungsidentischer, aber ihrem Wortlaute nach verschiedener Worte verschiedene Ansichten paratgehalten werden können, bzw. daß das eine Mal eine Ansicht p a r a t g e h a l t e n , das andere Mal nur durch 1 Max Des soir scheint in dieser Hinsicht einer anderen Meinung zu sein, vgl. Ästhetik und allg. Kunstwissenschaft, S. 369 ff. 2 Daß dies möglich ist, beweist am besten diè Tatsache, daß man in der Musik durch rein tonale Gebilde bestimmte gegenständliche Situationen — wie die Musiker sagen — „darstellen", d.h. streng gesprochen bestimmte Ansichten parathalten kann.

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die Bedeutung des Wortes vorbestimmt, aber dem Leser nicht aufgezwungen wird. So kann es auch vorkommen, daß ein Wort vermöge seines Wortlauts eine andere Ansicht parathält als diejenige, die durch seine Bedeutung vorbestimmt wird, oder daß die durch es paratgehaltene Ansicht über das durch seine Bedeutung bestimmte gegenständliche Etwas hinausgeht. Darin liegt, daß die Findung des „passenden" Wortes, das nicht bloß seinem Sinne nach an Ort und Stelle wäre, sondern auch hinsichtlich seiner Fähigkeit, entsprechende Ansichten paratzuhalten, eine so große Bedeutung für die Dichtkunst hat. Infolgedessen können die paratgehaltenen Ansichten nicht nur zum anschaulichen Erscheinen, sondern auch zur Konstitution der dargestellten Gegenständlichkeiten in dem Sinne beitragen, daß die entsprechenden Gegenständlichkeiten bei der Lektüre Momente bzw. Eigenschaften anzunehmen scheinen, die ihnen, rein dem durch Sachverhalte Dargestellten nach, n i c h t zukommen. Insofern darf man auch von einer Bestimmungsfunktion der Ansichten sprechen. Man muß dabei zwei verschiedene Sachlagen streng auseinanderhalten: 1. Primär und im eigentlichen Sinne wird der dargestellte Gegenstand durch die Intentionalität der Bedeutungseinheiten bzw. durch entsprechende rein intentionale Sachverhalte vermöge ihrer Darstellungsfunktion bestimmt. 2. Dagegen erfüllen die paratgehaltenen Ansichten die Bestimmungsfunktion betreffs der dargestellten Gegenstände nur sekundär, vorwiegend nur in dem Sinne, daß sie sie zur Erscheinung bringen. Wenn sie dem Gehalte der entsprechenden intentionalen Satzkorrelate genau angepaßt sind, so üben sie keine besondere Bestimmungsfunktion betreffs des Gegenstandes aus, bzw. läuft diejenige Komponente der Bestimmungsfunktion, die in der Funktion des Zurerscheinungbringens enthalten ist, derjenigen der Bedeutungsintentionalität parallel. Wo aber besondere Eigenschaften der sprachlautlichen Gebilde zur Parathaltung von Ansichten führen, die neue, durch die intentionalen Satzkorrelate nicht dargestellte Eigenschaften des Gegenstandes zur Erscheinung bringen, da gewinnen die Ansichten sozusagen eine eigene Bestimmungsfunktion: sie fügen zum Gegenstande etwas Neues hinzu, aber nur dadurch, daß sie als Ansichten die Funktion des Zurerscheinungbringens ausüben. Es hegen da in gewissem Sinne besondere Täuschungen vor, indem etwas zur Erscheinung gelangt, was weder ein autonomes noch ein in der Intentionalität der Bedeutungseinheiten gründendes, rein intentionales 296

Sein hat, also auch im Sinne heteronomen Seins nicht existiert. Und doch scheint es zu existieren, indem es durch eine Ansicht zur Erscheinung gebracht wird. Welche Bedeutung es für die Eigenschaften des gesamten Werkes hat, wenn schematisierte Ansichten darin vorhanden sind, das wird sich am leichtesten verdeutlichen lassen, wenn wir — wenigstens an einigen Beispielen — zeigen werden, wie die Andersheit der Ansichten das Ganze des Werkes modifiziert und ihm, je nach der Art der darin vorwiegenden Ansichten, ein verschiedenes Gepräge verleiht. Prinzipiell betrachtet, können in einem literarischen Werke Ansiebten eines jeden möglichen Gehaltes paratgehalten werden. So können bei der Darstellung ein und derselben gegenständlichen Situation zugleich z.B. visuelle, akustische und taktuelle Ansichten verwendet werden. Ein psychischer Zustand eines „Helden" kann z.B. durch äußere Ansichten seiner leiblichen Verhaltungsweisen und durch innere Ansichten zur Erscheinung gebracht werden usw. Andererseits können schematisierte Ansichten paratgehalten werden, die alle sozusagen von einem einzigen Standpunkt aufgenommen werden. Es ist aber auch möglich, Ansichten zu verwenden, die zu ganz verschiedenen Standpunkten gehören und bunt durcheinander geworfen werden, so daß der betreffende Gegenstand fast zugleich auf verschiedene Weise zur Erscheinung gelangt. Der Leser kann dann die Gegenstände nicht ruhig und sozusagen systematisch betrachten, sondern sie nur durch ein Gewimmel von zusammenwirkenden und in diesem Zusammenwirken zu besonderen Opalisationsphänomenen führenden Ansichten impressionistisch auf sich wirken lassen. Dadurch wird auch die dargestellte Welt nicht nur von verschiedenen Seiten her gezeigt, sondern sie gewinnt auch einen Charakter der Unruhe und Lebendigkeit, der einen besonderen ästhetischen Reiz besitzt. Der weitaus gewöhnlichere Fall ist aber der, daß in ein und demselben Werke eine besondere Art von Ansichten überwiegt und dem Werke dadurch ein charakteristisches Gepräge verleiht. In einem Werke werden z.B. vorwiegend „äußere" Ansichten der sich so oder anders verhaltenden Menschen dazu verwendet, um ihre psychischen Geschehnisse zur Erscheinung zu bringen; in einem anderen Werke dagegen dienen zu demselben Zwecke vor allem mannigfache „innere" Ansichten. Es gibt andererseits Werke, in denen visuelle Ansichten in dem Maße vorwiegen, daß die darge297

stellte Welt im wesentlichen nur eine gesehene Welt ist, in welcher sogar Geschehnisse, die rein akustisch sind oder auch eine akustische Seite haben, entweder ganz eliminiert oder nur vom Visuellen her bestimmt werden. Handelt es sich z.B. um ein heftiges Zuschlagen der Tür durch einen in Wut versetzten Menschen, so sieht man in diesem Falle, wie die Tür mit einer heftigen B e w e g u n g gestoßen wird und bei dieser Bewegung so und so aussieht, man hört aber nicht, wie sie beim Zuschlagen donnert. Wird z.B. das Schreien desselben wütenden Menschen beschrieben, so hören wir nicht die schrillen Laute, die aus seiner Kehle in den Raum dringen und ihn in gewissem Sinne durchbohren, sondern es wird uns gezeigt, wie die Gesichtsmuskeln sich beim Schreien heftig anspannen, wie das Gesicht dabei aussieht, wie der betreffende Mensch den Mund auf einmal weit öffnet und ihn gewissermaßen nicht zu schließen vermag, weil die tobende Wut ihn zwingt, dem Gegner immer neue Ausrufe zuzuschleudern u. dgl. mehr. In einem anderen Werke kann eine ähnliche Situation in vorwiegend akustischen Ansichten zur Erscheinung gebracht werden, so daß wir diesen Menseben nur toben und schreien hören, ihn aber in dieser Situation nicht zu sehen bekommen. Auch wenn es sich in beiden Fällen um eine und dieselbe Situation handelte, würde sie — als eine rein intentionale genommen — durch Verwendung anderer Sachverhalte und durch Parathaltung verschiedener Reihen von Ansichten nicht unwesentlich modifiziert werden, indem sie von einer anderen Seite bestimmt und erfaßt würde, andere Unbestimmtheitsstellen in sich enthielte und evtl. auch eine andere ästhetische Valenz besäße. Und nur weil wir bei der Lektüre gewöhnlich über das rein im Werke Dargebotene hinausgeben und über die Unbestimmtheitsstellen hinwegschauen1, glauben wir es in beiden Fällen mit vollkommen „derselben" dargestellten Situation zu tun zu haben. Würde man z.B. ein Uterarisches Kunstwerk auf eine solche Weise übersetzen, daß zwar die dargestellten Gegenständlichkeiten in denselben Sachverhalten konstituiert wären und vollkommen dieselben Momente wie im „Original" besäßen, daß aber zugleich die Schicht der Ansichten etwa durch Verwendung eines anderen Lautmaterials so geändert wäre, daß z.B. die früher vorwiegenden visuellen Ansichten in der Übersetzung zum größten Teil durch akustische Ansichten ersetzt wiir1 Damit gehen wir aber auch über das betreffende literarische Werk hinaus und haben es mit einer seiner möglichen Konkretisationen zu tun.

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den, so müßte der Gesamtcharakter des Werkes dadurch allein •wesentlich geändert werden. Man könnte dann mit Recht fragen, ob wir es noch mit demselben Kunstwerk zu tun haben. Ein anderer wichtiger Unterschied zwischen den Werken ergibt sich daraus, daß in einem Werke vorwiegend oder sogar ausschließlich solche Ansichten paratgehalten werden, die sozusagen unser aller gemeinsames Gut oder zumindest das bestimmter Leserkreise bilden, indem sie nicht nur allgemein bekannt, sondern auch das Alltägliche und Durchschnittliche der Erscheinungsweise sind, während im anderen Falle Ansichten auftreten, in denen wir nur selten und unter außerordentlichen Umständen Gelegenheit hatten, den dargestellten Gegenständen ähnliche Gegenstände wahrzunehmen1. Die unbekannten, ungewöhnlichen Ansichten zeigen uns ein ganz neues „Gesicht" der dargestellten Welt, sie erlauben uns, neue Einzelheiten in längst bekannten und langweiligen Situationen zu entdecken, wenn sie uns auch zunächst die richtige Erschauung der dargestellten Gegenständlichkeiten erschweren. Die Verwendung derartiger Ansichten gibt der dargestellten Welt einen Glanz der Neuheit und Interessantheit, der für sich selbst einen positiven, wenn auch nur einen vorübergehenden, ästhetischen Wert bildet. Oft kann das Auftreten neuer literarischer Richtungen darauf zurückgeführt werden, daß die dargestellten Gegenstände in durchaus neuen, bis jetzt nicht verwendeten Ansichtsmannigfaltigkeiten zur Erscheinung gebracht werden. Natürlich wirkt dabei nicht nur die Ungewöhnlichkeit dieser Ansichten, sondern einerseits der schon erwähnte Umstand, daß der Wechsel in der Art der Ansichten eine Modifizierung der dargestellten Gegenstände, andererseits aber, daß er auch das Auftreten neuer — wenn man so sagen darf — dekor a t i v e r Momente der Ansichten mit sich führt2. Mit dem besprochenen Unterschiede kann sich ein anderer kreuzen, der ihm verwandt, aber nicht mit ihm zu identifizieren ist. Wenn uns manche Ansichten bekannter als andere geworden sind und wenn sich zugleich eine Gewohnheit ausgebildet hat, die entsprechenden Dinge vorwiegend in ihnen wahrzunehmen und vorzu1 Dieser Unterschied spielt mutatis mutandis auch eine wichtige Rolle in der Malerei und insbesondere bei Porträts bzw. bei der Beurteilung ihrer „Ähnlichkeit" mit dem Modell. 2 Sofern man das literarische Kunstwerk als „Ausdruck" der Stellung dee Autors oder seiner Zeitgenossen zu der Welt betrachtet, kann dieser Wechsel einen Wechsel in der Art des Sehens und Fühlens, aber auch in der Art des ästhetischen Geschmacks des Autors und seiner Zeit widerspiegeln.

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stellen1, so kann dies seinen Grund einerseits in der Tatsache haben, daß manche Dinge uns zufälligerweise gerade in einer bestimmten Auswahl von Ansichten öfters gegeben waren und daß wir aus irgendwelchen praktischen Rücksichten ein Interesse daran hatten, diese Dinge gerade in solchen Ansichten wahrzunehmen. Die Bekanntheit mancher typischen Ansichten kann aber auch einen anderen Grund haben : Wie eine genauere Analyse zeigt, haben nicht alle prinzipiell zu einem Gegenstande gehörigen Ansichten die Fähigkeit — wenn uns das Wort erlaubt wird —, ihn in seinem eigenen Wesen, in den B e s o n d e r h e i t e n seines Soseins, zur deutlichen Präsentation zu bringen. Beim Erleben mancher von ihnen „springt uns" — wie man sagt — das besonders charakteristische und sein ganzes Wesen zur Ausprägung bringende Moment sofort „ins Auge", während andere Ansichten uns den erkenntnismäßigen Zugang zu dem Wesen desselben Gegenstandes nicht, oder wenigstens nicht in demselben Maße, zu eröffnen vermögen. In dem ersteren Falle etabliert sich sozusagen das eigene Antlitz des Gegenstandes, in dem letzteren dagegen nehmen wir nur das Zufällige oder das an der Oberfläche Liegende, Durchschnittliche, Alltägliche war. Besonders deutlich tritt dieser Unterschied unter den Ansichten beim unmittelbaren Erfassen fremder psychischer Zustände und Charakterzüge hervor. Freilich mag es in Anbetracht der Kompliziertheit dieser Erkenntnisart zweifelhaft sein, woran es eigentlich liegt, daß 1

Diese Gewohnheit kann so weit gehen, daß sie zu merkwürdigen Verdeckungen f ü h r t : Ist sie ausgebildet, so kann es vorkommen, daß wir fast nicht fähig sind, ein» ungewöhnliche Ansicht rein zu erleben. Wir vermögen dann nicht, unbekannt» gegenständliche Eigenschaften zur erfassenden Wahrnehmung zu bringen, sondern wir interpretieren sozusagen unbewußt und unwillkürlich die aktuell erlebten Ansichten im Sinne der ehemals von uns öfters erlebten und nehmen das aktuell gegebene Ding unter dem Aspekte des schon Bekannten wahr. Das aktuell Erlebte und Wahrgenommene wird durch das ehemals Erlebte bis zu einem hohen Grade verdeckt. Besondere bestimmte praktische Einstellungen führen oft zu solchen Verdenkungen. I n diesem Sinne hätte H. B e r g s o n mit seiner Bede von „praktischen Schemata" recht. Aber sowohl B e r g s o n , wie neuerdings auch M. H e i d e g g e r , sind im Irrtum, wenn sie meinen, daß diese praktischen Schemata das Ursprüngliche sind. Insbesondere macht H e i d e g g e r einen Fehler, wenn er behauptet, daß die rein erkennende Einstellung in dieser praktischen f u n d i e r t sei. Er übersieht dabei sowohl die Tatsache, daß die praktische Einstellung auf dem Grunde primitiver Erkenntnisweisen sich ausbildet und zu den eben angedeuteten Verdeckungen führt, wie auch, daß die letzteren b e s e i t i g t werden müssen und nicht zugrunde gelegt (wie das Wort „Fundierung" anzudeuten scheint!), wenn die Rückkehr zum r e i n e n Wahrnehmen erreicht werden soll. In dieser letzteren Hinsicht muß B e r g s o n recht gegeben werden. Leider ist aber B e r g s o n sowohl die Auffassung der praktischen wie diejenige der reinen, intuitiven Erkenntnis in vielen Punkten nicht gelungen.

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•wir in einem Gesichtsausdruck manchmal sofort den ganzen Menschen in seinen wesentlichsten Zügen erfassen, in einem anderen dagegen gar nichts oder nur sehr wenig von seiner seelischen Struktur und von dem gerade sich abspielenden psychischen Zustand erraten können. Viele Forscher werden dabei der Behauptung beipflichten wollen, daß diese enthüllende bzw. verdeckende Funktion vor allem der Gesichtsausdruck selbst spielt. So richtig das ist, so ist doch nicht zu übersehen, daß die Wahl der Ansichten, in welchen ein und derselbe Gesichtsausdruck zur Gegebenheit kommt, auch von großer Bedeutung ist. Es genügt z.B., das Gesicht eines Menschen und sein Mienenspiel in einer ungewöhnlichen, starken perspektivischen Verkürzung, z.B. von oben bzw. von unten her, zu betrachten, um sich zu überzeugen, daß der Wechsel der Ansichten oft fast zur Nichtwiedererkennbarkeit vor allem des Gesichtsausdrucks selbst und in der Folge auch des entsprechenden Charakterzuges (bzw. psychischen Zustandes) führt. Dasselbe gilt für die Erscheinungsweise der toten Dinge. Es ist somit für das literarische Kunstwerk von der allergrößten Wichtigkeit, welche Mannigfaltigkeiten von Ansichten in ihm paratgehalten werden. Soll die dargestellte Welt wirklich „Blut" und Frische haben, soll das Werk das Eigenste und Wesentliche der dargestellten Gegenstände enthüllen, so müssen in ihm Mannigfaltigkeiten von Ansichten paratgehalten werden, die eine große Enthüllungskraft haben. Ein anderer Unterschied in der Erscheinungsweise der dargestellten Gegenständlichkeiten, auf den wir hier noch hinweisen möchten, springt uns ins Auge, wenn wir z.B. die älteren Werke der „erzählenden" Literatur (aber auch noch z.B. den „Zauberberg" von Thomas Mann) mit den Werken der jüngsten, expressionistischen Periode vergleichen. Wie wir oben bemerkt haben, ist es prinzipiell nicht möglich, alle Mannigfaltigkeiten und lückenlose K o n t i n u a von Ansichten paratzuhalten. Unter den einzelnen Werken kann es jedoch beträchtliche Unterschiede in dem Grade der Lückenhaftigkeit bzw. in der Art, wie die einzelnen Ansichten zusammenhängen, geben. Lesen wir z.B. die ersten Kapitel vom „Zauberberg" (ein Werk, das in dieser Hinsicht besonders lehrreich ist), so finden wir nicht nur eine Mannigfaltigkeit von aufeinanderfolgenden, eng untereinander zusammenhängenden Sachverhalten vor, die eine fast lückenlose Geschichte zur Darstellung bringen, sondern es werden uns zugleich eng zusammenhängende Ansichten von den entsprechenden Gegenständlichkeiten aufgezwungen. Gehen 301

wir z.B. mit dem Helden dieses Romans aus seinem Zimmer durch den Korridor und das Treppenhaus in den Speisesaal hinunter, so verschieben sich vor unseren Augen fast kontinuierlich die zugehörigen Gegenstände in entsprechenden Ansichten, so daß wir zunächst das Zimmer, dann den Korridor usw. im Vorbeigehen, so wie es sich uns in Wirklichkeit nacheinander darbieten würde, sehen können. Das ist nicht nur die große Kunst Thomas Manns 1 , sondern auch ein charakteristisches Gepräge einer Richtung der literarischen Kunst, die hier ihren Höhepunkt erreicht. Und es ist nicht ein Mangel oder eine Unfähigkeit, die Funktion des Zurerscheinungbringens entsprechend zu gestalten, sondern ein anderer künstlerischer Wille, welcher zu eigenen, neuartigen Effekten führt und ebenfalls eine „große Kunst" sein kann, wenn wir etwa in expressionistischen literarischen Werken nicht bloß vorwiegend momentane, nicht unmittelbar zusammenhängende gegenständliche Situationen dargestellt, sondern sie auch in Ansichten zur Erscheinung gebracht finden, die sozusagen aus den Kontinuen, in denen sie Durchgangsphasen bilden, herausgerissen sind und einander sprunghaft ablösen: eine jede solche Ansicht ist da fast wie ein photographisches Momentbild, das auf einmal aufleuchtet und erlischt. Und wenn eine neue Ansicht auftaucht, so ist sie keine Verlängerung, keine unmittelbar darauffolgende Phase desselben Ansichtenkontinuums, sondern etwas mit der vorangehenden Ansicht Nichtzusammenhängendes, von ihr durch eine Kluft des Nichtvorhandenseins der Ansichten geschieden. Vielleicht haben, gerade durch ihr plötzliches Aufleuchten und Verschwinden, durch ihr ruckartiges Sichablösen, die einzelnen „Momentaufnahmen" — wenn man so sagen darf — ihre große Leuchtkraft und zugleich auch die große Kraft der Enthüllung der in ihnen erscheinenden Gegenstände. Darin liegt einer der wesentlichen Züge des literarischen Expressionismus, wenn damit auch sein Wesen durchaus nicht erschöpfend dargestellt ist. Der eben angedeutete Unterschied in der Erscheinungsweise ist nicht ohne Folgen für die dargestellten Gegenständlichkeiten selbst. In dem ersteren Falle entwickelt sich vor unseren Augen ein fast kontinuierliches Geschehen, im letzteren dagegen gibt es nur eine lose Folge von momentanen Situationen, von Wendepunkten, 1 Ganz meisterhaft in dieser Hinsicht ist der Anfang der Novelle „Herr und Hund".

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deren Übergangsphaeen nicht unmittelbar dargestellt werden und in diesem Sinne überhaupt fehlen, von Wendepunkten, die dabei selbst so bestimmt sind, daß sie sozusagen „selbstgenügsam" sind und zur mittelbaren Darstellung der fehlenden Phasen entweder überhaupt nicht oder nur in bescheidenem Maße tendieren. Unzweifelhaft hat dies letzten Endes seinen Grund in der Weise, wie die Sachverhalte durch die Satzsinne entworfen werden, aber die paratgehaltenen Ansichten verstärken noch diese Momenthaftigkeit der so dargestellten Welt und verleiblichen sie in diesem charakteristischen Gepräge. Wie wir sehen, kann die Art der in einem Werke vorwiegenden Ansichten ihm nicht bloß ein charakteristisches Gepräge geben, sondern auch Stilunterschiede unter den Werken hervorbringen. Spezielle hier einsetzende Untersuchungen könnten von da aus ein völlig neues Licht auf die Unterschiede unter den literarischen Richtungen werfen. Die folgenden Betrachtungen werden uns in dieser Überzeugung noch bestärken.

§ 46. D e k o r a t i v e u n d a n d e r e ä s t h e t i s c h r e l e v a n t e Eigenschaften der Ansichten. Neben den im vorigen Paragraphen besprochenen Unterschieden unter den Ansichten hinsichtlich ihrer Funktion des Zurerscheinungbringens treten noch andere Unterschiede auf, die mit denjenigen Elementen und Eigenschaften der Ansichtgehalte im Zusammenhang stehen, welche Träger von ästhetischen Werten sind. Wir wollen darauf noch mit einigen Sätzen eingehen. Bedienen wir uns zunächst einer Analogie. Wenn ein künstlerisch begabter Photograph eine gute Aufnahme machen will, so wählt er vor allem aus vielen möglichen Ansichten des betreffenden Gegenstandes diejenige aus, welche nicht nur die Ähnlichkeit des Bildes mit dem betreffenden Gegenstande verhältnismäßig am besten hervorzubringen vermag, sondern zugleich in sich selbst besondere ästhetisch relevante Vorzüge z.B. hinsichtlich der Lichteffekte, des Linienganges, der stimmungsmäßigen Momente u.dgl. mehr enthält. Zu diesem Zwecke muß er vor allem die normaliter nur schlicht erlebten und nicht beachteten visuellen Ansichten bewußt erschauen und sie ζ. B. auf ihre Lichteffekte usw. abschätzen. Er muß zugleich für die in diesen Licht-, Farben- und Linieneffekten 303

gründenden ästhetischen Werte, vorwiegend dekorativer Art, besonders empfindlich sein. Das, was darauf folgt : die Rekonstruktion der ausgewählten Ansicht mit photographischen Mitteln1, ist nur mehr oder weniger geübte Technik. Ähnliche Momente der Ansichten haben z.B. auch die Bildhauer im Auge, wenn sie — etwa bei einem Denkmal — eine menschliche Figur, die auf einem hohen Postament stehen und somit von unten und von einer bestimmten Entfernung betrachtet werden soll, nicht nach rein anatomischen Proportionen bilden, sondern sie so gestalten, daß sie, von unten gesehen, einen beabsichtigten „Eindruck" (d.h. nichts anderes als eine mit besonderen ästhetischen Wertqualitäten behaftete Ansicht) hervorrufen kann. Mit anderen Worten: Unter den visuellen Ansichten gibt es solche, deren Gehalt im Hinblick auf die Wahl der Farben und Farbenkombinationen und auf die Wahl ihrer Gestalt und Anordnung positive (bzw. in anderen Fällen negative) ästhetische Wertqualitäten in sich birgt2. Es würde uns hier zu weit führen, näher zu analysieren, welcher Art diese Wertqualitäten bzw. Werte sein können und welche Typen unter ihnen möglich sind3·. Wir müssen uns da auf die Feststellung beschränken, daß die Schicht der Ansichten in literarischen Werken eigene ästhetische Wertqualitäten enthält und eigene ästhetische Werte konstituieren kann, je nach dem Typus der Ansicht und der Art ihres Gehaltes, und daß innerhalb einer und derselben Art dieser Gehalte noch verschiedene miteinander harmonisierende Systeme von Wertqualitäten möglich sind. Diese Systeme konstituieren ihrerseits das, waa man den Stil einer Ansichtsmannigfaltigkeit nennen kann und was eine wertbehaftete, in den Elementen und dem Typus der Ansichten sowie in den in ihnen vorhandenen Wertqualitäten sich konstituierende G e s t a l t ist. Diese Stileigentümlichkeiten und -unterschiede werden aber gewöhnlich sowohl beim konkreten Erleben wahrnehmungsmäßiger Ansichten als auch bei ihrer phantasiemäßigen Aktualisierung nicht als ansichtsmäßige Eigentümlich1 Natürlich sind die Schatten- und Farbenflecke, die durch chemische Wirkung auf der photographischen Platte entstehen, nicht mit einer erlebten konkreten Ansicht zu identifizieren. Nur das, was mittels dieser Flecke beim Betrachten des Bildes hervorgerufen werden soll, ist eine Ansicht, die einer Ansicht des photographierten Gegenstandes ähnlich ist bzw. sein soll. 2 . Mutatis mutandis gilt das auch in bezug auf Ansichten anderer sinnlicher Gebiete. 3 Es ist ein weites Thema für die Kunsttheoretiker und -historiker und insbesondere auch für die Literaturwissenschaft, dies genau herauszustellen.

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keiten für sich erfaßt, sondern sie prägen sich in besondere Stileigentümlichkeiten und -unterschiede der in ihnen erscheinenden Gegenstände um. Aber sie gehören den letzteren nur als erscheinenden Gegenständen zu. Oder anders gesagt: Indem diese oder andere Gegenstände in Ansichten erscheinen, die hinsichtlich des Stils bestimmt charakterisiert sind, weisen sie selbst besondere wertqualitative Stileigentümlichkeiten auf. Da aber die Ansichtsmannigfaltigkeit, rein ontologisch betrachtet, im Falle s e i n s a u t o nomer und insbesondere realer Gegenstände, weder einen Bestandteil von ihnen bildet noch sie seinsmäßig bedingt, so würden auch die in Betracht kommenden Stileigentümlichkeiten überhaupt fortfallen, wenn die Ansichtsmannigfaltigkeiten überhaupt nicht vorhanden wären. Diese Stileigentümlichkeiten bilden nichts, was realen Gegenständen als eine ihrer realen Eigenschaften zukäme. Ähnliche Sachlagen, aber in entsprechender Modifizierung, liegen bei den in Uterarischen Werken schematisierten und paratgehaltenen Ansichten vor. Es ist möglich, durch entsprechende Mittel, die hier nicht näher analysiert werden sollen, im literarischen Werke Ansichten paratzuhalten, die die oben angedeuteten wertqualitativen Momente, vorwiegend dekorativer Art, in sich enthalten und die bei konsequenter Durchführung nicht bloß den an einzelnen Situationen teilnehmenden Gegenständen, sondern überhaupt der ganzen in einem bestimmten Werke dargestellten und zur Erscheinung gebrachten Welt einen besonderen, von dem Typus ihrer Erscheinungsweise abhängigen, ästhetisch relevanten Stil aufprägen. Und die ästhetisch relevanten Momente der schematisierten Ansichten spielen dabei in literarischen Kunstwerken eine viel bedeutendere Rolle als bei konkreten Ansichten, in welchen uns reale Gegenstände erscheinen. Denn erstens sind die dargestellten Gegenstände in ihrer ontischen Konstitution auch von den paratgehaltenen Ansichten, vermöge der oben besprochenen Bestimmungsfunktion der letzteren, abhängig, was bei realen Gegenständen nicht der Fall ist. Infolgedessen werden sie in ihren Gehalten durch die paratgehaltenen Ansichten um die entsprechenden wertqualitativen Momente und Stileigentümlichkeiten bereichert. Zweitens aber hat diese Bereicherung im literarischen Kunstwerke eine besondere Bedeutung. Denn die Gegenstände werden in vielen Werken vor allem zu dem Zwecke dargestellt, damit sie in wertqualifizierten Ansichten erscheinen und dadurch besondere Stileigentümlichkeiten tragen. Würden sie dieser Eigentümlichkeiten 20 Ingarden, Das Uterarische Kunstwerk

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ganz beraubt, so wären sie in manchem Werke als Elemente des Kunstwerks ganz indifferent, und das entsprechende Werk müßte hinsichtlich seines ästhetischen Wertes starke Einbuße erleiden. Endlich können wir uns zu den realen Gegenständen auf sehr mannigfache Weise verhalten, und nur eine unter ihnen ist die ästhetische Verhaltungsweise. Falls sie vorhanden ist und ästhetische Wert© zur Erschauung bringt, besitzt sie ihren eigenen Sinn und ihre eigene Stellung in unserem Leben. Sie ist aber trotzdem nur etwas Sekundäres, etwas, was nur ein Ornament, ein Luxus im praktischen Leben ist. Das reale tätige Leben schiebt andere Verhaltungsweisen den Gegenständen gegenüber und andere Wertsysteme in den Vordergrund. Somit ist es eher ein Zufall, wenn die ästhetisch relevanten Stileigentümlichkeiten der Gegenstände zur Erfassung gelangen. Gerade umgekehrt ist es im Falle eines Kunstwerkes und insbesondere eines literarischen Kunstwerkes. Zwar sind auch hier verschiedene Einstellungen den dargestellten Gegenständen gegenüber möglich, aber die ästhetische ist hier in dem Sinne primär, daß sie es ist, auf die es in erster Linie ankommt, auf die das Kunstwerk „berechnet" ist. Diese Einstellung aber fordert in gewissem Sinne, daß die uns entgegentretenden Gegenstände mit ästhetischen Wertqualitäten behaftet sind, u. a. also, daß sie auch mit denjenigen Stileigentümlichkeiten ausgestattet sind, welche ihnen von den ihrem Gehalte nach entsprechend gebauten Ansichten zufließen. Mit anderen Worten : Diese Wertqualitäten und Stileigentümlichkeiten gehören den dargestellten Gegenständen als ästhetischen Gegenständen w e s e n s m ä ß i g zu. Das besagt natürlich noch nicht, daß es überhaupt kein literarisches Werk geben könne, in welchem die dargestellten Gegenstände durch k e i n e von den Ansichten herfließenden Wertqualitäten ausgestattet wären. Das bedeutet nur : F a l l s ein literarisches Werk ein echtes K u n s t w e r k sein soll, so müssen die paratgehaltenen Ansichten den in ihnen erscheinenden Gegenständen irgendwelche Momente und Stileigentümlichkeiten der hier besprochenen Art verleihen. Und wiederum ist es nicht notwendig, daß sie einen j e d e n in einem literarischen Kunstwerke dargestellten Gegenstand und in j e d e r seiner Situationen auszeichnen. Es gibt aber in dem ganzen Verlauf der „Geschichte", die dargestellt wird, immer Phasen, die in gewissem Sinne Kulminationspunkte des Werkes sind, und daneben auch solche, die nur Vorbereitung oder Durchgang zu einer neuen Kulminationsphase bilden1. Soll ein 1

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Diese Bemerkung bringt uns den Gedanken nahe, daß das literarische Werk

literarisches Werk ein Kunstwerk sein, so müssen wenigstens die Kulminationssituationen Gegenstände in sich enthalten, die durch ästhetisch wertqualifizierte Ansichten zur Erscheinung gebracht werden1. Dagegen können die Vorbereitungs- und Durchgangsphasen in dieser Hinsicht indifferent sein, wenn sie auch keine den darauffolgenden Kulminationsphasen widerstreitenden Wertqualitäten in sich bergen dürfen und somit in ihrem Gehalte mindestens so gestaltet werden müssen, daß sie die Entfaltung der Wertqualitäten in der darauffolgenden Kulminationsphase ermöglichen. Die eben durchgeführten Betrachtungen zeigen die Wichtigkeit der Rolle, welche die Schicht der paratgehaltenen Ansichten im literarischen Kunstwerk spielt. Sie ist de facto ein wesentliches Element, dessen Beseitigung das literarische Kunstwerk in ein bloßes literarisches Werk verwandeln würde.

10. Kapitel. Die Bolle der dargestellten Gegenständlichkeiten im literarischen Kunstwerk und die sogenannte „Idee" des Werkes. § 47. H a t die g e g e n s t ä n d l i c h e S c h i c h t ü b e r h a u p t e i n e F u n k t i o n im l i t e r a r i s c h e n K u n s t w e r k e ? Wenn wir die verschiedenen Schichten des literarischen Werkes in ihrer Rolle für das Ganze zu erfassen suchen, so scheinen zunächst alle anderen Schichten vor allem zu dem Zwecke im Werke vorhanden zu sein, um die Gegenstände zur entsprechenden Darstellung zu bringen ; die gegenständliche Schicht selbst scheint dagegen nur noch in einer anderen Richtung, als wir es bis jetzt taten, durchforscht werden muß. Vgl. 11. Kap. 1 0 . Walzel scheint dem nahe zu sein, wenn er sagt: „Alle Dichtung scheidet sich auch so lange nicht von der Wissenschaft, als sie sich auf begriffliche Worte beschränkt. Zur Kunst wird sie nur, wenn sie, und soweit sie, ihre Inhalte an Erkenntnis, Wollen und Fühlen in sinnlich wirksamer Weise vorträgt, wenn sie diese Inhalte in Gestalt wandelt" (vgl. O. Walzel, „Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichtere", S. 178). Walzel hat hier natürlich recht, so lange man aber die „sinnlich wirksame Weise" des Vortrage nicht genauer analysiert und die ganze Schicht der paratgehaltenen Ansichten nicht entdeckt, ist damit wenig getan. 20

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um ihrer selbst willen im literarischen Kunstwerk zu sein und somit nicht nur das wichtigste Element, den Zentralpunkt des literarischen Kunstwerkes, um dessentwillen alles andere in dem letzteren vorhanden ist, zu bilden, sondern auch ein Etwas zu sein, das keine andere Funktion mehr hat, als einfach da zu sein. Tatsächlich richtet sich auch unsere aufmerksame Intention bei der Lektüre eines Werkes vor allem auf die dargestellten Gegenständlichkeiten1. Wir sind auf sie eingestellt, und unser meinender Blick gelangt in ihnen zu einer gewissen Ruhe und Befriedigung, während wir an den übrigen Schichten bis zu einem gewissen Grade achtlos vorbeigehen und sie jedenfalls nur insofern nebenbei beachten, als es nötig ist, die Gegenstände thematisch zu erfassen. Mancher naive Leser interessiert sich überhaupt nur für die Schicksale der dargestellten Gegenstände, während alles übrige für ihn fast nicht vorhanden ist. Bei Werken, in welchen die dargestellten Gegenstände in der Repräsentationsfunktion begriffen sind2, wollen solche Leser nur irgendetwas von der repräsentierten Welt erfahren. Und da zugleich die repräsentierte, in dem gewöhnlichen Falle reale Welt, die dann das Hauptthema des Interesses bildet, als etwas aufgefaßt wird, das nur um seiner selbst willen da ist und keine Funktionen ausübt, so wird auch die im literarischen Kunstwerk dargestellte Welt im gleichen Sinne aufgefaßt. Damit steht es nur im Einklang, wenn die meisten Werke der Literaturgeschichte sich gewöhnlich vor allem mit den dargestellten Gegenständen beschäftigen, um dann nach einigen Analysen über die Eigentümlichkeiten dér „Sprache" oder über die Art der von dem betreffenden Autor verwendeten „Bilder" 2u verschiedenen genetischen Problemen überzugehen. Sosehr dies durch verschiedene Umstände der Lektüre und durch die Rolle, die die Literatur für den praktischen Menschen spielt, verursacht sein mag, so ist es andererseits unzweifelhaft, daß das literarische Kunstwerk dadurch schief aufgefaßt wird. Und zwar aus doppeltem Grunde: 1. weil aus allen Schichten des Werkes nur eine zum Schaden der übrigen gewissermaßen die Stelle des ganzen Werkes einzunehmen scheint, 2. weil dadurch etwas übersehen wird, was von der gegenständlichen Schicht unmittelbar abhängt und 1 Hier haben wir einen Fall der „Interesseverteilung", von welcher W. Conrad spricht. 2 Diese Funktion ist übrigens selbst schon etwas, was der angeblichen Selbstgenügsamkeit und Funktionslosigkeit der gegenständlichen Schicht widerstreitet. Um diese Funktion handelt es sich aber jetzt nicht.

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wae im literarischen Kunstwerk seinen K e r n bildet, um dessentwillen alles andere in ihm — und somit auch die dargestellten Gegenstände — bis zu einem gewissen Grade die „Staffage", ein Mittel (wenn auch nicht nur ein Mittel!) bildet. Man hat freilich oft genug gesagt: Die Gegenstände werden im literarischen Kunstwerk dargestellt, damit etwas anderes erreicht werde. Und im Laufe der Zeit hat sich sogar dieses Andere sehr vervielfältigt. So meinte man, die dargestellten Gegenstände (obwohl man ihren prägnanten Begriff nie herausgearbeitet hat) sollen in uns diese oder jene Gefühle und Stimmungen wecken oder uns belehren oder uns ethisch beeinflussen oder endlich, sie sollen die Erlebnisse des Autors und ihn selbst „zum Ausdruck" bringen. — All dies soll hier weder geleugnet noch bejaht, sondern nur in dem Sinne zurückgewiesen werden, daß damit eine ganz andere Frage berührt wird : die Frage nämlich nach der Rolle des literarischen Kunstwerkes im gesamten menschlichen kulturellen Leben bzw. die Frage nach der Beziehung des Werkes zum Autor. Uns beschäftigt hier dagegen das vollkommen andere Problem, ob nämlich die gegenständliche Schicht in dem Aufbau des l i t e r a r i s c h e n K u n s t w e r k e s s e l b s t etwas leistet, wodurch in ihm selbst noch ein Element — und vielleicht das wichtigste — auftaucht, oder ob sich ihre Rolle in ihrem bloßen Vorhandensein erschöpft. Bei den eben erwähnten Theorien ging man zudem oft viel zu weit und meinte, daß die dargestellten Gegenstände nur dazu dienten, etwas zu leisten, z^B. eine von dem Verfasser erfaßte „Idee" zum Ausdruck zu bringen. Die Rede von Mittel und Zweck ist hier freilich überhaupt nicht ganz am Platze, wo es sich um Rollen bzw. Funktionen der Elemente eines organischen Ganzen für dieses Ganze handelt. Aber auch unter diesem schiefen Aspekte muß gesagt werden, daß die gegenständliche Schicht, ungeachtet der Funktionen, die sie ausübt, doch zugleich einen Zweck für sich selbst bildet. Sie soll sozusagen im Werke geschaffen und zur Erscheinung gebracht werden und als geschaffene einfach sein. Aber dabei „soll" sie zugleich noch etwas leisten. Es fragt sich nur, worin ihre Leistung besteht und was diese Leistung hervorbringt. Um zunächst eine schon erwähnte Theorie zurückzuweisen, nach welcher die dargestellten Gegenstände ein Mittel seien, eine „Idee" auszudrücken, muß bemerkt werden, daß sie insofern verfehlt ist, als sie das Wort „Idee" in einem falschen oder mindestens sehr platten Sinne verwendet. Man meint darunter nichts anderes als 309

einen w a h r e n S a t z , eine „Wahrheit" — wie man gewöhnlich sagt —, die uns der Autor im Prinzip viel klarer und kürzer sagen könnte, ohne z.B. ein Drama zu schreiben. Mit anderen Worten: Man meint darunter einen r e i n r a t i o n a l e n S i n n , von dem noch angenommen wird, daß er w a h r sei. Die Literarhistoriker und die Kritiker versuchen auch mit Mühe, diese „Idee" — diesen angeblich wahren rationalen Sinn — aus dem Gewebe des Uterarischen Kunstwerkes herauszuarbeiten (oder besser: herauszukonstruieren), und meinen damit etwas Wertvolles geleistet zu haben. Es gibt auch unzweifelhaft Uterarische Werke und Autoren, die uns diese Behandlungsart suggerieren (tendenziöse Literatur). Gerade bei den Werken aber, die echte K u n s t w e r k e sind, ist dies Bemühen verfehlt, denn es faßt das Uterarische Kunstwerk von einer Seite, die uns zwar a u f G r u n d des Werkes solche „Wahrheiten" zu k o n s t r u i e r e n erlaubt, die aber in ihm von untergeordneter Bedeutimg ist. Dagegen wird bei dieser Auffassung das bedeutendste Element des Uterarischen Kunstwerkes übersehen, das durch die Funktion der gegenständlichen Schicht unmittelbar hervorgebracht wird, obwohl es letzten Endes von den übrigen Schichten abhängig ist und in ihnen seinen letzten Seinsgrund hat. Worum handelt es sich also und worin Uegt die gesuchte Funktion der dargestellten Gegenstände ? — das ist das Problem. Um es zu lösen, müssen wir uns zunächst auf ein anderes Gebiet begeben.

§ 48. M e t a p h y s i s c h e Q u a l i t ä t e n ( W e s e n h e i t e n ) . Es gibt einfache oder auch „abgeleitete" QuaUtäten1 (Wesenheiten), wie ζ. B. das Erhabene, das Tragische, das Furchtbare, das Erschütternde, das Unbegreifbare, das Dämonische, das Heüige, das Sündhafte, das Traurige, die unbeschreibbare HelUgkeit des Glückes, aber auch das Groteske, das Reizende, das Leichte, die Ruhe usw. Diese QuaUtäten sind keine g e g e n s t ä n d l i c h e n „Eigenschaften" im gewöhnlichen Sinne, aber im aUgemeinen auch keine „Merkmale" dieser oder jener psychischen Zustände, sondern sie offenbaren sich gewöhnUch in komplexen und oft untereinander sehr verschiedenen S i t u a t i o n e n , E r e i g n i s s e n , als eine spezifische Atmosphäre, die über den in diesen Situationen sich befindenden 1

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Nach meiner Terminologie in den „Essentialen Fragen".

Menschen und Dingen schwebt und doch alles durchdringt und mit ihrem Lichte verklärt1. In unserem gewöhnlichen, nach praktischen, alltäglichen, „kleinen" Zwecken orientierten und auf ihre Realisierung eingestellten Leben kommen sehr selten Situationen vor, in welchen diese Qualitäten offenbar werden. Das Leben fließt, wenn man so sagen darf, „sinnlos" dahin, grau und bedeutungslos, wenn auch noch so große Werke in diesem Ameisenleben realisiert werden mögen. Und dann kommt ein Tag — wie eine Gnade —, in welchem vielleicht aus unmerklicben und unbeachteten, gewöhnlich auch verdeckten Gründen ein „Ereignis" entsteht, das uns und unsere Umwelt mit einer solchen unbeschreibbaren Atmosphäre umhüllt. Welcher besonderen Art die Qualität dieser Atmosphäre sein mag, furchtbar oder entzückend bis zur Selbstvergessenheit, sie ist es, die wie leuchtende, vollfarbige Pracht sich von dem alltäglichen Grau der Tage abscheidet und das betreffende Ereignis zu einem Kulminationspunkte des Lebens macht, ungeachtet dessen, ob sie das grausam-sündhafte Erschauern des Mordes oder die seelische Verzückung in der Einigung mit Gott zum Fundament hat. Diese sich von Zeit zu Zeit offenbarenden „metaphysischen" Qualitäten — wie wir sie nennen wollen — sind es, die dem Leben einen Erlebenswert verleihen und nach deren konkreter Offenbarung eine geheime Sehnsucht hinter allen unseren Handlungen und Taten in uns lebt und uns treibt, ob wir es wollen oder nicht. Ihre OfFenbarung bildet die Gipfel und die letzten Tiefen des Seienden. Welches ihre metaphysische Stellung sein mag, welche Rolle ihre Offenbarung und Realisierung im menschlichen oder sonstigen Leben spielen mag — Probleme, die unsere Vorbereitimg übersteigen und nicht zu unserem Thema gehören —, jedenfalls läßt sich sagen: 1. Unabhängig davon, ob sie in sich selbst positiv- oder negativwertig sind, stellt ihre Offenbarung einen positiven Wert den grauen, gesichtslosen Erlebnissen des Alltags gegenüber dar. 2. In ihrer eigentümlichen Gestalt lassen sie sich nicht rein rational bestimmen und „begreifen" (wie man z.B. einen mathematischen Lehrsatz „begreift"), sondern sie lassen sich lediglich in bestimmten Situationen, in denen sie zur Realisierung gelangen, schlicht, man möchte fast sagen „ekstatisch" erschauen. Dabei sind sie in ihrer spezifischen, schlechthin unvergleichbaren und unbeschreibbaren Eigenheit nur 1

Vgl. dagegen D. v. Hildebrand, „Die Idee der sittlichen Handlung", Jahrb. B d . m , S. 167.

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dann erschaubar, wenn wir primär in der betreffenden S i t u a t i o n selbst leben oder uns mindestens — um das Schelersche Wort zu benutzen — mit irgend jemandem, der in einer solchen Situation lebt, eins fühlen und gar nicht auf die Erschauung der metaphysischen Qualitäten aus sind. Sie sind uns dann am originärsten erschaubar und liegen uns am nächsten, wenn wir uns nicht thematisch mit ihnen beschäftigen und nur von ihnen gepackt werden. 3. Welcher besonderen Art auch diese Qualitäten sind, sie haben noch das Eigentümliche, daß sich in ihnen — um den oft verwendeten, aber im Grunde wenig sagenden Ausdruck zu gebrauchen — „ein tieferer Sinn" des Lebens und des Seins überhaupt enthüllt1, ja, daß sie selbst diesen „Sinn", der uns gewöhnlich verborgen ist, konstituieren. Mit ihrer Erschauung „enthüllen sich" — wie Heidegger sagen würde — unserem geistigen Auge Tiefen und Urgründe des Seins, für die wir gewöhnlich blind sind und die wir im täglichen Leben kaum ahnen. Aber sie enthüllen sich uns nicht nur, sondern wir steigen in ihrer Erschauung und durch ihre Realisierung in die Urgründe des Seins hinab. Denn es zeigt sich in ihnen nicht bloß das sonst Geheimnisvolle und in ihnen Offenbare, sondern sie sind auch das Urgründliche selbst in einer seiner Ausgestaltungen. Und sie vermögen sich nur dann voll zu zeigen, wenn sie Realität werden. So bilden die Situationen, in denen sich die metaphysischen Qualitäten realisieren und uns zeigen, wirklich Gipfelpunkte des werdenden Seins und darunter auch des seelisch-geistigen Wesens, das wir sind, Gipfelpunkte, die auf das nachfolgende Leben ihren Schatten werfen, d.h. radikale Änderungen in dem darin untergetauchten Seienden hervorrufen, ungeachtet dessen, ob sie Verdammnis oder Erlösung mit sich führen. Ihre Realisierung ist aber — wie wir uns ausdrückten — wie eine „Gnade". Das soll nicht sagen, daß sie ursachlos auf einmal zur Realisierung und Offenbarung gelangen oder daß sie etwa in einem mythologischen oder religiösen Sinne von irgendwelchen Machthabern (Gott, Engel oder Teufel u.dgl.) als Geschenk oder Strafe gegeben wären2. Das will nur die schlichte Tatsache fest1 Natürlich hat in diesem Falle das Wort „Sinn" nichts mit derjenigen Bedeutung gemein, welche wir, wenn wir etwa vom Sinn eines Satzes sprechen, im Auge haben. Es ist auch aus dem Grunde unpassend, weil das Wort „Sinn" gewöhnlich etwas rational Faßbares bedeutet. Am liebsten würde ich hier dieses Wort vermeiden. Ich kann aber kein anderes passenderes finden. 2 Ob auch dies möglich oder unmöglich sei, möchte ich hier in keinem Sinne entscheiden.

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stellen, daß wir die Situationen bzw. Ereignisse, in denen sich die metaphysischen Qualitäten realisieren, nicht willentlich um ihrer selbst willen herbeiführen können. Und daß sie gerade dann nicht zur Offenbarung gelangen, wenn wir ihre Realisierung und Erschauung erwarten oder erstreben. Im realen Leben sind aber — wie gesagt — die Situationen, in welchen sich die metaphysischen Qualitäten realisieren, verhältnismäßig sehr selten. Außerdem packt uns ihre Realisierung zu stark, als daß wir bei ihrer Erschauung sozusagen alles auskosten könnten, was ihre Fülle in sich enthält. Es lebt in uns eine geheime Sehnsucht nach ihrer Realisierung und Erschauung — auch wenn es ζ. B. das Furchtbare sein sollte. Kommt aber die Stunde, in der sie zur Wirklichkeit werden, so ist ihre Realisierung, oder besser gesagt, sind sie eelbst in ihrem eigenen Antlitz für uns zu mächtig, sie packen uns und ringen uns nieder. Wir haben keine Macht und sozusagen keine Zeit dazu, uns in sie erschauend zu versenken; und gerade nach diesem erschauenden Sichversenken lebt in uns, aus welchen Gründen auch immer, eine unausrottbare Sehnsucht. Diese Sehnsucht ist die geheime Quelle vieler unserer Taten. Aber sie ist auch die letzte Quelle einerseits des philosophischen Erkennens und Erkenntnisdranges, andererseits des künstlerischen Schaffens und Genießens, die Quelle zweier durchaus verschiedener und doch letzten Endes dasselbe Ziel verfolgender geistiger Akte. Insbesondere kann uns die Kunst eben dasjenige, wenigstens im Kleinen und in einem Abglanz, geben, was wir im realen Leben nicht erreichen können : die ruhige Kontemplation der metaphysischen Qualitäten 1 . § 49. Die m e t a p h y s i s c h e n Q u a l i t ä t e n im l i t e r a r i s c h e n K u n s t w e r k . Kehren wir jetzt zu der Betrachtung der gegenständlichen Schicht des literarischen Kunstwerkes zurück. Die wichtigste Funktion, welche die dargestellten gegenständlichen Situationen ausüben können, liegt darin, daß sie bestimmte metaphysische Qualitäten zur Schau tragen, sie offenbaren 2 . Daß dies möglich ist, beweist am 1 Friedrich Hebbel sagt in dem Vorwort zu seiner „Maria Magdalena": „Aber die Kunst ist nicht bloß unendlich viel mehr, sie ist etwas ganz anderes, sie ist die realisierte Philosophie." 2 Das Wort „Offenbarung" soll in diesem Zusammenhange natürlich nicht in dem Sinne verstanden werden, in welchem es in religiösen bzw. religionsphiloso-

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besten die Tatsache, daß die metaphysischen Qualitäten sich uns an vielen dargestellten Situationen zeigen. Das Werk erschüttert uns auch am tiefsten dann, wenn dies der Fall ist. Das literarische Kunstwerk erreicht seinen Höhepunkt in der Offenbarung der metaphysischen Qualitäten1. Das eigentlich Künstlerische liegt aber in der Weise dieser Offenbarung im literarischen Kunstwerk. Gerade das, was vom ontologischen Standpunkt einen Mangel, ein Manko der dargestellten Gegenständlichkeiten bildet, daß sie nämlich nicht eine reale, sondern nur eine intentionale, seinsheteronome Seinsweise haben und in ihrem Gehalte nur den Habitus der Realität vortäuschen, ermöglicht ihnen, die für das Kunstwerk eigentümliche Weise der Offenbarung der metaphysischen Qualitäten zu erlangen. Die metaphysischen Qualitäten können hier natürlich nicht realisiert werden, denn das ist gerade durch die Seinsheteronomie der dargestellten Situationen ausgeschlossen ; sie werden aber k o n k r e t i s i e r t und zur Enthüllung gebracht und teilen ihre Seinsweise mit den dargestellten Gegenständlichkeiten : in sich selbst seinsheteronom und rein intentional, täuschen sie ihre Realisierung vor. Aber das tut ihrer Konkretheit und Vollbestimmtheit keinen Abbruch. Sie sind qualitativ vollbestimmt, und als Konkretisierungen von idealen Wesenheiten können sie nur als qualitativ voll bestimmte auftreten. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich auch nicht von den Realisierungen, die sie in realen Situationen erlangen. Ihre Seinsheteronomie ermöglicht uns aber ihre verhältnismäßig ruhige Kontemplation, denn sie haben bei dieser Konkretisierung nicht diejenige Fülle und Kraft, welche sie bei voller Realisierung erlangen. Sosehr wir bei der ästhetisch modifizierten Erphischen Betrachtungen verwendet wird. Es soll hier lediglich den Gegensatz zur „Verborgenheit", „Verdecktheit" andeuten. Man könnte hier auch, und vielleicht adäquater, vom „Sichselbstzeigen" sprechen, wenn dieser Ausdruck nicht zu schwerfällig wäre. Wie sich zeigen wird, ist dieses Offenbaren im Werke selbst nur ein potentielles. 1 St. I. Witkiewicz, ein polnischer Maler und Kunsttheoretiker, behauptet in seinem Buche „Das Theater" (poln. Teatr, Krakau 1923), daß die ganze Kunst in metaphysischen Gefühlen ihre Quelle hat und daß insbesondere dramatische Werke solche Gefühle in uns wecken sollen. Er versteht aber unter „metaphysischem Gefühl" das „Erleben des Geheimnisses des Seins als Einheit in der Mannigfaltigkeit", was mit unseren „metaphysischen Qualitäten" nichts zu tun hat, sofern es überhaupt möglich ist, etwas ganz Bestimmtes unter dem „metaphysischen Gefühl" zu verstehen. Aber daß ein metaphysischer Faktor beim Kunstwerk in Betracht kommt, ist sicher richtig. Trotz verschiedener Mängel der Ausführungen von Witkiewicz muß betont werden, daß sie manches Interessante und Wertvolle enthalten.

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echauung der metaphysischen Qualitäten durch die letzteren „gepackt", „hingerissen" und evtl. über das Niveau unseres täglichen Lebens erhoben werden, so erlaubt ihre faktische Nichtrealität, der Umstand, daß sie nur so weit konkretisiert sind, als es zu ihrer Offenbarung erforderlich ist, doch eine gewisse Ruhe ihrer Erfassung und eine Distanz1 zwischen dem Leser und den konkretisierten metaphysischen Qualitäten. Sie erlaubt ein Erschauen, das zugleich kein wahrhaftes Perzipieren der Qualitäten als uns bedrängender Realitäten ist. Dadurch erlangen die Konkretisierungen der metaphysischen Qualitäten einen spezifisch ästhetischen Wert. Wir können sie schauen, durch sie hingerissen werden, aus ihnen alles auskosten, was sie qualitativ darbieten, ohne durch sie im echten Sinne bedrängt, niedergedrückt oder emporgehoben zu werden2. Im Zusammenbang damit ruft ihre Erschauung keine derartigen Veränderungen in uns hervor wie ihre echten Realisierungen3. 1

Eine „Distanz", die natürlich nichts gemein hat mit derjenigen „Distanz", die bei einem rein erkenntnismäßigen, gegenständlichen Erfassen vorliegt. Es ist gewiß auch in unserem Falle ein Erschauen und somit ein Kennenlernen vorhanden. Aber es liegt nur ein reines Schauen von besonderen Qualitäten vor, das keinen Wahrheitsanspruch und insbesondere kein „Als-Sein-Erfassen" in sich birgt und das zugleich keine „Objektivierung" aufweist, die beide für jede rein erkenntnisxnäßige Operation charakteristisch sind. Die „Distanz", von der wir sprechen, beruht nur auf dem eigentümlichen Phänomen des „Nicht-zu-derselben-Welt-Gehörens" und führt mit sich die Unmöglichkeit einer e c h t e n T e i l n a h m e an der dargestellten Situation, eines echten Überspringens aus unserer Lebenssituation in die im literarischen Kunstwerk dargestellte. Sehe ich z.B. im Theater eine tragische Situation, so gehöre ich ihr nicht zu, ich verbleibe immer — sosehr ich „gepackt" sein mag — „außerhalb" ihrer selbst und kann somit das Tragische nicht als in meinem Leben voll realisiert vorfinden. Es ist nur wie ein Hauch, der von einer anderen Welt zu mir kommt, der aber sofort abgestreift wird, sobald mein wirkliches Leben ins Spiel kommt, wenn ich ζ. B. durch das Klatschen der Anwesenden „geweckt" werde oder wenn ein Brand im Theater ausbricht. Es ist unzweifelhaft, daß die Erlebnisse, die wir während der Lektüre eines Werkes haben, real sind und daß verschiedene Veränderungen unter der Einwirkung der Lektüre in uns hervorgerufen werden können. Trotz ihrer Realität sind die hervorgerufenen Erlebnisse und Folgeerscheinungen keine e c h t e n , sondern nur „Dichtungs"-Erlebnisse, die sich merkwürdig genug in unser reales Leben einmischen und sogar einweben, ohne im echten Sinne „unser" zu sein. (Vgl. dazu die interessanten Betrachtungen A. P f ä n d e r s in „Zur Psychologie der Gesinnungen", Jahrbuch für Philos., Bd.I und III.) 2 Vgl. dazu R. L e h m a n n , „Deutsche Poetik", S.246: „Hier (seil, im Leben) freilich ist die Grenze, wo die Leidenschaft nur noch ein Leiden bringt, schnell erreicht, anders in der Kunst, wo die im Unterbewußtsein schlummernde Gewißheit, daß das Gesehene und Gehörte nur Illusion ist, auch die stärksten Erschütterungen begleitet und dadurch so weit mildert, daß sie zur Lust werden können." 3 Im engsten Zusammenhang mit dieser ästhetischen Erschauungsweise metaphysischer Qualitäten steht das, was A r i s t o t e l e s im Auge hatte, als er von der „Katharsis" sprach. Ihre Erschauung in der ästhetischen Einstellung erfüllt uns

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Weder nach einer wirklichen tragischen Situation noch nach dem Erleben eines wirklichen Glückes können wir in unserem Wesen durchaus dieselben bleiben wie vordem, und infolgedessen können wir uns auch später nicht ganz beliebig verhalten. Dagegen können wir nach der Aufführung eines uns bis „ins Tiefste" erschütternden Dramas ruhig nach Hause gehen und uns mit gleichgültigen oder auch lebenswichtigen, aber durchaus anderen Angelegenheiten beschäftigen. Unzweifelhaft bleibt freilich ein Nachhall der während der Aufführung des Dramas erregten Erschütterung eine Zeitlang spürbar, das reale Leben ist aber viel stärker und fordert sein Recht. Zu beachten ist noch, daß die Offenbarung der metaphysischen Qualitäten im literarischen Kunstwerk verschiedene Weisen oder Grade zuläßt. Es gibt Vorbereitungsphasen, in welchen eine bestimmte metaphysische Qualität sich nur anzeigt, ihr Herannahen sozusagen ankündigt, bis ein Moment, ein Kulminationspunkt kommt, in welchem sie sich erst voll entfaltet. Es kann auch geschehen, daß es durch eine unvorhersehbare Wendung noch im letzten Moment nicht zu dem Kulminationspunkt überhaupt kommt, so daß die betreffende Qualität nur halb auftaucht und, manchmal wie eine Drohung, manchmal wie eine Verheißung, wiederum aus dem Gesichtskreis verschwindet. All dies muß besonderen Analysen zur genaueren Herausarbeitung überwiesen werden.

§ 50. I s t die O f f e n b a r u n g der m e t a p h y s i s c h e n Q u a l i t ä t e n wirklich eine F u n k t i o n der g e g e n s t ä n d l i c h e n S c h i c h t ? Es sind natürlich Probleme für sich, auf welche Weise die dargestellten gegenständlichen Situationen die metaphysischen Qualitäten zur Offenbarung bringen können, wie sie aufgebaut werden müssen, damit es überhaupt zu ihnen kommt, und in welchen Situationen eine bestimmte metaphysische Qualität offenbar werden kann. Aber das sind alles Themata für spezielle Untersuchungen, die wir hier nicht durchführen können. Wichtig ist für uns nur, daß nicht bloß mit Genuß und Wonne, sondern sie gibt uns auch jene spezifische Erleichterung, die wir nach allen schweren, von uns die Anspannung aller Kräfte erfordernden Ereignissen erleben. Eben diese Erleichterung und innere Beruhigung nach der ästhetischen Erfassung einer metaphysischen Qualität ist das, was A r i s t o t e l e s — wie es scheint — mit Katharsis meinte.

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metaphysische Qualitäten in literarischen Kunstwerken überhaupt zur Offenbarung gelangen und daß infolgedessen die gegenständliche Schicht des Werkes die Funktion ihrer Enthüllung ausüben kann. Sie ist somit, mindestens in allen Werken, in welchen metaphysische Qualitäten auftreten, kein reiner Selbstzweck. Unserer Auffassung entgegen könnte man aber die Frage aufwerfen, ob die metaphysischen Qualitäten nicht einfach Momente der dargestellten Welt sind, die ebenso durch die Satzsinne bestimmt und durch intentionale Satzkorrelate dargestellt werden wie die dargestellten Gegenstände selbst. Wäre es wirklich so, dann könnte man natürlich nicht von der besonderen Funktion der gegenständlichen Schicht sprechen. Es ist unzweifelhaft richtig, daß die metaphysischen Qualitäten sich a n den dargestellten gegenständlichen Situationen und Gegenständen zeigen und keine besondere Schicht des literarischen Kunstwerkes bilden. Dem widerspricht es gar nicht, daß sie eben von den dargestellten Gegenständlichkeiten getragen werden, in ihnen ihre Fundierung haben und daß somit die Gegenständlichkeiten diese Funktion ausüben. Sie werden aber n i c h t d i r e k t durch die Satzsinne bestimmt. Es ist gerade das Merkwürdige daran, daß die metaphysischen Qualitäten zwar wohl in reinen Bedeutungseinheiten v e r m e i n t werden können, daß sie aber dadurch allein nie zur O f f e n b a r u n g gelangen. Erst wenn die entsprechende gegenständliche Situation in bezug auf die in dieser Hinsicht wesentlichen Elemente bestimmt wird und zur Erscheinung gelangt, kann sich an ihr auch eine entsprechende metaphysische Qualität offenbaren. Damit es also in einem literarischen Kunstwerk dazu komme, müssen neben der gegenständlichen Schicht diejenigen Schichten des Werkes zusammenwirken, welche in erster Linie die Darstellung und die Erscheinung der gegenständlichen Schicht zur Folge haben: also sowohl die Schicht der sprachlautlichen Gebilde wie die der Bedeutungseinheiten, wie endlich die Schicht der Ansichten. Erst wenn durch ihr Zusammenwirken die dargestellte Welt konstituiert wird und vor unserem geistigen Auge in lebendiger Gestalt erscheint, gelangen auch die entsprechenden metaphysischen Qualitäten zur Enthüllung. Mit Recht behaupten wir also, daß erst die gegenständliche Schicht die Funktion der Enthüllung der metaphysischen Qualitäten ausübt. Zu ergänzen ist nur, daß diese Funktion nur von k o n s t i t u i e r t e n u n d z u r E r s c h e i n u n g g e b r a c h t e n dargestellten Gegenständlichkeiten ausgeübt werden kann. Denn natürlich hängt die Offen317

barung der metaphysischen Qualitäten nicht nur von den rein gegenständlichen Eigenschaften der dargestellten Gegenstände und Situationen ab, sondern auch von der Weise, wie sie dargestellt und zur Erscheinung gebracht werden, also anders gesprochen, von dem Aufbau und von dem Zusammenwirken aller aufgezählten Schichten des literarischen Kunstwerkes. Wenn wir z.B. in unserer Morgenzeitung in einem Polizeibericht von einem Ereignis lesen, das seinem Wesen nach tragisch ist, so gehört zwar zu dieser Situation die metaphysische Qualität des Tragischen ; der amtliche Ton und Stil des Berichtes macht es aber unmöglich, daß das Tragisches zur Offenbarung gelange. Wir können uns dann bei der Lektüre nur denken, daß das bekanntgegebene Ereignis wirklich tragisch sei, aber erschauen können wir es nicht, sofern wir nicht über den schlichten Polizeibericht hinausgehen. Rein objektiv genommen, kann dieses selbe Ereignis in einem literarischen Kunstwerk, freilich in anderen Sachverhalten und in anderen Ansichten (und somit genau besehen nicht in jeder Hinsicht „dasselbe"), so dargestellt werden, daß das Tragische zur echten Offenbarung gelangt. Im ersteren Falle lesen wir den Bericht in vollkommener Ruhe beim Morgenkaffee, im letzteren dagegen werden wir durch das Dargestellte tief erschüttert, wenn es sich auch um etwas in Wirklichkeit nie Vorgekommenes handeln sollte. Wenn aber zu der Offenbarung einer metaphysischen Qualität nicht bloß die gegenständliche Schicht, sondern mittelbar auch alle übrigen Schichten des literarischen Kunstwerkes mitwirken müssen, so zeigt sich darin von neuem, daß das literarische Kunstwerk trotz des Schichtenaufbaus eine o r g a n i s c h e Einheit bildet. Und umgekehrt: Soll es zur Offenbarung einer metaphysischen Qualität kommen, so müssen die Schichten auf bestimmte Weise harmonisch zusammenwirken und bestimmte Bedingungen erfüllen. Insbesondere muß die wertqualitative Polyphonie nicht bloß eine Harmonie aufweisen, welche das Sichzeigen einer metaphysischen Qualität zuläßt, sondern sie muß mit ihr in einem harmonischen Einklang stehen, so daß die betreffende metaphysische Qualität von der Harmonie als das komplementäre Element g e f o r d e r t wird1. Ist aber 1 Hier eröffnen sich wiederum äußerst wichtige Probleme, die insbesondere dae Wesen der künstlerischen Form und deren Zusammenhang mit dem ,,Gehalte" — um hier das Wort 0. Walzeis zu verwenden — betreffen. Aber zum Zwecke ihrer richtigen Formulierung müßte auf Grund unserer Resultate zuerst der echte Begriff der Form des literarischen Kunstwerkes herausgestellt werden, was schon das

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die Offenbarung der metaphysischen Qualität u. a. von der Schicht der paratgehaltenen Ansichten abhängig, so muß gesagt werden, daß die metaphysischen Qualitäten in dem Werke s e l b s t nicht zur expliziten Offenbarung gelangen, sondern nur durch die gegenständlichen Situationen v o r b e s t i m m t und durch die genannten Elemente p a r a t g e h a l t e n werden. Denn sie können erst an einer wirklich zur Erscheinung gebrachten gegenständlichen Situation offenbar werden, also erst in der Konkretisation des Werkes bei einer Lektüre. Im Werke selbst bilden sie nur ein vorbestimmtes Element, dessen Offenbarung eine ähnliche Potentialität aufweist, wie dies bei den paratgehaltenen Ansichten statthat. Sowohl die sich offenbarende metaphysische Qualität, wie die früher angedeutete Weise ihrer Offenbarung in der Konkretisation eines literarischen Kunstwerkes bildet einen ästhetischen Wert1. Gelingt ihre Offenbarung nicht oder steht die sich offenbarende Qualität im Widerstreit mit anderen, in früheren oder späteren Situationen sich offenbarenden Qualitäten, so daß es in der Entfaltung des Werkes nicht einmal zu einer dissonierenden polyphonen Harmonie kommt, dann kann das betreffende Kunstwerk vielleicht noch andere, in den übrigen Schichten sich konstituierende Werte haben und somit sekundär wertvoll sein, es vermag dann aber als Ganzes keine Vollkommenheit zu besitzen.

§ 51. Die S y m b o l i s i e r u n g s f u n k t i o n der g e g e n s t ä n d l i c h e n Schicht. Noch eine nicht unwichtige Bemerkung. Man soll die eben besprochene Funktion der gegenständlichen Schicht nicht mit der Thema unserer Arbeit überschreitet. — Ich habe dieses Problem in einer größeren Abhandlung unter dem Titel „Form und Inhalt des literarischen Kunstwerkes" behandelt. Sie erschien im II. Bde. meiner „Studien zur Ästhetik" (polnisch, 1958). 1 Wenn Susanne Länger in ihrem Buche „Feeling and Form" (1953) von „feeling" spricht und es für wesentlich für die Kunst hält, so hat sie wohl im Grunde das Auftreten der metaphysischen Qualitäten im Kunstwerke im Auge, ohne übrigens diese Gruppe von Qualitäten von anderen emotional zugänglichen Qualitäten abgegrenzt und ohne sich ihre besondere Weise des Auftretens im Kunstwerk zum Bewußtsein gebracht zu haben. Es muß aber gleich betont werden, daß es auch andere spezifisch ästhetisch wertvolle Qualitäten gibt, ohne welche das bloße Auftreten einer metaphysischen Qualität im literarischen Werke es noch nicht zum voll entwickelten Kunstwerk zu machen vermöchte. Denn es ist eben das Wesentliche für die Kunstwerke solcher Art, und vielleicht für Kunstwerke überhaupt, daß es

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S y m b o l i s i e r u n g s f u n k t i o n vermengen1, die von ihr in manchen Werken ausgeübt wird, aber durchaus nicht zum Wesen des Uterarischen Kunstwerkes überhaupt gehört (typisches Beispiel: die Dramen Maeterlincks). Die Symbolisierungsfunktion hat unzweifelhaft in den darstellenden Sachverhalten bzw. in den Satzsinnen ihre ontische Quelle. Aber ausgeübt wird sie erst durch die dargestellten Gegenständlichkeiten. Mit anderen Worten : die Satzsinne bzw. die intentionalen Satzkorrelate müssen auf entsprechende Weise bestimmt sein, damit die dargestellten Gegenständlichkeiten überhaupt als Symbole dastehen können. Sind aber einmal die letzteren als Symbole konstituiert, so sind sie es, die diese Funktion ausüben. Die Verschiedenheit dieser beiden Funktionen läßt sich folgendermaßen kurz bestimmen : Während die sich offenbarenden metaphysischen Qualitäten an der dargestellten Situation zur S e l b s t enthüllung gelangen und als enthüllte gerade in demselben Sinne zur Erscheinung gelangen wie die gegenständliche Welt, gehört es zum Wesen der Symbolisierungsfunktion, daß 1. das Symbolisierte zu einer a n d e r e n Welt — wenn man so sagen darf — als das Symbolisierende gehört (mindestens ist es ein anderer Gegenstand, Sachverhalt, Situation als das Symbol selbst) ; 2. daß das Symboliserte nur eben „symbolisiert" wird und n i c h t zur Selbstpräsentation gelangen darf. Es ist als Symbolisiertes, seinem Wesen nach, das u n m i t t e l b a r Unzugängliche, das Sich-selbst-nicht-Zeigende. Natürlich kann ein Gegenstand, auf welchen sich ein Symbol bezog und den es zum „Symbolisierten" machte, unter Umständen selbst gegeben sein ; aber damit hört er auf, ein Symbolisiertes zu sein. Und Symbole bzw. Symbolisierungen sind uns eben da unentbehrlich, wo wir aus diesen oder jenen Gründen den symbolisierten Gegenstand nicht originär erfahren können oder wenigstens momentan nicht dazu in der Lage sind. Deswegen werden Symbole am häufigsten im religiösen Leben, aber auch für alles Geheimnisvolle, Unnahbare verwendet. 3. Wenn eine bestimmte reale oder bloß dargestellte Situation eine metaphysische Qualität zur Selbstoffenbarung bringt, so hegen die ontischen Fundamente der letzteren in eine Mannigfaltigkeit von v e r s c h i e d e n e n ästhetisch wertvollen Qualitäten bergen maß, die alle zusammen eine besondere polyphonisch gestaltete Harmonie bilden müssen, wenn es ein positiv wertvolles Kunstwerk sein soll. 1 Diesen Fehler scheint eben Frau S. Langer zu begehen. Sie erweitert dabei freilich den Begriff des Symbols (unter dem Einfluß Cassirers) in dem Maße, daß dann alles möglich ist. Aber dann verliert der Begriff des Symbole all seine wertvollen Dienste, die er der Betrachtung der Kunst erweisen könnte.

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dieser Situation selbst, und beides, die Qualität und die Situation, die die erstere fundiert, spielt im literarischen Kunstwerk eine bedeutende Rolle. Völlig anders ist es bei einem Symbol : das Symbol ist nur ein Mittel. Nicht um es selbst handelt es sich, sondern nur um das Symbolisierte ; und erst rückläufig kann auch das Symbol eine gewisse Bedeutung erlangen, wenn das Symbolisierte bedeutungsvoll ist. Die Rolle des Symbols erschöpft sich aber in seiner Funktion, und alles andere, was in ihm sonst vorhanden sein mag, aber bei seiner Symbolisierungsfunktion keine Rolle spielt, ist völlig irrelevant, im Gegensatz zu der Sachlage, die wir bei der gegenständlichen Schicht und ihrer Funktion der Enthüllung der metaphysischen Qualitäten vorfinden. Fine andere, verwandte Funktion, die von der gegenständlichen Schicht ausgeübt werden kann, aber durchaus nicht ausgeübt werden muß, ist die schon besprochene Abbildungs- bzw. Repräsentationsfunktion. Wir wollen uns hier damit nicht weiter beschäftigen. § 52. Das Problem der „Wahrheit" und der „ I d e e " eines l i t e r a r i s c h e n Kunstwerkes. Im Zusammenhang mit unseren letzten Erwägungen können wir jetzt zwei schon früher aufgeworfene Probleme zu lösen versuchen. Das erste ist die Frage, ob und in welchem Sinne bei einem literarischen Kunstwerke von „Wahrheit" gesprochen werden darf. Sie ergibt sich für uns einerseits aus der schon gemachten Feststellung, daß kein Satz eines literarischen Kunstwerkes ein „Urteil" im echten Sinne ist, andererseits aber aus der oft ausgesprochenen Behauptung, daß der Dichter in seinem Werke „Wahrheit" zu geben beansprucht, und aus den Vorwürfen der „Unwahrheit", die man manchen Werken macht. Ist also unser Standpunkt falsch, oder gehen diese Vorwürfe fehl, oder ist endlich hier eine Äquivokation im Spiel ? Wir wollen zeigen, daß das letztere der Fall ist. Unter „Wahrheit" im strengen Sinne verstehen wir eine be stimmte B e z i e h u n g zwischen einem e c h t e n U r t e i l s s a t z e und dem durch seinen Sinngehalt ausgewählten o b j e k t i v b e s t e h e n den Sachverhalte. Besteht diese Beziehung, so zeichnet den betreffenden Urteilssatz ein relatives Quasimerkmal1 aus, das wir von ihm mit dem Worte „wahr" aussagen. Im ü b e r t r a g e n e n 1

Über das relative Quasimerkmal vgl. „Eseentiale Fragen", Kap. VI.

21 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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Sinne wird dann der wahre Urteilssatz selbst eine „Wahrheit" genannt. Die Sinnübertragung (und -änderung) geht viel weiter, wenn man unter „Wahrheit" das rein i n t e n t i o n a l e Korrelat eines wahren Urteilssatzes versteht; und völlig unzulässig scheint uns diejenige oft vorkommende Verwendung des Wortes „Wahrheit" zu sein, in welcher man darunter den zugehörigen o b j e k t i v b e s t e h e n d e n Sachverhalt versteht. In keiner von diesen Bedeutungen des Wortes kann bei einem literarischen Kunstwerke vernünftigerweise von Wahrheit gesprochen werden. In dem letzten, vierten Sinne nicht, weil die objektiv bestehenden Sachverhalte überhaupt kein Element des literarischen Werkes bilden. Aber auch in den übrigen drei Bedeutungen nicht, weil kein einziger Satz eines literarischen Kunstwerks ein Urteilssatz im echten Sinne ist. Wenn also die öfters aufgestellten entgegenlautenden Behauptungen nicht falsch sein sollen, so müssen sie das Wort „Wahrheit" in einem durchaus anderen Sinne gebrauchen. Tatsächlich verwendet man dieses Wort noch in mehreren verschiedenen Bedeutungen. Vor allem kommt da derjenige Sinn des Wortes „Wahrheit" in Betracht, welcher auf die Abbildungsfunktion angewendet werden darf, die durch die dargestellten Gegenständlichkeiten in manchen Werken ausgeübt wird. „Wahr" heißt dann eine dargestellte, in der Abbildungsfunktion begriffene Gegenständlichkeit (bzw. die sie zur Konstitution bringenden Sätze), wenn sie eine möglichst g e t r e u e Abbildung einer entsprechenden realen abgebildeten Gegenständlichkeit ist, wenn sie also eine „gute" Kopie, ein „gutes", ähnliches „Porträt" ist. Dieser Begriff der „Wahrheit" darf im strengen Sinne nur auf „historische" literarische Kunstwerke angewendet werden, in welchen die Abbildungsfunktion wirklich vorhanden und beabsichtigt ist. Auch die „historischen" literarischen Werke können echte Kunstwerke sein, aber sie bilden nur einen Spezialfall des literarischen Kunstwerkes überhaupt. Somit braucht nicht alles, was für sie gilt, auch für alle literarischen Werke zu gelten. Der Vorwurf der etwa in einem Werke vorhandenen „Unwahrheit" ist somit nicht bei allen Werken sinnvoll. Ob aber in einem „historischen" literarischen Kunstwerke mehr oder minder getreue Abbildungen vorhanden sind, das ändert nichts an seinem rein künstlerischen Werte. Übrigens kann es, wie schon früher einmal festgestellt wurde, kein literarisches WTerk geben, in welchem die Abbildung v o l l k o m m e n getreu wäre. Jedes solche Werk ist also in diesem Sinne bis zu einem gewissen Grade „unwahr". 322

In einem anderen Sinne spricht man von „Wahrheit" in einem literarischen Kunstwerke, wenn man dabei die „gegenständliche Konsequenz" im Auge hat. Der Autor ist in seinem Schaffen zunächst nur durch die Rücksichtnahme darauf gebunden, daß sein Werk verständlich sei und ein einheitliches Ganzes bilde. Er operiert mit Sätzen und Satzzusammenhängen und ist somit durch all die Gesetze gebunden, welche sich aus dem Wesen des Satzes und des Satzzusammenhanges ergeben. Was aber den Gehalt der im Werke dargestellten Gegenständlichkeiten betrifft, so kann er prinzipiell in weitem Maße auf beliebige Weise gestaltet werden, und insbesondere ungeachtet dessen, inwieweit er den uns aus der Erfahrung bekannten Gegenständlichkeiten ähnlich bzw. unähnlich ist. Sobald aber einmal die dargestellten Gegenstände durch den Sinngehalt der Sätze als Gegenstände eines bestimmten Seinstypus (z.B. als reale Gegenstände und insbesondere z.B. als reale psychische Individuen) festgelegt werden, so muß eine Konsequenz in ihrer weiteren Bestimmung eingehalten werden, sofern sie sich in dem ganzen Verlauf des Werkes als identische sollen konstituieren können und sofern sie in dem Habitus des betreffenden Typus auftreten sollen. Wird diese Konsequenz durchbrochen, so zerreißt — wenn man so sagen darf — ihre Identität, oder es kommt mindestens nicht zu der Vortäuschung der betreffenden Seinsart (z.B. der Realität). Diese Konsequenz kann aber nur dann eingehalten werden, wenn der Gehalt der dargestellten Gegenstände zumindest den apriorischen materialen Wesensgesetzen der betreffenden Seinsregion gemäß gebildet wird1. Sind die dargestellten Gegenständlichkeiten durch die Sätze so bestimmt, daß sie alle diese Gesetze erfüllen und auch den verschiedenen empirischen Regelmäßigkeiten Genüge tun, die für Gegenstände der betreffenden Art gelten, so sagt man gewöhnlich, daß sie „wahr" sind, und legt dem entsprechenden Werke deswegen einen positiven Wert bei. Natürlich hat dies mit der Wahrheit im strengen Sinne nichts zu tun. Die „gegenständliche Konsequenz" muß selbstverständlich in einem jeden Werke eingehalten werden, dessen gegenständliche Schicht in der Abbildungsfunktion begriffen ist, aber das Einhalten dieser Konsequenz braucht noch keine Ab-

1

Natürlich müssen, sofern es sich überhaupt in einem Werke um Gegens t ä n d e handeln soll, die Gesetze der formalen Ontologie eingehalten werden. Und ähnlich bei allen möglichen kategorialen Abwandlungen der gegenständlichen Struktur (z. B. Dingetruktur, Prozeßstruktur usw.).

21·

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bildungs- bzw. Repräsentationsfunktion mit sich zu führen. Gelingt die Repräsentationsfunktion, so verleiht dies dem betreffenden Werke — falls sie „beabsichtigt" ist — einen positiven Wert (wenn auch das Werk aus anderen Gründen „schlecht" sein mag), und somit ist auch die gegenständliche Konsequenz entweder selbst ein positiver Wert oder mindestens die Bedingung anderer Werte derartiger literarischer Werke. Andererseits aber braucht die gegenständliche Konsequenz nicht in einem jeden literarischen Werke eingehalten zu werden. Sie ist weder die unentbehrliche Bedingung der E x i s t e n z des literarischen Werkes (es gibt offenbar Werke, die keine oder nur mangelhafte gegenständliche Konsequenz aufweisen, eben diejenigen, welche aus diesem Grunde kritisiert werden), noch die Bedingung des Gesamtwertes eines literarischen Kunstwerkes. Es gibt im Gegenteil literarische Kunstwerke, deren künstlerischer Wert gerade mit der bis zu einem gewissen Grade getriebenen gegenständlichen Inkonsequenz aufs engste zusammenhängt und durch sie bedingt ist, Werke, die absichtlich so gebaut sind, daß es durch die dargestellten Gegenstände zu keiner Vortäuschung von Realität kommt, eine Kunst, die aus dem Reiche des Unwahrscheinlichen und Unmöglichen schöpft und schöpfen will. Es gibt also auch in diesem Sinne „unwahre" literarische Werke und Kunstwerke. Endlich gibt es noch einen Sinn, in welchem man von „Wahrheit" bzw. „Unwahrheit" eines literarischen Werkes spricht — obwohl man sich den Sinn dieser Rede nicht klar zum Bewußtsein bringt. Aus Gründen, die in der Darstellungs- und der Erscheinungsweise liegen, kann es trotz peinlicher Einhaltung der gegenständlichen Konsequenz zu keiner Offenbarung der zu einer bestimmten Situation sachgemäß gehörigen metaphysischen Qualität kommen. In anderen Fällen kommt es dagegen zu dieser Offenbarung (was auch bei Verstößen gegen die gegenständliche Konsequenz möglich ist, wenn nur die Darstellungs- bzw. die Erscheinungsweise entsprechend durchgeführt wird). Im letzteren Falle hören wir oft sagen, das betreffende Werk sei „wahr". Hier versteht man also unter „Wahrheit" entweder die betreffende metaphysische Qualität selbst oder ihre Offenbarung in dem betreffenden Werke. Wie das Auftreten oder Fehlen der metaphysischen Qualitäten den künstlerischen bzw. ästhetischen Wert des literarischen Kunstwerkes auch beeinflussen mag, es ist offensichtlich, daß auch in diesem Falle die „Wahrheit" eines Werkes keine Bedingung seiner Existenz ist. 324

Nach diesen Erwägungen ist es klar: Das immer wieder vorkommende Suchen nach einer „Idee" des Werkes im Sinne eines wahren Satzes ist mindestens bei allen seicht-tendenziösen Werken ein vergebliches Bemühen, das letzten Endes auf der Verkennung des Grundcharakters des literarischen Kunstwerkes beruht. Es läßt sich ein solcher Satz weder in einem literarischen Kunstwerk finden, noch aus den in ihm enthaltenen Sätzen ableiten. Denn aus Sätzen, die keine echten Urteilssätze sind, folgt kein wahrer Satz. Wie aber das Wort „Wahrheit" in so verschiedenen Bedeutungen verwendet wird1, so hat auch das Wort „Idee" des Werkes verschiedene Bedeutungen. Es würde uns hier zu weit führen, all diese Bedeutungen zu scheiden und zu bestimmen. Die wichtigste unter ihnen ist diejenige, bei welcher die im Kulminationspunkt des Werkes zur Selbstoffenbarung gelangende metaphysische Qualität in Betracht gezogen wird. Aber natürlich nicht sie allein, sondern sie mit der gesamten Situation, an welcher sie sich offenbart. Sie erst enthüllt die Rolle, die die betreffende Situation als Kulminationsphase der dargestellten Geschichte in dem ganzen Werke spielt. Sie verleiht ihm den geheimnisvollen „Sinn", der sich im Zusammenhang der dargestellten Geschehnisse verbirgt, einen Sinn, der sich rein begrifflich nicht bestimmen läßt. Oder anders und genauer gesagt: Die „Idee" des Werkes in diesem Sinne liegt in dem zur anschaulichen Selbstgegebenheit gebrachten W e s e n s z u s a m m e n hang, der zwischen einer bestimmten dargestellten Lebenssituation, als Kulminationsphase einer ihr vorangehenden Entwicklung, und einer metaphysischen Qualität besteht, die an dieser Situation zur Selbstoffenbarung gelangt und aus ihrem Gehalte eine einzigartige Färbung schöpft. In der Enthüllung eines solchen Wesenszusammenhanges, der rein begrifflich nicht zu bestimmen ist, liegt die schöpferische Tat des Dichters. Dieser Wesenszusammenhang, einmal enthüllt und erschaut, erlaubt zugleich, den inneren Zusammenhang der einzelnen Phasen des Werkes zu „verstehen" und das ganze Kunstwerk als eine Schöpfung aus einem Guß zu erfassen.

1 Eine weiter fortgeführte Analyse der verschiedenen Begriffe der „Wahrheit" habe ich in dem in der „Revue d'Esthétique" (Paris 1952) publizierten Artikel „Des différentes conceptions de la vérité dans l'art" gegeben.

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§ 53. A b s c h l u ß der S c h i c h t e n b e t r a c h t u n g . Die lange Reihe unserer Untersuchungen hat uns den Schichtenaufbau des literarischen Werkes in seinen Hauptzügen gezeigt und zugleich unsere am Anfang der positiven Ausführungen aufgestellte Behauptung genauer entwickelt und bestätigt. Wir haben sowohl die Heterogenität der einzelnen Schichten wie ihre mannigfachen Rollen und Funktionen, wie endlich ihren engen Zusammenhang und ihr Zusammenwirken herausgestellt. Damit ist der „Querschnitt" durch die Struktur des literarischen Werkes gelegt und zugleich das Gerüst gezeigt, dessen Herausstellung uns die Beantwortung der weiter sich eröffnenden Fragen ermöglichen wird. Aber an diesem ,, Querschnitt" läßt sich nicht das ganze Wesen des literarischen Kunstwerkes erfassen. Unsere Betrachtungen über die metaphysischen Qualitäten, über die „Idee des Werkes" und die verschiedenen Bedeutungen, in welchen bei einem literarischen Kunstwerke von „Wahrheit" gesprochen werden darf, aber auch schon die früheren Betrachtungen über sprachlautliche Gebilde höherer Ordnung sowie über die relative Unselbständigkeit des Satzes und über den Satzzusammenhang haben uns Perspektiven im Aufbau des literarischen Werkes eröffnet, die in einer anderen Richtung als die der verschiedenen Schichten und ihrer Zusammenhänge liegen. Diesen Perspektiven müssen wir jetzt — wenigstens in einigen Andeutungen — nachgehen. Dem „ Querschnitt" muß jetzt der „Längsschnitt" durch den Aufbau des Uterarischen Werkes folgen.

11. Kapitel. Die Ordnung der Aufeinanderfolge im literarischen Werke. § 54. E i n l e i t u n g . Ä n d e r u n g oder Z e r s t ö r u n g des W e r k e s durch die U m s t e l l u n g seiner Teile. Wir müssen jetzt eine andere Linie des organischen Zusammenhanges im literarischen Werke ins Auge fassen, welche aber das Vorhandensein der Schichten und ihr Zusammenwirken voraussetzt. Es handelt sich da um die besondere Struktur des literarischen Werkes, die es in der Richtung von seinem „Anfang" zu seinem 326

„Ende" besitzt. Schon die bloße Tatsache, daß das literarische Werk so etwas wie einen „Anfang" und ein „Ende" hat, weist auf eine Eigentümlichkeit seines Aufbaues hin, die es vielleicht nur mit den musikalischen Werken gemeinsam hat. Gewöhnlich sagt man, daß sowohl das literarische wie das musikalische Werk Werke der „zeitlichen" Kunst sind1, und meint damit, daß sie z e i t l i c h ausg e d e h n t sind. So einleuchtend das zunächst zu sein scheint, so ist es doch falsch und ergibt sich aus der Vermengimg des literarischen Werkes selbst mit seinen Konkretisationen, die sich bei der Lektüre konstituieren. Es ist freilich gewiß kein Zufall, keine Eigentümlichkeit oder Mangel unserer psychischen Organisation, daß wir literarische Werke nur in einem zeitlich ausgedehnten Prozeß erfassen können und daß die dabei entstehende Konkretisation des Werkes ebenfalls zeitlich ausgedehnt ist. Diese Weise der Konkretisierung des literarischen Werkes ist durch sein eigenes Wesen vorgezeichnet, ebenso, wie es das Wesen des Bildes fordert, daß es auf einmal als Ganzes erfaßt werden kann. Aber daraus den Schluß zu ziehen, daß das literarische Werk selbst zeitlich ausgedehnt sei, ist ganz unberechtigt. Daß die zeitliche Erstreckung keine Eigenschaft des literarischen Werkes selbst ist, zeigt schon der Umstand, daß, wenn diese Auffassung richtig wäre, man ein und demselben Werke vers c h i e d e n e zeitliche Erstreckungen zuschreiben müßte, je nachdem, wie lange die jeweilige Lektüre dauert. Und da können beträchtliche Unterschiede vorkommen. Auch müßte man im Sinne dieser Auffassung zugeben, daß manche Teile des literarischen Werkes „früher" als die anderen sind und daß sie im Moment, wo die „späteren" Teile gelesen werden, nicht mehr existieren (was in bezug auf die Teile der K o n k r e t i s a t i o n e n des Werkes unzweifelhaft richtig ist), während es doch in bezug auf dais Werk selbst evident ist, daß es, nachdem es einmal entstanden ist, in allen seinen Teilen z u g l e i c h existiert und keiner seiner Teile in diesem zeitlichen Sinne „früher" bzw. „später" ist. Das Werk selbst ist somit in der Richtung von seinem „Anfang" bis zu seinem „Ende" kein zeitlich sich entfaltendes und ausgedehntes Gebilde2. Und doch sprechen wir nicht ohne jeden Grund vom „Anfang" und von den „früheren" und „späteren" Teilen des Werkes, wobei wir weder seine Konkretisationen noch den Anfang bzw. die späteren 1

So behauptet noch W. Conrad in der zitierten Arbeit. Daß das Werk als Ganzes eine Zeitlang dauern kann, ist eine ganz andere Angelegenheit, auf die wir noch zu sprechen kommen werden. 9

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Phasen der in dem Werke dargestellten Geschichte im Auge haben, sondern die einzelnen Teile des g a n z e n W e r k e s in a l l e n seinen Schichten zusammengenommen. Nur, daß dieses „früher" und „später", „Anfang" und „Ende" n i c h t in einem z e i t l i c h e n Sinne zu verstehen sind. Es fragt sich aber, in welchem Sinne ? Da liegt das Problem. Und da stoßen wir auf eine eigentümliche Struktur des Werkes, die in einer O r d n u n g der Teile des Werkes besteht und die wir in Ermangelung eines besseren Ausdrucks die „Ordnung der Aufeinanderfolge" nennen wollen. Um zu zeigen, daß es eine solche, noch näher herauszustellende Ordnung im Werke überhaupt gibt, versuchen wir, in einem bestimmten Werke eine Umkehrung oder Aufhebung der Ordnung seiner Teile gedanklich durchzuführen. Versuchen wir z.B., einen bestimmten Roman (ζ. B. „Buddenbrooks") „von hinten" zu lesen. Dies läßt sich noch auf verschiedene Weisen durchführen: entweder so, daß bloß die Ordnung der Sätze eine Umkehrung erleidet, daß aber jeder Satz „von vorne" gelesen wird, oder aber auch so, daß z u g l e i c h die Ordnung der Aufeinanderfolge der Worte invertiert wird, oder daß endlich nur die zweite und nicht die erste Umkehrung durchgeführt wird usw.1. Machen wir das konsequent vom „Ende" bis zum „Anfang" und denken wir jetzt nicht an den Verlauf der konkreten Lesung, sondern daran, was sich in dieser rücklaufenden Lesung konstituiert. In jedem dieser Fälle erhalten wir ein im Vergleich zu dem ursprünglichen Werke n e u e s Gebilde, das sich von ihm — je nach der Art der Umkehrung — mehr oder weniger unterscheidet. Freilich treten in dem so gelesenen „Werke" genau alle dieselben Worte auf wie in dem „von vorne" gelesenen ; die Umkehrung hat aber, wenn nicht alles, so jedenfalls 1

Der Gedanke einer solchen Umkehrung ist nicht neu. Ich kenne ihn aus dem Roman „Der Zauberlehrling" von H. H. E v e r s , freilich dort auf eine kinematographische Darstellung angewendet. Die Umkehrung ruft hier komische Situationen hervor und ändert in vielen Fällen den Gehalt des Dargestellten. Das Essen von Speisen, in umgekehrter Richtung kinematographisch dargebracht, kann einem Erbrechen gleichen, das Heruntersteigen von einer Leiter sich in ein Hinaufsteigen verwandeln. Das Anzünden nnd Rauchen einer Zigarette verwandelt sich schon in ein fast unverständliches Vorkommnis. Da aber beim Kinematographen — wie wir später sehen werden — fertige momentane Ansichten von Gesamtsituationen rekonstruiert werden, die uns Dinge zur Erscheinung bringen, und da die einzelnen Bilder auf dem Filmbande durch die Umkehrung nicht vernichtet werden, so sind bei der Umkehrung jedenfalls erscheinende Dinge erhalten, der Widersinn braucht sich somit nicht in Unsinn zu verwandeln. Anders ist es bei dem literarischen Werke.

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so viel geändert, daß es nicht bloß fraglich ist, ob wir es noch mit „demselben" Werke zu tun haben, sondern — im Grenzfalle —, ob das erhaltene Gebilde überhaupt noch ein literarisches Werk sei. Daß ein bestimmtes Werk A durch eine radikale Inversion der Wortordnimg vollkommen geändert, wenn nicht vernichtet wäre, sieht man vor allem an dem Auftreten vollkommen neuer lautlicher Gebilde höherer Ordnung (wie z.B. die rhythmischen Eigenschaften u. dgl. mehr) und somit an der Vernichtung oder wenigstens Änderung aller derjenigen Funktionen, die von der sprachlautlichen Schicht des Werkes ausgeübt werden und sowohl für die Konstituierung der Satzsinne wie für die Parathaltung der Ansichten von entscheidender Bedeutung sind. Es kann vorkommen — und das ist gewöhnlich der Fall —, daß ein in umgekehrter Richtung gelesener Satz überhaupt kein Satz mehr ist, so daß wir die Mannigfaltigkeit der Worte erst dann als einen sinnvollen Satz verstehen können, wenn wir sie wiederum in der ursprünglichen Richtung gedanklich ordnen (z.B. „Tische dem auf hegt Buch das"). Zwar sind die verschiedenen grammatikalischen Regeln der sog. Wortfolge bis zu einem hohen Grade zufällig und auf verschiedene außerlogische Eigentümlichkeiten und Sympathien der Völker und Rassen zurückführbar, aber trotzdem liegt in ihnen ein Kern von Notwendigkeit, so daß ihre volle Beseitigung manchmal nur die Änderung des Sinnes („Vater schlägt seinen Sohn", „Sohn seinen schlägt Vater"), öfters aber seine volle Vernichtung nach sich zieht (wie in dem oben angegebenen Beispiel). Verwandeln sich aber die Sätze durch Umkehrung oft in zusammenhangslose, unvernünftig aneinandergereihte Worte, so können sie keine intentionalen Satzkorrelate und insbesondere auch keine intentionalen Sachverhalte zur Entfaltung bringen. Dann ist aber auch die gegenständliche Schicht des Werkes nicht vorhanden oder bildet keine einheitliche dargestellte Welt. Und wenn auch manche Ansichten durch die einzelnen Worte paratgehalten werden können, so sind sie jedenfalls regellos durcheinandergemengt. Von dem ganzen Werke bliebe nach einer solchen Umkehrung nur ein Haufen von Worten übrig. Wir brauchen aber keine so weitgehende Zerstörung des Werkes herbeizuführen, um uns zu überzeugen, daß ein jedes literarische Werk eine ihm eigene Ordnung der Aufeinanderfolge seiner Teile und insbesondere seiner S ä t z e besitzt. Schon die früher durchgeführten Betrachtungen über die relative Unselbständigkeit des Satzes und über den Satzzusammenhang liefern hier ausreichende 329

Belege. Es genügt aber auch, z.B. in einem Drama die Reihenfolge der Akte umzukehren oder die einzelnen Szenen durcheinanderzuwerfen, und das Drama verwandelt sich in ein groteskes Spiel von zusammenhangslosen Situationen. Seine Einheit wird dadurch zerstört, sofern wir natürlich nicht die ursprüngliche Ordnung gedanklich wiederherstellen. In einem gut konstruierten Drama ist jede Szene durch die vorangehenden vorbereitet, sie fließt sozusagen als Resultat aus vorangehenden hervor, setzt sie voraus. Und dies betrifft nicht bloß die äußeren Geschehnisse, an welchen die dargestellten Dinge und Personen teilnehmen, sondern vor allem die inneren Verwandlungen der Personen infolge der zur Tatsache gewordenen Ereignisse. Jedes Ereignis läßt eine mehr oder weniger deutliche Spur in der Seele der an ihm teilnehmenden Menschen zurück. Und umgekehrt: Jedes Ereignis nimmt dadurch eine ganz bestimmte Gestalt an, daß an ihm Personen teilnehmen, die gerade solche und nicht andere innere Verwandlungen durchgemacht haben. Die Umstellung der Akte bzw. der einzelnen Szenen muß somit zur Folge haben, daß bestimmte, durch den Sinngehalt der entsprechenden Sätze konstituierte Situationen und die an ihnen teilnehmenden Personen sozusagen in der Luft schweben. Die Umstellung bewirkt entweder ihre Andersbestimmung hinsichtlich derjenigen Momente, die für die betreffende Situation Voraussetzung waren und die jetzt fehlen, oder sie macht die betreffende Situation sogar „unmöglich", da ihr jetzt das Fundament der Vorgeschichte ganz oder zum Teil fehlt. Denn — wie wir bereits wissen — schöpfen die dargestellten Gegenständlichkeiten ihren Gehalt nur aus dem Aufbau aller übrigen Schichten des Werkes, wobei die Sinneinheiten die bedeutendste Rolle spielen. Fehlen, vermöge der Umstellung, bis zu einer bestimmten Phase des Werkes die im Zusammenhang stehenden Sätze oder folgen sie erst dem betreffenden Satz nach, so kann sich die entsprechende Gegenständlichkeit nicht in dem geforderten Maße voll konstituieren. Sie ist wie ein „Torso", dessen Ergänzung unmöglich ist, falls der Leser nicht über das textmäßig Dargebotene hinausgeht. Natürlich befinden wir uns bei einem literarischen Kunstwerke im Reiche der „freien Phantasie", aber diese Freiheit ist— wie schon früher gezeigt — nicht unbegrenzt. Es kommt immer eine Grenze, an welcher die im literarischen Kunstwerke möglichen „Unmöglichkeiten" nicht mehr die ihnen zugemuteten Effekte bewirken können. Das Ganze — wenn es dann noch ein Ganzes wäre — stellte dann einen unerträglichen, un330

sinnigen Wirrwarr von zusammengeworfenen Tatsachen dar, das Werk wäre nur ein Haufen und kein Kunstwerk mehr. Mutatis mutandis läßt sich ähnliches über die übrigen Schichten des literarischen Werkes sagen. Käme es aber durch eine vorgenommene Umstellung der Sätze zu so weitgehenden Änderungen innerhalb der einzelnen Schichten, so müßte auch die in ihnen gründende Polyphonie der wertqualitativen Momente, wenn nicht voll zerstört, so jedenfalls durchgreifend geändert werden. Dieser Versuch der Zerstörung des Werkes beweist zur Genüge, daß ein jedes literarische Kunstwerk eine Ordnung der A u f e i n a n d e r f o l g e , ein bestimmtes Stellensystem von Phasen in sich enthält, wobei jede Phase aus entsprechenden Phasen aller zusammenhängenden Schichten des Werkes besteht und bestimmte Qualifizierungen dadurch erlangt, daß sie sich gerade an dieser und nicht an einer anderen Stelle befindet. Vermöge dieser Qualifizierungen können die konstituierenden Schichten des Kunstwerkes Leistungen für die anderen Schichten und für die weiteren Teile des Werkes hervorbringen, welche an einer anderen Stelle des Werkes für sie unmöglich wären.

§ 55. Der Sinn der A u f e i n a n d e r f o l g e der Teile eines l i t e r a r i s c h e n Werkes. Die Rede von der „Aufeinanderfolge" der einzelnen Teile eines literarischen Werkes darf aber — wie schon hervorgehoben — nicht in dem gewöhnlichen Sinne verstanden werden, in welchem wir von der Aufeinanderfolge realer Ereignisse in der konkreten Zeit sprechen. Andererseits muß man die hier vorliegende Ordnung z.B. derjenigen Ordnung gegenüberstellen, welche unter den Elementen einer geometrischen Figur als einer idealen Gegenständlichkeit herrscht. In dem letzteren Falle wäre eine noch so übertragene Rede von der Ordnung einer Aufeinanderfolge vollkommen widersinnig. Sie ist aber bei dem Stellensystem der einzelnen Phasen des literarischen Werkes durch den Aufbau des letzteren gefordert. Bestimmte Sachverhalte z.B. müssen „schon" entworfen sein, damit die anderen sich auf ihnen aufbauen können. Und dasselbe trifft auch für die übrigen Schichten des literarischen Werkes zu. Allerdings ist es sehr schwierig, den genauen Sinn dieses „schon" bzw. dieser „Aufeinanderfolge" anzugeben, was auch damit im Zusam331

menhang steht, daß das Wesen der Zeit, das hier zu kontrastieren wäre, bis jetzt nicht genügend aufgeklärt ist. Aber immerhin: ist es für die konkrete Zeit wesentlich, daß in dem sich abwickelnden Zeitkontinuum immer eine ausgezeichnete Phase des „Jetzt" vorhanden ist, die selbst und zusammen mit den gerade existierenden Gegenständlichkeiten eine besondere Aktualität des Seins, oder besser, das reale Sein im eigentlichen Sinne erlangt, um es sofort zu verlieren, sobald das „Jetzt" sich in ein „Vergangen" verwandelt hat, so ist bei den Teilen des literarischen Werkes als eines aus a l l e n Schichten aufgebauten Gebildes von einer solchen „Jetzt"-Phase und somit von der Zeit im echten Sinne keine Rede. Keine seiner „Phasen" ist den übrigen Phasen gegenüber auf diese Weise ausgezeichnet, natürlich, wenn wir das Werk selbst und nicht irgendeine seiner Konkretisationen betrachten. Im Zusammenhang damit weist das literarische Werk als Ganzes genommen auch nicht die anderen Zeitformen des „Vergangen" und des „Zukünftig" auf 1 . Und trotzdem ist es unumgänglich, von einer „Aufeinanderfolge" der einzelnen Phasen des Werkes und somit auch von den „Phasen" selbst zu sprechen. Wenn wir uns den Sinn dieser „Aufeinanderfolge" verdeutlichen wollen, so fällt uns auf, daß es sich hier jedenfalls um eine E i n s e i t i g k e i t des B e d i n g t s e i n s in der Konstitution handelt, die bei einem zeitlich sich entfaltenden Sein ebenfalls vorhanden ist, sein Wesen aber nicht erschöpft, dagegen bei einem vollkommen außerzeitlichen Sein, z.B. eines idealen geometrischen Gegenstandes, nicht möglich ist. Jede (außer der ersten) Phase des literarischen Werkes weist in sich Momente auf, die ihre Fundierung außer in ihr selbst in Momenten einer anderen „früheren" Phase haben. Zugleich enthält jede Phase ein System von Elementen, die keiner Fundierung in den Elementen einer anderen Phase bedürfen. Endlich enthält sie in sich Momente, die die Fundierungsbasis bestimmter Momente einer anderen „nachfolgenden" Phase bilden2. „Früher" heißt hier diejenige Phase, die in sich f u n d i e rende 3 Momente für fundierte einer anderen Phase enthält, 1

Alle diese Zeitformen gehören, wie schon früher festgestellt, zu dem G e h a l t e der im Werk dargestellten intentionalen Gegenständlichkeiten. Man soll aber die Zeitform des Dargestellten nicht mit der hier untersuchten besonderen Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile des ganzen Werkes verwechseln. 2 Die letzteren können entweder zu den Elementen gehören, die für sich keine Fundierung fordern, oder zu denjenigen, die selbst in den Elementen einer anderen These fundiert sind. 3 Über den Begriff der Fundierung vgl. E. Husserl, „Log. Untersuchungen", Bd. II. Unters. III.

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„später" dagegen diejenige, welche in sich Elemente enthält, die in den Elementen einer anderen Phase f u n d i e r t sind. Und zwar ist dieses „früher" und „später" durchaus relativ. Dabei ist es aber ausgeschlossen, daß diejenige Phase, welche im Vergleich zu einer anderen „später" ist, ihr gegenüber auch „früher" sein könnte. D.h. : Enthält eine bestimmte Phase Β in sich Elemente, welche ihre Fundierungsbasis in einer anderen Phase A haben, so ist 1. kein Moment der Phase A durch irgendein Moment der Phase Β fundiert. 2. wenn die Phase Β in sich fundierende Elemente enthält, so fungieren sie entweder als Fundierungsbasis anderer Elemente d e r s e l b e n Phase oder als Fundierungsbasis der Elemente einer anderen Phase C, die dann im Verhältnis zu Β später ist 1 . Gegenseitige Fundierung kann nur unter den Elementen bzw. Momenten einer und derselben Phase bestehen. Durch diese Fundierungseigentümlichkeiten statuiert sich eben die Ordnung der „Aufeinanderfolge" der Phasen im literarischen Werke, wobei wir dieses Wort deswegen benutzen, weil analoge Fundierungsbeziehungen in der wirklichen Aufeinanderfolge in der konkreten Zeit vorliegen8. Für die „Aufeinanderfolge" in dem hier analysierten Sinne ist folgendes noch besonders hervorzuheben, was übrigens schon z.T. in der oben gegebenen Bestimmung angedeutet wurde: 1. Die fundierenden und die durch sie fundierten Elemente, die die Aufeinanderfolge zweier Phasen statuieren sollen, müssen zu zwei verschiedenen Phasen gehören. 2. Eine jede Phase muß in sich Elemente enthalten, die k e i n e Fundierungsbediirftigkeit im Verhältnis zu den Elementen (bzw. Momenten) einer anderen Phase aufweisen. Sonst würde es nicht möglich sein, daß es überhaupt zwei verschiedene „Phasen" des Werkes gibt. Diese Elemente der Phase, die keine Fundierungsbedürftigkeit im Verhältnis zu den Elementen einer anderen Phase aufweisen, dienen zugleich als Basis der Seinsfundierung a l l e r Elemente (bzw. Momente) der betreffenden Phase und verleihen ihr eine Seinsselbständigkeit, die aber aus anderen Gründen in doppeltem Sinne relativ ist. Einmal in dem Sinne, daß trotz dieser Seinsselbständigkeit die betreffende Phase (falls sie nicht die „erste" ist) in sich Elemente (bzw. Momente) enthält, die zugleich in einer 1 Genauere Analysen würden zeigen, daß noch verschiedene Komplikationen möglich sind, daB man ζ. B. von einer mittelbaren Fundieru'ng sprechen darf usw. 2 Zu der Aufeinanderfolge in der Zeit gehören aber noch weitere Momente, die sie erst zu einer zeitlichen maohen und mit der ontischen Vorzugsstellung der „Gegenwart" im engsten Zusammenhange stehen.

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anderen, „früheren" Phaee ihre Fundierungsbasis haben. Diese letzteren fundierten Elemente (Momente) sind also doppelt fundiert, einmal seinsfundiert in den fundierenden Elementen derselben Phase, zum zweiten Male soseinsfundiert in den Elementen der früheren Phase. Diese Relativität der Seinsselbständigkeit der Phase bewirkt, daß sie kein absolut in sich abgeschlossenes Ganzes, sondern nur eine Phase, ein Teil eines umfassenderen Ganzen, nämlich des betreffenden literarischen Werkes ist. Ihre Seinsselbständigkeit aber bewirkt, daß sie kein Teil der übrigen Phasen ist, sondern mit ihnen nur in einem engen Zusammenhang steht, der eben in den Fundierungsbeziehungen mancher ihrer Elemente bzw. Momente zu den Elementen (Momenten) der „vorangehenden" und der „nachfolgenden" Phaeen desselben Werkes besteht. In einem zweiten Sinne ist die Phase des Werkes nur relativ seinsselbständig, indem diese ihre Seinsselbständigkeit nicht ausschließt, daß sie seinsheteronom und in diesem Sinne auch seinsrelativ auf subjektive Bewußtseinsoperationen und — wie sich später zeigen wird — noch auf ein anderes seinsautonomes Seiendes werde, so daß sie also in unserer Terminologie seinsabhängig sein kann1. 3. Die jeweilig „frühere" Phase des Werkes existiert zugleich (im zeitlichen Sinne) mit den jeweilig „späteren" Phasen des Werkes. Es handelt sich eben um eine Ordnung der Fundierung, nicht aber um die Ordnung des Entstehens und Vergehens in der Zeit. In der „Ordnung der Aufeinanderfolge" der einzelnen Phasen des Werkes liegt der Grund dafür, daß die Konkretisierung des literarischen Werkes nur in einem Abschnitt der konkreten Zeit sich entfalten kann. Um mögliche Mißverständnisse zu beseitigen, ist noch zu betonen, daß die Ordnung der Aufeinanderfolge der Phasen des Werkes weder mit der in ihm in der gegenständlichen Schicht zur Mitdarstellung gelangenden Zeit, noch mit der Zeit vermengt werden darf, in welcher das literarische Werk selbst existiert. Wag das letztere betrifft, so werden wir darüber erst später (vgl. 13. Kap.) sprechen können. In bezug auf das erstere ist aber noch folgendes zu bemerken: Daß man zwischen beidem unterscheiden muß, folgt schon daraus, daß oft die „spätere" Phase des literarischen Werkes eine Situation zur Darstellung bringt, welche im Vergleich zu 1 Vgl. meine Ausführungen in der Abhandlung „Bemerkungen zum Problem Idealismus-Realismus" in der Festschrift für E. Husserl, 1929.

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anderen „schon" dargestellten Situationen z e i t l i c h früher — und zwar in der d a r g e s t e l l t e n Zeit — liegt, so z.B. wenn wir aus einer Erzählung einer dargestellten Person die „Vorgeschichte" der betreffenden, eben zur Darstellung gelangenden Situation erfahren1. Die zeitliche Ordnung des Dargestellten und die „Ordnung der Aufeinanderfolge" der einzelnen Phasen des Werkes sind in weiten Grenzen voneinander unabhängig, wenn es auch einer besonderen Untersuchung bedürfte, um festzustellen, ob diese Unabhängigkeit eine vollkommene sei oder ob sie beschränkt und, gegebenenfalls, in welchen Grenzen sie beschränkt sei. Die dargestellte Zeit weist zwar verschiedene bedeutende Modifikationen im Vergleich zu der Zeit der realen Welt auf, aber sie ist jedenfalls eine Zeit, in welcher die Grundstrukturen der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, wenn auch modifiziert, vorhanden sind. Dagegen haben diese Grundstrukturen bei der Aufeinanderfolge der Phasen des Werkes keinen Sinn. Das Vorhandensein der „Aufeinanderfolge" der Phasen des Werkes hat zur Folge, daß jedes Werk eine bestimmte Entfaltungslinie und im Zusammenhang damit eine innere D y n a m i k h at. Es gibt vorbereitende Phasen des Werkes, die auf eine Kulminationsphase hindrängen, und solche Kulminationsphasen selbst. Es kann in einem Werke — z.B. in einem Drama — mehrere solcher Kulminationsphasen geben und auch Phasen, die einem Abklingen zu vergleichen wären, ein eigenartiges Hinauf- und Hinuntersteigen der Spannungen, das für sich selbst eine eigene ästhetische Wertqualität konstituiert. Andererseits ist es natürlich möglich, daß die Kulminationsphase den Abschluß des Werkes bildet, das mit ihr jäh abbricht usw. Zu beachten ist aber, daß eine jede Schicht des literarischen Kunstwerkes eine eigene innere Dynamik aufweisen kann, so daß die Kulminationsphase in einer Schicht nicht notwendig mit den Kulminationsphasen der übrigen Schichten zusammengehen muß. Es sind da verschiedene Kombinationen möglich, die den ganzen Reichtum der möglichen polyphonen Harmonien und Disharmonien herbeiführen. Hier müssen wir uns — wie an vielen anderen Punkten — nur mit der Feststellung der Grundtatsache be1 Auf den ersten Blick scheint dies der oben festgestellten Einseitigkeit der Fundierungsrichtung unter den Phasen des Werkes zu widersprechen. Indessen handelt es sich da nicht um eine Fundierung des „früher" Dargestellten durch das „später" Dargestellte, sondern nur um eine Ergänzung der Bestimmung des „früher" Dargestellten, um die Beseitigung einer „früher" vorhandenen Unbestimmtheitsstelle.

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gniigen und nur die Richtlinien andeuten, nach welchen spezielle Untersuchungen zu führen wären. Denn hier, wie überall, eröffnen sich mannigfache Probleme und insbesondere die äußerst wichtigen Probleme der „Komposition", die — wie viele andere — sich erst auf der Grundlage der von uns herausgestellten Strukturen und Zusammenhänge auf befriedigende Weise lösen lassen1. Damit haben wir die Grundstrukturen des literarischen Werkes wenigstens den Hauptzügen nach umschrieben. Es ist jetzt an der Zeit, zu den Ergänzungen und Konsequenzen überzugehen.

1

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Vgl. 0. Walzel, „Die künstlerische Form des Dichtwerks".

III. A b s c h n i t t .

Ergänzungen und Konsequenzen 12. Kapitel. Betrachtung der Grenzfälle. § 56. E i n l e i t u n g . Wir haben unsere bisherigen Untersuchungen an einer bestimmten Reihe von Werken orientiert, in welchen wir, unseren ursprünglichen und zunächst ungeklärten Intuitionen folgend, mit einer gewissen Sicherheit Beispiele von literarischen Werken sehen konnten. Womit wir es in diesen Fällen zu tun haben, hat sich im Laufe unserer Untersuchung geklärt. Wir haben aber schon am Anfange unserer Betrachtung auf die Gefahr hingewiesen, daß die Beschränkung unserer Analysen auf diese Beispiele das endgültige Recht unserer ursprünglichen, ungeklärten Intuitionen und Meinungen voraussetzen würde und uns evtl. zu einer schiefen Auffassung des Wesens des literarischen Werkes (bzw. literarischen Kunstwerkes) verführen könnte. Um dieser Gefahr vorzubeugen, müssen wir zu der Betrachtung der wichtigeren unter den zweifelhaften Fällen übergehen, deren Eigenart und Zugehörigkeit zu literarischen Werken (bzw. Kunstwerken) uns früher unklar war.

§ 57. D a s T h e a t e r s t ü c k 1 . Wir gehen ins Theater, um z.B. den „Don Carlos" von Schiller zu „sehen". Haben wir es in diesem Falle mit einem literarischen 1 Zum § 57 vgl. u.a. die Ausführungen von R. L e h m a n n in dessen „Deutscher Poetik", insbesondere „Dramatische Dichtung", S.163—181.

22 Iiigarden, Das literarische Kunstwerk

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Werke zu tun, oder treten hier besondere Eigentümlichkeiten auf, welche einen Schnitt zwischen den bis jetzt betrachteten Fällen vor, dem „Theaterstück"1 statuieren ließen? Was liegt eigentlich und wenn wir einem Theaterstück beiwohnen ? Ist der „Don Carlos", den wir lesen, identisch mit dem, den wir auf der Bühne „sehen" ? Wir müssen hier vor allem zwischen den einzelnen Theateraufführungen und dem einen mehrmals aufgeführten Stück unterscheiden2. Jede einzelne Aufführung (Vorstellung) ist ein individuelles Geschehnis, das — wenn es auch nicht in jeder Hinsicht als real zu bezeichnen ist — jedenfalls in realen Geschehnissen seine unentbehrliche Fundierung hat. Jede von ihnen unterscheidet sich notwendig von den übrigen in verschiedenen Einzelheiten, während in diesen individuellen Aufführungen trotzdem ein und dasselbe Stück zur „Aufführung" gelangt, und zwar auch dann, wenn es „schlecht" aufgeführt wird. Freilich darf die Aufführung nicht zu schlecht sein, da dann das betreffende Stück überhaupt nicht zur Ausprägung gelangt3. Aber gerade bei einer „schlechten" Aufführung tritt die Verschiedenheit zwischen der letzteren und dem Schauspiel selbst deutlich zutage. Jedes Postulat, daß die Aufführung so oder anders gestaltet werden soll, damit sie eine „gute" wäre, setzt diese Verschiedenheit voraus. Es ist bloß die Frage, ob das, was den einzelnen Aufführungen gegenüberzustellen ist, das entsprechende „geschriebene" literarische Werk oder etwas von ihm Verschiedenes, ein „Schauspiel" ist. Wäre das letztere der Fall, so müßte man den literarischen Werken bestimmter Art (den „dramatischen" Werken) das Schauspiel als etwas ihnen gegenüber Heterogenes entgegenstellen, im ersteren Falle dagegen müßte man nur eine besondere Art

1 Der Kürze halber verwenden wir diese Bezeichnung sowie das Wort „Schauspiel" für jedes „Stück", das im Theater aufgeführt wird, unabhängig davon, ob es ein „Schauspiel" (im üblichen Sinn), eine „Tragödie" oder ein „Lustspiel" ist. Außerhalb unserer Betrachtung lassen wir das sog. „musikalische Drama" bzw. das musikalische Lustspiel (Operette), da das Vorhandensein des musikalischen Elementes in ihnen eine Komplikation herbeiführt, welche einen besonderen Typus von Kunstwerken zu statuieren scheint. 1 Dies tut bereits W. Conrad, I.e. S.470. s Einen besonderen Fall bilden diejenigen Aufführungen, in welchen einzelne Szenen (Teile) des Werkes aus diesen oder anderen Gründen weggelassen werden. Hier kann man entweder sagen, daß nur einzelne Teile des Werkes aufgeführt wurden oder — wenn die Streichungen sehr weit gehen und sich eine gewisse Tradition ausgebildet hat, immer dieselben Streichungen vorzunehmen — daß ein anderes Werk als das vom Autor verfaßte zur Aufführung gelangt. Dann muß dieses neue Werk den einzelnen konkreten Aufführungen gegenübergestellt werden.

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der Konkretisierung der „dramatischen" Werke annehmen, nämlich diejenige, die in einer „Aufführung" zustande kommt. Betrachten wir ein bestimmtes Drama (z.B. „Don Carlos") so, wie es sich als dasselbe in verschiedenen einzelnen Lektüren zeigt, und „dieses selbe" Drama — wie wir mit einem gewissen Recht gewöhnlich sagen —, wie es sich als dasselbe in verschiedenen einzelnen Theater auf führ unge η gibt, so springt uns der Unterschied und zugleich der Zusammenhang zwischen ihnen ins Auge. Der Unterschied liegt vor allem in der Weise, wie die dargestellten Gegenständlichkeiten in beiden Fällen durch Sachverhalte dargestellt und in den Ansichten zur Erscheinung gebracht werden. In einem geschriebenen Drama gibt es, wie wir schon früher festgestellt haben1, zwei verschiedene Texte : den Haupttext, d. h. die von den d a r g e s t e l l t e n Personen gesprochenen Worte und Sätze, und den Nebentext, d.h. die vom Autor gegebenen „Informationen". In einem Schauspiel fällt der Nebentext als T e x t fort. Damit fällt auch die früher besprochene „doppelte Projektion" der Sachverhalte fort, und die den Haupttext bildenden Sätze hören auf, dem durch den Nebentext Dargestellten zuzugehören, und verlieren den Charakter, daß sie „in Anführungszeichen" stehen. Die Entwerfungsfunktion, die in dem gelesenen Drama der Nebentext ausübt, übernehmen in einem Schauspiel bestimmt qualifizierte und in entsprechenden Ansichten erscheinende, aber hinsichtlich ihrer Individualität nicht eindeutigbestimmte2 reale G e g e n s t ä n d l i c h keiten 3 , welche — wie man gewöhnlich sagt — eine „Rolle spielen", oder genauer gesagt, welche die Abbildungs- und die Repräsentationsfunktion4 ausüben. Und zwar repräsentieren sie diejenigen Gegenstände, die bei einem gelesenen „Drama" sowohl durch den Nebentext wie auch durch den Haupttext i n t e n t i o n a l entworfen werden®. Diese repräsentierenden Gegenstände brauchen nicht ge1

Vgl. oben S. 220ff. Schlechthin individuiert sind sie erst bei einer bestimmten Aufführung. Darin zeigt sich u. a. der Unterschied zwischen einem Schauspiel selbst und seinen einzelnen Auffährungen. 3 Dies sieht Th. A. Meyer nicht. Trotzdem enthalten seine Ausführungen über das Drama eine Reihe von wertvollen Bemerkungen, die z.T. mit unseren Betrachtungen zusammenstimmen (vgl. I.e. S. 105ff.). 1 Vgl. oben S. 257 ff. 5 Aber nicht die von den dargestellten Gegenständlichkeiten evtl. abgebildeten realen Dinge und Personen. Bei einem „historischen" Schauspiel tritt dadurch eine besondere, interessante Komplikation auf. 2

22·

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rade diejenigen realen Dinge und Menschen zu sein, welche bei einer b e s t i m m t e n Aufführung sich auf der Bühne realiter befinden. Aber sie müssen so beschaffen sein, daß sie die Funktionen der Abbildung und der Repräsentation der im Schauspiel dargestellten Gegenständlichkeiten wenigstens teilweise ausüben und sie in entsprechenden visuellen und akustischen Ansichten zur Erscheinung bringen können1. Im Grunde genommen kommt es vor allem darauf an, daß ihr bestimmtes Soaussehen die zugehörigen Ansichten entsprechend gestaltet, um in den k o n k r e t e n Ansichten, welche durch die „Zuschauer" erlebt werden sollen, die repräsentierten Gegenständlichkeiten erscheinen zu lassen. Das Schauspiel unterscheidet sich also von einem — wie wir von nun an sagen wollen — rein literarischen Werke dadurch, daß in ihm ganz neue, durch das Wesen des rein literarischen Werkes ausgeschlossene Darstellungsmittel auftreten: 1. reale in der Abbildungs- und Repräsentationsfunktion begriffene Gegenstände und 2. die durch die Beschaffenheiten der letzteren entsprechend gestalteten und vorbestimmten Ansichten, in denen die repräsentierten Gegenständlichkeiten erscheinen sollen. Diese Ansichten werden hier nicht wie in einem rein literarischen Werke durch verschiedene künstliche Mittel bloß paratgehalten, sondern sie werden, soweit ihr Gehalt von den erscheinenden Gegenständen abhängt, durch die repräsentierenden Gegenstände als Ansichten der repräsentierten Gegenstände in concreto bestimmt, so daß nur der Zuschauer hinzutreten muß, damit sie sich in voller Konkretion aktualisieren können. Man soll aber nicht denken, daß alle Einzelheiten der in einem Schauspiel dargestellten Gegenständlichkeiten durch die realen repräsentierenden Gegenstände repräsentiert werden. Dies trifft voll nur zu in bezug auf das, was durch den Nebentext des entsprechenden rein literarischen Werkes intentional entworfen wird, und teilweise auch auf diejenigen durch den H a u p t t e x t bestimmten 1 Damit das Resultat dieser ihrer Punktionen, d. h'. die repräsentierten Gegenstände, bei einer konkreten Aufführung erfaßt werde, muß ein „Zuschauer" vorhanden sein und ganz besondere Erfassungserlebnisse vollziehen. Diese Erlebnisse gehören natürlich weder zu dem Schauspiel selbst noch zu seinen Konkretisierungen (Aufführungen). Es ist zu beachten, daß diese Erlebnisse k e i n e echten Wahrnehmungen sind, obwohl sie hinsichtlich der Anschaulichkeitsart der Wahrnehmung gleichen. L. B l a u s t e i n , ein Schüler von K . T w a r d o w s k i und mir, hat sich mit diesen Erfassungserlebnissen beschäftigt und rechnet sie den von ihm so genannten „imaginativen Vorstellungen" zu (vgl. „Przedstawienia imaginatywne", Lwów 1930).

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physischen Gegenstände und Situationen, die sich unmittelbar „auf der Bühne" befinden (bzw. stattfinden). Dagegen gelangen schon die psychischen Geschehnisse der „Helden", die entweder durch die Kundgabefunktion der tatsächlich ausgesprochenen Sätze „zum Ausdruck" gebracht werden (soweit dies durch das Mienenspiel der „Darsteller" nicht unmittelbar geleistet wird) oder von denen in dem „auf der Bühne" geführten Gespräch die Rede ist, auf eine ähnliche Weise zur Darstellung und Erscheinung wie in einem rein literarischen Werke. Die dem reinen literarischen Werke eigenen Darstellungs- und Erscheinungsmittel (die durch die Sätze entworfenen bloß intentionalen Sachverhalte und die schematisierten paratgehaltenen Ansichten) verlieren auch in einem Schauspiel nicht ihre Funktion, soweit sie durch Sätze des Haupttextes entworfen und vorbestimmt werden. Die Punktion dieser Sachverhalte wird aber in einem Schauspiel merklich verändert. Während sie in dem rein literarischen Werke das eigentliche und wichtigste Darstellungsmittel bilden, so daß die Konstitution der dargestellten Gegenständlichkeiten primär und w e s e n t l i c h von ihnen abhängt und höchstens durch die paratgehaltenen Ansichten ergänzt wird, brauchen diese Sachverhalte in einem Schauspiel nicht erst die dargestellten Dinge primär zu konstituieren, weil diese, allerdings nur anfängliche, Konstitution durch die realen Gegenstände geleistet wird, welche die Abbildungsfunktion ausüben. Die repräsentierenden Dinge und Menschen sind hier von vornherein vorhanden, die repräsentierten aber konstituieren sich als Dinge vermöge der entsprechenden Eigenschaften der ersteren und vermöge ihrer Repräsentationsfunktion, so daß die repräsentierten Dinge und Menschenleiber uns von vornherein (bei entsprechender Einstellung) gegeben werden. Auch diejenigen intentionalen Sachverhalte, welche die Handlungen konstituieren, die sich „auf der Bühne" abspielen und durch die repräsentierten Personen ausgeführt werden, teilen diese ihre Konstitutionsleistung mit den repräsentierenden Gegenständen, den „Darstellern", weil diese Handlungen, wenigstens ihrer rein physischen Komponente nach, durch das „Spiel" der Darsteller hervorgebracht werden. Und wo es sich um Sachverhalte handelt, die in die Sphäre des rein psychischen Seins und Geschehens fallen, so teilen auch sie ihre Darstellungsfunktion, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, mit den mannigfaltigen Ausdrucksphänomenen der spielenden „Schauspieler" und insbesondere mit den Manifestationsqualitäten der durch die Schauspieler tat341

sächlich ausgesprochenen Worte und Sätze. Die Leistung der intentional entworfenen Sachverhalte ist in dieser Hinsicht oft nur von der sekundären Bedeutung einer Hilfe ; sie erleichtert die Deutung der Ausdrucksphänomene (die oft nicht ganz ausgeprägt und nicht eindeutig genug sind) und dadurch die lebendige Erfassung des dargestellten psychischen Zustandes. So übernimmt in einem Schauspiel einen Teil der Darstellungsfunktion ein Element, das im rein literarischen Werke überhaupt nicht vorhanden ist. Nur dort, wo es sich um Gegenstände und Geschehnisse handelt, von welchen nur erzählt und berichtet wird und die sich „außerhalb" der Bühne befinden bzw. abspielen, ist die Weise, sie darzustellen und zur Erscheinung zu bringen, durchaus dieselbe wie in dem rein literarischen Werke. Aber es bedeutet für das Schauspiel gerade einen Mangel, wenn es in ihm zuviel derartige „Erzählungen" und Berichte gibt1. Nach dem Gesagten wäre es also falsch zu sagen, daß das Schauspiel — wie wir uns, der üblichen Redeweise folgend, selbst einmal ausgedrückt haben — eine Realisierung des entsprechenden rein literarischen Werkes sei. Denn einerseits lassen sich zwei Schichten des letzteren überhaupt nicht „realisieren" : die Schicht der Sinneinheiten und die der dargestellten (bzw. hier: repräsentierten) Gegenständlichkeiten. Die anderen Schichten werden aber auch nicht „realisiert", sondern den entsprechenden Schichten des rein literarischen Werkes nur nachgebildet, sind aber ihnen gegenüber vollkommen neue Gebilde. Andererseits treten in dem Schauspiel die schon besprochenen strukturellen Unterschiede auf, die es zu einem neuen Werke — im Vergleich zu dem entsprechenden rein literarischen Werke — machen. Wir haben es also im Falle des Schauspiels mit einem anderen Typus von Werken zu tun als bei den rein literarischen Werken. Trotzdem besteht eine enge Beziehung zwischen einem Schauspiel und dem entsprechenden rein literarischen Werke, falls das letztere überhaupt vorhanden ist, was — wie zu betonen ist — nicht notwendig der Fall sein muß. Die Dieselbigkeit gerade der nicht realisierbaren Schichten der Sinneinheiten und der dargestellten Gegenständlichkeiten erlaubt nämlich, eine Zuordnung zwischen diesen beiden heterogenen Werken zu statuieren und in d i e s e m, aber auch nur in diesem Sinne von , .einem

1 In dem Artikel „Von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel" (in: Zagadnienia rodzajów literackich, Lòdi 1958, Bd. I) habe ich diese im Theaterschauspiel sich vollziehenden Darstellungsfunktionen genauer ausgearbeitet.

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und demselben" Drama in zwei verschiedenen Gestaltungen zu sprechen, einmal in derjenigen eines Schauspiels, das andere Mal in der eines rein literarischen Werkes. Wenn aber das Schauspiel kein rein literarisches Werk ist, so ist es doch ein Grenzfall davon. Dafür sprechen folgende Gründe : 1. Wirfindenin einem Schauspiel einen analogen Schichtenaufbau wie bei einem rein literarischen Werke, nur treten hier neue Elemente auf, und einige von den Schichten spielen eine etwas modifizierte Rolle. 2. Die Schichten der Sinneinheiten und der sprachlautlichen Gebilde sind auch in dem Schauspiel vorhanden und spielen in ihm eine ähnlich bedeutende Rolle wie in einem rein literarischen Werke. Wollte man also den Ausdruck „literarisch" darauf beziehen, so muß das Schauspiel zu den literarischen Werken gerechnet werden, wenn auch nicht zu den rein literarischen. 3. Im Zusammenhang mit dem Schichtenaufbau ist in ihm ebenfalls jene wertqualitative Polyphonie vorhanden, die wir früher als wesentlich für das literarische Werk gefunden haben. 4. Ferner fehlt hier nicht die quasi-urteilsmäßige Modifikation der Sätze, die von den dargestellten Personen ausgesprochen werden. Infolgedessen sind auch hier die dargestellten Gegenständlichkeiten nur rein intentionale Gebilde. 6. Auch die metaphysischen Qualitäten können in einem Schauspiel zur Offenbarung gelangen, wobei diese Offenbarung gewöhnlich eine viel größere Ausdruckskraft hat, als dies bei einem rein literarischen Werke möglich ist. 6. Endlich ist hier auch die besondere Struktur der Aufeinanderfolge vorhanden und bedingt die verschiedenen Effekte der inneren Dynamik des Werkes. Sowohl die Unterschiede wie die Ähnlichkeiten lassen uns also das Schauspiel für einen Grenzfall des literarischen Werkes halten. Es bildet zugleich einen Übergang zu Werken anderer Typen, die noch eine Verwandtschaft mit den literarischen zeigen, aber schon nicht mehr zu ihnen gerechnet werden können und sozusagen in der Mitte zwischen den letzteren und den Werken der Malerei stehen: zu der „Pantomime" und zu dem (stummen) kinematographischen Werk. § 58. Das kinematographische Schauspiel. Wir gehen jetzt zu der Analyse des kinematographischen Schauspiels über. Und zwar betrachten wir einen in gewissem Sinne idealen Fall, in welchem wir mit einem völlig „stummen" und von den 343

üblichen „schriftlichen" Informationen völlig freien kinematographischen Schauspiel zu tun haben 1 . Andererseits interessiert uns hier lediglich d a s f e r t i g e Schauspiel, nicht etwa seine technische Entstehungsweise. Insbesondere k o m m t es uns auf die F r a g e an, wie sich d a s kinematographische Schauspiel zu einem rein literarischen Werke verhält. Natürlich beschränken wir uns hier auf die Herausstellung der Grundstruktur des kinematographischen Schauspiels, ohne auf die zahlreichen speziellen Probleme einzugehen 2 . W a s wird uns bei einem kinematographischen Schauspiel dargeboten ? E i n e diskontinuierliche, aber ihre Diskontinuierlichkeit verbergende Mannigfaltigkeit von „ B i l d e r n " 3 , von welchen ein jedes eine m i t photographischen Mitteln hergestellte Rekonstruktion einer visuellen Ansicht eines b e s t i m m t e n Gegenstandes oder einer bestimmten gegenständlichen Situation ist. I n d e m diese „ B i l d e r " aufeinanderfolgen, bringen sie b e s t i m m t e Gegenständlichkeiten zur Erscheinung, f a s t so wie ein Gemälde u n d doch in wesentlich erweiterter u n d veränderter Weise, weil sie in ihrer Aufeinanderfolge u n d Verschmelzung zeitlich ausgedehnte G e s c h e h n i s s e i n i h r e m v o l l e n k o n k r e t e n V e r l a u f erscheinen lassen 4 . Dies letztere ist 1 K. Lange hat wohl recht, wenn er behauptet, daß all diese schriftlichen Informationen dem Wesen des kinematographischen Schauspiels widersprechen. Die Entwicklung des Tonfilms kann daran nichts ändern. (Vgl. K. Lange, „Nationale Kinoreform", 1918. Ich kenne diese Arbeit nur zum Teil und aus zweiter Hand.) Die Struktur des Tonfilme habe ich in dem Artikel „Le temps, l'Espace et le Sentiment de réalité" analysiert, vgl. Revue Internationale de Filmologie, Paris 1947. 2 Es gibt eine umfangreiche Literatur über das Kino, die hauptsächlich in verschiedenen Fachzeitschriften zerstreut ist. Es war mir unmöglich, mich ausführlicher mit dieser Literatur zu beschäftigen. Von den diesbezüglichen mir bekannten Schriften ist das Buch von Karol Irzykowski, „Die zehnte Muse" (in polnischer Sprache, 1924), wohl das beste, wenn man auf den Kern des Gedankens Irzykowskis und nicht auf die oft mangelhaften Formulierungen und Begriffsprägungen achtet. 3 Wir sehen davon ab, daß diese „Bilder" gewöhnlich nicht Rekonstruktionen von buntfarbigen Ansichten sind. Schon mit den heutigen technischen Mitteln ist es möglich, buntfarbige Filme herzustellen. Freilich haben die neutralen Bilder ihre eigenen dekorativen Werte, die bei einer speziellen Untersuchung nicht außer acht gelassen werden dürften. — In unmittelbarem Anschluß an den Text dieses Buches habe ich noch im Jahre 1928 einen „Anhang" über Werke anderer Künste (Bild, Musik, Architektur) geschrieben. Er war aber zu groß, um in demselben Buche veröffentlicht werden zu können. Ich habe dann im Laufe der Jahre diesen Anhang wesentlich genauer ausgearbeitet und in polnischer Sprache als drei verschiedene Abhandlungen publiziert. Sie sind jetzt gesammelt im 2. Bande meiner „Studien zur Ästhetik". 4 Dem widerspricht es nicht, daß aus ästhetischen und technischen Gründen immer nur einzelne Phasen der Geschehnisse dargeboten werden, denn auch diese Phasen werden in ihrem ganzen Verlauf zur Erscheinung gebracht.

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aber bei einem „Gemälde" ausgeschlossen. Dagegen ist bei einem kinematographischen Schauspiel weder die bei einem literarischen Werke vorkommende Schicht der sprachlautlichen Gebilde noch die der Bedeutungseinheiten vorhanden. Roh gesprochen bleibt also bei ihm nur die Hälfte der Schichten übrig, die für das literarische Werk wesentlich sind. Infolgedessen ist es k e i n literarisches Werk im echten Sinne. Nicht aber die Anzahl der Schichten allein, sondern die Tatsache, daß die letztlich konstituierende Schicht in einem kinematographischen Schauspiel ausschließlich die Schicht der v i s u e l l e n A n s i c h t e n und nicht die der Bedeutungseinheiten ist, macht den wesentlichen Unterschied zwischen ihm und einem rein literarischen Werke aus. Mit anderen Worten: Das e i n z i g e konstituierende „Material" bilden hier die r e k o n s t r u i e r t e n visuellen A n s i c h t e n , und sie üben ihre Konstitutionsfunktion dadurch aus, daß sie die entsprechenden Gegenständlichkeiten zur Erscheinung bringen1. Deswegen erlangen sie hier eine entscheidende Bedeutung. Dinge und Menschen werden uns in ihren Geschehnissen sozusagen „von außen her", quasi-wahrnehmungsmäßig gegeben, und alles, was wir von ihnen erfahren, ja, was sie überhaupt sind, muß sein Fundament in der Mannigfaltigkeit von rekonstruierten Ansichten haben. Das führt zu besonderen technischen Schwierigkeiten und Kunstgriffen, wenn es sich um die Darstellung rein psychischer Geschehnisse der dargestellten Personen handelt, da uns der Sinn ihrer Reden unzugänglich ist. In einem vollkommen stummen kinematographischen Schauspiel sind uns diejenigen psychischen Geschehnisse, die sich nicht in leiblichen Verhaltungsweisen und Eigen1 Dabei ist nicht zu vergessen, daß die Schicht der Ansichten im kinematographischen Schauspiel nicht mit der entsprechenden Schicht des literarischen Werkes zu identifizieren ist. Die schematisierten Ansichten werden in einem literarischen Werke nur paratgehalten und sind in ihrer Konstitution auf andere Schichten des Werkes selbst angewiesen. In einem kinematographischen Schauspiel dagegen werden sie vor allem nicht in demselben Sinne schematisiert. Daß sie aber auch da einer Schematisierung oder besser einer Umwandlung unterliegen, folgt schon aus den Umgestaltungen, die der Bau des photographischen Apparates mit sich führt. Insbesondere ist bei den bis jetzt verwendeten monokularen kinematographischen Apparaten die Verwandlung zu beachten, welche in der Verflachung der Tiefenperspektive liegt. Sie könnte aber im Prinzip durch Verwendung stereoskopischer Apparate beseitigt werden. Zweitens gelangen hier die Ansichten zur konkreten Entfaltung und haben dabei ihr Seinsfundament in bestimmten realen, a u ß e r h a l b des Schauspiels selbst sich befindenden Gegenständlichkeiten und Prozessen. Ich habe in dem Artikel „Le Temps, l'Espace et le Sentiment de réalité" das kinematographische Schauspiel einer vertieften Analyse unterzogen. Vgl. Revue Internationale de Filmologie, Paris 1947, vol.I.

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Schäften offenbaren können, entweder überhaupt unzugänglich (bzw. genauer gesprochen : sie gelangen überhaupt nicht zur Konstitution), oder sie konstituieren sich erst mittelbar, indem sie durch die unmittelbar erscheinenden Situationen bestimmt werden. Dabei setzt ihre Erfassung bei dem Zuschauer immer besondere subjektive Operationen voraus. Damit ist dem stummen kinematographischen Schauspiel eine Grenze der Darstellung gesteckt, die freilich in einer anderen Hinsicht (im Vergleich zum Theater, wo die technischen Mittel versagen) viel weiter reicht. Diese Grenze in der Darstellbarkeit der psychischen Geschehnisse führt zugleich eine gewisse Verschiebung im Gleichgewicht des psychischen Seins mit sich: in den Vordergrund tritt die emotionale Sphäre und insbesondere diejenigen Emotionen, Gefühle, Leidenschaften usw., die heftig, wuchtig und von einer gewissen primitiven Radikalität, evtl. Roheit sind ; dagegen wird die Sphäre der intellektuellen Operationen, das ganze innere, subtile, in sich versunkene und sich nicht nach außen zeigende seelische und geistige Leben in den Hintergrund gedrängt, wenn es auch nicht ganz verschwindet. Im Zusammenhang damit wird auch der Umkreis der metaphysischen Qualitäten, die in der kinematögraphisch dargestellten Welt zur Offenbarung gelangen können, wesentlich eingeengt. Es ist aber nicht notwendig, dies als einen Mangel des kinematographischen Schauspiels zu betrachten. Nur wer das letztere für eine Nachahmung des Theaterstückes hält, muß es so empfinden. Tatsächlich aber verhält es sich so, daß das kinematographische Schauspiel nur einen a n d e r e n Ausschnitt des darzustellenden Seins zur Erscheinung bringt, nämlich alle G e s c h e h n i s s e (nicht bloß „Bewegungen", wie Irzykowski irrtümlich behauptet) und Dinge, die in v i s u e l l e n Ansichten zur Erscheinung gebracht werden können. Die Konkretheit der rekonstruierten Ansichten sowie die Möglichkeit, die bei der gewöhnlichen Wahrnehmung uns fast entschwindenden Ansichten durch entsprechende technische Kunstgriffe (z.B. Vergrößerung der entsprechenden „Bilder") zugänglicher und erfaßbarer zu machen, bewirkt zugleich, daß die mannigfachen rein körperlichen bzw. leiblichen oder im Leiblichen unmittelbar fundierten Verhaltungsweisen der an den exponierten Geschehnissen teilnehmenden Gegenständlichkeiten (Menschen, Tiere, Dinge) viel ausgeprägter zur Erscheinung gebracht werden, als dies mit rein literarischen Mitteln möglich ist. Nur muß in einem kinematographischen Schauspiel der Nachdruck auf s i c h t b a r e 346

Geschehnisse gelegt werden, die ganze dargestellte Geschichte muß sich, wenn möglich, nur in ihnen entwickeln. Sonst könnte das Kino nur ein Parasitenleben im Verhältnis zum Theater und zur Literatur — wie es Irzykowski richtig betont — führen. Andererseits bedingt gerade die Konkretheit der Ansichtsrekonstruktionen, daß sie viel aufdringlicher auftreten und in unvergleichlich höherem Maße — als in einem literarischen Werk — zum eigenen Element des Schauspiels werden. Ja, wenn es sich um den künstlerischen Wert eines kinematographischen Schauspiels handelt, so ist er in erster Linie von der Auswahl der rekonstruierten Ansichten, von ihren dekorativen und sonstigen ästhetisch relevanten Qualitäten und erst in zweiter Linie von entsprechenden Momenten der dargestellten Gegenständlichkeiten abhängig1. Man darf aber in dieser Richtung nicht zu weit gehen und die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten für vollkommen irrelevant oder gar entbehrlich halten, denn man darf nicht übersehen, daß es zum Wesen einer Ansicht gehört, Ansicht von E t w a s zu sein. Die Idee eines „abstrakten" kinematographischen Schauspiels — wie es Irzykowski nennt —, d.h. eines Schauspiels, in welchem die Schicht der dargestellten und zur Erscheinung gebrachten Gegenstände (Dinge, Personen, Geschehnisse) überhaupt fortfallen würde, mag technisch realisierbar sein, aber sie stellt keine bloße Abwandlung des kinematographischen Schauspiels, sondern einen dem letzteren gegenüber vollständig heterogenen Typus von Werken dar, mag er auch mit denselben Apparaten hergestellt werden2. Gibt man zu, daß beide Schichten in einem kinematographischen Schauspiel unentbehrlich sind, so muß man eben damit zugeben, daß auch bei ihm eine P o l y p h o n i e von heterogenen Elementen und von entsprechenden Wertqualitäten vorhanden ist, wenn sie auch hier wesentlich ärmer und einfacher ist als bei einem rein literarischen Werke. Dem widerspricht es nicht, daß der gewöhnliche naive Zuschauer fast ausschließlich auf die zur Erscheinung gebrachten Geschehnisse und Dinge eingestellt ist. 1 Daraufhingewiesen zu haben, ist das Hauptverdienst I r z y k o w s k i s in dem zitierten Buche, obwohl ihm der Begriff der Ansicht unbekannt ist. 2 Merkwürdigerweise ist die Stellung I r z y k o w s k i s in dieser Hinsicht schwankend. Einerseits bekämpft er die Beseitigung des „Gehalts" (in seiner Terminologie), d.h., nach Herausarbeitung unserer Begriffe, der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten, andererseits bespricht er die Idee eines „abstrakten" Kinos mit ausgesprochener Sympathie, ohne sich die Heterogenität der beiden Arten von „Schauspielen" zum Bewußtsein zu bringen.

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Es ergibt sich: Das kinematographische Schauspiel ist kein literarisches Werk. Dadurch aber, daß in ihm prinzipiell dieselben Gegenständlichkeiten (mit den oben angedeuteten Einschränkungen) zur Darstellung gelangen können, daß es die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten überhaupt besitzt, ist es dem literarischen Werke verwandt. Wenn es ein Kunstwerk ist, so steht es den literarischen Kunstwerken viel näher als z.B. die Werke der Musik und der Architektur, aber auch näher als die Werke der Malerei und der bildenden Kunst. Es ist — wenn man so sagen darf — ein entartetes Theaterstück, das einerseits die beiden sprachlichen Schichten gleichsam verloren hat, andererseits aber, statt reale Gegenständlichkeiten zur Abbildungsfunktion zu verwenden, ausschließlich rekonstruierte und in mancher Hinsicht dekonstruierte Ansichten als Darstellungsmittel benützt. Wie das literarische Werk kann auch das kinematographische Schauspiel ein Kunstwerk oder bloß ein Informationswerk bzw. ein wissenschaftlicher Bericht sein1 (vgl. z.B. das Studium der Phasen des Vogelfluges, Aufnahmen zu Zwecken des Psychologie, Verwendung des Kinematographen in der Biologie, Medizin usw.). Darin liegt eine neue Verwandtschaft des kinematographischen Schauspiels mit den literarischen Werken. Ist es ein Kunstwerk, so gelangen die dargestellten Gegenständlichkeiten nicht als reale, sondern nur als quasi-reale, nur im Habitus der Realität auftretende zur Erscheinung. Sie sind auch nur rein intentionale Gegenständlichkeiten, und ihre reine Intentionalität wird noch dadurch unterstrichen, daß auch die projizierten „Bilder" keine realen, seinsautonomen Gegenstände, sondern nur Phantome sind, die erst durch entsprechende subjektive Operationen als Erscheinungen der dargestellten Gegenständlichkeiten gedeutet werden müssen. An der Intentionalität der dargestellten Gegenständlichkeiten kann auch die Tatsache nichts ändern, daß es reale Dinge, Menschen, Geschehnisse sind, von denen bei der Herstellung des Films photographische Aufnahmen gemacht werden. Denn die Gegenstände, von welchen man Aufnahmen macht, sind sozusagen keine schlichten realen Gegenstände. Sie üben hier eine Abbildungs- und Repräsentationsfunktion aus, spielen eine „Rolle". Und nicht die realen Gegenstände als reale, sondern das von ihnen Abgebildete bzw. Repräsentierte 1 Dae Wort „literarisches Werk" wird hier im Vergleich zu unserer bisherigen Verwendung dieses Ausdrucks in einem erweiterten Sinne genommen. Vgl. dazu § 60.

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gehört (nach der gemachten Aufnahme und vollzogenen Projektion) als Schicht zu dem Aufbau des kinematographischen Schauspiels. Dagegen ist es ganz anders, wenn wir mit einem wissenschaftlichen oder mit einem Informationsfilm (der Wochenrevue) zu tun haben. Hier spielen die realen Dinge, welche kinematographisch aufgenommen werden, keine „Rolle". In ihrem schlichten Sein und Sosein werden sie photographiert. Sie selbst wollen wir in ihrem Sosein und Geschehen auf diesem mittelbaren Wege aus irgendwelchen Gründen erfassen. Dagegen üben die rein intentionalen Gegenständlichkeiten, die durch die kinematographisch rekonstruierten Ansichten zur Erscheinung gebracht werden, jetzt die Abbildungs- und die Repräsentationsfunktion aus, um die einst photographierten Dinge und Geschehnisse zu einer fast wahrnehmungsmäßigen Gegebenheit zu bringen1. § 59. Die P a n t o m i m e . Einen Grenzfall zwischen dem Theaterstück und dem kinematographischen Schauspiel bildet die Pantomime. Dem ersteren ist sie dadurch verwandt, daß in ihr — ebenso wie in dem Theaterstück — reale Gegenständlichkeiten in der Abbildungs- und Repräsentationsfunktion begriffen sind und Mannigfaltigkeiten von ganz konkreten Ansichten vorbestimmen. Mit dem kinematographischen Schauspiel aber hat sie das gemeinsam, daß auch in ihr die Doppelschicht der Sprache fehlt und daß somit auch in ihr eine analoge Begrenzung der Darstellbarkeit wie im kinematographischen Schauspiel vorliegt. Zugleich aber unterscheidet sie sich noch dadurch von dem letzteren, daß in ihr sowohl die Ansichten wie die Bewegungen und Verhaltungsweisen der „spielenden" Personen so gestaltet werden, daß 1 Es ist klar, daß den Ausführungen dieses Paragraphen eine ganz bestimmte Auffassung der Struktur des Bildes zugrunde liegt und durch den Text hindurchschimmert. Siô war im Jahre 1930, als dieses Buch erschien, vollkommen neu. Seit dieser Zeit ist eine Reihe von Betrachtungen des Bildes in deutscher, französischer und englischer Sprache — von N . H a r t m a n n , 1932,bisetwa E. G i l s o n , 1958 — publiziert worden, die der hier zugrunde gelegten und fast in derselben Zeit ausgearbeiteten Auffassung des Bildes sehr verwandt sind. Der volle Text meiner später in polnischer Sprache verfaßten Abhandlung (0 budowie obrazu, 1946) war zwar den westeuropäischen Forschern unzugänglich, aber ein französisch verfaßtes Résumé derselben ist im Bulletin der Polnischen Akademie der Wissenschaften 1946 erschienen. Inwiefern da von einer bloßen Verwandtschaft oder von einer Beeinflussung gesprochen werden kann, vermag ich nicht zu sagen.

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das hier fehlende Element der Sprache durch andere Mittel e r s e t z t wird. Sie ist sozusagen darauf berechnet, durch das Mienenspiel und die Gestikulation der auftretenden Personen dasselbe zu s age η, was einfacher durch Worte ausgesprochen werden könnte. Sie ist fast wie ein Theaterstück von Taubstummen. Dies ist aber bei dem kinematographischen Schauspiel gerade nicht der Fall. Dabei sind die Grenzen der Darstellung bei der Pantomime viel enger als bei dem kinematographischen Schauspiel, weil man hier nicht über entsprechend leistungsfähige technische Mittel verfügt. Das eben Gesagte erlaubt uns festzustellen, daß im Falle der Pantomime nur eine Verwandtschaft mit dem literarischen Werke, aber keine echte Zugehörigkeit zu dieser Art von Werken vorhanden ist. Auf die Einzelprobleme können wir hier nicht eingehen1.

§ 60. Das w i s s e n s c h a f t l i c h e Werk. Der bloße Bericht. Einen sehr wichtigen Grenzfall des literarischen Werkes bildet das wissenschaftliche Werk. Es unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht von dem literarischen Kunstwerke, obwohl es ihm verhältnismäßig sehr nahe steht. Es weist einen durchaus analogen Schichtenaufbau wie das literarische Werk auf, nur daß die Elemente der einzelnen Schichten sowie deren Rollen in ihm zum Teil verschieden sind. Alle diese Unterschiede stehen im engen Zusammenhang mit der andersartigen Funktion, welche das wissenschaftliche Werk im geistigen Leben der Menschen ausübt. Sie besteht in der Festlegung der gewonnenen Erkenntnisresultate und in ihrer Übermittlung an andere Bewußtseinssubjekte. Gerade diese Funktion kann aber das literarische Kunstwerk in unserem Sinne nicht ausüben. Die Unterschiede zwischen den beiden Typen von Werken, die hier vor allem in Betracht kommen, sind folgende : 1 Wir wollen hier von der Komplikation absehen, die durch die häufig vorkommende Verflechtung der Pantomime mit der musikalischen „Begleitung" entsteht (was übrigens inkorrekt gesagt ist, da es sich hier um etwas anderes als um eine bloße „Begleitung" handelt). Das Vorhandensein des musikalischen Elements ist für die Pantomime nicht wesentlich. Ist es aber vorhanden, so entsteht dadurch ein neuer Typus des Kunstwerkes, den wir hier nicht näher untersuchen wollen. Unzweifelhaft erweitern sich die Grenzen der Darstellung durch das Mitwirken des musikalischen Faktors.

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1. Die Sätze, die in einem wissenschaftlichen Werke auftreten, sind fast ausschließlich echte Urteile. Sie können wahr oder falsch sein, jedenfalls aber erheben sie wesensmäßig den Wahrheitsanspruch. Sowohl die quasi-urteilsmäßige Modifikation der Behauptungssätze also, wie auch die analoge Modifikation aller übrigen Sätze, welche wir für das literarische Werk als charakteristisch gefunden haben, fällt hier fort. Auch wenn gelegentlich eine bloß „rhetorische" Frage auftritt, die als solche im Prinzip durch einen Behauptungssatz ersetzt werden könnte, erhebt sie jedenfalls den Anspruch, eine r i c h t i g e Frage zu sein. 2. Zu dem Aufbau des wissenschaftlichen Werkes gehören natürlich sowohl die rein intentionalen Satzkorrelate (und fast ausschließlich Sachverhalte) wie die dargestellten Gegenständlichkeiten. Da aber die Sätze hier vorwiegend echte Urteile sind, so geht der Richtungsstrahl der in ihnen enthaltenen Bedeutungen durch den Gehalt des rein intentionalen Satzkorrelates hindurch, so daß die Sätze sich auf objektiv bestehende Sachverhalte bzw. auf die in ihnen enthaltenen Gegenstände beziehen. Die rein intentionalen Sachverhalte sind im Prinzip „durchsichtig" und scheiden sich erst da von den objektiv bestehenden Sachverhalten ab, wo man es mit falschen oder mindestens mit zweifelhaften Sätzen zu tun bat, und zwar auch dann, wenn die entsprechenden objektiv bestehenden Sachverhalte noch nicht erfaßt sein sollten1. Es wäre ein Fehler zu meinen, daß die im wissenschaftlichen Werke dargestellten Gegenständlichkeiten eine Abbildungsfunktion ausüben und daß erst die Sätze sich vermöge dieser Funktion auf die abgebildeten seinsautonomen Gegenständlichkeiten beziehen. Dies kann zwar auch der Fall sein, aber nicht dann, wenn das wissenschaftliche Werk in der ihm eigenen Funktion steht, sondern erst in einer besonderen Gestalt, die ihm aufgezwungen wird, wenn man es als eine „Konzeption" des betreffenden Verfassers auffaßt, wie das z.B. bei historischer Betrachtung philosophischer Werke oft der Fall ist. Dann erst üben die dargestellten Gegenständlichkeiten die Funktionen der Abbildung und der Repräsentation aus, und das ganze Werk nähert sich in dieser Hinsicht manchen literarischen Werken an. 1 Wir wissen oft, daß ein Satz falsch ist, und können trotzdem den objektiven Sachverhalt, der dem entsprechenden wahren Satze zugehört, nicht erfassen, er bleibt unbekannt. Aber schon als „unbekannter" scheidet er .sich von dem bekannten rein intentionalen Sachverhalt des falschen Satzes ab. Natürlich muß der unbekannte Sachverhalt schon irgendwie eindeutig bestimmt sein, wenn er als „unbekannter" erfaßt werden soll.

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3. In einem wissenschaftlichen Werke können sowohl in der Schicht der sprachlautlichen Gebilde als auch in der der Bedeutungseinheiten Eigentümlichkeiten auftreten, welche an sich betrachtet ästhetische Wertqualitäten in sich bergen und zusammen mit entsprechenden Momenten anderer Schichten zu der wertqualitativen Polyphonie führen. Aber wenn dies auch durch das Wesen des wissenschaftlichen Werkes nicht ausgeschlossen ist, so ist es andererseits durchaus nicht notwendig ; es ist für das wissenschaftliche Werk ein entbehrlicher Luxus. Das wissenschaftliche Werk ist gar nicht darauf berechnet, solche Eigentümlichkeiten zu haben. Das, worauf es berechnet ist, das ist in erster Linie, wahre Sätze zu enthalten und solche strukturelle Eigentümlichkeiten zu bergen, die ihm seine Leistung bei der Funktion der Erkenntnisvermittlung ermöglichen. Alles andere muß diesem Hauptzweck untergeordnet werden. Gerade dies ist aber für literarische Werke und insbesondere für literarische Kunstwerke nicht nur nicht wesentlich, sondern gerade bei echten Kunstwerken ausgeschlossen. Worin die sich daraus ergebenden weiteren Einzelheiten im Aufbau des wissenschaftlichen Werkes bestehen und wie sie es von dem literarischen Kunstwerke unterscheiden, das wäre ein Thema für eine besondere umfangreiche Untersuchung. 4. Die wissenschaftlichen Werke können Mannigfaltigkeiten von paratgehaltenen schematisierten Ansichten als eine besondere Schicht in sich enthalten, falls nämlich die Sätze sich überhaupt auf Gegenstände beziehen, die in Mannigfaltigkeiten von Ansichten erscheinen können. Sind aber die Ansichten im Werke überhaupt vorhanden, so spielen sie darin eine wesentlich andere Rolle als in dem literarischen Kunstwerke. Sie kommen nämlich lediglich als nützliche und manchmal sogar unentbehrliche Hilfsmittel bei der Übermittlung der Erkenntnisresultate in Betracht. Ihre evtl. vorhandenen dekorativen Momente sind dabei durchaus entbehrlich, ja sogar sehr oft störend. 5. Endlich ist auch die evtl. vorkommende Offenbarung der metaphysischen Qualitäten nur da wesentlich, wo eine bestimmte metaphysische Qualität selbst zum Thema des gewonnenen und übermittelten Erkenntnisresultates gehört oder wenigstens zu seiner Übermittlung verhilft. In allen anderen Fällen ist ihre Offenbarung nicht nur unwesentlich, sondern sie kann auch der Hauptfunktion des wissenschaftlichen Werkes entgegenwirken und ist somit möglichst zu vermeiden. 352

Mutatis mutandis läßt sich das Gesagte auch auf den Fall der bloßen Information bzw. des bloßen Berichts übertragen. Wir wollen uns damit nicht näher beschäftigen.

13. Kapitel. Das „Leben" des literarischen Werkes. § 61. Einleitung. Unsere Untersuchungen waren bis jetzt so orientiert, daß sie das literarische Werk als eine Gegenständlichkeit für sich betrachteten und es in seinem eigentümlichen Bau zu durchschauen suchten. Wir haben es in Loslösung von dem lebendigen Verkehr mit den psychischen Individuen und somit auch von der kulturellen Atmosphäre und den verschiedenen geistigen Strömungen genommen, die sich im Laufe der Geschichte entwickeln. Nur an den Stellen, an welchen das literarische Werk selbst auf subjektive Operationen hinweist, mußten wir auf die subjektiven Elemente zurückgreifen. Es ist jetzt an der Zeit, das literarische Werk sozusagen wieder in den Kontakt mit dem Leser zu bringen und es in das konkrete geistige und kulturelle Leben hineinzustellen, um zu sehen, welche neuen Sachlagen und Probleme daraus entstehen. Dies ist auch aus dem Grunde notwendig, weil unsere Betrachtungen zu dem Ergebnis geführt haben, daß das rein literarische Werk ein in verschiedener Hinsicht schematisches Gebilde ist, das „Lücken", Unbestimmtheitsstellen, schematisierte Ansichten usw. in sich enthält. Andererseits zeigen manche seiner Elemente eine gewisse Potentialität, die wir mit dem Ausdruck „Parathaltung" anzudeuten suchten. Indessen scheint uns das einzelne literarische Werk im lebendigen Verkehr mit ihm während einer Lektüre keine solche Unbestimmtheitsstellen, Schematisierungen und auch keine Potentialität der paratgehaltenen Ansichten aufzuweisen1. Es entsteht somit die 1 Diese Potentialität zeigt sich aber — wie hier zu ergänzen ist — auch an dem Soaussehen der dargestellten Gegenstände. Dieses Soauseehen wäre erst dann wirklich vollendet, wenn die Ansichten aus ihrer bloßen Parathaltung und Schematisierung in die Aktualität und Konkretheit übergehen könnten. Aber dies ist erst bei einer Konkretisation des Werkes möglich.

23 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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Frage, wie sich das literarische Werk in einer Lektüre darstellt und was das unmittelbare Korrelat dieser Lektüre ist. Wir haben schon früher Gelegenheit gehabt, darauf hinzuweisen, daß dem Werke selbst seine Konkretisationen entgegenzustellen sind, die sich in mancher Hinsicht von ihm unterscheiden. Diese Konkretisationen sind eben das, was sich während einer Lektüre konstituiert und was sozusagen eine Erscheinungsweise des Werkes in der Konkretisation bildet, in welcher wir das Werk selbst erfassen. Die nächste Aufgabe, die sich uns hier aufdrängt, besteht darin, die Eigentümlichkeiten der Konkretisation des literarischen Werkes zu umschreiben und die Beziehungen herauszustellen, welche zwischen den Konkretisationen und dem literarischen Werke einerseits und zwischen ihnen und den subjektiven Erlebnissen andererseits bestehen, in denen sie sich konstituieren1. § 62. Die K o n k r e t i s a t i o n e n des l i t e r a r i s c h e n und die E r l e b n i s s e seiner E r f a s s u n g .

Werkes

Was haben wir im Auge, wenn wir von der „Konkretisation" eines literarischen Werkes sprechen ? Statt direkt auf diese Frage zu antworten, wollen wir diese Konkretisation zunächst gegen die subjektiven Operationen, und allgemeiner, gegen die psychischen Erlebnisse, die wir während einer Lektüre haben, abgrenzen. Das literarische Werk, mit dem wir entweder im Lesen oder Hören oder während einer Theateraufführung zu tun haben, ist — unseren früheren Analysen nach — ein sehr kompliziert gebautes Objekt, auf welches wir uns in einer Mannigfaltigkeit von zusammenhängenden Bewußtseinsakten und anderen Erlebnissen, die nicht mehr die besondere Struktur des Aktes haben, richten. Gerade die Kompliziertheit seines Aufbaus und die Heterogenität seiner Elemente bewirkt es, daß all diese Erlebnisse und Akte sehr mannigfacher Natur sind und in verschiedenen möglichen Kombinationen und Verflechtungen vollzogen werden. Es sind vor allem verschiedene Erkenntnisakte vorhanden, wie die Wahrnehmungsakte, in denen die Wortzeichen oder Wortlaute und die sprachlautlichen 1 Die „Konkretisation" des Werkes hat W. Conrad wohl im Auge, wenn er von der „Realisation" des Kunstwerkes spricht. Er untersucht aber diese „Realisation" nicht näher (vgl. I.e. S.480 u.ö.).

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Gebilde höherer Ordnung erfaßt werden (oder Wahrnehmungen von den „auf der Bühne" sich befindenden Dingen und Personen1), die in den ersten fundierten Bedeutungserfassungsakte und endlich die Akte des phantasiemäßigen Erschauens der dargestellten Gegenständlichkeiten und Situationen und gegebenenfalls auch der an den letzteren sich offenbarenden metaphysischen Qualitäten. Dieses phantasiemäßige Erschauen ist seinerseits in den zuerst angegebenen Akten fundiert. Sowohl bei den Wahrnehmungsakten, in welchen wir die sprachlautliche Schicht erfassen (bzw. in denen wir bei einer Theateraufführung die abbildenden Gegenstände gegeben haben), als auch beim imaginativen Erschauen der dargestellten Gegenständlichkeiten werden zugleich Mannigfaltigkeiten von konkreten Ansichten erlebt, entweder in der Form der wahrnehmungsmäßigen oder der phantasiemäßigen Modifikation. Und zwar werden, wenn der Leser sich dem Werke unterwirft, gerade solche Ansichten erlebt, deren Schemata durch das Werk paratgehalten werden. Außerdem werden in dem Leser mannigfache Erlebnisse des ästhetischen Genießens wachgerufen2, in denen ästhetische Wertungen ihre Quelle haben und evtl. auch zur expliziten Entfaltung gelangen. Endlich regen sich in der Seele des Lesers (bzw. des Zuschauers) unter der Wirkung der Lektüre mannigfache Gefühle und Affekte3, die zwar nicht mehr zu der Gruppe der Erlebnisse gehören, in welchen das literarische Werk in concreto erfaßt wird, die aber nicht ohne jeden Einfluß auf dessen Erfassung sind. Wie wir sehen, ist die Sachlage, die wir in dem psychischen Subjekte während einer Lektüre vorfinden, sehr kompliziert, und es bedürfte einer besonderen Analyse4, um sie genauer auseinanderzulegen. Die Kompliziertheit und Vielfältigkeit dieser Sachlage ist — wie wir schon bemerkten — nur ein Spiegelbild des Auf baus des literarischen Werkes. Dieser Aufbau fordert gewissermaßen, daß wir es nicht in einfachen und einfach gebauten Gesamterlebnissen erfassen, sondern einen großen Reichtum von mannigfachen Be1

Streng genommen sind es keine schlichten sinnlichen Wahrnehmungen, es würde uns aber zu weit führen, dies ausführlicher zu besprechen. Die Angelegenheit ist aber von keiner größeren Bedeutung für das Weitere. 2 Vgl. die schönen Analysen von M. Geigerin der Arbeit „Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen Genusses", Jahrbuch für Philosophie und phänom. Forsch., Bd. I. 3 Vgl. Max Scheler, „Zum Phänomen des Tragischen". 4 In meinem Buche „Über das Erkennen des literarischen Kunstwerks" (1937) habe ich all diese Tatbestände einer ins einzelne gehenden Analyse unterzogen. 23·

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wußtseinsakten und Erlebnissen entfalten müssen, um ihm gerecht zu werden. Die Kompliziertheit der Gesamterfassung des Werkes bringt es aber mit sich, daß das erlebende Ich sozusagen zuviel auf einmal zu leisten hat und somit nicht in allen Komponenten dieser Gesamterfassung im gleichen Sinne leben kann. Aus der ganzen Mannigfaltigkeit der zugleich erlebten (bzw. vollzogenen) und miteinander verflochtenen Akte und der anderen Erlebnisse werden immer nur manche durch das Ich zentral und mit voller Aktivität vollzogen, während die übrigen zwar noch erlebt und vollzogen werden, aber doch nur in dem Modus des „Mitvollzugs", des Miterlebens. Dabei vollzieht sich ein stetiger Wandel hinsichtlich dessen, welche Komponentakte (-erlebnisse) im gegebenen Moment zentral und welche nur „im Vorbeigehen", im Mitvollzug zur Entfaltung gelangen. Mit diesem Wandel geht aber auch der Wandel des Aufmerksamkeitsstrahles zusammen. Infolgedessen werden immer andere Partien und andere Schichten des gelesenen Werkes in deutlicherer Gestalt zur Erschauung gebracht, die übrigen aber versinken in ein Halbdunkel und in eine Halbverschwommenheit, in welcher sie nur mitschwingen, mitsprechen und das Ganze des Werkes gerade dadurch auf besondere Weise färben. Eine andere Folge dieses stetigen Wandels und der verschiedenen Weisen, in welchen wir uns das eine Mal in diese, das andere Mal in andere Erlebnisse sozusagen hineinleben, ist aber, daß das literarische Werk nie voll in allen seinen Schichten und Komponenten, sondern immer nur teilweise, immer nur sozusagen in einer p e r s p e k t i v i s c h e n Verkürzung erfaßt wird. Diese „Verkürzungen" können nicht bloß von Fall zu Fall, sondern auch in einer und derselben Lektüre ständig wechseln, ja sie können sogar durch den Aufbau des betreffenden Werkes und seiner einzelnen Partien bedingt und gefordert werden. Im großen und ganzen sind sie aber nicht so sehr von dem Werke selbst wie von den jeweiligen Bedingungen, unter welchen die Lektüre stattfindet, abhängig. Infolgedessen können wir dem Werke immer nur bis zu einem gewissen Grade, nie aber vollkommen gerecht werden. Man ist fast versucht zu sagen, daß ein und dasselbe literarische Werk in verschiedenen, wechselnden „Ansichten"1 zur Erfassung gelangt. Die Mannigfaltigkeit dieser „Ansichten", die zu einer und derselben Lektüre eines Werkes gehören, ist zugleich von

1 Dieses Wort verwendet auch W. C o n r a d , ohne übrigens auf die hier dargestellten Sachlagen hinzuweisen (I.e.).

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entscheidender Bedeutung für die Konstituierung einer bestimmten Konkretisation des gerade gelesenen literarischen Werkes. Und da diese Mannigfaltigkeiten bei zwei verschiedenen Lektüren im allgemeinen verschieden sind, so zeigt sich uns der Weg an, die einzelnen Konkretisationen des Werkes von ihm selbst abzuscheiden. Zunächst aber noch eine nicht unwichtige Bemerkung: Der Reichtum und die Kompliziertheit der bei der Erfassung des literarischen Werkes zu leistenden subjektiven Operationen und Erlebnisse fordert, daß das erfassende Subjekt, falls die Lektüre und die Erfassung des Werkes überhaupt gelingen soll, alle störenden Einflüsse von sich fernhält. Dadurch kommt es gewöhnlich zu einer unwillkürlichen Wegschiebung und Verdrängung aller derjenigen Erlebnisse und psychischen Zustände, die zu dem sonstigen realen Leben des betreffenden Lesers gehören, ein Blind- und Taubwerden für Tatsachen und Geschehnisse der realen Welt. Sogar ganz belanglose Geschehnisse und Angelegenheiten suchen wir während der Lektüre als mögliche Störungen von uns fernzuhalten (daher möglichst bequeme Lage unseres Leibes, möglichst große akustische Ruhe u.dgl. mehr). Diese Fernhaltung unserer realen Umwelt führt einerseits dazu, daß die zur Erschauung gebrachten dargestellten Gegenständlichkeiten für uns eine eigene Welt bilden, die fern von jeder Realität steht, andererseits ermöglicht sie uns die Einstellung des reinen Erschauens den dargestellten Gegenständlichkeiten gegenüber und das Auskosten der in dem Werke sich zeigenden ästh«tischen Wertqualitäten. Durch sie u.a. gewinnen wir die spezifische „ästhetische" („schauende") Einstellung, in der überhaupt Kunstwerke zur Erfassung gebracht werden können und ein lebendiger Verkehr mit ihnen möglich wird 1 . So ist es letzten Endes derselbe Reichtum der Erfassungserlebnisse¡ der einerseits zu den „perspektivischen Verkürzungen" des literarischen Werkes in einer Lektüre und somit auch möglicherweise zu einer Verunreinigung seiner eigenen Gesamtgestalt, andererseits aber gerade zu seiner ihm als Kunstwerk angemessenen Erschauung verhilft. Alle diese Erfassungsakte und Erlebnisse bilden natürlich die Bedingung dafür, daß ein literarisches WTerk in der Gestalt einer seiner möglichen Konkretisationen lebendig erfaßt werde. Nichtsdestoweniger ist nicht nur das literarische Werk selbst, sondern 1 Jonas Cohn in seiner „Allgemeinen Ästhetik" nimmt einen analogen Standpunkt ein. Vgl. I.e. S.32f„ 35.

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auch jede seiner Konkretisationen von diesen Erfassungserlebnissen verschieden. Es würde natürlich keine Konkretisation geben, wenn die Erfassungserlebnisse nicht vollzogen würden, denn die Konkretisationen sind nicht bloß in ihrer Seinsweise, sondern auch in ihrer Materie von den letzteren abhängig. Aber daraus zu schließen, daß sie etwas Psychisches oder gar ein Element der Erlebnisse wären, dazu liegt kein Grund vor. Als ob immer zwei Gegenständlichkeiten A und B, die voneinander seinsabhängig sind, eo ipso derselben Art sein oder in der Beziehung Teil—Ganzes stehen müßten! Zwischen einer konkreten Farbe und ihrer konkreten Ausdehnung besteht eine viel engere Beziehung als zwischen einer Konkretisation eines literarischen Werkes und den zugehörigen Erfassungserlebnissen, und trotzdem würde niemand sagen, daß die Farbe Ausdehnung oder daß die Ausdehnung Farbe und endlich, daß die Ausdehnung ein Teil der betreffenden Farbe sei. Und ebenso wie ein Regenbogen nichts Psychisches ist, obwohl er nur dann in concreto vorhanden ist, wenn eine visuelle Wahrnehmung unter bestimmten objektiven Bedingungen vollzogen wird, so ist auch die Konkretisation eines literarischen Werkes zwar in ihrem Sein durch entsprechende Erlebnisse bedingt, aber zugleich hat sie ihr zweites Seinsfundament in dem literarischen Werke selbst und ist andererseits den Erfassungserlebnissen gegenüber ebenso transzendent wie dae literarische Werk selbst. Wir können hier keine ausführliche Theorie des Bewußtseins und des psychischen Seins sowie der verschiedenen möglichen Beziehungen geben, in welchen seinsautonome und seinsheteronome Gegenständlichkeiten zu den Bewußtseinserlebnissen stehen können. Es wird aber vielleicht ausreichen, wenn wir daran erinnern, daß jedes Erlebnis überhaupt nur in der R e f l e x i o n oder im Durchl e b e n des Aktes und daß alles Psychische nur in der inneren Wahrnehmung (bzw., wie M. Geiger sagt, im „Innewerden") erfaßt werden kann. Wäre die Konkretisation eines literarischen Werkes eine reelle Komponente der in Frage kommenden Bewußtseinserlebnisse oder wäre sie etwas Psychisches, so müßte sie auch auf diesem und nur auf diesem Wege erfaßt werden können. Indessen trifft dies weder für das literarische Werk selbst noch für beliebige Konkretisationen literarischer Werke zu. Und tatsächlich richtet sich niemand bei der Lektüre oder als Zuschauer im Theater auf eigene Bewußtseinserlebnisse oder auf eigene psychische Zustände. Ein jeder würde lachen, wenn wir ihm vorschlügen, dies zu 358

tun. Nur die theoretisierenden Literaturwissenschaftler verfallen auf den absonderlichen Gedanken, das Uterarische Werk „in der Seele" des Lesers zu suchen.

§ 63. Das literarische Werk und seine Konkretisationen. Nachdem wir in dem vorigen Paragraphen die Konkretisationen eines literarischen Werkes gegen die subjektiven Erfassungserlebnisse abgegrenzt haben, ziehen wir jetzt die Linie zwischen den Konkretisationen und dem Werke selbst. Wir können mit einem literarischen Werke nur in der Gestalt einer seiner möglichen Konkretisationen ästhetisch verkehren und es lebendig erfassen1. Und zwar haben wir dann mit ihm genau in 1

Bei oberflächlicher Betrachtung scheint dieser Satz zu einer prinzipiellen Schwierigkeit zu führen. Denn wie können wir das literarische Werk seinen Konkretisationen gegenüberstellen und in seiner nur ihm und nicht den Konkretisationen eigenen Struktur erfassen, wenn wir es immer nur in der Gestalt, die es in einzelnen Konkretisationen annimmt, erfassen können ? Gibt es keinen sozusagen d i r e k t e n Zugang zu dem literarischen Werke selbst, so laufen alle unsere Analysen Gefahr, in der Luft zu schweben. — Wir glauben, daß der Wahrheitsgehalt unserer Analyeen sie selbst gegen einen solchen Einwand verteidigen wird. Aber trotzdem möchten wir darauf hinweisen, daß dieser Einwand fehlgeht. Erstens: Wenn wir jedes einzelne literarische Werk tatsächlich nur in einer seiner Konkretisationen erfassen können, so ist diese Konkretisation kein Deckmantel, der uns den Zugang zu dem Werke selbst versperren würde. Schon die individuellen Unterschiede unter den einzelnen Konkretisationen ermöglichen es uns herauszustellen, .was zu dem Werke selbst und was zu den durch Zufälligkeiten bedingten Konkretisationen gehört. Zweitens aber studieren wir hier nicht ein einzelnes Werk in seiner Individualität, sondern den Gehalt der allgemeinen Idee eines jeden literarischen Werkes überhaupt (vgl. „Essentiale Fragen", S.52). Wir brauchen uns also gar nicht an die individuellen Konkretisationen zu halten. Aber auch dann, wenn wir ein ganz bestimmtes literarisches Kunstwerk zu erfassen suchten, ist es möglich, es sozusagen in seiner reinen Gestalt zu fassen. Wae unterscheidet nämlich das Werk selbst von seinen Konkretisationen? Erstens die Tatsache, daß die Unbestimmtheitsstellen, die im Werke selbst enthalten sind, in der Konkretisation z.T. ausgefüllt werden. Zweitens, daß die im Werke selbst enthaltenen Potentialitäten (wie die paratgehaltenen Ansichten, metaphysische Qualitäten) in den Konkretisationen in Aktualitäten verwandelt werden. Endlich kann die Erfassung der Bedeutungseinheiten in den Konkretisationen inadäquat sein. In allen diesen Punkten ist es aber möglich, bei der Konkretisierung des Werkes so zu verfahren, daß diese Unterschiede verschwinden. Man kann also sich der Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen wie der Verwandlung der Potentialitäten in Aktualitäten enthalten, endlich die Konkretisierung der Bedeutungseinheiten völlig adäquat durchführen. Dann erhalten wir eine ganz besondere, .Konkretisation" des Werkes, die ich andererorts (vgl., ,Über das Erkennen des literarischen Werkes") „Rekonstruktion" des literarischen Werkes ge-

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der Gestalt zu tun, in welcher es sich in der betreffenden Konkretisation ausprägt. Nichtsdestoweniger sind wir letzten Endes nicht auf die Konkretisation als solche, sondern auf das Werk s e l b s t gerichtet und bringen uns gewöhnlich seine Verschiedenheit von der jeweiligen Konkretisation nicht zum Bewußtsein. Trotzdem ist es wesensmäßig von allen seinen Konkretisationen verschieden. Es prägt sich nur in ihnen aus, es entfaltet sich in ihnen, aber jede dieser Entfaltungen (sofern sie keine bloße Rekonstruktion des Werkes ist) geht über es selbst notwendig hinaus. Andererseits reicht keine dieser Entfaltungen so weit wie das Werk selbst, weil es in ihnen gewöhnlich zu den früher erwähnten Verkürzungen und evtl. auch zu Verschiebungen in den gerade erfaßten Elementen des Werkes kommen kann. Die Konkretisation enthält nicht nur verschiedene Elemente, die in ihm nicht reell enthalten, aber durch es zugelassen sind, sondern sie weist auch öfters Elemente auf, die ihm fremd sind und es mehr oder minder verdecken. Diese Tatsachen zwingen uns eben, die Scheidung zwischen dem literarischen Werke selbst und seinen mannigfachen Konkretisationen konsequent im einzelnen durchzuführen. 1. In dem rein literarischen Werke selbst treten die Wortlaute als t y p i s c h e Gestaltqualitäten, evtl. mit Manifestationsqualitäten eigentümlich verwoben, auf. In der Konkretisation bei einem lauten Vortrag (Deklamation) werden diese Gestaltqualitäten durch konkrete Laute getragen und zur Ausprägung und konkreten Fülle gebracht1. Die konkreten Laute haben dabei verschiedene sonstige Eigenschaften, deren Bereich durch die getragene Lautgestalt vorgeschrieben bzw. zugelassen wird und die für das Ganze der Konkretisation ihre evtl. m o d i f i z i e r e n d e , aber jedenfalls ihre ergänzende Rolle haben. Diese Eigenschaften variieren von Fall zu Fall und begründen (obwohl nicht sie allein) die Verschiedenheit unter den einzelnen Konkretisationen eines und desselben literarischen Werkes. Ihre evtl. eintretende modifizierende Wirkung braucht sich

nannt habe. Zu beachten ist endlich bezüglich der Möglichkeit der hier gegebenen Ergebnisse, daß wir hier im Texte vom äethetischen Verkehr mit dem Werke sprechen, während die Bedingung der Möglichkeit der Herausstellung unserer Ergebnisse aber ein theoretischer, rein e r k e n n t n i s m ä ß i g e r Z u g a n g zu dem Werke ist. 1 Eine besondere Modifikation tritt beim s t u m m e n Lesen ein, indem hier erstens das graphische Element eine Rolle spielt, zweitens aber die Wortlaute nicht in concreto wahrgenommen, sondern nur vorgestellt werden. Wir wollen uns damit hier nicht weiter beschäftigen.

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dabei nicht auf die Schicht der sprachlautlichen Gebilde zu beschränken, sondern sie kann sich in Modifizierungen in anderen Schichten des konkretisierten Werkes ausdrücken, indem sie entweder zu einer besseren Ausprägung und sinngemäßen Ergänzung anderer Schichten führt oder Verdeckungen und Verunstaltungen mancher Elemente der letzteren nach sich zieht, vgl. „gute" und „schlechte" Deklamation. Im ersteren Falle kann das konkretisierte Werk neue, ihm selbst, in seiner Reinheit genommen, fremde, aber „passende" ästhetische Werte gewinnen, im zweiten dagegen verschiedene Werte, die es seinem Wesen nach besitzen sollte, verlieren (d.h., daß sie nicht zur Ausprägung gelangen). 2. Die Wortbedeutungen und die Satzsinngehalte können in der Konkretisation auch bei sonst im Prinzip adäquater Erfassung mit unpräzieierbaren, von Fall zu Fall wechselnden Sinnkomponenten verwoben werden (wenn z.B. manche Worte in einer bestimmten Gegend eine spezifische lokale Färbung des Sinnes besitzen, welche in gewissem Sinne nicht „übersetzbar" ist1). Auch wenn sie keine bedeutenderen Abweichungen in der Schicht der Sinneinheiten eines bestimmten literarischen Werkes herbeiführen sollten, können sie die intentionalen Sachverhalte bzw. die dargestellten Gegenständlichkeiten und insbesondere das „Soaussehen" der letzteren in verschiedener Hinsicht näher oder anders bestimmen, als dies durch das Werk selbst vorbestimmt ist. Dadurch können die für das Werk selbst notwendigen Unbestimmtheitsstellen zum Teil beseitigt werden, insbesondere dann, wenn unter den verwobenen Bedeutungselementen sich Aktualisierungen von Momenten des p o t e n t i e l l e n Bestandes der nominalen Wortbedeutungen befinden, die in dem betreffenden Werke auftreten. Ziehen die verwobenen Sinnkomponenten Abweichungen oder gar bedeutendere Umgestaltungen der Satzsinne nach, wobei natürlich von einer adäquaten Erfassung der Bedeutungsschicht des Werkes nicht mehr gesprochen werden darf, so kommt es — wie wir gewöhnlich unpassend sagen — zu einer „Veränderung" des ganzen Werkes. Tatsächlich handelt es sich hier entweder um eine verschiebende

1 D.h. genauer gesagt: Der Sinn dieser Färbung wird gewöhnlich nicht separat klar zum Bewußtsein gebracht und kann nur in Verschmelzung mit dem gesamten Bedeutungsbestande auf Grund entsprechender unmittelbarer Erfahrung erfaßt bzw. vermeint werden. Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen bei H. Ammann, „Die menschliche Rede", Bd.I.

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Verdeckung oder um eine be wußte Schaffung eines neuen Werkes, das dem ursprünglichen nur mehr oder weniger verwandt ist. 3. Die Satzsinne werden in der Konkretisation wirklich erfaßt bzw. vermeint. Sie verbleiben also nicht mehr in der Form der g e l i e h e n e n Intentionalität, die für die Bedeutungsschicht des literarischen Werkes selbst wesentlich ist, sondern sie werden durch den Leser den Worten (bzw. Sätzen) e n t n o m m e n und wirklich a k t u e l l vermeint. Natürlich — um es nochmals zu betonen — wird der vermeinte Sinn dadurch nicht zu etwas Psychischem. Es wäre absurd, dies zu behaupten. 4. Der radikalste Unterschied zwischen dem literarischen Werke und seinen Konkretisationen tritt in der Schicht der Ansichten auf. Aus ihrer bloßen Parathaltung und Schematisiertheit im Werke selbst werden sie in den Konkretisationen zur Konkretheit gebracht und zu wahrnehmungsmäßigem (bei einer Theateraufführung) oder zu phantasiemäßigem Erleben (bei einer Lektüre) erhoben. Dabei gehen die konkret erlebten Ansichten unvermeidlich über den schematisierten Gehalt der paratgehaltenen Ansichten im Werke selbst hinaus, indem das bloße Schema in verschiedener Hinsicht durch konkrete Elemente ausgefüllt wird. Infolge dieser Ausfüllungen, die zwar durch die schematisierten Ansichten in gewissen Grenzen vorgeschrieben sind, aber trotzdem von Fall zu Fall variieren, müssen zwei beliebige Konkretisationen eines und desselben Werkes voneinander verschieden sein. Die Ergänzungen und die in ihnen stattfindenden Verwandlungen können dabei so mannigfacher Art sein, daß es kaum möglich ist vorauszusehen, wie sich eine bestimmte einzelne Konkretisation in dieser Hinsicht gestalten wird. Und dies insbesondere auch aus dem Grunde, weil jede konkret erlebte Ansicht des dargestellten Gegenstandes nur einem abstraktiv herauszufassenden Ausschnitt aus dem ganzen Gehalte der Ansicht unserer jeweiligen gesamten Umgebung analog ist, einem Ausschnitt, welcher tatsächlich in der Gesamtansicht dieser Umgebung versunken und mit ihr verwoben ist und auf mannigfache Weise von dem „Rest" dieses Gehaltes funktionell abhängt. Die Ergänzungen (Ausfüllungen) und die damit verbundenen Verschiebungen im Gehalte der Ansichten (auch wenn sie noch so klein sein sollten) können z.B. das Vorwiegen eines im Werke selbst nicht vorgeschriebenen Typus der Ansichten herbeiführen. Die dargestellten Gegenstände können dadurch z.B. in einer viel stärker rationalisierten Gestalt in der Konkretisation auftreten, als sie im Werke 362

selbst de facto dargestellt und durch die paratgehaltenen Ansichten zur Erscheinung1 gebracht werden. Die konkreten Ansichten können infolgedessen ganz neue, sozusagen durch das Werk selbst nicht beabsichtigte, dekorative Momente enthalten und dadurch sogar dem ganzen konkretisierten Werke einen neuen Stil aufzwingen. Ob bei einer so weitgehenden Umwandlung der Schicht der Aneichten die betreffende Konkretisation noch für eine Konkretisation d e s s e l b e n Werkes gehalten werden darf oder ob sie dann ein ganz neues Werk zur Ausprägung bringt, das bedürfte einer eigenen umfangreichen Analyse in jedem konkreten Falle. Jedenfalls könnte die Identität des sich in verschiedenen Konkretisationen zeigenden Werkes nur dann erhalten werden, wenn die in ihm dargestellten Gegenständlichkeiten in ihrem Soaussehen verschiedene Stile ihrer Erscheinungsweise zulassen und wenn zugleich die Änderung des Erscheinungsstils die Offenbarung der im Werke selbst vorbestimmten metaphysischen Qualitäten nicht tangiert2. Werden die beiden Bedingungen nicht erfüllt, so haben wir es mit der Konkretisierung eines neuen Werkes zu tun. Wird diese Konkretisation für eine Konkretisation des ursprünglichen Werkes gehalten, so kommt es zu eigentümlichen Verdeckungsphänomenen. Jahrhundertelang kann ein literarisches Werk nur in solchen verdeckenden, es verfälschenden Konkretisationen zur Ausprägung gelangen, bis sich endlich jemand findet, der das Werk richtig versteht und adäquat erschaut und anderen dessen echte Gestalt auf diese oder jene Weise zeigt. Darin besteht die große Rolle der literarischen Kritik 1

Streng gesprochen wird diese Erscheinung erst in der Konkretisation wirklich vollzogen. 2 Von diesem Standpunkt aus läßt sich die Diskussion darüber, ob eine bestimmte Aufführung eines Schauspiels „gut" oder „schlecht" ist, aufrollen und ihr völlig berechtigter Sinn verstehen. Allerdings kann es Fälle geben, eben dort, wo die von uns angegebenen Bedingungen erfüllt werden, in denen beide streitenden Parteien recht haben und die Polemik steril ist. Aber auch in diesem Falle läßt sich die prinzipielle Berechtigung beider Standpunkte objektiv nachweisen. Der subjektivistische Standpunkt mancher Kritiker, die aus Prinzip ihren individuellen „Eindruck" für das allein Entscheidende halten, geht sicher zu weit. Die sogenannte „Subjektivität" der Kritik bzw. der literarhistorischen Untersuchungen besteht unzweifelhaft aber nur dann, wenn sich die betreffenden Kritiker ausschließlich an die wechselnden Konkretisationen des Werkes halten. Aber gerade dies ist nicht notwendig, und es bedarf nur einer direkten Orientierung an dem für das betreffende Werk Wesentlichen und der Eliminierung der mannigfachen Zufälligkeiten der einzelnen Konkretisationen, um aus dem hoffnungslosen Zustand der radikalen Subjektivität herauszukommen. Im Grunde ist der radikal subjektivistische Standpunkt der literarischen Kritik nur eine Naivität.

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(bzw. der Geschichte der Literatur) oder — wenn es sich um ein Theaterstück handelt — des Regisseurs, daß durch sie die echte Gestalt des Werkes wieder zur Ausprägung kommen, aber auch durch falsche Interpretation in entsprechend gestalteten Konkretisationen gerade verdeckt werden kann. Wenn aber die Stiländerung der Erscheinungsweise keine so weitgehenden Umgestaltungen des Werkes herbeiführt, so daß seine Identität erhalten bleibt, so führt die eben noch zulässige Stiländerung in den Konkretisationen doch eine Modifikation der gesamten wertqualitativen Polyphonie des Werkes in den Konkretisationen herbei. Im Hinblick darauf eröffnet sich die Möglichkeit der Verwandlung eines und desselben literarischen Werkes im Laufe der Entstehung seiner Konkretisationen, die Möglichkeit des „Lebens" des literarischen Werkes selbst. Diese Möglichkeit hängt natürlich auch mit den Verwandlungen in den anderen Schichten des konkretisierten Werkes zusammen. Wir kommen bald darauf zurück. 5. Die Konkretisation des literarischen Werkes zeichnet sich weiter dadurch aus, daß es erst in ihr zu einer wirklichen expliziten E r s c h e i n u n g der dargestellten Gegenständlichkeiten kommt, während sie im Werke selbst nur vorgezeichnet und durch die parat gehaltenen Ansichten im potentiellen Zustand gelassen wird. Eine volle wahrnehmungsmäßige Erscheinung kann aber erst die Konkretisation eines Theaterstücks geben. Darin liegt der schon früher angedeutete Vorzug dieser Art literarischer Werke. 6. In der Konkretisation des Werkes kommt es auch zu einer Sachlage, die uns über das eigene Wesen des literarischen Werkes täuschen kann. Durch die Umwandlungen, die bei der Konkretisation des Werkes in den Schichten der sprachlautlichen Gebilde, der Bedeutungseinheiten und der Ansichten vor sich gehen, werden nämlich mehrere Unbestimmtheitsstellen der dargestellten Gegenstände beseitigt1. Dadurch treten uns die dargestellten Gegenstände Soll die Identität des Werkes erhalten bleiben, so dürfen Grenzen der Variabilität der einzelnen Ausfüllungen, welche durch die im Werke konstituierten Momente vorgeschrieben sind, nicht überschritten werden. Diese Variabilität ist aber bei Einhaltung der Identität des Werkes überhaupt nur deswegen zulässig, weil das Werk ein schematisches Gebilde ist. W. Conrad spricht von einer Sphäre der I r r e l e v a n z bei der „Realisierung" des Werkes und hat wahrscheinlich eben die zulässige Variabilität der einzelnen Ausfüllungen sowohl in der Schicht der Ansichten wie in der der dargestellten Gegenstände im Auge. Aber erst die Herausstellung dee literarischen Werkes als eines s c h e m a t i s c h e n Gebildes erlaubt uns zu verstehen, 1

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in der Konkretisation in einer viel volleren Gestalt entgegen, als diejenige, welche sie de facto in dem Werke selbst besitzen. Ihre Konstituierung wird hier um ein Stück weiter geführt. Aber prinzipiell kann sie in keiner Konkretisation in dem Sinne v o l l e n d e t werden, daß überhaupt keine Unbestimmtheitsstelle in den dargestellten Gegenständen übrigbliebe. Denn zum Wesen der rein intentionalen Gegenstände gehört es — so behauptet Edmund Husserl mit vollem Rechte, überträgt aber diese Behauptung unberechtigterweise auf die realen Gegenstände —, daß sie in keiner e n d l i c h e n Reihe von Konstituierungen zur v o l l e n Konstitution gelangen können. Nun sind aber die in literarischen Werken dargestellten Gegenstände ihrem Gehalte nach fast ausschließlich vom Typus der realen Gegenstände, die — wie schon früher festgestellt wurde — nur als allseitig eindeutig bestimmte existieren können. Infolgedessen sind wir bei der Erfassung der dargestellten Gegenstände in einer Konkretisation des Werkes von vornherein darauf eingestellt, sie als ν oll bestimmte zu behandeln und zu vergessen, daß wir es hier mit rein intentionalen Gegenständlichkeiten zu tun haben. Dadurch verunstalten wir zwar das literarische Werk, aber dadurch erst gewinnen die in der Konkretisation zur Ausprägung gelangenden dargestellten Gegenständlichkeiten ihrem Gehalte nach eine so weitgehende Approximation an den Typus der realen Gegenstände, daß ihre suggestive Kraft in hohem Maße wächst. Wir sind dann fast an ihre Realität zu glauben geneigt, und doch vollziehen wir diesen Glauben, wegen der ästhetischen Einstellung, nie im vollen Ernste1. Gerade dieser nie zum ernsten Vollzug sich entfaltende Ansatz einer Realitätssetzung, welche sozusagen immer noch im letzten Moment zurückgehalten wird, macht das besondere Wesen der ästhetischen Einstellung aus und führt den eigentümlichen Reiz mit sich, den uns der Verkehr mit Kunstwerken über-

daß diese Sphäre der Irrelevanz möglich und durch das Wesen des Werkes zugelassen ist. 1 Natürlich ist auch eine Einstellung, besonders bei der Aufführung eines Schauspiels im Theater, möglich, in welcher eine positive, bedingungslose Setzung der dargestellten Gegenständlichkeiten vollzogen wird (Rinder im Theater). Dann haben wir aber mit einer merkwürdigen Illusion zu tun, die nicht erlaubt, die ästhetischen Werte des betreffenden literarischen Kunstwerkes in seiner Konkretisation zu erfassen. Aus diesem Grunde glauben wir, daß Konrad Lange in seiner Auffassung des Wesens der Kunst irrt, obwohl seine Auffassung zunächst sehr plausibel zu sein scheint. Es wäre aber noch im einzelnen zu untersuchen, was er unter „Illusion" eigentlich versteht. Aber das würde uns hier zu weit führen.

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haupt und mit den literarischen Werken im besonderen gibt. „Wirklich" und doch nicht wirklich im vollen Ernste, hinreißend und doch uns nie so bedrängend, wie es das Reale tut, „wahr" und doch nur „Phantasie". Diese Einstellung erlaubt, die ästhetischen Wertqualitäten des Werkes wirklich auszukosten und uns das eigentümliche Entzücken zu geben, das uns keine reale Tatsache — auch die „schönste" nicht — zu geben vermag. Der Ansatz der Realitätssetzung, der sich bei dem lebendigen Verkehr mit literarischen Kunstwerken in ihrer Konkretisierung vollzieht, ist zu dieser Erschauung der ästhetischen Werte unentbehrlich und wäre — natürlich nur bei literarischen Werken — ohne die quasi-urteilsmäßige Modifikation der Behauptungssätze nicht möglich. Wenn wir durch irgendwelche Umstände, in welchen die Konkretisation des Werkes zustande kommt, von vornherein in die Einstellung gedrängt werden, es handle sich in den dargestellten Geschehnissen und Gegenständen um rein f i k t i v e Gebilde, die keine Spur des Realitätshabitus in sich tragen, dann bleibt für uns das Werk etwas Irrelevantes, Totes, Entbehrliches, seine wertqualitative Polyphoiiie vermag sich nicht zu entfalten, und auch die metaphysischen Qualitäten gelangen nicht zur Offenbarung1. Aber auch jeder Schritt über den bloßen Realitätshabitus zur vollernsten Realitätssetzung, zur vollkommenen Illusion, macht die adaequate Ausprägung des literarischen Kunstwerkes in der betreffenden Konkretisation unmöglich. 7. Endlich ist noch eine Eigentümlichkeit der Konkretisation eines literarischen Werkes, auf welche wir übrigens schon früher hingewiesen haben, zu erwähnen. Die besondere Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile im literarischen Werke verwandelt sich in der Konkretisation in eine echte Aufeinanderfolge in der phänomenalen, konkreten Zeit. Das literarische Werk gelangt hier zu einer echten E n t f a l t u n g . Jede Konkretisation des literarischen Werkes ist ein zeitlich ausgedehntes Gebilde. Die Zeitspanne, die die jeweilige Konkretisation umfaßt, mag je nach Umständen größer oder kleiner sein, sie kann aber nie verschwinden. Nur dadurch kann auch die äußere und innere Dynamik des literarischen Kunstwerkes zur entfaltenden Ausprägung gelangen, während sie im Werke selbst in einer eigentümlichen Potentialität verbleibt. 1 Hat Konrad Lange diese Sachlage im Auge, wenn er von einer „Illusion" spricht, so ist sein Standpunkt gewiB im Prinzip aufrechtzuerhalten.

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Damit können erst in einer Konkretisation diejenigen ästhetischen Werte zur vollen Konstitution gelangen, die durch die Dynamik des Werkes bedingt bzw. durch sie getragen werden.

§ 64. Das „Leben" des l i t e r a r i s c h e n Werkes in seinen K o n k r e t i s a t i o n e n und seine Verwandlungen i n f o l g e der W a n d l u n g e n der letzteren. Die Ausführungen des letzten Paragraphen haben uns den Weg zu einem neuen Problem eröffnet, das wir das Problem des Lebens des literarischen Werkes nennen wollen. Das Wort „Leben" wird dabei in einem übertragenen Sinne genommen, und so empfiehlt es sich zunächst, die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes wenigstens ihren Hauptelementen nach aufzuklären. Es ist freilich sehr schwer, diese Bedeutung genau zu umschreiben, da das Wesen des Lebens bis jetzt nicht befriedigend herausgestellt wurde. Nur einige unentbehrliche Bemerkungen in dieser Hinsicht sollen uns die Auseinanderlegung des bei dem literarischen Werke vorliegenden Sachverhalts erleichtern. Das Wort „Leben" bedeutet vor allem zweierlei: das Ganze der Geschehnisse eines Lebewesens vom Anfang bis zu seinem Tode, zweitens den „Prozeß" des Werdens dieser Geschehnisse selbst. Wenn wir das Wort „Leben" in diesem zweiten Sinne nehmen, so fällt uns vor allem auf, daß jedes „lebende" Wesen als ein und dasselbe Individuum eine Zeitlang dauert. Und so lange es überhaupt existiert, kann es keine Phase der Unterbrechung seines Lebens geben. Aber auch umgekehrt: Hört das Leben eines Individuums auf, so hört auch dieses Individuum auf zu sein. Das Leben in diesem Sinne ist eine besondere Weise des Seins bestimmt gearteter Individuen. Die kontinuierliche Dauer des Lebens reicht aber nicht aus, um es erschöpfend zu charakterisieren, da auch „tote" Dinge kontinuierlich eine Zeitlang dauern. So muß als zweites hinzugefügt werden: Jedes Lebewesen v e r w a n d e l t sich ständig während seines Lebens (im ersten Sinne des Wortes). Ob dieses Sich verwandeln sich kontinuierlich über das ganze Leben erstrecken muß (wie das manche Forscher, z.B. Bergson, behaupten), mag dahingestellt werden. Aber wiederum ist dieses Sichverwandeln als solches für das Leben nicht charakteristisch. Es muß ein besonderes S y s t e m von Verwandlungen da sein, das trotz aller Zufälligkeiten, in welchen 367

ein bestimmtes Individuum lebt, sich als typisches bei allen Lebewesen durchhält und das „Leben" eines Individuums (im ersten Sinne) als ein typisches und einheitliches G a n z e s statuiert. Zu jedem Lebewesen gehört ein bestimmtes System von Verwandlungen, in welchen dieses Wesen sich „ e n t w i c k e l t " und die zu einer Kulminationsphase führen, in welcher dasjenige, was früher nur im Keim und in einer besonderen aktuellen Potentialität 1 zusammengefaltet war, sich in dasjenige „entwickelt", was das betreffende Lebewesen „eigentlich" sein soll. Auf diese Kulminationsphase folgt wiederum ein System von charakteristischen Verwandlungen, in welchen ein langsameres oder schnelleres (oder gar abruptes) Zurückgehen, Verfallen bis zu dem Momente der Lebensunfähigkeit, bis zum „Tode" sich vollzieht. Das Durchgehen durch diese charakteristischen Phasen der Verwandlung scheint uns das Wesensmoment des Lebens zu sein. Freilich können verschiedene Umstände, in welchen sich ein Lebewesen entwickelt, es verhindern, daß es zu seiner ihm sozusagen vorgezeichneten Kulminationsphase kommt, so daß es, noch unreif, frühzeitig verkümmert, zum Tode neigt, ebenso, wie es möglich ist, daß das Leben eines Individuums durch äußere Umstände abrupt „unterbrochen" wird. Aber daß man hier überhaupt von einer „Reifeperiode" oder von einer, durch gewisse Umstände, anderen Entwicklung, als „man es eigentlich erwarten" konnte, mit B e r e c h t i g u n g sprechen darf, zeigt am besten die Richtigkeit dieser Auffassung des Lebens. Und noch eins : Ob das, was lebt, notwendig ein psychisches oder gar bewußtes Wesen sein muß, kann mindestens stark bezweifelt werden. Ob aber psychisch oder nicht psychisch, jedes Lebewesen hat eine von ihm ausgehende aktive Reaktionsweise auf die Kräfte, welche auf es einwirken (oder scheint sie wenigstens zu haben). Diese Reaktionsweise ist durchaus verschieden von der Art, wie „tote" Dinge ihren Veränderungen p a s s i v unterliegen 2 . Die von uns angeführten Wesensmomente des Lebens erschöpfen unzweifelhaft noch nicht sein Wesen. Aber das Gesagte reicht für unsere Zwecke aus. Das literarische Werk vermag unzweifelhaft in diesem strengen Sinne nicht zu „leben". Es gilt aber die Unterschiedsmomente und die Analogien herauszustellen. 1 Hier erinnere man sich an den paradox formulierten Satz M. H e i d e g g e r s : „Dasein ist je seine Möglichkeit" (vgl. „Sein und Zeit", S.42 u. 143). 2 Vgl. M. Scheler, „Über die Stellung des Menschen im Kosmos", 1928.

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Indem ein bestimmtes literarisches Werk einmal fertig geschrieben (bzw. konzipiert) wird, kann es existieren, ohne irgendeiner Veränderung zu unterliegen, und zwar auch dann, wenn zahlreiche Konkretisationen von ihm entstanden sind. Im Wesen des literarischen Werkes selbst gibt es nichts, was die Notwendigkeit einer Veränderung mit sich führt. Nur daß es einmal überhaupt e n t s t e h t , ist notwendig und auf Grund seines eigenen Aufbaus ersichtlich. Denn die Schicht der sinnvollen Sätze und insbesondere die mannigfachen Zusammenhänge unter den Sätzen, die in einem Werke tatsächlich bestehen, aber in dem Sinne zufällig sind, daß andere Zusammenhänge beim Bestand derselben Sätze1, nur in einer anderen Anordnung, möglich sind, weisen auf subjektive Operationen zurück, in welchen die Sätze gebildet und die Satzzusammenhänge statuiert wurden. Als ein rein intentionaler Gegenstand braucht das literarische Werk nicht an den Geschehnissen der realen Welt teilzunehmen und durch die letzteren in ihren Lauf hineingezogen zu werden. Aber gerade weil es aus dem Vollzug subjektiver Operationen entstanden ist und weil es somit prinzipiell innerhalb der Reichweite der Machtbefugnisse psychischer Individuen liegt, die derartige Operationen vollziehen können, und da zugleich die einmal geschaffenen Sätze nicht notwendig in der ihnen einmal gegebenen Gestalt bestehen müssen, kann das literarische Werk Verwandlungen unterliegen, ohne daß es damit aufhört, dasselbe zu sein. Und zwar können es Verwandlungen sein, die nicht nur in der Schicht der sprachlautlichen Gebilde (wie etwa bei einer „getreuen" Übersetzung), sondern auch in der der Bedeutungseinheiten und somit in den anderen von ihr konstitutiv abhängigen Schichten des Werkes zustande kommen. Schon die tägliche Praxis überzeugt uns, daß in einem Werke manche Sätze (und somit Sachverhalte) fortgelassen oder durch andere passend gewählte ersetzt werden können, ohne daß dadurch das Wesentliche der dargestellten Gegenstände und Geschehnisse, aber auch die für das betreffende Werk charakteristische wertqualitative Polyphonie tangiert würde. Die Änderungen können sogar so weit gehen, daß z.B. durch die Fortlassung „entbehrlicher" Stellen das betreffende Werk mehr konzentriert, in seiner inneren Dynamik gesteigert und somit gege1 „Derselben Sätze" allerdings unter der Einschränkung, daß verschiedene Sinnmodifikationen in ihrem Gehalte vermöge der Änderung der Anordnung eintreten (vgl. oben § 23).

24 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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benenfalls „verbessert" werden kann, ohne dadurch allein zu einem anderen, zweiten Werk zu werden1. Wir stoßen hier auf Wesensprobleme ganz anderer Art als diejenigen, die wir im II. Abschnitt behandelten. Dort stand die wesensmäßige Grundstruktur des literarischen Werkes ü b e r h a u p t in Frage. Hier handelt es sich darum, was für ein g a n z b e s t i m m tes einzelnes, in seiner I n d i v i d u a l i t ä t genommenes literarisches Werk, das als ein literarisches Werk die früher herausgestellte Grundstruktur in sich bergen muß, wesentlich oder unwesentlich ist. Nur ganz konkrete, an einem bestimmten Werk durchgeführte Untersuchungen können darüber entscheiden, was zu seinem Wesen gehört, und somit, wieweit derartige Verwandlungen vorgenommen werden dürfen, ohne daß dadurch das ursprüngliche Werk zerstört, bzw. ohne daß dadurch ein vollkommen neues Werk geschaffen würde. Wie es damit im einzelnen auch stehen mag, klar ist jedenfalls, 1. daß all diese Verwandlungen nur unter der Bedingung des Vollzugs entsprechender darauf gerichteter subjektiver Operationen (also sozusagen „von außen" her) hervorgebracht werden können, 2. daß der Vollzug dieser Operationen nur beim Zustandekommen einer Konkretisation des Werkes realisierbar ist. Das einmal geschaffene Werk s e l b s t , von sich a u s und sozusagen abgeschnitten von seinen Konkretisationen, kann sich nicht verändern, und zwar in keiner Hinsicht; es kann nur v e r ä n d e r t werden. Das liegt schon implizite darin, daß keine seiner Schichten noch es selbst, als Ganzes genommen, ein s e i n s a u t o n o m e r Gegenstand ist. Durch entsprechende subjektive Operationen wird es geschaffen, verändert, vernichtet. Denn auch vernichtet werden kann ein literarisches Werk, wenn der Autor das schon geschaffene Werk in eigentümlichen intentionalen Akten zunichte macht und zugleich auch die physischen Bedingungen vernichtet, deren Bestehen anderen psychischen Subjekten die Konkretisation des durch den Autor zum Nichtsein verurteilten Werkes ermöglichen würde. Beachtet man, daß ein literarisches Werk einer Verwandlung nur unter der Bedingung unterliegen kann, daß es in einer Konkretisation zur Ausprägung gelangt, so läßt sich von seinem „Leben" in einem doppelten und in beiden Fällen übertragenen Sinne sprechen: 1. Das literarische Werk „lebt", indem e s i n e i n e r M a n n i g 1 Vgl. dazu Max Scheler, „Formaliemus in der Ethik", Jahrbuch f. Philoe. Bd.I, S.419.

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f a l t i g k e i t v o n K o n k r e t i s a t i o n e n zur Ausprägung gel a n g t , 2. das literarische Werk „lebt", indem es i n f o l g e immer neuer, durch Bewußtseinssubjekte entsprechend gestalteter Konkretisationen Verwandlungen unterliegt. Versuchen wir zunächst, das erste näher aufzuklären. Die einzelnen Konkretisationen eines und desselben Werkes sind einerseits individuelle Gegenständlichkeiten, die keinen gemeinsamen reellen Teil haben und somit eine d i s t i n k t e Mannigfaltigkeit bilden. Andererseits sind sie aber doch Konkretisationen eines und desselben Werkes. Das besagt aber nicht nur, daß sie einander mehr oder minder ähnlich sind, sondern vor allem, daß sie alle in einer besonderen Beziehung zu diesem Werke stehen. Diese Beziehung werden wir in dem nächsten Kapitel aufzuklären suchen. Außerdem ist diese Mannigfaltigkeit der Konkretisationen im allgemeinen z e i t l i c h angeordnet; es gibt Konkretisationen, die sich zeitlich früher entfalten, und solche, die es später tun1. Die Distinktheit und zeitliche Getrenntheit der Konkretisationen (eines und desselben Lesers) macht es immöglich, daß eine Konkretisation in einer zeitlich späteren direkt Veränderungen hervorrufen könnte. Damit eine Änderung, die in einer Konkretisation K n aus irgendwelchen Gründen entstanden ist, in den späteren Konkretisationen desselben Werkes auftreten könnte, bedarf es eines neuen, außerhalb des Werkes selbst und der Konkretisationen liegenden Faktors : eines das Werk zur Konkretisation bringenden bewußten Individuums, dem die Konkretisation K n aus eigener Erfahrung bekannt ist. Tritt dieser Faktor ins Spiel, was — wie wir gleich sehen werden — noch auf verschiedenen Wegen geschehen kann, dann ist es möglich, daß die späteren Konkretisationen sozusagen den in den früheren Konkretisationen eingetretenen Änderungen Rechnung tragen, wobei nicht ausgeschlossen ist, daß Rückschläge eintreten. Wir haben hier insbesondere folgende mögliche Sachlagen im Auge : Wenn wir dasselbe Werk einige Male nacheinander (auch nach einer längeren Zeit) lesen, so behalten wir gewöhnlich eine mehr oder weniger getreue Erinnerung an die Konkretisationen, die sich in früheren Lektüren konstituiert haben, und vollziehen oft die neue

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Das besagt noch nicht, daß bei zwei beliebigen Konkretisationen eines Werkes immer die eine „früher" und die andere „später" sein muß. Denn es ist möglich, daß zwei oder sogar viele Konkretisationen sich gleichzeitig entfalten oder sich zeitlich teilweise decken. 24*

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Lektüre sozusagen sub specie dieser früheren Konkretisationen, wobei wir uns im allgemeinen nicht klar zum Bewußtsein bringen, welche Einzelheiten dieser Konkretisationen auf ihre eigene Rechnung zu schreiben sind, welche dagegen adäquate Ausprägung des Werkes selbst (und im engeren Sinne „seine" Konkretisationen) sind. Wir können z.B. von vornherein auf eine bestimmte, nicht ganz passende Weise auf das betreffende Werk eingestellt sein und es somit „falsch" lesen, d.h. Konkretisationen zur Entfaltung bringen, die das Werk nicht zu einer adäquaten Ausprägung bringen. Und dann halten wir an dieser falschen Art zu lesen fest ; die neuen Konkretisationen, die natürlich unvermeidlich neue Abwandlungen mit sich bringen, tragen dann alle Spuren dieser ersten, nicht adäquaten Konkretisation an sich. Erst ein Wechsel der ursprünglichen Einstellung — entweder durch äußere Umstände oder dadurch hervorgerufen, daß wir in einem glücklichen Momente besonders empfänglich für die Eigenheiten des Werkes sind und ein besseres Verständnis des Werkes gewinnen — kann diese zusammengehörige Reihe von Konkretisationen wie mit einem Ruck abbrechen und eine andere, von der ersteren in entscheidenden Einzelheiten verschiedene eröffnen. Natürlich kann die Reihe, die sich auf der ersten nicht adäquaten Konkretisation aufbaut, in ihren späteren Elementen immer neue Einzelheiten enthalten, die alle sozusagen auf einer Linie liegen und damit eine immer weitere Entfaltung der ursprünglichen Tendenz, die in der ersten Konkretisation wie im Keim enthalten war, darstellen. Es ist aber ebensogut möglich, daß die späteren Konkretisationen immer vollere und adäquatere Ausprägungen des Werkes sind oder daß die verschiedenen Abwandlungen sich im Rahmen der von dem Werke selbst nicht eindeutig festgelegten Momente halten. Die Konkretisationen können dann eine immer weiter fortschreitende Entwicklung der von dem Werke zugelassenen Typen, z.B. von dekorativen Momenten der Ansichtsmannigfaltigkeiten oder von der Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen u.dgl. mehr, darstellen. Und es kann wiederum eine Wandlung dieser zugelassenen Typen eintreten usw. Es ist eine bekannte Tatsache, daß jede Epoche in der gesamten Entwicklung der menschlichen Kultur ihre besonderen Typen des Verstehens, der ästhetischen und außerästhetischen Werte, ihre bestimmten Prädispositionen zu gerade solchen und nicht anderen Erfassungsweisen der Welt überhaupt, aber auch der Kunstwerke besitzt. In manchen Zeiten sind wir besonders empfänglich für bestimmte 372

ästhetische Wertqualitäten, während wir für andere blind sind. Und wenn wir auch die letzteren an den uns dargebotenen Kunstwerken zu erschauen vermögen, so liegen uns die für jene Zeiten charakteristischen Werte doch näher. Wäre das literarische Werk bzw. Kunstwerk nicht ein schematisches Gebilde, wie es tatsächlich ist, dann wäre es auch nicht möglich, daß es in verschiedenen Zeiten Konkretisationen eines und desselben Werkes geben könnte, die alle eine adäquate oder mindestens durch das Werk zugelassene Ausprägung von ihm und sich doch in verschiedener Hinsicht radikal voneinander unterscheiden Nur das schematische Wesen des literarischen Werkes macht diese Tatsache möglich und verständlich. Aber nicht immer — wie wir schon oben festgestellt haben — geht die Entwicklung der Mannigfaltigkeit von Konkretisationen des Werkes in der Richtung, daß die Wandlungen in ihnen sich lediglich in den durch das Werk vorbestimmten Grenzen halten. Es kommt oft zu weitgehenden Abweichungen von dem Werke und zu verschiedenen Verdeckungsphänomenen, die mit den eben angedeuteten Wandlungen der kulturellen Atmosphäre im Zusammenhang stehen. Sie stehen aber noch mit anderen Sachlagen im engen Zusammenhang. Für bestimmte Kunstwerke, und insbesondere auch für die literarischen, müssen wir entsprechend erzogen werden, damit die sich entfaltenden Konkretisationen das Werk zur adäquaten Ausprägung bringen können. Diese Erziehung kann auf verschiedenen Wegen geschehen. Und damit kommen wir zu den Fällen, in welchen noch andere Faktoren als dem oben angegebenen bei der Vermittlung zwischen den einzelnen Konkretisationen mitwirken. Vor allem kommt da die mündlich oder schriftlich durchgeführte Übermittlung der für die einzelnen Konkretisationen des Werkes charakteristischen Momente an andere Leser, indem der eine Leser den anderen von diesen Konkretisationen erzählt oder über die eigene Erfassungsweise des Werkes berichtet1. Alle „kritischen" Artikel, Abhandlungen, Diskussionen, Interpretationsversuche, geschichtlichen literarischen Betrachtungen usw. gehören in dieses Gebiet und üben die Vermittlungsrolle beim Zustandekommen immer neuer Konkretisationen des Werkes. Sie erziehen den Leser dazu, das Werk auf bestimmte Weise zu verstehen und es 1 Gewöhnlich hat dieser Bericht die Gestalt einer Information über das Werk selbst, da der Informator sich den Unterschied zwischen dem Werke und seiner individuellen Konkretisation nicht zum Bewußtsein bringt.

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somit in bestimmt gearteten Konkretisationen zu erfassen; sie erziehen ihn manchmal gut, manchmal aber auch schlecht. Einen anderen Fall solcher Vermittlung bildet bei den Schauspielen die Aufführung dea Werkes, die durch den Regisseur seinem Verständnis des betreffenden Werkes gemäß gestaltet wird. Sie zeigt den Zuschauern dieses Werk in einer Gestalt, welche eine Mannigfaltigkeit von bestimmt gearteten Konkretisationen vorschreibt. Sowohl die „Wiederholungen" dieser Aufführung als auch die Nachahmungen durch andere Regisseure führen zu Konkretisationen, die alle unter der Richtschnur nicht nur der betreffenden ersten Aufführung, sondern auch derjenigen Konkretisation des Werkes stehen, die sich dem Regisseur bei seiner Lektüre konstituiert hat. Freilich verschiebt sich in diesem Falle das Verhältnis der einzelnen Konkretisationen zueinander. Man kann sagen, daß die als Vorbild dienende Aufführung, nicht das Schauspiel selbst, ihrerseits Konkretisationen erfährt. Es bildet sich innerhalb der ganzen Mannigfaltigkeit der Konkretisationen des Werkes eine besondere Gruppe aus, zwischen deren Gliedern eine engere Beziehung vorhanden ist. Allmählich bildet sich eine Tradition aus, das betreffende Werk auf bestimmte Weise aufzuführen bzw. zu verstehen, so daß der Leser von vornherein unter dem Druck einer auf diesen verschiedenen Wegen entstehenden „literarischen Atmosphäre" steht. Dies hat seinen bestimmenden Einfluß auf die Bildung der Konkretisationen des Werkes. Diese „literarische Atmosphäre" fügt sich in die gesamte kulturelle Atmosphäre der Zeit ein und steht in verschiedenen funktionellen Beziehungen zu ihr. Sie hat die Tendenz, sich längere Zeit zu erhalten. Erst wenn die äußeren Umstände des Lebens durch irgendwelche, z.B. politische, Ereignisse geändert werden oder wenn eine starke Individualität auftritt, die entweder durch Schaffung neuartiger literarischer Werke oder durch eine neuartige Interpretation der vorhandenen Werke in die bestehende kulturelle Atmosphäre einschneidend eingreift, kann es zu einer Wandlung dieser Atmosphäre kommen. Die nach dieser Wandlung zur Konstituierung gelangenden Konkretisationen des Werkes nehmen dann eine sichtlich andere Gestalt an usw. Die Rede von der kulturellen Atmosphäre einer Epoche ist natürlich nur eine vereinfachende und stabilisierende Approximation. Ständig, wenn auch langsam und für die Menschen der betreffenden Epoche im allgemeinen unmerklich, wandelt sich diese Atmosphäre. Sie birgt auch in jeder Zeitphase unzusammenhängende und inkohärente Momente. 374

Aber trotzdem läßt sich in der ganzen Mannigfaltigkeit der sich kreuzenden Strömungen, Tendenzen, Einstellungen usw. ein bestimmter „Zug der Zeit" herausstellen, der sich insbesondere in dem Stil der in der betreffenden Zeit geschaffenen Kunstwerke bemerkbar macht. Andererseits lassen sich bestimmte Linien der sich im Laufe der Epochen vollziehenden Wandlungen feststellen. Da die Konkretisationen des literarischen Werkes — wie wir oben zu zeigen suchten — von den Einstellungen des Lesers abhängig sind, so tragen sie infolgedessen in verschiedenen Hinsichten die „Züge der Zeit" an sich und machen die Wandlungen der kulturellen Atmosphäre bis zu einem gewissen Grade mit. So kommen wir zu dem Resultat, daß die Mannigfaltigkeit der Konkretisationen eines und desselben Werkes nicht bloß rein zeitlich geordnet ist, sondern daß sie auch eine sachhaltige, auf die Atmosphäre der betreffenden Epoche relative Ordnung aufweist, daß also hier in diesem Sinne von Entwicklungen, unvorhersehbaren Wandlungen, Rückschlägen und Renaissancen gesprochen werden darf. Hat man bloß die sich allmählich entwickelnde Mannigfaltigkeit von Konkretisationen eines Werkes im Auge, so darf man von einem „Leben" des literarischen Werkes in seinen Konkretisationen sprechen. Trotz aller Unterschiede, die zwischen dem so verstandenen „Leben" eines literarischen Werkes und dem Leben eines Lebewesens bestehen und auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, liegen auch deutliche Analogien vor. Wir wollen uns hier mit dem Hinweis auf eine von ihnen begnügen. Das Leben eines literarischen Werkes in seinen Konkretisationen weist — besonders, wenn es sich um Kunstwerke ersten Ranges und nicht um „totgeborenen" Kitsch handelt — scharf unterschiedene Phasen seines Verlaufs auf, ähnlich wie das Leben eines psychischèn Individuums. Es gibt eine Periode (besonders bei bahnbrechenden Werken), in welcher das Werk sich in seinen Konkretisationen nicht voll ausprägen kann, weil die Leser es noch nicht voll verstehen können, eine Periode der Vorbereitung, des Noch-im-Keim-Enthaltenseins dessen, was sich später voll entwickelt oder sich wenigstens entwickeln kann. Dann kommt eine Periode, in der die Zahl der Konkretisationen nicht bloß anwächst, indem das Werk immer mehr gelesen wird, sondern das Werk zugleich in den einzelnen Konkretisationen und der Entfaltung des ganzen Reichtums seiner darin zutage tretenden Seiten eine immer adäquatere Ausprägung erfährt — ähnlich der Reifeperiode bei einem Menschen. Das Werk „erlebt" auf diese Weise 375

zugleich den Kulminationspunkt seines „Erfolges": es steht im Zentrum des Interesses einer Generation, es genießt die Wertung aller seiner Vorzüge, es wird geschätzt, geliebt und bewundert. Dann aber ändert sich aus irgendwelchen Gründen die geistige Atmosphäre der Zeit. Die Zahl der Konkretisationen sinkt, es gelangen immer inadäquatere Konkretisationen zur Konstituierung, manche seiner Seiten werden überhaupt nicht konkretisiert, eine merkbare Kühle tritt im Verkehr zwischen dem Leser und dem Werke ein, es vermag die Leser nicht mehr hinzureißen, es wird ihnen immet fremder und in seinen Konkretisationen dürftiger, bis es in Vergessenheit versinkt und abstirbt : es tritt eine Zeit ein, wo keine Konkretisationen des Werkes vorhanden sind. Dieses allgemeine Schema des „Lebens" eines literarischen Werkes in seinen Konkretisationen kann natürlich in einem konkreten Falle mannigfache Abwandlungen erfahren. Das Werk kann lange Jahre hindurch keine Konkretisationen „erleben", und dann kommt ein kurzer Tag rapider Popularität und mannigfacher Ausgestaltung in Konkretisationen. Es kann durch mehrere verschiedene Geistesepochen hindurchgehen und dann typisch sich wandelnde Konkretisationen erfahren, es kann „absterben" und dann unerwartet eine Epoche der Renaissance „erleben" usw. Wichtig ist nur, daß hier wirklich eine gewisse Analogie zu dem Leben eines Lebewesens vorliegt. Es gibt aber auch eine weitere Analogie : Ebenso, wie das Lebewesen sich im Zusammenhang mit dem Leben anderer Lebewesen und unter Einwirkung der realen Bedingungen, unter welchen es sich in den einzelnen Lebensphasen befindet, verwandelt, vollziehen sich auch die Wandlungen in den Konkretisationen des literarischen Werkes im engen Zusammenhang mit dem Leben psychischer Individuen und unter der Einwirkung der kulturellen Atmosphäre. Allerdings liegt hier zugleich ein bedeutsamer Unterschied vor. Das Lebewesen hat vermöge seiner Organisation und seiner Seinsautonomie seine eigenen Weisen der Reaktion auf die Einflüsse der äußeren Welt; in ihm selbst liegt der Ursprung dieser Reaktionsweisen. Die Konkretisation des literarischen Werkes ist dagegen kein seinsautonomer Gegenstand. So kann sie nicht auf die kulturellen Einflüsse „reagieren". Sie u n t e r l i e g t nur den Wandlungen, entsprechend den Bewußtseinsakten, aus denen sie hervorgeht. Und wenn an ihrer Ausgestaltung auch das Werk selbst einen Anteil hat, indem der Leser auf seine Erfassung eingestellt ist und 376

diese Einstellung die Konstituierung der Konkretisation wesentlich mitbestimmt, wenn der Konkretisation vom Standpunkt der mehr oder weniger adäquaten Ausprägung des Werkes gewisse Grenzen der Variabilität vorbestimmt sind, so besteht doch keine Notwendigkeit, daß es überhaupt zu dieser Ausprägung kommt, und somit kann die Konkretisation restlos von den sie konstituierenden subjektiven Operationen abhängen. Im schlimmsten Falle wäre sie keine Konkretisation des betreffenden Werkes, sondern ein reines Produkt subjektiver Operationen : die erste Konkretisation eines vollkommen neuen Werkes. Und dies ist gerade durch ihre Seinsheteronomie, wie andererseits durch die Diskontinuität, die zwischen einer Konkretisation und dem Werke selbst besteht, begründet. Es gibt aber — wie wir schon oben angedeutet haben — auch ein anderes „Leben" des literarischen Werkes: das Werk — sagten wir — „lebt", indem es s e l b s t (und nicht bloß seine Konkretisationen, wie in dem eben besprochenen Falle) infolge der verschieden gestalteten Konkretisationen v e r s c h i e d e n e n U m w a n d l u n g e n u n t e r l i e g t . Wie ist dies näher zu verstehen ? Gäbe es überhaupt keine Konkretisationen des Werkes, so wäre es wie durch eine undurchsichtige Wand von dem konkreten menschlichen Leben getrennt. Die Konkretisationen bilden sozusagen das Bindeglied zwischen dem Leser und dem Werke und ergeben sich, wenn sich ihm Leser erkenntnismäßig und ästhetisch nähern. Da aber die Konkretisationen die Gestalt sind, in welcher allein das literarische Werk sich dem Leser in seiner vollen Entfaltung zeigen kann, so daß der letztere es nur in der Konkretisation erfaßt, und da zugleich eine jede Konkretisation außer den Elementen, die das Werk zur Ausprägung bringen, noch andere enthält, die es in verschiedener Hinsicht ergänzen und modifizieren, da endlich die überwiegende Mehrzahl der Konkretisationen das Werk nur inadäquat zur Ausprägung bringt, so hat die Entfaltung einer Mannigfaltigkeit von Konkretisationen einen bedeutenden Einfluß auf das literarische Werk selbst : es unterliegt verschiedenen Verwandlungen infolge der Wandlungen, die in den Konkretisationen stattfinden. Das ist natürlich nur unter der weiteren Bedingung möglich, daß nämlich die Leser bei der Lektüre (bzw. die Zuschauer bei der Aufführung) dem Werke gegenüber eine bestimmte Einstellung einnehmen, die übrigens die am häufigsten vorkommende und natürliche ist. Wir haben früher festgestellt, daß ebenso, wie das literarische Werk aus subjektiven Operationen hervorgeht, es auch durch ana377

loge subjektive Operationen verändert bzw. sogar vernichtet werden kann. Wir hatten dort vor allem Operationen im Auge, in welchen z.B. ein anderer Zusammenhang der Sätze oder sogar manche neue Sätze in dem Werke durch den Autor (etwa bei einer „zweiten Auflage") oder durch den Leser in bewußter A b s i c h t statuiert werden. In diesen Fällen wird das Werk auf bewußte, absichtliche Weise verändert. Das literarische Werk kann aber auch verändert werden, ohne daß es mit Absicht geschieht. Bei schlichter Erfassung des Werkes in einer Konkretisation kann es zu einer solchen Veränderung des Werkes kommen, wenn der Leser — wie es gewöhnlich geschiebt — sich weder die Zufälligkeiten der b e t r e f f e n d e n Konkretisation noch das, worin sie sich faktisch und notwendig von dem Werke unterscheidet, noch endlich die Konkretisation als solche in der Gegenüberstellung zu dem Werke selbst zum Bewußtsein bringt. Er verabsolutiert infolgedessen die betreffende Konkretisation, identifiziert sie mit dem Werke und ist in naiver Weise auf das so vermeinte Werk intentional gerichtet. Dann wird dem Werke alles zugedeutet, was zu dem Gehalte der gegebenen Konkretisation gehört. Und zwar werden bei dieser naiven Weise der Erfassung des Werkes die subjektiven Erfassungsoperationen zugleich unter der schlechthinnigen, kategorischen Setzung des so vermeinten Werkes vollzogen. So wird das Werk nicht in der kritisch vorsichtigen Aufnahmeeinstellung behutsam aus allen möglichen Verunreinigungen herausgeschält, sondern vergewaltigt und verändert. Diese Veränderungen können mannigfacher Art sein. Die durchgreifendsten unter ihnen sind diejenigen, die in der Schicht der Bedeutungseinheiten hervorgebracht werden, da diese Schicht die größte konstitutive Rolle im Werke spielt, so daß die in ihr vorkommenden Veränderungen in fast allen übrigen Schichten Verwandlungen ergeben. Am häufigsten treten da Veränderungen auf, die auf der Aktualisierung eines anderen Teiles des potentiellen Bedeutungsbestandes beruhen, als dies durch den Kontext vorbestimmt ist. Aber es können auch den Wortlauten bzw. Wortzeichen ganz andere Bedeutungen, als die zu dem Werke gehörenden, untergeschoben und im Werke selbst verfestigt werden1. Auch dann aber, wenn die Verwand1 Daß dies überhaupt möglich ist, hat seinen Grund darin, dafi die Beziehung zwischen einem bestimmten Wortzeichen (bzw. Wortlaute) und einer bestimmten Bedeutung keine notwendige Zusammengehörigkeit ist, sondern nur als eine Verknüpfung besteht, die auf einen bedeutungverleihenden Akt oder auf andere subjektive Faktoren relativ ist.

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lungen in dem Aufbau des Werkes nicht so weit gehen, bewirkt die Verabsolutierung der Konkretisation zu dem Werke selbst Verwandlungen in dem letzteren. Denn eine jede Konkretisation geht — wie wir schon oben festgestellt haben — über das literarische Werk notwendig hinaus. So scheint das Werk selbst vollkommener und gehaltvoller zu sein, als es tatsächlich ist. Und infolge der in der Konkretisation notwendig vorkommenden, wenn auch noch so geringen Inadäquatheit der Ausprägung des Werkes verwandelt sich das letztere unmerklich unter den Händen des Lesers. Wenn wir noch beachten, daß die Veränderungen in den einzelnen Konkretisationen die Tendenz haben, sich in den darauffolgenden Konkretisationen zu verfestigen, so begreifen wir, daß das Werk, selbst in seinen Konkretisationen „lebend", zugleich infolge der Wandlungen sich selbst verändert, sich selbst in dieser oder jener Richtung entwickelt, Stileigentümlichkeiten in sich aufnimmt, die ursprünglich durch seinen Bau nur zugelassen waren, Krisen der Stilverwandlung durchmacht oder wiederum erstarrt usw. In diesem Sinne „lebt" das literarische Werk s e l b s t , während es sich in dem früher behandelten „Leben" nur um seine Konkretisationen handelte. Es besitzt Phasen seiner herrlichsten Entwicklung und Vervollkommnung lind auch Phasen, in welchen es dank der Verarmung der Konkretisationen selbst immer mehr verarmt usw. Auch ist es möglich, daß die Sprache, in welcher das Werk geschrieben ist, weil sie keine „lebendige" Sprache mehr ist, ihre Manifestationsqualitäten für uns verloren hat. Dann kommen manche Sachverhalte überhaupt nicht zur Entfaltung, andererseits aber können gewisse Ansichten nicht paratgehalten werden. Infolgedessen können die entsprechenden Gegenständlichkeiten nicht zur Erscheinung gebracht werden, zugleich aber wird das Werk um manche dekorativen Momente ärmer u. dgl. mehr. Das Werk kann dann sozusagen eines natürlichen Todes sterben, indem es für die Leser in einem bestimmten Zeitpunkt ganz fremd und unverständlich wird, so daß sie nicht mehr in der Lage sind, zu seiner eigenen Gestalt vorzudringen und die in ihm schlummernden Schätze zu entdecken. Ist das Werk „schriftlich" niedergelegt, so ist es im Prinzip immer möglich, all die Veränderungen, die in ihm hervorgebracht wurden, rückgängig zu machen, falls es nur jemanden gibt, der es zu „entziffern" versteht. Das schon „tote" Werk kann dann wieder aufleben. Entschwindet uns einmal die ursprüngliche Bedeutung seines Textes, so ist es unmöglich, das ursprüngliche Werk zu restituieren, sofern wir nicht auf a n d e r e m 379

Wege — etwa durch historische Studien — die ursprüngliche Zuordnung zwischen Wortzeichen (bzw. Wortlaut) und Bedeutung wiederherstellen. Gelingt aber eine sinnadäquate „Entzifferung" des Textes, dann ersteht das ursprüngliche Werk in seiner eigenen Gestalt wieder, alle späteren Verwandlungen des Werkes werden beseitigt und aus dem Werke durch entsprechende subjektive Operationen als „Fälschungen", „Mißverständnisse" entfernt. Tatsächlich wird hier das Werk — entgegen den herrschenden Meinungen — gewöhnlich aufs neue verändert, nur daß diese neuen Änderungen ihm seine ursprüngliche Gestalt wiedergeben. All diese Verwandlungen müssen sich aber in den für jedes einzelne Werk charakteristischen Grenzen halten, wenn die Identität des Werkes bestehen bleiben soll. Und da entsteht wiederum das wichtige und schwierige Problem, wie diese Grenzen der Verwandelbarkeit zu bestimmen sind. Wir können dieses Problem hier nicht lösen. Einmal aus dem Grunde, weil das Wesen der Identität eines Gegenstandes überhaupt noch nicht aufgeklärt ist, andererseits deswegen, weil — wie wir schon oben angedeutet haben — diese Grenzen nur auf Grund der Erfassung des i n d i v i d u e l l e n Wesens eines bestimmten Werkes zu bestimmen sind, was das Thema unserer Untersuchungen überschreitet. Die allgemeine Behauptung aber, daß die Verwandlungen eines bestimmten Werkes innerhalb solcher Grenzen gehalten werden müssen, daß sein i n d i v i d u e l l e s Wesen bewahrt bleibe, nutzt uns so lange wenig, als es für dieses bestimmte Werk nicht herausgestellt ist. Da wären neue, ganz anders orientierte Untersuchungen nötig, die auf die Individualität eines ganz bestimmten Werkes zugespitzt wären. Für unsere Zwecke ist nur die Wesenstatsache wichtig, daß das literarische Werk Verwandlungen unterliegen kann, ohne seine Identität einzubüßen. Damit wird die anfänglich gestellte Frage, ob das literarische Werk ein idealer Gegenstand sei, aufs neue — und zwar im negativen Sinne — beantwortet. Es bleibt jetzt nur noch übrig, die ontische Stelle des literarischen Werkes möglichst genau positiv zu bestimmen.

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14. Kapitel. Die ontische Stelle des literarischen Werkes. § 65. E i n l e i t u n g . Wir haben einen weiten Weg gemacht. Wir haben das literarische Werk von verschiedenen Seiten und in zahlreichen Eigentümlichkeiten seiner Struktur betrachtet und Sachlagen aufgezeigt, die sein Eigenwesen zu enthüllen und es in seiner Heterogenität gegenüber den psychischen Erlebnissen einerseits und den idealen Gegenständlichkeiten andererseits deutlich zu zeigen geeignet sind. Wir glauben in den literarischen Werken eine eigene Sphäre von eigentümlich aufgebauten Gegenständlichkeiten enthüllt zu haben, die aus verschiedenen und u.a. aus rein ontologischen Gründen sehr wichtig sind. Fast am Ende unserer Betrachtung sind wir auf die Phänomene des „Lebens" eines literarischen Werkes und auf die Beziehungen zwischen ihm selbst und seinen Konkretisationen und damit auch zu den subjektiven Operationen und Erlebnissen gestoßen. Und nach Einbeziehung dieses ganzen Problemkreises scheint manche Gefahr, die schon fast als überwunden galt, aufs neue zu entstehen : Das literarische Werk, rein in sich betrachtet, schien uns zunächst ein ganz starres Gebilde zu sein, das in dieser Starrheit auch hinsichtlich seiner Identität völlig gesichert wäre. In der Ablösung von allen seinen Konkretisationen und den subjektiven Erfassungsoperationen, die durch die Leser vollzogen werden, schien es uns zugleich etwas gegenüber den subjektiven Operationen so Heterogenes zu sein, daß jeder Gedanke an seine Subjektivierung bzw. Psychologisierung von vornherein ganz unhaltbar scheinen mußte. Nach der Einbeziehung der Sachlagen, die durch die Lektüre des Werkes durch viele Leser hervorgebracht werden, scheint es wiederum in dieser seiner Identität und in der selbstherrlichen Heterogenität gegenüber den subjektiven Erlebnissen bedroht zu sein. Es scheint, trotz aller oben festgestellten Verschiedenheiten von den Konkretisationen, in ihre Mannigfaltigkeit zu zerfließen und vermöge der engen seins- und soseinsmäßigen Beziehungen zwischen den Konkretisationen und den subjektiven Erlebnissen seine Heterogenität gegenüber diesen Erlebnissen zu verlieren. So taucht die alte Frage wiederum auf: Ist die psychologistische Auffassung des literarischen Werkes nicht doch im Rechte ? Wäre es nicht richtiger 381

und einfacher, statt von dem einen literarischen Werke zu reden, das in vielen Konkretisationen zur Ausprägung gelangt, das literarische Werk auf diese mannigfachen Konkretisationen „zurückzuführen" und es lediglich für eine theoretische, abstraktiv gewonnene Fiktion zu halten, die „in Wahrheit" nicht existiert ? Das einzig Bestehende wäre dann die Mannigfaltigkeit der „Konkretisationen", die dann natürlich keine Konkretisationen eines Identischen, sondern lediglich untereinander ähnliche intentionale Korrelate entsprechender Aktmannigfaltigkeiten wären. Und wäre ee dann nicht ein reiner Streit um Worte, wenn man nur von „intentionalen Korrelaten" und nicht einfach von „Vorstellungen" reden wollte, wie das die psychologistische Auffassung tut ? Mag die hier entwickelte Auffassung des literarischen Werkes feiner und subtiler sein, mag die Rede von „Vorstellungen" noch sehr roh und primitiv sein, kommt es letzten Endes nicht doch auf dasselbe hinaus, wenn man nur zugibt, daß das literarische Werk auf die Mannigfaltigkeit der angeblichen „Konkretisationen" zu „reduzieren" sei, und wenn man zugleich — wie wir es tatsächlich getan haben — behauptet, daß eine jede Konkretisation notwendig zu den entsprechenden subjektiven Erlebnissen gehört und dann und nur dann existiert, wenn diese Erlebnisse existieren ? — Läßt sich aber das literarische Werk wirklich auf die Mannigfaltigkeit der Konkretisationen reduzieren ? Sprechen nicht die zahlreichen Unterschiede dagegen, die wir zwischen dem Werke selbst und seinen Konkretisationen aufgewiesen haben ? Man könnte uns darauf antworten : Diese Unterschiede bestehen nur dann, wenn man an der Idee des identischen literarischen Werkes, das sich in seinen Konkretisationen ausprägt, von vornherein festhält, wie das tatsächlich in den bisherigen Betrachtungen geschah. Aber was verbürgt uns die Identität des Werkes allen seinen Konkretisationen gegenüber, besonders, wenn man zugibt, daß die einzelnen Konkretisationen voneinander sehr abweichen und daß der Leser die Konkretisation, die er gerade hat, sehr oft verabsolutiert und in ihr das Werk selbst zu erfassen glaubt ? Und was verbürgt uns insbesondere die Identität des Werkes, wenn es durch verschiedene Leser gelesen wird, d.h. seine i n t e r s u b j e k t i v e Identität ? Und was ist das Identische dabei ? Zeigt es sich am Ende nicht vielleicht doch, daß dieses Identische nichts anderes ist als das, was diese verschiedenen Konkretisationen „hervorruft", d.h. die bei der Lektüre wahrgenommenen „Zeichen" auf dem Papier ? Da aber diese „Zeichen" offenbar nicht das geheimnisvolle 382

Etwas sein können, das wir das „literarische Werk" nennen und womit wir in der ästhetischen Einstellung verkehren, so wäre es vielleicht am richtigsten zu sagen, daß während der einzelnen Lektüren lediglich ähnliche „Konkretisationen" entstehen und daß es nur eine eigentümliche Täuschung bzw. ein Irrtum sei, wenn wir alle ein und dasselbe Werk zu lesen meinen ? Und endlich : Ist das literarische Werk nur ein Gebilde subjektiver Operationen, das nicht seinsautonom existieren soll, so entsteht die Frage, wie das Werk dann existiert, wenn es gerade von niemandem gelesen wird. Ist es nicht eine unberechtigte Hypostasierung, wenn man seine Existenz auch unter diesen Bedingungen behauptet ? Und wenn es auch irgendwie existiert, was bildet dann sein Seinsfundament, wenn es nicht die subjektiven Bewußtseinsoperationen sein sollen ? Zunächst scheint dieser ganze Komplex von Fragen eine Angelegenheit zu betreffen, die lediglich die Literaturwissenschaft interessiert, also eine Angelegenheit, die von keiner größeren Bedeutung für andere Wissenschaften und insbesondere für die Philosophie wäre. Wozu dann also diese schwierigen Untersuchungen und das Bemühen, die psychologistische Lösung um jeden Preis zu vermeiden ? Indessen ist dem nicht so. Wir stoßen hier auf eine Frage, die von grundlegender Bedeutung für die Wissenschaftslehre und insbesondere für die Logik ist. Denn — wie unsere obigen Betrachtungen zeigten — bildet das wissenschaftliche Werk einen Grenzfall des „literarischen Werkes", einen Grenzfall, bei welchem der wichtigste Unterschied von den „literarischen Werken" darin besteht, daß in dem wissenschaftlichen Werke die Sätze keine quasi-urteilsmäßige Modifikation erleiden, sondern echte Urteilssätze sind. Ob sie aber echte Urteilssätze sind oder nicht, sie sind jedenfalls Sätze. Sind die Sätze keine idealen Gegenständlichkeiten im strengen Sinne, wie wir gezeigt zu haben glauben, gehen sie aus besonderen subjektiven Operationen hervor und führt gerade dieser Umstand zu dem Zweifel, ob die so gebildeten Sätze intersubjektive Identität und eine den subjektiven Operationen gegenüber heterogene Seinsweise besitzen, dann betreffen die oben angedeuteten Fragen das wissenschaftliche Werk offenbar in eben demselben Maße wie das rein „literarische". Und ließe sich beides für das literarische Werk nicht mit Recht behaupten, dann müßte auch das wissenschaftliche Werk diese Identität und Seinsweise entbehren und müßte auf die Mannigfaltigkeit mehr oder weniger voneinander verschiedener „Konkretisationen" reduziert werden. Wie stände es dann aber mit 383

den Bedingungen der Möglichkeit einer erkenntnismäßig wertvollen Wissenschaft, wenn die Gebilde der wissenschaftlichen Arbeit lediglich derartige „Konkretisationen" wären, wenn die Identität des Sinnes der wissenschaftlichen Behauptungen nur cum grano salis zu nehmen wäre und wenn jeder von uns es bei der Lektüre „eines" wissenschaftlichen Werkes streng gesprochen mit anderen Sätzen, Beweisen, Theorien zu tun hätte ? Ist das nicht der direkte Weg zum Skeptizismus oder wenigstens zum Bekenntnis, daß eine i n t e r s u b j e k t i v e Wissenschaft unmöglich sei ? Und was für einen Wert hätte eine Wissenschaft, welche nur für ein einziges Erkenntnissubjekt gültig wäre, wenn keine strenge Verständigung möglich wäre ? Denn auf welchem anderen wissenschaftlichen Wege kann sich eine Verständigung unter den Erkenntnissubjekten vollziehen als vermittels der Sätze ? So besitzen die Gefahren, mit denen wir hier zu kämpfen haben, eine unvergleichlich größere Bedeutung, als sie eine verhältnismäßig belanglose Angelegenheit der Literaturwissenschaft hätte. Die Überwindung dieser Gefahren ist von der allergrößten prinzipiellen Wichtigkeit. Andererseits ist klar : Läßt sich zeigen, daß die Sätze und Satzzusammenhänge trotz ihrer Seinsrelativität auf subjektive Operationen eine intersubjektive Identität besitzen und eine den Bewußtseinsakten gegenüber heteronome Seinsweise haben, die ihnen ermöglicht, auch dann zu existieren, wenn sie — einmal konzipiert — durch kein Bewußtseinssubjekt gedacht resp. „gelesen" werden, so ist damit auch die intersubjektive Identität des literarischen Werkes als eines von uns herausgestellten s c h e m a t i s c h e n Gebildes gerettet. Denn die Sätze bilden, wie unsere Analysen zeigten, das konstitutive Element der literarischen Werke, von welchem alle übrigen Schichten des Werkes, außer der Schicht der sprachlautlichen Gebilde in ihrer bestimmten Ausgestaltung und außer der von ihnen konstitutiv abhängigen Elemente der anderen Schichten, seinsmäßig abhängig sind. Wenn sich also auch die intersubjektive Identität der Schicht der sprachlautlichen Gebilde nicht begründen ließe, so würde das literarische Werk „an sich", wenn man so sagen darf, zwar ärmer und auf die momentanen Bedingungen der jeweiligen Lektüre stärker relativ sein, als dies unsere Analysen gezeigt zu haben meinen, aber das würde an der Existenz und an der intersubjektiven Identität des literarischen Werkes — und dann auch des wissenschaftlichen Werkes — nichts mehr ändern können. 384

Die Probleme also, die jetzt zu lösen sind, lauten : Sind die aue subjektiven Operationen hervorgehenden Sätze intersubjektiv identisch? Existieren sie auch dann, wenn sie gerade nicht gedacht werden ? Welches ist ihre Seinsweise und ihr ontisches Seinsfundament, wenn sie existieren ?

§ 66. Die i n t e r s u b j e k t i v e I d e n t i t ä t des S a t z e s und sein o n t i s c h e s S e i n s f u n d a m e n t . In der Problemsituation, in der wir uns momentan befinden, eröffnen sich uns zwei verschiedene Wege, auf denen wir weiter vorgehen können: entweder der rein p h ä n o m e n o l o g i s c h e , der sich jeder Seinssetzung außer der Setzung des reinen Bewußtseins enthält, oder der m e t a p h y s i s c h e , der sich nicht scheut, die Existenz auch anderer Gegenständlichkeiten anzunehmen, wenn berechtigte Motive dafür sprechen und wenn die rein phänomenologische Betrachtung nicht ausreicht. Wollten wir den ersten Weg beschreiten, so müßten wir jetzt die Phänomene und die subjektiven Operationen der intersubjektiven sprachlichen Verständigung zwischen mehreren Bewußtseinssubjekten sowie das Recht dieser Verständigung untersuchen. Es müßte mit anderen Worten gezeigt werden, wie es geschieht, daß zwei verschiedene Bewußtseinssubjekte, wenn sie einen Satz erfassen, i d e n t i s c h denselben Sinn erfassen1, und wie sie sich darüber verständigen und volle Sicherheit gewinnen können, daß dies wirklich der Fall ist. Dieser Weg würde uns aber in die schwierigsten Fragen der phänomenologischen Erkenntnistheorie führen, so daß eine ganz neue, umfangreiche Untersuchung unentbehrlich wäre. Andererseits würde er doch nur einen Umweg bedeuten, indem erst aus der Lösung der erkenntnistheoretischen Probleme eine ontische bzw. metaphysische Folgerung gezogen werden müßte. So wollen wir ihn hier nicht betreten, obwohl wir sein Recht vollkommen einsehen. Auch glauben wir, daß sich unser Problem direkt lösen läßt, wenn es nur gelingt, das objektive, seinsautonome Seinsfundament des literarischen Werkes beziehungsweise der in es eingehenden Sätze zu finden. Vor allem müssen wir zwischen dem Fundament des E n t s t e h e n s des literarischen Werkes und dem ontischen Grund seines 1

Vgl. dazu E. Husserl, „Méditations Cartésiennes", § 43, S.77.

25 Ingarden, Dae literarische Kunstwerk

385

B e s t e h e n s (Existierens nach der Gestaltung) unterscheiden. Das erstere haben wir bereits in den subjektiven Operationen gefunden, die der Autor bei der Gestaltung des Werkes vollzieht und die in erster Linie in den satzbildenden Operationen bestehen, obwohl sie sich darin natürlich nicht erschöpfen. Es kommt jetzt nur darauf an, was die satzbildende Operation leistet. Ist sie im echten Sinne schöpferisch, so daß sie ex nihilo etwas vollkommen Neues hervorbringt, und ist das von ihr Hervorgebrachte von demselbenExistenzmodus wie sie selbst ? Die beiden Fragen müssen verneint werden. Und es wird sich dabei zeigen, was den Seinsgrund des literarischen Werkes (bzw. der in es eingehenden Sätze) ausmacht und welche Seinsweise ihm zukommt. Die subjektiven Bewußtseinsakte, in welchen sich die satzbildenden Operationen vollziehen, sind seinsautonome Gegenständlichkeiten. Das geschaffene Werk und die geschaffenen Sätze sind keine seinsautonomen Gegenständlichkeiten, sondern nur rein intentionale. Nichtsdestoweniger existiert das Werk (bzw. der Satz), sobald es geschaffen wird. Aber es existiert als ein seinsheteronomes Gebilde, das den Ursprung seines Seins in den Intentionsakten des schöpferischen Bewußtseinssubjekts und zugleich sein Existenzfundament in zwei vollkommen heterogenen Gegenständlichkeiten hat: einerseits in den i d e a l e n Begriffen und idealen Qualitäten (Wesenheiten), andererseits — wie sich noch zeigen wird — in den realen „Wortzeichen". Das, was die satzbildende Operation (bzw. die mannigfachen subjektiven Operationen, in welchen das literarische Werk entsteht) leisten kann, das ist — was den Sinngehalt der Sätze betrifft — lediglich die A k t u a lisierung der Sinnelemente entsprechender idealer Begriffe und die G e s t a l t u n g eines e i n h e i t l i c h e n Ganzen aus diesen Aktualisationen. Erklären wir uns genauer : Wir haben früher zwischen den Wortbedeutungen und den idealen Begriffen unterschieden. Eine Wortbedeutung ist nichts anderes — sagten wir — als eine A k t u a l i s a t i o n des in den entsprechenden idealen, seinsautonom existierenden Begriffen enthaltenen Sinnes. Und zwar ist sie jeweilig Aktualisation nur eines Teiles dieses Sinnes. Diese Aktualisierung und die Gestaltung eines einheitlichen Ganzen aus den Bestandteilen bringt die satzbildende Operation zustande, indem sie die Wortbedeutungen sofort in der Gestalt hervorbringt, in welcher sie als Bestandteile eines bestimmten Satzes bzw. eines bestimmten Satzzusammenhanges auftreten müssen. Durch diese Aktualisierung wird unzweifelhaft 386

etwas Neues hervorgebracht: der Satzsinngehalt bzw. der Sinngehalt eines Satzzusammenhanges. Die idealen B e g r i f f e bilden keinen B e s t a n d t e i l dieser Gebilde. Sie sind ihnen gegenüber ebenso transzendent wie die subjektiven Operationen und sind auch den letzteren gegenüber transzendent und liegen außerhalb ihres Machtbereiches. Aber sie bilden das Seinsfundament der Sätze und das regulative Prinzip ihrer Bildung. Im Hinblick auf ihren idealen Sinngehalt wählt das Bewußtseinssubjekt entsprechende in ihnen enthaltene Momente aus und bringt ihre seinsheteronomen Aktualisierungen hervor und eint sie zu einem neuen Ganzen. Zugleich mit dieser Aktualisierung des Sinnes vollzieht sich eine intentionale Konkretisierung der Wortlaute und der sprachlautlichen Gebilde, so daß damit der ganze S a t z (Sinngehalt und wortlautlicher „Ausdruck") intentional geschaffen wird. Doch mit der intentionalen Gestaltung der sprachlautlichen Gebilde verhält es sich anders als mit der Aktualisierung des Sinngehaltes eines Satzes. Wir werden gleich darauf zurückkommen. Vorerst müssen wir noch betonen: Die Tatsache, daß die beiden Seinsfundamente des Satzes bzw. des Uterarischen Werkes (das Fundament des Entstehens in den subjektiven Operationen und das Fundament des Bestehens in den idealen Begriffen) ihm selbst gegenüber transzendent sind, und insbesondere die Tatsache, daß die idealen Sinnelemente der Begriffe dem Autor bei der Aktualisierung nur als Vorbild der Bestandteile der aktualisierten Sinngehalte dienen, macht das besondere, mit nichts anderem zu vergleichende Wesen der seinsheteronomen Existenzweise des literarischen Werkes (bzw. eines einzelnen Satzes) aus. Die seinsheteronom existierende Gegenständlichkeit hat — sagten wir — kein Semsfundament in sich selbst, sondern sie weist auf ein anderes Seiendes, und zwar letzten Endes auf ein seinsautonom Seiendes zurück. Der Meinungsakt des reinen Bewußtseins ist nicht in dem Sinne schöpferisch, daß er echte Realisierungen idealer Wesenheiten bzw. idealer Begriffe1 in einem durch ihn intentional hervorgebrachten Gegenstand schaffen könnte. Wäre er in diesem Sinne schöpferisch, dann könnte er echte reale und eo ipso seinsautonome Gegenständlichkeiten schaffen. Aber dies ist ihm versagt. So kann er im Falle der Bildung eines Satzes nur Aktualisierungen von idealen Sinngehalten der Begriffe hervorbringen und zu einem neuen Ganzen (eben dem Sinngehalte des Satzes) gestalten, 1

25·

Diese lassen überhaupt keine echten Realisierungen zu. 387

und zwar Aktualisierungen, denen keine idealen Sinngehalte in der Seinsform der Realisierungen reell innewohnen, im echten Sinne immanent sind, wie das mit den Realisierungen idealer Wesenheiten in realen (und ipso facto seinsautonomen) Gegenständen der Fall ist. Und ebenso: Wird durch den Bewußtseinsakt ein rein intentionaler Gegenstand (z.B. ein „Ding") geschaffen, so vermag die in ihm enthaltene Intention keine e c h t e Realisierung irgendeiner idealen Wesenheit hervorzubringen. Das intentional geschaffene Ding „ist" — im strengen, seinsautonomen Sinne — z.B. nicht „rot". Damit es das sein könnte, müßte es eine echte Realisation der Wesenheit „Röte" in sich reell e n t h a l t e n . Gerade dieses reelle Enthaltensein, dieses Immanentsein der Realisation einer idealen Wesenheit in einer Gegenständlichkeit und andererseits auch diese Realisation selbst vermag der reine Bewußtseinsakt nicht hervorzubringen. Es bleibt immer nur bei dem früher beschriebenen vortäuschenden Quasi-Enthaltensein und bei der Quasi-Realisation, die einerseits auf das intentionale sie iubeo des Bewußtseinssubjektes, andererseits auf die entsprechende ideale Wesenheit zurückweist. In demselben Sinne weist auch jeder Satz — seinem Sinngehalte nach genommen — auf die satzbildende Operation eines Bewußtseinssubjektes zurück, aus welcher er intentional hervorgegangen ist, und andererseits auf die idealen Begriffe, deren Aktualisierungen (aber nicht Realisierungen) als Bestandteile seines einheitlichen Gesamtsinnes ihn statuieren. Sosehr aber der Satz bzw. Satzzusammenhang im Sinne der S e i n s a u t o n o m i e ein Nichts ist, so wenig er in der realen Welt als eine Realität zu finden ist, so läßt sich nicht leugnen, daß er überhaupt eine Existenz hat. Und es ist nicht widersinnig, seine seineheteronome Existenz anzunehmen, sondern widersinnig ist es, gerade umgekehrt von dem Sinngehalte des Satzes zu fordern, daß er real (evtl. psychisch) oder ideal wäre. Weder das eine noch das andere vermag er zu sein. Und wer nur seinsautonome reale oder ideale Gegenständlichkeiten anzunehmen geneigt ist, der muß konsequenterweise die Existenz von Sätzen (und, in der weiteren Konsequenz, von Satzzusammenhängen, Theorien, literarischen Werken) leugnen, darf sie aber jedenfalls nicht zu Realitäten bzw. Idealitäten machen. Er muß dann aber bedenken, daß er damit auch die Möglichkeit der Wissenschaft leugnet und damit auch seine eigene These aufhebt. Wer aber die seinsheteronome Existenz der Sätze zugibt, der muß auch alle ihre seinsautonomen Fundamente an388

nehmen und darf sich nicht auf die Annahme der reinen Bewußtseinsakte beschränken. Denn ebenso, wie ein Satz ohne eine satzbildende Operation nicht entstehen könnte, so könnte er auch ohne die idealen Begriffe nicht seinsheteronom existieren. Das fordert eben seine ihm eigene Seinsheteronomie einerseits und der Umstand, daß er ein Sinngebilde ist, andererseits. Die Annahme von idealen Begriffen, Wesenheiten und Ideen mag dem sog. „transzendentalen Idealismus" widersprechen, aber der transzendentale Idealismus ist selbst so lange unhaltbar, als ihm etwas widerspricht, dessen Annahme eine der Hauptentdeckungen und Hauptstützen des transzendentalen Idealismus, den reinen intentionalen Gegenstand, erst möglich macht. Denn ohne die idealen Wesenheiten und Ideen sind die rein intentionalen Gegenständlichkeiten im gleichen Sinne unmöglich wie die im echten Sinne genommenen realen Gegenständlichkeiten . Wie die Preisgabe der idealen Begriffe die Wortbedeutungen, Sätze und Satzzusammenhänge unmöglich macht, wie die Idealisierung der Bedeutungseinheiten verschiedener Stufe in gleichem Sinne widersinnig und den Wesenstatsachen widersprechend ist wie ihre Psychologisierung, so ermöglicht andererseits die Annahme der idealen Begriffe nicht bloß die Anerkennimg der seinsheteronomen Existenz der Sätze (und der von ihnen entworfenen, abgeleitet intentionalen Gegenständlichkeiten), sondern sie ermöglicht zugleich die Annahme der intersubjektiven Identität der Sätze für verschiedene Bewußtseinssubjekte. Nur im Hinblick auf die Sinngehalte der idealen Begriffe vermag der Leser eines literarischen Werkes den Sinngehalt eines Satzes, der dem letzteren durch den Autor gegeben wurde, auf identische Weise zü reaktualisieren. Gäbe es keine idealen Begriffe und weiterhiti auch keine idealen Qualitäten (Wesenheiten) und Ideen, so wären nicht bloß die Sätze bzw. die realen und intentionalen Gegenständlichkeiten unmöglich, sondern es wäre zugleich unmöglich, eine echte sprachliche Verständigung zwischen zwei Bewußtseinssubjekten, in welcher von beiden Seiten der identische Sinngehalt des Satzes erfaßt wird, zu erlangen. Es kommt oft zu MißVerständnissen zwischen zwei Sprechenden, und praktisch gelingt es oft nicht, daß beide identisch dieselben Sätze erfassen. Aber bei der Existenz der idealen Begriffe besteht wenigstens prinzipiell die Möglichkeit, daß ein jeder der Sprechenden durch den Rekurs auf entsprechende Gegenständlichkeiten und durch Erfassung wenigstens eines Teiles der Sinngehalte der ent389

sprechenden idealen Begriffe zur Bildung oder zur Nachbildung eines Satzes von identischem Sinngehalt (wie der Andere) und dadurch zum Verständnis des von dem Anderen ausgesprochenen Satzes gelangt. So glauben wir die Gefahr der Subjektivierung der literarischen Werke bzw. die Reduzierung dieser Werke auf Mannigfaltigkeiten von Konkretisationen beseitigt zu haben. Allerdings nur unter der Annahme der Existenz idealer Begriffe. Zum vollständigen Erweis der Richtigkeit unseres Standpunktes würde eine Theorie der idealen Begriffe und ihrer Aktualisierung in Wortbedeutungen gehören. Aber das erforderte eine neue umfangreiche Abhandlung. Wem also die Annahme idealer Begriffe gefährlich zu sein scheint, wer ihr gegenüber eine abwartende Stellung einzunehmen geneigt ist, dem können wir nur vorschlagen, in dieser Annahme eine Hypothese zu sehen, ohne welche weder das literarische Werk als eine allen seinen Konkretisationen gegenüber identische Gegenständlichkeit, noch das wissenschaftliche Werk und die intersubjektive Wissenschaft, noch endlich die mannigfaltigen Konkretisationen literarischer Werke sich annehmen lassen. Und nun noch die Ergänzung betreffs der Gestaltung und der Existenz der sprachlautlichen Schicht des literarischen Werkes. § 67. Die I d e n t i t ä t der s p r a c h l a u t l i c h e n S c h i c h t des l i t e r a r i s c h e n Werkes. Unsere früheren Analysen zeigten, eine wie große Rolle die sprachlautliche Schicht im literarischen Werke spielt. So ist es notwendig, nach der Sicherung der Identität der Schicht der Bedeutungseinheiten jetzt noch zu erwägen, ob und in welchen Grenzen die sprachlautlichen Gebilde des Werkes allen seinen Konkretisationen gegenüber identisch sind und sich bei der Lektüre als identische ausweisen können. Unsere frühere Unterscheidung zwischen dem konkreten Lautmaterial und dem „Wortlaut" als einer typischen lautlichen G e s t a l t wird uns dabei behilflich sein. Zu dem literarischen Werke selbst gehören — wie wir gleich am Anfang unserer Analysen behaupteten — nur die sprachlautlichen G e s t a l t e n niederer und höherer Stufe. In dieser Hinsicht ist an dem Gesagten nichts zu ändern. Es fragt sich nur, wie diese Gestalten als dem Werke zugehörig vermeint werden und wie sich ihre 390

Identität in den mannigfachen Konkretisationen des Werkes ausweist. Die Schwierigkeit, die hier besteht, liegt darin, daß es sich im allgemeinen nicht behaupten läßt, daß die Wortlaute — im Sinne solcher Gestalten genommen — ideale Wesenheiten sind, bzw. in ihnen ihr ontisches Fundament haben. Sie werden unzweifelhaft im Laufe der Entwicklung einer Sprache gebildet und dann relativ verfestigt, so daß sie innerhalb längerer Zeitperioden als dieselben im sprachlichen Verkehr auf der Unterlage des konkreten lautlichen Materials (und somit selbst konkretisiert) erfaßt bzw. vermeint werden. Dies betrifft in viel höherem Maße auch die verschiedenen sprachlautlichen Gebilde höherer Stufe, die — besonders in echten literarischen Kunstwerken — manchmal ganz einzigartig sein können und ihre Entstehung der schöpferischen Macht des Autors verdanken. Als in entsprechend geordneten Wortlauten fundiert, sind sie bei der Lektüre des Werkes ohne weiteres auf identische Weise erfaßbar, sobald nur die Wortlaute selbst, auf welche sie aufgebaut sind, identisch erfaßt werden. Wie steht es aber mit dem ontischen Fundament der Identität der Wortlaute und mit ihrer Ausweisung in den einzelnen Konkretisationen des Werkes ? Wir setzen voraus, daß der Autor eine Mannigfaltigkeit von Wortlauten in der lebendigen Sprache, in welcher er sein Werk verfaßt, vorfindet. Die Voraussetzung ist also, daß die intersubjektive Identität der Wortlaute in der lebendigen Sprache gesichert ist1. Durch entsprechende Auswahl und Anordnung dieser Wortlaute bei der Schaffung des Werkes werden sie durch den Autor dem Werke intentional einverleibt, was entweder durch den einfachen lauten Vortrag — wie es z.B. bei den Volksliedern geschieht — oder durch schriftliche F e s t l e g u n g zustande kommt, wobei wiederum eine intersubjektive festgelegte Beziehung zwischen dem typischen schriftlichen Wortzeichen und dem entsprechenden Wortlaute vorausgesetzt werden muß. Indem der Autor (evtl. ganz neu geschaffene) sprachlautliche Gebilde (von den Wortlauten angefangen) faktisch verwendet, bestimmt er durch eine festsetzende Intention, daß gerade diese und keine anderen sprachlautlichen Gebilde zu dem betreffenden Werke gehören sollen. Diese Intention macht sie eben zu einem intentionalen Bestandteile des literarischen Werkes genau so wie die anderen Elemente des Werkes. Sie macht 1 Wie das möglich ist, das ist eins der wichtigsten Probleme der Sprachphilo· sophie, das wir hier nicht erörtern können.

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sie zugleich zu den äußeren Trägern der in Einheit mit ihnen aktualisierten Wortbedeutungen. Das Werk ist damit als intentionales Gebilde fertig. Aber jetzt soll es — samt seiner s p r a c h l a u t l i chen Schicht — als identisch dasselbe fortdauern. Das ist dadurch möglich, daß es zu jedem gegenständlich Seienden Ideen gibt. Die Wortlaute, die faktisch ausgesprochen werden, sind solch gegenständlich Seiendes, in dem die typischen Gestalten zur echten Konkretion gelangen. Die Intention, die die Wortlaute im Sinne der typischen Gestalten zu Bestandteilen des literarischen Werkes macht, bewirkt zugleich eine intentionale Konkretisation der Gehalte der entsprechenden Ideen von konkret ausgesprochenen Wortlauten; diese Konkretisation ist von den Ideen selbst verschieden und nur seinsheteronom, aber sie hat in ihnen ihr ontisches Fundament, das die Identität der Wortlaute, die zu dem betreffenden Werke gehören, allen seinen Konkretisationen gegenüber ontisch begründet. Damit wäre eine unserer Schwierigkeiten beseitigt. Eine andere Frage ist aber, wie die in ihrer Identität ontisch begründeten Wortlaute sich als intersubjektiv identische ausweisen, wenn sie von verschiedenen Subjekten gelesen werden. Die Worte, die faktisch ausgesprochen werden, sind von vornherein als intersubjektiv identische Gebilde geschaffen, solange die entsprechende sprachliche Gemeinschaft existiert. Es ist nur sozusagen ein Signal für die Leser nötig, daß es sich im gegebenen Falle gerade um diese und keine anderen Worte handle. Diese Signale — die, wie gesagt, t y p i s c h gestaltet werden müssen — sind die Schriftzeichen. Diese typischen Schriftzeichen müssen aber in irgendwelchem individuellen, z.B. visuell erfaßbaren Material fundiert werden. Mit anderen Worten: Das literarische Werk, wenn es nicht bloß „mündlich" weitergegeben werden und bei dieser rein mündlichen Übermittlung nicht umfangreichen Änderungen unterliegen soll, muß niedergeschrieben werden. Es müssen in irgendeinem realen, f e s t e n , verhältnismäßig wenig wandelbaren Material die „Schriftzeichen" als Signale der Verwendung entsprechender Wortlaute f e s t g e l e g t werden1. Und dieses entsprechend gestaltete reale Material macht neben den subjektiven Operationen, idealen Begriffen, Wesenheiten 1 Phonographisch läßt sich heute das literarische Werk ohne „Schriftzeichen", ohne solche „Signale" also, durch Verfertigung einer phonographischen Platte festlegen. Aber dies macht für uns keinen wesentlichen Unterschied aus. Auch in diesem Falle existiert ein realer Gegenstand, die Platte, in welchem das literarische Werk sein mittelbares ontisches Fundament findet.

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und Ideen das dritte, wenn auch mittelbare, ontische Fundament des literarischen Werkes aus. Dieses Fundament ist natürlich für die seinsheteronome Existenz des Werkes nicht ausreichend; die beiden anderen Seinsfundamente müssen nicht nur auch vorhanden sein, sondern sie sind für seine Existenz wesentlicher, und zwar des wegen, weil die Beziehung der durch sie fundierten Gegenständlichkeiten, der Sätze, zu dem literarischen Werke eine ganz andere ist als die Beziehung, welche zwischen den typischen Schriftzeichen bzw. dem konkreten schriftlichen Material und dem Werke besteht. Während die Sätze echte B e s t a n d t e i l e des literarischen Werkes sind, bilden sowohl das reale schriftliche Material wie die in ihm fundierten typischen Schriftzeichen kein Element des literarischen Werkes. Sie sind lediglich ein — wie wir sagten — r e g u l a t i v e s S i g n a l für den Leser, welches diesen informiert, welche Wortlaute er gerade konkretisieren soll, in wirklicher Ausführung (wie bei einem lauten Vortrag) oder nur in phantasiemäßiger Rekonstruktion (wie beim stummen Lesen). Damit weist es sozusagen dem Leser den Weg zur Erfassung des Werkes in seiner sprachlautlichen Schicht. Wir können also auch in ihm, obwohl es sowohl dem Werke selbst als auch dessen Konkretisationen gegenüber transzendent ist und nur in einer relativ festen Beziehung zu den Wortlauten steht,, ein m i t t e l b a r e s ontisches Fundament des Werkes sehen, das die Erfassung der i d e n t i s c h e n sprachlautlichen Gebilde ermöglicht. Freilich wird diese Erfassung durch die schriftliche Niederlegung des Werkes nur so lange gesichert, als „dieselben" Zeichen mit denselben Wortlauten „verbunden" werden, was natürlich nicht immer zu geschehen braucht, weil diese Verbindung rein zufällig und auf subjektive Verbindungsakte relativ ist. Tritt eine Wandlung der „Aussprache" „desselben" Wortes ein, d.h. ändert sich aus irgendwelchen Gründen der Wortlaut „des" Wortes, dann wird er gewöhnlich noch mit demselben Schriftzeichen verbunden. Das Werk wird gelesen und verstanden, aber seine sprachlautliche Schicht, und somit mindestens einige der Elemente des Werkes, die von der sprachlautlichen Schicht konstitutiv abhängig sind, unterliegt verschiedenen Modifikationen. Zunächst finden diese Modifikationen sozusagen nur innerhalb der Konkretisationen des Werkes statt: Das Werk wird in sprachlautlicher Hinsicht zwar schief erfaßt, es besteht aber noch die Möglichkeit seiner adäquaten Erfassung durch Rekurs auf die Weise, wie die betreffenden Worte ausgesprochen werden „sollen". Wenn aber bei den Lesern das Bewußtsein schwin393

det, daß die durch sie verwendete „Aussprache" nur eine individuelle Eigentümlichkeit ist, die der „Aussprache" des Autors bzw. den Wortlauten seines Werkes nicht entspricht, dann kommt es zu einem Fall dessen, was wir früher die „Verabsolutierung" der Konkretisation des Werkes nannten : Die Leser lesen das Werk hinsichtlich seiner sprachlautlichen Schicht auf die Weise, daß sie die von ihnen verwendeten Wortlaute als zu dem Werke selbst gehörig intentional vermeinen und dadurch das Werk selbst in dieser Hinsicht u m g e s t a l t e n . Und wenn dann u.U. sich auch auf mittelbarem Wege — etwa durch sprachhistorische Forschung — nicht ermitteln läßt, wie die „eigentliche Aussprache" der entsprechenden Worte sein soll (wie z.B. im Falle „toter Sprachen"), dann erleidet das betreffende literarische Werk eine dauernde Umwandlung, welche in Anbetracht der früher gezeigten großen Rolle der sprachlautlichen Schicht im literarischen Werke sehr durchgreifend sein und die polyphonische Harmonie der Wertqualitäten des Werkes in hohem Maße tangieren kann. Und obwohl dann das Werk als ganzes Gebilde noch dasselbe bleibt, so ist doch die Identität seiner sprachlautlichen Schicht nicht in dem Maße durch seine ontischen Fundamente gesichert, wie dies in bezug auf die Schicht der Bedeutungeeinheiten durch den Rekurs auf die idealen Begriffe der Fall ist. Aber auch in der letzteren Hinsicht kann das Werk Verwandlungen unterliegen, wie wir schon früher hervorgehoben haben. Es kann nämlich u.U. unmöglich sein, auf die entsprechenden idealen Begriffe zu rekurrieren, und die Verabsolutierung der einzelnen Konkretisationen des Werkes durch den Leser bewirkt es, daß manche Wortbedeutungen als Aktualisierungen anderer idealer Begriffe dem Werke einverleibt werden, als dies in dem ursprünglichen Zustand des Werkes der Fall war. So schwer es aber sein mag, im einzelnen Falle nachzuweisen, wie weit diese Abwandlungen gehen dürfen, wenn das Werk trotz der in ihm dadurch hervorgebrachten Änderungen noch identisch dasselbe bleiben soll, so ist jedenfalls klar, daß die Fundierung der Schicht der Bedeutungseinheiten in den idealen Begriffen sowohl das Werk ontisch vor der Subjektivierung bewahrt, als auch seine Rückverwandlung in seine ursprüngliche Gestalt wenigstens im Prinzip möglich macht. Dies wird wohl genügen, um zu zeigen, daß das literarische Werk trotz der unleugbaren Tatsache seines „Lebens" nicht psychologisiert werden darf.

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15. Kapitel. Abschließende Betrachtung des literarischen Kunstwerkes. § 68. Das literarische K u n s t w e r k und seine p o l y p h o n e Harmonie ä s t h e t i s c h e r W e r t q u a l i t ä t e n . Zum Schluß bleibt uns noch eine Frage zu erledigen, die sich auf das literarische Kunstwerk bezieht. Wir haben im Laufe unserer Untersuchungen öfters auf die Wertqualitäten hingewiesen, die sich in den einzelnen Schichten des literarischen Werkes konstituieren und in ihrer Gesamtheit zu einer polyphonen Harmonie führen. Die polyphone Harmonie ist eben die „Seite" des literarischen Werkes, die nebst den in ihm zur Offenbarung gelangenden metaphysischen Qualitäten das Werk zu einem Kunstwerk macht. Im Zusammenhang damit kann die Frage aufgeworfen werden, ob nicht bloß diese polyphone Harmonie der Wertqualitäten das literarische Kunstwerk bildet, so daß die ganze von uns aufgewiesene Schichtenstruktur mit ihren Einzelheiten nur im Sinne eines fundierenden Gegenstandes aufzufassen wäre, der die Etablierung des literarischen Kunstwerkes ermöglichte, aber in keinem Sinne zu dem letzteren gehörte. Die unmittelbare Konsequenz der Bejahung dieser Frage wäre daß diese polyphone Harmonie nicht bloß eine eigene, sozusagen das ganze literarische Werk quer durchschneidende S c h i c h t wäre, sondern daß sie einen e i g e n e n Gegenstand bildete, mit dem wir allein in der ästhetischen Einstellung verkehren würden und welcher uns den komplizierten Schichtenaufbau des ihn nur fundierenden literarischen Werkes sowie dieses letztere selbst ganz verdeckte. Dann müßten wir unsere Analysen aufs neue beginnen, um das Wesen des so gestalteten literarischen Kunstwerkes herauszustellen. Unsere bisherige Arbeit wäre dann als eine vielleicht nützliche, aber doch das eigentliche Problem nicht anschneidende Vorbereitung aufzufassen. Es scheint uns, daß diese Ansicht falsch ist. Eine schlichte Analyse dessen, was uns im Verkehr mit einem literarischen Kunstwerk vorliegt, überzeugt uns davon. Gewiß, gäbe es in den einzelnen Schichten des literarischen Werkes keine ästhetischen Wertqualitäten, so daß sich keine polyphone Harmonie daraus konstituieren könnte, so wäre das Gebilde, dessen Anatomie wir hier zu geben suchen, kein Kunstwerk mehr. Aber das besagt noch nicht, daß die 395

polyphone Harmonie von ästhetischen Wertqualitäten s e l b s t schon das K u n s t w e r k ist. Sie ist nur das, was das literarische Werk zu einem Kunstwerk macht (falls es zugleich in dem Werke zur Offenbarung der metaphysischen Qualitäten kommt), was aber mit anderen Elementen des Werkes zu inniger Einheit verwachsen ist. Sie ist etwas, was sich sowohl aus den Qualifizierungen bzw. aus den Gehalten der einzelnen Schichten wie auch aus dem innigen Zusammenhang der Schichten ergibt und was als etwas an dem ganzen Werke Haftendes erschaubar ist. Oder genauer gesprochen : Sowohl die einzelnen Schichten wie auch das aus ihnen bestehende Ganze zeigt sich uns — natürlich bei entsprechender Einstellung des Lesers — in mannigfachen ästhetischen Wertqualitäten, die, zusammenklingend, von selbst die polyphone Harmonie ergeben. Die Tatsache aber, daß sich das literarische Kunstwerk in diesen Wertqualitäten zeigt, bringt noch keine seiner Schichten zum Verschwinden aus dem Blickfelde des Lesers. Gerade umgekehrt : Das, was dem Leser thematisch gegeben ist, was seine Aufmerksamkeit in erster Linie fesselt, das ist — wie schon früher festgestellt — die Schicht der dargestellten Gegenstände, während die anderen Schichten schon mehr peripherisch mitgegeben sind. Dagegen bilden die ästhetischen Wertqualitäten eher so etwas wie einen lichtvollen Schimmer, der die dargestellten Gegenständlichkeiten umstrahlt und der zugleich, von uns im ästhetischen Genießen erlebt, uns mit einer besonderen Atmosphäre umhüllt, uns stimmungsmäßig einwiegt oder packt und hinreißt. Den Ausgangspunkt zu diesem subjektiven Mitschwingen, welches das subjektive Korrelat der erlebten wertqualitativen Polyphonie ist, bildet aber immer die Gegebenheit irgendeiner, aber vorwiegend der gegenständlichen Schicht des literarischen Kunstwerks. Endlich lassen sich die ästhetischen Wertqualitäten von ihrer konstitutiven Grundlage : von den entsprechenden Elementen der einzelnen Schichten, weder ontisch noch rein phänomenal losreißen. Zu ihrem Wesen gehört es, daß sie seinsunselbständige Charaktere von Etwas sind, das sie trägt. Und zwar sind sie sozusagen doppelt unselbständig, weil sie sich nicht in einem verborgenen Wesen von etwas oder als direkte Eigenschaften eines gegenständlichen Trägers konstituieren, sondern Charaktere sind, welche in den anschaulich gegebenen Eigens c h a f t e n einer Gegenständlichkeit ihr konstitutives Fundament haben. Sie lassen sich auch, wie gesagt, nicht phänomenal von dieser ihrer konstitutiven Unterlage abtrennen. Immer muß eine be396

stimmte Kombination von gegenständlichen Eigenschaften oder ansichtsmäßigen Elementen gegeben bzw. erlebt sein, damit sie sich in der früher angedeuteten Weise anschaulich etablieren können. So bildet die wertqualitative Polyphonie ein mit allen Schichten des Werkes innerlich zusammenhängendes Ganzes, und dieses Ganze ist es eben, womit wir im ästhetischen Erschauen und Genießen verkehren. Dieses Ganze also ist der ästhetische Gegenstand : das literarische Kunstwerk. Natürlich sind, wie jeder Gegenständlichkeit überhaupt, so auch dem literarischen Kunstwerk gegenüber verschiedenartige subjektive Einstellungen möglich. So kann man z.B. ein bestimmtes literarisches Kunstwerk so lesen, daß man vollkommen außerästhetisch eingestellt ist: wenn man z.B. ein Werk als Psychiater liest, der auf Grund des Werkes die psychische Krankheit des Autors bestimmen will. Bei einer solchen Einstellung läßt man die ästhetischen Wertqualitäten nicht bloß außer acht, sondern man unterdrückt sogar ihre Etablierung im unwillkürlich sich regenden ästhetischen Genießen. Haben wir es aber mit einem echten und großen Kunstwerke zu tun, so werden wir immer bereits durch die thematische Erfassung der gegenständlichen Schicht des Werkes in die ästhetische Einstellung gedrängt, und wir müssen, falls es uns darauf aus irgendwelchen Gründen ankommt, uns immer wieder in die außerästhetische Einstellung, z.B. in die rein erkenntnismäßige, gewaltsam hineinversetzen. Die Tatsache, daß wir uns in diesen Fällen für die ästhetischen Wertqualitäten des Kunstwerkes blind machen, beweist aber nur, daß wir ihm nicht gerecht werden, daß wir, statt das ganze Kunstwerk auf uns wirken zu lassen, lediglich einen Teil aus ihm herausgreifen, der in ihm eine ästhetisch untergeordnete Bolle spielt; sie beweist aber nicht, daß wir dadurch von dem literarischen Kunstwerke zu einer anderen Gegenständlichkeit, die es nur „fundierte", übergehen. Die mannigfaltigen ästhetischen Wertqualitäten konstituieren sich — wie aus unseren Analysen hervorgeht — in verschiedenen Schichten des literarischen Kunstwerkes; und eben aus diesem Grunde gibt es eine weitgehende Verschiedenheit unter ihnen, die es ihnen erst ermöglicht, eine polyphone Harmonie zu bilden. Man kann natürlich zum Zwecke der Analyse diese Qualitäten von den übrigen Elementen und Momenten des Werkes intentional abscheiden und — wenn man das will — von einer besonderen Schicht des Werkes sprechen. Man darf aber nicht vergessen, daß gerade 397

die Verschiedenheit der ästhetischen Wertqualitäten es ihnen nicht erlaubt, sich zu einer derartig zusammengewachsenen Sphäre von homogenen Elementen zu vereinigen, wie es im Falle der von uns herausgestellten Schichten des Werkes statt hat. Natürlich vereinigen sie sich zu einer Harmonie, aber so richtig es ist, daß diese Harmonie ihre eigenen, vollkommen neuen, „abgeleiteten" Gestaltqualitäten hat, ist sie doch eine p o l y p h o n e Harmonie, ein ästhetischer Ausdruck — wenn man uns hier das Wort erlaubt — der Schichtenstruktur des literarischen Werkes. Diese Polyphonie zeigt uns zugleich am besten daß der ontische Grund der einzelnen „Stimmen" dieser Harmonie in den einzelnen Schichten des literarischen Kunstwerkes liegt. Andererseits bildet die Harmonie der ästhetischen Wertqualitäten ein neues Einigungsband, das die einzelnen Schichten des Werkes, welche schon ihrem eigenen Wesen nach innig miteinander verwachsen sind, noch inniger miteinander verbindet und die Einheitlichkeit des literarischen Kunstwerkes, trotz der ihm eigentümlichen Heterogenität seiner Elemente, aufs neue offenbart. So ist der mögliche Einwand gegen unsere Auffassung des literarischen Kunstwerkes beseitigt. Und trotzdem muß ihm ein gewisses Recht zuerkannt werden, wenn man ihn in eine etwas andere Richtung wendet. Damit wird auch die Gefahr eines möglichen Fehlers bzw. Mißverständnisses beseitigt, der auf Grund unserer bisherigen Betrachtungen entstehen könnte. Wir haben oben zwischen dem rein literarischen Werke, wie es an sich und unabhängig von seinen Konkretisationen existiert, und diesen Konkretisationen geschieden. Nun ist nicht zu vergessen, daß das literarische Werk in dieser Isolierung betrachtet ein s c h e m a t i sches Gebilde ist, in welchem zudem verschiedene Elemente in einer eigentümlichen P o t e n t i a l i t ä t verharren. Diese beiden Umstände haben zur Folge, daß mindestens manche, wenn nicht alle, ästhetischen Wertqualitäten und die metaphysischen Qualitäten in dem Werke selbst n i c h t zur v o l l e n E n t f a l t u n g gelangen, sondern in dem l a t e n t e n Zustand der „Vorbestimmung" und „ P a r a t h a l t u n g " bleiben. Erst wenn das literarische Kunstwerk in einer Konkretisation zur a d ä q u a t e n Ausprägung gelangt, kommt es — im idealen Falle — zur v o l l e n E t a b l i e rung, zum a n s c h a u l i c h e n Sichzeigen aller dieser Qualitäten. Man kann sagen, daß es zum Wesen aller dieser Qualitäten gehört, erst in der Konkretisation und für die metaphysischen Qua398

litäten erst in der Realisation im echten Sinne zu sein1. So folgt : Den ä s t h e t i s c h e n Gegenstand in echtem Sinne bildet das literarische Kunstwerk erst dann, wenn es in einer K o n k r e t i s a tion zur Ausprägung gelangt. In der Isolierung genommen, außerhalb seiner Konkretisationen, ist es nur ein „Kunstwerk" in dem Sinne, wie es W. D o h m in seinem Buche: „Die künstlerische Darstellung als Problem der Ästhetik" bestimmt. Aber nicht die Konkretisation selbst ist der ästhetische Gegenstand, sondern das literarische Kunstwerk genau so genommen, wie es sich in der Konkretisation ausprägt, wie es in ihr volle Leibhaftigkeit erlangt.

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So sind wir am Schluß unserer Betrachtung angelangt. Wir verhehlen uns nicht, daß wir trotz des großen Umfanges unserer Analysen bloß die Hauptzüge, die Grundstruktur des literarischen Werkes gezeigt haben. In den verschiedensten Richtungen sind weitere Forschungen und Ergänzungen erforderlich. Unsere Mühe wird reichlich belohnt, wenn unsere Leser die Resultate dieses Buches zum Ausgangspunkt weiterer Forschungen nehmen können und wenn es ihnen gelingt, die Untersuchung nicht nur weiterzuführen, sondern auch die etwaigen von uns begangenen Fehler durch bessere Einsichten zu ersetzen. Denn nach den Jahren, die wir an der Bearbeitung dieses Buches verbracht haben, wissen wir heute besser als am Anfange unserer Untersuchung, wie unendlich schwer es ist, das literarische Werk in seinem eigentümlichen Wesen getreu zu erfassen. Das literarische Werk ist ein wahres Wunder. Es existiert und lebt und wirkt auf uns, es bereichert unser Leben außerordentlich, es gibt uns Stunden des Entzückens und des Hinuntersteigens in die abgründigen Tiefen des Seins, und doch ist es nur ein seinsheteronomes Gebilde, das im Sinne der Seinsautonomie wie ein Nichts ist. Wollen wir es theoretisch erfassen, so zeigt es uns eine Kompliziertheit und Vielseitigkeit, die kaum zu übersehen ist, und doch steht es vor uns im ästhetischen Erlebnis als eine Einheit,

1 Das scheint zunächst eine Trivialität zu sein. Aber nicht für alle Gegenständlichkeiten gilt es, z.B. nicht für die idealen Begriffe und für ihre Aktualisationen im Satze, aber auch nicht für die idealen Gegenstände und Ideen.

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die diesen komplizierten Aufbau nur durchschimmern läßt. Es hat ein seinsheteronomes Sein, das vollkommen passiv zu sein scheint und das alle unsere Operationen an ihm wehrlos erduldet, und doch ruft es durch seine Konkretisationen tiefe Verwandlungen in unserem Leben hervor, weitet dieses Leben und erhebt es über die Niederungen des täglichen Seins, gibt ihm einen göttlichen Glanz, — ein „Nichts" und doch eine wunderbare Welt für sich, wenn es auch nur aus unseren Gnaden entsteht und ist.

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ANHANG

VON DEN FUNKTIONEN DER SPRACHE IM THEATERSCHAUSPIEL1 I. § 1. In meinem Buche, ,Das literarische Kunstwerk' ' habe ich mich zweimal mit dem Theaterschauspiel beschäftigt. Einmal im § 30, wo ich den Haupttext von dem Nebentext des Werkes unterschied, und im § 57, in welchem ich das Theaterschauspiel als einen Grenzfall des literarischen Kunstwerks behandelt habe. Den Haupttext des Theaterstückes bilden die von den dargestellten Personen ausgesprochenen Worte, den Nebentext dagegen die vom Verfasser gegebenen Informationen für die Spielleitung. Bei der Aufführung des Werkes auf der Bühne fallen sie überhaupt fort und werden nur beim Lesen des Theaterstücks wirklich gelesen und üben ihre Darstellungsfunktion aus. Einen Grenzfall des literarischen Kunstwerks aber bildet das Theaterschauspiel insofern, als in ihm, neben der Sprache, ein anderes Darstellungsmittel vorhanden ist — nämlich die von den Schauspielern und den „Dekorationen" gelieferten und konkretisierten visuellen Ansichten, in denen die dargestellten Dinge und Personen sowie ihre Handlungen zur Erscheinung gebracht werden. Im Rahmen des erwähnten Buches gab es aber keinen Raum, die verschiedenen und zum Teil sehr komplizierten Funktionen der Sprachgebilde, die den Haupttext bilden, genauer zu besprechen. Auch in den 30 Jahren, die seit dem Erscheinen meines Buches verflossen sind, haben, soviel ich weiß, weder die Sprachforscher — wie z.B. K. Bühler — noch die Philosophen, wie z.B. Nicolai Hartmann, sich mit diesem Thema näher beschäftigt. Auch die Literaturwissenschaftler — wie z.B. R. Petsch2 — haben die Probleme, die da vorhegen, kaum gesehen. Es scheint also notwendig zu sein, auf die verschiedenen Funktionen und Abwandlungen der Sprache (genauer der gesprochenen Sprachgebilde) im Theaterschauspiel wenigstens skizzenhaft hinzuweisen3. 1 Dieser Anhang erschien auch als Aufsatz in, ,Zagadnieniarodzajówliterackich" (Probleme der literarischen Gattungen), Lòdi 1958, Bd. I. ' Vgl. R. P e t s c h , „Wesen und Formen des Drama«", Halle 1945. * In Polen sind in den letzten Jahren zwei Arbeiten erschienen, die sich mit verwandten Problemen beschäftigen, und zwar: S. Skwarczyftska, „Orozwoju tworzywa slownego i jego form podawczych w dramacie (Von der Entwicklung des Worts toffee und eeiner Vortrageformen im Drama)", 1951, und I. Slawiñska, „Problematyka badan nad jçzykiem dramatu (Die Problematik einer Untersuchung der Sprache im Drama)", „Roczniki Humanistyczne", t. IV, Lublin 1953—1955. Diese beiden Arbeiten enthalten manches beachtenswerte Ergebnis.

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Es wird von Nutzen sein, zunächst daran zu erinnern, daß jedes literarische Werk ein zweidimensionales Sprachgebilde ist. Einerseits sind in ihm vier verschiedene, obwohl miteinander streng verbundene Schichten: der Wortlaute und sprachlautlichen Gebilde und Erscheinungen höherer Ordnung, der Satzsinne und höherer Bedeutungseinheiten, der schematisierten Ansichten und endlich der dargestellten Gegenständlichkeiten vorhanden. Andererseits aber ist die Aufeinanderfolge der Teile (Kapitel, Szenen, Akte) und eine spezifische quasi-zeitliche Struktur des Werkes von seinem Anfang an bis ans Ende zu unterscheiden. Wird ein Theaterstück wirklich auf der Bühne aufgeführt, so konstituiert sich ein Theaterschauspiel, in dem die dargestellten Personen und Dinge, sowie die von den ersteren vollzogenen Handlungen, wenigstens in manchen ihrer Züge, in visuellen Ansichten zur Erscheinung gebracht werden. Die den ,.Haupttext" bildenden Worte bzw. Sätze dagegen werden dem Zuhörer von den dargestellten Personen in ihrer konkreten l a u t lichen Gestalt g e z e i g t , indem sie von den Schauspielern wirklich ausgesprochen werden. Die Grundtatsache, welche die ganze Problematik der Sprache im Theaterschauspiel eröffnet, liegt darin, daß der gesamte Haupttext ein E l e m e n t der im Theaterschauspiel d a r g e s t e l l t e n Welt ist und insbesondere, daß das Aussprechen der einzelnen Worte bzw. Sätze einen in der d a r g e s t e l l t e n Welt sich v o l l z i e h e n d e n Vorgang, und insbesondere einen Teil des Verhaltens der dargestellten Person bildet, daß sich aber die Rolle der vorgebrachten Reden im aufgeführten Schauspiel darin gar nicht erschöpft. Denn sie besteht zugleich in der Ausübung der s p r a c h l i c h e n Darstellungsfunktion — die sich noch auf verschiedene Weise verzweigt — und muß darin mit den übrigen im Theaterschauspiel tätigen Darstellungsmitteln — den durch die Schauspieler1 gelieferten konkreten Ansichten — im engen Zusammenhang stehen. § 2. Bevor wir aber auf die einzelnen Funktionen der Sprachgebilde im Theaterschauspiel näher eingehen, müssen wir uns vor allem die Zusammensetzung der in diesem Schauspiel dargestellten

1 Nicht zu vergessenist, daß die realen Schauspieler (Menschen und „Requisite") keinen Bestandteil des Theaterschauspiels bilden. Sie sind lediglich die psychophyeischen S e i n s f u n d a m e n t e des in der Ausführung sich befindenden Schauspiels, dessen Bestandteile erst die in ihm dargestellten Personen sind: dramatis persona«.

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Welt aus verschiedenen Faktoren zum Bewußtsein bringen. Sie zerfällt nämlich in drei verschiedene Gebiete, die hinsichtlich ihrer Seinsweise und Beschaffenheit nur gewissermaßen gleichartige Bestandteile einer und derselben Welt sind, die aber mit Rücksicht auf ihren Darstellungsgrund bzw. ihre Mittel zu unterscheiden sind. Und zwar sind es : 1) Gegenständlichkeiten (Dinge, Menschen, Vorgänge), die dem Zuschauer durch das Spiel der Schauspieler bzw. der Dekorationen a u s s c h l i e ß l i c h auf wahrnehmungsmäßige1 Weise gezeigt, präsentiert werden ; 2) Gegenständlichkeiten, die sozusagen auf d o p p e l t e m Wege zur Darstellung gelangen, erstens in wahrnehmungsmäßiger Erscheinungsweise (auf gleiche Weise wie die unter 1) angegebenen Gegenständlichkeiten), zweitens aber durch sprachliche Darstellungsweise, indem von ihnen auf der Bühne die Rede ist. Die sprachliche Darstellungsweise bildet hier eine Ergänzung der erscheinungsmäßigen, besonders was die psychischen Zuständigkeiten der dargestellten Personen betrifft. Es muß somit eine Zusammenstimmung zwischen diesen beiden Darstellungsweisen herrschen, damit keine widersprechenden Gegenständlichkeiten entstehen, obwohl natürlich in literarischen Kunstwerken verschiedene „dichterische Freiheiten" zugelassen sind. 3) Gegenständlichkeiten, die a u s s c h l i e ß l i c h mit sprachlichen Mitteln zur Darstellung gelangen, die also „auf der Bühne" 2 nicht gezeigt werden, obwohl von ihnen im Haupttext die Rede ist. Zunächst scheinen sie hinsichtlich ihrer Darstellungsweise mit denjenigen Gegenständlichkeiten, von denen im rein literarischen Werke die Rede ist, völlig auf gleicher Stufe zu stehen. Genauer besehen ist aber die Weise ihres Auftretens insofern eine etwas andere, als mindestens einige von ihnen in verschiedenen Beziehungen zu den auf der Bühne gezeigten Gegenständlichkeiten stehen (sie gehören dann zu der weiteren Umwelt der letzteren) und erlangen dadurch einen mehr suggestiven Realitätscharakter, als ihn die in rein literarischen Werken dargestellten Gegenstände haben. Soll die Einheitlichkeit der dargestellten Welt auch in diesem Falle erhalten 1 Das Wort ,,wahrnehmungsmäßig" ist hier nicht ohne einen wesentlichen Vorbehalt zu benutzen und ist nur als eine bequeme Abkürzung zu verstehen. Ich habe aber hier keinen Platz, die diesbezüglichen Sachlagen näher zu umschreiben. * Ich setze hier das Anführungszeichen, da es eich streng genommen um den vermittels der Bühne d a r g e s t e l l t e n Baum handelt. Die Wendung „auf der Bühne" ist aber kürzer und bequemer.

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können alle im Verhältnis zu den in dem „gegenwärtigen" Moment gezeigten Gegenständen „vergangenen" Gegenstände bilden (also z.B. vergangene Ereignisse, Vorgänge, aber auch Dinge und Menschen, die „einst" existierten). Unter ihnen kann wiederum eine besondere Gruppe „vergangener" Gegenstände abgegrenzt werden bleiben, so muß auch die sprachliche Darstellungsweise der auf der Bühne abwesenden Gegenständlichkeit mit den erscheinungsmäßig gegebenen entsprechend zusammenstimmen. Einen besonderen Fall der hier erwogenen Gruppe der dargestellten Gegenstände (die aber zugleich auch zu den unter 2) genannten Gegenständlichkeiten gerechnet werden könnten), und zwar diejenigen, die zu der Vergangenheit der auf der Bühne „jetzt" erscheinenden Gegenstände gehören und mit ihnen doch i d e n t i s c h sind. Wenn wir ζ. B. im „Rosmersholm" Ibsens die „gegenwärtigen" Schicksale Rosmers und der Rebeka West verfolgen und dabei von der Vergangenheit dieser beiden Menschen immer wieder etwas Neues erfahren, so spüren wir, wie sie sich immer mehr in ihre „jetzigen" Schicksale mischt und sogar über den jetzt sich abspielenden Ereignissen zu herrschen beginnt, bis sie endlich die tragische Entscheidung erzwingt. Bloß sprachlich dargestellt, erlangt diese Vergangenheit in dem tragischen Ende Rosmers und Rebekas fast dieselbe Selbstoffenbarung wie die unmittelbar „auf der Bühne" sich abspielende Entscheidung der letzteren, gemeinsam in den Tod zu gehen. Er selbst wird wiederum nur durch die Reden der beiden dargestellten Personen intentional bestimmt, so aber, daß er dem Zuschauer ebenso real und selbstgegenwärtig zu sein scheint wie die letzten Worte der in ihn gehenden Menschen. § 3. Mit den drei unterschiedenen Gruppen von dargestellten Gegenständlichkeiten stehen die verschiedenen Funktionen der „wirklich" gesprochenen Worte im Zusammenhang. Es sind zuerst diejenigen Funktionen generell aufzuzählen, die sich sozusagen „innerhalb" der dargestellten Welt vollziehen, wogegen diejenigen Funktionen, welche die „auf der Bühne" gesprochenen Worte auf das im Zuschauerraum versammelte Publikum ausüben, nachher behandelt werden. Vor allem kommt hier die Funktion der D a r s t e l l u n g 1 der in 1 Wie aus dem Folgenden ersichtlich, verwende ich hier die Unterscheidung zwischen der Darstellungs-, Ausdrucks-, Kommunikations- und der „Beeinflussungsfunktion" der Spraohgebilde (der Worte, Sätze, Satzzusammenhänge). Ein die Geschichte dieser Unterscheidung nicht genau kennender Leser wird hier wahr-

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den gesprochenen Worten durch ihre Bedeutung bzw. durch ihren Sinn intentional vermeinten Gegenständlichkeiten in Betracht. Je nach dem Typus des betreffenden Sprachgebildes, das gerade ausgesprochen wird, können es nominal entworfene Gegenstände (Dinge, Menschen, Vorgänge, Ereignisse) oder aber satzmäßig bestimmte Sachverhalte sein, die ihrerseits zur Darstellung der Dinge oder Menschen dienen. Diese Darstellungsart kann entweder rein „begrifflich", also — wie Husserl einst sagte — „signitiv" vollzogen werden oder aber so verlaufen, daß die vermeinten Gegenstände in wachgerufenen vorstellungsmäßigen Ansichten zur Darstellung gelangen1. Diese Funktion der Darstellung bildet zwar nur eine Ergänzung in der Konstituierung der im Theaterschauspiel dargestellten Welt, da die Hauptleistung der Darstellung hier durch die konkreten Aneichten der auf der Bühne (aber im bloß dargestellten Raum) gezeigten Gegenstände erreicht wird. Die bloß ergänzenden Elemente der dargestellten Welt können aber so wichtig sein, daß ohne sie das Theaterschauspiel nicht bloß u n v e r s t ä n d l i c h , sondern auch der für die dramatische Handlung w e s e n t l i c h s t e n scheinlich in enter Linie an K.. Bühler denken, dessen „Sprachtheorie" (1934) besonders unter den Linguisten, ziemlich starke Verbreitung gefunden hat. Tatsächlich greifen aber analoge Unterscheidungen mindestens auf K. Twardowski (, ,Zur Lehre von Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen' ',1894) zurück. Später hat E. Husserl in den „Logischen Untersuchungen" (1901) sich mit „Ausdruck" und „Kundgabe" — in späterer Terminologie: „Bedeutung" und „Ausdruck" — ausführlich beschäftigt, vorauf dann K. Bühler indem Artikel „Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes" (1920) drei Hauptarten des Satzes (Kundgabe-, Auslösungs- und Darstellungssätze) unterschieden hat. In meinem Buche, ,Das literarische Kunstwerk" habeich nicht bloß gegen manche Behauptungen Bühlers (und insbesondere gegen seinen Darstellungsbegriff) polemisiert, sondern auch den Begriff des „Ausdrucke" und den der „Darstellung" genauer untersucht. Im Jahre 1934 hat dann Β ü h 1 e r in seiner,, Sprachtheorie' ' die'drei Funktionen des Ausdrückens,des Darstellens und des Appelle geschieden. In der Abhandlung, ,Uber die Übersetzung' ' (1966) habe ich endlich an Stelle dieser drei f ü n f verschiedene Sprachfunktionen unterschieden, von denen ich hier die vier oben genannten verwende. 1 Im Zusammenhang damit muß man sich zum Bewußtsein bringen, daB die Ansichten, die zu einem Theaterschauspiel gehören, zweierlei Art sind: 1. diejenigen, die dem Zuschauer durch die auf der Bühne auftretenden Schauspieler in konkreter visueller Gestalt aufgeworfen werden und durch welche die dargestellten Personen und Dinge dem Zuschauer fast wahrnehmungsmäßig erscheinen, 2. diejenigen, welche durch die zu dem Haupttexte gehörenden Sprachgebilde paratgehalten werden und dem Zuschauer nur suggeriert werden. Der Zuschauer kann sie mehr oder weniger lebendig konkretisieren, aber nur in der Gestalt der vorstellungsmäßigen Anschaulichkeit. Da die durch Ansichten dieses zweiten Typus veranschaulichten Gegenstände mit den erscheinungsmäßig gezeigten in verschiedenen Seinszusammenhängen stehen, kann ihre Veranschaulichung einen Grad der Lebhaftigkeit erlangen, der in rein literarischen Werken nur selten vorkommt.

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Momente beraubt sein würde. Wie schwierig es ist, auf diese sprachliche Darstellungsweise bei einem dramatischen Schauspiel zu verzichten und trotzdem ein künstlerisch und rein sachlich volles Ganzes zu geben, zeigt die Pantomime bzw. der stumme Film. Nichtsdestoweniger ist die Rolle und der Anteil dieser sprachlichen Darstellung an der Konstituierung der dargestellten Welt in den einzelnen Theaterschauspielen noch sehr verschieden, und es wäre interessant, die einzelnen Werke (und Autoren) in dieser Hinsicht zu untersuchen, um den Typus der in ihnen angewandten Darstellungskunst genauer zu bestimmen. Die zweite wesentliche Funktion der gesprochenen Worte ist das A u s d r ü c k e n der Erlebnisse und der verschiedenen psychischen Zuständlichkeiten und Geschehnisse der gerade sprechenden Person. Dieses Ausdrücken, das durch die Manifestationsqualitäten1 des Tones der Rede vollzogen wird, fügt sich in die gesamte Ausdrucksfunktion, welche durch die Gebärde und das Mienenspiel der sprechenden Person ausgeübt wird, ein. Es ist im Grunde ein Bestandteil der gesamten Ausdrucksfunktion und somit ein Vorgang, der sich innerhalb der dargestellten Welt vollzieht, obwohl es zugleich zur Konstitution dieser Welt in einigen ihrer Bestandteile beiträgt. Insofern gibt es zwischen diesem sprachlichen Ausdrücken und den übrigen Ausdrucksfunktionen verschiedene Zusammenhänge, die je nach der Einheitlichkeit der dargestellten Welt mehr oder weniger innig sind. Die von den dargestellten Personen ausgesprochenen Worte und Sätze üben drittens die F u n k t i o n der K o m m u n i k a t i o n (der Mitteilung) aus. Und zwar wird das, was gerade durch die betreffende Person gesagt wird, der anderen Person mitgeteilt, an die diese Worte g e r i c h t e t sind'. Die lebendige Rede ist — sofern sie in ihrer natürlichen Verwendung gebraucht wird — immer an einen Anderen (an den Mitmenschen) gerichtet. Ausnahmen bilden die sog. „Monologe", deren Funktion in dieser Hinsicht noch zu untersuchen wäre, die aber im modernen Drama gerade deswegen auf ein Minimum beschränkt wurden, weil man sie als der Kommunikationsfunktion beraubt betrachtete. Im Gespräch zweier Menschen handelt es sich aber sehr selten um eine bloße Kommunikation ; es handelt sich um etwas viel Lebenswichtigeres, und zwar um eine B e e i n f l u s s u n g desjenigen, an den 1

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Vgl. „Das literarische Kunstwerk", § 13.

die Rede gerichtet ist. In allen „dramatischen" Konflikten, die sich im Theaterschauspiel in der dargestellten Welt entwickeln, ist die an jemanden gerichtete Rede eine Form der H a n d l u n g des Sprechenden und hat im Grunde nur dann eine wirkliche Bedeutung in den im Schauspiel gezeigten Geschehnissen, wenn sie wirklich die sich entwickelnde Handlung wesentlich vorwärtstreibt1. Welche Formen das gesprochene Wort als ein die Handlung fortbewegender Faktor hat, das soll später untersucht werden. Momentan handelt es sich nur darum : zu betonen, daß diese Funktion der Beeinflussung des Mitredners und der anderen in die Gesamthandlung des Werkes verwickelten Menschen eine der Hauptleistungen der Reden der dargestellten Personen ist. § 4. Die soeben angegebenen vier Funktionen der Rede im Theaterschauspiel bilden aber erst nur diejenigen Funktionen, die das gesprochene Wort für und innerhalb der dargestellten Welt ausübt. Dies sind indessen noch nicht alle Funktionen der gesprochenen Sprache im Theaterschauspiel. Denn es ist nicht zu vergessen, daß dieses Schauspiel eben einem Publikum vorgeführt wird und für dieses Publikum bestimmt ist und daß die von den dargestellten Personen gesprochenen Worte noch eine (übrigens noch verschiedenartige) Funktion diesem Publikum gegenüber zu vollziehen haben. Aber da eröffnet sich eine neue Perspektive der Betrachtung, die übrigens in der Literatur schon mehrmals behandelt wurde2. Ich beschränke mich hier nur auf die unentbehrlichsten Feststellungen. Das Theater — das ist nicht bloß die Bühne, sondern auch der Zuschauerraum und das ihn erfüllende Publikum. Die im Theaterschauspiel dargestellte und zur Erscheinung gebrachte Welt bildet 1 S. Skwarczyftaka unterscheidet u.a. die „dramatische Funktion" der Sprache im „Drama". Soviel ich verstehe, bildet diese Funktion einen Spezialfall davon, daß die im Schauspiel gesprochenen Worte eben ein Glied im dramatischen Geschehen bilden, daß also das Sprechen ein Vorgang in der dargestellten Welt ist. Erst von da aus ist verständlich, daß die ausgesprochenen Worte — wie S. Skwarczyrtska sagt — dieHandlung vorwärtstreiben. Außerdem unterscheidet S.Skwarczyñska die Funktion der „mittelbaren" und „unmittelbaren Charakterisierung" der im Schauspiel auftretenden Personen. Zum Teil handelt es sich da um das Ausdrücken, zum Teil aber um das Darstellen der Eigenschaften der Personen durch den Sinn der Rede, zum Teil endlich um Schlüsse, die der Zuschauer von charakteristischen Eigenschaften der Bede auf die Charaktereigenschaften der sprechenden Person zieht. 2 Mit diesem Aspekt der Theatervorstellung hat sich insbesondere Waldemar Conrad in einer Abhandlung in der „Zeitschrift für Ästhetik und allg. Kunstwissenschaft" (vgl. Bd. VI) beschäftigt.

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einen merkwürdigen intentionalen Überbau und eine Umdeutung dessen, was während der Aufführung auf der „Bühne" realiter geschieht. Die reale Bühne ist natürlich während der „Vorstellung" (während der einzelnen „Akte") immer für das im Zuschauerraum sich befindende Publikum „offen" (der Vorhang geht „hinauf"). Aber der „auf der Bühne" dargestellte (gewissermaßen fiktive) Raum, in welchem sich die im Schauspiel dargestellte Handlung entwickelt, sowie die Vorgänge und Ereignisse, die sich während dieser Handlung abspielen, können auf doppelte Weise behandelt und gestaltet werden. Entweder so, als ob dies alles in einer für das Publikum „offenen" Welt geschähe, oder aber so, als ob es sich eben in einer für das Publikum „geschlossenen" Welt abspielte. Im ersten Falle können noch zwei verschiedene Abwandlungen der Gestalt der dargestellten Welt und der Weise, wie sie dem Publikum gezeigt wird (d.h. wie die Schauspieler spielen und wie man die Dekorationen konstruiert), unterschieden werden. Und zwar mit Rücksicht darauf, ob das „Offensein" der Bühne (bzw. des dargestellten Raumes) für das. Publikum als für eine Menge von bloßen „Zuschauern" gestaltet und gewidmet ist oder aber für eine Menge von Menschen bestimmt ist, die keine reinen Zuschauer mehr, sondern, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, Teilnehmer dessen, was „auf der Bühne" geschieht, sein sollen. Den ersten Fall bilden z.B. die pseudoklassischen Dramen oder auch die Dramen Shakespeares, aber in jener Spielweise der Darsteller, in welcher sie sich deutlich an das Publikum wenden und sozusagen „Vorführungen", Konzerte für dieses Publikum geben, ohne zugleich völlig aus der Einstellung herauszufallen, daß sie ihre Reden „eigentlich" an eine andere d a r g e s t e l l t e Person richten. Mit dem zweiten Fall dagegen haben wir es in den altgriechischen Tragödien zu tun, die eine Art Mysterien bildeten, an denen das Publikum teilnahm. Erst aber das moderne „naturalistische" Theater — das für eine Menge von „Zuschauern", die das Stück in ästhetischer Einstellung genießen sollen, bestimmt ist — bildet die Fiktion der „geschlossenen" Bühne, also einer Bühne, die zwar tatsächlich offen ist, auf welcher aber vor allem so gespielt wird, als ob die „vierte Wand" nicht fehlte und als ob kein Zuschauer der „auf der Bühne" gespielten Geschehnisse zugegen wäre. Der Darsteller soll eben den Eindruck erwecken, als ob er von keiner anderen Person gesehen und gehört würde als bloß von den Mitmenschen in der dargestellten Welt, mit denen und zu welchen er spricht. Und die ganze darge410

stellte Welt und alles, was in ihr geschieht, wird so gestaltet, als ob es gar keinen Betrachter von Außen her (d.h. von einer Stelle, die außerhalb der dargestellten Welt liegt) gäbe: sie soll nämlich möglichst „natürlich" sein, und es soll in ihr auch alles möglichst „natürlich" zugehen. Diese ganze Kompositionsweise der dargestellten Welt und diese Weise des Spiels der Darsteller ist aber trotzdem eben auf den Betrachter (aber auf einen als abwesend gedachten Zuschauer) zugeschnitten. Denn man ist der Ansicht, daß es die höchste Kunst sei, dem Zuschauer die „Natur" in ihrer Nacktheit und ihrem Unverändertsein durch die Gegenwart des Zuschauers zu geben. Jede Modifizierung der Verhaltungsweise der einzelnen Personen oder des Verlaufes der Geschehnisse, die mit Rücksicht darauf vorgenommen würde, um im Zuschauer einen „Effekt" hervorzurufen, wird als „Künstlichkeit", „Unnatürlichkeit", „Fälschung" der „Natur" empfunden. So muß der Zuschauer als jemand, von dem die im Drama dargestellten Personen wissen und auf den sie in ihrer Verhaltungsweise und in ihren Entscheidungen Rücksicht nehmen, beseitigt werden, weil er einen Störungsfaktor in der dargestellten Welt bilden würde. Daher sollen die dargestellten Personen (und infolgedessen auch der Darsteller selbst) sich so verhalten, als wenn sie niemand, außer den übrigen dargestellten Personen, betrachteten. So schließt sich die „vierte Wand" fiktiv zu, und erst dann, wenn sich alles so verhält, wie es eben bei jener geschlossenen vierten Wand geschehen würde, darf diese Wand sozusagen durchsichtig werden: die höchste Kunst des Wirkens durch den Schein des Nichtwirkenwollens1. Auch das sog. „impressionistische" Drama ist im Grunde „naturalistisch", nur daß die vorgetäuschte Natur eben in „Impressionen", in Stimmungen, die alle an einer Szene beteiligten Personen erleben und auskosten, besteht. Mit welcher Art der „offenen" oder scheinbar „geschlossenen" Bühne wir es bei einem Theaterschauspiel (oder „Vorführung") zu tun haben, immer treten zu den oben genannten Funktionen der dargestellten Rede noch diejenigen hinzu, welche sich auf die sich im Zuschauerraum befindenden Menschen (insbesondere: „Zuschauer") beziehen. Und zwar sind es anders g e r i c h t e t e Kommunikationsund Beeinflussungsfunktionen als in dem früher besprochenen Fall.

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Dies war z.B. das Ideal des Theaters von Stanislawski. 411

J e nach der Art der „offenen" oder (scheinbar) „geschlossenen" Bühne, um welche es sich bei dem betreffenden Theaterstück handelt, verlaufen diese neuen Funktionen auf eine andere Weise und greifen auch mehr oder weniger modifizierend ein in den Verlauf der Funktionen derselben Worte in ihrer Beziehung auf bestimmte Elemente der dargestellten Welt. Im Sinne des Ideals einer „geschlossenen" Bühne sollen sie freilich so verlaufen, daß sie in der Ausübung dieser letzteren Funktionen keine Störung hervorrufen. Man könnte aber vielleicht sagen, daß es nie gelingt, diese Störung voll zu vermeiden, oder aber, daß, wenn dies wirklich voll gelänge, es dann auch gar keine Kommunikations- und keine Beeinflussungsfunktion auf den Zuschauer hin geben würde. Rein empirisch betrachtet, könnte man vielleicht zustimmen, daß eine völlige Beseitigung der Störung, oder allgemeiner gesagt, der Umwandlung des „natürlichen" Verlaufs des Sprechens und des gesprochenen Wortes durch die auf den Zuschauer gerichteten Funktionen, kaum vorliegt. Wenn sie aber auf das mögliche Minimum — z.B. im naturalistischen Drama, etwa beim späten Ibsen — beschränkt wird, so ist es nicht wahr, iaß dann die auf den Zuschauer gerichtete Kommunikations- und Beeinflussungsfunktion gleichfalls auf ein Minimum bzw. auf Null herabgesetzt wird. Denn sie gelangt zu ihrer Ausübung vor allem dadurch, daß der D a r s t e l l e r — wenn auch nicht die dargestellte Person — sich mehr oder weniger auf den Zuschauer einstellt und ihm nicht bloß die d a r g e s t e l l t e Rede zu zeigen und damit auch ihren Sinn bloß mitzuteilen sucht, sondern auch auf den Zuschauer wirken will. Nur ist eben die Art dieser Wirkung eine völlig andere, als es diejenige des gesprochenen Wortes i n n e r h a l b der dargestellten Welt auf die andere dargestellte Person ist. Denn sofern es sich nicht um ein Mysterium handelt, beruht diese Beeinflussung des Zuschauers auf der Hervorrufung des ästhetischen Erlebnisses in ihm und der Ergriffenheit durch die dargestellten menschlichen Schicksale, nicht aber auf einer sprachlichen oder einer anderen Antwort auf die Anrede der sprechenden Person. Und nach den Prinzipien des Naturalismus soll eben die größte ästhetische Beeinflussung des Zuschauers gerade dann stattfinden, wenn der Schauspieler so tut, als ob er die Anwesenheit des Zuschauers gar nicht merkte ; er merkt sie aber trotzdem und muß mit seiner Anwesenheit rechnen, obwohl man es ihm nicht anmerkt. Nun, das große Problem der Gestaltung des gesprochenen Wortes in der Theaterkunst besteht eben darin, daß es alle angedeuteten 412

Funktionen erfolgreich und harmonisch erfülle, und zwar in den sehr verschiedenen Situationen (in der dargestellten Welt und im Zuschauerraum), in denen es ausgesprochen wird, und auch in den verschiedenen Abwandlungen der Ziele, die sich die Theaterkunst in verschiedenen Epochen, Kunststilen und Arten des Theaterschauspiels stellt. II. Ich möchte jetzt auf die einzelnen Fälle und Abwandlungen der Funktionen und der Gestalten, in denen das gesprochene Wort (bzw. die dargestellte Rede) im Theaterschauspiel auftritt, noch etwas näher eingehen. § 1. Ich habe bereits festgestellt, daß die von der dargestellten Person in einer Situation ausgesprochenen Worte eine T a t 1 bedeuten und somit ein Glied in der Handlung, und insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen den (dargestellten) Menschen bilden. Und zwar erstens dadurch, daß sie an einem bestimmten Ort des dargestellten Baumes (also z.B. im Zimmer der Geliebten), in einem bestimmten Moment (der dargestellten Zeit) und in einer bestimmten Entwicklungsphase der dargestellten Handlung ausgesprochen werden, unter einer gewissen Abstraktion davon, daß dies auch im realen Baum der realen Bühne geschieht. Und zweitens dadurch, daß sie gerade auf diese und keine andere Weise ausgesprochen werden und gerade einen solchen I n h a l t haben, wie sie ihn eben tatsächlich haben. Dies alles ist für das gesprochene Wort wesentlich. Denn erat daraus ergibt sich, daß es an eine bestimmte andere Person gerichtet ist und auf sie auf eine bestimmte Weise einwirkt, wodurch eben ein bestimmter Schritt in der Entwicklung der Handlung des „Dramas" erzielt wird. Ohne dieses tatsächliche Ausgesprochensein würde die sich im Theaterstück entwickelnde Handlung nicht bloß um ein Glied ärmer sein, sondern sie könnte sich auch anders entwickeln. Dieses letztere im Zusammenhang damit, daß die Tatsache des Ausgesprochenseins ihre verschiedenen Wirkungen haben kann, und zwar je nach der Weise, wie die ausgesprochenen Worte ihre

1 Ob aber diese Tat immer etwas „bedeutet", d.h. eine mehr oder weniger wichtige B o l l e in der Handlung spielt, das ist eine andere Frage, und zwar die Hauptfrage der dramatischen Komposition. In einem „guten" Drama ist jedes Wort, das eine Tat ohne „Bedeutung" ist, entbehrlich und damit, wenn doch vorhanden, ein Fehler der Komposition.

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Funktionen innerhalb der dargestellten Welt ausüben. Dies letztere hängt aber nicht bloß davon ab, welche Worte es eben sind, sondern auch davon, welchen Bestandteil des gesamten Verhaltens der betreffenden Person sie bilden und welche Rolle sie in ihm spielen. Mit Rücksicht aber auf diesen letzten Umstand können die Worte der einzelnen Personen auf verschiedene Weise gestaltet werden. Oder von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet: sind sie einmal auf bestimmte Art gestaltet, so erhebt sich die Frage, in welcher Beziehung sie als Glied der Verhaltungsweise der sprechenden Person zu dieser ganzen Verhaltung stehen können : sind sie in dieselbe innig eingefügt, oder bilden sie in ihr nur einen relativ losen Faktor, oder gar etwas in ihr ganz Zufälliges ? Sind sie den anderen Verhaltungsweisen der betreffenden Person entsprechend angepaßt, so daß sie mit ihnen zusammenstimmen oder in einem mehr oder weniger krassen Kontrast zu ihnen stehen (wenn z.B. ein sanfter und gut erzogener Mensch auf einmal in rohen, brutalen Worten zu einem anderen spricht, der ihm sozusagen nichts angetan hat) ? In beiden Fällen, aber besonders in den Kontrastfällen, ist dann zu fragen, ob und inwiefern das Zutagetreten eines solchen Kontraste durch die allgemeine Situation bzw. durch die früheren Phasen der Handlung entsprechend vorbereitet und begründet ist oder aber als etwas auftritt, das sich in der dargestellten Welt sachlich nicht begründen läßt. Und im letzteren Falle : ist dies bloß die Folge eines Fehlers der Gestaltung, oder läßt es sich aus der Absicht, auf die Zuschauer auf entsprechende Weise zu wirken, erklären und gehört zu einem bestimmten Stil der Komposition des Werkes als eines Kunstwerks besonderer Art ? Man kann aber die Beziehving zwischen dem sonstigen Verhalten der dargestellten Person und den in einer Situation von ihr ausgesprochenen Worte sozusagen von einem anderen Ende betrachten, nämlich von da aus, ob dieses Verhalten (in Mienenspiel, Bewegungen usw.), wie es sich in einer bestimmten Aufführung durch einen Schauspieler gestaltet, mit den eben ausgesprochenen Worten harmonisiert, ihnen angepaßt ist oder zu irgendwelchem Widerstreit mit ihnen führt. Ob mit anderen Worten das Spiel des Schauspielers (absichtlich oder unabsichtlich) gut oder schlecht ist. Die ausgesprochenen Worte, und zwar in der konkreten Weise, wie sie in dem betreffenden Stück in einer Aufführung ausgesprochen werden, können ihre Ausdrucksfunktion mehr oder weniger leistungsfähig ausüben. Und zwar kann dies vom Tone der Aussprache 414

(was großenteils Sache des Schauspielers ist) abhängen1, dieser Ton hängt aber seinerseits (wenigstens zum Teil) sowohl von dem Inhalt der gesprochenen Worte als auch von dem syntaktischen Aufbau des betreffenden Sprachgebildes ab2. Es würde uns hier von unserem Hauptthema zu weit abführen, wollten wir da auf Einzelheiten eingehen. Es ist im Grunde ein weites Feld sprachlicher Erscheinungen, die da untersucht werden müßten. Zu den allgemeinen Aspekten aber, unter denen die Funktion des Ausdrückens erwogen werden muß, gehört u.a., ob der Ausdruck eben „aufrichtig", „redlich", „wahr" sei, oder im Gregenteil, „lügnerisch", „unaufrichtig", oder ob er mindestens irgendwie absichtlich oder unabsichtlich etwas verdeckt oder verbirgt, waa eben nicht verraten werden soll. Und im Zusammenhang damit, ob er „natürlich" oder „künstlich" ist, und zwar absichtlich (in der Absicht der dargestellten Person oder auch des Schauspielers) oder unabsichtlich (weil etwa der Schauspieler versagt) u. dgl. m. Das gesprochene Wort kann — wie gesagt — eine Form des Wirkens auf denjenigen sein, an den es gerichtet ist, manchmal auch auf diejenigen, die bloß Zeugen des Gesprächs sind. Irgendeine Form der Wirkung kommt da in jedem Gespräch zustande, indem bei dem Anderen mindestens gewisse Erlebnisse des Verstehens hervorgerufen werden. Es sind aber verschiedene Gestalten des „Gesprächs" zu unterscheiden, von denen wir hier summarisch nur zwei gegenüberstellen möchten. Die eine, die in einem „Drama" — genauer : in einem Theaterschauspiel — kaum in Frage kommt, bildet ein sozusagen „ruhiges" (öfters rein theoretisches) Gespräch, in welchem die Sprechenden einander nur gewisse Tatsachen mitteilen, die sie emotional nicht in Bewegung setzen. Die andere bildet ein Gespräch, das im Grunde nur eine Form der Auseinandersetzimg bzw. des Kampfes zwischen den Sprechenden ist. Entweder handelt es sich dabei lediglich darum, den Anderen zu einer (theoretischen oder praktischen) Überzeugung, die der Sprechende selbst hegt, zu bekehren oder ihn auf diesem oder anderem Wege (z.B. durch Hervorrufung entsprechender Gefühle, Begehrungen oder Willens-Akte) zu irgendeiner Verhaltungsweise, und insbesondere einer Handlungs1 Dieser Ton kann insofern durch den Text des Schauspiels bestimmt werden, als sich aus dem Kontext erraten läßt, -wie er sein soll. * Der Dichter muß ein Gefühl dafür haben, in welcher syntaktischen Gestalt und mit welchen Worten etwas gesagt werden soll, wenn das Gesagte zugleich etwas ganz Bestimmtes und im Grunde Unsagbares ausdrücken soll.

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weise zu bewegen, die von dem Sprechenden gewünscht ist. Dabei kann auch das Zurückhalten vor einer Handlung zu der gewünschten Verhaltungsweise gehören. Wir sprechen da vom „aktiven" Gespräch. Das „aktive" Gespräch scheint übrigens die „normale" Form des Gesprächs im Theaterschauspiel zu sein. Es gelangt in ihm zur echten Beeinflussung des Mitsprechenden durch den Sprechenden. Zu einer Beeinflussung des Angeredeten kann es aber entweder durch den I n h a l t der Rede oder durch die Weise und insbesondere den T o n , in welchem etwas g e s a g t wird, oder endlich durch beides kommen. Was den Inhalt der Rede betrifft, so kann er sowohl auf den Mitsprechenden durch das einwirken, worauf er sich bezieht, bzw. was in ihm bedeutungsmäßig b e s t i m m t wird, als auch durch die Weise, wie er es tut. Das, was man dem Anderen mitteilt, worüber man spricht, kann entweder eine Tatsache in der für die beiden Sprechenden äußeren Welt betreffen oder etwas sein, was in dem Redenden s e l b s t (oder auch in dem Angeredeten) vorkommt, z.B. ein Entschluß, den man dem Anderen zur Kenntnis gibt, oder ein Gefühl, das man hegt u. dgl. m. Jedenfalls muß es — wenn es den Anderen irgendwie bewegen soll — nicht etwas für ihn ganz G l e i c h g ü l t i g e s sein, sondern für ihn irgendeine Rolle spielen, eine Wichtigkeit oder Bedeutung haben; sonst läßt es ihn eben „kalt". Wenn es ihn aber bewegen soll — und zwar in der vom Redenden beabsichtigten oder mindestens irgendwie gewünschten Weise —, dann kann die Form der Darstellung, also die Art, wie man es „in Worte faßt", nicht ganz beliebig sein. Es kann z.B. klar oder unklar, verworren oder einfach, eindeutig oder vieldeutig, direkt, „geradeaus" oder auf diesem oder jenem Umwege, verschleiert usw. gesagt werden. Jede dieser Sprechweisen ist sozusagen durch eine eigene Leistungsfähigkeit charakterisiert. Dies besagt aber nicht, daß sie bei dem Anderen immer dieselbe Art der Beeinflussung hervorrufen muß. Denn zahlreiche Modifikationen ergeben sich daraus, wen die ausgesprochenen Worte treffen, und insbesondere, in welcher Zuständlichkeit der Angeredete sich gerade befindet. Auch die an sich „klarsten" Worte können von dem Angeredeten als unklar — insbesondere in Bezug darauf, worauf sie hinaus wollen — empfunden werden und somit in ihm nicht die erwartete sprachliche oder bloß emotionale Antwort hervorrufen. Aber auch die Sachlage, in welcher die betreffenden Worte in einer bestimmten Formulierung ausgesprochen werden, kann ihre „wirkliche" Wirkung wesentlich 416

modifizieren. Der Dichter muß also mit diesen Umständen rechnen und die Worte des Sprechenden entsprechend gestalten. Die Art und der Grad der Beeinflussung hängt vielleicht in ebenso hohem Grade von der Weise ab, wie die Worte ausgesprochen werden. „C'est le ton qui fait la chanson !" — hat man längst und mit Recht bemerkt. Man könnte aber vielleicht einwenden, der Ton drücke immer bloß die psychischen Zuständlichkeiten des Redenden aus und komme daher nicht dort in Betracht, wo es sich um die Wirkung auf den Angeredeten handelt. Indessen, es muß dahingestellt sein, ob es dem Tone immer gelingt, diese Zuständlichkeit wirklich zum Ausdruck zu bringen. Zweitens aber wäre noch zu erwägen, ob es nicht solche Abwandlungen des Tones gibt, die gar nicht, oder nicht in erster Linie, dazu bestimmt sind, etwas vom Psychischen des Redenden auszudrücken. Um dies mit Sicherheit zu entscheiden, müßte man eine vollständige Zusammenstellung der möglichen Abwandlungen des „Tones" der Rede besitzen, was, soviel ich weiß, noch niemand unternommen hat. Ich kann hier auch nur einige wenige Beispiele geben. So spricht man z.B. in einem „heftigen" oder in einem „ruhigen" Tone. Man spricht „milde" oder „scharf", „rücksichtslos" oder „rücksichtsvoll", „gnädig" und „von oben herab" oder im Gegenteil „untertänig", „respektvoll", „freundlich" oder „feindselig"; „aufrichtig" und „offenherzig" oder „mißtrauisch" und „unaufrichtig", „zutraulich" oder „offen" usw. Man kann jemanden „zudringlich" um etwas bitten oder überhaupt zudringlich sprechen. Man kann diese Bitte sehr „rücksichtsvoll" zurückweisen oder es auf rücksichtslose, brutale, rohe Weise tun. Je nachdem man „freundlich" oder „höflich" zu dem Anderen spricht, gewinnt man ihn für sich oder macht ihn widerspenstig, stimmt ihn wohlwollend für sich oder im Gegenteil mißgünstig und feindlich usw. Nimmt man aber nicht bloß die Redeweisen im Gespräch, sondern auch verschiedene Ansprachen in Betracht, z.B. eine Rede in einer Volksversammlung oder eine Predigt oder einen Kampfaufruf, so ergibt sich wiederum eine andere Reihe von Sprechweisen, die so oder anders auf die Zuhörer wirken wollen. Es mag auch zugegeben werden, daß in jeder solchen Sprechweise etwas von der Seele des Sprechenden (mehr oder weniger deutlich und willkürlich) zum Ausdruck gebracht wird ; es erschöpft sich aber darin nicht die Rolle dessen, wie die Worte und Sätze ausgesprochen werden. Denn es kommt darauf an, welche w e i t e r e n F o l g e n das Ausgedrücktsein hat und — im Zusammenhang damit — ob es nicht etwa zu 27 Ingarden, Das literarische Kunstwerk

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einem bestimmten Zweck, mehr oder weniger absichtlich, verwendet wird1. Und da muß gesagt werden, daß derjenige, mit dem man spricht, immer für den Ton des Sprechenden und das in ihm Ausgedrückte mehr oder weniger empfindlich ist. Unter dem Eindruck des Empfundenen oder bewußt Erfaßten reagiert er mit einer entsprechenden Verhaltungsweise, wozu auch seine sprachliche Antwort gehört. Wenn man z.B. mit jemandem „höflich" spricht, so kann diese Höflichkeit gewiß auch ein bloßer Ausdruck der seelischen Qualität des Sprechenden sein ; in den meisten Fällen ist sie aber eine Umgangsform, die zum Zwecke hat, die entsprechende günstige Einstellung bei dem Gesprächspartner hervorzurufen. Und ebenso kommt es, wenn man jemanden im „scharfen" Tone zurechtweist, in erster Linie nicht darauf an, daß der Andere auf diesem Wege von der Unzufriedenheit oder dem Zorn des Sprechenden erfährt, sondern daß er seine eigene Handlungsweise als inkorrekt erkennt und sie entsprechend ändert. In den meisten Fällen also, wo ein seelischer Zustand auf sprachlichem oder mimischem Wege zum Ausdruck gelangt, dient dies im Umgang zwischen den Menschen nicht so sehr als eine Gegenständlichkeit, auf die man eigens erkenntnismäßig eingestellt ist, sondern nur als etwas nur nebenbei Bemerktes, das uns zur weiteren Handlung anregt. Die Antwortshandlung (darunter auch die sprachliche) ruft aber analoge Reaktionen des ersten Gesprächspartners hervor, so daß es im Laufe des (aktiven) Gesprächs zu einer psycho-physischen Koppelung der beiden Sprecher kommt und zu einem Zusammenspiel der Antwortsreaktionen und den sich in ihnen offenbarenden Erlebnissen, Gedanken, Gefühlen, Begehrungen usw. Es gibt dann einen Gesprächsvorgang der Auseinandersetzung, des Kampfes oder des Zusammenwirkens der sprechenden Personen, die mit ihren seelischen Wandlungen nur einen relativ unselbständigen Faktor in diesem Vorgang bilden. So ist es, wenn sich die gegenseitige Beeinflussimg der miteinander sprechenden Personen unmittelbar während des Gesprächs vollzieht. Es gibt aber auch mittelbare Folgen des Gesprächs bzw. der ausgesprochenen Worte, die erst nach einiger Zeit, nachdem sich das Gespräch vollzogen hat, eintreten. Auch diese später eintretenden Folgeereignisse können durch die Rede der dargestellten Personen bezweckt werden. Und zwar können es u. a. andere sprachliche 1 Auch wenn man seine Gefühle verdeckt und ganz „ruhig" spricht, kann dies oft nur den Zweck haben, den Anderen für sich freundlich zu stimmen.

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Auseinandersetzungen zwischen den handelnden Personen sein, so daß sich dann das ganze Theaterschauspiel als eine Kette von in Gesprächen sich entwickelnden menschlichen Schicksalen darstellt. Die bestehende „dramatische" Literatur mit ihrem außerordentlichen Reichtum an verschiedenen Gestalten des Zusammenlebens der Menschen in Gesprächsvorgängen könnte uns zugleich am besten belehren, wie mannigfache Funktionen die Sprache in diesem Zusammenleben ausüben kann. Das oben Angedeutete muß uns indessen hier genügen. Aber es wird nützlich sein, noch eine Bemerkung hinzuzufügen. Und zwar in einer vielleicht unerwarteten Richtung. Es gibt eine besondere Wirkung der Tatsache, daß die Menschen zueinander sprechen und in diesem Sprechen zur Offenbarung eigener Gedanken und Erlebnisse gelangen : das ist die Beeinflussung der sprechenden Person durch sich selbst bzw. durch die „Aussprache". Im Sprechen werden vor allem unsere Gedanken und oft auch unsere Beschlüsse reif. Sie entfalten sich in den ausgesprochenen Worten und nehmen in ihnen eine entwickelte Gestalt an. Freilich kann dies auch im „stummen" Denken geschehen; nichtsdestoweniger ist das Sprechen mit dem Anderen ein „lautes" Denken, das wir selbst hören und von dem wir uns also viel klarer bewußt werden können, als wenn wir bloß für uns selbst dies oder jenes denken, ohne es in sprachlicher Gestalt veräußerlichen zu müssen. Zweitens aber fühlen wir dann viel leichter, wann unser Sprechen und das sich in ihm entfaltende Denken erfolgreich sein kann : wenn es von dem Anderen verstanden wird und wenn es den Anderen zu einer bestimmten Handlung bewegen bzw. zu einer Überzeugung bekehren kann. Um aber erfolgreich zu sein, muß es sich in der sprachlichen Gestalt vervollkommnen: sich in einzelne Glieder entfalten, sich klären, sich selbst begründen und auf diesem Wege Überzeugungskraft oder Durchschlagskraft gewinnen. Im Sprechen bringen wir uns in klarer Gestalt dasjenige zum Bewußtsein, was uns im „stillen" Leben oft entgleitet und wie eine unvollzogene Tat unser intellektuelles und moralisches Gewissen beschwert. Das ist also die erste Form der S e l b s t b e e i n f l u s s u n g durch das Sprechen mit einem Anderen: daß unsere Gedanken und wir selbst reif werden. Aber das Sichzum-Bewußtsein-Bringen, das im Sprechen erreicht wird, zieht es oft nach sich, daß man auf einmal für eigene Fehler empfindlich und wach wird, daß man also den ersten Schritt zu einer inneren Verwandlung tut, der ohne das Sich-Aussprechen vielleicht nicht so 27·

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leicht zu erreichen gewesen wäre. Das Sich-vor-einem-Anderen-Aussprechen übt auf den Sprechenden oft die Macht der Befreiung aus: was früher unausgesprochen auf der Seele lastend lag, fällt jetzt von dem Sprechenden ab ; nach langem, in sich selbst verborgenem und verbissenem Schweigen tritt etwas im Gespräch ins helle Licht des Tages und wird wie ein abgetragenes Kleid beiseite geworfen, ohne daß eine besondere Anstrengung dazu nötig wäre. Indem wir mit einem Anderen sprechen, enthüllen wir uns nicht nur einem Anderen (Freund oder Feind), sondern auch uns selbst gegenüber. Und dies macht oft unsere Hände frei und unsere Herzen warm. In dem Einem-Anderen-gegenüber-offen-Werden eröffnet sich die Möglichkeit eines inneren Zusammenlebens mit diesem Anderen, die wir ohne das gegenseitige Aussprechen vielleicht nie erreichen könnten. Das ist es, weswegen unsere Liebe nicht reif ist und keine Vollendung findet, so lange sie keinen bündigen sprachlichen Ausdruck gefunden hat. Aber dies gilt im Grunde bezüglich aller unserer Gefühle und Stellungnahmen: sei es Freundschaft oder Feindschaft, sei es Bewunderung oder tiefste Verachtung — sie alle wollen ausgesprochen werden und erreichen erst in diesem Ausgesprochensein ihre letzte Vollendung. In ihrer Vollendung vollzieht sich aber auch die endgültige Ausgestaltung des betreffenden Menschen: auch er wird in seiner guten oder schlechten Gestalt letzten Endes ausgestaltet, reif. In einem Theaterschauspiel sind wir im Grunde Zeugen eines solchen Reifwerdens eines Menschen, wobei dieses Reifwerden nicht notwendig im Sinne eines positiven Wachsens oder Besserwerdens verstanden werden soll. Wenn wir z.B. das Schicksal Peer Gynts verfolgen, sehen wir, wie er in vielen verschiedenen Situationen und Aussprachen langsam in seiner eigentümlich wesenlosen Seele reift, bis er sich endlich in seiner letzten Ausgestaltung als kernlos entdeckt. Im stummen Leben, ohne die vielen sprachlichen Auseinandersetzungen mit anderen Menschen, ohne die Folgen eines jeden solchen Gesprächs und der im Gespräch sich vollziehenden Handlung würde er sich nicht entdecken und zu seiner tragischen Wahrheit kommen können. § 2. Dies sind also die verschiedenen Gestalten der Sprache als einer Art Tat und Geschehen im Theaterschauspiel. In allen diesen Gestalten tritt sie als eine Mannigfaltigkeit von s i n n v o l l e n Gebilden auf, deren Konstitution, Entfaltung und tatsächliches Aussprechen eben die schon besprochene Beteiligung der (dargestellten) Sprache an der Fortentwicklung der Handlung im „Drama" ist. 420

Zugleich aber entwerfen diese Gebilde, ihrem Gehalte gemäß, intentional eine Mannigfaltigkeit von Gegenständlichkeiten und tragen damit wesentlich zur Konstitution der im Theaterschauspiel dargestellten Welt bei. In dieser Hinsicht üben sie dieselbe Funktion aus wie alle sprachlichen Gebilde in den literarischen Werken überhaupt, und wenn sie sich von den letzteren unterscheiden, so liegt der Grund bloß darin, daß sie im Theaterschauspiel nicht das einzige (und vielleicht auch nicht das hauptsächliche) Darstellungsmittel sind und somit im Rahmen der dargestellten Welt nur das aufzubauen haben, was vermittels der konkreten, durch die Darsteller realisierten visuellen Ansichten nicht konstituiert und gezeigt wird oder werden kann. Aus dem Sinn der „auf der Bühne" geführten Gespräche erfahren wir vor allem Verschiedenes über das Seelenleben der dargestellten Personen, was weder durch ihr leibliches, noch durch ihr sprachliches Verhalten ausgedrückt wird, bzw. werden kann und was zur Gestaltung der Persönlichkeiten oft unentbehrlich ist. Andererseits erfahren wir daraus auch über Gegenstände und Geschehnisse, die in dem „auf der Bühne" dargestellten Raum und im Verlaufe der im Rahmen des Schauspiels dargestellten Zeit nicht zur Erscheinung gebracht werden. Diese wesentliche Ergänzimg der dargestellten Welt hat zur Folge, daß all das, wovon wir (als Zuschauer) Zeugen sind, nur einen kleinen Ausschnitt dessen bildet, was in dem betreffenden Theaterschauspiel die v o l l e dargestellte Welt bedeutet. Dadurch gewinnt das unmittelbar zur Erscheinung Gebrachte nicht bloß an Verständlichkeit, sondern auch an Lebensfülle und Konkretheit, ohne welche es keine vollen Menschen und Geschehnisse, sondern lediglich — wenn man so sagen darf — „Kulissen" geben würde. Aber ohne diese „Kulissen" würde umgekehrt der ganze, bloß sprachlich entworfene Rest nie diese Lebendigkeit und Erscheinungsfülle erlangen können, wie dies im Theaterschauspiel möglich ist, so daß sich darin die e n t s c h e i d e n d e Rolle des außersprachlichen Darstellens im Theaterschauspiel erweist. § 3. So stellt sich die Rolle und die gegenseitige Beziehung der zwei verschiedenen Darstellungsmittel im Theaterschauspiel sozusagen vom rein anatomischen Standpunkt dar. Zugleich aber enthüllt sich darin die Rolle dieser beiden Darstellungsmittel im V e r h ä l t n i s zu dem Zuschauer, der mit dem Theaterschauspiel verkehrt und in ihm ein Kunstwerk ganz besonderer Art entdeckt und erfaßt. Anscheinend sind die Funktionen, welche der Haupttext des 421

Theaterschauspiels in bezug auf den Zuschauer zu erfüllen hat, dieselben wie die von einer dargestellten Person ausgesprochenen Worte dem Gesprächspartner gegenüber: es sind ja dieselben Darstellungs-, Ausdrucks-, Kommunikations- und Beeinflussungsfunktionen der Sprache. Die wesentliche Verschiedenheit des Zuschauers von dem (dargestellten) Gesprächspartner, an den jene Worte gerichtet sind, bewirkt es indessen, daß sich auch die Rolle derselben Worte für den Zuschauer wesentlich wandelt. Denn erstens befindet sich der Zuschauer sozusagen außerhalb der im Theaterschauspiel dargestellten Welt, zweitens ist er kein Partner im Gespräch und auch kein Partner in der dramatischen Handlung, drittens endlich ist er „Zuschauer", der während der Aufführung des Werkes zwar vielleicht nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend in der ästhetischen Einstellung lebt und auf die Erfassung des Kunstwerks bzw. auf die Konstitution des auf ihrem Grunde sich aufbauenden ästhetischen Gegenstandes aus ist. Aus dieser Verschiedenheit ergeben sich auch sozusagen v e r s c h i e d e n e P o s t u l a t e hinsichtlich dessen, was dieselben Worte des Haupttextes in ihren mannigfachen Funktionen einerseits den anderen dargestellten Personen, andererseits den realen Zuschauern gegenüber zu leisten haben. Und aus der Verschiedenheit dieser Postulate ergeben sich dann auch verschiedene Forderungen, die an die Gestaltung der ausgesprochenen Worte gestellt werden, damit diese Postulate durch sie erfüllt werden können. Auf einen Fall der Verschiedenheit jener Postulate sind wir bei dem sogenannten „naturalistischen" Drama bereits gestoßen. Die durch die dargestellten Personen ausgesprochenen Worte sollen so gestaltet werden, daß sie möglichst „natürlich" sind und ausschließlich an den Gesprächspartner gerichtet werden. Sie müssen somit nur mit Rücksicht auf die Situation, von der aus sie gesprochen werden, und auf die Wirkung, die sie auf den Partner ausüben sollen, gestaltet werden; zugleich aber sollen sie auch vom „Zuschauer" im Zuschauerraum gehört werden und auf ihn einen Eindruck machen1, um in ihm die entsprechende Phase des ästhetischen Erlebnisses hervorzurufen und ihm zu „gefallen". Das, was in dem Gesprächspartner auf Grund des Verständnisses z.B. Furcht und Abwehreinstellung hervorrufen soll, soll vom Zuschauer bloß in seinem Sinn1

Ich sehe hier von dem Fall, in welchem das Theaterschauspiel ein Mysterium ist, an dem das im Theater versammelte Publikum irgendwie aktiv teilnehmen soll, ab. Ich beschränke mich also lediglich auf Fälle, in welchen das Publikum eben in ä s t h e t i s c h e r E i n s t e l l u n g das Theaterschauspiel als ein Kunstwerk b e t r a c h t e t .

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und Ausdrucksgehalt verstanden und in seiner künstlerischen Funkbesondere zum Gefallen und Mißfallen, kommt. Entstünde im Zution erfaßt werden, damit es zu einer ästhetischen Reaktion, insschauer auch Furcht, Zorn und Abwehrreaktion — dann wäre es um die ästhetische Erfassung geschehen. Der Zuschauer muß von vornherein in irgendeiner gefühlsmäßigen Distanz-Stellung zu dem Gesprochenen und dem in der dargestellten Welt Geschehenden stehen, so daß er sich nicht in dem Sinne, wie die angesprochene dargestellte Person, bedroht fühlt und somit auch nicht auf dieselbe Weise, wie jene Person, antwortet. Und zwar sollen diese verschiedenen Leistungen d i e s e l b e n ausgesprochenen Worte hervorbringen. Wären sie wirklich in j e d e r Hinsicht dieselben, so könnten sie es doch nicht leisten, zu so verschiedenen Reaktionen zweier verschiedener Zeugen der Rede zu gelangen. Irgendetwas an ihnen muß für den Zuschauer doch anders als für die dargestellten Personen sein, sonst würde die Verschiedenheit ihrer Wirkungen auf den Zuschauer und jene Personen nicht bloß unverständlich, sondern auch \mmöglich sein. Werden die „auf der Bühne" gesprochenen Worte im Sinne des Naturalismus gestaltet, so kann die gesuchte Verschiedenheit in gar keiner Eigenschaft der lautlichen Seite der betreffenden Sprachgebilde, noch in irgendeinem Momente seines Sinnes bestehen: der Zuschauer soll eben diese Gebilde in gleichen Zügen und sogar in denselben von ihnen ausgeübten Funktionen erfassen, wie es eben die dargestellten Personen im dargestellten Raum tun. Der einzige Unterschied, der dann noch möglich ist, besteht im anderen S e i n s c h a r a k t e r der durch die dargestellte Person ausgesprochenen Worte. Und zwar stehen diese Worte für die dargestellten Personen im C h a r a k t e r der W i r k l i c h k e i t , d.h. diese Personen betrachten das Ausgesprochensein dieser Worte als eine Tatsache innerhalb der ihnen gemeinsamen (dargestellten) Welt, zu welcher sie selbst gehören, während die Zuschauer im Zuschauerraum die ausgesprochenen Worte und ihr Ausgesprochensein nur als etwas „Dargestelltes", also nur durch die Mittel der Kunst Zur-Schau-Gebrachtes, aber in der realen Welt nicht wirklich Vorhandenes betrachten. Eben damit werden dann die vom Schauspieler tatsächlich ausgesprochenen Worte nicht mit den dargestellten, bloß „gespielten" Worten identifiziert; d.h. es wird vom Zuschauer sozusagen übersehen (oder im gewissen Sinne „vergessen"), daß die zu der dargestellten Welt gehörenden Worte der dargestellten Personen „in Wirklichkeit" von dem Schauspieler realiter 423

ausgesprochen werden und nur in der bloß dargestellten Welt des betreffenden Theaterschauspiels gelten. Indessen liegt in allen n i c h t n a t u r a l i s t i s c h e n Theaterschauspielen ein anderes Absehen vor. In diesem Falle gewinnen die zu dem Haupttexte des Theaterschauspiels gehörenden Worte (Sprachgebilde) gewisse Eigentümlichkeiten, die sie dazu befähigt, auf das Publikum im Zuschauerraum ästhetisch zu wirken, d. h. grob gesagt, ihnen zu gefallen. Die Reden der einzelnen dargestellten Personen werden z.B. in Versen gesprochen oder auf eine bestimmte Weise intoniert, die im Sinne der in dem betreffenden Werk oder in der betreffenden Epoche herrschenden Mode (bzw. Stil) eine „Deklamation" lind kein „natürliches" Sprechen ist. Die dargestellten Personen dagegen verhalten sich so, als ob sie nicht merkten, daß es eben Verse oder Deklamationen sind, die der zwischen ihnen bestehenden Situation oft gar nicht entsprechen1. Statt sich kurz über eine Sachlage zu verständigen und daraus praktische Schlüsse zu ziehen und rasch zu handeln, um z.B. ein Unglück zu vermeiden, deklamieren sie oft lange Tiraden, antworten mit ebenso langen und künstlich geschmückten Redewendungen und tun so, als ob dies gerade passend und natürlich wäre, nur um dem Zuschauer zu gefallen. Im alten Theater wurden diese Tiraden auch gar nicht an den Gesprächspartner gerichtet, man wandte sich einfach dem Zuschauerraum zu, mit verschiedenen Mienen und Gesten, die dem Zuschauer verständlich machen sollten, was man tut und was man erlebt, so als ob die anderen dargestellten, im selben dargestellten Raum sich befindenden Personen es gar nicht zu sehen und zu verstehen brauchten. Die „natürlichen" Ausdrucksfunktionen der Rede werden gestört oder überhaupt im Keim erstickt, weil die Intonation der Verse ihre Entfaltùng nicht erlaubt. Die Musik der Verse greift sogar oft in den Sinn der Rede ein, weil sie auf die durch die syntaktischen Funktionen geforderten Akzente nicht achtet und ihnen oft entgegenwirkt. Mit andern Worten : Die Satzmelodie wird oft durch die Versmelodie durchbrochen, die letztere ordnet sich der ersteren nicht unter. Es muß natürlich nicht so sein ; wenn es aber so ist, so ist es nur Ausdruck dessen, wie verschiedene Postulate an den Haupttext des Theaterschauspiels seitens derjenigen Funktionen gestellt 1

In einem viel höheren Maße geschieht dies in der neuzeitlichen Oper, wo die ,,Helden* '—die ζ. B. Teilnehmer eines bürgerlichen Dramas ( vgl., .Madame Butterfly") sind — gar nicht merken, daß sie selbst und ihre Mitbürger fortwährend singen, obwohl sie bloß sprechen sollten. 424

werden, die an das Publikum im Zuschauerraum gerichtet sind, und anderseits derjenigen Funktionen, welche die Sprachgebilde des Haupttextes innerhalb der dargestellten Welt auszuüben haben. Die Kunst der großen Theaterdichter kann Werke schaffen, in denen — obwohl sie nicht „naturalistisch" sind — es doch zu einer gewissen Harmonie zwischen den verschiedenen Anforderungen an die Sprachgebilde des Haupttextes kommt. Aber bloß zu einer Harmonie, und nicht zu einer völligen B e s e i t i g u n g des U n t e r s c h i e d e s in der Gestaltung der Sprachgebilde für das Publikum und für die dargestellten Personen. Die „Unnatürlichkeit" wird dann auf ein Mindestmaß reduziert, erfordert aber noch immer ein gewisses Voneinander-Absehen seitens der dargestellten Personen, falls dieselben noch immer Mitglieder einer „natürlichen" (obwohl selbstverständlich bloß dargestellten) Welt sein sollen. Denn es ist noch ein anderer Fall möglich, wo die dargestellten Personen von vornherein fiktive, rein dichterische Gestalten sein sollen, denen zugemutet werden darf, daß sie sich auch im sprachlichen Umgang ebenso „unnatürlich" verhalten wie in ihrem sonstigen psycho-physischen Leben (die Gestaltenz. B., dieim Wagnerschen „Ring" oderetwaim „Sturm" Shakespeares auftreten). So wie ihr äußeres Aussehen, wie ihre psychischen Eigenschaften oder allgemeiner ihre Charaktere von vornherein bloß aus der Welt der „Fabel" sind, so kann sich auch ihr gegenseitiges sprachliches Verhalten völlig anders gestalten, als es zu den „natürlichen" Funktionen der Sprache gehört. Dann ist die ganze dargestellte Wirklichkeit nach den Prinzipien der ästhetischen Wirkung auf das Publikum im Sinne eines bestimmten Kunststils gestaltet, und diesem Grundprinzip muß dann (oder einfach : ist) auch die Gestaltung der dargestellten Sprache untergeordnet werden. Es müssen dann nur solche Formen der lautlichen und der bedeutungsmäßigen Gestaltung des Haupttextes gefunden werden, daß die Funktionen der Sprache im sprachlichen Umgang auch jener fiktiven Menschen untereinander doch zur Ausübung gelangen, daß also die Möglichkeit des gegenseitigen sprachlichen Verstehens und des gegenseitigen Aufeinanderwirkens der „Helden" noch erhalten bleibt. Es würde uns zu weit führen, auf Einzelheiten hier eingehen zu wollen. Es muß aber betont werden, daß sich hier ein weites und interessantes Forschungsfeld an einzelnen Theaterstücken eröffnet, das uns in die Arkanen der außerordentlich mannigfachen Kunst der Gestaltung der Sprache im Dienste des Theaterschauspiels und dessen künstlerischer bzw. ästhetischer Wirkung einweiht. 425

P H I L O S O P H I S C H E S C H R I F T E N ROMAN I N G A R D E N S

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