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German Pages 152 Year 2014
Karin Kaudelka und Gerhard Kilger [Hg.] Das Glück bei der Arbeit
Kar in Kaudel k a und Ger hard Kilger [Hg.]
Das Glück bei der Arbeit Über Flow-Zustände, Arbeitszufriedenheit und das Schaffen attraktiver Arbeitsplätze
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtlich strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Beiträge dieses Bandes geben ausschließlich die Meinungen der Autorinnen und Autoren wieder.
Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld (nach einer Vorlage der DASA) Umschlagfoto: BEG Behler, Enker, Gasenzer, Essen, 2011 Lektorat und Redaktion: Helga Reuter-Kumpmann, Berlin Satz: Katharina Lang, Bielefeld Druck: Aalexx Medienproduktion, Großburgwedel ISBN 978-3-8376-2159-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
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Karin Kaudelka Einleitung
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Clara Schlichtenberger Das DASA-Symposium 2011 Über Arbeitszufriedenheit, autotelische Persönlichkeiten und „gute Arbeit“ in Zeiten der Krise
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Dieter Thomä Jenseits von „Work-life balance“ und „Burn-out“ Plädoyer für eine Rehabilitierung der Arbeit
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Mathias Binswanger Die Tretmühlen des Glücks Wie Glück, Arbeit und Einkommen zusammenhängen
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Clara Schlichtenberger Arbeit als Tretmühle, als Bildung oder als Flow-Erlebnis? Talkrunde 1, moderiert von Thomas Ramge, mit Mathias Binswanger, Stefan Engeser, Sophie-Thérèse Krempl und Dieter Thomä
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Josephine Hofmann Lernen im Alter Wer früh damit beginnt, kommt weiter
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Reinhold Popp Zukunft – Beruf – Lebensqualität Arbeit zwischen Geld und Glück
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Clara Schlichtenberger Von lernfördernden Umgebungen und dem erträglichen Ausmaß der Flexibilisierung. Talkrunde 2, moderiert von Thomas Ramge, mit Stefan Engeser, Josephine Hofmann, Sophie-Thérèse Krempl und Reinhold Popp
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Wolfgang Hien Die psychischen Arbeitsbelastungen haben ein kritisches Stadium erreicht Ist-Zustand und Präventionsmöglichkeiten
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Harald Krauß Burn-out Ursachen und Prävention
107 Clara Schlichtenberger Burn-out und die Aufgaben des Bildungssystems Talkrunde 3, moderiert von Thomas Ramge, mit Wolfgang Hien, Harald Krauß, Simone Langendörfer und Rolf Verres
109 Willibald Ruch und Claudia Harzer Positive Psychologie
121 Rolf van Dick und Sebastian C. Schuh Gemeinsam schaffen wir das Ein identitätsbasierter Zugang zu Stress und Stressprävention
135 Clara Schlichtenberger Teamstrukturen und Signaturstärken Talkrunde 4, moderiert von Thomas Ramge, mit Fritz Erich Anhelm, Norbert Breutmann, Rolf van Dick und Willibald Ruch
139 Utho Creusen Positive Leadership Mit positiven Emotionen den Unternehmenserfolg fördern
147 Clara Schlichtenberger Zusammenfassende Gedanken Talkrunde 5, moderiert von Thomas Ramge, mit Utho Creusen, Gerhard Kilger und Hilde Naurath
149 Die Autorinnen und Autoren und die Diskutierenden
Karin Kaudelka
Einleitung I. „Das Glück bei der Arbeit“ – Manche werden dies eher für eine kühne Behauptung als für eine realistische Option halten. Vor dem Hintergrund immer neuer Nachrichten, Pressemitteilungen, Daten und Fakten zu Erkrankungen, Belastungen und Überforderungen im Arbeitsleben, die viel zu oft in den Burn-out münden, ja gar zu Suiziden führen, erscheint die Frage nach dem Glück bei der Arbeit als provokativ. Doch ist sie weder abwegig noch realitätsfern. Warum widmet die DASA Arbeitswelt Ausstellung sich ausgerechnet dem Thema „Glück bei der Arbeit“? Gibt es nicht genügend gravierende Probleme in der modernen Arbeitswelt, die gelöst werden müssen? In der Debatte um die Zukunft der Arbeit steht für das Dortmunder Ausstellungshaus der Mensch mit seinen Fähigkeiten und Belangen im Mittelpunkt. Wie kann es gelingen, dass die arbeitenden Menschen gute Leistungen erbringen und dabei gesund bleiben, dass sie den gestellten Anforderungen genügen und mit sich und ihren Arbeitsergebnissen zufrieden sind? Welches Interesse können Unternehmen und die Gesellschaft am „Glück bei der Arbeit“ haben? Und wie muss eine Arbeitswelt beschaffen sein, in der wirtschaftlicher Erfolg nicht mit dem physischem oder psychischem Verschleiß der arbeitenden Menschen (viel zu) teuer erkauft wird? Tatsächlich sind in unserer Arbeitswelt und ihrer öffentlichen Wahrnehmung andere Themen vorherrschend: Arbeit macht die Menschen zu häufig krank, viele erreichen das reguläre Rentenalter nicht bei guter Gesundheit. Nun mag man einwenden, dass die arbeitsbedingten Unfallzahlen seit langem sinken, dass es arbeitsbedingte Erkrankungen schon immer gegeben hat und mit dem Rückgang harter körperlicher Arbeit die damit einhergehenden Verschleißerscheinungen ebenfalls abnehmen. Demgegenüber steht allerdings die Tatsache, dass die Anzahl der Menschen mit arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen massiv zugenommen hat und dies zu immer mehr vorzeitigen Verrentungen führt. Dies scheint entscheidend dem Wandel in der Arbeitswelt geschuldet: „Flexibilisierung“, „befristete Arbeitsverträge“, „Verdrängungswettbewerb“ etc. sind als Begriffe in aller Munde, für viele wurden sie zur harten Realität. Für diejenigen, die Arbeit haben, hat die Leistungsverdichtung seit Jahren kontinuierlich zugenommen. Es gibt ständige Aufgabenzuwächse, aber
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Karin Kaudelka
weniger Personal. Damit kommen nicht alle gleich gut zurecht: Gerade ehrgeizige, engagierte, karriereorientierte Menschen verlieren schnell die Grenzen ihrer Belastbarkeit aus dem Blick und neigen dazu, notwendige Pausen und Auszeiten, wie sie die körperliche und seelische Gesundheit verlangt, auf die lange Bank zu schieben. Das geht nicht lange gut. Das DASA-Symposium zum Glück bei der Arbeit setzt bewusst einen Kontrapunkt zu diesen – in Zeiten allgemeiner Verängstigung und globaler wirtschaftlicher Krisen – scheinbar allgegenwärtigen Themen. Es widmet sich den Faktoren, die die Arbeit liebenswert machen (sollen). Gerade diese Fragestellung weist über den Horizont des arbeitenden Individuums hinaus auf makroökonomische Fragestellungen: Sie ist nicht zuletzt von wirtschaftlicher Tragkraft – verhindert sie doch z.B. die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte und den allgemeinen Verlust von Produktivität. Wie schafft man Arbeitsräume und -atmosphären, die die Einzelnen fördern und fordern? Wie sehen die individuellen Voraussetzungen für „Arbeitszufriedenheit“, ja „Glück“, aus? Jenseits aller Negativschlagzeilen will die DASA Arbeitswelt Ausstellung mit einem Symposium zum Thema „Glück bei der Arbeit“ daran erinnern, dass Arbeit trotz und wegen der mit ihr verbundenen Anstrengung und Mühe auch Glücksmomente erzeugen kann. Arbeit hat das Potenzial für eine hohe Zufriedenheit der Menschen mit sich selbst. Arbeit ist nicht nur Last, sondern auch Lust. Wer gern arbeitet, wird nicht jede Überstunde notieren und sich mit hoher Wahrscheinlichkeit seltener krankmelden. In Zeiten des Fachkräftemangels werden zufriedene Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht so schnell zu einem anderen Arbeitgeber wechseln. Letztlich wirken sich glückliche Beschäftigte also auch positiv auf die Betriebsbilanzen aus. Und die Gesellschaft profitiert ebenfalls von geringeren Kosten für medizinisch-psychologische Therapie und Rehabilitation.1 Welche Voraussetzungen braucht es, damit Arbeit glücklich macht? Welche Faktoren nehmen Einfluss auf Arbeitszufriedenheit, Effizienz und Kreativität? Welche Spielräume haben arbeitende Menschen selbst, um ihr Glück auch bei der Arbeit zu finden? Folgt man der Positiven Psychologie, so ist das eine Frage der inneren Einstellung. Wer aus sich heraus mit Freude arbeitet, weil er seine Arbeit für sinnvoll hält, wer mit innerer Stärke und Gelassenheit an die Arbeit geht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zufrieden, ja glücklich mit seiner Arbeit sein. Wenn jemand von außen motiviert werden muss, sind die Voraussetzungen dafür deutlich schlechter. Dabei kann ein Lob von Vorgesetzten durchaus motivierend wirken: Es stärkt die intrinsische Motivation, die Moti-
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Die jährlichen Behandlungskosten allein für psychische Erkrankungen betragen ca. 27 Milliarden Euro (Quelle: Bundesamt für Statistik).
Einleitung
vation von innen heraus. Wer in der Gewissheit arbeitet, dass seine Leistung wahrgenommen und wertgeschätzt wird, wer das Gefühl hat, mit den Kolleginnen und Kollegen und der Unternehmensleitung an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten, ist zufriedener als jemand, der diese Gewissheiten nicht hat. Und die Wahrscheinlichkeit, dass Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Krankheit eintritt, nimmt ab. Es wäre jedoch deutlich zu kurz gegriffen, die Verantwortung für das Glück bei der Arbeit ausschließlich den arbeitenden Menschen zuzuschreiben. Was die Unternehmen tun können, um durch motivierte Beschäftigte ihre Innovationskraft und ihren wirtschaftlichen Erfolg zu stärken, und wie sich glückliche Beschäftigte auf die Betriebsbilanzen und auf die gesamtgesellschaftlich notwendigen Kosten für Rehabilitationsmaßnahmen und Renten auswirken, ist die nicht minder wichtige andere Seite der Medaille. In Zeiten, in denen immer mehr Menschen nicht von ihrer Arbeit leben können und mehrere Jobs annehmen oder staatliche Hilfen in Anspruch nehmen müssen (so genannte Aufstocker), verdient die angemessene Entlohnung – und damit die Wertschätzung der erbrachten Arbeitsleistung – explizite Erwähnung. Allerdings verpufft der motivationale Effekt von Gehaltserhöhungen oder Leistungsprämien sehr rasch. Allgemein lässt sich sagen, dass die Rahmenbedingungen von Arbeit „stimmen“ müssen, damit sowohl die Beschäftigten als auch die Unternehmen2 Nutzen daraus ziehen können. Dazu zählen die gute ergonomische Ausstattung von Arbeitsplätzen, ein angemessenes Raumklima, ein niedriger Geräuschpegel, ein flexibles und möglichst individuelles Zeitmanagement, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ein gutes soziales Betriebsklima und eine leistungsförderliche, wertschätzende Unternehmenskultur.3 Wenn die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen möglichst passgenau eingesetzt werden und unter leistungsförderden Bedingungen arbeiten können, wenn ihre Arbeitsleistung wahrgenommen und anerkannt wird, ergeben sich erhebliche positive Auswirkungen auf ihre Arbeitszufriedenheit und den Erhalt ihrer Gesundheit. Im Sinne einer Verhältnisprävention gehören Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit zu den Unternehmerpflichten nach dem deutschen Arbeitsschutz-
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Diese beiden klassischen Rollen in der Arbeitsgesellschaft erodieren immer mehr, und es bilden sich verschiedene Mischformen aus. Dieser Prozess ist noch längst nicht abgeschlossen.
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Es reicht nicht aus, vom Unternehmen ein Leitbild vorzugeben, das u.a. Aussagen zu Führung und Zusammenarbeit enthalten sollte – es muss mit Leben gefüllt und realisiert werden.
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Karin Kaudelka
gesetz (1996, Umsetzung von EU-Richtlinien) und haben explizit Vorrang vor der Verhaltensprävention.4 Dennoch braucht es in der Realität des Arbeitslebens beides: Einerseits gute Arbeitsbedingungen auf der Ebene des einzelnen Unternehmens und angemessene politisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen, andererseits Beschäftigte, die mit ihrer inneren Haltung das Ihre dazu beitragen, dass Arbeit glücklich machen kann. Es geht sicher nicht darum, eine suboptimale Realität mit der rosaroten Brille des so genannten positiven Denkens schönzufärben. Es geht vielmehr um die realistische Chance, bei der Arbeit Zufriedenheit, Momente des Flow-Erlebens und des Glücks zu erfahren, dank einer zutiefst optimistischen Haltung der (geerdeten) Hoffnung, das Glück bei der Arbeit (im Sinne einer konkreten Utopie, wie Ernst Bloch sie verstand) sei ein erreichbares Ziel, das uns die Welt zur Heimat mache. In ihr zeige sich ein Vorschein auf eine bessere Welt wie auch der Prozess ihrer tastenden und experimentierenden Verwirklichung.5 Das Glück bei der Arbeit ist eine konkrete Utopie, die zur handlungsleitenden Maxime nicht nur für die arbeitenden Menschen, sondern auch für Unternehmen und die Gesellschaft als Ganze taugt.
II. Die Zukunft der Arbeit und der Arbeitsgesellschaft wird seit langem vielerorts diskutiert. Warum hat sich die DASA als Ausstellungshaus der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin aktiv in diese breit geführte Debatte eingeschaltet, und was ist ihr spezifischer Beitrag? Über die Jahre hinweg hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales – jenseits von Tagespolitik und Arbeitsmarktfragen und über alle politischen Richtungen hinweg – immer wieder wichtige Impulse für das langfristige und zukunftsorientierte Denken über die Zukunft der Arbeit gegeben. Die DASA, die zum Geschäftsbereich des BMAS gehört, greift diesen Dialog gern auf und fungiert als Forum für eine breite gesellschaftliche Debatte über dieses Thema. Als bildungsaktiver Lernort thematisiert die DASA den Lebensraum Arbeitswelt mit Hilfe der künstlerischen Szenografie. Das DASA-Publikum erfährt mit allen Sinnen die Arbeitswelten der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft und ihre Auswirkungen auf die arbeitenden Menschen. Unter
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Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit vom 7. August 1996 (BGBl I, S. 1246, § 4).
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Nach Wikipedia.
Einleitung
fünf Leitbegriffen – Mensch, Arbeit, Technik, Gesundheit und Kultur – wirbt die DASA, eine bundesweit ausstrahlende Einrichtung mit Sitz in Dortmund, für eine Arbeitswelt, in der der Mensch mit seinen Fähigkeiten und Belangen im Vordergrund steht. Die DASA umfasst ca. 13000 qm Ausstellungsfläche und erreicht jährlich etwa 200000 Besucherinnen und Besucher. Mit ihrem hohen Anteil an jugendlichem Publikum trägt sie besonders zur nachhaltigen Förderung der Eigenverantwortung und der Zufriedenheit im Arbeitsleben bei. Mit der Dauerausstellung, mit Veranstaltungen und Sonderausstellungen liefert sie Beiträge zur Debatte über den Menschen und die Arbeit in unserer Gesellschaft. Die DASA erreicht ihre Ziele mit modernsten Methoden des Ausstellungswesens: Die Inhalte werden erlebnisorientiert, anregend und spielerisch, zugleich didaktisch und wissenschaftlich angemessen vermittelt, fachlich verbindlich und mit hohem gestalterischem Anspruch dargestellt sowie durch künstlerische Interpretationen der Thematik begleitet. Ein breites Spektrum an Veranstaltungen ergänzt den Diskurs um die Ausstellungsinhalte und wirkt als zeitgemäße Belebung der DASA im Sinne eines Forums über die Themen der Arbeitswelt. Dies gilt in besonderem Maße für eine Reihe wissenschaftlicher Symposien zu aktuellen arbeits- und sozialpolitischen Fragen unter der Überschrift „Constructing the future of work“, die im November 2008 begann und künftig in jährlichem Abstand fortgeführt werden soll. Das innovative Tagungsformat, in dem junge mit erfahrenen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen ihrer Fachgebiete diskutieren, und die Vielfalt der Beiträge aus unterschiedlichen fachlichen, gesellschaftlichen und politischen Perspektiven schaffen Raum für anregende Debatten und eröffnen dem Publikum eine Übersicht über die zahlreichen Facetten der Themen. Die Symposien verfolgen das Ziel, einen Diskurs zu ermöglichen, der in seiner Interdisziplinarität anderswo so nicht stattfindet, und ihn in eine breite, sozialpolitisch interessierte Öffentlichkeit zu tragen.
III. Das Symposium zum Thema „Das Glück bei der Arbeit. Über Flow-Zustände, Arbeitszufriedenheit und das Schaffen attraktiver Arbeitsplätze“ fand am 7. und 8. Oktober 2011 in der DASA Arbeitswelt Ausstellung in Dortmund statt. Der Philosoph Prof. Dieter Thomä (Universität St. Gallen) eröffnete es mit einem brillanten philosophischen Blick auf die sich wandelnde Arbeitswelt und plädierte dafür, den Begriff der work-life-balance ad acta zu legen. Die künstliche Trennung von Arbeit und Freizeit, Arbeit und „Nichtarbeit“ sei überholt. Die Arbeit sei die Brücke zur Welt der Einzelnen und biete einen Aspekt
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Karin Kaudelka
der Bildung. Er forderte eine Rehabilitierung der Arbeit und stieß dabei auf die uneingeschränkte Zustimmung der rund 200 Gäste. „Mehr Wirtschaftswachstum bringt mehr Geld. Wer mehr Geld hat, kann sich Wünsche besser erfüllen. Aber machen ein Sportwagen oder eine Luxusyacht glücklich? Forschungsergebnisse sagen Nein!“ Bezugnehmend auf seinen Bestseller „Die Tretmühlen des Glücks“ vertrat Prof. Mathias Binswanger (Universität St. Gallen) die durch volkswirtschaftliche Forschungen gestützte These, dass wir in einer Gesellschaft leben, die „Glück“ und Zufriedenheit geradezu verhindere. Auf höchst amüsante Weise zeigte Binswanger den Teufelskreis von Statussymbolen und ausuferndem Konsum und plädierte dafür, die innere und äußere Balance durch Maßhaltung und Bescheidenheit zu halten. Das erste Panel, in dem die Beiträge von Binswanger und Thomä diskutiert wurden, bereicherten der „Flow-Forscher“ und Psychologe Dr. Stefan Engeser und die Soziologin und Dramaturgin Dr. Sophie-Thérèse Krempl. Die Diskussion auf dem Podium stellte eine unmittelbare Brücke zum Publikum dar, das sich intensiv mit Fragen und Statements beteiligte. Dr. Josephine Hofmann vom IAO Stuttgart plädierte dafür, der Herausforderung an die sich auch durch die demographische Entwicklung enorm ändernde Arbeitswelt durch Lebenslanges Lernen zu begegnen. Sie konstatierte, dass Lebenslanges Lernen im Betrieb noch nicht strategisch verankert sei und forderte eine „demographische Robustheit“: Ältere Beschäftigte seien prinzipiell genauso lernfähig wie jüngere. Sie präsentierte eine Studie, die das IAO in Zusammenarbeit mit Prof. Manfred Spitzer erstellt hatte und die u.a. klar erkennen lässt: „Führungskräfte sollten Lerncoaches sein, sind es aber nicht“, „Mitarbeiter sollten Lernunternehmer sein, sind es aber nicht“. Sie zeigte Stellschrauben auf, wie das Lernen im täglichen Arbeitsprozess verankert sein kann. Es folgte der Beitrag des Zukunftsforschers Univ.-Prof. Dr. Reinhold Popp aus Salzburg, der die Zukunft im Zusammenspiel der vielfältigen individuellen „Bedürfnislagen“ mit den gesellschaftlichen „Bedarfslagen“ sieht. In Bezug auf das Thema des Symposiums bezeichne „Glück“ vor allem die subjektive Befindlichkeit. Das Modewort „Lebensqualität“ bezeichne sowohl gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen als auch deren subjektive Bewertung. Mit zehn Thesen umriss er die Zukunft der Arbeitswelt aus seiner Sicht und zog folgendes Fazit: „Wertschätzung ist gleich wichtig wie Wertschöpfung. Vertrauenskultur ersetzt die alte Kontrollkultur. Initiative und Kreativität werden gefördert. Diskurse kommen häufiger vor als Dekrete. Arbeitszeit ist auch persönliche Entwicklungszeit.“ Hier trifft er sich mit dem eingangs erwähnten Ansatz von Thomä. Der Beitrag des Arbeitswissenschaftlers Dr. Wolfgang Hien aus Bremen eröffnete den Themenblock des Symposiums mit dem Titel „Krankheit, Belastung
Einleitung
und Burn-out“. Er schilderte am Beispiel der vor großen Entlassungswellen stehenden Werftarbeiter in Bremen vor einigen Jahren, wie schwierig ein Neuanfang ist. Auch er forderte eine „Balance“, ein „Lob des Mittelmaßes“, statt eines ständigen „höher, weiter, schneller“ – eine „positive Utopie“: • Achtsamkeit sich selber gegenüber, Entschleunigung (auf individueller Ebene), • neue Solidarisierung (auf gesellschaftlicher Ebene), • eine menschengerechte Arbeitsgestaltung (auf betrieblicher Ebene). Dr. Harald Krauss, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Marien Hospital Dortmund, wandte sich in seinem Beitrag den schon Erkrankten zu. Er klärte zunächst den populären Begriff „Burn-out“ im Gegensatz zur Depression. Als Führungskraft müsse man als Mensch dem Menschen begegnen, um präventiv Strukturen zu schaffen, die Burn-out zu verhindern wissen. Im anschließenden Panel diskutierten Simone Langendörfer (Coach und Autorin) und Prof. Dr. Rolf Verres (Direktor für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Heidelberg) aus ihrer beruflichen Erfahrung mit den Referenten. Der erste Tag des Symposiums endete in einer emotional geführten Debatte mit dem Publikum. Viele der Teilnehmenden, die z.B. als Psychotherapeuten oder Coaches arbeiten, formulierten ihren Unwillen darüber, als reine „Reparaturbetriebe“ missbraucht zu werden, ohne dass ein erklärter gesellschaftlicher und politischer Wille existiere, die krank machenden Verhältnisse nachhaltig zu ändern. Wege aus dieser diagnostizierten Krise zeigten am zweiten Tag z.B. Ansätze der Positiven Psychologie, wie im Vortrag von Prof. Willibald Ruch (Universität Zürich) vorgestellt. Die Positive Psychologie widmet sich vernachlässigten Bereichen der Psychologe: z.B. positiven Emotionen, positiven Eigenschaften (z.B. Charakterstärken, Tugenden) und positiven Institutionen (Rahmenbedingungen von Institutionen, die ein Wachstum erlauben). Dabei untersucht sie die Stärken und die Arbeitszufriedenheit im Vergleich zur Lebenszufriedenheit. Aus einer anderen psychologischen Perspektive wurde Ruchs Beitrag ergänzt durch den Vortrag von Prof. Rolf van Dick (Goethe-Universität Frankfurt) „Ein identitätsbasierter Zugang zu Stress und Stressprävention“, der davon ausging, dass ein qualitativer Unterschied existiert zwischen dem Verhalten, das auf der personalen Identität („Ich“) beruht und dem Verhalten, das auf unserer sozialen Identität („Wir) aufbaut. Eine soziale Identität reduziert Stress, und die Gruppenmitglieder geben und nehmen mehr Unterstützung. Dabei ging es auch um die jeweilige Wahrnehmung von Stress und Wohlbefinden, je nach persönlicher und sozialer Identität.
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Karin Kaudelka
Norbert Breutmann (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände) und Dr. Fritz-Erich Anhelm (Direktor der Evangelischen Akademie Loccum i.R.) trugen im Austausch mit den beiden Psychologen weitere interessante Aspekte bei. Im Anschluss teilten sich die Symposiumsteilnehmer in zwei Gruppen für die angebotenen Workshops: der Berater und Coach Prof. Utho Creusen hielt einen aktivierenden Vortrag mit dem Titel „Zum Glück gibt’s Erfolg – persönliches und berufliches Wohlergehen durch Positive Leadership“, und Hilde Naurath (Synergy Consult) sprach über „Diversity Management: Familienfreundlichkeit, Age-Management und interkulturelle Kompetenz als Stellschrauben der Arbeitszufriedenheit“. In einem abschließenden Panel wurden die Erfahrungen aus den Workshops ausgetauscht und Kritik und Fazit von Seiten des Publikums und der DASA gezogen. Konsens bestand in der Einschätzung, dass die positiven Aspekte der Arbeit, die trotz und wegen der damit verbundenen Anstrengung und Mühe zu Zufriedenheit und Glück, zu Identitäts- und Sinnstiftung beitragen, mehr Aufmerksamkeit verdienen, als dies in der gegenwärtig ausufernden Debatte über die negativen Aspekte moderner Arbeitswelt der Fall ist.
Clara Schlichtenberger
Das DASA-Symposium 2011 Über Ar bei t szu f r iedenhei t, au totel ische Per sönl ichkei ten und „gu te A r bei t “ in Zei ten der K r ise
Gu te Ar bei t – schlechte Ar bei t Die Zahlen schmeicheln den Arbeitgebern nicht: 63 Prozent der Beschäftigten in Deutschland fühlen keine echte Verpflichtung ihrer Arbeit gegenüber. Nur 14 Prozent der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind mit Engagement bei der Sache. Gerade bei den emotional ungebundenen Beschäftigten sind überdurchschnittlich viele Fehltage zu verzeichnen. Die von Gallup als „unengagiert“ gekennzeichnete Einstellung führt nicht sofort zu sichtbaren Minderergebnissen. „Unengagiert“ kann nämlich auch „Dienst nach Vorschrift“ bedeuten und beschreibt generell das Verhältnis der Beschäftigten zu ihrem Unternehmen mit folgenden Stichworten: Unzufriedenheit, mangelndes Vertrauen, Distanz und Enttäuschung über die Unternehmenspolitik, also ein schlechtes Betriebsklima und fehlende Arbeitszufriedenheit.1 Die Gallup-Studie und weitere Studien zeigen es: „Arbeitszufriedenheit“ ist in Deutschland die absolute Ausnahme. Was sind die Gründe, die zur Unzufriedenheit am Arbeitsplatz führen? Den Soziologen Andreas Schnabel überrascht das Ergebnis der Gallup-Studie nicht: „In den Firmen gibt es vernünftige Ziele einerseits und durchaus gute Systeme zur Motivation andererseits – bis hin zu Listen für 360-Grad-Beurteilungen und für Mitarbeitergespräche. Aber das eine wird mit dem anderen nicht verbunden.“ Typisch sei die Aussage eines Beschäftigten eines Milliardenkonzerns: „Seit 2 Jahren machen wir Teamarbeit. Ich weiß bis heute nicht, was das ist.“2 Werkzeuge wie Teamarbeit und Mitarbeitergespräche würden zu häufig dem ganzen Unternehmen übergestülpt, ohne auf die Situation in den einzelnen Bereichen einzugehen und ohne Rücksicht auf die individuellen Erfordernisse, 1 2
Quelle zur Gallup-Studie unter: www.gallup.de. Zu idealeren Voraussetzungen von Teamarbeit und deren günstigerer Implementierung s. den Beitrag von van Dick in diesem Tagungsband und die Zusammenfassung der Talkrunde 4, „Teamstrukturen und Signaturstärken“.
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Clara Schlichtenberger
beklagt Schnabel. Es gebe durchaus Fachleute, die allein so gut seien, dass jeder Zwang zur Teamarbeit ihre Leistung schmälern würde. Des Weiteren wird beklagt, dass z.B. Motivationsinstrumente zu mechanistisch angewandt würden.3 Aber auch das Gefühl, ungerecht behandelt und in seinen Anstrengungen nicht gewürdigt zu werden, keinen Einfluss auf die Gestaltung der Arbeit und keine Aufstiegsmöglichkeit zu haben, sowie fehlende Zukunftssicherheit verringern das Engagement und die Arbeitszufriedenheit. Das nennt der Medizinsoziologe Johannes Sigrist „Gratifikationskrise“, von der vor allem Personen in Pflegeberufen und in Zeitarbeitsverhältnissen betroffen sind.4 Dies hat unmittelbaren Einfluss auf die Gesundheit. So steigt das Risiko von Herzerkrankungen und Depressionen um 150 Prozent. An den Folgen von „schlechter Arbeit“ leiden im Übrigen nicht nur die betroffenen Individuen, sondern auch die Gesellschaft, denn die Kosten für solche Erkrankungen und für Frühverrentungen werden sozialisiert. In den Vorstudien zum DGB-Index Gute Arbeit 2007 wurden 15 Dimensionen guter Arbeit ermittelt, die sich in den folgenden Fragen formulieren lassen: • • • • • • • • • • • • • • •
Gibt es Qualifizierungsangebote? Lerne ich etwas bei der Arbeit? Habe ich die Möglichkeit, eigene Ideen einzubringen? Kann ich im Betrieb aufsteigen? Habe ich Einfluss auf Planung und Menge meiner Arbeit? Erhalte ich klare Anforderungen und alle notwendigen Informationen? Wie gut führen meine Vorgesetzten? Wie gut ist die Betriebskultur? Bekomme ich Hilfe von meinen Kollegen? Ist meine Arbeit nützlich für die Gesellschaft? Gibt es eine faire und verlässliche Arbeitszeitgestaltung? Muss ich oft unter Zeitdruck arbeiten? Werde ich herablassend behandelt? Muss ich meine Gefühle verbergen? Ist meine Arbeit körperlich schwer oder einseitig? Habe ich häufig Angst um meine berufliche Zukunft? Kann ich von meinem Einkommen leben? Entspricht das Einkommen meiner Leistung?5
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Georg Giersberg (2009), S. 10.
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Nach den neuesten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) hat sich z.B. die Anzahl der „verliehenen“ Pflegekräfte von 2005 bis 2011 um 400 % erhöht. Süddeutsche Zeitung vom 05.07.2012, S. 19.
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DGB-Index Gute Arbeit (2007): www.dgb-index-gute-arbeit.de
Das DASA-Symposium 2011
Jochen Metzger kommentiert: „Die Bezahlung spielt bei diesen Komponenten eine Rolle, emotionale und körperliche Belastungen, aber auch Zukunftssicherheit und der Umgang mit den persönlichen Ressourcen. Nach den aktuellsten Zahlen haben 32 % der Beschäftigten „schlechte“ Arbeit. Sie arbeiten unter prekären Verhältnissen, unter starken Belastungen, hoher Unsicherheit, bei zu niedrigen Löhnen und unter Vorgesetzten, die ihnen kaum Respekt entgegenbringen. 55 % berichten von mittelmäßigen Arbeits- und Einkommensverhältnissen. Nur 13 % bewerten ihre Arbeit als „gut“ und zwar aufgrund ihrer Einflussmöglichkeit auf ihre Arbeit und Entwicklungsmöglichkeiten. Sie sind nur wenig emotional und körperlich belastet und werden angemessen entlohnt. Die Studie zeigt, dass solche Arbeitsplätze auf allen Hierarchieebenen und in allen Branchen nachzuweisen sind. Die größte Überraschung bei der Befragung: Selbst Beschäftigte, die in nachweislich miesen Jobs arbeiten, schreiben ihrer Tätigkeit einen hohen Sinngehalt zu. Sie haben das Gefühl, mit ihrer Arbeit etwas gesellschaftlich Sinnvolles zu tun.“6 Der DGB-Index Gute Arbeit 2010 b beschreibt eine kaum veränderte Situation: „Die durchschnittliche Arbeitsqualität zeigt mit DGB-Index 59 Punkten nur minimale Veränderungen gegenüber dem Vorjahr. Weiterhin gibt es mehr als doppelt so viele Beschäftigte, die unter schlechten Bedingungen arbeiten (33 Prozent), wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Guter Arbeit (15 Prozent). Dokumentiert ist ein leichter Anstieg des Anteils Guter Arbeit bei Verringerung Mittelmäßiger Arbeit – der Anteil Schlechter Arbeit ist hingegen konstant geblieben.“7
Äu ßere Stell schr auben der Ar bei t szu fr iedenhei t Als Mittel zur Schaffung attraktiver Arbeitsplätze werden Gestaltungsspielräume wie Zeitsouveränität und Familienorientiertheit, Möglichkeiten zur Nutzung der Potenziale für räumliche und zeitliche Flexibilisierung sowie die Neudefinition von Arbeit als nicht bezahlter Anwesenheit genannt. Unter den vielen Aspekten seien nur ausschnittartig folgende angerissen: Zu der Familienorientiertheit schreibt Stefan J. Becker: „Vor allem aber greift die Erkenntnis, dass Familienbewusstsein auch betriebswirtschaftliche Vorteile bringt, weil es mehr einspart, als es kostet. Der mittlerweile quantifizier6
Aus: Jochen Metzger: Kann man sich in seinen Job (neu) verlieben. In: Psychologie heute, Juli 2009.
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S. DGB-Index Gute Arbeit (2010): www.dgb-index-gute-arbeit.de
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Clara Schlichtenberger
bare Nutzen ist zu einem überzeugenden Faktor geworden. Wie Arbeiten des Forschungszentrums Familienbewusste Personalpolitik (FFP) bestätigt haben, steigert Familienbewusstsein nicht nur die Arbeitszufriedenheit (+13 %) und die Motivation der Beschäftigten (+17 %). Im Vergleich zu nicht familienbewussten Unternehmen weisen familienbewusste Unternehmen auch eine geringere Fluktuationsrate (-15 %) und verminderte Fehlzeiten (-13 %) auf. Damit gelingt es ihnen, Kunden langfristiger an sich zu binden (+12 %) und letztlich die Mitarbeiterproduktivität zu erhöhen (+17 %). Die Unternehmen in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend zu eigenständigen Akteuren einer betrieblichen Familienpolitik entwickelt, nicht zuletzt auch deshalb, weil staatliche Angebote den Bedarf nicht in ausreichendem Maße decken können. Sie haben ihr personalpolitisches Repertoire um Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie merklich erweitert und so eigene familienpolitische Kompetenzen aufgebaut – was ihnen nun größere Flexibilisierungsmöglichkeiten bietet.“8 Architekten und Bürogestalter beschäftigen sich im Zusammenhang mit der „Förderung der Arbeitszufriedenheit“ mit der „Ergonomie der Raumes“. Sie soll Kommunikation erleichtern durch Möglichkeiten zu informellem Erfahrungsaustausch und für die Gestaltung einer formalen Meetingkultur – aber auch Rückzugsmöglichkeiten ins Private bieten.9 Die häufig zitierte Gestaltung der Räume der Firmenzentrale von „Google“ in Zürich arbeitet aber auch mit der „Emotionalisierung des Ortes“. Die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit schlägt sich auch auf die Gestaltung des „Arbeitsortes“ nieder. Neben vielen möglichen äußeren Stellschrauben der Arbeitszufriedenheit wird aber die einfachste aller Stellschrauben – die ökonomische Beteiligung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen am Vermögen des Unternehmens – kaum angeboten. In Deutschland sind es gerade mal zwei Prozent der Betriebe, die dies anwenden.
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Stefan J. Becker (2009), S. B6; eine aktualisierte Unternehmensbefragung des FFP ist in Planung und wird voraussichtlich Ende 2012 veröffentlicht.
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Krcmar et.al. in H. Streicher, Tübingen (1995), S. 53-59.
Das DASA-Symposium 2011
Ar bei t und Flow Den größten Teil unseres Lebens verbringen wir mit „Arbeit“.10 Sie sollte uns glücklich oder wenigstens zufrieden machen – auch in Zeiten des entfesselten Kapitalismus und der Weltwirtschaftskrise. Die vielfach bei den Ökonomen angesiedelte Glücksforschung behauptet, dass wir die von Csikszentmilhalyi11 als „Flow-Zustände“ beschriebenen rauschhaften Glückszustände mit größerer Wahrscheinlichkeit bei konzentrierter, selbstvergessener und schöpferischer „Arbeit“ erleben als zum Beispiel in der Freizeit, in der man sich erholt und konsumiert. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Personen, die sich als aktiv Handelnde in ihrem Leben begreifen, auch in ihrem Arbeitsumfeld zufriedener sind. Das bedeutet, dass – neben den äußeren Gegebenheiten – wohl auch gewisse Persönlichkeitsvorgaben „glücksfördernd“ wirken. Solche Persönlichkeitsstrukturen werden bei Csikszentmilhalyi als „autotelisch“ bezeichnet, und sie prägen sich in der Arbeit als eine Art Selbstgenügsamkeit aus: Sie finden Sinn in sich selbst. Menschen sind offensichtlich unterschiedlich gut mit autotelischen Fähigkeiten ausgestattet, man kann diese fördern.12 Arbeitgeber tun es selten. Der Glücksforscher Mathias Binswanger fordert den Ausstieg aus der Statustretmühle und den Tretmühlen des Glücks bzw. Unglücks durch einen Wertewandel von der Ego- und materialistischen Karrierebezogenheit zu neuen sozialen Werten und einem attraktiven Sozialleben. Aber neben der nach wie vor unerfüllt bestehenden Forderung nach „guter Arbeit“ sollte vielleicht auch an eine neue Arbeitsethik gedacht werden, wie Winterhoff-Spurk sie fordert: „Arbeit ist eine, aber nicht die wichtigste, lustund sinnvolle Tätigkeit zum Wohle des Einzelnen und der Gemeinschaft. Gemeinsam Essen, Feiern, Faulenzen – das Schlaraffenland eben – gehören auch zu einem erfüllten menschlichen Leben.“13 Die Heidelberger Willy-Hellpach-Schule, die das Schulfach „Glück“ eingeführt hat, ist in jeder Hinsicht zukunftsweisend.
10 Laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin arbeitet heute jeder zehnte Vollzeitbeschäftigte mehr als 60 Stunden in der Woche. BIBB-BAuA-Erwerbstätigenbefragung (2006). 11 S. z.B: Mihaly Csikszentmihalyi (2010). 12 S. z.B. Beitrag van Dick und Schuh in diesem Tagungsband. 13 Peter Winterhoff-Spurk, Stuttgart 2008, S. 249.
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Clara Schlichtenberger
Li ter a tur Becker, Stefan J.: Hoch im Kurs: die Familie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.06.2009, Nr. 132, S. B6. Csikszentmihalyi, Mihaly, (2010): Das flow – Erlebnis: Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen. Stuttgart. Giersberg, Georg, in: Der Betriebsrat. Gute Manager sind Beziehungsmanager. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.03.2009, Nr. 57, S. 10. Metzger, Jochen: Kann man sich in seinen Job (neu) verlieben? In: Psychologie heute, Juli 2009, S. 72-77. Streicher, H.(1995): Dezentralisation und Integration. Darin: Krcmar, Helmut; Lewe, Henrik; Schwabe, Gerhard: Mensch und Technik im Büro der Zukunft – reale und virtuelle Integration. Tübingen, S. 53-59. Winterhoff-Spurk, Peter (2008): Unternehmen Babylon. Wie die Globalisierung die Seele gefährdet. Stuttgart.
Dieter Thomä
Jenseits von „Work-life balance“ und „Burn-out“ Pl ädoyer f ür eine Rehabil i t ier ung der A r bei t
So alltäglich die Arbeit ist, so unübersichtlich ist der semantische Schauplatz, auf dem dieses Wort Hof hält und auf dem es in Gegensätze verwickelt wird. Diesen Schauplatz möchte ich zunächst besichtigen (I), um mir ein Rüstzeug zuzulegen, mit dem sich zwei aktuelle Strategien zur Umdeutung der Arbeit beurteilen lassen. Populär ist, wie mir scheint, eine Umarmungs- und eine Totschlagstrategie, und wenn ich diese Ausdrücke verwende, so ist daran unschwer zu erkennen, dass ich ihnen beiden nicht wohlgesonnen bin (II). Meine Kritik zielt insbesondere auf die meines Erachtens abwegige Vorstellung der Work-life balance. Ich plädiere für eine Rehabilitierung der Arbeit, in der auf vielleicht altmodisch wirkende Weise die Arbeit mit der „Bildung“ in Verbindung gebracht wird (III). Abschließend werfe ich einen besorgten Blick darauf, wie diese Arbeitsfähigkeit in der modernen Arbeitswelt untergraben oder ausgehöhlt wird, und stelle einige Thesen zur Genese des „Burn-out“ vor (IV).
I . Zur Semant ik der Ar bei t Weitläufig und unübersichtlich ist der semantische Schauplatz, auf dem sich die Arbeit herumtreibt. Es empfiehlt sich, hier keine schnelle Auswahl zu treffen, sondern den Blick über das ganze Gelände schweifen zu lassen. Fruchtbar ist vor allem die Suche danach, in welche Gegensätze die Arbeit verwickelt ist, mit welchen Gegenbildern sie konfrontiert wird. Arg viele, nämlich sieben solche Gegensätze oder Gegenbilder sind erwähnenswert. 1. Man kennt den Satz „Am siebten Tage sollst du ruhen.“ Hier geht es um den Gegensatz von Arbeit und Muße, nec-otium und otium. Etwas abstrakter ausgedrückt steht dahinter die Unterscheidung von Lebensphasen der Aktivität und der Passivität, wobei letztere nicht einfach für Nichtstun oder Faulheit
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stehen, sondern durchaus auch für Phasen der Entspannung oder der Einkehr. 2. Man kennt auch den Satz „Wer hart arbeitet, darf auch Feste feiern.“ Er spiegelt sich in der Unterscheidung von Werktag und Feiertag. Hier kommt zum Gegensatz von Arbeit und Muße eine wichtige Nuance hinzu, nämlich die Spannung zwischen dem Normalen und dem Außergewöhnlichen, zwischen Alltag und Fest. 3. Eng verwandt damit ist der Gegensatz zwischen Arbeit und Spiel. Wenn man den Schlüsseltext zum spielerischen Leben – Friedrich Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ – liest, dann merkt man, wie die Muße- und Feierstunden des Lebens in einem Spiel kulminieren, das als Reich der Freiheit dem Reich der Notwendigkeit entgegengestellt ist. Wer arbeitet, ist verstrickt in Not und Notdurft; wer spielt, hat demnach Spielraum, Freiraum. Sein Leben ist so locker wie eine Schraube, die eben – Spiel hat. 4. Noch ein Sprichwort möchte ich zitieren: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Hinter ihm verbirgt sich ein weiterer Gegensatz, der die Bedeutung der Arbeit erhellt, nämlich der Gegensatz zwischen Produktion und Konsum. Was man als Gegensatz zwischen Arbeit und Muße, Fest und Spiel kennt, wird hier ökonomisch gewendet. Diese Gegenüberstellung ist in zwei Richtungen zu lesen. Auf der einen Seite kann man sagen, dass der Sinn der Arbeit darin besteht, die Selbsterhaltung zu sichern, dass also, wie Adam Smith es formuliert hat, der einzige Zweck der production die consumption sei.1 Auf der anderen Seite will man nicht alles auf den Konsum zulaufen lassen, weil der Mensch hier in einen Zustand der Passivität gerät und sich als couch potato gehen lässt, statt als Produzent schöpferisch tätig zu sein. Entweder sagt man: Wer arbeitet, schielt nur darauf, die Früchte seiner Arbeit zu genießen, und wartet auf das wahre Leben am Samstagabend. Oder: Wer arbeitet, hat Schwung, wer konsumiert, ist schlaff. Nun war bislang von der Arbeit als Tätigkeit eines Einzelnen die Rede. Damit hat sich eine künstliche Isolation eingeschlichen, die schleunigst rückgängig zu machen ist. Wer von Arbeit reden will, darf nicht nur von handelnden In-
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Adam Smith: The Wealth of Nations [1776]. New York: Modern Library 2000, S. 715 („Consumption is the sole end and purpose of all production“).
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dividuen sprechen, er muss auch von den institutionellen Ordnungen sprechen, in denen Arbeit organisiert wird. 5. Wenn Arbeit organisiert und institutionalisiert wird, dann bündeln sich die gerade genannten Gegenbilder der Arbeit – die Muße, das Feiern, das Spiel, der Konsum – in einem Reich jenseits der Arbeit, das man unter dem Namen Freizeit kennt. Mit dem Gegensatz Arbeit – Freizeit tritt nun eine eigentümliche Verschärfung ein. Es ergeht das Verdikt, dass die Zeit, die man mit Arbeit zubringt, nichts anderes sei als Un-Freizeit, eine Zeit der Unfreiheit. Die Arbeit gerät in Misskredit, weil sie als unfrei erscheint. Doch umgekehrt ist die Freizeit gar nicht so ungebrochen und unbeschwert, wie es scheint. Freizeit ist nicht mehr als die Zeit, in der man frei von etwas ist (eben: von Arbeit). So stellt sich die Freizeit als eine Zeit heraus, die ganz im Bann der Arbeit bleibt und von sich aus gar keine positive Bestimmung hat. Man muss in ihr erst mühsam herausfinden, wozu sie zu nutzen sein könnte. Dazu sucht man Beschäftigungen, gibt sich Zerstreuungen hin oder versucht, (Frei-)Zeit totzuschlagen. Zu erahnen ist hier die unerträgliche Leichtigkeit der Freizeitgesellschaft. 6. Bei der Einteilung des Lebens in Arbeit und Freizeit muss man vorsichtig sein. Denn eigentlich hört die Arbeit „nach der Arbeit“ nicht auf: Auch zu Hause wird gearbeitet, oder nicht? Wenn all das, was man tut, um sich über Wasser zu halten, Arbeit ist, dann schließt dies auch Kochen, Bügeln, Putzen etc. ein. Manche ziehen den Kreis noch weiter, sprechen von Familien- und Erziehungsarbeit und wollen auf diese Weise den mühseligen Tätigkeiten, die im privaten Leben anfallen, Anerkennung verschaffen. Jedenfalls reicht die Arbeit ins private Leben hinein, und so muss man eine Unterscheidung zwischen Arbeit und Beruf treffen. Der Beruf, die Erwerbsarbeit, ist nur ein Teil der Arbeit im weiteren Sinn. Statt die Arbeit der professionellen Sphäre, der institutionalisierten Arbeitswelt vorzubehalten, erfährt sie eine ungeahnte Ausweitung in den Alltag hinein. Diverse Fragen lassen sich hier anschließen. Wird die Arbeit im privaten Leben im Vergleich zur Arbeit in der Berufswelt ausreichend gewürdigt? Wie steht es z.B. um den Lohn für Erziehungsarbeit? Dient eine solche Überlegung der Emanzipation, der Aufwertung von Tätigkeiten, die bislang eher im Verborgenen und eher von Frauen ausgeführt wurden? Oder gipfelt darin nur die Ökonomisierung des Lebens? Ein bisschen absurd ist eine radikale Ausweitung des Arbeitsbegriffs allemal, denn man müsste am Ende nicht nur von Erziehungsarbeit, sondern vielleicht auch von Beziehungsarbeit sprechen und sich über einschlägige Entlohnungsregeln in diesem Bereich den Kopf zerbrechen.
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7. Man sieht: Wenn man von Arbeit in einem institutionellen Rahmen spricht, dann beginnen Grenzstreitigkeiten: zwischen der Arbeit und der Freizeit, auch Grenzstreitigkeiten innerhalb der Arbeit, zwischen Beruf oder Erwerbsarbeit auf der einen Seite und informellen Formen der Arbeit auf der anderen Seite. Aber auch innerhalb des klassischen Bereichs der Berufsarbeit ist nicht alles eins und einig. Von der Kölsch-Rockband „Floh de Cologne“ stammt der Spruch: „Der Unternehmer heißt Unternehmer, weil er etwas unternimmt, der Arbeiter heißt Arbeiter, weil er arbeitet. Würden die Arbeiter etwas unternehmen, müssten die Unternehmer arbeiten.“ Es mag sein, dass Unternehmer viel arbeiten; manche von ihnen behaupten, sie würden 24 Stunden am Tag arbeiten, und wenn das nicht ausreiche, nähmen sie noch die Nacht dazu. Doch jener politische Wortwitz bringt den Befund zum Ausdruck, dass man unwillkürlich, wenn von der Welt der Arbeit die Rede ist, an die Arbeit des Arbeiters denkt – an die Arbeit, die mit dem Betrieb oder der Fabrik assoziiert ist. Auch Labor kommt von laborare. Innerhalb der Arbeitswelt bricht eine Unterscheidung auf, die wir schon bei Arbeit und Spiel kennen gelernt haben: diejenige zwischen Notwendigkeit und Freiheit. Dieser Gegensatz wird nun auf verschiedene Formen der Beschäftigung umgemünzt: Wer etwas unternimmt, wirkt demnach frei; wer arbeitet, erscheint dagegen eingespannt, bleibt abhängig, unterliegt der Kontrolle.
I I . Umarmungs s t r a tegie und Tot schl ags t r a tegie Zwei Weisen, der Ar bei t ein Ende zu set zen Nachdem ich mir einen Überblick zur Stellung der Arbeit in unserem sprachlichen Handwerkszeug verschafft habe, kann ich nun die Frage beantworten, wie denn das werte Befinden der Arbeit heutzutage ist. Die Antwort darauf lautet: schlecht. Mir scheint, dass derzeit zwei Strategien eingesetzt werden, die unserem Verständnis der Arbeit Schaden zufügen oder der Arbeit das Leben schwer machen. Die erste ist eine Art Umarmungsstrategie – und das hört sich lieblicher an als es ist. Die zweite kann man als Totschlagstrategie bezeichnen – und dies ist so wenig lieblich wie es klingt. Die Umarmungsstrategie. Ich möchte nochmals kurz an zwei Gegensätze erinnern, in die die Arbeit eingespannt ist. Zum ersten war davon die Rede, dass Arbeit und Spiel auseinandertreten, zum anderen haben wir gehört: Wer etwas unternimmt, scheint frei zu sein; wer arbeitet, ist eingespannt. Nimmt man diese beiden Auskünfte zusammen, so hat man schon das Rezept der Umarmungsstrategie zur Hand. Sie besteht darin, dass Arbeit als solche wirklich schlimm sei, man sie aber umgestalten könne und solle, um sie spielerischer oder unternehmerischer werden zu lassen. Der Ausweg aus dem Reich der Not,
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der Notdurft, der Notwendigkeit liegt demnach dort, wo man sich nicht mehr als Rädchen im Getriebe fühlt, sondern sich selbst und sein Produkt zum großen Wurf macht. Es soll sich eine Arbeit ergeben, die sich gar nicht mehr wie Arbeit anfühlt, die man eigentlich nur noch ironischerweise als Arbeit bezeichnen kann. Die Klischees, die diese – gar nicht mehr wie Arbeit aussehende – Arbeit illustrieren, sind schnell bei der Hand. Ein Trendscout ist bei jedem Drink busy, sein Spaß ist Ernst. Er sendet kurz vor dem Beischlaf am Abend noch eine Mail an die Mitglieder im Team mit input zur neuen Marketingstrategie und nimmt dann beflügelt nach dem Beischlaf die prompten Rückmeldungen seiner Kollegen zur Kenntnis. Er arbeitet immer oder nie. Arbeit und Leben fusionieren. Ich meine: Dieser Versuch geht mit einer erheblichen Schönfärberei über die faktischen Handlungsspielräume der Menschen heutzutage einher. Überdies ist die Frage, ob man den Betroffenen einen Gefallen damit tut, die Arbeit in der beschriebenen Weise durch ein Spaßprogramm zu jagen. Es kann auf die Dauer anstrengend sein, bei allem, was man tut, den Nachweis der Kreativität zu führen oder es unternehmerisch auf unique selling propositions abzuklopfen. Die Totschlagstrategie. Mein Beitrag hat den Titel „Das Ende der work-life balance“. Erst einmal muss aber leider nicht vom Ende, sondern von der HochZeit der work-life balance die Rede sein. So populär dieser Ausdruck ist, so absurd ist die Unterstellung, die in ihm mitschwingt, dass man nämlich zwei Waagschalen auszubalancieren habe, auf denen – hier – die Arbeit und – dort – das Leben unterzubringen seien. Solange man arbeitet, lebt man demnach nicht, das Leben soll dort beginnen, wo das Arbeiten aufhört. Man sieht: Hier wird eigentlich ein anderer Weg gewählt als bei der gerade geschilderten Umarmungsstrategie. Doch wiederum gerät die Arbeit ins Hintertreffen. Die Totschlagstrategie führt letztlich auf das Bild einer Freizeitgesellschaft gone wild. Die Lebensberater, die sich mit der Sorge um die work-life balance brüsten, mögen rechtschaffen gegen den Druck der Arbeitswelt ankämpfen. Doch das Gutgemeinte ist schlecht gedacht. Die work-life balance hat meines Erachtens das Zeug zum Unwort des Jahres. Hier wird ein Gegensatz zwischen Leben und Arbeit aufgebaut, der dem Image der Arbeit von vornherein den Todesstoß versetzt. Wenn work einen Gegensatz zum life bildet, dann heißt dies nichts anderes, als dass work auf die Seite des Todes gehört. Dies ist eine trostlose, irregeleitete Auffassung. Und doch gilt: Die zwei genannten gegenläufigen Strategien sind weit verbreitet – und entsprechend schlecht steht es um die Arbeit. Mit aller Wucht wird sie vereinnahmt oder aber abgeschoben. Man spürt, wie sich über die alte Welt der Arbeit ein Grauschleier legt.
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Vor einigen Jahrzehnten hat es noch eine Abwertung der Arbeit gegeben, die einen anderen Weg einschlug. Damals ließ man sich von der Absicht auf die reale Abschaffung der Arbeit leiten: Man gab sich der Hoffnung hin, mit einer weitgehend automatisierten Produktion im Rücken sein Leben in Muße zubringen und nach Höherem streben zu können. Diese Hoffnung ist, wenn ich das richtig sehe, zerstoben, doch geblieben ist die ideelle Demontage der Arbeit, in deren Folge man sich fast dafür schämen muss, wenn man irgendwo zupackt oder sich anstrengt. Stark ist die Tendenz, das wahre Leben jenseits der Arbeit, wie man sie gewöhnlich kennt, anzusiedeln: die Muße, das Fest, das Spiel, die Freizeit, den Konsum – auch wenn diese Bereiche nicht allesamt miteinander kompatibel sind, gehen von ihnen doch Verlockungen aus, denen man sich nur schwer entziehen kann. Und so kommt es, dass man Arbeit und Leben gegeneinander aufhetzt oder aber versucht, die Arbeit so zu verniedlichen und umzudeuten, dass sie gar nicht mehr wie Arbeit wirkt. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich jene alte Idee von der realen Abschaffung der Arbeit zu den Illusionen der Fortschrittsideologie rechne. Ich meine aber: Die ideelle Demontage der Arbeit, wonach sie sich in ein notwendiges Übel oder ein kreatives Spiel verwandelt, ist nur ein parasitärer Effekt jener alten Idee. Auch vor ihr muss man sich hüten.
I I I . Zur Rehabil i t ier ung der Ar bei t Wenn man nach Strategien sucht, die sich der Abwertung der Arbeit entgegenstellen, so stößt man zunächst auf die Strategie der Desillusionierung. Sie gipfelt in dem Hinweis, dass jenes vermeintliche Paradies der Nicht-Arbeit allenfalls in eine kleine Nische gehöre und das Leben insgesamt, weit über den Beruf hinaus, doch von Arbeit geprägt und gezeichnet bleibe. Eigentlich arbeiten wir demnach viel mehr, als wir wahrhaben wollen, ob wir damit nun Geld verdienen oder nicht. Wer so denkt, steckt die Freizeitgesellschaft und die digitale Bohème in die Ausnüchterungszelle. Ich muss zugeben: Auch wenn diese Strategie auf plausiblen Befunden gründet, wirkt sie doch alles andere als verführerisch. Eigentlich meldet sich hier nur der alte Ernst des Lebens zurück – und zieht ein strenges, verbissenes Gesicht. Diesem Ernst möchte man mit Karl Kraus entgegenhalten: „Das Leben ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre.“2 Ich meine, dass diese Desillusionierungsstrategie unzulänglich bleibt – und zwar deshalb, weil sie zwar die Arbeit wieder in den Vordergrund stellt, aber
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Karl Kraus: Pro domo et mundo. In: Die Fackel Nr. 315/316 (1911), S. 31-37, hier S. 36.
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letztlich die negative Bewertung derselben beibehält. Man sollte sich nicht mit der Auskunft begnügen, Arbeit sei vor allem lästig. Übrigens ist diese Auskunft auch sozialpolitisch bedenklich, denn sie legt den Schluss nahe, dass die Lage derer, die keine Arbeit haben, also der Arbeitslosen, tendenziell falsch eingeschätzt wird. Wer Arbeit eher negativ bewertet, kann kaum begreifen, dass Arbeitslose massiv unter einem Mangel an Anerkennung und auch an Selbstbestätigung leiden. Es geht nicht nur um die Frage, ob Massenarbeitslosigkeit von Staats wegen finanzierbar ist, sondern auch um das humanitäre, moralische Problem, das mit dem Herausfallen aus dem Arbeitsprozess verbunden ist. Mir liegt an einer Strategie zur Rehabilitierung der Arbeit. Eine solche Strategie möchte ich kurz skizzieren, indem ich an zwei sehr unterschiedliche Denker des 19. Jahrhunderts erinnere: an Henry David Thoreau und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Bei Thoreau klingt es erst mal so, als wäre er ein furchtbarer Vorfahre der Apologeten der work-life balance. Man liest bei ihm: „There is nothing […] more opposed […] to life itself, than this incessant business.“ – „Es gibt nichts, […] was […] dem Leben selbst so entgegensteht wie dieses unablässige Geschäft.“ Das klingt so, als müsse man sich auf die Seite des Lebens schlagen und die Arbeit abweisen. Doch nicht von Arbeit, sondern von „business“ ist hier die Rede, und es zeigt sich, dass Thoreau die Arbeit, auch die Anstrengung und die Mühsal der Arbeit als Einsatz für das eigene Leben geradezu feiert: „It is remarkable that there is little or nothing to be remembered on the subject of getting a living: how to make getting a living not merely honest and honorable, but altogether inviting and glorious; for if getting a living is not so, then living is not.“ – „Es ist bemerkenswert, dass wenig oder nichts Denkwürdiges darüber geschrieben wurde, wie man den Lebensunterhalt verdient; wie man das Bestreiten des Lebensunterhalts nicht nur ehrbar und ehrenwert, sondern insgesamt zu etwas Verlockendem und Wunderbaren machen könnte; denn wenn der LebensUnterhalt es nicht ist, dann ist es auch das Leben nicht.“3 Hier wird ein großes Wort gelassen ausgesprochen. Diesseits all jener Überbietungsstrategien der Arbeit für den Lebensunterhalt stößt Thoreau auf ein Leben als Arbeit, das die Möglichkeit eröffnet, sich einzusetzen, zu entfalten, zu bewähren, zu spüren – und dabei die Welt zu gestalten. Dieses Plädoyer mag altmodisch klingen, aber ich finde es außerordentlich attraktiv.
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Henry David Thoreau: Collected Essays and Poems. New York: Library of America 2001, S. 349, 353; Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich: Diogenes 1973, S. 38, 43.
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An dieser Stelle drängt sich ein Einwand auf, über den ich ein Wort verlieren muss. Jeder, der Hannah Arendt gelesen hat, wird sich darüber wundern, dass ich mich mit Thoreau an den Lebensunterhalt halte, während sie doch vorgeschlagen hat, die „Arbeit“ als bloßen Kampf um Selbsterhaltung aufzufassen und das schöpferische „Herstellen“ sowie vor allem das politische „Handeln“ höher zu bewerten.4 Ich will die Verdienste von Arendts Unterscheidung nicht bestreiten, aber gegen die stark wertende Aufladung derselben mein Veto einlegen. Wie sehr man auch das kommunikative, politische „Handeln“ und das schöpferische „Herstellen“ schätzen mag, Arendts Schema hat doch unweigerlich etwas Elitäres. Es ist abwegig, in der „Arbeit“, sofern sie der Selbsterhaltung dient, nur einen quasi-natürlichen Prozess, ein blindes, zwanghaftes Funktionieren zu sehen. Immerhin sind die Tätigkeiten, die in diesen Bereich gehören, eingebettet in komplexe technische Lernprozesse, soziale Zusammenhänge und kulturelle Traditionen. Die Arbeit ist als wesentlicher Bestandteil individueller Lebensführung und Erfüllung zu rehabilitieren. Es ist ein Sich-Reiben an der Welt, das für Thoreau den Reiz und das Risiko der Arbeit ausmacht. Hier erlaube ich mir, eine kleine Anekdote einzuflechten.5 Es war spätabends oder frühmorgens, jedenfalls mitten in einer Berliner Nacht und fern aller Werktage, als ich bei einer Party Zeuge einer kleinen Abschiedsszene wurde: Jemand brach auf mit der Begründung, er müsse „noch arbeiten“; auf die neugierige Rückfrage, woran er denn jetzt noch zu arbeiten hätte, sagte er: „An mir selbst.“ Mir ist diese Antwort nicht mehr aus dem Sinn gegangen, und je länger sie in meinem Kopf herumschwirrte, desto mehr ging sie mir auf die Nerven. Ich konnte den nächtlichen Schlauberger nicht mehr direkt fragen, was er – nach Abzug aller Ironie, die sicher auch im Spiel war – eigentlich gemeint hat. Was mich jedenfalls an seiner Auskunft gestört hat, möchte ich kurz erläutern. Man könnte einwenden, dass ich mich an eine kleine Abstrusität verliere, wenn ich auf dieser Wendung „an sich arbeiten“ herumhacke. Ich will dieser Bemerkung auch nicht mehr Gewicht geben als nötig, aber sie kommt nicht allein, sondern gehört zu einem ganzen Reigen rhetorischer Figuren, die sich bei der Selbstverständigung des modernen Individuums in den Vordergrund gespielt haben. Ihr gemeinsamer Grundzug ist, dass sie zu einem Kurzschluss innerhalb des Selbst führen. Es werden Ziele verfolgt, bei denen man gewisser-
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Vgl. das 1. Kapitel in Hannah Arendt (1958): The Human Condition. University of Chicago Press; dt.: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer 1960.
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Vgl. zum Kontext Dieter Thomä (2009): Der Wert der Arbeit und das Spiel der Generationen. In: Nicola Lepp/Daniel Tyradellis (Hg.): Arbeit. Sinn und Sorge. Zürich/ Berlin: Diaphanes, S. 66-81.
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maßen immer schon an der richtigen Adresse ist – bei sich selbst. So trifft man neben der Arbeit an sich selbst etwa auf die Rede von Selbstinszenierung, Identitätsmanagement, Ego-Marketing und – besonders verbreitet – Selbstverwirklichung.6 „Selbstdesign“ sei „der nächste Trend“, hat das Hamburger „Trendbüro“ einmal behauptet; mir ist nicht in Erinnerung, ob diese Auskunft nun von gestern ist oder von vorgestern. In Abwandlung einer berühmten (Fehl-)Übersetzung aus der Luther-Bibel könnte man sagen: „Und wenn das Leben köstlich gewesen, so ist es Arbeit an sich selbst gewesen.“ Ich finde es nun aber alles andere als köstlich, wenn sich jemand damit begnügt oder darin gefällt, bei der Arbeit narzisstisch um sich zu kreisen oder sich nur um sich selbst zu kümmern. Wer nur „an sich selbst“ arbeiten will, versucht offenbar, den Anforderungen herkömmlicher Arbeit zu entgehen oder sie ad absurdum zu führen. Vor allem vergeht er sich dabei an einer Eigenart der Arbeit, die ihren besonderen Reiz ausmacht: dass sie nämlich eine Brücke zwischen Selbst und Welt errichtet. Wenn man arbeitet, hat man, kurz gesagt, die Welt am Wickel – und wird sich zugleich seiner selbst, seiner eigenen Tätigkeit bewusst. Man kann dies noch etwas anders ausdrücken, und dann ist man – oh Wunder! – bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Hegel führt einen ganz einfachen Gedanken ins Feld, mit dem man die schlechte Laune, die um die Arbeit kreist wie eine Krähe, vertreiben kann. Dieser Gedanke lautet in seiner kürzest möglichen Formulierung: „Die Arbeit […] bildet.“7 Hegel spielt hier mit der Doppeldeutigkeit des Bildens, das einerseits das Formen und Gestalten, also das „Bilden des Dinges“8, andererseits die Bildung oder Entfaltung des Menschen meint. Entsprechend sagt er auch: „Die Bildung ist […] die Befreiung […]. Diese Befreiung ist […] die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens.“9 Alexandre Kojève hat hierzu in seiner Hegel-Interpretation bemerkt, dass „der Mensch […] das Daseiende verwandelt und in diesem Verwandeln
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Zur Kritik an der Selbstverwirklichung vgl. Dieter Thomä (2003): Zur Rehabilitierung der Selbstliebe. In: ders.: Vom Glück in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 270-291, hier S. 275ff.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 153.
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Ebd, S. 154
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke, Bd. 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp1970, S. 344f. – Marx befindet sich in direkter Nachfolge zu Hegel, wenn er im „Kapital“ schreibt: „Indem er [der Mensch; D.Th.] […] auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine
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sich selbst verwandelt. Der Mensch ist nur insofern, als er wird […]. Die Arbeit ist Bildung im doppelten Sinne des Wortes: einerseits bildet sie die Welt, bildet sie um […]; andererseits bildet sie den Menschen um, bildet, erzieht […] ihn“.10 Blickt man von Hegel her auf den Selbst-Arbeiter, dann merkt man sofort, was an ihm faul ist: Er meint, mit halber Kraft, mit einer halbierten Arbeit, die sich nur auf sich selbst kapriziert, reüssieren zu können. Der Selbst-Arbeiter tut so, als käme er aus dem Nichts und als ginge ihn die Welt nichts an. Von Hegel her kann man sagen, mit dem Selbst-Arbeiter sei das Ende der Bildung besiegelt. Er begnügt sich damit, sich selbst zu bilden, und schneidet sich dabei von den Ressourcen ab, auf die die Bildung doch angewiesen ist. Zugänglich werden diese Ressourcen erst im Austausch mit der Welt, eingeleitet wird die Bildung im Miteinander der Menschen. Indem der Selbst-Arbeiter die Spannung zwischen Eigenem und Fremdem im Bildungsprozess einseitig auflöst, erscheint er als Symptom einer Krise des sozialen Lebens, von der die moderne Gesellschaft derzeit ergriffen zu sein scheint. Wer nicht nur an sich selbst arbeitet, entwickelt die Bereitschaft, sich den Herausforderungen zu stellen, in die die Welt den Genuss eingewickelt hat; dazu gehört auch die Bereitschaft, sich zu bilden, und das heißt: Geduld mit sich selbst zu haben und darauf zu setzen, dass man sich verwandelt und verändert. Er begibt sich auf eine Reise, in der er – nach einer wunderbaren Wendung Heinrich von Kleists – durch eine „schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht“ wird.11 Früher nannte man so etwas eine Bildungs-Reise. (Ich möchte hinzufügen: Gute Fahrt!)
eigene Natur.“ Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band [1867]. Werke, Bd. 23. Berlin: Dietz 1972, S. 192. 10 Alexandre Kojève (1968): Introduction à la lecture de Hegel [1947]. Paris: Gallimard, S. 167, 179; ders.: Zusammenfassender Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der „Phänomenologie des Geistes“. In: Hans Friedrich Fulda/Dieter Henrich (Hg. 1973): Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 143, 161; vgl. auch S. 160f.: „Der Mensch kann mit dem Konkreten […] nur dadurch in Kontakt bleiben, daß er sich über die daseienden Bedingungen durch die Negation erhebt, die sich in der Arbeit und durch die Arbeit vollzieht. Darum wandelt er sich selbst, indem er die Welt verändert.“ 11 Von der „Marquise von O…“ sagt Kleist, sie sei erst durch eine „schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht“ worden. Vgl. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. München: Hanser 1984, Bd. 2, S. 126.
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I V. Zur Kr ise der Ar bei t s f ähigkei t Anmer kungen zum Burn-ou t Manchen mag bei meinem Plädoyer für Arbeit als Bildung oder Bildung als Arbeit der Gedanke beschleichen, hier werde ein idealisiertes Bild gezeichnet, dem die Arbeitswelt nicht entspricht. Dass hier eine Differenz zur Realität besteht, möchte ich gar nicht bestreiten. Es geht mir tatsächlich um die Erinnerung an ein Gegenbild zum Status quo. Das heißt aber nicht, dass ich den Status quo ignorieren würde. Natürlich hat das „Bilden“ keine Chance, wenn die Arbeit tagein, tagaus in endlosen Wiederholungen erstarrt. Ich möchte aber nicht nur diese offensichtlich bildungsfeindlichen Bereiche der Arbeitswelt anführen, sondern einen anderen Sektor genauer unter die Lupe nehmen, in dem es – wie man meinen könnte – besser um jenes „Bilden“ bestellt ist: das Reich der so genannten creative class. Bekanntlich gehört zu dieser nicht nur die Feier der Dynamik, sondern auch die Karriere einer Figur, die Alain Ehrenberg das „erschöpfte Selbst“ genannt hat.12 Zu dieser Figur gehört nicht die Erschöpfung durch Routine, sondern eine Arbeitsunfähigkeit eigener Art, die derzeit in aller Munde und in vielen Köpfen ist: das Ausgebranntsein oder der Burn-out. Er tritt bei Fußballtrainern ebenso auf wie bei Universitätsprofessoren; allein an meiner Universität gab es in der jüngeren Zeit drei solche Fälle. Ich möchte abschließend vier Gründe angeben, die die Gefahr eines Burn-out erhöhen – Gründe, die in der Arbeitswelt zu suchen sind. Die Abschaffung des Auftrags. Es gibt eine bestimmte Art des Arbeitens, die man eher als Abarbeiten bezeichnen muss. Man erhält Aufträge – und erledigt sie. Man schaut am Wochenbeginn ins Auftragsbuch und beginnt, Sachen abzuhaken. Max Webers Idealbild des Bürokraten oder Thorstein Veblens Idealbild des Ingenieurs sind Figuren, die diese Kompetenz der Auftragserfüllung zur höchsten Perfektion ausgebildet hat. Sie beherrschen ihr Geschäft, verstehen etwas von der Sache. Auftragsarbeit hat die wunderbare Eigenschaft, dass man genau angeben kann, wann man etwas „geschafft“ hat. Sie strotzt von Übersichtlichkeit. Da in dieser Art der Arbeit immer eine äußere Vorgabe gesetzt wird, ist sie freilich dem Einwand der Fremdbestimmung ausgesetzt. So lockt mit der Abschaffung der Auftragsarbeit ein Mehr an Selbstbestimmung. Eines darf man bei diesem frohgemuten Freiheitsversprechen nicht vergessen: Selbstbestimmung funktioniert nur mit einem starken Selbst, sonst bleibt sie ein hohler Anspruch, der am Menschen vorbeigeht oder ihn überfordert.
12 Vgl. Alain Ehrenberg (2004): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart [1998]. Frankfurt a.M.: Campus.
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Die Voraussetzungen dafür, dass sich ein solches Selbst behauptet, sind in der Arbeitswelt nun aber alles andere als glänzend. Die Verschiebung der Ziellinie. Wenn äußere Aufträge verinnerlicht werden, so heißt dies nichts anderes, als dass sie sich in eigene Ziele verwandeln. Das Selbst setzt sich Ziele, es baut selbst den Druck auf, der auf deren Erreichen drängt. Anders ausgedrückt: Der Chef zieht um in den eigenen Hinterkopf. Das Individuum muss nicht auf Aufträge warten, sondern fungiert als Zielgenerator. Dort genau sitzt nun der Haken. Denn bei diesem Zielgenerator gibt es sozusagen keinen Ruhezustand, keine Nachtabsenkung. Man mag schon viel erreicht haben, man ist gewissermaßen die x-ste Runde im Stadion gelaufen, und doch wird das Rennen nicht abgewunken, sondern man sagt sich: Eine Sache geht noch, die nächste Runde schaffe ich noch – und die übernächste etc. Das Selbst im Kreativitätsmodus betreibt eine unendliche Vervielfältigung von „Baustellen“ und entsprechend die eigene Zermürbung. Die Wut des Vergleichens. Bei einem kreativen Menschen – nehmen wir beispielsweise Picasso – kann man sich vorstellen, dass er nachts um elf ein Bild vollendet und dann, getrieben von seiner Inspiration, die nächste Leinwand auf die Staffelei stellt. Beim späten Picasso mag diese Massenproduktion zum Teil durchwachsene Ergebnisse zeitigen, und doch wird man dem Genie nicht in den Arm fallen, wenn es derart getrieben an die Arbeit geht. Doch es gibt nicht nur innere, sondern auch äußere Getriebenheit. Schon 1840 berichtete Alexis de Tocqueville in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ von Menschen, die permanent „Blicke der Hoffnung und des Neides“ zur Seite richteten.13 Solche Menschen gibt es heute mehr denn je; sie messen sich nicht an ihren Träumen, sondern am Nachbarn. Sie sind besessen von der Frage, ob sie die Nase vorn haben, schielen nach der Seite und wissen nicht mehr, welche Richtung sie überhaupt einschlagen sollen. Eine solche Wut des Vergleichens tritt bei all jenen auf, die vom so genannten rankism ergriffen sind, ihre Handlungslogik auf den Wettbewerbsvorteil reduzieren und beim Umgang mit anderen nur auf den eigenen Vorsprung achten. Man kann sich leicht vorstellen, was passiert, wenn alle von dieser Wut des Vergleichens ergriffen sind: Sie schaukeln sich gegenseitig hoch, ohne dass je ein Ende dieses Prozesses in Sicht käme. Schon Tocqueville hat eine Verbindung gezogen zwischen der „Rastlo-
13 Alexis de Tocqueville: Œuvres II (Hg. A. Jardin). Paris: Gallimard 1992, S. 643; ders.: Über die Demokratie in Amerika. II. Bd, [1840]. Zürich: Manesse 1987, S. 191, vgl. ders.: Œuvres I, ebd., S. 651; ders.: Über die Demokratie in Amerika, II. Bd., ebd., S. 203f.: „Man kann also damit rechnen, daß jeder Bürger in seiner Nähe stets einige Punkte erblicken wird, die ihn überragen, und man kann voraussehen, daß er seine Blicke hartnäckig einzig nach dieser Seite richten wird.“
Jenseits von »Work-life balance« und »Burn-out«
sigkeit“, die jener Wut des Vergleichens entspringt, zum „seltsame[n] Trübsinn“, von dem viele Amerikaner befallen seien, und weiter zu dem Befund, dass „der Irrsinn“ in den Vereinigten Staaten „verbreiteter sei als überall sonst“: „Das sind verschiedene Anzeichen des gleichen Übels.“14 Man darf diese Beschreibung Tocquevilles als Diagnose des Burn-out avant la lettre bezeichnen. Die Sucht des Synchronen. Die Wut des Vergleichens wird gesteigert, wenn die Vergleichsmöglichkeiten sich entgrenzen. Überall sieht man Konkurrenten; es zeigt sich ein Kulturwandel der Aufmerksamkeit, in dem es nur noch darum geht, mit dem, was gerade jetzt passiert, mitzuhalten. Gemeint ist nicht nur der Nervenkitzel, sportliche Großereignisse oder gar Kriegshandlungen live zu erleben. Es geht nicht um Zeugenschaft oder Sensationslust, sondern um die Angst, etwas zu verpassen, oder um die Sucht, mit der Welt synchron oder in sync zu sein. Dabei sein ist alles: Das alte olympische Motto avanciert zur Devise einer Welt, in der man so sehr damit beschäftigt ist zu erfahren, was jetzt gerade alle tun, dass man zu nichts anderem mehr kommt. Schlimmer noch: Man wird angesichts dieser Fülle von Vorlagen in einen Zustand der Handlungslosigkeit, der Antriebslosigkeit, der Lähmung getrieben. Ich will nur kurz die Gegenentwürfe anzeigen, die man gegen dieses vierfache Elend der neuen Arbeitswelt aufrufen kann. Gegen die „Abschaffung des Auftrags“ hilft die kollektive Verständigung über Handlungsziele, also auch die Festlegung solcher Ziele innerhalb von Organisationen und Institutionen. Damit nämlich wird jener Verinnerlichung der Ziele Einhalt geboten, die dann eine Verselbständigung und Vervielfältigung nach sich zieht. Gegen die „Verschiebung der Ziellinie“ hilft die innere Orientierung an Lebenszielen und Glücksquellen, die gegen die Wachstumsspirale immun sind. Gegen die „Wut des Vergleichens“ hilft die Zusammenarbeit im Gleichklang – also der Genuss in Augenhöhe. Gegen die „Sucht des Synchronen“ hilft die seelische Hygiene, die Kunst des Filterns, die wichtige Informationsquellen, Bezugspersonen und Referenzen von unwichtigen trennt. Diejenigen, die all diese Gegenkräfte mobilisieren, haben am Ende – mit Michel de Montaigne gesprochen – „keinen Mangel an dieser großen Kunst, sich ihrer Lage glücklich zu erfreuen und mit ihr zufrieden zu sein.“15
14 Tocqueville: Œuvres I, ebd., S. 649, 651; ders.: Über die Demokratie in Amerika, II. Bd., ebd., S. 201, 204. 15 Michel de Montaigne: Œuvres complètes. Paris: Gallimard 1962, S. 209; dt.: Essais. Zürich: Manesse 1953, S. 238 (Übers. geändert).
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Mathias Binswanger
Die Tretmühlen des Glücks W ie Glück, A r bei t und Einkommen zus ammenhängen
1 . Was is t Glück und w ie k ann man es messen? Wenn man etwas über den Zusammenhang zwischen Einkommen und Glücksempfinden der Menschen aussagen will, dann sollte man erstens eine Vorstellung davon haben, was mit dem Begriff Glück gemeint ist, und zweitens sollte man dieses Glück auch noch irgendwie messen können. Der erste Punkt soll hier nur kurz diskutiert werden. Die moderne Psychologie hat Glück mittlerweile in zwei Komponenten zerlegt. Einerseits gibt es die langfristig angelegte, allgemeine Zufriedenheit mit dem eigenen Dasein (baseline happiness, life satisfaction), die mit der generellen Einschätzung des Lebens zusammenhängt. Die zweite Komponente bezeichnet das momentan empfundene Glück oder Unglück, welches von den gerade gegebenen Umständen abhängt (affective states, hedonic states).1 Wenn man Hunger hat und dann etwas zu essen bekommt, macht das momentan glücklich, doch wirkt es sich kaum auf die langfristige Lebenszufriedenheit aus. Bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen spielen letztlich beide dieser Glückskomponenten eine Rolle, auch wenn bei Surveys im Allgemeinen nach der längerfristigen Lebenszufriedenheit gefragt wird. Mehr Einkommen sollte sowohl zu mehr Lebenszufriedenheit als auch zu vermehrten Glücksmomenten führen. Sprechen wir deshalb im Folgenden von Glück, dann schließt dies immer beide Komponenten mit ein. Es bleibt jedoch die Frage, wie denn das Glück überhaupt gemessen werden kann. Am einfachsten wäre das mit einem technischen Messgerät, welches den Glückszustand eines Menschen objektiv feststellt, so wie etwa ein Thermometer die Temperatur misst. Ein solches Messgerät würde dann zum Beispiel die elektrische Hirnaktivität, die Konzentration gewisser Substanzen im Gehirn,
1
Siehe z.B. Diener and Oishi (2000). Kahneman and Ris (2005) machen noch eine andere Unterscheidung und zwar zwischen erlebtem Wohlbefinden (experienced well-being) und evaluiertem Wohlbefinden (evaluated well-being).
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den Pulsschlag des Herzens und die Hautfeuchtigkeit messen und daraus mittels eines Computerprogramms einen objektiven Glückswert berechnen. Der britische Ökonom Francis Ysidro Edgeworth träumte bereits im Jahre 1881 von einem solchen Gerät und nannte es Hedonometer. Leider hat uns der technische Fortschritt in dieser Hinsicht im Stich gelassen – bis heute gibt es keine Hedonometer. Also bleibt der Glücksforschung nichts anderes übrig, als die Menschen nach ihrem jeweiligen Glückszustand zu befragen, wobei die Antwort dann zwangsläufig von der subjektiven Selbsteinschätzung der Befragten abhängt. Eine Einschätzung des eigenen Glückszustandes ist aber gar nicht so einfach. Stellen Sie sich vor, Sie werden plötzlich von jemandem auf der Straße angesprochen, der Ihnen folgende Frage stellt: „Alles in allem, wie würden Sie Ihren Zustand in letzter Zeit beschreiben? Würden Sie sagen, dass Sie a) sehr glücklich, b) ziemlich glücklich, oder c) nicht so glücklich sind?“ Diese Frage wird den Menschen im General Social Survey2 gestellt, welches das durchschnittliche Glücksempfinden der Menschen in mehreren Ländern über die Jahre hinweg erfasst. Oder nehmen Sie an, Sie werden mit folgender Frage belästigt: „Wie zufrieden sind Sie zur Zeit insgesamt mit ihrem Leben auf einer Skala von 1 (unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden)?“. Das ist die Frage, die im World Values Survey3 gestellt wird, welches das Glücksempfinden der Menschen in verschiedenen Ländern vergleicht. Ehrlich gesagt, wenn man mich das fragen würde, wäre ich ziemlich überfordert. Häufig wissen wir selbst nicht, ob wir eigentlich glücklich sind oder nicht. Kommt jemand gerade vom Arzt und hat dieser festgestellt, dass sich der Verdacht auf Krebs nicht bestätigt hat, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sich dieser Mensch glücklich fühlt. Ist das Resultat aber umgekehrt, und wurde der Verdacht auf Krebs bestätigt, wird er seinen Zustand hingegen kaum als glücklich bezeichnen. Obwohl es sich um dieselbe Person handelt, wird ihre Antwort je nach Situation unterschiedlich ausfallen. Solche Antworten sind immer durch die gegenwärtigen Umstände bestimmt und deshalb durch diese geprägt (statistisch verzerrt). Es gibt keine Möglichkeit, den Glückszustand eines einzelnen Menschen mittels Befragung objektiv festzustellen. Allerdings ist die Unmöglichkeit, das Glück eines einzelnen Menschen objektiv festzustellen, für die Glücksforschung weniger schlimm, als man zunächst annehmen könnte. Zwar muss man die Antworten einzelner Menschen in Bezug auf ihren Glückszustand mit Vorsicht genießen. Befragt man aber eine ausreichend große Menge von Personen, dann erhält man trotzdem ein
2
Davis et al. (2001).
3
Inglehart (2000).
Die Tretmühlen des Glücks
adäquates Bild ihres durchschnittlichen Glücksempfindens.4 Der Grund liegt darin, dass die meisten „Fehler“ bei der Angabe des eigenen Glückszustandes bei der Befragung einer genügend großen Menge von Menschen wieder aufgehoben werden. In Bezug auf unser Beispiel hieße dies, dass sich die Zahl derjenigen mit einem positiven Untersuchungsergebnis und derjenigen mit einem negativen Untersuchungsergebnis nach einem Arztbesuch in etwa die Waage halten. Und damit haben die Untersuchungsergebnisse auf das mittels Befragung ermittelte durchschnittliche Glücksempfinden keinen Einfluss mehr. Etwas gilt es bei Glücksbefragungen allerdings zu beachten: Menschen neigen dazu, ihren Glückszustand als höher anzugeben, als er tatsächlich ist. „People err on the bright side“, wie es der Psychologe David Myers formulierte. Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe verantwortlich. Erstens sagen Menschen, dass sie glücklich sind, weil man das von ihnen erwartet und weil sie es auch selbst von sich erwarten. Schließlich hat man ja häufig alles, was es zu einem glücklichen Leben braucht: einen guten Job, ein ansprechendes Einfamilienhaus oder eine gute Wohnung, ein Auto der oberen Mittelklasse, Kinder ohne Lernschwierigkeiten in der Schule, und sogar die Ehe funktioniert einigermaßen. Da kann man doch nicht angeben, dass man nur mäßig oder gar nicht zufrieden ist. Schon gar nicht in einer Gesellschaft, die zunehmend nur noch aus erfolgreichen, souveränen, selbstbestimmten und demzufolge natürlich auch glücklichen Männern und Frauen zu bestehen scheint. Der zweite Grund für die Überschätzung liegt an der Art der Befragung selbst. Wenn man wählen kann, ob man „sehr glücklich“, „ziemlich glücklich“, oder „nicht so glücklich“ ist, dann wählen die meisten den Zustand „ziemlich glücklich“. Und kann man die Zufriedenheit in einer Skala von 1 (unzufrieden) bis 4 (sehr zufrieden) einordnen, dann wählen die meisten Menschen den Wert 3. Die Menschen besitzen die Tendenz, immer einen Wert etwas unterhalb des höchst möglichen Wertes anzugeben. Man möchte im positiven Bereich (glücklich, zufrieden) sein, aber dabei nicht übertreiben und gleich den höchsten Wert wählen. Diese Wahl treffen die Befragten oftmals ziemlich unabhängig von ihrem tatsächlichen Befinden, da sie den gewählten Wert als den richtigen Sollwert (und nicht Istwert) betrachten.5 Allerdings stellt auch die generelle Überschätzung des eigenen Glückszustandes kein Problem dar, wenn wir durchschnittliche Glückswerte eines Landes in verschiedenen Jahren miteinander vergleichen. Solange nämlich die Menschen den Glückszustand immer gleichviel überschätzen, können wir trotzdem erkennen, ob die Menschen insgesamt glücklicher oder unglückli-
4
Siehe Frey and Stutzer (2002a); Easterlin (2001); Clark and Oswald (2002).
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Ausführlich beschrieben ist diese Tatsache in Blanchflower/Oswald (2004).
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cher geworden sind. Vorsicht ist aber geboten, wenn wir die Glückszustände der Bevölkerung zwischen verschiedenen Ländern vergleichen.6 Folgendes lässt sich festhalten: In Bezug auf einen einzelnen Menschen sagen in Umfragen ermittelte Glückswerte nur wenig aus. Befragt man jedoch eine größere Menge an Personen, dann erhält man trotzdem ein einigermaßen adäquates Bild des Glücksempfindens der Bevölkerung, auch wenn dieses insgesamt nach oben verzerrt ist. Das ist allerdings nicht weiter tragisch, wenn wir an der Veränderung des Glücks im Zeitablauf interessiert sind. In diesem Fall geht es nicht um den absoluten Wert des Glückszustandes in einem bestimmten Jahr, sondern um dessen relative Veränderung über die Jahre hinweg.
2. Glück und Einkommen Ergebnisse empir ischer Unter suchungen 2.1 Sind die Menschen in reichen Ländern glücklicher als in armen Ländern? Wie glücklich sind die Menschen in verschiedenen Ländern? Die am besten bekannten empirischen Untersuchungen zum Glück stammen von Befragungen, die das durchschnittliche Glücksempfinden der Menschen in verschiedenen Ländern miteinander vergleichen. Eine führende Rolle spielt dabei der so genannte World Values Survey7, der Daten zu mittlerweile 82 Ländern enthält. Abbildung 1 zeigt die Beziehung zwischen dem durchschnittlichen Jahreseinkommen pro Kopf in den einzelnen Ländern (unter Berücksichtigung der Kaufkraftparitäten) und dem Glücksempfinden der Menschen dieser Länder. Dieses ist hier gemessen als die Prozentzahl der Menschen, die mit ihren Leben glücklich oder zufrieden sind. Auf den ersten Blick spricht Abbildung 1 eine deutliche Sprache. Solange ein Land arm ist, steigt das durchschnittliche Glücksempfinden bei einer Erhöhung des Einkommens sehr schnell an. Ist aber einmal der Schwellenwert von etwa 15 000 Dollar pro Kopf erreicht, dann führt eine weitere Zunahme des Einkommens zu keinem weiteren Anstieg des Glücksempfindens. So sind die Menschen in den USA mit einem durchschnittlichen Einkommen von 30 000 Dollar viel glücklicher als die Menschen in der Ukraine oder in Peru, wo das Durchschnittseinkommen unter 5000 Dollar liegt. Aber sie sind nicht glückli-
6 7
Siehe dazu Diener et al. (2000). Im Internet zu finden unter www.worldvaluessurvey.com. Siehe dazu auch Griffith (2005).
Die Tretmühlen des Glücks
cher als die Menschen in Taiwan oder Südkorea, wo das Einkommen 15 000 Dollar beträgt. Abbildung 1: Glück und Einkommen im Ländervergleich 8
Aus den Daten des World Values Survey können wir grob folgende Schlussfolgerung ziehen: Einkommen macht glücklich, solange die Menschen eines Landes arm sind. Wenn aber der Schwellenwert von 15 000 Dollar bis 20 000 Dollar Durchschnittseinkommen pro Kopf erreicht ist, gilt das nicht mehr. Mehr Einkommen trägt also nicht mehr zum durchschnittlichen Glücksempfinden bei. Der Soziologe Ronald Inglehart, der den World Values Survey betreut, stützt diese Interpretation und liefert auch eine Erklärung. In armen Ländern geht es zunächst einmal um die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse. Solange man nicht genug zu essen hat und in einer armseligen Hütte dahinvegetiert, trägt mehr Einkommen entscheidend zum Lebensglück bei. Ist aber der Schwellenwert erreicht, bei dem die Grundbedürfnisse gedeckt sind, dann geht es um andere Dinge, die Inglehart mit lifestyle issu-
8
Quelle: Inglehart (2000).
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es umschreibt. Nicht „satt werden“, ist jetzt gefragt, sondern Nouvelle cuisine oder Reformkost. Und mit dem Erreichen des Schwellenwertes machen sich auch die Tretmühleneffekte bemerkbar, die hier weiter unten beschrieben sind. Allerdings gilt es weitere Aspekte zu beachten. Erstens lassen sich deutliche geographische Einflüsse feststellen. Die Menschen in lateinamerikanischen Ländern sind bei gleichem Einkommen viel glücklicher als Menschen in Ländern des ehemaligen Ostblocks. Es gibt also so etwas wie einen Latino-Glücksfaktor und einen Ostblock-Melancholiefaktor. Für die Menschen, die schon einmal in Lateinamerika oder in der Karibik waren, sind die relativ hohen Glückswerte in diesen Ländern kaum überraschend. So sind etwa Kolumbianer im Durchschnitt glücklicher als die Menschen in Deutschland oder Österreich, obwohl ihr durchschnittliches Einkommen viel geringer ist. Heißes Klima, Salsa, Samba und eine lockere Lebenseinstellung haben hier sicher einen positiven Einfluss. Und bei den besonders tiefen Werten der Länder des ehemaligen Ostblocks spielen wohl das kalte Klima, jahrzehntelange Frustration durch Kommunismus und vielleicht auch übermäßiger Wodkakonsum eine Rolle. Mit anderen Worten: Die Menschen in den ehemaligen Ostblockländern werden selbst bei stark steigendem Einkommen Mühe haben, sich so glücklich zu fühlen wie die Latinos. Einkommen erklärt nur einen Teil der Variation des Glücksempfindens zwischen verschiedenen Ländern. Zweitens ist Glück nicht zwingend gleich Glück in allen Ländern. Verschiedene Kulturen haben unterschiedliche Vorstellungen vom Glück entwickelt, und es ist nicht klar, ob Glück in Zimbabwe genau dasselbe bedeutet wie in den USA.9
2.2 Sind die Menschen mit dem Wirtschaftswachstum glücklicher geworden? Neben Ländervergleichen gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, die das durchschnittliche Glücksempfinden der Menschen in den einzelnen Ländern im Zeitablauf erfassen.10 Die längsten Datenreihen liegen für die USA und Japan vor, wo Glücksbefragungen bereits seit dem Zweiten Welt-
9
Siehe Veenhoeven (2000, in Diener/Suh) zu diesem Thema. Der Autor kommt allerdings zum Schluss, dass das unterschiedliches Glücksverständnis zwischen den Kulturen keine große Rolle spielt.
10 Beschrieben sind diese Ergebnisse in Blanchflower/Oswald (2004), Diener/Suh (1997), Diener/Oishi (2000), Diener/Biswas-Diener (2002), Easterlin (1995), Easterlin/Angelescu (2009), Easterlin et al. (2011) und Kenny (1999).
Die Tretmühlen des Glücks
krieg durchgeführt wurden. Und das Ergebnis ist in beiden Ländern genau dasselbe: In den USA hat sich das reale Bruttoinlandprodukt pro Kopf seit dem Zweiten Weltkrieg mehr als verdreifacht, aber das Glücksempfinden der Bevölkerung ist genau gleich geblieben. Seit 1946 bezeichnen sich 30 Prozent der amerikanischen Bevölkerung als sehr glücklich (siehe Abbildung 2), und in einer Zufriedenheitsskala von 1 bis 10 liegt der Wert konstant bei etwas über 7.11 Abbildung 2: Glück und Wohlstand in den USA
Noch extremer ist der Fall in Japan, wo sich das Bruttoinlandprodukt seit dem Zweiten Weltkrieg sogar versechsfacht hat, aber das Glücksempfinden ebenfalls konstant geblieben ist. Und in den europäischen Ländern, wo man auf Daten seit Beginn der 70er Jahre zurückgreifen kann, zeigt sich dasselbe Bild: steigende durchschnittliche Einkommen, konstantes Glück, obwohl der materielle Wohlstand seit dem Krieg enorm angestiegen ist. Der britische Ökonom Richard Easterlin12, einer der Pioniere der ökonomischen Glücksforschung, kann sogar noch mehr zeigen. Seine Untersuchungen zu den USA deuten an, dass nicht nur das durchschnittliche Glücksempfinden, sondern auch das Glücksempfinden der verschiedenen Generationen über ihren Lebenszyklus stagniert. Obwohl die Menschen insbesondere in den 50er und 60er Jahren viel reicher wurden, wurden die gleichen Menschen, die etwa
11 Siehe Layard (2005). 12 Easterlin (2001).
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zu Beginn der 50er Jahren noch arm waren, durch den erworbenen Reichtum in den 50er und 60er Jahren nicht glücklicher, sondern traten, was ihr Glücksempfinden betrifft, an Ort und Stelle. Die Stagnation des Glücksempfindens lässt sich auch bei sämtlichen Schichten der Gesellschaft beobachten. Die Daten zu den USA zeigen, dass es sowohl für Männer wie für Frauen, für Schwarze und Weiße und auch für hohe und tiefe Bildungsschichten gilt.13 Das durchschnittliche Glücksempfinden lässt sich in Industrieländern durch Wirtschaftswachstum nicht erhöhen. Weder Auto noch Einfamilienhaus, weder Fernsehen noch Kühlschrank, weder Ferien in der Karibik noch Internet haben daran etwas geändert.
2.3 Sind reiche Menschen glücklicher als arme Menschen? Aufgrund dieser Resultate könnte man jetzt vorschnell die Schlussfolgerung ziehen, dass Geld tatsächlich nicht glücklich macht. Doch so allgemein kann man das nicht sagen. Es gibt nämlich empirische Forschungen, die nicht das durchschnittliche Glücksempfinden der Bevölkerung untersuchen, sondern der Frage nachgehen, ob denn zu einem bestimmten Zeitpunkt die Reichen eines Landes glücklicher sind als die Armen.14 Und, siehe da, sie sind es tatsächlich! Tabelle 1 zeigt die Situation in den USA im Jahre 1994. Um eine Aussage über den Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen machen zu können, wurde die Bevölkerung in verschiedene Einkommensklassen unterteilt. Für jede dieser Einkommensklassen wurde dann wiederum das aufgrund von Umfragen ermittelte durchschnittliche Glücksempfinden aus dem General Social Survey ermittelt. Tabelle 1 zeigt die Resultate für die verschiedenen Einkommensklassen. Die in Tabelle 1 wiedergegebenen Werte zeigen deutlich, dass die Menschen aus reichen Haushalten in den USA glücklicher sind als die aus armen Haushalten. Der Prozentsatz der Menschen, die sich als „sehr glücklich“ bezeichnen, steigt von Einkommensklasse zu Einkommensklasse kontinuierlich an und erhöht sich von 16 Prozent bei der tiefsten Einkommensklasse auf 44 Prozent in der höchsten Einkommensklasse. Umgekehrt sinkt der Prozentsatz der Menschen, die sich als „nicht so glücklich“ bezeichnen, von 23 auf 6 Prozent. Und betrachtet man den in der Tabelle ebenfalls angegebenen nume-
13 Blanhflower/Oswald (2004). 14 Siehe etwa Ahuvia/Friedman (1998), Easterlin (1995, 2001), Diener/Biswas-Diener (2002) und Frey/Stutzer (2002b).
Die Tretmühlen des Glücks
rischen Wert in der Kolonne Glücksrating, dann nimmt dessen Wert von der ärmsten bis zur reichsten Einkommensklasse deutlich zu. Allerdings sind die Unterschiede in den mittleren Einkommensklassen nicht gerade groß, und Mitglieder von Haushalten mit einem Einkommen von 25 000 Dollar sind etwa gleich glücklich wie Mitglieder von Haushalten mit einem Einkommen von 45 000 Dollar.15 Tabelle 1: Glück und Einkommen bei verschiedenen Einkommensklassen in den USA im Jahre 1994 Gesamtes Haushaltseinkommen
sehr glücklich (in Prozent)
Durchschnitt für alle Einkommensklassen weniger als 10000
ziemlich nicht so Durchschnittl. glücklich glücklich Glücksrating (in Prozent) (in Prozent) 28 60 12 2.4 16
62
23
1.8
10000 bis 20000
21
64
15
2.1
20000 bis 30000
27
61
12
2.3
30000 bis 40000
31
61
8
2.5
40000 bis 50000
31
59
10
2.4
50000 bis 75000
36
58
7
2.6
über 75000
44
49
6
2.8
Das durchschnittliche Glücksempfinden wurde aufgrund einer willkürlich gewählten Skala berechnet, bei welcher „sehr glücklich“ mit 4, „ziemlich glücklich“ mit 2 und „nicht so glücklich“ mit 0 bewertet wurde.16 Die USA sind nun keineswegs ein Sonderfall. Zusammengefasste Daten aus den Eurobarometer Surveys, wo die Haushalte der EU-Länder in vier Einkommenskategorien unterteilt werden, zeigen, dass sich 88 Prozent der höchsten Einkommensklasse als „sehr zufrieden“ oder „einigermaßen zufrieden“ bezeichnen. In der untersten Einkommenskategorie liegt deren Anteil jedoch lediglich bei 66 Prozent.17 Und selbst in der an sich schon reichen Schweiz
15 Ausführlich untersucht wurden diese Daten in Easterlin (2001). 16 Diese Zuweisung von numerischen Werten zu den einzelnen Zuständen ist allerdings methodisch nicht ganz sauber, denn in Wirklichkeit wandelt man damit eine ordinale Größe (die verschiedenen Glückszustände) in eine kardinale Größe (die numerischen Werte) um. Man kann nicht sagen, dass jemand der sehr glücklich ist, genau doppelt so glücklich ist, wie jemand der einigermaßen glücklich ist, doch das wird mit den numerischen Werten suggeriert. 17 Siehe Di Tella et al. (1999).
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nimmt die Prozentzahl derjenigen, die mit dem Leben nicht zufrieden sind, mit der Höhe des Einkommens ab.18 Macht Geld also doch glücklich? Vergleichen wir die verschiedenen Forschungsresultate, dann scheint hier zunächst ein Widerspruch vorzuliegen. Auf der einen Seite stagniert das durchschnittliche Glücksempfinden der gesamten Bevölkerung bei steigenden Einkommen. Doch auf der anderen Seite sind die Reichen glücklicher als die Armen: Dieser Widerspruch lässt sich aber auflösen, da es in Wirklichkeit um zwei unterschiedliche Sachverhalte geht. Was für die Einzelnen bzw. eine einzelne Einkommensgruppe gut ist, muss noch lange nicht gut für alle sein. Wenn Einzelne mit steigendem Einkommen glücklicher werden, dann heißt dies nicht, dass die Gesamtheit der Bevölkerung bei steigendem Einkommen ebenfalls glücklicher wird. Das ist der Trugschluss der Verallgemeinerung, vor dem man sich auch in der Glücksforschung hüten muss. Ein einfaches Beispiel möge diesen Trugschluss illustrieren. Stellen Sie sich ein Fussballspiel vor, bei dem alle Zuschauer auf der Tribüne sitzen und aufmerksam das Spiel verfolgen. Nun spielt sich eine spannende Szene vor dem Tor einer Mannschaft ab, das jedoch etwas weiter von der Tribüne entfernt ist. Unter diesen Umständen kann es leicht geschehen, dass ein Einzelner sich erhebt, um das Geschehen besser verfolgen zu können, was ihm einen persönlichen Vorteil in Bezug auf seine Sicht verschafft. Allerdings nicht für lange. Entweder wird er von den hinter ihm sitzenden Zuschauern lautstark daran erinnert, sich wieder hinzusetzen, oder diese stehen ebenfalls auf. Im zweiten Fall wird es nicht lange dauern, bis alle Zuschauer aufgestanden sind mit dem Resultat, dass niemand mehr einen Vorteil in dieser neuen Situation von stehenden Zuschauern hat. Alle sehen wieder genau gleich gut oder schlecht wie im sitzenden Zustand. Was für den Einzelnen, der zuerst aufgestanden ist, kurzfristig ein Vorteil war, bringt für die Gesamtheit der Zuschauer überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil: Stehen ist auf die Dauer unbequemer als sitzen, und dieser Nachteil wird sich nach einiger Zeit in den Beinen bemerkbar machen. Ganz ähnlich wie beim Fußballspiel verhält es sich auch mit dem Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück. Wenn ein Einzelner versucht, mehr Geld als die anderen zu verdienen, dann verbessert er damit seine Position in der Gesellschaft, da er andere mit seinem Einkommen übertrifft und im Vergleich zu diesen relativ reicher wird. Aber wie bei den Zuschauern beim Fußballspiel, verschlechtert dies die Situation der übrigen Mitglieder der Gesellschaft, da sie jetzt relativ ärmer geworden sind. Deshalb werden einige von ihnen zusätzliche Anstrengungen machen, um ebenfalls mehr Geld zu verdienen. Doch leider können nicht alle reicher werden als alle andern. Das ist eine
18 Siehe Bundesamt für Statistik (2002).
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traurige Tatsache des Lebens. Selbst wenn das Einkommen absolut ansteigt, bleibt immer ein Prozentsatz der Bevölkerung relativ arm (unter dem Durchschnitt), so sehr sich dieser auch Mühe gibt und dafür abrackert, reicher zu werden. Wenn deshalb das Glück der Menschen entscheidend von ihrem relativen Einkommen im Vergleich zu anderen abhängt, dann ergibt sich aus den unterschiedlichen empirischen Forschungsresultaten kein Widerspruch. Werden alle Bürger eines Landes reicher, dann bleibt trotzdem immer ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung relativ arm und damit unglücklich. Die gesamte Bevölkerung wird also durch Geld nicht glücklicher. Wird aber ein Einzelner reich, dann verbessert er damit seine relative Position in der Gesellschaft, was zu seinem persönlichen Glück beiträgt. Den Einzelnen kann Geld deshalb durchaus glücklich machen, solange die anderen relativ arm bleiben.
3. Glück und Ar bei t Mehr Einkommen ist häufig (aber längst nicht immer) auch mit mehr Arbeit verbunden. Wir können uns deshalb auch die Frage stellen, welche Rolle die Arbeit für die Zufriedenheit oder das Glück eines Menschen spielt. Dabei zeigt es sich, dass diese Beziehung zwiespältig ist und es sehr darauf ankommt, unter welchen Bedingungen gearbeitet wird. Einerseits sind der Verlust des Arbeitsplatzes und eine daraus folgende Arbeitslosigkeit die am besten nachgewiesenen Unglücksfaktoren im Leben eines Menschen, welcher die Lebenszufriedenheit stark beeinträchtigt.19 Allerdings ist dies nicht so sehr der Fall, weil Menschen so unglaublich gerne arbeiten oder weil sie ohne Job weniger Geld zur Verfügung haben. Viel stärker leidet die Lebensqualität, weil sich Arbeitslose ausgegrenzt fühlen, ihre Selbstachtung leidet, und ihr sozialer Status zum größten Teil an ihrer Arbeit hängt. Und nicht nur die Arbeitslosigkeit selbst macht unglücklich, sondern auch die drohende Arbeitslosigkeit. So machen sich Menschen, die einen Job haben, bei steigenden Beschäftigungsproblemen immer mehr Sorgen um ihren Arbeitsplatz. Und dieser Angstfaktor ist erheblich. In einem Artikel aus dem Jahr 2003 schätzen die Ökonomen Raphael Di Tella, Robert MacCulloch und Andrew Oswald, dass, wenn die Arbeitslosenquote um 1,5 Prozentpunkte steigt, man jedem Bürger und jeder Bürgerin – nicht nur den Arbeitslosen! – um die 300 Euro pro Monat zahlen müsste, um den Verlust an Lebensqualität durch die höhere Arbeitsplatzunsicherheit zu kompensieren.
19 Kassenboehmer/Haisken-DeNew (2009) und Blanchflower/Oswald (2004).
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Andererseits gibt es auch Studien, die zeigen, dass die am Arbeitsplatz verbrachten Stunden nur wenig glücklich machen. Dies offenbart etwa eine umfangreiche Studie des Nobelpreisträgers in Ökonomie aus dem Jahre 2002, Daniel Kahnemann, für die 1000 texanische Frauen an einem Arbeitstag angeben mussten, welchen Tätigkeiten sie an diesem einen Tag nachgegangen waren und wie sie sich dabei gefühlt hatten. Dabei gab es nur eine Aktivität, die noch weniger glücklich machte, als die am Arbeitsplatz verbrachte Zeit und zwar das Pendeln zur Arbeit am Morgen.20 Wir können den Zusammenhang zwischen Arbeit und Glück somit vereinfacht auf folgende Formel bringen: Menschen sind während ihrer Arbeit oft nicht besonders glücklich, aber trotzdem empfinden sie den Verlust des Arbeitsplatzes aus den oben genannten Gründen als großes Unglück. Die geringe Freude an der Arbeit hat aber auch stark mit der Art zu tun, wie Arbeit organisiert ist und von welchem Menschenbild dabei ausgegangen wird. So wird man heute zwar nicht müde zu betonen, wie wichtig die Freude an der Arbeit und die damit verbundene intrinsische Motivation ist. In Wirklichkeit aber stellt man in vielen öffentlichen und privaten Organisationen alle Beschäftigten unter den Generalverdacht, Leistungsverweigerer zu sein.21 Deutlich aufgezeigt hat dies Reinhard Sprenger in seinem 1992 erstmals erschienenen Bestseller „Mythos Motivation“.22 Und bei potentiellen Leistungsverweigerern hilft nur die extrinsische Motivation durch Zuckerbrot und Peitsche, um eine entsprechende Leistung aus ihnen herauszuquetschen. Damit entsteht aber nicht eine Vertrauens-, sondern eine Misstrauenskultur, die ein angenehmes Arbeitsklima verhindert. Ohne intrinsische Motivation wird auf die Dauer niemand echte Freude an der Arbeit empfinden. Die Arbeitszufriedenheit bzw. das Glück der Einzelnen beim Ausüben ihrer beruflichen Tätigkeit ist eng an die intrinsische Motivation gekoppelt. Nur diese kann zu einem so genannten Flow-Erlebnis führen23, bei dem der Mensch in seiner Tätigkeit aufgeht und mit seiner Aufgabe „verschmilzt“. In diesem Zustand wird Arbeit nicht mehr als anstrengend oder mühevoll empfunden, sondern als innerlich befriedigend. Damit soll nun keineswegs gesagt sein, dass Menschen, bei denen die intrinsische Motivation dominiert, den ganzen Arbeitstag über von einem Flow-Erlebnis zum nächsten gleiten. Keine Arbeit ist immer angenehm, und bei bestimmten Arbeiten ist es einfacher als bei anderen. Doch ein echt intrinsisch motivierter Mensch erlebt
20 Kahnemann et al. (2004). 21 Binswanger (2010). 22 Sprenger (2002) S. 42ff. 23 Csikszentmihaly (1991).
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von Zeit zu Zeit solche Momente, während sie einem ausschließlich extrinsisch motivierten Menschen gänzlich verwehrt sind. Solange man deshalb mit Zuckerbrot und Peitsche ausschließlich auf die Förderung der extrinsischen Motivation setzt, werden wir nur selten Menschen antreffen, die bei der Arbeit tatsächlich glücklich sind.
4. Ökonomische Schluss folger ungen Aus den eben dargestellten empirischen Ergebnissen zum Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen ergibt sich eine eindeutige Schlussfolgerung. Wir sollten uns wieder auf den eigentlichen Daseinszweck der Wirtschaft besinnen, den der britische Schriftsteller George Bernard Shaw folgendermaßen beschrieben hat: „Ökonomie ist die Kunst, das Beste aus unserem Leben zu machen.“ Mit anderen Worten: Es geht nicht um Einkommensmaximierung, sondern darum, dass die Menschen eines Landes ein möglichst glückliches Leben führen können. Aus ökonomischer Sicht geht es dabei um einen zweistufigen Prozess. Erstens müssen wir ein Einkommen erzielen, damit wir uns die Dinge leisten können, die wir für ein glückliches Leben brauchen. In dieser Hinsicht sind wir in den Industrieländern im Allgemeinen Profis. Von klein auf lernen wir die Fähigkeiten, die es braucht, um in der Arbeitswelt Karriere zu machen. Leider reicht das aber nicht aus, wie viele Menschen in ihrem späteren Leben schmerzlich erfahren müssen. Man muss auch in der Lage sein, das verdiente Einkommen so zu verwenden, dass es glücklich macht. Das ist die zweite, noch schwierigere Stufe bei der Verwirklichung eines glücklichen Lebens. Und in dieser Beziehung sind wir oft Amateure. So gut wir beim Geldverdienen sein mögen, so schlecht sind wir bei der Umsetzung des Einkommens in Glück. Die dafür erforderlichen Fähigkeiten, die sich mit dem französischen Savoir-vivre oder dem deutschen Wort „Lebenskunst“ umschreiben lassen, werden uns in der Schule nicht beigebracht. Ein Mensch, der nur ans Geldverdienen denkt, handelt unökonomisch, weil er damit sein Glück nicht maximiert. Er verhält sich ineffizient, und zwar in dem Sinn, dass er seine ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht optimal nutzt. Die wesentlichen Ressourcen für den einzelnen Menschen sind Zeit und Geld. Das Ziel muss sein, den optimalen Mix von Zeit und Geld zu finden, der zu einem möglichst glücklichen Leben führt. Bei der Frage nach dem Glück von Einzelnen trifft sich somit die ökonomische Betrachtungsweise mit der Psychologie und der Philosophie. Es geht um eine Rückbesinnung auf den eigentlichen Zweck des Wirtschaftens, der nicht in der Einkommensmaximierung, sondern, wenn schon, in der Glücksmaximierung besteht. Eine ausschließlich auf Wirtschaftswachstum ausgerichtete Politik ist aus diesem
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Grund ökonomisch ebenfalls verfehlt, denn das macht ökonomisch nur dann Sinn, wenn die Menschen dadurch auch glücklicher oder zufriedener werden. Jede Zeit produziert ihre eigenen Verrücktheiten. Schon heute fragen wir uns, wie es möglich war, dass sich die Menschen in Russland ihr Leben über fast hundert Jahre mit dem Kommunismus vermiesen ließen. Und unser Verständnis hört ganz auf, wenn es um Inquisition oder Hexenverbrennungen geht, womit Kirche und staatliche Justiz über lange Zeit Angst und Schrecken verbreiteten. Doch wir sollten vorsichtig sein. Spätere Generationen werden sich auch einmal fragen, warum sich die Menschen in der heutigen Gesellschaft trotz eines zuvor nie dagewesenen Wohlstands ständig noch mehr stressen liessen, statt diesen Wohlstand zu geniessen. Vor fast zweitausend Jahren degenerierte das damals reiche Rom, weil sich seine Bürger und Bürgerinnen buchstäblich zu Tode amüsierten. Im Vomitorium steckten sie sich einen Finger in den Mund, um die eben genossenen Leckerbissen wieder herauszukotzen, um noch mehr Köstlichkeiten zu sich nehmen zu können. So erfanden die alten Römer ständig noch perversere Methoden, um ihren Wohlstand zu verprassen. Dieser Degenerationsprozess jedoch war immerhin unterhaltsam und mit einem – wenn auch fragwürdigen – Genuss verbunden. In den Industrieländern laufen wir heute Gefahr, auf eine viel unattraktivere Art zu degenerieren. Es lohnt sich, dagegen etwas zu unternehmen.
Li ter a tur Ahuvia, A. C./D. Friedman (1998): Income, Consumption, and Subjective WellBeing. Toward a Composite Macromarketing Model. In: Journal of Macromarketing 18, S. 153-168. Binswanger, Mathias (2006a): Die Tretmühlen des Glücks. Freiburg i.Br.: Herder. Binswanger, Mathias (2006b): Why Does Income Growth Fail to Make Us Happier? Searching for the Treadmills Behind the Paradox of Happiness. In: Journal of Socio-Economics 36, S. 119-132. Binswanger, Mathias (2010): Sinnlose Wettbewerbe. Warum wir immer mehr Unsinn produzieren. Freiburg i.Br.: Herder. Bjørnskov, Christian (2003): The Happy Few, Cross-Country Evidence on Social Capital and Life Satisfaction. In: Kyklos 56, S. 3-16. Blanchflower, Daniel G./Andrew J. Oswald (2004): Well-Being Over Time in Britain and the USA. In: Journal of Public Economics 88, S. 1359-1386. Bundesamt für Statistik (2002): Sozialberichterstattung Schweiz. Wohlstand und Wohlbefinden, Lebensstandard und soziale Benachteiligung in der Schweiz. Neuchatel, BFS.
Die Tretmühlen des Glücks
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Mathias Binswanger
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Clara Schlichtenberger
Arbeit als Tretmühle, als Bildung oder als Flow-Erlebnis? Tal k r unde 1, moder ier t von T homas Ramge, mi t Ma t hias Binswanger, Ste f an Engeser, Sophie-T hérèse K rempl und Die ter T homä
Die Dramaturgin und Soziologin Sophie-Thérèse Krempl führte aus, dass man beim Vergleich der Beiträge von Mathias Binswanger und Dieter Thomä auf gewisse Korrelationen stoße: So finde man die bei Binswanger angeführte „Statustretmühle“ bei Thomä in der „Wut des Vergleichens“ wieder, die „Anspruchstretmühle“ entspreche in etwa der bei Thomä angeführten, sich immer weiter verschiebenden Ziellinie bei sich nicht erweiternden Handlungsspielräumen und die „Multioptionstretmühle“ der „Sucht des Synchronen“, der Parallelisierung von Ereignissen. Schließlich finde Binswangers „Zeitsparmühle“ ihre Entsprechung in der Entgrenzung von Arbeit und Leben. Der Flow-Forscher Stefan Engeser findet Parallelen zwischen der Flow-Forschung und Thomäs Ansatz von „Arbeit als Bildung“: Menschen gingen in ihrer Tätigkeit auf, wenn sie eine im gewissen Umfang herausfordernde Tätigkeit ausübten. Diese dürfe keine Überforderung mit sich bringen, sondern müsse eine zu bewältigende, selber zu gestaltende Aufgabe sein, die einer inneren Logik folge. Insofern gebe es eine Korrelation zwischen der „Arbeit als Bildung“ und der „Arbeit als zu gestaltender Herausforderung“. Der Glücksforscher Binswanger sieht das Glück nie in den Extremen, sondern in der Mitte, wo sich gewisse Kräfte die Balance halten. Die totale Freiheit sei die Hölle und die totale Sicherheit auch. Das Optimum finde sich irgendwo dazwischen. Weder Unterforderung noch Überforderung seien ideal. Man dürfe nicht vergessen: Der häufigste Kündigungsgrund sei nicht etwa die Bezahlung, sondern der Chef. Der Philosoph Thomä wies darauf hin, dass die Debatte in den letzten zwanzig, dreißig Jahren in einer Art Wellenlinie verlaufen sei, bei der die im
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Clara Schlichtenberger
Vortrag angesprochenen Freiheitsgewinne stark markiert wurden. Schon in den einführenden Worten zum Symposium sei von „Selbstverwirklichung“ gesprochen worden. In der klassischen Soziologie würde man von dieser Gegenüberstellung als von der zwischen Optionen und Bindungen sprechen. Wenn wir Bindungen einfordern, sollten wir nicht die Freiheitsräume schlechtreden, sondern die Balance finden. Krempl ergänzte, dass sie eine Gefahr der Ideologisierung der Arbeit durch den Anspruch auf „Selbstverwirklichung“ sehe. Man müsse es den Einzelnen überlassen, inwiefern sie Selbstverwirklichung oder ein Zweck sei. Arbeit müsse nicht zwanghaft zum „Flow“ werden. Im 18. Jahrhundert habe es einen Streit zwischen Adam Smith und David Hume über die Routine gegeben, führte Thomä weiter aus. Der eine habe gesagt, Routine sei gut, weil sie mit Könnerschaft verbunden sei. Der andere habe gesagt, Routine sei schlecht, weil sie innovationsfeindlich und stupid sei und verdumme. Kinder seien aber z.B. neugierig und innovativ und gleichzeitig Wiederholungsfanatiker. Eine anthropologische Konstante sei die Spannung zwischen diesen Elementen. Wir lieben an der Zeit die Wiederkehr oder die Veränderung. Diese zwei Seiten erscheinen im Arbeitsprozess. Der Arzt und Psychologe Verres wies darauf hin, dass der Begründer der Flowforschung, Mihaly Csikszentmihalyi, Situationen untersucht habe, die nichts mit Herausforderungen zu tun haben, z.B. das Glücksempfinden bei schaukelnden Kindern. Csikszentmihalyis Flow-Zustand sei ein Bewusstseinszustand, in dem man nicht mehr aber auch nicht weniger wolle.
Josephine Hofmann
Lernen im Alter Wer f r üh dami t beginnt, komm t wei ter.
1 . Eine andere Sicht au f die Fr ages tellung des demogr a f ischen Wandel s Die demografische Entwicklung ist mittlerweile breit in der wissenschaftlichen und öffentlichen Wahrnehmung als Herausforderung und Chance angekommen. Die Zahl der Veranstaltungen, Publikationen und Zeitschriftenfeatures wächst. Auch in der betrieblichen Wahrnehmung wächst die Sensibilität für die damit verbundenen Gestaltungsanforderungen. Doch ist ein Wechsel der Sichtweise der wesentlichen Akteure erforderlich, wie er zum Beispiel im Projekt „Länger leben. Länger arbeiten. Länger lernen“ realisiert wurde. Das vom Gesamtverband Metall finanzierte und vom Fraunhofer IAO gemeinsam mit dem Zentrum für Neurowissenschaft und Arbeit bearbeitete Projekt basierte auf folgende Annahmen: •
•
•
Die Leistungsfähigkeit Älterer ist immer ein Ergebnis des Alternsprozesses. Maßnahmen zur Sicherung der Lernfähigkeit im Alter müssen also früh ansetzen. Der Gegenstand von Gestaltungsbemühungen ist somit das „Altern“, nicht die Thematik „Ältere“. Dabei gibt es zahlreiche wissenschaftliche und auch praktisch erprobte Ansätze für ein körperlich/ergonomisch gesundes Altern. Aus der Wissenschaft sind zahlreiche gute Ansätze bekannt, die Unternehmen verfolgen dabei geeignete Maßnahmen. Akuter Forschungsbedarf im Rahmen dieses Projektes wurde nicht gesehen. Die Beschäftigungsfähigkeit hängt auch und immer stärker von der geistigen Leistungsfähigkeit ab. Es wurde deutlich, dass es gerade Älteren vielfach an Lernfähigkeit und Flexibilität fehlt; das ist eine Folge von Lern- und Veränderungsentwöhnung. Hier gilt es in doppelter Weise anzusetzen: Einmal, den betroffenen Älteren einen Ansatz zu bieten, mit dem sie wieder lern- und veränderungsfähig werden können, und zum anderen, ihnen einen Lösungsansatz zu bieten, wie Lern- und Veränderungsentwöhnung dauerhaft verhindert werden können.
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Josephine Hofmann
Entsprechend wurden die praktische Überwindung der Defizithypothese – die kurz zusammengefasst lautet: „Ältere können nicht mehr so wie Jüngere“ – und die Umsetzung des Standpunktes „Altern – nicht Ältere“ zu zentralen Ausgangspunkten des Projekts. Diese Kernthesen basieren auf drei Grundannahmen, die neurowissenschaftlich nachweisbar und begründbar sind: • • •
Ältere sind prinzipiell genauso lernfähig wie Jüngere. Das Gehirn entwickelt sich gebrauchsabhängig Mit dem Alter steigt die Varianz der Lernfähigkeit und der Lernleistung.
Die Plastizität des Gehirns, also seine Gestaltbarkeit und Veränderbarkeit, ist bis ins hohe Alter gegeben. Sie entwickelt sich jedoch „gebrauchsabhängig“, ähnlich einem Muskel.1 Im besten Fall bedeutet dies: „Use it and get more of it“, übersetzt: Lernfähigkeit und Alter(n) schließen sich nicht aus, vorausgesetzt, das Gehirn wird ständig gefordert in Bezug auf Lernen und Anpassung. Entsprechend nimmt dann auch die Varianz im Alter, also die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen, zu: Ältere unterscheiden sich in ihrer Lernfähigkeit und Lernleistung stärker als eine Gruppe jüngerer Menschen. Die gute Nachricht dabei ist: Überall dort, wo Varianz herrscht, sind auch der Gestaltungsspielraum und die wahrscheinliche Wirkung einer Einflussnahme etwa durch eine Gestaltung der Arbeits- und Lernanforderungen und -bedingungen groß. Das bedeutet aber auch, dass es nicht ausreicht, sich angesichts einer zunehmend alternden Gesellschaft (und damit einer Belegschaft) auf Maßnahmen für die vermeintliche „Problemgruppe“ der Älteren zu beschränken. Vielmehr muss der gesamte Prozess des Alterns in der Erwerbstätigkeit im Sinne der Schaffung einer kontinuierlichen Entwicklung positiv genutzt und gestaltet werden. Anders formuliert: „Lernen im Alter muss früh beginnen“, damit Entwicklungswege über die gesamte Spanne des Erwerbslebens offenbleiben und aktiv genutzt werden. Damit verschiebt sich das Augenmerk von einer „Sonderbehandlung“ älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen hin zu der Erkenntnis, dass von Beginn an ein großer Wert auf dauerhafte, tägliche Lernchancen gelegt werden muss, um das Gehirn, die Verhaltensmuster und die persönliche Gewöhnung darauf auszurichten und damit die physiologischen wie psychologischen Voraussetzungen für eine dauerhafte Lernfähigkeit und damit Flexibilität und Anpassbarkeit zu schaffen.2
1
Vgl. M. Spitzer (2008).
2
Vgl. Hofmann et al. (2010).
Lernen im Alter
Aus der nachweisbar größeren Varianz innerhalb der Gruppe der älteren Menschen den Schluss zu ziehen, die kognitive Leistungsfähigkeit älterer Menschen sei generell schlechter als die der jüngeren, ist deshalb so nicht richtig. Ältere Menschen lernen anders, knüpfen dabei auch eher an das bereits bestehende Wissen an, sie können aber prinzipiell die gleichen Veränderungen bewältigen wie jüngere Menschen.
Aufräumen mit einem Vorurteil „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ – diese vermeintliche Binsenweisheit stimmt so nicht. Sie lebte von der Überzeugung, dass das, was in Kindheit, Schule und Ausbildung nicht vermittelt wurde, auch später nicht mehr „an den Mann“ zu bringen sei. Vielmehr gilt: Lernen ist bis ins hohe Alter möglich. Die Bezeichnung „ausgelernt“ kann getrost aus unserem Wortschatz gestrichen werden. Angesichts der hohen Spezialisierung und des steten Wandels sind sowohl Berufseinsteiger und -einsteigerinnen als auch der ältere Erfahrungsträger gefordert, über die gesamte Dauer ihrer Erwerbsfähigkeit zu lernen. 3 Lernen heißt dabei für uns: Veränderungen bewältigen können, eine dauerhafte Entwicklung durchlaufen.4 Vor allem um diese Fähigkeit zur kontinuierlichen Entwicklung soll es im Folgenden gehen.
2. W ie sieht die Pr axis aus? Ein paar Schl agl ichter aus der Met all- und Elek t roindus t r ie Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse sind im Rahmen einer schriftlichen Befragung aller Mitgliedsbetriebe von Südwestmetall im Jahr 2010 entstanden. Diese Ergebnisse wurden ergänzt durch Fallstudien in einzelnen Betrieben, bei denen Gespräche mit Personalverantwortlichen, Fachvorgesetzten und Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen geführt wurden.
3
Vgl. Hofmann u. Korge (2011).
4
Vgl. E. Deci et al. (1989).
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Josephine Hofmann
Sinkende Weiterbildungsbeteiligung bei Älteren und geringer Qualifizierten Gut die Hälfte der Antwortenden in einer Online-Befragung aller Südwestmetall-Mitgliedsbetriebe (54 %) gibt an, dass Mitarbeiter über 50 Jahre weniger häufig an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen als jüngere. Damit liegen die im Projekt gefundenen Ergebnisse im Grundtenor vieler anderer Untersuchungen, die eindeutig eine Zurückhaltung in der Weiterbildung älterer Mitarbeiter belegen. In den Einzelgesprächen wurde deutlich: Die Ursache ist keineswegs ein differenziertes Bewilligungsverhalten seitens der Vorgesetzten und Personalabteilungen; sehr häufig geht diese unterdurchschnittliche Beteiligung auf ein unzureichendes Engagement seitens der älteren Mitarbeiter zurück, die die Relevanz der persönlichen Entwicklung und des kontinuierlichen Lernens für sich nicht erkennen. Auch direkte Vorgesetzte scheinen diese Haltung zumindest passiv eher zu unterstützen.
Die Rente mit 67 ist nicht in den Köpfen der Akteure angekommen. Über die Hälfte der schriftlich Befragten geht davon aus, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weiterhin „die Rente mit 60“ anpeilen. Allerdings gibt es große Unterschiede in den Unternehmen, je nachdem, wie groß sie sind bzw. wie die Altersstruktur aussieht. Je größer das Unternehmen ist, umso eher sehen auch die Befragten aus dem Personalmanagement bzw. der Produktions- oder Geschäftsleitung eine Lösung in der vorzeitigen Freistellung.
Lernangst und negative Lernassoziationen als schwierige Bürden Nach Angaben der Befragten aus dem Personalmanagement, der Produktions- oder Geschäftsleitung ist die tatsächlich erheblich geringere Weiterbildungsbeteiligung der Älteren darauf zurückzuführen, dass sie selbst keinen Bedarf für Weiterbildung sehen (78 %) bzw. großen Respekt vor dem Lernen oder gar Angst vor einer Überforderung (64 %) haben. Auch wird der Sinn der Weiterbildung als Voraussetzung für ein berufliches Fortkommen (58 %) nicht erkannt. Und ein weiterer erheblicher Wert: Die Hälfte der Beschäftigten, so die Einschätzung der Verantwortlichen, hat Angst vor Weiterbildung, da Weiterbildung einen Anfangspunkt markieren kann zur beruflichen Ver-
Lernen im Alter
änderung. Direkte Gespräche mit Mitarbeitern der Produktion bestätigen diese Sichtweise. Hier zeigen sich einerseits der Mangel an beruflichen Perspektiven in der zweiten Berufslebenshälfte und andererseits die Angst vor dem Umgang mit Lernen und resultierenden Veränderungen. Und Angst ist, soviel ist bekannt, ein Grund dafür, dass Lernanstrengungen nicht erfolgreich sind. Der allgemein anerkannten Notwendigkeit von lebenslangem Lernen steht das begrenzte Wissen über künftige berufliche Wissens- und Verhaltensanforderungen gegenüber.
Die (bisherigen) Schwerpunkte der demografiebezogenen Aktivitäten bei den Unternehmen liegen eindeutig im Bereich Gesundheit und Arbeitsergonomie. Die befragten Unternehmen setzen derzeit verstärkt an der Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten an, wobei hier vor allem Gesundheitsprogramme angeboten werden. Weitere realisierte Maßnahmen sind die ergonomische Arbeitsplatzgestaltung und der regelmäßige Arbeitsplatzwechsel (die sogenannte Job-Rotation) zur Vorbeugung vor einseitigen Belastungen. Das Gleiche gilt sinngemäß auch für die in der Online-Befragung kontaktierten Unternehmen.
Geistige Flexibilität und Lernorientierung gelten als Zukunftsthema. In der Weiterentwicklung der heutigen Ansätze sieht die Mehrzahl der befragten Unternehmen die Hauptstoßrichtung künftig im Bereich der geistigen Flexibilität, der dauernden Lernorientierung und der Veränderungsfähigkeit. Angesichts der Technologieintensität der Branche und der sich massiv verändernden Produktionsbedingungen wird hier ein kritischer Erfolgsfaktor gesehen.
Mitarbeiter und Führungskräfte gelten als wesentliche Verantwortungsträger für lebenslanges Lernen und Entwicklung. Von großer Eindeutigkeit waren die Aussagen über eine erhebliche Verantwortungsverschiebung, die einsetzen muss. Nicht mehr Personal- oder Wei-
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Josephine Hofmann
terbildungsabteilungen, sondern den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen selbst bzw. deren Führungskräften wird bei der lebenslangen Lern- und Veränderungsfähigkeit eine wesentliche Rolle zugeschrieben. 66 Prozent der Befragten sahen die Mitarbeiter in der ersten Pflicht, wenn es um das Erhalten und den Ausbau der geistigen Flexibilität und der Lernfähigkeit geht. Doch nicht nur den Mitarbeitern selbst, sondern auch deren Führungskräften wird in Bezug auf die kontinuierliche Lernfähigkeit eine große Verantwortung zugewiesen. Diese Anforderungen bzw. Erwartungen stehen im Gegensatz zum bisherigen Selbstbild und auch zur jetzigen Aufgabenzuschreibung für diese Personengruppen: „Kontinuierliches Lernen“ und „Mitarbeiterentwicklung“ stehen zurzeit keinesfalls im Fokus der fachlichen Vorgesetzten.
Das Tätigkeitsprofil heutiger Führungskräfte lässt nur wenig Mitarbeiterentwicklung zu. Personalentwicklung wird derzeit eher als Add-on betrieben: 14 der 16 befragten Führungskräfte gaben an, sie hätten mit der jetzigen Führungsspanne zu wenig Zeit für Personalarbeit. Zudem nennt keine einzige Führungskraft Zielvorgaben von der Unternehmerseite, die auf die Entwicklung der Mitarbeiter ausgerichtet sind. Maßgeblich sind Produktivitätskennziffern und Qualitätsvorgaben. Mit anderen Worten: Personalentwicklung durch die Führungskraft beruht, so sie stattfindet, derzeit sehr stark auf dem Selbstverständnis und der Eigeninitiative der Führungskraft und wird vom Unternehmen nicht durchgängig unterstützt oder gefordert. Die Ergebnisse der Online-Befragung bestätigen dieses Bild.
Mitarbeiter haben eine positive Einstellung gegenüber dem Lernen – jedoch zu wenig Lerngelegenheiten. Entgegen der Einschätzung einiger Führungskräfte und den Aussagen der Personalabteilung bietet sich in der Selbstwahrnehmung der Mitarbeiter nicht das Bild einer lernunwilligen Arbeitskraft. Im Gegenteil: Über zwei Drittel der Befragten betonten die Wichtigkeit des Lernens an sich. Konkrete Lernanlässe im Zuge der Arbeit werden dagegen kritischer bewertet. Damit rückt eine lernförderliche Arbeitsumgebung, die möglichst täglich (auch in
Lernen im Alter
kleinstem Umfang) Gelegenheit und Rahmen für selbständige Entscheidungen und Lernanstrengungen gibt, ebenfalls in den Blickpunkt.5
3. Kon zept ans a t z : Lernen in der t ägl ichen Ar bei t sumgebung In Reaktion auf diese Erkenntnisse wurde im Projekt ein Schulungs- und Entwicklungskonzept entwickelt und umgesetzt, das sowohl die verantwortlichen Mitarbeiter und Führungskräfte als auch die prägende tägliche Arbeitsumgebung in den Gestaltungsfokus nimmt. Es wurde mit Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie umgesetzt. Maßgeblich für das Konzept ist die enge Koppelung von Lernen und Arbeiten. Realisiert wurden je ein Trainingskonzept für Führungskräfte und Mitarbeiter der Produktion sowie ein Analyse- und Gestaltungshandbuch zur Realisierung lernförderlicher Arbeits- und Produktionsumgebungen im Rahmen bestehender Produktionssysteme. 6
Trainingskonzept: „Führungskraft als Lerncoach“ Das Training hat zum Ziel, direkte Führungskräfte zur professionellen Mitarbeiterentwicklung über deren Lebensphasen im Betrieb hinweg zu befähigen. Ziel ist es, eine Änderung in der Einstellung wie auch im Verhalten der Führungskräfte zu erreichen: weg von der herkömmlichen Führungsrolle und dem entsprechenden Verhalten, hin zu einer neuen Rolle als Lerncoach bzw. Lern-Ermöglicher, zum kritisch-konstruktiven Begleitenden. Als Unterstützung für die Arbeit vor Ort werden praktische Werkzeuge bereitgestellt. Parallel dazu werden gemeinsam mit den Führungskräften Ansätze entwickelt, wie die organisatorischen Rahmenbedingungen an die veränderte Rolle angepasst werden müssen. Das Konzept soll in typische Abläufe des Führungsalltags integrierbar sein. Die damit verbundene Wertigkeit der Mitarbeiterentwicklung muss darüber hinaus auch im Führungs- und Steuerungssystem des gesamten Unternehmens ihren Niederschlag finden. Zuletzt muss die Qualifikationsmaßnahme für die Führungskräfte mit der zentralen Personalentwicklung abgestimmt werden und in den Gesamtkatalog des Unternehmens aufgenommen werden.
5
Vgl. Hofmann et al. (2010); Hofmann u. Korge (2011).
6
Vgl. Hofmann et al. (2010).
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Das Training ist als kombinierter Lernprozess angelegt. Darin wird auf einen Wechsel zwischen Selbst-Lernphasen und Gruppen-Lernphasen geachtet. Inhaltliche Einheiten haben dabei eher den Charakter eines Seminars, in dem stärker gesteuert und zwischen Wissenserweiterung und Transferaufgaben gewechselt wird; erste individuelle arbeitsrelevante Umsetzungsschritte werden für die Weiterarbeit in der kollegialen Fachberatung geplant und umgesetzt. Die zusätzlich stattfindende kollegiale Fachberatung beabsichtigt, neu Gelerntes aus dem Modul auf ein persönliches Personalentwicklungsthema zu übertragen.7
Trainingskonzept: „Mitarbeiter als Lernunternehmer“ Das Training für die Produktionsmitarbeiter ist als komplementäre Ergänzung zu „Führungskraft als Lerncoach“ konzipiert: Eine Führungskraft, die sich als Begleiter und Förderer versteht, setzt als Gegenpart selbstständig Lernende mit eigener Lernmotivation voraus. Passend ist hierfür auch das ambitionierte Bild des „Mitarbeiters als Lernunternehmer“ – eine Person, die ihr Lernen und ihre berufliche Entwicklung aktiv mitgestaltet und dafür Eigeninitiative und Veränderungsbereitschaft in hohem Maße mitbringt. Ziel des Trainings ist es daher, die Veränderungsbereitschaft der Beschäftigten zu erhöhen und sie dabei zu unterstützen, ihre Kompetenzen zum lebensbegleitenden Lernen zu entwickeln. Es geht also sowohl um eine Haltungsveränderung als auch um die Vermittlung von spezifischen Meta-Kompetenzen. Das Training vermittelt und stärkt die Kompetenzen zum berufsbegleitenden Lernen, stärkt das hierfür erforderliche Selbstvertrauen und beeinflusst damit die Veränderungsbereitschaft positiv. Auch dieses Training ist als kombinierter Lernprozess angelegt. Es wird auf einen Wechsel zwischen Selbst-Lernphasen und Gruppen-Lernphasen geachtet. Die hier stattfindenden Trainingsteile werden stärker gesteuert und zwischen Wissenserweiterung und Transferaufgaben abgewechselt, erste individuelle arbeitsrelevante Umsetzungsschritte werden für die Weiterarbeit in den Gruppen-Lernphasen geplant. Die Ergebnisse der Gruppen-Lernphase werden wiederum immer im Folgemodul kurz präsentiert. Arbeitsrelevantes „echtes“ Lernen wird mit passenden Inputs und Übungen begleitet und unterfüttert. Es handelt sich also nicht um ein weiteres „Lernen-lernen“-Seminar, in dem es oftmals um die bloße Vermittlung von Lernstrategien geht, ohne Transfer in den Arbeitsalltag, sondern um arbeitsintegriertes Hands-on-Lernen, das damit
7
Vgl. Hofmann et al. (2010).
Lernen im Alter
auch in der eigenen, täglichen Arbeit umgesetzt werden muss. Die Teilnehmenden werden aufgefordert, Lernprozesse eigenhändig zu gestalten und zu initiieren. Sie werden zur Selbstreflexion vorher, währenddessen und danach angeleitet und motiviert. Die Teilnehmenden üben ferner während der Trainingseinheiten einen Einfluss auf die Auswahl der Methoden und auch späterer Inhalte aus und sind maßgeblich an der Erstellung von Instrumenten beteiligt. Dadurch werden ihre Bedürfnisse nach Autonomie befriedigt. Außerdem können so individuelle Vorerfahrungen gewinnbringend für den Lernprozess eingesetzt werden.8
Handbuch „Wettbewerbsfähigkeit durch Lernen“ Wesentliches Ergebnis des Arbeitskreises, der sich dieser Fragestellung gewidmet hat, ist das „Handbuch Wettbewerbsfähigkeit durch Lernen“ mit seinem Analyseinstrument zur Beurteilung der Lernförderlichkeit von Produktionssystemen. In diesem Arbeitskreis waren vor allem Verantwortliche für die Produktionssystemgestaltung dabei und nicht Personalverantwortliche. Für diese Zielgruppe war diese „Lernbrille“ eine neue Perspektive. Zweck des Handbuches ist es aufzuzeigen, wie ein Produktionssystem aussieht, das zu ständigem, eigenverantwortlichem Lernen anregt, und wie die Rahmenbedingungen zu gestalten sind, damit Lernen bestmöglich unterstützt wird. Ein Produktionssystem soll dabei verstanden werden als ein System zur strategischen Ausrichtung und Gestaltung der Arbeitsumgebung im gesamten Unternehmen. Es regelt Zuständigkeiten, legt Abläufe und Vorgehensweisen fest, stellt Methoden bereit. Nicht zuletzt definiert ein Produktionssystem die Führungsrollen und -aufgaben. Das Handbuch ist im Wesentlichen ein Instrument zur Analyse und Gestaltung. Es hilft dabei, das Produktionssystem auf seine Lernförderlichkeit hin zu durchleuchten. Dies geschieht durch die Gegenüberstellung des vorhandenen Produktionssystems mit den hier dargestellten Gestaltungsvorschlägen eines idealen, lernförderlichen Produktionssystems. Die Gestaltungsvorschläge geben konkrete Hinweise zum gezielten lernförderlichem Aufbau eines Produktionssystems. Praxisbeispiele ergänzen das Instrument, sie liefern Ideen für die konkrete Umsetzung vor Ort.9
8
Vgl. Hofmann et al. (2010).
9
Vgl. Gesamtmetall, Hg. (2010).
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4. Was sind die Er f ahr ungen? Das entwickelte Gesamtkonzept des Projektes „Länger leben. Länger arbeiten. Länger lernen“ verlagert die Beschäftigung mit dem Thema „länger leben. länger arbeiten. länger lernen.“ weg von der vermeintlichen „Problemgruppe Ältere“ hin zu einer lernorientierten Betrachtung der gesamten Beschäftigungszeit der Beschäftigten in den Unternehmen. Der Gesamtprozess des Alterns gerät in den Blick und mit ihm die Überzeugung, dass Lernen etwas ist, das dauerhaft im Arbeitsprozess verankert werden muss und kann und stark von den Lernenden selbst und deren direkten Führungskräften gesteuert und gestaltet werden sollte. Die Arbeit mit den Pilotunternehmen hat gezeigt, dass die Konzepte „Führungskraft als Lerncoach“, „Mitarbeiter als Lernunternehmer“ und „Lernförderliches Produktionssystem“ tragfähig sind. Unser Gesamtkonzept des lebenslangen Lernens fokussiert sehr stark auf tägliches, produktionsnahes Lernen in „kleinen“ Einheiten und unterscheidet sich damit von klassischen Ansätzen der Weiterbildung, die sich bis heute noch immer sehr stark an zeitlich abgegrenzten, nicht selten auch räumlich entfernten Kursen, Seminaren bzw. Lehrgängen orientieren. Für eine sinnvolle Verzahnung aller Ansätze und einen ressourcengerechten Umgang mit den damit betrauten Personen ist es notwendig, beide Grundansätze miteinander abzustimmen und dabei auch über einen möglichen neuen Zuschnitt der Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen nachzudenken. Es geht im Wesentlichen um eine engere Betreuung und Beratung der Führungskräfte in ihrer Rolle als Lerncoach durch die Personalentwicklung und um eine Abstimmung der bestehenden Programme zur Führungskräfteentwicklung, die diese – entwicklungsbegleitende – Kompetenz noch zusätzlich mit aufnehmen sollte. Als wesentliche Erkenntnis bleibt, dass eine aktive Zuwendung hin zu einem „lebenslangen Lernen“ sich nicht auf die Durchführung einmaliger Schulungsmaßnahmen (außerhalb des Arbeitsplatzes) beschränken lässt, sondern zur dauerhaften, täglichen Aufgabe verschiedenster Verantwortungsträger werden muss, die durch flankierende Rahmenbedingungen abgesichert werden sollte. So muss auch seitens der Geschäftsführung ein nachhaltiges Engagement für das Thema des lebenslangen Lernens vorhanden sein. Lernen und Veränderungsfähigkeit müssen als Ziel in der obersten Ebene des strategischen Zielsystems verankert sein, um auch messbar zu sein und einen nachhaltigen Handlungsanreiz zu setzen. Dieses Zielbild und die damit zusammenhängende Zielkaskadierung bis hinunter in die Zielvorgaben einzelner Beschäftigter ist bisher leider nur rudimentär realisiert. Hier sehen alle Projektbeteiligten in Zukunft, neben entsprechender operativer Kompetenzvermittlung und kultureller Einübung, den größten Handlungsbedarf.
Lernen im Alter
Li ter a tur Gesamtmetall (Hg., 2010): Wettbewerbsfähigkeit durch Lernen. Ein Handbuch zur Analyse und Gestaltung von Produktionssystemen mit Praxisbeispielen. Autoren: A. Bauer, J. Dörich, G. Korge, A. Korge. Berlin. E.L.Deci, J.P, Connell, R.M. Ryan (1989): Self-determination in a work organization. In: Journal of Applied Psychology 74, S. 580-590. J. Hofmann, G. Korge (2011): Lernen im Alter. Wer früh damit beginnt, kommt weiter. In: Personalführung. J. Hofmann, A. Bauer, G. Korge, D. Reiners (2010): Projekt länger leben. länger arbeiten. länger lernen. Abschlussbericht, Stuttgart und Ulm. M. Spitzer (2008): Altern im Betrieb. Gehirnforschung und Arbeitswelt (Editorial). In: Nervenheilkunde, Heft 10, S. 871-874.
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Reinhold Popp
Zukunft – Beruf – Lebensqualität A r bei t z w ischen Geld und Glück
„Die Zukunft wird der Gegenwart sehr viel ähnlicher sein als wir heute noch denken, aber die Gegenwart ist schon sehr viel anders als wir sie heute wahrnehmen.“ (A. Andersch)
Vorer s t einige Anmer kungen zur so genannten Zukunf t s for schung Der Begriff „Zukunftsforschung“ suggeriert, dass es eine Forschungsrichtung gibt, die „die Zukunft“ erforschen kann. Zukunft existiert jedoch (noch) nicht und lässt sich daher – im engeren Sinne des Begriffs Zukunftsforschung – nicht erforschen. Dies sei allen Zukunfts-Gurus mit ihren in den Zeitgeistmedien so begeistert verbreiteten Megatrends ins Stammbuch geschrieben.1 Zukunftsforschung kann nur die vielfältigen Formen der gegenwärtigen individuellen und institutionellen Auseinandersetzung mit der Zukunft erforschen, also die Plausibilität unserer Zukunftsbilder, -pläne, -programme, -ängste, -wünsche, -hoffnungen, -befürchtungen, -projektionen, -vorstellungen u. ä. Der Begriff Zukunftsforschung ist also nur dann vertretbar, wenn damit „zukunftsorientierte Gegenwartsforschung“ gemeint ist, wie dies der Physiker und Philosoph Armin Grunwald so treffend formulierte.2 Dies bedeutet freilich nicht, dass die Behandlung zukunftsbezogener Fragestellungen in der Forschung grundsätzlich nicht möglich ist. Zukunftsorientierte Forschung muss sich jedoch von dem weit verbreiteten objektivistischen Anspruch befreien.
1
Zur Kritik an der wissenschaftsfernen Trendforschung siehe: Rust (2009).
2
Grunwald (2009), S. 33.
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Reinhold Popp
In den Naturwissenschaften sind Prognosen im Hinblick auf Systeme mit relativ geringer Komplexität und stabilen Rahmenbedingungen durchaus möglich und sinnvoll. So lassen sich etwa die zukünftigen Umlaufbahnen von Planeten oder auch der Klimawandel langfristig vorhersagen. In den Human-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zeichnen sich jedoch die meisten Forschungsgegenstände durch einen außerordentlich hohen Grad an Komplexität aus. Die Entwicklung der Zukunft resultiert aus einem hochkomplexen Zusammenspiel zwischen den vielfältigen individuellen Bedürfnislagen einerseits und den unterschiedlichen Bedarfslagen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Interessensgruppen andererseits. Diese Bedürfnis- und Bedarfslagen entfalten sich unter den jeweiligen Rahmenbedingungen der technischen Innovationen und der natürlichen und wirtschaftlichen Lebensgrundlagen.3
Lebensqual i t ä t Modewor t und w issenscha f t l icher Begr i f f „Lebensqualität“ hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Modewort entwickelt. So gibt es bei Google unter dem deutschen Begriff mehr als drei Millionen Einträge, unter dem englischen Begriff Quality of Life sogar mehr als 200 Millionen. Unter dem Stichwort Lebensqualität werden Urlaubsreisen gebucht, Lebensmittel angepriesen, Privatpensionsverträge beworben, Hobbys gepflegt, Haubenrestaurants besucht, Häuser geplant oder Zufriedenheit und Wohlbefinden empirisch gemessen. Ähnlich vage ist der Begriff „Glück“. Der Internet-Buchhändler Amazon bietet bereits mehr als 1500 deutschsprachige Bücher zu diesem Thema an. Neben wenigen Werken zur so genannten Glücksforschung dominiert in diesem Berg von Büchern die individualistisch orientierte Ratgeberliteratur mit den immer gleichen und meist esoterisch garnierten Tipps zu Bewegung, Ernährung, Partnerbeziehung und Spiritualität. Ich persönlich verwende den Begriff „Lebensqualität“ lieber als den Begriff „Glück“. Glück bezieht sich nämlich vor allem auf die subjektive Befindlichkeit der Individuen. Lebensqualität bezieht sich dagegen sowohl auf die Qualität der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen des Lebens als auch auf die subjektive Bewertung dieser Voraussetzungen.4
3
Ausführlicher zum Themenbereich „Zukunftsforschung“ siehe: Popp/Schüll (2009), Popp (2012), Popp/Zweck (2012).
4
Ausführlicher zum Themenbereich „Lebensqualität“ siehe: Popp/Hofbauer/ Pausch (2010).
Zukunft – Beruf – Lebensqualität
Nach diesen einleitenden Überlegungen werden in aller gebotenen Kürze und selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Antworten auf zehn Zukunftsfragen zur möglichen, wahrscheinlichen und wünschenswerten Entwicklung der Arbeitswelt skizziert.
Zukunftsthese 1: Sozialpartnerschaftliche Kompromisse schaffen auch in der zukünftigen Arbeitswelt mehr Lebensqualität. Spätestens seit Beginn der Industrialisierung ist der permanente Wandel der Arbeitswelt – und damit verbunden der Wandel der Lebenswelt – nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Auch in der modernen Arbeitswelt treiben viele Faktoren den Wandel voran, wobei sich diese Faktoren wechselseitig beeinflussen, z.B.: neue Technologien, Digitalisierung, Globalisierung, internationale Mobilität, demografische Entwicklung, Geschlechterverhältnis, Bedeutungszuwachs der Medien und der Bildung. Der produktive Umgang mit diesen Wandlungsprozessen erfordert sowohl von den Arbeitgebern als auch von den Arbeitnehmern ein hohes Maß an Reflexion, Flexibilität und Bereitschaft zur Aushandlung von Kompromissen. In diesem Zusammenhang kann die Zukunftsfähigkeit der in Deutschland und Österreich noch relativ gut funktionierenden Sozialpartnerschaft nicht hoch genug eingeschätzt werden.5
Zukunftsthese 2: Flexicurity ist deutlich wahrscheinlicher als eine radikale Flexibilisierung der Arbeitswelt. Auch die Flexibilisierung der Arbeitswelt wird sich – zumindest hierzulande – voraussichtlich nicht in Form der häufig propagierten radikalen Weise einstellen, sondern vor allem in Form einer sozialpartnerschaftlich vereinbarten Flexibilisierung der Arbeitsorganisation, der Arbeitsorte und der Arbeitszeit. Dies entspricht auch der Bedürfnislage der großen Mehrheit der Menschen, die sich Flexicurity wünschen, also Flexibilität gepaart mit Sicherheit. Allem Anschein nach wird die Flexibilisierung der Arbeitsorganisation vom fortschreitenden Abbau starrer Arbeitsstrukturen und Arbeitszeiten geprägt sein. Für eine wachsende Zahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern treten stärkere Eigenverantwortung und Selbstkontrolle an die Stelle der alten
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Vgl. dazu: Popp/Hofbauer/Pausch (2010), S. 150f.
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hierarchischen Kontrolle durch betriebliches Aufsichtspersonal. Dadurch entsteht einerseits mehr Freiheit für eine verstärkte zeitliche, räumliche und inhaltliche Autonomie bei der Organisation der Arbeit. Andererseits wird damit aber auch die Verantwortung für das Arbeitsergebnis stärker auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer übertragen, was in vielen Fällen zu mehr Arbeitsintensität und Stress führt. Die so genannte unselbständige Erwerbstätigkeit wird also im Innenverhältnis immer selbständiger – mit allen Vor- und Nachteilen. Die Anzahl der – im rechtlichen Sinne – selbständig Erwerbstätigen, also die Selbständigenquote, wird sich in mittelfristiger Perspektive nur leicht erhöhen, und zwar vor allem im Bereich der „Ein-Personen-Unternehmen“. Somit bleibt die so genannte unselbständige Erwerbstätigkeit die mit Abstand dominanteste Größe am Arbeitsmarkt. Nach dem Motto „My home is my office“ spricht Vieles auch für die zunehmende räumliche Flexibilisierung des Arbeitsplatzes – im Spannungsfeld zwischen dem Büro und der Wohnung. Diese neue Freiheit wird jedoch schnell zur Falle, wenn die räumlichen Rahmenbedingungen und die Kompetenzen für die Trennung von Berufs- und Privatleben nicht vorhanden sind. Die berufliche Arbeit kann dann die Betroffenen bis in ihr Schlafzimmer verfolgen, den biopsychisch unverzichtbaren Wechsel von Anspannung und Entspannung gefährden und so der Gesundheit schaden.6
Zukunftsthese 3: Ein Fünftel des Handels ist globalisiert. Am Arbeitsmarkt ist die Globalisierung noch ein Zukunftsprojekt. Sowohl beim Import als auch beim Export von Waren gibt es in Deutschland und Österreich seit Jahren deutliche Steigerungsraten. Allem Anschein setzt sich die wirtschaftliche Europäisierung und Globalisierung auch künftig fort. Derzeit beträgt der Anteil des grenzüberschreitenden Handels am gesamten Handelsvolumen allerdings weltweit nur etwa 20 Prozent.7 Übrigens überschreiten auch nur 2 Prozent aller Telefongespräche und nur 18 Prozent des Internetverkehrs die nationalen Grenzen (ebd.). Trotz aller Sonntagsreden über Globalisierung und Europäisierung wird sich auch zukünftig der größte Teil der wirtschaftlichen Austauschprozesse innerhalb der mehr oder weniger kleinen nationalen Schrebergärten abspielen.
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Vgl. dazu: Popp/Hofbauer/Pausch (2010), S. 94f.
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Pankaj Ghemawat (2011).
Zukunft – Beruf – Lebensqualität
Während für die Globalisierung des Kapital- und Warenverkehrs immerhin rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen wurden, gilt dies für die globale Freizügigkeit der Arbeitskräfte nur sehr eingeschränkt, wobei der EU-Raum diesbezüglich sehr weit fortgeschritten ist. Mit dem Wachstum des Welthandels und mit dem Bedeutungszuwachs von multinationalen Unternehmen entstand für eine sehr kleine Minderheit von Expertinnen und Experten ein globaler Arbeitsmarkt weit über das traditionell globalisierte Verkehrs- und Transportwesen hinaus. Der allergrößte Teil der Arbeitskräfte bewegt sich jedoch nur auf den nationalen Arbeitsmärkten: 98 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger leben und arbeiten in ihren Herkunftsländern, nur etwa 2 Prozent in einem anderen Land. Dieser Anteil ist seit drei Jahrzehnten relativ konstant und bewegt sich in mittelfristiger Perspektive in Richtung 3 Prozent. Für die Zukunft ist zu erwarten, dass die Arbeitsmärkte innerhalb Europas langsam offener und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer langsam mobiler werden.8 Während sich der europäische Arbeitsmarkt im Innenverhältnis öffnet, schottet er sich gegenüber den außereuropäischen Arbeitsmärkten ab.
Zukunftsthese 4: Atypische Arbeitsverhältnisse nehmen zu, werden aber nicht typisch. Zur Zukunft der Arbeitswelt gibt es eine Reihe von extrem negativen Prognosen, die bei genauerer Betrachtung nicht sehr plausibel sind. Besonders hartnäckig hält sich das Zukunftsbild, dass die „atypischen“ Arbeitsverhältnisse, also geringfügige Beschäftigungen, freie Dienstverträge, Leiharbeit und befristete Dienstverhältnisse, schon sehr bald „typisch“ sein werden. Richtig ist, dass diese atypischen Arbeitsverhältnisse seit Jahren zunehmen und dass sich diese unerfreuliche Entwicklung wahrscheinlich auch in den kommenden Jahren fortsetzen wird. Richtig ist auch, dass die Zahl der Teilzeit-Jobs seit Jahren stetig steigt. Ebenso richtig ist aber, dass – jedenfalls in Deutschland und Österreich – der überwiegende Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Form von unbefristeten Vollzeit-Dienstverhältnissen beschäftig ist, und dass dieser Typus auch zukünftig nicht auf der Müllhalde der Wirtschaft landen wird.
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Vgl. dazu: Popp/Hofbauer/Pausch (2010), S. 92f.
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Diese sicherheitsfördernden Arbeitsverhältnisse sind auch in der Zukunft • • •
nicht nur der wichtigste Ausweg aus der Armutsfalle, sondern auch der wichtigste Faktor für die Arbeitsmotivation, die Lebensqualität und die Leistungskraft von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie – aus der Sicht der Arbeitgeber – ein Garant für betriebliche Qualitätsentwicklung.
Derzeit ist dieser zukunftsfähige Job-Typus jedenfalls in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine klare Domäne der Männer. In der Zukunft der Arbeitswelt muss es gelingen, den Anteil der Frauen an den Teilzeitbeschäftigten zu reduzieren und den Anteil der Frauen im Bereich der unbefristeten Vollzeit-Dienstverhältnisse zu erhöhen. Außerdem muss sich im Hinblick auf den Arbeitskräftebedarf in der Wirtschaft, im Hinblick auf eine selbstbestimmte Lebensplanung und im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit des Gesundheits-, Sozial- und Pensionssystems die Erwerbsbeteiligung von Frauen insgesamt deutlich verbessern.9
Zukunftsthese 5: Frauen sind die Gewinnerinnen der zukünftigen Arbeitswelt. Frauen haben in den vergangenen vier Jahrzehnten in den meisten europäischen Ländern im Bereich der Bildung sehr weit aufgeholt. So hatten etwa in Österreich Anfang der 1970er Jahre noch ca. drei Fünftel der Frauen nur einen Pflichtschulabschluss, heute gilt dies nur mehr für weniger als ein Fünftel. Ähnliches gilt auch für Deutschland und die Schweiz. Bei den Abschlüssen an höheren Schulen, Hochschulen und Universitäten haben die jungen Frauen die jungen Männer bereits überholt. Dieser Erfolg setzt sich jedoch bisher bekanntlich nur sehr begrenzt in den Karrierechancen und in der Höhe des Gehalts fort. Für die Zukunft glauben jedoch 75 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer bzw. 60 Prozent der Deutschen, dass die immer besser qualifizierten Frauen verstärkt Führungspositionen übernehmen werden. Nur die Österreicherinnen und Österreicher sind mit 48 Prozent skeptisch.10 Sieht man einmal vom Minderheitenprogramm der österreichischen Skeptiker ab, spricht aus der Sicht der Menschen im deutschsprachigen Raum alles für einen Bedeutungszuwachs von Frauen in der Arbeitswelt.
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Vgl. dazu: Popp/Hofbauer/Pausch (2010), S. 99f.
10 Reinhardt/Roos (2009), S. 321.
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Das Erfolgsgeheimnis für eine bessere Zukunft der Erwerbsbeteiligung und Karriereentwicklung von Frauen liegt allerdings im Zusammenspiel von Arbeitswelt, Familie und deutlich besserer Infrastruktur für professionelle Kinderbetreuung.
Zukunftsthese 6: Wir brauchen Strategien für eine alternsgerechte Arbeitswelt. Der Bevölkerungsanteil der Menschen im Alter von 60plus wird im deutschsprachigen Raum bekanntlich in ca. 20 Jahren die 30-Prozent-Marke überschreiten und bis etwa 2045 auf die magische Marke von einem Drittel der Gesamtbevölkerung anwachsen. Bei solchen Zahlen denken viele Leute spontan an den steigenden Pflegebedarf. Diese Assoziation entspricht dem weit verbreiteten defizitorientierten Bild des Alters. Die meisten älteren Menschen empfinden sich jedoch keineswegs als betreuungsbedürftige und zu bevormundende Problemfälle. Dies gilt selbstverständlich auch für die Arbeitswelt, in der ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viel zu oft nur mehr wie Auslaufmodelle behandelt werden. Nach der EU-Leitlinie für Wachstum und Beschäftigung hätte bereits im Jahr 2010 in allen EU-Mitgliedsländern in der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen eine Beschäftigungsquote von mindestens 50 Prozent erreicht werden sollen. Österreich und Deutschland haben dieses Ziel nicht erreicht. Die zukünftigen Herausforderungen für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bestehen darin, sowohl die Rahmenbedingungen als auch die individuelle Bereitschaft für den längeren Verbleib älterer Menschen in der Erwerbsarbeit zu verbessern. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung der betrieblichen Gesundheitsförderung, sondern auch um eine positivere Sicht des Alters und des Alterns weit über das berufliche Leben hinaus. Heute ist das Image älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch überwiegend negativ besetzt: zu teuer, zu langsam, zu unflexibel, zu oft krank. Zukünftig müssen auch jene Kompetenzen betont werden, bei denen ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den meisten jüngeren Kollegen überlegen sind: Ausdauer, Erfahrung, Loyalität, soziale Kompetenz, Verlässlichkeit. Kontraproduktiv ist allerdings ein Ausspielen zwischen Jung und Alt. Zukunftsträchtig ist vielmehr ein betriebliches Generationenmanagement.11
11 Vertiefend zum Themenbereich „alternsgerechte Arbeitswelt“ siehe Popp (Hg.) u.a. (2011).
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Zukunftsthese 7: Lebensstandard bleibt die ökonomische Basis von Lebensqualität. In der öffentlichen und veröffentlichten Meinung hört und liest man immer öfter, dass in Zukunft die Lebensqualität und das Glück der Menschen vor allem von den so genannten immateriellen Werten wie Liebe, Freundschaft oder Gesundheit bestimmt werden und das Einkommen eine immer geringere Rolle spiele. Eine österreichweite repräsentative Befragung durch unser Zentrum für Zukunftsstudien verdeutlicht jedoch, dass Lebensstandard und Lebensqualität sehr wohl signifikant zusammenhängen: • •
Menschen mit niedrigem Lebensstandard beurteilen ihre Lebensqualität mit der Schulnote 2,4. Menschen mit hohem Lebensstandard schneiden dagegen mit der Note 1,7 deutlich besser ab.12
Es ist davon auszugehen, dass wir bei einer vergleichbaren Befragung in Deutschland und der Schweiz mit ähnlichen Ergebnissen rechnen könnten. In diesem Sinne ist für den größten Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – auch beim Blick in die Zukunft – gute Entlohnung das mit Abstand wichtigste Kriterium für eine qualitativ hochwertige Berufstätigkeit und für die gesamte Lebensqualität. Der Volksmund hat Recht: „Geld allein macht nicht glücklich.“ Denn einerseits braucht es für Lebensqualität und Glück deutlich mehr als nur Geld, es braucht auch immaterielle Werte. Andererseits ist Geld für die meisten Menschen offensichtlich die ökonomische Basis für ein gutes Leben. Wer um seine Existenz bangen muss, kann sich Lebensqualität ganz einfach nicht leisten. Auch künftig müssen sich die Menschen nicht zwischen Geld und Glück entscheiden. Im Hinblick auf die Arbeitswelt lässt sich der zukunftsfähige Mix von subjektiv befriedigenden und objektiv leistungsfördernden Faktoren für das Arbeitsplatz-Profil von morgen und übermorgen folgendermaßen zusammenfassen: • • • •
Gutes Einkommen und passende Arbeitszeiten fördern den Fleiß. Abwechslung und selbständige Arbeitseinteilung fördern die Zufriedenheit. Anerkennung und Wertschätzung fördern Erfolgserlebnisse. Karrierechancen und kollegiale Kommunikation fördern die Motivation.
12 Vgl. dazu: Popp/Hofbauer/Pausch (2010), S. 72f.
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•
Mitbestimmung und Weiterbildung fördern die Identifikation mit dem Betrieb.13
Zukunftsthese 8: Unser Zeitwohlstand wächst weiter. Der Beruf beansprucht nur mehr 10 Prozent des Lebenszeitbudgets. In unseren privilegierten Breiten kann ein heute 60-jähriger Mann mit einer Lebenserwartung von ca. 81 Jahren und eine 60-jährige Frau mit etwa 85 Jahren rechnen. Das sind durchschnittlich beachtliche 730000 Stunden. Das sind die vorläufigen Rekordwerte in der gesamten Menschheitsgeschichte. Allein in den vergangenen hundert Jahren konnte ein gigantischer „Zeitwohlstand“ von etwa 300000 Stunden pro Person dazugewonnen werden! Zukünftig steigt die Lebenserwartung kontinuierlich an, sodass viele heute noch junge Menschen – vor allem junge Frauen – einige Geburtstage zu Beginn des 22. Jahrhunderts feiern werden. Die heutzutage im Beruf verbrachte Zeit beträgt selbst im Falle einer durchgehenden Vollzeit-Arbeit im gesamten Lebensverlauf nur rund 73000 Stunden. Das sind etwa 10 Prozent der gesamten Lebenszeit. In Zukunft wird zwar die Lebensarbeitszeit leicht ansteigen; allerdings nur in Relation zur ebenfalls steigenden Lebenserwartung, sodass der Anteil der Berufszeit auch zukünftig die 10-Prozent-Marke nicht überschreiten wird. In diesem Zehntel der Lebenszeit müssen wir freilich durch den Verkauf unserer Arbeitskraft die finanzielle Wertschöpfung für die restlichen neun Zehntel des Lebens erarbeiten. Dies ist wohl einer der Gründe, warum wir den objektiv sehr übersichtlichen beruflichen Anteil unseres Lebenszeitbudgets subjektiv als Zentrum des Lebens wahrnehmen. Heute ist das Image der Arbeit überwiegend positiv. Dies war nicht immer so. Denn im größten Teil der Menschheitsgeschichte hielt sich die Begeisterung für die Arbeit in überschaubaren Grenzen, wie ein Blick auf die Sprachgeschichte zeigt: So bedeutete etwa das mittelhochdeutsche Wort arebeit „Mühe“. Das lateinische laborare bedeutete ursprünglich „leiden“ und in der Bibel ist Arbeit die Strafe Gottes für den Sündenfall. Bekanntlich mussten die Menschen erst nach der Vertreibung aus dem Paradies ihr Brot „im Schweiße ihres Angesichts“ verdienen. Trotz der heutzutage prinzipiell positiven Sicht des beruflichen Teils des Lebens kommt für die meisten Menschen dem Leben nach der Arbeit eine beachtliche Bedeutung zu. Dies gilt sowohl für den Feierabend und
13 Vgl. dazu: Popp/Hofbauer/Pausch (2010), S. 83f.
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die Wochenenden als auch für den Urlaub und vor allem für die lange Phase der nachberuflichen Lebenszeit.
Zukunftsthese 9: Die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit wird ein immer wichtigeres politisches Querschnittthema. Das große außerberufliche Segment unserer Lebenszeit besteht selbstverständlich nicht nur aus Freizeit. Immerhin schlafen wir ja auch fast ein Drittel unseres Lebens und haben außerhalb des Berufes noch viele weitere wichtige Dinge zu erledigen, z.B.: Partnerschaft, Kindererziehung, Konsum und Haushalt. Das zeitliche Zentrum unserer außerberuflichen Lebensqualität ist die Wohnung. In unseren Wohnräumen verbringen wir beachtliche 60 Prozent unserer Lebenszeit, die Hälfte davon im Bett. In der häuslichen Wachzeit steht für Viele das familiäre Beziehungsleben im Mittelpunkt. Der überwiegende Teil unserer Freizeit ist übrigens Konsumzeit. Immer wichtiger wird der Medienkonsum. So widmen wir etwa dem Fernsehen im gesamten Lebensverlauf mehr Zeit als der beruflichen Arbeit. Die Qualität des Lebens entwickelt sich also im Spannungsfeld zwischen Beruf bzw. Schule, Familie, Freizeit und Konsum. Für die Vereinbarkeit dieser Lebensbereiche hat sich in unserer Umgangssprache der Begriff „Work-life balance“ eingebürgert. Wie heute bereits erwähnt, ist dieser Begriff – genau genommen – falsch! Er suggeriert nämlich, dass es um eine Balance zwischen Beruf und Leben geht. In Wahrheit ist der Beruf selbstverständlich ein Teil des Lebens und es geht um möglichst hohe Lebensqualität in allen Bereichen unserer menschlichen Existenz. Die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit dieser Lebensbereiche sind derzeit keineswegs optimal. Werden sich die Bedingungen für diese Vereinbarkeit zukünftig verbessern? In der Schweiz glauben dies beachtliche 64 Prozent der Menschen, in Deutschland 41 Prozent und in Österreich gar nur 31 Prozent.14 Es ist zu hoffen, dass die so zukunftsoptimistischen Schweizer in dieser Frage nicht Recht behalten werden, obwohl der lange Arm der immer intensiveren und psychisch belastenderen Arbeitswelt künftig immer weiter in den Rest des Lebens hineinreichen wird.
14 Reinhardt/Roos (2009), S. 323.
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Zukunftsthese 10: Bildung und Kreativität als Schlüsselfaktoren für zukünftige Lebensqualität und Wettbewerbsfähigkeit. Schon heute begleitet Bildung unser Leben von der Wiege bis zur Bahre. Zukünftig wird lebenslanges Lernen zum Schlüsselfaktor für berufliche und außerberufliche Lebensqualität. Der Bildungsbegriff der meisten Menschen ist jedoch nachhaltig von ihren schulischen Erfahrungen geprägt. In Anbetracht der kommunikativen, organisatorischen und räumlichen Rahmenbedingungen dieser „Unterrichtsvollzugsanstalten“ wird Bildung nur selten mit Lust, sondern vielmehr mit Last verbunden. Dies ist eine schwere Hypothek für die Motivation zu lebenslangen Lernprozessen. Schulisches Wissen hat außerdem ein immer früheres Ablaufdatum. Denn alle drei Jahre verdoppelt sich das weltweit verfügbare Wissen. Selbst in jenen entwickelten Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz, in denen es nicht nur die Schulpflicht, sondern auch flächendeckend Schulen gibt, verbringt der Durchschnittsbürger bzw. die Durchschnittsbürgerin höchstens 3 bis 4 Prozent der Lebenszeit mit schulischer (einschließlich hochschulischer) Bildung, Vor- und Nachbereitung schon mitgezählt. Der große Rest unserer Bildungsprozesse spielt sich schon heute – und zukünftig immer mehr – außerhalb der bildungsbezogenen Infrastruktureinrichtungen (wie Schulen, Hochschulen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung usw.) ab. Man denke nur an die lebenslang prägenden Lernerfahrungen in der Familie und in Freundeskreisen, an die permanenten Lernprozesse am Arbeitsplatz, an die vielschichtigen Effekte des informellen Lernens im Sportverein und beim sozialen Engagement oder an die Bildungsfunktion von Zeitungen, Zeitschriften, Büchern, Radio und Fernsehen. Dazu gesellt sich das World Wide Web als relativ neues und in seiner Leistungsfähigkeit heute noch weitgehend unterschätztes Medium für Bildung und Information. Am Arbeitsmarkt werden jedoch schulische Wissensbestätigungen überbetont, und die durch informelle Lernprozesse erworbenen Kompetenzen zählen nur wenig. Eine große Herausforderung für die Berufs- und Wissenswelt von morgen besteht daher darin, praktikable Formen der Zertifizierung auch für nicht schulisch erworbenes Wissen zu entwickeln. Erste Ansätze für die Lösung dieses Problems finden sich im so genannten „Europäischen Qualifikationsrahmen“ der EU bzw. in den davon abgeleiteten „Nationalen Qualifikationsrahmen“. Die Bildungssysteme in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind heute noch viel zu wenig durchlässig und weisen trotz aller Reformen noch zu viele Sackgassen auf. In diesen Ländern ist auch der Einfluss des Bildungsniveaus der Herkunftsfamilien auf die Bildungskarriere der Schülerinnen und
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Schüler viel zu hoch. Verbesserungen sind nicht nur im Hinblick auf die individuelle Lebensqualität, sondern auch im Hinblick auf die Herausforderungen der zukünftigen Wirtschafts- und Arbeitswelt besonders dringend! Denn die Ausschöpfung aller Bildungspotenziale – und somit auch die bessere Qualifizierung bisher bildungsferner Bevölkerungsgruppen – ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Übrigens gilt auch für die Zukunft: Je höher der Bildungsabschluss, desto niedriger die Gefahr einer längeren Arbeitslosigkeit. In der Schule der Zukunft brauchen wir weniger Unterricht, mehr selbstorganisiertes und projektorientiertes Lernen sowie vor allem mehr Förderung der Kreativität. Kreativitätsförderung lässt sich glücklicherweise nicht in das Korsett eines Unterrichtsfachs pressen, sondern lebt von einer pädagogischen Grundhaltung: Respekt vor der Neugierde der Lernenden. Ein prominenter Zeuge für diese kreative Kraft der Neugier ist Albert Einstein, der sich selbst einmal folgendermaßen einschätzte: „Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.“ Neugierde fördert also Kreativität. Kreativität ist der Motor für soziale, kulturelle, technische, wirtschaftliche und politische Innovation. Innovation wiederum stärkt die Chancen der wissensbasierten Gesellschaften Europas am globalen Markt und sichert damit die ökonomische Basis für unsere zukünftige Lebensqualität.15 Die meisten Menschen freuen sich über ein Happy End. Deshalb schließe ich meinen Beitrag mit fünf Sätzen, die die wichtigsten Merkmale der wünschenswerten Verbindung von Beruf und Lebensqualität in der Arbeitswelt der Zukunft skizzieren: • • • • •
Wertschätzung ist gleich wichtig wie Wertschöpfung. Vertrauenskultur ersetzt die alte Kontrollkultur. Initiative und Kreativität werden gefördert. Diskurse kommen häufiger vor als Dekrete. Arbeitszeit ist auch persönliche Entwicklungszeit.16
15 Vertiefend zum Zusammenhang zwischen Bildung und Lebensqualität siehe in Popp/Pausch/Reinhardt (Hg., 2011). 16 Vgl. Popp (2011): Denken auf Vorrat, S. 58.
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Li ter a tur Ghemawat, P. (2011): World 3.0. Global Prosperity and How to Achieve It. Boston: Harvard Business Review Press. Grunwald, A. (2009): Wovon ist die Zukunftsforschung eine Wissenschaft? In: Popp, R./Schüll, E. (Hg., 2009): Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Berlin/Heidelberg: Springer. Popp, R. (Hg.)/Steinbach, D./Linnenschmidt, K./Schüll, E. (2011): Zukunftsstrategien für eine alternsgerechte Arbeitswelt. Trends, Szenarien und Empfehlungen. Wien/Münster: LIT-Verlag. Popp, R. (2011): Denken auf Vorrat. Wege und Irrwege in die Zukunft. Wien/ Münster: LIT-Verlag. Popp, R./Pausch, M./Reinhardt, U. (2011): Zukunft. Bildung. Lebensqualität. Wien/Münster: LIT-Verlag. Popp, R. (2011): Bildung und Lebensqualität im 21. Jahrhundert. In. Popp, R./ Pausch, M./Reinhardt, U. (2011): Zukunft. Bildung. Lebensqualität. Wien/ Münster: LIT-Verlag. Popp, R/Pausch, M./Hofbauer, R. (2010): Lebensqualität – Made in Austria. Gesellschaftliche, ökonomische und politische Rahmenbedingungen des Glücks. Wien/Münster: LIT-Verlag. Popp, R./Schüll, E. (Hg., 2009): Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Berlin/Heidelberg: Springer. Popp, R. (Hg., 2012): Zukunft & Wissenschaft. Zukunftsforschung auf dem Prüfstand. Berlin/Heidelberg: Springer. Popp, R./Zweck, A. (Hg., 2012): Zukunftsforschung im Praxistest. Wiesbaden: Springer VS. Reinhardt, U./Roos, G. (Hg., 2009): Wie die Europäer ihre Zukunft sehen. Antworten aus 9 Ländern. Darmstadt: Primus. Rust, H. (2009): Verkaufte Zukunft. Strategien und Inhalte der kommerziellen „Trendforscher“. In: Popp, R./Schüll, E. (Hg., 2009): Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Berlin/Heidelberg: Springer.
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Von lernfördernden Umgebungen und dem erträglichen Ausmaß der Flexibilisierung Tal k r unde 2, moder ier t von T homas Ramge, mi t Stef an Engeser, Josephine Hof mann, Sophie-T hérèse Krempl und Reinhold Popp
Thomas Ramge fragte Josephine Hofmann, warum es so viele Defizite dabei gebe, Strukturen zu schaffen, die das Lernen begünstigen. Hofmann führte aus, es brauche zwei Dinge: ein gewisses didaktisches Geschick, aber vielleicht auch eine Grundeinstellung, die man am ehesten habe, wenn man schon eine erfolgreiche Erwerbsbiografie hinter sich habe und nicht Angst haben müsse, „überholt“ zu werden. Aber wenn man sie jetzt frage, warum das Lernen in heutigen Unternehmen so wenig gepflegt werde, komme man zu dem Schluss, dass nicht wenige Führungskräfte geradezu Angst davor haben, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zum Lernen und zur Innovation zu bewegen. Bei den untersuchten Unternehmen sei nur ein einziges gewesen, das in den Zielvereinbarungsgesprächen die Führungskräfte damit beauftragte, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern und zu belohnen, sodass ein bestimmter Anteil von ihnen die Abteilung durch eigene Entwicklung sozusagen „nach oben“ verlassen könne. Bei allen anderen Unternehmen stelle es für die Führungskräfte geradezu ein Horrorszenario dar, auf diese Weise ihre Mitarbeiter zu verlieren. Das sage viel über Führungssysteme aus und über die Anreiz-Mechanismen, die einfach falsch gesetzt seien. Stefan Engeser ergänzte, dass Lernprozesse durch positive Emotionen verstärkt würden, doch diese könnten auch zu einer Problemignorierung führen. Manchmal müsse man Euphorie eher dämpfen, um zu einer Problemfokussierung zu kommen. Man lerne nicht nur durch positive Emotionen, aber sie sollten natürlich am Ende eines Lernprozesses stehen. So könne z.B. auch Ärger
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dazu motivieren, in einen Lernprozess einzusteigen. Man sei problembewusster bei negativer Stimmung. Ramge fragte Popp bezugnehmend auf seinen Vortrag, warum er so sicher sei, dass der sozialversicherte 9 to 5 job die Grundlage zur Arbeitszufriedenheit darstelle. Die Wirklichkeit der allermeisten Menschen sei der 9 to 5 job, erwiderte Popp. Die Wissensarbeiter, die hoch flexibel seien, prägten in den Medien ein Bild, das derzeit nicht mehrheitlich auf die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zutreffe und auch nicht zutreffen werde. Es gebe deutlich mehr Arbeitnehmer im Handel als es Leute im Hochschulbereich gebe, und deutlich mehr Arbeitnehmer im Tourismus und in der Gastronomie als es Menschen in den Medien gebe. Wenn man sich die Lebensrealität anschaue, dann spräche nicht so viel dafür, dass die tiefgreifende Flexibilität, von der so viel geträumt werde, in der Zukunft für die Mehrheit der Menschen gelten würde. Es gebe eine kleine Minderheit, die aber nicht rasch wachse, für die das zuträfe. Hofmann ergänzte, dass man sich eher damit beschäftigen müsse, was das erträgliche Ausmaß der Flexibilisierung sein könne. Sie finde es arbeitswissenschaftlich hochinteressant, näher zu erforschen, wie viel Kontinuität ein Unternehmen brauche, um stabil zu funktionieren, weil Vertrauen sich nicht einfach ergebe, sondern wachse. Aus dem Publikum merkte der Arbeitswissenschaftler Norbert Breutmann an, dass er nicht glücklich mit der vorgestellten Studie von Frau Hofmann und ihren Ergebnissen sei. Es werde nicht deutlich, was lernfördernde Arbeit sei. Die sozialpolitischen Spannungsfelder der Betriebe kämen ein wenig zu kurz. Man müsse dann ja auch in der Arbeitsgestaltung eine Veränderungskultur entwickeln, und man müsse auch Veränderungsbereitschaft bei den Arbeitsnehmern erzeugen. Dieses Spannungsfeld sei gar nicht beleuchtet worden. Hofmann erwiderte, dass es drei Teilbereiche für die Studien gebe: Erstens sei zum Thema Führungskräfte ein Trainingskompendium entwickelt worden. Zweitens gebe es eine Analyse und die Entwicklung von Gestaltungswerkzeugen, um lernfördernde Umgebungen in heutigen Produktionen zu fördern. Drittens gebe es Trainingsmaßnahmen für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – nicht für high potentials, sondern für An- und Ungelernte – die lernen sollen, eigene Anreiz-Systeme zum Lernen zu entwickeln. Das seien die festgesetzten Forschungsschwerpunkte gewesen, die sicher zu vertiefen und erweitern seien.
Wolfgang Hien
Die psychischen Arbeitsbelastungen haben ein kritisches Stadium erreicht I s t-Zus t and und Pr ävent ionsmögl ichkei ten
Eine „schöne neue Ar bei t swel t “? Die Werftenkrise und das schmerzliche Ende der stolzen Schiffbau-Ära in Bremen stehen paradigmatisch für eine gravierende und grundsätzliche Veränderung der Arbeitswelt.1 Die betroffenen Menschen waren groß geworden in einer Welt, die der Bremer Soziologe Rainer Zoll idealtypisch als „altes kulturelles Modell der Arbeit“ kennzeichnete; die Menschen wurden, nachdem sie kollektiv arbeitslos geworden waren, in eine Welt hineingeworfen, deren Leitfigur demnach als „neues kulturelles Modell der Arbeit“ gesehen werden kann.2 Ganz ähnlich kategorisiert Richard Sennett in seinem Buch „Der flexible Mensch“ diese Zeitenwende in der Arbeitswelt. Er spricht von einer „Kultur der alten Ordnung“, die sich durch Globalisierung und die permanenten ökonomischen Restrukturierungen in eine „Kultur der neuen Ordnung“ wandele und die Menschen in tiefgehende berufsbiografische und persönliche Krisen hineintreibe.3 Um es gleich an dieser Stelle zu sagen: Es geht mir keinesfalls darum, alles Frühere zu verherrlichen und alles Heutige zu verdammen. Gefragt ist hier ein sehr differenzierter Blick, der sich weder durch Vergangen heitsverklärung noch durch die Werbe- und Erfolgsideologien der Gegenwart trüben lässt. Merkmale der alten Ordnung waren Sicherheit, Eingebundensein, Gemeinschaftlichkeit, Vertrauen, Tradition, aber auch Macht, Autorität, Starrheit, oftmals ein ruinöser Gesundheitsverschleiß und eine nicht selten rigorose soziale Kontrolle durch das jeweilige
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Vgl. Hien et al. (2002, 2007).
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Zoll (1993).
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Sennett (1998).
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Arbeits- und Lebensmilieu, das nicht davor zurückschreckte, abweichende Haltungen und Handlungen negativ zu sanktionieren. In der heutigen und der sich in naher Zukunft abzeichnenden Situation setzen sich Unsicherheit, Bildungslosigkeit, Entsolidarisierung, Egozentriert heit und Rücksichtslosigkeit durch, die bei fast allen Beteiligten zu Angst und Verunsicherung führen, in wachsendem Ausmaß auch zu Ver zweiflung und subjektiv empfundener Ausweglosigkeit. Die positiven Möglichkeiten der Eigeninitiative und der selbstbestimmten Flexibilität werden zwar von vielen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen wahrgenommen, aufgenommen und auch im Arbeitsund Lebensvollzug gelebt, doch diese neuen Freiheiten stoßen immer wieder an ihre Grenzen. Es sind dies die äußeren, von den Organisationen und ihren Führungsetagen, aber auch von milieuspezifischen Strukturen gesetzten materiellen, personellen und zeitlichen Grenzen, deren Rigorosität es durchaus mit derjenigen aufnehmen kann, die früher einmal herrschte; es kommen aber immer stärker auch innere Grenzen des eigenen Körpers und der eigenen Psyche ins Spiel. Viele Menschen spüren den Druck der Ökonomie, der sich in ihrem Bewusstsein und ihrem Körper in Angst umsetzt. Diese Angst führt zu einer Verengung von Wahrnehmung, Denken und Handeln. Viele Beschäftigte berichten in Beratungsgesprächen und Interviews von einem „Tunnelblick“: Sie versuchen, durch die betrieblichen Turbulenzen selbst und ohne großen Blick auf den Anderen irgendwie durchzukommen, d.h. ihr Verhalten nimmt einen aggressiven Grundton an. Angesichts der bedrohlichen Konkurrenz um die weniger werdenden Arbeitsplätze wird es wichtig, sich selbst in ein vorteilhaftes Licht zu stellen und damit zugleich die Anderen in den Schatten des Geschehens zu treiben. Die Angst ruft eine negative Psychodynamik hervor, die mit einer stärkeren Identifikation mit der aufgezwungenen Arbeitsrolle, einer stärkeren Abgrenzung gegenüber Anderen, einer Zuspitzung von Konkurrenzverhalten und einer Inkaufnahme extremer Situationen wie z.B. vernichtender Machtkämpfe und organisierter Mobbingprozesse verbunden ist. Jüngere Erwerbstätige kennen solche Praktiken teilweise bereits aus Schule und Studium, ältere stehen mitunter solchen Prozessen ratlos und verzweifelt gegenüber. Die Vorstellung, permanente Höchstleistung bringen zu können, entpuppt sich als gefährliche Illusion, als Sackgasse und leider für immer mehr Menschen als Schritt in den gesundheitlichen Abgrund. Es sei die These gewagt, dass dies nicht nur mit den Leistungsanforderungen, sondern auch – und vielleicht sogar wesentlich – mit sozialer und kultureller Entwurzelung zu tun hat, einer neuen Weise der Individualisierung, die mit all diesen Veränderungsprozessen eng
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verwoben ist. Der „Kampf um Anerkennung“4 beginnt schon im Kindergarten und kommt mit besonderer Härte auf die Älteren zu, die früher aufgrund ihrer Verdienste fast unantastbar waren, heute aber auf keine Ehrung, oft nicht einmal auf Respekt hoffen dürfen.
Epidemiologische St udienergebnisse Eine Vielzahl neuerer epidemiologischer Studien aus vielen Ländern der Welt zeigt, dass hoher Arbeitsstress, hohe Anforderungen an Flexibilität und Mobilität und Job-Unsicherheit ein massives Risiko für Depressions-, und Angstund für psychosomatische Erkrankungen darstellen. Die Epidemiologie versucht herauszufinden, um wievielmal höher bei Belasteten – im Vergleich zu Nichtbelasteten – die Krankheitshäufigkeit ist, ausgedrückt im „Relativen Risiko“ (RR). Die wissenschaftlich legitime Vermutung, dass depressionsgeneigte Personen nicht in der Lage seien, Handlungsspielräume zu erkennen und zu nutzen, kann nur durch Längsschnittstudien widerlegt werden. Solche Studien sind seit einigen Jahren verfügbar. Rugulies et al. (2006) führten mit mehr als 4000 dänischen Erwerbspersonen eine Fünf-Jahres-Studie durch und identifizierten Job-Unsicherheit als Risikofaktor. Sie fanden bei Männern, die unter Job-Unsicherheit litten, ein zweifaches Depressionsrisiko; bei Frauen fanden sie keine Risikoerhöhung. Robertson Blackmore et al. (2007) fanden in einer kanadischen Studie ähnliche Ergebnisse. Eine fehlende oder geringe soziale Unterstützung am Arbeitsplatz schlägt sich hingegen – zumindest in einem Teil der Studien – eher bei Frauen als bei Männern in einem erhöhten Depressionsrisiko nieder. Rugulies et al. (2006) fanden ein knapp zweifaches Risiko bei Frauen; für Männer lag dieses Risiko hier bei 1,1. Clays et al. (2007) untersuchten 2800 belgische Erwerbspersonen in einem Zeitraum von knapp sieben Jahren. Personen, die zum ersten Untersuchungszeitpunkt hohe Anforderungen und geringen Handlungsspielraum hatten, d.h. Personen mit hohem Job-Stress, trugen ein etwa 1,6-faches Risiko, während der nächsten Jahre eine schwere Depression zu erleiden, wobei bei anhaltenden Belastungen das Risiko auf 3,2 anstieg; kam ein fortgesetzter Mangel an sozialer Unterstützung hinzu, so stieg das Risiko weiter auf 5,8. Mit anderen Worten: Lang anhaltender „isolierter Job-Stress“ schraubt das Depressionsrisiko – im Vergleich zu weniger belastenden Personen – auf das fast Sechsfache hoch. In den Studien wurden die gefundenen relativen Risiken gegengerechnet für Geschlecht, Familienstand, negativer Affektivität, Tod eines
4
Honneth (1992).
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nahen Verwandten und Vorerkrankungen im Kindesalter, doch die ArbeitsweltRisiken blieben. Eine groß angelegte britische Studie5, die eine Kohorte von mehr als 8200 Personen umfasste, hat sehr genau gegen psychische Vorerkrankungen adjustiert und kommt zu dem Ergebnis, dass auch nach dieser Adjustierung immer noch ein signifikantes Risiko für Depressions- und Angsterkrankungen bestehen bleibt: Arbeitsstress verursacht ein RR von 1,8, geringe soziale Unterstützung führt ebenfalls zu einem RR von 1,8, und Job-Unsicherheit zieht ein RR von 1,7 nach sich. Männer reagieren in dieser Studie stärker als Frauen auf Belastungen. Eine ähnliche Studie wurde in Belgien durchgeführt und unlängst veröffentlicht.6 Knapp 10000 Erwerbspersonen im Alter zwischen 35 und 59 Jahren – davon 26 Prozent Frauen – wurden drei Jahre beobachtet und auf Depressionserkrankungen untersucht. In diesem Zeitraum waren 1,4 Prozent der Männer und 3,4 Prozent der Frauen neu erkrankt. Bei den Männern war ein erheblicher Teil der Erkrankungen auf Arbeitsfaktoren zurückzuführen, während bei Frauen dieser Anteil deutlich niedriger lag, also andere Faktoren eine größere Rolle spielten. Hoher Job-Stress erhöhte bei Männern das Depressionsrisiko um mehr als das Dreifache; bei Frauen lag hier das relative Risiko bei 1,8. Als hauptsächlicher Einzelfaktor wurde der geringe Handlungsspielraum identifiziert. Bei beiden Geschlechtern erhöhte sich diese Belastung – nach strenger Adjustierung depressiver Vorerkrankungen –, die Erkrankungsrate stieg auf eine mehr als zweifache Häufigkeit. Die referierten Studienergebnisse lassen die Aussage zu: Job-Stress – z.B. durch geringen Handlungsspielraum und mangelnde soziale Unterstützung, Job-Unsicherheit und die insgesamt gestiegenen Flexibilitätsanforderungen – muss als Ursache arbeitsbedingter Erkrankungen ernst genommen werden. Besonders tragisch wirkt sich eine unverschuldete Arbeitslosigkeit aus. Sie wird von den Menschen meist als Ausschaltung jeglichen Handlungsspielraums erlebt. Dies belegt eine große epidemiologische Studie in Finnland7: Die Autoren weisen darauf hin, dass „der post-industrielle Arbeitsmarkt mit seinen ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen und den steigenden Flexibilitätsanforderungen zu einem deutlichen Gesundheitsrisiko werden kann“.
5
Vgl. Stansfeld et al. (2008).
6
Vgl. Clumeck et al. (2009).
7
Vgl. Virtanen et al., (2003), S. 1020.
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Das Problem „ger inger Handlungsspiel r aum“ Viele denken, sie besäßen einen hohen Handlungsspielraum. Doch sitzen sie hier nicht einer Illusion auf? Wie groß ist der Handlungsspielraum, wenn er von einer hierarchischen oder vom Markt bzw. vom Kunden diktierte Form der Arbeitsorganisation beherrscht wird. Oder gar von beidem? Konzepte der Gruppen- und Projektarbeit werden durch eine Vielzahl neuartiger Psychotechniken angereichert mit dem Ziel, subtilen Druck auf Beschäftigte auszuüben. Sennett (1998, 2005) berichtet von Management-Techniken, in denen gezielt Konkurrenz unter den Arbeitenden erzeugt wird. Dass bestimmte Personen aus der Arbeit herausgedrängt werden, ist beabsichtigt, wobei fließende Übergänge zum organisierten Mobbing bestehen. Kann in solchen Arbeitsstrukturen noch von Autonomie gesprochen werden? Im Sinne der Kantschen Aufklärungsphilosophie wird ein Individuum zur Autonomie befähigt, insofern es „mit vorgegebenen Handlungsalternativen auf eine reflektierte, selbstbewusste Weise umzugehen“ weiß.8 Autonomie hat also etwas mit Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung zu tun, um deren Verwirklichungschancen es freilich schlecht bestellt ist. Marie-France Hirigoyen, eine europaweit anerkannte Expertin für psychische Gewalt bei der Arbeit, stellt dazu fest: „Die Autonomie der Arbeitnehmer hat sich in bestimmten Grenzen zu bewegen. Obwohl auch traditionelle Unternehmen nach kreativen Beschäftigten verlangen, fürchten sie in Wahrheit jeden neuen Gedanken und bevorzugen die geistige oder zumindest die formale Konformität. […] Man verlangt von den Mitarbeitern Initiativen und Verantwortung, aber je selbständiger sie werden, desto bedrohlicher wirken sie auf ihre Vorgesetzten, die befürchten müssen, ihre Macht zu verlieren. […] Man fordert vom Arbeitnehmer großen Einsatz, erwartet von ihm, sich persönlich einzubringen, […] lässt ihm aber für die geleistete Arbeit keinerlei Anerkennung zukommen.“9 Als Folge sehen wir eine latente Verrohung der Umgangsformen und eine Zunahme von Falschheit und Zynismus bei der Arbeit. Von großer Bedeutung ist ein weiterer Faktor: Auch das Erfahrungswissen der Beschäftigten, ein ganz wesentlicher Faktor der Anerkennung und damit der Gesunderhaltung und der Gesundheitsförderung, wird zunehmend entwertet. Manfred Albrod, Betriebsarzt in einem multinationalen Konzern, zählt in diesem Zusammenhang einige sehr nachdenklich machende Faktoren auf: „Fortfall von lokalen Wissens- und Erfahrungsprivilegien sowie globale Standardisierung von Prozeduren und Tools mit internationaler personeller
8
Honneth (1994), S. 25.
9
Marie-France Hirigoyen (2002), S. 209, 211 und 213.
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Austauschbarkeit, […] zunehmende Fremdbestimmung und nicht mehr abgeforderte Kreativität des Einzelnen bei globaler Zentralisierung von Arbeitsvorgaben, Einschränkung der individuellen Aufgabenvollständigkeit und Aufgabenüberschaubarkeit durch globale Arbeitsteilung.“10 Albrod weist auch darauf hin, dass persönliche Nischen im Arbeitsalltag wegrationalisiert werden, und die Möglichkeiten für eine nicht zweckgebundene Kommunikation gegen Null gehen. Doch gerade diese kommunikativen Freiräume – in der Arbeitswissenschaft wurde von „verborgenen Situationen“ gesprochen11 – sind in der betrieblichen Lebenswelt und vor allem für die Gesundheit der Arbeitenden lebens- und überlebensnotwendig. Auch im IT-Sektor zeigt sich eine zunehmende Re-Taylorisierung12; Arbeitsvorgänge werden extrem standardisiert, und Handlungsspielräume mutieren durch globalisierte Vorgaben und mangelnde Ressourcen zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden: Die Arbeitswelt wird zunehmend durch eine verschärfte Vermarktlichung mit entsprechender Entwertung beruflicher bzw. professioneller Traditionen und Maßstäbe geprägt. Die Belastungen kombinieren sich mit einer Ausdehnung der Arbeitszeit, auch der Schichtarbeit, und einer insgesamt stärker werdenden Entgrenzung zwischen Arbeit und Leben.
Eine exempl ar ische Fallgeschichte Ein Betriebsrat eines großen Unternehmens, stellte mir die folgende Fallgeschichte zur Verfügung: Max war über viele Jahre ein anerkannter Kollege. Er bekam immer wieder projektbezogene Aufgaben in einem virtuellen und globalen Team, war aber zugleich mit einer Situation konfrontiert, die von einer hohen Führungskräfte-Fluktuation und von permanenten Restrukturierungen gekennzeichnet war. „Es gab Telefon-Meetings um 7.30 Uhr, aber auch um 19.30 Uhr. Max arbeitete max. 80 Prozent in Teilzeit, um Beruf und Privates in Einklang zu bringen. Er sprach mit seiner Managerin im Zuge der Überprüfung der Senior-Levels im Jahr 2008. Das Ergebnis: ›DU wirst nie Senior, weil DU nie Projekte gemacht hast.‹ […] Max versuchte in vielen Gesprächen, das Thema zu adressieren. Er glaubte, durch seinen überdurchschnitt lichen Einsatz, seine langjährige Berufserfahrung und seine vielfältigen Kompetenzen das Management
10 Manfred Albrod (2008), S. 611. 11 Thomas (1964), S. 85ff.; Volmerg et al. (1983). 12 Vgl. Hien (2008).
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endgültig überzeugt zu haben. Doch permanente Ablehnung, mangelndes Vertrauen und sture Haltung verunsicherten Max sehr stark. […] Jetzt kam hinzu, dass beim jährlichen Mitarbeitergespräch seine vordefinierten Zielsetzungen plötzlich weit unter 100 Prozent bewertet wurden. Diese Nachricht versetzte Max in Angst und Schrecken, und er glaubte, dass er wirklich nichts mehr könne und wert sei. Er wollte wieder in Vollzeit arbeiten, aber eine Aufstockung wurde ihm verwehrt, vermeintlich wegen fehlender ›Budgetmittel‹, und dies, obwohl neue Kollegen und Kolleginnen eingestellt wurden. Während der Abfindungswelle im Frühjahr 2009 wurde ihm vom Management vorgeschlagen, doch endlich zu unterschreiben. Der Druck auf Max wurde damit immer größer. Er fing an zu stottern, hatte extreme Angstzustände, seine Hände schwitzten bei kleinsten Belastungen und Konfrontationen, psychosomatische Reaktionen erschwerten seinen Arbeitsalltag, […] Manche Kollegen verhielten sich hilflos, weil für sie die Situation schlecht zu bewerten war. Der Manager griff Max in Meetings öffentlich mit sehr scharfem Ton an. […] Er musste plötzlich an verschiedene Hierarchien über seine Arbeit berichten. Dies glich oftmals tribunalähnlichen Verhältnissen. Er fühlte sich wie ein Angeklagter vor einem Strafgericht. Ihm wurde vermittelt, dass er unfähig sei und ›in keinster Weise‹ die Erwartungen an seinen Job erfülle – und das alles so plötzlich, nach einer über 15-jährigen Berufserfahrung. Die unterschiedlichsten Krankheiten häuften sich bei ihm. Schlafstörungen, negative Gedanken und extrem verletzte Selbstwertgefühle traten auf. […] Es kam hinzu, dass sein Manager den Druck auf ihn verstärkte, indem er ihn vor den Kolleginnen und Kollegen cholerisch anschrie und dabei hämisch lachte. Max bekam Lähmungszustände und konnte nicht mehr die Gebäude des Unternehmens betreten. Er wollte nur noch zu Hause sein und vermied den Kontakt zur Außenwelt. Ein Arzt diagnostizierte eine schwere Depression, d.h., eine Psychose mit akuten Angst zuständen und peniblen Schlafstörungen. Eine Therapie und eine sofortige Einweisung in eine Psychiatrie sollten helfen. […] Der Therapieaufenthalt stabilisierte ihn, nicht zuletzt wegen der Einnahme von starken Medikamenten. Auffällig waren seine Gewichtszunahme, die Passivität, eine labile Erwartungshaltung und Verhaltensänderung. Positiv empfand Max, dass er endlich durchschlafen und die Außenwelt wieder spüren konnte. […] Er hatte wieder Lust am Leben. Bei der Entlassung aus der Psychiatrie war klar, dass er in eine andere Abteilung im Unternehmen wechseln musste, da sonst ein Rückfall mit längerer Krankheitszeit wahrscheinlich war. Der Entlassungsbrief des behandelten Therapeuten wurde an das Gesundheitswesen des Unternehmens weitergegeben – mit der Antwort, dass das auf keinen Fall möglich sei. […] Max war dadurch unnötigerweise immer noch krankgeschrieben, da kein Vorschlag zu seiner verantwortungsvollen, sinnvollen Wiedereingliederung erfolgte. […] Trotz der Fürsorgepflicht unter-
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stützte das Management ihn nicht. Die Betriebsärztin überschritt deutlich ihre Kompetenzen und empfahl Max, dass er das Unternehmen schnellstmöglich verlassen solle. […] Durch die Unterstützung eines Betriebsmitglieds kam letztlich eine Wiedereingliederung zustande, mit der Option, auf dem früheren Arbeitsplatz zurückzukehren – entgegen der Empfehlung des Therapeuten. […] Der Therapeut kontaktierte das Gesundheitswesen der Firma und verhandelte eine verkürzte Wiedereingliederung, da Max längst wieder stabil und arbeitsfähig erschien. Endlich besannen sich das Management, die Personalverwaltung und das Gesundheits wesen, Max neue Aufgaben in einem neuen Team zu vermitteln. Mit Erfolg. Max ist kein Einzelfall. Viele scheitern.“13
Vom Ver al ten psychologischer Begr i f fe Wir befinden uns in einer ganz und gar eigentümlichen historischen Situation. Wir sind Zuschauer und Akteure zugleich – in einem großen Weltschauspiel, dessen Akte mit folgenden Worten überschrieben sein könnten: Globales Finanzkapital, totale Mobilmachung der Arbeit, gnadenlose Beschleunigung, Aufbau von Scheinwelten und deren Zerplatzen, Angst, Wut, Erschöpfung, Leere. Weniger elaboriert könnte es auch heißen: das Letzte geben – die Nerven dauernd angespannt – und dann schließlich doch scheitern, verzweifeln, sich aufbäumen, vielleicht auch „durchdrehen“, letztlich aber zusammenbrechen, sich verkriechen, nichts mehr wissen wollen, nichts mehr spüren. Das Eigentümliche nun aber ist: Alle reden davon! Wir werden überschwemmt mit Befragungen, Kommentaren und Handlungsanleitungen. Supervisoren, Coachs und Psychotherapeuten haben Hochkonjunktur. Wir können uns kaum retten vor gutgemeinten Rat schlägen, die sich schnell in Drohungen verwandeln können. Und dies nicht nur, weil sie sich in unserer Seele mit dunklen Kindheitserinnerungen verstricken. Nein – weil sie mit realen, aber vollkommen paradoxen Vorgängen verschmelzen, die sich vor unseren Augen abspielen. Noch nie wurden Beschäftigte so viel befragt wie heute. Noch nie waren sich alle so einig über ein zentrales Ergebnis: Uns fehlt die Anerkennung! Und doch möchte ich stark bezweifeln, dass lobende Worte des Chefs wirklich nachhaltig unsere Situation verbessern würden. Der Frankfurter Soziologe Stefan Voswinkel (2002) hat herausgearbeitet, dass nicht die fehlende Anerkennung zermürbt, sondern das Ausbleiben des Erfolgs, für den wir bewundert werden möchten. Das ist das Neue im Post-
13 Kronig, Mail an den Verf. (2012).
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Taylorismus, der nicht mehr unsere Arbeitskraft nutzen, sondern unsere ganze Person in den Prozess der Vermarktung einspannen will. Alain Ehrenberg (2011) hat in seiner neuen Studie „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ den sozialen und ideologischen Wurzeln des psychischen Elends nachgespürt. Und er arbeitet ein Problem heraus, das uns zu denken geben sollte: Das massenhaft zu findende Symptom-Muster passt nicht mehr in das Kategorienschema der klassischen Psychiatrie und schon gar nicht in das der klassischen Psychoanalyse. Zwar lässt sich von einer „Krise des Narzissmus“ sprechen14, im Kern besteht diese aber eher in einem Zerbrechen und Zerplatzen der Erfolgsillusionen. „Die psychopathologische Problematik der betroffenen Personen ist gänzlich von der Tonart des Verlustes geprägt: Depression, Rückzug, Zusammenbruch“.15 Empirisch erfährt diese Sicht vielfach Bestätigung. Eine neue Untersuchung von Held u.a. (2011) mit dem Titel „Was bewegt junge Menschen?“ offenbart noch einmal sehr eindringlich den Wandel vom innen- zum außengeleiteten postmodernen Subjekt. Ein interviewter Psychotherapeut berichtet von einer zentralen Erfahrung gerade mit jüngeren Erwerbstätigen:16 „Alles soll bestens und toll sein. Alle unvollkommenen, problematischen, schwachen, alle eher negativen Seiten werden weitgehend verleugnet. Dies gilt für alle Ebenen und von Konflikten, die man mit anderen, mit sich selbst, mit der Arbeit und Vorgesetzten oder sonstigen hat. Die ganze Konfliktseite wird abgespalten, aber auch die ganze Seite des negativen Erlebens. Negative Gefühle zu haben, also etwa auf jemand anderen wütend, ärgerlich zu sein, Angst zu haben, von Skrupeln geplagt zu werden, ist immer ein Indiz dafür, dass man sozusagen nicht zu den Gewinnern gehört. Und deshalb müssen solche Aspekte vor sich selbst ausgeblendet werden.“ Die Studie von Held u.a. arbeitet heraus, dass viele Menschen eine Ich-Stärke inszenieren, in deren Hintergrund Schwäche und Verzweiflung stehen. Zur Selbst-Inszenierung gehört auch die Ebene von Leib und Körper. Eva Kreisky (2003), Politikwissenschaftlerin und Frauen-Forscherin in Wien, diagnostiziert ein geradezu paradoxes Zeitphänomen: einerseits ein Verschwinden des Körpers in der multimedialen und virtuellen Welt, andererseits eine Stilisierung des Körpers, der zur Präsentation auf dem Markt der „unternehmerischen Selbste“ immer unverzichtbarer wird. Gefordert ist der „schöne neue Idealkörper“ und dies auch noch in klassisch geschlechts-dichotomer Art und Weise. Jugendliche geraten immer stärker in einen Dauerstress „gut auszusehen“. Für sie ist ihr
14 Lasch (1995). 15 Ehrenberg (2011), S. 439f. 16 In: Held (u.a. 2011), S. 316.
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Körper „eine Bio-Aktie mit hoher Gewinnerwartung“.17 Ein Studium der Stellenanzeigen auch angeblich seriöser Zeitungen und Internetformen belehrt selbst Zweifler, dass dem tatsächlich so ist. Wer seine Person als Ganzes verkaufen muss, wird den Körper zu einer entscheidenden Sache machen – aber eben zu einer Sache, zu einer mehr und mehr entfremdeten Sache. Die präsentierbare Körperlichkeit entfremdet uns von unserer Leiblichkeit. Auch hier werden wir auseinandergerissen, zerrissen, zerstört. Wir wollen frei sein und unterwerfen uns tiefer denn je entfremdenden Normen.
Sind w ir Herren und Knechte zugleich? Der Philosoph Byung Chul Han brachte die paradoxe Situation unserer Zeit auf den Begriff: „ Die Dialektik von Herr und Knecht führt am Ende nicht zu jener Gesellschaft, in der jeder ein Freier ist, der auch zur Muße fähig wäre. Sie führt vielmehr zu einer Arbeitsgesellschaft, in der der Herr selbst ein Arbeitsknecht geworden ist. In dieser Zwangsgesellschaft führt jeder sein Arbeitslager mit sich. Die Besonderheit dieses Arbeitslagers ist, dass man Gefangener und Aufseher, Opfer und Täter zugleich ist. So beutet man sich selbst aus.“18 Der Schlussfolgerung Hans, dadurch sei „Ausbeutung auch ohne Herrschaft möglich“ geworden, würde ich allerdings widersprechen: Herrschaft findet nunmehr im Subjekt selbst statt. Hier ist Zygmunt Bauman19 zuzustimmen: Herrschaft ist „formlos“ geworden, „ohne den geringsten Verlust an Härte“. Die Mächtigen bleiben im Verborgenen und können sich „ganz auf den endemischen Selbstbewusstseinsmangel ihrer Untergebenen verlassen“. Vor diesem Hintergrund ist das Gros der Ratgeberliteratur geradezu kontraproduktiv. Sie tut ein Übriges, um verborgene Kräfte verborgen sein zu lassen und weiter gefährlichen Leistungsillusionen aufzusitzen. So wird beispielsweise empfohlen, „den inneren Widerstand gegen die Arbeit aufzugeben“ und ganz in der geforderten Arbeitsrolle aufzugehen. 20 Doch das kann zu einem gefährlichen Holzweg werden. Schon vor Jahrzehnten hat Hans Peter Dreitzel (1968) in seiner wegweisenden Studie „Die gesellschaft lichen Leiden und die Leiden an der Gesellschaft“ die zwei Gefahren im Umgang mit der Rolle herauskristallisiert: Entweder ich lasse mich gar nicht auf die Rolle ein, reduziere sie zur „Schablone“ und gehe damit ins innere oder äußere Exil, oder ich
17 Kreisky. 18 Han (2010), S. 45f 19 Zygmunt Bauman (2009), S. 55f. 20 Dufner (2004).
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verliere jede Distanz zur Rolle, mache mich selbst damit zu einer „Marionette“ jener Rolle und drohe dadurch mein Selbst zu verlieren. In beiden Fällen findet eine Spaltung statt – die Verbindung zwischen Arbeitsrolle und der sie tragenden Person reißt ab. „Ich bin nichts mehr außer dem, was ich gerade Tolles mache!“ Wenn das misslingt, falle ich auf die eine oder andere Weise heraus. „Exit“ nennt Voswinkel (2002) diese Option. Fluide Identität besitzt kein eigenes Flussbett mehr, keine eigene Kontur, keine eigene Gestalt – sie zerfließt, läuft aus, versickert, versandet. Übrig bleibt die Fata Morgana, der neoliberal erzeugte Wahnsinn, von dem der neue Roman von Thomas Melle „Sickster“ so trefflich erzählt. Lasse ich mich auf den Kurs des „Erfolgszwangs“ ein, so drohe ich zu einer Marionette des Arbeitssystems zu werden, zu einem „leistungsbewusste(n) Mitläufer“21, der – stark an den eindimensionalen Menschen in Maxes Analyse erinnernd – letztlich nichts weiter ist, als eine roboterhafte Figur, die nach einer gewissen Zeit sich selbst (genauer: ihr leibliches Selbst) auszulöschen beginnt und über kurz oder lang – „depersonalisiert“ – zusammenbricht. Depersonalisation, Entpersönlichung – das heißt: innere Leere, Gefühllosigkeit sich selbst und anderen gegenüber, totale Gleichgültigkeit, möglicherweise aber ein äußeres Funktionieren oder zumindest die Offerierung eines Scheins desselben. Die fluide Identität ist bindungslos und verantwortungslos. Ich habe in bestimmten Momenten den Eindruck, dass die postmoderne Arbeitswelt schon sehr viele entpersönlichte Menschen produziert hat; in anderen Momenten sehe ich aber auch viel Menschlichkeit, die Hoffnung macht. Zur Menschlichkeit gehört auch die Krankheit. Vielleicht zeigen uns die Depressionen auch endlich die Grenzen auf, über die der neoliberale Kapitalismus ständig hinwegzugehen trachtet. „Krankheit in einer kranken Gesellschaft ist ein Zeichen von Gesundheit“ – so oder ähnlich hat es einmal Nietzsche geschrieben, und darin sind ihm durchaus so unterschiedliche Geistesgrößen wie Erich Fromm oder Theodor W. Adorno gefolgt. Die ökonomische Welt durchläuft eine doppelte Metamorphose. Es scheint, als verinnerlichten die Arbeitenden den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, den auszutragen nun alleine ihre individuelle Angelegenheit geworden sei. Es scheint, als sauge uns der hemmungslose ökonomische Globalcorpus in sein Inneres, in dem nur noch die unbarmherzigen Gesetze des Fressens und Gefressen-Werdens gelten. So geschlossen aber ist dieses System nicht. Die entscheidende Frage ist doch die: Kann es eine Umkehr geben? Und wenn ja, wohin soll sie sich orientieren? Meine These ist die folgende: Was wir brauchen, ist eine neue, authentische, reflektierte Beziehung zur Welt, zur Arbeit, zu uns
21 Negt.
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selbst. Es geht zugleich auch darum, das Glücksversprechen des Kapitalismus, vor allem das, was es in uns anrührt, Stück für Stück auseinanderzunehmen und die Teile neu, eben menschengemäß, zusammenzubauen. Dafür brauchen wir die soziale Anerkennung als eigenständiges Individuum in all seiner Unvollständigkeit; dafür brauchen wir aber auch das Selbst-Entdecken und SelbstAnerkennen unseres eigenen inneren Maßes, unserer biographisch gewordenen Authentizität, die uns eine nicht-entfremdete Resonanz zur Welt erlaubt.
Not wendig is t eine gr unds ä t zl iche Umkehr Wir sollten nicht mehr dem Erfolg hinterherrennen, als sei er das nonplusultra des Lebens. Was wir zum Menschsein wie das tägliche Brot brauchen, ist, vom Anderen in unserem Mangel, unseren Eigenarten mit allen Stärken und Schwächen, unserer Bedürftigkeit, unserem Begehren, aber auch unserer Hilflosig keit, anerkennend, nicht verein nahmend, angenommen, ja, respek tiert zu werden. Dies ist zugleich eine Forderung an uns selbst, Fehler – die eigenen wie die des Anderen – wohlwollend zu akzeptieren. Was wir brauchen, ist nicht eine Optimierung unseres Arbeitsvermögens, ist nicht ein lebenslanges Lernen unter Zwang, sondern die Fähigkeit, Sensoren für unser leibliches, seelisches und geistiges Mit-Sein zu entwickeln. Achtsamkeit ist kein schlechtes Wort hierfür. „Dem Kältestrom einen Wärmestrom entgegensetzen.“22 Dazu würden orientierende Leitplanken gehören, wie z.B. „Leben und Arbeiten entschleu nigen“, „Grenzen setzen und Grenzen akzeptieren“, „nicht immer mehr, sondern weniger arbeiten“, „sich rückbesinnen auf den Wert gegenseitiger Hilfe“, „nachdenken über den Sinn von Solidarität“. Ganz entscheidend ist, den Wert des Menschseins nicht nach ökonomischen Kriterien zu messen. Der Wert des Menschen liegt in seinem Menschsein selbst. Ein schreckliches Symptom der neoliberalen Kolonisierung unserer Hirne ist das sich einschleichende Gerede von „Leistungsträger“, „Hochleister“, „Minderleister“, high performer und low performer und ähnlichen Begriffen. Diesem Gerede Einhalt zu gebieten ist ein Gebot der Notwendigkeit. Es ist menschenunwürdig und für eine Demokratie, die sich in ihrem Grundgesetz zu Achtung und Respekt jedem Menschen gegenüber verpflichtet hat, geradezu beschämend. Entgrenzung und Maßlosigkeit durchdringen immer mehr die Beschäftigten selbst, und oftmals können sie nicht mehr unterscheiden, ob der Druck von außen oder von innen kommt. Doch was tun? Sicher, es gibt Instrumente
22 Negt.
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der Gesundheitsförderung, die gut und richtig sind, z.B. Gesundheitszirkel, in denen offen über die Probleme gesprochen werden kann. Doch Instrumente greifen nur, wenn insgesamt eine Bereitschaft zur Änderung besteht. Und Änderung – ein Innehalten, ein Sich-Besinnen, eine Umkehr – ist dringend nötig, auf drei Ebenen: der individuellen, der betrieblichen und der gesellschaftlichen. Jede und jeder Einzelne muss wieder Achtsamkeit lernen, sich selbst und anderen gegenüber. Keine übersteigerten Forderungen an sich und andere, Abschied nehmen von Überidentifikation, Perfektionismus und krankem Ehrgeiz, sich Lebensbereiche außerhalb der Arbeit aufbauen, aus denen sich Kraft und Zuversicht gewinnen lassen. Unternehmen, Verwaltungen und Einrichtungen müssen einsehen, dass die übertriebene Wirtschaftlichkeitslupe, mit der Einzelne betrachtet werden, letzten Endes kontraproduktiv ist. Denn viele Potentiale bilden sich erst im Netzwerk sozialer Beziehungen, in dem der Schnelle, der viele Fehler macht, und der Langsame, der diese Fehler ausbügelt, sich ergänzen, Netzwerke, in denen genau deshalb Lerneffekte entstehen. Gnadenloser Druck zerstört diese Potentiale, bevor sie überhaupt entstehen oder sich entfalten können. Er zerstört nicht nur die Potentiale, sondern beschädigt auch unsere Seele. Und die Leidtragenden sind doppelt bestraft, denn immer noch sind psychische Erkrankungen gesellschaftlich tabuisiert, sodass viele Betroffene ihre Krankheit so lange wie irgend möglich zu verheimlichen suchen. Doch gerade das ist fatal. Statt sich gegen den inhumanen Druck zu wehren und wieder eine aufrechte Haltung einzunehmen, beugen sich viele dem Druck allzu lange und versuchen, sich selbst und anderen etwas vorzumachen. 80 Prozent der Suizide – in Deutschland sterben jährlich mehr als 6000 Personen im erwerbsfähigen Alter an Selbstmord – gehen Depressionen voraus. Es ist an der Zeit, dem Diktat der Beschleunigung Einhalt zu gebieten, wieder Achtsamkeit gegenüber sich und anderen zu lernen: Respekt vor der Unterschiedlichkeit der Menschen, ein für jeden angemessenes menschliches Maß und – auch und gerade in der Arbeitswelt – Solidarität, ohne die menschliches Leben auf Dauer nicht möglich ist.
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Burn-out Ur s achen und Pr ävent ion
Vor ausgeschick t Über Burn-out wird im Moment zum Glück viel diskutiert. Besonders die gute und objektive Berichterstattung über den tragischen Tod des Torwarts Robert Enke hat die Probleme, die durch Burn-out und Depression entstehen, aus dem Schattendasein herausgeholt und in eine öffentliche Diskussion geführt. Das Phänomen des Burn-out wurde 1974 erstmals von dem amerikanischen Psychologen Herbert Freudenberger so benannt und – am Beispiel seines Auftretens in helfenden Berufen – als Reaktion auf chronische Stressoren im Beruf – beschrieben. Dieser Beitrag versucht nun zu klären, was die Medizin, die sich zunehmend mit diesem Thema beschäftigt, unter Burn-out versteht, welche Ursachen zu ihm führen können und wie es vermieden und geheilt werden kann. Es sollte an dieser Stelle auch bemerkt werden, dass nicht die Arbeit und der Arbeitgeber „das Böse“ darstellen, genauso wenig, wie Menschen die an Depression oder Burn-out leiden „Drückeberger“ sind. Es ist wichtig, die Gesamtsituation der Betroffenen zu betrachten und individuelle Lösungen zu suchen, die eben nicht nur die Arbeitssituation betreffen, sondern den betroffenen Menschen befähigen, seine beruflichen und außerberuflichen Belastungen zu beherrschen. Hier scheint es immer mehr verantwortungsbewusste Arbeitgeber zu geben, die sich des einzelnen Beschäftigten schon im Vorfeld annehmen, um diesen nicht durch eine langwierige Krankheitsphase zu verlieren. Hierzu werden Führungskräfte geschult, auf die Mitarbeiter auch emotional zuzugehen und emotionale Kompetenz zu zeigen.
Ungleichgewicht Es ist wichtig festzustellen, dass das Burn-out-Syndrom nicht wie die Depression eine Krankheit, sondern ein Zustand des energetischen Ungleich-
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gewichts ist, der vermeidbar und reversibel ist. Eine solche Dysbalance kann entstehen, wenn – meistens besonders engagierte – Menschen bei langandauernder hoher Energieabgabe und gleichzeitigem ungenügendem Energienachschub eine zu geringe Wirkung erzielen. Wenn die Ressourcen und die Belastungen sich nicht mehr die Waage halten, wenn die Belastung latent überwiegt, führt das zu einem Zustand der Überforderung und der Erschöpfung. Der Begründer der Positiven Psychotherapie, Nossrat Peseschkian, hat ein „Life-Balance-Modell“ entwickelt, nach dem vier Aspekte des menschlichen Lebens im Gleichgewicht stehen sollten: die sozialen (Beziehungen und Kontakte), die wertbezogenen (Sinn, Zukunft, Glaube, Kultur), die physischen (Körper, Gesundheit) und die auf Arbeit und Leistung ausgerichteten Aspekte. Wenn der Aspekt „Arbeit und Leistung“ ein Übergewicht erhält, geht das auf Kosten der übrigen Bereiche, dann ist das Lebens-Gleichgewicht gestört. Was machen Menschen, wenn sie ihre Arbeit nicht schaffen? Sie arbeiten länger, machen Überstunden, nehmen die Arbeit vielleicht mit nach Hause und arbeiten dort weiter, um noch mehr und noch Besseres zu erreichen. So wird nichts aus dem Abend im Verein, der Druck ist zu stark und die Erschöpfung zu groß. Genau das passiert dann: Man zieht sich zurück. Solche Prozesse führen geradewegs in eine Unbalance.
Phasen und Warnzeichen Bis es zum Burn-out kommt, laufen gewöhnlich unterschiedliche Phasen ab, die mehr oder minder fein voneinander unterschieden und auch gemessen werden können. Ein bekanntes und bewährtes Instrument dazu ist das „Maslach Burnout Inventory (MBI), das 1981 von Christina Maslach und Susan E. Jackson entwickelt wurde und das mit Hilfe von 22 Fragen drei Skalen des Burn-out-Syndroms erfasst: die emotionale Erschöpfung, die Depersonalisation und die reduzierte Leistungsfähigkeit. Die Entwicklungsphasen hin zum Burn-out und auch die weiteren möglichen Folgen können so beschrieben werden: 1. Enthusiasmus: Die erste Phase kann so aussehen: Sie beginnt mit starkem Einsatz und großem Idealismus am Arbeitsplatz, wobei die starke Konzentration auf die Arbeit häufig mit der Zunahme von Überstunden und einem Rückzug aus dem privaten Bereich einhergeht. „Ich habe ein Ziel, möchte etwas bewegen, habe tolle Ideen, für die ich mich engagiere und stark einsetze.“
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2. Stagnation: Oft fehlt in Situationen starken Engagements die Anerkennung, es kommt kein Dank zurück, sondern es erwachsen sogar Widerstände. „Ich verstricke mich in firmeninternen, politischen Fragen und komme da nicht voran. Außerdem werden widersprüchliche Anforderungen an mich gestellt, die ich nicht richtig miteinander in Einklang bringen kann.“ 3. Frustration: Das führt dann allmählich dazu, dass ein Gefühl der Nutzlosigkeit des eigenen Tuns, dass Pessimismus und Energiemangel oder auch vegetative Überreaktionen mit großer Gereiztheit sich einstellen. Zugleich wird die Schuld am Misserfolg dem System und den anderen zugeschrieben. „Würden die Sekretärin, die Kollegen bzw. die Mitarbeiter mehr und besser arbeiten, dann käme ich auch selber besser voran. Die Konflikte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, das macht mich noch weniger leistungsfähig.“ 4. Apathie: Eine innere Leere, Gefühle der Hilflosigkeit und Insuffizienz machen sich breit, die kognitiven Fähigkeiten, die emotionalen und sozialen Kompetenzen flachen ab. „Ich kann mich nicht mehr richtig konzentrieren, schlafe schlecht, komme ins Grübeln. Auf die Bedürfnisse der Kinder, meiner Frau und meiner Freunde kann ich kaum noch reagieren.“ 5. Burn-out: Eine tiefe Erschöpfung, Schlafstörungen und veränderte Essgewohnheiten, auch Schmerzen charakterisieren diesen Zustand. „Ich komme nicht mehr zu Kräften und schaffe das alles nicht mehr. Ich habe immer größere Probleme mit dem Rücken und immer öfter auch mit dem Magen. Meine Substanz ist verbraucht, ich fühle mich völlig ausgebrannt.“ 6. und 7. Symptome der Depression und Depression: Wenn während dieser fünf Phasen keine Maßnahmen – wie sie im Kapitel „Gegenmaßnahmen“ beschrieben sind – ergriffen werden, können diese reversiblen Belastungen weiter über Symptome der Depression in eine schwere Depression bis hin zur Suizidalität führen. Der Übergang in diese Krankheit vollzieht sich kontinuierlich. Depressionen, die ohne ärztliche Hilfe – entweder mit einer Psychotherapie oder mit Medikamenten – nicht zu heilen sind, nehmen in allen industrialisierten Ländern bedrohlich zu. Die Weltgesundheitsorganisation hat ausgerechnet, dass sie bis zum Jahr 2030 weltweit die häufigste Erkrankung sein wird. In den nicht-industrialisierten Ländern werden die Infektionskrankheiten an erster Stelle stehen. Aber sobald auch dort Kühlschränke, sauberes Wasser und Antibiotika selbstverständlich geworden sind, gehen dort ebenfalls die Infektionskrankheiten zurück. Dann rücken auch dort die Depres-
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sionen an die erste Stelle. Die Kosten für die Therapie der Depressionen explodieren weltweit, und deshalb muss man sich auch schon Gedanken über die Vorbeugung machen. Deshalb ist es wichtig festzuhalten: Burn-out kann verhindert werden, es kann unterbrochen werden, und es ist reversibel – ohne Behandlung. Wer untrainiert einen Marathon laufen würde, wäre sehr erschöpft, würde vielleicht sogar körperlich zusammenbrechen. Aber er oder sie bräuchte nichts zu tun, außer sich zu erholen, um da wieder herauszukommen. So ist es eben auch beim Burn-out!
St ress al s Ver ur s acher von Burn-ou t Stress ist hier als eine Belastung definiert, die aus Angst vor mangelnden Ressourcen, aus Angst, die Kontrolle zu verlieren, und aus der Angst zu versagen entsteht. Wir betrachten den Menschen dabei natürlich als ein Gesamtsystem, das durch Stressoren wie chronische und alltägliche Belastungen im häuslichen und/oder im beruflichen Bereich, aber auch durch kritische Ereignisse im täglichen Leben negativ beeinflusst werden kann. Am Arbeitsplatz können sich die unterschiedlichsten Gegebenheiten als psychosoziale, stressfördernde Belastungen auswirken. Hier sind unter anderem zu nennen: • • • • • • •
Fehlende oder unzureichende Informationen durch die Vorgesetzten oder Kollegen, unklare Zielvorgaben, mit Aufgaben überhäuft zu werden, ohne eigene Prioritäten zu setzen/setzen zu können, mangelnde Anerkennung der Leistung (kein positives Feedback), keine oder zu wenig Gespräche, Änderungen der Arbeitssituation ohne vorherige Absprache und Vorbereitung, mangelndes Verständnis von Vorgesetzten und Kollegen für Schwierigkeiten im beruflichen und privaten Bereich.
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St ress fördernde individuelle Disposi t ionen und Ver hal tensweisen Es gibt aber auch eine Reihe von Dispositionen in der Persönlichkeit von Individuen, die den Aufbau von Stress – und oft dann auch von Burn-out – begünstigen: • • • • • •
Neurotizismus (Ängstlichkeit, mangelnde Selbstachtung, Neigung zu Sorgen, Schuldgefühle), Perfektionsstreben, Helfersyndrom, krankhafter Ehrgeiz, echte oder gefühlte Defizite (wie schlechte Ausbildung, Einarbeitung), seelische Erkrankungen.
Menschen mit solchen Dispositionen können zu Wahrnehmungen neigen, die wiederum den Stress verschärfen. Vielfach konzentrieren sie sich auf negative Ereignisse und Erfahrungen, neigen dazu, diese zu verallgemeinern und bewerten deren Folgen als Katastrophen. Alles Negative wird auf die eigene Person bezogen, Positives (wie Lob) hingegen kaum wahrgenommen. Auch das „Muss-Denken“, das zwanghafte Bestreben, Wünsche zu absoluten Forderungen zu übersteigern, fördert den Stress. Interessant ist auch die Frage, ob Menschen mit einer Disposition zu hoher emotionaler Verbundenheit eher zum Burn-out neigen als Menschen mit einer hohen emotionalen Distanz. Eine Untersuchung bei Krankenpflegekräften hat gezeigt, dass diejenigen, die sich distanzieren, die eben nicht emotional verbunden sind, viel häufiger an Burn-out leiden als ihre Kolleginnen und Kollegen, die sich bei ihrer Arbeit auch emotional engagieren. Auch eigene Verhaltensweisen können als Stressverstärker wirken. Dazu zählen das Missachten der eigenen Grenzen, das Bestreben, es allen recht und alles selbst machen zu wollen, sowie unrealistische Erwartungen an andere Menschen. Leider ist es oft auch so, dass der Stress selbst als eine Flucht benutzt wird, als eine Ablenkung von innerer Leere, von Gefühlen der Sinnlosigkeit und der Einsamkeit.
Sichere Wege in den Burn-ou t Der folgende „Ratgeber“ macht auf seine – natürlich ironische – Weise deutlich, durch welche Mechanismen jeder und jede von uns in die Zwickmühlen des Burn-outs geraten kann:
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Sie sollten sich in Ihrer Arbeit unerreichbare Ziele setzen. Sie sollten in Bezug auf Ihre Arbeit und Ihren Arbeitsplatz möglichst hohe Erwartungen hegen und unbeirrt daran festhalten. Sie sollten beharrlich dazu beitragen, Ihre Arbeitsrolle so konflikthaft und unklar und so unlösbar wie möglich zu gestalten. Sie sollten vergessen, das eine gewisse Abwechslung im Beruf Sie jung und beweglich halten kann und lieber an Arbeitsinhalten, Aufgaben und Teams festhalten, mit denen Sie schon immer gern zu tun hatten. Sie sollten alles, was mit dem Thema Burn-out zu tun hat, tabuisieren. Sie sollten, wenn sich die Arbeitswelt kompliziert entwickelt, jegliche Mitverantwortung dafür ablehnen, denn Opferrollen und Feindbilder sind schon ganz gut. Sie sollten das Image vom starken Individuum pflegen: Ich kann alles! Ich brauche keine Unterstützung! Sie sollten, falls sie sich trotz verschiedener Gegenmaßnahmen zunehmend ausgebrannt fühlen, eine gründliche Beratung meiden. Wenn alles nichts hilft, sollten Sie auf keinen Fall das Aufgabengebiet oder den Arbeitsplatz wechseln, schon gar nicht den Beruf. Zähne zusammenbeißen und durchhalten! Sie sollten Ihr Privatleben unbedingt vernachlässigen und jegliche Warnhinweise übersehen.
Pr ävent ion dur ch Führ ung Emotionen in Organisationen – Gibt es das überhaupt? Die meisten Führungskräfte würden sagen, Emotionen seien etwas für Loser und missachten damit wichtige Erkenntnisse der betriebs- und volkswirtschaftlichen Forschung: Der Mensch ist eben nicht nur ein homo oeconomicus, der völlig kalt entscheidet, er orientiert sich vielmehr in einem sozialen Gefüge, er ist ein homo cooperativus. Außerdem stellt sich oft heraus, dass Probleme im Unternehmen gar nicht auf der Sachebene, sondern auf der emotionalen Ebene liegen und auch dort behoben werden müssen. Menschen haben eine individuelle Persönlichkeit, die sie auch im Unternehmen für bestimmte Dinge ganz besonders wertvoll macht. Dementsprechend sind sie in bestimmten Situationen einsetzbar, oder auch nicht – das muss eine Führungskraft erkennen. Es geht darum, die Vorzüge der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenso zu kennen und anzuerkennen wie ihre Schwächen. Das bedeutet, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht nur als Kennzahl funktionalisiert und als high-performer oder low-performer klassifiziert
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werden. Ein – auch wirtschaftlich – erfolgversprechender Führungsstil basiert auf einem Menschenbild, das die besonderen Eigenschaften, die Wünsche und Hoffnungen, die Ängste und persönlichen Ziele – also die Bedürfnisse – der Beschäftigten mit einbezieht. Nach Klaus Grawe, einem der führenden Psychotherapie-Forscher, zählen die folgenden menschlichen Bedürfnisse zu den wichtigsten: • • • •
das Bedürfnis, eine Bindung einzugehen, das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung, aber auch Selbstwertschutz und das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung.
Diese Bedürfnisse sind bei den unterschiedlichen Menschen unterschiedlich gewichtet. Es gibt Menschen, die ein hohes Bindungsbedürfnis haben, und andere haben ein hohes Kontrollbedürfnis usw. Wenn man Mitarbeiter befragt: „Was steht an erster Stelle?“, dann heißt es: „Gemeinschaft und Beziehung!“. Sie kommen also nicht nur, um Geld zu verdienen, die Hauptsache sind die Kollegen und Kolleginnen und die Vorgesetzten. Menschen arbeiten nicht aus rein rationalen Erwägungen, viele arbeiten, um durch die Führungskraft Anerkennung zu finden. Das sind Werte, und auch ein wirtschaftliches Unternehmen sollte ethische Werte vertreten, die nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch vorgelebt werden. Eine Führungskraft sollte Vorbild sein, sie darf zwar Fehler haben, muss diese aber zugeben und auf jeden Fall auch die ethischen Werte verkörpern. Klare Vorgaben zu machen und sinnvolle Ziele zu setzen, das zählt – ebenso wie das Wahrnehmen von Entscheidungskompetenzen – zu den wichtigen Aufgaben von Führungskräften. Das bedeutet – auch im Interesse der Gesundheit der Beschäftigten – nicht Kontrolle bis in alle Einzelheiten, sondern ein Aushandeln von individuell angemessenen Freiheiten. Das bedeutet auch, Vorgaben zu machen, doch zugleich auch die Möglichkeit zu schaffen, diese Vorgaben umzusetzen, Anerkennung und Respekt zu zollen, Fairness walten zu lassen und die Arbeitsbelastung zu fördern. Zusammengefasst lassen sich sechs strategische Bereiche identifizieren, die der Entstehung von Burn-out im Unternehmen vorbeugen oder zu seiner Bekämpfung beitragen:
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Burn-out-Prävention Job-Person-Problem
6 strategische Bereiche
Job-Person-Harmonie
Überlastung
Arbeitsbelastung
bewältigbare Arbeitslast
Autonomiemangel
Handlungsspielraum
mangelnde Anerkennung
Anerkennung
fehlender Zusammenhalt
Gemeinschaftsgefühl
Wahlmöglichkeiten und Kontrolle Anerkennung und Belohnung ein unterstützendes Team
Unfairness
Gerechtigkeit
Wertekonflikt
Werte
Fairness, Respekt, soziale Gerechtigkeit klare Werte und sinnvolle Arbeit
Coping – individuelle Bewäl t igungss t r a tegien Coping ist ein Begriff aus der Psychotherapie und steht hier für „Bewältigungsstrategien“. Welche Strategien können dazu beitragen, das Problem Burn-out nachhaltig zu lösen? Ebenso wie für ein Unternehmen ist es auch für jede und jeden Einzelnen dabei sinnvoll, die sechs strategischen Schlüsselbereiche in der obigen Grafik (Arbeitsbelastung, Handlungsspielraum, Anerkennung, Gemeinschaftsgefühl, Gerechtigkeit und Werte) auf die Relevanz für die eigene Person hin zu prüfen. Es gilt herauszufinden: „Was bin ich für ein Typ, für ein Arbeitstyp? Wie gehe ich mit bestimmten Situationen um?“ und sich zu fragen „Wo ist das Problem? Wo ist der Konflikt, mein Zielkonflikt, mein Rollenkonflikt? Und wie kann ich den in diesen sechs Bereichen so verändern, dass ich wieder eine gewisse Harmonie verspüre?“ Jeder Mensch hat persönliche, im Laufe des Lebens erlernte Bewältigungsstrategien, die immer wieder eingesetzt werden. So könnte eine Sekretärin sich sagen: „Ich muss meine Arbeit möglichst gut bewältigen, dann kriege ich das Lob, das ich brauche.“ Wenn sich aber neue Situationen ergeben, in denen die alten Bewältigungsstrategien nicht mehr greifen, dann wäre in einer Beratung zu überlegen, welche anderen Bewältigungsstrategien es ermöglichen, mit der Situation zu Rande zu kommen. Individuelle Bewältigungsstrategien haben ganz wesentlich mit einem bewussten Zeitmanagement zu tun, das sich am besten an der Frage orientiert: „Wovon werde ich am Ende meines Lebens sagen, dass es sich gelohnt hat?“ Aus dieser Perspektive relativieren sich viele Dinge – z.B. die Dringlichkeit bestimmter Arbeiten – ganz schnell. Viele Menschen kommen dann zu dem Er-
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gebnis, dass die Familie, der Fußballverein oder etwas ganz anderes das Wichtigste in ihrem Leben sind. In der Regel leiden besonders Menschen, die alles sehr genau nehmen, die sehr gewissenhaft, ordentlich und zuverlässig sind, an Burn-out. Ihnen ist die Beherzigung des „Pareto-Prinzips“ anzuraten. Der italiensche Soziologe, Ökonom und Ingenieur Vilfredo Pareto (1848-1923) entwickelte die 80-zu-20-Regel, die besagt, dass 80 Prozent der Ergebnisse in 20 Prozent der Gesamtzeit eines Projekts erreicht werden. Die verbleibenden 20 Prozent der Ergebnisse benötigen 80 Prozent der Gesamtzeit und verursachen die meiste Arbeit. Hilfreich, um sich nicht durch quälende Überbelastung aufzureiben, ist eine gezielte Selbstorganisation, die sich z.B. auf Prioritätenlisten, auf entsprechend gewichtete To-do-Listen sowie auf Zeit- und Projektpläne stützt. Zu einem wirkungsvollen Zeitmanagement gehört ganz wesentlich auch das Nein-Sagen, das Sich-Abgrenzen von bestimmten Anforderungen. Ausschlaggebend für eine effektive Prävention von Burn-out ist die regelmäßige Erholung. Bei innerlicher Unruhe und Überreiztheit muss die körperliche und seelische Aktivierung abgebaut werden, bei schlechter Laune und Frust kann z.B. Sport für Ausgleich zu sorgen. Wer sich unausgefüllt, gelangweilt oder unterfordert fühlt, kann sich sinnvolle neue Herausforderungen suchen, und wer erschöpft, ausgelaugt und „fix und fertig“ ist, sollte einfach nur ausruhen und neue Energien tanken. In jedem Fall und bei jedem Menschen hilft bewusster Genuss. Dazu acht Empfehlungen, die immer weiterhelfen: • • • • • • • •
Gönne Dir den Genuss! Nimm Dir Zeit zum Genießen! Genieße bewusst! Schule Deine Sinne für den Genuss! Genieße auf Deine eigene Art! Genieße lieber wenig, aber richtig! Planen verschafft Vorfreude. Genieße die kleinen Dinge des Alltags!
Ich danke Helga Reuter-Kumpmann für ihre große Hilfe bei der schriftlichen Fassung meines Beitrags.
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Burn-out und die Aufgaben des Bildungssystems Tal k r unde 3, moder ier t von T homas Ramge, mi t Wol fgang Hien, Har ald Kr au ß, Simone Langendör fer und Rol f Verres
Diese sehr lebhafte Talkrunde im Anschluss an den Vortrag von Harald Krauß und Wolfgang Hien richtete sich vor allem auf das Thema „Burn-out“. Die deutliche Betroffenheit der Symposiumsteilnehmer und -teilnehmerinnen zeigte sich auch in der Forderung, viel früher – nämlich bereits bei der Kindererziehung und in der Schule – darauf zu achten, dass nicht nur nach Leistung geurteilt und Ellenbogenmentalität gefördert, sondern auch Spaß am Lernen vermittelt werde. Nur so könne vermieden werden, dass die kommende Generation „Generation Burn-out“ genannt werden müsse, führte Langendörfer anschließend aus. Auch wurde seitens des Publikums konstatiert, dass die Familienstrukturen sich geändert haben und der Medienkonsum das soziale Verhalten ändere, sodass Mitmenschlichkeit und Solidarität nicht ausreichend vermittelt würden. Simone Langendörfer berichtete aus ihrer Tätigkeit als Coach und von ihren Erfahrungen mit Führungskräften, die nicht ausreichend für das Thema Menschenführung sensibilisiert seien. Menschenführung brauche Zeit und Engagement, beides sei nicht ausreichend vorhanden, die Ergebnisse seien bekannt. Führungskräfte mit Burn-out würden sich im Übrigen durchaus als Opfer begreifen. Josephine Hofmann entgegnete, dass sie aus ihrer Erfahrung mit Forschungsprojekten in Unternehmen eine Lanze für die Führungskräfte brechen wolle, die nicht nur aufgrund von Ellenbogenmentalität in ihrer Position seien. Man müsse da schon ein wenig differenzieren und bedenken, was für einen Handlungsspielraum letztere haben. Wenn die Strukturen für empathisches Handeln nicht vorhanden seien, könnten Führungskräfte auch nicht so agieren. Rolf Verres beschäftigte die Frage, wie gesund eigentlich das Gesundheitswesen sei. Man könne ja annehmen, dass die, die das Gesundheitswesen be-
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trieben, sehr viel über Gesundheit und Krankheit wüssten. Dem würden aber Pressemeldungen über „seelenlose Krankenhäuser“ entgegenstehen. Mit gutgemeinten Appellen an Führungskräfte käme man kaum weiter. Es fehle generell an Kooperationsfähigkeit. Könne man sich eine Entschleunigung in der globalisierten Welt überhaupt leisten, fragte eine Teilnehmerin. Frau Langendörfer entgegnete, dass jeder Mensch seinen individuellen „Anpeitscher“ habe, den man lernen müsse zu dirigieren, z.B. mit Instrumenten des Mental-Coachings. Empathie und eine Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit im Arbeitsprozess, so die einhellige Meinung, wären die Kompetenzen, die auch künftig weiter zu entwickeln und zu unterstützen seien.
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Positive Psychologie Was is t Posi t ive Psychologie? Positive Psychologie ist der Sammelbegriff für Theorien und Forschung darüber, was das Leben lebenswert macht. Das „gute Leben“ war lange eine Domäne der Philosophie. Heute werden mit den Mitteln der wissenschaftlichen Psychologie jene Stärken und Tugenden erforscht, welche es Individuen und Gemeinschaften erlauben, gut und erfolgreich zu leben. Die Positive Psychologie basiert dabei auf dem Glauben, dass Menschen ein erfülltes Leben führen bzw. ihrem Leben Sinn geben wollen, sowie dass sie daran interessiert sind, ihre guten Seiten zu kultivieren und die Erfahrung verschiedener Lebensbereiche (z.B. Liebe, Arbeit, Spiel) zu verbessern. Diese Annahmen basieren teilweise auf der Humanistischen Psychologie, welche als „dritte Kraft“ (neben Psychoanalyse und Behaviorismus) die Psychologie des 20. Jahrhunderts bereicherte, indem sie ein positiveres Bild vom Menschen zeichnete. Sie nahm u.a. an, dass der Mensch von Grund auf gut sei, und Krankheit eine Folge von Umweltbedingungen sei. Insbesondere Persönlichkeiten wie Carl Rogers, Abraham Maslow, Erich Fromm und Charlotte Bühler waren für viele inspirierend; die Humanistische Psychologie fasste aber in der akademischen Psychologie wohl wegen der geringeren Forschungsorientierung nicht besonders stark Fuß. Auch der Begriff „Positive Psychologie“ wurde zum ersten Mal von Maslow in einem Buch benutzt, in dem er einige Forschungsthemen vorstellte, die er in der damaligen Forschung vermisste und mit denen sich die Psychologie beschäftigen sollte. Martin E. P. Seligman, damals Präsident der „American Psychological Association“ (APA), griff die Bezeichnung „Positive Psychologie“ 1998 wieder auf und machte die Etablierung dieser Sichtweise in der akademischen Psychologie zu seiner Mission. Inzwischen hat sich die Positive Psychologie in Forschung und Praxis zu etablieren begonnen. Es gibt ein „Journal of Positive Psychology“, Lehrbücher, Kongresse und eine weltumspannende Gesellschaft, die „International Positive Psychology Association“ (IPPA; www.ippanetwork.org).
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Was w ird unter diesem T i tel alles er for scht? Die Forschung in der Positiven Psychologie betrifft drei große Bereiche: positives Erleben (z.B. contentment, satisfaction, well-being, happiness, flow, ecstasy, sensual pleasures), positive Eigenschaften (z.B. Stärken, Tugenden und Begabung) und positive Institutionen (d.h. Rahmenbedingungen von Institutionen, die ein Wachstum erlauben). Für Seligman können sich die positiven Emotionen auf die Vergangenheit (z.B. Zufriedenheit), die Gegenwart (z.B. happiness), oder die Zukunft (z.B. Hoffnung) beziehen. Die positiven Eigenschaften betreffen Stärken und Tugenden (wie Liebesfähigkeit, Mut, Kreativität, Mäßigung, Selbstkontrolle). Das Studium positiver Institutionen befasst sich auch mit Stärken, die bessere Gemeinschaften ausmachen, wie Gerechtigkeit, Verantwortung, Arbeitsethik, Teamwork, oder Toleranz. An Institutionen wären hier zu nennen: „gesunde“ Familien, gute Wohngegenden, Schulen, Medien oder Betriebe. Das natürliche Zuhause der Positiven Psychologie ist also nicht die Klinik, sondern sind die Bereiche, in denen der Mensch sich von seiner besten Seite zeigt, z.B. im Sport, bei der Arbeit, in der Ästhetik oder in Beziehungen. Das Ziel der Positiven Psychologie ist also die Erschaffung einer Wissenschaft, welche u.a. Folgendes unterstützt: • • • • • •
Familien und Schulen, die erlauben, dass Kinder aufblühen und gedeihen; Arbeitsstätten, die Zufriedenheit und hohe Produktivität fördern; Gemeinschaften, die bürgerliches Engagement ermutigen; Therapeuten, die die Stärken Ihrer Patienten erkennen und fördern; das Unterrichten von Positiver Psychologie; die Verbreitung von auf Einsichten der Positiven Psychologie aufbauenden Interventionen in Organisationen und Gemeinschaften.
Was sind Trends und Neuigkei ten? In den letzten Jahren ist man den gesellschaftlichen und individuellen, den materiellen und immateriellen Determinanten des Glücks bzw. der Lebenszufriedenheit auf der Spur. Insbesondere die Forschung von Ed Diener half zu verstehen, welche Faktoren glücklich machen und welche nicht. Ebenso zeigte der Vergleich verschiedener Kulturen, dass materielle Dinge, wie z.B. das Einkommen, nur im unteren (im Mangel-)Bereich mit happiness korrelieren, aber nicht mehr, wenn eine bestimmte Schwelle überschritten ist. Eine andere Richtung versucht mit empirischen Methoden, die verschiedenen in der Philosophie entwickelten Vorstellungen zu glücklich machenden Le-
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bensstilen zu überprüfen. Während die Philosophie nur zwei solcher Strategien unterscheidet (Hedonismus, d.h. die Maximierung von Lust und die Minimierung von Unlust, und Sinnsuche, d.h. ein Leben im Einklang mit den Tugenden), unterscheidet Seligman (2002) zwischen drei Lebensstilen, die zu einem „guten Leben“ führen können. Er beschreibt das pleasant life (den Genüssen des Lebens frönen, Hedonismus), das engaged life (das eigene Potential verwirklichen, seine Stärken kennen und im Privat- und Arbeitsleben einsetzen, um so das Auftreten von Flow-Erlebnissen zu fördern) sowie das meaningful life (die Suche nach Sinn, durch Ausübung der Tugenden und Stärken erreichbar; seine Stärken anderen zur Verfügung stellen). Ein erfülltes Leben besteht somit im „Erleben positiver Emotionen“ beim Blick auf die Vergangenheit und in die Zukunft, sowie „im Genuss positiver Emotionen“ bei Vergnügungen (pleasures), in reichlicher Belohnung (gratification) bei Selbstverwirklichung, konkret bei der Ausübung der Signaturstärken (jener Charakterstärken, die bei einem Menschen besonders ausgeprägt sind) und schließlich darin, Sinn und Bedeutung zu erlangen durch den Gebrauch dieser Stärken „im Dienst einer höheren Sache“. Das engaged life wurde zum Hedonismus und zur Sinnsuche als dritter Weg zum Glück hinzugefügt, um die Arbeiten von Csikszentmihalyi zu würdigen, der das Flow-Konzept erfunden hat. Eine Steigerung der Zufriedenheit wird durch Aktivitäten erreicht, die wir gerne ausüben und die uns flow bringen (d.h. wenn wir völlig in einer Aufgabe aufgehen und die Welt um uns herum vergessen). Im meaningful life werden die Signaturstärken genützt, um sich im Dienst einer Sache einzusetzen (z.B. für eine Institution, die man schätzt). Empirische Untersuchungen mit dem OTH- (Orientations to happiness) Fragebogen zeigen, dass sich Spaß und Arbeit keineswegs ausschließen; vielmehr bestehen leicht positive Zusammenhänge zwischen diesen Skalen. Während alle drei Lebensstile mit höherer Lebenszufriedenheit verbunden sind, sind die Koeffizienten für das life of engagement noch höher als die für pleasure und meaning. Es zeigt sich auch noch eine interessante Wechselwirkung höherer Ordnung. Bei Personen, die in allen drei Lebensstilen unter den obersten 10 Prozent liegen (the „full life“), ist die Lebenszufriedenheit noch überproportional höher. Hingegen ist bei Personen, die in allen drei Lebensstilen unter den untersten 10 Prozent liegen (the „empty life“), die Lebenszufriedenheit noch zusätzlich niedriger. Interessanterweise gelten diese Beziehungen auch, wenn man Länder vergleicht; diejenigen, wo im Durchschnitt mehr life of engagement gepflegt wird, sind auch die glücklicheren. Für den Bereich der Beratung lässt sich daraus ableiten, dass man Klienten Wege aufzeigt, wie sie alle drei Stile weiter kultivieren können. Dabei ist der erste Weg nicht so Erfolg versprechend. Obwohl das Erlernen von Genuss wichtig ist, wird man wegen der genetischen Grundlagen zu dem „happiness set point“ (man hat ein für die Person typisches Niveau an Neigungen zu positiven
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Emotionen), aber auch der „hedonistischen Tretmühle“ nicht so leicht länger anhaltende Veränderungen im Niveau des Glücklichseins erreichen (man gewöhnt sich schnell an den glücklich machenden Zustand und braucht ständig mehr Glücklichmacher). Dies unterscheidet sich bei den beiden anderen Wegen. Ein Coach würde hier zum Erkennen der eigenen Stärken raten (z.B. indem man den VIA-IS ausfüllt; siehe unten) und dann helfen, Wege zu suchen, um diese gezielt in mehr Bereichen des Lebens einzusetzen. Dies kann unter der Perspektive Selbstverwirklichung erfolgen (also dem life of engagement entsprechen) oder darin bestehen, dass die Klienten Institutionen, Ideen, Bewegungen etc. identifizieren, mit deren Zielen sie sich eins fühlen und in deren Dienst sie ihre Stärken stellen. In den letzten Jahren wurden Interventionen der Positiven Psychologie entwickelt und evaluiert. So zeigt sich z.B., dass das Einüben von mehr Höflichkeit zu mehr positiver Resonanz auf die eigene Person und auch zu mehr Zufriedenheit führt. Seligman, Peterson und Park haben eine interessante Studie vorgestellt, in der mit einem placebokontrollierten Design unter DoppelblindBedingungen die Effektivität von verschiedenen Interventionen getestet wurde. Dabei zeigte sich, dass vor allem drei Interventionen effektiv waren (und die Effekte teilweise auch nach sechs Monaten noch nachweisbar waren): ein Dankbarkeitsbrief bzw. -besuch, das Führen eines Tagebuches, in dem festgehalten wird, was einem während des Tages Gutes widerfahren ist, und das Kennen der eigenen Signaturstärken und deren gezielter origineller Einsatz in weiteren Bereichen des Privat- und Berufslebens. Bei der ersten Intervention verfasst man einen Brief an eine Person, die eine wichtige Rolle im eigenen Leben gespielt hat und der man bisher nicht gedankt hat. Man erklärt u.a., welche Auswirkung diese Person auf das eigene Leben hatte und schickt diesen Brief auch ab, oder macht besser noch einen (bezüglich des Zwecks nur vage gehaltenen) Termin mit der Person aus, bei dem man ihr den Brief vorliest. Diese Ergebnisse wurden am Zürcher Institut für Psychologie bestätigt.
Char ak ter s t är kenfor schung Das Konzept des Charakters hat außer im deutschen Sprachraum kaum je Fuß in der psychologischen Forschung gefasst oder Verbreitung gefunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff „Charakter“ kurzerhand aufgrund der empirischen Ausrichtung der psychologischen Forschung durch den Begriff „Persönlichkeit“ ersetzt. Der Begriff „Charakter“ erlebt nun eine Renaissance durch die Positive Psychologie. Peterson und Seligman unterscheiden bei der Definition des (guten) Charakters drei hierarchisch geordnete Ebenen, nämlich Tugenden (d.h. von Mo-
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ralphilosophen und religiösen Denkern geschätzte Kerneigenschaften), Charakterstärken (d.h. Mechanismen und Prozesse, die die Tugenden definieren bzw. Wege, die Tugenden zu leben; z.B. erreicht man Weisheit über Neugierde, Liebe zum Lernen, Urteilsvermögen oder Kreativität etc.) und „situative Themen“ (d.h., spezifische Gewohnheiten, die dazu führen, dass Personen in speziellen Situationen die Stärken anwenden; diese Themen variieren in der Arbeit, zu Hause etc). Sechs Tugenden kehren immer wieder, nämlich Weisheit und Wissen (kognitive Stärken, die den Erwerb und den Gebrauch von Wissen beinhalten), Mut (emotionale Stärken, die mittels der Ausübung von Willensleistung internale und externale Barrieren zur Erreichung eines Zieles überwinden), Humanität (interpersonale Stärken, die liebevolle menschliche Interaktionen ermöglichen), Gerechtigkeit (Stärken, die das Gemeinwesen fördern), Mäßigung (Stärken, die Exzessen entgegenwirken) und Transzendenz (Stärken, die uns einer höheren Macht näher bringen und Sinn stiften). Diesen Tugenden wurden jeweils Stärken zugeordnet; siehe Tabelle 1, die sich auf einen Fragebogen zur Erfassung von Charakterstärken, dem „Values-in-Action Inventory of Strengths“ (VIA-IS) von Chris Peterson und Martin Seligman, bezieht.
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Tabelle 1: Charakterstärken und Tugenden des deutschsprachigen und amerikanischen VIA-IS VIA-Charakterstärken und Tugenden* Tugend der Weisheit und des Wissens Kreativität Neugierde geistige Aufgeschlossenheit (kritisches Denken, Urteilsvermögen) Liebe zum Lernen
Wisdom and Knowledge Creativity (originality, ingenuity) Curiosity (interest, novelty-seeking) Open-mindedness (judgment, critical thinking) Love of learning
Weisheit
Perspective (wisdom)
Tugend der Tapferkeit
Courage
Mut/Tapferkeit Ausdauer/Hartnäckigkeit/ Beharrlichkeit/Fleiß Integrität/Authentizität
Bravery (valor) Persistence (perseverance, industriousness) Integrity (authenticity, honesty)
Vitalität/Enthusiasmus
Vitality (zest, enthusiasm, vigor, energy)
Tugend der Menschlichkeit
Humanity
Bindungsfähigkeit/Fähigkeit zu lieben
Love Kindness (generosity, care, compassion, „niceness“) social intelligence (emotional intelligence)
Freundlichkeit/Großzügigkeit Soziale Intelligenz/Soziale Kompetenz Tugend der Gerechtigkeit Bürgerverantwortung/Teamwork/ Teamfähigkeit Fairness
Justice Citizenship (social responsibility, loyalty, teamwork) Fairness
Führungsvermögen
Leadership
Tugend der Mäßigung
Temperance
Vergebungsbereitschaft
Forgiveness and mercy
Bescheidenheit
Humility/Modesty
Vorsicht/Besonnenheit/Umsicht
Prudence
Selbstregulation
Self-regulation (self-control)
Tugend der Transzendenz
Transcendence
Sinn für das Schöne
Appreciation of beauty and excellence
Dankbarkeit
Humor
Gratitude Hope (optimism, future-mindedness, future orientation) Humor (playfulness)
Spiritualität
Spirituality (religiousness, faith, purpose)
Hoffnung/Optimismus
Anmerkung: *Peterson & Seligman haben die Bezeichnung der Stärken über die Jahre geändert. Deswegen sind die Synonyme bzw. Cluster von Bezeichnungen zu jeder Skala angegeben.
Positive Psychologie
Dieser Klassifikation der menschlichen Charakterstärken (Peterson & Seligman, 2004) liegt ein Standardwerk der Positiven Psychologie zugrunde, welches beansprucht, das Gegenstück zu der DSM-Klassifikation (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der psychischen Krankheiten der American Psychiatric Association zu sein. Es versucht, in derselben systematischen Weise positive Charaktereigenschaften zu beschreiben, diese messbar zu machen und für deren Entwicklung und Training wirksame „Interventionen“ zu schaffen und zu evaluieren. Das Values-in-Action Inventory of Strengths (VIA-IS) von Peterson und Seligman ist ein Instrument zur Erfassung der 24 Stärken bei Erwachsenen. Daneben gibt es auch ein Standardisiertes Interview (VIA-SI), sowie eine Version zur Erfassung einiger Stärken bei Jugendlichen. Das VIA-IS enthält 240 Fragen in einem fünfstufigen Antwortformat, und die englische Fassung wurde von mehr als 2 000 000 Probanden online ausgefüllt (www.viastrengths.org). Die deutsche Adaptation dieses Instrumentes wurde von uns am Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik der Universität Zürich vorgenommen und wird fortlaufend weiterentwickelt. Nachdem ca. 2000 Probanden aus der Schweiz, Österreich und Deutschland eine Papier-Bleistift-Version ausgefüllt hatten, wurde die deutschsprachige Fassung des VIA-IS ebenfalls online gestellt (www.charakterstaerken.org). Interessierte können sich damit selbst online testen und erhalten eine sofortige Rückmeldung über ihre Charakterstärken. Die Summenwerte werden alters- und geschlechtsnormiert und in Prozentränge umgewandelt. Deren relative Ausprägung wird dann rückgemeldet, sodass Probanden über die relative Ausprägung der einzelnen Stärken informiert werden. Dieses Angebot wurde von 80 000 Probanden in Anspruch genommen. Die psychometrischen Eigenschaften der deutschen Fassung des VIA-IS sind akzeptabel. Die Skalen sind reliabel; Cronbachs Alpha reicht von .71 bis .90 (Median = .76) für die Papier-Bleistift-Version (N = 1674), zwischen .73 und .89 (Median .83) und von .70 bis .91 (Median = .78) für die Internet–Version (N = 3629) (Ruch, Proyer, Harzer, Peterson & Seligman, 2010). Bei solch positiven Merkmalen wie Charakterstärken ist natürlich die Gefahr gegeben, dass im Sinne sozialer Erwünschtheit geantwortet wird. Tatsächlich sind die Korrelationen mit einer entsprechenden Skala hauptsächlich positiv, und sie reichen von -.04 bis .39 (Median = .18). Interessanterweise beurteilen sich die Testpersonen nicht positiver, als sie von guten Bekannten eingeschätzt werden. In einer Studie mit 160 Erwachsenen, die den VIA-IS ausfüllten und zu denen auch eine Fremdeinschätzung im VIA-IS durch einen guten Bekannten eingeholt wurde, weist die Selbstbeurteilung lediglich bei zwei Skalen (Sinn für das Schöne; Dankbarkeit) höhere Werte auf als die Fremdeinschätzung. In sechs Bereichen (z.B. Ausdauer, Authentizität) werden die Stärken durch Bekannte höher eingeschätzt. Tatsächlich sind die mittleren Profile von Selbstbeurteilung
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und Fremdbeurteilung (ein guter Bekannter) stark parallel. Die Rangfolge der Mittelwerte korreliert mit .92. Berücksichtigt man, dass nur eine Fremdeinschätzung vorliegt, ist die Konvergenz von Selbst- und Fremdeinschätzung sehr gut. Die Werte reichen von .28 (Authentizität) bis .77 (Spiritualität) bei einem Median von .45. Geschlechtsunterschiede sind minimal und nur wegen der großen Fallzahlen signifikant. Frauen erreichen höhere Werte in Bindungsfähigkeit, Sinn für das Schöne, Dankbarkeit und Freundlichkeit, hingegen schreiben sich Männer mehr Urteilsvermögen und Kreativität zu. Stärken tendieren dazu, mit dem Alter zuzunehmen; insbesondere für Liebe zum Lernen, Bescheidenheit, Selbstregulation, Umsicht, Spiritualität, Vergebungsbereitschaft und Neugier bestehen (querschnittliche) Unterschiede. Lediglich Stärken aus dem Bereich Weisheit und Wissen (Neugier, Urteilsvermögen und Liebe zum Lernen) sind mit dem Bildungsgrad korreliert. Es wurde eine Version für Kinder und Jugendliche geschaffen, welche für den Altersbereich von 10 bis 17 Jahren geeignet ist. Diese erreicht vergleichbare (z.T. bessere) Ergebnisse als der VIA-IS. Diese Skala kann die Zufriedenheit mit den Erlebnissen in der Schule, mit Freundschaften und auch die Lebenszufriedenheit vorhersagen. Ferner zeigt sich, dass die Charakterstärken bei der Partnersuche sehr wichtig sind (insbesondere Authentizität und Humor werden hoch bewertet) und dass Jugendliche in romantischen Beziehungen sich in einigen der Stärken ähneln (es gilt also: „Gleich und gleich gesellt sich gern“). Die Stärken sagen aber auch das positive Verhalten im Klassenzimmer voraus, welches wiederum mit den Noten korreliert. Die Studien zeigen also, dass der gute Charakter im Schulzimmer von Bedeutung ist.
Ermögl ichen St är ken das „gu te Leben“? In seiner Nikomachischen Ethik beschreibt Aristoteles Glückseligkeit (eudaimonía) als das höchste Gut des Menschen; sie sei nicht, wie andere Güter, lediglich Mittel zum Zweck sondern werde um ihrer selbst willen angestrebt. Aristoteles definiert die Glückseligkeit als eine Tätigkeit der Seele gemäß der vollkommenen Tugend (areté). Das gute Leben ist daher das tugendhafte Leben, die Ausübung von Stärken und Tugenden. Daraus lässt sich für empirische Studien folgern, dass sämtliche VIA-IS Stärken mit Maßen der Lebenszufriedenheit positiv korreliert sein sollten. Tatsächlich zeigen Studien
Positive Psychologie
in den USA1 und der Schweiz 2, dass in der Regel positive Zusammenhänge mit der Satisfaction with Life Scale von Ed Diener bestehen. Es ist aber auch zu beobachten, dass manche Stärken (Bindungsfähigkeit, Hoffnung, Dankbarkeit, Neugier und Tatendrang/Vitalität) konsistent höhere Koeffizienten aufweisen und andere geringere oder keine positiven (z.B. Sinn für das Schöne, Bescheidenheit). Eine detaillierte Analyse der Daten von Stichproben aus Deutschland, der Schweiz und Österreich zeigt, dass im deutschsprachigen Raum auch Ausdauer und Humor zu den mit Glück korrelierten Stärken zählen können. Es ist dabei festzuhalten, dass die Beziehungen meist durchwegs linear sind und auch am oberen Ende der Stärkenskala nicht abflachen. Menschen, die möglicherweise „zu viel lieben“, sind nicht weniger, sondern mehr mit ihrem Leben zufrieden. Es muss jedoch eingeschränkt werden, dass die bisherigen Analysen keine Aussagen über kausale Effekte zulassen, sondern lediglich als korrelative Zusammenhänge eingestuft werden müssen. Interventionsstudien an der Universität Zürich gehen genau dieser Frage nach. Führt also das erfolgreiche Training von Stärken gleichzeitig auch zu einem Anstieg in Lebenszufriedenheit? Dies konnte für die Stärke Humor bereits demonstriert werden. Die Stärken sind unterschiedlich mit den drei Orientierungen zum Glück verbunden. Es sind Stärken wie Hoffnung, Humor und Vitalität/Tatendrang, die mit dem Life of Pleasure assoziiert sind; Hoffnung, Neugier, Ausdauer und Vitalität tragen zum Life of Engagement bei, und die wichtigsten Stärken für das Life of Meaning sind Dankbarkeit und Spiritualität.
Welche Signa t ur s t är ken f indet man in ver schiedenen Ber u fen? Es ist anzunehmen, dass gewisse Stärken gebündelt bei in verschiedenen Berufen arbeitenden Personen auftreten. Daher wird neben einigen soziodemographischen Variablen im Online-Fragebogen auch der Beruf erfragt. Hierdurch sollen die Grundlagen für eine stärkenbasierte Beratung erarbeitet werden. Studien zeigen, dass systematische und plausible Unterschiede zwischen den Berufen gefunden können werden. Dabei zeigen sich auch Ähnlichkeiten innerhalb von Berufsfamilien. Die Analyse des Durchschnittsprofils aller Psychologinnen und Psychologen zeigt drei signifikante Abweichun-
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Park, Peterson & Seligman (2004)
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Peterson, Ruch, Beermann, Park & Seligman (2007); Ruch, Proyer, Harzer, Peterson & Seligman (2010)
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gen nach oben, nämlich in den Bereichen Bindungsfähigkeit (Fähigkeit zu lieben und geliebt werden), soziale Intelligenz und geistige Aufgeschlossenheit. Diese Stärken haben sich die Teilnehmer stärker zugeschrieben. Es gibt aber auch Unterschiede zwischen den Gruppen. Psychotherapeuten weisen höhere Werte als Psychologen und Psychologiestudierende in den Bereichen Kreativität, Weisheit und Spiritualität auf, und zusammen mit den Psychologiestudierenden höhere Werte in Dankbarkeit und Humor. Die Gruppe der Psychologinnen und Psychologen unterscheidet sich von der Gesamtgruppe der noch im Studium befindlichen Gruppe durch stärkere Liebe zum Lernen, hingegen beschreiben die Studierenden der Psychologie eine stärkere Ausprägung in Bindungsfähigkeit und Freundlichkeit als die bereits Berufstätigen. Die bestehenden Profile weichen jedoch in charakteristischer Weise von benachbarten Berufs- oder Studienrichtungen ab. So hat z.B. eine Berufsgruppe, in der auch Psychologinnen und Psychologen tätig sind, überlappende und dennoch auch unterschiedliche Signaturstärken: Berufs- und Laufbahnberater weisen höhere Werte in den Stärken soziale Intelligenz, Bindungsfähigkeit und Liebe zum Lernen auf. Bei Sozialpädagogen und -pädagoginnen scheinen wiederum Mut, soziale Intelligenz, Weisheit, Teamwork und Führungsvermögen Signaturstärken zu sein. Charakteristische Unterschiede gibt es auch für die Studierenden der Psychologie, welche sich nicht nur von psychologiefernen Studienrichtungen, sondern auch von benachbarten Fächern unterscheiden. Eine Gruppe von Studierenden der Pädagogik ist wie die Psychologiestudierenden hoch in Bindungsfähigkeit und Freundlichkeit, weist aber noch zusätzlich höhere Werte bei Führungsvermögen, Humor, Teamwork und Vergebungsbereitschaft auf. Es bleibt zu erwähnen, dass sich in ganz anderen Berufen auch andere Stärken gehäuft finden lassen. So zeigen Umfrageteilnehmer aus den Bereichen Polizei und Militär ein ähnliches Profil, wobei insbesondere die Stärken Führungsvermögen, Selbstregulation, Tapferkeit, Enthusiasmus/Tatendrang, Hoffnung, Teamwork und Ausdauer hervorstechen. Musiker und Studierende der Musik sind durch Kreativität, Bindungsfähigkeit, Führungsvermögen, Vergebungsbereitschaft und Sinn für das Schöne ausgewiesen; eine Stichprobe von Teilnehmenden an Theologiekursen wiederum zeigt hohe Werte in Tapferkeit, Dankbarkeit, Vergebungsbereitschaft und (vor allem) Spiritualität. Das Instrument und die zugrunde liegende Klassifikation scheinen also zumindest für grobe Unterscheidungen innerhalb der Psychologieberufe und zur Abgrenzung von anderen Berufen sinnvoll zu sein. Wichtiger als Durchschnittswerte werden aber Studien zur Vorhersage von Zufriedenheit mit dem und Eignung für den jeweiligen Beruf sein. In der Tat kann man die Arbeitzufriedenheit auch durch die Stärken vorhersagen, wobei den Merkmalen zest
Positive Psychologie
(Enthusiasmus) und Ausdauer eine besondere Rolle zukommt. Weitere Studien zeigen, dass die Arbeitzufriedenheit mehr durch die Möglichkeit, die Stärken am Arbeitplatz ausleben zu können, vorhergesagt wird als dadurch, die Stärken zu haben. Dabei scheint es wichtiger zu sein, seine zentralen Stärken („Signaturstärken“) einsetzen zu können als weniger zentrale Stärken. Die Daten zeigen, dass man im Durchschnitt vier solcher Stärken bei der Arbeit einsetzen können muss, damit die Vorhersage der Zufriedenheit bereits ein Maximum erreicht. Stärken sagen nicht nur das kontextuelle Arbeitplatzverhalten (Loyalität, Kooperationsbereitschaft etc.) voraus, sondern klären auch einen Anteil über die Intelligenz hinaus auf.
Ausbl ick Langfristiges Ziel der Positiven Psychologie ist es, sich überflüssig zu machen. Sobald es in der Psychologie normal sein wird, nicht nur die negativen Phänomene anzusehen, sondern auch die positiven Seiten des Menschseins, wird diese spezielle Sichtweise nicht mehr hervorgehoben werden müssen. Die Psychologie wird bezüglich ihrer Themen wieder komplettiert sein, wie sie es einst war, bevor durch die Öffnung des Gesundheitswesens für die Psychologie der Fokus auf das, was schief gehen kann beim Menschen, entstand. In diesem Sinne ist das Auftauchen der Positiven Psychologie ein Symptom dafür, dass sich die Psychologie in ungesunder Weise auf das Studium des kranken Menschen eingeengt hat. Wir brauchen nicht nur das „fix what’s wrong“ sondern auch das „build what’s strong“ – das Verstehen der Bedingungen menschlichen Wachstums und optimalen Erlebens. Eine zentrale Anwendung ist hier der Personalbereich. Den Einsatz der Stärken im Beruf und die Konsequenzen daraus sollten noch mehr erforscht werden.
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Gemeinsam schaffen wir das Ein ident i t ä t sbasier ter Zugang zu St res s und St res spr ävent ion
Einlei t ung Stress am Arbeitsplatz ist ein wichtiges und vieluntersuchtes Thema. Anhaltender Stress kann sich in verminderter Zufriedenheit und Leistung niederschlagen und Krankheit sowie erhöhte Fehlzeiten nach sich ziehen. Für Organisationen bedeutet dies eine geringere Produktivität und verminderte Wettbewerbsfähigkeit. Die Ursache von Stress wird häufig in individuellen Fehlanpassungen und mangelnden Bewältigungsfähigkeiten gesehen. Entsprechend zielen Ansätze zur Stressreduktion oftmals auf die Einzelnen ab, die sich durch Entspannungstrainings, Kuren oder Sport „fit halten“ sollen. Dieser Ansatz liegt zum Beispiel dem seit 30 Jahren dominierenden Modell zur Analyse von Stress zugrunde, dem Transaktionalen Stressmodell von Lazarus und Kollegen.1 Das Modell postuliert zwei Arten der Bewertung von potenziellen Stressoren: a) das primary appraisal („Ist die Situation belastend für mich?“) und b) das secondary appraisal („Kann ich mit der Belastung umgehen?“). Wenn die Situation als belastend eingeschätzt wird und gleichzeitig Bewältigungsressourcen als nicht ausreichend angesehen werden, resultiert Stress. Wir wollen diesem traditionellen Verständnis der Stressentstehung einen neuen, identitätsbasierten Ansatz hinzufügen.
Der Social Ident i t y Approach Der Social Identity Approach wurde von Henri Tajfel, John Turner und ihren Mitarbeitern in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt, um Konflikte zwischen Gruppen besser zu verstehen. Zu diesem Ansatz gehört zum einen die Theorie der sozialen Identität 2 und zum anderen die 1
Lazarus (1991), Lazarus/Folkman (1984).
2
Tajfel/Turner (1979), (1986).
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Selbstkategorisierungstheorie.3 Die Theorien des Social Identity Approach nehmen grundsätzlich an, dass Menschen ihr Selbstkonzept aus zwei Quellen beziehen. Es gibt Situationen, in denen die personale, individuelle Identität bedeutsam für das Denken, Fühlen und Handeln ist und solche, in denen die soziale Identität aktiviert ist. Ist die soziale Identität aktiviert, d.h. salient, definiert sich eine Person nicht mehr als Individuum mit individuellen Stärken und Schwächen (z.B. im Hinblick auf Stressbewältigungsressourcen), sondern als austauschbares Mitglied einer sozialen Einheit (z.B. der Organisation oder des Arbeitsteams). Es existiert also ein qualitativer Unterschied zwischen dem Verhalten, das auf der personalen Identität („Ich“) beruht, und dem Verhalten, das auf unserer sozialen Identität („Wir“) aufbaut. Sobald die soziale Identität (z.B. „Wir Personaler“, „Wir Mittelständler“, „Wir Deutsche“) salient wird, wirkt sich diese Identität auf eine Reihe sozialer und vor allem organisationaler Einstellungen und Verhaltensweisen aus.4 Wenn Menschen eine gemeinsame Identität teilen und diese salient ist, sehen sie sich als relativ austauschbare Mitglieder der Kategorie an, haben eine gemeinsame Perspektive und Überzeugungen, koordinieren ihr Verhalten so, dass es im Einklang mit den Gruppennormen steht, und sie arbeiten gemeinsam im Hinblick auf die Ziele und Interessen der Gruppe. Seit etwa 20 Jahren werden diese Theorien auch auf organisationale Fragestellungen angewandt,5 und es zeigte sich, dass Menschen, die sich stärker mit ihren Teams und Organisationen identifizieren, zufriedener sind,6 sich besonders engagieren7 und weniger geneigt sind zu kündigen.8 Erst in den letzten Jahren interessierte sich die Forschung allerdings für die Frage, ob eine stärkere Identifikation mit der Organisation (oder ihrer Teile wie Teams und Arbeitsgruppen) auch Implikationen für den Umgang mit Stress hat.
Annahmen des Social Ident i t y Approach f ür St ress und Wohlbef inden Die oben skizzierten Kernannahmen des Social Identity Approach kann man als Ergänzung von Lazarus‹ Modell sehen, indem dieses Modell durch eine 3
Turner et al. (1987).
4
Haslam (2004).
5
Siehe für eine Zusammenfassung Ashforth/Harrison/Corley (2008).
6
Z.B. van Dick/Wagner/Stellmacher/Christ (2004).
7
van Dick/Grojean/Christ/Wieseke, (2006).
8
van Dick/Christ et al. (2004); siehe für Metaanalysen: Riketta (2005), Riketta/van Dick (2005).
Gemeinsam schaffen wir das
soziale Komponente, d.h. die soziale Identität, erweitert wird. Wie in Lazarus‹ Modell vorgesehen, verläuft eine Analyse der Bedrohlichkeit von Situationen nach wie vor in den zwei Schritten des primary appraisal und des secondary appraisal. In Kontexten, in denen die personale Identität von Personen salient ist, ändert sich an den Bewertungen der Situation gegenüber dem ursprünglichen Modell nichts. Hinzu kommt jedoch eine Differenzierung für Situationen, in denen die soziale Identität salient ist. Nun verschiebt sich die Frage nach dem primary und secondary appraisal in Richtung auf eine kollektive Beantwortung, d.h. die Person fragt sich, ob die Situation für die Gruppe belastend ist und ob man sie als Gruppe bewältigen kann. Dies impliziert gleichzeitig eine stärkere Aktivierung des sozialen Zusammenhalts innerhalb des Teams bzw. der Organisation. Ist die soziale Identität salient, wird man andere Mitglieder des eigenen Teams eher unterstützen und Unterstützung von anderen eher annehmen und davon profitieren. Dies sollte deshalb der Fall sein, weil die geteilte Identität den Rahmen bildet, in dem die angebotene, empfangene und gegebene Unterstützung interpretiert wird. Ist die persönliche Identität salient, wird Unterstützung manchmal als Zeichen der Schwäche oder als Abwertung durch den anderen angesehen; ist aber die (gemeinsame) soziale Identität salient, wird Unterstützung positiv gesehen. Eine stärkere Identifikation mit Teams und Organisationen sollte also, vermittelt über mehr soziale Unterstützung, zu verringertem Stress führen. In der Abbildung 1 sind diese Annahmen zusammengefasst.9 Abbildung 1: Die Erweiterung des Transaktionalen Stressmodells durch die soziale Identität
Empir ische Er kennt nisse Die Vorhersagen, dass eine geteilte Identität Stress reduziert, weil es sowohl das primary als auch das secondary appraisal beeinflusst, und insbesondere weil sie soziale Unterstützung aktiviert, wurden in den letzten fünf Jahren 9
Siehe Haslam (2004).
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im Feld und im Labor untersucht.10 Einige der Studien werden hier zusammenfassend vorgestellt. Wenn wir sagen, dass sich Menschen dabei stärker oder schwächer mit ihrer Organisation identifizieren, beziehen wir uns meist auf die Beantwortung von Aussagen wie „Ich bin stolz, der Firma XY anzugehören“, „Erfolge meiner Firma betrachte ich als persönliche Erfolge“, „Wenn meine Firma kritisiert wird, betrachte ich das als persönliche Beleidigung“ oder „Wenn ich über meine Firma rede, sage ich normalerweise eher ›wir‹ als ›sie‹“. Zunächst können van Dick und Wagner (2002) zeigen, dass Lehrerinnen und Lehrer, die sich mehr mit ihrer Schule identifizieren, über weniger körperliche Beschwerden klagen als Lehrerinnen und Lehrer, die sich weniger stark identifizieren. Van Dick und Wagner zeigen zudem, dass dies auch für die Identifikation mit einer kleineren Bezugsgruppe (dem Team, in dem die Lehrkräfte unterrichten) und mit einer größeren Gruppe (der Berufsgruppe der Lehrer) gilt. Bizumic, Reynolds, Turner, Bromhead und Subasic (2009) finden ebenfalls eine negative Beziehung zwischen der Identifikation von Lehrerinnen und Lehrern und der Häufigkeit von Krankheitssymptomen. Dieser Zusammenhang zeigte sich ebenfalls für Schülerinnen und Schüler. Wegge et al. (2006) replizieren diesen Befund für Call-Center-Mitarbeiter: Auch in dieser Berufsgruppe geht höhere Identifikation mit geringerem Stress (gemessen über Burn-out) einher. In Bezug auf das primary appraisal zeigen Haslam, Jetten, O’Brien und Jacobs (2004), dass dies tatsächlich davon abhängig ist, welche Identität bei den Befragten aktiviert ist. So schätzen Personen eine Situation vor allem dann als belastend ein, wenn sie von einer Person beschrieben wird, die der eigenen Gruppe angehört. In dieser Studie sollten Studierende anspruchsvolle Rechenaufgaben lösen. Dabei bekamen sie entweder von einem anderen Studierenden (d.h. einem Mitglied der eigenen Gruppe) oder von einer anderen Person (einem Mitglied einer anderen Gruppe) die Information, dass die Aufgaben entweder belastend (d.h. negativ) oder herausfordernd (d.h. positiv) erlebt wurden. Nach der Bearbeitung der Aufgaben sollten die Versuchsteilnehmer dann über ihren erlebten Stress berichten. In der Abbildung 2 sind die Ergebnisse dargestellt. Wie die Abbildung zeigt, beeinflusst nur die unterschiedliche Information des Mitgliedes der eigenen Gruppe das Erleben der Aufgabe, während man sich von jemandem aus einer anderen Gruppe nicht beeinflussen lässt (unabhängig von der Information wird hier die Aufgabe als gleich belastend wahrgenommen).
10 Siehe zusammenfassend Haslam/van Dick (2011), van Dick/Haslam (2012).
Gemeinsam schaffen wir das
Abbildung 2: Stresseinschätzung nach Informationen durch eine Quelle der eigenen oder einer anderen Gruppe
In einer weiteren Studie zeigen Haslam, O’Brien, Jetten, Vormedal und Penna (2005), dass Situationen als weniger belastend eingeschätzt werden, wenn sie zur entsprechenden Identität „passen“. So schätzen Bombenentschärfer überraschenderweise ihre Tätigkeit als für sie weniger belastend ein als das Bedienen von Gästen in einer Bar. Umgekehrt (und weniger überraschend) nehmen Mitarbeiter einer Bar das Bedienen von Gästen als weniger belastend wahr als das Entschärfen von Bomben (siehe Abbildung 3). Abbildung 3: Wahrgenommene Belastungen von Restaurantbedienungen und Bombenentschärfern
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Levine (1999) und Levine und Reicher (1996) finden ähnliche Ergebnisse bei der Bewertung von Verletzungen. Auch diese Einschätzung ist davon abhängig, welche Identität aktiviert ist. Frauen sollten sich in diesen Studien Szenarien durchlesen und dann bewerten, wie belastend sie die jeweilige Situation selbst empfinden würden. Dabei ging es zum Beispiel um eine Sehnenscheidenentzündung oder um eine Narbe im Gesicht. Entsprechend der Vorhersagen zeigt sich, dass die Verletzung mit Auswirkungen auf den Beruf dann als schlimmer erlebt wird, wenn zuvor die berufliche Identität der Frauen aktiviert wird. Umgekehrt wird eine Narbe im Gesicht als schlimmer erlebt, wenn zuvor die weibliche Identität betont wird. In der oben berichteten Arbeit von Haslam und Kollegen (2004) führt die stärkere Identifikation mit dem Beruf in beiden Gruppen, also sowohl bei den Bombenentschärfern als auch bei den Restaurantbedienungen, zu mehr sozialer Unterstützung, was in der Folge zu mehr Wohlbefinden führt – ein Befund, der schließlich in einer Studie zur Identifikation mit der Familie bei Patienten nach Herzoperationen bestätigt wird. Die Abbildung 4 stellt diese Zusammenhänge dar. Die Zahlen beziehen sich auf Herzinfarktpatienten, in anderen Stichproben waren sie aber ganz ähnlich. Die Abbildung zeigt, dass es zunächst einen stark negativen Zusammenhang zwischen Identifikation und Stress gibt, d.h. je stärker sich die Patienten mit ihrer Familie identifizieren, desto weniger Stress erleben sie (gekennzeichnet durch die durchgezogene Linie und die -.33). Ebenfalls gibt es die erwarteten Zusammenhänge, dass ein Mehr an Identifikation mit mehr sozialer Unterstützung einhergeht, und dass mehr soziale Unterstützung zu weniger Stress führt (gekennzeichnet durch die beiden durchgezogenen blauen Linien). Abbildung 4: Zusammenhänge zwischen Identifikation, sozialer Unterstützung und Stress
Interessant ist nun die gestrichelte Linie und der statistisch nicht mehr signifikante Zusammenhang von -.04, wenn in einer simultanen Analyse Identi-
Gemeinsam schaffen wir das
fikation und Unterstützung gleichzeitig betrachtet werden. Wir sprechen hier von einer Mediation, d.h. der Zusammenhang zwischen Identifikation und Stress wird, wie erwartet, durch die stärkere Unterstützung vermittelt und kann so erklärt werden. In einer weiteren Studie werden diese Zusammenhänge noch einmal mit Mitgliedern einer Theaterproduktion untersucht – diesmal jedoch im Längsschnitt.11 Über fünf Messzeitpunkte hinweg (nach dem Vorsprechen, in der Mitte der Proben, bei der Kostümprobe sowie vor und nach der Erstaufführung) wurden die Schauspieler zu ihrer Identifikation, ihrem Burn-out und zu ihrem Engagement befragt. Was sich zunächst zeigte, ist, dass die Identifikation mit dem Team über die Messzeitpunkte hinweg recht stabil ist. Diejenigen, die sich bereits zu Beginn stärker identifizieren, bleiben zu allen Phasen mehr identifiziert als diejenigen, die sich zu Beginn weniger identifizieren. Außerdem zeigt sich, dass diejenigen, die sich stärker mit dem Team identifizieren, auch weniger gestresst fühlen (geringeres Burn-out) – dieser Effekt wird besonders in belastenden Phasen der Produktion deutlich (z.B. bei der Kostümprobe). In der Folge sind die stärker identifizierten Personen dann auch am Ende der Produktion noch zu verstärktem Engagement für das Team bereit, wie die Abbildung 5 zeigt. Abbildung 5: Zusammenhänge zwischen Identifikation, Burn-out und Engagement bei Mitgliedern einer Theaterproduktion
(T1=erster Erhebungszeitpunkt nach dem Vorsprechen; T3 und 4=weitere Messzeitpunkte nach Kostümprobe und Erstaufführung; T5=letzter Messzeitpunkt zwei Wochen nach Erstaufführung)
11 Haslam/Jetten/Waghorn (2009).
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Im sogenannten BBC-Gefängnisexperiment, einer weiteren einflussreichen Studie, haben Haslam und Reicher (2006) Versuchspersonen zufällig in zwei Gruppen eingeteilt – eine Gruppe der „Gefangenen“ und eine Wärtergruppe. Die Gruppen wurden dann über mehrere Tage hinweg beobachtet und befragt, und es wurden physiologische Parameter erhoben. Die Gefangenen bekamen Gefängniskleidung, wurden in Zellen untergebracht und mit einfachem Essen verpflegt. Die Wärter konnten sich dagegen frei bewegen und bekamen gutes Essen. Haslam und Reicher kündigten an, dass eine „Beförderung“ vom Gefangenen zum Wärter bei guter Führung möglich sei. Dadurch bildete sich zunächst keine gemeinsame Identität unter den Gefangenen heraus, sondern alle Gefangenen versuchten durch individuelles, gutes Verhalten in den Genuss der Beförderung zu kommen. Am dritten Tag wurde dann einer von ihnen befördert und weitere Beförderungen wurden ausgeschlossen. Nun steigerte sich die Identität der Gefangenen: Sie verbündeten sich gegen die Wärter, und in der Folge erlebten die Gefangenen weniger Stress als die Wärter, die insgesamt weniger stark zusammenhielten. In einer Laborstudie zeigten Wegge, Schuh und van Dick (2012) in einem simulierten Call-Center, in dem Call-Center-Agenten mit freundlichen bzw. unfreundlichen Kunden interagieren mussten, dass eine stärkere organisationale Identifikation als Puffer zwischen Stress durch unfreundliche Kunden und Belastung (gemessen mit Immunoglobulin-Werten) fungiert. In einer weiteren Laborstudie untersuchten Häusser, Kattenstroth, van Dick und Mojzisch (2012) Studierende, die per Zufall in zwei Gruppen eingeteilt wurden. Die Studierenden nahmen jeweils zu dritt an dem Experiment teil. Die Studierenden in der ersten Gruppe wurden gebeten, sich kurz über ihre Gemeinsamkeiten auszutauschen. Dann wurde ihnen ein Gruppenname angeheftet und ein Gruppenfoto gemacht. In der anderen Bedingung sollten die Versuchspersonen sich jeweils kurz über ihre Unterschiede austauschen. Ihnen wurden unterschiedliche Namen gegeben und dann Einzelporträts gemacht. Wie erwartet, identifizierten sich die Teilnehmer in der „Gruppenbedingung“ sehr viel stärker mit ihren Dreiergruppen als die Personen in der „Individualbedingung“. Anschließend mussten stressauslösende Aufgaben bearbeitet werden. Die Teilnehmer sollten zunächst eine kurze Bewerbungsrede vor einer Kommission halten und anschließend von der Zahl 2043 in 17er Schritten rückwärts zählen. Vor, während und nach den Aufgaben wurden Speichelproben genommen und damit der Stress als Anstieg im Cortisol gemessen. Wie die Abbildung 6 zeigt, war der Stress in den Gruppen, die eine geteilte Identität ausbilden konnten, sehr viel weniger stark – Identifikation fungiert wie erwartet als Puffer. In den bisher vorgestellten Studien wurden immer Einzelpersonen nach ihrer Identifikation gefragt. Einen anderen Ansatz wählten Escartin, Ullrich,
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Zapf, Schlüter und van Dick (in press). Sie untersuchten, ob die Identifikation eines Mitarbeiters in Kombination mit der Identifikation der Kolleginnen und Kollegen des jeweiligen Teams einen Schutzfaktor gegen Mobbing darstellen kann. Befragt wurde eine Stichprobe von 494 Angestellten aus 19 Organisationen. Die Ergebnisse von Mehrebenen-Analysen zeigen den erwarteten Kontexteffekt. Die Wahrscheinlichkeit, ein Mobbingopfer zu sein, ist niedriger, je mehr sich der einzelne Mitarbeiter mit der Arbeitsgruppe identifiziert. Darüber hinaus sinkt diese Wahrscheinlichkeit, je stärker die durchschnittliche Identifikation der Mitarbeiter einer Arbeitsgruppe ausgeprägt ist. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass der Ansatz der sozialen Identität nützlich ist, um die sozialen Ursachen von Mobbing besser zu verstehen. Abbildung 6: Stress (im Speichelcortisol) während der Bewältigung anstrengender Aufgaben in Abhängigkeit von der Identität
Passend zu diesem Befund zeigt ein Feldexperiment, dass sich Angehörige der gleichen Gruppe tatsächlich mehr Unterstützung geben als Mitglieder unterschiedlicher Gruppen: Levine, Prosser, Evans und Reicher (2005) platzierten nach einem Fußballspiel einen vermeintlich verletzten Fan im Ausgangsbereich des Stadions. Trug dieser ein Trikot der Heimmannschaft, wurde ihm wesentlich häufiger Hilfe zuteil, als wenn er das Trikot der Gastmannschaft anhatte.
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Ausbl ick Die bisherige Befundlage stützt die theoretischen Annahmen des Social Identity Approach in ganz beeindruckender Weise. Jede der zitierten Studien zeigt, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich umso wohler fühlen, je mehr sie sich mit ihren Organisationen identifizieren. Stress und Burn-out können durch Identifikation also verringert werden, während Leistungsfähigkeit und Engagement durch Identifikation gestärkt werden. Die Forschung zeigt ebenfalls klar, dass geteilte Identität deshalb zu weniger Stress führt, weil die potenziell belastenden Situationen als weniger bedrohlich eingeschätzt werden, und weil stärker identifizierte Menschen eher wahrnehmen, von ihrem Umfeld stärker unterstützt zu werden. Bevor auf die Implikationen dieser Erkenntnisse eingegangen wird, sollen jedoch auch mögliche Schattenseiten von starker Identifikation beleuchtet werden. Hier kann man drei Gefahren unterscheiden. Erstens definieren sich Menschen mit starker Identifikation ganz wesentlich durch ihre Zugehörigkeit zur Organisation. Man kann nun annehmen, dass es diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch besonders zu schaffen macht, wenn es der Organisation schlecht geht. Man kennt dies von treuen Fans einer bestimmten Sportmannschaft, für die es persönlich belastend ist, wenn ihr Team verliert oder absteigt. Zweitens führt eine geteilte Identität, wie oben gezeigt, dazu, dass die Kolleginnen und Kollegen des eigenen Teams als „eine Gruppe“ wahrgenommen werden und man sich innerhalb dieser Gruppe stärker unterstützt. Was passiert jedoch mit denjenigen, die nicht oder nicht mehr dazu gehören, zum Beispiel ein älterer Kollege in einem jungen Team in der Kreativbranche, oder die einzige Frau in einem Team von Feuerwehrleuten? Hier gibt es Hinweise darauf, dass gerade in stark identifizierten Teams diese Personen ein höheres Risiko haben, ausgeschlossen und gemobbt zu werden. Drittens führt die starke Selbstdefinition als Organisationsmitglied und die starke Orientierung an den Normen der Organisation unter Umständen auch zu Überengagement und damit für die eigene Gesundheit langfristig schädlichem Verhalten. Hierzu zeigen Avanzi, van Dick, Fraccaroli und Sarchielli in einer ersten Studie (in press), dass zu starke Identifikation mit der Organisation zu stärkerem „Workaholismus“ führt und dies wiederum längerfristig mit schlechterer Gesundheit einhergeht. Identifikation sollte also nicht unkritisch als uneingeschränkt hilfreiches Mittel zur Reduktion jeglicher Art von Belastung angesehen werden. Allerdings zeigt die Mehrzahl der Studien einen klar positiven Zusammenhang auf: Eine positive soziale Identität und hohe Identifikation mit Teams und Organisationen ist wichtig für das Erleben von Stress und trägt – insbesondere durch die Aktivierung von sozialer Unterstützung – zur Stressreduktion bei. Dies hat wichtige Implikationen für die Praxis. Wie eingangs beschrieben, betrachten
Gemeinsam schaffen wir das
traditionelle Ansätze die individuelle Einschätzung einer Situation und nicht ausreichende individuelle Ressourcen als wesentlich für die Stressentstehung. Entsprechend fokussieren präventive und kurative Maßnahmen zur Reduktion von Stress nahezu ausschließlich auf die Stärkung des gestressten Individuums: Durch Maßnahmen wie Entspannungstrainings, Rückenschulen oder, wenn das nicht mehr hilft, Krankschreibungen und Erholungskuren. Der Social Identity Approach ergänzt diese Sichtweise, indem er an den sozialen Prozessen ansetzt. Diese Perspektive sieht den Schlüssel zu mehr Wohlbefinden und Gesundheit in der Förderung von Gruppenprozessen, konkret: in der Entwicklung einer geteilten Identität und sozialer Unterstützung. Genau an diesem Punkt können Entwicklungsmaßnahmen ansetzen, indem sie die zentralen positiven Aspekte der Team- und der Organisationsidentität herausarbeiten und den Gruppenmitgliedern vermitteln.12 Eine von den Gruppenmitgliedern geteilte und als attraktiv eingeschätzte Identität wird nahezu automatisch höhere Identifikation und soziale Unterstützung nach sich ziehen. Eine Ergänzung und Verknüpfung der traditionell individuumsbasierten Ansätze mit den geschilderten „sozialen Ansätzen“ erscheint daher optimal, um beruflichen Stress zu reduzieren bzw. ihm präventiv vorzubeugen: Zum Wohle der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, da dies zu höherer Zufriedenheit und besserer Gesundheit führt und zum Wohle der gesamten Organisation durch die positiven Effekte auf die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit.
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Gemeinsam schaffen wir das
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Teamstrukturen und Signaturstärken Tal k r unde 4, moder ier t von T homas Ramge, mi t Fr i t z Er ich Anhel m, Nor ber t Breu t mann, Rol f van Dick und W ill ibald Ruch
Thomas Ramge eröffnete die Diskussion mit der Frage an Norbert Breutmann, ob es ihm schlüssig erscheine, dass alles in Ordnung sei, sobald man seine Stärken kenne. Breutmann erwiderte, dass dies zwar schlüssig erscheine, aber nicht leicht im betrieblichen Alltag zu leben sei. Die Gruppe – besonders auch in der Wirkung auf einzelne Individuen – sei nicht nur positiv zu sehen. Es gebe gruppendynamische Effekte, die auf Einzelne durchaus negativ wirken könnten. Wenn man aber ernsthaft versuche, dieses Konzept in betriebliche Strategien umzusetzen, sei die Form von Zielvereinbarungen grundsätzlich neu zu überdenken. Solle man auch Individualziele vereinbaren oder nur Gruppenziele? Dann stelle sich die Frage, wie mit Teamzusammensetzungen umzugehen sei. Das führe zum Vortrag von Herrn Ruch und der weiteren Frage, welche Eigenschaften man in welcher Gruppe besonders hervorheben solle, um die Gruppenperformance zu erhöhen. Das seien durchaus wichtige Aspekte und in der Personalauswahl sicherlich von hohem Interesse. Aber es gäbe ja auch Charaktereigenschaften, die sich verändern ließen. Dafür seien ja auch entsprechende Trainingsangebote entwickelt worden. Man müsse mit einem stärkeren, aktiveren, dynamischen Personalmanagement rechnen, das gezielter mit solchen Instrumenten umgehen kann. Fritz Anhelm ergänzte, bei den beiden Ansätzen habe ihm besonders gefallen, dass sie sich nicht nur auf Identitäten in ihren Gruppen begrenzt haben, sondern immer auch etwas hineingenommen haben, das als generelles Lebensgefühl oder Umfeld bezeichnet werden kann. Was in der Arbeitswelt an Stärken untersucht werden kann, werde auch immer schon mitgebracht aus einem anderen definierten Bereich, z.B. dem gesellschaftlichen. Anhelm fragte, wie dies in ihren Studien berücksichtigt würde.
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Rolf van Dick antwortete, dass Teamarbeit zugenommen habe und noch zunehmen werde. Auch hätten sich die Ziele von Teamstrukturen geändert. Modernen Kundenservice könne man nicht mehr als einzelner Berater leisten, und man könne nicht nur mit individuellen Zielen arbeiten. Zumindest müsse man die Individualziele an die Erreichung des Teamziels binden. Es werde oft der Fehler gemacht, notwendige Teamstrukturen einzuführen, ohne den letzten konsequenten Schritt zu machen und alles so umzubauen, dass die Teams optimal unterstützt werden können. Die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen hätten natürlich eine Auswirkung auf alles, und sie würden versuchen, die Bedingungen im Labor konstant zu halten – mit dem Risiko, sie nicht generalisieren zu können. Willibald Ruch ergänzte, dass dies auch für seine Forschungsbedingungen gälte. Sie untersuchten die Unterschiede zwischen Menschen in einem System und in einem Land bei Bedingungen, die für alle mehr oder weniger gleich seien. Dies seien die Konstanten in den Daten, die würden aber weniger interessieren. Der Fokus sei, ob sich Menschen innerhalb dieses Bereichs unterschiedlich verhalten, und ob das kontrollierbar und vorhersehbar sei. Natürlich brächten die Arbeitnehmer ihre Stärken bereits mit zum Arbeitsplatz. Stärken entwickeln sich durch das Leben, können aber weiter trainiert werden. Wenn jemand Signaturstärken, d.h. Stärken, die eine Person ausmachen, einsetzen könne, dann tue ihm das gut. Das sei ein Teil des positiven Erlebens, egal wo, auch am Arbeitsplatz. Breutmann wandte sich an van Dick mit der Frage, wie das Umfeld aussehen müsse, damit Teams sich gut entwickeln, stabilisiert und gefördert werden können. Van Dick wies auf die Bedeutung der Größe von Teams hin. Sie sollten nicht mehr als zwanzig Teilnehmer haben, sonst solle man Unterteams bilden. Eine Teamgröße von sieben sei die goldene Regel, mit der Option auf höchstens ein oder zwei zusätzliche Mitglieder. Bei dieser Teamgröße könnten sich Teamleiter gut auf einzelne Teammitglieder mit ihren Stärken einstellen. Aus seiner Sicht sei es aber im übrigen ganz entscheidend, dass sowohl Arbeitnehmervertreter als auch die Geschäftsführung die gemeinsame Identität in den Vordergrund stellen. Das sei für beide Seiten häufig ein großes Problem. Wenn das nicht möglich sei, müssten neutrale Dritte integriert werden, so wie in einem Schlichtungsgespräch bei Lohn- und Tarifverhandlungen. Und dann müssten Themen wie Arbeitsverdichtung und psychische Belastung extern bearbeitet werden. Auf eine Frage aus dem Publikum reagierend sagte van Dick, dass die Partizipation bei der Entscheidungsfindung großen Einfluss auf die Arbeitszufriedenheit und die Motivation habe. Wer Autonomie und Verantwortlichkeit wahrnehmen könne, sei sowieso etwas mehr motiviert, sich zu beteiligen. Dies
Teamstrukturen und Signaturstärken
führe dazu, dass man sich gemeinsam vereinbarten Zielen etwas mehr verpflichtet fühle. Grundsätzlich sei das positiv und führe zu einem empowerment des Teams. Wie setze sich überhaupt idealerweise ein Team zusammen? Da könne er aus der Persönlichkeitspsychologie sagen, dass es ein paar Faktoren gebe, von denen man wisse, dass sie mit den Leistungen korrelieren, z.B. seien offene und extrovertierte Menschen besonders gut in Verkaufsteams. Umgekehrt ist etwas, was Neurotizismus oder emotionale Labilität genannt werde, grundsätzlich schlecht für gute Leistungen. Nur Mitarbeiter mit geringem Neurotizismus einzustellen, sei aber zu kurz gedacht. Ein Beispiel: In der Leitzentrale eines Kernkraftwerks seien Mitarbeiter wünschenswert, die besonders genau hinschauen und lieber einmal zu oft als zu selten eine Warnung ausrufen, wenn ein Lämpchen aufleuchtet. Das bedeute, dass ein ideales Team aus einer guten Mischung von unterschiedlich gepolten Mitgliedern bestehe. Anhelm bat van Dick, noch einmal auf den Unterschied zwischen „geteilter Identität“ und „Corporate Identity“ einzugehen. Van Dick erwiderte, dass letzteres sich immer ein wenig aufgesetzt anhöre und an Firmenzeitungen oder Logos gemahne, während eine geteilte Identität organisch aus gemeinsamen Überzeugungen wachse.
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Positive Leadership Mi t posi t iven Emot ionen den Unternehmenser folg fördern
Motivierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind essentiell, um ein Unternehmen dauerhaft erfolgreich zu führen. Doch wie lassen sich Motivation und Engagement erkennen, messen und fördern? Damit befasst sich die „Positive Leadership“. Der Führungsansatz beruht auf den Erkenntnissen der Positiven Psychologie, einer vom US-amerikanischen Psychologen Martin Seligman begründeten Forschungsrichtung. Motivierte Beschäftigte sind keine Selbstverständlichkeit: Nach einer Umfrage identifizieren sich 66 Prozent der Arbeitnehmer und –nehmerinnen nur in sehr begrenztem Umfang mit ihrem Job, das heißt, ihre emotionale Bindung zum Unternehmen ist entsprechend gering. Nach Angaben des Beratungsunternehmens Gallup hat sogar jeder fünfte Arbeitnehmer bereits innerlich gekündigt und nur 13 Prozent engagieren sich für die Unternehmensziele. Vielen Führungskräften ist nicht bewusst, dass nur nach Vorschrift arbeitende Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen – bedingt durch höhere Fehlzeiten und Produktionsausfälle – jährlich einen Schaden in Milliardenhöhe verursachen. Die Konzepte der Positiven Psychologie und die darauf aufbauenden Maßnahmen – wie die talent- und stärkenorientierte Teamentwicklung – können unterstützend dabei mitwirken, die Zufriedenheit des Personals und einen daraus resultierenden Erfolg eines Unternehmens zu verwirklichen.
Nur posi t iv denken genügt nicht Die Positive Psychologie befasst sich mit den Stärken von Menschen, ohne dabei ihre Schwächen zu ignorieren. Sie ist eine Teilwissenschaft der Psychologie und sollte daher nicht mit „Positivem Denken“ verwechselt werden, welches lediglich eine bejahende, zuversichtliche Persönlichkeitshaltung ist. Ziel der Positiven Psychologie ist es, das Leben erfüllend zu gestalten. Die positiven Dinge des Lebens sollen durch wissenschaftlich fundierte Instrumente verstärkt, die negativen dagegen behoben werden. Positive Emotionen
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spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie haben den Zweck, beständige intellektuelle, physische und soziale Ressourcen zu verbreitern und Reserven aufzubauen, auf die bei Widrigkeiten ebenso wie in positiven Situationen zurückgegriffen werden kann. Eine positive Stimmung hilft, soziale Bindungen schneller entstehen zu lassen, sie fördert die Kreativität und die Toleranz. Probleme werden deshalb nicht ausgeblendet, sondern es wird eine zweite Form der Selbsterfahrung, ein Gegengewicht zur negativen Sichtweise, geschaffen.
Das per sönl iche Glück sniveau ak t iv ver bessern Forschungen haben ergeben, dass das individuelle Glücksniveau zu 50 Prozent vererbt wird. Dieser so genannte Glücksfixpunkt legt fest, wie glücklich ein Mensch im Leben sein wird, und kann nicht beeinflusst werden. Weitere 10 Prozent werden durch äußere Umstände geprägt. Doch dies bedeutet keineswegs, dass Menschen ihr Glücksempfinden nicht verbessern können, denn die übrigen 40 Prozent lassen sich durch bewusste Verhaltensweisen und Gedanken regulieren. Das persönliche Glücksempfinden kann durch einige wenige Fragen leicht evaluiert werden. Fällt das Ergebnis eher negativ aus, kann schon eine einfache tägliche Übung zu mehr Zufriedenheit verhelfen: das Schreiben eines Glückstagebuchs, auch „Three blessings exercise“ genannt. „Notieren Sie dazu jeden Abend drei Dinge, die Sie im Laufe des Tages als positiv empfunden haben. Es spielt keine Rolle, ob das Ereignis von großer Bedeutung für Sie ist oder nur eine Kleinigkeit darstellt. Zusätzlich beschreiben Sie, warum Sie diese Dinge als positiv wahrnehmen. Am nächsten Morgen lesen Sie die drei positiven Ereignisse noch einmal durch. Die Erinnerung an das Erlebte erzeugt positive Energie und eine optimistische Einstellung für den ganzen Tag.“ Die Erkenntnisse der Positiven Psychologie beeinflussen zunehmend auch Theorien und Modelle der Mitarbeiterführung. Als zentrale Elemente einer hervorragenden Human Resources Strategy gelten Engagement, Talent, Vision und Beteiligung.
Leis t ungsberei t scha f t f ür das Unternehmen fördern Engagement spielt im Unternehmensalltag eine wichtige Rolle. Es kann sich auf vielfältige Weise äußern, beispielsweise durch das freiwillige Anbieten von Hilfe. Zufriedene Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erledigen alle Aufgaben sehr zuverlässig auch in Abwesenheit der Vorgesetzten. Sie beschweren
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sich nicht wegen jeder Kleinigkeit, erkennen mögliche Konflikte und versuchen, Probleme zu lösen. Eine solche Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft benötigt ein Unternehmen, um langfristig erfolgreich zu sein. Idealerweise sind Beschäftigte so in die eigene Arbeit versunken, dass Konzentration, Geschick und Begeisterung zusammenfließen. Das Gefühl für Zeit und Ort geht verloren. Dieser, erstmals vom Wissenschaftler Mihaly Csikszentmihalyi beschriebene Zustand wird als „Flow“ bezeichnet. Voraussetzung zu seiner Erreichung ist neben einer selbstbestimmten Tätigkeit eine Problemstellung, die lösbar ist, aber eine gewisse Anstrengung erfordert. Aufgaben dürfen folglich weder unter- noch überfordern, da dies zu Angst oder Langeweile führen kann. Erfahrungsgemäß ist die Motivation am höchsten, wenn die Aufgabe so vorgegeben ist, dass sie mit einer subjektiven Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent erfolgreich gelöst werden kann. Um das Gefühl des Flow-Zustands zu erleben, muss ein Mensch seine Stärken beanspruchen und weiterentwickeln. Der Ablauf ist ein stetiges Finden, Beschreiben, Anwenden und Verfeinern. Es ist Aufgabe der Führungskräfte, die Arbeitsanforderungen der Untergebenen gemäß den Qualifikationen optimal und möglichst individuell zu gestalten. Die erlebten Herausforderungen bei der Arbeit können relativ einfach gemessen werden. Sechs Statements decken alle Dimensionen von Flow ab. Die Zufriedenheit ist umso höher, je mehr von den folgenden sechs Aussagen bejaht werden können: • • • • • •
Bei meiner momentanen Tätigkeit kann ich meine persönliche Leistungsfähigkeit voll entfalten. Ich weiß, welche Ziele ich gerade verfolge. Ich erhalte zeitnah Anregungen zu meinen Tätigkeiten. Meine derzeitige Tätigkeit geht mir leicht von der Hand. Ich tausche mich bei dieser Tätigkeit regelmäßig aus. Bei dieser Tätigkeit bringe ich meine persönlichen Werte ein.
Wie man durch diese Messung Motivation und Zufriedenheit nachhaltig steigert, beschreibt mein neues Buch „Motivation messen und fördern. Wie Mitarbeiter über sich hinaus wachsen“. Sie können es für sich selbst ausprobieren. Der Positive Challenge Indicator© (PCI©) ist ein wissenschaftlich evaluiertes Instrument. Sie können damit Ihren momentanen Flow-Level bei Ihrer aktuellen Tätigkeit ermitteln und so einen Hinweis darauf erhalten, bei welcher Tätigkeit Sie leicht in Flow kommen. Auf dem folgenden Link kommen Sie zur individuellen PCI©-Befragung. Sie dauert nur zwei Minuten, und das Ergebnis erhalten Sie sofort kostenlos per E-Mail. Wichtig ist nur, dass Sie spontan, ehrlich und auf die momentane Tätigkeit (es geht um die erlebte Zufriedenheit und nicht die erinnerte) bezogen
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antworten. Sie können den PCI© auch mehrfach machen. Viel Spaß und vor allem viel Erfolg bei der Steigerung von Flow! Hier geht es zur Befragung: http://positive-leadership.tumblr.com/PCI
Pessimis t oder Opt imis t? Tes ten Sie sich und Ihre Mi t ar bei ter ! Psychologisches Kapital kann zu positiven Ergebnissen führen. Die richtige Balance ist jedoch entscheidend, denn ein übersteigerter Optimismus kann auch negative Folgen haben. Eher pessimistische Menschen führen in Unternehmen oftmals spezielle Konstruktions-, Buchhaltungs- oder juristische Aufgaben aus. Mitarbeiter mit einem tendenziell optimistischen Erklärungsstil sind für Unternehmen – insbesondere solchen mit flachen Hierarchien – essentiell, da sie Selbständigkeit und Herausforderungen schätzen. Optimismus ist ebenso wie Selbstwirksamkeit, Hoffnung und Widerstandsfähigkeit eine herausragende und schwer zu kopierende Ressource. Das bedeutet langfristig einen Wettbewerbsvorteil für ein Unternehmen. Der Optimismusgrad beziehungsweise der Erklärungsstil eines Menschen kann durch einen Test eingeschätzt werden; der so genannte Attributional Style Questionnaire (ASQ) wurde 1982 vom amerikanischen Professor Peterson und Kollegen entworfen. Beim ASQ wird zunächst eine Situation beschrieben, und dazu werden zwei Erklärungsstile angeboten. Die Testperson kann sich dann für die Antwort entscheiden, die ihrer Einschätzung am nächsten kommt. Ein Beispiel für ein solches Szenario ist das folgende: „Das aktuelle Projekt, für das Sie verantwortlich sind, ist ein großer Erfolg.“ Die Testperson kann eine der folgenden Ursachenbeschreibungen wählen: „Ich habe die Arbeit meiner Mitarbeiter eng beaufsichtigt“ oder „Jeder hat viel Zeit und Energie investiert.“ Der Test beschreibt neben beruflichen auch private Situationen mit Freunden und in der Familie. Am Ende werden die Punkte addiert. Dabei wird zwischen drei Dimensionen unterschieden: • • •
Lokalität: Liegt die Ursache in der Person selbst (intern) oder außerhalb (extern)? Stabilität: Ist die Ursache zeitlich veränderlich (temporär) oder andauernd (stabil)? Kontrollierbarkeit: Kann die Ursache willentlich beeinflusst werden?
Die erreichte Punktzahl gibt Aufschluss über den Optimismusgrad beziehungsweise den allgemeinen Erklärungsstil der Testperson: Ist die Weltsicht tendenziell eher pessimistisch oder optimistisch? Resultierend auf den Er-
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gebnissen können anschließend entsprechende Maßnahmen getroffen werden. Ein Pessimist kann durchaus zum Optimisten werden. Als erstrebenswert gilt dabei ein realistischer und flexibler Optimismus. Hierzu gelangt man durch Nachsicht gegenüber der Vergangenheit, dem Wertschätzen der Gegenwart und dem Suchen nach künftigen Möglichkeiten.
Beteil igung wir k t mot iva t ions fördernd. Mitarbeiterbeteiligung fördert den Unternehmenserfolg. Materielle Belohnungen spielen dabei jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Studien haben ergeben, dass ein höheres Einkommen keinen Einfluss auf das empfundene Glücksniveau der Menschen hat. In der Führungsebene des Unternehmens sollte eine optimale Balance von Mitarbeiterorientierung und Sachorientierung geschaffen werden. Das GridModell veranschaulicht verschiedene Führungsstile, wobei der 9.9 Führungsstil den anzustrebenden Idealfall darstellt. In diesem Fall besteht sowohl eine hohe Sachorientierung als auch eine hohe Mitarbeiterorientierung. Die Führungskräfte setzen sich zum Ziel, hohes Engagement bei den Beschäftigten zu erzeugen und dabei gleichzeitig auf optimale Ergebnisse zu achten. Menschen mit diesem Stil initiieren Teamarbeit so, dass die Teammitglieder dazu ermuntert werden, sich einzubringen und zu engagieren. Meinungen und Ideen dürfen offen vorgetragen und diskutiert werden. Im Team erörtern sie Fakten und Alternativen, damit sich alle gemeinsam auf die beste Lösung verständigen und so optimale Ergebnisse erzielt werden können. Alle Vorgänge werden kontinuierlich konstruktiv-kritisch bewertet, um Arbeitsvorgänge und Handlungen zu optimieren. Grundsätzlich werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Partner angesehen. Ob jemand zufrieden und erfolgreich arbeitet, hängt auch von der Aufgabenstellung ab. Idealerweise sind Aufgaben intrinsisch motivierend, abwechslungsreich und ganzheitlich. Den Angestellten sollte eine gewisse Autonomie bei der Erledigung ermöglicht werden. Darüber hinaus ist eine regelmäßige Rückmeldung darüber wichtig, ob eine Aufgabe gut oder schlecht erledigt wurde.
Gr uppendiskussionen, sy s tema t isch s t a t t chaot isch Gruppendiskussionen können ohne koordinierte Moderation schnell ausufern und in entgegengesetztem Denken enden. Das bedeutet, dass die Teilnehmer starke Pro- und Kontrapositionen einnehmen, was wenig zielführend ist. Eine Methode, die das Arbeiten in Teams erleichtert, sind die „Sechs
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Hüte des Denkens®“, die vom Hirn- und Kreativitätsforscher Edward de Bono erfunden wurde. Sie ist besonders bei komplexen Problemen und Fragen empfehlenswert. Die sechs Hüte ermöglichen paralleles Denken innerhalb des Teams, indem die Teilnehmenden systematisch unterschiedliche Positionen zu einem Problem einnehmen. Somit werden alle Denkansätze gleichberechtigt betrachtet. Dadurch können in einem Team viel mehr Lösungen und Ideen aufkommen, als wenn jedes Teammitglied lediglich auf seinem Standpunkt beharrt. Für die Diskussion gibt es sechs verschiedene Hüte, die symbolhaft für eine bestimmte Denkrichtung stehen. Diese Hüte können nacheinander „aufgesetzt“ werden, das heißt, die Teammitglieder nehmen nacheinander jeweils bewusst unterschiedliche Denkweisen an. Nachdem jeder Hut einmal aufgesetzt wurde, erhält das Team ein sehr umfassendes Bild von einer Situation oder einem Szenario. Die sechs Hüte decken folgende Diskussionsbereiche ab: • • • • • •
Weißer Hut: Informationen, Daten, Fakten (objektiver Überblick). Roter Hut: Gefühle und Intuition (Emotionen, Zweifel, Ängste). Schwarzer Hut: Gefahren und Schwierigkeiten (Risiken, die gegen ein Projekt sprechen). Gelber Hut: Positives Denken und Vorteile. Grüner Hut: Alternativen und Ideen. Blauer Hut: Kontrolle (Moderation, Zusammenfassung).
Sinn in der Ar bei t ent s teht dur ch V isionen. Jeder Mensch ist bestrebt, Sinn im Leben zu finden. Die Quellen der Sinnerfahrungen sind vielfältig. Viele Menschen setzen sich bewusst oder unbewusst Ziele, haben bestimmte Wertvorstellungen und schreiben sich selbst Bedeutung und Wert zu. Dabei ist ein Mindestmaß an Kontrolle über die Lebensbedingungen essentiell. Dies kann auf den Unternehmensalltag übertragen werden: Die Arbeit muss Sinn vermitteln, das heißt, Menschen müssen bei ihrer Arbeit die Ziele und Visionen des Unternehmens mit ihren eigenen, persönlichen Zielen in Einklang bringen können. Motivierte Angestellte fühlen sich wertgeschätzt und angespornt. In Unternehmen entsteht Sinn durch eine Vision. Eine gute Unternehmensvision ist oftmals der Schlüssel zum Erfolg. Eine Vision besteht aus den Dimensionen Sinn und Herausforderung, sie kombiniert Ideale und erreichbare Ziele, auf die hingearbeitet wird. Alle sollten die Unternehmensvision, also die Grundwerte, den Unternehmenszweck sowie die riskanten, hochgesteckten Ziele und die Zukunftsvision kennen. Eine klare Aufgabe bedeutet eine genaue
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Beschreibung des gemeinsamen Ziels. Diese klare Aufgabe ist absolut erforderlich, um ein Team zu motivieren, es auf die wichtigsten Teilaufgaben auszurichten und das volle Arsenal der vertretenen Talente zu nutzen. Außerdem ist es hilfreich, eine genaue Vision vom Endziel der Aufgabe zu formulieren, es aber dem Team zu überlassen, wie es dieses Endziel erreicht. Auf diese Weise entwickelt sich die Eigendynamik eines Teams am besten. Motivationsfördernd wirkt zudem die Kenntnis über mögliche Belohnungen oder Sanktionen, wenn ein Ziel erreicht oder nicht erreicht wird.
Fördern Sie die St är ken, nicht die Schwächen eines Mi t ar bei ter s! Das vierte zentrale Element einer optimalen Human Resources Strategy sind die Talente. Dies sind die Potentiale eines Menschen, die zu Stärken ausgebaut werden können. Eine Stärke ist die Kombination aus dem Talent, den Fähigkeiten und dem Wissen einer Person. Es ist wesentlich effektiver, die Stärken eines Menschen zu fördern als seine Schwächen. Wenn Führungskräfte sich auf die Stärken ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen fokussieren, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass diese sich emotional aktiv vom Unternehmen distanzieren – die sogenannte „innere Kündigung“ – nur ein Prozent. Die verborgenen Stärken können mit einem Test, wie z.B. dem „Clifton StrengthsFinder®“ des Gallup-Instituts, aufgedeckt, aber auch auf andere Weisen offengelegt werden: Wenn einer gute Arbeitet leistet, kann die Führungskraft beispielsweise danach fragen, wie die guten Ergebnisse zustande gekommen sind, welcher Weg zum Erfolg führte. Stärken lassen sich durch ein Gefühl für Eignerschaft und Authentizität („So bin ich wirklich“) erkennen. Bei der Ausübung einer Stärke agiert die Person begeistert bis enthusiastisch. Wird eine Stärke zum ersten Mal eingesetzt, zeigt die Lernkurve steil nach oben. Menschen können kontinuierlich lernen, ihre Stärken auf eine neue Weise einzusetzen. Stärken sind die Voraussetzung für besondere Fähigkeiten. Eine gute Führungskraft weiß, dass jeder Mitarbeiter verschieden ist und wie diese Unterschiede optimal im Unternehmensalltag genutzt werden können. Nicht jeder muss die gleichen Stärken haben – die Kombination der unterschiedlichen Talente führt zum Unternehmenserfolg. Eine Talentdiagnose kann sowohl auf individueller als auch auf Teamebene erfolgen. Einzelne Personen können sich zum Selbstcheck an folgenden Fragen orientieren: 1. Bin ich in der Lage, die Stärke einigermaßen beständig (über längere Zeit erfolgreich zu nutzen?
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2. Erlange ich aus dieser Tätigkeit eine innere Befriedigung? 3. Kann ich in der Tätigkeit aufgehen, also dabei die Zeit vergessen? Können alle Fragen zu einer Tätigkeit mit „Ja“ beantwortet werden, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich eine Person bei der betrachteten Tätigkeit im Flow-Zustand befindet und daher ihre Stärken nutzt. Ein letzter, nicht zu vernachlässigender Aspekt ist die Dankbarkeit. Wer dankbar ist, profitiert von angenehmen, positiven Erinnerungen und stärkt die Beziehung zu anderen Menschen. Das regelmäßige Aussprechen von Dank sollte daher im Unternehmensalltag nicht vergessen werden, denn es fördert das persönliche und berufliche Wohlbefinden sehr. Eine einfache Übung zur Steigerung des Glücksempfindens ist das Schreiben eines Dankesbriefes. Denken Sie dazu an eine Person, der sie dankbar sind, dies jedoch noch nicht geäußert haben. Ihre Aufgabe ist nun, einen Dankesbrief an diese Person zu schreiben. Der Brief sollte konkret und ungefähr 300 Worte lang sein. Beschreiben Sie sehr genau, was diese Person für Sie tat und wie dies Ihr Leben beeinflusste. Beschreiben Sie, was Sie nun machen und erwähnen Sie, wie oft Sie daran denken, was diese Person für Sie getan hat. Versenden Sie den fertigen Brief nicht, sondern vereinbaren mit dem Empfänger oder der Empfängerin einen Termin, lesen den Brief persönlich vor und unterhalten sich dann mit Ihrem Gegenüber über Ihre Gefühle. Sich um die Motivation des Personals zu kümmern, ist nicht einfach nur ein netter Zeitvertreib für Manager, die sonst nichts zu tun haben, sondern essentiell für den finanziellen Erfolg eines Unternehmens. In der gezielten Förderung der Zufriedenheit gibt es in den meisten Unternehmen noch viel Nachholbedarf. Jeden Tag bleiben Ressourcen ungenutzt, weil Beschäftigte nicht entsprechend ihrer Stärken und Talente gefördert und gefordert werden. Dabei kann das Engagement der Beschäftigten schnell und nachhaltig gesteigert werden. Nutzen Sie die Ideen der Positiven Psychologie, um das Beste aus Ihren Mitarbeitern und Mitarbeitern herauszuholen!
Li ter a tur Utho Creusen/Eschemann (2011): Motivation messen und fördern. Wie Mitarbeiter über sich hinauswachsen. Zürich: Orell Füssli .
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Zusammenfassende Gedanken Tal k r unde 5, moder ier t von T homas Ramge, mi t U t ho Creusen, Ger hard Kilger und Hilde Naur a t h
In der Schlussrunde bat der Moderator zunächst darum, aus den aktivierenden Vorträgen/Workshops zu berichten. Utho Creusen merkte dazu an: Erstens spielten positive Emotionen in Unternehmen auch bei Führungskräften eine immer größere Rolle, und diese sollten möglichst schnell lernen, damit umzugehen. Zweitens seien die Stärke „Orientierung“, die in den vorangegangenen Vorträgen von Ruch und van Dick schon ausführlich dargestellt wurde, und das Messen und Überprüfen des Engagements oder des Flows sowie die Auseinandersetzung mit den Zielen und Visionen des Unternehmens zielführend. Hilde Naurath fasste aus ihrem aktivierenden Vortrag zusammen, dass Diversity Management aus vier Gründen notwendig sei: wegen der Abnahme der Zahl der Erwerbstätigen, wegen der Unterrepräsentierung von Frauen in Unternehmen, wegen der mangelnden Integration von Migrantinnen und wegen des Einflusses der Gesetzgebung als politischem und gesellschaftlichem Hintergrund. Diversity Management habe keine Patentlösungen. Es müsse jeweils versucht werden, unternehmensspezifische und strategisch-zielorientierte, passgenaue Lösungen zu finden, um Vielfalt und Produktivität in den einzelnen Unternehmen zu fördern. Creusen führte weiter aus, dass der Markt nicht ohne die Produzenten und die Konsumenten funktioniere, ebenso wie eine Demokratie nicht ohne das Volk denkbar sei. Da würde gerade jetzt viel Macht und würden viele Einflussmöglichkeiten entdeckt, um die Dinge künftig eben nicht mehr nur an Anreizen, an kurzfristigen Gewinnen etc. zu orientieren, sondern mehr an der Nutzung der persönlichen und menschlichen Ressourcen. Seine persönliche Erfahrung sei, dass gerade die Unternehmen, die sich auf diese Dinge konzentrieren – die z.B. ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen richtig einbeziehen und nachhaltig dafür sorgen, dass ihre Kundschaft und die Beschäftigten zufrieden sind –, sehr viel Gutes bewirken, vielleicht auch für ihr lokales Umfeld.
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Gerhard Kilger, der Leiter der DASA, sagte, dass Arbeit grundsätzlich etwas sehr Ambivalentes sei: Sinnerfüllung und Selbstverwirklichung auf der einen, Anstrengung und Mühsal auf der anderen Seite. Am Vortag habe sich die Ambivalenz auch in dem Thema „Burn-out“ gezeigt. Im Arbeitsschutz werde aber schon seit längerem nicht mehr so oft vom Charakter der Gefährdungen, sondern von den Potentialen gesprochen. Insofern sei das Thema hier einschlägig und auch künftig Gegenstand dieser Reihe von DASA-Symposien. Aus dem Publikum ergriff ein niedergelassener Psychotherapeut das Wort, um zu betonen, dass er mit seiner Praxis nicht zum Reparaturbetrieb verkommen wolle, und dass er es sehr wichtig fand, hier Anregungen zu bekommen, wie man die krankmachenden Rahmenbedingungen ändern könne, aber auch dafür, was Einzelne in ihrem Umfeld verändern können. Herr Kilger ergänzte, dass es neben der geforderten Verhaltensprävention immer auch die Verhältnisprävention gebe. Die Politik und die Gesellschaft hätten immer die Priorität, Kulturen der Arbeit, der Unternehmenskultur etc. zu stärken. Inzwischen existiere aber auch ein umfangreicher Diskurs zum Thema Verhaltensprävention, der den Individuen eine gewisse Voraussicht und Verantwortung auferlege. Die Arbeitsmedizin sei traditionell kurativ organisiert. Bis vor wenigen Jahren sei es kaum möglich gewesen, präventiv zu arbeiten. Die Unfallversicherungsträger z.B. hätten seit zehn Jahren den Auftrag, präventiv zu denken und zwar nicht mehr nur, was Unfälle angeht, sondern auch, was die die psychomentalen Faktoren wie Stress etc. betrifft. Diese würden jetzt immer mehr erfasst und künftig eine wichtige Säule der Arbeitsmedizin bilden. Die Aufgabe der DASA und auch dieser Symposiumsreihe sei es u.a. auch, Partizipation und Motivation der Einzelnen bei der gesunderhaltenden Gestaltung ihres Arbeitsplatzes zu fördern. Er freue sich über die vielen positiven Rückmeldungen der Teilnehmer dieses Symposiums, die zeigten, dass es wohl gelungen sei, auch Aspekte des „Glücks“ und des Flows bei der Arbeit aufzuzeigen und zu fördern.
Die Autorinnen und Autoren und die Diskutierenden
Dr. Fritz Erich Anhelm, Dozent an der Philosophischen Fakultät der LeibnizUniversität Hannover im Bereich Religionssoziologie und Evangelische Ethik Dr. Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen Norbert Breutmann, Leiter der Stabsstelle Arbeitswissenschaft in der Abteilung Soziale Sicherung der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände Dr. Utho Creusen, Honorarprofessor der Westfälischen Wilhelmsuniversität und der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Aufsichtsrat mehrerer internationaler Unternehmen und Unternehmensberater Dr. Rolf van Dick, Professor für Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Dr. Stephan Engeser, Leiter des DFG-Forschungsprojekts zur Wirkung des leistungsthematischen Kontextes auf die Motivation, Universität Trier Dr. Claudia Harzer, Assistentin am Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik an der Universität Zürich Dr. Wolfgang Hien, Leiter des Forschungsbüros für Arbeit, Gesundheit und Biographie, Bremen Dr. Josephine Hofmann, Leiterin der Arbeitsbereiche Collaborative Business und Business Performance Management im Fraunhofer-Institut für Arbeitswissenschaft und Organisation, Stuttgart, Dozentin an der Universität Konstanz, der VWA Stuttgart und der Hochschule der Medien Stuttgart
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Das Glück bei der Arbeit
Dr. Karin Kaudelka, Strategische Kuratorin „Arbeit und Gesellschaft“ in der DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund Dr. Gerhard Kilger, Direktor und Professor, Leiter der DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund Dr. med. Harald Krauß, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Marien Hospital Dortmund Dr. Sophie-Thérèse Krempl, künstlerische Referentin des Generalintendanten und Projektleiterin des e-Werks am Deutschen Nationaltheater Weimar Simone Langendörfer, Leiterin der SLC-Coaching Agentur in Esslingen am Neckar Hilde Naurath, Synergy Consult, Köln Dr. Reinhold Popp, Universitäts-Professor und Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Zukunftsstudien der Fachhochschule Salzburg in Urstein Thomas Ramge, fester Autor für das Wirtschaftsmagazin brand eins und Fellow beim Think Tank „stiftung neue verantwortung“ Dr. Willibald Ruch, Ordinarius für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik an der Universität Zürich Dr. Sebastian C. Schuh, Managing Director des Centers for Leadership and Behavior in Organizations, Frankfurt a. M. Dr. Clara Schlichtenberger, Fachberaterin des DASA-Symposiums „Das Glück bei der Arbeit. Über Flow-Zustände, Arbeitszufriedenheit und das Schaffen attraktiver Arbeitsplätze“, Tübingen Dr. Dieter Thomä, Professor für Philosophie und Leiter des Masterprogramms „Organisation und Kultur“ an der Universität St. Gallen Dr. med. Rolf Verres, Ordinarius und Ärztlicher Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Heidelberg
Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus November 2012, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7
Wolfgang Bonss, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister Handlungstheorie Eine Einführung Oktober 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5
Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat April 2012, 528 Seiten, Hardcover, 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2036-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Sozialtheorie Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.) Ortsregister Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1968-3
Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze März 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5
Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Februar 2012, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1
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