Das Mentalisierungskonzept in der Sozialen Arbeit 9783666402210, 9783525402214, 9783647402215


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Das Mentalisierungskonzept in der Sozialen Arbeit
 9783666402210, 9783525402214, 9783647402215

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Holger Kirsch (Hg.)

Das Mentalisierungskonzept in der Sozialen Arbeit

Mit 5 Abbildungen und 11 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40221-4 ISBN 978-3-647-40221-5 (E-Book) Umschlagabbildung: shutterstock.com © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Holger Kirsch Grundlagen des Mentalisierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Alexa Köhler-Offierski Das Mentalisierungskonzept im Kontext der Lehre und Aufgaben Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Holger Kirsch Projekte aus den Handlungsfeldern Sozialer Arbeit . . . . . . . . . 56 Linda Kaufmann und Sabrina Zimmer Mentalisierungsgestützte Erziehungsberatung . . . . . . . . . . . . . . 62 Johanna Klein und Tanja Armendinger Mentalisieren der Erzieherinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Katharina Straub und Alexandra Stavrou Mentalisierungsbasierte Gewaltprävention an einer Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Tanja Kalbfuss, Aydın Polat und Swantje Urbanek Mentalisierungsbasierte Psychoedukation mit Patienten einer psychiatrischen Institutsambulanz . . . . . . . 115 Olga Ruf und Irina Wiens Bildung und Empowerment bei mehrfach behinderten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Inhalt

Holger Kirsch Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

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Vorwort

Seelische Gesundheit und psychische Erkrankungen stehen in einem bedeutsamen Zusammenhang mit gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen. Dies gilt sowohl im historischen Verlauf, in dem ökonomische und kulturelle Veränderungen zu einem Wandel seelischer Krankheiten führten. Es gilt aber auch in Bezug auf die ungleiche Verteilung zwischen den sozialen Schichten der Gesellschaft. Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und Krankheitsrisiken gelten als gesichert. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass ein niedriger Sozialstatus mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität einhergeht (Deck, 2008; Richter u. Hurrelmann, 2006). Die Verteilung von Gesundheits- und Lebenschancen wird dabei primär von Faktoren bestimmt, die nicht im Gestaltungsbereich der Medizin und Gesundheitspolitik liegen (Rosenbrock u. Kümpers, 2006). Soziale Benachteiligung in der frühen Kindheit bestimmt die psychische Gesundheit und Verhaltensanpassung späterer Lebensphasen. Sozialwissenschaftlich spricht man von einer Akkumulation von benachteiligenden Lebensbedingungen. Eine chronisch stressvolle Umgebung stört die Entwicklung von erfolgreicher Anpassung nachhaltig (Schoon, 2002). In fast jeder Generation seit den 1940er Jahren wurde auf diese Zusammenhänge hingewiesen (z. B. Fromm, 1947; Kohut, 1977; von Essen u. Habermas, 1989; Tenbrink, 2000; Dornes, 2010, 2012). Tenbrink (2000) plädiert deshalb dafür, nicht allein den Wandel oder die Zunahme seelischer Erkrankungen zu betrachten, sondern die Veränderungen kompensatorischer gesellschaftlicher Strukturen einzubeziehen. Die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts war – zumindest in Deutschland – geprägt durch autoritäre Charaktere, eine hierarchische Gesellschaft mit archaischer Idealisierung (Kaiser, Führer), massiven Spaltungen (Freund–Feind), Projektionen und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Vorwort

Verleugnungen sowie Durchbrüchen von Rohheit und bestialischer Grausamkeit. Diese gesellschaftlichen Strukturen, die erzwungene Anpassung und soziale Kontrolle, dienten als kompensatorische Strukturen und ermöglichten, Gefühle von Unsicherheit, innerer Leere und Ohnmacht abzuwehren. Inzwischen haben sich die gesellschaftlichen Strukturen deutlich verändert. Alte Abwehrformationen und Kompensationsstrukturen treten in den Hintergrund und werden durch neue ersetzt, die zugleich die seelischen Störungen weniger verdecken. Die größere Autonomie stellt höhere Anforderungen an die emotionale Selbstregulierung (Kirsch, 2009). Auch die Anforderungen an Kinder in der Entwicklung reflexiver Fähigkeiten, emotionaler, sozialer und kognitiver Kompetenzen haben sich erhöht (Bengel, Meinders-Lücking u. Rottmann, 2009). Die emotionale Selbstregulierung wiederum ist Teil der psychischen Fähigkeit, eigene Motive, Bedürfnisse oder Ziele zu verstehen und die inneren Beweggründe und das Verhalten anderer Menschen vorauszusehen und zu erklären. Diese Fähigkeit wird Mentalisierung genannt, sie ermöglicht Denken als Probehandeln, Reflexion als Instrument der Impulskontrolle und Affektregulation. Das Mentalisierungskonzept wurde von Arbeitsgruppen um Peter Fonagy, Mary Target und Antony Bateman in den 1990er Jahren am Londoner Anna Freud Center in seiner heutigen Form entwickelt. Mit den Arbeiten von Köhler (2004) und Dornes (2004) wurde das Konzept erstmals im deutschsprachigen Raum in größerem Umfang rezipiert (einen aktuellen Überblick bietet Mertens, 2012). Auf diese Grundlagen und weitere Forschungsergebnisse bezieht sich die hier vorgestellte Darstellung des Mentalisierungskonzeptes. Es verbindet Psychoanalyse mit empirischen Forschungsergebnissen zur Bindungstheorie, Theory of Mind, Neurobiologie und Psychotherapieforschung. Das Mentalisierungskonzept erhebt den Anspruch, grundlegende Aussagen über psychisches Erleben und die Regulierung von Emotionen treffen zu können sowie wichtige Aspekte von Resilienz und psychischer Gesundheit aufzuzeigen (Allen, Fonagy u. Bateman, 2008; Bateman u. Fonagy, 2006). In der psychosozialen Beratung und Psychotherapie, bei Beziehungsproblemen, in der Erziehungsberatung, in der Schule und bei schweren psychischen Störungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

Vorwort9

(z. B. Persönlichkeitsstörungen, Depression, Sucht, Traumafolgen) haben sich mentalisierungsfördernde Erklärungsmodelle und Behandlungsansätze bewährt (siehe u. a. Bateman u. Fonagy, 2012; Luyten, Fonagy, Lowyck u. Vermote, 2012). Die große Resonanz, die das Mentalisierungskonzept bei Forschern und Praktikern in kürzester Zeit gefunden hat, unterstreicht seine aktuelle Bedeutung. »Das Mentalisierungskonzept lässt sich nicht nur bei Menschen mit einem unverarbeiteten Trauma, einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oder generell in psychoanalytischer Psychotherapie, in der präventiven Arbeit mit Problemfamilien und in der Sozialen Arbeit sowie in pädagogischen Handlungsfeldern einsetzen, sondern darüber hinaus auch in der politischen Auseinandersetzung mit globalen Konflikten« (Mertens, 2012, S. 122). Im Rahmen des Masterstudiengangs Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt haben Studierende die Möglichkeit, den Schwerpunkt »Gesundheit und Krankheit: Differenz – Anerkennung – Teilhabe« zu wählen und Lehrveranstaltungen zum Mentalisierungskonzept in der Sozialen Arbeit zu besuchen. Ein Semester lang werden theoretische Grundlagen erarbeitet, um diese im darauffolgenden Semester in einem Lehr-Praxis-Projekt umzusetzen. Die Studierenden wählen ein Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit aus und entwickeln eine Problemstellung sowie ein Konzept für eine konkrete Intervention. Begleitet durch Lehrveranstaltungen und Fallbesprechungen wird das Lehr-Praxis-Projekt durchgeführt, evaluiert und reflektiert. Die folgenden Beiträge basieren auf einigen herausragenden Lehr-Praxis-Projekten der Studierenden im Masterstudiengang Soziale Arbeit. Der Schwerpunkt von 3 Lehr-Praxis-Projekten liegt bei der sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern zwischen 3 und 10 Jahren. Dies knüpft an frühe Ansätze psychoanalytischer Pädagogik an, die in den 1920er Jahren in den deutschsprachigen Ländern Europas ihren Anfang nahmen. Anna Freud, Lehrerin und Psychoanalytikerin, schrieb 1930 eine »Einführung in die Psychoanalyse für Pädagogen«. Sie emigrierte später nach London. In Großbritannien wurde die psychoanalytische Pädagogik dann zunehmend durch die Kinderanalyse und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie abgelöst. Es erfolgte ebenso eine deutliche klinische Orientierung wie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Vorwort

in den USA. Im Vordergrund stand die therapeutische Arbeit mit Kindern und nicht mehr primär die (psychoanalytische) Pädagogik (Stemmer-Lück, 2004). Die 3 vorgestellten Praxisprojekte mit Kindern kehren insofern zu den Wurzeln zurück, als sie ein modernes psychoanalytisches Konzept pädagogisch einsetzen: in der Erziehungsberatung (Kaufmann und Zimmer), in der Fortbildung von Erzieherinnen einer Kindertagesstätte (Klein und Armendinger) sowie in der Gewaltprävention an einer Grundschule (Straub und Stavrou). Betrachtet man die beiden Projekte zur Sozialen Arbeit mit Erwachsenen, so werden ebenfalls historische und aktuelle Verbindungslinien deutlich. Die Psychiatrie-Enquete wird auch heute noch als Meilenstein der jüngeren Psychiatriegeschichte gesehen. Die Missstände vor 1975 waren ungeheuerlich. »In den Beratungsstellen und in der Sozialarbeit der Gesundheits-, Jugend- und Sozialämter sowie der freigemeinnützigen Träger und Kirchen sind die Möglichkeiten einer qualifizierten Beratung bei psychischen Störungen, Krankheiten und Behinderungen vielfach durch Personalmangel, Mangel an finanziellen Mitteln, Überlastung, mangelndem selbständigen Handlungsspielraum und Bürokratisierung der Arbeit eingeschränkt. Möglichkeiten zur speziellen Weiter- und Fortbildung fehlen vielfach« (Bundestag Drucksache 7/4200, 1975, S. 9). Vor der Psychiatriereform lebten »59 % – knapp 60.000 – Patienten länger als 2 Jahre im Fachkrankenhaus, 31 % – knapp 30.000 – sogar länger als zehn Jahre« (S. 11). Ausgehend von der Psychiatrie-Enquete entwickelte sich in den 1970er und 1980er Jahren die Sozialpsychiatrie als Gegenmodell zur Anstaltspsychiatrie und bewirkte eine fundamentale Veränderung der Lebensrealität chronisch psychisch kranker Menschen. Sie entwickelte ihre Legitimation aus sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Theorien und baute ambulante, niederschwellige und gemeindenahe Versorgungsstrukturen auf. Dabei entstand ein großer Bedarf an qualifiziert ausgebildeten Fachkräften. Die Fachhochschulen nahmen die Aufgabe der Qualifizierung wahr und bildeten Studierende der Sozialen Arbeit für diese Aufgaben aus oder qualifizierten sie postgradual (z. B. Soziotherapie). Die gemeindepsychiatrische Reformbewegung erscheint in den letzten Jahren jedoch erstarrt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

Vorwort11

zu sein und kann in der Versorgungspraxis der Unterversorgung chronisch psychisch kranker Menschen nur wenig entgegensetzen. Auch die Soziotherapie spielt in der Versorgungslandschaft nicht die ihr angemessene Rolle. »Die ambulante Soziotherapie, als eine der letzten neuartigen Versorgungsformen vor ca. 10 Jahren eingeführt, dümpelt vor sich hin. Von einem flächendeckenden Ausbau kann keine Rede sein« (Salize, 2012, S. 200). Es wird ein Reformbedarf in der Schaffung neuer Versorgungskonzepte und Behandlungsansätze gesehen. Hier knüpft das Projekt »Mentalisierungsbasierte Psychoedukation in einer Psychiatrischen Institutsambulanz« an (Kalbfuss, Polat und Urbanek) und entwickelt ein Modell, wie eine auf die spezifischen Mentalisierungsschwächen der Teilnehmer fokussierte Patientenschulung das Selbstverständnis und den Umgang mit zwischenmenschlichen Konflikten fördern können. Das Projekt mit schwer und mehrfach behinderten älteren Menschen von Ruf und Wiens ist in seiner Auswahl der Zielgruppe wohl einmalig und stellte hohe Anforderungen an Kreativität und Beziehungsfähigkeit. Die Arbeit knüpft an aktuelle Diskurse zur Inklusion und Mehrfachbenachteiligung an. Die Autorinnen wählten unter den sogenannten behinderten Menschen die am meisten benachteiligten aus. Ausgehend von der Annahme, dass Mentalisierung primär von zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen und erst sekundär von kognitiven Fähigkeiten abhängt, gestalteten sie ein beziehungsund bildungsorientiertes Gruppenprojekt entlang einer Empowerment fördernden Haltung und entlang der Grundlagen der Mentalisierungsfähigkeit: Aufmerksamkeitskontrolle, Affektspiegelung sowie Wahrnehmung und Differenzierung von Affekten. Den Studierenden sei an dieser Stelle herzlich gedankt für ihre Offenheit, Geduld und Bereitschaft, ihr Konzept und die Darstellung des Projekts oft mehrmals zu überarbeiten, um aus einer Modulprüfungsleistung einen interessanten und lesbaren Artikel zu machen. Ebenso gilt unser Dank der Präsidentin und dem Forschungszentrum der Evangelischen Hochschule für die gewährte Unterstützung. Holger Kirsch

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Grundlagen des Mentalisierens

»Stellen Sie sich vor, Sie beobachten in Ihrer Heimatstadt einen Fremden an einer Straßenecke, der einen Stadtplan in der Hand hält und mit gerunzelter Stirn und geschürzten Lippen erst in die eine und dann in die andere Richtung blickt« (Haslam-Hopwood, Tobias, Allen, Stein u. Bleiberg, 2009, S. 351). Zu vermuten, dass der Fremde sich verlaufen habe, lässt sich von seinem Verhalten ablesen. Sich den inneren Zustand des Fremden vorzustellen ist Mentalisieren in Aktion. Mentalisierung meint die Fähigkeit, Gedanken, Gefühle, Absichten, also die innere psychische Welt bei sich und anderen wahrzunehmen. Die Fähigkeit zu mentalisieren ist weitgehend vorbewusst oder implizit, sie ist eine kognitive Leistung, die dem eigenen Verhalten und dem anderer einen Sinn gibt. Sie ermöglicht Denken als Probehandeln sowie Impulskontrolle und Affektregulation. Die Fähigkeit entwickelt sich in der Kindheit und bis zur Adoleszenz. Die Reifung ist abhängig von Beziehungserfahrungen, der Bindungsqualität und dem affektiven Austausch mit den ersten Bezugspersonen (Köhler, 2004). Mit der Formulierung ihres Mentalisierungskonzeptes unternehmen Fonagy und seine Arbeitsgruppe den Versuch einer Weiterentwicklung der Bindungstheorie. Dabei verfolgen sie unter anderem das Ziel, die historische Spannung zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie bzw. empirischer Forschung beizulegen. Denn sowohl die moderne Bindungstheorie als auch die moderne Psychoanalyse verfolgen das erkenntnistheoretische Ziel, die inneren Mechanismen zu beschreiben, die für die Diskrepanz in der Wahrnehmung zwischen aktueller äußerer und psychischer Realität verantwortlich sind (Fonagy, 2003, S. 168). Der Begriff Mentalisierung ist ein aus dem Englischen (menta© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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lization) übernommenes Kunstwort. Der englische Begriff mental bildet das Adjektiv zu mind (z. B. mental illness, mental health) und meint geistig, psychisch oder seelisch. Während der englische Begriff geistig und psychisch nicht weiter unterscheidet, hilft die Differenzierung zwischen I und Me. Mit dem Begriff I ist ein unreflektiertes Selbstempfinden gemeint, das Selbst als Urheber, als handelndes Subjekt, das sich nur durch den Vollzug des Erlebens empfinden kann (z. B. ich bin wütend). Mit Me wird das bewusste, reflektierbare Ich, das sich selbst als Gegenstand der Betrachtung sehen kann, benannt (ich denke darüber nach, warum ich wütend bin). Sich selbst zu reflektieren, setzt innere Repräsentanzen (Vorstellungen von sich und anderen) voraus. Die Entwicklung der inneren Repräsentanzen in Abhängigkeit von Beziehungserfahrungen steht im Mittelpunkt des Mentalisierungskonzeptes. Die Fundierung dieses Konzeptes durch empirische Forschung übt eine große Anziehungs- und Überzeugungskraft aus. Damit wird eine Offenheit der Theorie gegenüber den Ergebnissen empirischer Forschung vermittelt, die bestehendes Wissen integriert, Hypothesen überprüft und sie gegebenenfalls verwirft. Die »forschende Grundhaltung« der Arbeitsgruppe um Fonagy, Batemann und Target fordert, dass (psychoanalytische) Konzepte durch empirische Forschung überprüft werden, um sie zu modifizieren oder zu verwerfen (Fonagy u. Target, 2006).

Beziehungserfahrungen konstituieren unser Selbst Die psychische Entwicklung des Menschen verläuft von Beginn an in Beziehungen. Die Qualität der Beziehungen zwischen den Erwachsenen und dem heranwachsenden Kind nimmt entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Selbst, die Fähigkeit zur Regulierung von Emotionen und die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen (Hirsch, 2008). Fairbairn, Winnicott und andere britische Objektbeziehungstheoretiker entwickelten, mit verschiedenen Schwerpunkten, eine grundsätzlich soziale Theorie, die Psychoanalyse als eine Theorie menschlicher Beziehungen versteht. Sie gehen davon aus, dass sich die elementaren psychischen Strukturen innerhalb einer familiä© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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ren Beziehungsmatrix herausbilden, wodurch die frühen Konflikte, die wesentlich um Autonomie und Abhängigkeit, Selbstständigwerden, Bindung und Exploration kreisen, in den Vordergrund rücken. Durch die moderne Objektbeziehungstheorie und die Kleinkindforschung werden die konkreten sozialen Interaktionsprozesse erhellt, innerhalb derer sich das Kind in der emotionalen Beziehung zu anderen Personen als eigenständiges Wesen begreifen lernt. Der Bezug zu gesellschaftlichen Prozessen wird schon dadurch evident, dass die kindlichen Objektbeziehungen eine sozial typisierte Form haben, in der sich die spezifische Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse spiegelt (Shaked, 2011). Das reflektierende Selbst ist eine entwicklungspsychologisch erworbene Fähigkeit, die über die wiederholte Bedeutungszuweisung der wichtigen Bezugspersonen vermittelt wird (Fonagy u. Target, 2006). Die Fähigkeit zu mentalisieren ist nach dieser Auffassung angeboren und differenziert sich, sofern sie nicht durch gravierende Umwelteinflüsse (Trauma, Vernachlässigung etc.) gestört wird. Das Unbewusste aus Sicht der Mentalisierungstheorie wird gedacht als »ein noch nicht Gewusstes« im Sinne einer Amnesie von frühkindliche Beziehungserfahrungen, die strukturell, also aufgrund der Hirnreifung und Symbolisierungsfähigkeit bedingt ist und nicht ausschließlich als Folge von Abwehrvorgängen konflikthafter Inhalte verstanden werden kann. Damit wird eine wachstumsorientierte Persönlichkeits- und Entwicklungstheorie vorgestellt. Im Mittelpunkt steht die Bildung von regulativen Strukturen des Selbst. Bestimmte, früher als Widerstandsphänomene erklärte Schwierigkeiten werden hier als strukturelle Probleme verstanden (Köhler, 2004).

Bindungsverhalten als Copingstrategien für Stress Schon sehr frühe Erfahrungen von unangenehmen Gefühlen, Stress, Angst oder Einsamkeit aktivieren das Bindungssystem. Die jeweiligen Bindungsmuster können daher als Versuch gesehen werden, diese unangenehmen Gefühlszustände mithilfe einer Bezugsperson zu regulieren. In Abhängigkeit von den im Bindungsmuster verdichteten Erfahrungen mit den ersten Bezugspersonen wird Stress © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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unterschiedlich bewältigt1. Unsicher verstrickte Personen, deren Bindungssystem bei Stress hyperaktiv wird, verfolgen ängstlich die emotionale Erreichbarkeit der Bezugsperson, um von ihr Unterstützung und Trost zu erhalten. Personen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil aktivieren bei Stress kognitive Aspekte von Mentalisierung und unterdrücken Gefühle, sie versuchen möglichst autonom zu bleiben. Die Aktivierung bindungsbezogener Angst ist die treibende Kraft für die Unterlassung bestimmter Verhaltensweisen (Mertens, 2012). Als wichtige Ursachen für psychische Störungen gelten unsichere innere Arbeitsmodelle und die Abwehr der Angst vor dem Verlassenwerden durch Hyperaktivierung oder Deaktivierung von Bindungsverhalten.

Die Bedeutung der Bindungstheorie für die Entwicklung Die Bindungstheorie geht auf John Bowlby (1907–1990) zurück. Bowlby studierte zunächst Psychologie und arbeitete als Lehrer an einer Schule für verhaltensgestörte Kinder in London, später studierte er Medizin, wurde zum Psychiater und Psychoanalytiker ausgebildet und beriet die WHO hinsichtlich der psychischen Gesundheit der Bevölkerung. Bowlby begann seine Arbeit an der Bindungstheorie, als er in einem Heim für sozial auffällige Jungen tätig war. In dieser Zeit veröffentlichte er eine retrospektive Studie zur Entwicklungsgeschichte von 44 jugendlichen Dieben (Fonagy, 2003). Was John Bowlby und Peter Fonagy verband, waren ihre sozialen Einstellungen und ihr Interesse für soziale Ungerechtigkeit und Menschen, die aus sozial schwachen Familien kamen (Mertens, 2012). Fonagy (1999) beschreibt folgende zentrale Merkmale der Bindungstheorie. Auf der Grundlage der Beobachtung des realen Ver1 Copingstrategien lassen sich einteilen in alloplastisches Coping (Einflussnahme auf die Umwelt zur Zielerreichung, Problemlösung, Hilfesuchen oder z. B. durch Aggression) und autoplastisches Coping (sich selbst umstellen, anpassen). Wenn der Einsatz von Strategien längerfristig nicht zum Erfolg führt und der Stress anwächst, kann es zu Verhaltensweisen kommen, die zwar nichts nützen, aber wenigstens die Spannung etwas reduzieren (Bischof-Köhler, 2011).

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haltens von Säuglingen und Bezugspersonen ist ein von allen anderen Trieben und Bedürfnissen unabhängiges Bindungsbedürfnis anzunehmen, dessen Schicksal für die psychische Entwicklung von zentraler Bedeutung ist. Der Einfluss der realen sozialen Umwelt auf die psychische Entwicklung wird betont, schon und vor allem in der Säuglingszeit, vermittelt über die reale und direkt beobachtbare Beziehung zwischen Bezugspersonen und Säugling. Das Bindungsverhaltenssystem gilt als die wichtigste biologische Grundlage für enge soziale Beziehungen, gewährleistet Gefühle von emotionaler Sicherheit, dient dem Schutz vor Stress und Belastung und bleibt in seiner Funktion über die gesamte Lebensspanne aktiv. Es ist unser wichtigstes »psychologisches Immunsystem« (Mertens, 2012). Die 3 Verhaltenssysteme Bindung, Exploration und Furcht regulieren die Entwicklungsanpassung des Kindes. Das Furchtsystem aktiviert das Bindungssystem. Wenn es aktiviert ist, werden alle anderen Verhaltenssysteme deaktiviert (z. B. Neugier, Exploration). Zu den Ergebnissen der Bindungsforschung gehört, dass eine standardisierte Beobachtungstechnik, der »Fremde-Situations-Test« (FST), bereits in den ersten 12 bis 18 Lebensmonaten Rückschlüsse auf die Qualität der Erfahrungen des Kindes mit seinen Bezugspersonen erlaubt (Ainsworth, Blehar, Waters u. Wall, 1978; ausführliche Darstellung z. B. bei Bischof-Köhler, 2011; Grossmann u. Grossmann, 2003). Abhängig von den Beziehungserfahrungen mit den wichtigen Bezugspersonen entwickeln sich ab dem siebten Lebensmonat spezifische Bindungsstile. Ist das Verhalten der Bezugsperson feinfühlig, vorhersagbar und angemessen, so entsteht wahrscheinlich ein sicheres Bindungsmuster. Eine sichere Bindung (B) ist unter dieser Perspektive die Folge einer erfolgreichen Gefühlsregulation mit der Bezugsperson. Unsichere Bindungen können weiter in unsicher-vermeidende (A) und unsicher-ambivalente Bindungsmuster (C) unterteilt werden. Später wurde von Main (1991) eine vierte Kategorie, das desorientierte, desorganisierte Verhaltensmuster (D) eingeführt, bei dem es kein durchgängiges Muster im Umgang mit der Bindungsangst gibt. Ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster entsteht häufig, wenn die Bezugsperson zwar vorhersagbar, aber wenig einfühlsam und fürsorglich reagiert; ein unsicher-ambivalentes Bindungsmus© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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ter, wenn die Bezugsperson in ihren Affekten und im Verhalten schwankend und unvorhersehbar reagiert. Eine desorientierte, desorganisierte Bindung entsteht häufig, wenn keine feste Bezugsperson vorhanden ist (z. B. in Kinderheimen) oder die Bezugsperson beim Kind ein Bedrohungsgefühl auslöst und gleichzeitig das Bindungssystem aktiviert wird, weil das Kind Schutz von der Bezugsperson braucht. In dieser paradoxen Situation kann keine Bindungsstrategie entwickelt werden (Köhler, 2002). In Uganda und Baltimore (USA) untersuchte Mary Ainsworth Kinder in der »Fremden Situation« und fand folgende Verteilung der Bindungsmuster (vgl. Allen, 2013): B: sicher gebunden ca. 65 %, C: unsicher-ambivalent 12–15 % A: unsicher-vermeidend 20–25 % D: desorganisiert 5 % Im Vergleich verschiedener Kulturen finden sich jedoch deutliche Unterschiede. Daher kann angenommen werden, dass die Häufigkeitsverteilung gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen unterliegt, z. B. ergaben sich in Norddeutschland 49 % unsicher-vermeidend gebundene Kinder (Vergleich 25 %) und nur 40 % sicher gebundene Kinder (65 %); in einem Kibbuz (Israel) fanden sich 35 % unsicher-ambivalent gebundene Kinder (15 %), in Japan 33 % unsicher-ambivalent gebundene Kinder (15 %). Daher warnen Ainsworth et al. vor raschen Zuschreibungen und Pathologisierungen (vgl. Bischof-Köhler, 2011). Die Stabilität der Ergebnisse aus dem Fremde-Situations-Test wird in den letzten Jahren kontrovers diskutiert. Die Stabilität des Bindungstyps kann über die Vorschulzeit bis in die Adoleszenz nur als moderat bezeichnet werden. Sofern die Ergebnisse stabil waren, sind meist auch die gesamten Lebensumstände gleich geblieben. Gerieten die Mütter dagegen in diesem Zeitabschnitt unter Stress, dann fand nicht selten eine Änderung von einer sicheren zu einer unsicheren Bindung statt. Im Unterschied dazu bewirkte eine Stressreduktion nicht unbedingt, dass aus einer unsicheren eine sichere Bindung wurde. Einige Studienergebnisse sprechen dafür, dass sich die ersten Beziehungserfahrungen nur dann nachhaltig in einem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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inneren Arbeitsmodell niederschlagen, wenn einschlägige Erfahrungen auch in der Folgezeit immer in die gleiche Richtung gehen (Bischof-Köhler, 2011). Die nur geringe Vorhersagekraft scheint einerseits durch unterschiedliche Erhebungsinstrumente2, andererseits durch Veränderungen der Lebensverhältnisse bedingt zu sein. Einige Variablen können eine sichere Bindung in den ersten 2 Lebensjahren in Richtung unsichere beeinflussen, wenn die Bezugspersonen auf kein verlässliches Unterstützungsnetz zurückgreifen können: ȤȤ längere Trennung von der Mutter, ȤȤ Verlust eines Elternteils oder Scheidung, ȤȤ lebensbedrohliche Krankheiten in der Familie, ȤȤ Wiederaufnahme der Berufstätigkeit der Mutter, ȤȤ personeller Wechsel in der Betreuung, ȤȤ Veränderung der gesamten Lebenssituation der Familie (z. B. Umzug). Dabei spielt die Schichtzugehörigkeit eine wichtige Rolle. Die angeführten Variablen wirken sich besonders auf die unteren sozialen Schichten aus, da sie häufig mehr Stressoren ausgesetzt sind und/ oder auf ein schwächeres Unterstützungsnetzwerk zurückgreifen können (Bischof-Köhler 2011, S. 225). Reizbarkeit der Eltern in früher Kindheit scheint das Risiko einer unsicheren Bindung ebenfalls zu erhöhen, wenn die Bezugsperson durch soziale Benachteiligung oder Depression unter besonderem Stress steht, weil sich dann unangemessene Fürsorgemethoden potenzieren (Fonagy, 2003). Umgekehrt kann sich der Bindungstypus im Kleinkindalter auch in positive Richtung ändern. Die ersten 3 Lebensjahre werden dabei als sensible Phase für den Bindungsaufbau angenommen. Die Bindungstheorie betont die Wichtigkeit des tatsächlichen Verhaltens der Umgebung, daraus entstehen innere Arbeitsmodelle des Kindes als nahezu wirklichkeitsgetreue Kopien. Die Entwicklung 2

Ab ca. dem 5. Lebensjahr verliert die Verhaltensbeobachtung an Bedeutung, stattdessen wird versucht, symbolische Repräsentanzen zu erfassen, z. B. durch die Darstellung von Trennungssituationen oder Geschichten-Ergänzungs-Fragestellungen.

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dieser Modelle prägt die Vorstellungen von der eigenen Person, der Bindungsperson und der gemeinsamen Interaktion. Das zentrale Merkmal der inneren Arbeitsmodelle betrifft die erwartete Verfügbarkeit der Bindungsfigur. Ein Kind, dessen Modell darauf ausgerichtet ist, dass es von den Bindungsfiguren Ablehnung erwartet, wird das Arbeitsmodell eines nicht liebenswerten, unwerten und fehlerhaften Selbst entwickeln (Fonagy, 2003). Bindungssicherheit kann als ein Schutzfaktor gegen psychische Erkrankungen wirken (Fonagy, 2003). Am wahrscheinlichsten ist, dass Bindungsprozesse sehr eng mit der Entwicklung spezifischer psychischer Funktionen zusammenhängen, die für die Organisation eines angemessenen Verhaltens entscheidend sind.3 Wenn man unter sicherer Bindung den Erwerb von Regulierungsmechanismen für unerträgliche Erregungszustände versteht, kann man argumentieren, dass das Kind die dazu nötigen Informationen erwerben und adäquat repräsentieren kann, wenn ihm sein eigener Affektzustand exakt, aber nicht überwältigend gespiegelt wird. Unsichere Bindung gilt dann als die Identifikation mit der Abwehr der Betreuungsperson. »Die Nähe zur Bezugsperson wird auf Kosten der Einschränkung der reflexiven Funktion aufrechterhalten« (Fonagy, 2003, S. 176). Kindergartenkinder, die sicher gebunden sind, sind kooperativer, sozial kompetenter in der Interaktion, hilfsbereiter, weniger aggressiv und stressresistenter. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder sind oft eher kontaktscheu, sozial eher distanziert mit Auswirkungen auf die soziale Kompetenz. Sie neigen zu Ungehorsam oder haben Anpassungsprobleme. Sie zeigen häufiger emotionale Überkontrolliertheit, die auch schon bei den Müttern auffiel. Ambivalent gebundene Kinder sind eher ängstlich und widerstrebend. Verhaltensprobleme (Aggression, depressives Verhalten, schulische Schwierigkeiten) treten jedoch in erster Linie dann auf, wenn weitere Risikofaktoren hinzukommen, z. B. Arbeitslosigkeit oder Depressivität der Mutter (Bischof-Köhler, 2011, S. 226). 3 Bindungsverhalten führt zu charakteristischen Veränderungen im Nervensystem. Es gibt Hinweise auf eine erhöhte Cortisolausschüttung und eine verzögerte Rückkehr auf das Grundniveau bei Personen, die desorganisiert gebunden sind (Fonagy, 2003, S. 56).

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Am deutlichsten und stabilsten weisen die Forschungsergebnisse auf einen Zusammenhang zwischen desorganisierter Bindung und psychischen Problemen oder Verhaltensauffälligkeiten hin. Von aggressiven Vorschulkindern waren 71 % im Alter von 18 Monaten als desorganisiert (D) klassifiziert worden, ein ähnliches Risiko besteht in Bezug auf Externalisierung. 60 % der desorganisiert gebundenen Kinder zeigten erhöhte Aggression im Vergleich zu 30 % der Unsicherheitsklassifikationen und 17 % bei sicher gebundenen Kindern. Desorganisierte Kinder sind in der Spielqualität und Konfliktlösung weniger kompetent (Fonagy, 2003). Folgende klinische Probleme stehen häufig im Zusammenhang mit desorganisierter Bindung: kindliche Aggressivität, Dissoziation und Gewalt in Beziehungen sowie kontrollierendes Verhalten. Desorganisierte Bindung gilt als allgemeiner Risikofaktor für fehlangepasstes Verhalten und zeigt den engsten Zusammenhang zwischen Bindungserfahrungen und Persönlichkeitsstörungen. Ebenfalls besteht ein starker Zusammenhang zwischen der Dauer einer Deprivation einerseits und Bindungsstörungen, Störungen in Peer-Beziehungen, Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität sowie Kognitionsvermögen andererseits (Rutter, 2006). Eine Erklärung für auffälliges Verhalten bei unsicheren Bindungsmustern oder desorganisiertem Bindungsverhalten liefert Fonagy (2003) mit Bezug auf Lyons-Ruth, Bronfman und Atwood (1999). Desorganisation des Bindungsverhaltens ist sowohl abhängig von der Intensität angsterzeugender Erfahrung als auch von der Sicherheit, die das jeweilige Bindungsmuster hergibt. Lyons-Ruth et al. sehen also die Schwere des Traumas und die Qualität der Bindungsbeziehung zusammen. Hiernach bieten unsichere, aber organisierte Bindungsbeziehungen angemessenen Schutz, solange die traumatische Intensität nicht überwältigend ist. Je unsicherer die grundlegende Bindung, desto schwieriger wird die Verarbeitung stressvoller Erfahrungen. Auffällige Kinder sind nach diesem Modell bereits bei leichten Irritationen extrem gestresst und verfügen über keine oder unzureichende Bewältigungsmöglichkeiten. Jedoch lässt es sich retrospektiv kaum sagen, ob ein Trauma die Bindungssicherheit vorher zur Desorganisierung hin verändert hat oder ob von Beginn an eine unsichere bzw. desorganisierte Bindung da war. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Kritik an der Bindungstheorie Bowlbys Erkenntnisse (1969, 1973) zum Bindungsverhalten wurden von Anna Freud und führenden Psychoanalytikern als naiver Realismus heftig kritisiert, als behavioristisch diffamiert und schließlich links liegen gelassen. Erst ab Mitte der 1980er Jahre wurde die Nähe zur Objektbeziehungstheorie erkannt und Bowlby in psychoanalytischen Kreisen rezipiert. Die psychoanalytische Kritik an der Bindungsforschung – die Bedeutung des Unbewussten oder der Phantasien werde nicht anerkannt – wird auch heute noch aufrechterhalten (Fonagy u. Target, 2006). Bowlby konzeptualisierte innere Arbeitsmodelle als »wahrheitsgemäße« Abbilder realer Verhaltensweisen oder realer Interaktionen mit der Pflegeperson. Nicht beobachtbare Triebmotive oder Phantasien des Kindes können jedoch dazu führen, dass es die Verhaltensweisen der Bezugspersonen verzerrt wahrnimmt oder interpretiert. Durch individuelle Unterschiede in Konstitution und Temperament scheint es unausweichlich, dass unterschiedliche Kinder (z. B. Geschwister) das Verhalten der Bezugsperson auf jeweils individuelle Weise wahrnehmen (Fonagy, 2003). Auch die Befundlage zur Stabilität des Bindungsmusters ist nicht eindeutig und wird kontrovers diskutiert. Die Messung der mütterlichen Feinfühligkeit alleine hatte die Entstehung einer sicheren Bindung beim Kind nicht zufriedenstellend vorhersagen können. Die Bindungssicherheit entsteht offensichtlich nicht allein durch prompte Feinfühligkeit, sondern viel eher durch die Fähigkeit der Mutter, anhand der mimischen und vokalen Äußerungen die darin zum Ausdruck kommenden Intentionen und Gefühle des Kindes zu verstehen und zu verbalisieren. Noch wichtiger als mütterliche Feinfühligkeit erscheinen deshalb Mentalisierung und reflexive Kompetenz der Eltern (Mertens, 2012). Weitere Kritik richtet sich gegen die starke Betonung der mütterlichen Betreuungsrolle. Ein dyadisches Interaktionsmodell als Urform vernachlässige die Bedeutung des Vaters, der Geschwister, Großeltern und Verwandten in der Entwicklung verschiedener innerer Arbeitsmodelle. Schließlich wird die deterministische Sicht der Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung als Grundmuster für alle weiteren Beziehungen kritisiert (Bischof-Köhler, 2011). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Eine Überarbeitung der Bindungstheorie, wie sie Fonagy, Target und Kollegen unternahmen, führt zu komplexeren Annahmen über die Entwicklung des Selbst und der inneren Repräsentanzen, schließt Phantasien, Motive und Emotionen explizit mit ein und nähert sich so den klinischen psychoanalytischen Konzepten. Unter dem Blickwinkel des Mentalisierungskonzeptes wird Bindung nicht nur als angeborenes Verhaltenssystem betrachtet, sondern dient als Rahmen der Herausbildung eines inneren Repräsentationssystems, welches für die Entwicklung des Selbst, für die Regulierung von Affekten und für das Gelingen von sozialen Beziehungen wesentlich ist (Taubner, 2008b, S. 93). Fonagy (2006) spricht von »interpersonalen Interpretationsfunktionen« (IIF) anstatt von inneren Arbeitsmodellen und meint nicht nur Gedächtnisspuren der realen Beziehungserfahrungen, sondern ebenso psychische Funktionen, die neue interpersonale Erfahrungen verarbeiten und interpretieren. Von der Fähigkeit der Mutter zur Selbstreflexion hängt es ab, ob sich das Kind als Person mit Absichten, Gefühlen und Wünschen erleben kann. Diese Fähigkeit wird durch elterliche Phantasien, bezogen auf das Kind, oder durch Belastungen und Stress beeinflusst. Ärger, Sorgen (z. B. Partnerschaftsprobleme, prekäre Lebenslagen) stellen eine Art Filter dar, der die Wahrnehmung und Interpretation kindlicher Signale verzerrt. Die Kompetenz zur Selbstreflexion wirkt als resilienter Faktor und verhindert die intergenerationelle Weitergabe von unsicherer Bindung, z. B. durch die Art und Häufigkeit der Erwähnung innerer Befindlichkeiten (Mertens, 2012).

Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit »Kinder bis etwa 3 Jahre sind naive Realisten, sie halten die Weise, wie die Welt ihnen erscheint, unhinterfragt für wahr und für alle zugänglich, sie verstehen noch nicht, dass ihre Überzeugungen zu Sachverhalten nur Annahmen sind, die den realen Tatbestand treffen oder auch verfehlen können« (Bischof-Köhler, 2011, S. 330).

Ein Verständnis der Zusammenhänge zwischen innerer und äußerer Realität ist nicht von Beginn an vorhanden, sondern eine Entwicklungsleistung und das Ergebnis einer erfolgreichen Integra© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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tion zweier verschiedener Arten zwischen Innen und Außen zu unterscheiden. Die psychische Entwicklung bewegt sich von einer Erfahrung, in der mentale Zustände nicht als Repräsentationen abgebildet sind, hin zu einer zunehmend komplexeren Sicht der inneren Welt, die durch die Fähigkeit gekennzeichnet ist, Gedanken, Gefühle im anderen und in der eigenen Person vorauszusetzen und zu erkennen, dass eine (wenn auch lose) Verbindung zwischen diesen und der Außenwelt besteht (Fonagy, 2003). Alle für das Mentalisieren notwendigen Entwicklungen spielen sich nicht entlang einer kognitiven Reifungslogik ab, sondern im Kontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Die normale Entwicklung verläuft von der Fraktionierung zur Integration und von einfachen zu komplexeren, differenzierteren Kontrollsystemen. Mit der Integration wird die wachsende Fähigkeit erworben, verschiedene Perspektiven zu den menschlichen Erfahrungen einzunehmen. Auch die Einschränkung der Mentalisierung gilt als eine Entwicklungsleistung, insofern das Individuum aktiv die Trennung von Kontexten aufrechterhält, die normalerweise nach Integration streben (Fonagy u. Target, 2006). Das Emotionserleben gilt als Ursprung, aus dem schließlich Mentalisierung erwachsen kann. Ausgehend von der Hypothese, dass Säuglinge zwar über Emotionsausdrücke, aber nicht über ein differenziertes Bewusstsein oder Erleben der emotionalen Zustände verfügen, wird der frühen Affektspiegelung eine zentrale Rolle zugeschrieben. Eltern reagieren auf den Affektausdruck des Säuglings (z. B. Angst), sie spiegeln und markieren dessen Emotionsausdruck als übertrieben und als eine Mischung aus verschiedenen Affekten, dies ermöglicht dem Säugling einerseits zu erkennen, dass die Mutter auf seinen Ausdruck reagiert und es nicht der Ausdruck der Mutter ist, und entschärft andererseits die Angst des Kindes. Später wird das primäre Gefühl (z. B. Angst) zusammen mit der Reaktion der Bezugsperson als Gedächtnisspur bzw. als Repräsentanz (Vorstellung) aufbewahrt. Die Spiegelung und Markierung der Affekte des Kindes durch seine primären Bezugspersonen fördert die sich entwickelnde Fähigkeit des Kindes, seine emotionalen Zustände selbst zu regulieren. Das markierte Spiegeln vermittelt dem Säugling ein Gefühl von Urheberschaft und Kontrolle. Die Unterscheidung von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Selbst und Nicht-Selbst kann entwickelt werden und die Symbolisierungsfähigkeit wird gefördert4 (Fonagy u. Target, 2002). Ab dem neunten Lebensmonat beginnen Kinder menschliches Handeln im zielgerichteten, dem »teleologischen Modus« zu verstehen. Das Kind kann Aktionen nach ihrem Ergebnis unterscheiden und eine Urheberschaft wahrnehmen. Es hat aber noch keine Vorstellung von den Motiven und Wünschen des Gegenübers. Fonagy (1995) beschreibt 2 verschiedene Modi, wie das Kind ab ca. eineinhalb Jahren sich und die Welt wahrnimmt, sowie einen Wechsel zwischen den Modi: dem »psychischem Äquivalenzmodus« und dem »Als-ob-Modus«. Die Reaktionen und Kommentare der Eltern auf die Gedanken- und Spielwelt des Kindes haben dabei ähnliche Bedeutung wie die elterliche Affektspiegelung. Im psychischen Äquivalenzmodus erlebt das Kleinkind die innere Welt mit der äußeren Welt gleich (äquivalent). Eigene Gedanken werden als real und mit den Gedanken anderer identisch wahrgenommen. Eine Trennung von Selbst und Objekt, von Phantasie und Realität hat noch nicht stattgefunden. Unterschiedliche Perspektiven können noch nicht entwickelt werden. Alles ist konkret. Aus erwachsener Sicht erscheint dies als konkretistisch. Das Kind kann noch nicht verstehen, dass Denken und Wünschen Abbilder und Interpretationen der Umwelt sind, nicht die Realität selbst. Eigene Affekte oder Phantasien, die nur in der Vorstellung existieren, bekommen Auswirkungen in der Realität zugeschrieben und werden als furchteinflößend erlebt; magisches, abergläubisches und esoterisches Denken finden im kindlichen Äquivalenzmodus ihren Ausgangspunkt (Mertens, 2012). Im günstigen Fall nehmen Eltern die Wahrnehmung des Kindes ernst, stellen aber eine andere Perspektive zur Verfügung und sind nicht geängstigt. Im Als-ob-Modus, dem Modus des Spiels und der Imagination, wird die Gleichsetzung von innerer und äußerer Welt gründlich entkoppelt (d. h. dissoziiert). Dies ermöglicht Kontrolle und Modifikation. Die physische Welt ist eine eigene Welt, und die imaginierte Welt (z. B. im Spiel) ist eine eigene Realität. Das Kind kann sein 4 Die Affektspiegelung als soziales Feedback weist eine große Übereinstimmung mit Bions Modell der mütterlichen »Container«-Funktion auf (Bion, 1962).

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Erleben noch nicht als einen mentalen Zustand begreifen. Deshalb bleiben die Phantasien von der äußeren Welt abgeschnitten. Hierdurch sind die in der phantasierten Welt auftretenden Gedanken, Wünsche und Handlungen auch gänzlich ungefährlich. Normalerweise werden destruktive Phantasien und Wünsche im Spiel durchgearbeitet, wobei das Kind dazu einen mitspielenden Erwachsenen oder ein älteres Kind an seiner Seite braucht, die ihm verdeutlichen, dass eine Idee nur eine Idee ist, die sich nicht direkt auf die Realität auswirkt. Das Spiel stellt somit im Kleinkindalter eine Fortführung der frühen Affektspiegelung zwischen Bezugspersonen und Säugling dar. Im Tagtraum und in der Phantasie existiert der Als-ob-Modus im Erwachsenenalter weiter. Die Erfahrungen mit den Bezugspersonen organisieren und vermitteln zwischen den Modi psychischen Funktionierens, sodass das Kind nach und nach seine im Spiel bestehende mentalisierende Haltung beibehalten kann (Taubner, 2008a). Der Umgang der Eltern mit den Ängsten und Überzeugungen des Kindes fördert oder hemmt die Mentalisierungsfähigkeit. Eltern, die ihrem Kind immer wieder deutlich machen, dass die Wirklichkeit doch anders ist als die innere Vorstellung, die sprachlich die Spiele ihrer Kinder begleiten oder beenden, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass die Affekte mit ihrem Kind durchzugehen drohen, fördern die Mentalisierungsfähigkeit des Kindes. Kommentare zu den Spielhandlungen sind implizite Kommentare zu den im Spiel dargestellten externalisierten Selbstzuständen. Die Kommentare werden verinnerlicht und Teil des Selbstbildes (Dornes, 2004). Im Laufe der Entwicklung des Kindes werden Äquivalenzmodus und Als-ob-Modus zunächst abwechselnd genutzt, um im 4. bis 5. Lebensjahr zum »reflexiven Modus« integriert zu werden. Das Kind erforscht, was die Handlungen anderer bedeuten. Darauf aufbauend kann es lernen, eigene psychische Erfahrungen zu bestimmen und als sinnvoll zu erkennen (Fonagy, 2003). Erst der reflexive Modus erlaubt, mit der Realität zu spielen. Erst durch die Verknüpfung primärer Emotionen mit sekundären Repräsentanzen gelingt die Entwicklung introspektiv ausgerichteter Aufmerksamkeitsprozesse (Mertens, 2012). Etwa im 4. Lebensjahr kann das Kind falsche Überzeugungen erkennen und besteht dann den »Test der falschen Über© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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zeugung« (Perner, Leekham u. Wimmer, 1987; zit. n. Dornes, 2004): Maxi bekommt eine bunte »Smarties-Schachtel« gezeigt. Sie wird gefragt: »Was glaubst du, was ist wohl in der Schachtel?« Maxi antwortet plausibel: »Smarties!« Die Schachtel wird geöffnet, aber es sind Buntstifte darin. Anschließend wird Maxi gefragt: »Draußen wartet dein Freund Peter. Wenn wir ihn hereinholen, ihm die geschlossene ›Smarties-Schachtel‹ zeigen und ihn fragen: ›Was ist in der Schachtel?‹ – Was meinst du, was wird Peter antworten?« Dreijährige Kinder antworten »Bleistifte«, vierjährige antworten »Smarties«. Dreijährige können sich nicht vorstellen, dass das andere Kind draußen nicht dasselbe Wissen hat wie es selbst: Das Kind kann sich nicht vorstellen, dass das andere Kind eine falsche Überzeugung hat. Kinder ab dem 4. Lebensjahr sind in der Lage, bei ihren Überlegungen zu bedenken, dass die innere Überzeugung nicht mit der Realität übereinstimmen muss. Sie können bereits die Perspektive des anderen übernehmen. In diesem Alter wird die Realitätsprüfung etabliert, d. h. die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Wahrheit. Zur gleichen Zeit werden auch Perspektivenübernahme, logisches Verständnis, Täuschung und Lügen möglich; das Lügen geschieht vorher eher aus Angst vor Strafe, nicht als Täuschungswunsch (Bischof-Köhler, 2011). Die Reflexionsfähigkeit ab dem 4. Lebensjahr wird möglich, weil das Kind die Erfahrung machen konnte, dass seine psychischen Zustände reflektiert werden. Wie das Kind seine eigenen psychischen Zustände und die innere Verfasstheit anderer Menschen wahrnimmt, wird durch seine Beobachtung der psychischen Welt seiner Bezugsperson bestimmt. So entsteht Mentalisierung inhärent intersubjektiv. Der Logik dieses Konzeptes liegt die gemeinsame Erfahrung zugrunde (Fonagy u. Target, 2006). Die Objektrepräsentanz des Vaters als triangulierende Person gilt als weiterer wesentlicher Katalysator von Mentalisierungsprozessen. Das erfolgreiche Durcharbeiten der ödipalen Situation begründet die Öffnung des Denkens für einen triangulären Raum, welcher durch das Spielen mit der Realität entstehen kann. Wenn ungünstige Beziehungserfahrungen und innerpsychische Konflikte jedoch die kindliche Psyche überfordern, verharrt das Kind in Teilbereichen seines psychischen Erlebens aufgrund der damit einhergehenden Abwehrprozesse im © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Modus der psychischen Äquivalenz (Taubner, 2008b). Solche Kinder fallen oft auf durch ihre Phantasiearmut und Unfähigkeit zum Spielen. Eine altersabhängige kontinuierliche Verbesserung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ist bis ins frühe Erwachsenenalter messbar. Damit ist die Fähigkeit gemeint, sich von der eigenen egozentrischen Perspektive zugunsten einer Perspektivenübernahme des Gegenübers zu entfernen. Fonagy, Gergely, Jurist und Target (2004) betrachten die adoleszente Entwicklung unter dem Aspekt der Herausbildung der Mentalisierungsfähigkeit. Für die Autoren sind adoleszente Zusammenbrüche keine Folge eines normalen inneren Aufruhrs oder Triebdurchbruchs in dieser Lebensphase, sondern die Folge früherer Entwicklungsstörungen, die bislang verborgen blieben. In der Adoleszenz komme es zu einer Reaktivierung früherer Konflikte, und traumatische Belastungen aus der Kindheit würden handelnd in Szene gesetzt. Neuere Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, dass es in der Adoleszenz zu grundlegenden Veränderungen in der Organisation von neuronalen Netzwerken (Abbau synaptischer Kontakte, Zunahme kortiko-kortikaler Verbindungen) in den Neurotransmitter-Systemen und einem erst herabgesetzten, dann zunehmenden Einfluss des präfrontalen Kortex kommt. Adoleszente haben eine erhöhte Aktivität subkortikaler Strukturen, die sie sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen unterscheidet. Solche Übergänge sind häufig mit einer Destabilisierung verbunden, dies entspricht der Erfahrung der Adoleszenz als Krise (Uhlhaas u. Konrad, 2011). Eine frühe Reifung subkortikaler Areale (limbisches System) und eine verzögerte Reifung präfrontaler Kontrollareale (PFC, zuständig für Planung von Verhalten, Emotionssteuerung) führen zu einem spezifischen Ungleichgewicht, da das weiter gereifte limbische System zunächst die Oberhand über das noch nicht ausgereifte Kontrollsystem gewinnt. Dies erklärt das erhöhte Risikoverhalten in der frühen und mittleren Adoleszenz (Konrad, 2011). Die Phasen des Übergangs erscheinen außerdem konflikthaft, wenn die alten Bindungen gelöst werden, die neuen Beziehungsmuster jedoch noch nicht etabliert sind. Besonders schwierig ist die Bewältigung des Übergangs von kindlichen (asymmetrischen) zu erwachsenen (eher symmetrischen) Beziehungen für diejenigen, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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die aufgrund von Bindungsstörungen über keine sicheren inneren Arbeitsmodelle verfügen. Aus Sicht der Mentalisierungstheorie stehen die Bedeutungszuschreibungen und mentalen Reifungsprozesse im Vordergrund. Dabei spielen 2 Aspekte eine herausragende Rolle. Erstens: Formale Denkoperationen ermöglichen eine neue kognitive Komplexität. Ab ca. dem 12. Lebensjahr entsteht die Fähigkeit zu abstraktem Denken (J. Piaget: Formaloperationales Stadium). Die kognitive Reifung ermöglicht abstrakte Ideen, Ideale und Theorien zu entwickeln, ebenso die Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden. Hypothesen, Schlussfolgerungen und kreatives Denken ermöglichen es, sich von Emotionen zu distanzieren. Damit wird die Fähigkeit erworben, einen gedanklichen Eigenbereich von der Umwelt abzugrenzen, die alten Bindungsmuster werden durch die Verselbstständigung der Gedankenwelt überarbeitet. Das Selbstgefühl in dieser Phase schwankt zwischen narzisstischen Größenphantasien und Ohnmachtsgefühlen und ist ausgesprochen abhängig von der Anerkennung durch andere in der Peergroup. Das Erreichen einer »adoleszenten Position« (Hohage, 2001) in der späten Adoleszenz bedeutet ein Bestreben, Festlegungen durch Erfahrungen, Konventionen und Normen auf dem Weg der Reflexion zu überwinden. Der zweite wichtige Entwicklungsaspekt der Adoleszenz wird als Drang nach Separation von den äußeren und den innerlich repräsentierten Eltern gesehen. Eine weitere Herausforderung an die Identität in der Adoleszenz besteht jedoch in der Akzeptanz von Ähnlichkeit. Loslösung im eigentlichen Sinn bedeutet die Fähigkeit, Unterschiedlichkeit und Ähnlichkeit anzuerkennen, und paradoxerweise ist das wahre Kennzeichen von Autonomie eher die Ähnlichkeit als die Unterschiedlichkeit. Der Jugendliche, der sich seines Gefühls für Verbundenheit und Ähnlichkeit mit der Betreuungsperson sicher ist, kann die physische Getrenntheit tolerieren. Der Adoleszente hingegen, der Teile seines Selbst projiziert5 hat, hat das 5 Durch chronisch unsensible oder fehlabgestimmte Betreuungsstile wird das Kind gezwungen, die Haltung der Bezugsperson als einen Kernbestandteil seines Selbst zu internalisieren. Später versucht das Kind dieses »fremde Selbst« zu externalisieren. Das fremde Selbst kann einen derart verfolgen-

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Gefühl, seine Identität zu verlieren, sobald er von der Bezugsperson getrennt ist. So kann man einen übertriebenen Anspruch, anders zu sein, als defensive Reaktion auf das Streben nach Separation verstehen, mit der die Rückkehr der projizierten Selbstanteile droht (Fonagy et al., 2004). Der Verlauf der Adoleszenz hängt nicht nur von der Reflexionsfähigkeit ab, sondern auch von der Fähigkeit der Umgebung, die durch neurobiologische Veränderungen und Triebentwicklung geschwächte Mentalisierungsfunktion zu unterstützen (Konrad, 2011).

Wie macht sich gelingendes Mentalisieren bemerkbar? Eine mentalisierende Person wird von den Gefühlen und Gedanken anderer Personen nicht überwältigt, da sie weiß, dass die Reaktionen der anderen in einem gewissen Ausmaß vorhersehbar sind und sie getrennt von ihnen besteht. Sie weiß, dass die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen andere beeinflussen und umgekehrt. Interessierte Offenheit und eine Haltung des Nicht-Wissens kennzeichnen ebenso gelingende Mentalisierung, d. h., jemand ist an den Gedanken und Gefühlen der anderen interessiert und respektiert deren Perspektiven. Er ist sich bewusst, dass das eigene Verständnis mithilfe der anderen erweitert und bereichert werden kann. Perspektivenübernahme, ebenfalls ein Zeichen einer mentalisierenden Haltung, ist gekennzeichnet durch die Annahme, dass ein Phänomen oder ein Prozess von verschiedenen Personen unterschiedlich gesehen werden kann und dass dies von den jeweils eigenen Erfahrungen abhängt (Asen u. Fonagy, 2012). Gelingendes Mentalisieren vermitden Charakter annehmen, dass ein unaufhörlicher Druck entsteht, es nach außen zu projizieren. Die größere Getrenntheit von den Bezugspersonen in der Adoleszenz bedeutet, dass das fremde Selbst nicht mehr in der alltäglichen Begegnung externalisiert werden kann, daher müssen die Inszenierungen und Manipulationen, die notwendig sind, um das fremde Selbst zu projizieren, mit zunehmender Separation dramatischer werden. Solange der Heranwachsende keinen Partner findet, mit dem er erneut eine sehr enge Beziehung herstellen kann, setzt das Fehlen von Externalisierungsmöglichkeiten den Adoleszenten, der das fremde Selbst nicht zu integrieren vermag, unter einen enormen Druck.

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telt Sinn und Bedeutung in Beziehungen, es ermöglicht Nähe, Verstandenwerden und liebevollen Humor. Die Gedanken und Gefühle der anderen werden berücksichtigt und respektiert und es ermöglicht Verständnis dafür, dass Verhalten von einer Person ausgeht, motiviert ist und nicht etwas ist, was einem geschieht (Fearon et al., 2006). Die Art der Interaktionen mit Familienmitgliedern (einschließlich Geschwistern) und Gleichaltrigen, die Fähigkeit der Eltern, mit ihren Kindern über Gefühle zu sprechen, und deren Konfliktverhandlungen haben Einfluss auf die Mentalisierungsfähigkeit (Fonagy, 2006). Mentalisierung gilt als eine Fähigkeit, die uns oft dann fehlt, wenn wir sie am meisten brauchen (bei Müdigkeit, Zeitnot, Schmerzen oder vielfachen äußeren Belastungen). Des Weiteren können Bindungsstörungen, Stress, Misshandlung, Missbrauch, traumatische Ereignisse und psychische Störungen die Mentalisierungsfähigkeit beeinträchtigen (Haslam-Hopwood et al., 2009). Ebenso beeinflusst die Mentalisierungsfähigkeit des Gegenübers die eigene Mentalisierungsfähigkeit, sie kann also nicht nur personenabhängig, sondern auch innerhalb einer Beziehung schwanken (Luyten, Fonagy, Lowyck u. Vermote, 2012).

Wie entstehen Störungen der Mentalisierungsfähigkeit? Sicher gebundene Kinder zeigen eine bessere Mentalisierungsfähigkeit (Fonagy, 2006; Gabbard, Miller u. Martinez, 2008). Auch wenn unsicher gebundene Kinder nicht grundsätzlich Mentalisierungsdefizite haben, zeigen sie doch häufig weniger gut angepasste innere Arbeitsmodelle für die Einschätzung komplexer sozialer Situationen (Grossmann u. Grossmann, 2002). Mit Videoaufzeichnungen von Alltagsszenen dokumentierte und mit den Eltern gemeinsam besprochene Aufnahmen zeigen einen signifikanten Zusammenhang zwischen mütterlichem, reflexiven Empathievermögen und dem kindlichen Bindungsmuster, in dem Sinne, dass positiv-, reflexivempathische Mütter am ehesten sicher gebundene Kinder haben und dass nicht reflexiv-empathische Mütter eher unsicher gebundene Kinder haben (Quitmann, Romer u. Ramsauer, 2010). Mütter aus einer sozial benachteiligten, relativ stressbelasteten Gruppe, die durch alleinerziehende Elternschaft, elterliche Krimi© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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nalität, Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse oder psychische Erkrankungen gekennzeichnet sind, haben eher sicher gebundene Kinder, wenn sie über eine größere Reflexionsfähigkeit verfügten (Fonagy, 2003). Ebenso haben Mütter, die im Erwachsenenbindungsinterview (Adult Attachment Interview, Main u. Goldwyn, 1996) besseren Zugang zur eigenen inneren Welt haben, mit höherer Wahrscheinlichkeit sicher gebundene Kinder. Eine Verbesserung der mütterlichen reflexiven Empathie durch therapeutische Interventionen mit den Eltern geht mit der Abnahme von Verhaltensauffälligkeiten beim Kind einher (Quitmann et al., 2010). Eine reflexiv-feinfühlige Mutter ist fähig, die Welt aus Sicht ihres Kindes wahrzunehmen. Diese Fähigkeit wird durch elterliche Repräsentanzen, bezogen auf das Kind, beeinflusst. Ärger, Sorgen (z. B. Partnerschaftsprobleme, prekäre Lebenslagen) u. v. m. stellen eine Art Filter dar, die die Wahrnehmung und Interpretation kindlicher Signale verzerren. Unverarbeitete Konflikte der Mutter können deren Repräsentanzen bezogen auf das Kind verzerren, sie ist damit nur eingeschränkt in der Lage, die kindlichen Motive und Gefühle hinter dem Verhalten des Kindes zu erkennen. Negative Zuschreibungen der Mutter (z. B. »das Kind will sie nur ärgern«) führen zu unsensiblem Elternverhalten, das wiederum das kindliche Verhalten negativ beeinflusst. Setzt sich dieser Kreislauf immer weiter fort, können sich die negativen mütterlichen Attributionen bewahrheiten, da das Kind die verzerrten Attributionen übernimmt (Quitmann et al., 2010). Vermutlich ist es wesentlich schwieriger, ein Kind zu kontrollieren, dass aufgrund seiner unsicheren Bindung an seine Betreuungsperson den Liebesverlust nicht so fürchtet wie ein sicher gebundenes Kind. Unsicher verstrickt gebundene Eltern erkennen die Gefühle ihres Kindes zwar korrekt, aber sie können nicht angemessen damit umgehen, weil sie sich zu schnell von den zumeist negativen Affekten anstecken lassen, sie spiegeln die Affekte des Kindes zu realistisch. Das Kind erfährt dann seine psychologischen Erregungszustände überwiegend im Außen, z. B. in seiner Mutter, die sich von den negativen Affekten überwältigt fühlt, dies erschwert dem Kind die Überwindung des Äquivalenzmodus. Es verführt in der weiteren Entwicklung zu einer projektiven Identifizierung, bei der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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psychische Zustände automatisch im Gegenüber wahrgenommen werden. Unsicher-distanziert gebundene Eltern können mit den kindlichen Affektausdrücken durchaus kongruent umgehen, aber sie distanzieren sich zu schnell von der Intensität des geäußerten Affekts, versuchen sachlich und rational damit umzugehen, indem sie z. B. ihrem Kind Vorschläge machen, was zu tun ist. Die Ratschläge lassen dann mitunter eine erschreckende Gefühlsarmut erkennen (Mertens, 2012). In unsicher-ambivalenten und desorganisierten Bindungen ist das Bindungssystem permanent aktiviert, und es wird die Nähe zur Bezugsperson auf Kosten der Reflexionsfähigkeit aufrechterhalten. Das Kind passt sich der Welt der Bezugsperson an und übernimmt fremde Anteile als Teil seiner inneren Welt. Wenn die Affektspiegelung z. B. unangemessen markiert ist, werden das eigene Erleben (primäre Repräsentanz) und die Spiegelung (sekundäre Repräsentanz) falsch verknüpft. In diesem Fall repräsentieren sich im Selbst des Kindes die Haltung und Botschaften der Bezugsperson. Ein »fremdes Selbst« entwickelt sich, wenn eine Mutter extrem unsensibel und fehlabgestimmt reagiert. Dann bleibt dem Kind nur die Möglichkeit, den mentalen Zustand der Mutter in sein eigenes Selbst zu übernehmen, von dem es später verzweifelt versucht, sich durch Externalisierung zu befreien (Fonagy u. Target, 2006). Menschen mit einem »fremden Selbst« berichten über Gefühle von innerer Leere und unerträglicher Missstimmung. In diesen Notlagen werden die eigenen Gefühle in die äußere Welt projiziert. Dies wird nicht nur ausgelöst von Konflikten oder Schuldgefühlen, sondern auch aus unerträglichen inneren Spannungen und dem Bedürfnis, eine Kongruenz im Selbsterleben aufrechtzuerhalten (Brockmann u. Kirsch, 2010).

Mentalisierung als mehrdimensionales Konstrukt In neueren Arbeiten (Luyten et al., 2012) wird vorgeschlagen, die Mentalisierungsfähigkeit mehrdimensional zu erfassen. Dabei werden Zusammenhänge zwischen Mentalisierung, Stress und Aktivierung von Bindungsstrategien differenziert. Ein individuelles Men© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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talisierungsprofil ergibt sich aus den folgenden Aspekten (Luyten et al., 2012): ȤȤ die Beziehungsdimension, inklusive der aktuellen Beziehungspersonen, der Bindungsgeschichte und dem Gebrauch sicherer versus hyperaktivierender und deaktivierender Strategien; ȤȤ die Fähigkeit trotz Stress und intensiven Emotionen die Mentalisierung aufrechtzuerhalten oder dorthin zurückzukehren; ȤȤ die Mentalisierungsfähigkeit allgemein, über verschiedene Kontexte und Beziehungen hinweg, sowie die Qualität und Richtung der Mentalisierung bzw. Vorkommen und Art prämentalisierender Modi. Die Mentalisierungsfähigkeit hängt eng mit dem Beziehungskontext zusammen, in welchem sich die Mentalisierungsstörung manifestiert. Mentalisierung ist genauso eine interpersonale Fähigkeit, wie sie eine intrapsychische ist. Die Qualität der Mentalisierung in der Berater-/ Klienten-Dyade ist bidirektional, die Mentalisierungsfähigkeit der Beraterin bestimmt die Mentalisierungsfähigkeit der Klientin und umgekehrt. »[…] mentalization is as much an interpersonal capacity as it is an intrapersonal one« (Luyten et al., 2012, S. 52). Besonders wenn Klienten ihre Gefühle erkunden oder ihre Lebensgeschichte erzählen, können unangenehme Affekte auftauchen. Traumata oder unsichere innere Bindungsrepräsentationen können das Bindungssystem aktivieren und die Mentalisierungsfähigkeit beeinflussen. Folgende Merkmale geben Hinweise auf Bewältigungsstrategien, die angewandt werden, wenn das Bindungssystem aktiviert wird. »Broaden and build«-Cycles – Menschen mit später erworbenem sicherem Bindungsmuster (»earned secure«), die in der Literatur als resilient beschrieben werden, gelingt es häufig, bessere Beziehungsumgebungen aufzusuchen (broaden) und dadurch ihre Sicherheit, Selbstwirksamkeit und Affektregulierung (build) zu stärken. Menschen mit unsicheren Bindungsmustern unterscheiden sich in der Art, wie sie mit einer Aktivierung des Bindungssystems umgehen. Solche mit unsicher-ambivalentem Muster zeigen häufig hyperaktivierende Strategien, also ein eher klammerndes Verhalten in Beziehungen mit forderndem Verhalten und der Gefahr der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Selbst-andere-Konfusion. Menschen mit unsicher-vermeidendem Bindungsmuster zeigen eher deaktivierende Strategien mit Distanzierung und der Betonung von Autonomie bei Stress. Automatisches (implizites/schnelles) und kontrolliertes Mentalisieren (explizit/langsam, verbal, reflektierend) finden in unterschiedlichen Hirnregionen statt (siehe Abbildung 1, System A und System B). Im Alltag erfolgt Mentalisierung hauptsächlich automatisch (implizit), solange die Dinge geschmeidig ablaufen; das Hypermentalisieren ist hier eher hinderlich. Für eine gelungene Anpassung ist Flexibilität wichtig, schnelles Umschalten auf kontrollierte (explizite) Mentalisierung erfolgt dabei erst, wenn dies notwendig wird. Probleme entstehen, wenn Mentalisierung ausschließlich auf automatische Weise geschieht oder diese verzerrt oder zu einfach ist. Mit zunehmender emotionaler Intensität (Arousal) werden unterschiedliche Hirnregionen aktiviert. Bei geringer bis mittlerer Erregung werden überwiegend Aktivitäten in präfrontalen Hirnregionen zur Problemlösung eingesetzt (System A) – dies steht in Verbindung mit reflexiven kognitiven Leistungen und dient der Verhaltenskontrolle –, während bei intensivem Stress eher der posteriore Cortex und subkortikale Hirnregionen (limbisches System) aktiviert werden (System B). Dies führt zur Abnahme reflexiver Fähigkeiten und zur Zunahme automatisierter Kampf- und Fluchtreaktionen. ȤȤ Bei Individuen mit traumatischen Erfahrungen (und bei Adoleszenten) ist der Umschaltpunkt zwischen reflexiven und automatisierten, subkortikalen Problemlösefähigkeiten nach links verschoben (Punkt 2), d. h., schon bei einem mittleren Arousal verringert sich die Fähigkeit zu reflektieren und automatisierte Kampf- und Fluchtreaktionen (nichtmentalisierende Modi) werden eingesetzt (Mayes, 2000). ȤȤ Sicher gebundene Menschen schalten erst bei hohem emotionalen Arousal um in den automatischen Modus und können rasch wieder kontrolliert mentalisieren. ȤȤ Bei Menschen mit hyperaktivierenden Strategien wird das Bindungssystem früh aktiviert, der Umschaltpunkt ist niedrig und die Rückkehr in den kontrollierten Modus langsam. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Mentalisieren → Kampf/Flucht

Veränderung des Umschaltpunktes

Punkt 2 System A präfrontale Leistung z. B. Mentalisieren

gering

Punkt 1

System B Posteriore Cortex und subcorticale Leistungen z. B. Kampf/Flucht

Arousal

hoch

Abbildung 1: Mentalisierung in Abhängigkeit von emotionaler Erregung (modifiziert nach Mayes, 2000, vgl. Luyten et al., 2012, S. 45; SchultzVenrath, 2013, S. 308)

ȤȤ Menschen mit bindungsdeaktivierenden Strategien erscheinen oft zu gelassen für die Situation, sie bleiben lange emotional distanziert und kognitiv orientiert, erst bei stärkerem Stress werden intensive Affekte zugelassen, und schließlich können sie relativ schnell wieder kontrolliert mentalisieren. ȤȤ Bei Menschen mit desorganisiertem Bindungsverhalten können deaktivierende und hyperaktivierende Strategien wechseln, die Rückkehr erfolgt langsam (Luyten et al., 2012). ȤȤ Manche Menschen zeigen ein gutes kognitives Verständnis mentaler Prozesse, sind aber nicht im Kontakt mit den dazugehörigen Emotionen (häufig bei narzisstischen oder antisozialen Störungen). Es handelt sich um eine Hypermentalisierung – eine Form der Pseudomentalisierung, die oft kaum von echter zu unterscheiden ist. Die Erzählungen, die den Bezug zur Realität und zu Affekten vermissen lassen, entsprechen eher dem »Alsob-Modus«, der gekennzeichnet ist durch reflexive Gedanken, die unverbunden zur Realität stehen. ȤȤ Andere Menschen sind rasch überwältigt von automatischer, affektgesteuerter Mentalisierung und der Unfähigkeit, diese affektiven Erfahrungen mit kognitivem Wissen oder der Rea© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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lität oder Außenwahrnehmung in Verbindung zu bringen. Im teleologischen Modus (z. B. psychosomatische Störungen) wird beobachtbares Verhalten mit Wünschen und Gefühlen gleichgesetzt. Mentalisierung kann sich auf innere Aspekte (Gedanken, Überzeugungen, Wünsche) oder äußere Aspekte (mimischer Affektausdruck, Aktivitäten) des Selbst und anderer richten.6 Die Mentalisierungsfähigkeit kann global, bei sich selbst und in Bezug auf andere herabgesetzt sein, oder es existiert ein deutliches Ungleichgewicht der Mentalisierungsfähigkeit in Bezug auf das Selbst und andere. Eine Untersuchung der Mentalisierungsfähigkeit sollte verschiedene Intensitäten emotionaler Erregung berücksichtigen. Sozialpädagoginnen, Berater und Therapeutinnen brauchen ein tiefergehendes Verständnis für Situationen, die intensive Emotionen triggern, insbesondere Scham, Schuld und Missverstehen. Psychotherapie und Beratung beeinflussen automatische Mentalisierung und fordern zu kontrollierter, expliziter Mentalisierung auf. Das Umschalten von kontrollierter zu automatischer Mentalisierung beinhaltet häufig das Wiederauftreten von prämentalisierenden Modi (Äquivalenz, Als-ob- oder teleologischer Modus) für die Darstellung der inneren Welt bei sich und anderen (Luyten et al., 2012). Aus den dargestellten Dimensionen ergibt sich ein individuelles Mentalisierungsprofil, dieses ermöglicht eine Fokusformulierung für mentalisierungsfördernde Interventionen (Allen, O’Malley, Freeman u. Bateman, 2012). Interventionen, die Mentalisierung – in welchem Kontext auch immer – fördern sollen, brauchen einen stressfreien Raum. Ein empathisch nahes Beziehungsangebot kann das Bindungssystem des Klienten aktivieren und damit bedrohlich werden. 6 Ein Versagen in der Integration von internalen und externalen Aspekten liefert wichtige Informationen über die Entwicklung in der Affektspiegelung. Wenn die Rückmeldungen nicht kongruent mit dem kindlichen Affekt sind, erschweren sie das korrekte Zuordnen der inneren Zustände, diese bleiben unsymbolisiert, verwirrend und schwierig zu regulieren. Mentalisierung, die auf äußere Aspekte fokussiert, geschieht eher automatisch, auf innere Aspekte eher kontrolliert.

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Abhängig von den bestehenden Bindungsmustern kann es Abwehrstrategien auslösen. Daher scheinen eine wohlwollende mittlere Distanz zum Klienten (»nicht zu nah und nicht zu weit entfernt vom Feuer«), eine aktive Haltung und eine durch behutsames, interessiertes Nachfragen gekennzeichnete Gesprächssituation geeigneter als abwarten und langes Schweigen.

Mentalisierungsbasierte Interventionen Es gibt eine Reihe von organisatorischen Merkmalen, welche Behandlungsansätze, die sich als erfolgreich erwiesen haben, gemeinsam haben (Bateman u. Fonagy, 2004). Dazu zählt eine deutliche Strukturierung der Intervention, Transparenz und Übereinstimmung in den Aufgaben und Zielen sowie die Berücksichtigung der Schwierigkeiten der Klienten, konstruktive Beziehungen aufzubauen; das bedeutet eine aktive Förderung der Kooperationsbereitschaft durch den Therapeuten oder die Beraterin. Dabei scheint die Art und Weise, wie die Struktur besprochen wird, und ihre Transparenz für den Behandlungserfolg ebenso wichtig zu sein, wie die therapeutischen Interventionen selbst. Die in Tabelle 1 gezeigte »Mentalization Based Treatment Adherence and Competence Scale« (Karterud et al., 2012) erwies sich in einer Studie als geeignetes Maß zur Prüfung der Behandlungstreue. Die Autoren schlagen es als Instrument in der Qualitätskontrolle und in der Supervision vor. Die einzelnen Skalen geben einen guten Überblick über die verschiedenen Aspekte von mentalisierungsbasierten Interventionen. In einer jüngst veröffentlichen Studie (Ensink et al., 2013) konnte gezeigt werden, dass ein mentalisierungsbasiertes Training die reflexive Kompetenz von Psychotherapie-Ausbildungskandidaten im Vergleich zu didaktischem Training signifikant verbessern konnte. Dies zeigt, dass bereits früh in einer Ausbildung eine Vermittlung mentalisierungsfördernder Kompetenzen die Fähigkeit verbessert, mentale Zustände und Emotionen bei sich und bei Klienten (in der Studie Videoaufnahmen von Interviews mit Borderline-Patienten) zu identifizieren und zu reflektieren. Therapeuten oder Beraterinnen, die im Verlauf einer Intervention ihre eigenen Gefühle und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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die Gefühle und mentalen Zustände des Klienten (insbesondere negative Gefühle) explorieren und verstehen, können eine bessere therapeutische Allianz aufbauen und bessere Ergebnisse erzielen (Ensink et al., 2013). Tabelle 1: Mentalisierungsfördernde Interventionen (modifziert nach Karterud et al., 2012) 1. Engagement, Interesse und Wärme 2. Exploration, Neugier und ein Standpunkt des Nicht-Wissens 3. Ansprechen und Veränderung ungerechtfertigter Überzeugungen 4. Anpassung an die Mentalisierungsfähigkeit des Klienten 5. Regulierung des emotionalen Arousals 6. Stimulierung des Mentalisierens im Prozess 7. Bestätigung gelungener Mentalisierung 8. Umgang mit dem Als-ob-Modus (Pseudomentalisierung) 9. Umgang mit dem Äquivalenzmodus (konkretistisches Verstehen) 10. Affekt-Fokussierung 11. Verknüpfung von Affekten und interpersonalen Ereignissen 12. Anhalten und Zurückgehen 13. Bestätigung emotionaler Reaktionen 14./15. Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung 16. Monitoring des eigenen Verständnisses und Missverstehen korrigieren

Mentalisierung und reflexive Kompetenz Um den abstrakten Begriff Mentalisierung in Forschungskontexten untersuchen zu können, ist eine Operationalisierung notwendig. Dabei hat sich die reflexive Kompetenz als geeignet erwiesen. Sie wird als unabhängig von Geschlecht, ethnischer Zughörigkeit und Intelligenzquotient gesehen und scheint mit allgemeiner psychischer Gesundheit assoziiert zu sein (Staun, Kessler, Buchheim, Kächele u. Taubner, 2010). Ein häufig verwendetes Instrument zur Untersuchung der reflexiven Kompetenz ist die »Reflective Functioning Scale« (RF-Skala; Fonagy, Target, Steele u. Steele, 1998; Daudert, 2001, 2002). Die Einschätzung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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der reflexiven Fähigkeiten werden dabei aus Erzählungen gewonnen, die als Antworten auf Fragen erfolgen, die explizit zur Reflexion auffordern (z. B.: »Denken Sie, dass Ihre Kindheitserfahrungen einen Einfluss darauf gehabt haben, wie Sie heute sind?«). Meist sind diese Fragen dem Adult Attachment Interview (Main u. Goldwyn, 1996) entnommen. Die Antworten eines Probanden können von geschulten Ratern – auf einer Skala von –1 = Abwehr reflexiver Funktion bis +9 = außergewöhnlich hohe reflexive Funktion – eingeschätzt werden. Bei der Einschätzung der Rater wird neben Inhalt und Angemessenheit der Antworten berücksichtigt, inwieweit ein Nachdenken über Gefühle und Gedanken vorhanden ist. Aufgrund des relativ hohen Aufwands bei der Auswertung wird die RF-Skala fast ausschließlich im Forschungskontext verwendet. Seine Popularität in der Therapieforschung verdankt das Instrument den Erwartungen, dass sich mithilfe der RF-Skala in Psychotherapien jenseits der Symptomveränderungen Veränderungen im Bereich struktureller Persönlichkeitsmerkmale abbilden lassen. Ob das Instrument diese Erwartungen erfüllen kann, bleibt abzuwarten. Immerhin ließen sich in einer Studie Zusammenhänge zwischen dem Niveau der RF-Skala und dem Strukturniveau finden, erfasst über die Operationale Psychodynamische Diagnostik (OPD), (Müller, Kaufhold, Overbeck u. Grabhorn, 2006).

Mentalisierung und Resilienz Die Konzepte Resilienz und Salutogenese sind Ende der 1970er Jahre zeitgleich aus einer kritischen Haltung gegenüber der Gesundheitsversorgung heraus entstanden. Salutogenese entwickelte sich aus der Stressforschung7, Resilienz aus der Entwicklungspsychopathologie. Gemeinsam ist ihnen die Abkehr vom pathogenetischen Modell und bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis hin zur Gesundheitsförderung (Bengel, Strittmacher u. Willmann, 2001). 7 Salutogenese betont als zentrale Aufgabe des Organismus Stress und Spannung zu bewältigen. Ausgehend vom transaktionalen Stressmodell (Lazarus) fordert Salutogenese einen Perspektivenwechsel zu subjektiven Bewältigungsprozessen, d. h. zu den mit der Bewältigung von Stress verbundenen Anpassungsleistungen des Individuums (Coping).

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Ausgehend von Befunden der Kauai-Studie (Werner, 1977)8 wurde deutlich, dass sich trotz vielfältiger Traumatisierungen ca. ein Drittel der belasteten Kinder in ihrer Entwicklung gut sozial integriert, funktionsfähig und emotional belastbar entwickelten. Diese Ergebnisse machten es notwendig, neben Risikofaktoren auch protektive Faktoren anzunehmen, die das Kind vor Belastungen der sozialen Umwelt schützen können. Werner erklärt dies mit einer Kette aus schützenden Faktoren, die über den Verlauf der Entwicklung hinweg miteinander interagieren und sich gegenseitig verstärken. Dazu zählen eine enge emotionale Bindung an mindestens ein Elternteil, Selbstvertrauen, Problemlösefähigkeiten und die Einbindung in soziale Netzwerke (Bengel, Meinders-Lücking u. Rottmann, 2009). Die wissenschaftlichen Diskurse in Psychologie, Pädagogik und (Psychosomatischer) Medizin gingen später unterschiedliche Wege. Einerseits beschäftigten sich Medizin und Psychologie mit den Risiko- und Schutzfaktoren für eine, oft erst im Erwachsenenalter auftretende, psychische Erkrankung. Andererseits versteht sich Resilienz, die sich von der engen Verknüpfung mit Erkrankungsrisiken (Pathogenese) löste, im Sinne einer Entwicklungs- und Gesundheitsförderung, die Gesundheitsförderung als ein sozial-ökologisches Gesundheits- und Präventionsmodell betrachtet. Gesundheit »gibt nicht als Ziel, sondern als Mittel, um Individuen zu befähigen, individuelles und gesellschaftliches Leben positiv zu gestalten […] Mit dieser Zielsetzung zeigt Gesundheitsförderung große Nähe zum Empowermentansatz, der aus der amerikanischen Gemeindepsychologie stammt« (Bengel et al., 2001, S. 19). Die Bedeutung der Resilienzforschung kann vor allem in ihrem methodischen Ansatz der retrospektiven und prospektiven Längsschnittuntersuchungen gesehen werden. Insofern könnten sich die methodenorientierte Resilienzforschung und das Modell der Salutogenese ergänzen. Einer Vielzahl empirischer Studien zur Resilienz steht jedoch noch kein übergreifendes theoretisches Erklärungsmodell gegenüber, 8 Ab 1955 untersuchte Emmy Werner 689 Personen der Insel Kauai, einer Nachbarinsel von Hawaii, und deren Lebensverläufe über 40 Jahre.

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so bleiben die Studienergebnisse eher beschreibend und die gefundenen Faktoren variieren (Bengel et al., 2001). Kritisch betrachtet wird das Resilienzkonzept aus der Perspektive der Psychoanalyse (Leuzinger-Bohleber, 2009), der Bindungsforschung und aus pädagogischer Sicht (Korn, 2012). Ergebnisdarstellungen der Resilienzforschung münden meist in einen Variablenkatalog pathogener bzw. protektiver Einflüsse auf die kindliche Entwicklung. In Übersichtsarbeiten über die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen zeigt Resilienzförderung zwar häufig eine hohe Akzeptanz bei den Zielgruppen, aber eher eine geringe Wirksamkeit und eine um 10 bis 15 % niedrigere Belastungsrate. Erst gezielte selektive und indizierte Präventionsmaßnahmen erhöhen die Effektstärke (Bengel et al., 2009). Versteht man Resilienz als dynamischen Prozess der Interaktion mit der Umwelt, dann basiert eine Anpassung und Integration der Erfahrungen nicht alleine auf der Exposition gegenüber Risikofaktoren und Schutzfaktoren (Ressourcen), sondern die Moderatoren geraten in den Vordergrund (Stein, 2009). Hier spielt das Mentalisierungskonzept eine bedeutsame Rolle. Aus psychoanalytischer Sicht kann Resilienz als Fähigkeit zur Mentalisierung verstanden werden, bei und nach stressauslösenden Situationen kann die Selbstregulation besser aufrechterhalten oder wiederhergestellt werden. Das Ausmaß an emotionaler Sicherheit, das durch früh erworbene Bindungsmuster erreicht wird, bestimmt die Fähigkeit, adäquate Bewältigungsmuster zu erlernen und Stress zu verarbeiten, d. h., sich wieder beruhigen zu können.9 Sicher gebundene Personen sind eher fähig, auch in stressvollen Situationen zu mentalisieren, zielgerichtet und realistisch zu handeln und zu reflektieren. Konsens besteht darin, dass für resilientes Verhalten mindestens eine genügend gute Beziehung zu einer Vertrauensperson (innerhalb oder außerhalb der Familie) vorhanden sein muss. Jedoch sieht Leuzinger-Bohleber (2009) den Bindungstyp nicht als ausreichende Erklärung für Resilienz. Sie hält diejenigen Individuen für resilient, die auf der Grund9 Anhaltender und unkontrollierter Stress führt zu hohen Cortisolausschüttungen. »Da die Stressantwort sehr eng mit dem Bindungssystem verbunden ist, spielen die frühen Entwicklungsbedingungen eine zentrale Rolle« (Korn, 2012, S. 312).

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lage eines unsicheren Bindungstyps (und traumatischer Kindheit) einen »sicheren Bindungstyp« erarbeitet haben (earned security). Bewältigung kann hier auch als Aufsuchen von unterstützenden und Sicherheit vermittelnden Beziehungen verstanden werden. Die Kompetenz zur Selbstreflexion wirkt als resilienter Faktor und verhindert die intergenerationelle Transmission von unsicherer Bindung. Neben einem sicheren Bindungsmuster ist dazu das symbolische Repräsentationssystem von mentalen Zuständen nötig (Mertens, 2012). Die Reflexionsfähigkeit fördert die Selbstregulierung und die Regulierung von Stress oder emotionalen Erregungszuständen. Sie ermöglicht die Identifikation von Gefühlen, also Verbindungen zwischen innerem Erleben und Begriffen. Sie fördert flexibles Denken, das gedankliche Experimentieren mit Alternativen sowie die Antizipation ihrer Wirkung auf das Selbst und andere. Mentalisierungsfördernde Interventionen sind resilienzfördernd und stehen im Kontext bindungstheoretischer Modelle. Bei beiden liegt der Schwerpunkt in der wachstumsfördernden Gestaltung von Beziehungen.

Mentalisierungsversagen, psychische Störungen und Gewalt Generell gilt, dass die Fähigkeit zur Mentalisierung, auch wenn sie einmal erreicht wurde, wieder verloren gehen kann. So können starke Stressoren und traumatische Erfahrungen zu einer Desintegration und Rückfällen in prämentalisierende Stadien führen. Fearon und Kollegen unterscheiden 4 Typen des Mentalisierungsversagens: das konkretistische Verstehen, den kontextspezifischen Zusammenbruch des Mentalisierens, das Pseudo-Mentalisieren und den Missbrauch des Mentalisierens (Fearon et al., 2006). Diese können Beziehungsschwierigkeiten erzeugen, aufrechterhalten oder auch verstärken: ȤȤ Konkretistisches Verstehen bedeutet eine allgemeine Unfähigkeit, die eigenen Gefühle oder die Gefühle anderer Menschen sowie die Beziehung zwischen Gedanken, Gefühlen und Aktionen anzuerkennen. Der Unterschied zwischen (subjektiven) Meinungen, Wünschen, Gedanken, Gefühlen und der (äußeren) Rea© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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lität wird nicht wahrgenommen. Verhalten wird durch äußere Kausalität (z. B. »Wir haben uns gestritten, weil es so heiß war«) anstatt durch innere Motive erklärt. Äußere Regeln und Details werden wichtiger als Gefühle. Konkretistisches Denken ist verbunden mit mangelndem Verständnis für die Wirkung eigener Gefühle auf andere und einer Unfähigkeit, mit verschiedenen Sichtweisen zu »spielen«. ȤȤ Der kontextspezifische Zusammenbruch des Mentalisierens findet in Stresssituationen statt und führt zu einer situationsspezifischen Unfähigkeit, die Gedanken und Gefühle anderer zu berücksichtigen. Bei einem solchen kontextspezifischen Zusammenbruch kann es dazu kommen, dass die Bezugsperson glaubt, ihr Kind möchte sie absichtlich provozieren, oder aber sie ignoriert den mentalen Zustand des Kindes. ȤȤ Beim Pseudo-Mentalisieren geht man davon aus, dass die Person keinen Zusammenhang zwischen ihren Gedanken, Gefühlen und Handlungen sieht. Pseudomentalisierung zeigt sich z. B. in der Überzeugung, zu wissen, was in dem anderen vorgeht, oder in vielen Gedanken über die Gefühle anderer, ohne diese Meinung zu prüfen, oder in ständigen Vorwürfen in Form von Behauptungen über die Motivation anderer, z. B. »Du willst mich ärgern«. ȤȤ Beschreibt eine Person einen bestimmten mentalen Zustand eines anderen korrekt, benutzt dies dann aber, um den anderen zu verletzen, dann spricht man von einem Missbrauch des Mentalisierens. Im teleologischen, einem frühen, nichtmentalisierenden Modus zählen nur die Taten, nicht die Motive. Die Sichtweise ist auf die rein faktische, physikalische Welt begrenzt. Nicht-Mentalisieren löst intensive, schwer auszuhaltende Gefühle im anderen aus. Häufig wiederholen sich nichtmentalisierende Interaktionen einfach und sind vorhersagbar. Nicht-Mentalisieren führt zu dem Versuch, Verhalten zu kontrollieren, anstatt es zu verstehen. Kontrollierendes Verhalten wiederum löst starke Emotionen bei dem anderen aus, sodass er ebenfalls nicht mentalisieren kann. Seelische Erkrankungen können Folge von Kommunikationsstörungen und traumatischen frühen (Bindungs-)Erfahrungen sein mit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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dem Ergebnis ungenügender Bildung regulativer Selbststrukturen. Frühe Kindheitserfahrungen können nicht nur nicht zur Strukturbildung beitragen, sondern schwächen zusätzlich das Selbst. Vielfältige Symptome entstehen aufgrund von Mentalisierungsstörungen, z. B. interpersonelle Konflikte, Entscheidungsschwierigkeiten, Gefühlsblindheit, Gefühle der Leere und Bedeutungslosigkeit, psychosomatische Störungen, Erschöpfungszustände (Fonagy, 2006; Mertens, 2012). Spezifische Erklärungsmodelle psychischer Störungen sind z. B. erstellt worden für Borderline- und andere schwere Persönlichkeitsstörungen (Bateman u. Fonagy, 2006), Traumafolgen (Allen, Lemma u. Fonagy, 2012), Sucht (Philips, Kahn u. Bateman, 2012), AD(H)S (Koch-Hegener, Straten u. Günter, 2009) oder Essstörungen (Skarderud u. Fonagy, 2012). Im Vergleich zu nicht klinischen Kontrollgruppen haben Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen und BorderlinePatienten eine signifikant niedrigere Reflexive Kompetenz (untersucht mit der Reflective Functioning Scale). Letztere zeigen Werte zwischen 2,7–3,7 versus 5,2 bei der Kontrollgruppe (Staun et al., 2010). Depressive Patienten zeigen ebenfalls eine eingeschränkte Reflexive Kompetenz, besonders bei depressionsrelevanten Themen wie Verlust und Zurückweisung, außerdem kreisen depressive Menschen in Gedanken mehr um sich selbst. Auch Personen mit Persönlichkeitsstörungen weisen eine geringere Fähigkeit zur Dezentrierung auf, d. h., es fällt ihnen schwer, bei der Einschätzung der mentalen Zustände anderer Personen von ihrer eigenen emotionalen Involviertheit abzusehen (Dimaggio et al., 2009). Fonagy und Kollegen sehen in der Störung der Mentalisierung im Kontext von Beziehungen und Bindungen den pathologischen Kern bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Diese können sich entwickeln, wenn die Mentalisierung infolge von Missbrauch oder Vernachlässigung defensiv gehemmt wird (Bateman u. Fonagy, 2004). So führen Traumatisierungen zur Aufrechterhaltung der teleologischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, in der dem anderen keine Motive und Bedeutungen unterstellt werden. Als Kinder und später als Erwachsene blockieren die Patienten ihre Einfühlung in die Bezugsperson (den Täter), um sich vor unerträglichen Affekten zu schützen. Sie stehen in dem Dilemma, dass die Bezugspersonen gleichzeitig © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Schutz und Gefahr darstellten. Die Motive der Bezugspersonen zu hinterfragen, könnte die Situation verschlimmern, anstatt die Affektbewältigung zu unterstützen. Hierdurch wird aber auch der Erwerb von Resilienz behindert, die auf der Fähigkeit beruht, interpersonale Situationen angemessen zu verstehen. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstruktur schwanken oft zwischen Bedeutungsblockierung und inkorrekter Mentalisierung. Sie sind im teleologischen Modus fixiert oder oszillieren zwischen Äquivalenzmodus und Als-ob-Modus. Mentalisierungsstörungen bei Borderline-Patienten werden nach diesem Modell als Schwierigkeiten, eigene und fremde innere Zustände korrekt zu identifizieren, verstanden. Die erhöhte Neigung zur Projektion ergibt sich aus den Mentalisierungsproblemen. Die Inhalte der Projektionen stammen aus verinnerlichten Missbrauchserfahrungen. Daraus entsteht eine verzerrte Wahrnehmung des anderen, besonders in nahen, emotional bedeutsamen Beziehungen (Dornes, 2004). Die Basisannahme des mentalisierungsbasierten Ansatzes bei depressiven Störungen ist, dass depressive Symptome Antworten auf Bedrohungen von Bindungsbeziehungen darstellen, die als Bedrohungen des Selbst wahrgenommen werden (Luyten et al., 2012). Dies geschieht entweder aufgrund von (phantasierter) Trennung, Versagen, Zurückweisung oder Verlust oder einer Kombination aus allem. Depression wird so verstanden als – vorübergehende – Desorganisation des Bindungssystems, verursacht durch aktuelle Beziehungsprobleme, mit Einschränkung der Mentalisierungsfähigkeit. Letztere wird getriggert durch Stress. Einmal angestoßen, zeigt sich die Mentalisierungshemmung in nichtmentalisierenden Modi des Denkens und Fühlens. Eine Verletzlichkeit für Depression bei Kindern, Adoleszenten und Erwachsenen steht in engem Zusammenhang mit unsicherer Bindung. Unsichere Bindung ist auch prospektiv verknüpft mit rezidivierender Depression, größerer Anzahl von depressiven Episoden und eingeschränkter sozialer Funktion sowie Suizidalität. Frühe negative Bindungserfahrungen sind assoziiert mit nichtmentalisierenden Antworten auf den kindlichen Stress und stören den Aufbau robuster Repräsentanzen zweiter Ordnung. Dies sind innere Vorstellungen, die normalerweise durch die Internalisierung markierter © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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und kongruenter Spiegelung der Interaktionen aufgebaut werden. Die zentrale Rolle der Bindungserfahrungen für die Entstehung von Depression bestätigte sich in Untersuchungen zur Rolle von frühen Belastungsfaktoren (z. B. Missbrauch und Vernachlässigung) und einem Zusammenbruch von Bindungsstrategien bei der Depression. Experimente zeigen, dass sichere Bindung Stresseffekte in der frühen Kindheit abpuffert. Verwundbarkeit für Depression ist assoziiert mit verstärkter Stressantwort10, sowohl in Alltagssituationen als auch bei außergewöhnlichen Ereignissen. Als Mediatoren zwischen frühen unsicheren Bindungserfahrungen und Depression im Erwachsenenalter gelten eine gestörte Affektregulation, überschießende Stressreaktionen und verminderte Mentalisierungsfähigkeit. Studien zur Resilienz zeigen, dass positive Bindungserfahrungen die Fähigkeit verbessern, in Stresssituationen neue fürsorgliche Beziehungen zu rekrutieren (»broaden and build«-Cycles). Im Kontrast dazu stehen hyperaktive und deaktivierende Bindungsstrategien, die assoziiert sind mit unsicherer Bindung. Sie begrenzen die Fähigkeit, in Stresssituationen neue adaptive (Bindungs-)Umgebungen aufzusuchen, neue Bindungen aufzubauen und hemmen die Stressregulierung. Die  – reale oder phantasierte  – Bedrohung einer Bindungsbeziehung führt zu depressiver Stimmung, diese führt zu einem Anstieg des Arousals und des Stresslevels und zur Einschränkung der Mentalisierungsfähigkeit (siehe Abbildung 1, S. 35). Die bisherigen Forschungsergebnisse zeigen, dass Verletzlichkeit für Depression mit Bindungsangst und Bindungsvermeidung sowie mit einer Hyperaktivität bzw. Deaktivierung des Bindungssystems zusammenhängt. Leistungsorientierung und vielfältige Aktivitäten haben u. a. die Funktion von Vermeidungsstrategien, die es ermöglichen, nicht über sich, die eigene Vergangenheit oder Gegenwart zu reflektie10 Oxytocin und Vasopressin spielen eine Schlüsselrolle in der Stressregulierung und dem Bindungsverhalten, sie haben anxiolytische und Antistress-Effekte, fördern soziale Kognitionen und Vertrauen und verbessern die Stimmung sowie höhere Fähigkeiten im Mentalisieren. Frühe Belastungserfahrungen sind assoziiert mit verringertem Oxytocin- und erhöhtem Cortisolspiegel. Diese Untersuchungen legen enge Verbindungen zwischen Bindungserfahrungen, Stress und Mentalisierungsfähigkeit bei Depression bereits auf biologischer Ebene nahe (Luyten et al., 2012).

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ren, weil diese Reflexion zu schmerzhaft und bedrohlich erlebt wird. Die Mentalisierungsfähigkeit wird simultan als Hypersensitivität für mentale Zustände anderer – bei gleichzeitiger Hemmung der Mentalisierung eigener innerer Zustände – beeinträchtigt. Gefühle von Traurigkeit, Leere oder Zorn, die entwicklungsgeschichtlich mit Bindungserfahrungen verknüpft sind, können nicht wahrgenommen und reflektiert werden. Bei Aktivierung des Bindungssystems und hohem Arousal wird oft im Äquivalenzmodus oder im teleologischen (kontrollierenden) Modus reagiert, dieses Verhalten hat einen destruktiven Einfluss auf soziale Interaktionen. Das Wiederauftauchen des psychischen Äquivalenzmodus mit der Gleichsetzung von Innen- und Außenwelt ist am häufigsten zu beobachten. Im Äquivalenzmodus werden Erfahrungen als überreal erlebt. Kritik von anderen wird als Attacke auf die Integrität des Selbst verstanden. Symbolisierung, das Spiel mit verschiedenen Perspektiven, hat noch keinen Raum. Die innere Sicherheit für mentales Ausprobieren verschiedener Perspektiven ist (noch) nicht vorhanden. Dies wird u. a. ausgedrückt in einem Fehlen von Wünschen und Bedürfnissen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben keine differenzierende Bedeutung für depressive Patienten, alles fühlt sich gleich schmerzhaft und unveränderbar an, dies führt zu Gefühlen von Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Antriebshemmung. Der enge Konnex von Bindung, Mentalisierung und Stressregulation unterstreicht die zentrale Rolle von interpersonellen Erfahrungen in der Entstehung und der Behandlung von Depression (Luyten et al., 2012). Gewalttätigkeit wird mit Verzerrungen der sozialen Informationsverarbeitung in Verbindung gebracht (Taubner, Wiswede, Nolte u. Roth, 2010). Soziale Informationsverarbeitung findet vorrangig außerhalb des Bewusstseins statt und geht in Echtzeit sehr schnell vonstatten. Das Individuum greift dabei auf innere Arbeitsmodelle zurück. Kinder und Jugendliche mit aggressiv-dissozialem Verhalten zeigen auf jeder Stufe der sozialen Informationsverarbeitung Verzerrungen. Insbesondere gewalttätiges Verhalten hängt mit Traumatisierungen in der Ursprungsfamilie zusammen. Eine Mentalisierungshemmung führt dazu, dass Gewalttaten begangen werden, anstatt Wut, Trauer und Angst in Reaktion auf Vernachlässigung, Ablehnung und Misshandlung zu erleben (Fonagy, 1999). Verinner© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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lichte aversive Bindungserfahrungen wirken als Schemata mit einem feindseligen Inhalt, die bei aggressiven Kindern dazu führen, im Vergleich zu nichtaggressiven Kindern stärker auf aggressive Schlüsselreize ihrer sozialen Umwelt zu fokussieren. Zugleich unterstellen sie anderen Personen, besonders in sozial ambivalenten Situationen, rasch feindselige Absichten und reagieren sozial dysreguliert auf den vermeintlichen Angriff. In diesem Sinne ist eine aggressive Handlung eine Antwort auf eine wahrgenommene Bedrohung bei reaktiv aggressiven Kindern und Jugendlichen. Externalisierende Grundschulkinder weisen häufig eine verzerrte Mentalisierungskompetenz hinsichtlich ihres Selbstbildes auf, da sie annehmen, von anderen übertrieben positiv gesehen zu werden. Sowohl Erwachsene mit instrumentell aggressivem Verhalten als auch Kinder können mimische Ausdrücke von Angst schlechter erkennen als Kontrollgruppen, was als »empathische Dysfunktion« beschrieben wird. Wenn die Gefühle des anderen (Schmerz und Angst) nicht geteilt werden, kann die Hemmung, andere zu verletzen, stark vermindert sein. Mit der Hemmung der Mentalisierung findet ein Wechsel von der intentionalen Einstellung zur sozialen Umwelt zugunsten einer physikalischen Einstellung statt. Eine wütende Stimme wird dann nur noch als laut, eine drohende Handbewegung als erhobener Arm wahrgenommen. Auch die Empathiestörung kann also Folge einer spezifischen Angstverarbeitung sein (Taubner, 2008b). Gewalttäter haben eine signifikant niedrigere Reflexive Kompetenz im Vergleich zu nicht gewalttätigen Straftätern. Die Unfähigkeit, die eigene Sicht als subjektiv und nicht übereinstimmend mit Wahrnehmungen anderer zu erkennen, ist ein Merkmal abwesender reflexiver Kompetenz (falsche Überzeugungen beibehalten). In diesem Fall ist die Bezugsperson als Hilfs-Ich gefordert, das einerseits für den anderen mentalisiert und andererseits die mentale Begrenzung des Gegenübers reflektiert. »Beratungsangebote und therapeutische Interventionen sollten dem Rechnung tragen, indem sie zunächst an einer Aufrichtung oder Wiederherstellung von Mentalisierungsfähigkeiten arbeiten, die die Grundbedingung für einsichtsorientierte Settings darstellen« (Taubner, 2008b, S. 30).

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Kritik am Mentalisierungskonzept und Ausblick Die Psychoanalyse hat sich im ersten Jahrhundert seit ihrem Bestehen vornehmlich auf die Inhalte, Wünsche, Motive etc. des psychischen Lebens konzentriert, weniger auf die Struktur (Aufbau der Repräsentanzen und Mentalisierung). Selbst die Objektbeziehungstheorie und andere neuere Entwicklungen betonen die psychischen Inhalte, nicht die Fähigkeiten (Michels, 2009). Daher kritisieren insbesondere psychoanalytische Autoren, dass den Inhalten der Phantasien und der Affekte im Mentalisierungskonzept zu wenig Bedeutung zugemessen werde. Insbesondere die triebtheoretischen Annahmen Freuds, das Begehren und die Sexualität insgesamt würden in der Bindungstheorie und dem Mentalisierungskonzept abgewertet (Winkler, 2011; Kuster, 2011) bzw. nichtsexuelle Bedürfnisse für den Entwicklungsverlauf aufgewertet (Seiffge-Krenke, 2005). Peter Fonagy (2008) und Mary Target (2013) unternehmen einen Versuch, die allgemeine Verführungstheorie von Laplanche (1995) in Bezug zu setzen mit empirischen Befunden und dem Mentalisierungsmodell, genauer der frühen Affektspiegelung. In früher Kindheit würden Triebspannung, Frustration und sexuelle Erregung von den elterlichen Bezugspersonen nicht oder nicht adäquat oder nicht vergleichbar mit anderen Emotionen wie Angst oder Ärger gespiegelt. Daraus entstehe ein instabiler psychosexueller Kern, der unfassbar und nicht spürbar anzueignen ist. Diese Spannung werde externalisiert und im Gegenüber untergebracht. »In sexuellen Handlungen können wir unsere eigene Sexualität in einen anderen projizieren und uns mit ihr identifizieren. Empfunden als ob sie jemandem anderen gehört, erlaubt sie uns jetzt eine erfolgreiche Reinternalisierung und eine stufenweise Integration« (Target, 2013, S. 125). Damit schließen die Autoren eine Lücke in der Konzeptualisierung des Unbewussten und in der Entwicklung des Selbst und knüpfen an originär psychoanalytische Konzepte an. Zur Kritik an der engen Verknüpfung von Bindungstheorie und Mentalisierungsfähigkeit siehe Gergeley und Unoka (2011). Nach Diamond und Kernberg (2008) muss weiter erforscht werden, welche therapeutischen Techniken die reflexive Kompetenz erhöhen. Auch bleibt offen, ob eine Verbesserung der Men© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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talisierungsfähigkeit generell mit einem Behandlungserfolg einhergeht oder diese nicht eher moderierende Bedeutung für einen Erfolg hat. Weiter merken Diamond und Kernberg (2008) an, dass die RFSkala so konzeptualisiert sei, dass sie an bestimmte Aufgaben und Situationen gebunden ist. Mentalisierungsfähigkeiten bzw. die reflexive Funktion seien jedoch generelle Kapazitäten, die mit der RFSkala nur ausschnitthaft erfasst werden, andere Verfahren wären notwendig, um Mentalisierungsfähigkeit, auch implizite und automatische, zu operationalisieren und zu erfassen. Fonagy (2003) sieht in mindestens 3 Bereichen noch Entwicklungsbedarf in der Mentalisierungstheorie und -forschung: 1. Vergleichbares Fürsorgeverhalten für Kinder kann sehr unterschiedlich erlebt und eingeordnet werden, dies macht den Zusammenhang zwischen Erfahrungen und ihrer Repräsentation sehr kompliziert. 2. Innere Arbeitsmodelle stehen häufig im Widerspruch zueinander, konkurrieren z. B. um Dominanz bei der Gestaltung einer bestimmten Beziehung. Vermutlich sind sie auch hierarchisch geordnet. 3. Die Beziehungsrepräsentation umfasst nicht das Verhältnis zu einem tatsächlichen anderen, sondern eher eine Wahrnehmung jener Person, wie sie im Moment eines überwältigenden Affekts erlebt wurde. Unsichere Bindung mit erschwerter Affektregulierung steigert zwangsläufig die Wahrscheinlichkeit, dass solche partiellen inneren Arbeitsmodelle entstehen.

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Das Mentalisierungskonzept im Kontext der Lehre und Aufgaben Sozialer Arbeit

Im Folgenden wird das Mentalisierungskonzept im Kontext der Sozialen Arbeit und insbesondere im Studiengang Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt (EHD) positioniert. Sozialarbeit und Sozialpädagogik haben unterschiedliche Wurzeln und repräsentieren damit auch unterschiedliche Traditionen. Während die Sozialarbeit sich nach Albert Mühlum »im Kontext der Frauenbewegung als Antwort auf Probleme der Verarmung und Entwurzelung von Familien im ausgehenden 19. Jahrhundert« entwickelte, ergaben sich zur gleichen Zeit Aufgaben der Erziehung und Bildung vor allem in außerschulischen Einrichtungen. »Sozialpolitik sei überwiegend auf Kinder und Jugendliche bezogen und prophylaktisch tätig – zur Verhütung von Fehlentwicklungen und frühzeitiger Kompensation von Defiziten; Sozialarbeit sei dagegen eher auf Erwachsene bezogen, intervenierend und planend tätig – bei Auffälligkeiten und manifesten Problemen. Dabei sollen Sozialpädagoginnen vorrangig Lernprozesse im Sinne der sozialen Erziehung initiieren – bezogen auf besondere Gefährdungen und Benachteiligungen (Erziehungsbedürftigkeit); während Sozialarbeiter/innen zur Verbesserung der Sozialverhaltens und der Sozialverhältnisse beitragen sollen – bezogen auf wirtschaftliche, gesundheitliche und (psycho-)soziale Probleme (Integrationsbedürftigkeit)« (Mühlum, 2011, S. 771). Johannes Schilling und Susanne Zeller beschreiben in Bezug auf Dietrich Kühn (1994) 3 große Sozialbereiche: Neben den materiellen Notlagen, denen die Erwachsenenfürsorge und das Sozialamt zugeordnet werden, stehen die sogenannten sittlichen Notlagen mit dem Bereich der Jugendfürsorge und dem Jugendamt und die gesundheitlichen Notlagen mit dem Bereich der Gesundheitsfürsorge und dem Gesundheitsamt (Kühn, 1994, zit. n. Schilling u. Zeller, 2012, S. 123). Letztere ist bis ins 19. Jahrhundert zurück© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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zuverfolgen (siehe z. B. auch Reinicke, 1994). Unter Rekapitulation der besonderen Rolle der Sozialen Arbeit im Bereich der Gesundheitsförderung betonen Schilling und Zeller deren führende Stellung, weil Gesundheit und Krankheit die Bereiche Familie, Schule und Beruf als Erziehungs- und Bildungsinstitutionen (sowie weiterer Bereiche) berücksichtigen muss (Schilling u. Zeller, 2012). Analog argumentiert Klaus Michael Meyer-Abich (2010) über die Opportunitätskosten, die dadurch entstünden, dass dem Bildungsbereich zugunsten der medizinischen Versorgung Finanzmittel entzogen würden, die – investiert im Bildungsbereich – das Gesundheitsniveau effektiver anheben würden. Bei Gründung der Evangelischen Hochschule Darmstadt 1971 waren die Studiengänge Sozialarbeit und Sozialpädagogik in jeweils eigenen Fachbereichen vertreten. Die Sozialarbeit wurde zuvor an der Höheren Fachschule des Hessischen Diakonievereins gelehrt, während die Sozialpädagogik aus der Höheren Fachschule der Evangelischen Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik des Elisabethenstiftes Darmstadt übergeführt wurde. Die beiden Studiengänge entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten – wie insgesamt in Deutschland – aufeinander zu. So hat der DBSH (2009) in Übernahme der Definition von Montreal 2000 in den Grundlagen für seine Tätigkeit Soziale Arbeit folgendermaßen definiert: »Soziale Arbeit als Beruf fördert den sozialen Wandel und die Lösung von Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen, und sie befähigt die Menschen, in freier Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten. Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse über menschliches Verhalten und soziale Systeme greift Soziale Arbeit dort ein, wo Menschen mit ihrer Umwelt in Interaktion treten. Grundlagen der Sozialen Arbeit sind die Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit.« Mit dieser Definition ist sowohl eine Aufgabe formuliert (»fördert den sozialen Wandel und die Lösung von Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen«) als auch eine Identität stiftende Haltung und Wertbestimmung (»befähigt die Menschen, in freier Entscheidung ihr Leben besser zu gestalten«). Um die Jahrtausendwende wurden die beiden Studiengänge auch an der EHD in einen gemeinsamen überführt, der sein Profil folgen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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dermaßen beschreibt: »Ausgangspunkt Sozialer Arbeit sind zentrale strukturelle Gegebenheiten sozialer Ungleichheiten in ihrer jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit […] Ihre Aufgabe [die der Sozialen Arbeit, A. K.-O.] ist es, gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit zu gewährleisten, einzufordern und zu erreichen. […] Gegenstand Sozialer Arbeit sind Entstehungsprozesse und Auswirkungen sozialer Ausschließung. Dabei müssen die Zusammenhänge zwischen individueller/persönlicher und struktureller/ politischer Ebene und die damit verbundenen Perspektiven der Veränderung durchgängig sichtbar gemacht werden« (aus der Präambel des Studiengangs Soziale Arbeit der EHD). Welche Bedeutung haben diese Entwicklungen für die sozialmedizinische Dimension Sozialer Arbeit? Die erste Professur für Sozialmedizin an der EHD wurde 1986 ausgeschrieben, und zwar im Fachbereich Sozialpädagogik. Damit wurde dieser Bereich von vorneherein in den Kontext von Bildung und Erziehung gestellt und nicht nur, wie sonst häufig üblich, in den der Sozialarbeit (z. B. Reinicke, 2008; Homfeldt, 2012). Für Sozialmedizin im Bereich der Sozialen Arbeit sind daher diejenigen Ansätze fruchtbringend, die den o. g. Zielen, Haltungen und Werten entsprechen. Zu nennen ist insbesondere der Ansatz der Gesundheitsförderung, wie er in der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation 1986 formuliert wurde. Er wurde entwickelt, weil »die flagrante Ungleichheit des Gesundheitszustandes von Menschen insbesondere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, aber auch innerhalb von Ländern […] als unannehmbar bezeichnet« wird (BZgA, 1996, S. 40). Die Ottawa-Charta benennt als Handlungsstrategien die Anwaltschaft für Gesundheit, Befähigung und Ermöglichung von Gesundheit und Vermittlung und Vernetzung in andere Lebensbereiche über den Gesundheitssektor hinaus. »Danach zielt Gesundheitsförderung auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Gesundheit wird als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens verstanden und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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körperlichen Fähigkeiten. […] Die Verantwortung für Gesundheit liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden. Die professionelle Unterstützung der Gesundheitsförderung besteht danach vor allem in der anwaltschaftlichen Interessenvertretung der Zielgruppen, ihrer Befähigung zur Ermöglichung gesundheitsförderlicher Entscheidung und Handlung sowie der Vermittlung der Vernetzung von Akteuren« (Rosenbrock, 2011, S. 371). Entsprechend gibt es fünf Handlungsfelder, auf denen Gesundheitsförderung betrieben werden muss: Die Entwicklung einer intersektoralen Gesamtpolitik, die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten, die Unterstützung von Gemeinschaftsaktionen einschließlich sozialer Unterstützung und Netzwerkbildung, die Entwicklung von persönlichen Kompetenzen unter Einschluss von Informations- und Bewältigungsstrategien im Umgang mit Gesundheit und Krankheit sowie die Neuorientierung der Gesundheitsdienste (Rosenbrock, 2011; Naidoo u. Wills, 2010). Die Gesundheitsförderung hat den Empowerment-Ansatz aufgegriffen. Dieser wurde ursprünglich in dem politischen Engagement US-amerikanischer Minderheiten entwickelt. Empowerment gilt als Schlüsselkonzept der WHO im Kontext der Gesundheitsförderung und umschreibt einen Prozess, durch den Individuen wie Gruppen Verständnis und Kontrolle über ihr Leben gewinnen. Dadurch sollen sie ihr soziales und politisches Umfeld so verändern können, dass die Lebensumstände verbessert werden. Der Empowerment-Ansatz ist im Bereich der Sozialen Arbeit mit Menschen mit psychischen Störungen wegen der mit diesen Störungen häufig einhergehenden Diskriminierungs- und Stigmatisierungsprozesse von besonderer Bedeutung. Wie ordnet sich die Umsetzung des Mentalisierungskonzeptes in diese fachliche Situation ein? Zunächst stellt der Mentalisierungsansatz ein Konzept dar, das Soziale Arbeit als »Hilfe zur Lebensbewältigung« (Hans Thiersch) einsetzen kann. Er ist wissenschaftlich und empirisch begründet, entwicklungsorientiert und bezieht Umweltbedingungen mit ein. Dabei ist die Besonderheit, dass er beziehungsorientiert und nicht arbeitsfeldspezifisch ist, somit in Bezug auf sehr © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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unterschiedliche Zielgruppen und in unterschiedlicher methodischer Ausgestaltung realisiert werden kann. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass er sowohl in der Einzelberatung, aber insbesondere auch in Gruppenkontexten angewandt werden kann. Er setzt zudem an der jeweiligen Situation der Beteiligten an und entwickelt die Mentalisierungsfähigkeit von da ausgehend in Richtung auf eine erweiterte Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung weiter. Hier unterstützt der Mentalisierungsansatz das Recovery-Potenzial von erkrankten Betroffenen, genauso wie er präventiv wirken kann.

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Projekte aus den Handlungsfeldern Sozialer Arbeit

Das Mentalisierungskonzept, das den Anspruch erhebt, Schlüsselkompetenzen für seelische Gesundheit und Resilienz zu formulieren, argumentiert entwicklungsfördernd und situationsspezifisch. In diesem Sinne unterstützen Bateman und Fonagy (2006) die Einbeziehung verschiedener Gesundheitsberufe, wie Sozialpädagogen oder Krankenschwestern, in der Anwendung mentalisierungsfördernder Interventionen in und außerhalb klinischer Settings. So beschäftigen sich im englischen und amerikanischen Sprachraum klinisch orientierte Sozialarbeiter (Lucente, 2009; Aiello, 2009; ArndCaddigan, 2009) und Fachzeitschriften (z. B. Psychoanalytic Social Work; Clinical Social Work) mit der Theorie und Anwendung des Mentalisierungskonzeptes in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Einige wegweisende Projekte und Publikationen dienen als Modelle für die Lehre sowie durchgeführte Praxisprojekte und sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Im Peaceful Schools Project wurden mentalisierungsfördernde Ansätze in Schulen und Stadtteilprojekten zur Veränderung von Gewalt und Mobbing in Grundschulen implementiert (Twemlow u. Fonagy, 2009; siehe auch den Beitrag von Straub und Stavrou in diesem Band). Im Rahmen sogenannter Früher Hilfen und mentalisierungsbasierter Erziehungsberatung (Sadler, Slade u. Mayes, 2009) wurden sozial benachteiligte Mütter (definiert als psychisch krank, chronisch arm und traumatisiert) einmal in der Woche – zwischen Schwangerschaft und 2. Geburtstag des Kindes – von einer Sozialarbeiterin oder einer Kinderkrankenschwester besucht. Neben der Bereitstellung konkreter Dienstleistungen und Informationen (Anträge, Umgang mit Behörden, Impfungen, Stillen etc.) wurde versucht, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Basierend auf dieser © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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kontinuierlichen Beziehung und der Bereitstellung von Hilfen und Informationen wurden Interventionen wirksam, die theoretisch und klinisch auf der Bindungstheorie und dem Mentalisierungskonzept basieren. Die Mütter lernten die psychischen Zustände ihres Babys sensibler wahrzunehmen und effektiver zu regulieren (Sadler et al., 2009). Fonagy betont, dass entwicklungsbezogene Anleitung, kurze Kriseninterventionen, unterstützende Behandlung, z. B. konkrete Hilfen bei alltäglichen Lebensproblemen, in Verbindung mit einsichtsorientierten Interventionen gut in den bindungstheoretischen Bezugsrahmen passen. Das innere Arbeitsmodell für die Versorgung des Säuglings veränderte sich bei vielen Eltern durch die Wertschätzung, Aufmerksamkeit und empathische Empfänglichkeit der Sozialarbeiterin und oder Therapeutin (Fonagy, 2003). Im Rahmen eines Unterstützungsangebotes für Familien am Anna Freud Center in London (http://www.annafreud.org/pages/parenting.html) werden verschiedene Schulungs- und Behandlungsprogramme für Kinder, Jugendliche und ihre Familien angeboten. Ganz unterschiedliche Verhaltensauffälligkeiten (z. B. aggressive Ausbrüche; Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen oder aufrechtzuerhalten), emotionale Probleme (z. B. Angst, Depression) sowie Spannungen und Beziehungsschwierigkeiten in Familien (z. B. im Rahmen von Trennungen und Scheidungen) können auf mentalisierungshemmende Interaktionen in den Familien zurückgeführt werden (Fearon et al., 2006). Das Therapiekonzept Short-Term Mentalization and Relational Therapy (SMART) von Fearon und Kollegen (2006) beschreibt Interventionen über 6 bis 12 Sitzungen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien. Durch fokussierte und stark strukturierte Interventionen sollen die Fähigkeiten zur Beziehungsgestaltung, zur Bewältigung von Schwierigkeiten und zur Mentalisierung in der Familie gefördert werden. Die Autoren teilen die Überzeugung über den Wert von Ressourcenförderung und die Vermeidung einer pathologisierenden Sichtwiese. Die Schwierigkeiten der Familie werden hier verstehbar im Kontext der Stressoren, die sie belasten. Das Adolescent Mentalization-Based Integrative Treatment (AMBIT) ist ein teambasierter Zugang zur Arbeit mit jungen Menschen, die durch die üblichen sozialen Angebote der Institutionen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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nicht erreicht werden (Hutsebaut, Bales, Buschbach u. Verheul, 2012; Rossouw u. Fonagy, 2012). Die Konzeption ist ein Wechsel vom »Team um das Kind« hin zum »Team um den Sozialarbeiter/die Sozialarbeiterin« (siehe Abbildung 1). Die Sozialarbeiterin ist die Bezugsperson für den Jugendlichen. Das Team soll dazu beitragen, dass eine sichere, fördernde Beziehung zwischen dem Jugendlichen und dem Sozialarbeiter entstehen kann. Die Konzeption ist dadurch flexibel an die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Einzelnen angepasst. Die Förderung von Mentalisierung bei den Jugendlichen und ihrer Familie ist dabei das Kernkonzept. Die einzelnen Bausteine des Programms sind internetunterstützt unter http://tiddlymanuals. tiddlyspace.com einsehbar. Das Programm hat in England 2012 einen Innovationspreis gewonnen.

AMBIT ein Perspektivenwechsel

Adolescent Mentalization-Based Integrative Treatment (AMBIT) modifiziert nach: AMBIT-CORE CONTENT – Manual – Anna Freud Centre London Alt: Team rund um das Kind

Neu: Team rund um die Vertrauensperson

Psychiater Sozialpädagogin

Psychiater Psychotherapie

Jugendhilfe Keyworker

Jugendliche und Familie Jugendhilfe

Lehrerin Familienhilfe

Psychotherapie

Familienhilfe

Lehrerin Jugendliche und Familie

Abbildung 1: AMBIT

In der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie werden mentalisierungsbasierte Behandlungen von der niederländischen Arbeitsgruppe um Verheugt-Pleiter beschrieben (Verheugt-Pleiter, Zevalkink u. Schmeets, 2008). Im deutschsprachigen Raum beschreibt Zemke (2013) die Anwendung des mentalisierungsbasierten Konzeptes in der ambulanten Kinderpsychotherapie. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Auch in der Psychoedukation und Gruppenpsychotherapie bei Erwachsenen werden mentalisierungsfördernde Ansätze eingesetzt. Die Gruppe gilt als mentalisierungsfördernde Umgebung, da unterschiedliche Perspektiven und Wahrnehmungen leicht an anderen beobachtet werden können. Psychoanalytische Gruppentherapieansätze machen sich das Mentalisierungskonzept zunutze, um Prozesse in Gruppen verstehen und leiten zu können. Bateman und Fonagy (2007) wählen in der Gruppentherapie bei Borderline-Patienten zunächst einen strukturierten, psychoedukativen Zugang, um das Verstehen von Einstellungen, Motiven und Gefühlen in der Gruppe zu fördern (»explicit mentalizing group«). Können später sogenannte Basisfähigkeiten vorausgesetzt werden, gestalten sie den Gruppenverlauf offener (»implicit mentalizing group«). Der Fokus liegt auf einer aktiven Interventionstechnik, um Affekte anzusprechen, zu klären und den Gruppenverlauf zu steuern. Dies gilt vor allem, wenn nicht­mentalisierte Schilderungen auftreten oder Ratschläge und Agieren in den Vordergrund treten. Intensive Emotionen, Angst und Verunsicherung sollen abgemildert werden, damit reflexive Prozesse gefördert werden können. Einen erfolgreichen mentalisierungsbasierten Ansatz in der Psychoedukation stellen die Autoren der Menninger Klinik in den USA vor (Haslam-Hopwood et al., 2009; siehe auch die Beiträge von Klein und Armendinger sowie von Kalbfuss, Polat und Urbanek in diesem Band). Im deutschsprachigen Raum entwickeln sich ebenfalls in den letzten Jahren mentalisierungsbasierte Gruppentherapiekonzepte, die sich als Weiterentwicklungen psychoanalytischer Gruppentherapie verstehen (z. B. Bolm, 2008; Hirsch, 2008; Schultz-Venrath, 2008, 2013). Im deutschen Sprachraum beziehen sich (bisher) die meisten Veröffentlichungen auf Mentalisieren im Kontext psychotherapeutischer Behandlungen oder sind Übersetzungen der englischsprachigen Publikationen. Es sind erst wenige Arbeiten zu pädagogischen oder sozialpädagogischen Handlungsfeldern publiziert worden. Über den Zusammenhang von Mentalisierungsstörungen und Gewalt publizierte Svenja Taubner (2008a, 2008b; Taubner, Wiswede, Nolte u. Roth, 2010). Zu Bindung und Bildung in der Beziehung zwischen Erzieherin und Kind veröffentlichte Hannah Denker (2012) ihre Masterarbeit. Zur Unterstützung von Bindung und Mentalisierung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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in der Kindertagesstätte beschreiben Johanna Klein und Kollegen ein Lehr-Praxis-Projekt (Klein, Armendinger u. Kirsch, 2013). Manfred Gerspach (2010) widmet sich der Bedeutung der elterlichen Mentalisierungsfunktion, darin beschreibt er erschwerte Bedingungen der Mentalisierungsprozesse bei verhaltensgestörten Kindern in einem psychosozial randständigen Milieu und bei behinderten Kindern. Die Referate einer Fachtagung zur »Theorienlandschaft des Fähigkeitsansatzes«, die 2009 am Internationalen Forschungszentrum in Salzburg stattfand, sind in dem Sammelband: »Der Capability Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten« (Sedmark, Baic, Bauer u. Posch, 2011) erschienen, einige der Arbeiten greifen den Mentalisierungsansatz auf und stellen Verknüpfungen mit dem Capability-Approach her (Schwaiger, 2011). Ramberg und Harms (2014) beschäftigen sich mit der Theorie der Interaktion im Mentalisierungskonzept und dessen Bedeutung für die professionelle Haltung von Lehrkräften im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung. Der Mentalisierungsansatz kann als Bildungsprozess, als »Eigenweltaneignung« (Selbst- und Weltaneignung) durch Narration verstanden werden. Das Ziel mentalisierungsfördernder Interventionen besteht ja darin, ein Bewusstsein vom eigenen mentalen Leben zu fördern. Narrative Kompetenz gilt als das psychologische Äquivalent von immunologischer Kompetenz. Der Klient soll in die Lage kommen, außerhalb seiner eigenen Geschichte zu stehen und seine Bindung auf der Repräsentationsebene zu betrachten (Fonagy, 2003). Eine mentalisierungsfördernde Haltung in psychosozialer Beratung und Feldern der Sozialen Arbeit fördert eine sichere Basis, z. B. durch konkrete Unterstützung, Ermutigung, transparente Rahmenbedingungen und Zielformulierungen. Interventionen sollen auf die Störungen der Mentalisierung im »Hier und Jetzt« bezogen sein. Bei Individuen mit hyperaktivierenden Strategien z. B. stehen unterstützende Interventionen im Vordergrund, besonders in der Eröffnungsphase von Beratung oder Therapie. Bei Patienten mit deaktivierenden Strategien steht die Integration von kognitiver und affektiver Mentalisierung im Mittelpunkt, damit die Klienten besser in Kontakt mit ihren Gefühlen kommen können (Luyten et al., 2012). Das Angebot einer zu großen Nähe aktiviert das Bindungssystem eines unsicher © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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gebunden Klienten oft rasch, die Mentalisierungsfähigkeit wird dann eingeschränkt. Daher sollte auf den differenzierten Umgang mit Nähe und Distanz großen Wert gelegt werden (»nicht zu nah und nicht zu weit weg vom Feuer«). Die Wahrnehmung der Person der Beraterin wird oft durch ein aktiviertes Bindungssystem geprägt. Daher steht die (Beratungs-)Beziehung im Zentrum der Aufmerksamkeit, Brüche der Reflexionsfähigkeit oder Missverständnisse in der Interaktion werden rasch angesprochen und exploriert. Eine empathisch neugierige Haltung des »Nicht-Wissens« kann unterschiedliche Perspektiven explorieren und fördert, im Sinne eines entwicklungsfördernden Ansatzes, die Problem- und Zielformulierung des Klienten. Offene Fragen und psychoedukative Elemente helfen bisherige – problematische – Selbstbilder oder Bedeutungszuschreibungen zu de-konstruieren und ermöglichen eine Re-Kontextualisierung von Bedeutungen. Der Ratsuchende überträgt nicht nur seine frühen Bindungserfahrungen auf die Gegenwart und verändert sich auch nicht deshalb schon allein dadurch, dass er eine neue korrigierende Erfahrung mit uns machen kann, sondern vor allem dadurch, dass er sich mit seiner Angst konfrontiert (Mertens, 2012).

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Linda Kaufmann und Sabrina Zimmer

Mentalisierungsgestützte Erziehungsberatung

Problemskizze und Zielgruppe Der ausgewählte Frankfurter Stadtteil »mit besonderem Entwicklungsbedarf«1 ist durch seine industrielle Entstehungsgeschichte, eine starke Umweltbelastung durch zahlreiche Verkehrsstraßen, einen Mangel an öffentlichen Grün-, und Spielflächen sowie einen Modernisierungsrückstand im Wohnbestand und Umfeld geprägt. Es herrscht ein Mangel an gewerblichen Arbeitsplätzen. Hier leben viele sozial benachteiligte Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund (ca. 41,5 %) oder gering qualifizierte Arbeitnehmer. Im Stadtteil wurde ein Bedarf an Bildungsangeboten oder niederschwelligen Unterstützungsangeboten festgestellt, z. B. in der Erziehungsberatung. Hier setzte das durchgeführte Projekt »mentalisierungsfördernde Erziehungsberatung« an mit dem Ziel, Bewältigungsstrategien für Alltagsbelastungen zu fördern, Reflexion anzuregen und Erziehungskompetenzen zu stärken. Daher haben wir zu einem Kinderzentrum im Stadtteil Kontakt aufgenommen und mit der Leitung und den Fachkräften Vorstellungen und Erwartungen diskutiert. Das städtische Kinderzentrum2 ist eine größere Einrichtung (74 Kindergartenplätze für Kinder ab 3 Jahren), in der ebenfalls ein Hort und ein Eltern-Kind-Treff integriert sind und die mit Beratungsstellen und Schulen zusammenarbeitet. Die Angebote reichen von Bildungsangeboten, wie Sprachgruppen zum Erlernen der deutschen Sprache, kreativen und musischen Angeboten sowie 1 http://www.stadtplanungsamt-frankfurt.de/soziale_stadt_gallus_5501.html (3. 9. 13). 2 http://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2773&_ffmpar[_id_inhalt]= 20881 (3. 9. 13).

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Mentalisierungsgestützte Erziehungsberatung63

der Schulvorbereitung, bis zu Sport- und Bewegungsangeboten und der Lerngruppe »PC-Führerschein«. Die Eltern können nach dem Bringen der Kinder noch in der Kaffeeecke verweilen und sich untereinander oder mit Erzieherinnen austauschen. Die Eltern kommen überwiegend aus sozioökonomisch benachteiligten Milieus. Von den Familien haben etwa 70 % einen Migrationshintergrund, die Kommunikation in deutscher Sprache stellt oft eine besondere Herausforderung für die Familien und ihr Umfeld dar. Die Eltern haben im Schnitt 2 bis 3 Kinder und sind häufig über viele Jahre mit der Kindertagesstätte (Kita) verbunden, da sie nach dem Schuleintritt ihrer Kinder das Hortangebot weiter nutzen. Die Eltern arbeiten in den meisten Fällen Vollzeit, daher werden drei Viertel der Kinder ganztags betreut. Das Einkommen der Eltern ist trotz der hohen Arbeitsbelastung gering. Die Kosten für einen Betreuungsplatz können von nahezu 80 % der Eltern nicht allein aufgebracht werden, sodass viele Familien die Betreuung ihrer Kinder über eine Kostenübernahme oder -beteiligung durch das Jugendamt finanzieren. Auch die Freizeitgestaltung der Familien ist stark von der finanziellen Situation geprägt. Zudem ist bei vielen Familien häufig nicht nur die finanzielle, sondern auch die Wohnsituation beengt. Die Fachkräfte beschreiben, dass viele Eltern phasenweise sehr angespannt im Umgang mit ihren Kindern seien. Die Erfahrungen der Kita in Bezug auf Elternangebote haben gezeigt, dass besonders kostenlose und ungezwungene Angebote gerne von den Eltern in Anspruch genommen, jedoch eher unregelmäßig wahrgenommen werden. Erziehungsthemen fänden häufig in »Tür und Angel«-Gesprächen statt und würden überwiegend vonseiten der Erzieherinnen angesprochen. Die Zielgruppe waren Eltern von Kindern im Alter zwischen 3 und 6 Jahren, die in der Kindertagesstätte betreut werden. Der Zugang zur Gruppe sollte niedrigschwellig gehalten werden. Die Teilnahme war an keine weiteren Voraussetzungen gebunden. Die Idee, ein Gruppenangebot für Eltern der Kita anzubieten, wurde von der Leitung und den Fachkräften von Beginn an unterstützt. Das Konzept wurde im Team vorgestellt. Ein Handout, aufgehängt in der Kindertagesstätte, informierte die Eltern (siehe Abbildung 1). Den Fachkräften wurde ebenfalls ein Informationsblatt © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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gegeben, um sie über das Angebot zu informieren und die Fragen von interessierten Eltern beantworten zu können. Die Leiterin schilderte, dass die Eltern ihrer Einschätzung nach häufig mit vielfachen Problemlagen konfrontiert seien und dieses Angebot in ihren Augen eine Chance für die Eltern darstelle, »Bekanntes neu zu erleben«. Neues Angebot für Eltern Eine Elterngruppe, die den Eltern eine Hilfe sein soll, ihre Kinder besser zu verstehen. Das kennen alle Eltern: Eigentlich ist gar nix passiert und trotzdem wird das Kind auf einmal ganz wütend und tobt, will absolut nicht machen, was die Eltern gerade von ihm wollen. Und die Eltern verstehen gar nicht, was jetzt gerade mit ihrem Kind los ist. Sich zu »verstehen« ist nicht nur eine Frage der richtigen Worte – egal in welcher Sprache. Manchmal verstehen wir trotzdem nicht, warum jemand so reagiert, warum er z. B. fröhlich oder traurig oder gerade wütend ist. Wie lernt man, sich in das eigene Kind und in andere Menschen besser hineinzuversetzen? Das ist nicht nur für Eltern wichtig, auch Kinder müssen lernen, sich in andere einzufühlen. Das können sie leichter lernen, wenn die Eltern sie dabei unterstützen und sie fördern. Die Elterngruppe beschäftigt sich genau mit diesem Thema: Was hat es auf sich mit dem Einfühlungsvermögen, warum ist es wichtig und wie funktioniert es? Was hat man davon und wie können Eltern ihren Kindern einen einfühlsamen Umgang mit anderen vermitteln? Besonders wollen wir uns dabei auch die stressigen und anstrengenden Situationen anschauen, in denen es manchmal so schwierig ist, geduldig zu reagieren. Wir lernen mithilfe von Filmen, Spielen und Gesprächen, wie es entspannter gehen kann im Alltag mit Kind. Für wen? Eingeladen sind alle Mütter und Väter, die Kinder im Alter zwischen 3 und 6 Jahren haben. Wir bitten um Anmeldung bei der KT-Leitung oder einer Erzieherin, da die Teilnehmerzahl auf 10 Personen begrenzt ist. Die Gruppe ist für alle Eltern kostenlos!!! Wann? Immer dienstags von 15.30–17.00 Uhr in den Räumen des Eltern-Kind-Treffs. Wer? Angeboten wird die Gruppe von Sabrina Zimmer (Sozialpädagogin) und Linda Kaufmann (Sozialarbeiterin). Abbildung 1: Handout Elterninformation

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Mentalisierungsgestützte Erziehungsberatung In der Beziehung zur Bezugsperson werden immer wieder wesentliche Bedürfnisse des Kindes verhandelt. Das Bedürfnis nach Nähe und Autonomie, Sicherheit, Geborgenheit, Schutz und Grenzen und ebenso nach Individualisierung, Eigenständigkeit, Kompetenz und eigener Identität. Die damit verbundenen Beziehungserfahrungen wiederum beeinflussen den Umgang des Individuums mit sich selbst, den Zugang zu seinen Gefühlen, und sie werden handlungsleitend beim Aufbau eigener Beziehungen (Suess, Schuerer-Englisch u. Pfeiffer, 2011). Das Interaktionsverhalten der Bezugspersonen dem Kind gegenüber ist daher ein entscheidender Faktor bei der Bildung von sozialen Kompetenzen. Die Art der Interaktionen mit Familienmitgliedern (einschließlich Geschwistern) und Gleichaltrigen, die Fähigkeit der Eltern, mit ihren Kindern über Gefühle zu sprechen und Konflikte zu verhandeln, haben Einfluss auf die Mentalisierungsfähigkeit des Kindes (Fonagy, 2006). In Stresssituationen findet oft ein kontextspezifischer Zusammenbruch des Mentalisierens statt und führt zu einer situationsspezifischen Unfähigkeit, die Gedanken und Gefühle anderer zu berücksichtigen. Bei einem solchen Zusammenbruch kann es dazu kommen, dass die Bezugsperson glaubt, ihr Kind möchte sie absichtlich provozieren, oder aber sie ignoriert den mentalen Zustand des Kindes. Durch Stress oder anhaltende Belastungen entstehen häufig nichtmentalisierende Kreisläufe, in denen sich die Beteiligten unverstanden oder falsch verstanden fühlen und daher feindselig reagieren. Nicht-Mentalisieren führt oft zu dem Versuch, Verhalten zu kontrollieren, anstatt es zu verstehen. Kontrollierendes Verhalten wiederum löst starke Emotionen bei dem Gegenüber aus, sodass er ebenfalls nicht mentalisieren kann. Konfliktlösungen brauchen einen stressfreien Raum. Die geplante Intervention sollte daher stressvolle Alltagssituationen aufgreifen und helfen, nichtmentalisierende Kreisläufe, wie eskalierende Auseinandersetzungen, zu erkennen und zu reflektieren. Negative Interaktionen, die aus Stress und Nicht-Mentalisieren entstehen, werden häufig zu Teufelskreisen, z. B.: »Immer, wenn ich abends keine Zeit habe, schreit das Baby, und sein Bruder macht dann irgendwann © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Unsinn. Mein Mann kommt nach Hause und ist schlecht gelaunt und schreit mich an.« Indem wir diese Abläufe erklärten, fühlten sich die Familien eher verstanden. Neugierde über Gedanken und Gefühle anderer zu erwecken ist förderlich (z. B. Was denkt er jetzt? Was will mein Kind, wenn es schreit? Was geht in Ihnen jetzt vor?). Mentalisierung soll durch Reflexion der Zusammenhänge zwischen Verhalten und innerem Erleben gefördert werden. Wenn Mentalisierung in der Interaktion nicht stattfindet, wird empfohlen: anzuhalten und zu forschen. Nachfragen, was jedes Familienmitglied denkt und wie es sich fühlt, ist ebenso hilfreich wie die Identifizierung und Förderung von gelungener Mentalisierung. Interventionen aus dem SMART-Programm (Fearon et al., 2006) wurden für die Arbeit mit der Elterngruppe überarbeitet und in das Konzept übernommen.

Die Projektdurchführung Die Gruppe fand an 6 Terminen dienstags von 15:30 bis 17.00 Uhr statt. Diese Uhrzeit bot sich an, da die Kinder noch in der Kita bleiben konnten, ohne dass die Eltern sich zusätzlich eine Betreuung suchen mussten. Zur ersten Gruppenstunde hatten sich 6 Mütter für das Angebot angemeldet, meist nahmen 2 bis 4 Mütter an den Terminen teil. Die Teilnehmerinnen waren zwischen 30 und 40 Jahre alt, hatten überwiegend mehrere Kinder (zwischen 18 Monaten und 11 Jahren) und kamen aus den Herkunftsländern Polen, Bosnien, Türkei und Jemen. Drei Frauen waren sprachlich noch unsicher, aber engagiert und bemüht. Ihre Anliegen ließen sich zunächst kaum benennen, neben vielen Fragen (zum Gruppenangebot oder »wie mache ich es richtig?«) und dem Bedürfnis, von schwierigen Alltagssituationen zu berichten, einigten sie sich auf das Ziel, »sich in Stresssituationen mit den Kindern besser in die Kinder hineinversetzen zu können und gerechter zu handeln«.

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Tabelle 1: Ablauf der einzelnen Gruppenstunden Ablauf

Anmerkungen

Begrüßung, »Blitzlicht«

Einführung

Fragen und Diskussion

Rückblick auf die vergangene Stunde, Klärung von Fragen und Einstieg in das aktuelle Thema

Thematischer Schwerpunkt

Kurzer theoretischer Input (den Inhalt dieses Inputs bekamen die Teilnehmerinnen als Handout zum Mitnehmen)

Flexible Phase

Spielen, Übungsangebote

Rückblick, »Blitzlicht«

Verabschiedung

Das erste Gruppentreffen wurde als Kennenlernphase verstanden. Ziel der Eröffnungsphase war es, eine gute Beziehung zu den einzelnen Gruppenteilnehmerinnen und eine Gruppenkohärenz aufzubauen. Eine Gruppenkohäsion fördert das Gefühl von Sicherheit, Offenheit und erleichtert die Kommunikation. Den Eltern wurde mitgeteilt, dass die Gruppenleiterinnen sich an ihren Zielen orientieren. Die Teilnehmerinnen beschlossen, sich mit konflikthaften Situationen im Alltag mit Kindern auseinanderzusetzen. Gruppenregeln und Vereinbarungen (z. B. »den anderen ausreden lassen«, Vertraulichkeit, Einverständnis zu Audioaufzeichnungen und anonymisierter Auswertung) wurden abgestimmt. Nach dieser Einführung wurde eine Vorstellung über die Planung der einzelnen Treffen gegeben. Die Sitzungen sollten halbstrukturiert sein, um die für eine kurze Intervention notwendige Struktur anzubieten (siehe Tabelle 1), aber auch um auf unvorhergesehene Situationen eingehen zu können. Die theoretische Einführung bezog sich auf Grundlagen zur Wahrnehmung und Sprachentwicklung in verschiedenen Altersstufen (Penthin, 2001). Das Thema »Gefühle, Gedanken und eigene Reaktionen« stand im Mittelpunkt der zweiten Stunde der Elterngruppe. Die Eltern wurden aufgefordert, sich in verschiedene Situationen und die Gedanken und Gefühle eines Gegenübers hineinzuversetzen. Als theoretischer Input wurden Situationen ausgewählt, die für die meisten Eltern bekannt und stressig waren und in der Familie wiederkehrende Konflikte darstellten. Hierzu gehörten beispielsweise das Zubettgehen, bei © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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dem die Kinder länger aufbleiben möchten, oder das gemeinsame Einkaufen, bei dem es an der Kasse oftmals zu Extrawünschen der Kinder kommt. Das Thema wurde anhand der Situation »gemeinsames Einkaufen« diskutiert. Den Eltern wurde vermittelt, dass es verständlich sei, wenn sie sauer oder genervt seien. Diese potenziell eskalierende Situation könne jedoch entschärft werden, indem die Eltern versuchen, ihrem Kind die eigenen Gefühle mitzuteilen und die Gefühle des Kindes wahrzunehmen, auch wenn sie Grenzen setzend reagieren. Zum Beispiel indem sie sagen: »Ich verstehe, wenn du wütend bist, aber das kaufen wir jetzt nicht.« Zu lernen, mit ihrem Kind über Gefühle zu sprechen, hilft dem Kind, dies auch zu lernen. Die Eltern wurden aufgefordert zu erzählen, warum diese Situationen besonders schwierig für sie seien, wie es ihnen dabei gehe und insbesondere wie es ihrem Kind gehen könnte. Die Perspektive des Kindes zu übernehmen, sich in ihr Kind hineinzuversetzen und Verständnis für dessen Reaktion aufzubringen, sollte helfen, Situationen zu deeskalieren und zu reflektieren. Es ging nicht darum, nicht wütend zu werden, sondern darum, trotz des eigenen Ärgers mentalisierend mit intensiven Emotionen umzugehen. Dies ist in Stresssituationen besonders heikel. Die eigenen Gefühle beeinflussen und überlagern oft die Gedanken und unser Handeln. Daher ist es notwendig, sich über seine Gefühle klar zu werden. Die Reflexion hilft dann, diese zu regulieren und konstruktiv zu reagieren. Die Mütter beteiligten sich engagiert, steuerten eine Vielzahl eigener Situationsbeispiele bei und tauschten sich darüber auch rege aus. In der dritten Stunde lag der Schwerpunkt erneut auf der Auseinandersetzung mit emotionalen Reaktionen. Allerdings wurde in dieser Stunde der Fokus auf das Gefühlsleben der Kinder gelenkt, wenn Eltern schlecht mentalisieren können. Zu diesem Zweck wurde ein kurzer Filmausschnitt »Der Mülleimer« gezeigt (Willerscheidt, 2010). »Der Mülleimer« Zu Beginn des Films sieht man einen Jungen, der alleine in seinem Zimmer zufrieden mit seiner Autorennbahn spielt. Die Mutter schaut in das Zimmer und beobachtet ihren Sohn beim Spielen. Der Vater kommt nach Hause und wirft beim Öffnen der Haustür den Mülleimer um, der an der Wohnungstür lehnt. Der Vater

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wird direkt wütend und schreit seinen Sohn an, warum der Müll noch nicht heruntergebracht sei. Der Sohn wird aus seinem, bis dahin ruhigen Spiel gerissen und vom Vater beschimpft. Der Vater verlangt von seinem Sohn, den Müll sofort rauszubringen, und der Sohn fügt sich den Anweisungen des Vaters. Die Mutter greift in dieser Situation nicht ein, sondern hält sich im Hintergrund. Als der Sohn den Müll wegbringt, beginnt der Vater, die vom Sohn aufgebaute Autorennbahn zu zerstören.

Mit Fragen zum Filminhalt sollte es den Teilnehmerinnen ermöglicht werden, zunächst eine distanzierte Beobachterrolle einzunehmen. Anschließend wurden sie aufgefordert, mögliche Gefühle der dargestellten Personen zu beschreiben (Sadler, Slade u. Mayes, 2009). Fragen zum Film sollten mehrere Perspektiven auf das Geschehen eröffnen sowie den Gruppenleiterinnen einen Eindruck von der Mentalisierungsaktivität der Teilnehmerinnen vermitteln. Anhand der Audioaufnahmen und ihrer Transkription wurden 2 kurze Episoden ausgewählt, um das situative Mentalisierungsversagen einer Teilnehmerin darzustellen und die darauf bezogenen mentalisierungsfördernden Interventionen der beiden Gruppenleiterinnen zu demonstrieren.

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Ausschnitte aus der Transkription der 3. Gruppensitzung*

Kommentar

1. Episode, Zeit: 0:07:50–0:16:53 Um was geht es? Was haben Sie gesehen? Also ich habe gesehen, dass ich so einen Ehemann auf keinen Fall haben möchte.

Die Gruppenleiterinnen nehmen eine Haltung des NichtWissens ein und explorieren den Inhalt des Filmes.

Warum nicht? Das ist … Ich kann mir sehr gut vorstellen, das passiert in jeder Familie wirklich, dass der Papa oder die Mama kommen genervt von der Arbeit nach Hause und dann läuft es nicht so rund. Aber sehen Sie, das ist gerade das, worüber wir die ganze Zeit sprechen […]

Die Mutter bezieht den Filminhalt sogleich auf sich.

Was haben Sie gesehen? Vielleicht war es ja übertrieben. Oder es kann natürlich, wenn man das so sich anguckt, kann es sein, dass das nicht das erste Mal in der Familie vorgekommen ist, weil das Kind hatte echt Angst und hat sich dann so zurückgezogen […]

Die Gruppenleiterin wiederholt die Frage. Die Frage soll Exploration fördern, doch die Teilnehmerin fokussiert sogleich auf die beteiligten Emotionen. Die eigene, emotional getönte Wahrnehmung steht im Vordergrund. Auf den Filminhalt wird kaum Bezug genommen.

Wenn Sie so überlegen von Ihrem Gefühl, vom ganzen Film her: Wie war es am Anfang? Wann ging es los? […] Wie ich schon von vorne gesagt habe, so einen Mann will ja keiner haben. Weil, ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass das nicht nur am Kind ausgelassen wird, sondern auch in vielen Situationen … Leider muss ich zugeben, dass ich die Situation kenne. Nicht aus der Sicht, als ich Kind war, dass meine Eltern so reagiert haben, sondern in der Ehe meiner Schwester. […] Und immer wenn dann am Wochenende der Papa nach Hause kam, stand alles so. Weil es zu Hause sauber sein musste, weil es leise sein

Da die explorationsfördernde Intervention wenig erfolgreich war, ändern die Gruppenleiterinnen die Richtung und explorieren die beteiligten Affekte. Daraufhin erzählt diese Teilnehmerin ausführlich und bezieht die Filmepisode auf eigene Erfahrungen. Die Mentalisierungsfähigkeit der Mutter erscheint situativ eingeschränkt. Sie verknüpft die dargestellte Situation aus

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musste, weil es alles so stehen musste, wie der Papa will. Und deswegen habe ich das gleich gesagt, also wer möchte so einen Vater oder Mann haben, der wirklich … Vielleicht hatten sie es gerade gemütlich. Vielleicht war es nicht ordentlich, weil sie diskutiert haben. Vielleicht haben sie gekocht. Er weiß es nicht, er war nicht da. Und als … […]

dem Film mit Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben und kann nur schwer eine emotionale Distanz zum Film aufbauen.

Was ist das für ein Gefühl? Also ist das bei Ihnen dann auch so oder …? Ich hatte das Gefühl auch, als Sie erzählt haben, worum es ging, dass Sie sauer sind vom Gefühl her. Ja. Deswegen habe ich gesagt, ich mag so was nicht. Ich mag so was nicht, dass man an den anderen das auslässt. Man kann das wirklich anders klären. Das mag ich nicht, wenn jeder … Wenn er nach Hause kommt, wieder erst mal zu sich kommen. Dann kann er sich hinsetzen und kann »guten Tag« sagen, wie geht es euch, was habt ihr gemacht, und dann versteht er, warum es gerade zu Hause unordentlich ist oder warum das oder das nicht getan worden ist. Und das kann keiner verlangen, dass, wenn ich nach Hause komme, wird es jetzt nach meinen Regeln gespielt, es wird jetzt so oder so gemacht. Weil, wie es aussieht, hat es der Mutter nichts ausgemacht, dass der Müll bei denen vor der Tür steht. Das hat ihr nichts ausgemacht, dass der Sohn gerade mit den Autos, mit der Carrera-Bahn da spielen möchte. Das hat sie nicht gestört, hat ihr nichts ausgemacht. Warum muss es ihn dann stören? Was ist das? Der war in seinem Zimmer, das Kind. Eventuell kann ich mir vorstellen, gut, dieser Müllbeutel vor der Tür … Du kommst rein und dann kannst du nicht mal die Tür aufmachen. Da ärgert man sich schon gleich, aber … das hat irgendwie so

Hier wird die Affektfokussierung wiederholt und konkretisiert, indem der aufkommende Ärger dieser Teilnehmerin angesprochen wird. Der Affekt scheint Einfühlung in die Personen zu verhindern und führt zunächst zu einer normativen Begründung und Bewertung, wie solche Situationen aus Sicht der Mutter bzw. der Teilnehmerin ablaufen sollten. Nachdem die Teilnehmerin die Möglichkeit hatte, aussprechen zu können, dass ihr diese Situation »bekannt« ist (sich vergegenwärtigte, was in ihr vorging), senkte sich auch ihr emotionaler Stress und sie konnte den Film etwas distanzierter betrachten und besser mentalisieren. Ausgehend von der Identifikation mit der Mutter und einem Vorwurf an den Vater gelingt es ihr wieder, zurück zum Film zu kommen und sich erstmals in den Vater einzufühlen.

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ausgesehen. Der war irgendwie genervt, müde und wollte seine Ruhe haben (–0:16:53) 2. Episode, Zeit: 0:31:43–0:34:33 Ich frage mal kurz nach. Ist bei Ihnen … diese Situation von Ihrer Schwester mitgelaufen? Ja. Gleich im Hinterkopf.

Im Verlauf wurde deutlich, dass besonders die Einfühlung in die Film-Mutter schwierig war und an diesen Stellen auch immer wieder die Grenzen zwischen eigener Erfahrung und Film verschwammen.

Weil ich so das Gefühl habe, Sie … Ich habe das Gefühl sofort gehabt, also die müsste mal … Sie waren wütend auf den? Ja, ich war sauer auf diesen Mann. Ja? Ja. Wirklich. Dass er so reagiert. Und das war weg von diesem Schauspieler, sondern bei Ihrer Schwester, bei dem Partner? Nicht wirklich so direkt in dem Sinn habe ich … Wo Sie gesagt haben, Sie haben was rausgesucht, was alltagsnah ist, da habe ich gesagt, ja, tatsächlich ist es alltagsnah in dem Sinne. Es muss nicht in jedem Haus vorkommen, aber es ist mir nicht fremd. Das habe ich schon gesehen. Halt nicht in dem Sinne, das habe ich noch nicht gesehen. Weil, wie auch immer, man kommt aus verschiedenen Familien. […] Ich weiß es nicht. Ich habe mein Kind auch schon angeschrieen und da hat es mich angeguckt wie, was tust du jetzt hier […]

Das Ansprechen der Vermutung, die Mutter vermische den Film mit biografischen Erlebnissen, verdeutlichte, was sie persönlich gerade selbst bewegt.

Das hat Sie ein bisschen aufgewühlt, oder? Ja, das hat mich nun wirklich sofort geärgert. Solche Männer oder Väter mag

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ich nicht. Das mag ich nicht, dass man so was macht, wenn man Kinder … Also dem Vater gegenüber war da schon Wut, weil Sie gesagt haben, das macht mich sauer, wie er reagiert. Ja schon. (Ende: 0:34:33) * fett = Gruppenleiterinnen, normal = Teilnehmerin

Die Teilnehmerinnen wurden aufgefordert, sich in die einzelnen Rollen (die Mutter, den Sohn, den Vater) hineinzuversetzen. Schon bei dem Versuch, sachlich den Inhalt wiederzugeben, zeigte sich, dass eine Teilnehmerin dazu nicht gut in der Lage war. Die rasche Aktivierung intensiver Affekte (Ärger) erschwerte eine Distanzierung und Abgrenzung von Film und eigenen Erfahrungen (Schwester). Sie führten zu einer Verzerrung sowie einer nichtmentalisierenden normativen Begründung, »wie es zu sein hat«, also einem Versuch, die Situation zu kontrollieren. Die Gruppenleiterinnen explorierten zunächst den Filminhalt aus einer Haltung des Nicht-Wissens; als dies wenig gelang, sprachen sie die Affektbeteiligung an, stellten vorsichtig den eigenen Eindruck zur Verfügung und konkretisierten, um welche Affekte (Ärger) es sich handelte. Damit förderten sie die Affektregulation und die Rückkehr einer mentalisierenden Sichtweise. Nachdem die Mutter ihre eigenen Gefühle in Bezug auf die Situation der Schwester und deren Mann von der gespielten Situation im Film besser unterscheiden konnte, wurden die Schilderungen differenzierter und einfühlsamer. Der Schwerpunkt der vierten Stunde lag auf der Nachbereitung der letzten Stunde und der Diskussion einer 2. Filmsequenz (»Der Geburtstag«: Willerscheidt, 2010). Die Filmsequenz zeigte einen Ausschnitt aus einer Kindergeburtstagsfeier. Ein Junge feiert seinen Kindergeburtstag zu Hause und hat einige Freunde eingeladen. Alle Kinder sitzen am Tisch und haben Freude. Die Eltern des Jungen überreichen ihm eine Geburtstagstorte mit Kerzen darauf. Sie fordern ihn auf, sich etwas zu wünschen. Der Junge pustet die Kerzen aus und streicht genüsslich mit dem Finger

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durch die Geburtstagstorte, um ihn danach abzulecken. Der Vater des Jungen reagiert unmittelbar ärgerlich, wertet den Jungen ab, beschämt ihn vor seinen Freunden.

In der fünften Stunde bildete die Auseinandersetzung mit Gedanken und Gefühlen in spannungsreichen Situationen den Mittelpunkt. Anhand der Beispiele der Eltern wurden zunächst einzelne Situationen besprochen, die Gedanken und Gefühle der Personen in der Situation betrachtet und daraus versucht, Erklärungen für das Verhalten zu finden. Als erstes Thema wurde die Bearbeitung von Streitsituationen zwischen Geschwistern gewünscht. Die Gruppenteilnehmerinnen hatten alle mehrere Kinder, sodass sie sich über eine Vielzahl von Situationen austauschten, bei denen die Geschwister in Konflikt gerieten. Es wurden anhand von 2 Beispielen mögliche Betrachtungsweisen für den Konflikt und die Gefühle der Kinder und Eltern, die dahinterliegenden Beweggründe und möglichen Handlungsoptionen der Eltern besprochen. Die Erfahrungen im Alltag und Reaktionen der Umwelt auf die Familien wurde als Zweites thematisiert. Die Teilnehmerinnen schilderten ihre Erlebnisse, bei denen sie sich als Eltern oder Familie mit mehreren Kindern unverstanden gefühlt hatten. In diesem Zusammenhang tauschten sich die Teilnehmerinnen dann zudem darüber aus, welche Unterstützungsmöglichkeiten und Angebote es in ihrem Wohnumfeld für Familien und Eltern gibt.

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Ausschnitte aus der Transkription der 5. Gruppensitzung

Kommentar

1. Episode, Zeit: 0:18:25–0:35:25 … und das hat mir irgendwie leidgetan, einen halben Tag Zeit damit zu verschwenden, die auseinanderzunehmen, weil der eine macht dem anderen was kaputt, der will nicht teilen oder nicht geben. Sogar ich fand das als Zeitverschwendung. Aber irgendwie funktioniert das nicht ohne. Das kommt jedes Mal.

Sich wiederholende Streits, Unverständnis und Abwertung (Zeitverschwendung) können Hinweise auf nichtmentalisierende Kreisläufe sein.

Ein ganz einfaches Beispiel: Gestern waren wir mit dem kleinsten Kind unterwegs. Beide sind besessen von Lokomotiven. Und der Große ist fünf. […] Da hat das kleine Kind ein Geschenk bekommen, eine Lokomotive, und dann kommt das große Kind nach Hause vom Kindergarten, sieht die Lokomotive und will sie sofort haben. Ich erkläre, dass es ein Geschenk für das kleine Kind ist, und er hat genug von eigenen und sie können zusammen spielen, abwechselnd, aber er darf es nicht wegnehmen. Das hat gar nicht funktioniert. Also das war ein Riesenfehler, eine zu kaufen. Eventuell hätten wir zwei kaufen müssen. Also verstehen Sie, das sind so banale Beispiele. Aber das ist eben, wo man die ganze Zeit sich damit beschäftigen muss, die Kinder auseinanderzuhalten. Wenn das eine nicht teilen will, das andere ist zu klein, um zu verstehen. Es gibt deswegen sehr viel Stress […]

Schilderung einer aktuellen Situation, die die Teilnehmerin belastet.

Wollen wir uns genau die Situation mal ein bisschen näher angucken? Ja.

Die Gruppenleiterinnen explorieren die Situation von einem Standpunkt des Nicht-Wissens.

Teilnehmerin drückt offen Ratlosigkeit aus.

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Das kennen Sie wahrscheinlich auch, oder? Die Situation: Der eine hat was, was der andere auch haben will. Ja. Unbedingt und sofort jetzt und keiner will verstehen oder nachgeben. Ja. Die Lokomotive. Ich kann beide Kinder verstehen, aber ich hatte nur eine Lokomotive […] Ja. Und dann war natürlich, man musste … Dann habe ich ihm natürlich erklärt, die hat dein Bruder gekriegt, weil er sich verletzt hat und hat so viel geweint und die hat ihm gefallen, die hat ihn …

Teilnehmerin schildert differenziert die Handlungsebene, erwartet vom älteren Sohn Verständnis, zeigt aber Schwierigkeiten, sich in ihn hineinzuversetzen.

Ah! […] Und der Große wollte das gar nicht verstehen. Der hat dann geweint. Und je mehr der Große weint, desto fester hält der Kleine die Lokomotive dann und gibt sie gar nicht her […] Also an dem ersten Tag war es noch okay. Aber heute war der zweite Tag und dann war nur Streit. Das war so. Nicht von Anfang an. Also, da war noch so ein bisschen dann zu schlichten. Aber heute, da … Das heißt gestern, wo er es bekommen hat, da wusste er, okay, und die haben zusammen gespielt. Genau. Die haben zusammen gespielt, haben dann seine Schienen aufgebaut und haben zusammen gespielt. Und heute haben sie eigentlich schon zusammen gespielt und dann nicht mehr. So, und dann heute? Das war ja … Der hat nur geweint, hat gesagt, er will sie haben, er mag nur die. Die anderen hat er geschmissen und hat gesagt, das sind nicht mehr meine Lieblingsloks, nur die gefällt mir und die will ich nur haben. Und der Kleine hält sie und gibt sie gar nicht mehr raus.

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Waren die heute beide zu Hause? Ja. Weil der Große hat sich abends so am Fuß verletzt, dass er nicht mehr laufen konnte. Also der war die ganze Zeit zu Hause. Der war nicht im Kindergarten. Und der Große hat sich auch noch am Fuß verletzt? Genau. Beide am Fuß verletzt. Ehrlich. Der hat sich dann gestern Abend so fies am Fuß verletzt … und da konnte er wirklich nicht laufen, nur auf Zehenspitzen, und dann ist er zu Hause geblieben und dann haben sie natürlich intensiver zusammen gespielt. […] Ja. Die haben … Ich sage doch, die haben dann die Schienen aufgebaut im Zimmer und vielleicht 5, 10 Minuten schön zusammen gespielt und dann kam, dann wollte das große Kind unbedingt die Lokomotive und … Also wir konnten nicht mehr … Es tut mir leid, aber wir konnten nicht vor Lachen, denn das kleine Kind hat so krampfhaft diese Lokomotive gehalten und der Große weint und der Kleine rennt durch das Zimmer und sagt »meins, meins«. Und wir versuchen wirklich ernsthaft – weil mein Mann war am Vormittag noch da – wir haben versucht, ernsthaft zu erklären, das ist das Geschenk von gestern, dass das ein Geschenk für den Kleinen war. Also nicht lange Diskussion. Ehrlich. Das war … Also guck mal, das ist das Geschenk für den Kleinen. Das hast du gewusst. Wenn du dein Geschenk kriegst, dann darf er das auch nicht nehmen, es sei denn, er mag das jetzt nicht, damit spielen, und er will es dir geben, kein Problem! Aber nimm es ihm nicht aus der Hand! Das war es. Und dann hat er so viel geweint und dann habe ich gesagt: »Na, dann muss ich jetzt die Lokomotive nehmen und die kriegt keiner […]«

Hier erkennt man, dass der Große sich ebenfalls verletzte. Dies erklärt das Verhalten des Sohnes, wird aber von der Teilnehmerin übergangen.

Hier schildert die Teilnehmerin den Zusammenbruch des Mentalisierens der Eltern. Die Einfühlung in die Not der beiden Kinder ist deutlich eingeschränkt. Die Interventionen der Eltern erfolgen auf der Handlungsebene, ohne die Hintergründe zu verstehen.

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Haben Sie eine Idee? Sie haben ja eigentlich den ganzen Tag so schön erst mal zusammen gespielt und es war gar kein … Nein, nein. Die haben ganz friedlich zusammen gespielt, und dann ging es los. Bei Kindern ist das so. […] Erst einmal habe ich es erklärt, weil es nicht funktioniert hat, und dann habe ich gesagt, dann muss ich die wegnehmen, die gehört jetzt mir … (Ende: 0:35:25)

Nicht-Mentalisieren äußert sich in der Floskelhaftigkeit der Aussagen (Kinder sind halt so).

2. Episode, Zeit: 0:54:00–0:56:25 Ich habe noch eine Frage. Er (der ältere Sohn) hat ja dann seine zweite, heute Nachmittag, seine Eisenbahn bekommen? Er sollte die bekommen […] Weil die eine ihm so gefallen hat und er hat gesagt, er hat sie sich auch immer gewünscht und das wäre auch kein Problem, dass er sie auch bekommt. Also nicht wegen dem Fuß. Das weiß ich nicht. Das kam nicht: »Oh du Armer, du hast dich verletzt, du kriegst auch eine.« Aber weil es ihn … Der wollte sie auch immer wieder oder… Weil er das mag. Und damit wir Ruhe haben. Weiß ich jetzt nicht.

Im Verlauf der Gruppensitzung (ca. 20 Minuten nach der 1. Episode) kommen die Gruppenleiterinnen zurück auf die aktuelle Stresssituation (stop and rewind) und versuchen, eine Perspektivenübernahme und Einfühlung für die Emotionen der beiden Jungen zu fördern, dabei fokussieren sie auf deren Affekte und bestätigen deren emotionale Reaktionen.

Weil das finde ich schon … Das wäre doch jetzt nicht schlecht, ja. Also der kleinere Bruder hat es bekommen, weil er Aua am Fuß hat. Und da hat er eine tolle Lokomotive. Und ihr Sohn hat abends auf einmal auch Aua am Fuß … Ja. Ein Auslöser (schmunzelt). Kann auch gut sein, ja.

Daraufhin versucht die Teilnehmerin einen Perspektivenwechsel, kommt aber wieder zurück auf eine Lösung des Problems auf der Handlungsebene und betont letztlich, dass sie Ruhe sucht, signalisiert, sich nicht mehr damit beschäftigen zu wollen.

Also es muss ja nicht stimmen. Aber ich glaube, ihr Sohn ist mit fünf schon sehr fit. Also ich traue ihm zu, dass er überlegt, okay, pass mal auf, mein kleiner Bruder kriegt eine Lokomotive, die ich toll finde,

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weil ihm tut der Fuß weh. Wenn mir der Fuß weh tut, müsste ich auch eine Lokomotive bekommen. Kann gut sein, weil er … Sofort als er sich verletzt hatte, hat er gesagt, oh mein Gott, jetzt kann ich nicht morgen in den Kindergarten, muss ich zwei Wochen zu Hause bleiben […] Vielleicht wo wir das vorgeschlagen haben, dass er das auch… Wenn sie ihm gefällt, dass er die auch bekommt, vielleicht auch hat er das damit verbunden. Ja, das kann auch sein. Also ich würde … Ich würde… Wenn Sie jetzt so sagen, dann denke ich, ja vielleicht ist es dann wirklich, damit man die Ruhe hat. (Ende: 0:56:25) * fett = Gruppenleiterinnen, normal = Teilnehmerin

In der sechsten und letzten Stunde wurden die Inhalte aus den vergangenen fünf Gruppenstunden zusammengefasst und wiederholt. Hierbei ging es darum, den Eltern einen Überblick über das zu geben, was bereits von ihnen erarbeitet wurde, und ihnen die Möglichkeit zu geben, herauszustellen, welche Themen ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind. Nachdem die vergangenen Stunden besprochen wurden und die Eltern sich wieder an Erfahrungen der Stunden erinnerten, startete der erste Teil der Auswertung. Dieser bezieht sich auf mögliche Veränderungen im Denken und Handeln der Eltern durch die Teilnahme an der Elterngruppe. Im Anschluss an diese Reflexion wurden die Mütter von den Kursleiterinnen gefragt, ob es noch etwas gäbe, was sie ihnen mitteilen wollten. Die Teilnehmerinnen sollten ermutigt werden, als Expertinnen Kritik und Verbesserungsvorschläge zu äußern.

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Evaluation und Auswertung In der letzten Gruppensitzung wurde ein Fragebogen mit 6 offenen Fragen ausgeteilt. Fragebogen zur Evaluation des Gruppenangebotes 1. Wie hat Ihnen die Elterngruppe gefallen? 2. Was hat Ihnen gut gefallen? 3. Was hat Ihnen nicht gefallen? 4. Was hat Ihnen geholfen oder nicht geholfen? 5. Hat sich etwas bei Ihnen verändert (Gedanken, Gefühle, …)? Wenn ja, was? 6. Haben Sie weitere Anregungen/Anmerkungen für uns?

Die Antworten lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Akzeptanz des Angebotes war bei den Teilnehmerinnen hoch. Sie fühlten sich persönlich angesprochen und angeregt. Der offene Austausch über Alltagsprobleme untereinander und der Einsatz von Fallbeispielen (Filme) wurden als wichtige Aspekte benannt (Frage 1 und 2). Kritisch wurden die geringe Teilnehmerzahl genannt und die wenigen Termine (Frage 3). Tatsächlich wurden nur wenige Eltern mit dem Angebot erreicht (6) und die Gruppe arbeitete meist an der unteren Grenze der Arbeitsfähigkeit einer Gruppe. Die Begrenzung des Projekts auf 6 Termine war bedingt durch die Aufgabe, es als Studienleistung zu erbringen, und die begrenzte Zeit eines Sommersemesters. Ob die Interventionen mittelfristig Erfolg zeigen können, kann aufgrund ihrer Kürze und des Beobachtungszeitraumes nicht eingeschätzt werden. Anzunehmen ist, dass diese kurze Intervention nicht ausreichte, um eine langfristige Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit und Verhaltensänderungen zu bewirken. Als unmittelbare Veränderungen bzw. Verbesserungen gaben die Teilnehmerinnen jedoch einen entspannteren Umgang mit den Kindern und ein besseres Verständnis von Gefühlen und Reaktionen anderer an. Sie seien ruhiger und rascher wieder entspannt im Umgang mit den Kindern und in Stresssituationen. Das Interesse an weiteren, ähnlichen Themen sei geweckt worden.

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Fazit Als Resümee können drei Erkenntnisse besonders hervorgehoben werden: Die halbstrukturierte Konzeption der mentalisierungsfördernden Intervention erwies sich als besonders geeignet, zum einen, um Mentalisierungsprozesse im Gruppenverlauf erlebbar und verstehbar zu machen, und zum anderen, um genau an den Themen arbeiten zu können, die die Mütter in ihrem Alltag mit Kindern beschäftigen. Diese Vorgehensweise ermöglichte es, den Müttern einerseits Wissen zu vermitteln, andererseits aber auch, dass sie immer an ihrem eigenen Erleben in Stresssituationen erfahren konnten, was Mentalisieren bedeutet und wie dies eingefahrene Verhaltens- und Verstehensmuster aufbrechen kann. Die zweite wichtige Erkenntnis bezieht sich auf die Offenheit und das Vertrauen, dass die Teilnehmerinnen innerhalb kurzer Zeit nicht nur in die Gruppe und die Leiterinnen gewonnen hatten, sondern besonders auch in ihre eigenen Fähigkeiten als Mutter. Der Ansatz einer mentalisierungsorientierten Kurzintervention eröffnete für die Mütter eine neue Perspektive auf ihre Verhaltensweisen und die ihrer Kinder und Partner. Besonders erfreulich war festzustellen, dass die Mütter durch diese Arbeitsweise besser verstehen konnten, wie Stress zwischenmenschliche Beziehungen beeinflusst. Dies trug dazu bei, dass die Mütter gestärkt wurden, Situationen nicht nur mit »richtigem« oder »falschem« Verhalten zu bewerten, sondern viel stärker die Beziehungsebene sehen konnten und Gefühlen und Beziehung mehr Platz einräumten als Verhaltens- und Erziehungsnormen. Als besonders bereichernde Erkenntnis kann abschließend festgehalten werden, dass die mentalisierungsfördernde Arbeit von den Leiterinnen als ein neuer Schwerpunkt in der Arbeit mit Eltern wahrgenommen wurde, der sich sehr gut in die niedrigschwellige Elternberatung integrieren ließ. Auch wenn der Schwerpunkt der Kurzintervention nicht explizit am Feld der Erziehungsberatung orientiert war, zeigte die Dynamik der Gruppe, dass die Teilnehmerinnen genau diesen Schwerpunkt forderten. Die Bearbeitung von Alltagsthemen mit dem Schwerpunkt, die mentalisierenden und nichtmentalisierenden Kreisläufe und Interaktionen sichtbar zu machen, erwies sich als überaus passend für die Bearbeitung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Linda Kaufmann und Sabrina Zimmer

von Erziehungsschwierigkeiten. In der Vorbereitung und besonders während der Durchführung stellte sich das Mentalisierungskonzept für die Gruppenleiterinnen immer mehr als eine unglaublich bereichernde Arbeitsweise dar. Dieser Ansatz wurde von dieser Zielgruppe sehr positiv angenommen und förderte das Bewusstsein für gelingende Beziehungen statt für »richtiges Benehmen«, was auch dazu beitrug, die Teilnehmerinnen von dem Druck zu befreien, eine »gute Mutter« sein zu müssen.

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Mentalisieren der Erzieherinnen Eine Fortbildung in der Kindertagesstätte

Bindung als Voraussetzung für Bildung Der Ruf nach einem quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung ist verbunden mit einer Neubewertung des Stellenwertes früher Bildung. In einer groß angelegten Aktion »Bildung von Anfang an« wurde 2005 in Hessen – in Zusammenarbeit mit Bayern – ein Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren erstellt. Inzwischen ist er mehrfach überarbeitet worden und liegt in 4. Auflage vor. Er nimmt Abschied von einigen traditionellen Vorstellungen, etwa dass die Kindertagesstätten eher für die Erziehung, die Schulen dagegen für die Bildung zuständig seien. Der neue Erziehungs- und Bildungsplan dient nun als eine »Grundlage pädagogischen Handelns« und verweist auf die Bindungstheorie und implizit auf die Wichtigkeit der Mentalisierungsfähigkeit des Kindes (Hessisches Sozialministerium/Hessisches Kultusministerium, 2012, S. 26). Dabei gibt er Hinweise, wie Erzieherinnen und Erzieher die Mentalisierungsfähigkeit der Kinder fördern können. »Entwicklung der eigenen Emotionalität, Erwerb sozialer Kompetenzen und Gestaltung sozialer Beziehungen sind eng miteinander verknüpft. Kinder, die ihre eigenen Gefühle kennen und das emotionale Erleben anderer verstehen, sind sozial kompetenter und können besser mit sich und mit anderen umgehen« (S. 57). Vor diesem Hintergrund beschlossen die Autorinnen ein Konzept für die Fortbildung von Erzieherinnen zu entwickeln, das 1

Dieser Beitrag ist eine Überarbeitung und Ergänzung von Klein, J., Armendinger, T., Kirsch, H. (2013). Bindung und Mentalisierung in der Kindertagesstätte – ein Lehr-Praxis-Projekt. In W. Schwendemann, H. J. Puch (Hrsg.), Evangelische Hochschulperspektiven, Band 9 (S. 189–202). Freiburg i. Br.: FEL Verlag.

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Johanna Klein und Tanja Armendinger

Themen der Bindungstheorie und des Mentalisierungskonzeptes für den Bereich der Kindertagesstätte vermitteln sollte, denn gerade im Kindergartenalter finden entscheidende Prozesse zur Entstehung der Mentalisierungsfähigkeit statt. Da sie vor allem interaktionell entwickelt wird, kann sie im Kindergarten gefördert werden. Das Mentalisierungskonzept von Peter Fonagy, Mary Target, Jon G. Allen und Kollegen wird als »dritte Generation« der Bindungstheorie bezeichnet (Mertens, 2012). Kennzeichen einer gelingenden Mentalisierung ist eine vertrauensvolle Haltung, denn Vertrauen ist der Kern einer sicheren Bindung. Die Person wird von den Gefühlen und Gedanken anderer Personen nicht überwältigt, da sie weiß, dass die Reaktionen der anderen in einem gewissen Ausmaß vorhersehbar sind und sie getrennt von ihnen besteht. Sie weiß, dass die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen andere beeinflussen und umgekehrt. Interessierte Offenheit und eine Haltung des Nicht-Wissens kennzeichnen ebenso gelingende Mentalisierung, d. h., jemand ist an den Gedanken und Gefühlen der anderen interessiert und respektiert deren Perspektiven. Die mentalisierende Person ist sich bewusst, dass das eigene Verständnis mithilfe der anderen erweitert und bereichert werden kann. Perspektivenübernahme, ebenfalls ein Zeichen einer mentalisierenden Haltung, ist gekennzeichnet durch die Annahme, dass ein gleiches Phänomen oder ein Prozess von verschiedenen Personen unterschiedlich gesehen werden kann und dass dies von den jeweils eigenen Erfahrungen und Geschichten abhängt (Asen u. Fonagy, 2012, S. 110). Die Art der Interaktionen mit Familienmitgliedern (einschließlich Geschwistern) und Gleichaltrigen, die Fähigkeit der Eltern, mit ihren Kindern über Gefühle zu sprechen, und deren Konfliktverhandlungen haben Einfluss auf die Mentalisierungsfähigkeit (Fonagy, 2006). Des Weiteren können Bindung, Stress, Misshandlung, Missbrauch, traumatische Ereignisse und psychische Störungen die Mentalisierungsfähigkeit beeinträchtigen (Haslam-Hopwood et al., 2009). Ebenso beeinflusst die Mentalisierungsfähigkeit des Gegenübers die eigene Mentalisierungsfähigkeit, sie kann also nicht nur personenabhängig, sondern auch innerhalb einer Beziehung schwanken (Luyten et al., 2012). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Ein erhöhtes emotionales Erregungsniveau (Arousal) hat große Auswirkungen auf die Mentalisierungsfähigkeit. Bei einem mittleren Arousalniveau mentalisieren wir aktiv und explizit, also bewusst. Dies ist der Fall, wenn z. B. eine unerwartete und problematische Wendung einer Interaktion auftritt. Bei niedrigerem Arousal haben wir keinen Anlass, explizit zu mentalisieren. Bei einem hohen Arousal (Stress) sind wir meist nicht mehr in der Lage zu mentalisieren, wir wechseln in eine automatisch einsetzende Kampf- oder FluchtPosition. Diese Reaktion entsteht beispielsweise bei Wut oder panischer Angst. Fearon und Kollegen (2006) unterscheiden 4 Typen des Mentalisierungsversagens: das konkretistische Verstehen, den kontextspezifischen Zusammenbruch des Mentalisierens, das Pseudo-Mentalisieren und den Missbrauch des Mentalisierens. Diese können Beziehungsschwierigkeiten erst erzeugen, aufrechterhalten oder auch verstärken. Konkretistisches Verstehen meint eine allgemeine Unfähigkeit, die eigenen Gefühle oder die Gefühle anderer Menschen sowie die Beziehung zwischen Gedanken, Gefühlen und Aktionen anzuerkennen. Der kontextspezifische Zusammenbruch des Mentalisierens findet in Stresssituationen statt und führt zu einer situationsspezifischen Unfähigkeit, die Gedanken und Gefühle anderer zu berücksichtigen. Bei einem solchen kontextspezifischen Zusammenbruch kann es dazu kommen, dass die Bezugsperson glaubt, ihr Kind möchte sie absichtlich provozieren, oder aber sie ignoriert den mentalen Zustand des Kindes. Beim Pseudo-Mentalisieren geht man davon aus, dass die Person keinen Zusammenhang zwischen ihren Gedanken, Gefühlen und Handlungen sieht. Beschreibt eine Person einen bestimmten mentalen Zustand eines anderen korrekt, benutzt dies dann aber, um den anderen zu verletzen, dann spricht man von einem Missbrauch des Mentalisierens (Fearon et al., 2006).

Gestaltung der Interaktionen in der Kindertagesstätte Während der außerfamiliären Kinderbetreuung bleiben Mutter oder Vater meist die primären Bindungspersonen, Erzieherinnen können aber zu weiteren Bindungspersonen des Kindes werden (Ahnert, 2004). Die Kinder kommen mit ihrem »eigenen« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Bindungsmuster und lebensgeschichtlich erworbenen inneren Arbeitsmodellen in den Kindergarten. Sicher gebundene Kinder erwarten in Notsituationen selbstverständlich Hilfe und Unterstützung, die ihnen dann auch gewährt wird. Kinder mit vermeidendem Bindungsmuster werden sich in Belastungssituationen eher zurückziehen, sich selbstständig verhalten und so vielleicht nicht die Zuwendung bekommen, die sie bräuchten. Kinder mit einem ambivalenten Bindungsmuster versuchen vielleicht, zuerst sehr viel Unterstützung und Aufmerksamkeit zu bekommen. Die Erzieherinnen werden wahrscheinlich zunächst darauf eingehen. Irgendwann wird dann deutlich, dass diese Kinder so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dass andere oder die Gruppe eventuell zu kurz kommen, und die Erzieherinnen weisen solche Kinder dann vielleicht zurück. Damit machen diese Kinder wieder ähnliche Erfahrungen wie mit ihren primären Bezugspersonen. Bei Kindern mit desorganisiertem Bindungsverhalten besteht die Gefahr, dass es zu einer Rollenumkehr kommt – so wie es diese Kinder aus der Interaktion mit ihren primären Bezugspersonen kennen – und die Kinder die Verantwortung für belastende Situationen auf sich nehmen (Strohband, 2009). Mit zunehmender Sprachfähigkeit des Kindes ändert sich der Umgang mit Gefühlen. Für ein Kind im Kindergartenalter ist es wichtig, zu lernen, dass es Ereignisse nicht nur »fühlt«, sondern auch sprachlich sinn- und bedeutungsvoll darstellen kann. Wenn Kinder intensive Gefühle haben, die sie kognitiv nicht verstehen können, können sie sich nicht »mit der gegenwärtigen Situation realistisch und anpassungsfähig auseinandersetzen« (Grossmann u. Grossmann, 2005, S. 421). Erst wenn alles Wesentliche von Erwachsenen auch mit Worten kommentiert wird, erhält das Erlebte eine Bedeutung, die mit anderen geteilt werden kann (Grossmann u. Grossmann, 2005). Damit Kinder eine »kohärente Narration« erlernen (d. h. in der Lage sind, ihre Lebensgeschichte in angemessener Weise zu erzählen), die einen Hinweis auf gut entwickelte Mentalisierungsfähigkeiten gibt, sollten die Erzieherinnen mit den Kindern über Ereignisse in ihrem Leben sprechen und dabei besonders mentale Zustände berücksichtigen. Gefördert werden kann dies zusätzlich durch Bildmaterial oder in gemeinsamen Phantasiespielen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Im Alter von ungefähr 4 Jahren gelingt es Kindern, den psychischen Äquivalenzmodus und den Als-ob-Modus zu integrieren. Das Kind erkennt nun, dass innere Zustände Repräsentationen der Realität sind. Es ist zunehmend in der Lage, Wünsche, Motive und Überzeugungen als Gründe für Handlungen zu erkennen. Es versteht seine Gedanken und Gefühle als eine subjektive Reaktion auf die Realität, eine Reaktion, die auch anders sein könnte. Im Alter von ungefähr 4 Jahren sind Kinder in der Lage, Aufgaben zu falschen Überzeugungen zu lösen. Kinder können ab etwa dem 6. Lebensjahr ihre Erinnerungen einem zeitlichen Rahmen zuordnen und entwickeln ein »autobiografisches Selbst« (Fonagy, 2006). Die Mentalisierungsfähigkeit eines Kindes kann gefördert werden durch Reden über Gefühle oder Spiele, die das Thema Gefühle betreffen, und durch eine anregende Umgebung und die Möglichkeit zum freien Spiel. Der Bildungsplan Hessen unterstreicht die Bedeutung des Spiels für die Kinder. Mithilfe des Spiels können Kinder Probleme, Lebensund Entwicklungsaufgaben verarbeiten und bewältigen. Das Spiel wird als die grundlegende Form des Lernens angesehen (Hessisches Sozialministerium/Hessisches Kultusministerium, 2012, S. 30). Der Umgang der Bezugspersonen mit den Spielen des Kindes beeinflusst die Integration zum reflektierenden Modus (Köhler, 2004).

Kinder mit Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung Kinder mit Beeinträchtigungen in der emotionalen und sozialen Entwicklung stellen nicht erst seit der Inklusionsdebatte eine Herausforderung für Pädagoginnen und Pädagogen, Erzieher und Erzieherinnen dar, bringen sie doch ihre bislang erworbenen und häufig negativ konnotierten Beziehungserfahrungen oder Wünsche an Bezugspersonen in die jeweiligen Institutionen mit ein und greifen in Situationen der Unsicherheit darauf zurück. Um die Ambivalenz des Wunsches nach zugewandter Beziehungsgestaltung auf angemessene Weise zu reflektieren, bedarf es der genauen Betrachtung möglicher biografisch bedingter Ursachen des schwierigen Verhaltens der Kin-

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dern, denn nicht selten tritt dies im Zusammenhang mit emotional aufgeladenen Stresssituationen auf (Ramberg u. Harms, 2014). Seit den Arbeiten von Spitz und Bowlby wird allgemein anerkannt, dass Kinder, die in Heimen aufwachsen, erheblichen Risiken für ihre psychische Entwicklung ausgesetzt sind. Rumänische Kinder wurden deshalb intensiv erforscht, um die Auswirkungen extremer Deprivation in den ersten Lebensjahren zu erforschen. Studien über die Entwicklung rumänischer Adoptivkinder belegen, dass vor allem hyperaktive und impulsive Verhaltensmerkmale sowie eine erhöhte Unsicherheit in sozialen Situationen Merkmale derjenigen Kinder sind, die in ihrer frühen Kindheit schwere Entbehrungen durchmachen mussten (Rutter, 2006). In einigen Studien konnte eindrucksvoll nachgewiesen werden, dass sich die Zeitdauer von frühkindlichen Mangel- und Deprivationserfahrungen auf das Bindungsverhalten negativ auswirkt (Oelsner u. Lehmkuhl, 2005, S. 134). Rutter (2006) fand ebenfalls eine starke Beziehung zwischen der Dauer der Vernachlässigung und Bindungsstörungen. Wenn diese Kinder nun in eine fürsorgliche Umgebung aufgenommen werden, sei es durch Adoption, sei es durch Aufnahme in einer Kindertagesstätte, dann werden häufig und mit zunehmender Sicherheit in der aktuellen Beziehung zu einer Bezugsperson, tieferliegende traumatische Erfahrungen re-inszeniert. Es treten typischerweise aggressive, dissoziale Verhaltensweisen oder Ablehnung der Bezugspersonen auf. Kinder, die ihre inneren Arbeitsmodelle von Bindung in Situationen von Vernachlässigung und Missbrauch entwickelten, tragen die Auswirkungen dieser Arbeitsmodelle in die Beziehungen mit den neuen Bezugspersonen. Die Narrative dieser Kinder enthüllen Aspekte ihre basalen Entwürfe von menschlichen Beziehungen, diese entstehen durch generalisierte Erwartungen an die Reaktionen der anderen (Hodges, Steele, Hillman, Henderson u. Kaniuk, 2003). Kinder, die traumatisiert und spät (6. Lebensjahr) in eine sichere Umgebung kamen, zeigten mehr Vermeidungsverhalten, mehr desorganisierte Eigenschaften mit extremer Aggression. Ihre Geschichten waren bizarr, unzusammenhängend; ihre Repräsentanzen oft desorganisiert, angstvoll und explosiv oder eingeengt und gehemmt in der Narration oder im Spiel. Die Kinder wurden überflutet von Affekten und Bildern, die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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mit Angst und Wut verbunden sind. Wenn ein inneres Arbeitsmodell Abweisung und die Nichterfüllung von Bindungsbedürfnissen voraussagt, vermeiden Kinder die Möglichkeit, sich für neue Erfahrungen zu öffnen, wann immer es ihnen möglich ist. Das macht es neuen Bezugspersonen schwer, auf eine andere Art zu antworten (Hodges et al., 2003). Es ist für Erzieherinnen daher nicht leicht, die Inszenierungen als Teil eines Prozesses der Bindungsentwicklung bei vormals unsicherer oder desorganisierter Bindung zu verstehen. Ein Heilungsprozess von Bindungsstörungen benötigt Zeit und Kontinuität in der Beziehung. Je stabiler und sicherer die emotionalen und sozialen Rahmenbedingungen sind, umso emotional entlastender ist dies für das Kind (Brisch, 2006). Eine positive Veränderung unsicherer oder desorganisierter Bindungsqualitäten kann nachträglich auf zwei Wegen erfolgen: durch neue und kontinuierlich feinfühlige Beziehungserfahrungen sowie durch die bewusste Reflexion der Interaktionen. Mentalisieren trägt insofern zu der Herstellung einer sicheren Bindung bei, als dass es ein vertrauensvolles und unterstützendes Umfeld generiert, innerhalb dessen sich die sichere Bindungsbeziehung entwickeln kann (Allen, Fonagy u. Bateman, 2008). Ebenso fördert die sichere Bindung aber auch die Mentalisierungsfähigkeit der Bezugsperson und beeinflusst somit die Art und Weise, wie sie dem Kind begegnet (Ramberg u. Harms, 2014). Das Mentalisierungskonzept bietet einen neuen Ansatz zum Umgang mit den spezifischen Schwierigkeiten dieser Kinder, indem es »die Exploration der eigenen Innenwelt, die einfühlsame Erforschung der Welt des anderen und der gemeinsamen Beziehung« fördert (Brockmann u. Kirsch, 2010, S. 285).

Das Projekt Der Evangelische Kindergarten Traisa2 arbeitet mit einem teiloffenen pädagogischen Konzept, welches seit 2007 weiterentwickelt wird. Einer Anfrage, ob wir für die Erzieherinnen einen durch die 2 Der Evangelische Kindergarten Traisa ist Teil der Evangelischen Kirchengemeinde in Traisa, das zur Großgemeinde Mühltal gehört. Durch die Lage einerseits am Rand des Odenwalds und trotzdem nahe an Darmstadt gelegen ist es ein sehr beliebtes Wohngebiet. Traisa ist geprägt durch mehrere

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Hochschule begleiteten Workshop mit 6 Terminen anbieten könnten, stand die Leitung sehr offen gegenüber. Diese Wertschätzung drückte sich auch darin aus, dass unser Projekt innerhalb der Arbeitszeit der Erzieherinnen stattfinden konnte. Neun Erzieherinnen nahmen an dem Projekt teil, während der Zeit der Fortbildung war eine Teilzeitkraft bei den Kindern. Die Erzieherinnen sollten durch das Projekt ihre Kenntnisse über Bindung und Mentalisierung im Kindergartenalltag vertiefen. Sie sollten sensibilisiert werden, Bindungsverhalten zu erkennen, zu verstehen und die Mentalisierung bei Kindern zu fördern. Ausgehend von Haslam-Hopwood et al. (2009) wurde Psychoedukation als geeignete Methode zur Vermittlung des Mentalisierungskonzeptes verstanden. Neben einem kurzen Theorieteil wurden Diskussionen, Übungen, Anfangs- und Abschlussrituale in die wöchentlichen Fortbildungen eingeführt (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Ablauf der Veranstaltungen 15.30–15.45

Begrüßung mit Getränken, Keksen, Small Talk

15.45–16.00

Anfangsritual (Übung)

16.00–16.15

Impulsreferat (»theoretischer Input«)

16.15–16.30

Fragen, Diskussionen

16.30–16.55

spielerische Angebote, Übungen, Filmsequenz

16.55–17.00

Schlussritual (»Blitzlicht«)

Dabei wurde der Diskussionsprozess als entscheidend angesehen. Bereits in der Diskussion wird mentalisiert, da über das Denken und über Gefühle nachgedacht wird (Haslam-Hopwood et al., 2009). Spielerische Angebote und Übungen waren dazu gedacht, »Mentalisieren in Aktion« zu zeigen und die Teilnehmerinnen mit einzubeziehen. Die Teilnehmerinnen nutzten die Zeit zwischen den Fortbildungen, um das Gehörte und Diskutierte im Kindergarten zu beobachten und umzusetzen. Gezielt beobachtet und diskutiert wurde das »Zuzugswellen«, diese Neubaugebiete sind bei Familien mit kleinen Kindern beliebt. 2004 wurde der Kindergarten umgebaut und von 3 auf 4 Gruppen erweitert. Siehe: http://ev-kindergarten-traisa.blogspot.de (26. 8. 2013).

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Mentalisieren zwischen Erzieherin und Kind, ebenso zwischen den Erzieherinnen, z. B. durch die Fragen: »Wie sprechen wir über die Gefühle der Kinder? Und wie gelingt das Mentalisieren zwischen Erzieherinnen und Eltern?« Zudem diskutierten wir gemeinsam mit den Erzieherinnen über die Förderungsmöglichkeiten im Kindergarten. Tabelle 2: Inhalte der Fortbildungen (theoretischer Input) 1. Stunde: Bindungstheorie I (John Bowlby, Mary Ainsworth, Fremde Situation) 2. Stunde: Bindungstheorie II (Feinfühligkeit in der Interaktion und mit sprachlichen Mitteln) 3. Stunde: Das Mentalisierungskonzept I (Was heißt Mentalisieren?, Bezug zum Hessischen Erziehungs- und Bildungsplan) 4. Stunde: Das Mentalisierungskonzept II (Wie entsteht die Mentalisierungsfähigkeit? Was kann das Mentalisieren beeinträchtigen?) 5. Stunde: Das Mentalisierungskonzept III (Förderung im Kindergarten) 6. Stunde: »Mit Kindern Gefühle entdecken« Fragen, Materialien, Reflexion

Zunächst wurden die Anfänge und Grundlagen der Bindungstheorie (siehe Tabelle 2) vorgestellt. Dabei nutzten wir einen kurzen Youtube-Film3, der jeweils ein Kind mit sicherer, eines mit unsicher-vermeidender und eines mit unsicher-ambivalenter Bindung zeigt. Im Gespräch mit den Erzieherinnen wurde diskutiert, wie und ob sie unterschiedliche Bindungstypen bei den Kindern feststellen und wie sie darauf eingehen könnten. Dabei wurde deutlich, warum Bindung Voraussetzung für »Bildung« ist. Die weitere Diskussion zentrierte sich um die Fragen: Was bedeutet Feinfühligkeit in der Interaktion und wie kann Feinfühligkeit im Kindergartenalter mit sprachlichen Mitteln gestaltet werden? Während des zweiten Treffens gingen einige Kinder, begleitet von einer Praktikantin, durch den Raum, weil sie zum Kinderchor wollten. Ein Mädchen ging weinend hinterher. Eine Erzieherin ging ihr nach und redete mit ihr. Die Erzieherin erzählte uns nachher, dass 3

http://www.youtube.com/watch?v=YnHwlCgWYZQ (26. 8. 13).

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das Mädchen gesagt habe, sie habe Bauchweh und wolle zu ihrer Mama. Die Erzieherin sagte zu ihr: »Ich glaube, du bist traurig, weil die anderen nicht auf dich gewartet haben.« Daraufhin beruhigte sich das Mädchen. Die Teilnehmerinnen erlebten es oft, dass Kinder – nicht unbedingt vom Alter abhängig – ihre Gefühle nicht benennen und sie deshalb nur schwer regulieren können. Die theoretische Einführung des dritten Treffens stellte einen Übergang von der Bindungstheorie zum Mentalisierungskonzept her. Es ging um die Frage, was Mentalisieren bedeutet, welche Vor- und Nachteile die Fähigkeit zu mentalisieren hat und wie das Mentalisieren beispielsweise von der Empathie zu unterscheiden ist. Filmsequenzen der DVD »Mentalisieren in Aktion« (Willerscheidt, 2010) zeigten, wie beeinträchtigtes Mentalisieren die Interaktion mit anderen beeinflusst und wurden lebhaft diskutiert. Zum Schluss wurde ein Bezug zum Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan hergestellt, insbesondere dem Bereich der »Emotionalität, soziale Beziehungen und Konflikte« (Hessisches Sozialministerium/Hessisches Kultusministerium, 2012, S. 57–59). Der theoretische Input zum Mentalisierungskonzept (viertes Treffen) beschäftigte sich mit der Frage: Wie und wann entwickelt sich die Fähigkeit zum Mentalisieren? Wir fragten die Erzieherinnen, ob sie die Modi der Verarbeitung bei den Kindern wiedererkennen würden. Wieder waren die Erzieherinnen sehr engagiert bei der Sache. Dabei fiel es uns nicht so leicht, den »psychischen Äquivalenzmodus« zu erklären. Die Rückmeldungen am Beispiel »VersteckSpielen«, in dem Kinder die Hände vor die Augen halten und meinen, sie werden nicht mehr gesehen, erleichterten die Erklärung dieses Modus. Die Teilnehmerinnen nahmen unterschiedliche Entwicklungsschritte in der Mentalisierungsfähigkeit der Kinder wahr. Ihnen wurde deutlich, wie sie durch Spiele eben diese fördern. Das Gefühl, es »gut« zu machen, motivierte sie. Die Theorie wurde so als eine fundierte Untermauerung und Begründung ihrer Arbeit verstanden. Einen großen Raum nahm das Thema »Umgang mit Eltern« und »Umgang der Eltern mit den Erzieherinnen« ein. Dabei wurde deutlich, dass es bei Konflikten schwer ist, selbst zu mentalisieren, da Mentalisieren ein interaktionelles Geschehen ist. Faktoren wie Stress, die die Mentalisierungsfähigkeit beeinträchtigen können, wurden erläutert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Im fünften Treffen ging es um konkrete Förderungsmöglichkeiten im Kindergarten, wie die Förderung der Mentalisierungsfähigkeit im Spiel. Es wurden Materialien und Spiele vorgestellt, die die Erzieherinnen nutzen können. Zum Beispiel wurden das Buch »Mit Kindern Gefühle entdecken. Ein Vorlese-, Spiel- und Mitsingbuch« und weitere Materialien, wie die »Gefühlsuhr« (Hütter, 2013, S. 17) oder das »Gefühlsdomino« (S. 5), vorgestellt. Merkmale gelingender und beeinträchtigter Mentalisierung regten in der sechsten und letzten Stunde zur eigenen Reflexion an. Es wurden u. a. folgende spielerische Angebote und Übungen in der Fortbildung eingesetzt: ȤȤ Jede Teilnehmerin schreibt 6 Eigenschaften von sich auf, eine davon sollte falsch sein. Die anderen sollten raten, welche nicht zutrifft. ȤȤ Im Bilderbuch »Heute bin ich« (Hout, 2012) sind 21 Gefühle bildlich dargestellt. Jede Teilnehmerin sucht sich ein »passendes« Gefühl aus. ȤȤ Abgewandeltes Spiel »brenzlige Gefühle« (Fearon et al., 2006) bzw. »The Feeling Hot-Potato Game« (Allen, Malley, Freeman u. Bateman, 2012). Diese Übungen verdeutlichten, wie wichtig es ist, die Gefühle anderer Personen zu verstehen und zu deuten. Sie zeigten aber auch, dass man nie sicher sein kann, ob man die Gefühle anderer richtig deutet.

Evaluation des Projekts Zur Evaluation des Lehr-Praxis-Projekts wurden Fragebögen verteilt mit standardisierten (15) und halboffenen Fragen (8), die die Teilnehmerinnen anregen sollten, persönliche Anmerkungen zu machen. Die Ergebnisse der Evaluation wurden den Teilnehmerinnen vorgestellt und werden in zukünftige Veranstaltungen einfließen.

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Johanna Klein und Tanja Armendinger

Tabelle 3: Fragebogenergebnisse Die Fragen aus dem Fragebogen

Mittelwert der 9 Teilnehmerinnen*

Die Atmosphäre während des Projekts war angenehm.

9,89

Die Fortbildung war gut vorbereitet.

9,89

Die Mischung aus Theorie, Übungen und Diskussionen war genau richtig.

9,89

Der Inhalt war gut verständlich.

9,89

Die Fortbildung unterstützt mich in meiner Arbeit in der Kita.

8,78

Über Mentalisierungsvorgänge denke ich in meinem Alltag in der Kita nach.

7,89

Ich mentalisiere auch meine Kolleginnen, d. h., ich mache mir Gedanken darüber, welche Wünsche, Gefühle und Einstellungen hinter bestimmten Handlungen stehen könnten.

8,89

Das Mentalisieren hilft mir im Umgang mit den Eltern.

8,89

Das Wissen über Mentalisierung hilft mir im Umgang mit »schwierigen« Kindern.

8,11

Ich habe neue Ideen bekommen, wie ich die Mentali- 7,67 sierungstheorie in der Kita konkret anwenden kann. Immer wieder wird mir bewusst, dass wir bereits mentalisierungsfördernd arbeiten.

9,11

Die Fortbildung bringt mir persönlich etwas.

9,33

Ich habe bereits vorher viel über das Thema gewusst und habe nicht viel Neues gelernt.

5,11

Ich gehe bewusster mit mir und anderen um.

7,75

Im Rahmen des Nachdenkens über Mentalisieren mache ich mir Gedanken über mich selbst und meinen Umgang mit meinen Gefühlen.

8,27

* visuelle Analogskala: 1 minimale Zustimmung – 10 maximale Zustimmung

Die Antworten auf die offenen Fragen geben auch eine große Zufriedenheit und Idealisierung wieder. Hervorgehoben werden die angenehme Atmosphäre, die Begrüßungsrunde, die Wertschätzung der Teilnehmerinnen und der geleisteten Arbeit. Diese Rahmenbedingungen ermöglichten ein Gefühl von Sicherheit, Offenheit und Refle© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

Mentalisieren der Erzieherinnen95

xion. Kritisch bemerkt wurde einzig, dass die Fortbildung viel zu kurz gewesen sei.

Fazit Mentalisierung, Bindungstheorie, mentalisierungsfördernde Arbeit in der Kita, eine Fortbildung für Erzieherinnen, Anwendung der Theorie in der Praxis – so mussten wir die Theorien selbst erst einmal »begreifen« und verstehen, wie Theorie in »alltägliches Wissen« gefasst wird. Anfangs fiel es uns schwer, die Komplexität der Theorie so zu reduzieren, dass sie in unseren zeitlichen Rahmen passte und gleichzeitig nicht zu sehr vereinfacht wurde. Eine besondere Schwierigkeit und Herausforderung war sicherlich, dass das Mentalisierungskonzept bisher nur als Grundlagenwissen aus der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie vorliegt und noch selten explizit und konkret in der Sozialen Arbeit oder in der Kindertagesstätte angewendet wurde. Dabei kam uns entgegen, dass die Erzieherinnen bei einem Vortreffen sehr aufgeschlossen waren. Damit erübrigte sich eine von uns vermutete Schwierigkeit, die Erzieherinnen könnten skeptisch und ablehnend auf unser Angebot reagieren. Sie sahen viele Punkte als Bestätigung für ihre Arbeit an. Die Fortbildung regte sie vor allem zum bewussteren Umgang mit sich selbst und anderen an, d. h., der persönliche Gewinn wurde in den offenen Fragen am höchsten bewertet. Wir haben bemerkt, dass es wichtig war, flexibel zu sein und nicht zu sehr an unserer Planung festzuhalten. Wir versuchten, eine Haltung des Nicht-Wissens einzunehmen, zeigten Neugierde und Offenheit. Die Reichweite des insgesamt kurzen Angebotes – 6 Termine im Rahmen eines Semesters – muss jedoch kritisch berücksichtigt werden. So können keine Aussagen über mittelfristige oder langfristige Effekte gemacht werden. Lediglich die Aussagen zur Akzeptanz und Zufriedenheit der Teilnehmerinnen sind überraschend positiv und ermutigend.

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Katharina Straub und Alexandra Stavrou

Mentalisierungsbasierte Gewaltprävention an einer Grundschule

Problemskizze Auch wenn das Ausmaß im Vergleich zu anderen Schularten geringer erscheint, wird die Grundschule von Konflikten und Gewalt in vielfältigen Formen nicht verschont. Besonders verbale Drohungen, Ausgrenzung, Erpressungen, Mobbing oder körperliche Gewalt stören die Grundlagen des Zusammenlebens und stellen den Lernerfolg infrage, sodass allgemein Handlungsbedarf gesehen wird (Gugel, 2007). In einer repräsentativen Umfrage der LBS-Initiative »Junge Familie« (2001) zum Thema »Gewaltdefinition« von Kindern zwischen 9 und 14 Jahren wird deutlich, wie weit das Spektrum der Antworten gestreut ist und verschiedene Dimensionen von Gewalt umfasst. Fast die Hälfte (44 %) aller Antworten der Kinder fallen in den Bereich »Körperverletzung«, wie »Schlagen«, »Treten«, »Verletzen«. »Diese Kategorie ist über alle Jahrgangsstufen hinweg und bei beiden Geschlechtern die mit weitem Abstand meist genannte.« Auf Platz 2 folgen Begriffe wie »Töten«, »Ermorden« oder »Umbringen« (9 %). Auf dem 3. Platz liegt »Vergewaltigung« (6 %), zusammen mit den Themen Missbrauch oder Misshandlung. Auf dem 4. Rang der Gewaltdefinitionen (5 %) nannten die Kinder emotionale Stellungnahmen und Beschimpfungen (LBS-Initiative Junge Familie 2001, S. 127 f.).

Gewalt an Schulen Die Grundschule ist ein Lebensraum, in dem Kinder unterschiedlicher sozialer Milieus aufeinandertreffen, sodass vielfältige Formen von Auseinandersetzungen und Konflikten zum Schulalltag © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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gehören können. Um destruktiven Konfliktlösungen, Gewalt und Ausschließungsprozessen in der Schule zu begegnen, ist es wichtig, dass Sozialpädagogen in der Schulsozialarbeit die notwendigen Kompetenzen zum Umgang mit Prävention von Gewalt vermittelt werden, damit diese an Schulen als Ressourcen zur Verfügung stehen. Schule muss auf Verhaltensauffälligkeiten, Aggressivität und Gewalt reagieren, um einen Lebensort für soziales Lernen von Normen und Werten zu schaffen (Klewin, Tillmann u. Weingart, 2002). »Lernen kann nur in einem Klima der Sicherheit und Anerkennung gelingen, sodass schulische Lernerfolge nicht nur von kognitiven Fähigkeiten und Leistungen abhängig sind, sondern immer auch von sozialen Gegebenheiten. Deshalb berührt Gewaltprävention und Umgang mit Konflikten die Basis des Lernens« (Gugel, 2007, S. 1). Nach Klewin et al. (2002) wird Schulgewalt in 3 Gruppen eingeteilt: ȤȤ Körperlicher Zwang und physische Schädigung: Körperliche Gewalt wird in Auseinandersetzungen angewendet, um den anderen zu etwas zu zwingen oder um ihn zu verletzen. ȤȤ Verbale Attacke und psychische Schädigung: Beleidigung, Erniedrigungen oder emotionale Erpressung. ȤȤ Mobbing/Bullying: In einer spezifischen Opfer-Täter-Beziehung wird das Opfer dauerhaft gequält, wobei körperliche und psychische Gewalt angewendet werden. Jedoch muss man auch sehen, dass Schülergewalt nur ein Aspekt ist. Auch die Gewalt, die vom Lehrpersonal ausgeht oder von der Schulstrukturen ist ein Problem und muss daher in den Blick genommen werden (Klewin et al., 2002). Auch wird oft zwischen Gewalt und deviantem Verhalten keine klare Grenze gezogen, sodass Schwänzen, Mogeln, Diebstahl usw. als Gewalt zählen (Gugel, 2007). Während die öffentliche Wahrnehmung eine Zunahme von Gewalt an Schulen für die letzten Jahre unterstellt, unterstützen Untersuchungsergebnisse diese Aussage nicht. »Der Bundesverband der Unfallkassen in Deutschland hat das gewaltverursachte Verletzungsgefühl an Schulen für den Zeitraum 1993 bis 2003 untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass langfristige Zeitreihenbeobachtungen zur physischen Gewalt an Schulen bundesweit einen Rückgang © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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physischer schulischer Gewalt zeigen« (Bundesverband der Unfallkassen 2005, S. 21). Nach diesen Ergebnissen ist die verbale Gewalt an Schulen die häufigste Form von Gewalt, d. h., dass schulische Gewalt überwiegend durch leichtere Formen der physischen und verbalen Aggression geprägt ist. Immer größere Beachtung für die Einschätzung der schulinternen Gewaltlage findet das Phänomen Bullying oder Mobbing an der Schule. Auch Schubarth verweist darauf, dass verbale Aggressionen nicht nur die am weitesten verbreitete Gewaltform ist, sondern auch die Gewaltform, die in der Wahrnehmung der Befragten am stärksten zugenommen hat und die am meisten verbreitete Gewaltform gegenüber Lehrkräften ist (Schubarth, 2000). Empirische Daten zu Gewalt an Schulen zeigen, dass im Jahr 2003 insgesamt 93.295 von 8,3 Millionen Schülern und Schülerinnen in Deutschland durch aggressive Handlungen verletzt wurden. Jedoch handelt es sich hier um gemeldete Unfälle mit ärztlicher Inanspruchnahme, sodass die Dunkelziffer weit höher liegt. Gewaltakte sind an Grundschulen (15.542) am wenigsten verbreitet. Hauptschulen (36.907) weisen dagegen die höchsten Aggressivitätsquoten mit Verletzung auf. Die meisten Unfälle ergeben sich in der Altersgruppe der 11- bis 15-jährigen Jungen und finden zum Großteil in den Pausen auf dem Schulhof (40,7 %), im Klassenzimmer (15,9 %) oder auf den Gängen (9,1 %) statt. Die meisten Verletzungen werden im Kopfbereich, insbesondere Augen, Nase und Gesichtsweichteile gemeldet. Wenn man diese Ergebnisse mit früheren vergleicht, ist festzustellen, dass die Zahl der Unfälle im Zeitraum von 1993 bis 2003 gesunken ist. Danach ist ein Rückgang der aggressionsverursachten Unfälle von 15,5 % im Jahr 1993 auf 11,3 % im Jahr 2003 zu beobachten. Sieht man sich Ergebnisse der Studien zum Gewaltphänomen unter Kindern und Jugendlichen an, so stimmen sie darin überein, dass das Geschlecht das zentrale Differenzierungskriterium bei Gewalt ist. So sind Jungen gewaltbereiter und reagieren eher externalisierend (Lösel u. Bliesener, 2003). Jungen reagieren stärker mit nach außen gerichteten Aggressionen, Mädchen dagegen eher mit nach innen gerichteten Aggressionen und körperlichen Beschwerden, z. B. Bauchschmerzen (Schubarth, 2000). Die Tatsache, dass Gewalt an der Schule sowohl schulexterne als auch schulinterne Ursachen hat, ist in Wissenschaft und For© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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schung unbestritten. »Die Ursachen von Gewalt an der Schule sind vielschichtig. Die Frage, ob schulische Gewalt ›importierte Gewalt‹ ist, bzw. welchen Anteil und Einfluss die Schule selbst auf die Entstehung und Verbreitung schulischer Gewalt hat, spielt bei der Diskussion der Ursachen eine wichtige Rolle« (Gugel, 2006). Schaut man sich Untersuchungen mit der Fragestellung an, welche Faktoren die Entwicklung von aggressivem und delinquentem Verhalten an Schulen fördern, so kommt man zur der Erkenntnis, dass Klassenstärke, Schulgröße und Architektur nicht bedeutsam sind. Stattdessen scheinen das Schul- und Klassenklima, ein konsequentes, einfühlsames und kompetentes Lehrerverhalten sowie angemessene Partizipationsformen einen wichtigen Einfluss zu haben, um Gewalt vorzubeugen (Lösel u. Bliesener, 2003). Es zeigt sich, dass Schulen, die sich als »gewaltfördernd« herausgestellt haben, vor allem folgende Faktoren aufweisen: fehlende Anerkennung zwischen Schülern, etikettierendes und restriktives Verhalten der Lehrkräfte sowie scharfe Konkurrenz zwischen den Heranwachsenden (Gugel, 2006).

Gewaltprävention in der Schule In der Schule werden 3 Präventionsbereiche unterschieden: ȤȤ Prävention im Sinne langfristiger vorbeugender Arbeit mit Schülern und Schülerinnen; ȤȤ Intervention in aktuellen Gewalt- und Konfliktsituationen mit gefährdeten Schülern und Schülerinnen; ȤȤ Maßnahmen zur Konfliktregulierung und Nachbearbeitung, um die Rückfälligkeit bereits aufgefallener gewalttätiger Kinder und Jugendlicher zu verhindern. Tillmann, Holler-Nowitzki und Holtappels (2000) sowie Gugel (2006) differenzieren weitere Bereiche der Gewaltprävention: ȤȤ Verbesserung der sozialen Schulqualität. Dies betrifft die Integrations- und Kommunikationskompetenz der Lehrer und Lehrerinnen sowie Partizipationsmöglichkeiten der Schüler und Schülerinnen am Schulleben. ȤȤ Etablierung und Verdeutlichung von Regeln und Normen des Zusammenlebens. Es müsse klar definiert sein, welches Ausmaß © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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an Aggression geduldet werde und wo die Grenze liege. Interventionsregeln sollen allen bekannt sein. ȤȤ Handeln in akuten Gewaltsituationen. ȤȤ Umgang mit Konflikten, Aufbau eines schulischen Konfliktmanagementsystems. Eine soziale Etikettierung, also die Zuschreibung von negativen oder positiven Eigenschaften, soll vermieden werden. Denn Schüler und Schülerinnen, die in der Schulöffentlichkeit stigmatisiert werden, sind deutlich gewalttätiger als andere. Diese Schüler und Schülerinnen entsprechen sozusagen ihren an sie herangetragenen Erwartungen, d. h. also, wer als aggressiv und gewalttätig eingestuft wird, wird sich auch so verhalten. Da Gewaltpotenziale durch unterschiedliche Zusammenhänge in die Schule importiert werden, ist es nach den oben genannten Autoren wichtig, dass über den Unterricht hinaus Prävention geleistet wird. Enge Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Einrichtungen, z. B. der Familien- und Jugendhilfe sowie Vereinen, aber auch Stadtteilkonferenzen, Runde Tische oder die Erarbeitung eines kommunalen Präventionskonzeptes sind empfehlenswert. Gewaltprävention kann nur Erfolg haben, wenn sie langfristig angelegt ist und eine Zusammenarbeit und Vernetzung gelingt. Wird sie nicht als zusätzliche Aufgabe begriffen, sondern als integraler Bestandteil einer Schule, die sich im Rahmen der Schulentwicklung auf den Weg zu einer »guten Schule« gemacht hat, so lassen sich die Themen der Gewaltprävention in den normalen Schulalltag integrieren und werden zu Selbstverständlichkeiten (Gugel, 2007).

Mentalisierung und Gewaltprävention an Schulen Mentalisieren meint die Fähigkeit, sich in die innere Welt des Gegenübers hineinzuversetzen und die Gefühle, Wünsche und Einstellungen des anderen zu erfassen. Sind unsere Mentalisierungsfähigkeiten gut ausgeprägt, dann können wir auch in emotional aufgeladenen und konflikthaften Situationen nach den Beweggründen für unser Verhalten oder nach den Motiven des Gegenübers fragen. Mentalisierungsfähigkeit gilt als wichtiger Resilienzfaktor (Stein, 2009), es © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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fördert die Identifikation von Gefühlen, die Selbstregulierung und Aufmerksamkeitskontrolle sowie die Selbstwirksamkeit und Selbstachtung. Weiter unterstützt Mentalisieren flexibles Denken und die Antizipation der Wirkung des Handelns auf andere. »Resiliente Verhaltensweisen haben sich als äußerst wirksame Schutzfaktoren gegen delinquentes und gewalttätiges Verhalten erwiesen. Sie bewusst und gezielt zu fördern, ist deshalb ein zentraler Ansatz jeder Gewaltprävention in der Grundschule« (Brooks u. Goldstein, 2007, S. 16). Ursprünglich verstand die Forschung unter Resilienz die individuelle Fähigkeit, sich an widrige Umstände erfolgreich anzupassen. Diese Sichtweise hatte zur Folge, dass man die Verantwortung für die Psychopathologie den Betroffenen selbst zuschrieb und familiäre sowie gesellschaftliche Einflüsse unterschätzte (Stein, 2009). Wenig eindeutig sind protektive Faktoren definiert. Einigkeit besteht lediglich in der Unterscheidung individueller Eigenschaften (wie Temperament), familiärer Faktoren (sichere Bindung) und gesellschaftlicher Faktoren (Schule, Vereine etc.). Sichere Bindung kann als protektiver Faktor, aber auch als positives Outcome gesehen werden. Resilienz resultiert aus der Qualität der Beziehungen des Kindes, insbesondere zu den primären Bezugspersonen. Frühe und chronische Misshandlung durch Bezugspersonen steht wiederum mit Schwächen der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten in Verbindung. Andere vertraute, stresslindernde Bezugspersonen, wie z. B. Erzieherinnen und Lehrer, können Resilienz fördern, insbesondere wenn die Familie versagt. Twemlow und Fonagy (2009) waren die ersten, die ein Gewaltpräventionsprojekt in Schulen auf dem Mentalisierungskonzept aufbauten, durchführten und publizierten. Mehr als 3.000 Kinder aus 9 Grundschulen nahmen an der randomisiert-kontrollierten Studie teil. Ziel war es zu prüfen, »ob das gravierende Problem der Aggression und der interpersonalen Gewalt an Schulen besser auf eine konzentrierte Beschäftigung mit den Beziehungen zwischen den Mitgliedern des sozialen Systems ansprechen würde als auf die herkömmliche, aus Präventionsstudien bekannte Strategie, gestörte Kinder und Risikokinder zu identifizieren, um sie aus dem sozialen System herauszunehmen und einer besonderen Betreuung zuzuführen« (Twemlow u. Fonagy, 2009, S. 399). Die Ergebnisse wurden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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2 Jahre nach Beginn und ein Jahr nach Ende der Intervention anhand von Selbstdarstellungen und »Peer Reports« über aggressives Verhalten und empathisches Hilfeverhalten ausgewertet. In Bezug auf die Endpunkte Reduzierung der Schikane von Mitschülern, Aggression und lernfremdes Verhalten bzw. Unterrichtsstörungen zeigten sich deutlich bessere Effekte als in Kontrollschulen. Ausgegangen wurde von der Annahme, dass durch häufigen Gebrauch von Zwang und (Gewalt-)Drohungen die Opfer, Täter und Zuschauer als Teilnehmer eines Systems involviert sind, und Angst, Wut und Demütigung einen nichtmentalisierenden Kreislauf aufrechterhalten. Das bedeutet, es besteht ein chronisches Versagen von Mentalisierung in gewalttätigen Umfeldern. Um aus einem »nichtmentalisierenden« System ein »mentalisierendes System« Schule zu machen, zielten die Interventionen auf die gesamte Klasse statt auf Problemkinder, da durch Gewalt das ganze System in seiner Mentalisierungskapazität bedroht ist. Die Rolle der Zuschauer stabilisiert ein Täter-Opfer-System, sie gilt daher als Schlüssel zur Normalisierung des Systems. Mit Gewalt inkompatible soziale Systeme sind im Allgemeinen mentalisierende soziale Systeme, weil die Individuen keinen Bedarf haben, in einem Kontext, in dem sie sich in das Leid des Opfers einfühlen können, also erfolgreich mentalisieren, interpersonale Aggression auszuagieren (Twemlow u. Fonagy, 2009). Es wurden Kampagnen gestartet für ein positives Schulklima und zur Förderung des Nachdenkens über die Perspektive anderer. Für das Unterrichtsmanagement wurde eingeführt, bei Störungen den Pausenknopf zu drücken und gemeinsam auf den Beginn der Störungen und dessen Ursachen zurückzublicken. Peers und Erwachsene sollten als Mentoren den Blickwinkel des triangulierenden Dritten einnehmen und einen Perspektivenwechsel ermöglichen. In einer Kombination aus Rollenspiel, Entspannung und Techniken der Verteidigungskampfkunst wurde im Sportunterricht ein »körperliches Erziehungsprogramm der freundlichen Krieger« ausgearbeitet. Dies diente der Stärkung der Selbstkontrolle und des Selbstvertrauens. Eine Nachdenkzeit von 10 Minuten am Ende jedes Schultages wurde reserviert, in der die Klasse Aktivitäten des Tages Revue passieren ließ und Rückblick hielt, um Täter-, Opfer- und Zuschauerverhalten zu reflektieren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Das Projekt Die Zielgruppe In der ausgewählten Grundschule werden ca. 260 Schülerinnen und Schüler von insgesamt 16 Lehrkräften unterrichtet. Eine 4. Klasse mit 21 Kindern (10 Mädchen und 11 Jungen) wurde als besonders unruhig und unsozial von den Lehrern beschrieben, sodass oftmals kein Unterricht zustande kam. Auch hat nach ihren Aussagen keine Gruppenzusammengehörigkeit bestanden, was darauf zurückzuführen ist, dass immer wieder Kinder die Klasse verließen oder neue Kinder dazukamen. Mit jedem Schuljahr wechselte so die Gruppenstruktur und Gruppendynamik. In Unterrichtssituationen kommt es häufig durch 4 Jungen zu aggressiven Beschimpfungen (»Hure!«, »Fick deine Mutter!«, »Opfer!«), handgreiflichen Auseinandersetzungen oder auch Bedrohungen (»Warte, nachher schlag ich dich! Ich schlag dich, und wie!«). Hier konnten die Lehrkräfte dann nur Sanktionen, wie z. B. Pausenverbot, aussprechen. Auch in der Pause kam es oft zum Streit, der häufig mit Schlägen und Tritten endete. Vor einigen Wochen ist ein Mädchen von 3 Jungen in eine Toilette gezogen, festgehalten und zwischen den Beinen berührt worden. Auch hier wurde »nur« eine Sanktion im Sinne einer Suspendierung der 3 Jungen durchgesetzt und es wurden keine weiteren pädagogischen Maßnahmen ergriffen. Kurz vor Weihnachten 2011 teilte eine Mutter dem Klassenlehrer mit, dass ihre Tochter nicht mehr in die Schule möchte, da sich eine Mädchengruppe mit fünf Mädchen gegen sie verschworen hätte. Sie würde ausgeschlossen und gemieden, was dem Mädchen psychisch schwer zu schaffen machte. Der Klassenlehrer versuchte die Problematik zu lösen, und lud eine Mitarbeiterin der Erziehungsberatungsstelle für eine Unterrichtsstunde ein. Er versuchte, die psychischen Aggressionen zu unterbinden, jedoch kam es weiterhin immer wieder zu Streitereien, sodass ein Kind aus der Gruppe als Sündenbock deklariert und ausgegrenzt wurde. In der ausgewählten Klasse waren 2 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Sinne der Schule für Erziehungshilfe und 2 Kinder im Sinne der Schule für Lernhilfe. Einem Jungen dieser Klasse bereitete die Teilnahme am Unterricht so große Schwierigkeiten, dass der Unterricht täglich auf 4 Stunden reduziert wurde. Er war oft in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Konflikte mit seinen Mitschülern und Mitschülerinnen verwickelt, sowohl im Unterricht als auch auf dem Pausenhof. Sein Verhalten konnte sich derart ins Negative steigern, dass ein störungsfreies Lernen und Arbeiten für den Rest der Klasse nicht mehr möglich war. Bezogen auf die oben beschriebenen Themen und Konflikte entwickelten wir ein Konzept mit dem Themenschwerpunkt »Gewaltprävention in Grundschulen« und folgenden Zielen: ȤȤ Eine positive Gruppendynamik sollte in der Klasse verstärkt werden, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen und um Ausgrenzungsprozessen entgegenzuwirken. ȤȤ Stärkung der Selbstkompetenz und Anregung zum Perspektivenwechsel, um in Konfliktsituationen »adäquat« handeln zu können. ȤȤ Sensibilisierung der Kinder für verschiedene Arten von Gewalt. ȤȤ Den Kindern sollte ermöglicht werden, ihr Handeln selbstkritisch in der Gruppe oder auch für sich zu reflektieren und lösungsorientierte Wege zu finden. ȤȤ Bewusstsein für sich und seine eigenen Grenzen zu schaffen. ȤȤ Den Kindern für Konfliktsituationen »Worte« zu geben (wie z. B. das Senden von Ich-Botschaften oder auch aktives Zuhören etc.). Die Durchführung Es wurden insgesamt 7 Einheiten à 90 Minuten während der Unterrichtszeit in der 4. Klasse durchgeführt, inklusive jeweils 20 Minuten Pause. Modul 1: Einführung in das Thema Gefühle Eigene und fremde Gefühle zu benennen und mit Gefühlen umgehen zu können, sind zentrale Aspekte konstruktiven Verhaltens in Konflikten. Daher ist es für die Gewaltprävention wichtig, dass Kinder lernen, eigene und fremde Gefühle ernst zu nehmen und auszudrücken. Auch Empathie spielt eine große Rolle. Sie gilt als wichtige Voraussetzung, um Situationen richtig einzuschätzen und mit Konflikten angemessen umgehen zu können. Die erste Einheit begann mit einem Stuhlkreis. Dieser wurde zu Beginn jeder Stunde durchgeführt, um so eine Regelmäßigkeit in den Modulen zu etablieren und die Möglichkeit zu eröffnen, sich noch einmal über das letzte Treffen auszutauschen. Anschließend © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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wurden »Kennenlernspiele« durchgeführt, um eine lockere und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Z. B. sollten sich die Kinder nach ihrem Vornamen geordnet in eine ABC-Schlange einordnen. Als Nächstes wurden Fragen gestellt, wie z. B. »Welche Augenfarbe hast du? Wo bist du geboren?«, sodass sich die Kinder in Gruppen zusammenstellten. Ziel war es, sich mit den anderen Mitschülern und Mitschülerinnen auszutauschen und sich anders kennenzulernen als üblich. Nach einer Pause wurde mit dem eigentlichen Thema »Gefühle« begonnen. Wir fragten die Kinder, welche Gefühle sie kennen und wie sich diese körpersprachlich darstellen lassen (z. B. mit Hilfe einer Gliederpuppe, siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Gefühle pantomimisch darstellen drohend

lustig

cool

ängstlich

unterwürfig

langweilig

hart

weich

offen

geschlossen

unentschlossen

gespannt

angespannt

zufrieden

überrascht

unsicher

Die anderen Kinder rieten, welche Begriffe dargestellt wurden. Wurde der Begriff erraten, stellten ihn alle Kinder gemeinsam dar, bevor zum nächsten Begriff übergegangen wurde. Beendet wurde diese Einheit mit einer Abschlussrunde im Stuhlkreis. Diese Abschlussrunde wurde als Ritual eingeführt und folgte den Regeln: ȤȤ Jeder spricht nur über sich und benutzt »ich« statt »man«. ȤȤ Jeder macht kurze persönliche Aussagen zur gestellten Frage. ȤȤ Es gibt keine Diskussion oder Stellungnahme zu den Aussagen der anderen. ȤȤ Wer sich nicht äußern möchte, gibt das Wort weiter.

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Modul 2: Gefühle benennen

Kommunikation und aktives Zuhören sind der Schlüssel zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung. Wir versuchten, den Kindern Worte für ihre Gefühlszustände zu geben und sie im Umgang mit anderen für deren Gefühle zu sensibilisieren. Dazu wurden die Kinder in 2 gleich große Gruppen aufgeteilt, die jeweils einen Innen- und einen Außenkreis bildeten. Dabei stand jeweils ein Kind aus dem Innenkreis einem Kind aus dem Außenkreis gegenüber. Diese beiden konnten sich nun zu den gestellten Fragen (siehe Tabelle 2) austauschen. Dann drehte sich das Karussell weiter, d. h., der äußere Kreis bewegte sich in eine Richtung, womit jedes Kind einen neuen Gesprächspartner bekam. Tabelle 2: Fragen zum Gesprächskarussell Wie macht es sich bemerkbar, dass du glücklich bist? Wovor hattest du schon mal Angst? Was machst du, wenn du Angst hast? Wann bist du einmal wütend geworden? Was machst du, wenn du wütend bist? Was machst du, damit deine Wut nachlässt? Wann bist du einmal traurig gewesen? Wie macht es sich bemerkbar, wenn du traurig bist? Was hilft dir, wenn du traurig bist?

Nach der Pause wurde ein Gefühlsbarometer gebastelt. Im Stuhlkreis durfte jedes Kind an seinem Gefühlsbarometer den Zeiger so einstellen, wie seine derzeitige Gefühlslage war. Modul 3: Soziale Wahrnehmung

Unsere Gefühle können uns täuschen, sodass Fehlwahrnehmungen oder falsche Interpretationen auftreten. Eine gelungene Kommunikation und ein deeskalierender Umgang mit Gewaltsituationen setzen voraus, zu wissen, dass Wahrnehmung auch fehlerhaft sein kann und stets überprüft werden muss (Gugel, 2007). Zum Einstieg in das Thema »Wahrnehmung« wurde den Kindern eine Geschichte »Nichts Besseres zu tun« vorgelesen. Nachfolgend zeigten wir ihnen verschiedene mehrdeutige Bilder, um ihre Wahrnehmung zu schulen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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und nochmals zu verdeutlichen, dass der gleiche Gegenstand, das gleiche Ereignis von verschiedenen Personen unterschiedlich gesehen und wiedergegeben werden kann. Fallbeispiel: »Nichts Besseres zu tun« Es ist 7.50 Uhr. Die Klasse 4b wartet auf Herrn Meier, den Klassenlehrer. Letzte Hausaufgaben werden gemacht, man unterhält sich. »Los, hol den Bleistift, aber schnell! Du hast ihn auch heruntergeschmissen«, laut und hämisch klingt die Stimme von Markus, dem Klassensprecher. Alle hören es und gucken. »Hol ihn, aber sofort. Nein, nicht mit den Händen, du bist ein Hund, Rolf, fass!« Die Klasse schreit, kreischt, tobt. Rolf kniet auf dem Boden des Klassenzimmers, unbeweglich, erstarrt. Quer zwischen den zusammengepressten Lippen steckt ein grüner Bleistift. Die Augen weit aufgerissen, schaut er verwirrt in die Gesichter der lachenden Kinder. Was wollen sie von mir? Immer nur von mir? Ich habe ihnen doch nichts getan, habe ich ihnen was getan? Den Bleistift hat Markus, der Klassensprecher, hingeschmissen mitten ins Zimmer. Er ist unter Rolfs Bank gerollt. Hol ihn, aber nicht mit den Händen, du bist ein Hund, fass! – Und er hat es getan, ist gekrochen wie ein Hund, hat den Ekel überwunden, den Stift mit dem Mund geholt, Staub und Krümel auf den Lippen. Wenn ich es nicht mache, schlagen sie mich wieder wie vorige Woche. Die Hose war zerrissen, die Nase hat geblutet, die Mutter hat getobt. Diese Woche habe ich kein Taschengeld bekommen. Warum hilft mir keiner, warum sind alle gegen mich? Die Mutter? Auch die Mutter. Wehr dich doch, sagt die Mutter, schlag zurück, sagt sie, lass dir nichts gefallen, nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder! Die Tür des Klassenzimmers wird aufgerissen. Der Lehrer kommt, er hat das Gekreische gehört. Endlich der Lehrer! Er wird mir helfen. Ich werde ihm alles sagen. Später, wenn es die andern nicht sehen, werde ich es ihm sagen, von Markus und den andern. Er wird mir helfen … Rolf kniet immer noch auf dem Boden, den Bleistift zwischen den Lippen. »Was machst du da unten? Was soll der Blödsinn, von allen guten Geistern verlassen, den Kasper spielen, soweit kommt es noch, was Besseres hast du wohl nicht zu tun?« Was Besseres, was Besseres zu tun? Der Lehrer. Ihm alles erzählen. Alle sind gegen mich. Der Lehrer? Auch der Lehrer …

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Tabelle 3: Fragen zur Geschichte »Nichts Besseres zu tun« Welche Gefühle fallen euch ein, wenn ihr die Geschichte hört? Wie fühlt sich Rolf in der Geschichte? Was hat die Geschichte mit Wahrnehmung zu tun?

Ziel dieser Einheit war es, den Kindern zu vermitteln, dass ein und dieselbe Situation auf mehrere Menschen verschieden wirken kann und daher ein Hinterfragen der Situation wichtig ist, bevor man in Aktion tritt. Modul 4: Umgang mit Gewaltsituationen

Gewaltsituationen tauchen oft unvermittelt auf, sind emotional aufgeladen und erfordern schnelles Eingreifen, sodass eine Vorbereitung auf solche Situationen kaum möglich ist. Schüler und Schülerinnen sollen dennoch Regeln kennenlernen, in eskalierenden Situationen sicherer zu handeln und angemessen zu reagieren bzw. einzugreifen. Eingreifen bei Gewaltsituationen ist wichtig, denn nur so kann deutlich gemacht werden, dass Gewalt nicht geduldet wird und keinen Platz hat (Gugel, 2007). Im Gesprächskreis zu Beginn tauschten sich die Kinder über Gewalterfahrungen bzw. -erlebnisse aus. Für uns ergab sich so die Möglichkeit zu erfahren, welche Vorerfahrungen die Kinder haben und wie sie Gewalt für sich definieren. Nach der Pause wurden Filmsequenzen zu unterschiedlichen Gewaltsituationen mit der Klasse angesehen. Anschließend sollten die Schüler und Schülerinnen Fragen (siehe Tabelle 4) beantworten. Tabelle 4: Fragen zu Gewaltsituationen Wie fühlen sich die Beteiligten? Warum haben sie sich gut/schlecht gefühlt? Wie habt ihr euch in der jeweiligen Rolle gefühlt? Wie würdet ihr euch verhalten? Warum würdet ihr euch so verhalten? Was würdet ihr tun, wenn ihr so etwas seht?

Ziel dieser Einheit war es, eigene und fremde Bedürfnisse zu erkennen und verschiedene Rollen einnehmen zu können, sowie das © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Bearbeiten von Konfliktgeschichten durch Rollenspiele. Im Plenum haben wir über die denkbaren Lösungsvorschläge sowie die Erlebnisse und Empfindungen der Kinder gesprochen. Modul 5: Konfliktbearbeitung und Lösungsstrategien Immer wieder werden Konflikte durch unproduktive und eher destruktive Methoden zu regeln versucht, obwohl deren Wirkungslosigkeit offensichtlich ist. Besonders im schulischen Kontext gehören dazu Zwangs-, Einschüchterungs- und Drohstrategien, die die Konfliktparteien nötigen sollen, ihre »Feindschaften« einzustellen. Die Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung hängen jedoch von der Art des Konflikts ab und welche Personen daran beteiligt sind. Eine zentrale Rolle beim Bearbeiten von Konfliktgeschichten spielen Rollenspiele. Hier können Verhaltensweisen spielerisch erprobt und verändert werden. Wichtig ist jedoch dabei, klar zwischen Person und Rolle zu unterscheiden und verschiedene Lösungen eines Konflikts durchspielen zu lassen (Gugel, 2007). Die Kinder teilten sich in Vierergruppen ein und bekamen vorgegebene Geschichten, die die Themenschwerpunkte »Verbale und körperliche Aggressionen«, »Psychische Gewalt« oder »Bedrohung« beinhalteten. Die Schüler und Schülerinnen übernahmen die Rolle der Kontrahenten und spielten den Konflikt (reden in Ich-Form). Sie versuchten, in den jeweiligen Rollen die Gefühle (Ärger, Wut, Angst) in Worte auszudrücken. Die Rollen wurden dann getauscht, sodass ein Perspektivwechsel nötig wurde. Der Rest der Klasse beobachtete das Vorgespielte. Die Kinder formulierten zunächst in ihren Rollen, wie sie sich eine Lösung vorstellten. Sie schrieben danach auf, was sie bereit waren zu tun und was sie von ihrem Konfliktpartner erwarteten. Im Plenum wurden die denkbaren Lösungsvorschläge sowie die Erlebnisse und Empfindungen der Kinder besprochen. Rollenspiel: Verbale Aggressionen und körperliche Gewalt Drei Schüler warten in einem Klassenzimmer auf ihren neuen Mitschüler Mirko, den »Klassenfeind«. Plötzlich kommt er um die Ecke. Manuel schreit gleich vor Lachen los. Auch Tobias und Sebastian lachen laut: »Boah, hey, wie der schon wieder aussieht! Wo sind denn deine Klamotten her? Etwa vom Sperrmüll?«, schreit Tobias

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Mirko entgegen. Mirko kommt immer näher. Er schaut stur gerade aus und versucht, die Jungen zu ignorieren. »Mann, du stinkst ja bis hierher«, ruft Manuel und rümpft die Nase. »Also, wie du schon aussiehst! Da kann man dich ja nur fertigmachen!«, meint Sebastian und gibt Mirko einen Schubs. »Sag mal, Streber, musste die Show in Mathe gestern wieder sein?«, fragt Christoph. Mirko schaut auf den Boden und hat die Hände in der Hosentasche. »Guck mich an, wenn ich mit dir rede!«, schreit Manuel. Mirko schaut Christoph an und sein blaues Auge vom Vortag wird sichtbar. »Coool, ich hab ja genau getroffen, Stinker«, jubelt Manuel und klatscht mit Sebastian ab. Tobias ballt die Faust unter Mirkos Gesicht und flüstert: »Ich sag dir nur eins, Streberbacke, wenn du heute wieder in Mathe den Klugscheißer raushängen lässt, passiert mehr als nur ein blaues Auge!« Der Lehrer kommt, die Jungen klatschen Mirko auf die Schulter und Tobias, Sebastian und Manuel verschwinden im Klassenzimmer.

Nach der Pause wurde ein Plan zur Problemlösung mit den Kindern an der Tafel erstellt. In diesem Plan wurden die Wünsche im Umgang miteinander festgehalten, aber auch stufenweise das Vorgehen in einer Konfliktsituation aufgezeigt. Damit die Kinder sich damit identifizieren konnten, war es wichtig, dass die Regeln mit »Wir« oder »Ich« beginnen. Wir orientierten uns an den 4 Schritten (Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte)1 der gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg. Diese verschafften den Kindern die Möglichkeit zu erkennen, wie man mit Worten seine eigenen Bedürfnisse klar formuliert, ohne das Gegenüber zu bedrohen bzw. zu ängstigen oder in die Ecke zu drängen. Modul 6: Regeln vertiefen und Gemeinschaft fördern

Jede Gesellschaft muss durch gemeinsame Werte verbunden sein, sodass alle wissen, was sie voneinander erwarten können, und dass es bestimmte, von allen getragene Grundsätze gibt, die ein gewalt1 Beobachten ohne Beurteilung und Bewertung; Gefühle feststellen, die wir haben, wenn wir die Beobachtung machen; Bedürfnisse erkennen und formulieren, die hinter den Gefühlen stehen; eine konkrete Bitte aussprechen, was jemand tun kann, um das Bedürfnis zu erfüllen.

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Mentalisierungsbasierte Gewaltprävention an einer Grundschule 111

loses Miteinander ermöglichen. So war es hier das Ziel, die in der Einheit zuvor aufgestellten Regeln auf eine Leinwand zu schreiben und alle Kinder ihren Handabdruck daraufdrücken zu lassen. Dies war ein Zeichen dafür, dass sich alle Kinder in der Klasse mit diesem »Konfliktlösungsvertrag« identifizierten. Nach der Pause teilten sich die Kinder in Vierergruppen auf. Jede Gruppe erhielt Filzstifte, Wachsmalstifte, Zeitschriften sowie ein Plakat zur Verfügung gestellt. In Säckchen befanden sich unterschiedliche Begriffe, die zum Thema »Umgang mit anderen« passten. Die Kinder zogen jeweils fünf Begriffe und versuchten, diese in einer Collage darzustellen. Hier galt die Regel, dass jede/r das malen darf, was und wie er/sie möchte und niemand schlecht über die Bilder der anderen sprechen sollte. Die Kinder konnten gruppenweise ihre Gemälde den anderen Kindern vorstellen. Modul 7: Abschluss und Evaluation

Die letzte Einheit nutzten wir, um gemeinsam mit den Kindern Rückblick zu halten. Hierbei war es uns wichtig, festzustellen, wie die Kinder das Angebot angenommen und empfunden hatten, was sie mitnehmen konnten, was sie gut oder schlecht fanden und sich für das nächste Mal wünschen würden. Ein Evaluationsbogen, der eigens für dieses Projekt erstellt wurde, hatte den Vorteil, die Ziele und spezifischen Aspekte des Projekts zu erfassen. Als letzte interaktive Methode spielten wir gemeinsam das Spiel »Ich packe meinen Koffer«, jedoch wandelten wir das Spiel so ab, dass die Kinder schilderten, was sie aus den letzten Einheiten mitgenommen hatten. Zum Abschluss gaben wir den Kindern das Gedicht mit dem Titel »Wir« mit.

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Katharina Straub und Alexandra Stavrou

Evaluation Tabelle 5: Evaluationsfragen und -antworten der Schüler und Schülerinnen (N = 21)

5

Befriedigend 2

Ausreichend --------

Mangelhaft --------

Ja sehr

Ja

Mittel

14

5

2

Geht so --------

Gar nicht --------

Die Informationen, die Du durch das Projekt vermittelt bekommen hast, waren für dich …

Sehr gut 11

Gut 7

Befriedigend 3

Ausreichend --------

Mangelhaft --------

Würdest Du Dir zutrauen, schwierige Situationen auch mal alleine meistern zu können?

Ja sehr

Ja

Mittel

11

5

4

Geht so --------

Gar nicht 1

Gut 8

Befriedigend 2

Ausreichend 2

Mangelhaft 1

Ja sehr

Ja

Mittel

12

2

4

Geht so 3

Gar nicht --------

Ja sehr

Ja

Mittel

15

3

1

Geht so 2

Gar nicht --------

Ja sehr

Ja

Mittel

14

5

2

Geht so --------

Gar nicht --------

Sehr Welche Note gibst Du dem gesamten Projekt – gut 14 wie hat es Dir also insgesamt gefallen? Hast Du die Inhalte verstanden?

Kannst Du in der Schule, Sehr gut mit Freunden oder in der Familie mit dem Ge- 8 lernten etwas anfangen? Kannst Du jetzt einem anderen Menschen erklären, wie er sich am besten in schwierigen Situationen verhalten kann? Haben wir die Inhalte verständlich vermittelt? Sind die Leiterinnen auf Eure Fragen eingegangen und haben sie Euch mit einbezogen?

Gut

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Mentalisierungsbasierte Gewaltprävention an einer Grundschule 113

Zitate: »Was ich noch sagen wollte« »Es war toll, weil wir viel Neues gemacht haben.« »Es hat mir Spaß gemacht. Bei unseren Regeln, die ich unterschrieben habe, gibt es welche, wo ich mich verbessern muss.« »Ich fand das Projekt gut, weil wir in unseren Freundschaften besser miteinander umgehen können.« »Ich finde es schade, dass es nur so wenig Stunden waren.« »Danke für die tolle Zusammenarbeit!«

Die Evaluationsergebnisse zeigen deutlich die gute Akzeptanz des Projekts. Die Kinder haben sich wohlgefühlt, fühlten sich einbezogen und haben die Aufgaben und Rollenspiele verstanden. Circa drei Viertel der Kinder trauten sich jetzt selbst Konfliktlösungen oder Transferleistungen zu. Dies spricht auch inhaltlich für den Lerngewinn und einen Zuwachs an Kompetenz.

Ausblick Angestrebte Ziele der Gewaltprävention in der Grundschule sind die Stärkung der Selbstkompetenz sowie die Förderung einer positiven Klassen- oder Schulkultur im Umgang miteinander. Dabei kommt mentalisierungsfördernden Interventionen eine große Bedeutung zu. Die Wahrnehmung und Differenzierung von Emotionen sowie deren Versprachlichung, die Anerkennung verschiedener – prinzipiell gleichwertiger – Perspektiven fördern eine Atmosphäre, in der sich Sicherheitsgefühl, Respekt und Empathie ausbreiten können. Wie Twemlow und Fonagy (2009) herausarbeiten, ist es ein Ziel, die Klasse als ein »mentalisierungsförderndes System« zu gestalten und nichtmentalisierende Kreisläufe zu durchbrechen. Dies erfordert ein frühes Ansprechen von Missverständnissen, den Einbezug der ganzen Gruppe und den Verzicht darauf, ein besonders belastetes und belastendes Gruppenmitglied auszuschließen oder zu etikettieren. Da die Fähigkeit, zu mentalisieren, nicht nur ein intrapsychisches Phänomen ist, sondern sich vor allem im zwischenmenschlichen Kontakt ausdrückt und erlernt werden kann, hat sich die Gruppenarbeit als besonders vorteilhaft herausgestellt. Hier werden in der Grundschule Grundlagen geschaffen, die weit über die einzelne Konfliktlösung hinausgehen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt unserer Arbeit war es, die Schüler und Schülerinnen dazu zu befähigen, in Konflikten autonom zu handeln. Wir konnten sie in Konfliktlösungsprozessen begleiten, jedoch die Konflikte an sich nicht für sie lösen. Die Kinder sollten dazu befähigt werden, eigenständig Lösungsstrategien zu entwickeln und auch anzuwenden. Kritisch anzumerken ist, dass die Zeit begrenzt war und die Einheiten nur von kurzer Dauer waren. Über die Nachhaltigkeit der Intervention bzw. die Stabilität der positiven Ergebnisse können wir keine Aussagen machen, lediglich vermuten wir, dass nicht nur einzelne Projekttage notwendig sind, sondern die Implementierung gewaltpräventiver, mentalisierungsfördernder Interventionen auf mehreren Ebenen stattfinden muss (z. B. Angebote für Schüler, Lehrer und Beratungsangebote für Eltern). Nach unserer Meinung ist es wichtig, dass Schule ihre Funktion neu überdenkt. Sie kann nicht nur Ort der Wissensvermittlung sein, sondern muss gemeinsame Handlungs- und Erfahrungsräume ermöglichen. Dort werden Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeit gestärkt und soziales und demokratisches Lernen erlebbar gemacht.

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Mentalisierungsbasierte Psychoedukation mit Patienten einer psychiatrischen Institutsambulanz

Problemskizze »Psychosoziale Faktoren haben sogar einen bedeutsameren präventiven oder aber schädigenden Einfluss auf die Gesundheitsentwicklung als körperliche Faktoren« (Pauls, 2011, S. 11).

Die »International Federation of Social Workers« formulierte im Jahr 2000 den Auftrag der Sozialen Arbeit wie folgt: »The social work profession promotes social change, problem solving in human relationships and the empowerment and liberation of people to enhance well-being. Utilising theories of human behavior and social systems, social work intervenes at the points where people interact with their environments. Principles of human rights and social justice are fundamental to social work« (DBSH, 2012). Wichtige Themen Sozialer Arbeit sind also neben der Förderung des sozialen Wandels die Lösung von Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen und die Befähigung der Menschen, ihr eigenes Leben (besser) zu gestalten. Als große Herausforderung der nahen Zukunft gilt die Wechselwirkung psychischer Gesundheit und Krankheit mit gesellschaftsund sozialpolitischen Rahmenbedingungen, z. B. gelten Jobcenter und Arbeitsagenturen als »Durchlauferhitzer« für psychiatrische Krankheitsbilder (Salize, 2012, S. 200). Gesellschaftliche Veränderungen schlagen sich für Menschen in vielfältigen Gesundheitsschwierigkeiten nieder (Pauls, 2011). Partizipationsmöglichkeiten werden im Vergleich zu früher als eingeschränkter erlebt. Obwohl sich die Kommunikationsmöglichkeiten verbessern oder erleichtert werden, wie beispielsweise über das Internet, fühlen sich sozial und ökonomisch benachteilige Menschen besonders überfordert. Dies © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Tanja Kalbfuss, Aydın Polat und Swantje Urbanek

wirkt sich nachteilig auf soziale und emotionale Beziehungen aus und führt oftmals zu Sprachlosigkeit. Wer dabei nicht über gewisse, vorausgesetzte Eignungen und Bedingungen verfügt, wie beispielsweise materielle, konstitutionelle, psychische und soziale Fähigkeiten, der stößt schnell an Grenzen. Um in dem immer schnelleren Wandel einer modernen Gesellschaft mithalten zu können, werden Ressourcen benötigt, die dann darüber entscheiden, ob ein Mensch zu den Gewinnern oder Verlierern der Modernisierung zählt. Chronisch psychisch kranke Menschen gelten dabei als eine der am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen (Salize, 2012).

Sozialpsychiatrische Versorgung Ausgehend von den Reformen der Anstaltspsychiatrie in den 1970er und 1980er Jahren entwickelte sich die Sozialpsychiatrie als Gegenmodell und bewirkte eine fundamentale Veränderung der Lebensrealität chronisch psychisch kranker Menschen. Sie entwickelte ihre Legitimation aus sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Theorien und baute ambulante, niederschwellige und gemeindenahe Versorgungsstrukturen auf. Die sozial- und gemeindepsychiatrische Reformbewegung erscheint jedoch in den letzten Jahren erstarrt und kann in der Versorgungspraxis der Unterversorgung chronisch psychisch kranker Menschen nur wenig entgegensetzen (Salize, 2012). Es besteht ein Reformbedarf in der Schaffung neuer Versorgungskonzepte und Behandlungsansätze. Spezifische Psychotherapieansätze, wie kognitive Verhaltenstherapie und Familieninterventionen bei schizophren erkrankten Menschen (Bühring, 2012, S. 200) oder mentalisierungsbasierte Behandlung bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen, sind der psychiatrischen Standardbehandlung eindeutig überlegen (Bateman u. Fonagy, 2006), spielen aber in der Versorgungspraxis kaum eine Rolle. Ebenso scheint die Soziotherapie in der Versorgungslandschaft nicht die ihr angemessene Rolle zu spielen. »Die ambulante Soziotherapie, als eine der letzten neuartigen Versorgungsformen vor ca. 10 Jahren eingeführt, dümpelt vor sich hin. Von einem flächendeckenden Ausbau kann keine Rede sein« (Salize, 2012, S. 200). »Sozialtherapie« gilt als ein psychosoziales Verfahren zur gezielten © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

Mentalisierungsbasierte Psychoedukation117

Beeinflussung krankmachender Faktoren in zwischenmenschlichen Beziehungen und dem sozialen Umfeld der Klientinnen und Klienten. Ihr Ziel ist es, durch Aktivierung der Eigenkräfte die Handlungskompetenz der Betroffenen zu erweitern und durch eine Verbesserung der Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung den Aufbau tragfähiger sozialer Beziehungen zu ermöglichen (Lippenmeier, 2011). Die auffallendsten Probleme psychiatrischer Langzeitpatienten, sogenannter »Drehtürpatienten«, sind die hohe soziale Isolation, die hohe Arbeitslosigkeit und der Mangel an tragfähigen oder belastungsfähigen Beziehungen im engeren Lebenskreis (Gromann, 2002). Ein Teil der gemeindenahen, sozialpsychiatrischen Versorgung ist die Psychiatrische Institutsambulanz (im folgenden PIA genannt). Ihre Aufgabe ist die ambulante Nachbehandlung für schwer und lange psychisch erkrankte Menschen. Sie ist Anlaufstelle für Menschen, die sich wiederholt in stationärer Behandlung befanden und nach ihrer Entlassung neben einer kontinuierlichen ärztlichen Behandlung auch Unterstützung bei der Lösung sozialer Probleme und zur Alltagsbewältigung suchen. Daher arbeiten in der PIA Ärztinnen, Psychologen, Sozialarbeiterinnen und andere Therapeuten in einem interdisziplinären Team zusammen. Das Leistungsspektrum umfasst u. a. sozialtherapeutische Einzel- und Gruppenangebote, Psychoedukation, psychotherapeutische Einzelgespräche und Gruppen. Die PIA versucht, das soziale Umfeld in die therapeutische Arbeit einzubeziehen, und unterstützt bei Problemen mit Wohnungssuche, Arbeitsplatz etc. Die Leistungen der PIA werden über die Krankenkasse abgerechnet1, dürfen jedoch nicht in Konkurrenz zu niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten stehen und können nicht gleichzeitig mit einer durch einen Vertragsarzt verordneten Soziotherapie angeboten werden. Diese Einschränkungen bedingen einen Selektionseffekt in dem Sinne, dass besonders schwer betroffene Patienten, die ambulant kein ausreichendes Behandlungsangebot oder einen Psychotherapieplatz finden, in der PIA eine Anbindung finden.

1

Die Vergütung der durch die psychiatrischen Institutsambulanzen erbrachten Leistungen wird über § 120 Abs. 2 SGB V geregelt.

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Konzept, Methoden und Ziele Der Empowerment-Ansatz Der Begriff Empowerment bedeutet »Selbstbefähigung« oder »Selbstermächtigung« und beschreibt Prozesse der Entwicklung, in deren Verlauf Menschen die Energie aufbringen, die sie benötigen, um ein nach ihren Maßstäben gutes Leben zu führen, das ihre Bedürfnisse abdeckt (Herriger, 2006). Das Empowerment-Konzept richtet seinen Fokus auf die Ressourcen der Adressaten Sozialer Arbeit (Miller u. Pankofer, 2000). Dies soll ein Mehr an Autonomie, sozialer Teilhabe und eigenbestimmter Lebensplanung ermöglichen. »Kurz gesagt bedeutet Empowerment das Anstiften zur (Wieder-)Aneignung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Lebens«2. Der amerikanisch geprägte Begriff Empowerment stammt aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der gemeindebezogenen Sozialen Arbeit. Erst seit den 1990er Jahren wird das Empowerment-Konzept verstärkt in Deutschland rezipiert. Wir verstehen diesen Ansatz nicht einfach als Methode, sondern als professionelle Haltung sozialarbeiterischen Handelns und als Prozess: ȤȤ »von der Defizitorientierung zur Förderung von Ressourcen, ȤȤ von der Einzelförderung zur Stärkung von Individuen in Gruppen und (politischen) Kontexten, ȤȤ von der Beziehungsarbeit zu Netzwerkförderung« (Galuske, 2009, S. 262).

Neben einer ressourcenorientierten und wertschätzenden Haltung fehlen jedoch methodische Ansätze, wie z. B. an einer Steigerung der Selbstwirksamkeit gearbeitet, wie eine größere Eigenaktivität und Beziehungsarbeit gestaltet werden kann. Das Mentalisierungskonzept Ausgehend von einer an Empowerment orientierten Zielsetzung wählten wir das Mentalisierungskonzept als einen entwicklungsorientierten, psychoanalytischen Ansatz, der beschreibt, wie Selbstregulation und Beziehungsfähigkeit intersubjektiv entstehen. Wir 2

http://www.empowerment.de/grundlagentext.html#definitonen (25. 2. 2012).

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Mentalisierungsbasierte Psychoedukation119

gehen davon aus, dass Mentalisieren eine Grundlage für gelingende soziale Beziehungen darstellt und sich daher Schwierigkeiten in Beziehungen als vorübergehende oder dauerhafte Schwächen der Mentalisierungsfähigkeit deuten lassen. Die Förderung von Mentalisierung kann also helfen, eigene/fremde Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen, Konflikte besser zu verstehen und zu bewältigen, um dadurch gelingendere Beziehungen zu sich selbst und zu anderen aufzubauen. Psychiatrische Erkrankungen beeinträchtigen das Mentalisieren und beeinträchtigtes Mentalisieren ist an psychischen Störungen beteiligt. So führen z. B. charakteristische kognitive Verzerrungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung bei Depression zu interaktionellen Schwierigkeiten und Konflikten, die wiederum das Mentalisieren hemmen. Ähnliche Wirkungen hat auch das starke Beschäftigen mit sich selbst, sodass die dabei entstehende Isolation es den Betroffenen erschwert, sich in die mentalen Zustände anderer hineinzuversetzen. Allen schweren psychischen Störungen gemeinsam ist ein Rückzug von der Außenwelt, welcher nicht nur die Angst, Belastung oder potenzielle Enttäuschung reduziert, sondern gleichermaßen eine positive Zuwendung durch die Außenwelt verhindert. Dadurch wird der Teufelskreis geschlossen (Allen, Fonagy u. Bateman, 2008). In mehreren klinischen Studien hat die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) (Bateman u. Fonagy, 2007) ihre Wirksamkeit bewiesen (Bateman u. Fonagy, 1999, 2001, 2003). In einer neueren Studie (Bateman u. Fonagy, 2009) wurde eine ambulante MBT-Behandlung mit allgemeiner psychiatrischer Betreuung verglichen. Die Studie zeigte auch hier signifikant bessere Ergebnisse in den Selbsteinschätzungen und in den Erfolgskriterien Abnahme von Suizidversuchen und stationären Einweisungen. Als zentrale Aufgabe wurde die Verbesserung und Stabilisierung der Mentalisierungsfähigkeit gesehen und nicht die Entwicklung von Einsicht. Durch Stress, Unsicherheit oder intensive Emotionen kann die Mentalisierungsfähigkeit geschwächt werden oder zusammenbrechen, daher stehen folgende Merkmale der MBT im Mittelpunkt: ȤȤ das Angebot einer sicheren Beziehung, ȤȤ eine transparente Struktur des Behandlungsangebotes, ȤȤ mentalisierungsfördernde Interventionen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Beispiele, wie Interventionen helfen, die Mentalisierungsfähigkeit der Klientinnen und Klienten zu fördern, liefern Allen et al. (2008). Mentalisierungsbasierte Psychoedukation Jenseits komplexer und manualisierter Behandlungsprogramme hat sich die mentalisierungsbasierte Psychoedukation als klinisch erfolgreich erwiesen und gilt als geeignete Methode zur Vermittlung des Mentalisierungskonzeptes (Haslam-Hopwood, Tobias, Allen, Stein u. Bleiberg, 2009; Schultz-Venrath, 2013). Sie ergänzt das therapeutische Angebot oder soll, wie in unserem Fall, als sozialtherapeutische oder soziotherapeutische Basisintervention die Emotionswahrnehmung und Beziehungsgestaltung positiv beeinflussen. Die Vermittlung relevanter Informationen (theoretischer Input) mit anschließender Diskussion, Übungen oder Rollenspielen fördert die Autonomie und Expertenschaft in eigener Sache, macht das Angebot transparent und fördert Motivation und Reflexion. Dabei wird der Diskussionsprozess als entscheidend angesehen. Bereits in der Diskussion wird mentalisiert, da über das Denken und über Gefühle nachgedacht wird (Haslam-Hopwood et al., 2009). Spielerische Angebote und Übungen sind dazu gedacht, das »Mentalisieren in Aktion« zu zeigen und die Teilnehmer(innen) mit einzubeziehen. Die Trias von »sicherer Basis«, Transparenz der Struktur und mentalisierungsfördernden Interventionen hilft dabei, dass sich Teilnehmer schmerzhaften Gefühlen stellen können (Allen u. Fonagy, 2006). Eine aktive Haltung der Gruppenleiter(innen) soll helfen, die Intensität der emotionalen Zustände zu regulieren (Allen et al., 2008). In diesem Zusammenhang gilt es, das Arousal eines jeden Teilnehmers konstant zu beobachten und zu berücksichtigen (Allen u. Fonagy, 2006). Ziele Unser Konzept verfolgt 3 Ziele, die eine Verbesserung der Selbstregulation und die Gestaltung sozialer Beziehungen ermöglichen sollen: a) Eigene Emotionen besser wahrnehmen und verstehen zu lernen. b) Andere besser verstehen zu lernen; Gedanken, Gefühle, Verhalten anderer besser einschätzen und verstehen zu lernen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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c) Zu lernen in zukünftigen Stresssituationen anders reagieren zu können; sich in Konflikt- bzw. Stresssituationen beruhigen und reflektieren zu lernen. Zu a) Eigene Emotionen besser wahrnehmen und verstehen zu lernen

Die Bedeutung des Themas für unser Konzept ergibt sich dadurch, dass Schwierigkeiten in der Wahrnehmung und Differenzierung von Gefühlen angenommen werden können. Die Ursachen dafür können vielfältig sein. Desorganisierte Bindungen, misslungene frühe Beziehungserfahrungen und daraus abgeleitete innere Arbeitsmodelle, Traumata oder Gewalterfahrungen und vieles mehr. Die gemeinsame Endstrecke jedoch, so die Annahme, liegt in der Schwierigkeit, das eigene Selbsterleben wahrzunehmen und zu differenzieren, das heißt, zwischen innerer und äußerer Realität unterscheiden zu können und aus prämentalisierenden Erfahrungsmodi (teleologischer, psychischer Äquivalenzmodus oder Als-ob-Modus) in einen reflektierenden Modus zu gelangen. Zu b) Andere besser verstehen zu lernen

Mentalisieren bedeutet, äußerlich wahrnehmbares Verhalten bei sich und anderen im Zusammenhang mit inneren, mentalen Zuständen und Vorgängen zu sehen. Man geht davon aus, dass bei Menschen mit strukturellen Störungen oder schweren Traumatisierungen diese Fähigkeit zeitweise oder in bestimmten Bereichen beeinträchtigt ist. Eine einigermaßen zutreffende Einschätzung der Motive, Wünsche und Perspektiven des Gegenübers ist jedoch wichtig für die eigene Sicherheit und Angemessenheit in der Interaktion (z. B. Was muss ich tun, um vom anderen verstanden, ernst genommen zu werden?). Die größte Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass besonders in Stresssituationen und in engen, emotionalen Beziehungen Gefühlsturbulenzen und Erregungen das Mentalisieren erschweren bzw. verhindern können (Allen et al., 2008).

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Zu c) In zukünftigen Stresssituationen anders reagieren zu können

Insbesondere ein »optimales« emotionales Arousal entscheidet über die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven wahrnehmen und zwischenmenschliche Konflikte lösen oder reflektierend Aufgaben lösen zu können. Hier haben neurobiologische Erkenntnisse hilfreiche Metaphern bereitgestellt, um den Umgang mit stressvollen Situationen – durch gedankliches Probehandeln – zu beschreiben. Stress kann zu ungerechtfertigten und scheinbar kopflosen Reaktionen führen. Die Fähigkeit, Stress durch »gedankliches Probehandeln« zu regulieren, baut auf den zuvor genannten beiden Zielen auf. Durchführung Nach einer Phase der Konzeptentwicklung und Planung (Dezember 2011 bis März 2012) wurde das Gruppenkonzept »Spurensuche …« im Team einer psychiatrischen Institutsambulanz vorgestellt und diskutiert. Die Leitung und die Mitarbeiter der PIA zeigten sich aufgeschlossen und interessiert. Sie informierten Patienten, die regelmäßig die Institutsambulanz besuchten, und stellten Räume zur Verfügung. Neben Aushängen und einem Flyer, der auf das Gruppenangebot hinwies, wurde eine Informationsveranstaltung durchgeführt. Dabei wurden interessierte Klientinnen und Klienten mit den Zielen des Gruppenangebotes, den Inhalten und dem geplanten Ablauf vertraut gemacht. Die Gruppenleiter (TK, AP und SU) stellten sich vor und erläuterten den Ablauf der ersten Gruppensitzungen und den zeitlichen Rahmen. Die Gruppentreffen sollten regelmäßig wöchentlich stattfinden und jeweils eine Stunde dauern (siehe Abbildung 1). Im Anschluss an die Informationsveranstaltung und einem persönlichen Vorgespräch waren 7 Treffen innerhalb von 3 Monaten geplant. Diese wurden durch Fallbesprechungen sowie Rückmeldungen an das Team der psychiatrischen Institutsambulanz begleitet.

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Mentalisieren in Aktion 5. + 6. Stunde

Abschluss 7. Stunde

Empowerment

Es gibt nicht nur eine Wahrheit 3. + 4. Stunde Einführung in Mentalisierung 1. + 2. Stunde

Abbildung 1: Themen des Gruppenangebotes »Spurensuche«

Für den Erfolg einer Kurzzeitintervention ist es wichtig, einen Fokus zu formulieren, der nahe am subjektiven Erleben der Teilnehmer liegt und abstrakt genug formuliert ist, um als zentrale Arbeitshypothese die Interventionen der Gruppenleiter zu strukturieren (Allen, O’Malley, Freeman u. Bateman, 2012). Vorgespräche wurden durchgeführt, um die Teilnehmenden und ihre Lebensgeschichte besser kennenzulernen, nach individuellen Mentalisierungsschwierigkeiten zu suchen und einen Fokus zu formulieren, d. h., bestimmte Konflikt- oder Stresssituationen herauszuarbeiten, mit denen die Teilnehmenden besser zurechtkommen möchten. Im Vorgespräch wollten wir auch herausfinden, wie die Teilnehmenden bei neutralen Themen (z. B. Alltagsbeschreibungen) mentalisieren können und wie bei bindungsrelevanten Themen bzw. Konfliktthemen (z. B. Lebenspartner, Eltern, Kinder). Dies soll an einem Fallbeispiel differenzierter beschrieben werden. Im Verlauf des Vorgesprächs erzählte Herr S. Geschichten aus seiner Biografie, die auf eine unsichere, vermutlich eine unsichervermeidende Bindung hinwiesen. Bei insgesamt differenzierter und überaus reflektierter Schilderung kam es während des Gesprächs zu einem kontextspezifischen Zusammenbruch seiner Mentalisierungsfähigkeit, der mit körperlichen Symptomen (wie Schwitzen, sich im Kopf vernebelt fühlen) und Konzentrationsstörungen einherging. Alleinsein, Gesehen- oder Verstandenwerden sind bindungsrelevante Themen, die bei Herrn S. Emotionen aufwühlten (Stressreaktion) und sein Reflexionsvermögen behinderten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Transkript Vorgespräch Herr S. (Zeile 164–237, 0:24:03–0:39.08) Um das Leben positiv zu sehen … Das ist ja relativ abstrakt. Wenn man versucht, es konkreter zu machen, ein positives Leben, könnte man sagen, das würde bedeuten, dass Sie gesehen und verstanden werden? Ja, wenn ich … […] Aber da habe ich halt Gott sei Dank auch schon die Erfahrung gesammelt, dass wenn ich mich Leuten auch mit meinen Problemen anvertraue, dass ich dann nicht sozusagen ausgestoßen werde, sondern sie z. B. sagen, dass sie auch so Probleme haben oder dass es auch zum Teil normal ist, Probleme zu haben und … Also, da habe ich schon auf jeden Fall auch gute Erfahrungen gesammelt. Also was wollte ich jetzt eigentlich sagen? Ja, ich habe eben auch schon bei Aufstellungen festgestellt, dass ich immer ganz extrem empfindlich reagiere, wenn in einer Aufstellung das Thema aufgekommen ist, dass da jemand gewesen ist, der lang versucht, mit einem Problem alleine klar zu kommen, und dass er es anscheinend doch nicht schafft. […] Also, das fällt mir schwer, ja auf andere zuzugehen, wenn ich, weil ich schnell das Gefühl habe, ich werde jetzt zu einer Belastung für die oder ich … Ja. Könnte man das nicht zum Thema für die Gruppe machen, um zu gucken, wie können Sie das Leben positiver sehen, und das konkret. Wie können Sie Beziehungen so bestärken, dass Sie sich gesehen und verstanden fühlen? Also, ich denke halt dabei jetzt daran, dass ich eben schon aus dem Freundeskreis so ein positives Feedback kriege, dass ich eigentlich … Das ich das jetzt so spontan gar nicht als das, als mein größtes Problem gesehen hätte. Aber vielleicht liege ich ja auch falsch. Also … Im Zweifelsfall liege ich falsch. … Aber das … Ich merke ja an meinen eigenen Reaktionen, dass es anscheinend halt schon ein extrem, ja heftiges Thema für mich ist. […] Also darauf weiß ich irgendwie gerade keine Antwort. […] Das Thema, wie ist es mit dem Gesehen- und Verstandenwerden, das scheint mir irgendwie wichtig, auch wenn wir die Formu-

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lierung vielleicht noch nicht so gut getroffen haben, sondern nur annäherungsweise. Ja, mir ist schon manchmal irgendwie immer nur … Mir ist schon manchmal bei meiner Wohnung so ein Vergleich eingefallen, dass es irgendwie auch wie so ein Mausoleum ist. Also irgendwie für sich selbst ein Denkmal errichten, das dazu dient irgendwie, dass man nach dem Tod noch gesehen wird. Aber … Also, ich meine, der Tod bedeutet ja die totale Unbeweglichkeit. Und irgendwie kam es mir oft so vor, als würde das bei der Wohnung halt, als würde die Unbeweglichkeit ebenso bis zur totalen Starre zunehmen. Also als wäre das sozusagen der konsequente Endpunkt der Horterei. Und ja, ich denke oft an so einen Spruch, irgendwie Bewegung ist Leben oder Leben ist Bewegung. Und eigentlich arbeite ich halt so mit dem Horten da total dagegen, also gegen Bewegung und gegen Leben damit, wenn man Leben und Bewegen so zusammensetzt. Ja, und das will ich schon beseitigen. Also … […] Also ich bin jetzt auch gerade noch ein bisschen, ja, na ja nicht benommen, aber … Aufgewühlt? Ja, auf jeden Fall auch aufgewühlt, ja. Also einerseits aufgewühlt, andererseits fühle ich mich auch im Kopf ein bisschen vernebelt, muss ich sagen so. Also mir kommt es gerade so vor, als wüsste ich schon gar nicht mehr, was ich gerade vorher gesagt habe und … Ja, also ich bin fast wirklich ein bisschen wie benommen. War es anstrengend für Sie? Ja, also die Gedanken, irgendwas allein versuchen durchzubringen und nicht hinkriegen, die haben mich irgendwie am stärksten … Ja, die haben mich auch körperlich irgendwie sehr bewegt. Also … Und das … Ich kann mir nicht so richtig erklären, warum ich das eigentlich so nüchtern betrachtet als gar kein großes Problem sehe, weil mir Freunde einfallen, bei denen ich so sein kann, wie ich bin, und die mich so sehen und gerne haben und akzeptieren, und warum ich aber andererseits irgendwie so eine starke Reaktion dann darauf habe, also auf das Thema. Das verstehe ich noch nicht so richtig (0:39:08).

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Die Teilnehmenden Von insgesamt 8 Teilnehmenden der Informationsveranstaltung kamen 4 mehr oder weniger regelmäßig zu den Gruppensitzungen. Frau T.3 war zum Zeitpunkt des Gruppenangebotes 60 Jahre alt, sie schildert eine Lebensgeschichte mit vielfachen Traumatisierungen. Im Alter von 35, 45 und 55 Jahren und erneut 2007 sei sie an einer schweren Psychose und rezidivierenden Depression erkrankt. Sie leide unter einer schizoaffektiven Störung und sei trockene Alkoholikerin. Im Kontakt zu anderen und in der Gruppe erlebe sie sich oft unsicher, leicht verletzlich, niedergeschlagen und ohne Halt und Antrieb. Sie lebe im betreuten Einzelwohnen. Sie möchte mehr Sicherheit im Umgang mit anderen Menschen lernen. Herr H. ist 40 Jahre alt und ledig. Er wohnt im betreuten Einzelwohnen. Er sei lange Jahre alkoholabhängig gewesen und habe 2002, 2008 und 2010 eine Alkoholentwöhnung gemacht, seit 3 Jahren lebe er abstinent. Er sei isoliert, ohne Freunde oder Freundin. Nach einem abgebrochenen Studium sei er seit langer Zeit arbeitslos und arbeite in einem 1-Euro-Job. Mit immer wiederkehrenden Versagensgefühlen erlebe er das Leben als schwierig und suche eine neue berufliche Orientierung. Als Ziel formuliert er eine positive Veränderung bezüglich seines aggressiven Verhaltens in Konfliktsituationen mit anderen Menschen. Herr I. ist ca. 55 Jahre alt. Er sei seit seiner Jugend immer wieder depressiv, dann auch alkohol- und drogenabhängig gewesen und habe viele »Entziehungskuren« hinter sich, seit ca. 5 Jahren lebe er abstinent. Er habe seit vielen Jahren starke Schmerzen im Rücken und sei im Alltag dadurch recht eingeschränkt. Seit Kurzem habe er eine Freundin und sei unsicher, wie er sich ihr gegenüber verhalten soll. Ansonsten lebe er zurückgezogen und besuche ab und zu eine Tagesstätte. Dort könne er malen und tischlern. Herr S. ist 40 Jahre alt. Er leide seit vielen Jahren unter Zwangsgedanken und Zwangshandlungen und bezeichnet sich selbst als »Messi« (zwanghaftes Horten von Gegenständen). Er lebe allein, beziehe Grundsicherung und habe einen kleinen, aber stabilen Bekanntenkreis. Er fühle sich als Versager, als »schwarzes Schaf« in seiner Fami3 Die Namen wurden anonymisiert.

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lie. Er grübele viel, müsse alles kontrollieren und wünsche sich mehr innere Freiheit und Entscheidungsfähigkeit im Umgang mit anderen Menschen. Er verliere sich in den Versuchen, sich in andere hineinzuversetzen, und könne dann keine Entscheidungen mehr treffen. Allen Teilnehmenden gemeinsam war eine relativ isolierte Lebenssituation, ein Leben am Existenzminimum und lang anhaltende psychische Erkrankungen, die kaum Hoffnung auf wesentliche Besserung mehr zulassen. Ihre Ziele orientieren sich am Alltag und beziehen sich auf die Gestaltung von Beziehungen. Die Gruppensitzungen Jede Gruppensitzung wurde durch Gruppenrituale strukturiert. Zwischen Anfang (Warm-up) und Schluss (kurze Reflexion der Stunde) wurden in »offenen Arbeitsphasen« verschiedene, aufeinander aufbauende Themen bearbeitet. Das Warm-up sollte die Atmosphäre auflockern und allen Beteiligten das gegenseitige Kennenlernen und das Ankommen in der Gruppe erleichtern. So sollte es zu Beginn helfen, Berührungsängste abzubauen und Vertrauen untereinander aufzubauen.4 Tabelle 1: Ablauf der einzelnen Gruppenstunden Ablauf

Anmerkungen

Warm-up 10'

Einführung

Wiederholung, Ablauf vorstellen 5'

Flipchart (Ablauf, Navipfeil)

Theoretischer Input 10'

Wissensvermittlung, Themen

Übungen, Rollenspiele 30'

Medien (DVD), Moderationskarten

Abschluss und Feedbackrunde 5'

Flipchart (Zielscheibe, Stifte), Reflexion Handout

Durch die kurze Wiederholung der wichtigsten Aspekte der letzten Stunde konnte sich das Gehörte, Wahrgenommene vertiefen. Mit4

Beispiel: Alle Teilnehmer sitzen im Stuhlkreis. Auf Zuruf wechseln diejenigen Personen die Plätze oder stehen auf, die der Aussage des Zurufs zustimmen. Beispiele: »Alle stehen auf, die grüne Augen haben.« »Alle stehen auf, deren Namen mit ›R‹ anfängt.«

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hilfe von Moderationskarten sollte die Interaktion in der Gruppe angeregt werden. Durch das Vorstellen des Ablaufs und der Inhalte auf einem Flipchart blieb der Ablauf transparent und bot den Teilnehmenden eine Orientierungshilfe. Mit Hilfe eines Papppfeils wurde im Verlauf der Stunde der jeweils aktuelle Punkt angezeigt. Ein Wechsel der Gruppenleitenden (TK, AP und SU) in den verschiedenen Abschnitten einer Sitzung lockerte die Sitzungen auf und erhöhte die Aufmerksamkeit. Mit einer Zielscheibe (siehe Abbildung 2) führten die Gruppenleitenden in der Abschlussrunde auch eine erste Reflexion ein. Die Teilnehmenden wurden aufgefordert, auf der Zielscheibe ein Kreuz zu setzen und zu erklären, wie sie die jeweiligen Gespräche/Themen erlebt hatten. Auch wurde zur Vertiefung ein Handout mit den wichtigsten Inhalten der Stunde ausgeteilt. Übungsbeispiele wurden von Allen et al. (2012) übernommen oder modifiziert bzw. selbst zusammengestellt. Übung

Atmosphäre

Gut gefallen

Projektleitung

Nicht gefallen

Eigenes Engagement

Abbildung 2: »Zielscheibe« für Rückmeldungen am Ende der Gruppensitzung

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Erste Gruppensitzung: »Einstieg in die Mentalisierung«

Anhand der Fragen »Was ist Mentalisierung und warum ist sie wichtig? Woran erkenne ich gelingende Reflexion? Woran zeigt sich das Versagen von Mentalisieren?« sowie einiger Alltagsbeispiele wurden Grundzüge des Mentalisierens erläutert. Mentale Zustände wurden als eine innere Realität aufgewertet. Im theoretischen Input überwog der Gesprächsanteil der Gruppenleiter, teils aus Unsicherheit, teils aus dem Bedürfnis, eine komplexe Theorie – in ihrer Komplexität – darzustellen. Dieser hohe Gesprächsanteil und eine am Studium orientierte Wortwahl erschwerten es den Teilnehmenden jedoch, aufmerksam den Inhalt zu verfolgen und zu verstehen, dies soll kritisch als eher mentalisierungshemmend eingeschätzt werden (siehe Transkript 1. Std., Zeile 31–103). In der Diskussion wurde der Wunsch geäußert, sich wechselseitig zu duzen, die Gruppenleitenden wurden mit einbezogen und entschieden sich spontan, sich ebenfalls duzen zu lassen. Dies wurde als »Test« erlebt, ob man zugewandt sich auf eine Ebene stellt (»verbrüdert«) oder professionellen Abstand halten will. Im Sinne des Empowerment-Gedankens wurde eine eher gleichberechtigte Haltung angestrebt. Anschließend wurde anhand von 2 Filmsequenzen (Willerscheidt, 2010) beispielhaft gezeigt, wie durch mangelnde und fehlende Mentalisierung Konflikte bzw. zwischenmenschliche Schwierigkeiten entstehen können. Die kurzen Filme wurden aufmerksam verfolgt und diskutiert. In der Diskussion konnten die Teilnehmenden verschiedene Perspektiven erarbeiten. Zu den Beispielen im Film konnten sie zunächst Distanz wahren, und wir ermutigten sie, von ähnlichen, eigenen Erfahrungen zu erzählen. Die Äußerungen wurden durch die Gruppenleitung stichpunktartig auf Moderationskarten geschrieben. Zweite Gruppensitzung: »Selbst- und Fremdwahrnehmung«

Zunächst wurde mithilfe des Übungsangebotes »Wer bin ich?« der Fokus von external-objektiven Fakten hin zu internal-subjektiven Informationen gelenkt. Dabei schrieben die Teilnehmenden einige (ca. 5–6) objektive Fakten zu ihrer Person auf (z. B. Alter, Geschlecht, Familienstand, Beruf, Haustiere). Im nächsten Schritt wurden sie © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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gebeten, sich ohne diese Fakten zu beschreiben und nur Aussagen zu sich selbst zu treffen, die ihre »innere Befindlichkeit« (mental states) betrafen. Dies konnten Aussagen zu Gedanken, Gefühlen, Stimmungen, Wünschen, Phantasien oder Absichten usw. sein. Die anderen Teilnehmenden wurden eingeladen, ihre Meinung zu äußern und zu beschreiben, ob die Selbstdarstellung der anderen mit ihrer Wahrnehmung übereinstimmt und worin sie Unterschiede sehen. Das Übungsangebot wirkte sich positiv auf die Gruppendynamik aus, da die Teilnehmenden etwas übereinander erfahren haben. Die Erkenntnis, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung unterschiedlich sein können und die Haltung des Nicht-Wissens der Gruppenleitenden, wirkten mentalisierungsfördernd. Kritisch betrachtet kamen jedoch die Förderung von Exploration und die Affektfokussierung zu kurz. Die Äußerungen der Teilnehmenden blieben vorsichtig oder allgemein bzw. oberflächlich an Klischees orientiert (Beispiele: Transkript, 2. Std., S. 4, Zeile 105–169). Der Vergleich der eigenen Wahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung schuf die Überleitung vom ersten Ziel, »sich selbst besser kennen- und einschätzen lernen«, zum zweiten Ziel, »die anderen besser verstehen und einschätzen lernen«. Dritte Gruppensitzung: »Es gibt nicht nur eine Wahrheit«

Die Teilnehmenden betrachteten eine Bildkarte (einen mehrdeutigen Stimulus), die eine interpersonelle Situation darstellte, und wurden aufgefordert, sich eine kurze Geschichte dazu auszudenken. Schließlich wurden wesentliche Inhalte der Geschichte auf Moderationskarten festgehalten und diskutiert. Vermutungen über die Bedeutungen der einzelnen Geschichten wurden zusammengetragen (Allen, Fonagy u. Bateman, 2008). Diese Übung umfasste 3 Facetten des Mentalisierens: ȤȤ Erstens war bereits die Konstruktion einer Geschichte »Mentalisieren in Aktion«, da eine Situation mit mentalen Zuständen in Verbindung gebracht wurde. Die Übung verdeutlichte außerdem, dass derselbe Stimulus eine Vielzahl möglicher Perspektiven zulässt. Das durch diese Übung angeregte Mentalisieren ist der Interpretation mehrdeutiger zwischenmenschlicher Situationen sehr ähnlich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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ȤȤ Eine zweite Facette des Mentalisierens wurde angeregt, indem die Teilnehmenden zu ihrer Geschichte weitere Überlegungen anstellten (z. B. warum sie diese Geschichte erzählten, was sie besonders angesprochen hat etc.). Da den Klientinnen und Klienten die Bedeutung der Geschichte während der Konstruktion manchmal verschlossen blieb, fiel ihnen die Signifikanz ihrer eigenen Geschichte häufig erst nachträglich auf. ȤȤ Eine dritte Facette des Mentalisieren war die Gelegenheit, in der Gruppe über die Bedeutung der Geschichten zu spekulieren und mit dem Geschichtenerzähler in einen Austausch zu kommen. Allen et al. (2008) betonen die Bedeutung, die Gruppenmitglieder aufzufordern, sich zu überlegen, was die Geschichte über die mentale Verfassung der Erzähler aussagen könnte. Dieser Prozess sei dann besonders ergiebig, wenn der Erzähler durch die Gruppe etwas über seine Gefühle/Gedanken erfahre, was ihm zuvor nicht bewusst gewesen sei. Die Haltung des »Nicht-Wissens« seitens der Gruppenleitenden und die Förderung der Exploration durch Erzählaufforderung zu Gefühlen und Gedanken wirkten sich mentalisierungsfördernd auf die Gruppe aus. Die Affekte der im Bild dargestellten Personen standen im Fokus und wurden von den Gruppenleitenden thematisiert. Vierte Gruppensitzung: »Erkennen der Unwahrheit«

Jede/r Teilnehmende erstellte eine Liste mit 6 Eigenschaften, von denen eine nicht auf sie/ihn zutreffen sollte. Diese Liste wurde vorgestellt und die anderen Teilnehmenden wurden aufgefordert, herauszufinden, welche Aussage unzutreffend sei. In dieser Sitzung sollten die Teilnehmenden das Zutreffen von Eigenschaften einschätzen. Dies geschah auf 2 Ebenen: erstens beim Aufstellen der Liste, da eine Eigenschaft gefunden werden musste, die relativ schwer zu erkennen ist und die die anderen nicht erwarteten. Auch musste dann begründet werden, warum eben diese oder jene Eigenschaft als zutreffend oder unzutreffend ausgewählt wurde. Die zweite Ebene lag im Identifizieren der Unwahrheit in der Beschreibung eines anderen Gruppenmitglieds. Es galt, sich das Verhalten der Person zu vergegenwärtigen und darüber Rückschlüsse auf Eigen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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schaften zu treffen. Diese mussten begründet werden, sowohl die »wahren« wie auch die »falschen«. Dadurch wurde der Fokus darauf gerichtet, dass sich aufgrund ein und derselben Schilderung unterschiedliche Meinungen bilden können. Dies sollte die Wahrnehmung und Akzeptanz verschiedener Perspektiven und damit flexibles Denken fördern. Es diente schließlich einer reflektierten Interpretation zwischenmenschlicher Situationen. Fünfte Gruppensitzung: Mentalisieren im »Trommelfeuer« der Gefühle

Ein Gruppenteilnehmer berichtete eine ihm bekannte, vergangene und schwierige Interaktion. Im Anschluss an eine erste Diskussion wurde die Erzählung als Rollenspiel dargestellt. Mit diesem Rollentausch sollte ein Perspektivwechsel in einer realen und stressauslösenden Situation ermöglicht werden und Gelegenheit bieten, über den Blickwinkel des anderen nachzudenken. Die Förderung der Exploration durch den Austausch zwischen den Teilnehmenden, die Fokussierung auf Affekte und Verhalten in der Interaktion sowie der Perspektivwechsel wirkten anregend und mentalisierungsfördernd. In der Betrachtung der Konfliktsituation wurden Anhalten und Zurückgehen thematisiert und ausprobiert (Transkript, 3. Std., S. 5, Zeile 146–193; S. 10, Zeile 328–333). Der Zusammenhang zwischen Stress und Mentalisieren wurde erläutert. Der Umgang mit emotional aufwühlenden Situationen, z. B. Streits, wurde diskutiert. »Anhalten und Zurückgehen« wurde als Handlungsoption dargestellt, um wieder zurück in einen ruhigeren Zustand zu gelangen, in dem nachzudenken und zu reflektieren wieder möglich wird. Sechste Gruppensitzung: Mentalisieren im »Trommelfeuer zukünftiger Situationen«

Als Fortsetzung der letzten Sitzung wurden die Teilnehmenden aufgefordert, sich eine schwierige Situation vorzustellen, in die sie in Zukunft geraten könnten. Dabei war wichtig, dass es sich um eine reale zu erwartende Situation handelte. Diese Situation schrieben die Teilnehmenden auf Moderationskarten auf und stellten sie anschließend vor. Die anderen Gruppenmitglieder spekulierten dann darü© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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ber, welche mentalen Zustände dies im Betroffenen auslösen könnte (Allen, O’Malley, Freeman u. Bateman, 2012). In einem nächsten Schritt wurde darüber gesprochen, in welchen mentalen Zuständen sich die andere(n) Person(en) in der Situation befinden könnte(n). Diese Übung befasste sich mit dem Aspekt des sogenannten antizipatorischen Mentalisierens. Mentalisieren ist in Stresssituationen aufgrund des emotionalen Arousals sehr schwierig, und es kommt leicht zu intuitiven und unreflektierten Reaktionen (Kampf, Flucht). Indem künftige Situationen antizipiert werden und dies in einem geschützten, begleiteten Rahmen geschieht, können sich die Klientinnen und Klienten auf diese Situation vorbereiten, Perspektiven wechseln und sich angemessene Reaktionsweisen überlegen. Dies sollte ihnen erleichtern, in Konfliktsituationen im Denken flexibel zu bleiben und andere Perspektiven zu erkennen bzw. anzuerkennen. »Anhalten und Zurückgehen« wurde ausprobiert und gelingendes Mentalisieren gefördert. Beispiel für die Vorbereitung einer zukünftigen Konfliktsituation (Transkript, 6. Std, 0:13:55–0:22:07, Zeile 141–271) Also ich denke an eine verstrickte Situation irgendwie, bei der viele Details eine Rolle spielen. Und zwar ist es so, dass eine Freundin von mir ein Fahrrad haben will, und jetzt geht es darum, was ich von ihr kriege dafür. Und eigentlich würde sie es jetzt so haben, ohne dass sie da was gibt, und ich bin eigentlich … sträube ich mich nämlich dagegen. Aber andererseits ist sie auch oft so großzügig, dass ich dann ein moralisches Problem kriege und denke, das ist doch nicht gerechtfertigt, dass ich da was nehme dafür usw. Es klingt eigentlich nach einer banalen Situation, aber was sie gemeinsam hat mit vielen anderen Situationen ist, dass es mir vorkommt, als wenn irgendwie so viele, als würden so viele Details eine Rolle spielen, bei denen ich schon bei den einzelnen Details … macht es dann eher noch schlimmer als besser, zu einer Entscheidung zu kommen. […] Sie hat dann halt so gesagt so: »Ach ich habe dir ja schon das und das geschenkt und so was, dann kriege ich das doch so, oder?« Also sie hat halt erwartet, dass sie dann sozusagen das Fahrrad dann geschenkt kriegt und dass das so ausgeglichen ist. Und das sehe

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ich halt nicht so. Aber ich komme mir halt dann auch irgendwie kleinlich vor, wenn ich dann sage: »Nein, ich will noch Geld dafür!« Aber ich ärgere mich trotzdem darüber, wenn ich es ihr jetzt so gebe und nichts mehr dafür gekriegt habe, weil das dann … Ich habe ja auch halt selbst Geld für das Fahrrad ausgegeben, um es zu kaufen. Und die Situation, das war noch nicht passiert? Nein, die ist eigentlich ziemlich konkret, weil sie heute das Fahrrad abholen will […]. Wie geht es dir damit oder wie hast du dich in dem Moment gefühlt, als du das Gefühl bekommen hast, sie will es von dir geschenkt haben und du willst das eigentlich nicht? Ich habe mich eigentlich sehr unwohl gefühlt, weil einerseits … Ich finde es auch blöd, geizig zu sein und so was. Und andererseits, ja, stört mich das halt so, wenn sie da einerseits einen großzügigen Eindruck macht, aber in Wirklichkeit halt immer was dafür zurück erwartet, ja. Oder sagen wir mal so, ich mache mal da einen Pausenknopf und du bist sozusagen hinter einer Glasscheibe und ich frage mal den H., der hat das jetzt auch gehört, was er so gehört hat und wie er das sieht. Das Erste was ich rausgehört habe, ist auch dieses gefühlsmäßig total ungute Gefühl bei diesem Deal […] Es mangelt an klaren Ansprachen. Dass man das klar bespricht. Klare Absprachen. Und das ist, denke ich, mir wichtig, um so unangenehme Gefühle auch dann zu vermeiden. So halbe Sachen, ist unklar, verschwommen, verwaschen. Erwartungshaltungen, die da sind von ihr, und er dann ein unwohles Gefühl dabei, vielleicht mit Recht, weil es ist zeitaufwendig […]. Und einfach jetzt mal gucken, ob du damit, also so wie wir es immer gemacht haben, ob du mit dem was anfangen kannst, was H. gesagt hat. Ja, eigentlich schon. Also eigentlich war es auch so, dass ich mir schon selbst gedacht habe, ja, eigentlich müssen klare Absprachen

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her. Ich habe aber festgestellt, dass ich sozusagen in die falsche Richtung »mentalisiert« habe. Ich habe mir … Bevor die Situation da war, habe ich schon irgendwie mir eher das negative Gefühl vorgestellt, das ich habe dabei, wenn ich sie treffe und wir das besprechen müssen. Ja, also da war bei mir schon das negative Gefühl da, obwohl die Situation noch nicht da war, ja. Weißt du, was ich meine? Warte mal. Kannst du es mir erklären? Ja, also ich weiß ja aber dann ihre Ansichten und Interessen und da ist dann schon ein schlechtes Gefühl, bevor überhaupt die Situation konkret da ist, ja. Weil, das habe ich gemeint mit in die falsche Richtung mentalisiert. Wenn ich mir die Situation vorstelle, mich in die Situation reinversetze, aber schon mit konkreten Erwartungsvorgaben sozusagen, ja, und das war jetzt halt der Fehler daran, ja […]. Wie würdest du dir denn wünschen, wie die Situation ausgeht? Dass wir ruhig darüber reden können und eben eine Vereinbarung treffen, mit der wir dann beide zufrieden sind (Ende 0:22:07).

Der Teilnehmer stellte also eine für ihn belastende Situation dar. Dabei wurde deutlich, dass er die Erwartungen, Gefühle und Motive der Freundin recht gut artikulieren konnte, während die eigenen unangenehmen Gefühle erst langsam im Gespräch differenziert werden konnten. Typisch im Zusammenhang mit depressiven Kognitionen und Verhaltensweisen ist diese differenzierte Wahrnehmung der Gefühle, Bedürfnisse und Motive anderer (Bezugspersonen) bei gleichzeitig gering differenzierter Wahrnehmung eigener Gefühle und Empfindungen. Dies gelang dem Teilnehmer im Dialog mit anderen Teilnehmern und mit Exploration der Gruppenleitenden. Ängste, abgelehnt zu werden, und ein mangelndes Selbstwertgefühl schienen den Hintergrund für die kaum artikulierten eigenen Interessen zu bilden und das Gefühl zu unterstützen, der Situation eher ausgeliefert zu sein. Durch das Gespräch gewann der Teilnehmer wieder Zutrauen in sich und seine Selbstwirksamkeit. An einem weiteren Textbeispiel soll die Bedeutung von Bindungsbeziehungen und Mentalisierung für die psychosoziale Arbeit mit den Gruppenmitgliedern dargestellt werden. Während der Evalua© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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tion in der letzten Sitzung wurde die Frage gestellt, in welchen Situationen Mentalisieren weiterhin schwerfalle. In den Antworten der Teilnehmer wird deutlich das Befinden in depressiven Zuständen beschrieben. Beispiel von »schlimmen Vorahnungen« (Transkript, 7. Stunde, Zeile 249–259) Diese schlimmen Vorahnungen, in die man sich manchmal so reinkatapultiert, so schlimme Vorahnungen wie, das könnte nichts werden, kann ich das überhaupt oder will ich das? So Stimmungen, die etwas gedrückt sind in Schwermut oder auch depressive Stimmungen, dann macht man ja auch wie so eine Art Mentalisierung, aber die ist zu unreal. Also sich selbst dann … So Situationen, wo ich halt oft in meinem Leben erfahren habe (0:27:47).

»Depressive Zustände« sind häufig bei Menschen mit unterschiedlichen chronischen psychischen Erkrankungen und können vor dem bindungstheoretischen und mentalisierungsbasierten Ansatz verstanden werden als Antworten auf Bedrohungen von Bindungsbeziehungen, die als Bedrohungen des Selbst wahrgenommen werden. Dies geschieht entweder aufgrund von (phantasierter) Trennung, Versagen, Zurückweisung oder Verlust oder einer Kombination aus allem. Die Folge dieser stressvoll erlebten oder phantasierten Situation ist eine Einschränkung der Mentalisierungsfähigkeit. Einmal angestoßen, zeigten sich die Mentalisierungshemmungen in nichtmentalisierenden Modi des Denkens und Fühlens (Luyten, Fonagy, Lowyck u. Vermote, 2012). Bei der Aktivierung des Bindungssystems und hohem Arousal wird dann im Äquivalenzmodus (konkretistischen) oder im teleologischen (kontrollierenden) Modus reagiert. Beispiel für das leichtere Auffinden eines Maßstabs durch Anwesenheit anderer (Transkript, 6. Std., Zeile 97–125) Gibt es denn ansonsten noch irgendwie was, was euch bewegt hat oder wo ihr gesagt habt, Mensch, das hat in mir noch nachgearbeitet und da habe ich noch eine Frage, irgendwas, was ihr klären möchtet, was für euch offen vielleicht auch geblieben ist?

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Also, manchmal kommt es anscheinend nur darauf an, dass auch andere Leute da sind. Ob die jetzt direkt Fragen stellen und mich so auf den richtigen Weg bringen oder so was, das muss gar nicht immer so sein […]. Also, manchmal bringt schon … die Anwesenheit von Leuten bringt es schon manchmal bei mir zustande, dass ich leichter einen Maßstab finde für irgendwas. Einen Maßstab finden ist, wenn ich auch das Gefühl habe, ich bin völlig auf mich allein gestellt mit einer Entscheidung, das ist schwerer für mich, als wenn noch andere Leute anwesend sind […] ja. Aber wenn ich allein bin, komme ich manchmal nicht so leicht dahinter. Obwohl … Also jetzt ist es auch gerade wieder so, dass ich denke, ja, wenn ich alleine bin, kann ich mir ja die Situation vorstellen, dass die anderen dabei wären und was sagen würden. Das wäre eine gute Idee. Ja. Aber wie gesagt, ich muss dann so in den Bereich zurückzukommen, in dem man halt klar denken kann (0:08:04–0:11:12).

Siebte Gruppensitzung: Abschied und Rückblick

In dieser letzten Sitzung verteilten wir erneut die Teilnehmerbögen. Sie wurden mit den Bögen aus der ersten Sitzung verglichen und diskutiert. Schließlich gab es Gelegenheit, zu artikulieren, was jede/r Einzelne von den gemeinsamen Treffen für sich mitnahm. Ein Gruppenleiter schrieb die Aussagen auf Moderationskarten auf und kopierte diese vor Ende der Stunde für alle Teilnehmenden als letztes Handout. Während das Nachdenken über diese Stunde und die eigenen alten und neuen Erfahrungen Teil des Mentalisierens war, sollte durch das Festhalten aller persönlichen Schlusskommentare im Handout ein Austausch unter und mit den Teilnehmenden angeregt werden. Die Teilnehmenden meldeten zurück, dass zu Hause »bereits das eine oder andere Mal reflektiert« wurde, und auch nach der Gruppensitzung sei noch weiter gemeinsam exploriert worden (Transkript, 7. Std., Zeile 25–33). Weitere Rückmeldungen bezogen sich auf das Vertrauen im Rahmen der Gruppe und dass sich durch die kleine Gruppe eine große Dichte und Intensität entwickelt hätte. Interessant war auch die Rückmeldung, dass sich ein Teilnehmen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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der häufig zu Anfang der Sitzungen sehr erschöpft fühlte, aber sich nach den Sitzungen »lebendig« und »zufrieden« fühlte (Transkript, 7. Std., Zeile 42–45). Abschließend wurden die Handouts der einzelnen Stunden, die den Teilnehmenden jeweils nach der Stunde immer ausgehändigt wurden, noch einmal besprochen, um zu sehen, was wichtig für sie war. Dazu erklärte einer der Teilnehmenden, dass ihm die Gruppe viel gebracht habe und wie sich seine Haltung in Konflikten verändert habe (Transkript, 7. Std., Zeile 108–127). Als neu entdeckte Fähigkeiten berichteten die Gruppenmitglieder, das »bewusstere Wahrnehmen und Spüren der eigenen Emotionen« sei hilfreich sowie »sich nicht mehr hilflos, sondern handlungsfähiger zu fühlen« (Transkript, 7. Std., Zeile 320–326). Die abschließende Frage, ob sie dieses Projekt empfehlen würden oder in einer erweiterten Form erneut teilnehmen würden, wurde positiv beantwortet (Transkript, 7. Std., Zeile 381–389). Schließlich meldeten die Teilnehmenden zurück, dass sie es schade fänden, dass diese Gruppe schon nach nur 7 Sitzungen beendet sei, und sie gern weitere eigene Alltagssituationen besprechen wollten (Transkript, 7. Std., Zeile 216–241).

Fazit und Ausblick Die Teilnehmenden, die seit vielen Jahren chronisch psychisch krank, mit ausgedünntem sozialen Unterstützungssystem lebten und sich in prekären Verhältnissen befanden, waren in diesem Sinne mehrfach benachteiligt. Sie litten unter ihrer Isolation und jeweils spezifischen interaktionellen Schwierigkeiten in (nahen) Beziehungen. Die gemeindenahe, sozialpsychiatrische Versorgung durch die psychiatrische Institutsambulanz ermöglicht ihnen eine Anbindung und psychosoziale Unterstützung (betreutes Wohnen, formelle Hilfen). Zusätzlich wurde über 3 Monate, von April bis Juni 2012, eine mentalisierungsbasierte Psychoedukation initiiert, die eine Hilfestellung in der Wahrnehmung und im Umgang mit Emotionen (Selbststeuerung) sowie im Umgang mit interaktionellen Schwierigkeiten angeboten hat. Dieses Projekt wurde nur von wenigen interessierten Klienten der Institutsambulanz angenommen. Antriebslosigkeit, die Schwie© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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rigkeit, regelmäßige Termine einzuhalten, oder vorrangige Termine (Arztbesuche, Deutschkurse, Arbeitsplatzsuche) trugen dazu bei. Die Klienten, die wir als Teilnehmende gewinnen konnten, nahmen dieses Angebot jedoch gut an. Neben der guten Akzeptanz berichteten sie über erste Erfolge und Veränderungen. Unsere Schlussfolgerung aus diesen Ergebnissen und dem Projekt insgesamt ist: Für Soziale Arbeit mit schwer psychisch erkrankten Menschen ist der bindungstheoretische und mentalisierungsorientierte Blickwinkel wichtig, um diese Menschen mit ihren Beziehungsschwierigkeiten zu verstehen, begleiten zu können und ihnen ein hilfreiches, strukturiertes, sozialtherapeutisches oder sozialpsychiatrisches Unterstützungsangebot zu machen. Letzteres soll der Alltagsbewältigung dienen und der Zufriedenheit mit sich und den wichtigen sozialen Beziehungen. Wir hoffen, mit diesem Projekt einen kleinen Beitrag dazu geleistet und gezeigt zu haben, dass mentalisierungsbasierte Psychoedukation niederschwellig, kontinuierlich und über einen längeren Zeitraum, als unser Projekt es erlaubte, einen Beitrag für eine bessere psychosoziale Versorgung von chronisch psychisch kranken Menschen liefern kann. Für die Unterstützung durch das Team und die Leitung der psychiatrischen Institutsambulanz sowie die Mitarbeit der Teilnehmenden des Projekts bedanken wir uns an dieser Stelle herzlich!

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Olga Ruf und Irina Wiens

Bildung und Empowerment bei mehrfach behinderten Menschen

Vorbemerkungen Wir leben in einer Lerngesellschaft, in der lebenslanges Lernen für jeden Menschen vorausgesetzt wird. In unserer durch permanenten Wandel geprägten Gesellschaft ist es notwendig, sich auf immer neue Veränderungen einzulassen. Auch die Anforderungen an Kinder in der Entwicklung reflexiver Fähigkeiten, emotionaler, sozialer und kognitiver Kompetenzen sind höher geworden (Bengel, MeindersLücking u. Rottmann, 2009, S. 10). Nur durch lebenslanges Lernen ist es dem einzelnen Menschen möglich, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Dies gilt gleichermaßen für nichtbehinderte wie für behinderte Menschen. Überblickt man die derzeitige Bildungssituation sogenannter geistig behinderter Menschen, verdichtet sich das Bild, dass die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben noch am Anfang steht. Eine flächendeckende Angebotsstruktur ist wünschenswert, erfordert aber zunächst die Verwirklichung entsprechender Voraussetzungen und Rahmenbedingungen. Nach den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates (1979) gilt als »geistig behindert, wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt ist, dass er voraussichtlich lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und der motorischen einher«. Eine geistige Behinderung gilt als Zuschreibung eines verzögerten Lernniveaus, resultierend aus dem Vergleich mit der durchschnittlichen Entwicklung nicht geschädigter Menschen. Bedingung dieser Entwicklungsverzögerung ist eine Einschränkung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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oder Verlangsamung der Lernprozesse, von der all jene Entwicklungsbereiche betroffen sind, die speziell am Lernen beteiligt sind. Dies gilt auch für die kommunikative, einschließlich der Sprachentwicklung. Sie kann als ein soziales Handeln mithilfe von Signalen, Symbolen oder Zeichen definiert werden (Neuhäuser u. Steinhausen, 1999). Menschen, die in ihrer kognitiven Entwicklung beeinträchtigt sind, werden in unserer Gesellschaft auf vielfältige Weise in ihrer Entfaltung behindert und benachteiligt. Als Anregung zum Umdenken in der Behindertenarbeit ist das WHO-Modell von Behinderung zu sehen, welches seit 1999 in ICIDH-2 und ICF (International Classification of Functioning) abgebildet ist. Es differenziert zwischen körperlicher Schädigung (Impairment), Aktivitätseinschränkungen (Disability) und Teilhabeeinschränkungen (Handicap). Disability und Handicap werden durch Kontextfaktoren, Förderfaktoren oder Barrieren (z. B. Umgebung, soziales Netzwerk, Wohn-Arbeits-Bedingungen, persönliche Faktoren) wesentlich beeinflusst. Hierbei sind nicht mehr allein die Defizite, wie z. B. die Lernschwierigkeit einer Person, maßgeblich, sondern die persönlichen Fähigkeiten sowie (Umwelt-)Barrieren und die soziale Teilhabe insgesamt. Demnach ist nicht mehr das Individuum behindert, sondern vielmehr be-hindert die Gesellschaft durch Barrieren den Prozess seiner persönlichen Entfaltung sowie seines Rechts auf gesellschaftliche Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben.

Die Behindertenhilfe Die Geschichte der Erwachsenenbildung von sogenannten geistig behinderten Menschen ist noch sehr jung (Theunissen, 2003). Die Bildungs- und Lernfähigkeit wurde ihnen lange Zeit abgesprochen. Die Lebenserwartung dieser Personengruppe war früher niedriger als heute und nicht zuletzt überlebte die Mehrheit die Zeit des Nationalsozialismus nicht und fiel der Vernichtung zum Opfer. In den Nachkriegsjahren standen in der Behindertenarbeit die vorschulische und schulische Förderung und somit ausschließlich Kinder und Jugendliche (mit leichten und mittleren Behinderungen) im Vordergrund. Menschen mit schwerer geistiger Behinderung galten in der DDR als bildungs- und förderungsunfähig. Auch in der BRD © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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wurde ihnen bis in die 1970er Jahre jegliche Bildungsmöglichkeit abgesprochen. In den 1980er Jahren setzte sich die Erkenntnis der Lern- und Bildungsfähigkeit erwachsener Menschen mit geistiger Behinderung durch und förderte ein deutliches Interesse an der Bildungsarbeit mit diesem Personenkreis. Die Normalisierungs- und Integrationsbemühungen sowie die Selbstbestimmungsdebatte der 1980er Jahre haben entscheidend zur Entwicklung der lebenslangen Bildungsarbeit bei erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung beigetragen. Es wurden Zielgruppenkonzepte entwickelt, die das Lernen in heterogenen Gruppen als Zielperspektive integrativer Erwachsenenbildung fokussierten (Theunissen, 2003). Gegen Ende der 1980er Jahre geriet das Zielgruppenkonzept in der allgemeinen Erwachsenenpädagogik immer mehr in Misskredit, da dieses zu einer Homogenisierung und Ausgrenzung der Lerngruppen führe. Es kam zu einem Rückgang der Zielgruppenarbeit und der integrativen Bestrebungen in der allgemeinen Erwachsenenpädagogik. Theunissen betont, dass die Randständigkeit der Erwachsenenbildung bei Menschen mit Lernbehinderung noch längst nicht überwunden sei und die gesellschaftliche Stigmatisierungstendenz gegenüber diesen Menschen anhält. Er vermutet, dass der erhöhte Organisations- und Betreuungsaufwand Grund dafür sei, dass die Bildungsangebote damals wie heute vorrangig von Verbänden, Trägern und Einrichtungen der Behindertenhilfe und nicht durch allgemeine Bildungsstätten initiiert und durchgeführt werden (Theunissen, 2003). Wie im Grundgesetz im Artikel 3, Absatz 1 und 3 verankert ist, darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Angebote der Erwachsenenbildung für Menschen mit geistiger Behinderung müssen daher ebenso normal und zugänglich wie für nichtbehinderte Menschen sein. Heute bieten viele Einrichtungen der Behindertenhilfe interne Bildungskurse als festen Bestandteil ihrer Arbeit an. Aus integrationspädagogischer Sicht ist darüber hinaus ebenso die Erweiterung inklusiver Angebote in der allgemeinen Erwachsenenpädagogik dringend erforderlich. Die Aufgabe der Erwachsenenbildung für behinderte Menschen ist nicht nur die Erhaltung und Erweiterung des Gelernten, sondern ebenso die Befähigung, selbstständig mehr Entscheidungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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im täglichen Leben treffen zu können. Bildungsangebote bieten die Möglichkeit zur Selbsterfahrung, stärken das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen. Da der Fokus der Bildungsangebote auf der Förderung der Selbstständigkeit und Selbstbestimmung der Teilnehmenden liegt, versteht sich Bildung hiermit als Hilfe zur gesellschaftlichen Teilhabe und Integration. In der Erwachsenenbildung für Menschen mit Lernbehinderung werden drei Personenkreise unterschieden: Zur ersten Gruppe zählen Personen, die in geschützten Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten oder einfache Tätigkeiten auf dem freien Arbeitsmarkt übernehmen. Sie können sich meist sprachlich äußern und verständigen, sind relativ selbstständig und leben meist bei den Eltern bzw. in betreuten Wohneinrichtungen. Diese Personengruppe gilt in den meisten Konzeptionen der Erwachsenenbildung als Hauptadressat, sodass ihnen ein entsprechend breites Spektrum an Bildungsangeboten bereitgestellt wird. Der zweite Personenkreis umfasst Menschen, die als mehrfach und schwer geistig behindert gelten und darüber hinaus oftmals durch zusätzliche Beeinträchtigungen (z. B. Rollstuhlgebundenheit, autistische Verhaltensweisen, Verhaltenssauffälligkeiten, psychische Störungen, chronische Erkrankungen usw.) eingeschränkt sind. Sie sind nicht bzw. kaum in der Lage, sich sprachlich zu äußern, und in einem hohen Maße auf fremde Hilfe angewiesen. Bis vor einigen Jahren galt diese Personengruppe als »bildungsunfähig« und ist bis heute eher ein »Stiefkind« der Erwachsenenbildung behinderter Menschen, auch wenn diese Personen ganz langsam als Zielgruppe ins Blickfeld der Bildungsarbeit rücken (Carroll, 2000). Eine dritte Gruppe umfasst Personen, die als »alt« gelten und häufig eine »Institutionsbiografie« aufweisen. Da deren Bedürfnisse von denen der jüngeren Menschen mit geistiger Behinderung abweichen, ist hier die Entwicklung spezieller lebensbegleitender Modelle für ältere Menschen mit Behinderung unter Einbeziehung der Biografiearbeit erforderlich.

Die Zielgruppe Diese Abstufungen in den Bildungsangeboten haben uns veranlasst, in der vorliegenden Konzeptentwicklung die Zielgruppe aus den Bereichen zwei und drei, also ältere Menschen mit mehrfa© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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chen Behinderungen und Lernschwierigkeiten, zu wählen. Wir sind der Meinung, dass dieser Zielgruppe der Zugang zu der regulären Erwachsenenbildung ermöglicht werden muss. Die reguläre Erwachsenenbildung ignoriert oft das Bildungsbedürfnis älterer oder mehrfach behinderter Menschen, da für deren Bedürfnisse und Interessen zunächst – und mitunter aufwendig – geeignete Lernbedingungen geschaffen werden müssen. Bei den ersten Gesprächen in der ausgewählten Institution der Behindertenarbeit erfuhren wir von Mitarbeitenden der Wohngruppe von Schwierigkeiten, die auf verschiedenen Ebenen deutlich werden, z. B. nicht rollstuhlgerechte Räumlichkeiten, Gruppen- oder Altersbegrenzungen (das bedeutet, Senioren/ Seniorinnen fallen aus den Angeboten heraus). Menschen mit einer »leichteren« Behinderung werden oft bevorzugt, da die Betreuung »anspruchsloser« ist und das Gruppenklima nicht gestört wird. Unsere Zielgruppe waren erwachsene Menschen, die teilweise oder dauerhaft einen hohen Pflegebedarf und/oder Hilfen bei starken psychischen Behinderungen benötigen. Der Ort der Konzeptdurchführung war eine Wohngruppe im Arbeitsfeld »Behindertenhilfe«. Die Wohngruppe gehört zu einem gemeinnützigen Träger, der für Menschen mit geistiger Behinderung ein differenziertes Wohn- und Betreuungsangebot anbietet.1 Die Wohngruppe gehört zu einem Wohnverbund und bietet insgesamt 28 Wohnplätze an.2 Die Räumlichkeiten auf den verschiedenen Ebenen sind mittels Aufzug erreichbar. Das Wohn- und Lebensangebot ist für einen längeren Lebensabschnitt gedacht. Es richtet sich an Menschen in den Hilfebedarfsgruppen drei bis fünf. Die konkreten Leistungen für die einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner erfolgen im individuellen Betreuungsplan. Die 5 älteren Teilnehmerinnen der Gruppe wiesen Mehrfachbehinderungen (körperliche und geistige) sowie Lernschwierigkeiten auf, darunter befanden sich 2 Rollstuhlfahrerinnen. Trotz hohen Andrangs konnten wir leider aus Gründen der Verantwortungsübernahme nur 2 Rollstuhlfahrerinnen teilnehmen lassen. Die 1 2

Auf der Grundlage SGB XII Eingliederungshilfe unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft und Religionszugehörigkeit. In diesem Wohnverbund überwog der Frauenanteil mit 24 Bewohnerinnen.

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anderen Teilnehmerinnen hatten einen Rollator (Gehhilfe). Von 28 Bewohnerinnen der Wohngruppe wollten 16 Personen teilnehmen. Jedoch war das Konzept für maximal 5 Personen ausgelegt. Durch Gespräche mit Mitarbeitenden wurden die Teilnehmenden ausgewählt, die über die wenigsten Angebote bzw. Beschäftigungsmöglichkeiten verfügten.

Grundlagen und Entwicklung des Konzeptes Für unser Bildungsangebot stellte sich zunächst die Frage nach dem Bildungskonzept sowie den Methoden und Lernmaterialien. Die allseitige Entfaltung der Persönlichkeit gilt als emanzipatorischer Auftrag der allgemeinen Bildung (z. B. ästhetische Bildung in der Funktion von Wahrnehmungsförderung, Bewusstseinsbildung und zur Erschließung von Lebenssinn). Außerdem sollten »Schlüsselqualifikationen« erworben werden, die zur Bewältigung individueller und sozialer Aufgaben sowie zur Partizipation am gesellschaftlichen Leben erforderlich sind. Bildung bei Menschen mit Lernschwierigkeiten und leichten geistigen Behinderungen wird heute nicht mehr infrage gestellt. Als problematisch zu betrachten sind jedoch die noch immer bestehenden Vorurteile bezüglich der Bildung bei geistig schwerst- und/oder mehrfachbehinderten Menschen. Sprachliche Barrieren und Verständigungsprobleme stellen die größten methodischen Herausforderungen für die Leitenden dar. Carroll betont, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung als erwachsene Persönlichkeiten mit ihren individuell ausgeprägten Erfahrungen, Bedürfnissen und Wünschen anerkannt und geschätzt werden müssten. Nur dann könne Bildungsarbeit gelingen (Carroll, 2000). Für schwerst- und mehrfachbehinderte Personen enden die Bildungsangebote meist mit der Schulzeit, sodass die in der Schule mühsam erworbenen Fähigkeiten nicht erhalten bzw. erweitert werden können. Insbesondere werden schwer geistig behinderte Menschen von ihrer Umwelt nicht ernst genommen und oftmals wie Kinder behandelt, bevormundet und überbehütet. Die Chance, sich als erwachsener selbstständiger Mensch mit Entscheidungs- und Handlungsautonomie zu entwickeln, wird durch das Helfersystem © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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(Eltern, Mitarbeiter der Behinderteneinrichtungen usw.) und die Systemzwänge vieler Institutionen erschwert (Hospitalisierung).

Der Empowerment-Ansatz Die Grundlage unseres Konzeptes bildet der Empowerment-Ansatz. Empowerment verweist auf einen Prozess, in dem Menschen in benachteiligter Position eigene Kräfte entwickeln und soziale Ressourcen nutzen, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Ziel ist die (Wieder-)Gewinnung von Selbstbestimmung und Autonomie im Leben der Menschen. Der Empowerment-Ansatz steht für ein neues fachliches Selbstverständnis und wendet sich gegen Bevormundung und Aussonderung (Baumgart u. Bücheler, 1998). Für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen bedeutet das Konzept u. a., Bildungsangebote zur Entwicklung von Selbstbestimmungsund Mitbestimmungsfähigkeit in Bezug auf die alltägliche Lebensgestaltung zu schaffen (Theunissen, 2003). Empowerment gilt nicht als eine Methode der Sozialen Arbeit, sondern vielmehr als eine professionelle Haltung, die den Fokus auf die Förderung von Potenzialen der Selbstorganisation und gemeinschaftlichen Handelns legt. Es steht für eine Haltung des sozialen Handelns und stellt im besten Fall den Hintergrund sozial-professioneller Berufsidentität dar (Galuske, 2009).

Das Mentalisierungskonzept Wir gehen davon aus, dass Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung Einschränkungen in ihrer Mentalisierungsfähigkeit aufweisen. Als mögliche Ursachen sehen wir sowohl intersubjektive als auch kognitive Faktoren: ȤȤ frühkindliche Belastungen durch frühe Institutionalisierung, unsichere Bindungsmuster oder Bindungsstörungen  – dies betrifft vor allem die inneren Arbeitsmodelle und sekundären Repräsentanzen als Niederschlag der Beziehungserfahrungen; ȤȤ die Einschränkung kognitiver Fähigkeiten (Symbolbildung, Sprache, Perspektivenübernahme).

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Intersubjektive Faktoren, wie ungenügende Affektspiegelung oder mangelnde Verfügbarkeit von Bezugspersonen, werden dabei als zentral für die Mentalisierungsfähigkeit angenommen. Sie sind nicht primär Folge der Lernschwierigkeiten, sondern Ausdruck des sozialen Umgangs mit Menschen mit mehrfachen Behinderungen. Gerspach (2010) beschreibt die erschwerten Bedingungen von Mentalisierungsprozessen bei geistig behinderten Kindern. Behinderte Kinder sind den Affekten ihrer Bezugspersonen ausgeliefert, die in einem größeren Ausmaß als bei nichtbehinderten Altersgenossen auf die Qualität der Interaktion Einfluss nehmen. Unsichere Bindungen sind häufiger in dieser Gruppe als bei nicht geistig behinderten Kindern. Durch Vorerfahrungen in der Behindertenhilfe ist uns aufgefallen, dass viele Betroffene Schwierigkeiten haben, Gefühlsausdrücke zu verstehen und zu versprachlichen. Die meist diffusen Empfindungen, Gefühle und deren Bedeutungen müssen erst differenziert und benannt werden. Diese »Alphabetisierung der Empfindungen« (Schultz-Venrath, 2013, S. 84) beginnt meist damit, sich selbst wahrnehmen und spüren zu lernen. Bindungserfahrungen, vorsprachlichem Ausdruck und markierter Spiegelung von Affekten kommen dabei eine zentrale Bedeutung zu. Die subjektive Wahrnehmung, das damit einhergehende Körpererleben und die Beziehungsgestaltung sollen daher in unserem Konzept gefördert, reflektiert und versprachlicht werden. Eine Förderung der Mentalisierungsfähigkeit soll darüber hinaus die Selbststeuerung (Nachdenken als Probehandeln) und eine größere Sicherheit in der Beziehungsgestaltung ermöglichen (je zutreffender die Vorstellungen darüber sind, warum der andere so handelt, desto größer die Sicherheit). Ein professionelles Beziehungsangebot als »sichere Basis« vermittelt Sicherheit und ermöglicht im Sinne Winnicotts, das Spiel als »Übergangsraum« zu schaffen und sich spielerisch der Realität anzunähern. Darüber hinaus bietet die soziale Gruppenarbeit die Möglichkeit, in »geschützten Räumen« in Beziehungen zu treten und sie auszuprobieren. Damit kann neues Verhalten eingeübt und neue Perspektiven können entwickelt werden. Gruppenkohäsion und das »Wir-Gefühl« sollen im Sinne des Empowerment-Ansatzes gefördert werden. Zur Mentalisierungsförderung sollen die Teilnehmenden lernen, Gefühle, Motive, Wünsche und Konflikte zu benennen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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und zu beschreiben. »Das Mentalisieren setzt ein Gewahrsein der Gedanken und Gefühle des Selbst und anderer Menschen voraus« (Haslam-Hopwood, Tobias, Allen, Stein u. Bleiberg, 2009, S. 351).

Empowerment als Ziel, Wahrnehmung und Mentalisieren als Weg In diesem Teil wird die Durchführung des Konzeptes dargestellt. Übergeordnete Themen, d. h. Themen, die über verschiedene Gruppensitzungen hinweg verfolgt wurden, waren Wahrnehmung und Kommunikation sowie Anregung von Reflexion. Um Menschen mit Behinderungen zu emanzipatorischem Handeln hinzuführen, bedurfte es spezifischer Methoden, damit die Teilnehmerinnen sich Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit der Welt, zur Lebensbewältigung und -gestaltung aneignen konnten. Als Hilfsmittel zur Benennung von Gefühlen wurden Bilder, Medien etc. als unterstützte Kommunikation verwendet. Unter unterstützter Kommunikation versteht man verschiedene Vorgehensweisen und Bemühungen, die eine Erweiterung und Verbesserung der kommunikativen Möglichkeiten bei Menschen bewirken, die sich nicht oder nur gering über Lautsprache mitteilen können (Bentele u. Metzger, 2008)3. Im Sinne der Beteiligung an der Gestaltung des Sitzungsverlaufes erfolgten immer wieder Gesprächsrunden. Jede Teilnehmerin konnte für sich verschiedene Bildkärtchen auswählen und für die persönlichen Vorstellungen nutzen. Die beschriebene Methode trainierte die Auswahlund Entscheidungsfindung der Teilnehmerinnen. Dadurch wurden grundlegende Gedanken der Erwachsenenbildung im Sinne des Empowerment-Gedankens, wie z. B. Wahlmöglichkeit und Selbstbestimmung, verwirklicht. Die Selbstbestimmung und Mitwirkung war ein entscheidendes Teilziel der Gruppengespräche. Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung brauchen oft Anregungen, um Entscheidungen treffen zu können. Der Lernprozess des Auswählens 3 Im Bereich der Sprachentwicklung ist davon auszugehen, dass ein Drittel der Menschen mit geistiger Behinderung die Stufe zum Spracheintritt nicht erreicht oder auf der Stufe der Ein-Wort-Äußerungen stehen bleibt (Neuhäuser u. Steinhausen, 1999, S. 264).

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erfolgte in kleinen Schritten und wurde ständig ausgeweitet, bis ein Entscheidungsprozess allein gesteuert werden konnte. Bei unserer Konzeptdurchführung spielte die kognitive Funktion »Wahrnehmung« eine zentrale Rolle. Mit praktischen Wahrnehmungsübungen wollten wir die Aufmerksamkeitslenkung und Differenzierung von Wahrnehmungen anregen. Wahrnehmung ist grundsätzlich subjektiv. Individuelle Faktoren (wie z. B. Interessen, Vorurteile, Gefühle, Begabungen oder Fähigkeiten) und soziale Faktoren (wie z. B. Wert- und Normvorstellungen) können die Wahrnehmung erheblich beeinflussen. Die Wahrnehmung kann als Grundlage der Beobachtung angesehen werden. Beim Beobachten geht es um das Verfolgen von Zusammenhängen hinsichtlich ihrer Sinnbezüge. Die individuelle Kommunikations- und Ausdruckskompetenz bei Menschen mit schwerer Behinderung machen die Fähigkeit zum sorgfältigen Beobachten besonders notwendig. Beobachten bedeutet daher auch, aus der zielgerichteten Wahrnehmung und den daraus resultierenden Differenzierungen Informationen zu beziehen, die dann gezielt dem Entwicklungsprozess, dem Bildungsprozess oder der Befindlichkeit einer Person mit Behinderung zugutekommen sollen (Bentele u. Metzger, 2008). Ziel war es, die Kommunikationsfähigkeit zu fördern und Verständigung zu erleichtern. In Bezug auf Menschen mit geistiger Behinderung sollte man nicht versuchen, die kaum oder verspätet eintretenden Reaktionen der Lernenden durch eine Überstimulation herausfordern zu wollen; dies irritiert eher, als dass es stimuliert. Es war vielmehr notwendig, ihnen Zeit zu lassen und geduldig abzuwarten. Spracherwerbsförderung kann nur auf der Basis schon vorliegender sozialer und kognitiver Handlungsfähigkeit mithilfe vorsprachlicher Verständigungsmittel erfolgreich sein. Sprechen ist auf das Vorhandensein von Vorstellungen oder Begriffen über unsere Welt angewiesen. Zur Ausbildung der Wahrnehmung und Entstehung von Vorstellungen (Symbolen) sind Erfahrungen notwendig, um eine Grundlage für die sinnvolle Verwendung von Sprache zu schaffen. Insofern ist der gesamte Ablauf mit seinen immer wiederkehrenden Vollzügen und Ereignissen, aber auch affektiv ansprechenden Erfahrungen und Erlebnissen ein Nährboden des Spracherwerbs (Neuhäuser u. Steinhausen, 1999). Wahrnehmung und Kommunikation stehen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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in einem Zusammenhang mit Mentalisierung. Erst durch die Wahrnehmung von Gefühlen, Stimmungen und Motiven können die Teilnehmenden beginnen, sie für sich zu verarbeiten und zu hinterfragen.

Die Projektdurchführung Die Idee und das Konzept des Bildungsangebotes entstanden während unseres Masterstudiums der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Die Durchführung wurde durch regelmäßige Fallvorstellungen und Fallbesprechungen begleitet. Das mentalisierungsfördernde Bildungsangebot wurde auf 7 Sitzungen angelegt und mit einer Dauer von jeweils 90 Minuten durchgeführt. Die Sitzungen fanden zweimal wöchentlich zum selben Zeitpunkt und Wochentag statt, um eine zeitliche Kontinuität zu gewährleisten. Diese Regelmäßigkeit stellte eine wichtige Orientierungshilfe dar und sollte das Lernen erleichtern. Auch innerhalb der Sitzungen selbst waren der immer wiederkehrende Verlauf, eine bestimmte Abfolge und regelmäßige Wiederholungen sinnvoll. Die Kooperation mit der beteiligten Behinderteneinrichtung erfolgte über feste Ansprechpartner. Etwa 2 Monate vor den Sitzungen fand ein erstes Gespräch mit der Wohngruppenleitung statt. Absprachen über die verfügbare Zeit und Räumlichkeiten wurden getroffen. Bei der Organisation ging es um Aufgaben, die inhaltlich, zeitlich und räumlich aufeinander abgestimmt sein mussten. Eine der beiden Gruppenleiterinnen (OR und IW), die gerade keine Moderation übernahm, führte ein Protokoll zur Dokumentation, um alle Abläufe festzuhalten. Ebenso wurde jede Sitzung fotografisch dokumentiert. Vorab wurden folgende zu beachtende Haltungen und Verhaltensweisen der Gruppenleiterinnen abgesprochen: ȤȤ Offenheit ist eine Haltung, die grundsätzlich Spielraum für Ideen und spontane Ausdrucksformen ermöglicht (Haltung des NichtWissens). ȤȤ Geistig behinderte Menschen reagieren meistens verstärkt auf nonverbale Kommunikation (z. B. Mimik, Gestik, emotionale Zuwendung, körperliche Nähe). Die Leiterinnen zeigen daher ein Interesse für die emotionale Beteiligung (Affektfokussierung). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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ȤȤ Die Leiterinnen bemühen sich, Einfühlungsvermögen, Mentalisierungsfähigkeit und Reflexionsfähigkeit auch unter Belastungsbedingungen aufrechtzuerhalten. ȤȤ Die Teilnehmerinnen erinnern sich meist nur an konkret-anschauliche Begriffe. Deshalb ist es sinnvoll, Angebote anschaulich zu planen. ȤȤ Die Leitenden sollen Lernschwierigkeiten wahrnehmen, sensibel für Lernbesonderheiten sein und die Teilnehmerinnen nicht über- oder unterfordern (die Interventionen an die Mentalisierungsfähigkeit der Teilnehmerinnen anpassen). ȤȤ Die Diskussionen werden geleitet (nicht vom Thema abschweifen lassen). ȤȤ Das Tagesergebnis wird zum Abschluss zusammengefasst und festgehalten. ȤȤ Die Inhalte werden umso besser behalten/verinnerlicht, je mehr Wahrnehmungen über verschiedene Sinneskanäle gemacht werden. Der Einstieg (die 1. Sitzung) Die Eröffnungsphase diente zur Ermittlung der individuellen und kollektiven Ausgangslage und hatte somit eine diagnostische Funktion. Dazu zählten das Kennenlernen der Teilnehmerinnen sowie die Einschätzung der individuellen Lernvoraussetzungen und des Gruppenklimas. Um der individuellen Aufmerksamkeitsspanne besser gerecht zu werden, wurden die 90 Minuten durch eine Entspannungspause zweigeteilt. Aus den folgenden Beobachtungsprotokollen (kursive Schrift) lässt sich der Gruppenverlauf ablesen. Theoretische und reflektierende Kommentare sind durch Normalschrift kenntlich gemacht.

Alle fünf Teilnehmerinnen wurden vor der Sitzung abgeholt und begrüßt. Zwei waren vor der 1. Sitzung (Vorgespräche) aufgeregt und haben sich sichtlich auf die Sitzungen gefreut. Zuerst haben wir uns und das Gruppenangebot in einem Stuhlkreis vorgestellt, anschließend stellten sich alle Teilnehmerinnen selbst mit wenigen Worten vor. Beim Vorstellen ist aufgefallen, dass wir die Teilnehmerinnen mit dem Nachnamen angesprochen haben, diese aber beim Vornamen blieben. Sie waren es anscheinend gewöhnt, dass man sie auf Anhieb © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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»duzt«. Also haben wir gefragt, wie wir verfahren sollen. Alle wollten mit dem Vornamen angesprochen werden. Bereits bei der Vorstellung entstanden zahlreiche Nachfragen bezüglich der Gruppe, aber auch zu unserem Umfeld (z. B. Wie viele Geschwister hast du? Wie alt sind diese? Hast du einen Freund etc.). In der ersten Einheit unterstützten Fotos die Kommunikation und regten die Teilnehmerinnen an. So entstand spontan ein lebhaftes Gespräch in der Gruppe, und das erste Ziel dieser Sitzung, das Kennenlernen, war rasch erreicht. Um sich die Namen besser einzuprägen, wurden viele Wiederholungen und ein Ratespiel eingeführt. Vorlieben und Wünsche, wie Gymnastik zu machen oder spazieren zu gehen, wurden aufgenommen und berücksichtigt. Eine Teilnehmerin schlief während der Sitzung hin und wieder ein (Grund: Nebenwirkungen einer Medikamentenumstellung). In den wachen Momenten zeigte sie sich jedoch interessiert und neugierig. Nach der Einführung (Dauer: ca. 40 Minuten) wurde eine Pause (ca. 10 Minuten) als Entspannungsphase eingelegt. Im zweiten Teil wurden die Wahrnehmungssinne mit Hilfe von Plakaten vorgestellt, die bereits vor der 1. Sitzung von den Gruppenleiterinnen erstellt worden waren. Das Ziel war hier das Heranführen an das Thema der gesamten Sitzungsreihe. Uns wurde bewusst, dass die Vorbereitungen stärker an das Entwicklungsniveau der Teilnehmerinnen angepasst werden mussten. Insgesamt wurde das Gruppenklima von uns als angenehm empfunden. Dies wurde, durch das Feedback mit den Symbolkarten, am Ende der Sitzung bestätigt. Da einige Symbolkarten (sog. Smileys) nicht erkannt wurden (z. B. »Bei dem Gesicht fehlen die Ohren und die Nase«), planten wir eine Beschäftigung mit den Symbolkarten für die nächste Sitzung ein. Die Verabschiedung zögerte sich etwas hinaus, da jede Teilnehmerin noch was zu erzählen hatte. Zum Sitzungsende wollte M.4 gerne die Kerze auspusten und andere Teilnehmerinnen ebenfalls. Also beschlossen wir, dass in jeder Sitzung jemand anders die Kerze auspusten durfte. Die Gruppenleiterinnen schufen zunächst eine »sichere Basis« für die Teilnehmerinnen. Es wurde deutlich, dass zuerst der Beziehungsaufbau von Bedeutung war. Wir vermuteten, dass die Teilnehmerinnen 4 Die Namen der Teilnehmerinnen wurden anonymisiert.

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mit dem »Du« schneller eine Nähe und Sicherheit aufbauen wollten. Die sonst eher als unangemessen erlebten Nachfragen zum Privatleben und das persönliche »Du« sowie die Schwierigkeit, die Gruppe pünktlich zu beenden, dokumentieren Bedürfnisse nach Nähe, Bestätigung und Ähnlichkeit, die insgesamt als Bindungsbedürfnisse gesehen werden können. Dieser gelungene Auftakt führte zu einer durchgehenden Idealisierung der Gruppenleiterinnen, einem »Vertrauensvorschuss« und positiver Übertragung. Die Aufregung einer Teilnehmerin weist auf die mitunter schwierige Aufgabe hin, sich selbst beruhigen zu können. Die Haupt- oder Arbeitsphase (2. bis 6. Sitzung) Protokoll der 2. Sitzung

Wie bereits in der 1. Sitzung wurden die Teilnehmerinnen abgeholt und begrüßt. Eine Teilnehmerin konnte wegen der Verschlechterung ihrer Erkrankung nicht kommen. M. musste zur nächsten Sitzung motiviert werden, da sie keinen Spaziergang machen wollte. Dies hatte den Beginn verzögert. Nach der Vorstellungsrunde wurde das Thema der 2. Sitzung »Fühlen« vorgestellt, beginnend mit der Frage: »Wie fühlt ihr euch heute?« Anhand der Emotionskarten wurden verschiedene Gefühle dargestellt und besprochen. Der Unterschied von »Fühlen« (Tasten) und »Gefühlen« wurde verdeutlicht. Beispiel: Man kann das »Traurigsein«, wenn jemand stirbt, nicht tasten, sondern nur im Körper fühlen bzw. spüren. Nebenbei wurden viele Alltagssituationen, die mit dem Thema Fühlen/Gefühle zu tun haben, miteinbezogen. Danach fokussierten wir uns auf die bewusste taktile Wahrnehmung mit der Übung Greifkarton5. Die Teilnehmerinnen konnten verschiedene Materialien fühlen und benennen. Es war vorgesehen, diese Übung mit verbundenen Augen durchzuführen, was allerdings nicht von allen Teilnehmerinnen angenommen worden ist (Angst vor der Dunkelheit). Also wurde das Spiel spontan mit einem »Weggucken« verändert. Wenige trauten sich zu Beginn, über den gewählten Gegen5 Der Greifkarton: Bei dieser Übung muss man durch das Fühlen mit den Fingern und Händen einen Gegenstand erraten. Die Teilnehmerinnen dürfen nacheinander mit beiden Händen in den Karton greifen und die verborgenen Dinge ertasten.

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stand zu sagen, was sie fühlten oder spürten. Erst nachdem wir alle Gegenstände jeder Teilnehmerin in die Hand gereicht hatten, entstand ein Gesprächskreis, in dem alle mitteilten, was sie spürten und fühlten. In der zweiten Einheit wurde ein Stuhlkreis gebildet, sodass jeder Teilnehmerin eine Partnerin vor und hinter sich hatte. Mit der passenden Entspannungsmusik und der Geschichte »Teig kneten«6 wurde eine entspannte Stimmung ermöglicht. Da die Gruppenleiterin auch mitmachte, konnte man sehen, wie einige Teilnehmerinnen die Bewegungen nachahmten. Die Bedenken, dass es einigen Teilnehmerinnen zu »nah« sein würde, konnten wir nicht bestätigen. Im Gegenteil, alle äußerten den Wunsch, diese Übung zu wiederholen. Selbst Frau H., die nicht viel sprach, jubelte und lachte, als wir die Übung wiederholten. Es war eindrucksvoll, zu beobachten, wie die Teilnehmerinnen sich und ihren Körper lustvoll wahrnahmen. Zu Beginn hatten wir gemerkt, dass einige Teilnehmerinnen viel zu erzählen hatten und Aufmerksamkeit suchten. Einen Spaziergang für den zweiten Teil der Sitzung zu planen, hatte sich als eine sinnvolle Idee erwiesen. So konnten wir mehr über die Teilnehmerinnen erfahren, um die nächsten Sitzungen an ihrem Entwicklungsniveau anzusetzen. Während des kleinen Spaziergangs bekamen sie Gegenstände in die Hand gelegt, die in der freien Natur vorkommen, und sollten diese mit verschlossenen Augen erraten (z. B. Steine, Blätter, Holz, Erde, Moos, Gras). Jeder wurde dann in die Wohngruppe gebracht und der Raum wurde aufgeräumt. Anschließend erfolgte ein Gespräch mit den Mitarbeitenden über E., da sie wegen der Verschlechterung ihrer Erkrankung und vieler Arzttermine nur selten würde teilnehmen können. Somit wurde gemeinsam entschieden, sie abzumelden und eine neue Teilnehmerin aufzunehmen. Diese wurde am selben Tag noch aufgeklärt und gefragt, ob sie an den Sitzungen Interesse hätte. Über die Frage hat sie sich sichtlich gefreut und wollte sehr gerne teilnehmen. Bereits in den ersten Treffen wurde deutlich, dass eine Flexibilität in der Stundenplanung ebenso notwendig war wie ein reflektierter und 6 Eine Gruppenleiterin erzählte die Geschichte vom »Kuchenbacken«. Dabei stellte sie alle Handlungen des Teigknetens, Rührens usw. auf dem Rücken ihrer Partnerin dar, die die Teilnehmerinnen bei ihrer jeweiligen Sitznachbarin nachmachen konnten.

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professioneller Umgang mit »Störungen«. Kurze Einschlafphasen oder »Petit Mal«-Anfälle waren Herausforderungen, die reflektiert und gelöst werden mussten, auch durch Abwägen, ob eine weitere Teilnahme sinnvoll ist. Protokoll der 3. Sitzung

Die neue Teilnehmerin wurde vorgestellt. Die meisten kannten sie und nahmen sie sehr freundlich auf, sodass sie sich sichtlich gefreut hat. Zu dieser Sitzung waren einige Teilnehmerinnen schon selbstständig ohne jegliche Hilfe erschienen. Lediglich die Rollstuhlfahrerinnen holten wir ab. Die Sitzung wurde mit einer Frage zur aktuellen Stimmung eingeleitet. Da einige Teilnehmerinnen ihre Gefühle nicht in Worte fassen konnten, dienten wieder Symbolkarten (Smileys) als Hilfe und ermöglichten einen basalen Austausch. Zunächst wurde das Hören erklärt (Bildtafel) und mittels diverser Gegenstände und Übungen stimuliert (»Geräusche raten«). Wir legten viel Wert darauf, eine entspannte Atmosphäre ohne Druck zu schaffen. Ein »Klanggespräch« mit verschiedenen Musikinstrumenten wurde lebhaft angenommen7, da man ohne zu sprechen kommunizieren konnte. Dabei war die Kommunikation mal leise und mal laut, verschiedene Stimmungen und Gefühle bildeten sich klangvoll ab und konnten im Gespräch aufgegriffen werden. Hier fiel uns wieder auf, dass die Strukturierung der Sitzungen vielen Teilnehmerinnen das Engagement erleichterte. Protokoll der 4. Sitzung

In dieser Sitzung holten wir erneut nur die Rollstuhlfahrerinnen ab, die anderen Teilnehmerinnen erschienen selbstständig. Wie in jeder Sitzung ging es zu Beginn darum, von eigenen Erlebnissen und vom 7 Dazu setzten sich alle Teilnehmerinnen in einen Stuhlkreis und bekamen ein Musikinstrument (Triangel, Trommel, Klanghölzer, Klangschale, Xylophon, Glocken) in die Hand. Es wurde vereinbart, die Augen zu schließen und nur über das Musikinstrument zu kommunizieren, sich miteinander ohne Worte zu verständigen. Jedes Instrument sollte nur einmal im Kreis vorhanden sein, damit jede Spielende erkennbar bleibt. Vor allem das Hören mit geschlossenen Augen machte dieses Geschehen zu einem besonders sensitiven Erlebnis.

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Wohlbefinden zu berichten. Bis auf Frau M. berichteten alle Teilnehmerinnen positiv über ihr Befinden. Frau M. habe die Nacht schlecht geschlafen (Angst vor der Dunkelheit) und deshalb sei sie nicht gut gelaunt (»müde« und »schlecht gelaunt« – Emotionskarte). Andere Teilnehmerinnen zeigten auf unterschiedliche Weise Anteilnahme. Bis auf Frau A. zeigten alle offensichtlich Verständnis für die Laune von Frau M. Frau A. und Frau M. wohnen in einer Gruppe. Frau A. fand, dass Frau M. sich immer so »anstellt«. Daraufhin fühlte sich Frau M. abgelehnt oder gekränkt. Die Gruppenleiterin teilte Frau M. mit, wie toll sie es finde, dass sie trotz Müdigkeit und schlechter Laune in die Sitzung gekommen sei und das auch mitgeteilt habe. Wir sprachen etwas länger als geplant über die aktuellen Stimmungen, die verschiedenen Perspektiven und Wünsche. Erst dann ging es um die visuelle Wahrnehmung. Was können wir mit den Augen alles sehen? Warum tragen einige Menschen eine Brille? etc. Einige Antworten führten schnell in Nebengespräche und hatten einen anderen Zusammenhang. Zum Beispiel: Was machen wir mit unseren Augen und wofür haben wir sie? Antwort M.: Wir können mit ihnen baden gehen! Und schon entstand ein Gespräch unter den Teilnehmerinnen (»Ich geh auch gerne baden« etc.). Dies war eine Irritation für die Gruppenleiterinnen: Freiheit zu ermöglichen und immer wieder zum eigentlichen Thema zurückzufinden sowie die Konzentration zu erhalten. Später wurde eine Übung durchgeführt, die das Erkennen und Reflektieren von Emotionen trainieren sollte. Die Übung »Pantomime der Gefühle«8 war jedoch nicht mit jeder Teilnehmerin durchführbar. Auch hatten manche Teilnehmerinnen Schwierigkeiten, eine dargestellte Emotion zu deuten. Daher wurden einige Emotionen noch zusätzlich mit Geräuschen vorgeführt: Frau M. gähnte genüsslich, als sie pantomimisch »müde« demonstrierte. Anschließend wurde bei einem gemeinsamen Kaffeetrinken und entspannender Musik gemalt und über verschiedene Farbvarianten sowie Alltagssituationen gesprochen. Beim Malen ist uns aufgefallen, dass die meisten Teilnehmerinnen ein Ausmalbild wollten, obwohl 8 »Pantomime der Gefühle«: Die Teilnehmerinnen wurden nacheinander gebeten, ein Gefühl (Ärger, Wut, Trauer, Freude etc.) darzustellen. Dies sollte zunächst ohne jegliche Geräusche geschehen. Die anderen Teilnehmerinnen interpretierten dann nacheinander, um welches Gefühl es sich handelte.

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jede die Möglichkeit hatte, aus der eigenen Phantasie freiheraus zu malen! Hier wurde wieder deutlich, wie schnell die Teilnehmerinnen vorgegebene Strukturen suchten, um Sicherheit zu finden. Da bereits die Hälfte der geplanten Sitzungen vergangen war, riefen wir die letzten Sitzungen noch mal in Erinnerung. Wir fragten, welche Sitzung bisher am besten war oder welche Übung am meisten Spaß gemacht hatte, an was sie sich noch erinnern konnten. Die Sitzung mit der Entspannungsgeschichte »Teig kneten«, das Klanggespräch und der Spaziergang waren die Favoriten (Emotionskarten wurden auf den Tisch gelegt). Frau H. hatte in dieser Sitzung auffällige »Absencen« und hat teilweise laut unzusammenhängend gesprochen oder geschrien. Einige Teilnehmerinnen waren darüber verunsichert und beobachteten dies achtsam. Um dies den Teilnehmerinnen beim nächsten Mal erklären zu können, wurden deshalb nach der Sitzung mit den Mitarbeitenden Erklärungen für das Verhalten gesucht. Frau H. hatte kleine epileptische Anfälle und war daher manchmal für kurze Zeit nicht ansprechbar. Dies sollte beim nächsten Vorfall besprochen werden, damit die Teilnehmerinnen nicht verunsichert werden. Protokoll der 5. Sitzung

Nach der Begrüßung und Gesprächsrunde wurde das Einkaufen für die 6. Sitzung vorgezogen. Durch das Umstrukturieren hatten wir zu Beginn etwas Zeit verloren. Frau M. war mit der Umorientierung überfordert. Wir mussten sie zum Einkaufen motivieren. Dies gelang uns vorerst. Doch als wir draußen waren und es angefangen hatte zu regnen, fühlte sie sich nicht gut, klagte über Schwindelgefühle und Übelkeit und weinte ein wenig. Da wir eine Verantwortung für alle Teilnehmerinnen hatten, wollten wir nichts riskieren und beschlossen, uns aufzuteilen, um das Einkaufen nicht abzusetzen. Eine Gruppenleiterin ging mit Frau M. und Frau H. in den Sitzungsraum zurück und versorgte Frau M. mit Traubenzucker und Wasser. Danach ging es ihr viel besser und sie hat zusammen mit Frau H. in der Zwischenzeit gebastelt und gemalt. Bei dem Gespräch mit Frau M. (während des Malens) stellte sich heraus, dass sie vor einigen Jahren beim Spazieren gestürzt war und sich so stark verletzt hatte, dass sie mehrere Tage in einem Krankenhaus verbringen musste. Es machte ihr angst, dass so etwas noch einmal passieren könnte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Die zweite Gruppenleiterin ging mit den anderen Teilnehmerinnen in ein Lebensmittelgeschäft. Die Teilnehmerinnen hatten Schwierigkeiten, die Orientierung im Laden zu behalten. Die Produkte wurden mit kleinen Hilfen (Bildkarten) kenntlich gemacht. Jeder bekam Geld, um die Lebensmittel selbstständig zu bezahlen. Nachdem die Teilnehmerinnen vom Einkaufen wiederkamen, hatte sich Frau M. bei den Gruppenleiterinnen entschuldigt. Ein Gespräch mit allen Teilnehmerinnen folgte, um die Gründe nachzuvollziehen, warum M. nicht mit zum Einkaufen wollte. Außerdem konnten wir weitere Gefühle, Anteilnahme und Perspektivwechsel besprechen. Zum Abschluss der Sitzung malte jede Teilnehmerin ihre Befindlichkeit (traurig, fröhlich, ängstlich …) und stellte das Bild der Gruppe vor. Protokoll der 6. Sitzung

Ziel dieser Sitzung waren die Förderung der Selbstständigkeit, Teamfähigkeit (soziale Umgänglichkeiten und Handlungskompetenz), das Anregen der körperlichen und kognitiven Geschicklichkeit sowie ein Bezug zu gesunder Ernährung. Nach der Begrüßung aller Teilnehmerinnen gaben wir zuerst eine Übersicht über die Inhalte der Sitzung. Die Teilnehmerinnen wurden auf den bevorstehenden Abschied angesprochen, da die 7. Sitzung die letzte sein sollte. Wieder wurden sie auf ihre aktuelle Befindlichkeit angesprochen. Mithilfe der Bildkarten (Smileys) stellte jede ihr aktuelles Gefühl vor und hat etwas von sich erzählt. So konnten Gefühle differenziert werden und sie wurden wichtig genommen. Wir erläuterten dann das Thema »Schmecken«, bevor die verschiedenen Geschmacksmöglichkeiten der Zunge (süß, sauer, salzig, bitter) anhand von Obst und Gemüse ausprobiert wurden. Nach einer Pause erfolgte dann die zweite Einheit der Sitzung: das gemeinsame Kochen einer »kalten Frühlingssuppe«. Uns fiel auf, wie engagiert und fröhlich die Teilnehmerinnen an diese Aufgabe herangegangen sind, und es wurde viel Eigeninitiative ergriffen. Das Kochen der Suppe ist zügig vorangegangen. Es hat allen Spaß gemacht. Dies äußerten sie auch mehrmals. Nach dem Kochen fand dann ein gemeinsames Essen statt. Dabei wurde festgestellt, dass die Teilnehmerinnen in den Wohngruppen nicht kochten oder einkauften. Sie wurden von einer Großküche beliefert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Abschlussphase der Sitzungsreihe Die Abschlusssitzung hatte die Funktion einer Wiederholungs-, Reflexions- und Evaluationsrunde. Reflexion ist ein Prozess, in dem ein bestimmtes Ereignis im Nachhinein gedanklich bearbeitet wird. Bei der Reflexion geht es darum, zurückliegende Ereignisse und Handlungszusammenhänge nach bestimmten Kriterien zu ordnen und zu bewerten. So können neue Erkenntnisse gewonnen werden. Art und Inhalt hängen bei jeder Person mit der Fähigkeit, sich zu erinnern, zusammen und werden durch den Filter der eigenen Wahrnehmung, Beobachtung und Einstellung geprägt. Das Ereignis, über das reflektiert wird, kann nie vollständig in Erinnerung gerufen werden. Es entsteht eher ein »Spielraum« für Interpretationen (Baumgart u. Bücheler, 1998; Bentele u. Metzger, 2008). Protokoll der letzten Sitzung

Zu Beginn der letzten Sitzung wurde wieder eine Einstiegsrunde mit Symbolkarten durchgeführt. Frau M. war erneut schlecht gelaunt, weil sie müde war. Frau H. war in dieser Sitzung auffallend laut und unruhig, hatte offensichtlich großen Hunger und konnte es kaum erwarten, in die Cafeteria zu gehen. Danach erstellten wir gemeinsam eine Collage. Dabei wurden die Fotos der letzten Sitzungen auf dem Tisch verteilt sowie Stifte und buntes Papier, sodass sich jeder seine Lieblingssitzungen auf zunächst eine eigene Collage kleben konnte bzw. sie damit kreativ gestalten konnte. Anschließend wurden alle Einzelcollagen zu einer großen Gruppencollage zusammengefügt. Das Werk konnte nun begutachtet, besprochen und reflektiert werden. Damit wurden Erlebnisse und Erfahrungen in der Gruppe reaktiviert. In der zweiten Einheit war der (Abschluss-)Ausflug in die Cafeteria geplant. Bei schönem Wetter haben wir die Sitzungen in einer Cafeteria bei Kaffee, Kuchen oder Eis abklingen lassen. Zum Andenken wurden Fotos zu allen Sitzungen verteilt. Jede Teilnehmerin hat auch Fotos von sich erhalten. Die geplante Zeit wurde überzogen. Nach Beendigung der letzten Sitzung wurde ein Abschlussgespräch mit der Teamleitung geführt. Die Collagen wurden in den Wohngruppen präsentiert und aufgehängt.

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Evaluation In einer internen Evaluation wurden folgende Aspekte festgehalten: Positiv: ȤȤ Es bestanden ein großer Bedarf und ein großes Interesse an einem Bildungsangebot vonseiten der Wohngruppen und der Teilnehmerinnen. ȤȤ Das Angebot wurde gut angenommen und die Teilnehmerinnen waren durchweg motiviert und engagiert. ȤȤ Es entstand der Eindruck, als könnten die Teilnehmerinnen die Gruppe als »sichere Basis« nutzen. Einige trauten sich, »unangepasste« Verhaltensweisen und eigene Wünsche auszuprobieren, und beobachteten die Reaktionen darauf, insbesondere die Anerkennung durch die Gruppenleitung und die Aufrechterhaltung der Gruppenkohäsion. ȤȤ Die Teilnehmerinnen lernten die Emotionskarten kennen, verwendeten sie sinnvoll und konnten damit leichter Gefühle ausdrücken. Dies kann als Beitrag zur »Alphabetisierung der Empfindungen« gesehen werden. ȤȤ Die Selbstständigkeit konnte gefördert werden, die Teilnehmerinnen erschienen zunehmend selbstständig zu den Sitzungen. ȤȤ Die Eigenaktivität und »Selbstbestimmung« stärkten das Selbstwertgefühl. ȤȤ Das Einfühlen in andere wurde geübt, ebenso die Perspektivenübernahme. ȤȤ Neues Basiswissen (Farben, Formen, Lebensmittel usw.) wurde gelernt. ȤȤ »Andersdenken« bzw. neue assoziative Verknüpfungen wurden positiv aufgenommen, z. B. die Aussage von Frau M.: »Mit den Augen baden gehen«. Kritisch: ȤȤ Es blieb schwierig, die Teilnehmerinnen, die sich wenig oder nicht verbal äußern konnten (auch nicht mit unterstützter Kommunikation), zu verstehen oder einzuschätzen. ȤȤ Die idealisierten Gruppenleiterinnen galten als »gute Engel«, die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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kommen und wieder gehen, aber an der Alltagsstruktur nichts ändern können. ȤȤ Die Anzahl der Sitzungen, d. h. die Dauer des Projekts insgesamt, war zu gering, um Beziehungs- und Kommunikationsbedürfnissen, Lernbedürfnissen und der Verselbstständigung gerecht zu werden.

Zusammenfassung und Ausblick Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Erwachsenenbildung von älteren Menschen mit Lernschwierigkeiten und mehrfacher Behinderungen. Beim Versuch einer Begriffsklärung für die Erscheinung »geistige Behinderung« zeigt sich der tendenziell defizitorientierte Blick der Gesellschaft auf diesen Personenkreis. Im Sinne des Empowerment-Ansatzes ging es in diesem Konzept um die Ermächtigung und Befähigung behinderter Menschen. Die Betroffenen sollten in die Lage versetzt werden, ihre Interessen selbstständiger auszudrücken und Beziehungen untereinander und mit den Mitarbeitenden befriedigend zu gestalten. Unsere Erfahrungen zeigen, dass viele Menschen mit Lernschwierigkeiten und mehrfacher Behinderung auch im Erwachsenalter Schwierigkeiten haben, selbstständig Entscheidungen zu treffen und unstrukturierte Situationen zu gestalten (z. B. Ausmalbilder werden gegenüber freien Bildern bevorzugt). Wiederholungsphasen sowie der ritualisierte Veranstaltungsablauf vermittelten eine größere Sicherheit, erleichterten den Teilnehmerinnen das Verstehen und dienten der Sicherung des Neuerlernten. Anhand von Symbolkarten zeigte jede einzelne Teilnehmerin, wie ihr die Veranstaltung bzw. einzelne Inhalte gefielen. Somit hatten auch schwer mehrfachbehinderte Teilnehmerinnen, welche sich verbal kaum verständigen konnten, die Möglichkeit, mit den Karten die für sie zutreffende Befindlichkeit und Sichtweise auszuwählen. Dies erschien notwendig, um die Gefühle und die (Un-)Zufriedenheit zu erfassen und auf eventuelle Schwierigkeiten und Änderungswünsche eingehen zu können. Alle Gruppenteilnehmerinnen hatten somit die Gelegenheit, das Befinden der anderen nachzuvollziehen. Auch wenn sich dieser Aspekt in der Umsetzung oft als schwierig erwies, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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waren die Versuche, die Emotionen zu erfassen, zu spiegeln und zu markieren, wichtige Meilensteine des Projekts. Ausgehend von der Annahme, dass die Fähigkeit, Gefühle zu identifizieren und zu symbolisieren, interaktionell erworben wird, kann angenommen werden, dass der Prozess des Bemühens um ein Verständnis (Feinfühligkeit) und die mentalisierende Haltung der Gruppenleiterinnen zur Entwicklung von Bindungssicherheit und zur Selbstentwicklung beigetragen haben. Obwohl Reflexion an komplexe kognitive Fähigkeiten gebunden ist, wurden grundlegende Bindungsbedürfnisse und Mentalisierungsprozesse deutlich. Eine interaktionelle Regulierung von Emotionen, Einfühlung und Perspektivenübernahme im Gruppenprozess wurden gut nachvollziehbar dargestellt. Dies ermöglichte Einblicke in den Prozess der zwischenmenschlichen Entstehung des Selbst, einschließlich der dazu nötigen inneren Repräsentanzen. Diese Prozesse erscheinen auch bei mehrfach behinderten Menschen ähnlich oder identisch mit denen »normal gesunder« Individuen zu sein. Gleichzeitig wurde deutlich, wie durch Institutionalisierungsprozesse Behinderung (mangelnde Teilhabemöglichkeit) verstärkt werden kann.

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Fazit und Ausblick

Die gesellschaftliche Bedeutung von psychischer Gesundheit wird in den nächsten Jahren wohl zunehmen, unabhängig von der Antwort auf die Frage, ob psychische Erkrankungen nun häufiger vorkommen oder nicht. Belastungen und Störungen der psychischen Gesundheit sind aber ungleich in der Gesellschaft verteilt, sie sind bei Menschen mit niedrigem Sozialstatus und bei mehrfach benachteiligten Menschen deutlich häufiger. So werden für Gemeindepsychiatrie, Sozialpädagogik und Beratung neue Konzepte und mehr Beratungsangebote gefordert, um den ungleichen Chancen auf psychische Gesundheit adäquater zu begegnen. Vor diesem Hintergrund setzt das Mentalisierungskonzept neue Impulse. Es ist entwicklungsorientiert und in vielen Bereichen anwendbar. Es ist wissenschaftlich gut fundiert und ausreichend operationalisiert, sodass bereits verschiedene Möglichkeiten der Evaluation in Forschung und Praxis erprobt wurden. Die Literatur zum Mentalisierungskonzept lässt sich grob in 2 Kategorien einteilen: zunächst die Literatur zu entwicklungspsychologischen Grundlagen, zur Bedeutung der Bindungstheorie, einschließlich der Theory of Mind und der Entstehung der Fähigkeit zu mentalisieren. Ein zweiter Themenbereich der Anwendungen lässt sich davon abgrenzen. Einer Vielzahl von Publikationen aus dem Gebiet der Psychotherapie und Psychiatrie stehen bislang nur wenige, aber richtungsweisende Arbeiten aus Handlungsfeldern der Pädagogik, Sozialpädagogik und Beratung gegenüber. Hier knüpft das vorliegende Buch an. Die Erfahrungen der Praxisprojekte in ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern zeigen eine gute Akzeptanz bei Adressatinnem und Adressaten sowie Professionellen. Ein strukturiertes, auf die Belange der Zielgruppe eingehendes Vorgehen, eine aktive und transparente Haltung und Interventionstechnik ermög© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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lichen erfolgreiche Interventionen. Gelingt es, einen spezifischen Fokus zu formulieren, so können selbst relativ kurze Interventionen über 6 bis 10 Termine erfolgreich sein (siehe auch SMART: Fearon et al., 2006). Der Mentalisierungsansatz versteht sich dabei nicht als neue Therapie- oder Beratungsrichtung, sondern ist anschlussfähig an bestehende Konzepte, z. B. aus der systemischen Beratung oder Resilienzförderung, der Eltern-, Ehe- oder Erziehungsberatung. Wie Ensink et al. (2013) zeigen konnten, ist die frühe Ausbildung im mentalisierungsbasierten Ansatz (z. B. im Studium oder zu Beginn einer Weiterbildung) wirkungsvoll und einer »Standardausbildung« überlegen. Gelingt es den Studierenden oder Ausbildungskandidaten bereits früh in ihrer Ausbildung, die Motive, Stimmungen und Erwartungen der Klienten zu erkennen und in Abgrenzung zu den eigenen »Mental States« zu reflektieren, so gewinnen sie wichtige handlungsleitende Kompetenzen für eine beziehungsorientierte Pädagogik, Beratung oder Psychotherapie. In diesem Sinne sollen die dargestellte Theorie und die Praxisprojekte einen Beitrag leisten für eine umfassende Ausbildung in beziehungsorientierter Beratung und Sozialer Arbeit.

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

Die Autorinnen und Autoren

Tanja Armendinger, Bachelorstudium Soziale Arbeit an der Hochschule Mannheim, Masterstudium Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Tanja Kalbfuss, Studium der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, staatlich anerkannte Sozialpädagogin (MA). Masterthesis zum Thema »Bindungserfahrung und Beziehungsgestaltung – Mentalisieren in der sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern in ihrer Beziehungswelt«. Aktuelle Tätigkeit in einer integrativen Kindertagesstätte für Kinder im Alter von 6 Monaten bis 3 Jahren. Linda Alana Kaufmann, Bachelorstudium an der FH Bielefeld mit Schwerpunkt Interkulturalität. Masterstudium an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Tätigkeit in einem Projekt für Langzeitarbeitslose und in einer psychosozialen Kontakt- und Beratungsstelle. Holger Kirsch, Dr. med., Professor für Sozialmedizin am Fachbereich Sozialarbeit/Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP/DGPT), Tätigkeit in eigener Praxis, Dozent am Alfred Adler Institut Mainz, verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift für Individualpsychologie. Johanna Klein, Buchhändlerin, Bachelor- und Masterstudium Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Systemische Beraterin in Ausbildung. Aktuelle Tätigkeit bei einer evangelischen Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

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Die Autorinnen und Autoren

Alexa Köhler-Offierski, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse, Professorin für Sozialmedizin an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Aydin Polat, Studium Soziale Arbeit an der Hochschule RheinMain, Wiesbaden. Masterstudium Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Tätigkeiten als pädagogische Hilfskraft in Wiesbadener Jugendzentren, als Förderlehrer für Kinder mit Migrationshintergrund, als Hochschul-Tutor für Armut und Existenzsicherungsleistung sowie Entwicklung von Lernprozessen und für Netzwerkbildung an der Hochschule RheinMain. In Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Olga Ruf, Studium der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Darmstadt (Master of Arts). Studienschwerpunkte »Pathologisierung, Normalität und Abweichung«. Masterthesis zu »Sucht im Alter – Bedeutung und Auswirkung von Alkohol für ältere Menschen«. Tätigkeit im Bereich Behindertenhilfe und Soziale Rehabilitation bei Hephata (Schwalmstadt-Treysa). Alexandra Stavrou, Studium Soziale Arbeit (M. A.) an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Praxiserfahrung in der Kinder- und Jugendarbeit und Mädchenarbeit, als Streetworkerin für Präventionsprojekte, in der mobilen Jugend- und Drogenberatung und mit demenzkranken Menschen. Seit 2013 Tätigkeit als Sozialpädagogin beim Sozialpsychiatrischen Verein Darmstadt. Katharina Straub, Studium im Fachbereich Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt (Master of Arts). Praxiserfahrungen in Kindergärten und Grund- und Gesamtschulen und im Aufbau einer pädagogischen Mittagsbetreuung mit individuellen Fördermaßnahmen an der Erich-Kästner-Schule Bürstadt. Seit 2013 tätig als Klassenlehrerin einer Vorklasse an der Beethovenschule Offenbach. Swantje Urbanek, Studium Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt (B. A.) und Masterstudium. Tätigkeit im © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402214 — ISBN E-Book: 9783647402215

Die Autorinnen und Autoren177

Bundesförderprojekt »Regionales Übergangsmanagement« des Landkreises Darmstadt-Dieburg. Seit November 2013 tätig als Sozialtherapeutin im Klinikum Hanau Psychiatrie und Psychotherapie. Irina Wiens, Studium der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule in Darmstadt, staatlich anerkannte Sozialpädagogin (B. A. und M. A.). Studienschwerpunkte »Pathologisierung, Normalität und Abweichung«. Tätigkeiten und Erfahrungen in den Bereichen Kindergarten und Kindertagesstätte, Schule und Behindertenhilfe. Sabrina Zimmer, Studium Soziale Arbeit (B. A. und M. A.) in Verbindung mit der Gemeindepädagogischen-Diakonischen Qualifikation an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Tätigkeit beim Deutschen Kinderschutzbund und in der Erziehungsberatung für Mütter, Väter, Kinder und Jugendliche. Mitwirkung im BeratungszentrumMitte an Elterngesprächsreihen zum Thema »Die Kinder nicht aus den Augen verlieren«, in Kindergruppen für Trennungs- und Scheidungskinder und in der Mädchengruppe »Starke Mädchen«.

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