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German Pages 377 Year 1999
MARKUS LÖFFELMANN
Das Gesetz des Unbewußten
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band83
Das Gesetz des Unbewußten Eine rechtsanthropologische und philosophische Auseinandersetzung mit der Analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung
Von Dr. Markus Löffelmann
Duncker & Humhlot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Löffelmann, Markus: Das Gesetz des Unbewußten : eine rechtsanthropologische und philosophische Auseinandersetzung mit der Analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung I von Markus Löffelmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Erfahrung und Denken ; Bd. 83) Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09740-8
Alle Rechte vorbehalten
© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fbtoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-09740-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (Blurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Mit seinem Erkennen haltmachen an der Grenze des Unerforschlichen ist das Höchste. (Zhuang Zi, Buch II 7)
Vorwort Die Gedanken von C.G. Jung erfreuen sich in jüngerer Zeit zunehmender Beliebtheit. Der Grund dafür dürfte nicht zuletzt mit einer Anzahl populärer Rezeptionen zusammenhängen, die dem allgemeinen Bewußtsein den Zugang zum Jungsehen Werk geebnet haben. Seit einigen Jahren sind auch Teile der umfangreichen Schriften in einer preiswerten Taschenbuchausgabe erhältlich. Blickt man auf den mittlerweile unüberschaubaren Umfang der interdisziplinären Rezeption des Freudschen Werkes, so scheint die gegenwärtige Aktualität Jungs Grund genug zu sein, die Jungsehen Lehren auch von nicht-psychologischer Seite nicht länger zu ignorieren. Am Anfang dieser Arbeit stand die Idee, die Überlegungen Jungs fiir die Beantwortung rechtsphilosophischer Fragen fruchtbar zu machen. Dieser Gedanke ist, wie ich feststellen mußte, keineswegs originell. Schon 1931 hat sich D. Schindler bei seinem Versuch, die vielfaltigen Wechselwirkungen zwischen Verfassungsrecht und "Außerrechtlichem" zu eruieren, offensichtlich von den Überlegungen Jungs inspirieren lassen.' 1954 glaubte H. Fehr, gestützt auf die anthropologischen Studien von Malinowski, die kulturübergreifenden Übereinstimmungen zwischen den Rechten verschiedener Völker auf "Kräfte allgemeiner Natur, welche sich gleichmäßig durchsetzen bei Völkern mit völlig ungleichen nationalen Anlagen" zurückfuhren zu können und bezog sich dabei auf die Archetypenlehre von C.G. Jung? Einen systematischeren Ansatz wählte 1956 E. Fechner in seiner "Rechtsphilosophie". 3 Nach einer Kritik idealistischer und realistischer Rechtsauffassungen gelangte er auf Grundlage der Archetypenlehre Jungs zu der These, daß es Urbilder der menschlichen Seele als objektiven Grund des Rechtsgefiihls geben müsse. 1958 widmete H. Marti eine umfassende Studie dem Nachweis der Archetypen des "Großen Vaters", der "Großen Mutter" und der "Wandlung" in der schweizerischen Bundesverfassung und betrachtete den sozialen Rechtsstaat als Vereinigung dieser Archetypen.4 Und 1959 erklärte M. lmboden, daß die Staatsstruktur ein Spiegel der Psyche sei und deutete die drei klassischen Staatsformen (Monarchie, Aristo-
D. Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur (1931). H. Fehr, Primitives und germanisches Recht. Zur Lehre vom Archetypus (1954). 3 E. Fechner, Rechtsphilosophie. Soziologie und Metaphysik des Rechts (1956). 4 H. Marti, Urbild und Verfassung. Eine Studie zum hintergründigen Gehalt einer Verfassung (1958). 1
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Vorwort
kratie und Demokratie) auf Grundlage der Jungsehen Begrifflichkeiten. 5 Abgesehen davon, daß sich die Rechtswissenschaft in der Zwischenzeit eine Vielzahl neuer Wissensgebiete erschlossen hat, was sich insbesondere im Bereich der Rechtsanthropologie deutlich zeigt, leiden die genannten Untersuchungen allesamt an einer großen Schwäche: sie machen sich die Ergebnisse der Forschungsarbeit von C.G. Jung zur Untermauerung der eigenen Thesen dienstbar, ohne sie aber selbst zu hinterfragen. Ihre besondere Relevanz fiir philosophische Fragestellungen erlangen die Theorien Jungs gerade dadurch, daß sie empirische Geltung beanspruchen. Dies muß ftlr eine Arbeit, die sich um die Fruchtbarmachung der Jungsehen Gedanken im außerpsychologischen Bereich bemüht, in methodischer Hinsicht ein Zweifaches bedeuten: Erstens dürfen die empirischen Erkenntnisse der Psychologie nicht pauschal zur Bekräftigung einer nicht-psychologischen These herangezogen werden, was lediglich zu einem empirisch unbrauchbaren Analogieschluß von allenfalls heuristischer Relevanz fiihrt6, sondern muß umgekehrt aus den Erkenntnissen der Psychologie eine solche These deduziert werden. Zweitens dürfen die Erkenntnisse der Psychologie, die die Grundlage einer solchen These bilden, nicht unbesehen übernommen werden, sondern müssen sie vielmehr auf ihre empirische und analytische Haltbarkeit hin überprüft werden. Viele Äußerungen Jungs haben unmittelbar rechtsphilosophischen Gehalt. Sie beschäftigen sich mit sozialkritischen und ethischen Problemen; von besonderer Relevanz sind die Überlegungen zum Wesen der Erkenntnis und die Postulierung der Psychologie als "prima philosophia". Andere Äußerungen hängen mittelbar mit dem Gebiet des Rechts zusammen: Religiöse Phänomene, mythologische Motive, anthropologische Erkenntnisse und Volksmärchen bieten Jung einen unerschöpflichen Fundus an Materialien, die er kenntnisreich in seine Psychologie integriert, und die auch die Rechtsphilosophie sich allmählich zu erschließen beginnt. Die Berührungspunkte zwischen Rechtsphilosophie und Jungscher Psychologie liegen soweit auf der Hand. Aus der hier verfolgten Zielsetzung, die Theorien Jungs fiir die Beantwortung rechtsphilosophischer Fragen fruchtbar zu machen, ergeben sich aber einige grundlegende Probleme für den Aufbau und Fortgang einer solchen Arbeit. Wenn die rechtsphilosophische Rezeption des Jungsehen Werkes nämlich keine gedankenlose und erzwungene, rezeptartige Übertragung sein soll, die die Rechtsphilosophie der Jungsehen Schule einverleibt, anstatt die Theorien Jungs zur Diskussion philosophischer Thematiken zu bemühen, dann ist zuerst ein im weitesten Sinne methodischer Rahmen zu finden, der den steten und kritischen Bezug zwischen den beiden Disziplinen ges M. Imboden, Die Staatsformen. Versuch einer psychologischen Deutung staatsrechtlicher Dogmen (I 959). 6 Vgl. W. Stegmüller, Probleme und Resultate, p. 169 ff. und unten§ 19 D.
Vorwort
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währteistet Dieser Rahmen wird durch die Erkenntnisse der Anthropologie und die Fragestellungen der allgemeinen Philosophie hergestellt, auf die beide Disziplinen bezogen sind. Als weitere Schwierigkeit ergibt sich, daß die hier vorgegebene grundlegende Zielsetzung andere Zwischenziele beinhaltet: Einerseits muß die Jungsehe Lehre in einer kritischen Darstellung einer Bewertung unterzogen werden, andererseits kann das Ziel der Arbeit nicht lediglich eine Dekonstruktion der Jungsehen Lehre sein, sondern es sollen sich auch positive Ergebnisse einstellen, d.h. der durch das Jungsehe Werk vorgegebene Rahmen muß nicht nur zum Zwecke der Kritik, sondern auch in Hinblick auf konstruktive Resultate überschritten werden. Aufgrund dieser Zielsetzungen und der damit verbundenen Schwierigkeiten, hat sich ein Aufbau der Abhandlung bewährt, der einerseits synoptisch, in Paragraphen gegliedert, die Vielfalt der Themen bewältigen, andererseits, durch seine dialektische Gliederung, die Geschlossenheit des Gedankengangs gewährleisten soll. Darüberhinaus wird versucht, durch vielfältige Querverweise im Text, einzelne Themen auf andere zu beziehen und so in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Außerdem werden zu Beginn eines jeden Kapitels Funktion und Bedeutung der einzelnen Erörterungen erläutert. Das erste Kapitel erschließt den Problemkontext, in dem diese Arbeit steht (§ 1) und verschafft grundlegende Informationen über die tiefenpsychologischen Lehren, die in ihrem Rahmen zur Sprache kommen(§§ 2 und 3). Diese Paragraphen können bei entsprechender Vorkenntnis auch übersprungen werden. Das zweite Kapitel, dem aufgrund seiner Schlüsselstellung und Grundlagenfunktion breiter Raum gewidmet wurde, das darstellender Art ist und in dem - insbesondere hinsichtlich der Aussagen Jungs- weitgehend auf Wertungen verzichtet wurde, erfiillt dreierlei Funktionen. Zum einen schafft es eine gemeinsame Basis von Analytischer Psychologie und Rechtsphilosophie, indem es rechtsphilosophisch relevante Äußerungen Jungs und seiner Schüler (§ 14), sowie die Gedanken Jungs zu Religion und östlichem Denken, seine Bearbeitungen des Mythen- und Märchenmaterials und seine anthropologischen Ansätze (§§ 10-13) in Verbindung bringt mit den Rechtsphänomenen, wie sie durch die vergleichende Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte und Rechtsanthropologie aus diesem Material erschlossen werden(§§ 5-9). Gleichzeitig werden mit der Darstellung dieser Themengebiete die Voraussetzungen fiir eine inhaltliche Evaluierung der Jungsehen Deutungen im 3. Kapitel geschaffen und wird der ständige Bezug zwischen rechtsphilosophischen Fragestellungen und den diesbezüglich relevanten Erkenntnissen der Anthropologie gewahrt. Die Behandlung rechtsphilosophischer Problemstellungen ohne Berücksichtigung des durch die Anthropologie erschlossenen empirischen Materials ist heute nicht mehr denkbar. Den Ausgang dieses Kapitels bildet eine prirna-facie-Synthese (§ 15), die die Jungsehen Theorien auf die aufgeworfe-
Vorwort
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nen rechtsphilosophischen Problemstellungen anwendet. Das zweite Kapitel ist also in jeder Hinsicht vorbereitender Natur. Das dritte Kapitel stellt den zweiten Hauptteil der Untersuchungen dar. Es befragt die Theorien Jungs auf ihre Haltbarkeit und untersucht die ihnen zugrundeliegenden philosophischen Konzeptionen, ist insofern also meta-philosophischer Art. Dabei werden wissenschaftstheoretische, erkenntnistheoretische und ethische Fragestellungen aufgeworfen. Während es im I. Abschnitt vor allem darum geht, die Psychologie Jungs auf ihre methodische Verläßlichkeit zu überprüfen und ihren wissenschaftstheoretischen Standort zu bestimmen, versucht der 2. Abschnitt, die philosophisch relevanten Aussagen Jungs von nicht-psychologischer Seite her einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und sie insbesondere mit anderen Geistesströmungen ihrer Zeit in Zusammenhang zu bringen. Der 3. Abschnitt untersucht die von Jung postulierte Ethik, in deren radikaler Haltung die unorthodoxen Anschauungen Jungs einen Höhepunkt finden. Damit sollen die Voraussetzungen für eine Synthese der Erkenntnisse im vierten Kapitel geschaffen sein. Biographische Aspekte werden nur ganz am Rande erwähnt. Gewiß ist es von Interesse, die Eigenheiten des Werkes von C.G. Jung auf solche seiner Biographie zu beziehen, doch darf dies nicht dazu führen, das eine auf das andere zu reduzieren. Selbst wenn man jenen boshaften Theorien folgen wollte, die das Jungsehe Werk gewissermaßen als das Produkt eines Geisteskranken auszeichnen und wiederholt den Vergleich mit Nietzsche bemühen (dem Jung sich nach eigenem Bekunden in frtihen Jahren eng verbunden gefühlt hat) so erschöpft sich doch in keinem Falle das Werk in der psychischen Disposition seines Verfassers. Vor allem mit Blick auf die zum Teil sehr umständliche Ausdrucksweise Jungs, auf seine Neigung, Begriffe mit ungewöhnlichen Bedeutungen zu belegen und auf die häufigen WidersprUche, die sein Werk kennzeichnen und die Erschließung des Gemeinten nicht gerade erleichtern, sei schließlich noch erwähnt, daß die vorliegende Arbeit selbst einem hermeneutischen Standpunkt verpflichtet ist, von dem aus sich ihre Aussagen als bloße Möglichkeiten des Verstehens ausweisen. Abschließend obliegt es mir, Herrn Prof. Dr. Andreas Hoyer meinen aufrichtigen Dank dafür auszusprechen, daß er es mir ermöglicht hat, diese Arbeit anzufertigen, und daß er mir die Freiheit belassen hat, sie nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Herrn Rechtsreferendar Sebastian Fairhurst danke ich für die Durchsicht des Manuskripts, meinen Eltern für ihre Unterstiitzung.
Regensburg, im August 1997
M K. S. Löffelmann
Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel
Einleitung §I
Die Bedeutung der Analytischen Psychologie flir die Rechtsphilosophie... ..
19
§2
Tiefenpsychologie I: die Psychoanalyse von S. Freud ..................................
22
§3
Tiefenpsychologie II: die Analytische Psychologie von C.G. Jung..............
29
Zweites Kapitel
Dialektik
§4
Methodische Fragen......................................................................................
39
I. Abschnitt Erkenntnisse der vergleichenden Rechtsanthropologie §5
§6
§7
Bezüge zwischen Religion und Gesetz..........................................................
43
A. Zeugnisse der Verbindung von Religion und Recht.................................
43
B. Das Gesetz im Alten Testament................................................................
44
C. Das Gesetz im Neuen Testament..............................................................
47
D. Säkularisiertes Rechtsverständnis .............................................................
52
E. Der Ertrag..................................................................................................
55
Recht und Religion in primitiven Kulturen...................................................
55
A. Das Verhältnis von Recht und Religion...................................................
55
B. Die "Unvollkommenheit" primitiven Rechts ............................................
57
C. Entwicklungstendenzen ............... .... .. ..... .. .. ... ...... .. .. ............ ............. ........
58
D. Entwicklungen in der Rechtsanthropologie..............................................
61
E. Der Ertrag........................... .......................................................................
62
Märchen und Moral .. .. .. .... ... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..
63
A. Vornormen im Märchen.. .........................................................................
63
B. Das dualistische Weltbild.. .......................................................................
63
C. Recht und Gerechtigkeit .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .
64
D. Ethik des Erfolgs und Ethik des Geschehens............................................
66
12
§8
§9
Inhaltsverzeichnis E. Besonderheiten der chinesischen Volkserzählung ....................................
68
F. Der Ertrag................. ..... ............................................................................
70
Westliches und östliches Denken..................................................................
71
A. Das Problem.............................................................................................
71
B. Der Ahnenkult und die Vorgänge während der Achsenzeit......................
72
C. Der Einheitsgedanke .................................................................................
75
D. Der Gegensatz von Ost und West......... ....................................................
78
E. Begegnung der Kulturen................... ........................................................
81
F. Der Ertrag........................... .......................................................................
85
Recht im östlichen Denken............................................................................
85
A. Der Rahmen.................. ............................................................................
85
B. Die vorkonfuzianische Zeit.......................................................................
87
C. Der historische Streit ................................................................................
89
D. Der Einheitsgedanke im Recht .................................................................
93
E. Besonderheiten des chinesischen Rechts ........ ............... ... .. ............. .........
95
F. Der Ertrag..................................................................................................
98
Zweiter Abschnitt Erkenntnisse der Analytischen Psychologie § 10
§ 11
Anthropologische Ansätze bei Jung .. .. .. .......... .............. ........................ ........
99
A. Der archaische Mensch...... .......................................................................
99
B. Die Zivilisation.........................................................................................
101
C. Die Entwicklung.......................................................................................
103
D. Der Ertrag.......... .......................................................................................
I 05
Das Phänomen der Religion aus der Sicht Jungs.... ....................................... I 05 A. Die numinose Erfahrung...........................................................................
105
B. Die psychologische Bedeutung.................................................................
108
C. Der Standort der Interpretation Jungs ...... ..... ............ ........... ......... ............ 110 D. Der Ertrag............ ..................................................................................... 111 § 12
Analytische Psychologie und Märchenforschung ......................................... 112 A. Der Beitrag Freuds....................................................................................
112
B. Märchen als Bearbeitungen archetypischer Inhalte...................................
112
C. Märchen und Ethik................................................................................... 114
D. Der Ertrag ................................................................................................. 115 § 13
Jung und das östliche Denken.......................................................................
116
Inhaltsverzeichnis
13
A. Die Symbolik des Ostens. ......................................................................... 116
§ 14
B. Psychologische Typen .. .. .. .. .. .... . .. .. ....... .. .. .. .... ............ ... .... ... . .. .. .. .. ....... ....
117
C. Westliche Parallelen................................................ ..................................
119
D. Schopenhauer, Nietzsche, Jung und der Osten.. .......................................
120
E. Der Ertrag....................... ...........................................................................
121
Analytische Psychologie und Ethik...............................................................
122
A. Der Beitrag Freuds.......... ..........................................................................
122
B. Der Beitrag von E. Fromm........................................................................
122
C. Gut und Böse bei Jung..............................................................................
124
D. Der Schatten.............................................................................................
127
E. Die Entwicklung............. ..........................................................................
129
F. Die ethische Forderung... ..........................................................................
131
G. Die "neue Ethik" von E. Neumann..... ......................................................
133
H. Das Böse bei L. Frey-Rohn ......................................................................
138
J. Der Ertrag ....................................................................................... .. ......... 140 Dritter Abschnitt Synthese
§ 15
Vorläufige Synthese und erneute Problemstellung:.......................................
141
A. Religion.......................................... ..........................................................
141
B. Anthropologie...... .....................................................................................
142
C. Märchen .. .. ..... .. .... . .. ........................ ... .. .. .. .. .. ... .. .. .. .. ........ .. .. .. ... .. .. .... .. .. .. .. . 144 D. Östliches Denken.............. ........................................................................
145
E. Moral und Ethik ........................................................................................
146
F. Die Entwicklung........................................................................................
147
G. Das Gesetz des Unbewußten................................................................ .....
149
H. Erneute Problemstellung...........................................................................
150
Drittes Kapitel
Analytik § 16
Tiefenpsychologie und Philosophie ... ................ ......................... ......... .........
152
Erster Abschnitt
Die empirische Fundiertheit der Theorien Jungs § 17
Problemeröffnung und Lösungsansätze.........................................................
155
14
§ 18
Inhaltsverzeichnis A. Die Selbsteinschätzung Jungs...................................................................
155
B. Analytische Psychologie als Natur- und Geisteswissenschaft..................
160
C. Analytische Psychologie als ganzheitliche Wissenschaft............. ............
161
D. Analytische Psychologie als phänomenologische Wissenschaft..............
162
E. Der Rückgang auf Freud .......... .... .... .. ....... ... .. .... .. ................. ..... .. ... .... ......
164
F. Tiefenpsychologie als kausal erklärende Wissenschaft.............................
165
Die Kritik Poppers: Der Vorwurf der Immunisierung............... ....................
168
A. Die dogmatische Haltung der Tiefenpsychologie ........................... ..........
168
B. Übertragung und Kritik............................................................................. 170 § 19
Die Kritik Grünbaums: Der Suggestionsvorwurf.......................................... 173 A. Der zweifache Vorwurf der Suggestion....................................................
173
B. Das Übereinstimmungsargument. .. .. .... .. .. .. ...... ....... .... .. ... .... .. ... .. .. ...... .... .. 176
§ 20
C. Die intraklinische Überprüfbarkeit ...........................................................
180
D. Thematische Analogien.. ..........................................................................
181
Finalität und Teleologie.................................................................................
182
A. Finale Erklärungen ... ...... ... .. ... ... ........................ .. .................. ... .... ............
182
B. Differenzierungen..................................................................................... 183 C. Übertragung................ .............................................................................. § 21
184
Hermeneutik.................................................................................................. 186 A. Problemaufwurf........................................................................................
186
B. Hermeneutisches Verstehen.... ..................................................................
187
C. Der Wert hermeneutischen Verstehens. .. .... ... ..... ...... .... ........ .... ..... ...........
188
D. Das Verhältnis von Erklären und Verstehen.. ........................................... 194 E. Tiefenpsychologische Hermeneutik.......................................................... 201 § 22
Inhaltliche Unstimmigkeiten I: Anthropologie..... ......................................... 206 A. Der generelle Vorwurf der Ethnozentrizität... ..... .. ..... .... .. .. .. ..... ... ... ..... .. ... 206
B. Ausprägungen bei Jung............................................................................. 207 § 23
Inhaltliche Unstimmigkeiten II: Märchen, Mythen und Symbole................. 214 A. Bei der Behandlung des Märchenmaterials ... ............. .... .. .. .. .. .... .... .... ...... 214
B. Bei der Behandlung des Mythenmaterials ....... ................ .... ............. ..... ... 219 C. Bei der Interpretation von Symbolen ........................................................ 223 Zweiter Abschnitt Erkenntnistheoretische Fragen
§ 24
Der Begriff des Archetypus: Definitionen und Widersprüche....................... 227
Inhaltsverzeichnis A. Die Begriffsentwicklung...........................................................................
15 227
B. Apriorische Strukturen der Psyche........................................................... 228 C. Vererbte Strukturen der Psyche .. .. .... .. ... .... .. .. .. .. .... ... .................. ........... ... 228 D. Noumena........................... ........................................................................ 230 E. Bilder........................................................................................................ 231 F. Abbilder der Instinkte ............................................................................... 233 G. Strukturen schlechthin.............................................................................. 234 H. Ein Textbeispiel ........................................................................................ 235 § 25
Psychologismus und Phänomenalismus........................................................ 237 A. Das "esse in anima" ..................................................................................
237
B. Die Wirklichkeit des Psychischen............................................................. 239 C. Der Begriff des Psychologismus...............................................................
24 I
D. Der Psychologismus bei Jung................................................................... 243 E. Die begriffliche Konfusion .. .. .. .. .. .. ................ .... .... ..... .. .. ..... .... .......... ... .. .. 246 F. Die Klärung der Begriffe........................................................................... 248 § 26
Monistische Ansätze........... ................................................................. .......... 249 A. Die psycho-physische Realität....................... ...........................................
249
B. Der Archetypus als ontologische Struktur ................................................ 251 C. Östliche Parallelen .. .......... .. .... ..... .. .. ... ... ... ..... ..... ....... ... ..... .. .... .. ..... .......... 252
D. Parallelen in der modernen Physik........................................................... 256 § 27
Der "phänomenologische Standpunkt" ......................................................... 257 A. Phänomenologie ... .. .. ..... ....... .... .. .. ................... .... .................. .... .. .. ... .. ... .. . 257
B. Analytische Psychologie als Phänomenologie? ........................................ 258 C. Die Psyche als Phänomen .. .. .. .. .. .. .. ...... ...... .. .. ... .. .. .. .. ...... .. .. .. .. .. .. ..... .. ....... 261 D. Phänomene und Tatsachen ....................................................................... 263 E. Die phänomenologische Psychologie ...... .... .. ... .. ... .......... .... .. ............. ... .. . 265 F. Einwände gegen die Phänomenologie....................................................... 267 § 28
Konfrontation I: Existenzialismus ................................................................. 270 A. Annäherung ............. ....... ... ...... .. .. .... .. ............. ...... ........................ ... .. ....... 270 B. Die Kritik des Unbewußten bei Sartre ...................................................... 272 C. Die Parallelen............................................................................................
274
D. Kritik ........................................................................................................ 275 § 29
Konfrontation Il: Evolutionäre Theorien....................................................... 279 A. "Evolution" in der Analytischen Psychologie ......................... ,................ 279
B. Evolutionäre Theorien ... .. .. ............. ................ ...... ............................... ..... 280
16
Inhaltsverzeichnis C. Kritik.............................. ........................................................................... 282
§ 30
Objektivität und der externe Standpunkt....................................................... 286 A. Das Problem der Objektivität in der Analytischen Psychologie............... 286
B. Die philosophische Bedeutung ... .. ...... .. .. .. .. ... ..... .... ....... .. .... .. ... .. .... ..... ..... 288 C. Die Unmöglichkeit perfekten Wissens...................................................... 290
D. Die Möglichkeit von Wissen in der Tiefenpsychologie........................... 292 Dritter Abschnitt Ethische Fragestellungen § 31
Problemaufwurf .. .. .. .. .. ...... ..... .. ..... .. .. .. .. .. .. .. .... ... ..... .. ..... .. .. .. .. ... ... .. ...... ..... .. .. 295 A. Begriffsbestimmungen.............................................................................. 295
B. Erste Beschreibung der erneuerten Ethik.................................................. 295 § 32
Die Realität von Gut und Böse...................................................................... 296 A. Ontologische Wirklichkeit........................................................................ 296
B. Psychische Wirklichkeit ........................................................................... 299 § 33
Urteile, Werte und die Möglichkeit einer erneuerten Ethik........................... 301 A. Der dogmatische Charakter der Urteile ........... ....... .................. .. .... .......... 30 I
B. Der ethische Charakter des Urteilens ........................................................ 302 C. Der Gegenstand der erneuerten Ethik .......................................................
304
D. Die Möglichkeit einer erneuerten Ethik........... ......................................... 305 § 34
Begründbarkeit einer erneuerten Ethik.......................................................... 307 A. Die Begründung des ethischen Gebots ..................................................... 307 B. Die Begründbarkeit des ethischen Gebots........ ........................................ 308 C. Kriterien der deontischen Logik .......... ........ .. ................... .................. ...... 310 D. Das Bekenntnis ............... ... ,...................................................................... 311 E. Die psychische Realität des So IIens. ......... ......... ........... .............. ..... .. ...... . 314
§ 35
Das Problem der Freiheit............................................................................... 316 A. Determination durch das Unbewußte ...... .... ... ................... .. ........ ... .. ..... ... 316 B. Erster Lösungsansatz ................................................................................ 320 C. Zweiter Lösungsansatz.............................................................................. 320 D. Dritter Lösungsansatz ............................................................................... 323
§ 36
Der Zusammenhang....................................................................................... 328 A. Die Struktur der ethischen Handlung ...... ... .... .. ............................ ... .. ....... 328
B. Würdigung ................................................................................................ 330
Inhaltsverzeichnis
17
Viertes Kapitel Weiterführende Ansätze und Ergebnisse
§ 37
Pluralismus und das Gebot der Vorsicht.......... .............................................
332
§ 38
Dichotomien und Dichotomisierungen..........................................................
339
§ 39
Synepeik ........................................................................................................
338
§ 40
Standortbestimmung...................................................................................... 343
§ 41
Analytische Psychologie und der Zeitgeist........... .........................................
346
§ 42
Entwurf einer "bereinigten" Archetypentheorie ............................................
353
§ 43
Das "Gesetz des Unbewußten" ......................................................................
Literaturverzeichnis ....................... .... ... ....... ......................... ........................... ...... . Register...... ........................ ............... ........... ..................... .................... ...... .. ... ........
2 Löffelmann
357 364 373
Erstes Kapitel
Einleitung § 1 Die Bedeutung der Analytischen Psychologie für die Rechtsphilosophie
Die Psychologie schreibt erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine eigene Geschichte. 1 Als Zeitpunkt ihrer beginnenden Emanzipation von der Philosophie wird allgemein das Jahr 1879 angesehen, als Wilhelm Wundt an der Universität Leipzig das erste Institut fur experimentelle Psychologie gründete. Obwohl sich die Psychologie im Laufe dieses Jahrhunderts als eigenständige, empirische Wissenschaft etablieren konnte, ist sie in vielfacher Hinsicht mit der Philosophie verknüpft. Stellvertretend können hier die Namen Franz Brentano, der 1874 in seiner "Psychologie vom empirischen Standpunkt" die Intentionalität des Bewußtseins zum eigentümlichen Merkmal des Psychischen erklärte, und William James, der 1890 seine monumentalen "Principles of Psychology" als Kompendium alles seinerzeit verfugbaren psychologischen Wissens veröffentlichte, stehen, mit denen sich, motiviert durch psychologische Fragestellungen, die Entstehung der Philosophie des Geistes als eigener, die Problematik des Bewußtseins thematisierender Teilbereich der Philosophie verbindet. Zieht man in Betracht, was neuerdings unter dem Titel "Kognitionswissenschaften" firmiert, kann man von einer erneuten Annäherung der beiden Disziplinen sprechen. Die Philosophie des Geistes ist zu einem großen Teil Transzendentalphilosophie. In ihren transzendentalphilosophischen Aspekten, die die Struktur des Jungsehen kollektiven Unbewußten als ein Apriori der Erfahrung betreffen, wird auch die Analytische Psychologie hier Beachtung finden. Die Philosophie des Geistes thematisiert desweiteren das Subjekt-Objekt-Schema des Erkennens, die Problematik des psycho-physischen Dualismus, und das "otherminds"-Problem. Jung bietet Lösungsmöglichkeiten an. Sein "esse in anima" beansprucht, zwischen dem "esse in intellectu" der Nominalisten und dem "esse in re" der Realisten zu vermitteln. Eine gemeinsame Realität von Psyche und Physis soll ungewöhnliche Koinzidenzen, Telepathie und telekinetische Erscheinungen erklären. Die "Archetypen" der "objektiven Psyche" schaffen nach Jung erst die Möglichkeit intersubjektiven Verstehens. 1 Zur Entwicklung des Verhältnisses von Psychologie und Philosophie vgl. z.B. K. Sachs-Hombach, Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, p. 13 ff.
20
I. Kapitel: Einleitung
Beruhrungen zwischen Psychologie und Bewußtseinsphilosophie ergeben sich auch über den Begriff des "Unbewußten". Die Geschichte der "Entdekkung" des Unbewußten hat H.F. Ellenherger in dem von ihm verfaßten Standardwerk nachgezeichnet. 2 Danach war die Idee eines "Unbewußten" im 19. Jahrhundert weit verbreitet: Antizipationen finden sich bei Leibniz, Schelling, Schopenhauer und Nietzsche, die als Wegbereiter der Psychoanalyse gelten. Schon 1966 hat J. W. Hüllen die philosophische Tradition, in der das Werk C.G. Jungs steht, herausgearbeitet, ohne allerdings auf das Verhältnis des Jungsehen Werkes zur Gegenwartsphilosophie näher einzugehen. 3 Hüllen hebt insbesondere hervor die Nähe zu den Philosophien von Platon, Aristoteles, Descartes, Hume, Kant, Fichte und Schelling. Vor allem Grundvorstellungen der romantischen Tradition, die maßgeblich den Begriff des "Unbewußten" mit geprägt hat, finden sich bei Jung wieder: die Deutung des Weltgeschehens als dynamisches Wechselspiel antagonistischer Kräfte, die Rede von den "Urphänomenen", die Bedeutung "erlebenden", "einfiihlenden" Verstehens, der Gedanke der "Individuation" und die Betonung des Irrationalen, Traumhaften, Symbolischen, Magischen, Mystischen und Akausalen. 4 Die Psychologie des Unbewußten begleitet also ein weitläufiger philosophischer Kontext. Im Zusammenhang mit dem "empirischen" Nachweis des Unbewußten durch Freud sind schließlich neuartige philosophische Probleme aufgetaucht, wie etwa die schwierige wissenschaftstheoretische Frage nach der Einordnung der Tiefenpsychologie als Wissenschaft. Welche Maßstäbe können an solch eine Wissenschaft und die von ihr entwickelten Methoden angelegt werden, und wann kann eine Erkenntnis als "empirisch fundiert" gelten? - Der Zugang zum Phänomen des Bewußtseins ist durch seine Asymmetrie gekennzeichnet. Zu meinem eigenen Bewußtsein habe ich einen unmittelbaren Zugang, von einem fremden kann ich hingegen nur mittelbar wissen, durch Beobachtung des Verhaltens, durch Berichte, eventuell durch Gehirnstrommessungen. Daraus ergeben sich schwierige epistemologische Fragen. "Behaviourismus" und "Funktionalismus" sind Reaktionen auf diese Problematik, die im Hinblick auf das Unbewußte noch eine Potenzierung erfährt. Psychologische und philosophische Fragestellungen sind auf diese Weise vielfach miteinander verknüpft. Damit ist in groben Zügen die allgemein-philosophische Bedeutung der Analytischen Psychologie umrissen. Von daher ist sie auch fiir die Beantwortung rechtsphilosophischer Fragestellungen von Interesse. In diesem Teilbereich der Philosophie geht es insbesondere um den wichtigen Bereich des WertH.F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten (1973). J.W. Hüllen, Die philosophischen Relationen der Komplexen Psychologie C.G. Jungs (1966). 4 Vgl. auch H.F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, p. 286 ff., 981 f. 2
3
§ I Die Bedeutung der Analytischen Psychologie flir die Rechtsphilosophie
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erkennens sowie um die Klärung der Herkunft der Norm und ihrer Legitimation, was von entscheidender Bedeutung für die Behandlung des NaturrechtPositivismus-Streits ist. Außerdem rücken in jüngerer Zeit zunehmend wieder praktische Themen sozial- und geschichtskritischer Art in den Vordergrund. Daneben wirft sich stets von neuem die Frage nach dem ethisch wertvollen, dem richtigen Handeln auf- Ethik als praktische Philosophie. Diese Themen werden auch von Jung aufgegriffen und zum Teil originellen Lösungen zugeführt. Insbesondere die von ihm entworfene "erneuerte" Ethik muß Beachtung finden . Hier stellt sich die schwierige Frage nach dem Determiniertsein der Handlung durch das Unbewußte. Der Bereich des Werterkennens wird durch die umfassenden Studien zum Gewissen und zu Gut und Böse aus psychoanalytischer Sicht abgedeckt. Vor allem aber kann die Archetypentheorie für die Frage nach der Herkunft des Rechts fruchtbar gemacht werden. Recht ist auch ein Produkt der Kulturentwicklung, deren Prozesse die Analytische Psychologie auf der mentalen Ebene untersucht. Eine Begründung des Rechts aus in der Psyche des Menschen verankerten, empirisch nachweisbaren "Urphänomenen", den Archetypen, könnte einen "dritten Weg" jenseits von Naturrecht und Positivismus bedeuten. Bemerkenswert ist, daß die Archetypenlehre auf seiten der Rechtsphilosophie gedankliche oder zumindest terminologische Entsprechungen hat, die zu einer rechtsphilosophischen Auseinandersetzung mit den Überzeugungen Jungs geradezu herausfordern. Abgesehen von Platons Ideenlehre, auf die sich vergleichend auch Jung bezog, erschien es insbesondere Friedrich Carl von Savign/ ein verlockender Gedanke zu sein, die Herkunft der Norm aus dem "Volksgeist" zu begründen. In neuerer Zeit stützt John Rawls6 seinen Gesellschaftsvertrag auf einen fiktiven "Urzustand". Ronald Dworkin7 fragt nach den "General Principles of Law" und bemüht eine mythologische Gestalt, Herkules, um zur einen, richtigen Lösung des Rechtsstreits zu gelangen. Artbur Kaufmann äußert die Annahme, "daß es in der Tat so etwas gibt, wie ein allgemeines Rechtsbewußtsein der Menschheit." 8 Wolfgang Fikentscher widmet seine monumentalen philosophisch-anthropologischen Untersuchungen in den "Methoden des Rechts" der Frage nach dem objektiven Recht als dem methodischen Kernproblem der Rechtswissenschaft, und begibt sich zur Klärung dieser Frage zurück bis zu den Rechtssystemen archaischer Zeiten.9 In der vergleichenden Rechtsanthropologie wird nach empirischen Nachweisen der Verwur5 F.C. v. Savigny in: Thibaut und Savigny, Ein programmatischer Rechtsstreit, p. 69 ff., bes. 77 ff. 6 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit ( 1971 ). 7 R. Dworkin, Law's Empire (1986). 8 A. Kaufmann, Das Schuldprinzip, p. 85, 110. 9 W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I (1975).
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I. Kapitel: Einleitung
zelung des Rechts in Geist und Gebaren eines Volkes gesucht. Ähnliches gilt, sofern sich die Rechtsphilosophie volkstilmlichen Erzählungen oder Mytholo. zuwen det. 10 g1en Diese terminologischen Ähnlichkeiten, hinter denen sich das fundamentale Problem der Universalisierbarkeit der Nonnen verbirge 1, lassen an die Einnahme einer Perspektive denken, durch die das gemeinsame "Urtilmliche" oder "Archetypische", worauf sich die erwähnten Modelle und Vermutungen beziehen, thematisiert wird. Das Fundament, auf dem wir als ethisch verantwortliche Persönlichkeiten und als uns ein Normensystem gebende oder ihm unterworfene, nach objektiven Werten suchende Mitglieder einer Gesellschaft stehen, könnte das aus "Archetypen" bestehende "kollektive Unbewußte", die "objektive Psyche" sein.
§ 2 Tiefenpsychologie 1: die Psychoanalyse von S. Freud Der Name Sigmund Freuds ist unlösbar mit der Bewegung der Psychoanalyse verknilpft. Obschon Freud als "Urvater" der Psychoanalyse gilt, und einige seiner Beiträge, wie etwa die Assoziationsmethode, den Anspruch genießen, "höchst genuine Erfindung(en)" 12 des "verehrten Urhebers" zu sein, steht sein Werk nicht bezuglos in der Geschichte der Tiefenpsychologie. Die Entwicklung der dynamischen Psychiatrie stellt vielmehr eine kontinuierliche Kette dar, ausgehend "von primitiver Heilkunst zum Magnetismus, vom Magnetismus zum Hypnotismus, vom Hypnotismus zur Psychoanalyse und zu den neueren dynamischen Schulen" 13 , die sich vor der Beeinflussung durch einen "sozioökonomischen und politischen Hintergrund" 14 vollzog, und in die Bildung jener vier Systeme mUndete, die heute gemeinhin mit dem Begriff "Psychoanalyse" assoziiert werden, nämlich: die psychologische Analyse Pierre Janets, die Psychoanalyse Sigmund Freuds, die Individualpsychologie Alfred Adlers sowie die analytische Psychologie Carl Gustav Jungs. Wenn hier nur die Lehren S. Freuds und C.G. Jungs eine nähere Berilcksichtigung finden 15, so geschieht dies einerseits aufgrundder Tatsache, daß diesen beiden Werken von fachlicher Seite die größte Bedeutung filr die dynamische Psychiatrie zukommt, so daß ihre Ergebnisse, vom nicht-fachlichen Standpunkt aus betrachtet, als am anerDazu unten §§ 7, 9. Vgl. dazu auch A. Kaufmann, Vergleichende Rechtsphilosophie, p. 636 ff. 12 L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 251. 13 H.F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, p. 7. 14 ib. p. 1173. 15 Eine ausfuhrliehe Darstellung der frühen Entwicklung der dynamischen Psychiatrie findet sich bei H.F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten (1973) und bei L. Frey-Rohn, Die Anfänge der Tiefenpsychologie (1969). 10 11
§ 2 Tiefenpsychologie 1: Die Psychoanalyse von S. Freud
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kanntesten gelten können; andererseits diese beiden Lehren aber auch im interdisziplinären Rahmen große Beachtung gefunden haben - nicht zuletzt wohl ihrer ambivalenten Stellung zueinander und ihrer Radikalität wegen. Besonders die Freudschen Methoden und Erkenntnisse haben, gewissermaßen stellvertretend ftir andere Mitglieder der psychoanalytischen Bewegung, zu reger Kritik seitens wissenschaftstheoretischer, soziologischer, pädagogischer, psychologischer und philosophischer Forschung geführt. Aber auch das Jungsehe Denken beinhaltet, obwohl es im Vergleich zu Freud- abgesehen von der theologischen Forschung - erst geringste Rezeption seitens des wissenschaftlichen Bewußtseins erfahren hat, einen hohen Grad an philosophischer Bedeutung. Die Genese des Jungsehen Denkens beginnt in der Gefolgschaft Freuds. Nach dem Bruch mit Freud im Jahre 1913- namentlich als Folge des Erscheinens von "Wandlungen und Symbole der Libido" (1911112) 16 -, ging Jung mehr und mehr eigene Wege, was sich äußerlich in der Umbenennung seiner Lehre zunächst in "Komplexe Psychologie", später dann in "Analytische Psychologie" kundtat. 17 Da die Lehre C.G. Jungs insofern aus dem Freudschen System hervorgeht und durch Gegnerschaft zu ihm motiviert ist, dessen Verständnis also voraussetzt, soll die Konzeption Freuds zunächst in Kürze erinnert werden.18 1895 erschienen die Breuer-Freudschen "Studien über Hysterie" 19, die Jung als das "Anfangswerk" der Psychoanalyse würdigte. 20 Darin entwickelte Freud bereits das Fundament seiner gesamten späteren Theoriebildung, das auf der Breuerschen Entdeckung beruhte, daß die krankheitsverursachenden "Vorstellungen" Erinnerungen an Vorkommnisse sind, welche man als traumatisch (verwundend) bezeichnen kann. Bahnbrechend an dieser Entdeckung war die Erkenntnis, daß das affektbetonte Erlebnis zum Zwecke der Abwehr durch einen Dissoziationsmechanismus ins Unbewußte abgeschoben werden konnte, wo sich der ursprüngliche Konflikt zwischen Ich und Trauma fortsetzte und zur Symptombildung führte. Die Neurose konnte somit als "das Ergebnis eines mißglückten Abwehrversuches seitens des lch" 21 erklärt werden. Damit einher Neubearbeitung: Symbole der Wandlung (1952) in JGW 5. A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 173. 18 Die Theorien und Erkenntnisse der beiden Psychologen werden in der nachfolgenden Darstellung nur in den Grundzügen veranschaulicht, die notwendig für das Verständnis der vertiefenden Ausführungen in den Kapiteln sind, die sich mit interdisziplinären Fragestellungen beschäftigen. Neben dem Werke H.F. Ellenhergers finden sich ausführliche, vergleichende Gegenüberstellungen der Systeme Freuds und Jungs bei: L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung (1969). und bei: R. Fetscher, Grundlinien der Tiefenpsychologie von S. Freud + C.G. Jung in vergleichender Darstellung (1978). 19 FGW I, 75 ff. 20 JGW 4, 113. 21 L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 23. 16
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ging die Voraussetzung einer grundsätzlichen kausalen Deterrniniertheit neurotischer Symptome. Auf dieser Grundlage mußte Freuds Hauptanliegen zur Erforschung der Neurose die Aufdeckung der Krankheitsursache als conditio sine qua non der Heilung sein. Zu diesem Zwecke entwickelte er die "Methode des freien Einfalls" oder "Assoziationsmethode"22 , indem er es dem Kranken überließ, die Belebung der pathogenen Erinnerungen, die er von Anbeginn in verdrängten Kindheitserlebnissen sah 23 , selbst vorzunehmen, wobei der Arzt sich möglichst passiv zu verhalten hatte und der Patient die sogenannte "technische Grundregel" 24 zu befolgen hatte. Bei der Behandlung seiner Patienten mit dieser Methode machte Freud bald die Erfahrung, daß gravierende Hindernisse, die er als "Widerstand"25 bezeichnete, der Erinnerung der Kindheitserlebnisse entgegenstanden, indem sie die Verdrängung schützten bzw. den Verdrängungsaufwand verstärkten. Das Credo der therapeutischen Zielsetzung mußte nun also lauten: "Zuerst das Aufsuchen der Verdrängung, dann die Beseitigung des Widerstandes, welcher diese Verdrängung aufrecht hält." 26 Nachdem zuvor die Assimilation verlorener Erinnerungen ausschließlich durch die auf Fremdsuggestion beruhende Methode der Hypnose erfolgt war27 , glich die Leistung Freuds, die immer noch als eines seiner Hauptverdienste gewürdigt wird28 , einer "kopernikanischen Wende" in der Psychologie. Die mit dieser Methode gesammelten Erfahrungen ermöglichten Freud "als erstem in der medizinischen Psychologie, den empirischen Nachweis des Unbewußten" 29 als einer zusammenhängenden Einheit und Strukturierung des unbewußten ErZu Entwicklung und Bedeutung vgl. a.a.O. S. 251 ff. ib. 252. Dem lag die Auffassung zugrunde, daß "das Kind ( .. ) psychologisch der Vater des Erwachsenen" (FGW 17, 113) sei, die Freud in seiner späteren analytischen Erfahrung bestätigt gefunden hat. 24 Der Patient hatte "sich in die Lage eines aufmerksamen und leidenschaftslosen Selbstbeobachters zu versetzen, immer nur die Oberfläche seines Bewußtseins abzulesen und einerseits sich die vollste Aufrichtigkeit zur Pflicht zu machen, andererseits keinen Einfall von der Mitteilung auszuschließen, auch wenn man I) ihn allzu unangenehm empfinden sollte, oder wenn man 2) urteilen mUßte, er sei unsinnig, 3) allzu unwichtig, 4) gehöre nicht zu dem, was man suche." (FGW 13, 214 f.). 25 Diese Bezeichnung kann als Oberbegriff gelten und umfaßt die Arten des "Assoziationswiderstands", der der Kraft entspricht, die schon anfänglich die Bewußtwerdung des Traumas verhindert hatte, und der sich unter anderem in Gedächtnislücken, aber auch intellektuellen Widerständen manifestierte (FGW 1, 268 f., 297). des "Übertragungswiderstands", der eine Störung des Verhältnisses des Kranken zum Arzt, in dem er ein Vaterbild erkennt, sowie die Tendenz des Kranken, unbewußt infantile Verhaltensweisen zu wiederholen, verrät (FGW 8, 366). sowie der "Gegenbesetzung", einer besonders wirksamen, die Verdrängung schützenden Reaktionsbildung (FGW II, 374). 26 FGW 11, 453. 27 z.B. bei Janet, vgl. L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 254. 28 ib. p. 251. 29 ib. p. 24. 22 23
§ 2 Tiefenpsychologie 1: Die Psychoanalyse von S. Freud
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innerungsmaterials. 30 Die lückenlose und sinnvolle Verkettung des Erinnerungsmaterials31 und seine konzentrische Anordnung um einen affektbetonten "Kern- und Kristallisationsmittelpunkt"32 bedeuteten Freud den Nachweis einer seelischen Gesetzmäßigkeit, der dem naturwissenschaftlichen Kausalitätsanspruch genügen konnte. Die Annahme eines einfachen Kausalzusammenhangs erwies sich jedoch als unzureichend zur Erklärung der Symptomatik der Neurosen im allgemeinen, so daß Freud bald schon gezwungen war, diese sogenannte "Traumatheorie" aufzugeben. Sie wich zunächst der Auffassung, daß jede Krankheitsgeschichte in letzter Linie auf sexuelle Eindrücke aus frühester Kindheit zurückgehe, und erst später durch ein traumatisches Erlebnis die in der Kindheit geschaffene Disponierung in der Erkrankung zu Tage trete. Diese Theorie des sexuellen Kindheitstraumas war Freuds erste selbständige Hysterietheorie. 33 Es zeigte sich aber bald, daß keineswegs bei allen neurotischen Patienten Kindheitserlebnisse auszumachen waren, in denen sie Opfer oder Teilnehmer (Ohren- oder Augenzeugen) sexueller Handlungen gewesen waren.34 Das sexuelle Kindheitstrauma schien vielmehr phantasiert zu sein, was einerseits flir Freud einen großen Rückschlag bedeutete, da von einer "absoluten Realität" der phantasierten sexuellen Kindheitstraumen keine Rede mehr sein konnte, andererseits ihm aber auch die überragende Bedeutung der Sexualität flir die Ätiologie der Neurose vor Augen fiihrte, womit der Grundstein seiner "Sexualtheorie"35 gelegt war. Aus der bisherigen Annahme eines "sexuellen Kindheitstraumas" wurde so die "Theorie vom Infantilismus der Sexualität"36, die neben der "Verdrängungstheorie", (d.h. der Qualifizierung der Symptome als Ersatzprodukte flir Regungen, Wünsche und Phantasien, die um ihrer moralischen oder ästhetischen Peinlichkeit willen einer "Zensur" durch gewisse ethische Kon-
30 Gemeinhin gilt S. Freud nach eigenem Anspruch als der "Entdecker des Unbewußten". Tatsache ist, daß die Vorstellung der Existenz von dem Bewußtsein unzugänglicher Bereiche der Psyche im 19. Jh. durchaus verbreitet war, und Freuds "Entdeckung" ihre Vorläufer bei Leibniz, Schelling, Schopenhauer, Kant und Nietzsche hat (vgl. The Oxford Campanion to Philosophy, p. 885; H.F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, p. 286 ff., 434), was Freud, wie Ellenherger in seinem Buch durch die Aufdeckung des kulturellen Hintergrundes der Psychoanalyse überzeugend nachweist, wohl auch bekannt gewesen ist. Zweifellos, so Ellenberger, sei aber Freud als erstem der empirische Beweis des Unbewußten gelungen. 31 FGW I, 433 f. 32 FGW I, 182. 33 So Jung, JGW 15, 55. 34 FGW 17, 113 f. 35 S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie ( 1905), FGW 5, 27 ff. 36 S. Freud, Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen (1905), FGW 5, 154 ff.
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I. Kapitel: Einleitung
ventionen unterlagen und aus dem Bewußtsein verdrängt wurden)37 zu einem der beiden "Grundpfeilern der Psychoanalyse" 38 werden sollte. Dieses "Kernstück"39 Freudscher Psychologie findet sich noch in einer seiner letzten Arbeiten wieder, der elementaren Darstellung seines Lebenswerks, dem "Abriß der Psychoanalyse" 40 , wo die Gesamtkonzeption seines Systems übersichtlich wird, wie es sich aus den eben dargestellten grundlegenden Erkenntnissen entwickelt hat. Für Freud bedeutet das Seelenleben die Funktion eines psychischen Apparats, der aus mehreren Stücken zusammengesetzt ist und räumliche Ausdehnung besitzt, "den wir uns also ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop u. dgl.". 41 Dieser "Apparat" setzt sich zusammen aus drei psychischen lnstanzen, dem "Es", dem "Ich" und dem "Über-Ich". Das Es ist die älteste psychische Instanz; sein Inhalt ist ererbt und umfaßt in erster Linie die Triebe, welche abstrakt auf zwei Grundtriebe reduziert werden können: Eros (dessen Energie als Libido bezeichnet werden kann) und Thanatos (Destruktions-/Todestrieb), die je auf Schaffung größerer Einheiten bzw. auf Auflösung und Zerstörung gerichtet sind, und stets in Kombination miteinander auftreten. 42 Das Es gehorcht dem Lustprinzip und zielt auf Bedürfnisbefriedigung. Das Ich ist durch Einfluß der umgebenden realen Außenwelt aus der Rindenschicht des Es hervorgegangen. "Es hat von der bewußten Wahrnehmung her immer größere Bezirke und tiefere Schichten des Es seinem Einfluß unterworfen ( ... )". 43 Seine Aufgabe, die der Selbsterhaltung dient, ist die Vermittlung zwischen Es und Außenwelt, d.h. zwischen Triebanspruch und Möglichkeit der Triebbefriedigung. Dies geschieht durch Reizkontrolle nach außen und innen, d.h. das Ich vollzieht in der Regel die Herrschaft über die Triebe, lenkt 37 38 39 4
S. Freud, Über Deckerinnerungen (1899), FGW I, 529 ff., 537.
L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 26.
JGW 15, 56.
°FGW 17, 63 ff.
FGW 17, 67. FGW 17, 71 : "In den biologischen Funktionen wirken die beiden Grundtriebe gegeneinander oder kombinieren sich miteinander. So ist der Akt des Essens eine Zerstörung des Objekts mit dem Endziel der Einverleibung, der Sexualakt eine Aggression mit der Absicht der innigsten Vereinigung. Dieses Mit- und Gegeneinander der beiden Grundtriebe ergibt die ganze Buntheit der Lebenserscheinungen. Über den Bereich des Lebenden hinaus fuhrt die Analogie unserer beiden Grundtriebe zu dem im Anorganischen herrschenden Gegensatzpaar von Anziehung und Abstoßung. Veränderungen im Mischverhältnis der Triebe haben die greifbarsten Folgen. Ein stärkerer Zusatz zur sexuellen Aggression führt vom Liebhaber zum Lustmörder, eine starke Herabsetzung des aggressiven Faktors macht ihn scheu oder impotent." 43 FGW 17, 129. 41
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§ 2 Tiefenpsychologie I: Die Psychoanalyse von S. Freud
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ihre Unterdrückung, Sublimierung oder die Verschiebung ihrer Befriedigung (Realitätsprinzip). Dabei wird es durch Reizspannungen geleitet, deren Erhöhung "Unlust", und deren Erniedrigung "Lust" bedeuten. Die Erhöhung der Unlust wird als "Angst" wahrgenommen, die auf ihren Anlaß, die "Gefahr" deutet, die in erster Linie von der äußeren Realität mit ihren übermächtigen mechanischen Gewalten droht, aber auch durch übergroße oder mit der Außenwelt nicht vereinbare Triebstärken, vom Es selbst. Seine biologische Grundlage hat das Ich in der vorgebildeten Beziehung zwischen Sinneswahrnehmung und Muskelaktion. Das Über-Ich schließlich stellt eine Fortsetzung des elterlichen Einflusses dar, dem freilich auch der durch diese übertragene Einfluß von Familien-, Rassen- und Volkstradition, sowie des sozialen Milieus angehört. Das Über-Ich ist durch eine um das fiinfte Lebensjahr erfolgende partielle Verinnerlichung der objektiven Außenwelt entstanden und setzt die beobachtenden, befehlenden und strafenden autoritären Funktionen der Eltern fort, agiert sogar häufig noch mit einer größeren Strenge. Daher wird es als "Gewissen" empfunden. Die Hauptleistung des Über-Ichs besteht in der Einschränkung der Befriedigung. "Mit der Einsetzung des Über-Ichs werden ansehnliche Beträge des Aggressionstriebes im Innern des Ichs fixiert und wirken dort selbstzerstörend."44 Dies ist ein Preis der Kulturentwicklung, so daß Freud behaupten kann: "Der Barbar ( ... ) hat es leicht, gesund zu sein, fiir den Kulturmenschen ist es eine schwere Aufgabe."45 Daraus ergibt sich, daß "eine Handlung des Ichs( ... ) dann korrekt (ist), wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß." 46 Die Erfahrung zeigte Freud, daß den Trieben nicht die gleiche pathogene Rolle zukommt, sondern gewisse Partialtriebe des Sexuallebens fiir Verdrängung und Symptombildung offenbar besonders bedeutsam waren. Dies lag seines Erachtens daran, "daß keine andere Funktion im Laufe der Kulturentwicklung eine so energische und so weitgehende Zurückweisung erfahren hat wie gerade die sexuelle", die daher "sehr bedeutungsvoll fiir die Entwicklung vom Tier zum Menschen gewesen sein" muß. 47
FGW 17, 72. FGW 17, 112. 46 FGW 17, 69. 47 FGW 17, 112 f. 44 45
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I . Kapitel: Einleitung
Da der Mensch in seiner frühkindlichen Entwicklung in gedrängter Form die Stadien der phylogenetischen Evolution nachvollzog48 , lag es nahe, der kindlichen Sexualität besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Freud erkannte, daß das Sexualleben bald nach der Geburt einsetzte. Den Begriff "sexuell" verstand er in Abgrenzung zu "genital", als die Beschreibung einer Funktion der Lustgewinnung aus Körperzonen, die nachträglich in den Dienst der Fortpflanzung gestellt werden. Entsprechend der Bedeutung des jeweiligen Organs zu diesem Zwecke unterschied er die sexuelle Entwicklung des Kindes in eine orale (Lustgewinnung durch Lutschen), eine (sadistisch-) anale (Lustgewinnung durch Exkretion) und eine phallische Phase (Lustgewinnung durch Manipulation des Penis'), deren fließender Übergang in die genitale Phase mit der Ausprägung der vollen Organisation der Sexualfunktion mündet, die erst in der Pubertät erreicht wird. Störungen in dieser Entwicklung konnten sich laut Freud als Perversionen, z.B. als Homosexualität, manifestieren oder als eine Schwächung der genitalen Organisation, die eine Neigung der Libido bedingt, unter gewissen Umständen in die früheren prägenitalen Beziehungen zurückzukehren (Regression). Die früh-kindliche Sexualität erreicht ihren Höhepunkt in der phallischen Phase mit dem "zentralen Erlebnis der Kinderjahre". Die Rede ist vom "Ödipuskomplex", von dessen Entdeckung Freud selbst konstatierte: "Ich getraue mich zu sagen, wenn die Psychoanalyse sich keiner anderen Leistung rühmen könnte als der Aufdeckung des verdrängten Ödipuskomplexes, dies allein würde ihr den Anspruch geben, unter die wertvollen Neuerwerbungen der Menschheit eingereiht zu werden. " 49 Im Laufe der sexuellen Entwicklung des Kindes entfernt es sich mehr und mehr vom Zustand des absoluten primären Narzißmus, in dem die gesamte Libido gegen das Ich gerichtet ist und beginnt die Vorstellungen von Objekten mit Libido zu besetzen. Das erste erotische Objekt des Kindes ist die ernährende Mutterbrust, da sie das Nahrungsbedürfnis befriedigt und somit Lust hervorruft; später vervollständigt sich dies Objekt zur Person der ganzen Mutter, die in der Körperpflege "zur ersten Verfiihrerin des Kindes" und "Vorbild aller späteren Liebesbeziehungen" wird. Dies gilt für beide Geschlechter; die Vorgänge in der phallischen Phase sind aber bei Knaben und Mädchen getrennt zu betrachten. 48 FGW 17, III: "Der kleine Primitive soll in wenigen Jahren ein zivilisiertes Menschenkind geworden sein, ein ungeheuer langes Stück der menschlichen Kulturentwicklung in fast unheimlicher Verkürzung durchgemacht haben." Zu Darwins Einfluß auf Freud, siehe: H.F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, p. 324 f., 751 f. 49 FGW 17, 119 f. An dieser Aussage zeigt sich auch das Selbstverständnis, das Freud der Psychoanalyse und ihren Entdeckungen entgegenbrachte, die er mit dem Anspruch der uneingeschränkten Gültigkeit versah.
§ 3 Tiefenpsychologie II: Die Analytische Psychologie von C. G. Jung
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In der phallischen Phase wird der Knabe zum "Liebhaber der Mutter" und sucht den Vater bei ihr zu ersetzen, der - bisher Vorbild - nun zum Rivalen wird, den er beseitigen möchte. Diese Konstellation, die Freud in Anlehnung an die griechische Sage als "Ödipuskomplex" bezeichnet hat, findet ihr jähes Ende schließlich im "stärksten Trauma des Knaben jungen Lebens", dem Kastrationskomplex, der auf der Angst vor dem Verlust des Gliedes beruht und unübersehbare Folgen ftir das weitere Geschlechtsleben und die Charakterbildung hervorrufen kann. 50 Dieses ganze traumatische Erlebnis verfällt schließlich der Verdrängung, weil es aufgrund der Ambivalenz der Situation nicht bewältigt werden kann. Beim Mädchen gestaltet sich das Verhältnis zwischen Ödipus- und Kastrationskomplex entgegengesetzt zum Knaben. Die Erfahrung des Mangels eines (sichtbaren) dem Penis des Knaben analogen Organs fuhrt beim Mädchen zum Penisneid, der ein Geftihl der Minderwertigkeit erzeugt und zu einer (vorläufigen) Abwendung von der Sexualität fiihrt. 51
§ 3 Tiefenpsychologie II: die Analytische Psychologie von C.G. Jung Das Verhältnis Carl Gustav Jungs zu seinem Lehrer Sigmund Freud, war, in seiner Gesamtheit betrachtet, ein ambivalentes. Einerseits war Freud fiir Jung ein "verehrter Lehrer" 52 und eine "prophetische Figur"53 , andererseits stellte er unmißverständlich die Bedeutung seiner Person in psychoanalytischen Dingen in Frage, war Freud doch "ein ,Nervenarzt' (in dieses Wortes striktester Bedeutung)(... ) kein Psychiater, kein Psycholog und kein Philosoph." 54
°
5 FGW 17, 116 f.: "Die Mutter hat sehr wohl verstanden, daß die sexuelle Erregung des Knaben ihrer eigenen Person gilt. ( .. ) Sie glaubt, das Richtige zu tun, wenn sie ihm die manuelle Beschäftigung mit seinem Glied verbietet. ( ..) Endlich greift die Mutter zum schärfsten Mittel, sie droht, daß sie ihm das Ding wegnehmen wird, mit dem er ihr trotzt. ( .. ) wenn er sich bei der Drohung an den Anblick eines weiblichen Genitales erinnern kann oder kurz nachher ein solches Genitale zu Gesicht bekommt, ein Genitale, dem dies über alles geschätzte Stück wirklich fehlt, dann glaubt er an den Ernst dessen, was er gehört hat( .. )." Vgl. die phylogenetische Erinnerungsspur, die mitwirkt, a.a.O. FN I. 51 FGW 17, 120. "Wenn das kleine Weib bei ihrem ersten Wunsch beharrt, ein "Bub" zu werden, so wird sie im extremen Fall als manifeste Homosexuelle enden, sonst in ihrer späteren Lebensführung ausgeprägt männliche Züge zum Ausdruck bringen, einen männlichen Beruf wählen u. dgl." (a.a.O.) Hier zeigen sich die patriarchalischen Züge der Freudschen Theorie. 52 JGW 4, 109. 53 JGW 15, 59. 54 JGW 15, 53.
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I. Kapitel: Einleitung
Die Breuer-Freudschen "Studien über Hysterie", die Jung in zwei Arbeiten aus den Jahren 1908/1909 würdigte55 , sowie die Freudsche "Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre" stellten das "psychologische Rüstzeug" 56 dar, mit dem Jung seine eigene psychologische Forschung begann. Eine weitere Freudsche Arbeit, die er als "Freuds bedeutendstes Werk und zugleich (als) das anfechtbarste"57 bezeichnete und die ihm ihres Mutes wegen, sich gegen bestehende Konventionen zu wenden, höchst eindrucksvoll war58 , ist "Die Traumdeutung". 59 Wie erwähnt, erfolgte der Bruch mit Freud im Jahre 1913. Jungs "Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie"60 aus demselben Jahr, in dem er eine Interpretation der Freudschen Lehre vornimmt, deutet bereits Kritik an den Erkenntnissen seines Lehrers an. Neben vielerlei Verweisen in seinem ganzen Werk dienen insbesondere die Schriften "Der Gegensatz Freud und Jung" (1929)61 , "Sigmund Freud als kulturhistorische Erscheinung" (1932)62, "Sigmund Freud" (1939)63 sowie die berühmten "Zwei Schriften über Analytische Psychologie"64, in denen er eine erste Darlegung der eigenen Lehre vornimmt, der Würdigung des Werkes seines Vorbilds und Gegners als auch der eigenen Standortbestimmung. C.G. Jung war ein starker Kritiker Freuds und aus seinen- nicht immer ganz objektiven, aber von "bemerkenswerte(r) Voraussicht"65 fllr spätere Entwicklungen in der Psychoanalyse geprägten - Einwänden gegen Teile der Freudschen Theorie versteht sich auch sein eigener Standpunkt. Zwei grundsätzliche Kritikpunkte am Freudschen Werk lassen sich in den Äußerungen Jungs feststellen, die Jung schließlich veranlaßten, den Gegensatz zwischen ihm und seinem Lehrer als "auf Verschiedenheit prinzipieller Voraussetzungen" 66 beruhend zu charakterisieren. Es sind dies I. der Vorwurf an Freud, "den Menschen zuviel aus der pathologischen Ecke und seinen Defekten (zu) erklären"67, was 55 C.G. Jung, Die Hysterielehre Freuds. Eine Erwiderung auf die Aschaffenburgsche Kritik (1908), JGW 4, 1 ff.; id., Die Freudsche Hysterietheorie (1908), JGW 4, 11 ff. 56 L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 24. 57 JGW 15, 56. 58 JGW 15, 57. L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 20. 59 S. Freud, Die Traumdeutung (1900/01), FGW 2; 3. 60 JGW 4, 107 ff. 61JGW 4, 383 ff. 62 JGW 15, 43 ff. 63 JGW 15, 53 ff. 64 JGW 7; mehrmals überarbeitet, 1912, 1916, 1928, 1943, 1966. 65 A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 175 f. 66 JGW 4, 393. 67 JGW 4, 387. vgl. dazu FGW 17, 125, wo Freud von dem "Anrecht" spricht, "das normale Seelenleben aus seinen Störungen zu verstehen ( .. )." Die Begründung eines
§ 3 Tiefenpsychologie II: Die Analytische Psychologie von C. G. Jung
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in einen "circulus vitiosus" münde, als der ihm die Freudsche Psychologie erscheine, denn "ihr fehlt jede Möglichkeit, der unerbittlichen Klammer des biologischen Geschehens zu entgehen"68 ; und 2. Freuds subjektive Voreingenommenheit, die sich laut Jung darin niederschlägt, daß seine Sexualtheorie "in erster Linie wahrster Ausdruck seiner persönlichen Psychologie"69 ist und die sich in der Starrheit des Freudschen Systems wiederfindet, "dem man mit Recht Absolutismus vorwirft." 70 Die Bedeutung Freuds lag für Jung weniger in seinen Leistungen auf psychologischem Gebiee 1 als vielmehr in der Kulturbezogenheit seines Werkes, das er als die "Antwort auf die Krankheit des 19. Jahrhunderts" 72 , des viktorianischen Zeitalters73 , sah, also als Ausfluß der aufklärerischen Ideen, des wissenschaftlichen Materialismus und Rationalismus, und seinen Schöpfer als "großen Zerstörer", und "Exponenten des Ressentiments des beginnenden neuen Jahrhunderts gegenüber dem 19. (... )."74 Hierin und in der damit verbundenen rückwärtigen Orientierung ihrer Psychologie75 erkannte Jung auch die Schwäche des Freudschen Systems. 76 Den hinter diesen Merkmasolchen Anspruchs beseitigt freilich noch nicht den Vorwurf der Einseitigkeit einer solchen Sichtweise. 68 JGW 4, 391. 69 JGW 4, 386. 4, 387: "Er (Freud) ist selber das Schulbeispiel seiner Psychologie ( .. )." 70 JGW 15, 43. 4, 387: "Seine Psychologie ist die Psychologie eines neurotischen Zustandes von bestimmter Prägung, daher eine nur innerhalb des entsprechenden Zustandes gültige Wahrheit. ( .. ) auf eine nicht kritisierte, unbewußte Weltanschauung gegründet, welche geeignet ist, den Horizont des Erlebens und Schauens beträchtlich zu verengern.( .. ) Nie kritisiert er (Freud) seine Voraussetzung, nicht einmal seine persönlichen psychischen Prämissen." 71 JGW 15, 46 f.: "Wissenschaftlich hat die Theorie von der Säuglingssexualität wenig Wert ( .. ). Freuds welthistorisches Verdienst besteht nicht in diesen scholastischen Fehlgriffen der Deutung auf dem spezialwissenschaftlichen Gebiet, sondern in der seinen Ruhm begründenden und rechtfertigenden Tatsache, daß er, wie ein alttestamentlicher Prophet, falsche Götzen stürzt und mitleidslos die Fäulnis der zeitgenössischen Seele am Tageslicht ausbreitet." 72 JGW 15, 47. 73 JGW 15, 44: "Das viktorianische ist ein Zeitalter der Verdrängung, ein krampfhafter Versuch, anämische Ideale im Rahmen bürgerlicher Wohlanständigkeit durch Moralismus künstlich am Leben zu erhalten." 74 JGW 15, 46. 15 JGW 15, 60: "Die Freudsche Psychologie bewegt sich in den engen Grenzen der materialistischen Wissenschaftsvoraussetzung des ausgehenden 19. Jahrhunderts ( ..) So war es unvermeidlich, daß sie unter den Einfluß zeit- und ortsbestimmter Vorurteile und Ressentiments geriet(.. )." JGW 15, 48: "Er (Freud. Anm. d. Verf.) ist nicht nach vorwärts zu verstehen. Alles in ihm ist rückwärts orientiert( .. ) Nur, woher die Dinge kommen, interessiert ihn, nicht, wohin sie gehen." 76 Es ist hier aber zu beachten, daß Jungs Kritik an seinen Eindruck von der Freudschen Psychologie anknüpft, wie er ihn bis zum Bruch mit Freud gewonnen hatte. daraus resultieren eine aus heutiger Sicht vereinfachende Kritik und auch Irrtümer. (vgl. A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 176).
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I . Kapitel: Einleitung
Jen verborgenen anthropologischen und soziologischen "Vorurteilen" Freuds sah Jung sein eigenes System gegenüberstehen, das "den Menschen lieber aus seiner Gesundheit verstehen" 77 wollte und sich der erkenntnistheoretischen Grenzen seiner Ideen bewußt war78 , worin er selbst das Merkmal sah, das ihn am strengsten von Freud sonderte. 79 Das Forschungsobjekt von Freud und Jung ist zunächst dasselbe: die menschliche Psyche, davon besonders der Bereich des dynamischen Unbewußten, durch dessen Anerkennung die beiden Psychologen sich von den bis dahin herrschenden Richtungen der akademischen Psychologie abgrenzten. 80 Wie erwähnt, ist Freuds Sammlung von Erfahrungsmaterial über das Unbewußte und die Mechanismen der Psyche unlösbar mit seiner Methode des freien Einfalls verknüpft, die auch den Ausgangspunkt des Jungsehen Forschens darstellt.81 Seine Zielsetzung unterschied sich von derjenigen Freuds allerdings insoweit wesentlich, als es ihm nicht nur um die Aufdeckung eines Ursachenzusammenhangs zwischen dem Symptom und seiner Herkunft ging, sondern vielmehr um das Verstehen psychischer Entwicklungslinien und der Bedeutungsmittelpunkte der unbewußten Psyche. 82 Im Gegensatz zum Freudschen kausal-reduktiven Ausgangspunkt, der dessen rückwärtiger Orientierung entsprach, war Jungs Fragestellung von vomherein prospektiv-konstruktiv und final-sinn-orientiert.83 Die Freudsche Methode erschien ihm daher mehr und mehr als ungeeignetes Instrument, den Sinngehalt und die Entwicklungslinien in der unbewußten Psyche zu enthüllen84, was ihn zu einer Ergänzung des re77 JGW 4, 387. 4, 392: "Der Arzt darf sich nicht in den pathologischen Winkel verkriechen und sich krampfhaft der Einsicht verschließen, daß auch die kranke Seele eine menschliche Seele ist, die unbeschadet ihrer Krankheit doch am Ganzen des seelischen Lebens der Menschheit unbewußt teilhat." 78 Was Jung immer wieder betonte und seinen Kritikern entgegenhielt, vgl. JGW 4, 385 f., 388. 79 JGW 4, 388. 80 Vgl. R. Fetscher, Grundlinien, p. 15. 81 Vgl. L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 259, 261. 82 ib. p. 259. 83 ib. p. 261. R. Fetscher, Grundlinien, p. 16. 84 JGW 7, 49: "Ein Mensch ist nur halb verstanden, wenn man weiß, woraus alles bei ihm entstanden ist. ( .. ) Als Lebender ist er aber nicht begriffen. denn das Leben hat nicht nur ein Gestern, und es ist nicht erklärt, wenn das Heute auf das Gestern reduziert wird." JGW 8, 464: "Das Leben ist sogar das Teleologische par exce!lence, es ist Zielstrebigkeit selber, und der lebende Körper ist ein System von Zweckmäßigkeiten, welche sich zu erfüllen trachten. Das Ende jeglichen Ablaufs ist sein Ziel." "It cannot be disputed that, psychologically speaking, we are living and working day by day according to the principle of directed aim or purpose as weil as that of causality .. What is plainly directed towards a goal cannot be given an exclusively causalistic explanation, otherwise we should be Ied to the conclusion expressend in MOLESCHOTTs famous dictum: Man ist, was man ißt .. We must always bear in mind, that causality is a point ofview. It affirms the inevitable and immutable relation of a series of events: a-b-c-z, ..
§ 3 Tiefenpsychologie II: Die Analytische Psychologie von C. G. Jung
33
duktiv-analytischen Verfahrens durch ein synthetisches Verfahren veranlaßte85, das in der Begründung der Amplifikationsmethode oder Methode des gebundenen Einfalls seinen Ausdruck fand. Im Gegensatz zur linear verlaufenden Technik des freien Einfalls war diese formal gesehen radiärer, inhaltlich hingegen hermeneutischer Natur. 86 Die Ergebnisse seiner Untersuchungen bedeuteten Jung schließlich die Bestätigung der Existenz eines unpersönlichen Bereichs des Unbewußten, das er "kollektives Unbewußte"87 nannte und dessen Inhalt archetypischer Natur ist. 88 Zwar sprach auch Freud von "pylogenetischen Einflüssen", "die irgendwie im Es vertreten sind"89, aber er verfolgte diesen Gedanken nicht weiter, so daß er bei der Betrachtung des Unbewußten als aus persönlich erlebtem und verdrängten Material bestehend verhante. Man kann also davon sprechen, daß die Entdeckung des Unbewußten in zwei Etappen vor sich ging, deren erste S. Freud, deren zweite C.G. Jung bewältigte.
Finality is also a point of view, and it is empirically justified by the existence of series of events in which the causal connection is indeed evident but the meaning of which only becomes intelligible in terms of endproducts (final effects) .. " (C.G. Jung, CoiIected Papers on Analytical Psychology 1917, Vorwort zur 2. Auflage (Collected Works IV, p. 295 f.), zit. nach L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 263 FN 12). 85 Kritik an der Freudschen Methode klingt bereits in der Schrift "Die Freudsche Hysterietheorie" aus dem Jahre 1908 an (JGW 4, II ff.), mit seinem eigenen Standpunkt, den er stets als eine Ergänzung, nicht als Alternative zum Freudschen verstanden wissen wollte, trat er aber erst 1914, nach dem Bruch mit Freud, an die Öffentlichkeit (vgl. L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 260 f., 266 f.). 86 Der Träumer wurde veranlaßt, das erinnerte Bild in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, konzentrisch zu umkreisen und alle an das Bild gebundenen Assoziationen zu bringen. Da diese Methode nicht auf einem freien Einfall beruht, sondern den Einfall an eine Vorgabe bindet, die sie interpretierend einbezieht, ist sie hermeneutischer Natur (vgl. a.a.O. p. 266 f.). 87 JGW 9 I, 55 f.: "Das kollektive Unbewußte ist ein Teil der Psyche, der von einem persönlichen Unbewußten dadurch negativ unterschieden werden kann, daß er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist. Während das persönliche Unbewußte wesentlich aus Inhalten besteht, die zu einer Zeit bewußt waren, aus dem Bewußtsein jedoch entschwunden sind, indem sie entweder vergessen oder verdrängt wurden, waren die Inhalte des kollektiven Unbe·,·:ußten nie im Bewußtsein und wurden somit nie individuell erworben, sondern verdanken ihr Dasein ausschließlich der Vererbung. ( .. )Es besteht aus präexistenten Formen, Archetypen, die erst sekundär bewußtwerden können und den Inhalten des Bewußtseins festumrissene Form verleihen." 88 Es werden hier nur Grundzüge der besonderen Terminologie C.G. Jungs erläutert. AusfUhrliehe Begriffsklärungen finden sich bei C.G. Jung, Definitionen, GW 6, p. 444 ff. und Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie. eine kurzgefaßte übersichtliche Darstellung der Jungsehen Lehre bei J. Jacobi, Die Psychologie von C.G. Jung (1967). 89 FGW 17, 131. 3 LötreiiiWID
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I. Kapitel: Einleitung
Der "Archetypus" ist ein zentraler Begriff in der Jungsehen Psychologie90, dessen Bedeutung häufig mißverstanden und von Jung immer wieder erläuternd umrissen worden ist, und noch einer ausfUhrliehen Auseinandersetzung bedarf. 91 Wichtig ist, das archetypische Bild, das dem empirischen Nachweis zugänglich ist92 , nicht zu verwechseln mit dem Archetypus an sich, der eine "unanschauliche Grundforrn" 93 ist, über dessen Herkunft eigentlich nicht mehr ausgesagt werden kann94, als daß er "die durch Introspektion erkennbare Form des apriorischen psychischen Angeordnetseins"95 ist. Archetypen gibt es für alle zentralen Lebenssituationen, wie etwa Geburt, Ehe, Tod, theoretisch sind sie aber unbegrenzt. 96 "Es gibt so viele Archetypen, als es typische Situationen im Leben gibt."97 Sie sind immer kollektiv, d.h. "mindestens ganzen Völkern oder Zeiten gemeinsam." 98 Wichtige archetypische Bilder sind z.B. der "Schatten"99 und die "Anima" 100 • Symbole haben archetypische Qualitäten; Götter 90 Der Begriff stammt nicht von Jung. In "Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten" (JGW 9 I, 14) weist Jung die Herkunft des Ausdrucks nach. 91 Vgl. § 24. vgl. JGW I I, 115: "Ich verstehe unter Archetypus demnach eine strukturelle Eigenschaft oder Bedingung, welche der mit dem Gehirn irgendwie verbundenen Psyche eigentümlich ist." JGW II, 54: "Ich( .. ) verstehe darunter Formen oder Bilder kollektiver Natur, welche ungefllhr auf der ganzen Erde als Konstituenten der Mythen und gleichzeitig als autochthone, individuelle Produkte unbewußten Ursprungs vorkommen." JGW 7, 75: "Der Archetypus ist eine Art Bereitschaft, immer wieder dieselben oder ähnliche mythische Vorstellungen zu reproduzieren." 92 Dazu dienen die Untersuchungen von Träumen, Wahnideen Geisteskranker, Phantasien in Trancezuständen und Ergebnissen aktiver Imagination, die durch historische Parallelen in Religion, Mythos, Ritual, Folklore und Kunst untermauert werden können (vgl. JGW 9 I, 6I ff.). Fallmaterial findet sich u.a. in C.G. Jung, "Grundsätzliches zur praktischen Psychotherapie", GW I6, I ff., "Psychologie und Alchemie", GW 12 und in GW 9 I, 309 ff., 373 ff. 93 JGW 8, 244. 94 Vgl. JGW I I, I62 f. FN 2: "Sie (die Archetypen. Anm. d. Verf.) sind vorbewußt vorhanden und bilden vermutlich die Strukturdominanten der Psyche überhaupt, vergleichbar dem unanschaulichen, potentiellen Vorhandensein des Kristallgitters in der Mutterlauge." 95 JGW 8, 575. 96 Vgl. A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 44. 97 JGW 9 I, 61. 98 JGW 6, 453. 99 Unter Schatten versteht Jung die negative Seite der Persönlichkeit, das, was ein Mensch "nicht sein möchte." (JGW I6, 280). Allerdings scheint nicht ganz klar zu sein, ob es sich beim Schatten wirklich um einen Archetypus handelt. Vgl. A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 193; vgl. unten§ 14 D. 100 Unter Anima versteht Jung die fundamentale Form, die den weiblichen Eigenschaften eines Mannes zugrunde liegt. JGW 9 I, 37: "Das, was nicht Ich, nämlich männlich, ist, ist höchst wahrscheinlich weiblich, und weil das Nicht-Ich als dem Ich nicht zugehörig und darum als außerhalb empfunden wird, so ist das Animalbild in der Regel auf Frauen projiziert." Entsprechendes gilt für das archetypische Bild des Animus in Bezug auf die Frau. Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß ,Jedem Geschlecht( ..)
§ 3 Tiefenpsychologie II: Die Analytische Psychologie von C. G. Jung
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sind Metaphern archetypischen Verhaltens; Mythen sind archetypische Inszenierungen. Daher suchte Jung auch in den Mythen, Märchen und religiösen Vorstellungen der Völker nach Nachweisen von Archetypen. Alle Archetypen haben einen positiven und einen negativen Aspekt, sie sind vieldeutig und . . . II paradox. •o• prmz1p1e Der zentrale Archetypus der Psyche ist das "Selbst". Er ist das Bild des vollständigen Potentials des Menschen und der Einheit der Persönlichkeit als Ganzes, dem die Koordinierung der Gegensätze und die Vermittlung zwischen ihnen zukommt, die Ausfluß der inneren Dualität von Bewußtsein und Unbewußtem sind. 102 Jung schreibt: "Das Selbst ist nicht nur der Mittelpunkt, sondern auch jener Umfang, der Bewußtsein und Unbewußtes einschließt; es ist das Zentrum dieser Totalität, wie das Ich das Bewußtseinszentrum ist.'.. 03 Und an anderer Stelle: "Das Ich steht zum Selbst, wie das patiens zum agens, oder wie das Objekt zum Subjekt, weil die Bestimmungen, die vom Selbst ausgehen, umfänglich und daher dem Ich überlegen sind. Wie das Unbewußte, so ist das Selbst das a priori Vorhandene, aus dem das Ich hervorgeht.'d 04 Da das Selbst die Einheit und Ganzheit der Persönlichkeit darstellt, so bedeutet für Jung, entsprechend seinem konstruktiv-finalen, die Entwicklungslinien der Psyche und ihren Bedeutungsmittelpunkt zu verstehen suchenden Ansatz, das Ziel der Persönlichkeitsentwicklung ,,zum ei~enen Selbst (zu) werden", d.h. "Verselbstung" oder "Selbstverwirklichung". 05 Die hierauf zielende Tendenz der Psyche nennt er, in Abweichung von der üblichen Bedeutung des Begriffs 106, worunter die Aufspaltung des Allgemeinen in eine Vielheit individueller Seiender gemeint ist, "Individuationsprinzip". Neben seinen Beiträgen zur Entwicklungspsychologie und zur Theorie des Unbewußten nehmen eine zentrale Stellung im Jungsehen Werk auch die Überlegungen zu den psychologischen Typen ein. In "Psychologische Typen"107 entwickelt Jung seine Typenlehre, die zwei Komponenten umfaßt: Ein-
das Gegengeschlecht bis zu einem gewissen Betrage inne(wohnt)". (a.a.O.). Figürliche Verkörperungen der Bilder sind z.B. Aphrodite, Helena von Troja und Maria bzw. Apollo, Hercules und Romeo. (A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 39). 101 JGW 9 I, 48. 102 A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 198, 200, 78. 103 JGW 12, 59. 104 JGW II, 283. 105 JGW 7, 191. 106 Die Begrifflichkeit Jungs ist aber keineswegs durchgängig gleich; vgl. insofern etwa die erstmalige Definition in JGW 6, 477 f.; vgl. A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. I 07 f. 107 JGW 6. 3•
I. Kapitel: Einleitung
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mal die Unterscheidung zwischen dem lntroversionstypus, der "das Ich und den subjektiven psychologischen Vorgang dem Objekt und dem objektiven Vorgang überzuordnen oder doch wenigstens dem Objekt gegenüber zur behaupten sucht" und dem Extroversionstypus, bei dem das Objekt "von höherer und in letzter Linie von ausschlaggebender Bedeutung für das Subjekt'" 08 ist. Zweitens die Differenzierung der vier psychologischen Grundfunktionen des Denkens, Fühlens, Empfindens und lntuierens und danach des Denk-, Fühl-, Empfindungs- und des intuitiven Typus, wobei jeder dieser Typen sowohl introvertiert als auch extrovertiert sein kann. 109 Jung versucht, insbesondere die Typenhaftigkeit von Introversion und Extroversion (die dem Gedanken nach der philosophischen Unterscheidung zwischen Idealismus und Realismus entspricht) in Zeugnissen der Geistes- und Kulturgeschichte nachzuweisen und die Gegensätze vom psychologischen Standpunkt aus einer Vereinigung zuzuführen. Archetypenlehre, Individuationsprozeß und Typenlehre sind miteinander in vielfacher Weise verflochten, wobei dem Begriff der "Libido" eine tragende Rolle zukommt. Im Gegensatz zu Freud, bei dem die Libido noch sexueller Natur war, versteht Jung den Begriff allgemeiner als psychische Energie, als determinierende Kraft, die sich in bestimmten psychischen Wirkungen äußert. 110 Psychische Energie wird von den Archetypen gebunden, Archetypen sind Quellen psychischer Energie, sie fließt in Kanälen, welche eine vorgegebene archetypische Struktur haben, psychische Konflikte können als Störungen im Fluß der psychischen Energie beschrieben werden, Introversion und Extroversion sind Ausdruck der vorherrschenden Libidobewegung, psychische Energie kann durch Projektion auf Objekte übertragen werden, Libido verbindet Bewußtsein und Unbewußtes usw. Kurz: die psychische Energie hat überall dort Bedeutung, wo es um die Beschreibung dynamischer Vorgänge geht, an denen die Psyche beteiligt ist. 111 Das Jungsehe Gedankengebäude ruht also im wesentlichen auf vier Pfeilern: der Archetypenlehre mit dem kollektiven Unbewußten, der Individuationstheorie, der Typenlehre und der Libidotheorie. Zusarrunenfassend kann man die Theorien Freuds und Jungs ihrer Grundkonzeption nach vereinfachend folgendermaßen gegenüberstellen:
los JGW 6, 3.
Vgl. JGW 6, 5, 524 f. JGW 6, 490. 111 A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 69 f., bezeichnen den Jungsehen Energiebegriff als "komplizierte Methapher". Eine objektive Methode zur Messung des Energiebetrags gebe es freilich nicht. 109
110
§ 3 Tiefenpsychologie II: Die Analytische Psychologie von C. G. Jung
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In formaler Hinsicht steht das linear-kausale, reduktive Denken S. Freuds dem konstruktiv-prospektiven, final orientierten Denken C.G. Jungs gegenüber.112 Inhaltlich betrachtet ist Freuds Denkweise aufklärerisch-rationalistisch und mechanistisch-materialistisch ausgerichtet, die von Jung hingegen gegenaufklärerisch-assoziativ und vereinigend-ganzheitlich. 113 Insgesamt dominieren im Freudschen Werk, das eine Beschreibung psychischer Mechanismen und Strukturen verfolgt, formale Aspekte; die inhaltlichen Gegebenheiten beschränken sich auf die sexuellen Phantasien und ihre Abkömmlinge114. Bei Jung hingegen stehen inhaltliche Gesichtspunkte im Vordergrund, ihn interessiert weniger das Wie des psychischen Apparates und seiner Abläufe, als vielmehr das Was seiner Inhalte, der archetypischen Bilder. 115 Durch seine Entdeckung der kollektiven Inhalte des Unbewußten gelangt Jung zur Objektivität des Psychischen, im Gegensatz zum Freudschen Unbewußten, das sich aus verdrängten subjektiv-persönlichen Inhalten rekrutiert. 116 Eine weitere Konsequenz hieraus ist die Dominanz des Unbewußten über das Bewußtsein, das sich gegen den Einbruch des Unbewußten z.B. durch Verdrängungen zur Wehr setzen muß, bei Jung 117, im Gegensatz zur Auffassung Freuds, der den Ursprung des Unbewußten im Bewußtsein zu erkennen glaubte. Jung drückt diesen Sachverhalt gern durch prägnante Formulierungen aus: "Im Bewußtsein sind wir unsere eigenen Herren; wir sind scheinbar die ,Faktoren' selber. Schreiten wir aber durch das Tor des Schattens, so werden wir mit Schrecken inne, daß wir Objekte von Faktoren sind.'d 18 "Nicht wir haben Geheimnisse, die wirklichen Geheimnisse haben uns." 119 ,,Nicht ich schaffe mich
Vgl. L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 261. ib. p. 100. Interessant ist der graphologische Vergleich der Handschriften von Freud und Jung, von dem R. Keintzel, C.G. Jung, p. 44, berichtet, der die Neigung der Psychologen zu analytischer bzw. assoziativer Denkweise bestätigt. Ebenso berichtet Ellenherger von der Fähigkeit Jungs, von wissenschaftlichen Erwägungen unmittelbar zu hochgeistigen Spekulationen umschwenken zu können. 114 Vgl. R. Fetscher, Grundlinien, p. 20 ff. 115 ib. p. 41 f. 116 ib. p. 43. 117 JGW II, 89: "( .. )das individuelle Bewußtsein (ist) gegründet( .. ) aufund eingebettet in eine unbestimmbar weit ausgedehnte, unbewußte Psyche ( ..)." FGW 17, 129: "Es (das Ich. Anm. d. Verf.) hat von der bewußten Wahrnehmung her immer größere Bereiche des Es seinem Einfluß unterworfen( ..)." 118 JGW 9 I, 32. 119 JGW 10,510. 112 113
I. Kapitel: Einleitung
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selbst, ich geschehe vielmehr mir selber." 120 Oder: "Nicht ich lebe, es lebt mich." 121 In pathologischer Hinsicht schließlich läßt sich der Gegensatz Freud und Jung folgendermaßen auf den Punkt bringen: "Anstatt den Kranken als den heimlichen Täter oder Komplizen moralisch unzulässiger Wünsche erscheinen zu lassen, könnte er ebensogut als das unwissentliche Opfer unverstandener Triebprobleme ( ... )erklärt werden.'.. 22 Demnach ergänzen sich die Systeme Freuds und Jungs - entgegen der weitverbreiteten Auffassung, sie stünden sich in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber- in weiten Teilen. 123 Freud kommt das bleibende Verdienst zu, daß er "das ,eigentliche Studium der Menschheit' erstmals systematisch auf Erfahrung gegründet hat" 124, von Jung wird behauptet, er habe die "Wirklichkeit der Seele" 125 wiederentdeckt.
120
JGW 11, 283.
R. Wilhelm, C.G. Jung, Das Geheimnis der Goldenen Blüte, p. 60. Vgl. aber auch Freud, der behauptet, daß wir ",gelebt' werden von uns unbekannten, unbeherrschbaren Mächten" (FGW 13, 251), daß gar "das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus" (FGW 12, ll). 122 JGW 15, 58 f. 123 Vertiefende Erörterungen finden sich bei L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 216 ff. und R. Fetscher, Grundlinien, p. 123 ff. 124 L. Binswanger, Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse, in: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Band II, p. 68. 125 F. Alt (Hrsg.), C.G. Jung. Sinnfragen des Lebens, p. 12. 121
Zweites Kapitel
Dialektik C.G. Jung hat in seinem Anspruch nach Objektivierung seiner Erkenntnisse seine Forschungen nicht auf klinische Beobachtungen beschränkt, sondern diese durch die Untersuchung verschiedenster Kulturerscheinungen zu verifizieren gesucht. Denn für ihn darf eine "psychologische Theorie, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, sich nicht auf die Mißbildungen des 19. Jahrhunderts gründen, und eine Neurosentheorie muß auch die Hysterie bei den Maori erklären." 1 Umgekehrt ist "archaische Psychologie ( ...) nicht nur Psychologie der Primitiven, sondern auch die des modernen, zivilisierten Menschen( ... ) der, ungeachtet seiner Bewußtseinshöhe, in den tieferen Schichten seiner Psyche noch archaischer Mensch ist." 2 Auf Grundlage des außerklinischen Materials, welches Jung in sein Werk einbezogen hat, d.h. insbesondere der anthropologischen Erkenntnisse seiner Zeit, der religionsgeschichtlichen Dokumente, der Mythen und Märchen sowie der Zeugnisse östlichen Denkens3 , ergibt sich die Möglichkeit, eine gemeinsame Basis von Rechtswissenschaft und Psychologie zu finden, indem die Erkenntnisse der beiden Disziplinen in den jeweiligen Themengebieten aufeinander zugeführt werden. Dadurch wird die Voraussetzung geschaffen, zentrale Problemstellungen der Rechtsphilosophie, wie etwa die Frage nach der Herkunft der Norm oder der Universalisierbarkeit des Rechts, von interdisziplinärer Seite einer Klärung näherzubringen.
§ 4 Methodische Fragen Wird die Frage nach der Herkunft der Norm oder nach Prinzipien des Rechts gestellt, so ist es nötig, sich auf frühe Rechtskulturen zu besinnen. Da "primitiJGW 15, 50. JGW 10, 67 f.. 3 Vgl. C.G. Jung, Sinnfragen des Lebens, p. 345: "Mein Tatsachenmaterial scheint von allem etwas zu enthalten, Primitives, Westliches und Östliches. Es gibt kein Mythologem, das nicht gelegentlich angetönt wird, und keine Ketzerei, die nicht etwas von ihrer Absonderlichkeit beimischt. So muß wohl die kollektive Tiefenschicht der menschlichen Psyche beschaffen sein." I
2
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2. Kapitel: Dialektik
ve" 4 Gesellschaften noch keine Unterscheidung von Religion, Ethik und Gesetz kennen, haben wir es nicht mit Kodifikationen im heutigen Sinne zu tun. Primitives Recht ist vielmehr Bestandteil der Religion und des sozialen Lebens, als moralisches Gebot oder Verbot, als Tabu und als Ritus, es ist Gewohnheitsrecht, es enthält nur die elementarsten Normen menschlichen Zusammenlebens, häufig gefaßt als formelhafte Wendungen und Prinzipien, und es findet Ausdruck in schöpferischen Formen, wie Legende, Mythos und Märchen. Eine fiiihe und primitive Rechtskulturen betrachtende Untersuchung setzt zunächst die Klärung ihrer Begriffe, also methodologische Vorüberlegungen und Vorentscheidungen, voraus.5 Es wäre etwa zu fragen, welchen Begriffvon "Recht" man an die "Rechtsordnungen" rezenter primitiver und früher Kulturen sowie an das "Recht", wie es sich aus Mythen, Märchen, archäologischen und religionsgeschichtlichen Dokumenten erschließen läßt, anlegen soll. Über dieses Problem haben sich die Vertreter der Rechtsethnologie ausgiebig gestritten. Die Kriterien zur Bestimmung des Rechtsbegriffs - z.B. das Erfordernis einer physischen Sanktionierung von Vergehen, die Existenz von Gerichten, die Gerichtsflihigkeit der Gesellschaften, ein Zusammenspiel der Faktoren "auctoritas" (eine konfliktlösende Autorität) und "veritas" (die Überzeugung allgemeiner Anwendbarkeit und Gültigkeit des Rechts; "Wahrheit") usw. - sollen hier nicht näher beleuchtet werden, da es sich letztlich nur um ein terminologisches Problem handelt. 6 Zwei Vorbedingungen seien aber hervorgehoben. Erstens: Es wird ein erweiterter Normenbegriff verwendet, im Sinne von "Recht sind allefür eine Gesellschaft normativen Tatsachen", womit zum Ausdruck gebracht ist, daß derlei Tatsachen von der jeweiligen Gesellschaft als verbindlich anerkannt sind, was zudem ihre Regelhaftigkeit voraussetzt, und daß sie umgekehrt die Gesellschaft als eine spezifische (Rechts-)gemeinschaft prägen, indem sie als Richtschnur das Leben der Mitglieder dieser Gemeinschaft bestimmen. Es handelt sich also um die Rückkehr zu den sozialen, poli-
4 Der Begriff "primitiv" wird hier als generelle Bezeichnung fllr frühe Kulturen vewendet und soll nicht einen prinzipiellen Gegensatz zu "modern" oder "zivilisiert" indizieren. Auf die Problematik dieser Begriffiichkeit wird in §§ 6, 22 und 39 noch zurückgekommen werden. 5 Allgemein zu methodischen Fragen einer rechtsvergleichenden Untersuchung: W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. I ff. 6 Für eine knappe Darstellung der Problematik m.w.N. vgl. U. Wesel, Frühformen des Rechts, p. 52 ff.; W. Fikentscher in: Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 94 ff.; L. Pospisil, dessen Lösung Anerkennung gefunden hat, unterscheidet zwischen vier Merkmalen des Rechts: Autorität, Intention allgemeiner Geltung, obligatio (das Verhältnis zweier Parteien zueinander betreffend) und Sanktion (L. Pospisil, Anthroplogie des Rechts, p. 65 ff.). Pospisil betont als Vorzug seiner Definition ihre Anwendbarkeit auch auf den westlichen Begriff von Recht, daraus ergibt sich aber zugleich auch der (zumindest denkbare) Vorwurf der Ethnozentrizität.
§ 4 Methodische Fragen
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tischen, psychologischen und anderen Rechtstatsachen, auf deren Grund Normen entstehen und ihre Wirkung entfalten. 7 Der Vorteil eines solchen Rechtsbegriffs ist, daß er unhistorisch und kulturunabhängig, daher flexibel ist und keine in Frage kommenden Fakten von vomherein ausblendet. Sein Nachteil ist, daß er keine Vorentscheidungen trifft. Mangelnde Genauigkeit zeichnet aber auch andere Rechtsbegriffe aus, denn was "Autorität" bedeutet, ob himmlische oder irdische, königliche oder familiäre, ist der Ausdeutung ebenso offen wie die Festlegung, ob mit "Sanktionen" physische, psychische, magische, soziale, religiöse oder anderweitige gemeint sind. Eine exakte und allgemeine Unterscheidung zwischen normiertem und nichtnormiertem Recht, zwischen Gesetz, Sitte, Moral und Gewohnheit kann es ohne generalisierende Vorentscheidungen nicht geben. Wichtiger aber noch ist, daß ein solch weiter Begriff von Recht fremden Kulturen nicht die unserem Rechtsverständnis eigene Begrifflichkeit überstülpt, wie es nach heutiger Einschätzung viele der älteren anthropologischen Studien getan haben. Insbesondere darf, wie z.B. die strukturelle Relativität der Rechtsordnungen primitiver Völker zeigt, unsere Vorstellung von einem "objektiven" Recht nicht auf andere Kulturen übertragen werden. Das daraus folgende Gebot der Vorsicht ist die zweite, wichtigere, Vorbedingung. Darüberhinaus ist als selbstverständlich davon auszugehen, "daß man vom objektiven Recht in erster Linie im Sinne eines Rechtes in der Zeit und in einem gegebenen Rechtskreis sprechen muß, wenn man es methodisch zu erfassen sucht." 8 Recht ist stets ein 7 Dieser Anspruch wird von der empirischen Rechtstheorie verfolgt (vgl. A. Kaufmann, W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, p. 143 ff., 440 ff. m.w.N.). Der hier verfolgte Ansatz beansprucht aber nicht, a priori festlegen zu können, welche Tatsachen als Recht begriffen werden können. Diese schwierige Frage, die wiederum auf die Naturrechtsproblematik zuläuft (Recht ist nicht Gesetz) könnte - wenn überhaupt - erst am Ausgang einer empirischen Untersuchung eine Antwort finden. In akephalen Gesellschaften dürfte sich allerdings das Problem des gesetzlichen Unrechts, wenn man nicht von einem sehr weiten, universellen, die kulturgeschichtlichen Bedingungen einer Gesellschaft transzendierenden Rechtsbegriff ausgeht, gar nicht stellen, da dort das Recht nicht autoritativ gesetzt ist, so daß als letztes Fundament dessen, was das spätere "Recht" ausmacht, tatsächlich die Gesamtheit jener Regeln und Normen anzusehen ist, die die Mitglieder einer derartigen Gesellschaft als für sich verbindlich erachten. Man könnte insofern von einem "Urrecht" sprechen. Die Unterscheidung zwischen Naturrecht und Positivismus, die als Kernproblem die Geschichte der Rechtsphilosophie begleitet, ist insofern jüngeren Datums, als sie das Bestehen einer gesetzgebenden Institution voraussetzt, die nicht mit der Gesellschaft als solcher, oder mit deren "kollektiver Psyche", auf die "Recht" hier zurückgeführt werden soll, identisch ist. Der hier verwendete Begriff von "Recht" wird also durch die angesprochene Problematik nur insofern berührt, als er ihr vorausgeht und dadurch ihrer Auflösung - insbesondere durch die Klärung der Frage nach der letzten Herkunft und Verankerung der Norm- dienlich zu sein vermag. 8 W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. 8; Methodische Relevanz hat von daher auch die Frage, ob sich Zeugnisse frühzeitlicher Kulturen mit den an rezenten
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2. Kapitel: Dialektik
Recht in einer bestimmten Gesellschaft und einem Kulturkreis und als solches in den Vollzug des alltäglichen gesellschaftlichen Lebens eingebunden. Grundsätzlich sollte die Methode einer vergleichenden Untersuchung9 sich des stets präsenten Vorwurfs der Theoriebeladenheit des Erfahrungshorizonts bewußt sein, die im Bereich der Anthropologie unter den Begriff der Ethnozentrizität10 gefaßt werden kann. W. Fikentscher hat für die Anthropologie eine solche Methode entwickelt, die er "Synepeik" nennt, die jedoch ihrerseits auch problematisch ist, obwohl sie dem Vorwurf der Ethnozentrizität gerecht zu werden verspricht. 11 Ihre grundsätzliche, im weitesten Sinne "hermeneutische" Haltung entspricht wohl derjenigen, wie sie auch hier eingenommen wird. Da es hier aber nicht um die Erhebung anthropologischen Materials geht, sondern vielmehr um die Konfrontation solchen Materials mit den Erkenntnissen der Analytischen Psychologie, ist ein Vollzug der synepeischen Methode nicht notwendig. Die allgemeine Distanz in Hinblick auf das verwendete Material und eventuell daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen ist geleitet durch ein grundlegendes Gebot der Vorsicht, wie es die Wissenschaftlichkeit einer Vorgehensweise erfordert. Diese Problemfelder sind grundsätzlich zu berücksichtigen, wenn vom Recht früherer Kulturen die Rede ist. Es soll jedoch nicht vergessen werden, daß in den folgenden Ausruhrungen nicht Lösungen rechtshistorischer und -anthropologischer Probleme gesucht werden, sondern zunächst, anhand von Themenbereichen, die beiden Disziplinen zugänglich sind, eine gemeinsame Basis von Rechtsforschung und Analytischer Psychologie geschaffen werden soll, an der die Theorien von C.G. Jung, soweit sie sich auf das Gebiet von Recht und Ethik beziehen oder übertragen lassen, gemessen werden können. In diesem Sinne werden unter den Themenbereichen Anthropologie, Religion, Mythen und Märchen und östliches Denken die jeweiligen Auffassungen und Erkenntnisse der Fachdisziplinen bzw. der Analytischen Psychologie einander gegenübergestellt. Da dies unter dem Gesichtspunkt der rechtsphilosophischen Relevanz der einzelnen Themenbereiche geschieht, wird diese Vorgabe bei der Darstellung von der jeweils fachlichen Seite berücksichtigt, um so zu sehen, ob sich die Jungsehe Auffassung von den Phänomenen als solchen auch primitiven Kulturen gewonnenen Beobachtungen vergleichen lassen, wie es die "komparative Methode" behauptet und der "Diffusionismus", der die historische Vermischung der Kulturen betont, als Irrtum darstellt. Diese Problematik hat in der ethnologischen Diskussion breiten Raum eingenommen, scheint aber nun zugunsten der komparativen Methode entschieden (vgl. U. Wesel, Frühformen des Rechts, p. 36 ff.). 9 Zur Notwendigkeit einer vergleichenden Fragestellung vgl. auch W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. 49 ff. 10 Vgl. zu Begriffund Problematik unten§ 22 A, 39. 11 Vgl. näher§ 39.
§ 5 Bezüge zwischen Religion und Gesetz
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auf die darin zum Ausdruck kommenden rechtlich bedeutsamen Aspekte beziehen lassen kann. Leitende Gedanken bei der Auswertung des anthropologischen Materials sind die Suche nach historischen Entwicklungstendenzen und nach Anzeichen für ein Empfinden des Wirkens "höherer Mächte" ("offenbartes Recht") bei den Angehörigen früher und rezenter primitiver Kulturen, sowie nach Nachweisen universeller, allgemeingültiger Normen. Dem wird eine Darstellung der Ausführungen Jungs zur Problematik von Moral und Ethik beigegeben, welche durch Auffassungen anderer tiefenpsychologischer Autoren ergänzt wird. Dadurch wird sich eine der ganzen Breite des Jungsehen Werkes angemessene Basis ergeben, die es erlaubt, auf Grundlage der Jungsehen Theorien in einer prima-facie-Synthese, welche im 3. Kapitel einer Kritik unterzogen wird, zu zentralen rechtsphilosophischen Fragen Stellung zu nehmen. Erster Abschnitt
Erkenntnisse der vergleichenden Rechtsanthropologie § 5 Bezüge zwischen Religion und Gesetz A. Zeugnisse der Verbindung von Religion und Recht
"Religion und Recht sind zwei Geistesströmen vergleichbar, deren Fluten teilweise einander parallel laufen, teilweise gegeneinander branden, teilweise sich miteinander vermischen." 12 Recht und Religion sind Urprodukte jeglicher kulturellen Entwicklung. Religion ist ohne Gesetze so wenig zu denken wie das primitive Gesetz ohne seine Rechtfertigung durch eine göttliche Instanz. Zeugnisse hiervon gibt es zuhauf13: das alttestamentliche Recht der Juden, besonders in den Büchern Exodus und Deuteronomium ("zweites Gesetz"); das Recht des Korans u.a. in Sure 6, 152-154 und die Verankerung der Scharia in Sure 45, 18 14 ; das griechische "nomos", dem die "Verwurze1ung im Göttlichen, die immer geblieben ist( ...) seine charakteristische Bedeutung und seinen eigentlichen Halt" 15 gibt; der CoW. Simons, Religion und Recht, p. 28. Vgl. dazu die vielfaltigen Beiträge in dem Sammelband: W. Fikentscher u.a. (Hrsg. ), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen (1980); außerdem schon W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, Kap. 1 und 2. 14 Vgl. dazu S.H. Nasr, Ideal und Wirklichkeit des Islam, p. 112 ff., der eindrucksvoll die tiefe Kluft zwischen dem westlichen und dem islamischen Verständnis des Verhältnisses von Recht, Gesellschaft und Religion vermittelt; ib. p. 130: "Der Islam ist, technisch gesprochen, keine Theokratie, sondern eine Nomokratie, das heißt eine Gesellschaft, die unter dem göttlichen Gesetz steht." 15 G. Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, p. 1018. 12 13
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dex Hammurabi, empfangen aus der Hand des Sonnengottes und festgehalten auf einer Steinsäule, die im Tempel des Sonnengottes zu Sippar aufgestellt war 16; die buddhistische Lehre, welche dem Dharma folgt, symbolisiert durch das achtspeiehige Dharmacakra, das Gesetzesrad, welches in Bewegung gesetzt wurde durch die erste Verkündung Buddhas im Gazellenhain von Benares 17 ; ähnlich das ewige Gesetz des Hinduismus, das sich als natürliche, sittliche und magisch-rituelle Ordnung manifestiert. 18 Häufig handelt es sich um "geoffenbarte" Rechtsordnungen. Gesellschaften, in denen keine scharfe Trennung zwischen Kirche und Staat vorgenommen wird, wie z.B. islamisch geprägte, unterscheiden auch heute zum Teil nicht (mehr) zwischen religiösen und profanen Pflichten. 19 Das katholische Kirchenrecht setzte sich gegen das germanische Volksrecht nach Auffassung mancher deswegen durch, weil es ob seiner göttlichen Herkunft "weihevoller" war als jenes und dem germanischen Recht der "himmlische Vorkämpfer" fehlte.Z 0 Das gesamte Naturrecht schließlich handelt von der Zweiteilung des Rechts in das "ius aeternum sive divinum" und das "ius positivum sive humanum" - ein Gegensatz, der sich bis in unser heutiges Recht fortgepflanzt hat. Das Verhältnis zwischen Recht und Religion, das einen, wenn nicht gar den zentralen Gehalt von "Kultur" überhaupt ausmacht, wird die folgenden Ausführungen in weiten Teilen begleiten. Für den hier verfolgten Zweck ist es ausreichend, einige allgemeine Charakteristika dieses Verhältnisses zu bestimmen. Es wird dabei exemplarisch auf das für unseren Kulturkreis so bedeutsame Gesetzesverständnis in den Schriften des Alten und Neuen Testaments21, sowie, kontrapunktisch dazu, auf Züge des klassischen östlichen, insbesondere chinesischen Rechtsverständnisses eingegangen.
B. Das Gesetz im Alten Testament Die biblischen Bücher des AT, v.a. Gn, Ex, Lv, Nm, Dt (sog. Pentateuch) weisen eine Fülle von Gesetzen auf, die als Offenbarung22 des Willens des Heute im Louvre, Paris. Vgl. zum Dharma noch unten §§ 8, 9. 18 Vgl. H. v. Glasenapp, Die ftinfWeltreligionen, p. 65 ff. 19 Vgl. E. Klingmüller in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 413 f. 20 W. Simons, Religion und Recht, p. 25. 21 Im folgenden AT und NT. 22 Interessant ist in diesem Zusammenh~g folgender Gegensatz zwischen dem monotheistischen Gottesbild der Bibel und den Uberlieferungen vieler altorientalischer Religionen. Erscheint im biblischen Mythos Gott, der originär einer anderen Sphäre zugehörig ist, den Menschen von oben her (wie Jung vielleicht sagen würde: durch einen 16
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Bundesgottes Israels angesehen werden. 23 Der Pentateuch wird daher schon im AT zusammenfassend als "das Buch des Gesetzes" bezeichnet. 24 Drei Gruppen von Rechts- oder Gesetzesstticken sind zu unterscheiden: das kasuistische Recht, das nach der Landnahme weitgehend aus der kanaanäischen Rechtspraxis übernommen wurde; das apodiktische Recht, das noch aus der Zeit der Mobilität der Stämme herrtihrt, zu dem insbesondere auch der Dekalog (Ex 20, "Einfall", vgl. JGW 17, 107), und begründet er nicht in einer mehr oder minder selbstverständlichen Weise, sondern erst durch einen Vertragsschluß überhaupt eine Verbindung mit den Menschen (was treffend in dem Bild ausgedrückt ist: "Der Herr war auf den Sinai, auf den Gipfel des Berges herabgestiegen. Er hatte Mose zu sich auf den Gipfel des Berges gerufen, und Mose war hinaufgestiegen.", Ex 19, 20), so stellen die östlichen Glaubensbilder den gesetzesstiftenden Gott vorwiegend auf einer Ebene mit dem gesetzesempfangenden Menschen dar. Das berühmteste Beispiel hierfür ist vielleicht die Abbildung auf der Gesetzesäule des Hammurabi. Ägyptische Tempelreliefs stellen die gesetzgebende Tätigkeit des Königs dar, indem sie ihn abbilden, wie er einem Gott eine kleine Figur der Göttin der Ordnung überreicht (vgl. W. Helck in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 303 ff. bes. 308, 311). E. Hornung, Der Eine und die Vielen, p. 211, bezeichnet diese Übergabe als "Symbol der Partnerschaft zwischen Gott und Mensch." (Es ist hier allerdings zu beachten, daß der Ägypter zwischen dem Bild der Gottheit, das nicht mehr ist als eine Hyroglyphe, und der "wahren Gestalt" der Gottheit, die der menschlichen Anschauung bis auf wenige Ausnahmen verborgen bleibt, unterscheidet; vgl. ib. p. 117) Das ägyptische Totengericht entspricht vom Ablauf her einer weltlichen Gerichtsverhandlung, ist also keine Art jüngsten Gerichts oder Apokalypse (vgl. E. Hornung, Altägyptische Höllenvorstellungen, p. 7). Der babylonische König konnte die "die Ordnung erhaltende Gerechtigkeit geradezu als Inhalt eines Vertrages zwischen sich und der Gottheit sehen." (J. Krecher in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 350). Die Einhaltung dieses Vertrages war pragmatisch begründet und geschah nicht aufgrund geschuldeter Gottesverehrung oder weil die Götter die Einhaltung bestimmter Gesetze verlangt hätten. Auch die assyrischen Baale stehen mit dem Menschen in einer Art kaufmännisch-juristischem Vertragsverhältnis. Möglicherweise kann man noch die dem griechischen Volksglauben zugehörigen personifizierten Rechtsideen, Themis und Dike, hinzunehmen. Jedenfalls scheint auch nach altgriechischer Vorstellung das Gesetz nicht autoritär durch den Gott konstituiert (vgl. H.J. Wolff in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 573). Nur am Rande sei auf das Motiv des Berges hingewiesen, das uns nicht nur bei Mose begegnet. Auch Wodan, als Herr der Toten, wohnt im Berge. Im östlichen Denken taucht der Berg auf als Weltenberg Meru, auf dem die Götter thronen. Die meist nebelumhüllte Spitze bildet den Übergang zum Himmel. Er ist aber auch ein Symbol ftir die Versenkung, ftir die Erlangung innerer Ruhe, die zur Erkenntnis und zum Verstehen der "großen Gesetze des Weltgeschehens" befähigt (Yi Jing, Erstes Buch, Zweite Abteilung, Kap. 52; vgl. z.B. auch das bekannte Gedicht von Li Bai (Übs. Verf.): Fern in der Höhe kreisen die Vögel, I die einsame Wolke treibt müßig, I wir werden nicht müde uns anzusehen, I ich und Jing Ting, der Berg). Die von der Jung-Schule beeintlußte Märchenforscherio H. v. Seit, Symbolik des Märchens. Bd. I, p. 66,47 ffm.w.N., schreibt über dieses Symbol: "das Symbol des Berges endlich weist auf ein Erlebnis des Unbewußten im Sinne der Erhebung hin, der Anhäufung innerer Kräfte zur überragenden Persönlichkeit." 23 Vgl. K. Rahner, H. Vorgrimler, Kleines Theologisches Wörterbuch, p. 145. 24 2 Chr 34, 14; Neh 8, 3.
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2. Kapitel: Dialektik
2 ff.) zählt; und rein kultische Bestimmungen, für deren Anwendung und Auslegung die Priester zuständig waren?5
Charakteristisch für das Gesetz des AT ist es nun, daß es vollkommen dem Bund nach- und eingeordnet ist. "Jahwe hat sich Israel als sein Volk erwählt, Israel hat diesen Jahwe als seinen Gott anerkannt. Dieser Fundamentalsatz des ganzen AT ist die unmittelbare Grundlage dieser Gesetze. Sie sind Ausdruck des Herrschaftsanspruchs Jahwes über das gesamte Leben des ihmkraftseiner Wahl gehörenden Volkes. Das spricht das erste Gebot des Dekalog mit aller Deutlichkeit aus. Diese Gesetze sind also nicht verstanden als gerechter Ausgleich der menschlichen Lebensinteressen evtl. mit göttlicher Sanktionierung. Ihre Erfüllung ist auch nicht die Leistung, die Israel von sich aus seinem Gott darbringt als Dank für Bund und Erwählung, erst recht nicht die Leistung, durch die erst die Zugehörigkeit zur Gottheit hergestellt würde, sondern diese Gesetze sind im strengen Sinn Forderungen des Gottes, dem dies Volk gehört, weil er sich ihm offenbart hat in der Herausführung aus Ägypten und weil er in allen Kriegen sich seither und weiterhin als der Gott dieses Volkes zeigt. So ist das Motiv zur Erfüllung dieses Gesetzes schlechterdings der Gehorsam, so wenig freilich überhaupt eine bewußte Reflexion über das Motiv der Gesetzeserfüllung zu erkennen ist. " 26
Der Bundesgedanke, die Bindung des Volkes und des Einzelnen an Jahwe steht demnach ganz und gar im Vordergrund; der Unterschied zwischen Recht und Sittlichkeit wird nicht ins Bewußtsein erhoben; eine reflexive Ebene in Hinblick auf die Richtigkeit und Gerechtigkeit des Gesetzes ist nicht vorhanden. Gültigkeit bekommt das Gesetz allein durch die Tatsache seiner Gottsetzung, nicht durch eine immanente Güte oder Brauchbarkeit. Die Israeliten schließen durch die Vennittlung Mose zwar mit dem Herrn einen Vertrag, der sie zur Einhaltung der Gesetze verpflichtet, aber sie fürchten Gott, sie können seine donnernde Stimme nicht ertragen (Dtn 5, 25 f.), und diesem ist ihre Furcht ein willkommenes Mittel, sich Gehorsam zu verschaffen. Dieser Gott trägt noch zutiefst menschliche Züge ( - später entrückt er, mehr und mehr idealisiert, der irdischen Sphäre und bedarf schließlich eines "Messias", um Verbindung mit den Menschen aufzunehmen - ), er ist ein "lebendiger Gott", und die Beziehung zwischen ihm und den Menschen ist eine persönliche, die Raum läßt filr Zorn, Haß, Güte, Liebe, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit.27 In diesem Sinne weisen aber auch die unbedingte Forderung dieses Gottes nach Gehorsam und die schweren Strafen filr den Bruch des Bundes darauf hin, daß die Gesetze weniger von Gott gestiftete Gesetze für die Menschen L. Coenen u.a. (Hrsg.), Theologisches Begriffslexikon. Band 2, p. 523. G. Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, p. 1029 f. 27 Z.W. Falk in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Enstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 355, stellt fest, daß es gerade die "dialogische Beziehung" zwischen Gott und den Menschen zu sein scheint, "wodurch sich das Recht Israels von anderen Rechtssystemen unterscheidet." 25
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sind, als vielmehr ein Mittel, das zur Bekräftigung des Bundes dient. Das wird besonders deutlich in Psalm 119, der die enge Verbindung von Recht und Religion, die Übung der Gerechtigkeit als Gottes-Dienst und Kern der Religiosität, zum Ausdruck bringt. Es geht, aus dieser Perspektive betrachtet, weniger um die Gesetze als um ihre Ausführung, den Gehorsam, und damit die Beziehung zwischen den Menschen und Gott. Dieses Verhältnis ändert sich nach der Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft, die König Kyros (559-529 v.Chr.) gestattete. "Die Drohung der Propheten hatte sich erftillt, Israel war dem Gericht Jahwes anheimgefallen. weil es ihm ungehorsam gewesen war. So wird es nach der Rückkehr das entscheidende Anliegen. den Willen Gottes nun zu erfüllen. Israel muß Gottes Gesetz gehorchen. um zu leben; das hatte das Exil deutlich gemacht."28 Dem ging eine Zeit voraus, in der die Jahwereligion einer "chronischen Kanaanisierung" verfiel, in der Weise, daß Jahwe, wie Baal, flir die Masse der Bürger und Bauern ein Fruchtbarkeitsgott wurde und seine dementsprechende kultische Verehrung den besonderen "dialogischen" Charakter der mosaischen Religionsstiftung überwucherte. 29 Bemerkenswert ist, daß der Baalskult von den Propheten in seiner Rückschrittlichkeit erkannt wurde und sie ihm gegenüber das Sittliche im Wesen Gottes in den Mittelpunkt der Betrachtung rückten. 30 Darin drückt sich nicht nur die Überwindung eines rein am Kultus orientierten Rechtslebens aus, sondern auch die Fähigkeit zu eigenem moralischen Empfinden. Die Konsequenz war aber zunächst lediglich eine steigende Bedeutung des Gesetzes, die schließlich in die spätere Auffassung des Judentums mündete, daß erst die Erfüllung des Gesetzes das Verhältnis zu Gott herstelle, somit das Gesetz (die Thora) die Mittlerstellung zwischen Gott und Mensch, die zentrale Rolle in der religiösen Existenz des Volkes überhaupt, einnehme.31 Da es hier vorrangig um das Gesetz geht, und erst durch das Gesetz um das Verhältnis zu Gott, .kann man das nachexilische und jüdische Gesetzesverständnis zurecht als positivistisch bezeichnen.
C. Das Gesetz im Neuen Testament Gegen diesen "Positivismus", d.h. gegen die Erfüllung der Gesetze um ihrer selbst willen, wendet sich Jesus. Dabei wird aber auch im NT das Gesetz an G. Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, p. I036. Vgl. K. Leese, Recht und Grenze der natürlichen Religion, p. 297. 30 Nachweise a.a.O. p. 298 f. 31 Vgl. G. Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, p. 1040 ff. 28
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sich positiv bewertet, es wird sein göttlicher Ursprung anerkanne 2 und Jesus selbst bejaht das Gesetz als Heilige Schrift und stets gültigen Ausdruck des Willens Gottes 33 , ja er fordert sogar andere dazu auf, nach dem Gesetz zu leben.34 Jesu Kritik richtet sich nicht gegen die Autorität des Gesetzes als solche, "sondern setzt im wesentlichen an zwei Punkten an: an dem, was die Menschen mißbräuchlich (durch falsche Interpretation oder durch Gottes Willen verdunkelnde Zutaten) aus dem Gesetz gernacht haben, sowie an einer heilsgeschichtlich-soteriologischen Verabsolutierung des Gesetzes, die dem durch das Christusgeschehen geschaffenen neuen Verhältnis zwischen Gott und Mensch nicht gerecht wird." 35 Durch das Christusgeschehen hat das Gesetz seine Mittlerrolle zwischen Gott und den Menschen verloren und Christus ist an seine Stelle getreten. Nicht die rein äußerliche Gesetzesgerechtigkeit vermag mehr die Menschen mit Gott zu verbinden, sondern allein das Bekenntnis zu Christus, der den Gotteswillen verkörpert, dessen wesentlicher Inhalt das Liebesgebo?6 ist. Die Betonung des Liebesgebots bedeutet allerdings "keine Reduktion des Gesetzes auf eine Moralität", sondern "eine Radikalisierung des Gesetzes durch die Frage nach dem konkreten Gehorsam in der Liebe zum Nächsten."37 Der Gehorsam gegenüber Gott ist also immer noch die "ratio legis" des Gesetzes, und Jesus rückt sie erneut in den Mittelpunkt der Gesetzesbetrachtung. Dies wird auch dadurch bekräftigt, daß Jesus die zeremoniellen und die verfahrensrechtlichen Vorschriften für überflüssig erklärt und als erstes und höchstes Gebot jenes der Liebe zu Gott bestimmt, wobei er auf eine Formulierung des AT Bezug nimmt. 38 Paulus unterscheidet zwischen einem Gesetz für die Lebenden (dem alttestamentarischen) und einem solchen flir die Auferweckten (dem durch Jesus verkündeten). Beide erfüllen aber den gleichen Zweck: die Unterwerfung des Menschen vor Gott. 39
Röm 7, 22, 25 . Vgl. Mt 5, 18; Lk 16, 17. 34 Mt 5, 19; Lk I 0, 25-28. 35 J. Zmijewski in: M. Görg, B. Lang (Hrsg.), Neues Bibel-Lexikon, Sp. 827. 36 Mt 5, 43 f. ; 7, 12; 22, 40. 37 G. Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, p. 1055. 38 Mt 15, 1-20; 22, 34-40; Deut 6, 5; Röm 3, 20-31 ; Hier wird betont, daß Glaube und Gesetz zueinander in Gegensatz stehen, wenn das Gesetz als Weg zum Heil angesehen wird, nicht hingegen, wenn der Glaube und die Liebe Erfüllung des Gesetzes sind. Das neue Gesetz ist somit ein grundlegend anderes als das alte, nämlich ein "Gesetz des Glaubens" (Röm 3, 27); das Gesetz wird somit der Beziehung zu Gott als nachrangig angesehen. 39 Röm 7; ebso. die von stoischem Gedankengut geprägte Stelle in Röm I, 18 ff; in der Anm. dazu heißt es: "Die ,Ungerechtigkeit' der Menschen besteht in der Abkehr von ihrem Schöpfer. Alle Einzelsünden sind Folgen dieser Grundsünde, aus der sich die Menschen nicht selbst freimachen können." 32 33
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Der absolute Zielpunkt des Gesetzes: ein Ausdruck des Bundes zwischen Gott und den Menschen zu sein, ist damit gewahrt. Dennoch haben die Menschen ihr Scheitern vor den Gesetzen erkennen, ihre Sündhaftigkeit eingestehen müssen. Paulus sagt, er habe "die Sünde nur durch das Gesetz erkannt. ( ... ) denn durch das Gebot sollte die Sünde sich in ihrem ganzen Ausmaß als Sünde erweisen." 40 In Hinblick auf diesen Zustand kommen zwei Konsequenzen in Betracht: entweder die Entstehung eines ausgeprägten Schuldbewußtseins, wie es flir das Judentum und die tragischen Gesellschaften charakteristisch ist, wobei das Gesetz seinen absoluten Charakter behält; oder die Überwindung des Gesetzes durch die Gnade Gottes, die Gründung des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen auf die Gottestat der Vergebung, was gleichzeitig aber eine Relativierung des Gesetzes bedeutet. Diesen Ausweg hat das Christentum gewählt. Wenn man in diesem Sinne von einer "Moralisierung" des Gesetzes spricht, so ist damit keine Aufweichung des Gesetzes durch etwas Schwächeres gemeint, sondern im Gegenteil, seine Ausrichtung an und Auslegung im Hinblick auf etwas Höheres, Absolutes. Damit ist der Gedanke des Naturrechts begründet (der freilich erst später seinen schriftlichen Ausdruck im NT gefunden hat), und, indem es dem Menschen überantwortet wird, zu entscheiden, wie er den Willen Gottes zu erfüllen habe, die Ethik. 41 "Nicht das, was durch den Mund in den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein, sondern was aus dem Mund des Menschen herauskommt, das macht ihn unrein."42 Hier wird der Wert einer Handlung von der Gesinnung abhängig gemacht, nicht vom äußeren Vollzug. 43 Das richtige Recht ist das, welches das Gebot der Liebe erfüllt und zu Gott fuhrt. Das Gebot der Liebe ist dabei selbst eine ausfüllungsbedürftige, formale Wendung, die die Frage nach der Richtigkeit der eigenen Handlung, also einen autonomen Gewissensakt erfordert. Es geht nicht mehr um Gesetz, sondern um Sittlichkeit. Über diesen, ethischen Konflikten ausgesetzten Menschen kann man sagen: "Vertrieben aus der unbewußten Geborgenheit eines mythischen Paradieses, das ihn in einem wohlgeordneten Natur- und Geistesganzen einfach Röm 7, 7, 13. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. !58 f. 42 Mt 15, II; vgl. die Anmerkung dazu. 43 Vgl. auch Röm 2, 17 ff.; in Widerspruch dazu steht scheinbar Röm 2, 13 : "Nicht die sind vor Gott gerecht, die das Gesetz hören, sondern er wird die ftir gerecht erklären, die das Gesetz tun." Da mit "Gesetz" hier die mosaische Gesetzgebung gemeint ist, würde der Ausspruch, wörtlich genommen, der alttestamentlichen Auffassung entsprechen. Man kann ihn aber vielleicht so verstehen, daß "Gesinnung" hier gleichgesetzt wird mit "Tun", da man nicht sinnvoll von etwas überzeugt sein kann, ohne die Überzeugung auch im Handeln umzusetzen, hingegen bloßes "Hören" noch nicht einmal eine Gesinnung erzeugt. Eine rechte Gesinnung kann aber auch der haben, der das Gesetz nicht "hört", nämlich der Heide, weil Gott es ihm "ins Herz geschrieben" hat. 40
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4 Löffelmann
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mitleben und mitschwingen ließ, ist er nun angelangt bei der Qual einer relativen persönlichen Freiheit und dem Zwange zur Wahl zwischen sich anbietenden verschiedenen Möglichkeiten." 44 Diese Wahl, der Gewissensakt, wird geleitet durch gewisse Rechtsprinzipien, welche neben dem Gebot der Liebe bestehen bleiben - das Verbot des Mordes, des Ehebruchs, der Unzucht, des Diebstahls, der falschen Zeugenaussagen und der Verleumdungen. 45 Damit hat sich in gewisser Weise ein Wandel zum Naturrecht vollzogen, denn das christliche Gesetz ist rechtens dann, wenn es inhaltlich gut ist. Dafür steht auch die "Goldene Regel", die eine unmittelbare Nähe zum Liebesgebot hat. 46 Im Naturrecht finden das positive göttliche Recht und das implizit in der Natur und der gesamten Schöpfung möglicherweise vorhandene Naturrecht i.w.S. eine gemeinsame Grundlage. Im NT tauchen neben der erneuten Betonung der Nähe zu Gott zudem (erstmals?) personale Aspekte des Rechts auf, insbesondere, indem dem ersten und wichtigsten Gebot das zweite gleichgestellt wird: "Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten."47 Das Gebot der Nächstenliebe ist zwar auch schon im AT verankert (Lev 19, 18), es zählt dort aber zu den kultischen und sozialen Geboten und ist dem Gebot der Gottesliebe jedenfalls nicht gleichrangig. "Nirgends im Judentum werden Dtn 6, 5 und Lev 19, 18 nebeneinander zitiert. Das christliche Verständnis, das auf Jesus zurückgeht, ist eindeutig: Beide Gebote sind gleich wichtig. Die Liebe zu Gott trägt und bewegt alles, aber muß sich in der Nächstenliebe, die bis zur Feindesliebe reicht, in Gesinnung und Tat erweisen ( ...)." 48 Neben die Nähe zu Gott treten also personale Aspekte, nämlich die Nähe zu den anderen und die Nähe zu sich selbst. Der Mensch wird als in einem sozialen Gefuge stehend begriffen, in dem ihm eine bestimmte Rolle (als "Nächster") zukommt, die ihn gegenüber anderen verpflichtet und umgekehrt persönliche Rechte zuwachsen läßt. Dem geht die Erkenntnis voran, daß erst das Gesetz das Bewußtsein filr die Sünde, filr den Verstoß gegen das Gesetz hervorruft, das Bewußtsein der Fehlbarkeit des Menschen, der die Erlösung durch die
F. v. Hippe!, Recht, Sittlichkeit und Religion, p. 13. Mt 15, 19. 46 Vgl. R. Schnackenburg, Matthäusevangelium, p. 74: "Wichtig ist die Nähe zum Liebesgebot (Lev 19, 18), das mit dem Hinweis , wie dich selbst' ebenfalls eine Maxime ftlr das Handeln darstellt Bei Lk steht die Goldene Regel im Kontext der Feindesliebe (6, 31 ), und Mt wird sie als Quintessenz der das alte Gesetz übertreffenden Weisungen Jesu auffassen, die auch ftlr ihn im Liebesgebot gipfeln. Bruder- und Feindesliebe, Goldene Regel und Hauptgebot liegen ftlr ihn auf der gleichen Linie." 47 Mt 22, 39-40. 48 R. Schnackenburg, Matthäusevangelium, p. 218. 44
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Liebe Gottes, nicht durch das Gesetz, den einzigen Ausweg bietet. 49 Diese kritische Haltung gegenüber dem Gesetz, das Durchschauen der "Versklavung unter Gesetz, Sünde und Tod"50 erfordert eine ausgeprägte Erkenntnisfähigkeit und kann von psychologischer Warte als ein zunehmendes Erwachen des Selbst- und Wirklichkeitsbewußtseins gedeutet werden. Auch kommt es zunehmend auf das Individuum an; das zeigt sich schon daran, daß es in den Erzählungen des AT um das Volk, in denen des NT dagegen meist um beispielhafte Einzelfälle geht. Die Forderung des Liebesgebots im Deuteronomium richtet sich an das "kollektive Du Israels", während im NT der Nächste als Individuum Gestalt gewinnt. 51 Die Synagogengemeinde gehört zu den Errungenschaften des babylonischen Exils. 52 Man könnte annehmen, daß an die Stelle des Kollektivbewußtseins ein Individualbewußtsein tritt. Außerdem könnte man von einer "Rücknahme der Projektion" sprechen, denn der israelitische Gott hat zwar noch zutiefst menschliche Züge - er ist eifersüchtig, gnädig, böse usw. - aber er ist nicht mehr von menschlicher Gestalt, und er verbietet den Israeliten sogar, Abbilder seiner selbst anzufertigen. Im NT wird er schließlich zum unerreichbaren Ideal der Liebe und Güte, verliert also seine widersprüchlichen, menschlichen Züge. Gott - das Numinose - wird als etwas Übermächtiges, von außen Kommendes erfaßt, im Gegensatz zu anderen, besonders östlichen Kulturen, wo das Göttliche als eine Belebung der Natur erscheint - als deren Teil sich prinzipiell auch der Mensch versteht - und wo es in Darstellungen als personifizierte Wesen Ausdruck findet. Daher sind mächtige Herrscher solcher Kulturen mit göttlichen Attributen ausgestattet, denn Götter und Menschen gehören prinzipiell der gleichen Realität an. Umgekehrt nimmt in primitiven und auch östlichen Religionen, wie z.B. im Hinduismus, die Verehrung
49 Vgl. Röm 7, 7-25; vgl. G. Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, p. 1065 f.: "Mit dem Verbot der Sünde vollzieht das Gesetz zugleich ihre Enthüllung. ( ...) Dadurch führt das Gesetz den, der es recht hört, zur Erkenntnis der Sünde(... )." 50 R. Pesch, Römerbrief, p. 63; ib.: "Zu diesem ,Durchblick', den erst der Glaubende gewinnen kann, gehört flir Paulus wesentlich der Einblick in die Rolle des Gesetzes, deren Problematik in 7, 5 angedeutet war( ...) und im neuenEinwand ,Heißt das nun, daß das Gesetz Sünde ist' deutlich artikuliert ist." 51 Vgl. G. Braulik, Deuteronomium, p. 56; vgl. auch W. Kornfeld, Levitikus, p. 75 zu Lev 19, 18: "Diese berühmteste Lev-Stelle wird- zusammen mit Dtn 6, 5- im NT zum Inbegriff des gesamten Gesetzes und der Propheten, d.h. der ganzen Offenbarung schlechthin, erklärt(... ). Allerdings ist der begriffliche Unterschied zu beachten: Im AT ist der ,Nächste' ein Mitglied des gleichen Verbands, vor allem ein Angehöriger des Bundesvolks, im weitesten Sinn ein als Gastbürger im Lande wohnender Nichtisraelit ( ...); in der Qumrangemeinde wurde nur ein Sektenmitglied als Nächster gewertet; im NT gilt jeder Mensch als Nächster, weil Gottes Liebe, besonders im Erlösungswirken Christi, alle Menschen umfaßt ( ... )." 52 W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. 293 .
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2. Kapitel: Dialektik
von menschlichen Körperteilen, vor allem des Phallus und der Vulva, einen hohen Stellenwert ein. 53 Betrachtet man religiöses Erleben als einen zentralen Bestandteil des seelischen Lebens, so wird einsichtig, daß die Rücknahme der Projektion von einem Ringen um die Nähe zu Gott begleitet wird. Es muß aber berücksichtigt werden, daß derlei psychologische Interpretationen - auf die im Zusammenhang mit den Deutungen Jungs noch näher einzugehen ist - ein Vorverständnis an die biblischen Texte herantragen, das diesen möglicherweise überhaupt nicht gerecht zu werden vermag, so daß solche Versuche mit Vorsicht zu betrachten sind.
D. Säkularisiertes Rechtsverständnis Obwohl wir das Recht heute prinzipiell als etwas von der Religion Unterschiedenes auffassen, bestehen doch enge Bezüge zwischen beiden, v.a. vor dem Hintergrund ethischer Fragestellungen. Zwar kann man wohl allenfalls noch in Einzelfällen (z.B. bei der Gewährung von Kirchenasyl) von einer unmittelbaren Einflußnahme der Religion auf das Gebiet des Rechts durch Aufstellen von Verhaltensnormen sprechen, jedoch bereiten religiöse Vorstellungen zu einem wesentlichen Teil den Boden flir das Entstehen einer Kultur und seiner Rechtsordnungen, sie sind Teil des geltenden "Paradigmas" (dem man sich daher auch nicht einfach durch religiöse Neutralität entziehen kann54 ), so daß man gewiß von einer mittelbaren Einflußnahme sprechen kann. Ein Bindeglied zwischen Recht und Religion ist die Ethik. V. Hippel schreibt: "Schon die ganze sozialistische Bewegung des 19. Jahrhunderts war, soweit sie sich selber versteht, mit ihren Beschwerden über Ausbeutung und Lohnsklaverei letzthin ethisch begründet und ein Appell auch des erwachten Gewissens an die noch schlafenden. Die großen Grundrechte der Persönlichkeit auf Gewissens- und Glaubensfreiheit, auf Forschungsfreiheit, auf freie Meinungsäußerung usf. sind als Früchte einer großen moralischen Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts gewonnen worden. Ihre Aufnahme zunächst in die Weimarer Verfassung und später in das Bonner Grundgesetz bedeutete ebenso eine elementare Anerkennung persönlich-ethischer Grundlegung unseres Lebens, wie die sofortige Außerkraftsetzung dieser Rechte durch das 'Totalitätsprinzip' des Dritten Reiches eine entsprechende Vemeinung und Abschaffungjedweder ernst zu 53 Verehrt werden freilich nicht "Körperteile", sondern diese sind Ausdruck von etwas Göttlichem, dem sich der Mensch verbunden fühlt. 54 F. v. Hippel, Recht, Sittlichkeit und Religion, p. 44 f. schreibt, daß "es trotzaller neueren Bemühungen um eine nur eigenständige Entwicklung von Jurisprudenz und Moral auch heute noch nicht zuletzt vom Leben selbst uns abgenötigte, mit oder ohne Bewußtsein zu vollziehende Vorgriffe und Vorentscheidungen religiöser oder doch metaphysisch-weltanschaulicher Art sind, die dann folgeweise auch über das Recht und über die Sittlichkeit der Erdenmenschen bestimmen."
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nehmenden persönlichen Sittlichkeit durch einen alles verschlingenden staatlichen Leviathan anzeigte und, bei gleichzeitiger Verneinung auch eines eigenständigen religiösen Bereiches, auf die Alleinherrschaft eines seinerseits zur hohlen ,Legalität' werdenden, jeder Willkür dienstbaren ,Rechtes' hinauslief." 5 ~
Sozialethische Normen sind nicht nur in Form der "großen Grundrechte" in unsere Verfassung eingegangen, sondern haben auch (nachträglich) Aufnahme in unser (auf der ideellen Basis des Liberalismus entstandenes) BGB gefunden (und von dort in andere Rechtsgebiete), so z.B. in Form des § 242, der "der Rechtsausübung dort eine Schranke (setzt), wo sie zu untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit offensichtlich unvereinbaren Ergebnissen flihrt." 56 Anhand der Gegenüberstellung von theistischem und säkularisiertem Normverständnis kann man vielleicht ein allgemeines Merkmal der Beziehung von Recht und Religion erkennen. Religiöse Nonnen verpflichten bedingungslos und grundsätzlich (fundamentalistisch), sie fordern Liebe, Sittlichkeit, Güte usw. Rechtliche Nonnen sind dagegen dem praktischen Gebrauch verpflichtet; sie dürfen, um verpflichtend zu bleiben, nicht überfordern. Daher begnügen sie sich z.B. damit, grobe Unsitte zurückzuweisen. 51 Sie stützen sich auf die Sanktionierung des Unrechts, üben aber Zwang aus. Religiöse Nonnen werben demgegenüber auch mit der Belohnung des Guten und Gerechten, stellen seine Ausübung aber in höherem Maße der Freiwilligkeit anheim. Man kann daher davon sprechen, daß Religion eine "Selbsthingabe" erfordere und eine Aufhebung der Grenze zum Nächsten, das Recht hingegen auf dem Gedanken der "Selbstbehauptung" und "Selbsteinschränkung" beruhe, der Begrenzung des subjektiven Rechts durch die Rechte anderer, der Anerkennung der Grenze zum Nächsten. 58 Das Recht geht somit vom Ich, von der persönlichen Freiheit aus, ihre Begrenzung gilt aber "ohne Ansehen der Person". Die Religion ist hingegen ein allerpersönlichstes Gut, aber sie beruht wesentlich auf dem Gedanken der Gemeinschaft. Freilich kann solch eine Unterscheidung, die hier besonders auf christliche Vorstellungen Bezug nimmt, nicht pauschal gelten, sowenig man eben Recht und Religion in ihren Ursprüngen und ihrem Auftreten voneinander scheiden kann. Der Gott des AT verpflichtet auch durch seine Furchtbarkeit, der neutestamentliche Gott richtet ebenso "ohne Ansehen der Person"59, und der moderne Überzeugungstäter widersetzt sich bewußt und aus ftir ihn höheren Motiven dem Zwang des Gesetzes. ln Hinblick auf andere Kulturkreise zeigt sich schließlich, daß unserem, auf Abwehr bedachten Rechtssystem ib. p. 17 f. H. Heinrichs in: Palandt, § 242 Rn. 2. 57 Vgl. RGZ 48, 124 f.; 55, 373; A. Kaufmann, W. Hassemer (Hrsg.), Einfllhrung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, p. 173. 58 Vgl. W. Simons, Religion und Recht, p. 44. 59 Röm 2, II; die Aussage klingt allerdings nicht ganz überzeugend, da dem Juden eine Vorrangstellung eingeräumt wird; vgl. dazu R. Pesch, Römerbrief, p. 33. 55
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keineswegs eine so universale Grundkonzeption eignet, wie gelegentlich angenommen wird.60 Festgehalten werden kann aber sicherlich, daß Religion und Recht auch im modernen Staat in einem engen, wenn auch nicht ganz klar zu bestimmenden Verhältnis stehen. Ferner, daß religiöse und rechtliche Vorstellungen eines Volkes in irgendeiner Weise vom Stande seiner kulturellen und damit auch geistigen Entwicklung abhängen. Die Ausprägung der autonomen sittlichen Person läßt sich nur im Kontext von Religion und positivem Recht verstehen. Es liegt ihr eine allmähliche Differenzierung von Ethik, Religion und Recht zugrunde, deren Bereiche allerdings weiterhin in komplexer Weise miteinander verknüpft bleiben. Während für die Ethik nämlich ihre große Abstraktheil kennzeichnend ist, die Suche nach einfachen formalen Kriterien, die die inhaltlichen Anforderungen, die an die einzelne Person gestellt werden, erfüllen helfen sollen (weshalb man eigentlich auch nicht vom neuen "Gesetz" Christi, sondern richtig nur von christlicher "Ethik" sprechen kann, und weshalb der Begriff "Kirchenrecht" im Grunde auf einen inneren Widerspruch gebaut ist, da seit Christus der zwingende Charakter des Rechts überwunden ist durch die freiwillige Selbsthingabe an das Gute), zeichnet sich das positive Recht durch zunehmende Differenzierung, Berücksichtigung von Ungleichheiten, Eliminierung von Vereinfachungen (z.B. eine Pflichtendifferenzierung in Wehrdienst und Sozialdienst) aus. Darin kann man eine Festschreibung eines Teiles jener Möglichkeiten sehen, die die Abstraktheil der Ethik eröffnet. Ethik und Recht gehen von daher Hand in Hand; positives Recht ist stets eine Gratwanderung zwischen Gerechtigkeit und Beschränkung, ein Kompromiß; Ethik ein Ringen um Anerkennung und Verbindlichkeit. Beider spezifische Merkmale lassen sich auch in unseren heutigen Gesetzen, denen Festschreibungen ethischer Korrektive beigesellt sind (die sogenannten "Gummiparagraphen" und "Ermessensspielräume"), sehr gut nachvollziehen. In der zunehmenden Differenzierung von Recht und Religion kann man somit eine "Vermenschlichung" des Rechts entdecken, seine Abkehr von göttlicher Absolutheil hin zu einer engeren Gebundenheit an die tatsächlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Menschen. Dieser Gedanke findet sich allerdings schon bei den griechischen Sophisten, denen der Mensch das "Maß aller Dinge" ist. Dennoch läßt sich nicht bestreiten, daß eine gewisse Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten, vom Kollektiven zum Individuellen, vom Einfachen zum Differenzierten wahrzunehmen ist.
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Vgl. dazu noch§§ 8, 9.
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E. Der Ertrag
In zahlreichen kulturgeschichtlichen Zeugnissen verschiedener Völker zeigt sich eine enge Verbindung von Recht und Religion, die sich zum Teil noch bis in unser heutiges Recht, das besonders über die Ethik seinen Bezug zur Religion findet, nachweisen läßt. Für die alttestamentliche Kultur lag die Bedeutung des Rechts vor allem in seinem formalen Charakter, hervorgehend aus der Funktion des Rechts, eine Beziehung zum Göttlichen herzustellen. Der Inhalt war in großer Detailliertheit vorgegeben 61 , offensichtlich praktischen Bedürfnissen entsprungen und nicht Gegenstand der Reflexion. Verstöße gegen den Inhalt wurden als Sünde erfahren; auch die Unvermeidlichkelt derartiger Verstöße ftihrte nicht zu einer Infragestellung des Gesetzes, sondern zu einem ausgeprägten Schuldbewußtsein. Sünde, Schuld und Vergehen erhalten im AT ihre Bedeutung nicht in Hinblick auf das Gesetz, sondern in Hinblick auf Gott, der· dominanter Gegenstand des Denkens ist. Bestraft wird nicht der Bruch des Gesetzes, sondern der Bruch des Bundes, der Verrat an Gott. Erst im NT taucht eine reflexive Ebene auf. Die alten Gesetze werden als "schwere Lasten" bezeichnet, die die Schriftgelehrten und Pharisäer den Menschen auf die Schultern legen, obwohl sie selbst keinen Finger rühren, um sie zu tragen. 62 Damit entsteht die Frage nach der materiellen Richtigkeit des Rechts; es entsteht die personale Ethik, da das neue Gesetz eine persönliche Verantwortlichkeit fordert. Beides hat mit einer Zunahme der Erkenntnisfähigkeit zu tun und könnte psychologisch durch eine Bewußtseinsentwicklung erklärt werden.
§ 6 Recht und Religion in primitiven Kulturen A. Das Verhältnis von Recht und Religion Auch von seiten der anthropologischen und rechtsanthropologischen Forschung wird auf den engen Zusammenhang von Recht und Religion bei primitiven Völkern hingewiesen. Seide Institutionen dienen dem Ausdruck gemeinsamer Werte und damit der Überwindung oder Harmonisierung von Partikularinteressen. Dadurch wird das häufige Fehlen eines gemeinsamen autoritären regierenden und rechtsprechenden Organs kompensiert. "Wenn einer Gesellschaft die spezialisierten Organe fehlen, die durch ihren Status Partikularinter-
61 Zur Zeit Jesu zählte man 613 heilige Vorschriften, die die Schriftgelehrten aus dem Gesetz des Mose abgeleitet hatten (Anm. zu Mt 23, 4; R. Schnackenburg, Matthäusevangelium, p. 217); von großer inhaltlicher Detailliertheit sind alle frühen Volksrechte, vgl. z.B. das bedeutende fränkische Lex Salica (Anfang 6. Jh.); Quellen bei K. Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte I (1972). 62 Mt 23, 4.
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2. Kapitel: Dialektik
essen gleichzeitig überwinden und zusammenbringen, wird der Konflikt durch die Anerkennung gemeinsamer Werte gelöst, durch einen Appell an die gemeinsame religio." 63 Peristiany berichtet weiter, daß die Ältesten in solchen Gesellschaften "entweder Priester werden oder reisende Ratgeber; das heißt, sie werden entweder Vermittler zwischen Mensch und Gott oder zwischen partikularistischen und gesellschaftlichen Werten." 64 J. Layard65 ftihrt die Entstehung der Phänomene von Recht und Religion in primitiven Gesellschaften auf das Inzest-Tabu zurück, dessen Bruch als ein sehr schwerwiegendes Verbrechen angesehen wird - nicht aus biologischen Gründen, sondern aus sozialen, weil der Inzest die innere Stabilität der Gemeinschaft zerstört.66 Aufgrund dieses Verbots entsteht innerhalb von territorial eng zusammenlebenden Völkern ein komplexes System der Heiratsvorschriften und Verwandtschaftsbeziehungen und -regelungen, deren gegenseitige Verflechtung wiederum, wie auch M. Gluckrnan67 betont, von entscheidender Bedeutung fiir die Aufrechterhaltung der Stabilität und Sicherheit der Gemeinschaft, fiir ihre Ausdehnung sowie fiir die Beilegung von Rechtsstreiten ist. Die Verwandtschaftsordnungen "regulieren das formale Verhalten und die Einstellungen zu diesem Verhalten gegenüber Mitgliedern der verschiedenen Verwandtschaftskategorien, indem sie auf subtile Weise ein empfindliches Gleichgewicht von Achtung, Familiensinn, Furcht, Eifersucht, Gehorsam und Autorität herstellen, in welchem solche Gefiihlshaltungen gebunden werden müssen, wenn der Stamm überleben und nicht in eine chaotische Masse von konkurrierenden Interessenten auseinanderfallen soll."68 Die Entstehung des Religiösen wird - wohl in gedanklichem Anschluß an Freud - auf die Verdrängung der verbotenen Sexualwünsche und ihre Externalisierung und Verarbeitung in Gottheiten und Riten zurückgefiihrt. Daher würde Inzest unter Göttern auch verehrt, wie etwa das Beispiel von Zeus und Hera zeige. R.W. Firth betont hingegen den sozialen Aspekt der Religion, der sich nicht allein mit individualpsychologischen Begriffen erklären lasse. Es komme vielmehr auf die wechselseitige Verknüpfung von religiösen Vorstellungen und Praktiken an. 69 W. Fikentscher spricht von einer gleichlaufenden Entwicklung von Recht und Religion. 70 Die enge Verknüpfung von Recht, Religion und Moral in primitiven Gesellschaften zeigt anband konkreter Beispiele auch U. Wesel. Er betont, daß NaturJ.G. Peristiany in: Institutionen in primitiven Gesellschaften, p. 56. ib. p. 53. 65 J. Layard in: Institutionen in primitiven Gesellschaften, p. 59 ff. 66 Das betont auch U. Wesel, Frühformen des Rechts, p. 181. 67 M. Gluckman in: Institutionen in primitiven Gesellschaften, p. 76 ff. 68 J. Layard, a.a.O. p. 73. 69 R.W. Firth in: Institutionen in primitiven Gesellschaften, p. 24. 70 W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. 93. 63
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religionen nicht nur existentielle Bedeutung hätten, in dem Sinne, daß sie der Erklärung der eigenen Existenz und der der Umwelt dienten, sondern in starkem Maße auch normative Kraft. Aufgrund der Beobachtung, daß - flir unser Verständnis- zentrale und auch moralisch sanktionierte Rechtsinhalte, wie das Verbot von Mord, Totschlag, Diebstahl und Ehebruch nicht zum Inhalt früher Naturreligionen gehören, sondern - falls sie überhaupt als Verbrechen angesehen werden - "nur" zum Bereich des Rechts, sie hingegen in die Normenkataloge späterer Religionen aufgenommen sind, gelangt Wesel zu der überraschenden Einsicht, daß die Verflechtungen von Recht und Religion im Laufe der Entwicklungen früher Gesellschaften zunächst zunehmen.71 Damit widerlegt er gleichzeitig die These älterer Anthropologen, das Recht sei aus der Religion hervorgegangen; vielmehr sei es umgekehrt richtig, daß Rechtsinhalte in religiösen Vorstellungen Aufnahme gefunden hätten. Diese Einsicht ist gut vereinbar mit der Annahme, daß die Berufung der Herrscher auf göttliche Herkunft des Gesetzes in späteren kephalen Gesellschaften Mittel zur Legitimierung und Durchsetzung rechtlicher Vorschriften war.
B. Die" Unvollkommenheit" primitiven Rechts Anhand der Problematik von Rechts-Transfers zwischen verschiedenen Gesellschaften entwirft M. Alliot ein kühnes Bild der Entwicklung des Rechts von seinen Anfangen bis zu seiner heutigen Gestalt. Er geht von der Beobachtung aus, daß primitive Völker aufgezwungenen Veränderungen ihres Rechtssystems sehr ablehnend gegenüberstehen und erklärt dies mit ihrer Furcht vor dem Verlust von Unabhängigkeit und Verschiedenheit, die zu bewahren Aufgabe des Rechts der Primitiven sei. Das primitive Recht lege Wert auf die Persönlichkeit der Gruppe, nicht des Individuums, die nur erhalten werden könne, wenn Recht nicht das subjektive Recht eines Individuums meine, das gegen die Rechte anderer verteidigt werden muß. Veränderungen des Rechts und auch seine Anwendung könnten daher nur durch die Gruppe erfolgen, womit der Gefahr der Ausbildung von Herrschaftsstrukturen und damit der Beschränkung von Freiheit und Vielfalt (selektiver Vorteil!) vorgebeugt werde. "Das Ideal dieser Gesellschaften ist es, daß das Recht nicht unabhängig von ihnen exi71 Das klingt auch bei M. Aillot an: "Das Recht, so wie wir es verstehen, entwickelt sich in den Gesellschaften, die über andere Regulierungsmechanismen verfugen. Es ist aber nicht von diesen zu trennen; im Gegenteil, es verschmilzt mit ihnen. Die Verquikkung mit den anderen Ordnungsmechanismen und die mangelnde Autonomie der rechtlichen Mechanismen gegenüber den religiösen Vorstellungen, moralischen Überzeugungen, magischen Techniken ebenso wie gegenüber physikalischen oder mystischen, irdischen oder kosmischen Naturphänomenen verstärkt die Achtung vor dem Recht." (M. Aillot in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 185 f. ).
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stiert, daß es ihnen umgekehrt vielmehr dient und daß keiner mit Hilfe des Rechts sich dieser Gesellschaft bedienen kann." 72 Primitive Völker müßten demnach verstanden werden als "Gesellschaften, die dem Recht mißtrauen, um ihre Freiheit zu schützen, während die europäischen Gesellschaften dem Recht vertrauen, um die Freiheit ihrer Individuen zu schützen."73 Der entscheidende Unterschied zwischen diesen Systemen, den Aillot anband von Beispielen des Wandels rechtlicher Traditionen entwickelt, ist der, daß die Herausbildung von Herrschaftsstrukturen, die das primitive Recht zu verhindem sucht und die der Auffassung eines subjektive Rechte innehabenden, im Kampf mit anderen stehenden Individuums letztlich zugrundeliegen, eine Legitimation der Rechtsordnung erfordert, die nicht in der Gesellschaft gefunden werden kann, sondern von einer über der Gesellschaft stehenden Instanz abgeleitet werden muß, die dem Recht Autorität verleiht. Man kann auch vom zunehmenden Erfordernis der Objektivierung des Rechts sprechen, die in der Auffassung eines universell gültigen Naturrechts als eines Ausdrucks göttlichen Willens ihren Höhepunkt fand. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts einsetzende Einsicht in die Unvollkommenheit, Zweifelhaftigkeit und auch Gefährlichkeit des Rechts habe schließlich in Europa zu einer erneuten Zersplitterung der Rechtsordnung gefUhrt, über die Alliot urteilt: "Unser reelles Recht hat sich stark dem der primitiven Gesellschaften angenähert, das einer strengen Kontrolle durch die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit sowie durch Partikulargruppen, welche die Gesellschaft ausmachen, unterliegt." 74 Das primitive Recht ist daher nicht unvollkommen in dem Sinne, daß es mangelhaft wäre, sondern Ausdruck eines Bekenntnisses zu einer bestimmten Lebensform, einer "Wahl".
C. Entwicklungstendenzen Allgemein vorausgesetzt werden müssen folgende anerkannte75 Unterscheidungen: Die Entwicklung der Menschheit wird in drei Stufen unterteilt. Die erste Stufe bilden die Gesellschaften der Jäger und Sammler, die sich vor allem durch ihre große Mobilität auszeichnen. Auf der zweiten Stufe finden sich die kultivierenden, der Organisation nach "segmentären", in Gruppen gegliederten Gesellschaften, die bereits der planmäßigen Produktion von Nahrungsmitteln fahig sind. Die dritte Stufe steht unter dem Titel "urbane Revolution" und wird eingenommen von den sogenannten "kephalen" Gesellschaften, d.h. solchen, ib. p. 192. ib. p. 210. 74 ib. p. 208; die Aussage bezieht sich auf das französische "reelle Recht". 75 Die Unterscheidung stammt erstmals von V.G. Childe und wird als "two-revolution theory" bezeichnet; vgl. m.w.N. W. Fikentscher, Modes of Thought, p. 238 f. ; id., Methoden des Rechts. Band I, p. I04 ff. 72 73
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die einen "Kopf', z.B. einen König haben und sich durch ihre Herrschaftsstrukturen sowie durch Arbeitsteilung und Spezialisierung auszeichnen. Unterscheidungskriterien sind die Art der Nahrungsbeschaffung und die Einfiihrung der Arbeitsteilung. Die Entwicklung der Schrift kann auch als Indikator flir kephale Gesellschaften gelten. (Herrschaftsstrukturen bilden einen Verwaltungsapparat aus, der einer Schrift bedarf.) Viele, das Recht betreffende Entwicklungen finden erst auf der letzten, durch einen Staat getragenen Stufe der Gesellschaft statt, bei der man eigentlich nicht mehr von "primitiven" Kulturen sprechen kann. Allgemeine Entwicklungstendenzen des Rechts, in Hinblick auf diese Unterscheidungen, zeigt U. Wesel auf. 76 Er stellt fest, daß man schon sehr früh eine Zunahme des Umfangs des Rechts beobachten könne; damit verbunden sei u.a. die zunehmende Verkomplizierung der Verwandtschaftsbeziehungen. Mit der Herausbildung von Herrschaftsstrukturen hänge die Entstehung der Trias von Rechtssubjektivität, Eigentum und Vertrag zusammen. Ebenso könne, wie erwähnt, eine Zunahme der Verflechtung von Recht und Religion festgestellt werden. Eine Vielzahl von wichtigen Entwicklungen- etwa die Auflösung der alten Einheiten von Strafrecht und Privatrecht, von objektiver und subjektiver Haftung, von Person und Handlung, die Entstehung formaler Rechtsgleichheit, die höhere Bewertung des Individuums, auch des individuellen Verschuldens, die Individualisierung der Moral, die zunehmende Verflechtung von Recht und Politik, damit einhergehend der Prozeß zunehmender Verrechtlichung usw. setze dagegen erst nach der Entstehung des Staates ein. Generell stellt er fest, daß das vorstaatliche Recht sich besonders durch seine Einheit auszeichnet. Dahinter stehe die Egalität in der vorstaatlichen Ordnung; erst mit ihrer Auflösung beginne eine Ausdifferenzierung verschiedener Institutionen, was das Kennzeichen von Herrschaft sei.77 Auf besondere Zusammenhänge zwischen verschiedenen Forschungsergebnissen der Rechtsanthropologie weisen W. Fikentscher, H. Franke und 0. Köhler hin. 78 So hänge mit der Ausbildung der Idee des subjektiven Rechts das Zeitverständnis innerhalb einer Kultur eng zusammen, da dieses den Sinn flir Verfahren und Prozeß, die ein "Rechtsaustrag auf der Zeitachse" seien, bedinge. In Verbindung damit stehe auch die westliche Auffassung des Vertrags als eines subjektiven Rechts, die sich so nirgendwo sonst auf der Welt finde, obwohl es überall "Verträge" gebe. Die Frage nach dem Naturrecht stelle sich, so die Autoren, in jeder Rechtsordnung. Je skeptischer aber die Entstehung des
U. Wesel, Frühformen des Rechts, p. 350 ff. ib. p. 343 ff., 350. 78 W. Fikentscher, H. Franke, 0 . Köhler in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 33 ff. 76
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Rechts und der Gerechtigkeit beurteilt werde, desto näher stehe eine gegebene Rechtsordnung der Verfahrensidee. Hervorzuheben ist weiter, daß sich alle Autoren in der Einschätzung der besonderen Bedeutung der sozialen Strukturen innerhalb primitiver Gesellschaften einig sind. Gemeinsame Wertvorstellungen, die hervorragende Bedeutung von Geschenken im sozialen Leben 79, die gemeinsame Ausflihrung von Zeremonien und Ritualen, die schrittweise Herausbildung einer organisierten öffentlichen Meinung und eines darauf beruhenden Strafrechts, das "Hervorgehen" der Ftihrer aus der Gemeinschaft, nicht ihre Ernennung, die Strafe der Ausstoßung aus der Gemeinschaft, die einem Verlust der Bürgerrechte gleichkommt, die Beurteilung der Schwere eines Verbrechens nicht nach seinem abstrakten Gehalt, sondern nach den sozialen Beziehungen zwischen Täter und Opfer (strukturelle Relativität) 80 zeigen, daß in primitiven Gesellschaften die Wohlfahrt der Gemeinde derjenigen des Individuums Obergeordnet ist. Wie bei uns, nur in ihrer Verkntipfung vielleicht leichter erkennbar, sind Wertvorstellungen und religiöse Vorstellungen in ein soziales Gesamtsystem eingebettet, aus dem sie sich nicht einfach abstrahieren lassen, weswegen gegenOber verallgemeinernden Schlußfolgerungen Vorsicht geboten ist. Besondere Erwähnung soll noch der Begriff der ,,Achsenzeit" finden, den K. Jaspers in seinem Werk "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" (1949) geprägt hat, und auf den wiederholt zurtickgekommen wird. Die Achsenzeit ist 79 R.W. Firth und M. Gluckman berichten vom Kula-Tauschsystem, das einen Inselring vor der südöstlichen Spitze von Neu-Guinea zusammenschloß, bei dem sich in einer Richtung rund um die Inseln Muschelhalsketten im Umlauf von Partner zu Partner befanden, und in der entgegengesetzten Richtung zwischen denselben Partnern Muschelarmbänder weitergegeben wurden. 80 J.G. Peristiany, a.a.O. p. 50 schreibt: "Man wird oft gefragt, ob primitive Gesellschaften ein Strafrecht und Zivilrecht haben. In diesem Typ von Gesellschaft ist es unmöglich, Vergehen nach ihrem Inhalt zu klassifizieren; denn dasselbe Vergehen wird sehr unterschiedliche behandelt, je nachdem wie groß die politische Distanz ist, die die beiden Parteien voneinander trennt. Zum Beispiel gibt es keine Kompensation für den Mord an einem zur selben Geschlechterlinie gehörenden Mann; ein solcher Fall steht jenseits menschlicher Bestrafung - er ist so etwas wie eine Sünde. Diebstahl und Ehebruch sind innerhalb der Gemeinde schlimmere Verstöße als außerhalb von ihr." p. 56 f.: "Die Verpflichtung, Blutschuld zu sühnen, ist nur wirkungsvoll sanktioniert, wenn es sich um den Mord eines Stammesgenossen handelt. Die Verpflichtung, Kompensation für den Mord an dem Angehörigen eines Bruderstammes zu leisten, hat nur moralischen Charakter. In dem Maße, wie wir über den Kreis der näher verbundenen Gesellschaften hinausgelangen, wächst auch der soziale und politische Abstand. Einen fremden Krieger zu töten, ist eine lobenswerte Tat (...)." Dieses Phänomen, daß es "(i)nnerhalb einer gegebenen Gesellschaft (... ) so viele Rechtssysteme (gibt), als funktionierende soziale Einheiten in ihr vorhanden sind" (L. Pospisil, Anthropologie des Rechts, p. 170) bezeichnet man als strukturelle Relativität des Rechts. Bei der Verwendung des Begriffs der "Struktur" ist freilich Vorsicht geboten, da es Kulturen gibt, denen der Gedanke der "Struktur" fremd ist.
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die Ära der Religionsgründer Lao Zi, Konfuzius, Buddha, Orpheus, Zarathustra, die Zeit des babylonischen Exils der Juden und der Entstehung der griechischen polis. Fikentscher weist auf den Text in Jesaiah 40-55 hin, der eine gute Beschreibung des damaligen Zeitgeistes abgebe: der wachsenden Kritik an den alten Göttern, der Rationalisierung ethischer Prinzipien, der zunehmenden Bewußtheit ftir das Theodizee-Problem und ftir das Problem persönlichen Schicksals und Schuld. 81 In dieses Konzept läßt sich auch die oben nachvollzogene Entwicklung ethischer Haltungen im jüdisch-christlichen Bereich einreihen. Entscheidend ist jedenfalls, daß die Achsenzeit eine Trennlinie zieht zwischen der animistischen, vorachsenzeitlichen Denkart, die noch keine organisierte Struktur hat (was sich z.B. im Fehlen von verantwortlichen Organen ftir gemeinschaftliche Aufgaben ausdrückt), und allen anderen Arten des Denkens, die organisiert sind oder bei denen Fragmentierung eine Art "Programm" darstellt.82 Dieser Unterschied ist bei der Untersuchung früher Kulturen zu berücksichtigen.
D. Entwicklungen in der Rechtsanthropologie Eine wissenschaftsgeschichtliche und damit metatheoretische Würdigung der Theorienbildung über die Entwicklung des Rechts erarbeitet L. Pospisil. 83 Montesquieu und Savigny schreibt er das Verdienst zu, als erste das "Recht als Teil der Kultur gesehen (zu haben), als ein in Raum und Zeit veränderliches Phänomen", und damit die nichtwissenschaftliche und dogmatische Naturrechtslehre zurückgedrängt zu haben. Auf Grundlage dieser Vorgaben habe sich eine lineare Evolutionstheorie ausgebildet, die allerdings bei Marx, Engels, Lenin und Spencer in Dogmatik erstarrt und erst bei Vinogradoff und Durkheim wieder flexibler geworden sei. Hobhause und Hoebel hätten sich schließlich von simplifizierenden Konzeptionsbildungen abgewendet und sich wissenschaftlicher Präzision und Methodik verschrieben; die Bedeutung ihrer Arbeiten liege nicht in irgendwelchen Schlußfolgerungen, sondern in der Verfahrensweise. Die mit solch wissenschaftlichem Anspruch verbundene Einsicht in die Unmöglichkeit einer universalen Theoriebildung zeichne das Werk von Hoebel aus, dem eine empirische Grundanschauung eigne, "die eine lineare und einem universell gültigen Schema gehorchende Entwicklung des Rechts innerhalb der menschlichen Gesellschaften zurückweist." Eine solche Konzeption sei "die adäquateste". 84 Pospisil selbst sieht zwischen dem primitivem
W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 170 f. ib. p. 175 f. 83 L. Pospisil, Anthropologie des Rechts, p. 172 ff. 84 ib. p. 239, 244. 81
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Stammesrecht und dem zivilisierten Recht keinen grundlegenden qualitativen Unterschied, den der "spekulative Evolutionismus" festzustellen glaubte. Als Fehler der alten Theorien nennt Pospisil unter anderem die "Dichotomisierung im begrifflichen Bereich, die zur Weltanschauung der westlichen Gelehrten gehört"85 und die eine adäquate Erfassung der sozialen Wirklichkeit fremder Kulturen nicht gestattete. Auf diese interessante Einschätzung, deren Problematik mit zentralen Fragestellungen der Erkenntnisphilosophie und der Methodenlehre zusammenhängt, wird in einem späteren Zusammenhang noch zurliekgekommen werden. E. Der Ertrag
Die Rechtsanthropologie widmet sich in besonderem Maße dem Verhältnis von Recht und Gesellschaftsstruktur. Dabei läßt sich feststellen, daß in sogenannten "primitiven" Gesellschaften die Bedeutung der Gruppe und der sozialen Strukturen im Vordergrund steht86, was sich z.B. im Phänomen der "strukturellen Relativität" des Rechts zeigt. Zum Teil wird der Ursprung des primitiven Rechts in den Inzest-Tabus gesehen, die das soziale Leben dominieren, zum Teil in dem Bestreben, der Gefahr der Herausbildung von Herrschaftsstrukturen vorzubeugen. Mit deren Entstehen ändert sich das Bild des Rechts. Seine Legitimation durch den Gruppenkonsens wird abgelöst von einer autoritären Legitimation. Damit nimmt die Verflechtung von Recht und Religion zu; die Verkomplizierung des sozialen Lebens bedingt ein Anwachsen und eine Zersplitterung des Rechts. Mit der zunehmenden Bedeutung des Individuums bildet sich der Gedanke subjektiver Rechte und persönlicher Verantwortung aus. "Simplifizierende Konzeptionsbildungen" sind bei der Nachzeichnung solcher Entwicklungslinien aber zu vermeiden. Die bedeutendste Erkenntnis der Anthroplogie ist daher vielleicht die mit dem Ablegen des eigenen ethnozentrischen Standpunkts verbundene Einsicht in die Vielfalt verschiedenster Kulturen, die sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner reduzieren lassen. Mit den Worten von Wolfgang Fikentscher: "Fora long time, the prevailing view in law found little importance stressing the plurality and the difference of legal thinking as part of a legal culture. But the plurality of cultures cannot be denied, nor can the different modes of legal thought, once law has been accepted as a part of the culture of a given society." 87
85 ib. p. 246; s. auch p. 425 f.;
86 vgl. auch vonseitender Entwicklungspsychologie: H. Wemer, Einfiihrung in die Entwicklungspsychologie, p. 328 ff. ; 87 W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 173;
§ 7 Märchen und Moral
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§ 7 Märchen und Moral A. Vornormen im Märchen Mit einer Rechtsvergleichung auf Grundlage der Untersuchung von Märchen beschäftigt sich H. Scholler. Er äußert die Hoffnung, daß sich eine Lösung für die Transplantation westlicher Rechtssysteme in fremde Kulturkreise dann ansteuern ließe, "wenn beiden Rechts- und Staatsentwicklungen gemeinsame archetypische Märchen bzw. Sagen zugrunde liegen würden" 88, da sich in diesen die "Vornormen" einer Gesellschaft Ausdruck verschafften. Aufgrund einer funktionalen Untersuchung typischer, immer wiederkehrender Handlungssequenzen im Märchen kommt er zu der These, daß Märchen und primitives Recht den gleichen ethno-sozialen polygenetischen Ursprung haben. Als Beispiel einer direkten Transformation von Märchen in Recht fiihrt er die äthiopische "Staatslegende" an, die in positives Verfassungsrecht umgewandelt wurde. Die wichtige Problematik, ob es bei der "Moral" des Märchens um eine "Ethik des Handelns", von der auf eine normative Funktion geschlossen werden kann, oder um eine "Ethik des Geschehens" geht, d.h. ob das Märchen eine Antwort auf die Frage nach dem richtigen Tun gibt, oder ob es umgekehrt eine Befriedigung des naiven Gerechtigkeitsgefühls darstellt, indem es zeigt, wie es zugehen muß in der Welt, wird offengelassen. Denknotwendig müßte auf der Ebene der Entstehung und Übertragung des Märchens ein (apriorisches, intuitives) Wissen um die "Richtigkeit" eines Geschehens einer "Ethik des Handelns" wohl vorausgehen.
8. Das dualistische Weltbild Auch von seiten der Märchenforschung wird dem Element des Rechts im Märchen großes Gewicht beigemessen, denn es steht in engem Zusammenhang mit der zentralen Thematik von Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Besondere Erwähnung - vor allem auch in Hinblick auf die Konzeption Jungs - verdient zunächst der Hinweis, daß das Weltbild des Märchens einer dualistischen Weltanschauung entspringt, die die Wirklichkeit aus zwei entgegengesetzten Prinzipien erklärt: Tag und Nacht, Leben und Tod, Himmel und Erde, Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Weiß und Schwarz, hell und dunkel bilden die Pole, zwischen denen sich die Wirklichkeit spannt. Oieses Weltbild kann wohl zum Teil erklärt werden aus der Beobachtung des natürlichen Wechsels von Licht und Dunkelheit durch den primitiven Men88
H. Scholler, Märchen, Recht und Rechtsentwicklung, p. 323.
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2. Kapitel: Dialektik
sehen. Eine solche Erklärung setzt allerdings bereits einen Dualismus von Licht und Dunkelheit voraus. Ebensogut könnte man den Rythmus von Licht und Dunkelheit als Unterbrechung der Dämmerung beschreiben. Über die Herkunft dieser Weltanschauung, die tief in unserer alltäglichen Sprache verankert ist, kann man spekulieren. Hier soll die Feststellung genügen, daß sich dieser Dualismus schon in prähistorischen Vorstellungen findet und früh mit Ritualen verbunden war. Die mythologische Schule suchte den Ursprung von Mythen von diesem Ansatz her zu erklären. Auch flir die Unterscheidung von diesseitiger und jenseitiger Welt ist das dualistische Prinzip von Bedeutung: die Welt der Menschen zeichnet sich durch den steten Wandel der Gegensätze aus, die jenseitige dagegen durch Statik; dort ist nur Licht oder nur Finsternis. "Die Symbolik von hell und dunkel bringt somit zum einen den Wechsel von Helligkeit und Finsternis als einer Existenzbedingung des Lebens in dieser Welt zum Ausdruck; zum anderen verweist sie auf die Notwendigkeit der Entwicklung des lichten (guten) Prinzips im Menschen und seines Sieges über das Böse." 89 Demgegenüber ist der Dualismus beispielsweise im chinesischen Denken zwar von zentraler Bedeutung, jedoch von prinzipiell anderem Charakter. 90 C. Recht und Gerechtigkeit
Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit reihen sich am wenigsten in die oben aufgezählten Gegensatzpaare. Wir verbinden diese Begriffe mit Wertungen, hingegen die anderen rein beschreibend sind. Daß diese normativen Begriffe dennoch mit den anderen in Zusammenhang stehen, mag darauf hindeuten, daß es eine Werterfahrung gibt, bzw. die Fähigkeit zu einer solchen den Menschen ursprünglich eigen gewesen ist. Warum sollte "Erde" mit "böse" assoziiert werden? Man könnte vermuten, daß "böse" ursprünglich gar nicht normativen Charakter gehabt habe. In Hinblick auf die Funktion von Gut und Böse im Märchen schreibt H. Bausinger: "Die Polarisation von gut und böse ist nicht erst Ergebnis von Erzählstrategien und gesetzen, sondern bereits in der Alltagserfahrung angelegt. Handlungsentscheidungen werden dadurch erleichtert, daß das moralische Kontinuum auf die eindeutigen Werte gut und böse reduziert wird, und es besteht eine Neigung, diese moralischen Bewertungen stereotypisierend an Personen festzumachen: Wer böse handelt, ist böse." 91
Für die Rechtsforschung ist die Darstellung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Volkserzählungen von besonderem Interesse. Dabei ist auffällig, 89 90
91
V.I. Sanarov, Enzyklopädie des Märchens (EM), Bd. 6, Sp. 797; ib. m.w.N. Vgl.§8C. H. Bausinger, EM 6, 316.
§ 7 Märchen und Moral
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daß es hier keinen allgemeinen Begriff von Gerechtigkeit gibt. Was gerecht ist, richtet sich unter anderem nach der Ideologie des jeweils Handelnden. Damit sind häufig Sozialkristische Gedanken verbunden (z.B. bei der Bewertung des Diebstahls als soziales Korrektiv), mit dem Ziel der Bewußtseinsveränderung und als Ventilfunktion. Grundsätzlich dominiert eine "Ethik des Erfolgs", worauf unten noch einzugehen sein wird. Strafen erscheinen unserem Verständnis häufig als übermäßig hart, ja ungerecht, besonders wenn sie kompromißlos der Gerechtigkeitsidee verpflichtet sind, daß alle gleich zu behandeln sind. Zum Teil deuten Akte der Gnade und Barmherzigkeit auf christliche Einflüsse hin. Nominelle Ungerechtigkeit gegen bösartige Gegner ist erlaubt. Es ergeben sich auch Unterschiede innerhalb der einzelnen Gattungen. Im Gegensatz zur Sage, in der vor allem auch Frevel und Sünde (Abkehrung von und Aggression gegen Gott) bestraft wird, ist im Märchen eine überirdische, einer Gottheit zugeordnete Gerechtigkeitsinstanz nicht wahrnehmbar vorhanden. "Die Forschung stimmt jedoch darin weitgehend überein, daß die Figuren im Sinne einer höheren Gerechtigkeit und nicht aus eigenem Antrieb handeln. Dies geschieht vor einem religiösen Hintergrund, bei dem es sich allerdings keineswegs um spezifisch christliche, sondern ganz allgemein religiöse Ideen handelt, die schon in den ethischen Bezügen des Märchens liegen."92
Die Gattungen verbindend kann eine Entwicklungslinie ausgemacht werden vom Mythos, in dem eine gnadenlose Gerechtigkeit herrscht, über Märchen, Sage und Legende, die bereits den Begriff der Gnade und Barmherzigkeit kennen, ansonsten aber eine strikte Ahndung der Ungerechtigkeit vertreten, zum Schwank und Witz, die Gerechtigkeitsprinzipien umgehen, negieren oder parodieren. "Die bei alledem zugrundeliegenden Rechtsvorstellungen orientieren sich weniger an den jeweiligen zeitgebundenen Rechtspraktiken oder speziellen Gesetzestexten als an überzeitlichen, interkulturell wenig voneinander abweichenden, grundsätzlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit."93
Das Prinzip der "ausgleichenden Gerechtigkeit", "Similia similibus", "Auge um Auge, Zahn um Zahn" ist dabei jedenfalls dominant. Es gibt auch besondere Rechtssagen, die alle Grundfragen der bäuerlichen Sittlichkeit behandeln
R. Wehse, EM 5, 1055. ib. 1052. Diese Formulierung ist etwas irreführend. Gerechtigkeit i.e.S. betrifft die Art der Ausübung und Anwendung von abstrakten Rechtsvorstellungen (i.w.S. die abstrakte Gerechtigkeit des Rechts, die sich häufig nicht, allenfalls als Ungerechtigkeit feststellen läßt). Diese kann, obwohl ihr die gleiche Grundlage eignet, mitunter sehr verschieden, sogar ungerecht sein (summum ius est summum injuria). Verschiedene Vorstellungen darüber, was gerecht ist, bedingen nicht verschiedene Annahmen dessen, was Recht ist. 92 93
S Lötrelnlann
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2. Kapitel: Dialektik
und als Selbstaussagen des Volkes über seine Glaubens- und Rechtsvorstellungen verstanden werden können . Von besonderem Interesse ftir die Rechtsforschung ist wohl, daß in europäischen Volkserzählungen Juristen sehr negativ als das personifizierte Unrecht dargestellt werden, in außereuropäischen, insbesondere chinesischen, dagegen als salomonische Weise. 94 Demgegenüber erscheinen Recht und Justiz vielen Chinesen noch heute als etwas Bedrohliches. H. v. Senger zitiert den chinesischen Rechtswissenschaftler Fan Zhong Xin: "Während der westliche Mensch, kaum hört er das Wort ,Recht', unwillkürlich an ,subjektives Recht' und ,Gerechtigkeit' denkt, besteht die reflexartige Reaktion des Chinesen in dem Geftihl gleichsam ,auf dünnes Eis zu treten' beziehungsweise ,unmittelbar vor einem tiefen Abgrund zu stehen'. Es ist ihm, als müsse er unter einem herabhängenden scharfen Beil hindurchgehen." 95 Folgt man der These, daß sich in Volkserzählungen Kritik des Volkes an seinen Lebensbedingungen äußert, so wirft dies ein bemerkenswertes Licht auf das Rechtsempfinden der Völker, bzw. auf ihre Zufriedenheit mit der gegebenen Handhabung des Rechts. Hieran müßten sich Untersuchungen darüber anschließen, ob sich die Kritik gegen das Recht als solches, als gesetzte Institution richtet, gegen seine Handhabung und Umsetzung oder gegen seine mangelnde Volksnähe und Verständlichkeit; ferner, ob die Kritik und damit das Rechtsverständnis ihren Charakter im Laufe der Zeit ändert, ob sie an gewisse Entwicklungsstadien gebunden ist. Möglicherweise hängt das Negativbild des Juristen im europäischen Überlieferungsgut mit einer grundsätzlichen Abneigung gegen gesetztes Recht zusammen, da die Individualethik einen hohen Stellenwert einnimmt, hingegen sie in China mit der Angst vor der übermächtigen (göttlichen) Gewalt des Herrschers und der Verhängung drastischer Strafen einhergeht96, die durch das (Wunsch-) Bild vom Juristen nicht als " Richter", sondern als "Gerechter" gemildert wird. D. Ethik des Erfolgs und Ethik des Geschehens Von allen Gattungen der Volkserzählung tritt im Märchen der Dualismus von Gut und Böse am auffallendsten zutage. Dies liegt an der formalen Struktur des Märchens, das der Betonung von Extremen verpflichtet ist. Ein wesentib. 1059 f.; Nai-tung Ting, EM 2, 1357. H.v. Senger, Einführung in das chinesische Recht, p. 27. 96 Dafür steht vor allem der chinesische Legalismus, der - in Gegnerschaft zum Konfuzianismus - den Gedanken einer absoluten Monarchie, auf Grundlage der Herrschaft durch Macht und Furcht vor Strafe, verfolgte (um 360 v. Chr. eingeleitet durch die Reformen des Shang Yang). 94
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§ 7 Märchen und Moral
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liches Prinzip der Moral des Märchens ist es, daß das Gute belohnt, das Böse bestraft wird. Die Bösewichter repräsentieren das Böse als solches97 , dessen Vernichtung nach der Moral des Märchens daher konsequent ist. 98 Andererseits ist bemerkenswert, daß vom Bösen auch eine gewisse Faszination ausgeht. Lüthi und Bausinger weisen darauf hin, daß das Prinzip der Bestrafung des Bösen nicht für die Helden des Märchens Anwendung findet, sondern nur fiir deren Gegenspieler; die Bosheiten der Helden bleiben ungesühnt. 99 P. Groth hat diese Besonderheit damit erklärt, daß das Märchen in erster Linie nicht moralische Dichtung, sondern Glücksdichtung sei. Es vertritt eine "Ethik der Entfaltung, der Selbstverwirklichung" und ist ganz an Wunscherfullung orientiert. Man kann auch von einer "Ethik des Erfolgs" sprechen, die dem Prinzip von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unter Umständen übergeordnet sein kann, z.B. wenn der Listigere die Lacher auf seiner Seite hat. 100 V. Klotz hat betont, daß es im Märchen nicht um eine Ordnung der Gerechtigkeit, nicht um Moral, sondern um Harmonie und Ästhetik gehe. Bausinger fügt dem den relativierenden Hinweis auf die strukturelle Verwandtschaft von Ethischem und Ästhetischem hinzu, die sich in der weitgehenden Gleichsetzung der Oppositionen gut und böse, hell und dunkel, schön und häßlich zeige. 101 Dem kann man die Bemerkung anfügen, daß es sich in beiden Fällen um Phänomene der Werterfahrung handelt, deren Struktur und Ablauf in Ethik wie auch Ästhetik diskutiert wird. 102 M. Lüthi weist ebenfalls darauf hin, daß Märchen, im Gegensatz zu Fabel, Exemplum und Legende, primär keine ethischen Absichten und Ziele haben. Die implizite Ethik des Märchens kennzeichnet er als eine "Ethik der Selbstentfaltung - Individualethik also", beschränkt diese Feststellung aber wohl auf europäische Märchen. "Die ( ... ) Pflicht gegenüber sich selbst ( ...) führt durch die Art der Aufgaben wie von selbst zur Sozialethik". Den Rahmen dafiir gibt eine "Ethik des Geschehens", die den gerechten Ausgleich spiegelt und damit zeigt, "wie es eigentlich in der Welt zugehen müßte". Daneben ist 97 Als Ursprünge des Bösen zeigen sich vor allem Ehrgeiz, Eifersucht, Neid, Not und Besessenheit; psychologisch lassen sich die meisten Fälle durch das Bedürfnis nach "lchstärkung" von Nebenpersonen erklären. Der Tatbestand der "Schädigung" signalisiert das Böse. "Die primitive Einstellung des Kindes: , Was mir wehtut, ist böse.', schimmert als Substrat noch durch, wird aber von differenzierteren Sichtweisen überlagert." (M. Lüthi, EM 2, 631). 98 Häufig sind aber auch die Verwandlung und Heilung des Bösen, seine Erduldung und die Flucht davor. 99 M. Lüthi, EM 2, 619 f.; H. Bausinger, EM 6, 320 ff. m.w.N .. 100 R. Wehse, EM 5, 1061. 101 H. Bausinger, EM 6, 320 ff. m.w.N.; R. Wehse, EM 5, 1055 m.w.N. ; daraufweist E.R. Leach flir rezente primitive Gesellschaften hin; deren ästhetische Werte seien nur verständlich im Lichte anderer Werte (E.R. Leach in: Institutionen in primitiven Gesellschaften, p. 44). 102 Vgl. F.v. Kutschera, Ethik, p. 227 ff.
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2. Kapitel: Dialektik
aber auch "ethisches Verhalten im höheren Sinne, im Sinne Kants und Lessings" möglich, da zahlreiche Märchenhelden allein um des Guten willen handeln, ohne Hoffen auf Belohnung oder Furcht vor Strafe. Erwähnenswert ist außerdem, daß das Märchen seinen Figuren Entscheidungsfreiheit verleiht und ihre persönliche Verantwortung betont. "So ist die Welt der Märchen von mannigfachen ethischen Verhaltensweisen durchspielt ( ...). Im ganzen ist aber bedeutsam, daß das Märchen sehr viel mehr Interesse bezeugt für die Durchführung von Erlösungshandlungen als für den Akt der Verwünschung, so wie es auch mit stärkerem Nachdruck von Belohnung spricht als von Bestrafung." Ob sich hinsichtlich dieser Beurteilung Unterschiede zwischen europäischen und außereuropäischen Märchen feststellen lassen und ob die Dominanz der Erlösungshandlungen auch in Hinblick auf die Erlösung des Bösen (und nicht nur des Verwunschenen) gilt, wird hier nicht erwähnt. 103
E. Besonderheiten der chinesischen Volkserzählung Überleitend zum nächsten Kapitel seien noch einige Besonderheiten der chinesischen Volkserzählung erwähnt, die W. Eberhard, H. Schmidt-Giintzer und Nai-tung Ting feststellen. 104 Die chinesische Volkserzählung ist bis in jüngste Zeit zum überwiegenden Teil mündliche Überlieferung gewesen, da die mündliche Ausdrucksweise des einfachen Mannes in einer Kultur, in der die Pflege der klassischen Sprache für das soziale Vorwärtskommen unerläßlich war, bei den Gebildeten stets auf Verachtung gestoßen war; außerdem herrschten bei den Gebildeten zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihrer Geschichte Agnostizismus und Rationalismus vor; der Konfuzianismus lehnte beliebte Themen wie romantische Liebe und Krieg ab. Die chinesische Volkserzählung wird als außergewöhnlich reich und kraftvoll und von großer Vielseitigkeit sowohl hinsichtlich ihrer Typen als auch verschiedener Fassungen einzelner beliebter Motive eingeschätzt. Spezifische Lebensbedingungen und Einstellungen der Chinesen spiegeln sich unmittelbar in den Erzählungen wider: die Macht der herrschenden Klasse, sich jede gewünschte Frau nehmen zu können; die Rivalität zwischen Geschwistern im ländlichen Umfeld; der unverbrämte Wunsch nach Reichtum 105 ; die Idee der Mäßigung 106 ; der Glaube an Schicksal und Glück; die M. Lüthi, EM 4, 499 ff. EM 2, 1286-1361. 105 Auch heute noch wünscht man sich in China zu festlichen Anlässen "Gutes Einkommen"; der dafür zuständige Gott Lu wird in der Dreiheit mit Fu und Shou genannt, die filr "Glück" und "Langes Leben" stehen, überragt diese beiden aber an Größe und Bedeutung. 106 Diese hat vor allem auch große Bedeutung im Taoismus; vgl. z.B. Lao Zi, Dao Oe Jing, Kap. 67; der zweite Schatz: Genügsamkeit, hat hier aber auch die praktische Bedeutung des Haushalten-könnens. 103
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§ 7 Märchen und Moral
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Unfreiheit bei der PartnerwahL Vom Zweck her dienen sie häufig der religiösen, vor allem buddhistischen, aber auch konfuzianischen und taoistischen Propaganda oder stellten eine Reaktion darauf dar, ein Bemühen, diesen Traditionen eine eigenständige Volkskultur entgegenzusetzen. Als formaler Aspekt ist weiterhin die Historisierung der Erzählungen zu nennen, ihre Darstellung im Gewand eines historischen Berichts unter Angabe von Zeit und Ort. "Es heißt nicht einfach ,einst', auch nicht ,sie leben noch heute', sondern diese Vorstellung tritt in China zurück vor der Vorstellung von analoger Wiederkehr." 107 Typisch fllr chinesische Fabeln ist, daß in ihnen nicht Tiere zu Tieren sprechen; aber auch Menschen sprechen nicht zu Tieren - bis heute ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier in China fundamental -, sondern zu Dämonen und Fabelwesen, deren Herkunft der Forschung ungeklärt ist, die aber zum Teil mythische und sagenhafte Parallelen zum Westen aufweisen. Auffällig ist zudem die Betonung der Konfrontation des "Außergewöhnlichen" mit dem "Normalen", der von jenem begünstigt oder geschädigt wird; man kann dies möglicherweise dem Erfordernis der mündlichen Tradition zurechnen: der Erzähler mußte seine Zuhörer fesseln. Und bemerkenswert ist schließlich die Tatsache, daß die Grenzen zwischen beseelter und unbeseelter Natur stets unscharf geblieben sind. A. Nitschke untersucht in seiner Arbeit die Märchen verschiedener Völker in Hinblick auf darin zum Ausdruck kommende besondere Verhaltensweisen. Er stellt fest, daß in China die Menschen "traditionell inmitten des übermächtigen Wirkens einer nach Gesetzen ablaufenden Natur" handelten. "Sie blieb, auch wegen ihrer Ordnung, dem Menschen überlegen; er mußte sich in seiner Aktivität ihr anpassen; aber gerade dadurch, daß er ihre Macht so hoch einschätzte, wurde er zu einer Aktivität veranlaßt, die sich freilich in die Gesetze der Umwelt einfllgte." 108 In Nitschkes Ausfilhrungen klingt somit auch eine Charaktereigenschaft der Chinesen an, die wir vielleicht als "Schicksalsgläubigkeit" zu bezeichnen geneigt wären und die sich unter anderem in der auffälligen Distanz zeigt, die in chinesischen Märchen zwischen dem Helden und den Ereignissen geschaffen wird. Nitschke betont aber die eigene Bedeutung der Aktivität der Menschen: sie liegt nicht darin, die Ordnung zu beinflussen, sondern darin, sich an ihr zu orientieren und ihre waltenden Kräfte den eigenen Zielen dienstbar zu machen. Dieses besondere Verhalten der Chinesen (und anderer südost- und ostasiatischer Völker) bezeichnet er als "heterodynamisch", im Gegensatz zum "autodynamischen", nur an der eigenen Aktivität gemessenen Verhalten der Europäer, das sich unter anderem durch die Suche nach H. Schmidt-Giintzer, EM 2, 1301. A. Nitschke, Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen Bd. 2, p. 183; dieses "Einfligen in die Gesetze der Umwelt" entspricht taoistischem Gedankengut, dessen Ursprung man daher durchaus im Bewußtsein einer breiten völkischen Masse vermuten kann. 107 108
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Feindbildern auszeichnet, "über die man sich nach Auseinandersetzungen oder gar im Kampf erheben kann." Bemerkenswert ist auch, daß "bei den chinesischen Märchen( ... ) die Umwelt aktiv sein (kann), auch wenn sie keinen personalen Charakter hat." 109 Abschließend soll noch das älteste bekannte chinesische Märchen Erwähnung finden. Es heißt "Der Kuhhirt und die Weberin" und handelt von zwei Personen, die, als Sternbilder am Himmel, infolge von aus Liebe verursachter Faulheit durch den himmlischen Fluß (die Milchstraße) getrennt werden, so daß sie nur einmal im Jahr zusammenkommen können.110 Bemerkenswert ist hier die kosmische Einbindung der Charaktere. Eine Interpretation dieser Merkmale, die sicher vielerlei Deutungen zulassen, ist hier nicht beabsichtigt; zunächst einmal kann ihre Erwähnung als Annäherung an den chinesischen Kulturkreis verstanden werden. Auf einige Merkmale wird noch zurückgekommen werden, fur andere werden sich von selbst Deutungsmöglichkeiten anbieten. F. Der Ertrag
Die Märchenforschung betrachtet das Volksmärchen als Ausdruck des Volksgeistes. Charakteristisch fur das Volksmärchen sind sein dualistisches Weltbild, seine Abstraktheit, die Typenhaftigkeit seiner Figuren, seine Neigung zur Betonung von Extremen. Dies spiegelt sich auch in seinen ethischen Komponenten, namentlich in der Polarisation von Gut und Böse, wobei dem Bösen durchaus eine gewisse Faszination erzeugende Kraft zukommt. Obwohl das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit, das zum Teil kompromißlos durchgesetzt wird, dominiert, kennt das Märchen keinen allgemeinen Begriff von Gerechtigkeit. Was gerecht ist, richtet sich nach der "Ethik des Erfolgs", die in den allgemeineren Rahmen einer "Ethik des Geschehens" eingebettet ist, welche primär den Ideen von Harmonie und Ästhetik verpflichtet ist. Zum Teil stehen hinter den Gerechtigkeitsvorstellungen solche religiöser Art, welche den Helden antreiben. Es wird auch von überzeitlichen, kulturunabhängigen Gerechtigkeitsvorstellungen gesprochen, die sich im Märchen andeuten, wobei das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit im Vordergrund steht. Zum Teil werden in Märchen sogar "Vomormen" einer Gesellschaft gesehen. Im asiatischen Märchen steht das Eingebundensein des Helden in seine Umwelt im Vordergrund, während im europäischen Märchen der Held eher aus eigenem 109 ib. p. 185, 110; die Unterscheidung zwischen autodynamischen und heterodynamischen Verhaltensweisen sowie, als dritte Möglichkeit, Metamorphosen, entlehnt Nitschke der biologischen und historischen Verhaltensforschung. 110 R. Wilhelm, Chinesische Märchen, Nr. 16; vgl. W. Eberhard, EM 2, 1291.
§ 8 Westliches und östliches Denken
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Antrieb zu handeln scheint, wenn auch im Sinne einer höheren Gerechtigkeit. Ideen von Ethik, Recht und Gerechtigkeit nehmen ganz allgemein im Märchen einen breiten Raum ein, so daß die These eines gemeinsamen ethno-sozialen Ursprungs von Märchen und primitivem Recht nicht abwegig erscheint.
§ 8 Westliches und östliches Denken A. Das Problem
Über "östliches Denken" zu schreiben, ist nicht einfach. Eine von westlicher Mentalität getragene Interpretation dieses Denkens ist immer auch Träger von Mißverständnis, denn das Denken erschließt sich nicht im Beobachten, sondern im Mitdenken. Der politische Alltag dürfte Ausweis genug hierfür sein. Gibt es überhaupt etwas wie eine östliche Mentalität, oder ist das, was wir als Mentalität zu erkennen glauben nur Ausdruck einer bestimmten Stufe der Kultivierung? Dies würde eine erkennende Überlegenheit des westlichen Denkens implizieren, die in der Tat auch dem Zeitgeist zu entsprechen scheint. Mit missionarischem Eifer wird der Osten mit den Früchten westlicher Zivilisation beschert. Wer den Osten Chinas besucht, wird allerdings den Eindruck gewinnen, daß sich unter der dortigen jungen Bevölkerung ein sogar filr unser Verständnis recht ausgeprägter kapitalistischer Anspruch sehr wohl mit den kommunistischen Vorgaben zu versöhnen weiß. Es erscheint fraglich, ob wirtschaftliche Öffnung mit politischer Öffnung gleichgesetzt werden kann. Es muß zu Beginn aller Untersuchung die psychologische Frage gestellt werden, deren Gegenstand wir im eigenen Kulturverständnis so selbstverständlich voraussetzen: was ist "der" Chinese, jener Typus Mensch, der die Eigenarten chinesischer Kultur repräsentiert, und der heute, unter dem Einfluß fremder Werte, seine Gestalt zu ändern oder mit einer anderen Schale zu umgeben scheint? Gu Hong Ming 111 , einer der großen Mittler zwischen Ost und West, beschreibt gegen Ende des letzten Jahrhunderts den Chinesen als einen Menschen mit dem Kopf eines Erwachsenen und dem Herzen eines Kindes; vier Merkmale bestimmen seinen Charakter: Tiefe, Weite, Einfachheit und Zartgefiihl.112 Dieser Liebeserklärung an den "wirklichen Chinesen", den Vertreter einer im Niedergang begriffenen Kultur, kann eine Einschätzung von europäischer Warte an die Seite gestellt werden. J. Gebser kommt in einem 1967 ge-
111 Die Transkription chinesischer Namen und Begriffe folgt der Pin-Yin-Methode. Die Schreibweise von Tao, Taoismus usw. wurde in der Weise beibehalten, wie sie im Deutschen Verbreitung gefunden hat. Für Kong Zi und Meng Zi werden die latinisierten Formen Konfuzius und Menzius verwendet. 112 G. Debon, W. Speiser, Chinesische Geisteswelt, p. 291 ff.
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2. Kapitel: Dialektik
halteneo Vortrag über die "Abendländisch-asiatische Polarität" zu dem Ergebnis, daß sich westliches und asiatisches Denken weitgehend ergänzen. 113 Als Charakteristika des asiatischen Denkens fuhrt er an, der Asiate blicke nach innen, weshalb ihm meditative Praxis wesentlicher Bestandteil der Welterfassung sei; er sei fast zeitlos, was man an der geringen Differenzierung asiatischer Sprachen in bezug auf Zeitbegriffe erkennen könne; der Asiate sei "ichschwach", neige zur Gruppenbildung und furchte nicht wie der Europäer den Tod als Verlust des Ich; er übertrage ferner die Verantwortung flir sein Leben dem Schicksal, messe also dem Aspekt der Freiheit weniger Bedeutung zu; und schließlich sei seine Denkweise begriffsfemer, bildnis- und gleichnishaft. Will man diesen Eigenschaften noch ein weiteres Merkmal hinzufiigen, so muß man anmerken, daß das chinesische Denken, alles Wissen, selbst Natur- und Staatsphilosophie, in auffälliger Weise praktisch orientiert sind. Derlei Einschätzungen entbehren nicht eines gewissen spekulativen Gehalts. Ihre Verifizierung kann versucht werden, indem man die Charakteristika einer Denkart zu ihren Ursprüngen zurückverfolgt. Leitende Themen hierbei sind das Verhältnis des Menschen zum Tod, das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, Religion und Ritus sowie ethische und rechtliche Vorstellungen. Frühe schriftliche Überlieferungen und archäologische Funde bilden das Fundament, auf das sich eine solche Untersuchung stützen kann. B. Der Ahnenkult und die Vorgänge während der Achsenzeit
Ein Schlüsselthema zum Verständnis der östlichen Kulturen ist deren Vorstellung von Unsterblichkeit. Grabfunde aus prähistorischer Zeit, die die Kultur des vor etwa 18000 Jahren lebenden sogenannten "Oberen Höhlenmenschen" belegen, bilden in China die frühesten Zeugnisse fiir den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode. 114 Die vorgeschichtlichen Bestattungsformen der damaligen Menschen stellen zugleich die frühesten faßbaren Anzeichen religiösen Denkens dar. 115 Sie lassen darauf schließen, daß der Tod nicht als radikaler Einschnitt betrachtet wurde. Mit der Verwendung von Grabbeigaben aus Jade verband sich der Glaube, durch den harten, kostbaren Stein die Unzerstörbarkeit des physischen Leibes post mortem herbeifuhren zu können. 116 Eine wesentliche Folge dieses Glaubens bestand in dem damit verbundenen Ahnenkult. Der Ahnenkult war in der gesamten Geschichte Chinas ein dominie113 Nach E. Wiesenhütter, Die Begegnung zwischen Philosophie und Tiefenpsychologie, p. 62 ff. 114 Vgl. L. Congyun in: Das Alte China, p. 68. 115 Vgl. C. Lie in: Das Alte China, p. 37. 116 Vgl. H. Brinker in: Das Alte China, p. 15.
§ 8 Westliches und östliches Denken
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rendes soziales Element. Er fand insbesondere in der konfuzianischen Normierung der Zeremonien zu Ehren der Ahnen einen Höhepunkt 117 und ist als Niederschlag der konfuzianischen Traditionen bis auf den heutigen Tag erhalten. Schon während der animistischen Periode wurden die Ahnen als Personifikationen der mit magischen Kräften ausgestatteten Naturerscheinungen betrachtet, ihnen also die Rolle göttlicher Wesen eingeräumt. 118 Eine wichtige Veränderung ergibt sich mit der Aufgabe animistischer Vorstellungen. Diese Erscheinung der Achsenzeit119 kann auch in der frühen chinesischen Kultur nachvollzogen werden. Man kann sie auf die Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (Chun-Qiu-Dynastie, 770-475 v.Chr.) und die Zeit der Streitenden Reiche (Zhan-Guo-Dynastie, 475-221 v.Chr.) datieren, aus denen auch die Großzahl der frühesten schriftlichen Überlieferungen des chinesischen Altertums stammen. Diese Zeit war in religiöser Hinsicht geprägt von einer "Entpersönlichung" der Gottheiten und einer "Verwissenschaftlichung" des Denkens. Hier haben auch die fiir die chinesische Geschichte bedeutenden philosophischen Systeme des Konfuzianismus und des Taoismus ihren Ursprung. Bei ersterem tritt an die Stelle der Beziehung des Menschen zu den animistischen Gottheiten, die Beziehung zwischen den Menschen, was sich am deutlichsten in dem zentralen konfuzianischen Terminus "Ren" darstellt, der sich aus den Zeichen fiir "Mensch" und "Zwei" zusammensetzt und - in den Begrifflichkeiten unserer humanistischen Tradition - mit "Menschlichkeit" oder "Humanität" übersetzt werden kann. 120 Die Festlegung der flinf Beziehungen zwischen den Menschen (Vater-Sohn, Mann-Frau, älterer-jüngerer Bruder, Fürst-Beamter, Freund-Freund) 121 , die das sittliche Verhalten regeln, werden zu Pfeilern der Gesellschaftsordnung, die bis heute in charakteristischer Weise gesellschaftliche Rollen festlegen und das Denken prägen. Die Bedeutung der Gottheiten trat dahinter zurück, was wohl auch als Verlust erfaßt wurde. 122 W.-J. Chang schreibt über das Wirken von Konfuzius: "He shifted people's focus of attention from Heaven to earth, from gods and spirits to man, from the unknowable to the more concrete." 123 Auf der anderen Seite zeigt sich beim 117 Vgl. z.B. Li Ji, Kap. I, B, I, 10 und die Anmerkung von R. Wilhelm, Li Gi, p.331ff. 118 Vgl. Y. Weichao in: Das Alte China, p. 133. 119 Vgl. § 6D. 120 S.-I. Liu, Die Begründung des Rechts und des Staates nach der klassischen chinesischen Philosophie, p. 89 schreibt über die ethymologische Herkunft des Begriffs: "Es besagt, daß es bei einem isolierten Menschen keine Menschlichkeit gibt. Erst ab zwei Personen taucht sie auf." 121 Vgl. R. Wilhelm, Kungfutse, p. 25. 122 Vgl. z.B. Kong Zi, Lun Yu, Buch VI, 20; VII, 34; XI, II; XI, 8: "Als Yen Yüan starb, sprach der Meister: , Wehe, Gott verläßt mich, Gott verläßt mich."' vgl. R. Wilhelm, Li Gi, p. II: "Man ehrte die Götter, aber machte sich nicht mit ihnen gemein." 123 W.-J. Chang, Traditional Chinese Legal Thought, p. 40.
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philosophischen Taoismus die Entpersönlichung des Himmels 124 als eine Hinwendung zu kosmologischen Elementen, die ihren Ursprung bereits im System des Yi Jing, dem "Buch der Wandlungen" hat. Dieses hat, als Orakel, bereits zu Beginn des 1. Jahrtausends v.Chr. das ältere Orakel mit Knochen und Schildkrötenschalen, hinter dem der Gedanke einer persönlichen Kommunikation mit den Göttern, Geistern und Ahnen stand, abgelöst. 125 Seine Herkunft reicht aber bis in "mythisches Altertum" zurück, Konfuzianismus und Taoismus haben hier ihre gemeinsamen Wurzeln. 126 Dem Yi Jing liegt der Gedanke zugrunde, die Welt des Menschen und den Kosmos aus zwei polaren Gegensätzen, Yin und Yang, die alles Sein durchdringen, sowie einem System von fünf Wirkkräften (Erde, Holz, Metall, Feuer, Wasser), die ihre Entsprechungen in allen Seinsbereichen (z.B. als fünf Gefühlsweisen, Geschmacksarten, Gottkaisern usw.) haben, zu erklären. Dieses Entsprechungssystem, das seine umfassendsten Ausprägungen während der Zeit der Han (206 v.Chr.-220 n.Chr.) fand, markiert eine ",Verwissenschaftlichung' des Denkens" 127, nicht nur der gebildeten Klassen, sondern auch des einfachen Volkes, für das das Buch der Wandlungen tatsächlich die Bedeutung eines Orakelbuches hatte, nicht so sehr einer philosohischen Weisheitsliteratur. W. Bauer weist auf die Ähnlichkeit zwischen sogenannten "Magier-Brettern", die zum Wahrsagen Verwendung gefunden haben, dem Dekor auf der Rückseite von metallenen Spiegeln derselben Zeit und dem Aufbau bestimmter Spielbretter hin und sieht in allen dreien Darstellungen einer Welt "en miniature", die nach den Vorstellungen des Volkes einen unmittelbaren Einfluß auf die wirkliche Welt erlaubte. 128 Zieht man andere, durch archäologische Funde belegte Veränderungen während der Achsenzeit in Betracht, so kann man die gemeinsame Wurzel der beschriebenen Phänomene in der zunehmenden Besinnung des Menschen auf sich selbst erkennen. Diese äußert sich z.B. in der beginnenden Darstellung von Menschenbildern auf Kunstobjekten 129, in der Einführung der Kulturheroen wie Nü Gua und Fu Xi in die Mythologie 130, in der Vergöttlichung des Herrschers, der den Titel "Huang Di" (Gott, vergöttlichter Ahn) anstelle von "Wang" (König) 124 Vgl. den bekannten Ausspruch bei Lao Zi, Dao De Jing, Kap. V: "Himmel und Erde haben keine Menschenliebe; Sie nehmen alle Wesen für einen Heu-Hund." dazu V. v. Strauß, Lao-Tse, p. 185 : "Beim Opfern stellte man einen aus Heu gemachten Hund vor den Altar, um Unglück abzuwehren, verzierte ihn hierbei mit allerlei kostbarem Schmuck, den man nach dem Opfer wieder abnahm, und warf ihn dann auf die Straße, wo er zertreten wurde." 125 Vgl. W. Bauer in: Das Alte China, p. 149. 126 R. Wilhelm, I Ging, p. 9. 127 W. Bauer in: Das Alte China, p. 149. 128 ib. p. 154. 129 Vgl. H. Brinker in: Das Alte China, p. 13 ff. 130 Vgl. A. Keller in: Das Alte China, p. 143 ff.; C. Zheng, Mythen des alten China, p. 38 ff.
§ 8 Westliches und östliches Denken
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annahm 131 , und sie läßt sich besonders eindrucksvoll anhand der Funde zur Kultur von Chu belegen 132, die das Vertrauen der Menschen in ihre Fähigkeit des eigenständigen Handeins und Wollens und die Ausprägung moralischer Maximen demonstriert. "Der Mensch und die Götter wurden nunmehr als gleichrangig betrachtet, was eine entscheidende Wende in der Weltanschauung der Menschen in China bedeutete." 133 Dies mußte zugleich auch bedeuten, daß die die Welt bewegende und das Schicksal steuernde Macht keine solche sein konnte, die außerhalb des Menschen angesiedelt war und in einem hierarchischen Verhältnis zu ihm stand 134, sondern sie mußte vielmehr Mensch und Natur miteinander als gleichwertige Entitäten verbinden. Damit ist der Boden gelegt für jenen Monismus, dessen einheitschaffendes Prinzip das ist, was nicht ausgesprochen werden kann 135 : Tao. "Es allein beharrt und wandelt sich nicht. Durch alles geht es und gefährdet sich nicht. Man kann es ansehen als der Welt Mutter.'" 36
C. Der Einheitsgedanke
Die eigentliche Einheit alles Seienden wird besonders vom Taoismus betont, der sich damit auch gegen die zersetzende Begrifflichkeit des Erkenntnisstrebens wendet. Über den Ursprung der chinesischen geistigen Kultur schreibt Zhuang Zi: "Die Männer des Altertums flihrten ihre Erkenntnis weiter bis zu einem letzten Ausgangspunkt. Was war dieser Ausgangspunkt? - Sie nahmen einen Zustand an, da die Existenz der Dinge noch nicht begonnen hatte. Damit ist in der Tat der äußerste Punkt erreicht, über den man nicht hinausgehen kann. Die nächste Annahme war, daß es zwar Dinge gab, aber ihre Getrenntheit noch nicht begonnen hatte. Die nächste Annahme war, daß es zwar in einem gewissen Sinn Getrenntheiten gab, aber Bejahung und Verneinung noch nicht begonnen hatten. Durch die Entfaltung von Bejahung und Verneinung verblaBte der SINN." 137
Die Getrenntheit alles Seienden, das "principio individuationis", wird hier als Ergebnis eines geistig-kulturellen Entwicklungsprozesses nachgezeichnet, Vgl. W . Bauer in: Das Alte China, p. 149 f. Vgl. Y. Weichao in: Das Alte China, p. 130 ff. 133 ib. p. 135. 134 Daher kennt der Himmel, welcher nach unserer Vorstellung "die Hierarchie schlechthin" (W. Bauer in: Das Alte China, p. 151) repräsentiert, im Taoismus keinerlei hierarchische Strukturen, was dem Zhuang Zi in dem Gespräch mit dem Totenschädel als "königliches Glück" offenbart wird. (Zhuang Zi, Buch XVIII, 4). 135 Vgl. Lao Zi, Dao De Jing, Kap. 1. 136 Lao Zi, Dao De Jing, Kap. 25. 137 Zhuang Zi, Buch II, 5; in der hier verwendeten Übersetzung von R. Wilhelm wird Tao mit SINN übersetzt. 131
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es liegt also nicht in der Natur des Seienden. Gleichzeitig wendet sich diese Darstellung gegen das Wissensstreben des Konfuzianismus und seine Verehrung der Männer des Altertums. 138 Das eigentliche Wesen des Seienden ist die Einheit, welche intuitiv, nicht intellektuell durch Begrifflichkeiten, erfaßt werden kann. "Darum, was vom Standpunkt des Ichs aus ein Querbalken ist oder ein Längsbalken, Häßlichkeit oder Schönheit, Größe oder Gemeinheit, Übereinstimmung oder Abweichung: im SINN sind diese Gegensätze aufgehoben in der Einheit." 139 "Wer sich an seine festgeprägten Geftihle hält und sich danach richtet, der ist mit sich immer im reinen. Was braucht der sich auf andrer Erkenntnisse zu verlassen? Er wird immer (bestimmte Ansichten) haben, die sich ganz von selbst in seiner Seele bilden. Auch der Tor hat solche Ansichten. Wer aber (dieses naive Selbstbewußtsein verloren hat und) ohne solche festgeprägten Geftihle sich über Recht und Unrecht auslassen will, der macht es, wie es in dem Rätselworte heißt: ,Heute mache ich mich auf ins Südland und bin doch schon lange dort'. Ein solcher gibt das Nichtwirkliche für wirklich aus." 140
Diese Worte bringen eine Ablehnung sophistizierenden, idealistischen Erkenntnisstrebens zum Ausdruck, das flir den Widerstreit der verschiedenen philosophischen Schulen verantwortlich gemacht wird und lassen ferner eine gewisse Erkenntnisskepsis anklingen. Insofern ist diese Haltung durchaus praktisch orientiert. Es handelt sich aber andererseits nicht um Erkenntnisskepsis in unserem Sinn: Abgelehnt wird das Abmühen des Geistes, angestrebt das Erkennen der Einheit. In diesem Sinne schreibt Zhuang Zi: "Warum wollen wir uns mit Zweifeln plagen? Durch das Unbezweifelbare die Zweifel zu lösen und so zurückzukehren in den Zustand des Nicht-Zweifelns, so erreichen wir die große Freiheit in allem Zweifel." 141 Ansätze dieser Haltung lassen sich aber auch bei der konkurrierenden Schule des Konfuzianismus finden, und R. Wilhelm weist darauf hin, daß die konfuzianische Schule richtigerweise als Abzweigung von der ursprünglichen Taolehre aufgefaßt werden muß. 142 Wenn man die taoistische Lehre als die ältere auffassen kann, was aufgrundder engen Verwandtschaft mit den Gedanken des Yi Jing naheliegend ist, und woflir auch ihre mündliche Überlieferung und ihre spiritualistische Haltung (im Gegensatz zum viel gelehrteren und rationalen Konfuzianismus) spricht, und wenn sie außerdem in ihren profanen Aussagen als Ausdruck des Empfindens einer breiteren Unterschicht gewertet werden kann, woflir man neben den genannten Punkten auf spezifische inhaltliche Vgl. insbes. auch Zhuang Zi, Buch XIV, 7; Lie Zi, Buch VII, 12. Zhuang Zi, Buch II, 4. 140 Zhuang Zi, Buch II, 3; das Rätselwort bezieht sich darauf, daß mit dem Entschluß zur Reise der Geist schon am Ziel ist. 141 Zhuang Zi, Buch XXIV, 14. 142 R. Wilhelm, Dschuang Dsi, p. 14 f. 138
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Kriterien- z.B. die Betonung der wirtschaftlichen Haushaltung, Ablehnung von Regierungsangelegenheiten und Kriegen, Ablehnung von Gelehrsamkeit - abstellen kann, sowie darauf, daß taoistisches Gedankengut auch Eingang in den populären Taoismus, die "Volksreligion" Chinas, gefunden hae 43 , so kann man in ihr vielleicht auch den ursprünglichen Niederschlag einer allgemeinen Geisteshaltung sehen. Taoistisches Gedankengut taucht auch in alten chinesischen Schöpfungsmythen auf. - Vor der Trennung von Himmel und Erde waren die ftinf Alten. Einer von ihnen, der "gelbe Alte", der "in der Mitte" wohnt und Beherrscher der Erde ist, wird als Lao Zi, der Begründer der taoistischen Lehre, . dergeboren. 144 w1e Niederschläge einer derartigen "unistischen" Geisteshaltung finden sich ferner im Osten in vielfältiger Form, etwa in der Yin-Yang-Symbolik, im AdiBuddha, im gemeinsamen Auftreten von Drachen und Phönix, als Repräsentanten des männlichen, lichten, himmlischen und des weiblichen, dunklen, irdischen Prinzips, in der Vereinigung des himmlischen Kreises und der quadratischen Erde im Mandala, im Shiva-Shakti-Kult des Hinduismus, der eine Entsprechung in den vorderasiatisch-semitischen Kulten des Baal und seines weiblichen Komplements, der Aschera, hatte, vielleicht sogar in der seit jeher (im Vergleich zu unserem Kulturkreis) größeren Gleichberechtigung der Frau in Asien. 145 Der Glaube an ein einheitstiftendes Prinzip ist also nicht auf den chinesischen Kulturkreis beschränkt. Er findet sich etwa in ebenso charakteristischer Form in den Prinzipien des Brahman und des Atman in der frühen indischen Philosophie. Brahman ist "das ursprüngliche Prinzip, das sich selbst aus eigenem Antrieb als Universum manifestiert.'" 46 Atman ist "das innersteWesendes eigenen Selbst." 147 Beide sind essentiell geistiger Natur. In den Upanishaden werden diese Prinzipien, zum Teil im Gegensatz zur früheren Literatur der Veden, ausdrücklich gleichgesetzt: "Tat tvam asi" (Das bist du). In den frühen Mantras (Hymnen) der Veden findet sich dagegen eine Form der ritualisierten Naturverehrung (gegen die sich die Upanishaden richten, indem sie den Wert der Opfer tadeln), in der verschiedene Naturkräfte personifiziert und vergöttlicht sind. M. Hiriyanna schreibt: "Es gibt keinen Gedanken in diesen mantras, daß das natürliche Universum oder ein Aspekt von ihm unwirklich sein könnten.'d48 Die spätere, anthropozentrische Vorstellung, daß die Welt aus dem Be143 Vgl. H. v. Glasenapp, Die flinfWeltreligionen, p. 197 ff. R. Wilhelm, Chinesische Märchen, Nr. 15. Zum Niederschlag der frauenfreundlichen Haltung in der chinesischen Folklore, vgl. Nai-tung Ting, EM 2, 1357 f. 146 M. Hiriyanna, Vom Wesen der indischen Philosophie, p. 25. 147 ib. p. 26. 148 ib. p. 16. 144
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wußtsein geschaffen sei, scheint hier also noch nicht ausgeprägt zu sein. Auch der monistische Einheitsaspekt ist nur latent vorhanden. Hingegen gibt es bereits den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tode. Wann erstmals die Vorstellung einer zyklischen Wiederkehr alles Seienden, die die Upanishaden prägt, auftaucht, läßt sich nicht genau feststellen. Jedenfalls ist diese Vorstellung von Schöpfung und Auflösung, "welche sich nach uraltem indischen Glauben einander ohne Ende ablösen" 149, tief im indischen Denken verwurzelt und bildet - allen späteren Schulenbildungen zum Trotz - die gemeinsame Basis aller indischen philosophischen Systeme mit Ausnahme des Materialismus. Mit diesem Glauben verbinden sich zwei weitere Konsequenzen, für die hinsichtlich ihrer allgemeinen Akzeptanz dasselbe gilt: die Karman-Lehre, d.h. der Glaube, daß die Früchte einer Handlung über den Tod hinaus bestimmend für die nachfolgende Existenz sind. Diese Lehre bildet die Grundlage des ethischen Systems und der Gesellschaftsordnung (Kastenwesen). Zweitens: das Ideal des Moksa, d.h. die Anerkennung der Erlösung aus dem ewigen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt als höchstem Wert. Damit verbunden ist die, ebenfalls in allen philosophischen Schulen (außer dem Materialismus) praktizierte Methode des Yoga, die dem Erlösung Suchenden helfen soll, zu Selbsterkenntnis zu gelangen, was eine unerläßliche Bedingung dafür ist, den Schleier der Maya, d.h. die Illusion einer Welt der Mannigfaltigkeiten, zu zerreißen und Samsara, die Welt des Umhergetriebenseins im Kreislauf der Wiedergeburten, zu verlassen. Im Kastenwesen, das sich zur Achsenzeit ausgeprägt hat, zeigt sich eine vertikale Gliederung der indischen Gesellschaft, die auch flir das feudale China typisch ist und später vom Konfuzianismus zur Wurzel der sittlichen Pflichten gemacht worden ist. 150 D. Der Gegensatz von Ost und West
Insoweit lassen sich also spezifische Erscheinungen östlicher Kulturen auf das Verhältnis der Menschen zu Tod und Unsterblichkeit zurückführen. Die Kulturen Chinas und Indiens stehen sich dabei, obwohl man gewiß auch ihre Verschiedenheiten berücksichtigen muß, recht nahe. Daher konnte auch der von Indien kommende Buddhismus in China auf fruchtbaren Boden fallen und mußte nicht in direkte Konkurrenz zu den vorhandenen Glaubensvorstellungen
ib. p. 30. J.C.H. Wu spricht davon, daß man "die aus der menschlichen Welt genommene Vorstellung von vornehm und niedrig unbewußt auf Himmel und Erde projiziert" habe. (nach M. Christian, Rechtsphilosophie zwischen Ost und West, p. 82). 149
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treten, sondern konnte mit diesen eine gewisse Synthese eingehen, die Glasenapp in Anschluß an de Groot als "Universismus" bezeichnet. 151 Stellt man dem die semitische Kultur gegenüber, die fur den Okzident von entscheidender Bedeutung gewesen ist, so zeigen sich auffällige Unterschiede. Hier haben wir es bereits zu einer sehr frühen Zeit mit einem Monotheismus zu tun und damit mit einer weltbildliehen Unterscheidung zwischen Gott, der individuellen Seele und der Welt. Dieser Unterschied zeigt sich auch im Vergleich der Schöpfungsmythen. Die chinesischen Weltentstehungsmythen kennen keinen Schöpfergott; die Welt entsteht vielmehr aus einer amorphen Urmasse, die schon vorhanden ist und lediglich umgewandelt wird. Auch hier taucht das Motiv von Wandlung und Unsterblichkeit auf. 152 Man kann dieses Weltbild als ein "zyklisches" bezeichnen und ihm das "lineare" Weltbild des Westens gegenüberstellen. Die Achsenzeit ist hier wie dort geprägt durch eine zunehmende Besinnung des Menschen auf sich selbst, durch den Drang nach Rationalität und Überlegung, durch die Übernahme persönlicher Verantwortung, die Ausprägung ethischer Prinzipien und Normen des Zusammenlebens, die sich unabhängig vom Götzen- oder Gottes-Dienst, d.h. vom Ritus, etablieren. 153 Jahwe verliert seine persönlichen Züge, er wird ein abstrakter Gott, dennoch bleibt er ein personaler Gott, unvergleichbar den namenlosen wirkenden Kräften im östlichen Glauben. Worauf lassen sich diese Unterschiede zurückfuhren? Darüber lassen sich vielfältige Spekulationen anstellen; einen Anhaltspunkt bilden jedenfalls die spezifischen geographischen Bedingungen der jeweiligen Kulturkreise, die das Leben der Menschen nicht nur beeinflußt, sondern mehr noch, bedingt haben. Das Volk der Chinesen ist zu einer sehr frühen Zeit schon ein Volk von Ackerbauern und Viehzüchtern gewesen. Die Beobachtung der Jahreszeiten und der kosmischen Vorgänge war filr sie von existentieller Bedeutung. Daher wurde es auch zur vornehmliehen Aufgabe des Fürsten, als ersten Akt seiner Regierungstätigkeit einen Kalender zu schaffen und das Himmelopfer persönlich auszuführen.154 Die mit dem Ackerbau einhergehende Seßhaftigkeit ermöglichte erst die Ausbildung eines Gräberwesens und Ahnenkultes. Außerdem konnte sich der Mensch eingebunden in eine ihn umgebende Natur fühlen, er war "unter dem Himmel" und inmitten der Welt. 155 Noch heute bezeichnet der Ausdruck "unter dem Himmel" (Tian Xia) das Reich und auch die Welt. Der Chinesische Name für China lautet "Reich der Mitte" (Zhong Guo). 151 H. v. Glasenapp, Die flinfWeltreligionen, p. 142. 152 A. Keller in: Das Alte China, p. 138 f. 153 Vgl. § 5 B, C. 154 Vgl. C. Zheng, Mythen des alten China, p. 85. 155 Ein eindrucksvolles Zeugnis für den Glauben an die kosmische Stellung des Menschen findet sich im Ritenklassiker Li Ji, Kap. 3, III.
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Die Israeliten sind ein Volk der Nomaden. Jahwe ist der Wüstengott Erbegleitet die Israeliten auf ihrem langen Weg, er ist ständig bei ihnen, daher kann er nicht an bestimmte Naturerscheinungen geknüpft sein. Die Erfahrung des Leidens in der ägyptischen Gefangenschaft, das ständige Sich-behaupten-müssen gegenüber anderen Völkern, das dieses Volk prägt wie kein anderes, evoziert eine kämpferische Haltung. Jahwe straft jene, die gegen ihn sind; er vernichtet die Feinde seiner Bundesgenossen. Vorübergehend, mit der beginnenden Seßhaftigkeit, entsteht die Gefahr des Polytheismus durch Assimilation der kanaanäischen Baale. Das baylonische Exilläßt den Glauben an den einen Gott neu entstehen. Der Kampf gegen die Unterdrücker flihrt zur Betonung der eigenen Individualität, zum engen Zusammenhalt der Volksgemeinschaft, auch zur Ausbildung hierarchischer Strukturen, die nicht nur durch Geburt bedingt sind, sondern auch durch Verdienst. 156 Das Leiden evoziert Mitleid und damit eine aktive, kämpferische Haltung gegenüber dem Leiden, nicht seine Erduldung. Individualisierung bedeutet Diskriminierung und fuhrt zu Mannigfaltigkeit. Damit ist auch die Möglichkeit geschaffen, das Verschiedene einander wieder zuzufuhren, d.h. die Möglichkeit des Pluralismus und der Interkulturalität. Auf der anderen Seite finden wir in China ein Volk, das sich als den Nabel der Welt empfindet und alles, was ihm an fremden Einflüssen bekannt ist, verständnislos als "barbarisch" bezeichnet und mit Tiernamen belegt. Lange Zeit ist es von den umliegenden Kulturen mehr oder minder abgeschlossen, es ensteht keine Vermischung der Rassen, keine Mannigfaltigkeit und damit keine Reaktion der Abgrenzung und Individualisierung. Dieses Volk wandert nicht, der Wandel, dem es unterworfen ist, ist der der Jahreszeiten. Es bewegt sich nicht auf ein Ziel hin, sucht kein verheißenes Land, sondern kämpft gegen Naturkatastrophen und Hungersnöte. Dieser Kampf vollzieht sich im Schicksal einzelner Familien, Sippen oder Dörfer. Nie kann ein ganzes Volk davon betroffen sein in einem Land von derartigen Dimensionen. Die Keimzelle der gesellschaftlichen und ethischen Pflichten ist hier die Familie, nicht das Volk. Der 156 R. Wilhelm führt den Unterschied zwischen Neigung zum Individualismus und der zum Kollektiv darauf zurück, daß sich im Okzident die Volksgemeinschaft fast durchweg auf dem Grund der kriegerischen Organisation der wehrfahigen Mannschaft aufbaute, womit der Einzelne aus dem Kreis der Krieger Träger selbständigen Rechts innerhalb der Sippe wurde, im China dagegen nicht die kriegerische Auseinandersetzung, sondern die friedliche Durchdringung, d.h. die Einteilung des Landes in Felder und ihre Übergabe an Familien, deren kollektivistische Zusammenarbeit zur Bewirtschaftung nötig war, so daß als Grundzelle des chinesischen gesellschaftlichen Organismus nicht das Individuum, sondern die Familie stehe. Hierin sieht Wilhelm die Grundlage flir die Entwicklung einer individuellen Moral, d.h. einer solchen, die es dem Individuum gestattet, sich hervorzutun, einerseits, und andererseits einer Tugend der gewissenhaften Einordnung in den Gesellschaftsorganismus, die sich in der Konfuzianischen Betonung der flinf Beziehungen, die das sittliche Verhalten der Menschen zueinander regeln, ihren Ausdruck findet. (R. Wilhelm, Kungfutse, p. 7 f., 24 f.).
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Wandel des Seins vollzieht sich als Kreislauf in Hannonie mit der dynamischen Statik des bäuerlichen Lebens. Dieses Element des Zyklischen ist auch ausschlaggebend ftir den Gedanken der Erlösung aus der ewigen Wiederkehr. Denn wo nicht ein Ziel vor Augen steht, das als paradiesischer Zustand angestrebt werden kann, bildet die Erlösung von allen Zuständen, das Nirvana, die Leere, die einzige Möglichkeit einer jenseitigen Orientierung. Das irdische Leiden ist Schicksal. 157
E. Begegnung der Kulturen
Diese Unterschiede, deren Ursprünge in der vorgestellten Weise historisch rekonstruiert oder besser: erklärt werden können, finden sich auch tendenziell noch in den heutigen Gesellschaften wieder. Sie spiegeln sich beispielsweise darin, daß in vielen asiatischen Ländern die familiären Pflichten eine große Rolle spielen, andererseits aber der Gedanke einer größeren Einheit, die mehr ist, als die Summe ihrer Teile, nämlich der Gedanke der polis oder Genossenschaft, fehlt. Wie Fikentscher fonnuliert: "(T)he Japanese are bilateralists, the Chinese centrists. ( ... ) the idea ofthe club is missing.'d 58 Hierin kann ein Grund ftir die anhaltend schwierigen internationalen Beziehungen dieser Länder gesehen werden. Fikentscher nennt als wesentliches Charakteristikum des östlichen Denkens seine Neigung zu "detachment" (bzw. "semi-detachment" im Falle des Konfuzianismus), hingegen sich die "tragischen Gesellschaften" auf die Aktivität des Menschen gründen. Eine Folge dieser Erlösungsbestrebungen, die es dem Menschen als ethische Pflicht auferlegen, sich nicht in der Welt zu verstricken, ist die sprichwörtliche östliche Toleranz, die allerdings nicht, wie bei uns, auf dem Ideal des Pluralismus beruht. 159 Zum Teil wird vom "chinesischen
157 Vgl. Zhuang Zi, Buch VI, 8: "Ich dachte darüber nach, wer es ist, der mich in diese äußerste Not gebracht, und fand es nicht. Wie könnte es der Wille meiner Eltern sein, daß ich in diese Armut kam? Der Himmel ist groß und schirmend, die Erde ist groß und spendend. Wie könnte es der Wille von Himmel und Erde sein, mich neidisch in diese Armut zu bringen? Ich suche den, der es getan, und finde ihn nicht. Und doch bin ich in diese äußerste Not gekommen: es ist das Schicksal." 158 W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 342; vgl. aber den, allerdings herausragenden, Text bei Zhuang Zi, Buch XXV, 10: "Die Gesellschaft setzt sich zusammen aus Einzel-Gemeinden. In diesen Gerneinden vereinigen sich eine Anzahl von Familien und Individuen, und in einer solchen gesellschaftlichen Vereinigung bilden sich dann verschiedene Sitten. Da vereinigt sich Verschiedenartiges zu einer Gemeinsamkeit, und was von dieser Gerneinsamkeit abweicht, gilt als andersartig. Wenn man z.B. die einzelnen Glieder eines Pferdes aneinanderreihen wollte, so würde man noch kein Pferd dadurch bekommen. Das Pferd muß zuerst da sein und seinen einzelnen Teilen Zusammenhang geben, dann erst haben wir etwas vor uns, das wir Pferd nennen." lW . Vgl. W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 311, 333 f.
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2. Kapitel: Dialektik
Individualismus" als einer "absence of the social mind" gesprochen. 160 Damit ist nicht ein Individualismus in unserem Sinne gemeint, der sich als Durchbrechung der gesellschaftlichen Norm darstellt oder als Widerstand gegen sie, sondern der Umstand, daß es diesen Konflikt zwischen gesellschaftlicher Norm und Behauptung des Individuums nicht gibt, weil der Einzelne - um bewußt den irreführenden Begriff des "Individuums" zu vermeiden - als solcher zu anderen in Beziehung steht und nicht als Mitglied eines gemeinsamen Ganzen, welches die Beziehungen der Einzelnen untereinander regelt. Die Ausprägung von Individualismus in unserem Sinne setzt die Erfahrung der Gemeinschaft voraus und erwächst aus dem Bestreben, sich hervorzutun. Solches Bestreben nach Anerkennung wurde in der chinesischen Philosophie geradezu als unethisch angesehen. 161 Es ist nötig dort, wo individuelle Rechte sich behaupten müssen. 162 Kompensiert wird dieses Fehlen einer umfassenden Gemeinschaft durch die Pflichten, welche je aus den Familienbanden und den anderen Beziehungen, die zwischen Einzelnen bestehen, fließen . Diese gesellschaftlichen Phänomene finden ihr Korrelat auch in den Denkstrukturen selbst, wie sie anband der philosophischen Literatur nachvollzogen werden können. Während das im Westen verbreitete, von den Griechen übernommene logische System auf den Prinzipien des "tertium non datur", des "genus proximus" und der "differentiae specificae" beruht, was eine systematische Erfassung von Erscheinungen unter Oberbegriffe und nach Gattungen sowie logische Deduktionen ermöglicht, trifft dies auf das östliche Denken nicht oder nur in anderer Weise zu. Abgesehen davon, daß das östliche Denken - mit wenigen Ausnahmen, wie etwa die sophistische Schule des Hui Zi - niemals eine philosophische Tradition analytischer Schulen hervorgebracht hat wie das westliche Denken, bestehen, soweit solche Ansätze vorhanden sind, bedeutende Unterschiede. So geht die traditionelle indische Logik entgegen dem Bivalenzprinzip von vier möglichen Aussagen über ein Objekt aus, nämlich daß es 1. ist, 2. nicht ist, 3. ist und nicht ist, 4. nicht ist und nicht nicht ist. 163 Weiterhin ist der indische Syllogismus nicht nur deduktiv, sondern auch induktiv. Er vollzieht sich nicht in drei, sondern in fünf Schritten. 164 Die Funktion der zusätzlichen Schritte besteht darin, die Beziehung zum konkreten Objekt herzustellen, worin sich die Abneigung der Asiaten gegen abstrakte Sachverhalte kundtut. Daneben stellt ein mindestens gleichwertiges Mittel der Er-
Vgl. ib. 338 ff. Vgl. Lao Zi, Dao De Jing, Kap. 67; Kong Zi, Lun Yu, Buch I, I. r6z Vgl. § 9 E. 163 Vgl. A. Govinda, Schöpferische Meditation, p. 297; M. Hiriyanna, Vom Wesen der indischen Philosophie, p. 114. 164 Vgl. ib. p. 143. 160 161
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kenntnis die Offenbarung durch Intuition dar. 165 Betrachtet man den klassischen aristotelischen Syllogismus, so zeigt sich, daß seine Schlußfolgerung "Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich." keineswegs selbstevident ist. An rein formalen Kriterien gemessen ist dieser Schluß nicht korrekt, denn "alle Menschen" ist nicht dasselbe wie "ein Mensch". Würde man aber flir "alle Menschen" "ein Mensch" einsetzen, den Syllogismus damit formal richtigstellen, so wäre er inhaltlich nicht mehr zutreffend, denn daraus, daß ein Mensch sterblich ist und ein anderer ein Mensch ist, folgt ebensowenig, daß letzterer auch sterblich ist, wie daraus, daß einer reich ist, folgt, daß dies auch auf einen anderen zutrifft, nur weil er ein Mensch ist. Und stellt man den Syllogismus auf die andere Weise richtig, indem man flir "ein Mensch" "alle Menschen" setzt, so ist schon die zweite Prämisse empirisch falsch, denn es ist einfach nicht zutreffend, daß Sokrates "alle Menschen" ist. Dennoch erscheint der Syllogismus in seiner klassischen Form an sich als "logisch". Hinterfragt man ihn, so erkennt man, daß ihm eine Spezialisierungsregel zugrundeliegt, die besagt, daß Sokrates einer von allen Menschen ist, mit anderen Worten, daß "ein Mensch" eine Teilmenge von "alle Menschen" ist. Diese Regel muß nicht selbstverständlich sein, denn "ein Mensch" kann genauso gut außerhalb der Menge von "alle Menschen" stehen, weil er als Einzelner schlichtweg etwas anderes ist, als als Mitglied der Menge. (Eine Menge kann z.B. hysterisch sein, während dies auf keines der einzelnen Mitglieder der Menge zutreffen muß, die eben nur in ihrer Gesamtheit, als Menge, hysterisch sind.) In diesem Sinne macht sich Tolstois "Iwan Iljitsch" über den Syllogismus lustig, was von Heidegger wiederum flir die Existenzphilosophie aufgegriffen wurde 166, die sich mit ihrer Betonung des "authentischen Daseins" und seiner "Situationshaftigkeit" gegen die Übertragung von abstrakten logischen Kategorien wie z.B. Allsätzen, auf das tatsächliche und sittliche Leben wendet und sich in dieser Hinsicht mit dem Osten berührt, wo diese Haltung freilich viel tiefer verwurzelt ist. Fikentscher schreibt: "Chinese are not used to thinking in abstract categories; they tend to view an object in its totality, and always related to man; Chinese thinking does not use simple propositions in the meaning of Greek (Western) logic; a Chinese thinks in a context, but never in an abstract context; for a Chinese, a man or a woman is not good or bad as such, but only good or bad in relation to this orthat other person, or in this orthat other situation." 167 Die Chinesen denken daher auch eher topisch, nicht systematisch, kontextuell, nicht
165 ib. p. 87 f. ; Zhuang Zi, Buch XIX, 12 beschreibt die Intuition (allerdings nicht im erkenntnistheoretischen Sinn) als "das richtige Vergessen dessen, was richtig ist." 166 Vgl. The Oxford Campanion to Philosophy, p. 347. 167 W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 326 f.
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2. Kapitel: Dialektik
in Hinblick auf eine Einheit hinter den Erscheinungen 168 , denn die Erscheinungen sind eine Einheit, und Einheit ist der Ausgleich der Gegensätze, d.h. Harmonie. Das zeigt sich auch in der Kunst, etwa in der aspektiven Malerei, die keinen Fluchtpunkt kenne 69 , und es hängt eng mit der praktischen Ausrichtung des Denkens zusammen sowie mit der Art der chinesischen Sprache, die abstrakten Begriffen eher abgetan ist und deren grammatische Verflechtung wesentlich geringer ist als die westlicher Sprachen. "Die chinesischen Wörter sind (... ) Klangembleme mit weit gespanntem Bedeutungsumfang. Spricht man sie aus, so hebt man, entsprechend der gegebenen Situation und des allgemeinen Zusammenhangs einenunumschriebenen Komplex bildhafter Vorstellungen ins Bewußtsein, wobei von diesen die aktivste in Erscheinung tritt." 170 Wieder kommt es also auf die Situation an. Bewohner asiatischer Länder, deren religiöse Haltung geprägt ist durch die Anschauungen des Mahayana-Buddhismus, der im Gegensatz zur traditionellen Strömung des Hinayana die Ideale der Nächstenliebe und des Mitleids betont, haben laut Fikentscher geringere Schwierigkeiten, griechische Logik zu verstehen, als solche, bei denen dieses verbindende soziale Element weniger ausgeprägt ist. 171 Den gemeinsamen Grund flir diese Phänomene kann man in der Haltung des "detachment" sehen. Eine Abwendung von jeglicher Welt in Hinblick auf das Jenseits läßt alle Bemühungen, metaphysische Geheimnisse zu erschließen, nutzlos erscheinen. Damit verbindet sich eine pragmatische Haltung in Hinblick auf das Diesseits. In erkenntistheoretischen Begriffen könnte man auch von einer weniger ausgeprägten Subjekt-Objekt-Differenzierung sprechen, die das östliche Denken kennzeichnet. Dafiir ergeben sich auch in den volkstümlichen literarischen Denkmälern Anhaltspunkte. 172 Interessanterweise stellt Fikentscher - wie ich meine, zu Recht - eine, mit den Modemisierungen der jüngeren Zeit einhergehende, wachsende "Tragik" im östlichen Denken fest, ein zunehmendes Bewußtsein fiir individuelle Verantwortung und Schuld, die über den Kreislauf des Karman hinausgehen. 173 Diese "tragische Note" äußert sich in der Unzufriedenheit vieler junger Chinesen über die bestehenden Verhältnisse und wird genährt durch die Berührung mit westlichen Kulturen, die häufig undifferenziert als "gelobtes Land" und ersehntes Ziel angesehen werden.
ib. p. 328 f. Der Sinologe T. Spengler bearbeitet diese Thematik in seinem Roman "Der Maler von Peking" (1993). 170 R. Goepper in: Das Alte China, p. 156. 171 W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 331 f. 172 Vgl. § 7 E. 173 ib. p. 348. 168
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§ 9 Recht im östlichen Denken
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F. Der Ertrag
Es wurde versucht, Unterschiede zwischen den idealisierten Typen des westlichen und des östlichen Denkens herauszuarbeiten. Die Eigenarten östlichen Denkens lassen sich bis auf den Ahnenkult der prähistorischen Zeit zurückführen und wurzeln in den spezifischen Lebensbedingungen der Völker. Zentrale Bedeutung haben der Einheitsaspekt und die Haltung des "detachment", die sich bis in das alltägliche praktische und sittliche Leben fortpflanzen . Auch in den logischen Systemen und literarischen Überlieferungen scheinen sich diese Unterschiede nachweisen zu lassen. Wichtig ist, daß der Osten nicht den westlichen Begriff des Individuums und folglich auch nicht den entsprechenden der Gemeinschaft kennt.
§ 9 Recht im östlichen Denken A. Der Rahmen Sprechen wir vom rechtsphilosophischen Gehalt asiatischen Denkens, so sei hier, um Mißverständnissen vorzubeugen, vorweggenommen, daß dieser nicht durch eine Untersuchung zeitgenössischen Rechts 174 eruiert werden soll. Das heute in China geltende Recht, ist, soweit es nicht das zu Beginn dieses Jahrhunderts aus Deutschland übernommene Strafrecht meint, marxistisch geprägt.175 Auch das heute noch in der Republik China geltende chinesisch-taiwanesische Zivilgesetzbuch aus dem Jahre 1929 ist dem deutschen BGB nachgebildet.176 Über China erreichte das deutsche Recht Japan und Korea. Wiewohl sich auch im Laufe der Rezeption einige Besonderheiten ausgebildet haben mögen 177, interessiert hier doch das klassische Recht des chinesischen Altertums, gewissermaßen als Paradigma einer in sich geschlossenen, von äußeren Einflüssen freien Kultur, von der W. Fikentscher sagt, daß kaum eine andere Welt des Rechts dem okzidentalen Betrachter ferner Iiege.178
174 Dazu H. v. Senger, Einführung in das chinesische Recht (1994). 175 Vgl. A. Kaufmann, Vergleichende Rechtsphilosophie, p. 639; K. Bünger in: W.
Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 443 ff. 176 Vgl. T. Wang, Entwicklungslinien und Reform des chinesisch-taiwanesischen Schuldrechts (1986), m.w.N. 177 z.B. sind Drittstörer und untreuer Ehegatte dem verletzten Ehegatten beim Ehebruch zu Schadensersatz und Schmerzengeld verpflichtet; dies geht auf die Bedeutung der Familie zurück; vgl. a.a.O. p. 245. 178 W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. 206.
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2. Kapitel: Dialektik
Die Blütezeit des chinesischen Altertums 179 bietet uns bereits eine hochstehende philosophische Kultur. Neben- und in Konkurrenz zueinander bilden die verschiedensten Schulen ein Kaleidoskop philosophischer Systeme: Die auf traditionelle Werte und Erziehung bedachte Konfuzianische Schule, die Mohistische Schule, die der Tradition ihre Forderung nach Gleichheit und Nächstenliebe entgegensetzte, die naturrechtliche und sich von weltlichen Zielen abwendende Taoistische Schule, die Legalistische Schule, die politische Ordnung mit harten Strafen durchzusetzen suchte, die Schule der Namen, die sich mit Argumentationskunst und paradoxen Schlüssen beschäftigte, sowie die Yin-Yang Schule, deren Interesse kosmologischen Betrachtungen galt, bilden wohl die zentralen Pfeiler der klassischen chinesischen Philosophie. Mit der Han-Dynastie (206v.Chr.-220n.Chr.) begann eine Vermischung der Gedanken einzusetzen, in der sich vor allem konfuzianische und taoistische Vorstellungen behaupteten. Nach Zhuang Zi bilden diese beiden Richtungen, die selbst eine gemeinsame Wurzel im Wissen um Tao haben und aus der historischliterarischen Weiterentwicklung einerseits (Konfuzianismus), andererseits aus der mündlichen Überlieferung (Taoismus) hervorgegangen sind, überhaupt die Grundlagen aller weiteren philosophischen Schulen. 180 In der Sui- (581-618 n.Chr.) und der Tang-Dynastie (618-907 n.Chr.) erreichte außerdem der seit dem zweiten Jahrhundert von Indien vordringende Buddhismus einen Höhepunkt und fand in seiner metaphysischen Orientierung teilweise Eingang, aber auch Gegnerschaft bei den Konfuzianischen Schulen. 181 In dieser Zeit wurde, als ein erstes kodifiziertes Gesetzgebungswerk, der Tang-Kodex verfaßt, dessen Einfluß bis in das beginnende 20. Jh. reichte. Dieses Recht zeigt, wie J.-H. Su 182 und S.-1. Liu 183 aufweisen, eine große Ähnlichkeit mit dem abendländischen Naturrecht. Gleiches läßt sich fiir den chinesischen Legalismus und entsprechende Strömungen in Europa feststellen.184 Eine weitgehende Gleichsetzung der östlichen mit den abendländischen Strömungen erachtet dagegen A. Kaufmann als "Fehldeutung", denn "das chinesische Recht stand nie unter dem Einfluß der Religion, des Buddhismus, weshalb es auch nie die fiir unseren Kulturkreis so charakteristische Trennung 179 Zhou-Dynastie (11. Jh.- 221 v. Chr.), insbesondere Zhan Guo, die Zeit der streitenden Staaten (475- 221 v. Chr.) 180 Vgl. R. Wilhelm, Dschuang Dsi, p. 14 f. 181 Einen Überblick über die Entwicklung der chinesischen Philosophie bietet der Oxford Campanion To Philosophy, p. 130 ff., 148 ff.; einen kurzen Abriß unter Bezugnahme auf Zhuang Zi, Buch XXXIII, ferner R. Wilhelm, Dschuang Dsi, p. 14 ff. 182 J.-H. Su, Das chinesische Rechtsdenken im Licht der Naturrechtslehren ( 1966). 183 S.-I. Liu, Die Begründung des Rechts und des Staates nach der klassischen chinesischen Philosophie (1983). 184 T.-S. Tai, Der chinesische Legalismus (Fa Chia) unter besonderer Berücksichtigung seiner rechtspositivistischen Elemente ( 1969).
§ 9 Recht im östlichen Denken
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von göttlichem und weltlichem Recht gab." 185 - Solche Vorsicht hinsichtlich einer prima facie überzeugend erscheinenden Parallelisierung ist geboten. Abgesehen davon, daß der Buddhismus nicht die Religion Chinas ist, ist allerdings fraglich, ob das Argument zutreffend ist.
B. Die vorkonfuzianische Zeit Geht man im chinesischen Rechtsdenken in die präkonfuzianische Zeit zurück, so zeigt sich eine enge Verknüpfung von Recht und Religion. 186 Das Recht, wie es aus den flinf klassischen Büchern, insbesondere aus dem Buch der Urkunden, erschlossen werden kann, war auf das Gesetz des Himmels gegründet, der Himmel selbst wurde als Gesetzgeber betrachtet, dessen Wille allein bindend war und der durch den Souverän, den "Sohn des Himmels", wirkte. Weil es in den Augen der Menschen der Wille des Himmels war, dem Volk Frieden und Wohlstand zu verschaffen, konnte der Souverän sein Mandat durch falsches Tun verwirken, was das Volk zum Widerstand, sogar zum Tyrannenmord ermächtigte. 187 Die Gesetzgebung wurde so zu einer prekären Angelegenheit, deren richtige, d.h. dem Willen des Himmels entsprechende, Erfüllung vom Herrscher eine strenge Persönlichkeitsbildung nach den Idealen von Aufrichtigkeit, Ehrfurcht gegenüber dem Himmel, Milde gegenüber dem Volke und Selbstbeschränkung erforderte. Vorbilder waren die legendären Könige des goldenen Zeitalters, wie Yao, Shun, Yu, Wen von Zhou und sein Sohn, Lord Zhou. 188 Diese rückwärtige Orientierung hatte ihren tieferen Grund auch im Ahnenkult, der oben bereits als Ursprung religiöser Vorstellungen dargestellt wurde. Die Pflege des Ahnenkults wurde sogar als wichtiger angesehen als jegliche militärischen Aktionen. 189 In Hinblick auf die Verehrung der Ahnen, die Berücksichtigung des Willens des Himmels und die Verpflichtungen gegenüber dem Volke waren die Kenntnis und Ausübung der traditionellen Riten und Gebräuche von großer Bedeutung. Diese Sitten und Bräuche, chinesisch Li, kann man als das eigentliche Recht jener Zeit ansehen. Sie wurden von den Konfuzianem später in den Rang von Normen erhoben und sind vor allem im Li Ji, einer Schrift, die weit in das chinesische Altertum zurückreicht, in ihrer heutigen Form jedoch erst im 2. Jh. n.Chr. zusammengefaßt worden ist, überliefert. Welchen Ursprungs ist Li? Das Li Ji gibt darauffolgende Antwort:
A. Kaufmann, Vergleichende Rechtsphilosophie, p. 640. Vgl. hierzu W.-J. Chang, Traditional chineselegal thought, p. 2 ff. 187 Vgl. H. v. Senger, Einfllhrung in das chinesische Recht, p. 19. 188 W.-J. Chang, Traditional chineselegal thought, p. 6 f.; vgl. C. Zheng, Mythen des alten China, p. 38 ff. 189 Vgl. C. Lie in: Das Alte China, p. 41. 185
186
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2. Kapitel: Dialektik
"Die Sitte hat drei Wurzeln: Himmel und Erde sind die Wurzeln unsrer Natur, die Ahnen sind die Wurzel unsres Stammes, der Herr und Meister ist die Wurzel der Ordnung. Ohne Himmel und Erde gibt es kein Leben, ohne die Ahnen gibt es keine Abstammung, ohne Herrn und Meister gibt es keine Ordnung. Wenn diese drei Dinge irgendwie fehlen, so ist Sicherheit unter den Menschen unmöglich. Darum ist es Sitte, oben dem Himmel und unten der Erde zu dienen, die Ahnen zu ehren und den Meistern zu spenden. Das sind die drei Wurzeln der Sitte." 190
Abgesehen davon, daß dieser Text in seiner Betonung der "Sicherheit unter den Menschen" bereits den Stempel der politischen Wirmisse der "Zeit der streitenden Reiche" (475-221 v.Chr.) trägt, sind die drei genannten Quellen charakteristisch für das frühe chinesische Rechtsverständnis. Als erstes werden genannt Himmel und Erde. Darin spiegelt sich die Auffassung des Eingebundenseins in die Natur und das ergänzende Verhältnis von Himmel und Erde. Die Sitte wird im Kosmischen verankert. Der Ahnenkult repräsentiert die Bedeutung der Tradition, die dem gesellschaftlichen Leben feste Strukturen verleiht. Die Verehrung des "Herrn und Meisters" betont die hierarchische Gesellschaftsstruktur zwischen Herr und Vasall in der feudalen Zeie 91 , auf die der Konfuzianismus seine "fünf Beziehungen" gegründet hat. Kosmologische Gesichtspunkte spielten eine große Rolle. So berichtet das Buch der Urkunden von dem legendären König Yao, daß er als ersten Akt seiner Gesetzgebung einen Kalender erließ, der den Jahresablauf des Volkes regelte.192 Nachfolgend schuf jede Dynastie ihren eigenen Kalender (wie auch ihre eigene Musik). Das Eingebundensein in den Kosmos wird besonders deutlich im Yi Jing, dem Buch der Wandlungen, das wie wohl kein anderes Werk Leben und Kultur der Chinesen geprägt hat. Seine Philosophie ist die eines Dualismus, nicht des Gegeneinander, der Spaltung und Unterscheidung, wie er das abendländische Denken prägt, sondern der eines Miteinander, der Einheit und Gleichberechtigung, der alles Sein durchwirkt. Die Gegensätze sind nicht starre, sich gegenüberstehende Entitäten, sondern sie wandeln sich, gehen auseinander hervor und ineinander ein und suchen stets ihr Gleichgewicht. Dieses unwandelbare, ewige Gesetz, das in allem Wandel wirkt, das alle natürliche Ordnung und alles menschliche Gesetz zusammenhält, kann bezeichnet werden als Tao, dessen Gesetz zu erkennen das höchste Ziel darstellt. Tao war die höchste Norm. Mit ihr, oder mit dem aus ihr fließenden Li, nicht aber mit den wenigen, noch nicht kodifizierten, positiven Gesetzesvorschriften, beschäftigten sich die Gelehrten. 193
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Li Ji, Kap. II, I.
191 Vgl. T.-S. Tai, Der chinesische Legalismus, p. 17 f. 192 Vgl. W.-J. Chang, Traditional Chinese Legal Thought, p. 7. 193 Vgl. ib. p. 13.
§ 9 Recht im östlichen Denken
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C. Der historische Streit
Während der "Zeit der streitenden Staaten" vollzieht sich ein Wandel im chinesischen Geistesleben. Das große Leid, die Kriegsgreuel und Hungersnöte lassen die Menschen ihr Vertrauen in den Himmel verlieren. In den Vordergrund treten die Beziehungen zwischen den Menschen. Die Schaffung von Frieden und Sicherheit wird zum primären Anliegen staatspolitischer und philosophischer Bestrebungen. In dieser Situation ereignet sich der bedeutendste Streit philosophischer Schulen, der das chinesische Recht bis in jüngste Zeit geprägt hat: die Auseinandersetzung zwischen der Schule der Legalisten (Fa Jia) und den Konfuzianern, deren Positionen kurz dargestellt sein sollen. Die Konfuzianer stützten ihre Philosophie auf die Auffassung von einer prinzipiell guten Natur des Menschen. 194 Demzufolge müßten die Menschen, um die bestehende Unordnung zu beseitigen, nur auf den rechten Weg gebracht werden, der ihre wahre Natur hervortreten lasse. Die diesem Zwecke dienenden Normen hatten also erzieherischen, nicht strafenden Charakter. Die oberste Norm ist Ren (Menschlichkeit).195 Sie verpflichtet zu einer Haltung, die das Verhältnis zwischen den Menschen positiv beeinflußt. Daher fordert Konfuzius: "Was den Sittlichen anlangt, so festigt er andere, da er selbst wünscht, gefestigt zu sein, und klärt andre auf, da er selbst wünscht, aufgeklärt zu sein." 196 Dahinter steht der Gedanke der Gegenseitigkeit. In negativer Ausgestaltung hat Ren die Form der Goldenen Regel: "Was du selbst nicht wünschest, tu nicht an andern." 197 Das besondere an Ren ist, daß es in den praktischen Bedürfnissen des menschlichen Zusammenlebens verankert ist und damit den vom Willen des Himmels emanzipierten Menschen in den Mittelpunkt rückt. Gesetzgebende Autorität ist damit die Gesellschaft. Vorbild ist die Familie, deren Strukturen auf den Staat übertragen werden. 198 Dem Konfuzianismus eignet demnach eine patriarchalische Haltung.
194 V.a. Menzius; vgl. Meng Zi, Buch II, Abschnitt A, 6: "(O)hne Mitleid im Herzen ist kein Mensch, ohne Schamgefühl im Herzen ist kein Mensch, ohne Bescheidenheit im Herzen ist kein Mensch, ohne Recht und Unrecht im Herzen ist kein Mensch, Mitleid ist der Anfang der Liebe, Schamgefühl ist der Anfang des Pflichtbewußtseins, Bescheidenheit ist der Anfang der Sitte, Recht und Unrecht unterscheiden ist der Anfang der Weisheit. Diese vier Anlagen besitzen alle Menschen, ebenso wie sie ihre vier Glieder besitzen. Wer diese vier Anlagen besitzt und von sich behauptet, er sie unfähig, sie zu üben, ist Räuber an sich selbst." (vgl. auch a.a.O. Buch VI, Abschnitt A, 8; Buch VII, Abschnitt A, 15). 195 Vgl. W.-J. Chang, Traditional Chinese Legal Thought, p. 31 ff. 196 Kong Zi, Lun Yu, Buch VI, 28. 197 Kong Zi, Lun Yu, Buch XV, 23; V, II. 198 Vgl. Meng Zi, Buch IV, Abschnitt A, 5: "Man spricht beständig von Welt, Staat und Familie. Die Wurzeln des Weltreichs sind im Einzelstaat, die Wurzeln des Staates
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2. Kapitel: Dialektik
Die eigentliche, den Konfuzianismus kennzeichnende Norm ist aber Li. Ren ist ihr allgemeines Wesen. 199 Li ist ursprünglich ein Begriff mit religiösem Gehalt, der Opferzeremonien bezeichnet. Unter dem Einfluß des Konfuzianismus verändert er seine Bedeutung und wird zur umfassenden, das Gesellschaftsleben beherrschenden Norm schlechthin, die einerseits die alltäglichen, das gesellschaftliche Leben prägenden Verhaltensweisen regelt wie den Verkehr der Geschlechter, die Schülersitten oder Eßregeln 200, andererseits aber auch ethische Normen in sich begreift, da sie die Ausübung der Sitte an die rechte Gesinnung bindee01 und später sogar das Zivilrecht, das Staatsrecht und das Völkerrecht in sich schließt. 202 Gegenüber Li sind alle Strafgesetze und Verwaltungsregeln subsidiär. Daher dürfen Gesetze nicht positivistisch durchgesetzt werden, sondern muß ihre Anwendung und Interpretation sich an den übergeordneten Normen, d.h. Li, orientieren?03 Strafe soll nicht als Mittel der Vergeltung angesehen werden, sondern als solches der Erziehung. Der Vorteil von Li gegenüber dem positivistischen Recht der Legalisten (Fa) ist, daß die Norm der Konfuzianer präventiv wirkt, sie kann Verbrechen verhindern, während Fa sie nur bestrafen kann. "Die Sitte verhindert Künftiges zum voraus, die Strafe verurteilt Geschehenes nachträglich." 204 Woran ihm alles liege, so Konfuzius, ist, daß gar keine Klagesachen entstehen. 205 "Wenn man durch Erlasse leitet und durch Strafen ordnet, so weicht das Volk aus und hat kein Gewissen. Wenn man durch Kraft des Wesens leitet und durch Sitte ordnet, so hat das Volk Gewissen und erreicht (das Gute)." 206 Daher: "Wenn der Wille auf Sittlichkeit gerichtet ist, so gibt es kein Böses. " 207 Letztlich wurzelt auch Li in Tao.208 Daher ist die Sittlichkeit keinen Extremen verpflichtet, sondern "Maß und Mitte"?09 "Maß und Mitte sind der Höhepunkt menschlicher Naturanlage." 210 Tao erhält bei den Konfuzianern also eine sittliche Ausdeutung. Diese von Konfusind in der Familie. Die Wurzeln der Familie sind in der einzelnen Person."; vgl. R. Wilhelm, Li Gi, p. 8 f., 13. 199 Vgl. Kong Zi, Lun Yu, Buch XII, 22. 200 Vgl. Li Ji, Kap. 27-30. 201 Vgl. Kong Zi, Lun Yu, Buch 111, 12, 26. 202 S.-1. Liu, Die Begründung des Rechts und des Staates nach der klassischen chinesischen Philosophie, p. 87 f. 203 Vgl. T.-S. Tai, Der chinesische Legalismus, p. 118 f. 204 Li Ji, Kap. 12, 3. 205 Kong Zi, Lun Yu, XII, 13. 206 Kong Zi, Lun Yu, Buch II, 3. 207 Kong Zi, Lun Yu, Buch IV, 4. 208 Vgl. Li Ji, Kap. 3, IV, 1. 209 Dies ist der Titel eines der vier grundlegenden Bücher (Si Shu) der Song-Zeit (neben der Abhandlung "Große Wissenschaft" (Da Xue), den "Gesprächen" des Konfuzius', den Werken des Menzius'). 21 Kong Zi, Lun Yu, Buch VI, 27.
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zius selbst nicht so verstandene "Beschränkung" des höchsten Prinzips ist häufiger Gegenstand der Auseinandersetzung bei Lie Zi und Zhuang Zi, die von der "Bekehrung" des Konfuzius' sprechen und ihm taoistische Gedanken in den Mund legen. Der Lehre des Tao sind auch die Gegner der Konfuzianer, die Legalisten, verpflichtet, die in dieser Hinsicht in die Nähe der Taoisten (die sich selbst, das "Nicht-Tun" pflegend, den Regierungsgeschäften enthalten und andere Gesetze als Tao ablehnen) rücken. Nach Lao Zi vollziehen die Herrscher die wirkende Kraft des Tao. Durch Tao erhielten "Fürst und König Einheit, damit der Welt das Richtmaß zu geben. (... ) Gäbe nichts Fürst und König Maß, so edel und hoch, würden sie doch fallen." 211 Den Legalisten zufolge besteht der einzige Weg, Frieden und Sicherheit zu schaffen, in der Durchsetzung harter Gesetze (Fa). "Bestrafung erzeugt Zwang, Zwang erzeugt Stärke, Stärke erzeugt Ehrfurcht, und Ehrfurcht erzeugt Tugend. Tugend hat ihren Ursprung also im Zwang." 212 Dadurch werden die "sechs Parasiten" ausgerottet: "Sorge ftir das Alter, auf Kosten anderer leben, Schönheit, Liebe, Ehrgeiz und tugendhaftes Verhalten." 213 Die Gesetze erhalten ihre Geltung dadurch, daß sie durch den gesetzgebenden Akt, d.h. durch die Autorität des Souveräns, und zwar nur durch diese, legitimiert werden. Dadurch entsteht eine Lücke im System der Legalisten, die eine einheitliche Gesetzgebung gerade als probates Mittel ansehen, der willkürlichen Gesetzesinterpretation vorzubeugen und Rechtssicherheit zu schaffen: nicht ausgeschlossen werden kann nämlich die Willkür des Herrschers. Um diese Gefahr zu bannen, muß sich der Herrscher selbst Tao unterwerfen; tut er dies nicht, so erleidet er Unglück. Daher wurden z.B. Todesstrafen nicht im Frühling und Sommer, zur Zeit des Wachstums und der Blüte vollstreckt. T.-S. Tai vergleicht dieses Prinzip mit dem der Unterwerfung des Souveräns unter den Gotteswillen bei Hobbes? 14 Außerdem hatte der Herrscher bei den Legalisten das Vorrecht des Wu Wei, des Nicht-Tuns (das keine
211 Lao Zi, Dao De Jing, Kap. 39; "Tao, das Ewige, hat keinen Namen. So zart seine Einfalt auch ist, so wagt doch die ganze Welt nicht, sie dienstbar zu machen. Wenn Fürsten und Könige sie zu halten vermögen, werden alle Wesen von selbst huldigen, Himmel und Erde sich vereinigen, erquickenden Tau herabzusenken. Das Volk, niemand gebietet ihm, wird von selbst rechtschaffen." (a.a.O. Kap. 32). 212 Shang Yang, Von der Macht, zit. nach G. Debon, W. Speiser, Chinesische Geisteswelt, p. l 00. 213 ib. p. 97; die Polemik der Legalisten richtet sich also gegen die grundlegenden Werte der Konfuzianer. Nicht tugendhaftes Verhalten (Ren, Li), soziale Bindungen (Sorge flir das Alter, soziale Fürsorge, Liebe) und die ehrgeizige Pflege der Überlieferungen des Altertums (Ehrgeiz, Schönheit) sollen den Staat tragen, sondern einzig und allein die Treue zum Gesetz. 214 T.-S. Tai, Der chinesische Legalismus, p. 93.
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Untätigkeit ist215 ), da er seine Beamten handeln ließ, selbst aber durch Anpassung regierte. In Hinblick auf die gesetzgebende Tätigkeit und die Betonung des Kriegswesens sowie die Durchsetzung harter Strafen, stellt sich der Legalismus freilich in diametralen Gegensatz zum Taoismus. 216 Der Grund dafür ist, daß er den Urzustand der Menschheit als chaotisch betrachtet und die Natur des Menschen als von Grund auf böse, so daß diese nur durch harte Gesetze zu bändigen wäre. 217 So führte Shang Yang durch seine Reformen etwa die Pflicht gegenseitiger Beaufsichtigung und die Solidarhaftung ein, desgleichen die Todesstrafe bei versäumter Denunziation eines Vergehens. Ein beliebtes Beispiel zur Illustration des Konfliktes zwischen den Konfuzianem und den Legalisten findet sich in den "Gesprächen": "Der Fürst von Sehe redete mit Meister Kung und sprach: 'Bei uns zulande gibt es ehrliche Menschen. Wenn jemandes Vater ein Schaf entwendet hat, so legt der Sohn Zeugnis ab (gegen ihn).' Meister Kung sprach: 'Bei uns zulande sind die Ehrlichen verschieden davon. Der Vater deckt den Sohn und der Sohn deckt den Vater. Darin liegt auch Ehrlichkeit." 218
Demgegenüber betont der Legalist Han Fei Zi anhand des selben Falls den Vorrang des Gesetzes vor der Pietät. 219 Der Legalismus war zu seiner Zeit die erfolgreichere Doktrin. Die umfassenden Reformen der Legalisten stärkten den Staat Qin, so daß er im Jahre 221 v.Chr. die anderen Staaten unterwerfen und der "Zeit der streitenden Reiche" ein Ende bereiten konnte. Qin Shi Huang Di trat auf den Plan, der die Konfuzianer verfolgen ließ und die Bücherverbrennung anordnete. Die Vorherrschaft der Qin währte nicht lange. Schon 206 v.Chr. übernahmen die Han die Macht, 215 T.-S. Tai, a.a.O. p. 27, beschreibt es als "die Entfaltung jener feinen Art von Tätigkeit, die nur vom Tao getragen und getrieben wird." Zhuang Zi, Buch IV, I, beschreibt es so: "Sieh dort die Öffnung in der Wand! Das ganze leere Zimmer wird dadurch erhellt. (Wer so ist), bei dem verweilen Glück und Segen, aber sie bleiben nicht auf ihn beschränkt. Von einem solchen mag man sagen, daß er imstande ist, alle Fernen zu durchdringen, während er ruhig an seinem Platze verweilt. Er gebraucht sein inneres Auge, sein inneres Ohr, um die Dinge zu durchdringen und bedarf nicht verstandesmäßigen Erkennens. ( ... )Auf diese Weise vermag man die Welt zu wandeln." 216 Vgl. Lao Zi, Dao De Jing, Kap. 46: "Hat das Reich Tao, so hält man Gangpferde zur Felddüngung. Hat das Reich nicht Tao, so züchtet man Kriegsrosse an den Grenzen." "Je mehr Verbote und Beschränkungen das Reich hat, desto mehr verarmt das Volk." (a.a.O. Kap. 57); "Wer sich freut, Menschen zu töten, kann sein Ziel in der Welt nicht erreichen." (a.a.O. Kap. 31 ). 217 Vgl. T.-S. Tai, Der chinesische Legalismus, p. 39 ff.; Die Auffassung von der bösen Natur des Menschen wurde v.a. von Xun Zi vertreten. Brilliant ist sein Argument, daß der Mensch nach dem Guten strebe, gerade weil er von Natur böse sei. (vgl. G. Debon, W. Speiser, Chinesische Geisteswelt, p. 104 ff.). 218 Kong Zi, Lun Yu, Buch XIII, 18. 219 Vgl. T.-S. Tai, Der chinesische Legalismus, p. 102; S.-1. Liu, Die Begründung des Rechts und des Staates nach der klassischen chinesischen Philosophie, p. I 02.
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unter denen der Konfuzianismus zur offiziellen Staatsphilosophie erhoben wurde, die die Grundlage ftir eine als unentbehrlich erkannte positive Gesetzgebung bildete. Es vollzog sich also eine Synthese der Lehren der konkurrierenden Schulen; Li wurde im wesentlichen zur Grundlage des Gesellschaftslebens und des bürgerlichen Rechtsverkehrs, Fa zu der des Strafrechts. Fa fand somit nur auf solche Menschen Anwendung, die sich nicht in die Norm des Li fügten. Diese Synthese drückt sich treffend in der Präambel des Tang-Kodex aus: "Tugend und Li sind die Grundlagen der Regierung und Erziehung; Recht und Strafe sind die wirksamen Handhaben der Regierung und Erziehung. Die ersten und die Ietzt~ genannten ergänzen sich; sie gehören notwendig zueinander, geradeso wie es zum ganzen Tage des Morgens und des Abends und zum ganzen Jahr des Frühlings und des Herbstes bedarf. " 22
D. Der Einheitsgedanke im Recht Die Auseinandersetzung von Konfuzianem und Legalisten kann vereinfachend auf die Begriffe "Li", als Inbegriff der sittlichen Haltung, und "Fa" als Ausdruck der Positivität des Gesetzes reduziert werden. Über das "Li" schreibt Kaufmann: "Ursprünglich war es wohl ein religiöses Ritual, aber unter konfuzianischem Einfluß hat es diesen Charakter verloren. Nie hat es zu einer religiösen Fundierung des Rechts und des Staates gedient, wie das im abendländischen Naturrecht geschah." Demgegenüber vergleicht R. Wilhelm das Li Gi mit den fünf Büchern Moses im Alten Testament. 221 Das Zeichen Li kann auch heute noch in der Bedeutung von "Ritual" übersetzt werden. Fügt man das Zeichen ftir "anbeten", "verehren" hinzu, so bedeutet es "Gottesdienst". Eigentümlicherweise geht aber auch die ethymologische Bedeutung von Fa auf ein magisches Ritual im antiken China zurück222 ; es kann heute noch als "Zauberei" übersetzt werden, aber auch die buddhistische Doktrin, Dharma, wird mit Fa bezeichnet; zusammen mit dem Zeichen ftir "Kraft" bedeutet es eine "übernatürliche Kraft". Damit lassen sich beide Begriffe auf einen rituell-religiösen Hintergrund beziehen. Auf die Wandlung der animistischen Glaubensvorstellungen zum Einheitsdenken und die damit einhergehende Ethisierung der Rituale während der Achsenzeit wurde oben hingewiesen. Die Konzeptionen der verschiedenen philosophischen Schulen, die eingangs Erwähnung gefunden haben, lassen sich daher nicht ohne Bezug auf ihren religiösen Ursprung verstehen. Zit. nach S.-1. Liu, a.a.O. p. 98. R. Wilhelm, Li Gi, p. 16. 222 Vgl. den ethymologischen Nach.weis bei T. Tai, Der chinesische Legalismus, p. 75 f.; J.-H. Su, Das chinesische Rechtsdenken im Licht der Naturrechtslehre, p. 98. 220 221
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2. Kapitel: Dialektik
Die während der Achsenzeit entstandene Vorstellung einer einheitstiftenden, alles durchwirkenden Kraft, die sogar der Legalismus in seine Philosophie integriert hat, ist am deutlichsten erhalten im philosophischen Taoismus. Der Gedanke der eigentlichen Einheit alles Seienden wird hier auf den Bereich der Aufstellung und Festigung rechtlicher Ordnungen und moralischer Werte übertragen, deren Sinnlosigkeit, ja Kontraproduktivität Zhuang Zi unter anderem in den brillianten Schriften des X. Buchs darstellt. Zhuang Zi hält die Moral ftir etwas, das "nicht der menschlichen Natur entspricht" und die "ewigen Gesetze" zerstört223 und fordert daher Freiheit von allen Gesetzen. 224 Die Schuld an den Verbrechern schreibt er der Kultur selbst, d.h. der Moral und den Normen zu. 225 Auf die Frage nach dem richtigen Tun antwortet er: "Einfach der Wandlung ihren Lauf lassen." 226 In Lie Zi heißt es, es "hütet sich der Edle, Gutes zu tun." 227 Die Ursache aller staatlichen Ordnung liegt in der Ordnung des Selbst. 228 Auch der Buddhismus kennt das Gesetz der Einheit und Wandlung. Es ist das Rita, das zuerst "kosmische Ordnung" bedeutete und dann die Bedeutung von "Recht" bekarn. 229 In Rita "wurde ritualistische Genauigkeit auf dieselbe Stufe gestellt wie Naturgesetze und moralische Geradlinigkeit."230 Dieselbe Idee bezeichnet Dharma, "das, was den Kosmos im Großen wie im Kleinen zusammenhält: die universelle Gesetzmäßigkeit, die sich als moralisches Gesetz im Menschen darstellt ( ...)." 231 Der Taoismus läßt dieses Gesetz seinen Gang nehmen; daher predigt er Wu Wei, Nicht-Tun. Im Konfuzianismus, dem das chinesische Altertum höchstes Vorbild ist, spiegelt es sich in dem zentralen, einheitsstiftenden Begriff von Li wieder. Im chinesischen Legalismus ist es das Prinzip, welches die auf den sozialen Bereich bezogene Tätigkeit des Herrschers leitet. Das Göttliche verwirklicht sich im klassischen chinesischen Recht also durch eine übergeordnete vereinigende namenlose Ganzheit, die gewissermaßen jenseits von Gut und Böse ist, im abendländischen Naturrecht dagegen in der Legitimierung des guten (aber daher menschlichen) Rechts durch den göttlichen Akt der Gesetzgebung eines gütigen (oder wie auch immer), jedenfalls mit menschlichen Attributen belegbaren und vermenschlicht darstellbaren Gottes. Zhuang Zi, Buch VIII; vgl. Lie Zi, Buch IV, 9. Zhuang Zi, Buch VI, 7. 225 Zhuang Zi, Buch XXV, 7. 226 Zhuang Zi, Buch XVII, 5. 227 Lie Zi, Buch VIII, 25. 228 Lie Zi, Buch VIII, 16. 229 M. Hiriyanna, Vom Wesen der indischen Philosophie, p. 15. 230 ib. p. 22. 231 Def. von Lama Anagarika Govinda, Das Tibetanische Totenbuch, p. 328. 223 224
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Den dahinter verborgenen Perspektivenwechsel bringt der Text Lao Zi auf den Punkt, wenn er sagt: "Wird das große Tao verlassen, gibt es Menschenliebe und Gerechtigkeit." 232 D.h., fließen sie nicht aus dem Tao, sind diese großen Tugenden bloße Bestandteile einer gewöhnlichen Moral. 233
E. Besonderheiten des chinesischen Rechts
ln Tao findet das chinesische Denken seinen gemeinsamen Nenner und das Recht zur Synthese. Oben234 wurde der dahinter stehende Gedanke der kosmischen Einheit mit anderen spezifischen Merkmalen des östlichen Denkens in Zusammenhang gebracht. Es wurde auf das Fehlen des Gedankens des Individuums und der Gemeinschaft als eines Zusammenschlusses von Individuen zu einem größeren Ganzen hingewiesen; ferner auf das Fehlen einer sozialen Haltung im abendländisch-christlichen Sinn; schließlich auf die Bedeutung der Familie und der vertikalen gesellschaftlichen Bande, die vor allem die konfuzianische Lehre geprägt hat. Diese Merkmale finden auch im chinesischen Rechtsleben ihren Niederschlag, und von daher kann W. Fikentscher behaupten, daß die grundlegenden Unterschiede zwischen Ost und West zum größten Teil rechtlicher Natur seien. 235 Diese Unterschiede lassen sich konkretisieren. I . Der Gedanke subjektiver Rechte hat in das östliche Rechtsdenken erst mit der Adaption westlicher Rechtsvorschriften zu Beginn dieses Jahrhunderts Einzug gehalten, denn er gründet auf dem in den vertikalen Gesellschaften des Ostens unbekannten Gedanken der Egalität und auf dem Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv. 236 Dem entspricht die Vorstellung einer vorgegebenen kosmologischen Weltordnung, deren Ausflüsse auch den Bereich des Rechts und der Sitte beherrschen und der sich das Individuum harmonisch einzugliedern hat. 2. Insbesondere im Bereich des Zivilrechts besteht daher noch ein weitgehend gesetzesfreier Raum, der von der Gesellschaft - bei Versuchen der Regierung, regelnd einzugreifen - auch erfolgreich verteidigt wurde. K. Bünger bezeichnet "die offenbare Abneigung, Streitigkeiten nach vorgegebenen, generellen und abstrakten Vorschriften durch die Gerichte entscheiden zu lassen" als ein "allgemeines Merkmal" des chinesischen Rechtsverständnisses. "Statt desLao Zi, Dao De Jing, Kap. 18; vgl. auch Lie Zi, Buch VII, 18. Vgl. den Kommentar von V. v. Strauß, Lao-Tse, p. 237 f. 234 Vgl. § 8 C. 235 W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 343. 236 Vgl. ib. p. 340, 343; H. v. Senger, Einführung in das chinesische Recht, p. 21; K. Bünger in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 465 ff. 232 233
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2. Kapitel: Dialektik
sen zog man die Schlichtung durch vertrauenswürdige Personen vor, also je nach dem Fall durch ältere Familienmitglieder, Dorfhonoratioren, Gildenobere usw." 237 Der Vorteil einer solchen Vorgehensweise ist die "Individualisierung" des Verfahrens, die bei uns erst durch formale Vorschriften als Mittel zur Konkretisierung des abstrakten materiellen Rechts in den Prozeß eingeführt wird. Bünger238 weist auch darauf hin, daß bei uns der Prozeß eher den Charakter eines Kampfes trage239 , in China sowie anderen ostasiatischen Ländern dagegen den des Schlichtens. Umgekehrt hat der Richter in China, da die Individualisierung des Rechts außergerichtlich vollzogen wird, traditionell einen geringen Ermessensspielraum.240 Die Anerkennung des Stra.finonopols des Staates stellt nicht erst eine jüngere Errungenschaft dar, sondern tritt bereits in der Zeit vor dem Einheitsstaat als selbstverständlich auf. 241 Dem entspricht das traditionelle Verbot der Gesetzeskritik 3. Die Dichotomie von Vertrag und Delikt, ebenso wie die Idee des Sacheigentums242, aber auch der "res publica"243 , sind unausgeprägt. Noch heute werden vertragliche Vereinbarungen nach Möglichkeit vermieden.244 Die Handhabung des wirtschaftlichen Lebens ist weitgehend dem Ermessen der Wirtschaftssubjekte überlassen. Traditionen und Sitten spielen noch eine große Rolle. Der Gedanke der Rechtssicherheit ist von untergeordneter Bedeutung. Da aufgrund der historischen Synthese von Konfuzianismus und Legalismus alles, was den Rahmen der rechten Umgangsformen verließ, in den Bereich der Strafe geriet, gibt es keine ausgeprägte Trennung von Zivilrecht und Strafrecht. 245 Der allgemeine Mangel einer rechtlichen Infrastruktur bringt große Schwierigkeiten fiir den internationalen Wirtschaftsverkehr mit sich. Auch in der Dis-
237 ib. p. 459; es sei an dieser Stelle erinnert an die Darstellung des Richters im chinesischen Märchen, vgl. § 7 E. 238 ib. p. 460. 239 Vgl. R. v. Jhering, Der Kampfum's Recht (1872). 240 Vgl. K. Bünger in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 456. 241 ib. p. 468 f. 242 J.C.H. Wu gibt dafür ein treffendes Beispiel, um die Moralisierung des Rechts durch den Konfuzianismus zu belegen: Bei einem Streit um ein Huhn ließ der Richter kurzerhand das Huhn schlachten, um anhand des Mageninhalts die Eigentumsverhältnisse festzustellen. Denjenigen, der zu Unrecht Eigentum reklamiert hatte, ließ er bestrafen. Wu zieht daraus den Schluß: "So ist ganz klar die Frage des Sachrechts von der Frage der Aufrichtigkeit völlig aufgesogen worden. In einer solchen psychologischen Atmosphäre kann man natürlich schwer von Sachrecht oder Schuldrecht reden, erst recht kann man da nicht von einem unabhängigen Zivilrecht reden." (nach M. Christian, Rechtsphilosophie zwischen Ost und West, p. 103 f.); vgl. auch Lie Zi, Buch I, 12. 243 Vgl. W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 331. 244 Vgl. ib. p. 345. 245 Vgl. M. Christian, Rechtsphilosophie zwischen Ost und West, p. 96.
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kussion um Menschenrechte muß man sich des traditionellen FehJens der Idee subjektiver Rechte bewußt sein. 4. Desgleichen kennt das östliche Denken keine absoluten Rechte in unserem Sinne. Absolut ist nur Tao, und dessen Eigenschaft ist die Wandlung. Der normative Charakter einer Handlung ist stets situativ zu bestimmen. Damit hängt die Problematik abstrakter Rechtsvorschriften zusammen. Da das östliche Denken der Abstrahierung wenig zugetan ist, neigt es einerseits überhaupt weniger zur Vergesetzlichung des sozialen Lebens, das dennoch in hohem Maße durch die Sitte formalisiert ist. Man kann von daher von einer "Geringschätzung des Rechts in der chinesischen Geschichte" 246 sprechen. Andererseits gibt es keine allgemeinen Rechtsprinzipien, die generelle Anwendung finden und aus denen andere Normen deduziert werden können.Z47 Auch die Rechtsdogmatik, die für das kontinentaleuropäische Recht als Motor der Rechtsentwicklung angesehen werden kann, existiert in China praktisch nicht. 248 5. Das Fehlen des christlich-römischen Hintergrundes, der für die Entwicklung unserer Rechtsordnung von entscheidender Bedeutung gewesen ist, darf nicht unterschätzt werden. Von daher stammende Rechtsprinzipien, die für uns eine Selbstverständlichkeit darstellen, wie z.B. der Grundsatz "pacta sunt servanda", können in China nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden 249 und stellen ein großes Hindernis fllr wirtschaftliche Beziehungen dar. Auch die Gedanken des Mitleids und der Verantwortung für andere sind bei uns in hohem Maße rechtsbildend gewesen. Hieran könnte sich z.B. eine Untersuchung darüber anschließen, inwiefern im chinesischen Strafrecht die Idee einer Garantenstellung existiert, die über die bloße familiäre Verbundenheit hinausgeht. Interessant ist, daß es auch im klassischen China, nämlich bei Mo Zi, sowohl den Gedanken der Nächstenliebe als auch den der Egalitäeso gibt, die einhergehen ib. p. 71. Vgl. W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 350. 248 Vgl. K. Bünger in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 4 70 f. 249 Die sorglose Haltung der Chinesen in Hinblick auf die Einhaltung von Verträgen scheint sprichwörtlich zu sein (vgl. J.C.H. Wu in: M. Christian, Rechtsphilosophie zwischen Ost und West, p. 97 f.), man kann sie aber auch jederzeit von Geschäftsreisenden bestätigt finden. Interessant ist, daß über diese Haltung auch taiwanesische Geschäftsleute klagen. Ein Taiwanese äußerte mir gegenüber die Vermutung, daß dies mit dem in der Volksrepublik fehlenden christlichen Hintergrund zu tun haben könnte, der in der Republik China eine nicht unbedeutende Rolle spielt. W. Fikentscher sieht den Ursprung des abendländischen Treuebegriffs im Monotheismus (W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. 270). 250 H. Schmidt-Glintzer, Mo Ti, p. 21 schreibt darüber: "Gleichheit im Sinne der egalite hatte Mo Ti sicher nicht im Sinn, wenn man nicht die Gleichheit vor dem Himmel und die theoretische Möglichkeit für alle, auf der sozialen Stufenleiter aufsteigen zu können, schon für ein solches Gleichheitsprinzip hält." Mo Di "billigt in seiner Theorie vom ,Oben angleichen' eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft." 246
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7 Löffelmaon
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mit der Ablehnung der Schicksalsgläubigkeit und der Forderung nach persönlicher Anstrengung und verbunden sind mit der Auffassung einer anthropomorphen Gottheit. Andererseits hat aber das Recht an sich dadurch, daß es nicht durch einen allmächtigen Schöpfergott, dem man mit Gottesfurcht zu begegnen hatte, legitimiert war, niemals dieselbe gesellschaftliche Bedeutung erlangt wie im Westen. 251 6. Mit der Haltung des "detachment" hängt die fehlende Idee persönlicher Verantwortung und Schuld zusammen, die für die tragischen Gesellschaften charakteristisch ist und sich bei uns in der Unschuldsvermutung niederschlägt, welche dem chinesischen Strafrecht unbekannt ist. 252 Im Bereich der Ethik spiegelt sich diese Besonderheit in der eher passiven Haltung der Asiaten, denen die Vermeidung des Verstrickt-seins in weltliche Angelegenheiten als moralisches Prinzip gilt.
F. Der Ertrag Die Eigenart des östlichen Rechts hängt eng zusammen mit der spezifischen Art des östlichen Denkens überhaupt. Die Geringschätzung des Individuums findet sich wieder als Unkenntnis der Idee des subjektiven Rechts. Die Abneigung gegenaber abstrakten Denkkategorien spiegelt sich im Fehlen allgemeiner Rechtsprinzipien. Das Recht erfahrt im Osten sogar eine gewisse Geringschätzung, die auch von östlichen Gelehrten beklagt wird, und die historisch mit der Abwesenheit eines das Recht legitimierenden personalen Schöpfergottes in Zusammenhang gebracht werden kann. Ahnenkult und Einheitsgedanke 253 , der Glaube an eine vorgegebene kosmologische Weltordnung, der sich der Einzelne harmonisch einzugliedern hat, spielen auch im Recht eine große Rolle. Die Ethik ist stark geprägt durch die Bedeutung der Familienbande einerseits, durch die Haltung des "detachment" andererseits. Aufgrund dieser vielfaltigen Verstrickungen kann man mit Fikentscher zu Recht behaupten, daß die grundlegenden Unterschiede zwischen Ost und West rechtlicher Natur seien. 254
251 Vgl. K. Bünger in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 462 ff. 252 Vgl. W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 321 FN 35, 323, 331, 349. 253 Die Fundierung des klassischen chinesischen Rechts in "Tao" arbeitet insbesondere auch J.-H. Su, Das chinesische Rechtsdenken im Licht der Naturrechtslehre ( 1966) heraus. 254 Inwiefern dies auch auf das in regem Wandel begriffene gegenwärtige Recht zutrifft, kann hier nicht entschieden werden. H. v. Senger, Einführung in das chinesische Recht, p. 27 f., äußerte jedoch 1994, daß das Rechtsbewußtsein des heutigen Chinesen "weniger von westlich-bürgerlichen Parolen wie ,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit' als vielmehr von traditionell-chinesischen Vorstellungen wie ,Hierarchie, Autokratie
§ I 0 Anthropologische Ansätze bei Jung
99
Zweiter Abschnitt
Erkenntnisse der Analytischen Psychologie § 10 Anthropologische Ansätze bei Jung A. Der archaische Mensch
Der Erforschung des Stammeslebens Primitiver brachte C.G. Jung reges Interesse entgegen. 255 Forschungsreisen fllhrten ihn nach Nord-Afrika, zu den Pueblo-Indianern, nach Kenya, Uganda und Indien. 256 Im Kontext seiner Archetypenlehre nimmt er immer wieder Bezug auf die Forschungen des Anthropologen Levi-Bruhl und den von ihm geprägten Begriffen der "representations collectives", des "etat prelogique" und der "participation mystique", die für die Psychologie des Primitiven kennzeichnend sein sollen.257 Mit letzterem Begriff bezeichnet Levy-Bruhl das Phänomen der Projektion des Psychischen in die Außenwelt, das eine mystische Verbindung zwischen dem Primitiven und seiner Umwelt schaffe. Jung steht diesem Begriff zunächst skeptisch gegenüber, denn "für den Primitiven handelt es sich dabei um nichts Mystisches, sondern um etwas durchaus Natürliches"258, später bedauert er Levy-Bruhls Zurücknahme der Bezeichnung, denn ",mystisch' ist gerade das richtige Wort, um die besondere Qualität der ,unbewußten Identität' zu charakterisieren. Es ist immer etwas Numinoses dabei." 259 Dabei folgt Jung grundsätzlich der Auffassung, daß die Welt des Primitiven weitgehend von Projektionen geprägt sei. Das Besondere an der Psyche des Primitiven sei, so Jung, daß sie ihre unbewußten Inhalte in die Materie projiziert und so die Außenwelt mit Göttern und dergleichen belebt. "Alle mythisierten Naturvorgänge, wie Sommer und Winter, Mondwechsel, Regenzeiten und so weiter, sind (...) symbolische Ausdrücke für das innere und unbewußte Drama der Seele, welches auf dem Wege der Projektion, das heißt gespiegelt in den Naturereignissen, dem menschlichen Bewußtsein faßbar wird."260 Jung kann daher behaupten: "Der Primitive hat keine Psychologie. Das Psychische ist objektiv und ge-
und Bestrafung' (...) bzw. von der ,traditionellen chinesischen Rechtskultur' geprägt" sei. Eine "Umettiketierung als ,neues China'" und eine Bezeichnung der Ära Dengs als "nachmaoistisch" erscheint v. Senger als fragwürdig. 255 Vgl. aber schon erste Ansätze bei Freud, z.B. FGW 8, 414. 256 Vgl. C.G. Jung, Erinnerungen, p. 242 ff. 257 L. Levy-Bruhl, La Mentalite primitive ( 1922). 258 JGW 10,81 (1931). 259 JGW II, 544 FN 29 (1955). 260 JGW 9 I, 16.
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schiebt draußen." 261 "Seine Objekte sind nämlich dynamisch belebt, mit Seelenstoff oder -kraft geladen ( ... )." 262 Da der Primitive sich noch weitgehend identisch mit seiner Umwelt und der Natur fühlt und nur wenig zwischen Ich und Nicht-Ich unterscheidet, hat er "einen unüberwindlichen Drang, alle äußere Sinneserfahrung an seelisches Geschehen zu assimilieren."263 Jung folgt Levy-Bruhl auch weitgehend in der Annahme eines "etat prelogique". Zwar betont er: "Tätsächlich ist der Primitive nicht logischer oder unlogischer als wir." 264 Aber der maßgebliche Unterschied zwischen unserem, dem zivilisierten Denken und dem der Primitiven ist seiner Meinung nach der, daß ersteres der Welterfassung das naturwissenschaftliche Konzept der Kausalität zugrundelege, dagegen die primitive Mentalität magische Zusammenhänge sehe, wo das rationale Denken von "Zufällen" spricht. Jung schreibt: "Das prinzipiell Eigentümliche des archaischen Menschen ist seine Einstellung auf die Zufallswillkür, denn dieser Faktor des Weltgeschehens ist für ihn von ungleich größerer Bedeutung als die natürlichen Ursachen. Die Zufallswillkür besteht einerseits in der tatsächlichen Gruppenbildung der Zufälle, andererseits in der Projektion der unbewußten Psyche, der sogenannten participation mystique. Für den archaischen Menschen besteht dieser Unterschied allerdings nicht, denn das Psychische ist bei ihm so völlig projiziert, daß es sich vom objektiven physischen Ereignis nicht unterscheidet. Für ihn sind die Zufälle darum beseelte Eingriffe, das heißt absichtliche Willkürakte, weil er nicht fühlt, daß das Außergewöhnliche ihn nur darum erschüttert, weil er ihm die Kraft seines Erstaunens oder Erschreckens verleiht."265 Levy-Bruhls Begriff der "repn!sentations collectives", der die symbolischen Figuren der primitiven Weltanschauung bezeichnet, wird von Jung als dem Archetypusbegriff weitgehend identisch erachtet. Der Unterschied ist der, daß die archetypischen Inhalte primitiver Stammeslehren bereits in bewußte Formeln verwandelt sind, die traditionsmäßig, meist in Form einer Geheimlehre vermittelt werden, der Begriff "Archetypus" dagegen "nur jene psychischen Inhalte bezeichnet, welche noch keiner bewußten Bearbeitung unterworfen waren, mithin also eine noch unmittelbare seelische Gegebenheit darstellen." 266 Ähnliches gilt fiir Mythus und Märchen als Ausdruck der Archetypen. Für die Organisation der primitiven Gesellschaft bedeutet die mangelnde Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich eine weitgehende Identität von Individuum und Gruppe. Sinn des Zusammenschlusses ist nicht der Schutz des Individuums, sondern die Erhaltung der Gruppe, in deren Dienst sich der Einzelne
JGW 10, 80. JGW 5, 316. 261 JGW 9 I, 16. 264 JGW 10, 69. 265 JGW 10, 84. 266 JGW 9 I, 15. 261
262
§ I 0 Anthropologische Ansätze bei Jung
101
stellt. 267 Die Gruppenbeziehungen sind von numinosen, magischen Kräften durchflochten, was sich besonders in der Bedeutung des Ahnenkultes zeigt. Die Bewußtheit des Primitiven ist "noch unsicher und steht auf schwankenden Füßen."268 Instinktmäßig ist ihm die Gefahr des Einbruchs des Unbewußten bekannt, und der Abwehr dieser Gefahr dienen seine Riten. "Der primitive Ritus besteht darum in Geisterbannung, Enthexung, Abwendung des bösen Omens, Propitiierung, Purifikation und analogischer, das heißt magischer, Herstellung des hilfreichen Geschehens." 269
B. Die Zivilisation Jung erachtet den zivilisierten Menschen, wie er sagt, als nicht grundsätzlich verschieden vom Primitiven. "Unbewußte Identität ist ein wohlbekanntes psy- · chologisches und psychopathologisches Phänomen ( ... ). Dies ist beim primitiven Menschen nur um wenige Grade stärker ausgeprägt als beim zivilisierten Menschen." 270 Der Unterschied liege in der Verschiedenheit der Voraussetzungen, die das Weltbild gestalten. "Nichts weist darauf hin, daß der Primitive im Prinzip anders denkt, flihlt oder wahrnimmt als wir. Die seelische Funktion ist im Wesen dieselbe. Aber die Voraussetzungen sind andere. Daneben will es relativ wenig bedeuten, daß der Umfang seines Bewußtseins kleiner ist oder scheint als der unsere, oder daß er sich auf geistige Tätigkeit wenig oder gar nicht konzentrieren kann."271 "Das ist unsere Voraussetzung: eine positive Überzeugung, daß alles wenigstens theoretisch Wahrnehmbare sogenannte natürliche Ursachen habe. Die Voraussetzung des primitiven Menschen aber ist: Alles entspringt unsichtbarer Willkürmacht, mit anderen Worten, alles ist Zufall, nur nennt er es nicht Zufall, sondern Absicht."272
Der Beginn der Zivilisation wird gekennzeichnet durch die Erlangung von Bewußtheit und das Handeln gegen die Natur, um ihr nicht zu verfallen. Dies ist der "Anfang aller Kultur, die unausweichliche Folge der Bewußtheit mit ihrer Möglichkeit, vom unbewußten Gesetz abzuweichen."273 Der Prozeß der Kultivierung geht schrittweise vor sich und ist auch in der sogenannten Zivilisation noch nicht abgeschlossen. 267 Vgl. H. Scholler, Märchen, Recht und Rechtsentwicklung, p. 335 f., zur These von Braukärnper, wonach das afrikanische Märchen im wesentlichen der Aufrechterhaltung des Status quo und der Stabilität dient! 268 JGW 91, 31. 269 ib. JGW 11, 544 FN 29. JGW 10, 70 f. 272 JGW 10, 73. 273 JGW 8, 427. 270
271
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2. Kapitel: Dialektik
"Jeder Schritt vorwärts bedeutet ein Sich-Losringen von diesem allumfassenden mütterlichen Schoße der anfangliehen Unbewußtheit, in welchem die Masse des Volkes zum großen Teil verharrt. Auch bei einem Kulturvolk sind die untersten Schichten von einer Unbewußtheit des Lebens, die sich von der des Primitiven wenig unterscheidet. Die nächsthöheren Schichten leben im wesentlichen auf einer Bewußtseinsstufe, welche den Anfangskulturen der Menschheit entspricht, und die höchsten Schichten besitzen ein Bewußtsein, das dem der jüngst vergangeneo Jahrhunderte ähnlich ist. Einzig der in unserem Sinn moderne Mensch lebt in der Gegenwart, weil er ein Gegenwartsbewußtsein besitzt." 274
Dieser Mensch ist notwendig einsam, "denn jeder Schritt zu höherer und weiterer Bewußtheit entfernt ihn von der ursprünglichen, rein animalischen participation mystique mit der Herde, dem Eingetauchtsein in ein gemeinsames Unbewußtes." 275 Er ist "unhistorisch geworden", da er den Bezug zu den Welten vergangener Bewußtseinsstufen verloren hat, und er ist "der Masse entfremdet". Seine höhere Bewußtheit ist Schuld276, "insofern jeder Schritt zu einem größeren Bewußtsein eine Art prometheischer Schuld ist: durch die Erkenntnis wird gewissermaßen ein Feuerraub an den Göttern begangen ( ...)." 277 Der moderne Mensch krankt, aufgrund seiner Entwurzelung, an einer seelischen Not. "Die Trennung von seiner Instinktnatur führt den zivilisierten Menschen unweigerlich in den Konflikt zwischen Bewußtsein und Unbewußtem, Geist und Natur, Wissen und Glauben hinein, das heißt in eine Spaltung seines Wesens, die in jenem Moment pathologisch wird, in dem das Bewußtsein die Instinktnatur nicht mehr vernachlässigen oder unterdrUcken kann." 278 Jung vergleicht "das moderne Bewußtsein mit der Seele eines Menschen (...),der eine fatale Erschütterung erlitten hat und infolgedessen wesentlich unsicher geworden ist." 279 Die Wissenschaften haben den modernen Menschen seines Glaubens beraubt und die Religionen zum Vollzug eines äußeren Geschehens gemacht. "Dem Modemen erscheinen die Religionen nicht mehr von innen, als aus der Seele herkommend, sondern sie sind ihm Inventarstücke der äußeren Welt geworden."280 Die Erfahrungen von Leiden, Kriegen und Katastrophen haben ihn seiner Illusionen beraubt. Die Philosophien Schopenhauers und Nietzsches, den Einfluß östlichen Gedankenguts und die Popularität esoterischer Gruppierungen, aber auch die Entstehung der Psychologie als eigenständiger Wissenschaft, die sich mit pathologischen Phänomenen beschäftigt, bezieht Jung auf das Leiden des modernen Menschen am Verlust des Sinns und
274 275
JGW I 0, 92. ib.
JGW 10, 92 f. JGW 7, 172 FN l. 278 JGW 10, 319. 279 JGW 10, 94. 280 JGW 10, 100. 276 277
§ I 0 Anthropologische Ansätze bei Jung
103
der "Sehnsucht der Seele nach einer Antwort auf das Getümmel von Zweifel und Unsicherheiten." 28 I "Es brauchte die seelische Not unserer Zeit, um uns zur Entdeckung der Psychologie zu veranlassen. (... ) Solange der Mensch in der Herde lebt, hat er keine Seele und braucht auch keine, mit Ausnahme des Glaubens an eine unsterbliche Seele. Sobald er aber den Umkreis seiner abendländischen Lokalreligion überwächst, das heißt, wenn seine Religionsform sein Leben in seiner ganzen Fülle nicht mehr fassen kann, dann beginnt die Seele ein Faktor zu werden, dem mit den gewöhnlichen Mitteln nicht mehr beizukommen ist. Darum haben wir heute eine Psychologie, die sich auf empirische Fakten und nicht auf Glaubenssätze oder philosophische Postulate stützt, und zugleich e.rblick.e ich in der Tatsache, daß wir eine Psychologie ~ab~rs'z ein Symptom, welches tiefgreifende Erschütterungen der allgememen Seele beweist. Jung beurteilt die Situation des modernen Menschen aber nicht schlechthin pessimistisch. Die schöpferische Kraft der Seele, ihr archetypischer Urgrund, ist vielmehr der hoffnungsvolle Keim, der stets neue Geistesformen erschafft. "Der Untergrund der Seele ist Natur, und Natur ist schöpferisches Leben. Wohl reißt die Natur selber nieder, was sie gebaut hat, aber sie baut es wieder. Was der moderne Relativismus an Werten in der sichtbaren Welt zerstört, wird uns von der Seele wiedergegeben."283 Dies liegt an der "psychologischen Regel: die im persönlichen Leben von unfehlbarer Gültigkeit ist: Für jedes bedeutsame Stück, das im Bewußtsein entwertet ist und daher zugrunde geht, erhebt sich auf der anderen Seite im Unbewußten eine Kompensation." 284 Von diesem Verständnis der Zivilisation her kann Jung behaupten, daß das wahre Problem unserer Zeit ein psychologisches ist. 285 "Die Erschütterung unserer Welt und die Erschütterung unseres Bewußtseins sind eins und dasselbe." 286
C. Die Entwicklung Für Jung ist "unsere Seele ein Entwicklungsprodukt, das, in seine Ursprünge zurückverfolgt, immer noch unzählige Archaismen zur Schau trägt."287 Dabei ist die Entwicklung der Seele an die des Bewußtseins gebunden. Jung schreibt: "Nichts entfremdet den Menschen von dem Grundplan seiner Instinkte mehr als seine Lemfahigkeit, welche sich als ein eigentlicher Drang zu fortschreitender Wandlung der menschlichen Verhaltensweisen entpuppt. Auf sie ist in erster Linie die Veränderung der Daseinsbedingungen und die Forderung neuer Anpassungen, welche die Zivili28 I
JGW 10, 104.
JGW 10, 96 f. JGW 10, 108. 284 JGW 10, 103. 282 283
C.G. Jung, Sinnfragen des Lebens, p. 372. JGW 10, 104. 287 JGW 10, 67. 285
286
104
2. Kapitel: Dialektik
sation mit sich bringt, zurückzuflihren. Damit ist sie auch die Quelle jener zahlreichen psychischen Störungen und Schwierigkeiten, welche die fortschreitende Entfernung des Menschen von seiner Instinktgrundlage, nämlich seine Entwurzelung und seine Identifikation mit der bewußten Kenntnis seiner selbst, nämlich mit dem Bewußtsein unter Ausschluß des Unbewußten, verursacht."288 "Die Verlorenheit des Bewußtseins in unserer Welt rührt in erster Linie vom lnstinktverlust her und hat ihren Grund in der menschlichen Geistesentwicklung im Laufe des vergangenen Äons. Je mehr sich der Mensch der Natur bemächtigt hat, desto mehr stieg ihm die Bewunderung seines Wissens und Könnens in den Kopf und desto tiefer wurde seine Verachtung flir das bloß Natürliche und Zufällige, das heißt das irrationale Gegebene, inklusive die objektive Psyche, welche eben gerade das Bewußtsein nicht ist. ..289 Lernfahigkeit, Instinktverlust, Bemächtigung der Natur bilden laut Jung die Pfeiler der Bewußtseinsentwicklung, der Trennung des Subjektiv-Psychischen vom Objektiv-Natürlichen.290 Mit diesen Ansichten bewegt sich Jung auf einer Linie mit den Thesen der Entwicklungspsychologie?91 Danach ist es ftir primitive Stufen der Entwicklung charakteristisch, daß die Polarisierung des Erlebens in Psychisches und Physisches nur wenig ausgeprägt ist; Geftihle werden von gegenständlichen Sachverhalten nicht scharf unterschieden, vielmehr bilden Seele und Körper eine Einheit, die in ein kosmisches Geschehen einbezogen und seinen Einflüssen ausgesetzt ist. Auch werden Individuum und Kollektiv nicht scharf unterschieden; eine Strafe wird z.B. auch an den Familienangehörigen des Schuldigen vollzogen. Dinge erscheinen den Primitiven nicht als Gegenstände einer objektiven Realität, sondern sind eingebunden in einen Erlebenszusammenhang. Kurz kann man als These der Entwicklungspsychologie formulieren, daß primitive Kulturen keine ausgeprägte Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt kennen. 292 Daß diese Differenzierung nicht in der Natur der Sache liegt, sondern Ausdruck eines geistesgeschichtlichen Entwicklungsprozesses ist, hat B. Snell anband von Beispielen der griechischen Sprachgeschichte nachzuweisen versucht. 293
JGW 10, 318. JGW 10, 321 f. 290 Vgl. JGW 10, 80. 291 Vgl. auch JGW 17 für Beiträge Jungs zur Entwicklungspsychologie. 292 Vgl. zu diesen Thesen der Entwicklungspsychologie: H. Wemer, Einflihrung in die Entwicklungspsychologie (1959). 293 B. Snell, Die Entdeckung des Geistes (1955). 288
289
§ II Das Phänomen der Religion aus der Sicht Jungs
105
D. Der Ertrag Jung stützt seine Analyse primitiver Gesellschaften weniger, wie die Anthropologie, auf soziologische Daten, als vielmehr auf psychologische Thesen. Für Jung ist der primitive Bewußtseinszustand dadurch gekennzeichnet, daß er Inhalte der Psyche auf die Außenwelt projiziert und dort als magische Realität erlebt. Die participation mystique und die repn!sentations collectives sowie die weitgehende Identität zwischen Individuum und Gruppe gehen auf diese projizierende Bewußtseinshaltung zurück und erklären die Bedeutung der Gemeinschaft. Den Ursprung der Projektionen bilden die Archetypen des kollektiven Unbewußten, das den gemeinsamen psychischen Boden der Gruppe bildet. Da die Emanationen des kollektiven Unbewußten stets mit einer numinosen Erfahrung einhergehen, sind die gesellschaftlichen Beziehungen von magischen Kräften und religiösen Aspekten durchflochten, was die Bedeutung der Religion als soziales Element erklärt. Riten und Dogmen sollen das Bewußtsein vor dem Einbruch des Unbewußten schützen. Der gesamten Interpretation Jungs liegt der Gedanke einer evolutionären Entwicklung zugrunde, wie er fiir anthropologische Theorien lange kennzeichnend gewesen ist. Zwar betont Jung zuweilen, daß es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen primitivem und zivilisiertem Bewußtsein gebe, grundsätzlich lassen seine Äußerungen aber den Gedanken eines Bewußtseinsgefälles zwischen zivilisierten und primitiven Kulturen erkennen. 294
§ 11 Das Phänomen der Religion aus der Sicht Jungs A. Die numinose Erfahrung Nach Jung ging das Trachten der Menschheit immer nach Befestigung des Bewußtseins. Dieses Merkmal prägt auch die Religion, in der Jung "unstreitig eine der frühesten und allgemeinsten Äußerungen der menschlichen Seele"295 erkennt. Religion ist eine "instinktive Haltung, deren Manifestationen sich durch die ganze Geistesgeschichte hindurch verfolgen lassen. " 296 Im Gegensatz
294 Vgl. z.B. die Äußerungen Jungs in: C.G. Jung, K. Kerenyi, Einführung in das Wesen der Mythologie, p. 110: "Der primitive Geisteszustand ist nun vom zivilisierten hauptsächlich dadurch unterschieden, daß das Bewußtsein in puncto Ausdehnung und Intensität viel weniger entwickelt ist. Namentlich sind Funktionen, wie das Denken, der Wille usw. noch nicht differenziert, sondern vorbewußt, was z.B. beim Denken sich darin zeigt, daß nicht bewußt gedacht wird, sondern daß die Gedanken erscheinen. Der Primitive kann nicht behaupten, er denke, sondern ,es denkt in ihm'." 295 JGW II, I. 296 JGW 10, 288.
106
2. Kapitel: Dialektik
zu Freud, der die Religion als die "universale Zwangsneurose" 297 der Menschheit erachtete298 , in der sich das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern und zum Über-Ich fortsetze und die daher wie eine Kindheitsneurose ausgewachsen werden müßte, hatte Jung ein sehr positives Verhältnis zur Religion, was ihm den Vorwurf eingetragen hat, er habe "in seiner eklektischen Bewunderung für jede Religion (die) Suche nach der Wahrheit in seiner Theorie aufgegeben." 299 Unter Rückgriff auf den ursprünglichen Gebrauch des Begriffes "religio" versteht Jung unter "Religion" die "sorgfältige Berücksichtigung und Beobachtung gewisser dynamischer Faktoren, die aufgefaßt werden als 'Mächte': Geister, Dämonen, Götter, Gesetze, Ideen, Ideale oder wie immer der Mensch solche Faktoren genannt hat, die er in seiner Welt als mächtig, gefährlich oder hilfreich genug erfahren hat, um ihnen sorgfaltige Berücksichtigung angedeihen zu lassen ( ... )."300 Religion wird mithin nicht im Sinne eines Glaubensbekenntnisses, sondern vielmehr als die Erfahrung eines Numinosum, die eine besondere Einstellung des Bewußtseins hervorruft, verstanden. Konfessionen sind demgegenüber "kodifizierte und dogmatisierte Formen ursprünglicher religiöser Erfahrungen." 301 Für Jung bedeutet Religion in erster Linie also nicht Konfession, nicht einmal Glauben, der "eigentlich ein sekundäres Phänomen ist" 302, sondern religiöse Erfahrung. "Der Ursprungsort eines wirklichen Glaubens ist aber nicht das Bewußtsein, sondern die spontane religiöse Erfahrung, welche
297 FGW 7, 139; vgl. S. Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), FGW 14, 323 ff.; id., Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), FGW 16, 101 ff.; aUgemein zum Verhältnis von Psychoanalyse und Religion, J.C. Fluge!, Man, Moralsand Society, p. 260 ff.: Der Verfasser ist der Ansicht, die Standpunkte Freuds und Jungs seien gar nicht so sehr voneinander entfernt. Der Unterschied liege in ihrem Verständnis von "psychologischer Wahrheit" oder "psychologischer Realität". Während sich Jung nicht daran störe, daß Religion oftmals mit anderen Maßstäben von "Wahrheit" und "Realität" unvereinbar sei, kennzeichne für Freud dieses Merkmal die Religion mit dem Makel des primitiven, pathologischen. - M.E. pointiert gerade das Verhältnis der beiden Tiefenpsychologen zur Religion die Aspekte ihrer Gegnerschaft. Während sich Jung der Religion vom Standpunkt der Philosophie her nähert (obwohl er dies häufig abwehrt), legt Freud naturwissenschaftliche Maßstäbe an. Dem Standpunkt Freuds scheint grundsätzlich auch Fluge! zu folgen, der versucht, die "Leistung" der Psychoanalyse, die Religion "unterminiert" zu haben, zu rechtfertigen. Im Gegensatz dazu meint Jung, daß seine Theorie metaphysische Aspekte der Religion überhaupt nicht berühre, da sie sich ihrer erkenntnistheoretischen Grenzen bewußt sei. Grundsätzlich nimmt Jung in dieser Hinsicht eine viel aufgeschlossenere Haltung ein, was sich auch in der Gewichtung dieses Aspekts im Gesamtwerk niederschlägt. 298 Zum Verhältnis Freuds zur Religion vgl. H.F. E11enberger, Die Entdeckung des Unbewußten, p. 727 f. 299 E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik, p. I 0. 300 JGW II, 4. 301 JGW II, 5. 302 JGW 10, 294.
§ 11 Das Phänomen der Religion aus der Sicht Jungs
107
das gläubige Gefühl mit seiner unmittelbaren Beziehung zu Gott in Zusammenhang bringt."303 Ritual und Dogma bezwecken die Wiedererzeugung oder den Ersatz der ursprünglichen Erfahrung und erflillen damit einen Schutzzweck gegenüber der Gefahr eines Einbruchs des Unbewußten, indem sie durch "sorgfaltige Berücksichtigung und Beobachtung" ein Bewußtsein des Numinosum im "homo religiosus" 304 aufrechterhalten. 305 Denn: "In den meisten Menschen besteht eine Art von primitiver deisidaimonia (Gottesfurcht) in bezug auf die möglichen Inhalte des Unbewußten." 306 Götter, Engel usw. werden folglich als seelische Mächte gedeutet, die mit metaphysischen Existenzen identifiziert werden. Jung weist das Vorhandensein dieser "Mächte" in Gestalt archetypischer Bilder nach. So wird in der Quaternität, die sich zum Beispiel in der Form des Mandalas ausdrückt, "eine mehr oder weniger direkte Darstellung des in seiner Schöpfung sich manifestierenden Gottes" 307 gesehen. Im Mittelpunkt des Mandalas steht aber nicht das Symbol einer Gottheit, sondern das Selbst, die Ganzheit des Menschen, die die Gottheit versinnbildlicht. 308 Dieses Sinnbild ist Jung zufolge ein natürliches und spontanes Vorkommnis, eine dem Unbewußten entspringende Schöpfung, die sich in Träumen, Visionen und Bildern manifestiert. 309 Damit ist jedoch - das betont Jung immer wieder - noch keine metaphysische Aussage über die Existenz oder Nicht-Existenz eines Gottes getan, sondern nur eine psychologische. Der Archetypus ist nur eine "Einprägung", welche ein "Prägendes" voraussetzen könne. "Schon das Wort Archetypus setzt ein Prägendes voraus." 310 Das Unbewußte ist "die uns zunächst faßbare Quelle religiöser Erfahrung( ... ). Damit ist keineswegs gesagt, daß das, was als Unbewußtes bezeichnet wird, sozusagen mit Gott identisch oder an Stelle Gottes gesetzt sei. Es ist das Medium, aus welchem für uns die religiöse Erfahrung zu entspringen scheint. Welches die fernere Ursache solcher Erfahrung ist, dies zu beantworten liegt jenseits der menschlichen Erkenntnismöglichkeit" 31 1
JGW JGW 305 JGW 306 JGW 307 JGW 308 JGW 309 JGW 310 JGW 311 JGW 303
304
10, 323. 11, 6. 11, 46. 11, 11. II, 57, 63 . II, 88. II, 105. 12, 28. 10, 323.
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2. Kapitel: Dialektik
B. Die psychologische Bedeutung
Seine Deutungen der Religionsgeschichte sieht Jung bestätigt durch klinische Erfahrungen. Er schreibt über die Religion: "In ihrem Lehrgehalt erkenne ich jene Figuren wieder, die mir in den Träumen und Phantasien meiner Patienten begegnet sind. In ihrer Moral sehe ich die gleichen oder ähnlichen Versuche, die meine Patienten aus eigener Erfindung oder aus Eingebung machen, um den richtigen Weg zu finden, mit den Mächten der Seele umzugehen. Die heilige Handlung, das Ritual, die Initiationen und die Askesis sind mir überaus interessant als wechsel-und formenreiche Techniken, den richtigen Weg zu erzeugen."312
Jung betrachtet das wirkliche Problem psychischer Erkrankungen als ein religiöses. Er führt aus: "Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, da heißt jenseits 35, ist nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, daß er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat."313
Die "religiöse Erfahrung" wird bei Jung zum Inbegriff des ganzheitlichen, geheilten Menschseins. "Wenn wir die psychologische Struktur des religiösen, das heißt des ganzmachenden, heilenden, rettenden, allesumfassenden Erlebnisses zu definieren versuchen, so scheint die einfachste Formel, die wir hiezu zu finden vermögen, die folgende zu sein: Im religiösen Erlebnis begegnet der Mensch einem seelisch übermächtigen Anderen." 314 Was aber ist der Grund für diese außerordentliche Bedeutung der religösen Erfahrung? Jung erklärt dazu: "Wie der Mensch als soziales Wesen ohne die Verbundenheit mit der Gesellschaft auf die Dauer nicht leben kann, so findet auch das Individuum nirgends seine wirkliche Daseinsberechtigung und seine geistige sowohl wie sittliche Autonomie außer in einem extramundaneo Prinzip, welches den übermächtigen Einfluß der Außenfaktoren zu relativieren imstande ist. Das Individuum, das nicht in Gott verankert ist, vermag der physischen und moralischen Macht der Weltaufgrund seines persönlichen Daftirhaltens keinen Widerstand zu leisten. Dazu bedarf der Mensch der Evidenz seiner inneren, transzendenten Erfahrung, welche allein ihn vor dem sonst unvermeidlichen Abgleiten in die Vermassung bewahren kann. " 315
Die Religion dient so "dem Zwecke der Erhaltung des psychischen Gleichgewichts"316. Wo dies mangels religiöser Erfahrung nicht gewährleistet sei, 312 JGW 4, 389. 313
JGW II, 362.
314 JGW 10, 375. 315 JGW 10, 287. 316 JGW 10, 288.
§ II Das Phänomen der Religion aus der Sicht Jungs
109
könne die "Vergöttlichung des Staates und des Diktators"317 an die Stelle der Religion treten und deren Rolle übernehmen. Jung fuhrt als Beispiele die sozialistischen Gesellschaftssysteme an. Die Ausftihrungen Jungs stellen hier die Beziehung zur Staatsphilosophie her, da Jung annimmt, "daß jede Religion, die in der Geschichte eines Volkes wurzelt, ebensosehr ein Ausdruck seiner Psychologie sei, wie zum Beispiel die Form der Regierung, welche das Volk hervorgebracht hat. " 31 8 Einen maßgeblichen Anteil am Verlust der religiösen Erfahrung tragen laut Jung die modernen Wissenschaften, die zu einer (unnatürlichen) Trennung von Glauben und Wissen geftihrt haben. An ihnen "entwickelte der Westen eine neue Krankheit, den Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion". 319 "Dieser Konflikt besteht einzig und allein auf Grund der historischen Spaltung des europäischen Geistes." 320 "Die Trennung von Glauben und Wissen ist ein Symptom der Bewußtseinsspaltung, welche den gestörten Geisteszustand der neueren Zeit charakterisiert." 321 So ist nach Jung dieser Konflikt einerseits ein historisches Ereignis, das mit der Bewußtseinsentwicklung in Zusammenhang steht. Andererseits handelt es sich aber nur um einen scheinbaren Konflikt, der vom Standpunkt der Psychologie aus aufgelöst werden kann, denn die kritische Psychologie vermag zu erkennen, daß auch die Wissenschaften sich auf metaphysische Annahmen stützen. "Materie ist eine Hypothese. Wenn man sagt 'Materie', schafft man eigentlich ein Symbol für etwas Unbekanntes, welches sowohl Geist als irgend etwas anderes sein kann; es kann sogar Gott sein. ( ... )Der Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion ist in Wirklichkeit ein Mißverstehen von beiden. Der wissenschaftliche Materialismus hat nur eine neue Hypostase eingeflihrt, und das ist eine intellektuelle Sünde. Er hat dem höchsten Realitätsprinzip einen anderen Namen gegeben und hat angenommen, daß er dadurch etwas Neues erschaffen und etwas Altes zerstört habe. Ob man nun das Prinzip des Seins Gott, Materie, Energie oder sonstwie benennt, man hat damit nichts erschaffen; man hat nur ein Symbol ausgewechselt. Der Materialist ist ein Metaphysiker malgre lui. Der Gläubige andererseits versucht aus rein sentimentalen Gründen einen primitiven geistigen Zustand beizubehalten."322
Letztlich ist "die Struktur des Geistes in erster Linie verantwortlich fiir unsere Aussagen über metaphysische Dinge."323 Hinter dieser Aussage steht wiederum das kollektive Unbewußte mit seinen Archetypen, auf deren Wirken sich alle Religion, Metaphysik oder auf solcher gründende Wissenschaft zurückfiihJGW JGW 319 JGW 320 JGW 321 JGW 322 JGW 323 JGW 317 318
10, 289. II, 87. II, 513. II, 574. 10, 314. II, 513. II, 514.
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2. Kapitel: Dialektik
ren lassen, und in denen sie ihre gemeinsame Wurzel finden. Denn: "Das Unbewußte ist der Mutterboden aller metaphysischen Aussagen, aller Mythologie, aller Philosophie (insofern sie nicht bloß kritisch ist) und aller auf psychologischen Voraussetzungen beruhenden Lebensformen."324 Da die Religion im Sinne Jungs die "sittliche Autonomie" des Individuums gewährleistet325 , kommt ihr in ethischer und sozialphilosophischer Hinsicht eminente Bedeutung zu. Dies wird besonders deutlich in dem Buch "Antwort auf Hiob" 326, wo Jung die Entwicklung des abendländischen Gottesbildes, vom archaischen, unbewußten Jahwe, der "zu unbewußt" ist, "um ,moralisch' zu sein"327, zum gütigen Gott des Christentums, der nicht mehr neben dem Guten das Böse verkörpert, sondern es "verteufelt", aber auch die Reflexion auf das Gute fordert, psychologisch nachzeichnet. Hier wird die enge Verknüpfung von Religion, Ethik und Bewußtseinsentwicklung in der Interpretation Jungs deutlich. C. Der Standort der Interpretation Jungs
Seine psychologische Einstellung gegenüber Religionen hat Jung rege Kritik eingebracht. Obwohl er in Abgrenzung zu Freud behauptete, sein Verhältnis zu allen Religionen sei ein positives328, und obwohl er wiederholt betonte, er wolle sich metaphysischer Aussagen enthalten, wurde ihm vorgeworfen, Religion auf Psychologie zu reduzieren, Gnostizismus, wie auch Agnostizismus zu betreiben.329 So urteilt beispielsweise E. Fromm: "In ihrem Relativismus gegenüber der Wahrheit steht Jungs Auffassung von Religion im Gegensatz zum Buddhismus, zum Judentum und zur Lehre Christi."330 Dennoch soll Jung "einer der ersten" gewesen sein, "die verstanden haben, daß Mythen und religiöse Ideen der Ausdruck tiefer Einsichten sind ( ...)."33 1 Auch in dieser Einschätzung deutet sich also ein Standort der Jungsehen Religionsdeutung zwischen Agnostizismus und Gnostizismus an. Mit seiner psychologischen Deutung der Religion steht Jung in der Tradition Nietzsches, den er wiederholt zitiert und dem er sich, wie er in seinem autobio324 JGW II, 597; vgl. JGW 8, 187 ff.; 8, 236: "Der wesentliche Inhalt aller Mythologien und aller Religionen und aller-ismenist archetypischer Natur." 325 Vgl. JGW 10, 287. 326 JGW II, 385 ff. 327 JGW II, 399. 328 JGW 4, 389. 329 Vgl. C.G. Jung, Sinnfragen des Lebens, p. 336 ff. 330 E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, p. 28 f. 331 ib. p. 18.
§ II Das Phänomen der Religion aus der Sicht Jungs
III
graphischen Werk erklärt, besonders während seiner Studienjahre geistig verbunden geftihlt habe. 332 Wenn Jung von "Gott" als "autonomen Komplex" spricht, so ist das durchaus vergleichbar mit Nietzsches Rückführung metaphysischer Vorstellungen auf irrationale Motive, auch wenn Jung nicht so weit geht wie der große Nihilist, der den falschen Schluß zieht, einen Gott für überflüssig erklären zu können. Wie Nietzsche, hat aber auch Jung metaphysische Gedanken nicht nur von psychologischer Warte kritisiert, sondern dessen ungeachtet, auch eigene metaphysische Konstruktionen entwickelt, die in ihrer zyklischen Natur denen von Nietzsche sogar inhaltlich verwandt sind. Manche Kritiker meinen auch bei Jung eine pathologische Tendenz zur Selbstvergottung ausmachen zu können. 333
D. Der Ertrag
Religion ist in der Interpretation Jungs die "sorgfaltige Berücksichtigung und Beobachtung" der Projektionen des Unbewußten, die der Mensch als numinose Faktoren erlebt. Die Quelle der Religion ist daher das kollektive Unbewußte. Die religio, d.h. die Dogmen und Riten, die die "sorgfaltige Berücksichtigung" gewährleisten, dienen dem Zweck, die Mächte des Unbewußten im Bewußtsein zu erhalten und so vor einem Einbruch des Unbewußten zu schützen. Mit dem Verlust der Fähigkeit zu ursprünglicher religiöser Erfahrung oder ihrer Wiedererzeugung im Ritus bringt Jung die Entstehung psychischer Erkrankungen in Zusammenhang, in denen sich gerade eine kompensierende, über das Bewußtsein hereinbrechende Reaktion des Unbewußten manifestiert. Die notwendige Verankerung in Gott ist gleichbedeutend mit der Verankerung im Unbewußten, das ein Gegengewicht zur bewußten Außenwelt bildet und der Erhaltung des psychischen Gleichgewichts dient. Der Konflikt zwischen Wissen und Glauben bzw. zwischen Bewußtsein und Unbewußtem ist charakteristisch für die psychische Konstellation des modernen Menschen, der an der Trennung dieser psychischen Bereiche krankt. Tatsächlich gründet alle Religion, Mythologie, Metaphysik, Philosophie und Wissenschaft in den Archetypen des kollektiven Unbewußten.
332
333
Vgl. C.G. Jung, Erinnerungen, p. 109; id., Briefe I, p. 72. Vgl. z.B. H.H. Balmer, Die Archetypentheorie von C.G. Jung, p. 16 ff.
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2. Kapitel: Dialektik
§ 12 Analytische Psychologie und Märchenforschung A. Der Beitrag Freuds Die Lehren der Tiefenpsychologie sind von Anfang an sehr befruchtend flir die Märchenforschung gewesen. 334 Schon S. Freud wies auf die Beziehungen zwischen Märchen und Träumen hin und erachtete seine Sexualtheorien als bedeutsam flir das Verständnis von Mythen und Märchen. 335 Gemeinsam haben Träume einerseits und Mythen, Sagen, Märchen und Witze andererseits, daß sie in symbolischer Sprache verschlüsselte unbewußte Wünsche enthalten. Zum Teil befaßte sich Freud auch mit der Interpretation von Mythen und Volkserzählungen.336 Umgekehrt erkannte Freud die Bedeutung des Märchens flir den Traum als eine Verkleidung der Erinnerung (sog. "Deckerinnerung") an eine verdrängte Urszene. 337 In der Nachfolge Freuds wurde das Märchen als Spiegelung eines Reifungsprozesses verstanden, der zwar individuell ist, in dessen Stufen sich aber allgemeine menschliche Entwicklungsstadien abbilden. B. Märchen als Bearbeitungen archetypischer Inhalte Von weitaus größerem Einfluß auf die Märchenforschung war jedoch die Lehre von C.G. Jung. Jung benutzte Mythen und Märchen, die er als Bearbeitungen archetypischer Inhalte erachtete, zur Bekräftigung seiner eigenen Theorie, weshalb sich in seinem Werk zahllose Bezüge auf diese Gattungen finden. "Das Märchen als ein spontanes, naives und unreflektiertes Produkt der Seele kann wohl nichts anderes als das aussprechen, was eben Seele ist." 338 "In Mythen und Märchen wie im Traume sagt die Seele über sich selber aus, und die Archetypen offenbaren sich in ihrem natürlichen Zusammenspiel, als ,Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung. "'339 "Die Mythen sind ursprünglich Offenbarungen der vorbewußten Seele, unwillkürliche Aussagen über unbewußtes seelisches Geschehen ( ... )."340 Sie nötigen zur Annahme "von ,mythenbildenden' Strukturelementen der unbewußten Psyche."341 Daher sind auch, wie Jung feststellt, die Strukturtypen von Mythen und Mär334 Vgl. vertiefend die Bibliographie in W. Laiblin (Hrsg.), Märchenforschung und Tiefenpsychologie, p. 478 ff. 335 Vgl. FGW 7, 173. 336 z.B. FGW 17,47 f.; 16,3 ff.; 10,24 ff. 337 FGW 10,2 ff.; 12,54 ff. 338 JGW 9 I, 255. 339 JGW 9 I, 233. 34 C.G. Jung, K. Kerenyi, Einllihrung in das Wesen der Mythologie, p. !II. 341 ib. p. 109.
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§ 12 Analytische Psychologie und Märchenforschung
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chen den Strukturen der spontanen seelischen Äußerungen in Träumen und Visionen sehr ähnlich. Die archetypische Verankerung von Märchenmotiven erklärt deren archaischen Charakter. 342 Nach M. Lüthi ist "fur Jung und seine Schule die Untersuchung von Mythen und Märchen eine Art Königsweg zum kollektiven Unbewußten." 343 Zwei Arbeiten hat Jung speziell der Analyse von Märchen gewidmet, "Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen" und "Der Geist Mercurius". 344 Insbesondere sind aber in der Nachfolge Jungs weitere bedeutende Arbeiten entstanden, die seiner Lehre nahestehen. M.-L. v. Franz hat sich im Anschluß an Jungs Deutung des Motivs der Königserneuerung als Symbol fur die individuelle wie kollektive Bewußtseinsentwicklung hin auf Ganzheitlichkeit (Sohn/ 45 umfassend mit der Königssymbolik im Märchen auseinandergesetzt Besondere Betonung legt v. Franz in ihren Arbeiten auf den Aspekt der Entwicklung von einem ungenügenden Bewußtseinsstadium zu einem ganzheitlichen, die sich etwa im Verlauf des Märchens spiegelt, das vom Konflikt zur Konfliktlösung und Harmonie fortschreitet. Insofern dient das Märchen auch der Kompensation eines ungenügenden kollektiven Bewußtseins, das im Abendland vor allem durch die Einseitigkeitendes Christentums geprägt ist. 346 Große Bedeutung hat das monumentale Werk "Symbolik des Märchens" erlangt, das v. Franz zusammen mit H. v. Beit erarbeitet hat. 347 Dort werden die Hauptfiguren des Märchens im Sinne der Jungsehen Lehre als Repräsentanten einzelner Komponenten der Seele gedeutet, z.B. der Held als Vertreter der im europäischen Kulturkreis vernachlässigten Seelenfunktion "Fühlen", der König als Vertreter des herrschenden, aber ungenügenden Bewußtseins, die älteren Brüder als Vertreter des "Empfindens" und "Intuierens", die Prinzessin als "Anima", Hexe und Wolf als verschlingendes Unbewußtes usw. Nach v. Beit und v. Franz spiegelt das europäische Volksmärchen das Streben nach seelischer Ganzheitlichkeit, wohingegen in Erzählungen von Naturvölkern ein Ringen um Bewußtheit oder ein Verfallensein an die magischen Mächte des Unbewußten zum Ausdruck kommt. Das Märchen stellt so eine Auseinandersetzung zwischen Bewußtsein und Unbewußtem dar. Damit anerkennen v. Beit und v. Franz den mehrdeutigen und vielschichtigen Charakter des Märchens, das auch äußere Vorgänge spiegelt.
H. Bausinger in: EM I, 742. M. Lüthi, Märchen, p. 82. 344 JGW 9 I, 223 ff.; 13, 213 ff. 345 JGW 12, 375 ff.; 16, 223 ff. 346 M.-L. von Franz, Bei der schwarzen Frau. Deutungsversuch eines Märchens (1955), in: W. Laiblin, Märchenforschung und Tiefenpsychologie, p. 299 ff. bes. 336 ff. 347 H. v. Beit, Symbolik des Märchens, 3 Bde. (1952-1957). 342
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2. Kapitel: Dialektik
Abgesehen von der starken Theoriebeladenheit dieser Deutungen durch die Jungsehe Lehre, ist mit der "Symbolik des Märchens" jedenfalls die These Jungs bekräftigt, daß Märchen innerseelisches Geschehen bildhaft zum Ausdruck bringen. Dafür zeichnen den Autorinnen zufolge insbesondere die Abstraktheit der Märchenfiguren, der wirklichkeitsferne Stil des Märchens und seine Faszinationskraft, die auf das Wirken von Archetypen deute.
C. Märchen und Ethik Mit dem "Problem des Bösen im Märchen" beschäftigt sich die JungSchülerin M.-L. v. Franz. 348 V. Franz betrachtet, entsprechend dem Jungsehen Ansatz, Märchen als "die Veranschaulichung archetypischer seelischer Grundstrukturen des kollektiven Unbewußten." 349 Anband des Märchenmaterials versucht sie die zentrale Frage zu klären: "Ist Ethos eine Leistung des bewußten Menschen und seiner Kultur - oder gibt es ein Ethos bereits in der unbewußten und vorbewußten, naturgegebenen seelischen Struktur des Menschen an sich?" Anders formuliert: Gibt es ein "Ethos des Unbewußten, (... ) der Natur selber"350?. V. Franz zeigt in ihrer Arbeit vor allem das paradoxe Erscheinungsbild des Bösen im Märchen auf. Dem Bösen wird bald mit Mut, bald mit Flucht, mit Ehrlichkeit, List, Güte, Härte, Ernst und Leichtsinn begegnet. "Es scheint also alles eher vom genauen Einzelzusammenhang abzuhängen, beziehungsweise jedes Märchen scheint eine moralische just-so-story zu sein, das heißt eine Erzählung, die man nur in ihrem ganzheitlichen Sosein verstehen kann und sollte."351 Eine Ausnahme von diesem Prinzip ist das Verhalten des Helden gegenüber Tieren. "Wer sich den Dank und die Hilfe der Tiere erwirbt, siegt immerdas ist die einzige Regel ohne Ausnahme, die ich fmden konnte!! Dies ist psychologisch sehr bedeutsam, denn es sagt aus, daß im Kampf des Guten mit dem Bösen das ausschlaggebende Moment der animalische Instinkt, oder, vielleicht besser: die Tierseele ist; wer sie auf seiner Seite hat, siegt. Gutes, das instinktwidrig ist, kann nicht dauern, aber auch Böses, das in seiner einseitigen Dämonie instinktwidrig ist, kann nicht bestehen. " 352 Das. Tier ist, psychologisch betrachtet, wiederum Ausdruck der Ganzheitlichkeit. "Es verkörpert etwas, was zwar zunächst als animalischer Instinkt im Menschen erscheint, hinter welchem sich aber eigentlich das Geheimnis der Individuation, das heißt der inneren 348 M.-L. v. Franz in: Studien XIII, p. 91 ff. 349 ib. p. 92. JSO ib. p. 93, 92. JSI ib. p. 102. 352 ib. p. 108 (Hervorhebung aufgehoben).
§ 12 Analytische Psychologie und Märchenforschung
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Ganzwerdung, verbirgt." 353 V. Franz fugt dem Symbol des Tieres noch weitere, im Märchen bedeutsame, Symbole hinzu, die gleichfalls für das Zentrum der Ganzheitlichkeit stehen, z.B. das Ei, der Feuerstein, das Runde überhaupt. Die eingangs gestellte Frage wird im Sinne der Ganzheitlichkeitslehre, und damit allerdings nur indirekt, beantwortet. Im Märchen, als Ausdruck des Unbewußten, stünden sich Gut und Böse nicht so absolut gegenüber wie in der Anschauung unseres Bewußtseins. Vielmehr sei in der Finsternis stets ein Keim des Guten vorhanden. Damit, so v. Franz, deutet das Märchen an, "daß es für den Menschen darum geht, am Prinzip der Individuation im Zentrum der eigenen Seele festhalten zu können, das heißt an jenem schöpferischen inneren Keimpunkt, wo die fortschreitende Menschwerdungs- und Ganzwerdungstendenz der hellen und dunklen Gottesmächte ihre Verwirklichung anstreben." 354 In Hinblick auf das nächste Kapitel ist schließlich noch bemerkenswert, daß v. Franz in diesem Zusammenhang einen Unterschied zwischen Märchen östlicher Kulturen und solchen des Westens feststellt. In den Märchen des Ostens, so v. Franz, trete das Böse als reines Naturphänomen auf, mit dem man sich nicht auseinandersetzen könne und dem daher auch kein moralischer Gehalt zukomme. "Das Böse ist gleichsam noch ein reines Stück Natur auch in der menschlichen Seele- auf dieser Stufe natürlich eben nach außen projiziert."355
Daher erscheine in östlichen Märchen - im Gegensatz zu denen des Westens die Auseinandersetzung mit dem Bösen in der Märchenhandlung auch nicht als Kampf.356
D. Der Ertrag Jung und seine Schule betrachten das Märchen als Ausdruck der archetypischen Inhalte des kollektiven Unbewußten. Als Belege für diese These führen sie die offensichtlichen Parallelen zwischen der Motivik von Märchen und Träumen an sowie die Abstraktheit des Märchens, seinen wirklichkeitsfernen Stil und seine Faszinationskraft Die innere Struktur des Märchens spiegele außerdem einen Individuationsprozeß. M.-L. v. Franz fragt nach dem "Ethos des Unbewußten", das sich im Märchen seinen Ausdruck verschafft. Das paradoxe Erscheinungsbild des Bösen und die Bedeutung gewisser Symbole lassen sie darauf schließen, daß das gesuchte Ethos das der Individuation sei. Die Eigen-
353 ib. p. I 13. 354 ib. p. 126, 119. 355 ib. p. 105. 356 Vgl. auch G. Widengren in: Studien XIII, p. 25 ff. zur Bedeutung des Kampfes mit dem Bösen im Mythos.
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2. Kapitel: Dialektik
heit des östlichen Märchens, das Böse als reines Naturphänomen darzustellen, wird auch von anderen Märchenforschern beobachtet. 357
§ 13 Jung und das östliche Denken A. Die Symbolik des Ostens
Die Arbeit an seinem Werk "Psychologische Typen" ( 1921) eröffnete Jungs erstes Interesse filr den östlichen Kulturkreis. Acht Jahre später nahm Jung, angeregt durch die Aufforderung R. Wilhelms, einen psychologischen Kommentar zu dem chinesischen taoistisch-alchemistischen Traktat "Das Geheimnis der Goldenen Blüte" zu verfassen, seine Begegnung mit dem Osten wieder auf. Über diese Auseinandersetzung gelangte er schließlich zur europäischen Alchemie des Mittelalters, in deren psychologischer Bedeutung er eine lange gesuchte Verbindung in der Entwicklung des abendländischen Bewußtseins zu erkennen glaubte. Jungs Begegnung mit dem östlichen Denken358 vollzog sich vornehmlich an dessen eigentümlicher Symbolik. Im Text des Yi Jing, im taotrisehen Chakrensystem, im mystischen Nervensystem des chinesischen Yoga, sogar in den Bildserien des Tarot sieht Jung Beispiele einer enantiodromischen Struktur359, einen Rhythmus der Gegensätze, der als Wandelungsarchetypus bezeichnet werden kann und filr den Fortgang des symbolischen Prozesses kennzeichnend ist. 360 Auch die Vierheit, als Ausdruck des Göttlichen und als Symbol der Mitte und Ganzheitlichkeit des Menschen findet Jung in religiösen Bildern und Erzählungen des Ostens bestätigt. Im Taigitu-Zeichen, das die Dualität von Yin und Yang symbolisiert, sieht Jung eine Übereinstimmung zu seinem Typenmodell des menschlichen Bewußtseins.361 Im Mandala findet er die "Quadratur des Kreises" wieder, die Vereinigung des weiblichen mit dem männlichen Prinzip. "Die ideale Vollständigkeit ist das Runde, der Kreis, aber seine natürliche minimale Einteilung ist die Vierheit." 362 Jung beobachtet, daß seine Patienten Mandalas zeichnen, und deutet sie daher als Ausdruck des ionersten Wesens der Psyche.363 Bezeichnend ist fUr Jung, daß in der östlichen Symbolik "der unVgl. § 7 E. Ausführlich hierzu: M. Wegener-Stratmann, C.G. Jung und die östliche Weisheit (1990). 359 Der Begriff der Enantiodromie geht auf Heraklit zurück, auf den sich Jung bezieht, Vgl. JGW 7, 77 ff.; 10, 99. 360 JGW 9 I, 48. vgl. JGW 11, 579. 361 Vgl. die Gegenüberstellung bei I. Jacoby, C.G. Jung, p. 14, 18, 22 ff. 362 JGW 11, 182. 363 Vgl. R. Wilhelm, C.G. Jung, Geheimnis der Goldenen Blüte, p. 28 f. m.w.N. 357
358
§ 13 Jung und das östliche Denken
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vollendete Zustand des Seins ( ...) bemerkenswerterweise durch ein triadisches, der vollendete (geistige) dagegen durch ein tetradisches System ausgedrückt" 364 wird. Dies deutet ihm auf die Unvollkommenheit der Trinität hin. Daß diese im Westen dennoch als göttlich gilt (Vater, Sohn und Heiliger Geist), fuhrt Jung darauf zurück, daß die westliche Mentalität stets das vervollkommnende Vierte, nämlich das Prinzip des Dunklen, den Schatten, das Böse ausgegrenzt habe. Parallelen zum "lndividuationsprozeß" sieht Jung in den Erlösungsvorstellungen östlicher Religionen, etwa dem Satori des ZEN, in denen es um nichts anderes als Bewußtwerdung gehe. 365 Dennoch warnte er immer wieder eindringlich vor dem Irrtum des westlichen Menschen, welcher "östliche Ekstatik anempfindet, Yoga-Praktiken wortwörtlich übernimmt und kläglich imitiert."366 Dabei verlasse er den sicheren Boden seiner geistigen Verwurzelung und begebe sich in einen ganz und gar unschöpferischen Prozeß, sogar in Gefahr. "Man kann Feuer und Wasser nicht mischen." 367 B. Psychologische Typen Jungs psychologisches Interesse erregt auch die Problematik der Gegensätzlichkeit von westlichem und östlichem Denken. Er schreibt darüber: "Der westlichen Psychologie ist der Geist bekannt als die geistige Funktion der Psyche. Er ist die 'Mentalität' eines Individuums. ( ... )Im Osten ist der Geist ein kosmisches Prinzip, die Essenz des Seins überhaupt, während wir im Westen zur Einsicht gelangt sind, daß Geist die unerläßliche Bedingung zur Erkenntnis und daher auch zur Welt als Vorstellung bildet. Im Osten gibt es keinen Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft, weil keine Wissenschaft auf der Leidenschaft flir Tatsachen begründet ist und keine Religion bloß auf dem Glauben; es gibt religiöse Erkenntnis und erkennende Religion. Bei uns ist der Mensch unendlich klein und die Gnade Gottes bedeutet alles; im Osten dagegen ist der Mensch Gott und erlöst sich selber." 368
Jung zufolge steht das wissenschaftliche Begreifen des Westens dem "Begreifen durch das Leben"369 , welches im Osten gepflegt werde, gegenüber. In der westlichen Haltung sieht er die "einseitige Übertreibung und Überschät-
364 C.G. Jung, Mandala, p. 84 (zit. nach M. Wegener-Stratmann, C.G. Jung und die östliche Weisheit, p. 76). 365 Vgl. JGW 11 , 602 und die Kommentare zu "Das Tibetische Buch der Großen Befreiung", JGW 11, 511 ff., und zum "Bardo Thödol", JGW 11, 550 ff., sowie das "Vorwort zu D.T. Suzuki: Die große Befreiung", JGW 11, 581 ff. und die Schrift "Über den indischen Heiligen", JGW 11, 622 ff. 366 R. Wilhelm, C.G. Jung, Geheimnis der Goldenen Blüte, p. 11. 367 JGW 11, 520. 368 JGW II, 516. 369 R. Wilhelm, C.G. Jung, Geheimnis der Goldenen Blüte, p. II.
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2. Kapitel: Dialektik
zung einer einzelnen psychischen Funktion"370 . "Wir im Westen glauben, daß eine Wahrheit nur überzeugend ist, wenn sie durch äußere Tatsachen verifiziert werden kann."371 Dem steht die östliche Fähigkeit zur Intuition gegenüber. Den fundamentalen Unterschied zwischen Ost und West erkennt Jung darin, daß die Menschen des östlichen Kulturkreises das Psychische als Wirklichkeit auffassen. Dies kennzeichne einen introvertierten Standpunkt, im Gegensatz zum extrovertierten des Westens. "Der Osten basiert auf psychischer Realität, d.h. auf der Psyche als hauptsächlicher und einziger Existenzbedingung. Es scheint, als wäre diese östliche Erkenntnis eher eine psychologische Erscheinung als das Resultat philosophischen Denkens. Es handelt sich um einen typisch introvertierten Standpunkt im Gegensatz zum ebenso typisch extravertierten Gesichtspunkt des Westens. ( ... ) Introversion ist, wenn man es so ausdrücken darf, der Stil des Ostens, eine habituelle und kollektive Haltung; Extraversion ist der Stil des Westens." 372
Damit klärt Jung das Verhältnis von westlichem und östlichem Denken anhand seiner Typenlehre. Er sieht dabei den einen Standpunkt dem anderen gegenüber als keineswegs überlegen an. "Der eine unterschätzt die Welt der Bewußtheit, der andere die Welt des einen Geistes." 373 Beiden Arten des Denkens eigne demnach eine gewisse Einseitigkeit. Das Äquivalent des "westlichen Idols der absoluten Objektivität" sei, so Jung, das östliche Ideal der "Identität" mit dem Weltprinzip. 374 Denausgeprägtesten Niederschlag des Gegensatzes von West und Ost findet Jung in den jeweiligen religiösen Betätigungen. "Dieser seltsame Gegensatz zum Westen drückt sich zuallermeist in der religiösen Übung aus. Wir reden von religiöser Erbauung und Erhebung, Gott ist uns der Herr des Weltalls, wir haben eine Religion der Nächstenliebe, in unseren in die Höhe strebenden Kirchen gibt es einen Hochaltar; Indien dagegen spricht von Dhyana, Meditation und Versenkung, die Gottheit ist im lnnern aller Dinge und vor allem im Menschen, man wendet sich vom Äußern ab zum Innern; in den alten indischen Tempeln ist der Altar 23 m tief in die Erde versenkt, und was wir auf das schamhafteste verhüllen, ist dem Inder heiligstes Symbol. Wir glauben an das Tun, der Inder an das unbewegte Sein. Unsere religiöse Übung besteht in Anbetung, Verehrung und Lobpreisung, die wesentlichste Übung des Inders dagegen ist der Yoga, die Versenkung in einen, wie wir sagen würden, bewußtlosen Zustand, den er aber als höchstes Bewußtsein preist. Der Yoga ist einerseits der sprechendste Ausdruck des indischen Geistes, andererseits das stets gebrauchte Instrument zur Erzeugung eben dieser eigenartigen Geisteshaltung." 375
ib. p. JGW 372 JGW 373 JGW 374 JGW 375 JGW
370 371
14. 11, 524. 11 , 517 f. II, 531. 11, 530. II, 604 f.
§ 13 Jung und das östliche Denken
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C. Westliche Parallelen
Eine dem Yoga der Funktion nach ähnliche Methode sieht Jung in der Psychologie des Unbewußten, die, wie der Yoga, einen Einblick in das Unbewußte verschafft. 376 Die moderne Psychologie eröffnet daher auch eine Verständnismöglichkeit flir den Osten.m Jung vergleicht die "dialektische Beziehung zwischen Arzt und Patient" mit dem Verhältnis von Meister und Schüler im Osten. 378 Die sexuellen Phantasien, mit denen sich die Freudsche Psychoanalyse beschäftigt, findet Jung im Sipa-Bardo des Tibetanischen Totenbuchs wieder, der den Vorgang der Wiedergeburt behandelt. 379 Für Jung ist es "in der Tat unverkennbar, daß das ganze Buch aus den archetypischen Inhalten des Unbewußten geschöpft ist." 380 Die Höllentorturen des Sipa-Zustandes interpretiert er dementsprechend als psychische Dissoziationen. 381 Im Umgang mit dem Totenbuch wie mit dem Tod überhaupt zeigt sich wiederum der Unterschied zwischen westlicher und östlicher Haltung. "Das Buch schildert einen umgekehrten lnitiationsweg, der gewissermaßen im Gegensatz zu den christlichen eschatologischen Erwartungen den Abstieg ins physische Werden vorbereitet. Die so gänzlich intellektualistische und rationalistische Weltverlorenheit des Europäers macht es ratsam, den Thödol zunächst umzukehren und als Schilderung östlicher Initiationserlebnisse zu betrachten, wobei man die Gottheiten des Tschönyi-Bardo nach Belieben durch christliche Symbole ersetzen kann." 382 Mit den Begriffen der Psychologie werden zentrale Glaubensvorstellungen der Völker gedeutet. So analysiert Jung: "Die Idee eines schöpferischen Weltprinzipes ist eine Projektion der Wahrnehmung des lebenden Wesens im Menschen selbst." 383 Hinter diesem "lebenden Wesen" steht natürlich der Archetypus "Energie", also die Jungsehe Auffassung von "Libido", mit Hilfe derer auch die Polarität der gegensätzlichen Prinzipien in östlichen Glaubensvorstellungen erklärt wird. Denn: "Mit dem Begriffe der Energie ist auch der Begriff der Gegensätzlichkeit gegeben, indem ein energetischer Ablauf notwendig die Existenz eines Gegensatzes, d.h. zweier verschiedener Zustände voraussetzt, ohne welche überhaupt kein Ablauf stattfinden kann." 384 Da sich die Gegensätze im vereinigenden Symbol der Ganzheitlichkeit ergänzen, kann dieses als
JGW II, 578,618. Vgl. R. Wilhelm, C.G. Jung, Geheimnis der Goldenen Blüte, p. 15 ff. 378 JGW II, 598. 379 C.G. Jung in: Das Tibetanische Totenbuch, p. 46. 380 ib. p. 55. 381 ib. p. 51. 382 ib. p. 53. 383 JGW 6, 216. 384 JGW 6, 216 f. 376
377
2. Kapitel: Dialektik
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Quelle der Libido angesehen werden. In diesem Sinne werden das indische Rita385 und der Brahmanbegriff86 als Libidoquelle interpretiert, desgleichen das chinesische Tao387, von dem Jung später berichtet, er habe in ihm den Gedanken der Einheit gesehen, die die Vielheit der Typen kompensiert. 388 Vielfalt ist illusorisch, "da alle einzelnen Formen aus der ununterscheidbaren Einheit der psychischen Matrix, tief im Unbewußten, stammen." 389 Rita, Brahman und Tao sind also auch das, was Jung mit dem Begriff "Selbst" belegt. 390 Der Begriff des "Unbewußten" hat sein Äquivalent im östlichen "Geist"391 , der des "kollektiven Unbewußten" in "buddhi", dem "erleuchteten Geist". 392 Die Meditation ist "eine Art von königlichem Weg zum Unbewußten" 393 • D. Schopenhauer, Nietzsche, Jung und der Osten Von seinem Verhältnis zum östlichen Denken her erklärt sich auch unproblematisch die von Jung selbst hervorgehobene Nähe zur Philosophie Schopenhauers, dessen "Wille" Jung als ein Äquivalent seines "Archetypus"394 und seiner "Libido"395 ansieht, und dessen Kausalitätskonzept er im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Synchronizität diskutiert. 396 Schopenhauer hat starke Anleihen bei der vedischen Philosophie genommen, insbesondere die von ihm übernommene Anschauung, daß uns die wahre Wirklichkeit durch den Schleier der Maya verborgen sei, hat dort ihren Ursprung. Die Erlösung vom Leiden, das entsteht, weil der "Wille" niemals Befriedigung erfahren kann, erfolgt nach Schopenhauer auf dreierlei Arten: in der Kunst, im Mitleiden mit anderen und in der Resignation. Den Hintergrund dazu bildet die metaphysische Lehre von der Individuation, derzufolge es die Vielheiten der Maya nur durch das erkennende Bewußtsein gibt, das in der Kunst, im Mitleid und in der Resignation sich vom beherrschenden "Willen" löst und dadurch den es umhüllenden Schleier der Maya zerreißt und die dahinter verborgene eine Wirklichkeit erkennt. Wenn auch der Begriff der "Individuation" bei Jung genau im 385 JGW 6, 223 ff. 386 JGW 6, 215. 387 388 389
JGW 6, 229 ff.
C.G. Jung, Erinnerungen, p. 211. JGW 11, 537.
390 z.B. JGW 7, 243. 391 JGW 11, 541.
JGW 11, 522. JGW 11, 548. 394 Vgl. JGW 8, 157, 199; 14 I, 117 u.ö. 395 Vgl. JGW 8, 32. 396 JGW 8, 486 ff., 555, 563. 392 393
§ 13 Jung und das östliche Denken
121
entgegengesetzten Sinn gebraucht wird, so ist doch der monistische Grundgedanke derselbe. 397 Auch in seinen idealistisch-spekulativen Ansätzen und seiner, der romantischen Richtung folgenden Berufung auf Intuition und Ahnung, nähert sich Jung Schopenhauer. 398 Abgesehen davon gilt Schopenhauers Philosophie allgemein als Wegbereiterin der Psychoanalyse. 399 Ähnliches gilt fiir Nietzsche, der mit seiner Betonung des Dionysischen entscheidende Aspekte der Freudschen Trieblehre vorwegnahm, und dessen "Übermensch", welcher der den ewigen Kreislauf des Immergleichen bejahende "Wille zur Macht" ist, einerseits an das mit schöpferischer Kraft versehene, aus der "dyonischen" Irrationalität des Unbewußten genährte "Selbst" Jungs erinnert und andererseits sich mit dem Gedanken des Kreislaufs und der Wiederkehr an den östlichen Wiedergeburtslehren orientiert, die auch in das Jungsehe Werk ihren Eingang gefunden haben. Hinzu kommt bei Schopenhauer und Nietzsche die auch die Haltung Jungs kennzeichnende sowie die östlichen Philosophien in weiten Teilen typisierende, abweisende Stellung gegenüber jeglichem Intellektualismus. E. Der Ertrag
Für Jung ist das östliche Denken, im Gegensatz zum westlichen, in hohem Maße im Unbewußten verankert. Jung bezeichnet es daher, in den Begrifflichkeiten seiner Typenlehre, als introvertiert, im Gegensatz zur extrovertierten, nach außen und auf das Bewußtsein gerichteten Haltung des Westens. Zeugnisse fiir die psychische Konstellation des Ostens sieht Jung in der Ganzheitssymbolik, in der religiösen Literatur sowie in der hervorragenden Bedeutung der Meditation als einer Abwendung vom äußeren Weltgeschehen und Hinwendung zum seelischen Bereich. Die zentrale östliche Idee eines schöpferischen Weltprinzips, wie es als Tao, Brahman oder Rita umschrieben wird, erscheint Jung als Projektion des ganzheitlichen Zentrums der Psyche, des Selbst. Weil jene Prinzipien eine die Gegensätze vereinigende Funktion haben, können sie auch als "Libidoquelle" bezeichnet werden. Aus ihnen geht nach Auffassung der östlichen Philosophien alle Mannigfaltigkeit hervor. Bei Jung tritt an die Stelle jener Prinzipien das kollektive Unbewußte als schöpferischer Boden derartiger Auffassungen, an die Stelle der östlichen Philosophie die westliche Psychologie und an die Stelle der Meditation die psychologische Therapie.
Vgl. § 26 C. Vgl. § 25. 399 Vgl. dazu L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 17 ff. 397 398
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2. Kapitel: Dialektik
§ 14 Analytische Psychologie und Ethik A. Der Beitrag Freuds Da die Entwicklung der Psyche stets eine ethische Entwicklung umfaßt, sind Probleme der Ethik in ihrer psychologischen Ausprägung schon Gegenstand der Psychoanalyse S. Freuds. Als Beginn der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit dem Faktor "Moral" in der Psychologie des Menschen kann das Buch "Das Ich und das Es" (1923) von S. Freud gelten, in welchem dieser die Psyche in "Ich", "Es" und "Über-Ich" zerlegt. Freud selbst befaßte sich allerdings nur am Rande mit Problemen der Ethik, von seinen Nachfolgern wurden jedoch seit 1945 eine zunehmende Zahl von Publikationen dieser Thematik gewidmet. Für die Freudianer geht es dabei in erster Linie um die Lehre vom Über-Ich. Ethische Fragestellungen werden auf die psychologische Frage bezogen, welche psychischen Faktoren es dem Menschen ermöglichen, ein "animal morale" zu sein, das zwischen "Gut" und "Böse" zu unterscheiden vermag. J.C. Fluge] beispielsweise anerkennt das Über-Ich als eine Instanz, die geeignet sei, Aufgaben der "moralischen Routine" zu übernehmen, nicht jedoch könne es als "supreme court of moral appeal" dienen. 400 Die Lösung eines wirklichen Konflikts müsse auf der höheren Ebene der Vernunft geschehen. Ein solchermaßen ethisches Handeln vollziehe sich in Harmonie mit dem Evolutionsprozeß, indem es die primitive Brutalität der Natur bekämpft und auf diese spezifisch menschliche Weise den Prozeß voranbringt
B. Der Beitrag von E. Fromm Eines der ersten401 Unterfangen, aus der Sicht der Tiefenpsychologie den Problemkreis der Ethik ausfuhrlieh zu thematisieren, stammt von Erich Fromm und soll daher ergänzend Erwähnung finden. In seinem Buch "Psychoanalyse und Ethik" entwirft er ein Modell der Normbegründung, das den Menschen als ein kraft der Besonderheit seiner Existenz vernunftbegabtes Wesen in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt402 und damit, wie Fromm meint, an die Tradition der humanistischen Ethik von Aristoteles über Spinoza bis Dewey anknüpft. 403 Für Fromm ist humanistische Ethik "die angewandte Wissenschaft von der ,Kunst des Lebens·. Sie beruht auf der theoretischen 'Wissenschaft vom J.C. Fluge!, Man, Moralsand Society, p. 260. Vorher wohl nur J.C. Fluge!, Man, Mora1s and Society (1945). 402 Vgl. R. Funk, Mut zum Menschen, p. 172. 403 E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik, p. 30 ff. 400 401
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Menschen'. " 404 Auf Grundlage dieser Wissenschaft (zu der auch die Psychologie und Psychoanalyse zählt) glaubt Fromm, zu objektiv gültigen Werten und Normen zu kommen (wobei ihm "objektiv" nicht gleichbedeutend ist mit "absolut"), deren höchstes Wertprinzip "die Erhaltung und Bejahung der eigenen Existenz" ist. 405 "Gut im Sinne der humanistischen Ethik bedeutet Bejahung des Lebens. Entfaltung der menschlichen Kräfte; Tugend heißt, sich der eigenen Existenz gegenüber verantwortlich zu fühlen. " 406 Auf die offensichtlichen Schwächen dieser Konzeption, die vor allem in der Zweifelhaftigkeit der Vorurteile begründet liegen, anband derer Fromm seine Ethik erstellt, und die seine Herleitungen als zirkelhaft ausweisen407 , soll hier nicht näher eingegangen werden. Interessant ist, daß Fromm, obwohl er das Freudsche Menschenbild, insbesondere die Instinkthaftigkeit des Todestriebs ablehnt408 und obwohl er gegen Jungs "Irrationalismus" stark polemisiert409 , mit der Betonung einer nicht-produktiven Orientierung des Charakters einerseits und mit der Forderung, den Menschen "in seiner physisch-geistigen Totalität", als "ganze Persönlichkeit"410 zu betrachten, sich den Überlegungen von Freud und Jung in gewissen Aspekten doch recht nähert.
ib. p. 24. ib. p. 25. 406 ib. p. 26; vgl. dazu auch R. Funk, Mut zum Menschen, p. 177 ff. 407 Die "Wissenschaft vom Menschen" läßt Fromm erkennen, daß a) der Charakter und die Vernunft des Menschen ein Substitut der verlorengegangenen Instinktnatur sind, und daß es b) zwei grundsätzliche Dominanzen von Orientierungen und Charakterstrukturen gibt, nämlich die produktiven oder nicht-produktiven Orientierungen und das durch Biophilie bzw. Nekrophilie gekennzeichnete Wachstums- bzw. Verfallssyndrom, wobei die jeweils letztere Tendenz pathologischen Charakter hat. Daran anschließend kann man berechtigterweise fragen, warum denn der Verfall pathologisch, der Tod nicht erstrebenswert sei? Seine Beschäftigung mit den Lehrsystemen des Ostens hätte Fromm die Berechtigung von der Auffassung des Gegenteils lehren können. - Warum sollte das Leben als höchster Wert angesehen werden? Selbst unsere Verfassung geht davon aus, daß das Leben nicht als höchstes und uneinschränkbares Gut anzusehen ist (wie z.B. die Menschenwürde). - Warum sollte die Vernunft zu objektiven Entscheidungen führen und inwieweit kann Vernunft überhaupt ausgeübt werden? Fromm ignoriert hier völlig die Problematik irrationaler und unbewußter (d.h. gerade nicht erkennbarer) Faktoren, sowie die Tatsache, daß eine rationale Entscheidung eben nur eine rationale ist, und allein aufgrund ihres Wesens noch keinen Anspruch auf Objektivität hat. Wenn die Natur des Menschen auf diese Weise unter humanistischem Blickwinkel gedeutet wird, so führt der methodologische Ansatz, "die Quellen der Normen ftir eine sittliche Lebensführung in der Natur des Menschen selbst zu finden" (E. Fromm, a.a.O., p. 16), offensichtlich in einen viziösen Zirkel. 408 E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik, p. 37; vgl. R. Funk, Mut zum Menschen, p. 45 ff. 409 E. Fromm, a.a.O., p. 10. 410 ib. p. 16, 35. 404
405
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2. Kapitel: Dialektik
C. Gut und Böse bei Jung
Der ethische Standpunkt C.G. Jungs eröffnet sich in seinem Werk in der Behandlung des Gegensatzes von Gut und Böse. Jung hat sich an vielen Stellen zu dieser Problematik, die eng mit den oben dargestellten Themenkreisen zusammenhängt, geäußert und auch aktuelle Zeiterscheinungen aus dieser Perspektive beleuchtet.411 H. Stich meint sogar, daß sich in der Behandlung des Guten und Bösen die fundamentale Bedeutung der Jungsehen Einstellung zur Philosophie, Metaphysik und Religion offenbare. 412 Der Kontext dieser Disziplinen zeigt bereits, daß es sich im Grunde um ein weltanschauliches Problem handelt. Jung sieht die Welt, wie er selbst bekennt, als ein "Gegensatzgemälde", und daraus ergibt sich ihm "die Idee der psychischen Energie, die ebenso aus Gegensätzen hervorgehen muß wie die Energie des physischen Geschehens, die immer ein Gefälle, das heißt die Existenz von Gegensätzen wie warm-kalt, hoch-tief usw. voraussetzt." 413 Mit dieser Sichtweise korrespondiert seine psychologische Erfahrung, welche ihm zeigt, "daß 'Gut' und 'Böse' das Gegensatzpaar eines sogenannten moralischen Urteils ist, welches als solches seinen Ursprung im Menschen hat."414 Da ein Urteil "bekanntlich nur gefällt werden (kann), wenn sein inhaltliches Gegenstück ebenso real möglich ist", fragt Jung, wie man überhaupt von "Gut" sprechen könne, wenn es kein "Böses" gebe. Dieser Widerspruch sei aber beispielhaft fur die christliche Anschauung, daß das Böse eine "privatio boni" sei. In dieser häufig wiederholten Aussage spiegeln sich zwei Charakteristika der Jungsehen Ethik, die man als "Relativität von Gut und Böse" und als "Realität von Gut und Böse" bezeichnen kann. 415 "Relativität von Gut und Böse" meint, daß beides nur subjektive "Urteile über Relationen"416 sind, Ausflüsse des menschlichen Bewußtseins, das diese Unterscheidung notwendig treffen muß. Niemand könne aber sagen, was Gut oder Böse an sich sei; nur anhand eines vorgegebenen Maßstabs könne beides in Hinblick auf diese Vorgabe, also relativ, bestimmt werden. "Man darf sich nicht verleiten Jassen, zu denken, man habe etwas absolut Gültiges gesagt,
411 Vgl. hierzu z.B. die Beiträge der Sammlung von F. Alt (Hrsg.), C.G. Jung. Sinnfragen des Lebens ( 1995). 412 H. Stich, C.G. Jung und die Transzendenz, p. 35. 413 JGW 4, 389. 414 JGW II, 183. 415 Vgl. D. Spies, Philosophische Aspekte der Psychologie C.G. Jungs, p. 171 f. 416 JGW 9 II, 63.
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wenn man im praktischen Fall urteilt: das ist böse, das ist gut."417 Im Gegenteil: "Welches die richtige Meinung ist, läßt sich erst ex effectu lernen ( ... )." 418 "Realität von Gut und Böse" betrifft die ontische Seite des Gegensatzpaares. Beide sind numinose Prinzipien des Seins ("Urmächte", "Aspekte Gottes" 419), welche notwendig sind, um Energie und Leben überhaupt zu ermöglichen und deren moralische Beurteilung sich in Werturteilen niederschlägt. Gut und Böse sind "nichts anderes als die moralischen Aspekte dieser natürlichen Gegensätze"420, "gewisse Prinzipien", die "sich unseres Urteils bemächtigt haben."421 Auch in ontischer Hinsicht ergänzen sich Gut und Böse: "Neben jedem Guten steht sein entsprechendes Böses, und es kann schlechterdings nichts Gutes in die Welt kommen, ohne daß es das ihm zugehörige Böse geradewegs erzeugt."422 "Keiner, der mit offenen Augen durch die Welt geht, kann es übersehen (... )." 423 Realität von Gut und Böse bedeutet nicht deren apriorische psychische Realität; daher ist auch das die Psyche konstellierende Unbewußte selbst weder gut noch böse. "Das Unbewußte als solches ist weder hinterlistig noch böse - es ist Natur, ebenso schön wie furchtbar." 424 "Der Archetypus ist an sich weder gut noch böse. Er ist ein moralisch indifferentes Numen, welches erst durch den Zusammenstoß mit dem Bewußtsein zu dem einen oder dem anderen, oder zu einer gegensätzlichen Zweiheit wird. Die Entscheidung zum Guten oder zum Bösen wird wissentlich oder unwissentlich von der menschlichen Einstellung herbeigefiihrt. "425 Diese Aspekte - Realität und Relativität des Guten und Bösen, sowie Neutralität des Unbewußten -, die ftir die Ethik Jungs von zentraler Bedeutung sind, finden sich exemplarisch in den folgenden Texten angesprochen. "Die Psychologie weiß nicht, was gut und böse an sich ist; sie kennt diese nur als Urteile über Relationen: gut ist das, was von einem gewissen Standpunkt aus als passend, annehmbar oder wertvoll erscheint; böse ist das entsprechende Gegenteil. Wenn das, was wir gut nennen, flir uns ,wirklich' gut ist, so gibt es auch ein Schlechtes und Böses, das flir uns ,wirklich' ist. Man sieht, daß die Psychologie es mit einem mehr oder weniger subjektiven Urteil zu tun hat, das heißt mit einem psychischen Gegensatz, der zur Bezeichnung von Wertrelationen unumgänglich ist: gut ist, was nicht schlecht, und
417 JGW 10, 503 f. 418 JGW 10, 247. 419 JGW 10, 509, 500. 420
JGW II, 214.
421 JGW 10, 509.
JGW 10, 94. JGW 10, 388. 424 C.G. Jung, Briefe I, p. 145. 425 JGW 15, 119; vgl. JGW 16, 204 f. 422
423
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2. Kapitel: Dialektik
schlecht, was nicht gut ist. Es gibt Dinge, die von einem gewissen Standpunkt aus extrem böse, das heißt gefährlich sind. Es gibt auch solche Dinge in der menschlichen Natur, die sehr gefährlich sind und deshalb dem, der in der Schußrichtung steht, auch entsprechend böse vorkommen. Die Beschönigung dieses Bösen hat insofern keinen Sinn, als man dies doch nur täte, um sich in einer falschen Sicherheit zu wiegen. Die menschliche Natur ist unendlicher Bosheit fähig, und die bösen Taten sind so wirklich wie die guten, so weit sich der menschliche Erfahrungsbereich erstreckt, das heißt unwillkürlich spricht die Seele das unterscheidende Urteil aus. Nur die Unbewußtheit kennt kein Gut und Böse. Innerhalb des psychologischen Bereiches weiß man ehrlicherweise nicht, was in der Welt überwiegt, das Gute oder das Böse. Man hofft bloß, es sei das Gute, nämlich das uns passend Erscheinende. Niemand vermöchte je anzugeben, was das allgemein Gute wäre. Keine Einsicht in die Relativität und Hinfalligkeit des moralischen Urteils vermag es, uns davon zu befreien, und diejenigen, die sich jenseits von Gut und Böse wähnen, sind in der Regel die ärgsten Quälgeister der Menschheit, welche sich in der Qual und Angst ihres eigenen Fiebers winden. Es ist heute, wie zu allen Zeiten, wichtig, daß der Mensch die Gefahr des Bösen, die in ihm lauert, nicht übersieht. Sie ist leider nur allzu wirklich, weshalb die Psychologie auf der Realität des Bösen bestehen und irgendeine Definition, welche das Böse als unbedeutend oder gar als nicht existierend auffassen will, abweisen muß."426 "Das Böse ist - psychologisch gesprochen -furchtbar real. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, seine Macht und Wirklichkeit zu verkleinern - und wenn auch nur im metaphysischen Sinn. ( ... ) Das Böse wird wahrhaftig nicht geringer, wenn es als NichtWirklichkeit oder als ein bloßes Verschulden des Menschen vertuscht wird. Das Böse war vor dem Menschen, als dieser seine Hände unmöglich im Spiel haben konnte. ( ...) Gut und Böse sind psychologische Relativitäten und als solche völlig real, und doch weiß man nicht, was sie an sich sind."427
Die starke Betonung der Realität des Bösen richtet sich in diesen Aussagen gegen die christliche Lehre von der "privatio boni". Prägnant für den Jungsehen Standpunkt in dieser Hinsicht und für seine energetische Auffassung des Weltgeschehens, ist auch folgender Text. "Vom praktischen Gesichtspunkt aus ist die Doktrin der privatio boni moralisch gefährlich, weil sie das Böse kleinmacht und irrealisiert und auf diese Weise auch das Gute mindert, denn sie beraubt es seines notwendigen Gegensatzes: es gibt kein Weiß ohne Schwarz, kein Rechts ohne Links, kein Oben ohne Unten, kein Warm ohne Kalt, keine Wahrheit ohne Irrtum, kein Licht ohne Dunkelheit etc. Ist das Böse Illusion, dann notwendigerweise auch das Gute. Das ist der Grund, warum ich die privatio boni für unlogisch, irrational und sogar unsinnig halte."428
Die Realität des Bösen ist also der letzte Grund für moralisches Verhalten.
JGW 9 II, 63. C.G. Jung, Briefe li, p. 169 f. 428 C.G. Jung, Briefe II, p. 272. 426 427
§ 14 Analytische Psychologie und Ethik
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D. Der Schatten In der "Versöhnung dieser Gegensätze" von Gut und Böse sieht Jung "eines der wichtigsten Probleme", das die Menschheit seit jeher beschäftigt hat. 429 Denn psychologisch findet sich der Ursprung des Bösen als Archetypus des Schattens in der Seele des Menschen. 430 Der Schatten ist all das, was ein Mensch "nicht sein möchte": die inferiore Seite der Persönlichkeit431 . "In dieser 'inferioren' Persönlichkeit ist alles enthalten, was sich den Gesetzen und Regeln des bewußten Lebens nicht unbedingt ein- und anpassen will. Sie ist aus 'Ungehorsam' zusammengesetzt und wird darum nicht nur aus moralischen, sondern auch aus Zweckmäßigkeitsgründen verworfen."432 Aber der Schatten "ist in der Regel nur etwas Niedriges, Primitives, Unangepaßtes und Mißliches, und nicht absolut böse." 433 Das Unbewußte ist selbst überhaupt moralisch indifferent. "Das Unbewußte ist kein Ungeheuer, sondern ein moralisch, ästhetisch und intellektuell indifferentes Naturwesen, das nur dann gefährlich ist, wenn unsere bewußte Einstellung dazu hoffnungslos unrichtig ist." 434 Seines unangepaßten Charakters wegen wird der Schatten aber bei den meisten Menschen unterdrückt oder verdrängt. Unterdrückt, d.h. "bewußt und absichtlich eliminiert" werden laut Jung in der Regel ,jene Tendenzen, die den Betrag antisozialer Elemente in der psychischen Struktur des Menschen darstelIen."435 Jung nennt sie "den ,statistischen Verbrecher' in jedermann." Verdrängt werden minderwertige Eigenschaften, Insuffizienzgefuhle, primitive Tendenzen, die konventionell und gesellschaftlich nicht passend sind, die nicht unseren Ideen entsprechen, "wie ein zivilisierter, gebildeter oder moralischer Mensch leben sollte", Eigenschaften, "die zu der psychischen Struktur des Menschen gehören, der weniger ideal und primitiver ist, als wir ihn haben möchten." 436 Die Unterdrückung entspricht dabei laut Jung "einer bewußten moralischen Entscheidung, während die Verdrängung eine ziemlich unmoralische Neigung, unangenehme Entscheidungen loszuwerden, darstellt." 437 Die JGW II, 83. Ob der "Schatten" tatsächlich unter den Begriff des Archetypus gefaßt werden kann, ist nicht ganz klar. Jung identifizierte ihn zunächst mit den Inhalten des persönlichen Unbewußten. Aber auch die Inhalte des kollektiven Unbewußten haben eine eigene dunkle Seite. Jedenfalls ist er ein weitgehend unbewußter aber bewußtseinsfähiger Teil der Persönlichkeit (vgl. A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 191 ff.). 431 JGW 16, 280. 432 JGW II, 215. 433 JGW 11, 85. 434 JGW 16, 162. 435 JGW 1 I, 81. 436 JGW 11,81 f. 437 JGW II, 82. 429
430
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2. Kapitel: Dialektik
Unterdrückung könne daher zwar Kummer, Konflikt und Leiden verursachen, aber niemals wie die Verdrängung, eine Neurose als Ersatz für legitimes Leiden. Ihre besondere Gefahr sei aber, daß sie als Projektion auf den eigenen Nachbarn wieder ins Bewußtsein treten könne. 438 "Man sieht nur allzu genau den Splitter in des Bruders Auge, nicht aber den Balken im eigenen."439 Jung sieht darin eine Erklärung nicht nur fiir persönliche Antipathie, sondern auch fiir kollektiv auftretende Erscheinungen des "Bösen", wie Feindbilder, Vorurteile, Verfolgungen von Minderheiten usw. 440, Erscheinungen der abgründigen Finsternis in der menschlichen Natur, die der aufgeklärte Optimismus des westlichen Christentums und des wissenschaftlichen Zeitalters hatten verbergen wollen. 441 Bewußtwerdung, "Individuation" hat fiir Jung also auch einen moralischen oder ethischen Aspekt. Im Zusammenhang mit dem Phänomen des "Schattens" und seiner ethischen Komponenten diskutiert Jung sozialkritische Gedanken. So interpretiert er in "Der Kampf mit dem Schatten"442 die gesellschaftlichen Vorkommnisse, die die beiden Weltkriege begleiteten, aus psychologischer Sicht. Die Massenbewegung des Nationalsozialismus fuhrt er zurück auf den "Aufruhr von Kräften, die im Unbewußten schlummerten" und die "die Moral und die intellektuelle Selbstkontrolle des Einzelnen durchbrachen und seine bewußte Welt übertluteten."443 Über die Entstehung dieses Zustands schreibt Jung: "Wie ich schon sagte, war der Ausbruch von Masseninstinkten symptomatisch flir eine kompensatorische Bewegung des Unbewußten. Eine solche Bewegung war möglich, weil der Bewußtseinszustand des Volkes den natürlichen Gesetzen menschlicher Existenz entfremdet worden war. Als Folge der Industrialisierung waren weite Kreise der Bevölkerung entwurzelt und in großen Zentren zusammengepfercht worden. Diese neue Daseinsform - mit ihrer Massenpsychologie und sozialen Abhängigkeit von den Schwankungen der Märkte und Löhne - brachte ein Individuum hervor, das unbeständig, unsicher und leicht zu beeinflussen war. ( ... ) Der Eindruck des Individuums, schwach, ja inexistent zu sein, wurde somit kompensiert durch den Ausbruch bisher unbekannter Machtgelüste. Es war der Aufstand der Entrechteten, die unersättliche Gier der Habenichtse. Durch solche abwegigen Mittel zwingt das Unbewußte den Menschen,
438 "Alle Lücken, wo wirkliches Wissen fehlt, werden immer noch mit Projektionen ausgefüllt. Wir sind immer noch beinahe sicher, daß wir wissen, was andere Leute denken, oder was ihr wahrer Charakter ist. Wir sind überzeugt, daß gewisse Leute alle jene schlechten Eigenschaften haben, die wir in uns selbst nicht finden, oder daß sie alle jene Laster leben, die natürlich niemals unsere eigenen sein könnten. Wir müssen immer noch vorsichtig sein, um nicht unseren eigenen Schatten allzu schamlos zu projizieren, und sind immer noch überschwemmt von projizierten Illusionen." (JGW I I, 90 f.). 439 JGW II, 640. 440 Vgl. JGW II, 12: "Der Mensch in der Masse sinktunbewußt auf ein niedrigeres moralisches und intellektuelles Niveau." 441 Vgl. A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 192 f. 442 JGW 10, 245 ff.; vgl. auch JGW 10, 255 ff. 443 JGW 10, 247 f.
§ 14 Analytische Psychologie und Ethik
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seiner selbst bewußt zu werden. ( ...)Die Deutschen wollten Ordnung, aber sie begingen den verhängnisvollen Fehler, das Hauptopfer der Unordnung und unbeherrschten Gier zu ihrem Führer zu wählen. ( ... ) Er war die erstaunlichste Verkörperung aller menschli· chen Minderwertigkeiten. Er war eine völlig unfähige, unangepaßte, verantwortungslo· se, psychopathische Persönlichkeit, voll hohler, kindischer Phantasien, jedoch mit dem scharfen Witterungsvermögen einer Ratte oder eines Randsteinschnüfflers wie mit ei· nem Fluche belastet. Er stellte den Schatten, den inferioren Teil von jedermanns Per· sönlichkeit dar, in überwältigendem Maße, und dies war ein weiterer Grund, weshalb man ihm verfiel."444
Die Demokratie hingegen, so Jung, richte die unausrottbaren kriegerischen Instinkte nach innen und vollziehe sie innerhalb der Grenzen von Gesetz und Verfassung. Letztlich sei es aber Sache des Einzelnen, sich seinerunbewußten Komplexe bewußt zu werden, seine Projektionen zurückzunehmen, und nur in dem Maße, wie dies geschehe, werde ein friedvolles, tolerantes Zusammenle· ben möglich. Die Psychologie, die dies fördert, wird damit zu einem wichtigen politischen Instrument. Seine psychologische Interpretation des konkret Bösen in der europäischen Vergangenheit kennzeichnet Jung als einen Vertreter jener Generation, der die Auseinandersetzung mit der Frage der Schuld zu einem zentralen Lebensinhalt geworden ist und begründet wohl auch Jungs andauernde Aktualität, wofür bei· spielhaft die folgenden prägnanten Äußerungen stehen können. "Man kann zwar nicht leugnen, daß furchtbare Dinge geschehen sind und noch ge· schehen, aber es sind jeweils die anderen, die solches tun. Und insofern solche Taten der näheren oder ferneren Vergangenheit angehören, so versinken sie rasch und wohltätig im Meere der Vergessenheit, und jene Traumverlorenheit, die man als 'Normalzustand' bezeichnet, kehrt wieder. Dazu steht nun in erschreckendem Gegensatz die Tatsache, daß nichts endgültig verschwunden und nichts wiederhergestellt ist. Das Böse, die Schuld, die tiefe Gewissensangst und finstere Ahnung stehen da vor den Augen, die sie sehen wollen. Menschen haben es getan: ich bin ein Mensch, der teil hat an der menschlichen Natur, und also bin ich es, der mitschuldig ist und in seinem Wesen un· verändert und unverlierbar die Fähigkeit und die Neigung besitzt, ähnliches jederzeit wieder zu tun. Wenn wir auch, juristisch gesehen, nicht dabei waren, um mitzutun, so sind wir doch kraft unseres Menschseins, potentielle Verbrecher. Es hat uns in Wirk· lichkeit nur an der passenden Gelegenheit gefehlt, mit in den infernalischen Wirbel hin· abgerissen zu werden. Keiner steht außerhalb des schwarzen Kollektivschattens der Menschheit."445
E. Die Entwicklung
Entsprechend seiner Auffassung von einer allgemeinen Entwicklung des Bewußtseins spiegelt sich filr Jung, was anhand des Beispiels des deutschen 444 445
JGW 10, 249 ff. JGW 10, 327.
9 LölfeiJDann
2. Kapitel: Dialektik
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Nationalsozialismus schon gezeigt wurde, die Struktur individueller moralischer Entwicklung auch auf gesellschaftlicher und kulturgeschichtlicher Ebene. Dem frühen Bewußtseinszustand, in welchem man noch Kind ist, und damit abhängig von einer bestimmten, vorgefundenen Lebensform, einem "Habitus, der Gesetzescharakter hat"446, entspricht die primitive Gesellschaft, die des Habitus', der Rituale und überlieferten Geheimlehren bedarf, um dem drohenden Verlust des Bewußtseins vorzubeugen. Dies ist ein "hingenommener, unreflektierter Zustand, ein bloßes Wissen um ein Gegebenes ohne intellektuelles oder moralisches Urteil." 447 Symbolisiert wird es in der abendländischen Geistesgeschichte durch den Vater. In seiner "Antwort auf Hiob" erkennt Jung in dem alttestamentlichen amoralischen (nicht: unmoralischen) Gott Jahwe eine Projektion des altertümlichen Menschen. Jahwe ist "zu unbewußt, um moralisch zu sein. Moralität setzt Bewußtsein voraus." 448 Die Überwindung dieses Zustands geschieht durch die Erkenntnis der eigenen Individualität. Der Habitus wird ersetzt durch eine bewußt gewählte und erworbene Lebensform, durch moralische Entscheidung (d.h. auch Unterscheidung) und Reflexion des Einzelnen. Diese Einstellung charakterisiert laut Jung das Christentum, im Gegensatz zur jüdischen Gesetzesgerechtigkeit, welche ausschließlich den Habitus repräsentiert. Deshalb hat das Christentum auch einen einseitigen, nur guten Gott, als Ausdruck des Lichten, des Bewußtseins. Die dunkle Seite Jahwes wird dagegen "verteufelt", um das erwachende Ich vor dem Andrang des Unbewußten zu schützen. Symbolisch wird dieser Übergang dadurch ausgedrückt, daß der Sohn an die Stelle des Vaters tritt, was z.B. durch einen Vater-Mord geschehen kann. Der Zustand des Sohnes stellt jedoch nur einen Übergang dar zu einem dritten Zustand, in dem der "Vater" als unpersönliche, numinose Qualität (heiliger Geist) wiederhergestellt wird. Denn die Werte der zweiten Phase, Vernunft und Reflexion, bedeuten auch eine Verschärfung der Gegensätze (moralisch: von gut und böse), ohne deren klare Erkenntnis keine moralische Entscheidung gefällt werden kann, d.h. einen ausgeprägten Konfliktzustand. Die dritte Phase ist daher dadurch geprägt, daß eine als inspirierend zu bezeichnende Instanz als letzte Quelle der Entscheidung und Erkenntnis anerkannt wird. Psychologisch bedeutet dies eine Anerkennung oder gar Unterordnung unter das Unbewußte.449 Diese drei Stufen, die sich in der Symbolik des christlichen Trinitätsdogmas wiederspiegeln, sind jedoch unvollständig ohne das Vierte, das sie zur Voll-
446
447 448 449
JGW 11 , 197. ib. JGW 11, 399. JGW 11, 199.
§ 14 Analytische Psychologie und Ethik
131
kommenheit eint. Die Integration dieses Vierten, des Dunklen, Bösen bildet demnach die letzte Stufe dieser Entwicklung und ist Gegenstand der "erneuerten Ethik". Moral und Ethik sind demnach vor dem Hintergrund einer dynamischen Bewußtseinsentwicklung hin auf eine bewußte Ganzwerdung der Psyche zu verstehen. Die treibende Kraft hierbei ist die ontische Gegensatzspannung von Gut und Böse. Diese Gegensatzspannung, welche Energie ermöglicht, ist flir Jung "ein Weltgesetz, passend ausgedrückt durch das Yang und Yin der chinesischen Philosophie." 450 Die Form aber, in die diese Energie fließt, durch die sie geleitet wird, ist das "Lebensgesetz", das jedes Indiviuum in sich trägt, und das auf ein individuell gelebtes Leben zielt. Jeder hat "die theoretische Möglichkeit, diesem Gesetz vor allen zu folgen und damit zur Persönlichkeit zu werden, das heißt, Ganzheit zu erlangen."451 So ist es zu verstehen, wenn Jung äußert, daß "weder das Moralgesetz, noch der Gottesbegriff, noch irgend eine Religion von außen, so gewissermaßen vom Himmel herunter, den Menschen angefallen hat, sondern das hat der Mensch alles in nuce in sich, darum erschafft er es auch aus sich heraus. ( ... ) Die Ideen des moralischen Gesetzes und der Gottheit gehören zum unausrottbaren Bestand der menschlichen Seele." 452
F. Die ethische Forderung Mit der Auseinandersetzung von "allgemeiner Moralität" und "Ethik" beschäftigt sich ein VortragJungsaus dem Jahre 1958 über das "Gewissen".453 Das Gewissen wird psychologisch als eine "Reaktion auf ein wirkliches oder nur vermutliches Abweichen vom Sittenkodex" gedeutet. Es entspreche der primitiven Scheu vor dem Ungewohnten. Da es eine instinktive Reaktion der Erinnerung an und der Ermahnung durch die Sitte darstelle, könne es als solche zwar als "moralisch", keinesfalls aber als "ethisch" gelten. Erst die bewußte Reflexion zweier alternativer moralischer Verhaltensweisen, wie sie in einer Pflichtenkollision sich gegenüberstehen, die Auseinandersetzung mit einer Konfliktsituation also, die im Sittenkodex nicht vorgesehen ist und deren Lösung die Unterdrückung einer bis dahin unreflektierten moralischen Reaktion zugunsten einer anderen erfordert, verdiene das Prädikat, "ethisch" zu sein.454 Jung bezeichnet die Kraft, welche diese Entscheidung :tallt, als "schöpferische
450
JGW II, 214.
45 1 JGW
17, 203. JGW 8, 316. 453 JGW 10,475 ff. = C.G. Jung in: Studien VII, p. 185 ff. 454 JGW 10, 493 f., 502 f. 452
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2. Kapitel: Dialektik
Kraft des Ethos"455 . Sie bewirke eine Lösung, die den "tiefsten Grundlagen der Persönlichkeit sowohl wie deren Ganzheit, die Bewußtes und Unbewußtes umfaßt" entspreche und eine zwingende Autorität besitze, so daß das Gewissen nicht zu Unrecht als "vox Dei" charakterisiert werden könne, was es zugleich als einen archetypischen Faktor kennzeichne, der der Kategorie des kollektiven Unbewußten angehöre. Dieses "wahre und eigentliche Gewissen" zwingt den in einer Pflichtenkollision Befangenen "gegebenenfalls gegen die Vorschriften des Sittenkodex zu handeln, indem er ,Gott mehr gehorcht als der Welt' ."456 Eine ethische Haltung erfordert nach Jung demnach eine bewußte Auseinandersetzung mit dem Zweifel, nicht seine bequeme Unterdrückung, die eine sittengemäße, aber deshalb gerade unzureichende Entscheidung hervorbringen könnte. Die "bewußte Auseinandersetzung" hat demnach eine doppelte, eine moralische und eine ethische Bedeutung. In moralischer Hinsicht bezweckt sie die Erkenntnis der Realität und Relativität von Gut und Böse, in ethischer Hinsicht den Einsatz der individuellen schöpferischen Kraft des Ethos. Solche Bewußtheit ist fiir Jung der Inbegriff einer "erneuerten Moral", der er als "Motto" das von ihm häufig zitierte apokryphe Jesuswort voranstellen möchte: "Mensch, wenn du weißt, was du tust, bist du selig; wenn du aber nicht weißt, •• 457 was du tust, so bist du verflucht und ein Ubertreter des Gesetzes." Das auf sie gegründete Urteil und die durch sie erweckte schöpferische Kraft sind Ausdruck der Ganzheit des Menschen, auf die die individuelle Entwicklung zusteuert. Der Psychologie kommt die Aufgabe zu, die Annahme des Konflikts zu fördern, nicht den Patienten zu heilen, was dieser nur selbst bewerkstelligen könne. Jung schreibt: "Wir Psychologen haben in langwieriger und schmerzlicher Erfahrung gelernt, daß man einen Menschen seiner wertvollsten Hilfsquelle beraubt, wenn man ihm hilft, von seinen Komplexen freizuwerden. Man kann ihm nur helfen, ihrer genügend gewahr zu werden und in sich selbst einen bewußten Konflikt entstehen zu lassen. Auf diese Weise wird der Komplex zu einem Brennpunkt des Lebens." 458
In diesem Lichte betrachtet, erhält das Böse einen positiven Aspekt, denn in der Auseinandersetzung mit ihm bewegt sich der Mensch auf dem Pfade der Individuation zu einer ganzheitlichen Haltung jenseits von Gut und Böse, die als das eigentliche Ziel der neuen Ethik angesehen werden kann. In Hinblick auf die Assimilation des Bösen und den dadurch ausgelösten Prozeß der "Erneuerung und Heilung" kann man sogar davon sprechen, daß es zunächst notwendig sei, dem Bösen zum Teil zu unterliegen, "und dann stellt sich heraus,
JGW JGW 457 JGW 458 JGW 455
456
10, 493 f. 10, 483 ff. 11, 214 f. 10, 253.
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daß das Böse nur ein böser Schein war, in Wirklichkeit aber ein Bringer des Heils und der Erleuchtung (... )." 459 Die Integration des Bösen hat auch eminent gesellschaftliche Bedeutung. "Nichts wirkt auf die Gesellschaft mehr zertrennend und entfremdend als diese moralische Bequemlichkeit und Verantwortungslosigkeit, und nichts fördert das Verständnis und die Annäherung mehr, als wenn die gegenseitigen Projektionen zurückgezogen werden."460 Wenn Jung daher von der Notwendigkeit der Individuation spricht, so hat das nichts zu tun mit der Pflege eines die Gemeinschaft vernachlässigenden Individualismus'. Im Gegenteil: "Individualismus ist ein absichtliches Hervorheben und Betonen der vermeintlichen Eigenart im Gegensatz zu kollektiven Rücksichten und Verpflichtungen. Individuation aber bedeutet geradezu eine bessere und völligere Erfüllung der kollektiven Bestimmungen des Menschen, indem eine genügende Berücksichtigung der Eigenart des Individuums eine bessere soziale Leistung erhoffen läßt (...)."461 Die persönliche ethische Haltung hat also auch Bedeutung für das Kollektiv. Will man die ethische Forderung Jungs auf eine prägnante Formel bringen, so kann man sagen: "Ethische Entscheidung gibt es nur dort, wo der Konflikt in allen seinen Aspekten bewußt ist."462 Und dies bedeutet: "Selbsterkenntnis!"463
G. Die "neue Ethik" von E. Neumann Die Einstellung C.G. Jungs zur Problematik von Ethik und Moral hat E. Neumann, ein Schüler und Mitarbeiter Jungs (der darüberhinaus auch ein Schüler M. Bubers war) zusarnmengefaßt, zum Teil erweitert und zu einer "neuen Ethik" verarbeitet. 464 Auch er geht davon aus, daß die Stufen ethischer Entwicklung analog denen der Entwicklung des Bewußtseins verlaufen und daß ein enges Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Individual- und Kollektivbewußtsein besteht. Seine "neue Ethik" ist daher "total" in zwei Richtungen: "einmal, weil sie nicht mehr individualistisch nur die ethische Situation des Individuums berücksichtigt, sondern die Auswirkungen der individuellen Haltung auf das Kollektiv mit einbezieht. Zweitens, weil sie nicht nur eine Partialethik des Bewußtseins ist, sondern auch die Auswirkung der bewußten Haltung auf das Unbewußte mit in Rechnung stellt und damit die Totalität der Persönlichkeit als Verantwortungsträger einsetzt, nicht nur das Ich als Zentrum des JGW 17, 209 f. JGW I 0, 331. 461 JGW 7, 191. 462 JGW 5, 99. 463 Vgl. JGW 10, 323 ff. 464 E. Neumann, Tiefenpsychologie und neue Ethik (1943). 459
460
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2 . Kapitel: Dialektik
Bewußtseins."465 Diese beiden Forderungen, die auf Vermeidung einer durch den "Vermassungsprozeß der Modeme" hervorgerufenen ethischen Überforderung der Masse und die Abstempelung ihrer Mitglieder zu "Asozialen, Minderwertigen, Verworfenen und Verbrechern" sowie auf eine "Ganzheitlichkeit" der Persönlichkeit im Sinne C.G. Jungs, d.h. eine Ersetzung des "Über-Ich" durch das "Selbst" abzielen, ergeben sich notwendig aus einer Betrachtung der ethischen und der Bewußtseinsentwicklung der Menschheit. Auf der primitiven Ebene gibt es noch keine individuelle und bewußte ethische Verantwortlichkeit, sondern nur Gruppenverantwortung und Gruppenethik. Der Führer der Gruppe fungiert als "Mana-Persönlichkeit", er ist die schöpferische Mitte, das "Selbst" der Gruppe und vermittelt ihr jene Werte, die ihm durch eine "innere Stimme" offenbart werden. Dies geschieht zunächst durch eine Übergabe des "Gesetzes" an eine Elite von Anhängern, die sich damit identifiziert und die das Kollektiv im Sinne dieser "Gesetze" erzieht. Das Kollektiv unterwirft sich dem ethischen Kanon unkritisch, was zu einer Kollektivethik flihrt, deren Inhalte letztlich unwichtig sind. Das zweite ethische Stadium wird gekennzeichnet durch die Herauslösung des Einzelnen aus dem primitiven Kollektiv und durch eine Ichentwicklung, die eine selbständige, eigenverantwortliche, d.h. gewissenhafte Erfüllung der Forderungen des Kollektivs durch den Einzelnen notwendig macht. Gegenstand der Ethik ist nun die Erkenntnis und Unterdrückung solcher Bewußtseinsinhalte, die den Forderungen des Kollektivs zuwiderlaufen, z.B. Machtwille, Grausamkeit, Sexualität usw. Problematisch ist diese klassische Form der alten Ethik deshalb, weil sie nur eine "Teilethik" ist und in ihrer einseitigen Verfolgung von Werten, die das Bewußtsein und damit das Kollektiv stützen, einem illusorischen Vollkommenheitsideal nacheifert, das durch eine Verabsolutierung von Werten, durch Tabuisierung und Vemeinung alles Negativen und durch die Ausmerzung aller dieser Vollkommenheit widersprechenden Züge gekennzeichnet ist. Neumann sieht vor allem in der jüdisch-christlichen und der griechischen die stärksten Quellen dieser alten abendländischen Ethik. Die zwei Methoden, mit denen ihr Ziel erreicht werden soll, nämlich Unterdrükkung (Disziplinierung, Askese, Opfer, Leiden) und Verdrängung (Unbewußtwerdung), fUhren zur Ausbildung zweier psychischer Systeme, des "Schattens", der meist unbewußt bleibt466, und der "Persona", einer Scheinpersönlichkeit, die den Anforderungen des Kollektivs entspricht und Ausdruck seiner Werte
ib. p. 89. "Alle die Eigenschaften, Fähigkeiten und Tendenzen, die mit den Kollektivwerten nicht übereinstimmen, alles was das Licht der öffentlichen Meinung scheut, wird jetzt zum Schatten, dem dunklen vom Ich nicht erkannten und nicht anerkannten Teil der Persönlichkeit." (E. Neumann, Tiefenpsychologie und neue Ethik, p. 25). 465
466
§ 14 Analytische Psychologie und Ethik
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ist. 467 Auf diese seelische Situation kenne die alte Ethik zwei Reaktionen, nämlich entweder die Verwechslung und Identifizierung des Ichs mit der Persona und die Verdrängung der Schattenseite (sogenannte "Inflation" des Ich), was zu einer "scheinheiligen, illusionistischen und wirklichkeitsverschleiernden Pseudohaltung" fuhrt, die im Einzelnen Auslöser flir gefährliche Kollektiverscheinungen wie etwa dem Herrendenken des Nationalsozialismus ist468 ; oder umgekehrt eine Identifizierung mit dem Unwert, dem Bösen, die sich in einem überwältigenden Sündenbewußtsein äußert ("Deflation" des Ich), das eine Erlösung nur durch einen Akt göttlicher Gnade erhoffen kann, so daß fiir Ethik eigentlich kein sinnvoller Raum mehr bleibt. ln beiden Fällen, die häufig gemeinsam miteinander einhergehen, kommt es zu einer Störung des Bewußtseins. Die Unterdrückung verleiht dem Leben durch die mit ihr verbundene Leidenserfahrung einen dunklen Hintergrund, dem Unterdrückenden also eine nihilistisch-negativistische Einstellung. Die Verdrängung hat die fatale Folge, daß sich die verdrängten Inhalte im Unbewußten negativ verstärken ("Regression" ) und primitivere, weitgehend vom Bewußtsein abgelöste Reaktionsfonnen beleben, deren bekannteste die "Schattenprojektion" oder "Sündenbock-Psychologie" ist, die laut Neumann in der gesamten Menschheit nachzuweisen ist und eine der größten Gefahren flir sie darstellt. "Der Schatten, der mit den Werten im Widerspruch steht, kann nicht als negativer Teil der eigenen Struktur akzeptiert werden und wird projiziert, das heißt nach außen verlegt und als ein Außen erfahren. Er wird bekämpft, bestraft und ausgerottet als ,Fremdes draußen' , statt als ,Eigenes drinnen' ."469 Eine Weiterentwicklung dieser Stufe der alten Ethik kann nach Neumann in zwei Richtungen erfolgen. Die eine Richtung fuhrt zum Verfall der alten Ethik und zu Regressionsphänomenen, die andere zu einer Höherentwicklung, nämlich zur "Individuations-", zur "neuen" Ethik. Diese verlangt eine Umorientierung durch Assimilation des Schattens und Verarbeitung der Persona, d.h. eine Synthese der Gegensätze und zielt auf die Ganzheit und Totalität der Persönlichkeit, was Voraussetzung fiir eine wirklich tolerante Haltung sei. Das Individuum soll nicht "gut" sein, sondern seelisch autonom, d.h. gesund und produktiv. Bewußtheit ist ethische Pflicht. "Die Ganzheit der Persönlichkeit, ihre Au467 "Die Persona, die Maske, das, als was einer gilt und als was er erscheint im Gegensatz zu seinem wirklichen individuellen Sein, entspricht der Anpassung an die Forderungen der Zeit, des Milieus und der Gemeinschaft." (a.a.O., p. 23). 468 "Der Fortschrittsglaube des Positivismus ist ein Vorläufer des Ersten Weltkrieges, und das Sich-selbst-Einsetzen des modernen Menschen als Sinn und Entwicklungsgipfel der Schöpfung ist der Auftakt zur bestialischen Selbsteinsetzung der arischen Herrenrasse im Nationalsozialismus." (a.a.O., p. 28). 469 ib. p. 38. Hier ist nicht ganz klar, ob dies auch flir die Unterdrückung gilt, bei der das Schuldgefühl ja bewußt im Leiden kompensiert wird. Dies ist wohl zu verneinen, praktisch aber wenig bedeutsam, da Verdrängung die vorrangige Reaktion auf die Forderungen der alten Ethik darstellt und beide Formen meist miteinander gemischt sind.
2. Kapitel: Dialektik
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tonomie und Integrität im Sinne der neuen Ethik, ist die Basis schöpferischer, das heißt wertschaffender Prozesse." 470 Die "neue Ethik" mündet so in einen "Prozeß dauernder Selbstbefragung und Selbstkontrolle"471 unter der Wertung: "Das, was zur Ganzheit fuhrt, ist gut, das, was zur Spaltung fuhrt, böse." 472 Diese Ethik fuhrt bei Neumann zu praktischen Konsequenzen, etwa der Forderung nach dem Tun des "Bösen" und der Annahme des sich daraus ergebenden Konflikts, also nach einer Handlung, die im Gegensatz zu den Kollektivwerten steht - z.B. einem symbolischen Elternmord -, als einer Notwendigkeit der Persönlichkeitsentwicklung. "Das Böse, das jemand mit Bewußtsein, das heißt immer auch im Wissen der Verantwortung, tut und dem er sich nicht entzieht, ist ethisch gut."473 Damit wird die Freudsche Lösung der "Sublimierung" des Bösen angegriffen, die auf die alte Ethik zugeschnitten ist. Außerdem hat die neue Ethik die Ablehnung des Strafprinzips zur Folge, das nur eine Ausrottung und damit Unterdrückung und Verdrängung des Bösen anstrebe. In seiner extrem negativen Auffassung des Gewissens als eines bloßen Mittels zur Erlangung einer "Pseudohaltung" sowie in seiner Forderung nach dem Tun des Bösen radikalisiert Neumann den Standpunkt C.G. Jungs und geht über diesen hinaus. Für Jung bedeutet Erlangung von Ganzheitlichkeit und Integration des Bösen nicht die Herbeifiihrung einer Konfliktsituation durch ein bewußtes Tun desselben, sondern die Relativierung des Bösen im moralischen Urteil und seine Überwindung in der Pflichtenkollision. Jung unterscheidet zwischen dem moralischen und dem ethischen Aspekt des Gewissensaktes. Ersterer ist die "Erinnerung an und die Ermahnung durch die Sitte", letzterer der Tatbestand der "Pflichtenkollision und ihre Lösung durch die Schöpfung eines dritten Standpunktes."474 Der ethische Aspekt des Gewissensaktes, der (wie der moralische auch) eine Funktion des Gewissens beschreibt, ist also bei Jung nicht zu verwechseln mit den Forderungen der "erneuerten Ethik" nach Bewußtwerdung des Bösen und Nutzung dieser Funktion des Gewissens, d.h. nach persönlicher Austragung der Pflichtenkollision ohne Rückgriff auf die einseitigen Werte der alten Ethik. Neumanns ethische Forderung, das "Böse" zu tun, bezieht sich zunächst nur auf den moralischen Aspekt des Gewissens im Jungsehen Sinne; der Konflikt, den sie hervorruft, ist der der Relativierung der alten Ethik, gegen die sie sich radikal, nämlich durch bewußtes Zuwiderhandeln - nicht nur durch Bewußtwerdung von deren Unvollständigkeit - wendet, wobei das Tun des "Bösen" nicht als Zweck verstanden werden darf- das wäre als bloße Gegensatzposition ebenso einseitig, wie die alte Ethik -, sondern als ib. p. ib. p. 472 ib. p. 473 ib. p. 474 JGW
470 471
101. 124. 128. 114. 10, 495.
§ 14 Analytische Psychologie und Ethik
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Mittel zur Erreichung eines "Jenseits von Gut und Böse"475 . Da die Ablehnung der alten Ethik Voraussetzung für die Schöpfung einerneuen Lösung im Falle der Pflichtenkollision ist, weil dieser Konflikt mit den Mitteln der alten Ethik nicht aufgelöst werden kann, klingt Jungs ethischer Aspekt des Gewissensaktes mit, wenn Neumann von der Notwendigkeit schreibt, den Konflikt anzunehmen. Neumanns Denken zeichnet sich durch das Bemühen um die Strukturierung der von Jung übernommenen Ansätze aus, ist zum Teil in der Begriffsbildung aber auch ungenau - die Charakteristika des ethisch "neuen" Menschen: "seelisch autonom", "gesund", "produktiv", "seelisch nicht infektiös", "bewußt", werden synonym gebraucht; der Begriff des "Gewissens" wird nicht in seiner funktionalen Bedeutung verwendet, sondern einerseits im Sinne des durch Verdrängung und Unterdrückung arbeitenden Gewissens der alten Ethik und andererseits als eine innere Stimme, die zur Individuation ruft: das Gewissen der neuen Ethik. Dies kann zu Mißverständnissen Anlaß geben. Letztlich geht es aber Neumann wie Jung um die vom Archetypus des Selbst geleitete und den Abschluß der Bewußtseinsentwicklung bildende "Ganzheitlichkeit" des Menschen, die ihn im ethischen Bereich zu einem autonomen, produktiven, den Konflikt "überwachsenden" Verhalten befahigt. 476 An die Stelle des "Über-Ich" ist hier das "Selbst" getreten.
E. Neumann, Tiefenpsychologie und neue Ethik, p.l35. Der Vorwurfvon E. Wiesenhütter an Neumann (E. Wiesenhütter, Die Begegnung zwischen Philosophie und Tiefenpsychologie, p. 53), dessen Lehre laufe praktisch auf eine Leugnung persönlicher Schuld im Umgang mit anderen Menschen hinaus, da das Gewissen zum Archetypus umfunktioniert werde, ist daher m.E. nicht zutreffend. Einerseits betrifft der Gedanke, den Wiesenhütter zur "Entlastung" Jungs zitiert, (nur) den funktionalen Aspekt des Gewissensaktes, nicht die ethische Forderung, auf die Neumann seinen Gewissensbegriff bezieht. Andererseits dient der Archetypus bei Neumann, wie auch bei Jung, als finale Orientierung und Maßstab des Handelns, so daß "Schuld" einen anderen Wert bekommt, der nicht mehr zwischen "gut" und "böse" sondern zwischen "gut oder böse" und ,jenseits von Gut und Böse" oder zwischen "unreflektierter alter Ethik" und "produktiver neuer Ethik" angesiedelt ist. Das Gewissen dieser Ethik soll gerade keine Sammlung von und unbewußte Reaktion auf kollektive Werte sein, sondern persönliche Wertbildung! Das Gewissen wird also nicht zum Archetypus umfunktioniert, sondern seine Funktion wird auf den Archetypus bezogen. Da aber die Interpretation der alten Ethik, deren Versagen auch zum Argument tur die Überlegenheit der neuen Ethik dient, bereits im Lichte des Archetypus erfolgt, beschreibt der Gedankengang von Neumann und Jung einen gewissen Zirkel, der noch Gegenstand einer näheren Betrachtung sein wird. Außerdem wird das ethische Sollen (der Ganzheitlichkeit) durch das archetypische Sein desselben begründet. Vgl. § 34. 475
476
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2. Kapitel: Dialektik
H. Das Böse bei L. Frey-Rohn
Zwei Wurzeln des Bösen erkennt L. Frey-Rohn in ihrer Arbeit über "Das Böse in psychologischer Sicht"477 : die Absolutsetzung des Kulturkanons und seine Erhebung zum Selbstzweck, d.h. ein Zuviel an Moral einerseits; andererseits der Mangel an moralischer Direktive. 478 Beide können zu neurotischen Störungen fUhren. Frey-Rohn beurteilt daher die abendländische Moral nicht, wie Neumann, als prinzipiell schädlich. Psychologisch hängt das Böse eng mit dem sogenannten "Schatten" zusammen, dessen Darstellung Frey-Rohn breiten Raum widmet. Sie unterscheidet zwischen dem persönlichen Schatten und Individuell-Bösen einerseits und dem kollektiven Schatten und ArchetypischBösen andererseits. "Der persönliche Schatten ist( ...) immer komplementär zur Ichpersönlichkeit und verkörpert alle jene Züge, die das Individuum auch hat, aber die es nicht als zu sich gehörig anerkennen will." 479 "All das nämlich, was sich den Zielen des Bewußtseins nicht einordnet und was mehr oder weniger unvereinbar mit den bewußten Wertungen ist, wird im Laufe der Entwicklung vernachlässigt, vergessen oder aber auch verdrängt und unterdrückt. " 480 Der persönliche Schatten ist "der Andere", wie er auch in der Mythologie und im Märchen als ungleiches Brüderpaar auftritt. Da er minder differenziert und oft auch inferior gegenüber dem Ich ist, kann er grundsätzlich als ein "Störenfried" angesehen werden, als "ein Individuell-Böses, das die Anpassung ans Außen erschwert." 481 Andererseits ist er aber wesentlich komplementär zur Einstellung der bewußten Persönlichkeit, und daher kann er, an einem objektivierten Maßstab gemessen, auch gut sein. Der Schatten ist demnach lediglich "Ausdruck einer allgemeineren psychischen Tendenz, nämlich der ausgleichenden, komplementierenden und kompensierenden Tätigkeit des Unbewußten überhaupt."482 Da im allgemeinen die moralische Einstellung des Einzelnen mehr oder weniger an die Kulturwerte angeglichen sei, so Frey-Rohn, falle der persönliche Schatten zum großen Teil mit dem zusammen, was auch kollektiv als "böse" beurteilt werde. Dennoch steht hinter dem Individuell-Bösen das Allgemeinmenschliche des Bösen in Form des kollektiven Schattens. Er besteht aus jenen Inhalten des kollektiven Unbewußten, die der Kollektivmoral zuwiderlaufen. "Je gegensätzlicher solche Inhalte zur Kollektivmoral sind, je mehr sie den Charakter eines Widergesetzlichen und Verworfenen haben, desto un-
477 L. Frey-Rohn in: Studien XIII, p. 161 ff. ib. ib. 480 ib. 481 ib. 482 ib. 478
479
p. p. p. p.
167 ff. 178 (Hervorhebung aufgehoben). 179 (Hervorhebung aufgehoben). 183.
§ 14 Analytische Psychologie und Ethik
139
zweifelhafter verkörpern sie das Moralisch-Böse." 483 Das Individuum wird durch das Kollektiv-Böse vor allem dann ergriffen, wenn die Ichpersönlichkeit relativ schwach entwickelt ist, und wenn die herrschenden Moralauffassungen des Kollektivs an Überzeugungskraft verlieren. Nach außen hin äußert sich diese Besitzergreifung durch den kollektiven Schatten entweder als Personifikation in einer flir das jeweilige Kollektiv-Böse repräsentativen Persönlichkeit484 oder als Massenphänomen, das insbesondere durch die Sündenbockpsychologie gekennzeichnet ist. Aus dieser Charakterisierung des Bösen als dem Bewußtseinszustand jeweils komplementäre Gestaltung ergibt sich auch seine Funktion und Bedeutung flir den psychischen Entwicklungsprozeß. Individuell- sowohl wie Kollektiv-Böses enthalten Werte, welche die bewußte Persönlichkeit zu einer Ganzheit ergänzen, indem sie sie mit tieferen Schichten der Seele verbinden. Die eigentliche Ganzheitlichkeit des Selbst wird, dem Ansatz Jungs entsprechend, vorausgesetzt. "Die Anerkennung der Wirklichkeit des Bösen scheint das eigentliche Durchgangstor zu sein, um eine Beziehung zum zentralen Faktor der Seele herzustellen, und zwar ergibt sich die Funktion des Bösen als unmittelbare Folge der in sich gegensätzlichen Dynamik des Selbstverwirklichungsprozesses selber."485 Ohne die Erfahrung des Bösen gibt es daher keine Selbstwerdung. Das Böse hat die "Funktion eines Wegweisers zur Ganzheit", "weil es den ursprünglichen Zusammenhang mit den Archetypen und dem Umfassenderen der Kultur bewahrt hat." Darin liege "das Potentiell-Positive des Bösen"486 , so Frey-Rohn. Während die Sublimierung und Unterdrückung des Bösen, die Freud vorgeschlagen hat, ebenso wie die von Nietzsche postulierte Verbündung mit dem Bösen, einseitig sei und zu einer "Spaltung zwischen dem BewußtGuten und dem Unbewußt-Bösen" fiihre, bezwecke der richtige Umgang mit dem Bösen ein "Überwachsen der Gegensätze"481 . Dieser richtige Umgang besteht darin, "die Projektionen des Schattens zu erkennen und vielleicht auch zurückzuziehen", d.h. "dem ,Bösen' ein gewisses Recht am Mitleben einzuräumen." Die damit einhergehende "Zusammenschau der Werte von Gut und Böse" zwingt schließlich zu einer "Revision der moralischen Einstellung". 488 Letztlich aber, so Frey-Rohn, gebe es kein objektives Kriterium dafiir, was in 483 ib. p. 186 (Hervorhebung aufgehoben). Es verdient hervorgehoben zu werden, daß Frey-Rohn hier, entgegen den Beteuerungen Jungs, das kollektive Unbewußte sei nur formaler Natur, von "Inhalten" spricht. Auf diese Widersprüchlichkeit, der man auch bei Jung wiederholt begegnet, wird unten noch ausführlich eingegangen werden. 484 Frey-Rohn nennt hier in wenig differenzierter und verharmlosender Weise Cesare Borgia, Napoleon, Lenin, Mussolini und deren deutsches "Pendant" (a.a.O. p. 188). 485 ib. p. 195. 486 ib. p. 197. 487 ib. p. 202, 196. 488 ib. p. 206.
2. Kapitel: Dialektik
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der jeweiligen Situation das "Richtige", was "gut" oder "böse" sei. Die moralische Entscheidung ist stets "ein einzigartiges Geschehen, das nur hic et nunc gültig ist." "Sie fordert das menschliche Ich deshalb auch stets zu einer ebenso einmaligen wie auch einzigartigen Antwort heraus."489 Wie auch E. Neumann, lehnt sich L. Frey-Rohn weitgehend an die ethische Konzeption Jungs an, so daß beider Beiträge als Ausarbeitungen der wenig strukturierten Jungsehen Vorgaben angesehen werden können. J Der Ertrag
Den Ausgangspunkt von Jungs ethischer Konzeption bildet die Auffassung von der Realität und Relativität von Gut und Böse. Dies bedeutet einerseits, daß Gut und Böse als solche zwar tatsächlich in der Welt vorhanden sind, daß sie andererseits ihren normativen Gehalt aber nur vermöge des menschlichen Wertens erhalten, also bewußtseinsrelativ sind. Gut und Böse sind als psychischarchetypische Gegensätze moralisch indifferente Numen, die erst durch die unterscheidende Tätigkeit des Bewußtseins normativen Charakter erhalten. Das Bewußtsein unterdrückt solche Tendenzen des Unbewußten, die den Betrag antisozialer Elemente in der psychischen Struktur des Menschen ausmachen, und verdrängt solche, die der gesellschaftlichen Konvention nicht entsprechen. Aufgrund der kompensatorischen Tätigkeit des Unbewußten entsteht auf diese Weise der "Schatten", der als personifizierte Projektion das Böse in der Welt verkörpert. Damit ist eine weitgehend unbewußte Geisteshaltung gekennzeichnet. Ziel der Ethik Jungs ist es, sich des Bösen als eines wesentlichen Elements der psychischen Struktur, wo es seinen Ursprung hat, bewußt zu werden und bestehende Projektionen zurückzuziehen. Damit ist die Möglichkeit einer bewußten Auseinandersetzung mit den antisozialen und unkonventionellen Tendenzen der Psyche eröffnet und die Gefahr kompensierender Reaktionen des Unbewußten beseitigt. Eine solche Haltung ist fiir Jung eine authentisch ethische, da sie Einseitigkeiten vermeidet und eine schöpferische Vermittlung der Gegensätze anstrebt - im Gegensatz zur nur moralischen Haltung, die dem auf Unterdrückung und Verdrängung beruhenden Sittenkodex folgt. Letztlich bedeutet die Assimilation des Bösen Individuation, d.h. Hinwendung zur Ganzheitlichkeit. Da diese Entwicklung in der archetypischen Struktur der Psyche vorgezeichnet ist, kann Jung davon sprechen, daß der Mensch das moralische Gesetz schon "in nuce" in sich habe.
489
ib. p. 203, 208 f.
§ 15 Vorläufige Synthese und erneute Problemstellung
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Dritter Abschnitt
Synthese § 15 Vorläufige Synthese und erneute Problemstellung A. Religion Für Jung ist Religion eine instinktive Berücksichtigung numinoser Tendenzen des Unbewußten zum Zwecke der Bewußtseinsfestigung. Diesen Zweck erfüllen auch Riten und Dogmen, die einer Wiedererzeugung der ursprünglichen religiösen Erfahrung dienen, bzw. einer Erinnerung an diese. "Konfessionen sind kodifizierte und dogmatisierte Formen ursprünglicher religiöser Erfahrung."490 Auf der anderen Seite wurde auf das enge Verhältnis von Recht und Religion hingewiesen und die Bedeutung gerade des alttestamentlichen Rechts als eines Mittels, dessen "sorgfaltige Berücksichtigung und Beobachtung" erst die Beziehung zu Gott schafft, herausgestellt. In religiösen Riten kann man die ältesten Festlegungen von Gesetzen sehen ("Die Form ist die älteste Norm"), Dogmen haben normativen Charakter. Dies legt den Schluß nahe, daß frühe und primitive Rechtssysteme aus der Funktion der Norm hervorgegangen sind, vor dem Hereinbrechen des Unbewußten über das Bewußtsein zu schützen, was auch erklären würde, warum diese Normen nicht Gegenstand einer inhaltlichen Reflexion gewesen sind, sondern es nur auf ihre formale Erfüllung ankam. Dieser Schutzzweck ist Teil eines final orientierten Entwicklungsprozesses, den Jung als Fortschritt betrachtet.491 In der christlichen Symbolik steht der "Vater" für einen unreflektierten Zustand "ohne intellektuelles oder moralisches Urteil", d.h. er repräsentiert den "Habitus, der Gesetzescharakter hat." 492 Den "Vater" vertritt auch Mose, der Kulturheros und Gesetzgeber493 . Jahwe ist "zwar ein Hüter des Gesetzes, selber aber nicht gerecht"494, und nämliches gilt für die jüdische Gesetzesgerechtigkeit. 495 In der Symbolik des "Sohns" erhält das Gesetz einen moralischen Gehalt. "Der Habitus wird ersetzt durch eine bewußt gewählte und erworbene Lebensform." 496 Mit der bewußten Wahl entsteht die Ethik, denn die ",Freiheit vom Gesetze' bringt eine Verschärfung der Gegensätze, insbesondere des moralischen Gegensatzes" 497 , was nach der JungJGW II, 5. JGW 13, 261. 492 JGW II, 197. 493 JGW 9 li, 244. 494 JGW II, 295. 495 JGW II, 198. 496 JGW II, 197. 497 JGW II, 199. 490 491
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2. Kapitel: Dialektik
sehen Energielehre zur Bewußtwerdung fuhrt. Die Entstehung der Moral bedeutet daher gleichzeitig die Entstehung des Zweifels. "Aus den Worten Hiobs geht deutlich hervor, daß er, trotz seinem Zweifel, ob ein Mensch vor Gott Recht haben könne, nur schwer von dem Gedanken lassen kann, auf dem Boden des Rechtes und damit der Moral Gott gegenüberzutreten."498 Dieser Zweifel kann in Zusammenhang gebracht werden mit der Achsenzeit und der Entstehung der "tragischen Gesellschaft". 499 Auf diese Veränderungen, die anhand der Gegenüberstellung von AT und NT nachgewiesen werden können, wurde hingewiesen. Moral und Gesetz haben daher nicht prinzipiell verschiedenen Charakter, eine psychische Verankerung der Ethik weist auch auf eine solche des Gesetzes, zusammengenommen des Rechts im allgemeinen. Habitus, Ritus, Dogma haben nach Jung ihren Ursprung im kollektiven Unbewußten, d.h. sie sind archetypischer Natur. 500 Jung meint "nachzuweisen, daß alldie mannigfachen religiösen Übungen und Überzeugungen, welche in der Menschheitsgeschichte von jeher eine so große Rolle gespielt haben, nicht auf willkürliche Erfindungen und Meinungen einzelner zurückgehen, sondern ihren Ursprung vielmehr der Existenz einflußreicher unbewußter Mächte verdanken, welche man nicht ohne Störung des seelischen Gleichgewichtes vernachlässigen darf."5oi Aus dieser Zusammenschau lassen sich unter Zugrundelegung des Jungsehen Ansatzes drei mögliche Quellen des Rechts eruieren. Erstens: Das Recht als ein im kollektiven Unbewußten verankertes (gesetztes) Gesetz, wobei hier nicht an ein positives Gesetz als vielmehr an eine Art Naturgesetz gedacht werden muß. Jung beschreibt es als dynamische Faktoren, "die aufgefaßt werden als ,Mächte': Geister, Dämonen, Götter, Gesetze ( ... )."502 Zweitens: Das Recht als "religio", als "sorgfältige Berücksichtigung und Beobachtung" solcher Faktoren, d.h. als Ritus und Dogma. Drittens: Das Recht als Ausdruck eines bestimmten Stadiums der Bewußtseinsentwicklung, das später abgelöst wird durch die Moral, mithin als Ausfluß einer archetypisch vorgegebenen Entwicklungslinie.
B. Anthropologie
Es wurde gezeigt, daß im Bereich primitiver Kulturen das Recht mit der Religion über den Ritus eng verbunden ist, jedoch nicht in der Art, daß man von 498 499
JGW II, 396.
Vgl. W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. 127.
500 Vgl. JGW II, 334. 501 JGW 8, 427 f. 502 JGW II , 4.
§ 15 Vorläufige Synthese und erneute Problemstellung
143
einem Hervorgehen des Rechts aus der Religion sprechen könnte. Alle Institutionen primitiver Gesellschaften dienen dem Ausdruck gemeinsamer Werte und der Herstellung des Gruppenkonsens. Legt man den Ansatz Jungs zugrunde, so könnte man als verbindendes Element die Funktion des Ritus als bewußtseinserhaltende Institution betrachten. Damit ist der Ritus im Gegensatz zu den Auffassungen der Anthropologie psychologisch gedeutet. In der Anthropologie wird der Ursprung des Rechts zum Teil in der sozialen Bedeutung des InzestTabus gesehen, das eine Vielzahl gesellschaftlicher Regeln hervorbringt. Jung geht auf diese Problematik im Zusammenhang mit Freuds "Totem und Tabu" ein. Freud, so Jung, "nimmt an, daß der Wunsch nach wirklichem Inzest den primitiven Menschen dazu veranlaßte, Gesetze dagegen aufzustellen; ich hingegen glaube, daß das Inzest-Tabu nur eines von zahlreichen Tabus ist und der typischen abergläubigen Furcht des primitiven Menschen entspringt, - einer Furcht, die vom Inzest und dessen Verbot unabhängig ist." 503 Hinter dieser Auffassung steht wiederum der Gedanke numinoser Mächte, die aus dem Unbewußten auftauchen und durch Tabus in ihre Schranken gewiesen werden. Das Aufstellen von Gesetzen erscheint als Kompensationsreaktion. Aufgrund seiner projizierenden Geisteshaltung erscheint dem Primitiven das eigene Unbewußte als "Gewißheit einer geistigen Realität", "deren Gesetze er ebenso sorgsam und ängstlich zu befolgen hat wie die Gesetze der ihn umgebenden physischen Natur." 504 In den primitiven Initiationsriten erscheint wieder der Gedanke eines vom Unbewußten gesteuerten Entwicklungsprozesses. "Sehr oft werden die Initianden qualvollen Behandlungsmethoden unterworfen, und zugleich werden ihnen die Stammesmysterien mitgeteilt, die Gesetze und die Hierarchie des Stammes einerseits, andererseits kosmogonische und andere mythische Lehren." 505 "Hüter der Mysterien und Gesetze" sind "fast stets die Alten" 506, was psychologisch auf die Hinwendung zum Unbewußten deutet, die in der zweiten Lebenshälfte erfolgt. Die Initiation markiert den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenen, die Lösung von der Mutter, was als Emanzipation vom Unbewußten interpretiert wird. Die Mitteilung der Gesetze und Lehren bedeutet eine Verpflichtung des Erwachsenen, sich gegen die antisozialen unbewußten Tendenzen zu behaupten und sich so als verantwortliches Mitglied in die Gemeinschaft zu fügen. Insofern findet auch in der Konzeption Jungs die fllr die Rechtsanthropologie herausragende Bedeutung der "Gruppe" Berücksichtigung. "Wenn einer zu unbewußt und zu harmlos vertrauensvoll sein sollte, so würden ihn das Gesetz und die Gesellschaft rasch zur Bewußtheit aufrütteln." 507 Die hier aufscheinende Bedeutung der Gesetze als Mittel zur JGW 4, 281. JGW 8, 342. 505 JGW 7, 253. 506 JGW 8, 456. 507 JGW 10, 52. 503
504
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Aufrechterhaltung der Ordnung des Bewußtseins sieht Jung auch in zivilisierten Kulturen verwirklicht. Dem Primitiven sind die unbewußten Faktoren "selbstverständlicher Bestandteil seines Weltbildes, nur wir haben sie aus Scheu vor Aberglauben und aus Metaphysikfurcht ausgeschlossen, um eine scheinbar sichere und handliche Begriffswelt aufzubauen, in welcher Naturgesetze gelten wie menschliche Gesetze in einem geordneten Staat."508 "In Wirklichkeit ist der normale Mensch ,staaterhaltend und moralisch', er schafft die Gesetze und beobachtet sie; nicht weil ihm solches von außen aufgenötigt wäre - das wäre eine kindliche Idee -, sondern weil er Ordnung und Gesetz mehr liebt als Laune, Unordnung und Gesetzlosigkeit."509 Das entspricht der Haltung des Bewußtseins. C. Märchen
Jung und seine Schule betrachten Märchen als Bearbeitungen archetypischer Inhalte. Insofern sich in Märchen also Recht einen Ausdruck verschafft, kann man es nach dieser Ansicht als archetypisch verankert ansehen. Von seiten der Märchenforschung wurden Märchen als solche zum Teil als "Vornormen" einer Gesellschaft interpretiert, daher Märchen und Recht denselben polygenetischen Ursprung hätten. Anerkannt ist jedenfalls, daß Märchen als Ausdruck des jeweiligen Volksgeistes gesehen werden können, daß sich in ihnen aber auch und hier ergeben sich wiederum Verflechtungen mit religiösen Aspekten überzeitliche, kulturunabhängige Gerechtigkeitsvorstellungen äußern. Danach könnte man das Recht als Bearbeitung archetypischer, kulturübergreifender Inhalte betrachten, wofiir auch die Feststellung spricht, daß Märchenfiguren "im Sinne einer höheren Gerechtigkeit und nicht aus eigenem Antrieb handeln." 510 Auffallig ist die starke Dichotomisierung von Gut und Böse im Märchen, die der Auffassung Jungs entspricht, daß Gut und Böse "nichts anderes als die moralischen Aspekte dieser natürlichen Gegensätze" 511 , d.h. jenes "Gegensatzgemäldes", aus dem die Welt besteht, sind. Gut und Böse sind "das Gegensatzpaar eines sogenannten moralischen Urteils( ... ), welches als solches seinen Ursprung im Menschen hat." 512 Daraus kann man schließen, daß auch die Sanktionierung des Bösen und die Belohnung des Guten, d.h. das Recht, so man es unter diese Funktionen fassen will, mittelbar ihren Ursprung im Menschen haben, nämlich in der diskriminierenden, d.h. ordnenden, Tätigkeit des Bewußtseins. JGW 15, 109. JGW 4, 225. 510 R. Wehse, EM 5, 1055. 511 JGW II, 214. 512 JGW II, 183. 508
509
§ 15 Vorläufige Synthese und erneute Problemstellung
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Mit einem "Ethos des Unbewußten", wie es sich im Märchen Ausdruck schaffen soll, beschäftigt sich die Jung-Schülerin v. Franz. 513 Dieses Ethos ist die Förderung der Ganzheitlichkeit, die Individuation, d.h. final orientierte Entwicklung auf eine Vereinigung von Bewußtsein und Unbewußtem. Im selben Sinne spricht Jung davon, daß das Ethos aus zwei Quellen fließe: dem Bewußtsein und dem Unbewußten. 514 Damit zieht v. Franz die Konsequenz aus dem von der Märchenforschung festgestellten "Ethos des Erfolgs" bzw. "Ethos des Geschehens", das keine materiale Ethik darstellt, sondern zielgerichtet ist und Harrnonisierung anstrebt. Die Harmonisierung der Gegensätze ist das "Ethos des Unbewußten", das auch in der inneren Struktur des Märchens Ausdruck findet. Sofern man also von einem formalen Gesetz sprechen kann, das im Unbewußten verankert ist, ist es das der Individuation. D. Ostfiches Denken
In der Symbolik des Ostens hat Jung Manifestationen der archetypischen Struktur des Unbewußten erblickt. Insbesondere die Idee eines schöpferischen Weltprinzips hat er als Projektion der Wahrnehmung des lebenden Wesens im Menschen selbst erachtet. Auf der anderen Seite wurde die ungeheure Bedeutung eines solchen Prinzips filr das östliche Denken im allgemeinen und das Rechtsverständnis des Ostens im besonderen herausgestellt. Die hier zu Tage tretenden Besonderheiten - die allgemeine Geringschätzung des Rechts, das Fehlen der Idee subjektiver Rechte, die Abneigung gegen Abstraktionen usw. könnten nach Jungs Verständnis also als mehr oder minder unmittelbare Ausflüsse des kollektiven Unbewußten angesehen werden. Das Gesetz des Unbewußten wäre demnach Tao, Rita oder Dharrna, die als umfassende Prinzipien auch die menschliche Gesetzgebung, den Sittenkodex und die Moral durchwirken, die mit jenen in Einklang stehen müssen. "Dharrna, Gesetz, Wahrheit, Führung soll ,nirgends als nur im Geist' sein. So werden dem Unbewußten alle jene Fähigkeiten zugetraut, die der Westen Gott zuschreibt."515 Im Westen legitimiert die "vox Dei" das, was Recht und Gesetz ist516, im Osten ist es das unpersönliche Tao, Brahman oder Rita. Seide stehen in der Psychologie Jungs fiir die numinosen Prinzipien des kollektiven Unbewußten. Der Gegensatz zwischen West und Ost, der sich auch in der "moralischen Zuspitzung" und "Unverträglichkeit der Gegensätze in der christlichen Psychologie" manifestiert, entspringt "historisch gesehen, der alttestamentlichen Erbschaft, nämlich der
513
M.-L. v. Franz in: Studien XIII, p. 92 f.
JGW 10,494. 515 JGW II, 546. 516 JGW 10,483. 514
10 Llltrelmaan
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2. Kapitel: Dialektik
Gesetzesgerechtigkeit (... ). Dieser spezielle Einfluß fehlt im Osten, in den philosophischen Religionen Indiens und Chinas in auffallender Weise." 517 Dies liege an der "historischen Spaltung des europäischen Geistes" 518, an der Trennung von Bewußtsein und Unbewußtem, von Glauben und Wissen usw., hingegen sich der introvertierte Osten stets die Beziehung zum Unbewußten erhalten habe. Das Unbewußte ist flir Jung in der Symbolik des weiblichen Yin repräsentiert, das Bewußtsein im männlichen Yang. Yang "bestimmt die Beziehung zum Manne, zu Gesetz und Staat, zu Verstand und Geist und zur Dynamik der Natur. ( ... ) Der Vater ist auctor und Autorität, daher Gesetz und Staat."519 In der Vereinigung von Yin und Yang ist eine Ganzheitlichkeit verwirklicht, wie sie einerseits Jung als Ziel des Individuationsprozesses betrachtet, wie sie andererseits aber flir das östliche Denken typisch ist. Von östlichen Rechtsgelehrten wird betont, Recht könne "nur ganzheitlich" erkannt werden. 520
E. Moral und Ethik
Der Zusammenhang von Ethik und Religion wurde bereits dargestellt. Jung unterscheidet zwischen moralischem und ethischem Verhalten. Moralisch sei ein solches, das dem Sittenkodex folgt, originär ethisch ein solches, das die Lösung eines Konflikts aus eigenem Antrieb verfolge. Die Befolgung von Gesetzen und Konventionen dient zunächst der Festigung des Bewußtseins. In diesem Sinne schreibt Neumann: "Die Entwicklung des Gesetzes, der allgemein verbindlichen Moral, der Kollektivwerte, und die Bildung und Entwicklung von Gewissen und Über-Ich dienten der Festigung des Bewußtseinssystems und des Ich und seiner Herauslösung aus dem ursprünglichen Überwältigtsein durch das Unbewußte." 521 Dem liegt der Gedanke einer Entwicklung zugrunde, deren Abschluß die durch die "neue" oder "erneuerte Ethik" gewonnene Haltung darstellt. 522 Über den Ursprung des Moralgesetzes schreibt Jung: "Überdies ist das Moralgesetz nicht bloß ein Übel, gegen das man sich auflehnen sollte, sondern eine Notwendigkeit, die vom innersten Bedürfnis des Menschen erzeugt wurde. Das Moralgesetz ist nichts anderes als eine äußere Manifestation des dem Menschen eingeborenen Dranges, sich selber zu unterdrücken und zu bändigen. Dieser Drang zur Domestikation oder Zivilisation verliert sich in die unergründlichen und nebelhaften Abgründe der Entwicklungsgeschichte, JGW 9 II, 80. JGW II, 574. 519 JGW 10, 49 f. 520 Vgl. M. Christian, Rechtsphilosophie zwischen Ost und West, p. 181. 521 E. Neumann, Tiefenpsychologie und neue Ethik, p. 120. 522 Vgl. § 14 E. 517
SIB
§ 15 Vorläufige Synthese und erneute Problemstellung
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kann daher nie und nimmer als Folge einer gewissen von außen aufgenötigten Gesetzgebung gedacht werden. Der Mensch selber hat sich, seinem Triebe gehorchend, seine Gesetze geschaffen." 523 Diese Sätze sind noch unter dem Eindruck der Psychoanalyse Freuds geschrieben, die die Triebbeschränkung als nomothetischen Prozeß aufgefaßt hat. 524 Von einer archetypischen Verankerung jener Notwendigkeit ist nicht die Rede, der Gedanke einer evolutionären Entwicklung des Bewußtseins setzt sich aber im Werke Jungs fort. Der Begriff des "Moralgesetzes", den Jung gebraucht, schließt dabei durchaus das ein, was wir unter Recht und Gesetz fassen, denn er meint jene Regeln, die als Konventionen und Konfessionen eine, mitunter sogar kodifizierte, jedenfalls aber gesicherte, Bedeutung, d.h. verbindliche normative Kraft, erlangt haben. Der Gedanke einer schöpferischen Funktion der Seele wird, in Abgrenzung zu Freud, sogar zum zentralen Charakteristikum der Jungsehen Theorie. "Es ist nämlich nie zu vergessen - und das muß man der Freudschen Schule zurufen - daß die Moral nicht in Form von Tafeln vom Sinai heruntergebracht und dem Volke aufgenötigt wurde, sondern die Moral ist eine Funktion der menschlichen Seele, die so alt ist wie die Menschheit. Die Moral wird nicht von außen aufgenötigt - man hat sie schließlich a priori in sich selbst; nicht das Gesetz, wohl aber das moralische Wesen, ohne das ein Zusammenleben der menschlichen Sozietät unmöglich wäre." 525 Die Entstehung der Moralität und des Gesetzes richtet sich nach einem archetypischen Muster, weshalb Jung davon sprechen kann, daß der Mensch das Moralgesetz, das, wie die Religion, zum "unausrottbaren Bestand der menschlichen Seele" gehört, schon "in nuce" in sich habe und aus sich heraus erschaffe. 526 Die Moral ist dem Instinkt verwandt, sie ist "ein instinktives Regulativ des Handelns, welches auch das Zusammenleben der Tierherde ordnet."527 "Die Moralität ist kein Mißverständnis, das ein ehrgeiziger Moses auf dem Sinai erfand, sondern gehört mit zu den Lebensgesetzen und wird im normalen Ablauf des Lebens erzeugt wie ein Haus oder ein Schiff oder ein anderes Kulturinstrument." 528 In der Beziehung auf den Instinkt wird die archetypische Verwurzelung der Moral unverkennbar. F. Die Entwicklung
Auf den evolutionären Gedanken, der den Theorien Jungs zugrundeliegt, wurde mehrfach hingewiesen. Die Entwicklung des Bewußtseins kann auf JGW 4, 241 (1913). Vgl. JGW 8, 59, 416 f.; 10, 17. 525 JGW 7, 28 f. 526 JGW 8, 316. 527 JGW 7, 29. 528 JGW 6, 228. 523
524
10•
2. Kapitel: Dialektik
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Grundlage dieses Gedankens mit der Entwicklung des Rechts in Zusammenhang gebracht werden. Jung zeichnet ein Bild der Entwicklung, das vom primitiven Ritus über die gesellschaftliche Konvention und den Sittenkodex zur Freiheit vom Gesetz bzw. Befolgung des eigenen, inneren Gesetzes führt, d.h. zur "Treue zum eigenen Gesetz". 529 Die detaillierte formale Bestimmtheit des primitiven Gesetzes, die Gesetzesgerechtigkeit, die Befolgung des Gesetzes um des Gesetzes willen, wird abgelöst durch eine zunehmende Abstrahierung, die Raum läßt für inhaltliche Aspekte, so daß man von einer Ethisierung des Rechts sprechen kann, wie sie auch für das Verhältnis des AT zum NT festgestellt worden ist. 530 "Äußeres Gesetz wird im Laufe der Entwicklung zu innerer Gesinnung." 531 Die Konvention ist zunächst "ein Notbehelf, aber kein Ideal, weder in sittlicher noch in religiöser Beziehung, denn Unterwerfung an sie bedeutet immer Verzicht auf Ganzheit und eine Flucht vor den eigenen letzten Konsequenzen." 532 Vor diesem Hintergrund erkennt Jung auch die Unzulänglichkeit des konventionellen Gesetzes zur Regelung gesellschaftlicher Zustände und zur Überwindung des Bösen, und er fordert eine Haltung ,Jenseits des Gesetzes", nämlich die Wahl des eigenen Weges. 533 Die Konvention, d.h. das Moralgesetz und die positive Gesetzgebung, ist insofern eine Notwendigkeit, weil die Menschheit zum großen Teil noch einem psychologischen Kindheitsstadium angehört. "Weitaus die meisten bedürfen der Autorität, der Führung und des Gesetzes. Diese Tatsache darf nicht übersehen werden. Die paulinische Überwindung des Gesetzes fiillt nur dem zu, der es versteht, anstelle des Gewissens die Seele zu setzen." 534 Die Überwindung des Moralgesetzes fuhrt zu dem, was Jung als Lebensgesetz bezeichnet, und was sich weitgehend der östlichen Auffassung eines am Gesetz des Tao oder Rita ausgerichteten Lebens annähert. "Insofern jedes Individuum sein ihm eingeborenes Lebensgesetz hat, hat jeder die theoretische Möglichkeit, diesem Gesetz vor allen zu folgen und damit zur Persönlichkeit zu werden, das heißt Ganzheit zu erlangen. Da nun aber das Lebendige nur in Form lebender Einheiten, das heißt Individuen existiert, so zielt das Lebensgesetz in letzter Linie immer auf ein individuell gelebtes Leben. " 535 Damit ist die höchste Stufe der Entwicklung, die schöpferische, Ganzheitlichkeit hervorbringende Tätigkeit der Seele erreicht, die Forderung der erneuerten Ethik verwirklicht.
529 530 531
JGW 17, 197. Vgl. § 5 B, C.
JGW 13, 61.
JGW 17, 198. Vgl. JGW 10, 41, 151 f.; 14 I, 186. 534 JGW 7, 262. 535 JGW 17,203 f.
532 533
§ 15 Vorläufige Synthese und erneute Problemstellung
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G. Das Gesetz des Unbewußten
Es kann nunmehr beantwortet werden, inwiefern, unter Anwendung der Erkenntnisse der Jungsehen Schule, von einem Zusammenhang von Psyche und Recht oder gar einer Verwurzelung des Rechts im kollektiven Unbewußten gesprochen werden kann. Die Möglichkeiten, die eingangs zur Thematik der Religion vorgestellt wurden, haben sich in Hinblick auf die anderen Themenbereiche bestätigt. Es können demnach drei bzw. vier Zusammenhänge unterschieden werden. I. Recht, insofern es Ritus, Dogma, Sitte, d.h. allgemein Konvention ist, ist ein Produkt der kompensatorischen Tätigkeit des Bewußtseins, das sich vor dem Einbruch der numinosen Mächte des Unbewußten schützen will und ihnen daher "sorgfältige Berücksichtigung und Beobachtung", kurz "religio" gewährt. Es handelt sich dabei um eine instinkthafte Reaktion, in der sich der Drang nach Bewußtheit und nach Ordnung verwirklicht. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht entspringt der diskriminierenden Tätigkeit des erwachenden Bewußtseins. 2. Recht, insofern es ein Produkt der kompensatorischen Tätigkeit des Bewußtseins ist, geht mittelbar zurück auf den Drang nach Bewußtheit. Dieser Drang ist archetypisch vorgezeichnet und äußert sich als final orientierte Entwicklung auf Ganzheitlichkeit hin. Recht und Gesetz kennzeichnen danach nur ein Stadium dieser Entwicklung, das zugunsten einer individuell gelebten Ethik überwunden werden muß. Unbewußtheit wie Bewußtsein sind als solche Einseitigkeiten. Ihre Vereinigung erschafft den "ganzen Menschen", der das, was er tun muß aus dem "eigenen Gesetz" schöpft, d.h. aus der schöpferischen Tätigkeit seiner Seele. Damit erfüllt er die Verantwortung, die ihm kraft seines Menschseins auferlegt ist. Die Frage nach dem richtigen Tun wird beantwortet durch das Ethos, das aus zweierlei Quellen fließt: dem Bewußtsein und dem Unbewußten. 3. Recht, insofern es zurückgeht auf eine archetypisch vorgezeichnete Entwicklungslinie, ist nicht nur als ein Entwicklungsstadium, sondern durch dieses auch als Recht archetypisch konstelliert, denn es eignen ihm bestimmte Merkmale, die es gerade als Repräsentanten dieser Entwicklungsstufe kennzeichnen, etwa seine Amoralität, im Gegensatz zum Moralgesetz des Christentums. Fraglich ist, in welchem Maße das Recht formal und materiell archetypisch vorgezeichnet ist. Dies hängt mit der Wirkungsweise und Reichweite der Archetypen zusammen. Vergleicht man den treibenden Archetypus des Selbst beispielsweise mit den Einheitsprinzipien des Ostens, wie Jung das selbst wiederholt tut, so kann man erkennen, daß unter Zugrundetegong dieses Archetypus als eines das Recht konstellierenden Faktors ein ganz bestimmtes materielles Recht entsteht, das grundsätzlich verschieden ist von anderen Rechtssystemen, was sich am Beispiel des östlichen Rechtsverständnisses nachweisen läßt. Offen muß dabei
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2. Kapitel: Dialektik
zunächst die Frage bleiben, ob der Archetypus das Recht materiell konstelliert, ob er also auf den Inhalt wirkt, wie das Jung in manchen Äußerungen nahezulegen scheint, wenn er vom Unbewußten "als die Gesamtheit aller in statu nascendi begriffenen seelischen lnhalte" 536 spricht, oder ob der Archetypus nur formal anordnenden Charakter hat, also lediglich Strukturelement ist, wie Jung das häufig betont. Diese wichtige Unterscheidung wird im folgenden genau zu treffen sein. H. Erneute Problemstellung
Es kann nicht erwartet werden, daß die Erkenntnisse der Jungsehen Psychologie in allen Aspekten mit den Erkenntnissen der Fachdisziplinen übereinstimmen. Die Theorien Jungs stellen schließlich, obwohl sie den Anspruch haben, psychisches Leben in seiner Gesamtheit zu erklären, zunächst nur psychologische Theorien oder vielleicht Dogmen dar, die einer Hinterfragung offenstehen. Sie können überprüft werden in Hinblick auf ihre methodische Fundierung und ihre inhaltliche und analytische Stimmigkeit, und sie können, als Niederschlag einer bestimmten Geisteshaltung, in den Kontext biographischer und zeitgeschichtlicher Daten gebettet werden. Bereits aus den bisherigen Ausruhrungen lassen sich gewisse Probleme entnehmen, die beantwortet sein wollen. Wenn Jung im östlichen Denken eine allgemeine psychische Struktur zum Ausdruck kommen sieht, wie läßt sich das vereinbaren mit den unterschiedlichen "Denkarten" von Ost und West? Wenn die archetypische Konstellation, wie Jung sagt, "weder familiär noch durch Rasse wesentlich beschränkt" 537 ist, wie erklären sich dann die zahlreichen kulturellen Diversitäten, die die Anthropologie zu Zurückhaltung bei der Aufstellung vereinfachender Theorien nötigen? Können Märchen ungeachtet der Umstände ihres Entstehens und ungeachtet ihres Alters und ihrer Herkunft generell als Bearbeitungen archetypischer Inhalte verstanden werden? Wie fügt sich das in die Annahme fundamentaler kultureller Veränderungen zur Achsenzeit, in die Annahme einer Bewußtseinsentwicklung überhaupt, da das Alter von Volkserzählungen doch sehr unterschiedlich, ihre Mehrzahl aber jüngeren Datums ist? Bei der Interpretation der kulturellen Zeugnisse durch die Schule Jungs, die zur Grundlage der hier vollzogenen Synthese gedient haben, wird ferner die Existenz eines archetypisch strukturierten kollektiven Unbewußten unstreitig und stillschweigend vorausgesetzt. Es muß daher gefragt werden, inwiefern ein solches Unbewußtes dem empirischen Nachweis, den Jung für sich in Anspruch nimmt, überhaupt zugänglich ist, d.h. es muß die Methode der Gewinnung klinischer Daten hinterfragt werden. Ferner muß untersucht wer536
537
JGW 10, 415. C.G. Jung in: Das Tibetanische Totenbuch, p. 48.
§ 15 Vorläufige Synthese und erneute Problemstellung
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den, was Jung nun unter dem Archetypus eigentlich genau versteht und was unter diesem Begriff verstanden werden kann, wie der Archetypus wirkt und wie sein Wirken sich vollzieht, d.h. wie das Verhältnis von Psyche und Materie vorzustellen ist. Eine zentrale Position in der Theorienbildung Jungs nimmt der Gedanke des psychischen Fortschritts, der Bewußtseinsentwicklung ein. Dieser Gedanke, durch den verschiedene Phänomene auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, beruht auf bestimmten vorgängigen Annahmen, die nicht selbstverständlich sind. Im ethischen Bereich schließlich stellt sich die Frage, wie die Annahme eines das Bewußtsein dominierenden Unbewußten sich mit dem Erfordernis sittlicher Freiheit in Einklang bringen läßt und wie die ethische Forderung Jungs sich sinnvoll begründen läßt oder inwiefern sie überhaupt eine ethische Forderung ist. Anhand dieser exemplarisch aufgeworfenen Fragestellungen eröffnet sich ein breites, philosophisch relevantes Spektrum der Theorien Jungs, das betrachtet sein will, soll die Fruchtbarmachung der Jungsehen Gedanken nicht eine bloße unkritische Anwendung sein. In diesem Sinne gliedert sich die folgende Untersuchung in einen wissenschaftstheoretischen Teil, der sich mit der empirischen Fundiertheit der Theorien Jungs beschäftigt, die selbst als Auslegungsmittel jener kulturellen Zeugnisse herangezogen werden, auf die sich die hier vollzogene prima-facie-Synthese gestützt hat. Ferner in einen Abschnitt, in dem vorwiegend erkenntnistheoretische Fragen aufgeworfen und die Gedankengänge Jungs auf ihre analytische Haltbarkeit überprüft werden, in dem also untersucht wird, welche philosophischen Konzeptionen und Gedankengänge den Theorien Jungs unausgesprochen zugrundeliegen. Hier werden auch Parallelen gezogen zwischen den Überlegungen Jungs und anderen geistigen Strömung seiner Zeit, die dem Verständnis seines Werkes dienlich sein können. Dieses Vorgehen stellt gewissermaßen eine Ergänzung dar zu den zahlreichen, bereits vorliegenden Versuchen, das Jungsehe Werk aus der Biographie seines Verfassers zu erklären - dies durchaus im Sinne Jungs, demzufolge sich Ontogenese und Phylogenese des Bewußtseins gleichartig vollziehen. Schließlich werden in einem dritten Abschnitt ethische Problematiken des Jungsehen Ansatzes diskutiert. Ziel der Untersuchung ist es ferner, aus den oft widersprüchlichen und unbestimmten Aussagen Jungs ein Bild seiner Lehre zu kristallisieren, das mit dem Gesamtbild seiner Aussagen in Einklang steht und dennoch den Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens und erkenntnistheoretischen Bewußtseins genügen kann. Auf Aspekte des östlichen Denkens, des transzendentalen Vermögens, des Dualismus, des Verhältnisses von Leib und Seele, von Subjekt und Objekt und andere Problempunkte, auf die bereits Bezug genommen wurde, wird wiederholt und vertiefend eingegangen. Auf Grundlage dieser Untersuchungen kann dann in einem abschließenden Kapitel entschieden werden, inwiefern die Theorien der Analytischen Psychologie für die Philosophie des Rechts von Wert sein können.
Drittes Kapitel
Analytik Im 2. Kapitel wurde in einer prima-facie-Synthese eine Möglichkeit der Beantwortung rechtsphilosophischer Fragestellungen durch die Analytische Psychologie aufgezeigt. Nachfolgend muß versucht werden, die Theorien Jungs auf ihre analytische und inhaltliche Haltbarkeit hin zu überprüfen. Dabei werden philosophische Problematiken zur Sprache gebracht, deren Bearbeitung die Grundlage filr eine abschließende Bewertung im 4. Kapitel bildet.
§ 16 Tiefenpsychologie und Philosophie "Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis, und ich bin jetzt im Begriffe sie zu erfilllen, indem ich von der Medizin zur Psychologie hinüberlenke. Therapeut bin ich wider willen geworden; ( ...)." So Sigmund Freud in einem Brief an Wilhelm Fließ. 1 In seiner "Selbstdarstellung"2 berichtet er, daß er die Lektüre Nietzsches "gerade darum lange gemieden" habe, um von der Affinität zwischen Nietzsches Gedanken und denen der Psychoanalyse nicht beeinflußt zu sein. Bei der Lektüre des Freudschen Werkes ergibt sich dagegen der Eindruck einer eher ablehnenden Haltung gegenüber Fragen der Philosophie3, ungeachtet der Tatsache, daß Kant an mehr als zwanzig Stellen in den Gesammelten Werken gewürdigt wird, und die Lehre des älteren Freud, nach Meinung mancher Kritiker, "von einem weitreichenden philosophischen Impuls gezeichnet"4 ist. C.G. Jung dagegen wirft der psychoanalytischen Bewegung vor, "sich über ihre philosophische Prämisse nie Rechenschaft gegeben" zu haben, "was offenkundig mit der ungenügenden philosophischen Besinnlichkeit des Meisters selber zusammenhängt"5, der sich "sehr zu Unrecht (... ) der Philosophie verS. Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, p. 142. FGW 14, 86. 3 Vgl. z.B. den einleitenden Satz zum "Abriß", FGW 17, 67: "Die Psychoanalyse macht eine Grundvoraussetzung, deren Diskussion philosophischem Denken vorbehalten bleibt, deren Rechtfertigung in ihren Resultaten liegt." 4 R. Heinz, Psychoanalyse und Kantianismus, p. 15. 5 JGW 15, 60. 1
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§ 16 Tiefenpsychologie und Philosophie
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weigert" 6 habe. "Im Gebiete der Philosophie fehlten ihm sogar die elementarsten Bildungselemente" 7 , berichtet Jung über seinen Lehrer. Etwa habe dieser ihm "persönlich einmal versichert, es sei ihm nie eingefallen, Nietzsche zu lesen"8. Er selbst dagegen habe "den süßbitteren Trank der kritischen Philosophie nie verschmäht ( ... )." 9 - Relativierend dazu wirkt Jungs ständig wiederholte, von manchen als "beinahe phobisch" 10 empfundene Abwehr, kein Philosoph zu sein. Selbstkritisch bekundet er: "Meine empirischen Begriffe wären, philosophisch gesehen, logische Monstra, und als Philosoph wäre ich eine traurige Figur." 11 Der Aussagewert solcher, von Gegnerschaft motivierter Äußerungen muß nicht zu hoch eingeschätzt werden; ihre Quintessenz kann jedenfalls sein, daß sich mit der "Erfindung" der Psychoanalyse und ihren diversen Entwicklungen der philosophischen Diskussion ein weites Feld aufgetan hat, dessen Existenz C.G. Jung folgenden Ausdruck gegeben hat: "Die Problematik der komplexen Psychologie (... ) war flir mich selber ein erstaunliches Ergebnis. Ich glaubte, Naturwissenschaft im besten Sinne zu treiben, Tatsachen festzustellen, zu beobachten, zu klassifizieren, kausale und funktionale Zusammenhänge zu beschreiben, um zum Schluß zu entdecken, daß ich mich in einem Netzwerk von Überlegungen verfangen hatte, welche weit über alle Naturwissenschaft hinaus in das Gebiet der Philosophie, der Theologie, der vergleichenden Religionswissenschaft und der Geistesgeschichte überhaupt reichen." 12 Tatsache ist aber auch, daß die wissenschaftlichen Bemühungen philosophischer Kritik an der Freudschen Psychoanalyse lange Zeit gebraucht haben, um über das Anfangsstadium, das durch "umsichtige Einzelversuche" 13 geprägt war, hinauszukommen, wenngleich sie mittlerweile auch einen kaum noch zu überschaubaren Umfang angenommen haben 14, und daß philosophische Untersuchungen des Jungsehen Werks, von einigen wenigen in den 60er, 70er und 80er Jahren verfaßten Rezeptionen abgesehen, bis heute praktisch nicht existieren.
JGW 4, 387. JGW 15, 53. 8 ib. 9 JGW 4, 388. 10 R. Keintzel, C.G. Jung, p. 9; vgl. z.B. C.G. Jung, Sinnfragen des Lebens, p. 350: ",ch betreibe Wissenschaft, aber keine Apologetik und keine Philosophie, und zum Religionsstifter habe ich weder Fähigkeit noch Lust." II JGW II, 334. 12 JGW 8, 118. 13 R. Heinz, Psychoanalyse und Kantianismus, p. II m.w.N. 14 C.E. Scheidt, Die Rezeption der Psychoanalyse, p. 139 m.w.N. Einen umfassenden Überblick über die Rezeption der Psychoanalyse in der Philosophie bietet A. Schöpf, Sigmund Freud, p. 171 ff. 6
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3. Kapitel: Analytik
Erster Abschnitt
Die empirische Fundiertheit der Theorien Jungs Die Frage nach der empirischen Fundiertheit der Erkenntnisse Jungs, nach dem methodischen Vorgehen und dem wissenschaftstheoretischen Standort der Analytischen Psychologie bildet einen zentralen Aspekt in der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Jungsehen Werk. Die Klärung des wissenschaftlichen Standorts ist nicht nur für die Klärung des Selbstverständnisses und damit für die adäquate Einschätzung der Analytischen Psychologie von Bedeutung, sondern auch für die Gewichtung ihres philosophischen Gehalts und ihrer Bedeutung für interdisziplinäre Fragestellungen. Eine durchsichtige und dem Gegenstand angemessene methodische Vorgehensweise sichert in jeder Disziplin, die den Anspruch erhebt, Wissenschaft zu sein, die Forderungen nach Nachvollziehbarkeit und Intersubjektivität, also nach Objektivität im weiteren Sinne. Daß eine Theorie, die auf empirisch gesicherte Grundlagen gestellt ist, insbesondere, wenn für sie in Anspruch genommen wird, daß sie von anderen Fachdisziplinen wie z.B. der Physik und der Neurobiologie bestätigt worden sei 15, für die Philosophie von höherem Wert ist als eine rein gedankliche Konstruktion, braucht nicht eigens betont zu werden. Im Rahmen dieser Arbeit können nur einige ausgewählte Ansätze verfolgt und verschiedene Perspektiven und Tendenzen aufgezeigt werden. In § 17 wird zunächst das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis Jungs aufgezeigt, und es werden Ansätze gesucht, von denen aus der wissenschaftstheoretische Standort der Analytischen Psychologie bestimmt werden kann. In §§ 18 und 19 werden zentrale Probleme der Tiefenpsychologie aus der Sicht realwissenschaftlicher Standpunkte erläutert, wobei einmal die Psychoanalyse als Oberhaupt "unwissenschaftlich", ein andermal als realwissenschaftlichen Unterscheidungskriterien "nicht genügend" erachtet wird. §§ 20 und 21 diskutieren Aspekte der Analytischen Psychologie, die zu einer Entfernung vom nomothetischen und Hinwendung zu einem hermeneutischen Verständnis der Analytischen Psychologie als Wissenschaft berechtigen könnten. §§ 22 und 23 beschäftigen sich mit inhaltlichen Aspekten der "empirischen Fundierung" der Analytischen Psychologie, wofür vor allem in §§ 5, 6 und 7 schon die Voraussetzungen geschaffen wurden.
15 Vgl. M .-L. v. Franz in: C.G. Jung (Hrsg.), Der Mensch und seine Symbole, p. 304 ff.
§ 17 Problemeröffnung und Lösungsansätze
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§ 17 Problemeröffnung und Lösungsansätze A. Die Selbsteinschätzung Jungs
Eines der auffälligsten Merkmale am Jungsehen Werk ist die beinahe beschwörende und ständige Wiederholung des "empirischen Standpunkts". 16 Dies erweckt den Eindruck, als wolle Jung von etwas überzeugen, das wesentliche Voraussetzung seiner Tätigkeit ist, daran er aber selbst noch zweifelt. Zu einem Teil mag diese Auffälligkeit als schlichte Reaktion auf "die üblen Folgen vorschnellen und oberflächlichen Kritisierens" gelten, welche daher rühren, daß "die weit überwiegende Mehrzahl der Kritiker ( ...) mit ebensoviel Entrüstung wie Sachunkenntnis meistens daneben geschlagen" 17 hat. Inwiefern sie darüberhinaus berechtigt ist, muß Gegenstand einer Diskussion sein, die es sich nicht verweigert, den Jungsehen "Standpunkt" zunächst anzunehmen, der in charakteristischer Formulierung deshalb den nachfolgenden Überlegungen vorangestellt sei. Jung schreibt: "Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß meine Kritiker, mit wenigen Ausnahmen, den Umstand verschweigen, daß ich als Arzt von empirischen Tatsachen ausgehe, deren Nachprüfung jedermann offensteht Dafür aber kritisieren sie mich, wie wenn ich ein Philosoph oder ein Gnostiker wäre, welcher übernatürliche Erkenntnis zu besitzen vorgibt. Als Philosoph und als spekulierender Häretiker bin ich natürlich leicht zu schlagen. Aus diesem Grunde zieht man es wohl vor, die von mir entdeckten und nachgewiesenen Tatsachen zu verschweigen oder leichtfertig zu leugnen. Auf die Tatsachen aber kommt es mir vor allem an und nicht auf provisorische Terminologie oder auf Ansätze zu theoretischen Betrachtungen. Die Tatsache, daß es Archetypen gibt, ist damit nicht aus der Welt geschafft, daß man sagt, es gäbe keine angeborenen Vorstellungen. Ich habe nie behauptet, daß der Archetypus an sich eine Vorstellung sei, sondern ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ich ihn als einen Modus ohne bestimmten Inhalt ansehe.'d 8
An anderer Stelle zitiert Jung einen Kritiker des "British Medical Journal": "Facts first and theories later is the key-note of Jung's work. He is an empirieist first and last." Dieses Urteil findet Jungs Beifall. 19 Als empirisches Material seiner Untersuchungen dienen Jung Träume, Wahnideen Geisteskranker, Phantasien in Trancezuständen und die Ergebnisse, welche durch die Amplifikationsmethode gewonnen werden, ferner historische Parallelen in Religion, Mythos, Märchen, Ritual, Folklore und Kunst, "Westliches und Östliches", welche die Theorie untermauern.Z0 Man kann hinsichtlich des Untersuchungsmaterials also zwischen klinischem und extraklinischem
z.B. JGW 4, 95 ff., 101 ff. JGW 4, 109. 18 JGW II, 335 f. 19 C.G. Jung, Sinnfragen des Lebens, p. 337. 20 Vgl. z.B. JGW 9 I, 61 ff. 16
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3. Kapitel: Analytik
Material unterscheiden. Jung bemerkt allerdings im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zu Märchen: "Für den Laien auf diesem Gebiete möchte ich hier beifügen, daß die Strukturlehre der Psyche nicht etwa aus Märchen oder Mythen abgeleitet wurde, sondern auf den Erfahrungen und Beobachtungen der ärztlich-psychologischen Forschung beruht und erst sekundär ihre Bestätigung durch vergleichende Symbolforschung in Gebieten gefunden hat, die dem Arzte zunächst sehr ferne lagen." 21 Den außerklinischen Untersuchungen kommt demnach hypothesenkonfirmierender Charakter zu, was ihrem empirischen Gehalt freilich keinen Abbruch tut. Ergebnis von Jungs Untersuchungen ist der Nachweis eines kollektiven Unbewußten, welches aus Archetypen besteht, die als psychische Anordner tätig sind und deren Wirken sich anhand des "empirischen" Fallmaterials nachweisen läßt. Wie Freud geht auch Jung von der Beobachtung seiner Patienten aus. In Gegensatz zu seinem Lehrer verweigert er sich aber ausdrücklich einer kausal orientierten Erklärungsmethode. Seine Lehre ist, in Hinblick auf Individuation und Ganzheitlichkeit, vielmehr ausgesprochen teleologisch ausgerichtet, was bei einer wissenschaftstheoretischen Würdigung der Analytischen Psychologie zu berücksichtigen ist. Über die prinzipielle Erkennbarkeit der Archetypen scheint sich Jung selbst nicht ganz im klaren gewesen zu sein. Zum Teil beschreibt er den Archetypus als eine "durch Introspektion erkennbare Form des apriorischen psychischen Angeordnetseins" 22 , geht also von seiner prinzipiellen Erkennbarkeit aus.Z3 An anderer Stelle spricht Jung, mit Blick auf die Theologie, davon, daß er sich "mit psychologischen Gegebenheiten befasse, welche sich an der Grenze des Erkennbaren bewegen. Psychologie ist eben gerade keine Theologie, sondern eine Naturwissenschaft, welche die erfahrbaren Phänomene zu beschreiben versucht." 24 Er sagt: "Der Archetypus ist das letzte, das ich von der Innenwelt erkennen kann." 25 Jung spricht auch wiederholt davon, seine Archetypenlehre sei lediglich eine "Hypothese" , ein "Modell", die psychische Energie eine "Hilfsvorstellung", die jederzeit durch bessere Modelle ersetzt werden könnten.Z6 In diesem Zusammenhang betrachtet er das Archetypenmodell als vergleichbar mit dem Atommodell der Physik.Z7 Den Vergleich mit der modernen
JGW 9 I, 255 FN 59. JGW 8, 575. 23 Vgl. auch JGW 8, 164: "Meine Gegenstände liegen innerhalb der Grenzen der Erfahrbarkeit." 24 JGW 14 II, 124. 2 5 C.G. Jung, Sinnfragen des Lebens, p. 347. 26 z.B. JGW 11, 334. 27 ib.; vgl. noch§ 26 D. 21
22
§ 17 Problemeröffnung und Lösungsansätze
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Physik betont er ohnehin wiederholt, wenn es um die Grenzen des Erkennens geht. Jung schreibt: "Die Erfahrung hat gezeigt, daß sowohl das Licht, als auch die Materie sich einerseits wie separate Partikel, andererseits wie Wellen verhalten. Dieses paradoxe Ergebnis machte auf der Stufe atomarer Größenordnung den Verzicht auf eine kausale Naturbeschreibung im gewöhnlichen Raum-Zeit-Kontinuum notwendig, an deren Stelle unanschauliche Wahrscheinlichkeitsfelder in mehrdimensionalen Räumen treten, die eigentlich den Stand unserer derzeitigen Kenntnis darstellen. Diesem abstrakten Erklärungsschema liegt ein Realitätsbegriff zugrunde, welcher grundsätzlich unvermeidliche Wirkungen des Beobachters auf das zu beobachtende System in Betracht zieht, wodurch die Realität ihren objektiven Charakter zum Teil einbüßt, und dem physikalischen Weltbild ein subjektives Moment anhaftet."28 "Die Physik bestimmt Quantitäten und deren Verhältnis zueinander, die Psychologie aber Qualitäten, ohne irgendwelche Mengen messen zu können. Trotz alledem gelangen beide Wissenschaften zu Begriffen, die sich bedeutsam einander annähern." 29 "Die Mikrophysik tastet sich in das Unbekannte der Materie vor, wie die komplexe Psychologie in das Unbekannte der Psyche. Beide Forschungsrichtungen gelangen zu Befunden, die sich nur durch Antinomien veranschaulichen lassen, und entwickeln Begriffe, die in mehr als einer Hinsicht merkwürdig analog sind." 30
Diese Begriffsverwandtschaft ist Jung ein Beweis fiir die Wissenschaftlichkeit seiner Theorie. Demnach müßte es auch legitim sein, an die Analytische Psychologie den strengen wissenschaftstheoretischen Maßstab nomothetischer Wissenschaften anzulegen. Andererseits hat Jung wiederholt zu erkennen gegeben, daß die Analytische Psychologie auch geisteswissenschaftliche Elemente enthält und ihr eine Art Zwischenstellung zukommt. Jung schreibt: "Die moderne, empirische Psychologie gehört in puncto ihres natürlichen Gegenstandes, und ihrer Methode nach, zu den Naturwissenschaften, in puncto ihrer Erklärungsweise aber zu den Geisteswissenschaften."31 Diese Charakterisierung ist nicht ohne weiteres verständlich, denn weder werden der Grund und die Konsequenzen dieses Auseinanderklaffens von Methode und Erklärung erörtert, noch die Frage nach der Möglichkeit solcherlei wissenschaftlichen Erkennens überhaupt gestellt. Und Zweifel an der Zuverlässigkeit solchen Vorgehens werden durch einen diffusen und logisch nicht weiter begründeten Hinweis auf die Dominanz des Unbewußten "ausgeräumt". "Dieser ,Zweideutigkeit' oder auch Zweispurigkeil halber haben sich schon Zweifel an ihrer Wissenschaftlichkeit erhoben, und zwar einesteils mit Hinsicht auf diese ihre Ambivalenz, andererseits mit dem Hinweis auf ihre sogenannte Willkürlichkeit. Was letztere anbelangt, so darf man nicht vergessen, daß es Menschen gibt, welche ihre psychischen Vorgänge als reine Willkürlichkeilen ansehen. Sie sind naiv davon JGW 8, 261. JGW 8, 265. 30 JGW 1411,317. 31 JGW 17, 106. 21 29
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3. Kapitel: Analytik
überzeugt, daß alles, was sie denken, fühlen, wollen usw. von ihrem Willen hervorgebracht, mithin willkürlich sei. (... )."32 Jung begründet hier scheinbar die Art seiner wissenschaftlichen Vorgehensweise durch ihr archetypisches "Gesteuert-sein", was offensichtlich in einen Zirkel führt, also keinen Erklärungswert besitzt. Überhaupt ist auffällig, daß Jung der Methode keinen großen Wert beizumessen scheint. "Beschränkt sich die Kritik auf die Methode, so könnte sie eines Tages leicht auf den Standpunkt geraten, die Existenz von Tatsachen zu bestreiten, weil die Methode ihrer Auftindung gewisse theoretische Mängel aufweise ( ... )."33 Damit wird die Methode in ihrer Funktion als ein Mittel der Erkennntis verkannt. Die Methode ist aber ein Apriori der Erkenntnis, und "gewisse theoretische Mängel" werden so zu materiellen Fehlern bei der "Tatsachengewinnung". Wenn Jung seinen Kritikern den Fehler vorwirft "die psychoanalytische Methode zu kritisieren, wie wenn sie auf aprioristischen Prinzipien beruhte, während sie doch in Tat und Wahrheit rein empirisch ist und einer endgültigen theoretischen Bearbeitung noch durchaus ermangelt"34 , so übersieht er selbst, daß erstens eine Gewinnung empirischer Daten ohne Zuhilfenahme apriorischer Prinzipien überhaupt nicht möglich ist, und zweitens, daß seine eigene Methode auf apriorischen Prinzipien beruht, die gleichzeitig Gegenstand des Erkennens sind, so daß man bei Jungs sogenannten "Tatsachen" tatsächlich von einem Artefakt der Methode sprechen kann. Wenn Jung schließlich - noch in Verteidigung der Freudschen Methode - schreibt: "Unsere Kritiker werden aber wohl kaum imstande sein, durch Bestreitung unserer Befunde uns zu einer geeigneteren und zugleich den Voraussetzungen der bisherigen Psychologie besser entsprechenden Technik zu verhelfen." 35 , so ist ihm zuzugeben, daß eine große methodische Schwierigkeit der zuverlässigen Erfassung psychischer Vorgänge besteht. Jung gesteht die Unzulänglichkeit der Methode ein, sein Versuch, seinen Kritikern die Verantwortung dafür zuzuschieben, geht aber argumentativ vollkommen fehl. Ein Mangel wird nicht mit dem Hinweis darauf behoben, daß seine Behebung nicht erbracht wird. Die Kritik an seinen Kritikern, um die es ihm stets vorrangig ging, ermöglicht es Jung jedenfalls, von der Kritik an seinen Theorien abzulenken. Aufschlußreich über das methodologische Selbstverständnis Jungs sind auch seine Äußerungen in einer Vorlesung aus dem Jahre 1924. Jung erklärt, in Abgrenzung der Analytischen Psychologie zu ,jeder früheren Psychologie" (womit er insbesondere auch die Psychoanalyse Freuds meint): "Ein anderer Unterschied liegt in der Forschungsmethode. Wir haben kein akademisches Laboratorium. Unser Laboratorium ist die Welt. Unsere Versuche sind wirkliche ib. JGW 4, 98. 34 ib. 35 ib. 32
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§ I 7 Problemeröffnung und Lösungsansätze
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Ereignisse des täglichen menschlichen Lebens und unsere Versuchspersonen sind unsere Patienten, Schüler, Angehörige, Freunde und - last not least - wir selber. Das Schicksal spielt dabei die Rolle des Experimentators. Es gibt keine Nadelstiche, künstliche Schocks, überraschende Lichter und all die vielfaltigen künstlichen Versuchsbedingungen des Laboratoriumsexperimentes, sondern es sind die Schmerzen und Freuden, die Fehler und Leistungen des wirklichen Lebens, die uns mit dem sogenannten Beobachtungsmaterial versehen. Unsere Methode ist das Begreifen des Lebens, wie es sich in der Seele des Menschen darstellt. Was wir durch dieses Verständnis lernen, soll - so ist meine aufrichtige Hoffnung - nicht versteinern in Form einer Theorie, sondern ein Werkzeug werden, das durch praktische Anwendung seine Eigenschaften verbessern wird, so daß es seine Absicht so vollkommen wie möglich erftillen kann. Die bessere Anpassung der menschlichen Lebensflihrung ist seine Absicht. So ist die analytische Psychologie eine ziemlich praktische Wissenschaft. Wir forschen nicht um der Forschung willen, sondern wegen der sehr unmittelbaren Absicht, zu helfen. Das ist ihre auffallende Eigentümlichkeit. Wir könnten ebensogut sagen, die Wissenschaft sei ihr Nebenprodukt, nicht ihre hauptsächliche Absicht, was wiederum ein großer Unterschied ist gegenüber dem, was man unter akademischer Wissenschaft versteht." 36
Dies ist ein eindeutiges Bekenntnis zur praktischen Tätigkeit des Therapeuten. Eine solche Haltung ist flir den Arzt durchweg legitim, sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Heiltätigkeit des Arztes auf gesicherten empirischen Einsichten beruht, sofern sie nicht bloße Scharlatanerei ist. Man kann die Wissenschaft somit schlechterdings nicht als "Nebenprodukt" bezeichnen, sondern muß sie vielmehr als Grundlage ansehen. Der Hinweis auf die praktische Seite der ärztlichen Heiltätigkeit entbindet daher nicht von der Frage nach der Zuverlässigkeit der Forschungsmethode, anhand derer Jung die Grundlagen seiner praktischen Tätigkeit (und damit gleichzeitig die Theorie) - insofern er sich nicht, wie die somatische Medizin, auf eine lange Tradition des Forschens zu stützen vennag - erst schafft. Wissenschaftliches Forschen und praktische Ausübung stehen in diesem Sinne durchaus in einem wechselseitigen Verhältnis, eine praktische Heiltätigkeit ohne Theorie ist nicht denkbar. Ob dieses Verhältnis tatsächlich auf ein Fundament gegründet ist, das ein empirisches Vorgehen erlaubt, wird gerade Gegenstand der Untersuchung sein. Im weiteren Fortgang seiner Erklärungen erläutert Jung vier Methoden, die die Werkzeuge seiner praktischen Tätigkeit darstellen, nämlich l. die Assoziationsmethode, wie sie von Freud herrührt; 2, die Symptomanalyse, die mit hypnotischer Suggestion arbeitet und der Jung selbst einen "lediglich historischen Wert" beimißt; 3. die anamnestische Analyse, die eine sorgfaltige Rekonstruktion der historischen Entwicklung der Neurose erbringen soll und bei der dem Patienten vom Analytiker Fragen vorgelegt und Fingerzeige und Erklärungen gegeben werden, mit deren Hilfe gewisse mangelhafte Zusammenhänge oder Lücken ausgefüllt werden können; und 4. die Analyse des Unbewußten (wozu 36
C.G. Jung, Analytische Psychologie und Erziehung, p. 39 f.
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3. Kapitel: Analytik
z.B. die Traumdeutung gehört), die durch die anamnestische Analyse vorbereitet wird und erst einsetzt, wenn das bewußte Material völlig erschöpft ist. 37 Von der Amplifikationsmethode, die eine Fortführung der Assoziationsmethode darstellt, ist hier noch nicht die Rede. Jung betont allerdings ausdrücklich die besondere Bedeutung der persönlichen Beziehung zwischen Analytiker und Patient, welche unter anderem nötig sei, um die Träume des Patienten richtig zu verstehen. "Daher hat nicht nur im Beginn, sondern während des ganzen Verlaufes einer Analyse der persönliche Kontakt das Hauptobjekt der Beobach. ( .... ) "38 tung zu sem Diese solchermaßen von Jung gezeichnete klinische Situation muß zugrundegelegt werden, wenn die Frage gestellt wird, ob unter solchen Bedingungen die Gewinnung zuverlässiger Daten überhaupt möglich ist. Dabei werden gerade der "persönliche Kontakt" und die "Fingerzeige und Erklärungen", die Jung ein Hilfsmittel der Erkenntnis sind, im Mittelpunkt der Kritik stehen. Zwischen den von Jung unterschiedenen Methoden braucht dabei nicht differenziert zu werden, da ihr Anwendungsbereich gleichermaßen die klinische Situation ist. B. Analytische Psychologie als Natur- und Geisteswissenschaft
Die Jung-Schülerin Toni Wolff9 charakterisiert die Methode der Analytischen Psychologie als "Synthetisierung des verallgemeinemden und des individualisierenden Verfahrens"40 , wobei sie sich an die Unterscheidung Rickerts von Natur- und Kulturwissenschaften anlehnt, die sich durch ein generalisierendes bzw. ein individualisierendes Verfahren auszeichnen. 41 Naturwissenschaftlich verfahre die Analytische Psychologie, sofern sie sich mit kollektiven Aspekten der Psyche, d.h. mit der Typologie, mit Instinkten, Trieben, Archetypen und der Energetik beschäftige, kulturwissenschaftlich dagegen, sofern es um die psychischen Besonderheiten des Einzelnen gehe. - Diese Einschätzung stützt sich allerdings auf eine untaugliche Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften; die Rechtswissenschaft beispielsweise, der es unter anderem um die zutreffende Induktion von allgemeinen Rechtssätzen aus Einzeitallen geht, ist trotz dieses generalisierenden Verfahrens keine Naturwissenschaft. Außerdem stellt gerade die Frage nach der Möglichkeit und Art und Weise eines generalisierenden bzw. individualisierendenVorgehensein zentrales Problem der Wissenschaftstheorie dar. Die Untauglichkeit der Unterschei37
ib. p. 42 ff., ib. p. 49. 39 T. Wolff, Studien zu C.G. Jungs Psychologie, p. 17 ff. 40 ib. p. 74 f. 41 Vgl. dazu auch F. v. Kutschera, Erkenntnistheorie, p. 135 f. 38
§ 17 Problemeröffnung und Lösungsansätze
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dungzeigt sich bei Wolff z.B. in der Zusammenfassung von Instinkten, Archetypen und Typologie unter die natmwissenschaftliche Komponente, obwohl Instinkte als biologische Phänomene in ganz anderer Weise belegbar sind als Archetypen, und eine Typologie nichts Vorgefundenes, sondern bereits eine Verallgemeinerung darstellt. Zweitens ist Wolffs Argumentation zirkulär, indem sie kollektive und individuelle Aspekte der Psyche voraussetzt und dadurch die Methode begründet. Methodologische Überlegungen vollziehen sich immer im Rahmen einer Meta-Theorie, die freilich ihrem Gegenstand angemessen sein muß. Ihr Gegenstand ist (hier) aber nicht die Psyche, sondern die Psychologie. Gegen Ende ihrer AusfUhrungen beweist T. Wolff die Unbrauchbarkeit der aus der Schule Jungs stammenden "kritischen" Überlegungen zu dessen Werk, indem sie zunächst unter Hinweis auf die besondere Stellung der Psychologie unter den Wissenschaften pauschal feststellt, daß die Methode "durch ihren Gegenstand gegeben" und "eine Frage der Einstellung" sei und sodann die Richtigkeit der Methode unter Berufung auf "das Einmalige und Unwiederholbare von Jungs psychologischem Geiste" "belegt". 42 Damit ist freilich keinerlei Aussage über die Methode getroffen. C. Analytische Psychologie als ganzheitliche Wissenschaft
Einen bemerkenswerten Ansatz zur Einordnung der Analytischen Psychologie als Wissenschaft bietet M. Kuni3 , der die Jungsehe Unterscheidung der vier Modi des Erfassens: Empfinden, Denken, Fühlen, Intuition44 fUr die Beantwortung der Frage fruchtbar zu machen versucht.45 Das Empfinden, so Kunz, das nach Jung feststellt, daß etwas ist, stehe fUr die Empirie und ihre Forderung nach Vorurteilslosigkeit und Wertfreiheit; das Denken repräsentiere ib. p. 75 f. M. Kunz, Perspektiven und Aspekte des Weltbildes von Jung, p. 126 ff. 44 Vgl. JGW 6, 599: "Der Empfindungsvorgang stellt im Wesentlichen fest, daß etwas ist, das Denken, was es bedeutet, das Gefühl, was es wert ist, und die Intuition ist Vermuten und Ahnen über das Woher und das Wohin." 45 Einen ähnlichen Ansatz hat allerdings schon J.R. Royce, The Encapsulated Man, p. 12 ff. vertreten. E.D. Cohen, C.G. Jung and the Scientific Attitude, p. 91 urteilt darüber und über die "empirische" Haltung Jungs, die sich u.a. auf eher unorthodoxe Methoden wie astrologische Untersuchungen, Erfahrungen mit dem Yi Jing und Berichte über Geistererfahrungen stützt: "All these speculations Iead to the same obscure destination. lt does not matter whether we call it a prima! state, a oneness-continuum, or ultimate reality. The discrepancies in man's knowledge are due to his inherent onesidedness and Iimitation of perspective. The way science grows by replacing one formulation with a more comprehensive one, by going from the greater to the lesser fiction, implies this Iimitation and takes it into account. These speculations have carried us very far from the·human condition. When persued to its ultimate extent, Jung's work Ieads us to very abstruse regions." 42
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II LOifclmaua
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3. Kapitel: Analytik
die hypothetischen Konstruktionen, also Theorien und Erklärungen; das Fühlen, das bei Jung eine rationale Funktion im Sinne von Werten ist, bedeutet den Umstand, daß vor allem Faktensammeln und nach aller Theorie stets noch ein Prozeß der Wertung notwendig ist; das lntuieren schließlich stehe für den schöpferischen Anteil der Theorienbildung. Jungs Werk sei von allen vier Fragehaltungen geprägt: "Der Realismus des Empfindens, das abstrahierende und generalisierende Denken, das Fühlen als individualisierendes Werten und die objektiven Sinn offenbarende Intuition machen die Fülle seines Forschens aus." 46 Damit gelingt es Kunz zwar, einen Ansatz zur Evaluierung von Jungs Theorien anhand von dessen eigenen Maßstäben zu schaffen (eine Evaluierung allerdings, die nicht im einzelnen durchgeführt und mit Beispielen belegt wird), gleichzeitig bleibt er aber die Antwort auf die Frage nach dem wissenschaftstheoretischen Standort der Analytischen Psychologie und nach der Legitimität ihres Vorgehens schuldig, da er keine weiteren Konsequenzen aus dem (angeblichen) Vorhandensein der vier Modi des Erfassens zieht. So steht nach Kunz' Interpretation z.B. der Vorwurf des Methodensynkretismus im Raum und die Gefahr der Ausbildung von ad-hoc-Hypothesen, mit denen unter Hinweis auf die diversen Modi des Erfassens methodische Ungenauigkeiten gerechtfertigt werden können; außerdem stellt sich die Frage nach der wissenschaftlichen Tauglichkeit aller vier Modi oder der eventuellen Notwendigkeit ihrer teilweisen Eliminierung. Die Modi des Erfassens verfolgen eine erkenntnistheoretische Fragestellung, die zwar mit der wissenschaftstheoretischen Problematik eng zusammenhängt, aber nicht mit ihr identisch ist.
D. Analytische Psychologie als phänomenologische Wissenschaft Ein weiterer Ansatz zur wissenschaftstheoretischen Einordnung der Analytischen Psychologie ergibt sich aus dem von ihr in Anspruch genommenen "phänomenologischen Standpunkt".47 Jung schreibt: "Psychologie kann und will keine metaphysische , Wahrheit' feststellen. Sie beschäftigt sich ausschließlich mit psychischer Phänomenologie. " 48 E. Husserl unterscheidet, seinem phänomenologischen Vorverständnis entsprechend, zwischen Erfahrungswissenschaften und eidetischen Wissenschaften. "Die Erfahrungswissenschaft geht dem Dasein nach, die eidetische dem Wesen ( ...). Überall geht die eidetische Wissenschaft der Erfahrungswissenschaft vorher."49 Dementsprechend gibt es auch eine eidetische Psychologie auf 46 M. Kunz, Perspektiven und Aspekte des Weltbildes von Jung, p. 130.
Vgl. näher§ 27. JGW 181, 335; vgl. JGW 17, 102 f. 49 E. Husserl, Husserliana Band V, p. 42. 47
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Grundlage der phänomenologischen Methode. Jungs Wissenschaft könnte also, ihrem dgenen Anspruch entsprechend, sich einer phänomenologischen Methode zu befleißigen, eine eidetische sein. Als solche könnte sie jedoch keinesfalls eine empirische sein, sich also nicht auf die induktive Gewinnung von Erkenntnissen aus "Tatsachen" stützen. Sie könnte allerdings sowohl eidetische als auch empirische Wissenschaft sein, nämlich ersteres in einem vorbereitenden Vorstadium, letzteres als erfahrende Einzelwissenschaft. Abgesehen davon, daß sie ihre Ergebnisse gerade nicht in Vollzug einer phänomenologische Methode erbringt, wofür der Nachweis zunächst noch zurückgestellt sein soll was würde sich nach phänomenologischer Ansicht dann für ihre Methode als Erfahrungswissenschaft ergeben? E. Husserl: "Nicht, was sich ,moderne Wissenschaft' nennt, und nicht, die sich ,Fachmänner' nennen, machen die Methode, sondern das Wesen der Gegenstände und das zugehörige Wesen möglicher Erfahrung von Gegenständen der betreffenden Kategorie (das ist das Apriori der phänomenologischen Konstitution) schreibt alles Prinzipielle der Methode vor, und es charakterisiert den genialen Fachmann, dieses intuitiv zu erfassen (wenn auch nicht philosophisch auf strenge Begriffe und formulierte Normen zu bringen) und danach die besonderen Probleme und die besonderen Methoden zu orientieren."50 Demnach käme es also dem Genius Jungs zu, das absolut unüberschreitbare Apriori, das die Wissenschaft methodisch begründet, durch phänomenologische Intuition zu "schöpfen". Diese Auffassung entbehrt nicht einer gewissen Realitätsnähe und würde wohl auch die ungeteilte Zustimmung Jungs erfahren, als Kriterium fllr die methodische Begründung einer Wissenschaft ist der Genius allerdings nicht besonders verläßlich, wenn er sich nicht auch an anerkannten methodischen Vorgaben orientiert. Husserls phänomenologische Fundierung bedeutet aber gar nicht unbedingt eine Aufweichung des Methodenbegriffs. Der Genius soll nur alles Prinzipielle der Methode aus dem Gegenstand schöpfen; dies impliziert erstens eine besondere Vorsicht gegenüber und Vertrautheit mit dem Gegenstande (die Jung hier nicht abgesprochen werden soll), und zweitens schließt es nicht die Erstellung einer differenzierten, in jeder Hinsicht wissenschaftstauglichen Methode aus, macht diese aber auch nicht entbehrlich. Daß die Methode dem Gegenstand angemessen sein soll und daher jede Wissenschaft ihre eigene Methode entwickelt, ist eigentlich selbstverständlich. Sie muß diese Methode aber auch entwickeln und sich nicht, wie Jung, jeglicher Methodik verschließen. Eine solche entwickelte Methodik kann dann freilich auch an anderen Kriterien gemessen werden als an phänomenologischen.
50
ib. p. 22.
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3. Kapitel: Analytik E. Der Rückgang auf Freud
Wenn die phänomenologische Intuition ein geeignetes Mittel ist, Prinzipien der Methode zu schöpfen51 , so müßte in methodischer Hinsicht- jedenfalls die klinischen Leistungen betreffend - ein Zugang zum wissenschaftstheoretischen Standort der Analytischen Psychologie auch über die Psychoanalyse Freuds erfolgen können, da es beiden, Freud und Jung, wie hier unterstellt sein soll, wohl nicht am Genius mangelte und ihre Wissenschaften prinzipiell auch denselben Gegenstand betreffen. 52 Sorgfältigere bzw. dem Gegenstand angemessenere Auseinandersetzungen mit der Tiefenpsychologie als Wissenschaft finden sich in Hinblick auf das Freudsche Werk zuhauf. Eine Übersicht verschiedener Ansätze bietet H.-1. Möller53 , der die Psychoanalyse Freuds in das Spannungsfeld realwissenschaftlichen und hermeneutischen Wissenschaftsverständnisses stellt. Da es hierbei um die Psychoanalyse als Wissenschaft geht, sind die Überlegungen zur Psychoanalyse Freuds auch flir die Analytische Psychologie von Bedeutung, und es kann eine Annäherung an den Jungsehen Standpunkt auch von dieser Seite erfolgen, umso mehr, als die Amplifikationsmethode Jungs auf die Assoziationsmethode Freuds, die insbesondere Gegenstand der Kritik von Grünbaum ise4, zurückgeht. Auf wissenschaftstheoretische Einschätzungen der Psychoanalyse Freuds wird daher wiederholt zurückgekommen. Eine besondere Schwierigkeit der wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie liegt darin, daß diese Wissenschaft die Psyche selbst zum Formalobjekt hat, wodurch sich ein Zirkel zwischen Theorie und Metatheorie ergibt, da letztere wiederum Gegenstand der Theorie ist. Jung hat diesen Umstand berücksichtigt, indem er der Psychologie einen Standpunkt zugesprochen hat, der mit dem aller anderen Wissenschaften nicht vergleichbar sei. 55 Damit hat er sich aber auch den wissenschaftstheoretischen FragestellunZu allgemeinen Einwänden gegen die phänomenologische Methode vgl. § 27 F. Das wird allerdings von manchen bestritten; vgl. C. Landry, Ein Vergleich der Theorien von Freud und Jung, p. 118 f., 147, die die Unterschiede der Theorien darauf zurückfuhrt, daß Freud v.a. neurotische Störungen untersucht hätte, Jung hingegen auch psychotische. 53 H.-J. Möller, Psychoanalyse - erklärende Wissenschaft oder Deutungskunst? (1978). 54 Vgl. § 19. 55 Vgl. JGW 3, 255; 8, 247 ff., 254 f. zit. unten § 30 A; C.G. Jung, Erinnerungen, p. 352 f.; JGW 11, 53: "Es gibt keinen archimedischen Punkt, von dem aus man urteilen könnte, da die Psyche ununterscheidbar ist von ihrer Manifestation. Die Psyche ist das Objekt der Psychologie und unglücklicherweise zugleich auch ihr Subjekt. Über diese Tatsache kommen wir nicht hinweg." vgl. dazu auch T. Wolff, Studien zu C.G. Jungs Psychologie, p. 17: "Die Psychologie nimmt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung unter den Wissenschaften ein. Sie unterscheidet sich darin von allen anderen em51
52
§ 17 Problemeröffnung und Lösungsansätze
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gen entzogen. Diese Schwierigkeit der Bestimmung des wissenschaftlichen Standorts der Psychologie wird jedenfalls die nachfolgenden Ausführungen begleiten. Fraglich ist auch, welche Maßstäbe an die Psychologie angelegt werden sollen. Die enge Anlehnung Freuds an die Biologie und die Naturwissenschaften im allgemeinen sowie seine kausalistische Terminologie legen es nahe, die Psychoanalyse als nomothetische und erklärende Wissenschaft zu behandeln, sie also an einem strengen Begriff von Wissenschaftlichkeit zu messen, wie er etwa vom Neopositivismus und Neorationalismus vertreten wurde. Dazu verleitet auch bei Jung, obwohl dessen Denken wesentlich assoziativer und weniger kausalistisch ausgerichtet wirkt, die wiederholte Betonung des empirischen Vorgehens und im besonderen die (angebliche) Nähe zwischen Analytischer Psychologie und dem Selbstverständnis der modernen Physik. Als Ausgangspunkt ftir die Untersuchung der empirischen Fundiertheit der Theorien Jungs kann also der angebliche Hypothesencharakter der Erkenntnisse der Analytischen Psychologie und der von Jung herangezogene Vergleich mit den Modellen der Atomphysik dienen, die die Berechtigung dafür erbringen, die Analytische Psychologie zunächst als kausal erklärende Wissenschaft zu befragen. F. Tiefenpsychologie als kausal erklärende Wissenschaft
Für nomothetische Wissenschaften ist es typisch, daß sie, weil sie die Zusammenhänge zwischen den Dingen, ihre Gesetzmäßigkeiten untersuchen, eine Ursachenforschung betreiben und Erscheinungen kausal begründen. Als Modell nomologischer Erklärungen gilt das nach seinen Begründern sogenannte Hempei-Oppenheim-Modell der Erklärung (H-O-Modell). Diesem Modell zufolge liegt (in seiner induktiv-probabilistischen Ausgestaltung, die für die mit Wahrscheinlichkeitsaussagen operierende Psychoanalyse einschlägig ist; im Gegensatz zur deduktiv-nomologischen) eine Erklärung dann vor, wenn ein zu erklärendes Ereignis (Explanandum) aus einem Explanans, d.h. anderen Ereignissen (Antecedensbedingungen) und mindesten einer Gesetzeshypothese logisch abgeleitet werden kann. Das Explanans muß dabei bestimmten Voraussetzungen genügen, insbesondere muß es empirisch gut bestätigt sein und empirischen Gehalt besitzen, d.h. der Möglichkeit offenstehen, durch Erfahrung widerlegt zu werden. 56 pirischen Disziplinen, daß ihr Gegenstand, die Psyche, zugleich auch die subjektive Voraussetzung der Erkenntnis ist, gleichviel, ob der Forscher an anderen oder an sich selber beobachtet. Daher liegt denn auch die einzige Garantie filr wirkliche Objektivität in Jungs Forderung einer Kritik der subjektiven Voraussetzungen in bezugauf die psychologische und weltanschauliche Prämisse des Forschenden." 56 Vereinfachend nach W. Stegmüller, Probleme und Resultate, p. 120 ff.,
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3. Kapitel: Analytik
Perrez57 hat sich unter Verwendung des H-O-Modells der berühmten "Wolfsmann"-Analyse Freuds58 angenommen und diese als den empirischen Adäquatheitsbedingungen im Explanans nicht genügend beurteilt: die Hypothesen seien nicht durch unabhängige Testverfahren hinreichend bestätigt worden, und die Datengewinnung durch die Methoden der freien Assoziation und der Traumdeutung schließe Suggestiveffekte nicht aus, die im Explanans aufgestellten Sätze könnten also ein Artefakt der Methode sein. Subsumiert man die Elemente der Analytischen Psychologie unter das Modell, so wäre das Explanandum beispielsweise der archetypische Traum, als Antecendensbedingungen hätte man die archetypischen Elemente des Unbewußten einzusetzen, die Gesetzeshypothese wäre die "Grundregel der modernen Psychologie": das kompensatorische Verhältnis zwischen Bewußtsein und Unbewußtem. 59 Es läßt sich nun anband dieser Subsumtion sofort erkennen, daß der Schluß an den Unzulänglichkeiten im Explanans krankt. Die archetypischen Elemente des Unbewußten sind keine empirisch gut bestätigten Tatsachen, sondern selbst Hypothesen - was ja auch Jung betont -, die durch das zu erklärende Ereignis erklärt werden. Es handelt sich also um einen offensichtlichen Zirkel zwischen Theorie und Erfahrung. Es ist auch nicht ersichtlich, wie die Archetypen durch Erfahrung widerlegt werden könnten. Möglicherweise könnten die Archetypen jedoch als Hypothese empirisch bestätigt werden. Jung zieht, wie erwähnt, den Vergleich mit dem Atommodell. Das Atommodell beruht auf einer experimentellen Anordnung, bei der ein Ereignis (z.B. eine Spur in der Nebelkammer) durch ein anderes Ereignis (die Versuchsanordnung) und eine Modellvorstellung erklärt werden kann. Dieser Versuch ist wiederholbar, wodurch sich Bestätigungen und unter Umständen auch Widerlegungen der Theorie ergeben können. Der Archetypus soll empirisch belegt sein durch jene verwandten Strukturen, wie sie in Produkten psychischer Betätigung, also in Symbolen, Mythen, Märchen, Träumen, Visionen usw. auftauchen. Eine Versuchsanordnung könnte nun so aussehen, daß man wie Jung es auch mit seinen Mandala-Experimenten betrieben hat -, die Versuchspersonen derartige Produkte hervorbringen läßt und sie auf ihre strukturellen Gemeinsamkeiten untersucht. Vom Ansatz her scheint die Methode Jungs diesen Weg zu gehen. Zweierlei ist aber höchst problematisch. Erstens: Das zu erklärende Ereignis kann nicht, wie Jung sagt60, nach Quantitäten bestimmt werden, sondern nur nach Qualitäten. Damit erlangt die M. Perrez, Ist die Psychoanalyse eine Wissenschaft? ( 1972). FGW 12, 27 ff. 59 Vgl. z.B. JGW 11, 596. 60 JGW 8, 265. 57 58
§ 17 Problemeröffnung und Lösungsansätze
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Beteiligung des Analytikers, der diese Qualitäten bestimmt, eine andere Bedeutung als jene des Naturwissenschaftlers bei der Deutung einer Spur in der Nebelkammer. Inwiefern strukturelle Gemeinsamkeiten oder Unterschiede tatsächlich bestehen, ist zum großen Teil eine Sache der individuellen Interpretation, die naturgemäß vom jeweiligen Vorverständnis geleitet, also theoriebeladen ist. Es handelt sich hierbei nicht um einen prinzipiellen Einwand gegen die psychologische Methode, welche die Möglichkeit einer intersubjektiven Verifizierung unbeschadet läßt, sondern um den Aufweis der Gefahr des zirkulären Begründens, das die Theorie gegen Erfahrung immunisiert, da die Erfahrung stets von neuem an der Theorie gemessen wird und nicht die Theorie an der Erfahrung. Eine ähnliche Problematik ergibt sich, zweitens, auf seiten der Antecendensbedingungen. Auch diese müssen hinreichend empirisch bestimmt sein, es müssen gleichartige Versuchsbedingungen vorliegen. Da es die Psychologie hier nicht mit einer weithin trägen Materie zu tun hat, sondern mit Menschen, d.h. Personen, ergibt sich das schwierige Problem des wechselseitigen Verhältnisses von Analytiker und Analysand. Jung betont wiederholt, daß es ihm um den Einzelfall gehe. "Der Arzt will und muß auch die Einzelheiten kennen, um sich ein authentisches Wissen um das psychische Inventar seines Patienten zu erwerben. Er hat sich daher mit der Individualität des Kranken in Beziehung zu setzen und Kenntnis von seiner persönlichen und intimsten Geistesverfassung zu nehmen ( ... )."6 1 "Die Psychotherapie ist, im Grunde genommen, eine dialektische Beziehung zwischen Arzt und Patient. Es ist eine Auseinandersetzung zwischen zwei seelischen Ganzheiten, in welcher alles Wissen nur Werkzeug ist."62 Diese Problematik hat sich bereits für Freud in der Entstehung sogenannter "Widerstände" gezeigt, welche die Therapie behinderten63 , und sie mündet in den Vorwurf der Suggestion, welcher die Arbeit der Therapeuten immer wieder begleitet hat. Auf Grundlage dieser Überlegungen ergeben sich somit zwei Problemkreise, die einen Unterschied zwischen psychologischen und physikalischen Modellvorstellungen aufweisen und jedenfalls die vordergründige und unkritische Gleichsetzung derselben durch Jung als unberechtigt erscheinen lassen. Der eine Problemkreis betrifft das Verhältnis zwischen Analytiker und Analysand und mündet in die Suggestionsproblematik. Der andere betrifft das notwendige Vorwissen des Interpreten und mündet in den Vorwurf der zirkulären Begründung. Beide Problemkreise sind schon gegen die Psychoanalyse Freuds geltend gemacht worden, und sollen, ihrer zentralen wissenschaftstheoretischen - und
JGW 10,316. JGW II, 598. 63 Vgl. § 2.
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3. Kapitel: Analytik
auch wissenschaftsgeschichtlichen - Bedeutung wegen, eine nähere Betrachtung erfahren.
§ 18 Die Kritik Poppers: Der Vorwurf der Immunisierung A. Die dogmatische Haltung der Tiefenpsychologie Einer der energischsten Kritiker der Psychoanalyse war Karl Popper. 64 In ihr sah er (neben der marxistischen Theorie) die Pseudowissenschaft par excelIence, im Gegensatz zu Einsteins Relativitätstheorie, die ihm als Paradigma von Wissenschaftlichkeit galt. Da eine empirisch-wissenschaftliche Theorie nach Popper niemals induktiv, durch sukzessive Anhäufung ähnlicher Beobachtungen aufgestellt wird, sondern Ergebnis eines kreativen Akts, einer Hypothese, ist, zeichnen sich echte wissenschaftliche Theorien dadurch aus, daß sie nur so lange Gültigkeit beanspruchen, bis sie widerlegt sind, was ihre grundsätzliche Falsifizierbarkeit voraussetzt. "Wir fordern zwar nicht, daß das System auf empirisch-methodischem Wege endgültig positiv ausgezeichnet werden kann, aber wir fordern, daß es die logische Form des Systems ermöglicht, dieses auf dem Wege der methodischen Nachprüfung negativ auszuzeichnen: Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können. " 65 Und in "Conjectures and Refutations" betont er: "Irrefutability is not a virtue of a theory (as people often think) but a vice." 66 Dieses Laster sah er aber gerade in den psychoanalytischen Theorien verwirklicht, die sich, indem sie jeden nur denkbaren Fall erklären, gegen die Falsifizierung immunisieren.67 Er gibt dazu folgendes Beispiel: "that of a man who pushes a child into the water with the intention of drowning it; and that of a man who sacrifices his Iife in an attempt to save the child. Each of these two cases can be explained with equal ease in Freudian and in Adlerian terms. According to Freud the first man suffered from repression (say, of some component of his Oedipus complex), while the second man had achieved sublimation. According to Adler the first man suffered from feelings of inferiority (producing perhaps the need to prove to hirnself that he 64 Einfilhrend zu Popper vgl. die Beiträge in K. Salamun (Hrsg.), Was ist Philosophie?, p. 203 ff. 65 K.R. Popper, Logik der Forschung (1935), p. 15. 66 K.R. Popper, Conjectures and Refutations (1963), p. 36. 67 ib. p. 34 f. : "These theories (Marx', Freuds und Adlers) appeared tobe able to exp1ain practically everything that happened within the fields to which they referred. ( .. ) every conceivable case could be interpreted in the light of Adler's theory, or equally of Freud's. ( ..)I could not think ofany human behaviour which cou1d not be interpreted in terms of either theory." ib. p. 37: "The two psycho-analytic theories were in a different dass. They were simply non-testable, irrefutab1e. There was no conceivable human behaviour, which could contradict them." vgl. das Beispiel, p. 35.
§ 18 Die Kritik Poppers: Der Vorwurf der Immunisierung
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dared to commit some crime), and so did the second man (whose need was to prove to himself, that he dared to rescue the child)."68 Den Grund fur die Nichtfalsifizierbarkeit der Theorie sah Popper darin, daß die klinischen Beobachtungen "Interpretationen im Lichte von Theorien"69 seien, Ausdruck eines theoriegeleiteten Erfahrungshorizonts, mithin Ergebnisse eines circulus vitiosus zwischen Theorie und Erfahrung. Darüber hinaus, warf er der Psychoanalyse vor, bediene sie sich des Einsatzes von ad-hoc-Hypothesen, etwa der Unterstellung unbewußter Widerstände seitens des Kritikers, mit denen die Kritik nicht nur entwertet, sondern sogar in einen Beleg fur die Wahrheit der Theorie umgewertet werde. "Der Psychoanalytiker kann jeden Einwand hinwegerklären, indem er zeigt, daß er das Werk der Verdrängung des Kritikers ist." 70 Demzufolge sprach Popper der Psychoanalyse eine dogmatische (im Gegensatz zur kritischen) Haltung zu. 71 Poppers Standpunkt relativiert sich allerdings insofern, als er den Mangel an Falsifizierbarkeit nicht - wie häufig mißverstanden 72 - als Zeichen der Sinnlosigkeit wertet, sondern allein als ein Demarkationskriterium fur die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Metaphysik. 73
68 ib. p. 35. Zu dieser Thematik äußert sich auch Jung, der den Grund für die verschiedene Erklärbarkeit psychologischer Phänomene in der Unsicherheit der Theorien von Freud und Adler sieht. "Bei dieser Unsicherheit ist es daher nicht erstaunlich, daß in der Mehrzahl von Fällen die neurotische Symptomatologie beinahe widerspruchslos durch beide Theorien erklärt werden kann." (JGW 10, 317 f.). 69 K.R. Popper, Logik der Forschung, p. 72. 7° K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, p. 264; id., Conjectures and Refutations, p. 35: "Whatever happened always confirmed it. Thus its truth appeared manifest; and unbelievers were clearly people who did not want to see the manifest truth; who refused to see it, ( .. ) because of their repressions which were still 'unanalysed' and crying aloud for treatment." ib. p. 37: "Some genuinely testable theories, when found to be false, are still upheld by their admirers - for example by introducing ad hoc some auxiliary assumption, or by re-interpreting the theory ad hoc in such a way, that it escapes refutation. Such a procedure is always possible, but it rescues the theory from refutation only at the price of destroying, or at least lowering, its scientific status." 71 ib. p. 49. 72 so Popper, ib. p. 258. 73 ib. p. 257 f. : "( .. ) beginning with my first publication on this subjekt, I stressed the fact that it would be inadequate to draw the line of demarcation between science and metaphysics so as to exclude metaphysics as nonsensical from a meaningful language. ( ..) I only wish to make clear, that ifthis view is accepted, then it would be strange to call metaphysical statements meaningsless ( ..)." vgl. auch K.R. Popper, Logik der Forschung, p. 15 Fn 3.
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3. Kapitel: Analytik
B. Übertragung und Kritik
In einer späteren Schrift weitet Popper seinen Vorwurf auch auf Jung aus, ohne aber auf die Besonderheiten der Analytischen Psychologie näher einzugehen.74 Tatsächlich scheint der Vorwurf der Immunisierung in erhöhtem Maße auch auf die Theorien Jungs zuzutreffen, denn Jung verfolgte, wie sich aus einer Gesamtschau seines Werkes erkennneo läßt, den universalen Anspruch, anhand seiner Theorien jedes mit der Psyche in Zusammenhang stehende Phänomen zu erklären, was sich nicht zuletzt in seinen weitläufigen Stellungnahmen zu den verschiedensten Themengebieten äußert. 75 Beispielhaft fur eine ad-hocHypothese ist das vielgeäußerte "Dogma" der Jungianer, das dem nicht psychologisch und durch Selbsterfahrung geschulten Kritiker von vomherein die nötige Kompetenz abspricht: "Psychologisch kann man nur jenes verstehen, das man selbst erfahren hat." 76 Zum Teil wird daher nicht zu Unrecht bemerkt, daß dies der Analytischen Psychologie die Anhaftung von etwas "esoterischem" verleihe.77 Eine weitere ad-hoc-Hypothese, die bei Jung gelegentlich anklingt, ist die Einschätzung der Kritik an der Archetypentheorie als modernes Beispiel fiir den Universalienstreit, den Jung mit Hilfe seiner Theorie einer Lösung zugefiihrt zu haben glaubt. 78 Fraglich ist allerdings, ob Poppers Vorwurf an sich gerechtfertigt ist. Der Hinweis darauf, daß der gleiche Sachverhalt sowohl in Freudschen als auch in Adlersehen oder Jungsehen Begriffen erklärt werden könne, ist noch kein Argument fiir fehlende Wissenschaftlichkeit. Auch ein physikalisches Ereignis kann z.B. sowohl in Begriffen der klassischen Physik als auch in denen der Relativitätstheorie ausgedrückt werden. T.S. Kuhn79 hat gezeigt, daß die Geltung einer Theorie keineswegs auf ihrer Richtigkeit beruht, sondern darauf, wie sie sich innerhalb eines geltenden Paradigmas bewährt und welche Anerkennung sie findet. Danach können aber auch mehrere einander widersprechende Theorien - wie im angefiihrten Beispiel - nebeneinander stehen, insofern sie nämlich unterschiedlichen Verwendungen, z.B. praktischen oder theoretischen, dienlich sind. Was Popper mit seinen Beispielen demonstriert, ist nur die 74 Vgl. K.R. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, p. XXVIII (Einleitung 1978); id., Objektive Erkenntnis, p. 50 FN 5; id., Ausgangspunkte, p. 54. 75 Vgl. den Vorwurf von Keintzel, Jung habe alles erklären wollen und deshalb gar nichts erklärt .. vgl. E.D. Cohen, C.G. Jung and the Scientific Attitude, p. 92 ff. zu Jungs Stellungnahmen über Fliegende Untertassen, Nazis, Juden, Indianer, Schwarze und Frauen, den kalten Krieg, die Probleme des modernen Lebens und psychedelische Drogen. 76 Vgl. R. Keintzel, C.G. Jung, p. 7. 77 Vgl. dazu JGW 10,510, wo Jung den Vorwurf abwehrt. 78 Vgl. M. Kunz, Perspektiven und Aspekte des Weltbildes von Jung, p. 67. 79 T.S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (1962).
§ 18 Die Kritik Poppers: Der Vorwurf der Immunisierung
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grundsätzliche und abstrakte Möglichkeit der Erklärbarkeil eines Sachverhalts durch eine Theorie. Damit ist nichts darüber ausgesagt, ob diese Theorie auch auf eben jenen Sachverhalt anwendbar ist, ob sie richtig angewandt und ob der Sachverhalt zutreffend gedeutet wurde. Da gerade nach Poppers Ansicht eine Theorie lediglich Hypothesencharakter hat, sagt sie zunächst nichts über die Wirklichkeit aus, auch wenn sie diese zu erklären vermag. Im konkreten Fall hätte vielmehr anhand psychologischer Untersuchungen festgestellt werden müssen, ob die Personen tatsächlich an Minderwertigkeitskomplexen oder ähnlichem gelitten haben. Dabei könnte sich durchaus, z.B. durch Vergleiche mit anderen Fällen, auf deren Beobachtung die jeweilige Theorie beruht, zeigen, daß jener Fall nicht dem üblichen Krankheitsbild entspricht, was Anstoß zu einer Modifizierung der Theorie sein könnte. Freud hat seine Konzeption der Libidotheorie, die ursprünglich auf den gemeinsam mit Breuer betriebenen "Studien über Hysterie" beruhte, zweimal revidiert (d.h. auch: falsifiziert), und zwar jeweils aufgrundder Entdeckung neuer Krankheitsfelder, nämlich einmal der sogenannten "narzistischen Neurosen" wie Schizophrenie, die Anlaß zu einer Gruppierung der Triebe in Form von Ichlibido und Objektlibido gab, und ein weiteres Mal aufgrund von Unfall- und Kriegsneurosen, in denen keine libidinöse Problematik entdeckt werden konnte und die zur Postulierung des Destruktionstriebes fiihrten. Damit will gesagt sein: der Umstand, daß zunächst keine Sachverhalte erkennbar sind, die mit der Theorie nicht erklärt werden können, sagt nichts darüber aus, daß es solche Sachverhalte nicht tatsächlich gibt und sie noch erkannt werden können; und zweitens, der Umstand, daß solche Sachverhalte im Sinne der Theorie gedeutet werden können, sagt nichts über Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit dieser Deutung, d.h. Anwendbarkeit der Theorie auf diesen Sachverhalt, aus und damit nichts über Bewährung oder Falsifikation der Theorie. Noch vor wenigen hundert Jahren war man in der Medizin der Auffassung, ein Aderlaß sei das geeignete Heilmittel fiir den Großteil aller Krankheiten, und dieser Fehlschluß ändert nichts an der Wissenschaftlichkeit der Medizin. Außerdem kommt es in der Tiefenpsychologie entscheidend auf die individuelle Beziehung zwischen Analytiker und Analysand, auf das spezielle analytische Narrativ, mithin auf den Einzelfall an, worauf sowohl Freud als auch Jung hingewiesen haben.80 80 Vgl. J.N. Heck, Psychoanalyse und sittliche Einsicht, p. 207 f.: "Die psychoanalytische Therapie testet streng genommen beim Einzelnen keinen im voraus durchstrukturierten Theoriekomplex; vielmehr bewegt der analytische Prozeß einen spezifischen Selbstvollzug beim Patienten, der aber nicht nur handlungsbezogen, sondern als Einsichtsvermögen zu denken ist. Poppers allgemeiner Satz - irrefutability is not a virtue of a theory but a vice - könnte daher nur mit der Refutation einer bestimmten psychoanalytischen Aussage überprüft werden, will man ihn nicht als unwiderlegbar gelten lassen. Die Möglichkeit eines solchen Verfahrens hat Freud für die Psychoanalyse ohne weiteres zugegeben und wird in der psychoanalytischen Fachliteratur auch nirgends bestritten. Schon die Existenz von mehreren Triebtheorien bei Freud zeugt von einer theoreti-
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3. Kapitel: Analytik
Was den Vorwurf anbelangt, die Begründungen tiefenpsychologischer Theorien seien zirkulär, so kann dem entgegengehalten werden, daß dies auf alle, auch die empirischen, Wissenschaften zutrifft. Die Theoriebeladenheil der Erfahrung und der Sprache, das Vorwissen und das Vor-Urteil des Forschers können nicht ausgeschaltet werden, denn sie sind der letzte Grund der relativen Beschränktheit unseres Erfahrungshorizonts und der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, aber ihr viziöser Einfluß kann durch geeignete Versuchsanordnungen minimiert werden, und das Bewußtsein ihres Einflusses seitens des Forschers unterstreicht den Hypothesencharakter der Erfahrung und eröffnet die Möglichkeit der Falsifikation. Im Sinne eines wechselseitigen Voranschreitens von Theorie und Erfahrung kann der circulus vitiosus so zu einem hermeneutischen Zirkel werden, der nicht eine Schwäche der wissenschaftlichen Vorgehensweise, sondern gerade ihre Stärke darstellt. In diesem Sinne haben alle Wissenschaften hermeneutischen Charakter. 81 Poppers noch weithin positivistisches Denken hingegen unterlegt einen objektivistischen Erfahrungsbegriff, gegen den er sich wendet, wenn er nur die Falsifikation als Kriterium der Wissenschaftlichkeit einer Theorie gelten läßt und nicht die gegenseitige Verschränkung und jeweilige Beschränktheit von Induktion und Falsifikation in Rechnung stellt. Wenn objektive Erkenntnis nicht möglich ist, so bedeutet das nicht die Unmöglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Für Jung lassen sich diese Gegeneinwände allerdings nur bedingt erheben, denn die Archetypentheorie ist so umfassend, daß sie beansprucht, nicht nur pathologische Zustände, sondern auch im weiteren Sinne "gesunde" zu erklären. Eine Falsifizierung kann damit nicht durch anderweitige, von differenzierteren Beobachtungen und einem ausgeprägteren Vorwissen geleiteten Deutungen bestimmter Krankheitsbilder erfolgen. Auch hat Jung seine Theorie zwar einige Male modifiziert, niemals aber wie Freud gänzlich umgestoßen. Dennoch ist die Theorie widerlegbar. Es kann z.B. gezeigt werden, daß die Auswertung des "empirischen" Materials fehlerhaft erfolgt ist, worauf von Seiten der Märchenforschung zum Teil schon hingewiesen worden ist. 82 Empirische Langzeitstudien könnten z.B. auch ergeben, daß es bestimmte Menschengruppen gibt, deren psychische Entwicklung nicht auf Ganzheitlichkeit angelegt ist. Schließlich lassen sich auch die Ergebnisse Jungs in einem anderen Lichte sehen Entwicklung, die keineswegs auf einem dogmatischen Ordnungsvermögen beharrt.". 81 Für einen solchen universalen Begriff der Hermeneutik setzt sich v.a. H.-G. Gadamer ein, der das hermeneutische Phänomen folgendermaßen auf den Punkt bringt: "Das ist in der Tat das hermeneutische Urphänomen, daß es keine mögliche Aussage gibt, die nicht als Antwort auf eine Frage verstanden werden kann, und daß sie nur so verstanden werden kann." (H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke. Band 2, p. 226; vgl. p. 478 ff.). 82 Vgl. § 23 A.
§ 19 Die Kritik Grünbaums: Der Suggestionsvorwurf
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deuten, die Mandalas z.B. nicht als Ausdruck des im Unbewußten zentrierten innerstenWesensdes Menschen, sondern als Wunsch nach Harmonie, als Ausdruck der schöpferischen Kraft des Menschen. Diese Argumente stellen nicht die Poppersehen Kriterien an sich in Frage, sondern nur die Ergebnisse ihrer Anwendung auf die Psychoanalyse und damit mittelbar ihre Geeignetheit zur Lösung des Abgrenzungsproblems. 83
§ 19 Die Kritik Grünbaums: Der Suggestionsvorwurf A. Der zweifache Vorwurf der Suggestion Da die Analytische Psychologie empirische Psychologie zu sein vorgibt, stellt sich die Frage nach der Zuverlässigkeit der von ihr im klinischen Verfahren erhobenen Daten. Der Vorwurf der Kontaminierung solcher Daten durch suggestive Einflüsse des Analytikers oder Analysanden hat die Tiefenpsychologie von Anbeginn begleitet. 84 Die Wissenschaftstheorie spricht in diesem Zusammenhang vom "zweifachen Vorwurf der Suggestion". 85 Damit ist gemeint: I. Da die psychoanalytischen Hypothesen nicht empirisch, sondern lediglich klinisch (d.h. durch das therapeutische Gespräch) belegt seien, könne es sich um Scheinbestätigungen handeln, die auf unbewußte Suggestiveinflüsse des Analytikers zurückgeführt werden könnten, welche im Analysanden den Wunsch erwecken, mit den Erwartungen des Analytikers übereinzustimmen (sog. positive Übertragung), so daß seine sogenannten "freien Assoziationen" durch suggerierte Erwartungen hypothesenkonfirmierend ausgerichtet sein könnten. 86 Dieser "circulus vitiosus" zwischen Theorie und Erfahrung kann als "wissenschaftstheoretischer Aspekt der Suggestion" 87 bezeichnet werden. 2. Der zweite Aspekt des Suggestionsvorwurfs ist ein "therapeutischer" und betrifft die Tatsache, daß therapeutische Hesserungen und Symptomänderungen auch durch die Suggestivwirkung der Therapie, durch sogenannte "PlaceboEffekte" (etwa allein die Tatsache, daß der Analytiker dem Analysanden zu-
83 Zur Kritik arn Vorwurf der Immunisierung vgl. auch S. Pohl, Probleme der Psychoanalyse, p. 31 ff. 84 Vgl. A. Schöpf in: H. Vetter, L. Nagl (Hrsg.), Die Philosophen und Freud, p. 175 f.; vgl. schon die Bedenken von W. Fließ in: S. Freud, Aus den Anfangen der Psychoanalyse, p. 286. 85 Vgl. S. Pohl, Probleme der Psychoanalyse, p. 52; A. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse, p. 223 f., 274 f. 86 Dies legen empirische Untersuchungen zum "verbal conditioning" nahe, vgl. S. Pohl, a.a.O., p. 50 f. 87 ib. p. 52.
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3. Kapitel: Analytik
hört) und durch unspezifische, d.h. von der therapeutischen Behandlung unabhängige Faktoren erklärt werden können. Diese Vorwürfe treffen die tiefenpsychologischen Methoden im allgemeinen, im besonderen aber auch die Amplifikationsmethode von Jung, welche den Patienten nicht lediglich der freien Assoziation überläßt, sondern tatsächlich ein aktives Mitwirken des Analytikers einfordert, gewissermaßen einen Gedankenaustausch zwischen Arzt und Patient, der dem Patienten zu tieferen Einsichten verhelfen soll. Wenn der Analysand ein vorgegebenes Symbol konzentrisch umkreist, so sind seine Assoziationen stets auf diese Vorgabe ausgerichtet, so daß sich der Einfluß des Analytikers offenkundig in den Assoziationen fortsetzt. Wiederholt hat Jung die dialektische Beziehung zwischen Arzt und Patient betont88 , was freilich den Vorwurf der Suggestion evoziert. Außerdem hat er eigens hervorgehoben, daß auch die Deutungen des Analytikers auf weltanschaulichen Voraussetzungen und auf persönlichen Prämissen beruhen: "Kein noch so vorurteilsloser und objektiver Forscher ist imstande, von seinen eigenen Komplexen abzusehen, denn auch diese erfreuen sich derselben Autonomie wie jene anderer Menschen." 89 Unter Zugrundelegung dieser Problematik ist schließlich auch der Wert der Zustimmung des Patienten zu den Deutungen des Analytikers, welche Jung als Garant für die "Wahrheit" der Deutung sieht, grundsätzlich in Frage gestellt.90 Freud ebenso wie Jung, der in seinen Briefen an R. Lö/ 1 noch von den Schwierigkeiten berichtet, die ihm das Suggestionsproblem in der therapeutischen Praxis bereitet hat, beanspruchen jedoch, dieses Problem überwunden zu haben. So verteidigt Jung seinen Lehrer unter Hinweis auf dessen Autorität als Psychoanalytiker und meint, daß es "ungerecht wäre, einem Geiste wie Freud dergleichen plumpe Lehrlingsfehler zuzumuten. Dergleichen Zumutungen fallen auf den zurück, der sie macht." 92 Freud hat sich - nicht wie Jung lediglich polemisierend, sondern argumentativ - mit dem Suggestionsvorwurf auseinandergesetzt und darauf aufbauend seine Übertragungslehre entwickelt, derzuz.B. JGW I 0, 316, 599; II, 598. JGW 8, 118; vgl. auch JGW 10, 313 ff. 90 Vgl. C.G. Jung, Analytische Psychologie und Erziehung, p. 40 f. : "Die Erforschung der Wahrheit setzt mit jedem Fall neu ein, denn jede lebendige Wahrheit ist individuell und nicht ableitbar von vorher festgesetzten Formeln. (..) Wir würden den Sinn einer individuellen Psyche verfehlen, wenn wir sie auf der Basis vorgefaßter Meinungen deuteten, wie sehr wir auch dazu geneigt wären. (..) Natürlich will ich damit nicht sagen, daß man die Erforschung eines jeden Falles von Grund und Boden auf neu zu beginnen habe. Insoweit, als man bereits versteht, ist eine Erforschung nicht nötig. Aber ich rede nur dann von Verständnis, insofern der Patient oder der Zögling mit unserer Deutung einverstanden sein kann. Verständnis über den Kopf eines Falles hinweg ist eine unsichere Sache für beide." 91 JGW 4, 287 ff. (1913). 92 JGW 4, 120. 88
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§ 19 Die Kritik Grünbaums: Der Suggestionsvorwurf
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folge die Übertragungen des Analysanden auf den Analytiker ein wesentliches Element des therapeutischen Prozesses ausmachen und sogar als Bestätigungen der verdrängten pathogenen Konflikte anzusehen sind. Umgekehrt kann es aber auch zu Übertragungen des Analytikers auf den Analysanden kommen, letzterem kann z.B. durch die Erwartungshaltung des Therapeuten ein bestimmtes Verhalten suggeriert werden. Mit diesem Vorwurf setzt sich Freud in einer 1917 gehaltenen Vorlesung auseinander. Der zentrale Abschnitt dieser Vorlesung ist ftir Grünbaum, "erkenntnistheoretisch betrachtet, vielleicht der bedeutendste in seinen gesamten Schriften". 93 Freud schreibt: "Nun werden Sie sagen, gleichgültig, ob wir die treibende Kraft unserer Analyse Übertragung oder Suggestion heißen, es besteht doch die Gefahr, daß die Beeinflussung des Patienten die objektive Sicherheit unserer Befunde zweifelhaft macht. Was der Therapie zugute kommt, bringt die Forschung zu Schaden. Es ist die Einwendung, welche am häufigsten gegen die Psychoanalyse erhoben worden ist, und man muß zugestehen, wenn sie auch unzutreffend ist, so kann man sie doch nicht als unverständig abweisen. Wäre sie aber berechtigt, so würde die Psychoanalyse doch nichts anderes als eine besonders gut verkappte, besonders wirksame Art der Suggestionsbehandlung sein, und wir dürften alle ihre Behauptungen über Lebenseinflüsse, psychische Dynamik, Unbewußtes leicht nehmen. So meinen es auch die Gegner; besonders alles, was sich auf die Bedeutung der sexuellen Erlebnisse bezieht, wenn nicht gar diese selbst, sollen wir den Kranken 'eingeredet' haben, nachdem uns in der eigenen verderbten Phantasie solche Kombinationen gewachsen sind. Die Widerlegung dieser Anwürfe gelingt leichter durch die Berufung auf die Erfahrung als mit Hilfe der Theorie. Wer selbst Psychoanalysen ausgeführt hat, der konnte sich ungezählte Male davon überzeugen, daß es unmöglich ist, den Kranken in solcher Weise zu suggerieren. Es hat natürlich keine Schwierigkeit, ihn zum Anhänger einer gewissen Theorie zu machen und ihn auch an einem möglichen Irrtum des Arztes teilhaben zu lassen. Er verhält sich dabei wie ein anderer, wie ein Schüler, aber man hat dadurch auch nur seine Intelligenz, nicht seine Krankheit beeinflußt. Die Lösung seiner Konflikte glückt doch nur, wenn man ihm solche Erwartungsvorstellungen gegeben hat, die mit der Wirklichkeit in ihm übereinstimmen. Was an Vermutungen des Arztes unzutreffend war, das fallt im Laufe der Analyse wieder heraus, muß zurückgezogen und durch Richtigeres ersetzt werden."94
Freud behauptet also, daß der Heilerfolg der Therapie als Garant ftir die Richtigkeit der Methode gelten kann, da eine suggestive Behandlung nur einen allenfalls vorübergehenden Erfolg bewirken könne. Damit scheint der zweifache Vorwurf der Suggestion widerlegt zu sein, und die klinische Methode müßte als Ursachenforschung anerkannt werden, was prospektive Langzeitstudien mit Kontrollgruppen überflüssig machen würde. 95
A. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse, p. 229. FGW 11, 470. 95 Das Argument Freuds wurde im übrigen -jedenfalls bis zur Kritik von Grünbaum -auch von der Freudschen Schule immer wieder geltend gemacht. Vgl. A. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse, p. 397 ff.; auch A. Schöpf, Sigmund Freud, p. 117, beruft sich auf die Beweiserheblichkeil therapeutischer Erfolge. 93
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3. Kapitel: Analytik
B. Das Übereinstimmungsargument An diesem Argument Freuds setzt nun die fundamentale Kritik von Grünbaum ein, die als bedeutendster wissenschaftstheoretischer Beitrag zur Psychoanalyse angesehen werden kann. Grünbaum bezeichnet das Argument Freuds "(i)m Hinblick darauf, wie Freud den reizvollen Ausdruck 'mit der Wirklichkeit übereinstimmen' verwendete" als "Übereinstimmungsargument" (engl. "Tally Argument"). 96 Schöpf sieht es als das Verdienst von Grünbaum an, "daß er auf dieses Argument Freuds die Aufmerksamkeit gelenkt und es ins Zentrum der wissenschaftstheoretischen Debatte gebracht hat.'m Freuds Argument dient Grünbaum zunächst als Mittel zur Überwindung des Poppersehen ",Schnellangriffs' auf die Psychoanalyse", was L. Nagt als unbestrittenes Verdienst Grünbaums würdigt. 98 Im Gegensatz zu Popper, der die Psychoanalyse als schlechthin unüberprüfbar betrachtet und ihr daher den Status einer Wissenschaft abspricht, ist Grünbaum der Auffassung, daß die Psychoanalyse durchaus eine Reihe von Kausalhypothesen enthalte, welche empirisch überprüft werden könnten, wenn auch die intraklinische Validierung ihrer Hypothesen wissenschaftstheoretisch nicht zureichend sei. Da eine extraklinische Überprüfung durch epidemiologische Langzeitstudien mit Therapie- und Kontrollgruppen aber prinzipiell möglich, wenn auch schwer umzusetzen sei, berechtige die methodische Mangelhaftigkeit der Begründung der Freudschen Hypothesen Popper nicht, diese Mängel der psychoanalytischen Theoriebildung als Hauptargument gegen die induktive Methodologie geltend zu machen. Außerdem, so Grünbaum, habe Popper bei seinem Vorwurf, die Analytiker seien gegenüber dem Suggestionsproblem blind, nicht das Übereinstimmungsargument Freuds gewürdigt, mit welchem Freud, noch bevor Popper 1919 die philosophische Bühne betrat, dessen Anschuldigungen vernehmlich untergraben habe. 99 Freud habe sich im Gegenteil, "beharrlich, brilliant, aber erfolglos" mit jener Problematik auseinandergesetzt, "doch scheiterte er kläglich aus empirischen Gründen und nicht aus Mangel an methodologischer Scharfsichtigkeit."100 Um dieses Urteil zu rechtfertigen, rekonstruiert Grünbaum das Übereinstimmungsargument zunächst durch folgende zwei Thesen, aus denen es sich zusammensetzt: "(I) Nur die psychoanalytische Interpretations- und Behandlungsmethode kann dem Patienten die richtige Einsicht in die unbewußten Pathogene seiner Psychoneurose gewähren oder vermitteln, und (2) die richtige A. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse, p. 233. A. Schöpf in: H. Vetter, L. Nagl, Die Philosophen und Freud, p. 191. 98 L. Nagl in: H. Vetter, L. Nagl (Hrsg.), die Philosophen und Freud, p. 124. 99 A. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse, p. 174 ff., 445 ff. 100 ib. p. 452 f. 96 97
§ 19 Die Kritik Grünbaums: Der Suggestionsvorwurf
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Einsicht des Analysanden in die Ätiologie seines Leidens und in die unbewußte Dynamik seines Wesens ist ihrerseits kausal notwendig für die therapeutische Überwindung der Neurose." 101 Grünbaum hält den darin zum Ausdruck kommenden Universalitätsanspruch der Psychoanalyse fur ungerechtfertigt und tritt ihm - nachdem er zuvor das Argument, daß die Übertragung eine Bestätigung der Theorie liefere, als logischen Zirkelschluß enttarnt hat 102 - im wesentlichen . . A m1t v1er rgumenten entgegen. 1o3 I. Freud habe in einer Arbeit aus dem Jahre 1937 selbst zugegeben, daß neue traumatische Ereignisse auch ein erneutes Leiden hervorrufen könnten; Grünbaum folgert daraus, daß die Einsicht des Patienten nicht schlechterdings zu einer Heilung fuhren müsse. 104 2. Freud habe in einer Arbeit aus dem Jahre 1926 selbst die Möglichkeit einer Spontanremission der Symptome, also die Möglichkeit einer Heilung durch andere als durch die analytische Methode hervorgerufenen Faktoren, zugegeben. Grünbaum sieht darin ein Argument gegen den Universalitätsanspruch der 105 Psychoanalyse.
3. Grünbaum beruft sich auf neuere Untersuchungen über den Erfolg verschiedener tiefenpsychologischer Schulen, die keine Überlegenheit der psychoanalytischen Methode bestätigen konnten. 106 4. Grünbaum beruft sich auf empirische Untersuchungen zur Symptombehandlung, die gezeigt hätten, daß ein Symptomersatz eher die Ausnahme als die Regel sei. Dann könne aber nicht mehr die psychoanalytische These aufrechterhalten werden, daß das Symptom eine tieferliegende Ursache habe, welche behoben werden müsse, ansonsten (bei bloßer Symptombehandlung) es lediglich zu einem Austausch der Symptome komme. 107 Diese Auseinandersetzung Grünbaums mit dem Übereinstimmungsargument ist auch in Hinblick auf die Analytische Psychologie von Jung höchst bedeutsam, betrifft sie doch die analytischen Verfahren und das mit ihnen verknüpfte Suggestionsproblem als solche.
ib. p. 232. ib. p. 240. 103 ib. p. 263 ff.; S. Pohl, Probleme der Psychoanalyse, p. 62 ff. 104 A. Grünbaum, a.a.O., p. 264 f. 105 ib. p. 265 f. 106 ib. p. 266 f. 107 ib. p. 268 ff. 101
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3. Kapitel: Analytik
Einen Versuch, in Verteidigung des Freudschen Arguments die Kritik Grünbaums zu widerlegen, haben S. Pohl und A. Schöpf unternommen. 108 Sie argumentieren zu den einzelnen Punkten wie folgt: 1.' Vor dem Hintergrund eines hermeneutischen Freud-Verständnisses, danach nicht das in der Kindheit stattfindende und das spätere, die Neurose auslösende, traumatische Ereignis ursächlich für die Entstehung der Symptome seien, sondern vielmehr die durch das spätere traumatisierende Ereignis ausgelöste Bedeutungsverschiebung des konflikthaften kindlichen Ereignisses, reklamieren sie für die Psychoanalyse, daß sie nicht die Ursachen einer Neurose beheben könne, sondern lediglich den Bedeutungskonflikt auflösen wolle, was nicht dagegen spreche, daß neue traumatische Situationen den Konflikt wiederherstellen könnten. 2.' In Hinblick auf das zweite Argument deuten sie Freuds Äußerungen so, daß die Möglichkeit von Spontanremissionen prinzipiell zwar gegeben sei, aber nur, wenn die unspezifischen Faktoren dieselbe Leistung erbrächten wie die psychoanalytische Methode. Damit wird das Argument der fehlenden Abgrenzbarkeit zwischen Heilerfolgen durch die Methode und durch unspezifische Faktoren entwertet. 3.' Gegen das dritte Argument Grünbaums wird vorgebracht, daß der Vielfalt von Untersuchungen zur spontanen Remission neurotischer Erkrankungen die Vielfalt der gefundenen Ergebnisse entspreche, was darauf deute, daß es in dieser "ewigen Kontroverse" "um ideologische Standpunkte geht, die jeweils empirisch abgesichert werden sollen und durch die Heranziehung entsprechenden Datenmaterials auch abgesichert werden können." Pohl und Schöpf folgern daraus, daß die Behauptung Grünbaums der eindeutigen empirischen Evidenz entbehre, "das Argument der Spontanremission" also "der Beliebigkeit anheim gestellt" sei. 109 4.' Das vierte Argument Grünbaums schließlich könne die psychoanalytische Theorie nicht falsifizieren, da es subtilere Mechanismen der Symptomverschiebung gebe, z.B. Veränderungen der Charakterstruktur, eine Symptomverschiebung sich nicht notwendigerweise in beobachtbarem Verhalten äußern müsse. Daher, schließt Schöpf, könne "die Freudsche Behauptung im Kern aufrechterhalten werden", also zur Bestätigung der Theorie dienen. Diese Folgerung ist in dieser Form unberechtigt, denn die Zurückweisung einer Kritik an der Theorie bedeutet nicht die Bestätigung der Theorie.
108 S. Pohl, Probleme der Psychoanalyse, p. 68 ff.; A. Schöpf in: H. Vetter, L. Nagl, Die Philosophen und Freud, p. 194 ff. 109 S. Pohl, a.a.O., p. 72.
§ 19 Die Kritik Grünbaums: Der Suggestionsvorwurf
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1." Eine wie die von Schöpf vorgetragene Lesart der Psychoanalyse Freuds kann nicht von vornherein abgelehnt werden. Fraglich ist allerdings, ob sie eine Alternative zur kausalistischen Auffassung darstellt und daher als Gegenargument gelten kann. Der Nachweis, daß sie das nicht ist, soll zunächst noch zurückgestellt werden. 110 Die Auffassung von Schöpf, so die Quintessenz, verkennt jedenfalls, daß eine Bedeutung auch ein Bedeutetes voraussetzt, das seinerseits in einer kausalen Beziehung zum Bedeuten steht. 2." Hier handelt es sich von seiten Pohls und Schöpfs um ein offensichtliches Scheinargument Zwar ist es richtig, daß unter Zugrundelegung ihrer Deutung das Abgrenzungsproblem als Crux des Nachweises der Wirksamkeit der psychoanalystischen Methode entfällt, statt dessen müßte aber der Nachweis geführt werden, daß die Spontanremissionen auf der Beibringung der richtigen Deutung beruhen. Die Berufung auf die Heilerfolge zur Bestätigung der psychoanalytischen Methode ist dagegen nicht mehr möglich, da die auf der Methode und die auf Spontanremissionen beruhenden Erfolge nicht unterschieden werden können . Indem nicht mehr auf den Heilerfolg abgestellt werden kann, wird das Tally-Argument eigentlich unterminiert und nicht bekräftigt. 3." Die Argumentation Pohls spricht nicht für, sondern gegen die Psychoanalyse, denn die Kritik Grünbaums versteht sich nicht als Beweis der Unwissenschaftlichkeit der Psychoanalyse, sondern als Infragestellung der Möglichkeit, die Psychoanalyse als empirische Wissenschaft zu begründen und ihre Theorien verläßlich zu bestätigen. Dies erscheint gerade aufgrund der "ideologischen Standpunkte", von denen Pohl spricht, unmöglich. Das Argument Pohls verkennt also die "Beweis last". Da es für Grünbaum nichts zu beweisen gibt, ist sein Argument keinesfalls "der Beliebigkeit anheim gestellt." 4." Ebenso behindert die Argumentation zu Grünbaums viertem Kritikpunkt die Bestätigung des Freudschen Arguments. Wenn es auch subtilere Symptome gibt, die sich nicht nach außen zeigen, so wird es für die Psychoanalyse beinahe unmöglich, auf einen Zusammenhang zwischen Symptom, Konflikt und Ereignis zu schließen. Als empirisch verwertbares Material fallen alljene Fälle weg, in denen sich keine Symptome feststellen lassen. Andernfalls müßte die schwierige Abgrenzung zwischen Fällen mit nicht nach außen in Erscheinung tretenden Symptomen und erfolgreich geheilten, d.h. symptomlosen Fällen getroffen werden. Außerdem setzt sich Grünbaum selbst mit dem Postulat von sogenannten "Spurensymptomen" ausführlich auseinander und legt dar, daß die Annahme einer solchen Möglichkeit gerade die zentrale psychoanalytische These untergräbt, wonach die Symptomerhaltung auf das ursächliche Pathogen schließen läßt. 111 Auf diese Überlegungen Grünbaums gehen Pohl und Schöpf 110
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12•
Vgl. § 21 D. A. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse, p. 270 ff.
3. Kapitel: Analytik
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nicht ein. Im übrigen kennzeichnet die Art und Weise, wie ihr Argument verwendet wird, dieses als eine ad-hoc-Hypothese.
C. Die intraklinische Überprüfbarkeil
Im zweiten Teil seiner Kritik 112, auf den hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann, geht Grünbaum argumentationshalber davon aus, daß der Suggestionsvorwurf nicht gerechtfertigt, das in der analytischen Sitzung gewonnene Datenmaterial also nicht kontaminiert sei. Dennoch kommt er zu dem Schluß, daß die gesamte Verdrängungstheorie als unbelegt angesehen werden müßte, da die klinische Situation nicht die notwendigen Standards erfülle, um in ihr Kausalhypothesen überprüfen und absichern zu können. 113 Selbst wenn Placebo-Effekte ausgeschlossen werden könnten, wäre der therapeutische Erfolg doch allenfalls ein Beleg dafür, daß die Verdrängung eines traumatischen Erlebnisses eine kausal notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung eines Symptoms war, nicht aber für seine Entstehung. 114 Ein solcher Beweis, so Grünbaum, "würde durch Daten erbracht werden, die gegen die Konkurrenzhypothese sprechen, daß die Verdrängung für die anfängliche Ausbildung der Symptome ätiologisch irrelevant sei.'" 15 Daher genüge es nicht, zu zeigen, daß bei neurotischen Patienten ein pathogener Faktor in Form einer Verdrängung frühkindlicher sexueller Erlebnisse ausgemacht werden könne, denn es könne nicht ausgeschlossen werden, daß ebenso viele Patienten, bei denen kein solcher pathogener Faktor vorliege, auch neurotische Symptome zeigten. Es müßten vielmehr Kontrollgruppen eingeführt werden, anband derer gezeigt werden könnte, daß Personen, bei denen keine Verdrängung frühkindlicher sexueller Erlebnisse ausgemacht werden kann, auch nicht neurotisch sind. 116 Da in der klinischen Situation kein solches Kontrollgruppendesign verwirklicht werden könne, weil sie zu anfällig sei für etwaige Störfaktoren, wie z.B. Suggestionen (ein Problem, das "absolut ungelöst, wenn nicht sogar ganz und gar unlösbar ist, weil es für das ehemalige Übereinstimmungsargument keinen brauchbaren Ersatz gibt" 117), hänge die künftige Bewertung der Psychoanalyse, so Grünbaum, von der Leistungsflihigkeit extraklinischer Untersuchungen (z.B. in Traumlabors) ab. 118 Eine solche Überprüfung tiefenpsychologischer Theorien ib. p. 285 ff. Ergebnisse ib. p. 394 ff. 114 ib. p. 291 ff. JIS ib. p. 295. 116 ib. p. 407 ff. 117 ib. p. 427. 111 ib. 431 ff.; Freud selbst hat die Beweiserheblichkeit extraklinischer Daten noch 112
113
abgetan, vgl. ib. p. 172 f.
§ 19 Die Kritik Grünbaums: Der Suggestionsvorwurf
181
ist allerdings ungleich aufwendiger als die Gewinnung von "Daten von der Couch", was zum Anerkenntnis der Grenzen der Anwendbarkeit "objektiver Methoden" in der Psychoanalyse zwingt. 119 Tatsächlich, so Grünbaum, sei die einzige klinische "Methode", epistemisch zu garantieren, daß durch die freien Assoziationen des Patienten Ursachen bezeugt würden, der therapeutische Erfolg gewesen, der durch die Widerlegung des Tally-Arguments aber nicht mehr als Maßstab dienen könne. 120 Auch die Zustimmung des Patienten oder die induktive Übereinstimmung mit anderen, indirekten Bestätigungen, wie z.B. der Produktion neuer, ergänzender Erinnerungen, seien nicht verläßlich, da sie der Gefahr der Kontaminierung durch den Einfluß des Analytikers unterlägen. 121 Sofern Pohl demgegenüber argumentiert, daß die Kritik Grünbaums auf der Widerlegung des Übereinstimmungsarguments beruhe, Grünbaums Kritik allerdings ihrerseits entwertet werden konnte 122, sei auf die oben angeführten Gegenargumente zur Kritik von Pohl und Schöpf hingewiesen, welche die Bedenken Grünbaums in Hinblick auf die Möglichkeit einer klinischen Validierung und die Schwierigkeiten einer empirischen Überprüfung tiefenpsychologischer Theorien überhaupt unterstützen.
D. Thematische Analogien Nach alledem kann man also feststellen, daß das Tally-Argument Freuds, d.h. der bloße Hinweis auf die Erfolgsquote der Methode, keine Bestätigung der psychoanalytischen Theorie erlaubt und den Suggestionsvorwurf nicht widerlegt. Abgesehen von der Suggestionsproblematik und der Auseinandersetzung mit dem Tally-Argument, mit denen sich Grünbaum in den "Grundlagen" beschäftigt, führt er noch weitere Argumente an, die die empirische Verläßlichkeit der Psychoanalyse in Frage stellen. In einem späteren Aufsatz weist er anband einer Untersuchung zu Freuds "Rattenmann"-Analyse 123 darauf hin, daß ein Großteil der "empirischen" Nachweise Freuds auf der Heranziehung von thematischen Analogien beruht. Diese Untersuchung Grünbaums ist hier deswegen von besonderer Bedeutung, als auch bei Jung die thematische Analogie das ganz vorwiegend verwendete Mittel zum Nachweis archetypischer Strukturen des Unbewußten ist. Immer wieder weist Jung auf die strukturelle Verwandtschaft von Träumen, Riten, Märchenmotiven, Zeichnungen usw. hin.
Vgl. S. Pohl, Probleme der Psychoanalyse, p. 36 f., 40 ff. A. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse, p. 303 u.ö. 121 ib. p. 388 ff., 436 ff. 122 S. Pohl, Probleme der Psychoanalyse, p. 78. 123 FGW 7, 379 ff. 119
120
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3. Kapitel: Analytik
Es stellt sich damit die Frage, ob derartige thematische Analogien überhaupt brauchbar sind zum Nachweis psychischer Gesetzmäßigkeiten. In dem erwähnten Aufsatz stellt Grünbaum fest: "Even when the thematic kinship is indeed of very high degree, it does not itself Iicense the inference of a causal linkage between the thematically kindred events.'d 24 Grünbaum stellt hier in eindrucksvoller Weise dar, in welchem Maße die Analysen Freuds Interpretationen sind. Weiterhin stellt er die Frage, inwiefern sogenannte "Übertragungen" den Zusammenhang zwischen Kindheitsereignissen und Krankheitssymptomen belegen können. Auch hier schließe Freud auf die pathogene Rolle der Kindheitserlebnisse allein aufgrund ihrer angeblichen thematischen Verwandtschaft mit den Übertragungsereignissen, womit weder erwiesen sei, daß das ursprüngliche pathogene Erlebnis in der Übertragung wiederhergestellt werde, noch, daß es gegenwärtig die bösartige Ursache der Neurose sei. 125 Damit, so Grünbaum, solle nicht geleugnet werden, daß sich Patienten in der Analyse seltsam verhalten könnten. "After all, the Patient's extraordinary dependence on the doctor for help creates a very special situation.'d 26 Zusammenfassend läßt sich daher feststellen, daß die Analytische Psychologie realwissenschaftlichen Kriterien jedenfalls nicht genügt, wenn auch es nicht schlechthin undenkbar erscheint, Psychologie als empirische Wissenschaft zu betreiben, was allerdings einen enormen praktischen Aufwand erfordert. Vor diesem Hintergrund wird dann das Mißverhältnis deutlich, das zwischen Jungs empirischem Aufwand und den angeblich auf dieser Grundlage erfolgten Klärungen schwieriger Probleme aller Art besteht.
§ 20 Finalität und Teleologie A. Finale Erklärungen Die hier gezogenen Konsequenzen beruhen alle auf der stillschweigenden Annahme, daß es der Analytischen Psychologie - wie der Physik - um den Aufweis kausaler Zusammenhänge gehe. Ein solcher Maßstab ist nicht selbstverständlich, und es muß gefragt werden, ob er dem Gegenstand, auf den er Anwendung findet, überhaupt angemessen ist. Einer Anwendung des Modells kausaler Erklärungen könnte z.B. entgegenstehen, daß es Jung nach eigenem Bekunden, und in bewußter Abgrenzung zur
A. Grünbaum in: H. Vetter, L. Nagl (Hrsg.), Die Philosophen und Freud, p. 145. ib. p. 166, 168. 126 ib. p. 167. 124
125
§ 20 Finalität und Teleologie
183
Psychoanalyse Freuds 127, nicht um kausale Zusammenhänge geht, als vielmehr um solche "finaler" oder "teleologischer" Art. 128 Als finale Erklärungen bezeichnet man solche, bei denen, in Umkehrung zum kausalen Modell, Ereignisse durch solche erklärt werden, die später stattfinden als die zu erklärenden. Ein finaler Ansatz scheint also auf den ersten Blick mit einem kausalen unvereinbar, was auch Jung angenommen hat. Zudem besteht die verbreitete Ansicht, allein kausale Erklärungen seien wissenschaftlich wertvoll. Dem tritt Jung unter Hinweis auf "Molleschotts berühmtes Diktum" 129 entgegen und behauptet, kausale und finale Erklärungen seien miteinander verträglich und nur zwei Aspekte der gleichen Realität. 130 Ist diese Auffassung vertretbar? B. Differenzierungen
W. Stegmüller unterscheidet in seinen fundamentalen Untersuchungen über die "Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie" drei Arten von Finalität oder Teleologie. 131 Von einer formalen Teleologie spricht man, wenn, im Unterschied zur kausalen Erklärung, nur der Zeitfaktor berücksichtigt wird, daß das zu erklärende Ereignis, das hier, in Analogie zum Explanandum "Determinatum" genannt wird, den Antecedensbedingungen (Determinans) zeitlich vorangeht. Diese Art der teleologischen Erklärung ist laut Stegmüller harmlos, da sie sich unproblematisch in die Sprechweise des H-O-Schemas der deduktivnomologischen Erklärung übersetzen läßt. 132 Von der "finalen" Betrachtungsweise bleibe nichts weiter übrig, als die formale Tatsache, daß der Zeitindex der zu den Antecedensbedingungen gehörenden Ereignisse ein größerer ist als der zum Explanandum gehörige. Demgegenüber spricht Stegmüller von materialer Teleologie, wenn es nicht nur um die Erklärung eines zielgerichteten Ereignisses gehe, sondern um jene eines zielintendierten, d.h. eines bewußten menschlichen Handelns. Eine derartige Bezugnahme auf Ziele und Zwecke setze aber einen zwecksetzenden Willen voraus, eine solchermaßen teleologische Erklärung sei also eine "Erklärung aus Motiven" und daher keine Alternative, sondern lediglich ein spezieller Fall der kausalen Erklärung, bei der der den Zweck setzende Wille als Ursache angesehen werden muß. 133 Wirklich problematisch sind hingegen die Fälle der scheinbaren materialen Teleologie, bei 121
Vgl. § 3 .
Die Begriffe "Teleologie" und "Finalität" können im wissenschaftstheoretischen Kontext als Synonyma verwendet werden. 129 Vgl. L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 263 FN 12. 130 Vgl. § 26. 131 Vgl. W. Stegmüller, Probleme und Resultate, p. 639 ff. 132 V gl. ib. p. 640 f. 133 Vgl. auch ib. p. 392. 128
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3. Kapitel: Analytik
der ein zielgerichtetes Verhalten von nicht zwecksetzender Art vorliegt, die Existenz eines bewußtseinsbegabten, zwecksetzenden Wesens also unausdrücklich vorausgesetzt wird. "Diese Auffassung ist nicht, wie bisweilen behauptet wurde, logisch unsinnig; aber sie ist sicherlich empirisch unhaltbar. Wer heute so etwas behauptet, kann nicht erwarten, vom Naturwissenschaftler ernst genommen zu werden, so wie schon seit langem niemand mehr ernst genommen würde, der behauptete, daß die Planeten von Geistern bewegt würden.'d34 Man müsse sich "davor hüten", so Stegmüller, "in den Mythos zu verfallen, wonach man von Zielen und Zwecken reden könne, ohne daß 'jemand da sei', der sich diese Zwecke gesetzt habe oder der diese Ziele verfolge." 135 Die Annahme der Existenz solcher zielbewußter, das Geschehen lenkender Wesen sei eine "empirisch unhaltbare primitive Gespensterhypothese". 136 Es handelt sich bei dieser Art von teleologischer Erklärung also um eine nicht empirische, vielmehr metaphysische Erklärung, wie sie z.B. von religiösen Heilslehren gegeben wird, die auf einen göttlichen Willen oder einen Weltplan verweisen. Stegmüller bezeichnet sie auch als "anthropomorphe Analogiebilder" .137 Kennzeichnend fiir eine scheinbare materiale Teleologie ist auch der ad-hoc-Charakter der verwendeten Hypothesen: Die eingefiihrte Hypothese, welche das Explanandum erklären soll, vermag durch keine anderen Daten als durch das Explanandum selbst gestützt werden. Es müßte in solchen Fällen ·besser formuliert werden, daß das Geschehen so aussehe, als ob ein zielbewußter Wille dahinter stünde. C. Übertragung
Obschon Jung die Art jener Finalität, auf die er sich beruft, nicht genauer charakterisiert, kann man doch, z.B. anband der von Jung gezogenen Parallele zwischen den "Ideen" Platons und den Archetypen erkennen, daß es sich um Fälle scheinbarer Teleologie handeln muß. Auch der ad-hoc-Charakter seiner Hypothese des kollektiven Unbewußten spricht fiir eine solche Einschätzung. Denn Jung fUhrt in Hinblick auf die Erklärung der Träume und Zeichnungen seiner Patienten, der Motive aus Märchen und Mythen usw. die Hypothese eines archetypischen Unbewußten ein und benutzt dieselben Daten, um die Hypothese zu stützen. Aber auch, wenn man Jung zugestehen wollte, daß die von ihm gemeinte Finalität eine solche formaler oder echt materialer Art sei, so würde dies in Hinblick auf die oben zur Anwendung des H-O-Schemas getrof-
ib. p. 644. ib. p. 643. 136 ib. p. 716. 137 ib. p. 706.
134 135
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fenen Einschätzung keinen Unterschied machen, denn ,jeder Fall von echter Teleologie ist zugleich ein Fall von echter Kausalität" 138, Jung wäre also durch den Hinweis auf die Zielgerichtetheit des Geschehens nicht von dem Nachweis entbunden, daß es ein zielbewußtes und zwecksetzendes "Wesen" (das Selbst) gibt. Dieser Nachweis ist, wie oben gesagt wurde, sicherlich sehr schwer zu erbringen, wenn auch nicht prinzipiell unmöglich. Kutschera beweist in seiner "Erkenntnistheorie", daß die Unterscheidung kausaler und finaler Zusammenhänge nicht die Sache selbst betrifft, sondern nur ihre Fonnulierung. 139 Es sei kein Grund ersichtlich, warum die Begründung eines Ereignisses mit späteren Ereignissen weniger überzeugend sein solle als eine kausale. Insbesondere könnten auch Naturgesetze final beschrieben werden, etwa in Hinblick auf einen Gleichgewichtszustand, der erreicht wird. Um eine Art Gleichgewichtszustand, auf den sich alles hin entwickelt, die sogenannte "Ganzheitlichkeit", geht es auch bei Jung. Der Vergleich ist dennoch schief, denn der physikalische Gleichgewichtszustand stellt eine empirische Tatsache dar, die experimentell herbeigefUhrt werden kann, mit anderen Worten: die Betonung ihrer finalen Ausrichtung erhöht nicht den empirischen Gehalt der Theorie Jungs, bzw. befreit sie nicht von der Forderung nach ausreichender Begründbarkeit und Zuverlässigkeit der Methode. Gerade der Umstand, daß die Unterscheidung kausaler und finaler Begründungen nur die Formulierung betrifft, bedeutet, daß das Argument nicht in Hinblick auf die Sache verwendet werden kann. Jung müßte also einen Zustand der Ganzheitlichkeit empirisch belegen und experimentell herbeifUhren können. Ob er das Gesetz des Individuationsprozesses dann kausal oder final beschreibt, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Gerade bei derart komplexen Vorgängen wird sich eben eher eine finale Begründung anbieten. Diesen Überlegungen könnte man nun entgegenhalten, daß sie die Voraussetzungen Jungs mißachteten. Denn Jung spricht nicht von kausalen oder finalen Formulierungen, sondern von verschiedenen "Aspekten" derselben "Realität", d.h. er mißt den Begriffen ontischen Status zu. Diese Anschauung beruht auf einer Besonderheit des Jungsehen Ansatzes, der sogenannten "Realität des Psychischen" und ihrer monistischen Konsequenzen, auf die unten 140 noch ausruhrlieh einzugehen sein wird. Hier sei soviel vorweggenommen, daß sie auf einem idealistischen Mißverständnis beruht, nämlich der Nichtunterscheidung von Beschreibung und Beschriebenem. Das empirische Vorgehen Jungs stößt daher trotz seiner finalen Ausrichtung an jene praktischen Grenzen, die schon oben zur Kritik Grünbaums erwähnt wurden. Die Ursache dieser ib. p. 642. F.v. Kutschera, Erkenntnistheorie, p. 116. 140 Vgl. §§ 25, 26. 138
139
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3. Kapitel: Analytik
Schwierigkeiten hat ihren Grund darin, daß es die Tiefenpsychologie ganz allgemein nicht mit Physischem, mit Objekten der Außenwelt, zu tun hat, sondern mit Menschen, mit Subjekten, genauer: mit Personen. Dies verpflichtet sie zu einem sehr individuellen Vorgehen und einer viel umfassenderen Art des Verstehens, denn eine Neurose z.B. ist nicht nur ein Krankheitsbild wie ein Geschwür, das auf dem Röntgenbild erkannt, medizinisch erklärt und chirurgisch entfernt werden kann, sondern eine Veränderung der Persönlichkeit und eingebettet in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang. Jung weist daher auch seine jungen Kollegen darauf hin, daß sie stets den Einzelfall im Auge behalten und nicht nach irgendwelchen vorgegebenen Regeln vorgehen sollten. 141 Und er betont die Wichtigkeit der durch den Analytiker unterstützten Aufarbeitung der Lebensgeschichte des Patienten. 142 Damit stellt sich aber die grundsätzliche Frage, ob ein naturwissenschaftlicher Begriff des Verstehensund Erklärens der Sache überhaupt angemessen ist, oder ob es nicht vielmehr um ein hermeneutisches Verstehen geht.
§ 21 Hermeneutik A. Problemaufwurf Die bedeutendsten Einwände gegen die Anwendung des H-O-Schemas auf die Psychoanalyse werden von hermeneutischer Seite erhoben. Da es in der Psychoanalyse nicht um das Erklären kausaler Zusammenhänge gehe, sondern vielmehr um das Verstehen des Sinns unbewußter Handlungen, wird ein anderes Erklärungschema, nämlich der auf Aristoteles zurückgehende sogenannte "praktische Syllogismus" 143 , das Modell intentionalen Erklärens, dem Gegenstand als angemessener betrachtet. Fraglich ist dann allerdings, inwiefern man von einem intentionalen (absichtvollen) Handeln sprechen kann, wenn es doch gerade um unbewußte Vorgänge geht, dennunbewußte Absichten kann es per .. . ht geben. 144 defim1tlonem mc
JGW 10, 507; vgl. JGW 10, 316, 599; II , 598. C.G. Jung, Analytische Psychologie und Erziehung, p. 39 f. 143 Das Basisschema eines praktischen Syllogismus besteht aus einem voluntativen Aspekt (das angestrebte Handlungsziel) und einem kognitiven Aspekt (das subjektive Wissen um eine erfolgversprechende Handlung), aus denen die Conclusio in Form der zur Zielerreichung als angemessen erachteten Handlung resultiert. (vgl. W. Stegmüller, Probleme und Resultate, p. 486 f.). 144 S. Pohl, Probleme der Psychoanalyse, p. 122 spricht daher, in Analogie zum praktischen Syllogismus, von einem "Quasi-Syllogismus", legt aber nicht offen, was ihn zu dieser Analogie berechtigt, da die Vergleichbarkeit von bewußter und unbewußter Intention doch gerade in Frage steht! 141
142
§ 21 Hermeneutik
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Dennoch spricht Jung immer wieder vom Sinngehalt psychischer Tatbestände, der es ihm erlaubt, z.B. Symbole sinnvoll zu deuten und auf einen psychischen Sachverhalt rückzubeziehen. 145 In Hinblick auf Freud spricht Jaspers 146 in seiner "zunehmend weltanschaulich-polemischen" 147 Kritik davon, daß Freud verstehbare mit kausalen Zusammenhängen verwechsle und daher die Psychoanalyse, die tatsächlich verstehende Psychologie sei, als Naturwissenschaft mißverstehe. In Anschluß an Jaspers spricht Habermas 148 später vom "szientistischen Selbstmißverständnis" der Psychoanalyse. Erfordert demnach ein solchermaßen eingeforderter Bedeutungs- oder Sinnzusammenhang ein anderes Erklärungsmodell als das kausale? 149 Sind Naturvorgänge umgekehrt nicht sinnvoll? Was ist überhaupt mit der sogenannten Methode des Verstehens gemeint, und inwiefern kann sie in einem Alternativverhältnis zum naturwissenschaftlichen Erklären stehen?
B. Hermeneutisches Verstehen
Die sogenannte Methode des Verstehens ist im deutschen Sprachbereich vor allem mit den Namen W. Dilthey, M. Weber und in neurer Zeit H.-G. Gadamer verknüpft und wird heute allgemein unter dem Titel "Hermeneutik" 150 behandelt. Damit verbindet sich zunächst der Gedanke, daß die Kultur- und Geisteswissenschaften - im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, denen es lediglich um die Erklärung einer "blinden Naturkausalität" (Dilthey) gehe- einer besonderen Methode des wissenschaftlichen Arbeitens bedürften, da sie mit dem Menschen als erlebendem, handelndem, denkendem und schöpferischem Subjekt zu tun haben. Als richtige Methode hierfür wird das sogenannte "hermeneutische", d.h. empathetische, einfiihlende Verstehen angesehen. Ein solches Verstehen erfordert eine "Einfiihlung" in den Menschen und sein Werk, die Gegenstand der Untersuchung sind, seitens des Forschers. Es wird auch von "Kongenialität" (Dilthey), "Identifizierung" und "Horizontverschmelzung" (Gadamer) gesprochen. Die Vagheit derartiger Kriterien bietet freilich einen Ansatzpunkt fiir mannigfache Kritik. Aufgrund der geringen Präzision ihrer 145 Vgl. auch M. Battke, Das Böse bei S. Freud und C.G. Jung, p. 153 : "Die psychologische Wissenschaft, wie Jung sie entwirft, stellt sich so zuerst als eine Hermeneutik kollektiver und individueller Symbole dar." 146 K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, p. 374 ff. 147 C.E. Scheidt, Die Rezeption der Psychoanalyse, p. 63. 148 J. Habennas, Erkenntnis und Interesse, p. 300 ff. 149 "Bedeutung" und "Sinn" werden hier nicht im Sinne Freges [vgl. G. Frege, Über Sinn und Bedeutung (1892)] unterschieden, sondern synonym, als Gegenposition zu "Kausalität" verwendet. 150 EinfUhrend zur Hermeneutik: die Beiträge in K. Salamun (Hrsg.), Was ist Philosophie?, p. 81 ff.
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3. Kapitel: Analytik
Kriterien ist die Hermeneutik, da sie nicht die logischen Mindestanforderungen der Analytischen Philosophie erfiillen konnte, lange Zeit von der Wissenschaftstheorie wenig ernstgenommen worden. Weit verbreitet ist auch die Ansicht, daß es sich um eine unwissenschaftliche Methode handele. Gerade in Hinblick auf die Methoden der Psychoanalyse hat sich aber ein starkes Lager von Vertretern einer hermeneutischen Auffassung dieser Wissenschaft gebildet.151 Da es in der Tiefenpsychologie allgemein um die dialektische Beziehung zwischen Arzt und Patient geht, wird vom Analytiker eine hermeneutische Annäherung an das Objekt seiner Untersuchungen gefordert. In der Schule der Analytischen Psychologie wird die Hinwendung Jungs zur Amplifikationsmethode, der es um die Aufdeckung und das Verstehen der Bedeutungsmittelpunkte der unbewußten Psyche geht, auch als "hermeneutische Methode" bezeichnet.152
C. Der Wert hermeneutischen Verslehens Von seiten eher realwissenschaftlich orientierter Philosophen werden gegen die Hermeneutik eine Reihe von Argumenten vorgebracht, die den Wert dieser Methode in Frage stellen. 153 1. Ausgehend von dem Gedanken der gegenseitigen Bezogenheit von Verstehen und Erklären, danach "etwas verstehen" bedeutet, es auch erklären zu können, wird auf den vagen Erklärungscharakter der durch die hermeneutische Methode gewonnenen Einsichten hingewiesen. 154 Um die Kritik von Jaspers an Freud aufzugreifen, könnte man demnach sagen, daß die Psychoanalyse nicht lediglich verstehende Psychologie sein könne, wie dies Jaspers vermutet, sondern sich ebenso über ihr Verstehen erklären können müsse.
Die Prämisse dieses Arguments ist aber nicht nur verallgemeinernd, sondern sogar irrefiihrend, denn aus ihr geht die Annahme hervor, nur das sei verstehbar, was auch .erklärt werden könne. Richtigerweise kann man zwar davon sprechen, daß eine Erklärung Verstehen erzeugen soll 155 , aber diese Beziehung ist nicht umkehrbar. Ich kann z.B. die Gedanken von "Sein und Zeit" verstehen, wenn sie mir erklärt werden, ohne sie aber selbst in einer mehr als tautologischen Weise erklären zu können. Ebenso kann mir eine Erklärung im Au151Vgl. H.-J. Möller, Psychoanalyse- erklärende Wissenschaft oder Deutungskunst?, p. 162 ff. m.w.N. 152 Vgl. L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 251 ff. 153 Zu den Vorwtirfen gegen die Hermeneutik auch K. Salamun (Hrsg.), Was ist Philosophie?, p. 88 f. 154 Vgl. z.B. F. v. Kutschera, Erkenntnistheorie, p. 146. 155 Vgl. W. Stegmtiller, Probleme und Resultate, p. 416.
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genblick einsichtig sein, und etwas später erscheint sie mir unsinnig, so daß ich den Sachverhalt nicht mehr zu erklären vermöchte. Umgekehrt kann es ein Verstehen geben, für das die entsprechende Erklärung erst im nachhinein z.B. in Form unbewußter Koinzidenzengefunden wird. Besonders wenn ein Verstehen das Einnehmen einer gänzlich anderen Perspektive erfordert oder die Infragestellung eigener grundsätzlicher Prämissen, wenn es um weltanschauliche Dinge geht und um kulturbezogene, kurz: wenn ich den Horizont des mir Bekannten überschreiten muß und neue Einsichten nicht auf alte beziehen kann, wird das Auseinanderklaffen von Verstehen und Erklären offenbar. Das Verstehen einer fremden Mentalität erfordert nicht eine Erklärung, wie sie zu verstehen sei, sondern das Ablegen eigener Anschauungen. Umgekehrt kann eine fremde Mentalität verstanden werden, ohne daß sie erklärt werden könnte. 156 Man kann daher das Verhältnis von Erklären und Verstehen so bestimmen, daß Erklären keine notwendige Bedingung für Verstehen ist und Verstehen keine hinreichende für Erklären. Der tiefere Grund für diese Differenz liegt darin, daß Erklären stets, Verstehen nicht immer eine rationale Tätigkeit ist (was nicht ausschließt, daß Erklären unter Umständen eine rationale Methode sein kann, die zu einem nichtrationalen Verstehen führt). 2. Ein zweiter Einwand gegen die hermeneutische Methode hängt eng mit dem eben diskutierten zusammen, nämlich der, daß das einfühlende Verstehen unwissenschaftlich sei, weil es nicht sprachlich ausgedrückt und damit nicht mitgeteilt werden könne, weil es Kenntnis der Dinge sei, ihr Erleben, nicht Erkenntnis über Dinge. 157 "Unwissenschaftlich" impliziert dabei häufig nach der gängigen wissenschaftsfrömmigen Haltung "nicht erkenntnistauglich" und "wertlos".
156 Wer sich der Mühe unterzieht, sich mit der chinesischen Schrift ein wenig vertraut zu machen, wird feststellen, daß die Fähigkeit, ein Schriftzeichen zu erkennen oder eine Silbe zu verstehen, fundamental verschieden ist von dem Vermögen, seinen Bedeutungsträger auch niederschreiben zu können. In Sprachen mit alphabetischem Schriftsystem ist dies anders. Andererseits ermöglicht es eine Bildzeichenschrift, auch einen komplexeren Bedeutungszusammenhang schnell als Ganzes zu begreifen. Darauf beruht möglicherweise der Reiz an der poetische Dichte der klassischen chinesischen Sprache. Während alphabetische Sprachen Bedeutungsträger aneinanderreihen, werden sie in der chinesischen Schrift (auch) ineinandergeschrieben. Wer als am westlichen Denken geschulter Mensch die chinesischen Schriftzeichen erlernt, wird sich zunächst damit quälen, einzelne Striche in richtiger Reihenfolge an den rechten Platz zu setzen, später wird er Bedeutungszusammenhänge kombinieren, schließlich wird er die Harmonie des Schriftzuges suchen, die in der Kalligraphie ihren höchsten Ausdruck findet. Andererseits ist die chinesische Schrift aber filr die Wiedergabe präziser wissenschaftlicher Gedanken denkbar ungeeignet, was unter anderem flir den technologischen Rückstand Chinas verantwortlich gemacht wurde. Bemühungen zur Reformierung der Schrift unter Mao zielten auf diesen Mangel; es wurden sogar alphabetische Modelle diskutiert. 157 Vgl. F. v. Kutschers, Erkenntnistheorie, p. 140 f., 144.
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3. Kapitel: Analytik
Einer solchen Anschauung liegt ein sehr enger Begriff von "Wissenschaftlichkeit" zugrunde, der sich darauf stützt, als wissenschaftlich könne nur das gelten, was auch "sprachlich" im Sinne der normalen oder der wissenschaftlichen Sprache ausgedrückt werden kann. Gewiß ist Sprache, d.h. Kommunikation, ein wesentliches Mittel des Erkenntnisfortschritts, weil sie intersubjektive Erkennntis ermöglicht; man kann sogar vertreten, daß erst mit Entwicklung der Sprachen die "Eroberung" der Natur durch den Menschen eingesetzt hat. Aber Sprache ist in vielerlei Form möglich, nicht nur als Schrift- oder Lautsprache: Gehörlose Kinder beginnen im gleichen Alter wie Kinder, die hören können, sich mit Gebärden auszudrücken. Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, daß Kinder, denen im üblichen Alter des Spracherwerbs der kommunikative Umgang mit Älteren vorenthalten wird, in Gruppen mit Gleichaltrigen von selbst beginnen, eine "Sprache" zu entwickeln. Spirituelle Erkenntnis läßt sich gewiß nicht in eine wissenschaftliche Sprache fassen, aber gleichermaßen ist es unangemessen, anzunehmen, ein indischer Guru hätte seinen Schülern nichts mitzuteilen. 158 Zutreffend mag sein, daß die Mitteilung innerpsychischer Zustände einer anderen Sprache bedarf als unserer realistischen, an den Phänomenen der Außenwelt orientierten. Dieses Erfordernis macht eine solche Sprache aber noch nicht unwissenschaftlich. - Insbesondere Gadamer hat sich, in Anschluß an Heidegger, fiir ein solch weites Verständnis von Sprache eingesetzt, danach das Sein selbst den Charakter eines Sprachgeschehens hat. 159 Hier ist nun daran zu erinnern, daß Jung seine Patienten vorzugsweise Bilder malen ließ, um sich auszudrücken (und dieser Beschäftigung selbst auch nachging) und seine Untersuchungen zum Mandala einen der wesentlichen Pfeiler seiner Theorie bilden. Für Jung war diese Vorgehensweise ein Resultat seiner praktischen Erfahrungen, sie entbehrt aber auch in einem größeren geschichtlichen Zusammenhang nicht einer gewissen Schlüssigkeit, wenn man weiß, daß die Ursprünge von Schriften in bildliehen Darstellungen zu sehen sind, das Bild als Urform der Schrift gelten kann. 160 Eine Differenzierung des Denkens durch die solcherart geschaffene Möglichkeit der Perpetuierung von Sprache (von Wissen) erfordert eine weitere Differenzierung der Sprache, bis hin zu unseren wissenschaftstauglichen alphabetischen Schriften. Die Mythen der Völker schreiben nun die Erfmdung der Schreibkunst zwar göttlichen Wesen zu 16 ', die Erffndung wissenschaftstheoretischer Maßstäbe aber vor allem den Physikern. Wie sinnvoll ist es, mittelsteinzeitliche Schriftsymbole, wie die auf den Kieseln 158 Mandenke etwa an die Blumen-Predigt Buddhas, die als vollkomenster Ausdruck seiner Lehre gilt: Buddha zeigte seinen Schülern schweigend eine Blume. Die Funktion der Blume als Bedeutungsträger, d.h. als Sprachmittel, wird hier besonders deutlich. 159 Vgl. z.B. H.-G. Gadamer, Sprache und Verstehen in: Gesammelte Werke. Band 2, p.l84ff. 160 Vgl. K. Földes-Papp, Vom Felsbild zum Alphabet (1966). 161 ib. Vorwort.
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von Mas d' Azil, als "unwissenschaftlich" zu bezeichnen? Die Tiefenpsychologie beschäftigt sich vornehmlich mit Symbolen. 162 Symbole sind Bedeutungsträger. Der Traumtext verhält sich zum Traum "wie Symbol zu Symbolisiertem".163 Die Patienten drücken sich durch Symbole aus. - Eine Symbolsprache scheint hier also adäquater zu sein als eine Schriftsprache. Wie könnte man jene also an dieser messen! Erforderlich ist vielmehr eine Kategorisierung dieser Symbole, d.h. die Schaffung einer eigenen Sprache, was von der Tiefenpsychologie auch angestrebt wurde. 164 Daß eine solche Sprache ihrem Wesen nach unvollkommen und unzureichend ist, daß sie sich zum Gegenstand ihrer Beschreibung verhält "wie Symbol zu Symbolisiertem", aber nie das Symbolisierte ohne Verlust auszudrücken vermag, ist ein Problem, das jede Sprache, jeden Ausdruck, jedes Abbild der Wirklichkeit betrifft, auch jene der Naturwissenschaften. Daß eine solche Sprache unserem Denken so unverständlich und unwissenschaftlich erscheint wie eine chinesische Naturkalligraphie ist kein prinzipieller Einwand gegen die Brauchbarkeit dieser Sprache als wissenschaftliches AusdrucksmitteL Es geht beim Erkennen und Beschreiben der Welt schließlich nicht um Worte. ("Worte sind da um der Gedanken willen; hat man den Gedanken, so vergißt man die Worte.'d 65 ) Es geht um das Abbilden des Erkannten und seine Mitteilung. Die Sprache ist daher nicht Maßstab, sondern Mittel. Eine Ansicht, die das verkennt und Worte zum Maßstab des Erkennens macht, mißt den Wert der Wirklichkeit an etwas Unvollkommenem: der Sprache. Und eine Wissenschaft, welche auf dieser Voraussetzung beruht, beschreibt nur einen Teil der erkennbaren Wirklichkeit, nämlich jenen, der durch eine präzise, logische Sprache erfaßt werden kann. 3. Gegen den wissenschaftlichen Wert "einfühlenden", "erlebnismäßigen" Verstehens wird auch vorgebracht, daß dabei die eigenen Einstellungen, Motive und Erlebnisweisen anderen unkritisch unterstellt würden, weshalb es nicht garantiert sei, daß der andere tatsächlich das fühlt, was vom "Beobachter" nachgefühlt wird. 166 Diese Anschauung mißversteht den Begriff des "Einfühlens". "Einfühlen" bedeutet nicht, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen, sondern in seine Person. Das ist, im Gegensatz dazu, sich selbst in eine hypothetische Situation zu denken, tatsächlich ein besonderes Vermö-
Vgl. C. Landry, Ein Vergleich der Theorien von Freud und Jung, p. 93 ff. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, p. 716 ff. 164 Vgl. z.B. bei Freud: Für den Mutterleib stehen Schrank, Ofen und Zimmer, für die Brüste stehen Früchte, für Sterben steht Abreisen, filr Nacktheit Kleider und Uniformen usw. Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß die Deutung und Übersetzung der Symbole auch zutreffend erfolgt ist. 165 Zhuang Zi, Buch XXVI, Kap. I 0. 166 So F.v. Kutschera, Erkenntnistheorie, p. 146. 162 163
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3. Kapitel: Analytik
gen. 167 Man kann dies am Beispiel des Ratgebens, welches auch ein vorgängiges Verstehen voraussetzt, illustrieren: Ein Rat der Art "Ich an deiner Stelle ... ", wörtlich genommen, ist nicht besonders hilfreich, da er die Person des anderen ignoriert; er ist situativ, und er bekümmert sich nur um das "Ich" . Dabei wird es regelmäßig nicht die Situation sein, welche Schwierigkeiten bereitet, sondern das Person-Sein in der Situation. Es geht schließlich um persönliche Überzeugungen, und eine andere Person wüßte sich in der gleichen Situation vielleicht klar zu entscheiden (weshalb sie auch "gute Ratschläge" geben kann). Ein persönlicher Rat könnte dagegen vielleicht die Form haben "Wenn ich du wäre ...". 168 Er setzt die Annahme der Überzeugungen und Prämissen des anderen voraus und ein wechselseitiges Überdenken der Situation unter Zugrundelegung dieser Prämissen und ihrer durch Zugrundelegung der eigenen Prämissen sich ergebenden reflektierten Gestalt. Der Erkenntnisfortschritt (und Wert des Rates) liegt demnach darin, daß ein Verständnishorizont geschaffen wird, der über den Horizont des einen wie des anderen Beteiligten hinausgeht, so daß man zurecht von einer "Horizontverschmelzung" sprechen kann. Eine bloße "Identifizierung" ist dagegen nicht sehr sinnvoll, denn sie ermöglicht keine kritische Reflexion und damit keinen Erkenntnisfortschritt; ein Einfuhlen in die Situation des anderen fuhrt lediglich zu einer Konfrontation zweier Standpunkte, die nur durch einen Dritten aufgelöst werden könnte, und so fort. 169 Anders ausgedrückt: Ein rationaler Diskurs, jede Diskussion, jeder Austausch von Standpunkten ist nur dann sinnvoll und ergiebig, wenn der Standpunkt des jeweils anderen angenommen, und auf ihn eingegangen wird. Man kann auch sagen, die Beteiligten müßten "die gleiche Sprache sprechen" oder die des je anderen annehmen, d.h. die "Theoriebeladenheit der Sprache" des anderen erkennen. 170 Die äußeren Bedingungen einer lediglich "idealen Sprechsituation" (Habermas) sind dazu zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Man kann schwerlich von einem rationalen Diskurs sprechen, wenn jeder fur sich rational ist, jeder unverrückbar seinen Standpunkt (seine "Prinzipien") vertritt und alle aneinander vorbeireden. Dies ist eigentlich eine Trivialität, 167 Vgl. JGW 7, 242: "Die erdrückende Mehrzahl von Menschen ist gänzlich unfähig, sich individuell in die Seele einesandem zu versetzen." 168 Im allgemeinen Sprachgebrauch ist die Unterscheidung zwischen "Ich an deiner Stelle" und "Wenn ich du wäre" freilich nur eine Frage der WortwahL Die Gegenüberstellung der beiden Redewendungen dient hier lediglich der Illustration des situativen bzw. personalen Aspekts. 169 H.-G. Gadamer schreibt: "Im Miteinanderreden baut sich vielmehr ein gemeinsamer Aspekt des Beredeten auf. Das macht die eigentliche Wirklichkeit menschlicher Kommunikation aus, daß das Gespräch nicht die Meinung des einen gegen die Meinung des anderen durchsetzt oder die Meinung des einen zu der Meinung des anderen wie in einer Addition hinzufügt. Das Gespräch verWandelt beide." (H.-G. Gadamer, Gesammelte Werke. Band 2, p. 188). 170 Die These von der "Theoriebeladenheit der Sprache" wird insbesondere vom Holismus verfochten; vgl. F. v. Kutschera, Erkenntnistheorie, p. 499
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ebenso wie die Tatsache, daß es, wenn es um Personen geht, also auch um Werte, keine absoluten, allein seligmachenden Standpunkte gibt. Ein rationaler Diskurs soll schließlich nicht Überzeugungsarbeit sein, sondern ein kreativer Prozeß. 171 Insofern kann man gewiß auch von einer "Kunst der Einflihlung" sprechen. Das macht aber doch einen Diskurs nicht "unwissenschaftlich"! Ist ein solcherart rationaler Diskurs der Annahme von Standpunkten nicht möglich, z.B. weil er mit historischen Persönlichkeiten geflihrt wird, so ergibt sich das Problem, daß man nicht wissen kann, ob das, was man "einflihlt", auch dem adäquat ist, was jene Persönlichkeit ausgemacht hat, denn man kann nicht nach ihrer Zustimmung fragen. Was man hat, sind Informationen, Berichte, Bildnisse, Werke jener Person usw., also Abbilder, die die Person nie umfassend als Ganzes mitteilen. Dessen muß sich die Deutung solcher Informationen stets bewußt sein, bevor sie zu einem Urteil gelangt. Daß eine solche Art des Einftihlens, wie sie hier skizziert wurde, ein Ideal darstellt, braucht nicht bestritten zu werden. Auch die Physik arbeitet mit idealisierten Versuchsanordnungen. Sofern es allerdings um Relationen zwischen Menschen geht, ist die Fehleranfälligkeit zweifellos ungleich größer. Dies wurde bereits oben zur Suggestionsproblematik betont. Die Gefahr des Irrtums und der Verfälschung von Daten ist allerdings kein prinzipielles Argument gegen die Wissenschaftlichkeit einer Methode, denn diese Gefahr kann durch geeignete Maßnahmen minimiert werden. 4. Auch das Argument, einflihlendes Verstehen sei deshalb unzuverlässig, weil wir oft gegenteiliges Verhalten verstehen könnten, weil nichts Menschliches uns fremd sei, daher die Methode zu keinen eindeutigen Ergebnissen gelange172, ist nicht zutreffend. Es belegt allein die Fähigkeit des Menschen zu einfuhlendem Verstehen und sagt nichts darüber aus, wie zuverlässig dies Verstehen ist. 173 Es wäre paradox, zu behaupten, daß nur dann ein Verstehen als wissenschaftlich und zuverlässig gelten kann, wenn sein Gegenstand nicht verstehbar ist. Daß jedes Verstehen an Grenzen stößt, ist hingegen eine Trivialität. Die Fähigkeit des Verstehens sagt nichts über seine Richtigkeit aus und die Möglichkeit des Irrtums nichts über Wissenschaftlichkeit. Andernfalls wäre die einzig vertretbare Haltung ein extremer und unfruchtbarer Skeptizismus. 171 Daß er dies häufig nicht ist- und dabei ist auch an Jungs unverrückbare dogmatische Haltung gedacht - zeigt sich z.B. an dem häufig zu beobachtenden Phänomen, daß die Kritik an einer Aussage nicht durch Hinweis auf die eigene Aussage widerlegt (d.h. nicht "abgelehnt"!) wird, was die Annahme der Kritik voraussetzen würde, sondern durch Kritik an der Kritik oder gar an der Person des Kritikers! 172 Vgl. W. Stegmüller, Probleme und Resultate, p. 419; F. v. Kutschera, Erkenntnistheorie, p. 146. 173 Untersuchungen der empirischen Psychologie haben aber gezeigt, daß die erste, "intuitive" oder "ganzheitliche" Einschätzung von Menschen durchaus zuverlässig ist. Besonders Frauen hatten bei diesen Tests eine sehr hohe Trefferquote.
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Außerdem gibt es auch Menschliches, das uns zutiefst unverständlich und fremd erscheint, besonders wenn wir unmittelbar davon betroffen sind (z.B. grausame Verbrechen). Wir benutzen zum Ausdruck unserer Verständnislosigkeit dann gerne den Begriff "unmenschlich" zur Charakterisierung solcher Phänomene. Folge einer Konfrontation mit ihnen ist häufig ein "lrrewerden" an grundlegenden Überzeugungen, ein Verlust des Vertrauens in Recht und Gerechtigkeit, ein Verzweifeln an der Gesellschaft, die Suche nach einem Sinn, Haltlosigkeit. Solches Nicht-Verstehen und Ringen um Verständnis fuhrt uns zu einem grundsätzlichen Infragestellen eigener Überzeugungen, denn das Verstehen-können-wollen ist stärker als diese. Damit will gesagt sein: (Einfühlendes) Verstehen bedeutet nicht Verstehen von den eigenen Präferenzen her, sondern Verstehen durch Ablegen eigener Präferenzen. Inwieweit dies möglich ist, betrifft das gleiche Problem wie die Möglichkeit der Objektivierung des Beobachterhorizonts. Es ist also nicht so, daß man nicht Cäsar zu sein braucht, um ihn zu verstehen 17\ sondern man kann nicht Cäsar sein, aber man kann eine Doppelrolle spielen als außensteheoder ("objektiver") 175 und als einfühlender Beobachter, und aufgrund dieses quasi internen Standpunkts Cäsar zwar nicht so gut verstehen, wie er es selbst könnte (wenn er die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis besäße), aber besser als ein nur externer Beobachter. Die hermeneutische Methode kann daher nicht von vomherein als "unwissenschaftlich" entwertet werden. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob und inwieweit sie eine Alternative zum wissenschaftlichen Erklären darstellt.
D. Das Verhältnis von Erklären und Verstehen Um die Frage nach dem Verhältnis von hermeneutischem Verstehen und naturwissenschaftlichem Erklären zu beantworten, ist es zunächst einmal nötig, den Gegenstand exakt zu bestimmen, auf den sich Verstehen bzw. Erklären bezieht. Oben wurde bereits erwähnt, daß sich die Hermeneutik mit dem Menschen als denkendem, handelndem und schöpferischem Subjekt beschäftigt. PrinzTiell ist aber auch ein einfühlendes Verstehen von Naturvorgängen denkbar.17 Nimmt man das Phänomen der Sprache zum gemeinsamen Maßstab von Erklären und Verstehen, so zeigt sich, daß das Erklären Sprache benutzt, um erkannte Entitäten zu beschreiben. Demgegenüber ist Verstehen ein Dechiffrieren von Sprache, ein Erkennen der Bedeutung von Sprache und ein Versuch, das zu erschließen, was Sprache bedeutet. Verstehen bezieht sich also auf Spra174 Vgl. F. v. Kutschera, Erkenntnistheorie, p. 147. 175 Vgl. zum Problem der Objektivität unten§ 30. 176 Vgl. F. Capra, Das Tao der Physik (1975); F. v. Kutschera, Erkenntnistheorie,
p. 145 f.
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ehe, d.h. auf mitgeteiltes Erkennen, Erklären hingegen auf eine erkennbare Realität. Diese Unterscheidung scheint zunächst in einem Widerspruch zu stehen zu der Aussage, daß auch Naturvorgänge dem Verstehen zugänglich sind. Man muß sich aber davor hüten, davon zu sprechen, daß Naturvorgänge sich "mitteilen". Dies ist eine idealistische Hypostasierung, die ein Wesen zugrundelegt, welches sich mitteilt. Insofern ein solches, metaphysisches Wesen (z.B. Tao) angenommen wird, kann man freilich auch von einem Verstehen der Natur im metaphysischen Sinne sprechen. Umgekehrt ist es nicht die Natur, welche wir anband der Naturgesetze verstehen, sondern wir verstehen jene Gesetze, welche erklärende Hypothesen des Naturgeschehens sind. (Ich verstehe nicht einen Blitz, sondern ich verstehe, daß eine elektrische Entladung eine Naturerscheinung zu erzeugen vermag, die man als Blitz bezeichnet.) Verstehen ist ein Verstehen der Antwort auf eine Frage, die an ein zu erklärendes Ereignis gerichtet ist, d.h. einer Erklärung. Verstehen, wurde oben gesagt, setze kein Erklären voraus; gleichwohl ist es aber Verstehen einer "Erklärung ". "Erklärung" in diesem Sinne ist die Erklärung, welche sich "finden läßt", die Erklärung, die es für etwas "gibt", auch die unausgesprochene, die metaphysische oder die falsche Erklärung, nicht nur die positive, ausgesprochene, naturwissenschaftlich exakte, die sie freilich auch sein kann. "Erklärung" in diesem Sinne ist die der schöpferischen Fähigkeit des Verstehendenrelationale Möglichkeit des Erklärens. Eine Erklärung kann auch eine Handlung sein. Erklären hingegen ist Erklären einer Realität (eines Sachverhalts, eines Seienden), z.B. einer Naturerscheinung, eines Erlebnisses, eines Textes oder einer Erklärung selbst. Sofern dieses Erklären ein vorgängiges Verstehen notwendig macht, ist es zwar theoriebeladen, es ist aber immer noch Erklären einer Realität und nicht eines Verstehens! Am Phänomen des Textverstehens läßt sich diese Unterscheidung verdeutlichen: Wenn der Verfasser eines Textes mit seinem Werk etwas mitteilen, d.h. erklären will, gibt er dem Text einen Sinn, eine Bedeutung, die durch ein sinngemäßes Verstehen des Textes vermittels der hermeneutischen Methode erfaßt werden kann. Der Text ist eine Erklärung, die einen Sinn, eine Bedeutung hat, welche das sind, was der Verfasser erklären wollte. Der Verfasser muß diese Erklärung nicht selbst verstanden haben, er muß sie nicht einmal befragen 177, wohl aber das, was er erklärt. Was er erklärt, ist aber nicht der Text, die Erklärung, sondern ein Anliegen, ein Erlebnis, ein Gefühl, ein Naturgeschehen usw., d.h. ein erkennbares Geschehen, eine Realität. Diese muß der Verfasser ver177 M. Reich-Ranicki klagte einmal darüber, in einem Gespräch mit Anna Segers sei ihm klar geworden, daß diese ihren berühmten Roman "Das siebente Kreuz" gar nicht richtig verstanden habe. Daß die Interpreten Texte besser verstehen als ihre Verfasser, ist eine gängige Weisheit. Der Grund dafür ist darin zu sehen, daß sie die Texte befragen und nicht das in ihnen Erklärte. Dies gilt auch für das Verhältnis von Analytiker und Analysand in der Psychotherapie.
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standen haben, vermittels seines Vorverständnisses, welches ft.ir ihn Erklärungscharakter hat. Diese Erklärung, die z.B. gewisse Lebenszusammenhänge erklärt, hat einen Sinn, eine Bedeutung, die das sind, was durch die Erklärung erklärt werden soll. Dieses "was" ist wiederum eine Realität usw. Es kann natürlich auch ein Erklären eines Textes (z.B. durch den Literaturwissenschaftler) oder einer Erklärung (z.B. durch den Physikdozenten) geben. In diesem Falle sind Text und Erklärung, auf die Bezug genommen wird, die zu erkennenden Realitäten, welche von dem Erklärenden vermittels seines Vorverständnisses verstanden worden sein müssen. Die Erklärung bezieht sich so immer auf erfahrbare Gegebenheiten und liefert Deutungen ft.ir diese, die ihrerseits verstanden werden können. Man muß also sagen: Sofern ein Verstehen da ist, geht diesem eine- möglicherweise unausgesprochene - "Erklärung" voraus, welche verstanden wird, aber nicht zu einem Erklären fuhren muß. Und sofern ein Erklären ein Verstehen voraussetzt, bezieht sich dieses vermittels der Erklärungsfunktion des Vorverständnisses auf den Gegenstand des Erklärens, auf das zu Erklärende und nicht auf die Erklärung, welche das Erklären hervorbringt. Verstehen setzt eine Erklärung voraus, aber nicht ein Erklären-können seitens des Verstehenden. Erklären setzt ein Verstehen voraus, aber nicht ein Verstehen der Erklärung, sondern des zu Erklärenden (genauer: der "Erklärung", welche dieses erklärt). Von einer gegenseitigen Bezogenheit von Erklären und Verstehen im obengenannten Sinn 178 kann also keine Rede sein. Ein Text, eine Erklärung hat einen Sinn, eine Bedeutung, die das sind, was mit dem Text, der Erklärung mitgeteilt, erklärt, bedeutet werden soll. Diese Formulierung läßt bereits erkennen, daß Sinn und Bedeutung abhängig sind von einem sinn- bzw. bedeutungsintendierenden Willen, welcher der Wille des Erklärenden ist. Verstehen ist zunächst Verstehen des Textes, der Erklärung, nicht des Erklärten und nicht des Sinns bzw. der Bedeutung. Sofern es dem Verstehenden gelingt, die Erklärung ihrem Sinn bzw. ihrer Bedeutung gemäß zu verstehen, ist es ein authentisches, sinngemäßes Verstehen der Erklärung, aber immer noch ein Verstehen der Erklärung, nicht des Erklärten. Es wäre auch mißverständlich, statt von einem sinngemäßen Verstehen von einem Verstehen des Sinns oder der Bedeutung zu sprechen, denn diese werden nicht erklärt und stellen nichts von der Erklärung Unabhängiges dar. 179 Freilich können Vgl. § 21 C I. Diese Unterscheidung ist besonders wichtig, denn die ungenaue Beschreibung dessen, was Gegenstand des Verstehens ist, ist wohl verantwortlich fllr den scheinbaren Gegensatz zwischen realwissenschaftlichem Erklären und hermeneutischem Verstehen, den die Vertreter der einen wie der anderen Seite auszumachen glauben. Die dieses Mißverständnis hervorrufende Ungenauigkeit findet sich schon in exemplarischer Weise in Heideggers, fllr die Entwicklung der Hermeneutik so befruchtenden, Überlegungen zu "Verstehen und Auslegung". Heidegger schreibt über den Sinn: "Wenn innerweltli178
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Sinn und Bedeutung als solche auch Gegenstand einer Erklärung sein; der Verfasser des Textes kann sich z.B. darüber erklären, was er mit dem Text bedeuten wollte. Verstanden werden kann dann diese Erklärung, deren Bedeutung es ist, daß sie einen Sinn oder eine Bedeutung bedeutet, nicht aber werden diese, das Erklärte, verstanden. Sinn und Bedeutung sind nicht etwas Eigenständiges, Losgelöstes, sondern sie gehören zur Erklärung und setzen einen sinn- und bedeutungskonstituierenden Willen voraus. Bisher wurden "Sinn" und "Bedeutung" weitgehend synonym gebraucht. Der Gebrauch des Wortes "Bedeutung" ist im hermeneutischen Kontext allerdings ein graduell anderer als beim Verstehen von naturwissenschaftlichen Erklärungen. Gerade anhand dieses nur graduellen Bedeutungsunterschieds läßt sich aber darstellen, daß auch naturwissenschaftliches und hermeneutisches Verstehen sich voneinander nur graduell unterscheiden. Wurde oben allgemein "Bedeutung" im Sinne des Ergebnisses eines Akts des Be-deutens (auf etwas deuten) verwendet (die Bedeutung einer Erklärung ist das, was die Erklärung be-deutet), so kann man den Begriff im nichtnaturwissenschaftlichen Kontext synonym durch "Sinn" erklären. Wenn man von der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit eines Geschehens spricht, so bedeutet das zunächst, daß das Geschehen dem Betrachter sinnvoll oder sinnlos erscheint. Das Verhalten eines anderen kann für den Betrachter z.B. völlig sinnlos erscheinen, solange er nicht die Motive des Handeins kennt. Maßstab flir diese Beurteilung werden in der Regel analytisch-logische Kategorien sein, die jedoch z.B. kulturabhängig (vielleicht entsprechend den modes of thought) vollkommen unterschiedlich sein oder auch ganz fehlen können, wenn Sinnbezüge nicht in Frage stehen. Umgekehrt würde man von Naturereignissen, welche kausalgesetzmäßig ablaufen, solange nicht als von Sinn begleitet sprechen, als die Frage nach dem Sinn nicht explizit aufgeworfen wird. Der Wechsel von Tag und Nacht kann dann z.B. sinn-
ches Seiendes mit dem Sein des Daseins entdeckt, das heißt zu Verständnis gekommen ist, sagen wir, es hat Sinn. Verstanden aber ist, streng genommen, nicht der Sinn, sondern das Seiende, bzw. das Sein. ( .. ) Sinn ist ein Existenzial des Daseins, nicht eine Eigenschaft, die am Seienden haftet, ,hinter' ihm liegt oder als ,Zwischenreich' irgendwo schwebt." (M. Heidegger, Sein und Zeit, p. 151). Verstanden ist, streng genommen, aber weder der Sinn, noch das Seiende, sondern eine Aussage über Sinn und Seiendes, eine "Erklärung", die selbst eine Deutung ist. Wenn Heidegger dagegen behauptet, daß das Seiende verstanden sei, so ist das eine metaphysische Aussage, die unterstellt, daß das Seiende sich erklärt und die dadurch den Sinn gerade dem Seienden anhaftet. Wenn der Sinn dagegen vom Entdecken des Daseins herrührt, so haftet er nicht dem Seienden an, noch dem Dasein, sondern dem Entdecken. Es wäre daher auch konsequenter, nicht den Sinn als ein Existenzial des Daseins zu verstehen, nicht das "was", sofern der Sinn das ist, "(w)as im verstehenden Erschließen artikulierbar ist" (a.a.O.), sondern die Artikulation dieses "was", die Sinngebung oder das sinnschaffende Sinnen.
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3. Kapitel: Analytik
voll "sein", weil er dem Menschen Arbeits- und Erholungsphasen verschafft. 180 "Sinn" hat daher notwendigerweise mit dem Menschen zu tun, genauer mit seinen Erklärungen, die Antworten auf die Frage nach dem Sinn und Deutungen seines (des Menschen) Erlebens sind. (Ein Kind schreit (immer), wenn es Hunger hat. Es ist aber nicht der Sinn des Schreiens, daß das Kind Hunger hat, sondern, daß es auf sich aufmerksam machen will. Ist keiner anwesend, der das Schreien vernimmt, oder reagiert niemand darauf, weil der Grund des Schreiens nicht erkannt wird oder nicht erkannt werden will oder ähnliches, so ist das Schreien sinnlos.) So wie der Sinn ist aber auch die Bedeutung das Ergebnis eines erkennenden und somit interpretativen (deutenden) Vorgangs und als solches der Erklärung, die das Erkannte beschreibt, zugehörig und nicht etwa dem zu Erkennenden. Die Bedeutung eines dichterischen Textes ist das, was der Verfasser mit dem Text bedeuten wollte, z.B. ein Erlebnis. Die Bedeutung einer naturwissenschaftlichen Erklärung ist das, was der Forscher mit der Erklärung bedeuten wollte, z.B. ein Naturereignis. Sie ist die Bedeutung einer Erklärung. Die Bedeutung eines Naturereignisses ist das, was der lnszenator dieses Naturereignisses (das eine Erklärung ist) damit bedeuten wollte, z.B. seinen Zorn über die Sündhaftigkeit von Sodom und Gomorrah. Hermeneutisches Verstehen ist eine Rekonstruktion der Bedeutung (eines Kunstwerks, eines Symbols usw.), die von einem Bedeutenden (dem Künstler) in Hinblick auf ein Bedeutetes (das Symbolisierte) aufgestellt und (durch den Bedeutungsträger, d.i. das Kunstwerk, die Erklärung, die verstanden werden kann) mitgeteilt worden ist. Auch naturwissenschaftliche Hypothesen sind in diesem Sinne Kunstwerk. Popper hat vom "schöpferischen Charakter" der Hypothesenbildung gesprochen. 181 Eine derartige Bedeutung ist stets des Ergebnis eines Deutens, auch im erstgenannten Sinne de~ Be-deutens. Beispielhaft läßt sich dies in Hinblick auf die Frage nach der Bedeutung eines Wortes illustrieren. Die Bedeutung eines Wortes ist der abstrakte Gehalt dessen, was das Wort be-deutet. Dieses was ist durch Deutung jener Umstände, die auf es hinweisen, zu erschließen. Frage ich z.B. nach der Bedeutung des Wortes "Cicero", so kann eine Geste mir bedeuten, daß mit "Cicero" der Hund meines Nachbarn gemeint ist. Oder ich kann aus dem Kontext eines geschichtlichen Textes erschließen, daß "Cicero" der Name eines römischen Philosophen ist, der zur Zeit Cäsars gelebt haben muß. Wird das Wort "Cicero" benutzt, um etwas zu erklären, so vollzieht sich die Erklärung in einer Art und Weise, die die Bedeutung des Wortes "Cicero" festzulegen versucht, was ein Bedeuten und damit ein Vorwissen des Erklärenden (z.B. wie der Hund heißt) erforderlich macht. 180 Dies ist die anthropozentrische Art der Begründung des Kindes: Es wird dunkel, weil ich ins Bett gehe. 181 Vgl. K.R. Popper, Logik der Forschung (1934).
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Bedeutungen sind, wie sich aus diesem Beispiel ergibt, stets von der Intention des Bedeutenden, mithin von seinem Vorverständnis abhängig; nämliches gilt für das Verstehen der Erklärungen seitens des Verstehenden. Erklären und Verstehen sind daher stets von einem Vorwissen geleitet, also theoriebeladen. Auch der Spracherwerb von Kindem vollzieht sich in dieser Weise: Aus einzelnen, durch Bedeuten gewonnenen Bedeutungszusammenhängen ergibt sich ein zunehmend dichter verflochtenes Bedeutungsmuster, auf dessen Grundlage sich der Spracherwerb vollzieht. Man spricht hier von der sogenannten "Begriffspyramide".182 Keinen prinzipiellen Unterschied macht der Umstand, daß die Bedeutung einer naturwissenschaftlichen Erklärung durch experimentelles Vorgehen, der Sinn eines geschichtlichen Ereignisses dagegen durch einen intersubjektiven Diskurs, der Sinn einer Handlung durch einen subjektiven Entschluß festgelegt wird. Jedesmal handelt es sich in bezug auf die Bedeutung und den Sinn um einen schöpferischen Prozeß, bei dem lediglich die Art der zugrundegelegten, der jeweiligen Disziplin angemessenen Methode differiert bzw. der Grad von Objektivität. Ein ähnliches Bild ergibt sich in Hinblick auf das Bedeutete oder noch zu Bedeutende. Dieses (das Naturgeschehen, das geschichtliche Ereignis, die Handlung) kann nur auf empirischem Wege erschlossen werden. Das Muster seiner Erklärung, der die Deutung des empirisch feststellbaren Geschehens zugrunde liegt, ist das H-O-Schema. Eine Erklärung stellt auf diese Weise z.B. die Beziehung zwischen einer Willensäußerung und einer Handlung her. Ein sinngemäßes Verstehen dieser Erklärung erfaßt ihre Bedeutung, welche die gedeutete, hypothetische Beziehung zwischen jener Willensäußerung und jener Handlung ist. Solches Verstehen ist in diesem Falle nicht besonders problematisch, denn die durch das H-O-Schema strukturierte Erklärung teilt ziemlich eindeutig mit, was sie bedeutet, so daß sie leicht sinngemäß verstanden werden kann. Sieht man die Handlung selbst als eine Erklärung an, welche eine Bedeutung hat, so gilt im Grunde nichts anderes. Gibt z.B. eine Person a einer Person b eine Ohrfeige, so ist diese Handlung eine Erklärung, welche z.B. den Zusammenhang zwischen einer vorgängigen Beleidigung von a durch b und den dadurch erregten Zorn der a, welches empirisch feststellbare Geschehnisse sind, bedeutet. Diese Geschehnisse können freilich nicht nur durch eine Ohrfeige erklärt werden, sondern auch durch eine H-O-strukturierte Erklärung. Problematisch ist nur, daß die nicht-H-O-strukturierte Erklärung nicht eindeutig mitteilt, was sie bedeutet. Ihr sinngemäßes Verstehen setzt daher ein umfangreiches vorgängiges Wissen des Verstehenden voraus, das z.B. die Kenntnis der Beleidigung (die selbst eine Erklärung ist), ihrer Bedeutung, der Erregbarkeit der a, der sozialen Beziehung zwischen a und b usw. umfaßt. Ein "ein182 Vgl. H. Nickel, Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters. Band I, p. 271.
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fiihlendes" Verstehen kann zur Gewinnung dieser Informationen durchaus dienlich sein, weil es durch Analogieschlüsse gewonnene Hypothesen über jene Umstände, die in das Vorwissen des Verstehenden eingehen müssen, verschafft. Es ist aber klar zu sehen, daß dieses Verstehen keine Alternative zum Erklären darstellt, sondern nichts anderes als ein Verstehen und möglicherweise sogar ein nicht sinngemäßes Verstehen von Erklärungen ist. Sofern die Hermeneutik hingegen mehr zu erkennen beansprucht, als ihr vermöge ihres Status als Kunstlehre der Auslegung oder Interpretation zukommt, ist sie eine Fortsetzung idealistischer Konfusionen. 183 Darüber hinaus kann dem hermeneutischen Verstehen ein heuristischer Wert zukommen, insofern durch unausgesprochene Annahmen ein Verstehen erzielt wird, aus dem jene Hypothese hervorgeht, deren erklärende Bestätigung in einem empirischen Prozeß gesucht werden kann. 184 Verstehen kann so vorbereitende Funktion haben und entspricht jenem spontanen schöpferischen Tätigwerden im Sinne Poppers, das zur Hypothesenbildung fuhrt. Im übrigen ist auch zum Verständnis H-O-strukturierter Erklärungen ein umfangreiches Vorwissen erforderlich, welches z.B. die Kenntnis der verwendeten technischen Begriffe und ihrer Bedeutungen enthält. Das Verstehen einer H-O-strukturierten und einer nicht solchen Erklärung ist daher gleichermaßen ein hermeneutisches Verstehen, was das Erfordernis eines Vorverständnisses anbelangt. Ein Unterschied besteht lediglich insofern, als die H-O-strukturierte Erklärung das Verstehen erleichtert. Eine Unterscheidung zwischen prinzipiell hermeneutischen Wissenschaften und Naturwissenschaften ist daher ungerechtfertigt, und der beste Beleg fiir die Unzweckmäßigkeit dieser Abgrenzung ist die Psychoanalyse selbst, die über Jahrzehnte zwischen den verhärteten Fronten der wissenschaftstheoretischen Standpunkte gestanden hat. Empirischen Wert jedenfalls hat eine Erklärung in jedem Fall nur dann, wenn das zu Erklärende als empirisch gut bestätigt gelten kann! Zusammenfassend läßt sich das Verhältnis von realwissenschaftlichem Erklären und hermeneutischem Verstehen in fiinfThesen zusammenfassen: I. Verstehen und Erklären stehen in keinem gegenseitigen Verhältnis.
2. Verstehen ist stets Verstehen einer Erklärung. 3. Sinn und Bedeutung sind der Erklärung zugehörig und setzen einen sinnbzw. bedeutungskonstituierenden Willen voraus.
Vgl. dazu noch unten§ 25. So i. Erg. auch W. Stegmüller, Probleme und Resultate, p. 416 f., 422; vgl. auch A. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse, p. 309, 429 in Hinblick auf den heuristischen Wert der klinischen Untersuchungen Freuds. 183
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4. Es gibt kein Verstehen eines Sinns, sondern ein sinngemäßes Verstehen einer Erklärung. 5. Das Verstehen einer naturwissenschaftlichen und einer nicht-naturwissenschaftlichen Erklärung ist gleichermaßen hermeneutisches Verstehen, was das Erfordernis eines Vorverständnisses anbelangt.
E. Tiefenpsychologische Hermeneutik Damit ist der Bogen zur Analytischen Psychologie geschlagen. Diese Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Denken, Fühlen und inneren Erleben von Menschen. Es ist für sie daher selbstverständlich, daß diese Phänomene eine Wirklichkeit darstellen. 185 Diese Phänomene sind nun nicht ohne weiteres erkennbar, so wie physische Dinge, sie äußern sich in Verhaltensweisen, Aussagen, Werken des Patienten und diese, nicht die Phänomene selbst, bilden den Untersuchungsgegenstand des Analytikers. Der Untersuchungsgegenstand wird schließlich anhand der Theorie gedeutet und aus der Deutung wird auf die Phänomene geschlossen. Der Beitrag des Analytikers zum Erkennen dieser Phänomene ist dabei zunächst nicht größer als der eines Naturwissenschaftlers, der anhand gewisser, beobachtbarer Phänomene (z.B. der Streuung von Lichtpunkten auf einer Mattscheibe) auf ein unmittelbar nicht erkennbares Phänomen (den Aufbau eines Atoms) schließt. Ein wesentlicher Unterschied liegt allerdings in der wechselseitigen Bezogenheit von Beobachter und Beobachtetem. Zwar zeigt das Phänomen der Unschärferelation in der Quantenmechanik, auf das sich auch Jung wiederholt bezieht, daß auch das Physische nicht immun gegen den Störfaktor "Beobachter" ist, aber in den praktischen Anwendungen der klassischen Physik spielt dies keine Rolle. Das Verhältnis zwischen Analytiker und Analysand ist diesbezüglich ungleich sensibler, denn der Analysand ist kein Objekt, das man untersuchen und verändern kann, sondern eine denkende, handelnde, erfahrende und auf Erfahrung reagierende Persönlichkeit, die dem Analytiker überdies Informationen beschafft, zu denen sie privilegierten Zugang hat. Dies führt unter anderem zur Suggestionsproblematik, die oben diskutiert wurde. Die Erkenntnis psychischer Phänomene vollzieht sich unter Beteiligung des Analytikers im psychoanalytischen Narrativ. Diese Beteiligung läßt sich nicht einfach subtrahieren - dann wäre keine Erkennntis mehr -, sie läßt sich aber bewußtmachen und durch gewisse methodische Vorkehrungen, wie extraklinische Überprüfungen, Hinzuziehung von Fachkollegen, Anstreben von Intersubjektivität, minimieren. Die hierbei entstehenden Schwierigkeiten sind, wie oben 185 Bei Jung findet sich diese Auffassung in der These "Was wirkt ist wirklich."; dazu unten § 25 B.
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erwähnt, nicht prinzipieller, sondern praktischer Natur. Der Analytiker bedarf zweifellos auch eines gewissen Einfühlungsvermögens, um die Erklärungen des Analysanden adäquat zu verstehen. Das heißt aber nicht, daß seine Deutung dadurch unwissenschaftlich wird, im Gegenteil löst sie sich von ihrer Theoriegeleitetheit, denn einfühlendes Verstehen bedeutet das Vermögen, sich von seinen Vor-Urteilen (teilweise) lösen zu können und eine andere Perspektive einzunehmen. 186 Daß sich hierbei Irrtümer, Unterstellungen, Suggestionen ereignen können, ist kein generelles Indiz für Unwissenschaftlichkeit, denn die Möglichkeit des Irrtums betrifft auch die Naturwissenschaften, und es lassen sich, wie dort, auch in der Tiefenpsychologie Kriterien finden, anhand derer Erkennntisse überprüft werden können. Geht man nun exemplarisch von der Annahme aus, daß das Unbewußte z.B. einen Sinn des Mandalas konstituiere (so, wie gewöhnlich der Künstler, der mit seinem Werk etwas bestimmtes intendiert), so wird es zur Aufgabe des Analytikers, diesen Sinn durch sinngemäßes Verstehen des Mandalas zu erschließen. Dabei befindet er sich in der prekären Lage, daß ihm das Mandala nicht eindeutig mitteilt, was es bedeutet, sondern er dieses nur anhand seines Vorverständnisses, welches zudem zutreffend sein und sich auf empirisch gut bestätigte Gegebenheiten beziehen muß, erschließen kann. Der Interpret kann das Onbewußte auch nicht fragen, was es mit diesem Mandala gemeint habe (wie z.B. den Künstler), denn es ist unbewußt, und da es kollektiv unbewußt ist, kann er auch nicht die individuelle Lebensgeschichte zu Rate ziehen (wie es sich für Motive eignet, die dem Künstler selbst unbewußt sind), noch auch die kollektive, die so umfassend ist, daß sie die Entwicklung des Lebens selbst beinhaltet, über die der Interpret unmöglich abschließend Auskunft erlangen kann, und selbst wenn er dies vermöchte-, die ihm nicht mitteilt, worauf es denn nun im besonderen ankommt (so, wie es hinsichtlich des persönlichen Unbewußten auf Besonderheiten der individuellen Lebensgeschichte ankommt), daß es sich in einem Mandala Ausdruck verschafft. Gleichermaßen kann der Interpret nicht den Analysanden befragen, ob er den von seinem kollektiven Unbewußten gestifteten Sinn erfaßt habe, denn erst recht ist dem Analysanden sein Unbewußtes unbewußt, und, sofern es ihm bewußt werden kann, sofern also die prinzipielle Möglichkeit der Selbsterkenntnis des Sinns besteht, so steht auch der Problemkreis um Suggestion und Placebo-Effekt im Raum. Der Analytiker ist bei seiner Interpretation also beinahe ganz auf sich selbst gestellt und dementsprechend groß ist die Möglichkeit einer Fehlinterpretation. Indem ein sinnvoller Inhalt von Träumen festgestellt wird, bedeutet das auch noch lange nicht, daß diesen Sinn der Träumende (respektive sein Unbewußtes) erzeugt hat. Das
186 Man kann dies am Phänomen des "Gestaltwandels" veranschaulichen, bei dem ein und dieselbe Abbildung z.B. als griechische Vase oder als zwei Gesichter im Halbprofil angesehen werden kann, aber nie als beide zugleich.
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(daß es ein Unbewußtes gibt, und dieses sinnstiftend wirkt) ist, abgesehen von der Problematik des sinngemäßen Verstehens, zunächst eine Hypothese, welche nicht dadurch bestätigt ist, daß ein Sinn erschlossen wurde. Die Annahme eines Sinnzusammenhangs macht den Nachweis eines Unbewußten und eines kollektiven oder persönlichen, archetypischen oder traumatischen Erlebnisses also nicht entbehrlich, sondern setzt diese voraus, so wie eine Bedeutung einen Bedeutenden und ein Bedeutetes, das bedeutet werden kann, voraussetzt. Wenn Jung über den konstruktiven Aspekt der Symboldeutung sagt: "Konstruktion fuhrt zum Verständnis der Absicht eines Symbols" 187, so, als ob das Symbol eine Absicht hätte, so belegt er durch diese unzureichende sprachliche Differenzierung gerade jenen Denkfehler, der ihn zur Personifizierung des Symbols und zur Hypostasierung eines vermuteten Unbewußten fuhrt, obwohl ihm als empirisches Material eigentlich nichts weiter zur Verfugung steht als ein Symbol. Bloßes Verstehen (z.B. der "Mitteilungen" des "Unbewußten") kann rein logisch keinen Nachweis dieses Unbewußten und der ihm zugrundeliegenden Erlebnisse bedeuten, die selbst erklärende Hypothesen sind, welche empirisch gut bestätigt sein müssen, denn Verstehen ist "nur" Verstehen einer Erklärung, welche auch falsch sein kann. Da sich nur Erklären auf die Realität des zu Erklärenden bezieht, kann nur die wissenschaftliche Erklärung die Aufgabe übernehmen, einen ontologischen Nachweis des zu Erklärenden zu beschreiben. Dies kann zweckmäßigerweise durch das universal anwendbare H-O-Schema, auch in Hinblick auf die Bestätigung eines hypothetischen Unbewußten und vermuteter archetypischer oder traumatischer Erlebnisse geschehen. Sofern es also, wie die Hermeneutik geltend macht, in der Psychoanalyse um Bedeutungen geht, mag das zwar zutreffen, es stellt aber keine Alternative zu dem Erfordernis einer empirisch gut bestätigten Erklärung dar. Gleiches gilt fur den Nachweis des kollektiven Unbewußten bei Jung anband des H-OSchemas. Daher erklärt Grünbaum vollkommen zutreffend: "Thus, Freud should not be faulted for asserting, in principle, that some mental events can be linked both thematically and causally, though he mistakenly claimed entitlement to infer the latter linkage from the former alone. And when he explicitly asserted such entitlement, he was fully clear on the distinction between thematic connections and causal connections. ( ... ) But since causal relevance is entirely compatible with thematic or ,meaning' relevance, Jaspers' objection to Freud rests on a pseudo-antithesis ( ...).'.1 88 C.G. Jung, Analytische Psychologie und Erziehung, p. 60. A. Grünbaum in: H. Vetter u.a. (Hrsg.), Die Philosophen und Freud, p. 153. Insofern sich Grünbaum hier allerdings auf seine Hermeneutikkritik in der Einleitung von "Die Grundlagen der Psychoanalyse" bezieht, beruht seine Argumentation auf einer Zurückweisung der Dichotomie von Ursachen und Gründen i.d.S., daß Sinnzusammenhänge nicht als kategorial verschieden von Ursache-Wirkungszusammenhängen aufgefaßt werden können. Das entspricht wohl der Auffassung Stegmüllers, die oben(§ 20 B) 187 188
204
3. Kapitel: Analytik
Sofern ein Verstehen der "Mitteilungen" des "Unbewußten" in der Tiefenpsychologie nötig ist, um zur Hypothesenbildung zu gelangen, ist es zutreffend, von einer lneinanderschachtelung von kausalem Erklären und hermeneutischem Verstehen zu sprechen, die in diesem Sinne in einem Ergänzungsverhältnis stehen. 189 Damit, dies sei nochmals betont, sind die auf Grundlage der Anwendung des Modells kausaler Erklärungen aufgedeckten Mängel der Beweisführung von Psychoanalyse und Analytischer Psychologie nicht behoben! Eine Bestätigung könnte allerdings durch eine experimentelle Versuchsanordnung geschehen. Hier kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Wenn die Hypothese eines Unbewußten in solcher Weise bestätigt scheint, daß man verläßlich damit arbeiten kann, kann man schließlich fragen, ob diesem Unbewußten eine sinnstiftende Funktion zukommt. Dies ist nicht selbstverständlich, denn die Sinnstiftung ist eine schöpferische und interpretatorische Leistung, und dies ist schwer vereinbar mit der Annahme eines lediglich formalen Anordners. So, wie die Analytische Psychologie sich in den Werken Jungs zu erkennen gibt, läßt sich jedenfalls feststellen, daß sie sich ihrer stillschweigend getroffenen Voraussetzungen nicht bewußt ist. 190 Ihre Aussagen haben zwar durchweg den Charakter von Hypothesen 191 , sie können aber keineswegs als gut bestätigt gelten, zumal ihnen logische Fehlschlüsse zugrundeliegen. Denn nicht, daß es skizziert wurde. Die hier vertretene Ansicht weist dagegen die Dichotomie von Ursachen und Gründen lediglich zurück, insofern sie eine Dichotomie sein soll, verneint aber nicht die Verschiedenheit von Kausal- und Sinnzusammenhängen, insofern sich diese auf unterschiedliche Gegenstände beziehen, die den Zusammenhang konstituieren. Der Sinn stiftet beispielsweise den Zusammenhang zwischen der Intention einer Handlung und der Bewertung ihres Ergebnisses und dieser kann angemessen durch den praktischen Syllogismus ausgedrückt werden. Die Kausalität hingegen betrifft den Zusammenhang zwischen dem Willen als solchem (wie er z.B. durch eine Gehirnstrommessung nachgewiesen werden kann) und der Ausfohrung der Handlung (die auch gemessen werden kann) und wird durch das H-O-Schema beschrieben. Dies ist etwas vollkommen Verschiedenes. Weil die Intention einen intendierenden Willen voraussetzt (und dieser durch jene konkretisiert werden kann), und die Bewertung einer Handlung ihre Ausftihrung, ist trotzdem ein Sinnzusammenhang - wenn auch um den Preis eines gewissen Verlustes - prinzipiell in einen Kausalzusammenhang übersetzbar (aber nicht umgekehrt). 189 Vgl. auch S. Pohl, Probleme der Psychoanalyse, p. 13, 16 f.; P. Ricoeur, Die Interpretation (I 965) beschreibt die Psychoanalyse Freuds als eine "Verschränkung von energetischem und hermeneutischem Diskurs." 190 D. Spies, Philosophische Aspekte, p. 68 f., stellt fest, daß Jung in weitem Maße die philosophische Bedeutung seiner Lehre übersehe, etwa die Frage nach der Möglichkeit von Empirie überhaupt, sowie den erkenntnistheoretischen und den spekulativen Aspekt seiner Aussagen. 191 Vgl. dazu die Einschätzung von H.F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, p. 1177 ff., der den Ursprung der Systeme von Freud und Jung "in der schöpferischen Krankheit, die jeder von ihnen durchgemacht hat" vermutet.
§ 21 Hermeneutik
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Archetypen und archetypische Bilder gibt, ist eine empirische Tatsache, wie Jung behauptet, sondern vielmehr, daß es psychische Phänomene und Ausflüsse des Psychischen gibt, welche hinsichtlich ihrer Eigenschaften gedeutet und als archetypische Bilder bezeichnet werden können. Und nicht eine in der Evolution der Menschheit nachvollziehbare Bewußtseinsentwicklung hin auf Ganzheitlichkeit ist solch eine Tatsache, sondern vielmehr die Zeugnisse psychischen Wirkens, welche als in einem gewissen Zusammenhang stehend interpretiert werden können. Jung nimmt die Erklärung für das zu Erklärende, die Interpretation für die Tatsache. Würde er dies erkennen und seinen Erfahrungshorizont hinterfragen, anstatt sich ständig auf "Empirie" zu berufen, so wäre seine Vorgehensweise eine durchaus hermeneutische. Jung hat die Validierung seiner Hypothesen durch das Experiment und die Methode aber nicht einmal angestrebt. Er erklärt: "Die komplexen seelischen Probleme, mit denen wir uns befassen müssen, liegen nämlich alle jenseits der Experimentierbarkeit." Die Seele "ist unserer Beobachtung ( ...) nicht unmittelbar zugänglich - sonst wäre sie ja gar nicht unbewußt - sondern kann nur erschlossen werden." 192 Dem kann man die konträre Auffassung von Grünbaum gegenüberstellen, jedoch nur insoweit, als es sich bei den Hypothesen Jungs nicht um solche metaphysischer Art handelt. Daß gerade der Archetypenlehre verschiedene Begriffe dessen, was unter einem Archetypus zu verstehen sei, zugrundeliegen, und daher über deren prinzipielle Erkennbarkeit hier noch keine allgemeinen Aussagen getroffen werden können, wird unten näher erörtert. 193 Es ergibt sich damit abschließend der Eindruck, die "empirische" Vorgehensweise Jungs sei in hohem Maße unreflektierte Interpretation im Lichte der Theorie, insbesondere, da Jung der Methode - die fernerhin, selbst wenn gewissenhaft gehandhabt, große Schwierigkeiten aufweist - keinen großen Stellenwert beimißt Ein Indiz dafür ist auch, daß Jung - im Gegensatz zu Freud - seine Archetypentheorie nie radikalen Modifizierungen unterworfen, sondern sie allenfalls aus philosophischen Erwägungen differenziert hat 194, obwohl seine zunehmende praktische Erfahrung doch Anlaß zu der Vermutung gibt, es müßten sich auch neue Erkenntnisse eingestellt haben. Statt dessen wurde eine Vielzahl neuer "empirischer" Daten in die Theorie integriert. Daß die tiefenpsychologische Theorien aber prinzipiell falsifizierbar sind, zeigt insbesondere auch ihre kontroverse Diskussion im fachlichen Bereich, auf die hier nur ganz am Rande eingegangen wurde. Solcher kritischen Reflexion zeigte sich Jung kaum zugänglich, so daß man abschließend wohl pointiert feststellen kann, daß sein Schaffen von der Theorie beherrscht worden ist.
JGW 8, 167. Vgl. § 24. 194 Vgl. die Unterscheidung in Archetypus an sich und archetypisches Bild. 192 193
206
3. Kapitel: Analytik
Daß dies nicht nur für das Jungsehe Werk, sondern für die Theorien der rivalisierenden tiefenpsychologischen Schulen im allgemeinen zu gelten scheint, sei durch folgendes, prägnantes Zitat in den Raum gestellt. Der Analytiker J. Marmor schreibt: "Je nach dem Standpunkt des Analytikers bringen die Patienten der einzelnen Schulen anscheinend exakt die Art phänomenologischer Daten hervor, die die Theorien und Deutungen ihrer Analytiker bestätigen! Jede Theorie neigt so zur Selbstbestätigung. Freudianer bringen Material über den Ödipuskomplex und Kastrationsangst ans Licht, Jungianer Material über Archetypen, Rankianer über Trennungsangst, Adlerianer über Männlichkeitsstreben und Minderwertigkeitsgefühle, Horneyaner über ldealbilder, Sullivanianer über gestörte zwischenmenschliche Beziehungen usw.'.J 95
§ 22 Inhaltliche Unstimmigkeiten 1: Anthropologie Die obigen Ausflihrungen haben sich weitestgehend nur auf methodische, d.h. formale Überlegungen gestützt. Eine inhaltliche Überprüfung der Jungsehen Theorien kann für den klinischen Bereich mangels Kompetenz leider nicht durchgeflihrt werden. Jedoch kann, anhand eines Vergleiches mit ausgewählten Beispielen und Tendenzen in Anthropologie und Märchenforschung, die nicht-klinische, sozusagen "geisteswissenschaftliche", Fundierung der Jungsehen Lehre einer Kritik unterzogen werden, die gleichsam als Darlegung der Folgen einer unsauberen methodischen Vorgehensweise gelten kann .
A. Der generelle Vorwurf der Ethnozentrizität Wie erwähnt sieht Jung eine Parallele zu seinem Archetypenbegriff in den "representations collectives" von Levy-Bruhl, die Merkmale der "prä-logischen Mentalität" des primitiven Menschen sind. M. Fortes schreibt über die mit dieser Begriffsbildung verbundene Geisteshaltung: "Die zeitgenössischen Anthropologen sind sehr vorsichtig mit Formulierungen, in denen vom ,Geist des primitiven Menschen' die Rede ist; denn 'den primitiven Menschen' und so etwas wie einen kollektiven Geist irgendeiner Spielart des Menschengeschlechts gibt es nicht. Ausdrücke dieser Art sind uralt und werden mit Vorliebe von Literaten und Sozialphilosophen verwendet, die primitive Gesellschaften nur aus zweiter Hand kennen und ihre Kenntnisse dazu benutzen, eine Lieblingstheorie zu stützen. Ein - übrigens sehr bekanntes - Beispiel dafür ist der französische Sozialphilosoph Lucien Levy-Bruhl, der für seinen generalisierten primitiven Menschen die glänzende Erfindung einer ,prä-logischen Mentalität' gemacht hat.'.J 96
195
J. Marmor in: J. Masserman (Hrsg.), Psychoanalytic Education, p. 289, zit. nach
A. Grünbaum, Die Grundlagen der Psychoanalyse, p. 428. 196
M. Fortes in: Institutionen in primitiven Gesellschaften, p. 93.
§ 22 Inhaltliche Unstimmigkeiten 1: Anthropologie
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Diese Äußerung, in der eine Kritik an der Ausübung der Anthropologie durch Laien enthalten ist, stammt aus dem Jahre 1956; heute stellt die in ihr zum Ausdruck kommende Erkenntnis wohl eine der Grundeinsichten der anthropologischen Forschung dar, die immer wieder hervorgehoben zu werden verdient. W. Fikentscher: "And the third token of cross-cultural respect is the inappropriateness of applying to cultures such terms as ,civilised' and ,primitive', ,developed' and ,underdeveloped', or ,modern' and ,tobe modemized' ." 197 Auch der Einfluß des Strukturalismus, v.a. von Claude Levi-Strauss, auf das Jungsehe Werk kann in diesem Kontext herangezogen werden. Im Sinne des Strukturalismus nur allgemein von "Strukturen" zu reden, erscheint der heutigen Anthropologie schon als ethnozentrisch. So weist z.B. Fikentscher darauf hin, daß es Kulturen gebe, die keinerlei Begriff von "Struktur" hätten. 198 Zwar haben sich oben 199 Anzeichen ftir eine morphologische Auffassung des Verhältnisses von "primitiven" und "zivilisierten" Gesellschaften bei Jung ergeben, es kann jedoch gezeigt werden, daß die Einschätzung von M.Fortes auch auf viele der generalisierenden Äußerungen Jungs zutreffen würde. B. Ausprägungen bei Jung Nachdem so also schon auf den zentralen Schwachpunkt der anthropologischen Fundierung von Jungs Theorie aufmerksam gemacht worden ist, sollen nun einige Beispiele für die Rechtmäßigkeit einer solchen Einschätzung sprechen. (Die Berechtigung, kulturanthropologische Erkenntnisse überhaupt zur Überprüfung psychologischer Thesen heranzuziehen, ergibt sich aus der Auffassung Jungs selbst, wonach die äußeren Ordnungs- und Gesellschaftssysteme nichts anderes sind, als die im Außen abzulesenden, dem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechenden Ordnungssysteme der Psyche. 200) I. Für Jung besteht bei "Primitiven" die besondere Gefahr, daß ihr "erwachendes Bewußtsein" von Inhalten des Unbewußten "überschwemmt" wird, hingegen "das Uneinssein mit sich selbst" ein Charakteristikum des "Kulturmenschen" sei. 201 Mit dieser Aussage wird eine terminologische Vorentscheidung getroffen, die hinter der Differenzierung von "Überschwemmtsein" und W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 174. W. Fikentscher, Methoden des Rechts I, p. 139; id., Modes ofThought, p. 142. 199 Vgl. § IO. 197 198
200 Vgl. JGW 10, 245; 10, 315 : Der Patient "ist ein sozialer Mikrokosmos, der die Eigenschaften der großen Sozietät in kleinstem Maßstab widerspiegelt, oder umgekehrt geht aus ihm als der kleinsten sozialen Einheit durch Summierung die kollektive Dimension hervor." 201 Vgl. JGW 7, 20.
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3. Kapitel: Analytik
"Uneinssein" beinahe unbemerkt bleibt: dem "Primitiven" wird entweder abgesprochen, ein Mensch zu sein, oder seiner Kultur, eine Kultur zu sein. D.h. es wird zwar - möglicherweise zutreffend - die Kultur des modernen Menschen flir sein psychisches "Uneinssein" verantwortlich gemacht, gleichzeitig soll das Fehlen dieser Kultur bei "Primitiven" aber ein Argument flir deren "Überschwemmtsein" liefern. Wenn schließlich bei primitiven Kulturen Belege ftir diese These gesucht werden, so geschieht das vor dem Hintergrund dieser Vorentscheidung: Institutionen primitiver Gesellschaften werden am Maßstab "zivilisierter" Gesellschaften gemessen (mehr noch, an dem der Analytischen Psychologie) und erlangen keine eigenständige Bedeutung. Eine solchermaßen "empirische" Vorgehensweise bezeichnet man als "ethnozentrisch" (hier vielleicht besser noch "psychozentrisch"). 2. Jung spricht den Menschen auf der "primitiven" Stufe Bewußtheit ab. "Wenn das seelische Leben nur aus Tatsächlichkeiten bestünde - was übrigens auf primitiver Stufe noch der Fall ist - dann könnten wir uns mit fester Empirie begnügen. Das seelische Leben des Kulturmenschen ist aber voller Problematik, ja es läßt sich ohne Problematik überhaupt nicht denken. Unsere seelischen Vorgänge sind zum großen Teil Überlegungen, Zweifel, Experimente - lauter Dinge, welche die unbewußte Seele des Primitiven so gut wie gar nicht kennt. Die Existenz der Problematik verdanken wir dem Wachstum des Bewußtseins; sie ist das Danaergeschenk der Kultur. Das Abweichen von und das Sich-in-Gegensatz-Setzen zum Instinkt schafft Bewußtsein." 202
Der erste Teil dieser Aussage impliziert, daß das Seelenleben der Primitiven "mit fester Empirie" erschlossen werden könnte. Dies belegt Jungs unkritische Haltung gegenüber Fragen der Möglichkeit von Empirie überhaupt. Die Schwierigkeiten, denen sich die anthropologische Forschung in dieser Hinsicht ausgesetzt sieht, sind Widerlegung genug. Im zweiten Teil der Aussage wird der primitiven Seele die Fähigkeit zu Überlegung, Zweifel und Experiment abgesprochen. Die primitive Seele kennt keine "Problematik", d.h. sie ist "unbewußt". Dieser Schluß ist in mehrerlei Hinsicht problematisch. Erstens wird ein Urteil über einen innerpsychischen Zustand getroffen, auf den nur aufgrund äußerer, empirisch feststellbarer, Zustände geschlossen werden kann. Beobachtet werden kann z.B. "that is bad manners to inquire how others do it." Daraus kann man schließen auf "(t)he Iack of an ability or willingness to meaningfully compare and form overarching concepts", was zu der These fUhren kann: "Conceptual unit building and its corollaries, dichotomizing and systematizing, are little developed, if at all." 203 Damit ist keine Aussage über Problembewußtsein oder Bewußtsein überhaupt gemacht. Ein mangelndes Interesse an Veränderung (durch Experiment) kann seinen Grund auch in der Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand haben oder in dem Bestreben, die Ausprägung von
202 203
JGW 8, 443 . W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 293, 292.
§ 22 Inhaltliche Unstimmigkeiten 1: Anthropologie
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Herrschaftsstrukturen zu verhindem204 ; Überlegung, Zweifel, Dichotomisierung usw., also Mittel der Erkenntnis, können deshalb geringen Stellenwert besitzen, weil andere Erkenntnismittel zur Verfügung stehen, die der Mentalität des Volkes besser gerecht werden, weil ihr zersplitternder Charakter die Einheit des Menschen mit seiner Umwelt zerstört oder weil die Art der Erkenntnis, welche sie fördern, bewußt als Nebensächlichkeit zurückgewiesen wird. 205 Einblicke in Rechtssysteme primitiver Kulturen zeigen zweitens, daß der Auseinandersetzung mit einem Rechtsfall sehr wohl differenzierte "Überlegungen" zugrundeliegen. Die strukturelle Relativität dieses Rechts206 ist Ausdruck solcher Differenziertheit. Ob man dabei tatsächlich von "Überlegungen" sprechen kann oder eher von "Traditionen" und "Konventionen", ist eine Frage, die drittens - auch in Hinblick auf unser differenziertes (da gewachsenes) Rechtssystem zu stellen ist und deren Beantwortung mit Sicherheit abhängt von den kognitiven Fähigkeiten der jeweiligen Person, die sich dieser Problematik stellt, sowie davon, was als legitimer Gegenstand dieser "Überlegung" gelten kann (etwa auch die Erlangung eines persönlichen Vorteils?). So zeigt Weselanhand eines beispielhaften Falls den Bruch einer Rechtstradition und die Begründung neuen Rechts durch einen Einzelnen bei den Kapauku. 207 Schließlich kann man auch in breiten Teilen "zivilisierter" Gesellschaften die Neigung beobachten, sich der Überlegung, dem Zweifel und dem Experiment zu verschließen; damit verbunden ist der Gedanke des Sicherheits- und Bequemlichkeitsdenkens bürgerlicher Klassen (der sogenannte "Spießbürger" oder "Philister"). 3. Jung schreibt: "Das Leben des Primitiven ist erfüllt von fortwährender Rücksicht auf die immer lauemde Möglichkeit psychischer Gefahren und die Versuche und Prozeduren, das Risiko zu vermindern, sind zahllos. Das Schaffen von Tabubezirken ist ein äußerer Ausdruck dieser Tatsache. Die unzähligen Tabus sind abgegrenzte psychische Bezirke, die peinliehst beachtet werden."208 Hier wird besonders deutlich die Psychologisierung sozialer Erscheinungen durch Jung. Das Phänomen der Tabus läßt sich, wie oben erwähnt, überzeugend begründen als Ausfluß des zentralen Inzest-Tabus, welches nach J. Layard209 nicht biologisch begründet ist, sondern sozial. Eine psychologische Be204 Vgl. M. Alliot in: W. Fikentscher u.a. (Hrsg.), Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, p. 161 ff.; vgl. oben§ 6 B. 205 Vgl. die Antwort Buddhas auf "müßige Fragen": Ma.ühima-Nikaya 63, die Zurückhaltung gegenüber Erkenntnis bei Zhuang Zi, z.B. Buch II 7, III I, VI I und die allgemeine Haltung des "detachment" im östlichen Kulturkreis (vgl. § 8). 2o6 Vgl. § 6 C.
207 U. Wesel, Frühformen des Rechts, p. 337.
208 JGW II, 15; vgl. auch JGW 7, 164 f. Der Archetypus ,,zwingt den Primitiven, gegen die Natur zu handeln, um ihr nicht zu verfallen. Das ist wohl der Anfang aller Kultur, die unausweichliche Folge der Bewußtheit mit ihrer Möglichkeit, vom unbewußten Gesetz abzuweichen." (JGW 8, 427). 209 J. Layard in: Institutionen in primitiven Gesellschaften, p. 62.
14 Löffelmann
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3. Kapitel: Analytik
gründung, wie sie durch Jung vorgenommen wird, bedürfte also zumindest besserer Argumente. 4. Die wichtigsten Archetypen werden bei Jung mit Begriffen belegt, denen in der gewöhnlichen Sprache keine besonderen oder andere Bedeutungen zukommen: "Selbst", "Anima", "Animus", "Persona", "Schatten" usw . Man kann ftir den psychologischen Kontext also von Wortschöpfungen sprechen. Aber: "Jede durchschnittliche menschliche Situation ist in dieser anererbten Struktur sozusagen vorgesehen und eingeübt ( ... )." 210 "Die Anzahl der Archetypen ist theoretisch unbegrenzt." 211 Daher spricht Jung - konkreter werdend - an manchen Stellen seines Werkes auch vom Archetypus des "Königs", des "Lehrers", des "Propheten" usw. Problematisch ist nun, daß akephale primitive Gesellschaften noch gar nicht die Institution des Königs kennen, da sich in ihnen noch keine Herrschaftsstrukturen ausgeprägt haben. Die Erziehung wird nicht von Lehrern, sondern von der Familie vorgenommen, geschieht in der Gruppe und in der Gemeinschaft. Auch die Figur des Propheten ist eine spätere Erfindung; der Prophet richtet seinen Blick schließlich in die Zukunft und predigt Veränderung, was ftir primitive Gesellschaften, wie erwähnt, untypisch ist. Dieser Unstimmigkeit könnte man nun entgegenhalten, die Figuren des Königs, Lehrers und Propheten seien eben in der unbewußten Psyche der Primitiven bereits vorhanden und verschafften sich erst mit zunehmender Bewußtwerdung äußeren Ausdruck als Institutionen. Dann stellt sich aber die Frage, wie sie in die Psyche hineingekommen sind: angeblich doch durch kollektive Erfahrung. Hier stößt man auf einen inneren Widerspruch, der darin liegt, daß der Versuch, das Wesen der Psyche zu klären, anhand einer psychischen Entwicklung vollzogen wird, die nur möglich ist, wenn sie von einem statischen Zustand ihren Ausgang nimmt, der selbst nicht durch eine Entwicklung erklärbar ist. 212 Dies ist ein philosophisches Problem apriorischer Begründungen, das darauf beruht, daß es keine Letztbegründungen gibt. Jung soll hier nur der Vorwurf gemacht werden, daß er Anachronismen zur Stützung seiner Theorie heranzieht. Dies wird besonders deutlich, wenn er der primitiven Gesellschaft eine äußere Gestalt von "Kollektiv und Führer" zuschreibt. Akephale Gesellschaften zeichnen sich gerade durch die Egalität ihrer Mitglieder aus. Jung berücksichtigt hier nicht die Unterschiede zwischen Gesellschaften von Jägern und Sammlern, segmentären und kephalen Gesellschaften. Die Pueblo-Indianer beispielsweise, bei denen er sich aufgehalten hat, repräsentieren eine Gesellschaft, die auf der Schwelle zum urbanen Leben steht und die durch ihre besondere
JGW 4, 338. A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 44. 212 Auf das Problem der apriorischen und aposteriorischen Begründung der Archetypen wird unten noch eingegangen, vgl. § 24 B, C; ebenso auf das damit verbundene Problem der psychischen Evolution, vgl. § 29. 210
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§ 22 Inhaltliche Unstimmigkeiten 1: Anthropologie
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Rolle in der Konfrontation mit den spanischen Besetzern in spezifischer Weise geprägt ist, so daß aufgrund von Beobachtungen an diesem Gesellschaftstyp gewonnene Einsichten nicht verallgemeinerungsfahig sind. 213 Eine differenziertere Betrachtungsweise ist hier unerläßlich. Sogar solche scheinbar unproblematischen Archetypen wie "Mutter" und "Vater" verlieren ihren typisierenden Gehalt, wenn man beispielsweise segmentäre Gesellschaftsstrukturen in Betracht zieht, bei denen alle weiblichen Geschwister mütterlicherseits (nach unserem Verständnis also die Tanten) vom Kind mit demselben Terminus wie die leibliche Mutter bezeichnet werden (und zum Teil auch deren mütterliche Funktionen übernehmen) und die Nachkommen dieser Geschwister als "Brüder" und "Schwestern", die jedoch einer völlig anderen Kategorie angehören als die Nachkommen der Geschwister väterlicherseits. 214 5. Jung scheint überhaupt eine besondere Vorstellung dessen zu pflegen, was er als "primitiv" bezeichnet. Ein Merkmal der "primitiven Bewußtseinseinstellung" ist beispielsweise, daß die erlebten Gottesbilder aus der eigenen Seele hinausprojiziert werden und eine "extramundane" Existenz erhalten. 215 Nicht nur der jahwistischen Religion müßte demnach eine "primitive Bewußtseinseinstellung" eignen 216, sondern auch noch dem christlichen Monotheismus, könnte man folgern. "Primitiv" im Sinne Jungs ist also scheinbar das, was noch nicht den Prozeß der Integration des Unbewußten durchlaufen hat oder darauf beruht. Faßt man den Begriff derart weit, reduziert man also die Arten möglicher Bewußtseinszustände auf die Alternativen "primitiv" und "nichtmehr-primitiv" (individuiert, ganzheitlich), so ist schwer einzusehen, wie überhaupt noch von einer Entwicklung und einem Individuationsprozeß gesprochen werden kann. An anderer Stelle wird der "primitive" Zustand als der "unverstandene" dargestellt. 217 "Verstehen" bedeutet hier Verstehen der psychologischen Bedeutung der Projektion. Diese Definition von "primitiv" fUhrt also wieder zum Vorwurf des Ethnozentrismus und des Psychologismus. (Es gibt auch andere Arten des Verstehens als das psychologische.) 6. Jung ist der Meinung, daß bei Primitiven noch eine weitgehende Übereinstimmung und Einheit zwischen Bewußtsein und Unbewußtem bestehe; der Primitive sei ziemlich identisch mit der kollektiven Psyche. 218 Diese Einschätzung verkennt, daß auch bei sogenannten Primitiven ausgeprägte Partikularinteressen bestehen und eine wesentliche soziale Aufgabe der öffentlichen MeiVgl. W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 272 ff. bes. 280. Vgl. J. Layard in: Institutionen in primitiven Gesellschaften, p. 70 ff.; W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 364 FN 9 m.w.N. 215 Vgl. JGW 7, 258. 216 Vgl. JGW II, 393 ff. 217 JGW II, 513. 218 Vgl. JGW 6, 493, 500 f. 213
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14•
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3. Kapitel: Analytik
nungsbildung und des Rechts in primitiven Gesellschaften dazu dient, diese Partikularinteressen mit den Gemeininteressen in Einklang zu bringen. 219 Richtig ist freilich, daß in primitiven Gesellschaften das Gemeinwohl im Zweifel über den Einzelinteressen steht, was man für die modernen westlichen Gesellschaften, bei denen das Gemeinwohl in erster Linie220 durch den Mechanismus der Beschränkung subjektiver Rechte durch Rechte anderer gewahrt wird, nur bedingt behaupten kann. Die Auffassung des Bestehens subjektiver Rechte ist aber, wie erwähnt, scheinbar spezifisch westlicher Art. 221 7. Eine strenge Unterscheidung gegenüber der Kollektivpsyche ist nach Jung eine unabdingbare Forderung der Persönlichkeitsentfaltung, "denn jede mangelhafte Unterscheidung bewirkt ein sofortiges Zerfließen des Individuums im Kollektiven." 222 Dieser Aussage liegt eine individualistische Haltung zugrunde, die ein Aufgehen des Individuums (Jung spricht von der "Auflösung" des Ich und vom "Verfallen" an die Kräfte des Unbewußten) im Kollektiven als eine Gefahr und als überwindenswerten Zustand betrachtet. Dem kann die Auffassung von Alliot gegenübergestellt werden, derzufolge des Recht primitiver Gesellschaften eine bewußte Wahl darstellt, um die Ausbildung von Herrschaftsstrukturen zu unterbinden. 223 8. Eine kollektivistische Haltung, die typisch für primitive Gesellschaften sei, erscheint bei Jung als niedrigerstehend als eine individualistische (nicht: "individuierte").224 Der Kollektivismus sei gekennzeichnet durch das kollektive "Wir" der Gruppe, durch ein unbewußt-diffuses Verbundenheits- und Solidaritätsempfinden, durch das Gefiihl der Geborgenheit, kurz: durch die Identifikation des einzelnen mit dem kollektiven Unbewußten. Diese Auffassung Jungs läßtjegliche soziale Aspekte vermissen, die für primitive Gesellschaften gerade von besonderer Bedeutung sind. So stellt sich das Solidaritätsgefühl auch als soziale Notwendigkeit in Hinblick auf das Überleben der Gruppe und des einzelnen dar, Tabus lassen sich, wie erwähnt, durch soziale Motivationen erklären, und die Ausstoßung eines Mitglieds der Gruppe (d.h. die Durchbrechung der Solidarität) als Reaktion auf eine Schädigung der sozialen Struktur der Gruppe durch den Ausgestoßenen. Aus alledem folgt noch keine Wertehierarchie in Hinblick auf einen "höheren" oder "niedrigeren" Entwicklungsstand, sondern nur die maßgebliche Bedeutung konkreter, durch besondere Lebensumstände bedingter, sozialer Aspekte. Vgl. J.G. Peristiany in: Institutionen in primitiven Gesellschaften, p. 46 ff. Ansonsten werden hohe Anforderungen an den Begriff des "Gemeinwohls" gestellt, vgl. z.B. Art. 14 Abs. 3 GG und die dazu einschlägige Rspr. 221 Vgl. §§ 6 C, 9 E. 222 JGW 7, 166. 223 Vgl. § 6 B. 219 220
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Vgl. JGW 7, 179 ff.
*22 Inhaltliche Unstimmigkeiten 1: Anthropologie
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9. Die umwälzenden Entwicklungen während der Achsenzeit bleiben bei Jung unberücksichtigt. Sein historisches Material westlicher Provenienz bezieht er vor allem aus Zeugnissen frühchristlicher und mittelalterlicher Kulturen, wobei er sich besonders auf die Mythen der Schriften des frühen Christentums, insbesondere gnostischer Richtungen stützt und auf die alchemistischen Traktate, die aus dem Mittelalter erhalten sind. 225 Die zeitgeschichtliche Ansiedlung der Ausprägung des "Ich" in die Aufklärung226 erscheint im Vergleich zur "Achsenzeit-Aufklärung"227 reichlich spät. Ähnliche Probleme ergeben sich in Hinblick auf das Märchenmaterial, welches zeitlich schwer zu bestimmen ist, zum großen Teil aber wohl frühestens aus dem Mittelalter stammt. Berücksichtigung müßte außerdem die Rolle mutterrechtlicher Strukturen in frühen Kulturen finden, die von tiefenpsychologischer Seite beispielsweise Fromm thematisiert?28
I 0. Über diesen Kritikpunkten dürfen nicht die tatsächlichen Unterschiede zwischen sogenannten "primitiven" und "zivilisierten" (d.h. hier westlichen) Gesellschaften vergessen werden, die sich vor allem im Detail zeigen. Will man sich um ein generalisierendes Urteil bemühen, so erscheint die Auffassung überzeugend, daß das "primitive" Denken weitgehend noch nicht zwischen Subjekt und Objekt unterscheidet, sich zum Gegenstand des Erkennens nicht in Abstand versetzt und sich die Welt nicht durch Dichotomisierungen erschließt, weshalb es auch nicht die ethischen Gegensätze von Gut-Böse, Laster-Tugend, Furcht-Verehrung usw. kennt. Nach Fikent5cher treffen diese Merkmale auf die vorachsenzeitlichen "modes of thought" zu. 229 Diese Auffassung vertritt im großen und ganzen auch Jung, bei ihm sind jedoch die Archetypen letztlich ausschlaggebend flir den jeweiligen Bewußtseinszustand. 230 Der Versuch einer psychologischen Letztbegründung flir kulturelle Phänomene nimmt im Jungsehen Werk eine zentrale Stellung ein. Andere Letztbegründungsversuche (die sich ihres spekulativen Gehalts bewußt sind und selbst nur periphere Bedeutung beanspruchen) können ihm entgegengestellt werden, wie z.B. die sogenannte "Korridor-Theorie"?31 Nach Popper ist ein wesentliches Merkmal einer Vgl. z.B. das historische Material in Aion, JGW 9 li. Vgl. JGW 8, 189. 227 Begriff: W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. 168. ?? 228 Vgl. E. Fromm, Lesebuch, p. 75 ff.; Fromm hebt unter Bezugnahme auf die grundlegenden Einsichten von Bachofen [JJ. Bachofen, Mutterrecht und Urreligion (1927)] die Bedeutung matriarchalischer Gesetze des Denkens, des Zusammenlebens und der psychischen Entwicklung gegen die patriarchalisch gefaßte psychoanalytische Theorie Freuds hervor. Der Vorwurf des "Patriarchismus" trifft, wie M. WegenerStratmann, C.G. Jung und die östliche Weisheit, bes. p. 120 ff. herausstellt, auch Jung. 229 W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 292. 230 Vgl. JGW 7, 163 ff. 231 Vgl. W. Fikentscher, Methoden des Rechts. Band I, p. 159 ff. 225
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3. Kapitel: Analytik
guten Theorie ihre Einfachheit. Die Jungsehe Archetypentheorie leistet zur Klärung kultureller Phänomene nicht mehr als andere Theorien, aber sie ist keineswegs einfach im Sinne Poppers, sondern zeitigt im Gegenteil eine Reihe von Folgeproblemen, die ihre wiederholte Anpassung erfordert haben. 232 11. Schließlich muß man Jung aber auch zugute halten, daß er sich zumindest um eine anthropologische Fundierung seiner Theorie bemüht und daß ihm wenig verläßliches, aus Feldforschungen gewonnenes Material zur Verfügung stand. Die hier gegen Jung vorgebrachten Erkenntnisse sind allesamt jüngeren Datums. Als Laie der anthropologischen Forschung war er sich freilich seines ethnozentrischen Standpunkts nicht bewußt. Hinzu kommt bei Jung die Faszination durch die eigene Theorie, deren Breite es ihm gestattete, überall Bestätigungen der eigenen Auffassung sehen zu können. Manche seiner Äußerungen lassen sich aber dadurch nicht entschuldigen. Wenn Jung schreibt: "Der eigentümliche Gang mit relativ losen Gelenken, oder die schwingende Hüfte, die man bei Amerikanerinnen so häufig beobachtet, stammen vom Neger" 233 , so erweist sich Jung wohl als Repräsentant einer Gesellschaft, wie sie Max Frisch in "Andorra" gezeichnet hat. Der Vorwurf der Dichotomisierung von "primitiven" und "zivilisierten" Kulturen trifft allerdings nicht nur Jung; eine solche Sichtweise ist geradezu typisch für das Erwachen anthropologischer Bemühungen überhaupt und findet sich beispielsweise auch bei Freud in ausgeprägter Form: "Der kleine Primitive soll in wenigen Jahren ein zivilisiertes Menschenkind geworden sein, ein ungeheuer langes Stück der menschlichen Kulturentwicklung in fast unheimlicher Verkürzung durchgemacht haben. (... ) Der Barbar, erkennen wir, hat es leicht, gesund zu sein, für den Kulturmenschen ist es eine schwere Aufgabe." 234
§ 23 Inhaltliche Unstimmigkeiten II: Märchen, Mythen und Symbole A. Bei der Behandlung des Märchenmaterials
Die Unstimmigkeiten der Märchendeutungen von Jung und seiner Schule sind auf den ersten Blick nicht so deutlich zu erkennen wie jene im anthropologischen Bereich. Dies hat zum einen den Grund, daß die Theorien der Analytischen Psychologie die Märchenforschung selbst in hohem Maße beeinflußt haben, zum anderen, daß es sich - soweit es um die Deutung von Märchen geht - hier wie dort um die Interpretation von Texten handelt, nicht in erster Linie, wie in der Anthropologie, um Feldforschungen. Der Schule Jungs kommt dabei Vgl. zu den verschiedenen Begriffen von "Archetypus" unten § 24. JGW 10, 61. 234 FGW 17, 112.
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§ 23 Inhaltliche Unstimmigkeiten II: Märchen, Mythen und Symbole
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durchaus das Verdienst zu, einzelne Märchen in einen größeren völkerkundlichen Zusammenhang gestellt zu haben, so daß die Unvorsichtigkeit mit der dies in anthropologischer Hinsicht geschehen ist, von der Märchenforschung, im Gegensatz zur allgemeinen Kritik an psychologischen Deutungen, zunächst gar nicht bemerkt worden ist. Beispielhaft daflir ist etwa die "Besprechung des Märchenwerks von Hedwig von Beit" (1959) durch M. Lüthi.m Zwar spricht Lüthi von der "Neigung Jungs, die Welt zu psychologisieren" und weist auf eine Reihe von anderen Schwächen der tiefenpsychologischen Märchendeutung hin, an keiner Stelle jedoch übt er Kritik an der Haltbarkeit der anthropologischen Thesen, die zur Stützung der psychologischen Position herangezogen werden. Im Gegenteil hebt er die Folgerichtigkeit der Untersuchung von "Äußerungen, Denk- und Empfindungsformeln der Völker, wie sie in deren Glaubens- und Aberglaubensvorstellungen zum Vorschein kommen" hervor und rezipiert unkritisch höchst fragwürdige anthropologische Thesen der Analytischen Psychologie: "Für die Naturvölker sind Kultur und Bewußtsein noch erstrebte Ziele, durch das Unbewußte, von dem sie sich nur schwer befreien, flihlen sie sich bedroht; ihre Erzählungen schildern öfters ein tragisches Versinken im dämonischen Reich, Wahnsinnsausbrüche, Dissoziationsprozesse ( ... )." 236 In einem späteren Aufsatz "wächst sich" flir Lüthi bei der Jungsehen Schule "die Psychologie des Märchens zu einer eigentlichen Anthropologie aus ( ... )." 237 Dieses Urteil, das ein Licht auf das Schattendasein der Anthropologie zu jener Zeit wirft, ist durchaus positiv gemeint. Ansonsten werden als Kritikpunkte gegen die Deutungsversuche der Jungsehen Schule hervorgebracht die Gefahr der Überdeutung, die allzu starre Anwendung von Interpretationsschemata, Gewaltsamkeit in der Ausdeutung, Willkürlichkeit in der Auswahl des herangezogenen Materials, die Neigung zu Verallgemeinerungen und zur nur psychologischen Deutung, Leichtfertigkeit mancher Deutungen, ein Mangel an neuen psychologischen Erkenntnissen und anderes. 238 Prägnant ist das folgende Urteil: "Der Hauptvorwurf aber, den man dem vorliegenden Werk machen muß, ist der, daß es sein eigentliches Anliegen, die psychologisch-anthropologische Deutung des Märchens nicht in präziser, konkreter Weise durchfUhrt. Wie man aus den angefilhrten Einzeldeutungen ersieht, bleiben die psychologischen Auslegungen sehr allgemein und unbestimmt. Die häufig vorkommenden Jung-Zitate packen gewöhnlich schärfer zu als die Verfasserinnen. Auf Schritt und Tritt fragt man sich: Was heißt das 235 M. Lüthi in: W. Laiblin (Hrsg.), Märchenforschung und Tiefenpsychologie, p. 391 ff. 236 ib. p. 400. 237 M. Lüthi, Psychologie des Märchens (1964), in: W. Laiblin (Hrsg.), Märchenforschung und Tiefenpsychologie, p. 426. 238 Vgl. M. Lüthi, EM 2, 69 f. m.w.N.; id., Märchen, p. 82 ff.; id. in: W. Laiblin, a.a.O., p. 391 ff.
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3. Kapitel: Analytik
praktisch?" "Es wird zu sehr mit den Jungsehen Begriffen Anima, Animus, Schatten, Selbst, Ich, Persona, Große Mutter jongliert, die hinter ihnen stehende Wirklichkeit wird dem Leser nicht genügend faßbar." 239 Der hier zum Ausdruck kommende Vorwurf der Vagheit der psychologischen Deutungen von v. Beit und v. Franz wirft auch ein Licht auf die dahinter stehenden Theorien von Jung. Am Bemühen um Präzision kann es bei einem beinahe anderthalbtausend Seiten starken (ohne Registerband) Werk kaum liegen; was aber die Theorien Jungs nicht leisten können, kann durch die Anwendung dieser Theorien nicht ersetzt werden. Jung zieht mythologisches Material und Märchen zur Stützung seiner Theorien heran, was ihm nur teilweise schlüssig gelingt. Die Vagheit und Widersprüchlichkeit seiner Aussagen wird noch mehrmals Gegenstand der Auseinandersetzung sein. Darauf, daß seine Theorien, sobald sie konkreter werden, in Unstimmigkeiten führen, wurde im letzten Abschnitt schon anband der Archetypen "König", "Lehrer" und "Prophet" hingewiesen. V. Beit und v. Franz stellen nun ihre Deutungen der Märchen auf die Grundlage dieser Theorien; die Interpretationen der Märchen können aber nicht besser sein als ihre Grundlage. Als Argument dafür, daß sich im Märchen ein archetypisches seelisches Geschehen niederschlage, führt die Jungsehe Schule den abstrakten und wirklichkeitsfernen Stil des Märchens an. Demgegenüber darf man nicht vergessen, daß Märchen auch Träger von Wirklichkeit sind und daß sie dichterische Elemente enthalten. 240 M. Lüthi schreibt: "Der relativ kunstvolle und zielbewußte Bau des Märchens dient auch als Argument gegen die Annahme seiner Entstehung aus Träumen (aus denen sehr wohl einzelne Motive stammen mögen), gegen seine Auffassung als unmittelbaren Ausdruck seelischen Erlebens ( ...)." 241 Sicher feststellbar ist nach Lüthi jedenfalls eine "immer wieder eintretende Wechselwirkung zwischen Volksmärchen und Hochliteratur." 242 Solange aber der dichterisch gestaltete Teil des Märchens nicht von den "aus dem Unbewußten stammenden" Elementen unterschieden werden kann, kann man Märchen nicht schlechthin als "Bearbeitungen archetypischer Inhalte" betrachten und in ihnen Bestätigungen der Theorie sehen. Maßgeblich für die Schlüssigkeit einer psychologischen Deutung ist daher die Frage, inwieweit die einzelne Erzählung auf einer individuellen dichterischen Leistung beruht. Mit dieser schwierigen Frage beschäftigt sich z.B. die in der Epenforschung entwickelte Formeltheo• 243 ne.
ib. p. 397, 402. Vgl. M. Lüthi, Märchen, p. 84 ff. m.w.N. 241 ib. p. 88. 242 ib. p. 89. 243 Vgl. B. Holbeck, EM 4, 1416 ff. 239 240
§ 23 Inhaltliche Unstimmigkeiten li: Märchen, Mythen und Symbole
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Zweifelhaft ist auch, ob Volksmärchen generell als Bearbeitungen archetypischer Inhalte des Unbewußten angesehen werden und gleichzeitig eine allgemeine Evolution des Bewußtseins angenommen werden kann. Die Volkserzählungen als Niederschläge bestimmter Entwicklungsstadien müßten sich in Beziehung setzen lassen zu anderweitigen Kulturerzeugnissen. Dafur ist es notwendig, ihr Alter zu bestimmen. Im Falle der Märchen ist das sehr umstritten. Während von manchen angenommen wird, daß die Ursprünge des Märchens bis ins Neolithikum zurückreichen, datieren andere das europäische Volksmärchen in das spätere Mittelalter, außereuropäische aber zum Teil erheblich früher. 244 Es läßt sich auch schwerlich annehmen, daß alle Märchen zur gleichen Zeit entstanden sind. Setzt man diese Problematik in Bezug zum Phänomen der Achsenzeit, so läßt sich ermessen wie wichtig es ist, das Märchen zunächst in einen allgemeinen kulturgeschichtlichen Rahmen einzubinden, bevor anhand seiner Formen und Motive Aussagen über einen psychischen Zustand, der es hervorgebracht haben mag, getroffen werden können. 245 Meines Erachtens versteift sich die Märchendeutung der Jungsehen Schule von vomherein zu sehr auf den Gedanken der psychologischen Interpretation. Andere, z.B. soziologische Deutungsansätze bleiben demgegenüber weitgehend unberücksichtigt. Bei der Lektüre konkreter Deutungsversuche wirken diese wie das Ergebnis einer Amplifikation, bei der ein vorgefaßter Beschluß, nämlich, daß z.B. die Symbolik des Märchens auf einen Individuationsprozeß weise, in den Mittelpunkt gestellt und konzentrisch umkreist wird. Die Begrifflichkeiten der Jungsehen Psychologie werden dabei meist unvermittelt und unbe-
Vgl. M. Lüthi, Märchen, p. 65 ff. m.w.N. M.cL. v. Franz in: W. Laiblin (Hrsg.), Märchenforschung und Tiefenpsychologie, p. 301 f., scheint sich dieser Problematik bewußt zu sein. Sie schreibt: "Bei der Deutung eines Traumes läßt sich der Inhalt des letzteren fast immer auf die Bewußtseinssituation des Träumers als Bezugspunkt beziehen, beim Mythologem hingegen scheint zunächst ein solcher Bezugspunkt zu fehlen, so daß man sich, besonders beim Märchen, das meistens weder genau datiert noch lokalisiert werden kann, gleichsam in der Lage befindet, als ob man einen Traum, ohne etwas vom Träumer und seiner Einstellung und Lage zu wissen, rein aus sich selber deuten müßte, d.h. ohne Bezugspunkt 'außerhalb' des unbewußten Materials." Anstatt aus dieser Vorgabe die Konsequenz zu ziehen, das Märchen nur "aus sich selber" zu deuten, nimmt v. Franz Zuflucht zur Archetypenlehre, die ihr eine psychologische Interpretation ermöglicht. Denn: "Das Mythologem bildet ja auch tatsächlich (sie! Anm. d. Verf.) ein unbekanntes Geschehen ab, welches sich völlig im Unbewußten selber, d.h. rein zwischen archetypischen Inhalten abspielt." Ein Geschehen ist unbekannt; ergo: es spielt sich im Unbewußten ab? Wenn v. Franz weiter schreibt: "Es ist anzunehmen, daß die Wurzeln des Mythologems, mutatis mutandis, dieselben sind, wie diejenigen des im Individuum beobachtbaren Traumes( .. ).", so muß sie sich die Frage gefallen lassen, was denn ein "beobachtbarer Traum" ist, bzw. wer diesen Traum beobachten können soll? Als Beleg flir jene Annahme werden wiederum nur unkritisch Fundstellen des Jungsehen Werkes zitiert. 244 245
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3. Kapitel: Analytik
gründet eingeführt und als Selbstverständlichkeiten hingestellt. 246 Auf diese Probleme wird auch von tiefenpsychologischer Seite aufmerksam gemacht, und es wird Selbstkritik gefordert. W. Laibtin spricht vom "methodischen Grundproblem" der Hypostasierung, "bei der die Bilderwelt des Märchens zur Vergegenständlichung eines fertig vorhandenen theoretischen Begriffssystems oder Vorstellungsmodells dient, das in das Märchen unbewußt hineinprojiziert wird, worauf dann, scheinbar deduktiv, aus Einzelmotiven des Märchens oder seinem Gesamtgehalt das betreffende Begriffssystem zu ,verifizieren' unternommen wird." Eine solche Vorgehensweise bezeichnet er zu Recht als "scheinwissenschaftliche Märchendeutung".247 Laiblin ist aber selbst unvorsichtig im Umgang mit der tiefenpsychologischen Begrifflichkeit, er vergleicht unkritisch in Anschluß an Jung den psychologischen Standpunkt mit dem physikalischen und verhilft der Hypothese des Unbewußten so zu einer Vergegenständlichung; er spricht von der "relativen Objektivität" wissenschaftlicher Forschung, behandelt aber die These vom kollektiven Unbewußten, als ob sie die größte Selbstverständlichkeit wäre 248 ; er bedient sich, wie die Jungianer des Einsatzes von ad-hoc-Hypothesen, mit denen Kritik an der Theorie in einen Beleg für ihre Richtigkeit umgewertet wird249; die wichtige Frage nach der Möglichkeit und möglichen Erkennbarkeit einer Wechselwirkung zwischen Bewußtsein und Unbewußtem (die nämlich in die Erkenntnis von der "Uneinholbarkeit des Psychischen" führt250) läßt er als "komplizierendes Zusatzphänomen"251 außer acht; die Archetypen stellt er als phänomenologisch beschreibbar hin 252 ; und seine Begründung der Legitimität der Vorgehensweise, Märchenmotive durch Träume und umgekehrt zu interpretieren253 , stellt genau die Legitimierung einer solchen Hypostasierung von Theorien dar, wie er sie selbst als wissen246 Wenn M.-L. v. Franz in W. Laiblin (Hrsg.), Märchenforschung und Tiefenpsychologie, p. 339, z.B. schreibt: "Es handelt sich bei dieser Märchenfigur der ,schwarzen Frau' tatsächlich um eine archetypische Gestalt, die man als den ,Schatten der Jungfrau Maria' bezeichnen könnte ( .. ).", so ist die Beteuerung, welche sich in dem Wörtchen "tatsächlich" Ausdruck verschafft, die einzige Begründung für die Einführung der Jungsehen Begrifflichkeiten, deren Berechtigung einige Zeilen später ("C.G. Jung hat nämlich in ,Psychologische Typen' dargelegt( .. ).") noch durch eine Fundstelle "belegt" wird. Auf diese Weise können die Interpretationen der Jung-Schule nie mehr leisten als es die Theorien (um bewußt den Begriff der "Psychologie" als praktischer Tätigkeit zu vermeiden, über deren Wert hier keine Aussagen getroffen werden können) Jungs vermögen. 247 W. Laiblin in: W. Laiblin (Hrsg.), Märchenforschung und Tiefenpsychologie, p. XXIV. 248 ib. p. XIV ff. 249 Vgl. ib. p. XVII. 250 Vgl. dazu noch unten§ 25. 25 1 ib. p. XVI. 252 ib. p. XIX. 253 ib. p. XX.
§ 23 Inhaltliche Unstimmigkeiten II: Märchen, Mythen und Symbole
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schaftlieh wertlos erachtet, ja er bezeichnet dieses methodische Prinzip sogar als - gegenüber der Assoziationsmethode Freuds - von einer "größeren Objektivierung" geprägt, weil sie aus dem "objektiven Besitztum der Menschheit" gespeist sei (als ob die Herkunft des Interpretationsgegenstandes etwas mit der Objektivität der Interpretation zu tun habe)! B. Bei der Behandlung des Mythenmaterials
Ähnlich verhält es sich mit dem mythologischen Material, das Jung zur Unterstützung seiner Theorien heranzieht. Jung versteht unter Mythos Urvorstellungen, die ständig sich wiederholende, menschlich allgemeingültige Tatsachen beschreiben. 254 Diesem Begriff von Mythos liegt offensichtlich der Archetypenbegriff zugrunde, d.h. Jung definiert den Mythos von vomherein als Archetypus. Mythen können daher gar keine andere Bedeutung haben, als Beschreibungen archetypischer Vorstellungen zu sein, und gerade das ist - abgesehen von ihrer Zirkelhaftigkeit - die Schwäche der Jungsehen ,Vorgehensweise: Mythen werden auf Belege fur psychologische Theorien reduziert. Vergleicht man die Auffassung Jungs von Mythen mit den differenzierten Auffassungen, wie sie in der Literaturwissenschaft vertreten werden, so zeigt sich sowohl die psychologische Beschränktheit als auch die Vagheit der Jungsehen Definition.255 Schon 1955 urteilt R. Graves über die Jungsehe Mythendeutung: "Die Theorie, daß Schimäre, Sphinx, Gorgo, Kentauren und Satyrn blinde Ausbrüche des Jungsehen kollektiven Unterbewußtseins sind, dem niemals eine präzise Bedeutung gegeben wurde oder gegeben werden konnte, ist offensichtlich unrichtig." 256 Der Jungsehen Auffassung stellt er eine Deutung des griechischen Mythos als politisch-religiöse Geschichte unter Berücksichtigung matriarchalischer Gesellschafts- und Herrschaftssysteme entgegen, die er allerdings selbst vorsichtig als "historische Hypothese" versteht. Schließlich kann man sich in Hinblick auf Jungs Verständnis auch fragen, was unter "ständig sich wiederholenden, menschlich allgemeingültigen Tatsachen" zu verstehen sei. Zieht man bekannte griechische Mythen heran, etwa den Raub des Feuers von den Göttern (Prometheus), die Geburt aus dem Kopfe des Vaters (Athene), die Belebung eines elfenbeinernen Bildes (Pygmalion) usw., so lassen sich darin eigentlich zunächst keine Beschreibungen von solcherlei Tatsachen finden, wie sie nach Jung den Mythos auszeichnen, es sei denn, man nähert sich dem Mythos von vomherein mit einer Theorie, die seiJGW 11, 620. Vgl. z.B. R. v. Ranke-Graves, Griechische Mythologie I, p. 10 f.; G. v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stichwort "Mythos". 256 R. v. Ranke-Graves, Griechische Mythologie I, p. 19. 254
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3. Kapitel: Analytik
nen "symbolischen Inhalt" "entschlüsselt". Damit entkleidet man den Mythos aber seiner realistischen, politischen und religiösen Aspekte und verkennt den hohen kulturellen Stand jener Gegenden, in denen die Mythen entstanden sind. Ranke-Graves: "Mythos ist, wenn auch schwer vereinbar mit Chronologie, immer realistisch: Er beruht stets auf einem gewissen Punkt der Tradition, wie immer auch die Bedeutung beim Erzählen verzerrt wurde." 257 Mit einer solchen Deutung von Mythen setzt sich die Schule Jungs nicht auseinander, obwohl sie sie anerkennt. Mit dieser Anerkennung einer Gegenposition glaubt sie sich scheinbar von ihrer Begründungspflicht in Hinblick auf den eigenen Ansatz entbunden, der dogmatisch verbreitet wird.258 Besonders deutlich wird die unsensible Vorgehensweise Jungs in seinem Buch "Antwort auf Hiob" (1952)259 , in dem er eine Entwicklung des alttestamentlichen Jahwe zum neutestamentlichen christlichen Gott mit Begriffen der Analytischen Psychologie nachzuzeichen versucht. Jahwe und ljob stehen in dieser Deutung für das Unbewußte und das Bewußtsein. Nach Jung ist der alttestamentliche Jahwe zutiefst unbewußt, er befrage nicht seine Allwissenheit und besitze keinerlei Selbstreflexion und Einsicht in sich selbst, da er doch seinen treuen Diener Ijob ins Verderben stürze. Diesem unbewußten Jahwe tritt nach Jung in Gestalt des Ijob ein selbstbewußtes Wesen und Ich gegenüber, das Gott zum Anwalt gegen den amoralischen Gott anruft. "Aus den Worten Hiobs geht deutlich hervor, daß er, trotz seinem Zweifel, ob ein Mensch vor Gott Recht haben könne, nur schwer von dem Gedanken lassen kann, auf dem Boden des Rechtes und damit der Moral Gott gegenüber zu treten. Das Wissen, daß göttliche Willkür das Recht beugt, fallt ihm nicht leicht, denn er kann trotz allem seinen Glauben an die göttliche Gerechtigkeit nicht aufgeben. Aber er muß sich andererseits gestehen, daß niemand anders ihm Unrecht und Gewalt antut, als eben Jahwe selber. Er kann nicht leugnen, daß er sich einem Gotte gegenüber befindet, der sich um kein moralisches Urteil kümmert, bzw. keine flir sich verbindliche Ethik anerkennt. Das ist wohl das Größte in Hiob, daß er angesichts dieser Schwierigkeit nicht an der Einheit Gottes irre wird, sondern klar sieht, daß Gott sich in Widerspruch mit sich selber befindet und zwar dermaßen total, daß_ er, Hiob, gewiß ist, _in _Gott einen Helfer und Anwalt ,~trfoen Gott zu finden. So gew1ß 1hm das Böse, so gew1ß 1st 1hm auch das Gutem Jahwe.' Durch das Auftreten Ijobs gelange Gott schließlich zur Selbstreflexion, obwohl er sich zunächst noch gegen die Selbsterkenntnis sträube und seine
257 ib. p. 18; vgl. auch p. 20 u., 38, 131 f., 190 m.w.N. zu den Deutungen der beispielhaft erwähnten Mythen. 258 Vgl. z.B. M.-L. v. Franz in: W. Laiblin (Hrsg.), Märchenforschung und Tiefenpsychologie, p. 303 FN II: "Ebenso läßt sich in der griechischen Mythologie die Reaktion auf die vorgriechische Mittelmeerkultur ablesen, oder im jüdischen Mythos eine Reaktion auf das Exil, und zwar handelt es sich nicht nur um kulturgeschichtlich faßbare Einflüsse, sondern um unbewußt-seelische, symbolisch abgebildete Reaktionen." 259 JGW II , 393 ff. 260 JGW II, 396.
§ 23 Inhaltliche Unstimmigkeiten II: Märchen, Mythen und Symbole
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Schattenseite auf Ijob (den Menschen) projiziere und in ihm bekämpfe, d.h. Ijob zum Sündenbock mache. Die moralische Überlegenheit ljobs treibe Gott aber schließlich zu der epochalen Erkenntnis, daß er das Menschsein noch nachzuholen habe. "Weil sein Geschöpf ihn überholt hat, muß er sich erneuern. "261 Diese psychologische Deutung des biblischen Mythos ist recht kühn, kann aber aus einem bestimmten Grund nicht überzeugen: der Bibeltext wird nicht als ein Bestandteil der alttestamentlichen Weisheitsliteratur gewürdigt, der er angehört, sondern bereits als psychologisches Gutachten. Anders läßt es sich nicht erklären, daß Jung ständig von der psychischen Entwicklung Jahwes spricht, also eines Gottesbildes, die durch den Menschen Ijob ausgelöst wird. Dies unterstellt, daß in dem Text der Wandel eines Gottesbildes dargestellt wird, und läßt unberücksichtigt, daß solch eine Darstellung ein ausgeprägtes historisches Bewußtsein seitens des Verfassers voraussetzen würde. Mit anderen Worten wird die Distanz zwischen Darstellung und Dargestelltem außer acht gelassen. Der biblische Text ist zunächst die Darstellung einer Auseinandersetzung zwischen dem Gott Jahwe und dem Menschen ljob. Jegliche Reflexion auf die psychologische Bedeutung Jahwes ist an dieser Stelle unpassend, da sie nicht den jüdischen Glaubensvorstellungen entspricht und daher falsche Vor-Urteile an den Text heranträgt. Auch fiir die psychologische Deutung muß es sich zuerst einmal um einen Text der alttestamentlichen Weisheitsliteratur handeln. Dieser Text bringt einen Konflikt zum Ausdruck. Auf einer Deutungsebene müßte nun gefragt werden, ob dieser Konflikt tatsächlich historisch so empfunden wurde, ob er die symbolische Darstellung eines historischen Geschehens ist, ob der Darstellung bereits eine reflexive Distanz eignet, ob es sich um eine dichterische Leistung oder eine mündliche Überlieferung handelt und anderes mehr. Daß es in dem Text um den Wandel oder die Entstehung eines moralischen Bewußtseins geht, ist offensichtlich; nicht aber auf welche Weise, aus welcher Perspektive und aus welcher Distanz diese Entwicklung beschrieben wird. Der Text ließe sich etwa ebenso gut lesen als Beschreibung der Entstehung eines moralischen Bewußtseins bei ljob. Jahwe ist nicht unbewußt, er ist der Vater, der seine Entscheidungen durch den Verweis auf seine Autorität begründet, um im Kinde erste Werte zu festigen, seine Handlungen sind erzieherisch motiviert, er überblickt die Sachverhalte, die dem Kinde noch "unbegreiflich sind" 262 • Erst durch die Reflexion auf diese Werte, durch die Einsicht in scheinbare oder tatsächliche Inkonsequenzen und Ungerechtigkeiten des väterlichen Handelns, entwickelt das Kind ein eigenes moralisches Bewußtsein, das seine Reife dann erreicht hat, wenn es der Einsicht in die auf die Liebe zum Kinde gegründeten Motive des väterlichen Handeins und Unterwei261 262
JGW II, 435. Vgl. ljob 42, 3.
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3. Kapitel: Analytik
sens fähig ist. Das Buch ljob läßt sich in diesem Sinne verstehen als eine Klage über die Uneinsehbarkeit des Schicksals und die Zweifelhaftigkeit des richtigen Handeins und als ein Verlangen nach der Geborgenheit in väterlicher Weisheit und Liebe. In Hinblick auf den Aspekt der moralischen Entwicklung unterscheidet sich eine solche Deutung kaum von derjenigen Jungs; sie vertauscht nur die Perspektive, sie muß auch keineswegs richtiger sein, aber sie bedarf nicht des spekulativen Ballasts des Unbewußten und seiner Anhängsel. Ebenso darf auch nicht der historische Aspekt des Textes vernachlässigt werden: die Auseinandersetzung mit dem im alten Israel verbreiteten und von ljobs Freunden vertretenen Vergeltungsglauben, nach dem es dem wirklich guten Menschen in seinem Leben gut, dem Sünder dagegen schlecht ergeht und Leid nur eine Strafe flir begangene Sünden darstellt. Der Widerstand Ijobs gegen diese Haltung fuhrt zu der Einsicht, daß dem Menschen der Einblick in die Geftige des Schicksals und Pläne Gottes versagt bleibt. Schließlich muß auch der (vielleicht bewußtseinsbildende) Aspekt des Leids in Betracht gezogen werden. Eine theologische Interpretation des Textes kann in dieser Hinsicht lauten: "Das Buch ljob zeigt einen Menschen im Leid, der Gott immer größer als den Menschen sein läßt und sich ganz dieser Größe Gottes anheimgibt. Das Leid bleibt ein ungelöstes Rätsel, das sich aller vernunftgemäßen Erklärung entzieht. Aber durch das Leid stößt Gott neu zur Glaubenentscheidung an." 263 Eine solche Deutung steht in völligem Gegensatz zur Auffassung Jungs, kann aber sicher nicht als minder schlüssig betrachtet werden. Vielfaltige andere Deutungen bieten sich an: das Buch Ijob als ein allegorischer Roman, in dem in der Gestalt des ljob das Leben Israels in der Zeit nach der Zerstörung seines Staats und Besitzes dargestellt wird; als ein Roman, der auf die Bedrohtheil aller menschlichen Existenz hinweisen will, in einer Zeit, in der das Perserreich eine unglaubwürdige Politik und Ideologie der Stabilität vertritt; als ein Mythos, der das Verhältnis von Gott und dem Bösen in der Weise umschreibt, "daß Gott dem Bösen in der Schöpfung einen gewissen Spielraum läßt, obwohl er allen finsteren Mächten weit überlegen ist. Das Fremde, Irreguläre, das Unheimliche ( ... ) gehört zur Welt." Das wußte ljob noch nicht, der das Böse nur als "Zuchtrnittel in Gottes Strafpädagogik" kannte. 264
263 Kommentar zu Ijob a.E.; zur Bedeutung des Leids in den sogenannten "tragischen" Gesellschaften (d.h. den griechischen und jüdisch-christlichen) vgl. W. Fikentscher, Modes of Thought, p. 355 ff. ; G. Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Vierter Band, p. 1020 f. 264 Vgl. B. Lang in: M. Görg, B. Lang (Hrsg.), Neues Bibel-Lexikon, Stw. Ijob, Sp. 216 ff. m.w.N.
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C. Bei der Interpretation von Symbolen
Die starke Theoriebeladenheit der Deutungen Jungs kann exemplarisch an seinen Interpretationen von Symbolen aufgewiesen werden, die einen wichtigen Pfeiler der Fundierung seiner Theorien bilden. 265 So betrachtet Jung ganz selbstverständlich das Runde, den Kreis als ein Symbol der Vollkommenheit, das ihm auf die Ganzheitlichkeit der Psyche deutet. "Die ideale Vollständigkeit ist das Runde, der Kreis ( ... )." 266 Mit gleichem Recht kann das Runde, der Kreis als ein logisches Verknüpfungssymbol betrachtet werden, als eine Fonn, die bei geringstem Umfang den größten Inhalt faßt, als eine für unser Empfinden unästhetische Körperfonn, als Umgrenzung der Schnittfläche einer Kugel, als Gerichtsbezirk (der kaukasische Kreidekreis), als Verwaltungsbezirk, als Umgrenzung eines Lebensraumes (Kulturkreis, Lebenskreis), als Begrenzung der Freiheit (Bannkreis oder Umkreisung, Einkreisung), als Zeichen für Fortschritt oder für die Begrenzung des Erkenntnisvennögens (henneneutischer, viziöser Kreis) usw., und diesen Gebrauchsfonnen des Symbols haftet per se nichts von Vollständigkeit an. Umgekehrt kann man als das Vollständige betrachten z.B. das Irreduziable, den Punkt, der nicht rund und kein Kreis ist, oder Nichts. Ähnliches gilt für die Interpretation der Vier als eines Symbols der Vollständigkeit, der Synthese, des Individuationsprozesses, die sich durch das gesamte Jungsehe Werk zieht. Mit gleicher Berechtigung kann man die Null (den Kreis), die Eins (die kleinste ganze Zahl), die Zwei (die Vereinigung der Gegensätze), die Drei (die heilige Trinität), die Fünf (die zentrierte Vier), die Sechs (die höchste Augenzahl beim Würfeln), die Sieben (die sieben Todsünden), die Acht (die Unendlichkeit), die Neun (die potenzierte Drei), die Zehn (die zehn Gebote) usw. als Symbole der Ganzheitlichkeit betrachten. Wenn Jung in 400 Träumen 71-mal die Vierheitssymbolik beobachtet267 , so bedeutet das noch nicht, daß die Vier ein archetypisches Symbol ist. K. Kerenyi wendet gegen die Jungsehe Deutung daher ein, daß der Ursprung der Vierheit in der den Menschen umgebenden Natur, in den vier Himmelsrichtungen selbst zu finden sei. 268 Demgegenüber kann man freilich die Frage erheben, ob denn der Himmel in vier Richtungen eingeteilt sei. Adäquater wäre es wohl, zu sagen, daß die menschliche Kultivierung der Natur sich der Vierheit als ordnenden Prinzips bedient. Warum? Z.B. weil die Strukturierung in Rechtecke die einfachste Möglichkeit darstellt, eine gegebene Fläche zu parzellieren. Weil das Rechteck sich aus dem selben Grund vorzüglich als Baufonn eignet. Wir sind
265 Vgl. JGW 5 (Symbole der Wandlung); JGW 6, 512 ff.; J. Jacobi, Komplex Archetypen Symbol, p. 86 ff. 266 JGW II, 182. 267 Vgl. M. Wegener-Stratmann, C.G. Jung und die östliche Weisheit, p. 69. 268 K. Kerenyi, C.G. Jung, Einflihrung in das Wesen der Mythologie, p. 26 f.
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3. Kapitel: Analytik
von Vieren umgeben, aber das bedeutet doch nicht, daß die Vier archetypisch ist und etwas wie Ganzheitlichkeit ausdrückt. Auch der Umstand, daß Jung in der östlichen Symbolik Zeugnisse der Vierheit zu finden vermeint, stützt seine Interpretation nicht besonders. Das Viereck des Mandalas stellt schließlich ein Gebäude dar, das Quadrat in der chinesischen Mythologie allgemein die Erde, man kann beide Symbole also, wie gezeigt, auf die geometrische Funktion des Quadrats zurückfuhren. In der Gegenüberstellung des Jungsehen Typenmodells und des Taigitu-Zeichens bei J. Jacobl69 eine über die Kreisform und Zweifarbigkeit hinausgehende Gemeinsamkeit zu erblicken, fallt schwer. Daß das Quadrat eine praktisch bedeutsame Form ist und sich aufgrundseiner gleichen Winkelsumme dem Kreis einpassen läßt oder umgekehrt, macht beide noch nicht zu etwas Göttlichem. Jung erklärt auch, um die Beziehung zu seiner Archetypenlehre herzustellen, das Symbol ftir paradox. 270 Was an einem Kreis oder der Vier paradox sein soll, ist ohne vorgängige Annahmen nicht unbedingt einzusehen. Die interpretatorischen Leistungen Jungs werden auch an folgendem Text deutlich, der den Mutterarchetypus charakterisiert. "Wie jeder Archetypus, so hat auch derjenige der Mutter eine schier unanbsehbare Menge von Aspekten. Ich erwähne nur einige typischere Formen: die persönliche Mutter und Großmutter; die Stief- und Schwiegermutter, irgendeine Frau, zu der man in Beziehung steht, auch die Amme oder Kinderfrau, die Ahnfrau und die Weiße Frau, in höherem, übertragenem Sinne die Göttin, speziell die Mutter Gottes, die Jungfrau (als verjüngte Mutter, zum Beispiel Demeter und Kore), Sophia (als Muttergeliebte eventuell auch Typus Kybele-Attis, oder als Tochter-{verjüngte Mutter-}Geliebte); das Ziel der Erlösungssehnsucht (Paradies, Reich Gottes, himmlisches Jerusalem); in weiterem Sinne die Kirche, die Universität, die Stadt, das Land, der Himmel, die Erde, der Wald, das Meer und das stehende Gewässer; die Materie, die Unterwelt und der Mond, in engerem Sinne als Geburts- oder Zeugungsstätte der Acker, der Garten, der Fels, die Höhle, der Baum, die Quelle, der tiefe Brunnen, das Taufbecken, die Blume als Gefaß (Rose und Lotus); als Zauberkreis (Mandala als Padma) oder als Comucopiatypus; im engsten Sinne die Gebärmutter, jede Hohlform (zum Beispiel Schraubenmutter); die Yoni; der Backofen, der Kochtopf; als Tier die Kuh, der Hase und das hilfreiche Tier überhaupt. ( ... )Diese Aufzählung macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie deutet bloß die wesentlichen Züge des Mutterarchetypus an. Seine Eigenschaften sind das ,Mütterliche': schlechthin die magische Autorität des Weiblichen; die Weisheit und die geistige Höhe jenseits des Verstandes; das Gütige, Hegende, Tragende, Wachstum-, Fruchtbarkeit- und Nahrungsspendende; die Stätte der magischen Verwandlung, der Wiedergeburt; der hilfreiche Instinkt oder Impuls; das Geheime, Verborgene, das Finstere, der Abgrund, die Totenwelt, das Verschlingende, Verführende und Vergiftende, das Angsterregende und Unentrinnbare."271
269 270 271
Vgl. § I3 A. Vgl. JGW I 1, 207. JGW 9 I, 96 f.
§ 23 Inhaltliche Unstimmigkeiten II: Märchen, Mythen und Symbole
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Was Jung hier demonstriert, ist eine Zusammenstellung von Symbolen, die er als Ausdruck dessen erachtet, was er unter dem "Mütterlichen" schlechthin versteht. Daß es sich hierbei um eine ganz persönliche, jedenfalls nicht allgemeingültige Interpretation handelt, läßt sich schon an der unverhüllten patriarchalischen Haltung erkennen, die der Deutung des Mütterlichen (an anderen Stellen des Weiblichen schlechthin) als des Abgründigen, Vergiftenden, Angsterregenden usw. zugrundeliegt 272 Gemeinsame Aspekte der erwähnten Symbole lassen sich durchaus feststellen; das soll nicht bestritten sein. Diese Gemeinsamkeiten richten sich aber einerseits nach der jeweiligen Fragestellung und dem Vorverständnis, andererseits lassen sie nicht oder nur in engen Grenzen, die oben aufgezeigt worden sind, einen Schluß auf einen Archetypus (hier des Mütterlichen) als eines psychischen Anordners zu. Es ist allenfalls vor dem Hintergrund der Annahme eines monistischen Systems273 einzusehen, wie Jung Mutter (biologische und soziale Rolle), Sophia (mythologische Gestalt), Paradies (metaphysische Annahme), Universität (soziale Einrichtung), Erde (kosmisches Element) usw., d.h. reale, metaphysische und Phantasiegebilde gleichermaßen als Symbole ansehen kann. Dadurch, daß Jung überall Symbole sieht, wird alles zu einer interpretationsbedürftigen, nur symbolischen Wirklichkeit, hinter der als eigentliche Wirklichkeit die archetypische steht. Das erinnert an Platons Ideen, in denen Jung eine Vorwegnahme seiner Archetypen gesehen hat. 274 Jung beklagt, daß in unserer Zeit, "wo es unpopulär, ja sogar unverständlich geworden ist, anzunehmen, daß Ideen überhaupt etwas anderes als nomina sein könnten", die ",Idee' kein Apriori mehr, sondern ein Sekundäres und Abgeleitetes" 275 sei. Damit hänge auch das starke Hervortreten des Empirismus zusammen. Damit läßt Jung erkennen, daß der Archetypus eine vorgängige Annahme darstellt. Die angeblichen "empirischen" Belege sind dann nichts weiter als Interpretationen im Lichte dieser Annahme, deren Wert von der Schlüssigkeit und der Notwendigkeit der Annahme abhängen und freilich davon, inwieweit sie die Annahme tatsächlich zu stützen vermögen. Da die Annahme hier - unvergleichbar den wissenschaftlichen Hypothesen im Sinne Poppers - eine metaphysische ist, sofern sie sich als Analogie zu Platons Ideen versteht, ist sie weder verifizierbar noch falsifizierbar, und es stellt sich die Frage, zu welchem Zwecke Jung überhaupt Symbole interpretiert. Man muß die Archetypen aber nicht als Analogien zu den "Ideen" auffassen; der Vergleich scheint, wie noch zu zeigen ist, überhaupt wenig geglückt. Faßt man sie etwa, wie von Jung auch postuliert, als transzendentale Bedingungen der Psyche auf, so kann die Untersuchung von Symbolen psychologisch durchaus nützlich sein, 272 Zur Kritik an Jung aus Sicht der Frauenbewegung vgl. M. Wegener-Stratmann, C.G. Jung und die östliche Weisheit, bes. p. 120 ff. m.w.N. 273 zur Problematik monistischer Systeme vgl. noch unten § 26. 274 Vgl. dazu noch unten§ 24 H. 275 JGW 9 I, 92.
15 Lötrcl.malul
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3. Kapitel: Analytik
allerdings nur innerhalb der Grenzen und unter Berücksichtigung der Probleme, die oben aufgezeigt wurden. Mit alledem soll nicht gesagt sein, daß Märchen, Mythen und Symbole nicht zur Unterstützung psychologischer Theorien fruchtbar gemacht werden könnten, oder gar, daß ihnen kein psychologischer Gehalt innewohne. Im Gegenteil sind besonders bemerkenswert sogar formale Aspekte, wie die Neigung der Märchen zur Bildung von Extremen und zu Dichotomisierungen.276 Die Entwicklungspsychologie277 hat sich eingehend mit der Funktion von Märchen auseinandergesetzt (ein Punkt, der bei v. Seit nicht zur Sprache kommt) und damit gezeigt, daß das psychologische Verständnis von Märchen nicht an den Nachweis archetypischer Vorstellungen gebunden ist. 278 Andererseits ist auch nicht eine lückenlose Einfügung von Volkserzählungen, Mythen, östlichen Glaubensvorstellungen und Symbolen in psychologische Theorien zu erwarten, wie sie von v. Beitangestrebt wurde. Damit würde Vielfalt auf eine Theorie reduziert.279 Ein solches Bestreben nährt den Vorwurf der Psychologisierung und verleitet, um des Anspruchs der Vollständigkeit willen, leicht zu gewaltsamen und "allzu starren" Deutungen. Die Jungsehen Theorien stehen also empirisch auf schwachen Füßen. Nichtsdestotrotz können sie ihre Berechtigung als philosophische Überlegungen haben. Die Überprüfung der Theorien auf ihre philosophische Haltbarkeit und Schlüssigkeit ist Anliegen des nächsten Abschnitts.
Zweiter Abschnitt
Erkenntnistheoretische Fragen Während im Bereich der Psychoanalyse die Existenz eines Unbewußten schon sehr früh allgemein anerkannt war280, hatte der interdisziplinäre Bereich
276 M. Lüthi, Das Volksmärchen als Dichtung, p. 184 weist besonders auf die innere Form der Märchen hin. 277 V.a. Charlotte Bühler; vgl. M. Lüthi, Märchen, p. 78. 278 Vgl. verschiedene Beiträge in W. Laiblin (Hrsg.), Märchenforschung und Tiefenpsychologie ( 1968). 279 H. Hesse, dessen "Siddharta" von der Begegnung mit Jung inspiriert ist, bringt diesen Gedanken treffend auf einen Punkt, wenn er im "Glasperlenspiel" den "Älteren Bruder", auf den Gedanken Knechts, das System des Yi Jing dem Glasperlenspiel ein7 zubauen, erwidern läßt: "Einen hübschen kleinen Bambusgarten in die Welt hineinsetzen, das kann man schon. Aber ob es dem Gärtner gelingen würde, die Welt in sein Bambusgehölz einzubauen, scheint mir doch fraglich." 280 Vgl. H.F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, p. 434.
§ 24 Der Begriff des Archetypus: Definitionen und Widersprüche
227
lange Zeit Schwierigkeiten mit der Rezeption dieses Phänomens?81 Das Unbewußte bei Jung ist der zentrale Gegenstand dieses Abschnitts. Es soll aufgezeigt werden, wie Jung den Archetypus versteht, wie dieses Verständnis sich wandelt (§ 24), vor allem auch, welche Begründungszusammenhänge (§ 25) und philosophischen Konzeptionen (§§ 26-30) der Archetypentheorie zugrundeliegen. Dabei wird die Lehre Jungs in Zusammenhang gebracht mit anderen Theorien seiner Zeit, mit Phänomenalismus und Phänomenologie (§§ 25, 27), mit der Existenzphilosophie Sartres (§ 28) und mit evolutionären Theorien (§ 29). Den Abschluß (§ 30) bildet eine Darstellung des erkenntnistheoretischen Horizonts und Selbstverständnisses Jungs, gemessen an den Einsichten der Analytischen Philosophie.
§ 24 Der Begriff des Archetypus: Definitionen und Widersprüche A. Die Begrifftentwicklung Jung hat seine Archetypentheorie in drei Schritten entwickelt.282 1912 sprach er erstmals von urtümlichen Bildern, deren gemeinsames Vorhandensein in den Träumen seiner Patienten und im Kulturgut der gesamten Menschheit ihm aufgefallen war. 1917 verknüpfte er diese Erkenntnis mit seiner Libidotheorie und sprach von unpersönlichen Dominanten oder Knotenpunkten in der Psyche, die den Fluß der Libido regulieren. Im Jahre 1919 benutzte er erstmals den Begriff "Archetypus" und grenzte ihn gegen das archetypische Bild ab. 283 Während das "archetypische Bild" dem empirischen Nachweis zugänglich ist, ist der "Archetypus an sich" eine unanschauliche Grundform.Z84 Nachfolgend hat Jung den Begriff des Archetypus wiederholt definiert, weil er zu vielerlei Mißverständnissen Anlaß gegeben hat. Dabei bemüht sich Jung jedoch nicht um eine einheitliche Begriffsbestimmung. Seine Definitionen lassen auch nach 1919 den Archetypus in verschiedensten Facetten schillern, was im folgenden exemplarisch aufgezeigt werden kann. 285
Vgl. C.E. Scheidt, Die Rezeption der Psychoanalyse (1986). Vgl. A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 43. 283 Vgl. JGW 8, 153 f. 284 JGW 8, 244. 285 Vgl. auch H.H. Balmer, Die Archetypentheorie von C.G. Jung, p. 74 ff. zu der verwirrenden Vielfalt von Inhalten, die Jung mit dem Begriff ,,Archetypus" in Verbindung bringt. 281
282
u•
228
3. Kapitel: Analytik
B. Apriorische Strukturen der Psyche Am häufigsten charakterisiert Jung die Archetypen als eine "Form des psychischen Angeordnetseins" 286, als "Bedingungen fl.ir die Bildung von Vorstellungen"287, als "universell vorhandene und vererbte Formen, welche in ihrer Gesamtheit die Struktur des Unbewußten ausmachen", und als ,jene Formen oder Strombetten, in denen sich der Fluß des psychischen Geschehens von jeher bewegt hat." 288 Es handelt sich demnach um apriorische Strukturen der Psyche, welche, den Kategorien Kants vergleichbar, nicht nur die Form des Denkens bilden, sondern die Form psychischer Tätigkeit überhaupt, die Kategorien also umfassen und über sie hinausgehen. "Was aber Kant fl.ir das logische Denken nachgewiesen hat, gilt fl.ir die Psyche in noch viel weiterem Umfang (... ). Gewiß fehlen die konkreten Inhalte, aber die Inhaltsmöglichkeiten sind durch die vererbte und präformierte funktionelle Disposition a priori gegeben."289 Aufschlußreich ist auch die folgende Stelle, wo Jung die Idee des Archetypus in der Geschichte der neueren Philosophie verfolgt. "Von Descartes und Malebranche an sinkt der metaphysische Wert der Idee, des Archetypus. Er wird zum Gedanken, zur inneren Bedingung des Erkennens wie Spinoza klar formuliert: 'Per ideam intelligo mentis conceptum, quem mens format.' Kant endlich reduziert die Archetypen auf die beschränkte Zahl der Kategorien des Verstandes. Schopenhauer geht in der Vereinfachung noch weiter, um aber andererseits den Archetypen wieder zu einer fast platonischen Bewertung zu verhelfen. " 290 Die Archetypen bedingen, so verstanden, die Möglichkeit psychischen Lebens, sie sind also, in einem, über den üblichen, auf Erkenntnis durch Denken bezogenen Rahmen des Begriffs hinausgehend, transzendentale Faktoren.
C. Vererbte Strukturen der Psyche Auffällig ist, daß Jung den Archetypus einerseits als etwas a priori Vorhandenes beschreibt, ihn andererseits aber auch aposteriorisch als "Niederschlag des psychischen Funktionierens der Ahnenreihe", in dem "alle Erfahrungen vertreten (sind), welche seit Urzeit auf diesem Planeten vorgekommen sind" 291 , charakterisiert. Apriorische und aposteriorische Definitionen stehen häufig 286 JGW 8, 575. 287 JGW 3, 291.
JGW 5, 291. JGW 6, 327. 290 JGW 8, 157. 291 JGW 6, 436. 288
289
§ 24 Der Begriff des Archetypus: Definitionen und Widersprüche
229
unmittelbar nebeneinander. Spies stellt allerdings fest, daß Jung die apriorische Formulierung im Laufe der Zeit zu bevorzugen scheint. 292 Wie das Verhältnis zwischen diesen beiden Aspekten des Archetypus zu denken ist, wird nie ganz klar. Es stellt sich das Problem des Anfangs. Wenn die Archetypen durch Erfahrung gewonnen sind, Erfahrung, als psychische Funktion, aber vom Wirken der Archetypen abhängig ist (Erfahrung ist das durch den Archetypus konstellierte Wiedererkennen einer archetypischen Situation), so ist am Anfang entweder überhaupt keine Erfahrung und damit keine Herausbildung von Archetypen möglich, oder der Archetypus kann nicht Apriori der Erfahrung sein. Daß eine gegenseitige Abhängigkeit von Apriori und Erfahrung besteht ist zwar durchaus naheliegend, Jung begibt sich aber bei seinem Versuch der Erklärung dieser Abhängigkeit in begriffliche Widersprüche. Gleichermaßen spricht prinzipiell nichts dagegen, die Archetypen als etwas nicht individuell Entwickeltes, sondern Ererbtes anzusehen. 293 Dies darf jedoch nicht dazu fl.ihren, den Archetypus als etwas zwar nicht individuell, wohl aber kollektiv Entwickeltes anzusehen. Denn damit stellt sich erstens die Frage, wie eine kollektive Entwicklung denkbar ist, ohne eine Entwicklung der jeweiligen, das Kollektiv bildenden Individuen. - Daß das Individuum und nicht das Kollektiv Träger der psychischen "Energie" ist, hat Jung an anderer Stelle betont. 294 - Und zweitens müßte man - eine denknotwendige individuelle Entwicklung angenommen fragen, wie eine Vererbung der individuell veränderten psychischen Disposition möglich ist. Jung deutet dunkel eine "Vererbung durch das Keimplasma"295 an. Er betont auch wiederholt, daß nicht die individuellen Vorstellungen, sondern die Formen vererbt werden296 , erklärt aber nicht, wie die individuellen Vorstellungen auf die Psyche wirken, so daß daraus Formen werden, und wie jene wiederum das Erbgut zu modifizieren vermögen, so daß sie vererbt werden können. Hinter den Spekulationen Jungs steht vielmehr eine Art lamarkkistischer Auffassung, die Jung nicht zu Unrecht den Vorwurf einer "kryptolamarckitischen Denkweise" eingebracht hat. 297
D. Spies, Philosophische Aspekte, p. 74. Vgl. z.B. JGW 9 I, 56. 294 Vgl. z.B. JGW 10, 245. 295 JGW 9 I, 94. 296 Vgl. JGW 9 I, 95; JGW 10, 423 f.: "Mein Leser muß nicht befiirchten, daß ich ihm von vererbten Vorstellungen sprechen werde. Das liegt mir fern. Die autonomen Inhalte des Unbewußten oder die Dominanten des Unbewußten, wie ich sie auch genannt habe, sind keine vererbten Vorstellungen, sondern vererbte Möglichkeiten, ja Notwendigkeiten, jene Vorstellungen wieder zu erzeugen, welche von jeher die Dominanten des Unbewußten ausgedrückt haben." 297 Vgl. H.H. Balmer, Die Archetypentheorie von C.G. Jung, p. 70 ff. m.w.N. 292 293
230
3. Kapitel: Analytik
D. Noumena
Jung übernimmt, wie erwähnt, die Begrifflichkeil Kants und prägt, in Analogie zum "Ding an sich" den Begriff des "Archetypus an sich". Die westliche Psychologie, so Jung, spricht nicht wie die östliche von dem Einen Geiste, sondern "vom Unbewußten, das sie als ein Ding-an-sich betrachtet, ein Nooumenon, ,einen rein negativen Grenzbegriff, um mit Kant zu sprechen." 298 Der Archetypus ist, "um mit Kant zu reden, etwa das Noumenon des Bildes, welches die Intuition wahrnimmt und im Wahrnehmen erzeugt." 299 Als ein Ding-an-sich aufgefaßt (was eigentlich voraussetzt, daß es auch ein Ding, ein Phainomenon, gibt) ist der Archetypus also ein Transzendentes, sind Aussagen über ihn Metaphysik. Es ist schwer, einzusehen, wie, 1., sich diese Definition mit dem Anspruch des empirischen Nachweises des Archetypus vereinbaren läßt; wie, 2., von einem "Archetypus an sich" gesprochen werden kann, wenn schon der Archetypus "Ding-an-sich" ist, oder was, 3., ein Archetypus sein soll, wenn der "Archetypus an sich" "Ding-an-sich" ist; wie, 4., vom Erkennen eines (archetypischen) Bildes auf etwas völlig anderes, nämlich einen Archetypus, geschlossen werden können soll; und schließlich, wie, 5., es miteinander vereinbar ist, daß der Archetypus ein transzendentaler Faktor und gleichzeitig ein Ding, wenn auch Ding-an-sich, d.h. seiend und transzendent sein soll. Die hier auftauchenden Fragen müßte Jung beantworten, seine Austubrungen erwecken aber den Eindruck, daß er die Probleme, welche er mit seiner leichtfertigen Begriffsbildung evoziert, gar nicht sieht. Das Ding an sich ist nach Kant nur ein nicht Erkennbares, aber notwendig zu Denkendes des Dings. Bei Jung scheint der Archetypus an sich zuweilen die Fühlung zum archetypischen Bild zu verlieren und zu einem unbestimmbaren, undenkbaren Numinosum zu werden. Jung rechtfertigt dies damit, daß es Wesen des Archetypus sei, numinos zu sein, daher auch das archetypische Bild numinos wirke und dadurch fasziniere. Hierin liegt ein Fehlschluß, der es Jung zuweilen ermöglicht, ungenau zu sein und die Begründung fur seine Thesen schuldig zu bleiben. Mag es eine Eigenschaft des archetypischen Bildes sein, das Jungs empirischer Validierung unterworfen ist, daß es numinos wirkt, so rechtfertigt dies keinen Schluß auf das Numinos-Sein als Wesen des Archetypus. Dies ist ein Schluß von einem Weniger auf ein Mehr, der keine Begründung fmdet. Das numinose Wirken eines Abbildes wird zu einem NuminosSein des Eigentlichen konkretisiert, obschon der korrekte Schluß eigentlich lauten müßte, daß das numinose Wirken in seinem An-sich-Sein nicht erkannt werden kann. Jung beobachtet schließlich kein Sein, sondern ein Wirken. Das numinose Wirken ist das Phainomenon, dessen An-sich ein Noumenon ist, 298 299
JGW II, 545. JGW 6, 436.
§ 24 Der Begriff des Archetypus: Definitionen und Widersprüche
231
nicht der Archetypus selbst. Wenn nicht einmal das Wirken des Archetypus an sich erkannt werden kann, wie kann dann überhaupt eine Aussage über den Archetypus selbst gemacht werden? Wie kann von einem gemalten Mandala, das als solches ohnehin schon sekundärer Ausdruck eines sich in der Psyche ereignenden Bildes ist, nach Kantischen Begriffen auf etwas über dieses Bild Hinausgehendes, es Verursachendes geschlossen werden? Eigentlich müßte Jung besser vom "archetypischen Bild an sich" sprechen. Daß er dies nicht tut, mag einen Grund darin haben, daß er den Archetypus, den er doch gar nicht erkennen kann, bei der Beobachtung seines empirischen Materials bereits voraussetzt. Jedenfalls stellt Jung dadurch, daß er mehr zu erkennen glaubt, als ihm empirisch zugänglich ist, die Lehre Kants auf den Kopf, auf die er sich doch beruft. Jung vermischt hier wahllos ontologische, erkenntnistheoretische und psychologische Fragestellungen und bringt sie im Begriff der Archetypus, der daher notwendig vieldeutig sein muß, auf einen gemeinsamen Nenner. Die Ungenauigkeit Jungs bei der Verwendung von Begriffen zeigt sich beispielhaft in seiner unzureichenden Unterscheidung der Begriffe "transzendent" und "transzendental", die sein gesamtes Werk durchzieht. 300 Jung schreibt: "Die Erkenntnis Gottes ist ein transzendentales Problem."301 Danach könnte ich also Gott - das Transzendente - erkennen, wenn auch, aufgrund der Beschränktheit meines Erkenntnishorizonts, nicht so, wie es an sich ist? Demgegenüber dient Kant die Transzendentalphilosophie der "Kritik der reinen Vernunft" als Aufweis der Beschränkung des Erkenntnisvermögens gerade in Hinblick auf das Metaphysische. Erkenntnis ist eben stets "ein transzendentales Problem", und die Konsequenz daraus ist, daß die Erkenntnis Gottes - des Transzendenten insofern ein Problem ist, als sie unmöglich ist. Die Aussage Jungs kann dagegen nur als ein geheimnisvoller Allgemeinplatz erscheinen. E. Bilder
Auch nach seiner Unterscheidung zwischen archetypischem Bild und Archetypus an sich bezeichnet Jung den Archetypus noch als "urtümliches Bild". 302 300 Daraufhat schon D. Spies, Philosophische Aspekte, p. 96 u.ö. hingewiesen; ebenso bei L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, die unter "transzendental" in Abweichung vom üblichen Begriffsgebrauch "einen nicht-psychischen Tatbestand" versteht, "dem wir einen objektiven, wenn auch nicht rational begründbaren aber psychisch deutbaren Sinn zubilligen" (p. 391), und die in diesem Sinne von der "Objektivität der transzendentalen Wirklichkeit" spricht, die durch das Vorhandensein eines Beobachters begrenzt wird (p. 387). - Dieser "private" Sprachgebrauch in der Jungsehen Schule erschwert das Verständnis dessen, was gemeint ist in hohem Maße. 301 JGW 10, 323. 302 z.B. JGW 6, 410.
232
3. Kapitel: Analytik
Archetypen sind "urtümliche Bilder, (die) durch die Introversion der Libido so sehr mit individuellem Erinnerungsstoff angereichert wurden, daß das Bewußtsein sie wahrnehmen kann." 303 Sie sind "Formen oder Bilder kollektiver Natur, welche ungefähr auf der ganzen Erde als Konstituenten der Mythen und gleichzeitig als autochthone, individuelle Produkte unbewußten Ursprungs vorkommen."304 Damit stellt Jung die Beziehung her zu den Träumen und Visionen, Mythen und Märchen, in denen er den Archetypus nachweist. Letztere sind, wie erwähnt, "Bearbeitungen" archetypischer Inhalte. 305 Aufgrund der Universalität der Archetypen "kann man die meisten überall und zu allen Zeiten antreffen. Sie kommen in der Folklore primitiver Stämme, in griechischen, ägyptischen und altmexikanischen Mythen ebenso vor wie in Träumen, Visionen und Wahnvorstellungen heutiger Menschen, die von diesen Überlieferungen überhaupt nichts wissen." 306 Diese Ausführungen Jungs sind von zentraler Bedeutung, weil sie das "empirische" Fundament für den Nachweis der Archetypen bilden. Bemerkenswert ist, daß der Archetypus in diesem Kontext einen über seinen ursprünglichen, formalen Charakter hinausgehenden, materiellen Gehalt bekommt. Ein Bild ist sicher niemals eine bloße Form, sondern inhaltlich definiert. Auch wenn Jung die in Mythen, Märchen usw. zum Ausdruck kommenden Bilder zurückhaltend als "Bearbeitungen" bezeichnet, so setzt er damit einen Inhalt voraus, der bearbeitet, der umgeformt werden kann. Diese Bearbeitung mag zwar wiederum durch eine Form geleitet sein, nicht aber ist sie Bearbeitung einer Form. Es ist daher auch nicht klar, wie Teile der Psyche, die keine Inhalte sind, sondern Formen, erkannt werden können. Freilich kann ich die Form eines Mandalas erkennen, wenn ich sie zum Inhalt meines Erkennens mache, damit ist aber keine Aussage getroffen über die formalen Aspekte jener Psyche, als deren Abbild das Mandala gelten soll, denn die Form des Mandalas ist ein Inhalt der Psyche, ein Inhalt, dessen Formgebung durch formale Aspekte der Psyche geleitet ist, und letztere sind nicht die Formgebung oder die Form. Mit anderen Worten ist der Anordner (der Archetypus) weder das Anordnen (die Formgebung), noch die Anordnung (die Form), noch das Angeordnete (der Inhalt). (Sowenig ein Künstler z.B. mit seinem Kunstwerk identisch ist.) Man kann also nicht ohne weiteres von dem einen auf das andere schließen. Will man den Archetypus als eine Form beibehalten, so muß man sich der Schwierigkeiten bewußt sein, die der Nachweis einer solchen Form mit sich bringt. Will man dem Archetypus umgekehrt inhaltliche Aspekte zusprechen, so postuliert man damit ein materielles kollektives Unbewußtes, es entsteht die Problematik der Abgrenzung zum persönlichen Unbewußten sowie
JGW 5, 377. JGW II, 54; ("ungefiihr auf der ganzen Erde"?). Jos Vgl. § 12 B. 303
304
306
JGW 3, 290.
§ 24 Der Begriff des Archetypus: Definitionen und Widersprüche
233
die des Entstehens und der Vererbung kollektiver Inhalte. In der Regel wird Jung so verstanden, daß er die Archetypen als formale Faktoren versteht, und diese Auffassung wird auch der hier zu ziehenden Konklusion zugrundegelegt werden. 307 An manchen Stellen seines Werkes finden sich aber in Widerspruch zu den sonstigen Aussagen Bemerkungen, die unverhüllt den Begriff eines materiellen Archetypus postulieren und von "unbewußten Inhalten" 308 sprechen, z.B.: "Alle stärksten Ideen und Vorstellungen der Menschheit gehen auf Archetypen zurück." 309 Das Unbewußte ist die "Gesamtheit aller in statu nascendi begriffenen seelischen Inhalte."310 Hierzu gehören auch die Aussagen Jungs über die Erfahrung als eines Wiedererkennens eines archetypischen Sachverhalts. 311 Allgemein fallt auf, daß Jung, sobald er den Archetypus definiert, i.d.R. die Auffassung des Archetypus als einer Form, einer Struktur, eines Anordners vertritt, sobald er aber dazu schreitet, diese Definition mit anderen Aspekten seiner Überlegungen in Zusammenhang zu bringen, sobald er mit seinen Definitionen arbeitet, stillschweigend inhaltliche Aspekte des Archetypus auftauchen. F. Abbilder der Instinkte
In den vorgehend genannten Kontext gehören auch die häufigen Definitionen der Archetypen als "die unbewußten Abbilder der Instinkte selbst", als "Grundmuster instinkthaften Verhaltens" .312 Die Achetypen sind "Bedingungen für die Bildung von Vorstellungen, so wie die Instinkte die dynamischen Bedingungen für die verschiedenen Verhaltensweisen sind."313 Der "Terminus Archetypus fallt daher mit dem in der Biologie bekannten Begriff des ,pattem of behaviour zuammen. " 314 Jung bemüht sich hier um eine biologische Definition des Archetypus. Hier ist einerseits nicht klar, warum die Archetypen Abbilder von Instinkten sein müssen (also nicht Abbilder von kollektiven Erfahrungen oder durch sie hervorgerufenen Strukturen}, andererseits, inwiefern sie mit dem "pattem of behaviour" vergleichbar sein sollen. Das pattem of behaviour ist ein Verhaltensmuster, das durch Beobachtung festgestellt und über das empirische Aussagen getroffen werden können. Der Archetypus soll nach an307
Vgl. § 42.
Vgl. JGW 8, 256; vgl. bes. auch JGW 8, 168 ff. zur Möglichkeit von materiellen Inhalten des Unbewußten. 309 JGW 8, 182. 310 JGW 10,415 (Hervorhebung aufgehoben). 311 Vgl. JGW 8, 200. 312 JGW 9 I, 56. 313 JGW 3, 291. 314 JGW 3, 301. 308
3. Kapitel: Analytik
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derer Definition ein formaler Faktor der Psyche sein, hat also primär nichts mit einem Verhalten zu tun. Einen voreiligen Schluß vom Verhalten auf die psychische Struktur bezeichnet man als "behaviouristisch". Wenn Jung behauptet, daß die Hypothese eines kollektiven Unbewußten "gerade etwa so gewagt wie die Annahme, daß es Instinkte gibt" 315 sei, so hängt die Richtigkeit dieser Aussage davon ab, was man unter Instinkten versteht. Bezeichnet man als "lnstinkt" ein Verhaltensmuster, so müßte man umgekehrt mit "kollektivem Unbewußten" das Verhaltensmuster von Patienten oder das Muster, welches in Mythen, Märchen und ähnlichem nachgewiesen werden kann, bezeichnen, um den Vergleich aufrechtzuerhalten. Dies paßt erkennbar nicht in den Gesamtkontext der Archetypenlehre, auch wenn Jung die Archetypen zuweilen als "typische Verhaltensfonnen" 316 oder "typisierte Lebenssituationen"317 beschreibt. Bezeichnet man als Instinkt etwas, das, eigentlich unbekannt, als Auslöser hinter den Verhaltensmustern steht, so stellt man damit eine Hypothese auf, die tatsächlich derjenigen des kollektiven Unbewußten vergleichbar ist. Diese Hypothese kann allerdings nicht empirisch verifiziert werden, sie ist eine metaphysische Annahme und nicht vergleichbar mit dem pattem ofbehaviour.
G. Strukturen schlechthin Bereits die Ausführungen zum "Archetypus an sich" haben erkennen lassen, daß Jung den Archetypus auch als etwas ansieht, das Realität hat. In den bisherigen Definitionen ist er dennoch stets als etwas erschienen, das seinen Ort in der Psyche, genauer im Unbewußten des Menschen selbst hat. Jung schreibt: "es gibt ein Apriori aller menschlichen Tätigkeiten, und das ist die angeborene und damit vorbewußte und unbewußte individuelle Struktur der Psyche." 318 Der hier auftauchende Begriff der "vorbewußten Struktur" gewinnt besondere Bedeutung im Rahmen von JungsAusführungen zur Synchronizität. 319 Der Archetypus wird mit dieser Begriffsbildung vor die Psyche oder ,jenseits der psychischen Sphäre" 320 verlagert, er hat "eine Natur, die man nicht mit Sicherheit als psychisch bezeichnen kann" 321 , er ist nicht mehr Bestandteil der Psyche, und das berechtigt, ihn als ontische Struktur schlechthin aufzufassen, die die psycho-physischen Wechselwirkungen steuert. Als eine solche Struktur hat der Archetypus zentrale Bedeutung in den Ausführungen Jungs, wo er einer moJGW 9 I, 56. JGW 8, 259. 317 JGW 8, 141. 318 JGW 9 I, 93; vgl. auch JGW II, 162. 319 Vgl. § 26. 3 15
316
320 321
JGW 8, 247. JGW 8, 262.
§ 24 Der Begriff des Archetypus: Definitionen und Widersprüche
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monistischen Erklärung des Verhältnisses von Psyche und Physis zustrebt. Demgemäß werden der Archetypus oder die Libido, diebeidedem Unbewußten zugehören 322 auch mit dem chinesischen Tao und dem indischen Brahman in Zusammenhang gebracht. Aus den psychischen Strukturen werden "a priori vorhandene, vererbte und universal verbreitete Gegebenheiten", die sich daher "ungefähr überall, wo entsprechende literarische Denkmäler bestehen, nach. " Iassen 323 , un d "Immer . . d .324 " D"1e arc hetypi. weisen un d u··beraII am Werk e" sm sche Struktur des Unbewußten entspricht den durchschnittlichen Vorkommnissen und dem allgemeinen Ablauf der Dinge."325 Als "universal verbreitete Gegebenheiten" und "durchschnittliche Vorkommnisse" sind die Archetypen naturgemäß vage; sie werden zum Prinzip des Ordnens schlechthin und, im Vergleich mit Tao und Brahman, auch zum Prinzip der Ordnung schlechthin. Die monistischen Tendenzen im Werke Jungs werden noch eine eingehendere Auseinandersetzung erfahren; daß ihnen metaphysische Annahmen zugrundeliegen, braucht nicht eigens betont zu werden.
H. Ein Textbeispiel
Die ungenaue Vorgehensweise Jungs bei der Definition des Archetypus läßt sich anschaulich an folgendem Text demonstrieren: "Die Psyche ist so wenig wie der Geist (das Gebiet des Denkens) tabula rasa zu Beginn. Gewiß fehlen die konkreten Inhalte, aber die Inhaltsmöglichkeiten sind durch die vererbte und präformierte funktionelle Disposition a priori gegeben. Sie ist nichts anderes als das Ergebnis der Funktionsweise der Gehirne der Ahnenreihe, ein Niederschlag der Anpassungsversuche und Erfahrungen der phylogenetischen Reihe. Das neu entstandene Gehirn oder Funktionssystem ist also ein altes, für ganz bestimmte Zwecke hergerichtetes Instrument, das nicht nur passiv apperzipiert, sondern auch aus sich heraus aktiv die Erfahrungen ordnet und zu gewissen Schlüssen oder Urteilen zwingt. Diese Anordnungen geschehen nun nicht etwa zufällig oder willkürlich, sondern sie folgen streng präformierten Bedingungen, die nicht als Anschauungsinhalte durch Erfahrung vermittelt werden, sondern Bedingungen der Anschauung a priori sind. Es sind Ideen ante rem, Formbedingungen, a priori gezogene Grundlinien, die dem Stoff der Erfahrung eine bestimmte Gestalt anweisen, so daß man sie, wie sie auch Platon aufgefaßt hat, als Bilder denken kann, gewissermaßen als Schemata oder anererbte Funktionsmöglichkeiten, welche aber andere Möglichkeiten ausschließen oder zum mindesten in hohem Maße beschränken. Daher kommt es, daß selbst die freieste Geistesbetätigung, die Phantasie, nie ins Grenzenlose schreiten kann (obschon es der Dichter so empfinden
322 Vgl. JGW 8, 181: "Das Unbewußte ( .. )enthält die Quelle der treibenden seelischen Kräfte und die diese regulierenden Formen und Kategorien, eben die Archetypen." 323 JGW 8, 141. 324 JGW 7, 119. 325 JGW 5, 377.
236
3. Kapitel: Analytik
mag), sondern ~ebunden bleibt an präformierte Möglichkeiten, an Urbilder oder urtüm-
liche Bilder." 32
Jung geht hier von der philosophischen Idee eines denknotwendigen Apriori der Erfahrungsorganisation aus. Unmittelbar anschließend folgt ein aposteriorischer Begründungsversuch, auf dessen Problematik oben hingewiesen wurde. Sodann behauptet Jung, daß diese Präformierung aktiv zu bestimmten Schlüssen und Urteilen zwinge. Inwiefern die Form hierbei mehr ist, als bloße Form, nämlich aktiv, und woher diese Aktivität (mit der die Libido gemeint ist) rührt, was das Apriori also anderes ist, als Form, erklärt Jung nicht, und ebensowenig, wie man sich ein Strombett327 als aktiv wirkend vorzustellen hat. Sodann folgt eine Umschreibung der Psyche als Instrument. Ein Instrument ist etwas fiir einen bestimmten Gebrauch Hergestelltes oder zu einem bestimmten Zwecke Verwendetes (ein Strombett ist kein Instrument, und ein Instrument ist nicht aktiv) und setzt damit ein die Herstellung oder Verwendung zweckbestimmendes, das Instrument in seiner Funktion definierendes Bewußtsein voraus. Wenn das "Funktionssystem" der Psyche also ein Instrument ist, etwas, das zu einem bestimmten Zweck funktioniert, so muß es etwas geben, das das Instrument zu dem gemacht hat, was es ist, und Jung müßte wenigstens den Zweck kennen, den dieses Etwas der Psyche gegeben hat, um von der Psyche als einem "Instrument" sprechen zu können (und ebenso müßte ein jeder diesen Zweck kennen, der das Instrument handhaben will). Jung teilt aber weder mit, was Psyche überhaupt ist, noch, welche Funktion sie erfiillt, und er erklärt nicht, wie etwas, das unbewußt ist, von dem man also kein Bewußtsein hat, zweckbestimmt in Gebrauch genommen werden kann. Bemerkenswert ist, wie Jung von einer formalen Disposition, von "Formbedingungen", zu inhaltlich bestimmten Entitäten, nämlich "Bildern" und schließlich "Urbildern" gelangt. Er stützt sich hierbei auf die Ideen Platons, die ihm als Korrelate seiner Archetypen erscheinen. An anderer Stelle schreibt Jung: ",Archetypus' ist nun nichts anderes als ein schon in der Antike vorkommender Ausdruck, welcher mit ,Idee' im Platonischen Sinne synonym ist." 328 - Die Platonischen Ideen sind die wahre Wirklichkeit, die Wesenheiten der Dinge, die Urbilder, von denen die Dinge nur Schatten sind. - Mit diesem Vergleich überschreitet Jung den Bereich seiner Wissenschaft, denn die Platonischen Ideen sind keine psychischen Tatbestände, sondern metaphysische. Eine solche Auffassung sei Jung unbenommen, aber sie ist weder empirisch, noch denknotwendig anzunehmen. Grundsätzlich scheint der Vergleich mit den "Ideen" nicht besonders geglückt, sind diese doch, im Gegensatz zu den Archetypen, etwas ganz und gar Undynamisches, "unwandelbar, unentstanden und JGW 6, 327. Vgl. JGW 5, 291. 328 JGW 9 I, 91; vgl. auch JGW 8, 221.
326
327
§ 25 Psychologismus und Phänomenalismus
237
unvergänglich". 329 Der Archetypus beherrscht das psychische Leben; die Idee behütet es (indem sie ihm Halt verleiht). Der Archetypus er-schüttert; die Idee er-scheint. Die Idee ist das metaphysische Wesen des Einzelseienden; der Archetypus ist überhaupt kein Wesen in diesem Sinne, sondern ein Wirken, und schon gar nicht ist er metaphysisch, sofern er nicht Ding-an-sich ist. Der Archetypus als etwas dermaßen Undynamisches verstanden, würde keinen Raum mehr lassen für eine Energetik, wie sie im Jungsehen Gedankengebäude eine zentrale Rolle spielt. Der Sprung von den idealistischen Ideen Platons zu wirklichen Bildern scheint für Jung nicht weit, der Zusammenhang zwischen diesen und jenen jedenfalls selbstevident zu sein, wenn er Mandalas und ähnliches als "empirische" Belege heranzieht. Wie man aus zwei Annahmen, nämlich erstens, daß es Platonische Urbilder gebe, und zweitens, daß die wirklichen Bilder Abbilder dieser Urbilder seien, auf einen Zusammenhang zwische diesen und jenen schließen kann, ist Glaubenssache. Was Jung flir selbstverständlich hält, nämlich, wie man "Formbedingungen" "als Bilder denken" kann, wird nicht ersichtlich. Daß der vorliegende Text eine Antwort auf die Frage gegeben hätte, was man unter einem Archetypus denn nun zu verstehen habe, kann man nach alledem nicht behaupten. Damit ist nicht bezweifelt, daß Jungs Patienten tatsächlich Mandalas gemalt haben, und ähnliche Bilder im Osten seit langem bekannt sind. Man kann darin als Psychologe vielleicht auch den Ausdruck einer bestimmten psychischen Disposition erblicken, und diese These ließe sich durch Experimente erhärten. Doch dies ist der Boden des menschlichen Erkenntnisvermögens, den Jung verläßt.
§ 25 Psychologismus und Phänomenalismus A. Das .. esse in anima"
Jung geht davon aus, daß die einzige unmittelbare Erfahrung des Menschen von der Wirklichkeit die Erfahrung ihres Abbildes in der Psyche sei. "Alles, was ich erfahre, ist psychisch. Selbst der physische Schmerz ist ein psychisches Abbild, das ich erfahre; alle meine Sinnesempfindungen, die mir eine Welt von raumerftillenden, undurchdringlichen Dingen aufzwingen, sind psychische Bilder, die einzig meine unmittelbare Erfahrung darstellen ( ... )."330 Dermaßen in psychische Bilder eingehüllt, können wir "zum Wesen der Dinge außer uns
329
330
W. Röd, Der Weg der Philosophie. Erster Band, p. 109. JGW 8, 402.
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3. Kapitel: Analytik
überhaupt nicht vordringen ( ...)." 331 Psychische Wirklichkeit wird dadurch zu der Kategorie des Seins überhaupt. "Psychisches Sein ist in Wahrheit die einzige Kategorie des Seins, von der wir unmittelbare Kenntnis haben, weil nichts bekannt sein kann, wenn es nicht als psychisches Bild erscheint. Nur die psychische Existenz ist unmittelbar nachweisbar. Wenn die Welt nicht die Form eines psychischen Bildes annimmt, ist sie praktisch nicht-existierend." 332 Diese psychischen Bilder sind "typische Bilder", weswegen Jung sie "Archetypen" nennt. Eine philosophisch weitreichende Konsequenz dieser Sichtweise ist Jungs Stellungnahme zum Universalienstreit. 333 Die Standpunkte der Nominalisten wie der Realisten beurteilt er je als Ausfluß einer bestimmten psychischen Disposition, die in eine konkrete Typologie eingereiht werden können. Der empirische Erkenntnistyp nehme hauptsächlich die Diversität der Dinge wahr und fiihle sich ins Objekt ein; er sei eher extravertiert. Der idealistische Erkenntnistyp dagegen nehme hauptsächlich die Ähnlichkeit der Dinge wahr und neige zur Abstraktion; dieser entspreche eher dem introvertierten Typus. Jung löst den Widerspruch zwischen "esse in intellectu" und "esse in re" auf, indem er eine psychologische Synthese zieht: das "esse in anima". "Dem ,esse in intellectu' fehlt die tastbare Wirklichkeit, dem ,esse in re' fehlt der Geist. Idee und Ding aber treffen sich in der Psyche des Menschen, welche zwischen Idee und Ding die Waage hält. Was ist schließlich die Idee, wenn ihr die Psyche nicht lebendigen Wert ermöglicht? Was ist auch das objektive Ding, wenn ihm die Psyche die bedingende Kraft des sinnlichen Eindruckes entzieht? Was ist Realität, wenn sie nicht eine Wirklichkeit in uns, ein ,esse in anima' ist? Die lebendige Wirklichkeit ist weder durch das tatsächliche, objektive Verhalten der Dinge noch durch die ideelle Formel ausschließlich gegeben, sondern nur durch die Zusammenfassung beider im lebendigen psychologischen Prozeß, durch das ,esse in anima'. " 334
Das einzig Wirkliche ist das Psychische. Damit verwandelt Jung das ontologische Problem des Verhältnisses von Subjekt und Objekt in ein psychologisches.335 Aber auch der empirische Standpunkt Jungs wird aus dieser Sicht des Psychischen verständlicher, denn empirisch ist das, was aus der unmittelbaren Erfahrung hervorgeht, und unmittelbar erfahrbar ist nur das Psychische. Somit wird die Psychologie eigentlich zum einzigen Mittel empirischer Forschung erhoben.
ib. JGW II, 517. 333 Vgl. JGW 6, 26 ff. bes. 38 ff. 334 JGW 6, 53. 335 Vgl. Kunz, Perspektiven und Aspekte des Weltbildes in der Psychologie C.G. Jungs, p. 66. 331
332
§ 25 Psychologismus und Phänomenalismus
239
Sind Jungs Überlegungen nun in sich schlüssig? Und wenn ja, sind sie gerechtfertigt? Jung wurde häufig vorgeworfen, er betreibe einen "Psychologismus", indem er die Psyche zum allein gültigen Maßstab allen Erkennens und sogar allen Seins erkläre. Außerdem erzeuge er einen "ontologischen Widerspruch", da die Seinserkenntnis konstitutiv für die Erkenntis überhaupt ist, Jung aber dennoch das Sein ausdrücklich vemeint. 336 Sind diese Kritikpunkte zutreffend?
B. Die Wirklichkeit des Psychischen Jungs Ausgangspunkt ist zunächst die Überlegung, daß alles, was in der Psyche wirkt, auch eine Wirklichkeit hat. "Die Unsichtbarkeit der Idee tut nichts zur Sache neben ihrer außerordentlichen Wirksamkeit, die eben eine Wirklichkeit ist." 337, bemerkt er über die psychologische Disposition des Ideenrealismus. "Wirklichkeit ist, wie das deutsche Wort besagt, das was wirkt." 338 Die beiden ausgewählten Formulierungen haben einen unterschiedlichen Aussagegehalt Die erste Aussage impliziert zunächst nicht mehr, als daß das Psychische auch eine Wirklichkeit ist, deren Seinsäußerung eben das Wirken ist. Es geht hier eigentlich nur um das Problem, ob dem nach innen Erfahrbaren (der Idee) aufgrund seiner Wirksamkeit auch ein Seinsstatus zugesprochen werden kann. Im wissenschaftstheoretischen Kontext: Es geht um den empirischen Wert der Introspektion. Wirklich in diesem Sinne sind auch Wahnideen, numinose Erfahrungen, psychische Bilder usw., also alles psychische Material, das die Psychologie als Wissenschaft konstituiert und von ihr selbstverständlich als "wirklich" anerkannt wird. Die Aussage kann verkürzt zusammengefaßt werden als These: Wirkung ist wirklich. Die zweite Aussage ist keineswegs so eindeutig, wie sie zunächst scheint. Grammatikalisch ist es das Was, welches wirklich ist, d.h. das Wirkende oder das Wirkung Erzeugende. Wirklich in diesem Sinne ist also z.B. auch die Neurose, der Archetypus, die organische Krankeit und jedes Seiende, das auf die Psyche "wirkt" und dort im Sinne einer Abbildtheorie seine Wirkung hinterläßt. Diese Aussage läßt sich zusammenfassen als These: Was wirkt, ist wirklich. 339 Sie impliziert, daß die Psyche zum Begegnungsort des immanenten wie
H. Stich, C.G. Jung und die Transzendenz, p. 198. JGW 6, 41. 338 JGW 10, 604; vgl. auch JGW 8, 437. 339 Nach der Entwicklungspsychologie kennzeichnet diese Einstellung die Wirklichkeit des primitiven Naturmenschen, vgl. H. Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie, p. 261 . 336 337
3. Kapitel: Analytik
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des transzendenten Seienden wird, sofern es wirkt, stellt Innen und Außen also auf psychischer Ebene gleich. Jung geht aber noch einen Schritt weiter. Aus der These, daß das Wirkende wirklich und die Wirkung, d.h. das Psychische auch wirklich sei, wird die Aussage, daß nur das Psychische wirklich ist. "Wirklichkeit ist nur das, was in einer menschlichen Seele wirkt ( ...)."340 Und: "Alles, was ist, wirkt, sonst ist es nicht wirklich." 341 Das Wirkende ist also nicht an sich wirklich, nur weil es ist, sondern vielmehr weil es die Eigenschaft zu wirken hat. "Wenn die Welt nicht die Form eines psychischen Bildes annimmt, ist sie praktisch nichtexistierend."342 Wenn die Welt nicht in Form eines psychischen Bildes wirkt, gibt es sie nicht! Jung schließt hier von seinem empirischen Ausgangspunkt, daß nur das als wirklich erkannt werden könne, was wirke, auf ein Sein. D.h. er verwandelt eine erkenntnistheoretische Aussage in eine ontologische. Diese Aspekte stehen oft unmittelbar nebeneinander, werden scheinbar gleichgesetzt. "Psychisches Sein ist in Wahrheit die einzige Kategorie des Seins, von der wir unmittelbare Kenntnis haben, weil nichts bekannt sein kann, wenn es nicht als psychisches Bild erscheint. Nur psychische Existenz ist unmittelbar nachweisbar." Ergo: "Wenn die Welt nicht die Form eines psychischen Bildes annimmt, ist sie praktisch nicht-existierend." 343 Diese Logik ist schwer nachzuvollziehen. Danach würde das Erkennen immer sich selbst vorangehen, da es Erkennen von etwas ist, dieses aber durch sich selbst erst begründet. Stich stellt daher nicht zu Unrecht fest, daß Jungs Lehre auf "Nichts" gegründet sei.344 Diese Logik zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk und wird nicht weiter begründet. Läßt man sie als fehlerhaft außer acht, so erlaubt die Wirklichkeit der Wirkung und des Wirkenden, die nicht bestritten sein soll, freilich nicht mehr die Auflösung des Universalienstreits. Jung beschäftigt sich dann allenfalls mit der Wirkung (der Theorie), dem "esse in intellectu" und dem "esse in re"; Nominalisten und Realisten dagegen beschäftigen sich mit dem esse. Das "esse in anima" kann daher nicht mehr sinnvollerweise als eine Auflösung des Universalienstreits, wie überhaupt als Überwindung des SubjektObjekt-Gegensatzes verstanden werden, sondern richtigerweise nur als seine psychologische Erklärung.
340 341 342 343 344
JGW 6, 41. JGW 10, 86; vgl. auch JGW 7, 103. JGW II, 517.
ib.; (Hervorhebungen durch d. Verf.). H. Stich, C.G. Jung und die Transzendenz, p. 200.
§ 25 Psychologismus und Phänomenalismus
241
C. Der Begriffdes Psychologismus
In den beiden vorhergehenden Unterpunkten wurde bewußt auf eine Konfrontation des Jungsehen Ansatzes mit philosophischen Theorien verzichtet, um nicht von vomherein eine möglicherweise ungerechtfertigte philosophische Kategorisierung der Lehre von Jung - der sich selbst ja nicht als Philosoph verstand - zu betreiben. Die Eigenheiten der Jungsehen Theorien lassen sich aber auch in technischen Begriffen und im Kontext anderer philosophischer Lehren darstellen. Der Lehre Jungs wurde wiederholt vorgeworfen, sie betreibe einen ausgesprochenen "Psychologismus". 345 - Was ist darunter zu verstehen? In der energischen Kritik von G. Frege346 und, an ihn anschließend, E. Husserf47 , bezieht sich der Term auf den Versuch, die logischen Gesetze, z.B. das Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch, auf psychische Zusammenhänge zurückzuführen und damit die Logik zu einem Teilbereich der Psychologie zu machen. 348 Diese Art des Psychologismus wurde z.B. von J.S. Mill vertreten. In der Nachfolge dieser Kritik wurde "Psychologismus" schließlich allgemein zur abwertenden Bezeichnung für solche Lehren, die in Überschätzung der anfangliehen Leistungsfiihigkeit der Psychologie philosophische Erkenntnisse und Erkenntnisse überhaupt auf psychologische zu reduzieren versuchten. So erklärt Sartre: "Der von der vieldeutigen Formel ,Die Welt ist unsere Vorstellung' ausgehende Psychologismus löst den Baum, den ich wahrnehme, in Myriaden von Sinneseindrücken, Farb-, Berührungs-, Wärmeempfindungen usw., in ,Vorstellungen' auf. Der Baum erscheint so schließlich als eine Summe subjektiver Inhalte und ist selbst ein subjektives Phänomen."349 Und H. Drüe schreibt zur Psychologismuskritik Husserls: "Das letzte Übel des Psychologismus besteht jedoch nicht darin, daß er bestimmte Einzelwissenschaften wie Logik, Mathematik usw. relativieren will(... ), sondern darin, daß er die Philosophie verderben will, indem er Philosophie zu einem Zweig der Anthropologie bzw. der empirischen Psychologie machen möchte."350 Diesen Anspruch der Relativierung der Philosophie hat Jung, etwa in seinen Beiträgen zum UniVgl. z.B. R. Keinzel, C.G. Jung, p. 139. Vgl. die Einleitung zu G. Frege, Grundgesetze der Arithmetik (1893); F. v. Kutschera, Gottlob Frege, p. 162 ff. 347 Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen (1900) in: Husserliana, Band XVIII. 348 Popper hingegen behandelt unter dem Titel "Psychologismus" die "Frage, wie es vor sich geht, daß jemandem etwas Neues einfallt". (K.R. Popper, Logik der Forschung, p. 6). 349 J.-P. Sartre, (36), in: Die Transzendenz des Ego, p. 140. 350 H. Drüe, Edmund Husserls System der phänomenologischen Psychologie, p. 52. 345
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3. Kapitel: Analytik
versalienstreit, ganz ausdrücklich vertreten und sich aus diesem Grunde auch dagegen ausgesprochen, ein Philosoph zu sein. Nun ist die Reduktion der Philosophie auf Psychologie noch kein Argument gegen einen solchermaßen verstandenen Psychologismus - schließlich könnte die Reduzierbarkeitsthese zu Recht bestehen. Es müßte vielmehr gezeigt werden, daß sie analytisch nicht haltbar ist. Welcher Gedankengang liegt also dem Psychologismus zugrunde? Betrachten wir zunächst noch einmal die Aussage Sartres. Der Psychologismus ist, nach der hier zum Ausdruck kommenden Auffassung, sozusagen die materialistische Auffassung der Psychologen, er reduziert alle Gegenstände der Wahrnehmung, seien sie materiell oder psychisch, zu rein materiellen Bildern in uns. Damit ist noch nicht viel gesagt, denn diese Vorgehensweise läßt sich auch mit einem ontologischen Realismus verbinden. In der Definition Sartres ist der Psychologismus darüber hinausgehend charakterisiert als idealistische Theorie, denn er verlagert die Welt in das Subjekt ("Die Welt ist unsere Vorstellung"). Genauer entspricht er den Annahmen des erkenntnistheoretischen Idealismus, nach denen Gegenstand unserer Erfahrung nur Phainomena sind ("Der Baum erscheint so schließlich als eine Summe subjektiver Inhalte") und mündet schließlich konsequenterweise in einen ontologischen Idealismus ("und ist selbst ein subjektives Phänomen"). Sartres Aussage von der "vieldeutigen Formel" der Welt als unserer Vorstellung geht zurück auf die Auffassung Freges, der die unpräzise Verwendung des Wortes " Vorstellung" als Quelle aller Verwirrung ausgemacht hatte, und die präzise Unterscheidung zwischen "Vorstellung" und "Vorgestelltem" als Argument gegen Psychologismus und Idealismus in die Diskussion einbrachte. - Nach Frege ist es "kein Leichtes", die Position der Psychologisten und Idealisten gegenüber der "wahren Sachlage" aufrechtzuerhalten "Und daher kommt ein Schwanken in den Gebrauch des Wortes ,Vorstellung' , indem es bald etwas zu bedeuten scheint, was dem Seelenleben des Einzelnen angehört und nach psychologischen Gesetzen mit anderen Vorstellungen verschmilzt, sich mit ihnen assoziiert, bald etwas Allen gleicherweise Gegenüberstehendes, bei dem ein Vorstellender weder genannt noch auch nur vorausgesetzt wird. (...) So wird schließlich Alles in den Bereich der Psychologie hineingezogen; die Grenze zwischen Objektivem und Subjektivem verschwindet mehr und mehr, und selbst wirkliche Gegenstände werden als Vorstellungen psychologisch behandelt. ( ...) So mündet denn Alles in den Idealismus und bei größter Folgerichtigkeit in den Solipsismus ein."351
Die Folge wäre aber, daß ein Widerstreit der Meinungen, eine gegenseitige Verständigung überhaupt unmöglich wäre, weil ein gemeinsamer Boden fehlte. Frege folgert daher: "Wenn wir überhaupt aus dem Subjektiven herauskommen
351
G. Frege, Grundgesetze der Arithmetik, p. XVIII f.
§ 25 Psychologismus und Phänomenalismus
243
wollen, so müssen wir das Erkennen auffassen als eine Tätigkeit, die das Erkannte nicht erzeugt, sondern das schon Vorhandene ergreift."352 Die in Freges Kritik zum Ausdruck kommende Auflösung der Außenwelt in Vorstellungen durch den Psychologismus, ist auch ein Vorwurf, der der modernen antirealistischen Doktrin des Phänomenalismus [A.J. Ayer, Language, Truth, and Logic (1952); C.l. Lewis, An Analysis of Knowledge and Valuation ( 1946i53 ) entgegengebracht wurde, dem es speziell um die Reduzierbarkeit des Physischen auf Psychisches, nämlich auf "Sinnesdaten" geht. Man könnte der Jungsehen Lehre daher auch eine Art "Phänomenalismus"354 vorwerfen - was freilich nicht so abwertend klingt wie "Psychologismus".
D. Der Psychologismus bei Jung Beispiele fllr dezidiert phänomenalistische Aussagen finden sich im Jungsehen Werk zuhauf und an zentralen Stellen. Dafür sollen stellvertretend einige ausgewählte Formulierungen sprechen. "Es ist krankhaft, zu vergessen, daß das Erkennen ein Subjekt hat, und daß es überhaupt kein Erkennen und darum auch ftir uns keine Welt gibt, wo nicht einer sagt: ,Ich erkenne'3 womit er aber allbereits die subjektive Beschränkung alles Erkennens ausspricht." 55 "Alle Wissenschaft jedoch ist Funktion der Seele, und alle Erkenntnis wurzelt in ihr. Sie ist das größte aller kosmischen Wunder und die conditio sine qua non der Welt als Objekt." 356 ib. p. XXIV. Den Phänomenalismus als idealistische Gegenposition zu Materialismus und Physikalismus kennzeichnet in seiner erkenntnistheoretischen Form die These, daß nur Sinnesdaten die Gegenstände äußerer Erfahrung bilden, und in seiner ontologischen Form, daß nur Sinnesdaten, andere psychische Phänomene und das sinnliche Subjekt die gesamte Wirklichkeit darstellen. Konsequent zu Ende gedacht, mündet er in einen Solipsismus, da nur die eigenen Sinnesdaten den Gegenstand der Erfahrung bilden, und Aussagen über andere Personen nur insoweit sinnvoll sind, als sie sich in Sinnesdaten übersetzen lassen. Die Kernthese des Phänomenalismus, daß sich alles Physische als Psychisches beschreiben läßt, bezeichnet man als Reduzierbarkeitsthese des Phänomenalismus. Sie ist das Gegenstück zu den Reduzierbarkeitsthesen realistischer Theorien, besonders des Physikalismus. Als Übersetzungsthese kann sie lauten: Alle Sätze der physikalischen Sprache lassen sich in Sätze der phänomenalistischen Sprache übersetzen, oder in ihrer stärkeren Form: Alle Sätze der normalen Sprache lassen sich in Sätze der phänomenalistischen Sprache übersetzen. (Vgl. F. v. Kutschera, Erkenntnistheorie, p. 224 f.). 354 Wenn nachfolgend vom Jungsehen "Phänomenalismus" gesprochen wird, so geschieht dies nur, um die Nähe der Auffassung Jungs zu dieser philosophischen Strömung anzudeuten; der Begriff wird also nicht streng im technischen Sinn gebraucht. 352
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JGW6,407.
JGW 8, 197.
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3. Kapitel: Analytik
"An sich bestehen Raum und Zeit aus Nichts. Sie gehen als hypostasierte Begriffe erst aus der diskriminierenden Tätigkeit des Bewußtseins hervor und bilden die für die Beschreibung des Verhaltens bewegter Körper unerläßlichen Koordinaten. Sie sind daher wesentlich psychischen Ursprungs, was wohl der Grund ist, der Kant dazu bewogen hat, sie als Kategorienapriori aufzufassen." 357 "Tatsächlich ist die einzige Form von Existenz, von der wir unmittelbar wissen, psychisch. Wir könnten ( ... ) ebenso gut sagen, daß die physische Existenz eine bloße Schlußfolgerung sei, da wir von der Materie nur insoweit etwas wissen, als wir psychische Bilder wahrnehmen, welche uns durch die Sinne übermittelt werden.'' 358 "Zweifellos ist es (das Psychische; Anm. d. Verf.) unsere einzige unmittelbare Erfahrung. Alles, was ich erfahre, ist psychisch. Selbst der physische Schmerz ist ein psychisches Abbild, das ich erfahre; alle meine Sinnesempfindungen, die mir eine Welt von raumerftillenden und undurchdringlichen Dingen aufzwingen, sind psychische Bilder, die einzig meine unmittelbare Erfahrung darstellen, denn sie allein sind es, die mein Bewußtsein zum unmittelbaren Objekt hat. ( ... )Alles, was wir je wissen können, besteht aus psychischem Stoff. Psyche ist das allerrealste Wesen, weil es das einzig Unmittelbare ist. Auf diese Realität kann sich der Psychologe berufen, nämlich auf die Realität des Psychischen." 359 "Alles Begreifen und alles Begriffene ist an sich psychisch, und insofern sind wir in einer ausschließlich psychischen Welt hoffnungslos eingeschlossen." 360 "Psychisches Sein ist in Wahrheit die einzige Kategorie des Seins, von der wir unmittelbare Kenntnis haben, weil nichts bekannt sein kann, wenn es nicht als psychisches Bild erscheint. Nur psychische Existenz ist unmittelbar nachweisbar. Wenn die Welt nicht die Form eines psychischen Bildes annimmt, ist sie praktisch nicht-existierend." 361
Aussagen von Jung, wie jene, daß allein das Psychische der Erfahrung unmittelbar zugänglich ist, sind typisch idealistischer Art. Sie nehmen Bezug auf das Argument vom "unmittelbar Gegebenen" und auf das Evidenzargument.362 Danach sind nur Sätze der Form "Es-erscheint-mir-als-ob" unproblematisch, d.h. evident, da die eigene Überzeugung das Einzige ist, was sinnvollerweise nicht mehr angezweifelt werden kann, weil es unmittelbar gegeben ist. Erscheint es mir z.B. als ob ich einen roten Körper sähe, so kann es durchaus sein, daß dieser Körper eigentlich weiß ist und nur bei bestimmten Lichtverhältnissen rot wirkt, oder daß er durch ein Hologramm vorgespiegelt wird, daß er überhaupt nicht existiert. Sicher kann ich nur hinsichtlich des Eindrucks sein. Daraus wird unter anderem gefolgert, daß verläßliche empirische Erkenntnis sich nur auf phänomenale Sätze des Erscheinens-als-ob stützen kann, da allein diese Sätze als durch Beobachtung belegt gelten können. Folgt man diesem
JGW 8, 495. JGW II, 8 f. 359 JGW 8, 402. 360 C.G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, p. 345. 361 JGW 11, 517; vgl. auch JGW 8, 163. 362 Vgl. F. v. Kutschera, Erkenntnistheorie, p. 204 ff., 227 ff. 357 358
§ 25 Psychologismus und Phänomenalismus
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Empirieverständnis, so muß man allerdings auch anerkennen, daß "empirisch" keinen Anspruch auf Objektivität mehr beinhalten kann; zwar ist es ein "perfektes Wissen" im Sinne des Objektivismus, es ist aber keines, das ftir alle Beobachter "objektiv" gilt und verbindlich ist, sondern nur je flir den Einzelnen, der sich seiner Sinnesdaten sicher sein kann. Objektiv sind nur die phänomenalen Objekte, und dies sind immer nur meine eigenen. Natürlich könnte ich meine Erfahrungen anderen mitteilen und so zu einer intersubjektiven "objektiven" Basis kommen. Dies wäre aber nur dann möglich, wenn ich meine Erfahrungen in Sinnesdaten anderer übersetzen könnte. Abgesehen davon, daß eine umfassende phänomenalistische Sprache nicht existiert und eine Übersetzung aus diesem Grunde bereits unmöglich ist, sind die anderen, zu denen ich spreche, auch nur phänomenale Objekte. Folgt man also konsequenterweise dem ontologischen Phänomenalismus, so wird Intersubjektivität zum Selbstgespräch. Das ist nicht überraschend, denn es liegt in der Natur von Abbildtheorien, daß sie zu Erkenntnisskepsis fuhren, und ein solipsistisches Selbstverständnis erlaubt letztlich nurmehr Selbsterkenntnis. Ein solch enges und wissenschaftlich wenig sinnvolles Verständnis von Erkenntnis kann schwerlich Jungs Anliegen sein, denn es würde seine Theorien zu eigener Überzeugung degradieren und man könnte nicht mehr sinnvoll von ihnen als "wissenschaftlich" und "empirisch" reden. Daß Jung im Grunde sinnvollerweise gar keiner phänomenalistischen Auffassung anhängen kann, sofern er beansprucht, empirisch zu sein, bzw., daß die phänomenalistische Auffassung in einen Widerspruch mündet und daher von Jung nicht konsequent durchgehalten werden kann, wird deutlich, wenn man ein anderes Argument der Phänomenalisten heranzieht: das Illusionsargument Es besagt, daß wir uns über die Beschaffenheit und Existenz von Objekten irren können und daher diese, so wie sie uns erscheinen, nicht mit den Objekten wie sie wirklich sind, identifizieren können. Im Traum kann mir z.B. ein Objekt erscheinen, das überhaupt nicht existiert. Mit dem Traum haben sich nun Psychoanalyse und Analytische Psychologie ausgiebig auseinandergesetzt Während Freud den Traum auf reale Erfahrungen zurückführt und in seiner Ursache-Wirkungs-Konzeption einer durchaus materialistischen Auffassung folgt, bezieht Jung den Traum teleologisch auf seinen Sinngehalt. Für beide ist der Traum aber etwas durchaus Reales, er bildet schließlich den Gegenstand ihrer empirischen Untersuchungen, Jung würde sagen, er "wirkt". Diese Erkenntnis ist an sich trivial; sie entspricht dem psychologischen Standpunkt, denn der Psychologe beschäftigt sich nun einmal mit Illusionen. Illusionen sind demnach für die Psychologie keine phänomenalen Sachverhalte, sondern reale, und zwar, wenn man sie genauer bezeichnen will, psychische. Man kann zwar die Auffassung vertreten, phänomenale Sachverhalte meinten genau solche psychischen Sachverhalte, dann wird aber die The-
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3. Kapitel: Analytik
se des Phänomenalismus trivialisiert, denn die Beschreibung solchermaßen phänomenaler Sachverhalte bedient sich der natürlichen Sprache. 363 Man kann also bereits den Umstand, daß Jung sich zur Formulierung seiner Theorien der natürlichen und nicht einer "phänomenalistischen" Sprache bedient, als Beweis dafür erachten, daß er keinen dem phänomenalistischen Selbstverständnis entsprechenden Standpunkt einnimmt - bzw., falls man die Ähnlichkeit der Aussagen in den Vordergrund rücken wollte, daß die Thesen des Phänomenalismus, und so verstanden auch diejenigen Jungs, bei näherer Betrachtung unsinnig sind. Bereits ein beliebiger Satz wie der oben verwendete: "Im Traum kann mir z.B. ein Objekt erscheinen, das überhaupt nicht existiert." ist nicht besonders sinnvoll. Denn das Nicht-Existieren bezieht sich auf die Außenwelt (im Traum existiert das Objekt schließlich), auf die mit der Aussage Bezug genommen wird. Wie aber kann auf etwas Bezug genommen werden, das gar nicht existiert? Ebenso die phänomenalistische These, Gegenstand der Erfahrung seien einzig Sinnesdaten: Danach könnte Erfahrung überhaupt nicht mehr erklärt werden, denn es gäbe nichts Erfahrbares, das diese Sinnesdaten verursacht hätte, es sei denn, Sinnesdaten hätten die Sinnesdaten verursacht. Diese Möglichkeit verlagert - abgesehen davon, daß sie schon begrifflich absurd ist natürliche Gesetzmäßigkeiten nur auf die Ebene von Sinnesdaten, und sie läuft leer, wenn die Ursache nicht individuell erfahrbar, wohl aber erklärbar ist, was letzten Endes wohl auf alle Erfahrungen zutrifft. (Ich kann, wenn mir ein phänomenalistischer Apfel phänomenal auf den Kopf fällt schwerlich behaupten, ich hätte Sinnesdaten von der Masse der Erde, Rotation der Planeten usw. ; ich muß mich dabei auf abstrakte Berechnungen verlassen.)
E. Die begriffliche Konfusion Diese Widersprüchlichkeiten erklären sich aus einer logischen Ungenauigkeit, die geistesgeschichtlich weit verbreitet ist und die "eine derart elementare begriffliche Konfusion" zu verursachen vermag, daß sie den idealistischen Erkenntnistheorien "schon vom Ansatz her eine falsche Richtung geben konnte."364 Auf diesen Fehler hat erstmals Frege aufmerksam gemacht, und Husserl hat, ihm folgend, unter Zurückweisung des idealistischen "esse est percipi" wiederholt darauf hingewiesen. Der Rede von der "Konfusion" liegt die Unterscheidung zwischen Sinnesdaten und dem dinglichen Gegenstand zugrunde, 363 Man könnte hier allerdings auch argumentieren, daß die Tiefenpsychologie eine neue Sprache, nämlich eine Symbolsprache zu kreieren sucht. Allerdings gibt es noch keine solche vollständige Sprache, und es ist außerdem fraglich, ob sie sich überhaupt auf phänomenale Sachverhalte bezieht, und nicht vielmehr auf natürliche Sachverhalte der Psyche. 364 F.v. Kutschera, Erkenntnistheorie, p. 220.
§ 25 Psychologismus und Phänomenalismus
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die von den Idealisten nicht getroffen wird. Die Existenz von Sinnesdaten, die als subjektive Elemente zum Bewußtsein gehören, braucht nicht geleugnet zu werden, aber sie bilden nicht das Objekt. Unter Zugrundelegung der getroffenen Unterscheidung wird allerdings sichtbar, daß die eingangs zitierte Kennzeichnung des "Psychologismus" durch Sartre, bereits auf die die idealistischen Theorien stützende Verwechslung Bezug nimmt: Von der Subjektivität der Sinnesdaten wird auf die Subjektivität des Erkennens, von dieser auf die Subjektivität des Erkannten geschlossen, so daß der Baum schließlich selbst zum subjektiven Phänomen wird. Daß zumindest die Subjektivität des Erkennensetwas völlig anderes ist als die Subjektivität des Erkannten ist offensichtlich, und es ist nicht einzusehen, wie logisch vom einen auf das andere geschlossen werden könnte (was von den Vertretern idealistischer Theorien auch gar nicht erst versucht wurde). Auf dieser Verwechslung von Sachverhalten des Beobachtens und solchen des Beobachteten, des Denkens und des Gedachten, des Wahrnehmens und des Wahrgenommenen beruhen viele der widersprüchlichen Aussagen Jungs. Anstelle der eben angeführten Begriffe tritt bei ihm vor allem die Konfusion von "Wirkung" und "Wirkendem". Man könnte auch fragen, was Sinnesdaten im Sinne des Phänomenalismus überhaupt beschreiben. Beschreiben sie Sachverhalte des Beobachteten (beobachtete Sachverhalte), so nehmen sie keinen originellen Standpunkt ein, denn solche beschreibt jede Aussage über Wahrgenommenes. Beschreiben sie dagegen Sachverhalte des Beobachtens, so habe11 diese nichts mit dem Beobachteten zu tun; mein Beobachten ist z.B. angespannt, während das Beobachtete rot ist, sicher aber nicht mein Beobachten. Außerdem sind auch Sachverhalte des Beobachtens natürliche Sachverhalte, die in natürlicher Sprache beschrieben werden. Beschreiben sie drittens - wovon man richtigerweise annehmen muß, daß auch Jung dieser Auffassung folgt - Sachverhalte der Beobachtung, so ist dies nicht trivial, denn es besteht ein Unterschied zwischen Beobachtung und Beobachtetem, aber es ist auch nicht mehr phänomenalistisch. Diese Auffassung entspricht der des erkenntnistheoretischen Idealismus auf Grundlage eines ontologischen Realismus, wie sie Kant vertreten hat. Der Umstand, daß wir uns über Wahrnehmungen irren können, berechtigt zwar zu einer Erkenntnisskepsis, nicht aber zu einer Infragestellung des Seienden, denn dieses ist es, was "wirkt". Die Besonderheit bei Jung ist, daß er als Psychologe keine erkenntnistheoretische Trennlinie mehr zieht zwischen Innen und Außen; auch Illusionen, Visionen, Träume sind ihm Realität. F. Alt schreibt Jung einen entscheidenden Anteil an einer "der größten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts" zu: "Die Idee der psychischen Realität, die Wiederentdeckung der Wirklichkeit der Seele". 365 Um die Realität des Inneren und die des Äußeren auf eine gemeinsame Grundlage zu stellen, zieht er die Realität des Psychischen heran. 365
F. Alt (Hrsg.), C.G. Jung, p. 12.
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3. Kapitel: Analytik
Bliebe man bei der alten Konzeption der erkenntnistheoretischen Trennung von Innen und Außen, Leib und Seele, Physischem und Psychischem, so könnte man auch sagen, der Mensch lebe in verschiedenen Realitäten, wie dies Descartes vertreten hat. Es läßt sich dann nicht entscheiden, welche Realität die "wirkliche" ist, da sie beide real sind, die physische und die nicht-physische. (Dem östlichen Denken ist diese Auffassung schon lange vertraut. Der Taoist Zhuang Zi nimmt darauf in seinem berühmten "Schmetterlingstraum" Bezug.366 Er steht im Buch "Ausgleich der Weltanschauungen" und richtet sich gegen das sinnentleerende, zersetzende, skeptizistische Denken früher chinesischer sophistischer Kulturen.)
F. Die Klärung der Begriffe
Indem Jung - wie man ihn sinnvollerweise verstehen kann - nun den Ansatz des erkenntnistheoretischen Idealismus teilt und ein Psychisches anerkennt, das sich auf ein entsprechendes Physisches bezieht, ergibt sich ftir ihn die Möglichkeit der Schaffung einer gemeinsamen Grundlage "in anima", wo "Physisches" eben Psychisches ist. Das bedeutet nicht, daß Physisches Psychisches ist! Man kann der so verstandenen Theorie Jungs dann nicht mehr vorwerfen, sie betreibe einen "Psychologismus", man muß aber wohl fragen, was nach diesem Verständnis noch vom Archetypus übrigbleibt. 367 Und schließlich muß angemerkt werden, daß die Theorie Jungs diese Unterscheidung zwischen erkenntnistheoretischem und ontologischem Aspekt des psychischen Seins des Physischen häufig nicht trifft und damit dem alten Fehler verfällt, der charakteristisch ist fiir idealistische Theorien. Dieser Mangel äußert sich in der oben formulierten unhaltbaren These: "Nur was wirkt, ist wirklich." Danach wäre, was nicht wirkt, auch nicht wirklich. Mit der Schwierigkeit dieser Problematik hat sich schon Berkeley vergebens auseinandergesetzt Sie ist ein Resultat des oben beschriebenen Fehlers. Die Konsequenz ist eine differenzierte Handhabung der Begriffe: es ist jeweils genau zu unterscheiden zwischen Wirkendem, Wirken und Wirkung.
366 "Einst träumte Dschuang Dschou, daß er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge." (Zhuang Zi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Buch II, 12). 367 Dazu unten § 42.
§ 26 Monistische Ansätze
249
In Anlehnung an Habermas' Urteil über Freud368 kann man bei Jung daher vielleicht von einem "psychologistischen Selbstmißverständnis" sprechen. Und wie äußert sich Jung selbst zum Vorwurf des Psychologismus? "Das Schimpfwort ,Psychologismus' trifft nur einen Narren, der meint, seine Seele in der Tasche zu haben. ( ... ) Psychologismus darf m.E. nur einem Intellekt vorgeworfen werden, welcher die genuine Natur des autonomen Komplexes leugnet und ihn rationalistisch als Folge bekannter Tatsachen, d.h. als uneigentlich erklären möchte. Dieses Urteil ist genau so arrogant, wie die ,metaphysische' Behauptung, die über die menschlichen Grenzen hinweg eine nicht erfahrbare Gottheit mit der Bewirkung unserer seelischen Zustände zu betrauen versucht." 369
Jung wirft also seinen Kritikern "Psychologismus" vor.
§ 26 Monistische Ansätze A. Die psycho-physische Realität Im Rahmen der Darstellung des Wandels des Archetypusbegriffs (§ 24) wurde bereits am Rande der monistische Einschlag des Jungsehen Theoriegebäudes erwähnt. Jung scheint zuweilen die idealistische Fundierung seiner Theorien, die in § 25 behandelt wurde, zu verlassen und eine Art neutralen Monismus zu vertreten. 370 Ein Zugang zu dieser Auffassung ergibt sich über den Energiebegriff Jungs. Schon in seiner Arbeit zur "Dementia praecox" (1906) benutzt Jung den Begriff der "psychischen Energie" anstelle des Freudschen Libidobegriffes, der ihm, in seiner ausschließlichen Ausrichtung auf das Sexuelle, als inhaltlich zu begrenzt erscheint. Funktional sind die beiden Begriffe austauschbar37 1, jedoch steht Jungs Konzeption dem Gedanken einer neutralen Lebensenergie näher. Jung erstellt die Konzeption seines Energiebegriffs in Analogie zur Physik, d.h. unter Verwendung des Satzes von der Energieerhaltung, des Äquivalenzprinzips (das besagt, daß fiir jede Energie, die irgendwo zur Erzeugung eines Zustandes aufgewandt und verbraucht wird, anderswo ein gleich großes Quantum der gleichen oder einer anderen Energieform auftritt), sowie des Entropieprinzips (demzufolge energetische Prozesse überhaupt nur möglich sind, wenn eine Potentialdifferenz besteht, die zum Ausgleich gebracht werden muß). 372 Diese J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Kap. 10. R. Wilhelm, C.G. Jung, Das Geheimnis der Goldenen Blüte, p. 58; vgl. auch JGW 12, 27 gegen die Theologen. 370 Besonders deutlich in JGW 8 und 14 II. 371 Vgl. JGW 6, 490 f. 372 Vgl. JGW 8, I ff. und für eine ausführliche Darstellung des Jungsehen Energiebegriffs: T. Wolff, Einführung in die Grundlagen der Komplexen Psychologie, in: Stu368
369
250
3. Kapitel: Analytik
Energie ist nach Jung nun nicht in der Psyche gebunden, sondern sie kann durch Projektion auf Objekte übertragen werden. Diese Art der Übertragung kennzeichnet die primitiven Bewußtseinsstufen. "Der Primitive ( .. .) hat seine Psyche draußen in den Objekten." 373 Auch die Mana-Persönlichkeit, die primitive Völker anbeten, stellt nach Jung eine Energievorstellung dar, die dem späteren abstrakten Begriff der Energie vorangeht. Den Vorstellungen der primitiven Völker und dem abstrakten Energiebegriff liegt der gemeinsame Archetypus der Energie und ihrer Erhaltung zugrunde. 374 Die Möglichkeit derartiger auf Energieübertragung beruhender psychophysischer Beziehungen erklärt nach Jung auch die Phänomene akausaler Zusammenhänge, die er als "Synchronizität" bezeichnet hat. 375 Synchronistische Phänomene hängen mit der Unbewußtheit der Psyche zusammen. "Insofern ein psychischer Inhalt die Bewußtseinsschwelle überschreitet (wodurch seine Energie im Bewußtsein gebunden wird; Anm. d. Verf.), verschwinden dessen synchronistische Randphänomene."376 Jung unterscheidet dabei drei Arten von Synchronizität377 : die Koinzidenz eines psychischen Zustandes mit a) einem gleichzeitigen, motivverwandten, nicht in einem kausalen Zusammenhang stehenden äußeren Ereignis, b) einem räumlich distanten, außerhalb des Wahrnehmungsbereiches des Beobachters liegenden Ereignis (z.B. Telepathie), c) einem zeitlich distanten Ereignis (z.B. Präkognition). Die zur Erklärung dieser Phänomene vorgebrachten Erklärungen sind zunächst noch idealistischer Art, denn sie beziehen sich auf die "psychische Relativität von Raum und Zeit". Jung stützt sich auf Kant, der Raum und Zeit als "wesentlich psychischen Ursprungs" erkannt habe, weswegen auch "ihre Relativierung durch eine psychische Bedingung auf alle Fälle kein Wunder mehr" sei, sondern "im Bereiche der Möglichkeit" liege. 378 Jung verläßt aber diesen Standpunkt, wenn er die Möglichkeit andeutet, daß synchronistische Ereignisse auch ohne Beteiligung der menschlichen Psyche möglich seien.379 Welche Überlegung liegt dieser Ausweitung zugrunde?
dien zu C.G. Jungs Psychologie, p. 172 ff., sowie M.-L. Frey-Rohn, Von Freud bis Jung, p. 216 ff. 373 JGW I 0, 80. 374 Vgl. JGW 7, 73 f. 375 Vgl. dazu v.a. JGW 8, 475 ff., 579 ff.; vgl. L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 387. 376 JGW 8, 264. 377 JGW 8, 585 ff. 378 JGW 8, 495. 379 JGW 8, 559 FN 126.
§ 26 Monistische Ansätze
251
B. Der Archetypus als ontologische Struktur Oben wurde gezeigt, daß Jung wiederholt seinen Archetypusbegriff ändert. Während er ihn meistens als eine psychische Gegebenheit beschreibt, als eine "Struktur" oder als "Anordner", betont er an manchen Stellen auch den vorpsychischen Charakter der Archetypen. 380 Dadurch sind sie nicht mehr eindeutig dem psychischen Bereich zugeordnet und können die Funktion von Anordnungsfaktoren der Natur schlechthin übernehmen. Jung schreibt: Die Archetypen können "nicht eindeutig und ausschließlich nur im psychischen Bereich festgestellt werden, sondern ebensosehr auch in nicht psychischen Umständen erscheinen ( ... )."381 ,,Archetypen haben daher eine Natur, die man nicht mit Sicherheit als psychisch bezeichnen kann." 382 Sie stehen gewissermaßen ,jenseits der psychischen Sphäre." 383 Synchronizität in diesem Sinn ist also, wenn man so will, ursacheloses Angeordnetsein im ontologischen Sinn durch die Archetypen als Anordner schlechthin. Natur und Psyche sind zwei Aspekte desselben archetypischen Angeordnetseins. Demnach gibt es eine gemeinsame Realität von Natur und Psyche, die durch den Archetypus "konstelliert" wird. Jung behauptet daher, daß wir mit gutem Grund anzunehmen hätten, "daß es nur eine Welt gäbe, in welcher Psyche und Materie ein und dieselbe Sache sind, die wir zum Zweck der Erkenntnis diskriminieren." 384 "Da Psyche und Materie in einer und derselben Welt enthalten sind, überdies miteinander in beständiger Berührung stehen und schließlich beide auf unanschaulichen transzendentalen Faktoren beruhen, so besteht nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß Materie und Psyche zwei verschiedene Aspekte einer und derselben Sache sind."385 Dies soll durch die Synchronizitätsphänomene bewiesen sein.386 Dahinter steht auch der Gedanke, daß es einen fließenden Übergang der Psyche zur Materie einerseits, zum "Geist", d.h. dem Bereich der Archetypen, andererseits, gebe, welche beide nicht in ihrem An-sich-sein erkannt werden könnten, daher die Psyche an beiden Enden in ein Geheimnis reiche. 387 Die Bereiche der Materie und der Archetypen bezeichnet Jung hier als "vor-psychisch". Während die idealistischen oder phänomenalistischen Aussagen Jungs gedanklich zumindest auf eine - allerdings unhaltbare - Reduktionsthese zurück-
380
§ 24 G.
381
JGW 8 573
8:
JGW 262: JGW 8, 247. 384 JGW 14,316 f. 385 JGW 8 246 386 JGW 263: 387 Vgl. JGW 8, 246 f.
382 383
8:
252
3. Kapitel: Analytik
geführt werden können, bleiben die monistischen Ansätze vollkommen unbegründet. Jung schließt hier scheinbar von Entitäten, die er nicht erkennen kann, nämlich der Materie und den Archetypen, und die er darum als "vor-psychisch" und "dunkel" bezeichnet, auf eine Realität. Es muß sich also wohl um eine Realität handeln, die weder erkannt, noch auf die geschlossen werden kann. Jungs Fehler liegt darin, daß er das, was er zutreffend als nicht erkennbar erkennt, mit dem Prädikat vor-psychisch belegt, dem Nicht-erkennbaren damit eine Eigenschaft zuschreibt, und so zu einer Realität gelangt, die er als "VorPsyche" bezeichnet. Die Unerkennbarkeit des Archetypus, die Jung einsehen mußte, bringt ihn methodenwidrig dazu "an der nur psychischen Natur der Archetypen zu zweifeln" 388 und deren ontischen Charakter zu postulieren, anstatt die Konzeption des Archetypus selbst in Frage zu stellen. So schreibt auch L. Frey-Rohn über das Archetypusverständnis Jungs: "Er (der Archetypus; Anm. d. Verf.) war seiner Meinung nach nicht nur der apriorische, unanschauliche Anordner der Vorstellungswelt, sondern er war überhaupt mit der Wirklichkeit des Unvorstellbaren, des Nicht-Psychischen, verknüpft." 389 Damit wird das Unvorstellbare mit dem Nicht-Psychischen gleichgesetzt, und es werden ihm vorstellbare Merkmale zugeschrieben. Es ist zwar die Gemeinsamkeit alles Dunklen, daß es dunkel ist, aber es ist dunkel nur in der Realität, in der es eben dieses ist. Daraus, daß es Dunkles gibt, folgt nicht, daß es eine (zweite) Realität gibt, in der dieses Dunkle ist oder in der es etwas anderes als dunkel ist. Allerdings spricht Jung auch gar nicht von einer zweiten Realität. Sieht man davon ab, daß er im Rahmen seiner phänomenalistischen Aussagen der Psyche alleinige Realität zuspricht, so könnte man nun die "Vor-Psyche" als alleinige Realität betrachten. Dies würde allerdings dazu führen, daß man überhaupt nicht mehr von Realität sprechen könnte, denn was erkennbar ist, ist nicht Realität, und was Realität ist, ist nicht erkennbar. C. Östliche Parallelen
Jungs monistische Ansätze sind zweifelsohne von östlichem Gedankengut inspiriert. So soll der hinduistische Begriff des "Brahman" dem Jungsehen Libidobegriff oder allgemein der "Energie" entsprechen, die ihre Quelle im kollektiven Unbewußten hae 90 , und der Begriff des "Selbst", so Jung, sei eine Übersetzung des hinduistischen "Atman". 39 1 Eine besonders enge Verbindung sieht Jung auch zum Taoismus. "Tao" scheint ihm gerade das auszudrücken,
JGW 8, 263. L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 385. 390 JGW 6, 215 f.
388 389 391
Vgl. JGW II, 90, 311,675.
§ 26 Monistische Ansätze
253
was er mit dem Archetypus "Selbst" gemeint hat392 , und die Aufhebung der Gegensätze in Tao ist ihm ein Beispiel für das Phänomen sinngemäßer Koinzidenz, auf dem auch das System des Yi Jing beruhe. 393 Eine derartige Einheit von Mensch, Welt, Psyche und Kosmos, wie sie Jung feststellt, und der Gedanke des Kreislaufs, zum Teil verbunden mit dem der Höherentwicklung394 , sind tatsächlich bezeichnend für die östlichen Weisheitslehren. Man kann vielleicht auch sagen, daß sie ilu"en Ursprung im Erfahren des menschlichen Eingebundenseins in seine Umwelt haben, eine Erfahrung, die auch Jung für das Verständnis seiner Theorien als notwendig beansprucht hat. Diese Gemeinsamkeiten dürfen allerdings nicht über die fundamentalen Unterschiede zwischen Jungs Weltanschauung und den östlichen hinwegtäuschen. Zum einen steht bei Jung, dem westlichen Selbstverständnis entsprechend, das Individuum weit mehr im Vordergrund als in den östlichen Lehren. Zum anderen - und diesen Einwand kann man mit dem vorgehenden als in Zusammenhang stehend erachten - ist es gerade Jungs Selbstverständnis als Wissenschaftler, sein Bemühen, Theorien zu bilden, die die Weltphänomene erklären, sein reduzierendes, psychologisierendes Denken, die ihn als einen Vertreter westlichen Weltverständnisses ausweisen und ihn grundsätzlich von den östlichen Annahmen scheiden. Man braucht hier nur an Zhuang Zis berühmtes Buch über den "Ausgleich der Weltanschauungen" zu denken, das sich gerade gegen eine solche Haltung wendet. Möglicherweise erfüllt der Therapeut im analytischen Gespräch eine Rolle, die dem des östlichen Weisheitslehrers entspricht. Der indische Psychologe A.U. Vasavada hat darauf hingewiesen, daß Jung im Grunde ein "Guru" sei, auch wenn er sich nicht dazu bekennen wolle.395 Als wissenschaftliche Theorie und als philosophisches System, das zu erklären trachtet, ist Jungs Monisimus jedenfalls kaum vergleichbar mit den monistischen Systemen des Ostens. Der Unterschied liegt in der Haltung gegenüber Fragen der Erkenntnis und der Möglichkeit von Erkenntnis, mithin auch des Zweifels und des Sinnverlustes und betrifft damit die Stellung des Subjekts zu seiner Umwelt.
JGW II, 675; C.G. Jung, Erinnerungen, p. 211. JGW 14 II, 231,314. 394 Jung betrachtet hingegen den Weg der östlichen Philosophie scheinbar als reinen Kreislauf, was allerdings nur zum Teil richtig ist. Alle philosophischen Systeme, denen der Gedanke der Erlösung eignet, kennen den Gedanken der Höherentwicklung. Besonders ausgeprägt ist dies im Kastenwesen des Hinduismus. Da aber auch eine Regression möglich ist, sind die einzelnen Stufen nur relativ (zum Karman) höher oder niedriger, und nur in Hinblick auf die finale Bestimmung. Außerdem gibt es eine Reihe von Ritualen, deren Erfllllung die sofortige Erlösung bewirken kann. Insgesamt handelt es sich also nicht um eine starre, lineare Höherentwicklung, sondern um eine vielleicht als "relational-dynamisch" zu bezeichnende. 395 Nach E. Wiesenhütter, Die Begegnung zwischen Philosophie und Tiefenpsychologie, p. 64 f. 392 393
254
3. Kapitel: Analytik
Oben wurden die Philosophien Schopenhauers und Nietzsches mit den Theorien Jungs und den Philosophien des Ostens in Zusammenhang gebracht. 396 Im Sinne des eben Gesagten läßt sich bei Schopenhauer, Nietzsche und Jung gleichermaßen ein subjektivistisches Mißverständnis der östlichen Philosophien feststellen. Das Individuum mit seinem Erkenntnisstreben und Verstehenwollen, d.h. als Bewußtsein und Vernunft, die mit dem Menschen gleichgesetzt wird, rückt bei den westlichen Denkern viel stärker in den Vordergrund. So ist bei Schopenhauer die "Resignation" das geeignete Mittel, zur Erlösung vom Leben, zum "Nirwana" zu gelangen, diese "Resignation" hat aber im Grunde wenig gemein mit dem taoistischen Wu Wei (Nicht-Tun), das im Gegenteil Ausdruck der Überlegenheit ist, die aus dem Vertrauen in Tao herrührt, oder dem vedischen Samnyasa (Weltentsagung) oder Nivrtti (Entsagung, Askese), die nur vor dem Hintergrund der Karman-Lehre zu verstehen sind und in Hinblick auf diese (und nicht auf den Menschen) eminent ethische Bedeutung gewinnen. Über die Bedeutung dieser Lehre schreibt M. Hiriyanna: "Diese Überzeugung, daß es im Leben tatsächlich keine Ungerechtigkeiten gebe, erklärt die Abwesenheit des Gefühls der Bitterkeit und ist geeignet, Qual und Kummer nachzuvollziehen; dies ist auch beim einfachen Volk in Indien bemerkenswert, wenn es von einem Mißgeschick befallen wird. Es macht weder Gott noch den Nachbarn verantwortlich, nur sich selbst."397 Der Karman- wie auch der TaoLehre liegt die Vorstellung eines letzten Endes vernünftigen und gütigen Ablaufs des Weltgeschehens zugrunde398, welche Vernünftigkeit allerdings solange verborgen bleibt, als darüber der Schleier der Maya liegt. Die "Resignation" hingegen beruht auf der Einsicht, daß sich in der Wirklichkeit, wie sie an sich ist, keine Spur von Vernünftigkeit und von Wert findet. Damit ist der Boden des Nihilismus beschritten, als einer Erkenntnis der Wertlosigkeit der bisherigen Werte und des damit verbundenen Sinnverlusts, der eine "Umwertung aller Werte" (Nietzsche) erfordert. Nietzsche weist in seiner "Geburt der Tragödie" darauf hin, daß der untergründige Pessimismus des antiken Griechentums aus dem Wissen um die Absurdität des Daseins herrühre, und in der Tat ist diese Haltung ein Charakteristikum der sogenannten "tragischen Gesellschaften" 399 des Okzidents, das sie von jenen des Ostens scheidet, wo diese Absurdität nicht als ein Sinnverlust empfunden wird. Die Vorzeichen sind also geradezu vertauscht. Während das westliche Denken in dem Wissen um den vernünftigen Ablauf des Weltgeschehens und die Fähigkeit des Menschens, kraftseiner Vernunft darin einzugreifen, gründet, bezieht sich das östliche Denken auf einen jenseitigen Sinn und weiß sich darin geborgen. Der westliche Denker hingegen
396
Vgl. § 13 D.
M. Hiriyanna, Vom Wesen der indischen Philosophie, p. 65. 398 Vgl. ib. p. 69. 399 Vgl. W. Fikentscher, Modes ofThought, p. 355 ff. 397
§ 26 Monistische Ansätze
255
geht dieser Geborgenheit verlustig mit der Erkenntnis des Mangels an Sinn, den er im Diesseits sucht. Wenn daher Schopenhauer sagt "Die Welt ist meine Vorstellung", so klingt das wie "Die Welt ist nur meine Vorstellung", während in den östlichen Philosophien dieselbe Aussage Ausdruck einer überlegenen Haltung ist, die belustigt auf das absurde Spiel der Welt hinsieht. Auch "Resignation" ist schließlich Maya. Man muß hinter den auf den ersten Blick auffälligen begrifflichen Gemeinsamkeiten also die fundamentalen Unterschiede des kulturellen Hintergrundes sehen, auf denen die jeweiligen Philosophien beruhen. Die östliche Philosophie ist nicht nihilistisch, ihre Anschauungen sind nicht ein Ersatz für den erlittenen Sinnverlust, kein intellektuell-logisches Konstrukt im Sinne eines Auswegs, sondern seit Urzeiten im östlichen Geist verwurzelt. Selbst der pessimistische Buddhismus mönchischer Prägung ist optimistischer als Schopenhauers Philosophie. Philosophische Idealismen stellen daher auch nicht die Regel westlichen Denkens dar, sondern die Ausnahme zur realistischen Welterfassung, die eine an der Realität orientierte Sprache hervorbringt, Reaktionen auf den Verlust des Außen, Fluchtwege nach innen. Auf der anderen Seite muß man sich die ungeheure Lebendigkeit der philosophischen Systeme des Ostens vergegenwärtigen. Das zu den Nihilisten Gesagte gilt tendenziell auch für Jung. Die Ganzheitlichkeit, der Kreislauf und die Höherentwicklung sind für Jung Wege der Überwindung eines mangelhaften Zustands, ein Überwachsen in Hinblick auf einen Sinn, den das Subjekt verwirklicht. Dieser Sinn ist in den östlichen Lehren in jedem Zustand stets schon vorhanden, der höchste Wert ist gerade die Erlösung von jenem Sinn, der daher gar kein eigentlicher Sinn in unserem Sinne ist, der unbenannt bleiben muß und sich durch Leere verkörpert und der erreicht werden kann durch Aufgabe des Ich. Jungs Denken ist westlich, bei ihm soll das Ich eine Synthese eingehen und in verwandelter Form einen höheren Zustand erreichen. Auch wenn Jung behauptet, es gehe ihm nicht um ein Mehr an Bewußtsein durch Bewußtwerden des Unbewußten, sondern um eine Verbindung des Bewußten mit dem Unbewußten im Selbst, so steht hinter diesem Selbst als höchstem Wert doch immer noch das westliche Ich, das als Selbst ein besseres Ich ist, eine höhere Stufe des Seins, nicht seine Überwindung. Dies ist kein subtiler Unterschied, sondern ein fundamentaler, der die Theorien gerade voneinander scheidet. Sagt man also, Jung (oder Schopenhauer) habe die östlichen Vorstellungen in das westliche Denken integriert, so ist das so gut, als wollte man anerkennen, er sei über den eigenen Schatten gesprungen (was Jung wohl für sich in Anspruch genommen hat400). Tatsächlich ist dieser Schatten Maya und bleibt Jungs Denken so lange in Maya befangen, als es ein Schatten
4oo Vgl. § 30.
256
3. Kapitel: Analytik
ist. Richtiger wäre es daher, zu sagen, die westlichen Denker hätten das östliche Denken dem eigenen aufgesetzt. 401
D. Parallelen in der modernen Physik Zum Teil versucht Jung seinen Monismus in Anlehnung an die moderne Physik zu begründen. 402 Der partielle kausale Indeterminismus und die Unschärferelation in der Quantenmechanik403 sind ihm Anzeichen dafür, daß die Psyche "irgendwie die Materie berührt", und daß die Materie eine "latente Psyche" hat. 404 Die Ereignisse müssen daher "einen apriorischen Einheitsaspekt besitzen". 405 L. Frey-Rohn schreibt über die Parallelen zwischen Physik und Psychologie in Hinblick auf Synchronizitätsphänomene: "Es war ftir Jung in höchstem Maße bedeutsam, als er analoge Vorstellungen und Denkmodelle in der Physik erarbeitet fand. Ebenso wie der Psychologe zum Randphänomen des Archetypus an sich vorstieß bzw. zum Prinzip einer apriorischen Anordnung und Verteilung von Faktoren, hatte auch der Physiker gewisse Gesetze - Wahrscheinlichkeitsgesetze - festgestellt, die sich auf a-kausale Anordnungen von physikalischen Tatsachen bezogen. Zur Erklärung der verschiedenen Störungen, die sich auf der atomaren Ebene durch die Einbeziehung des Beobachters ergaben, war der Physiker nämlich zur Preisgabe der Idee der Kausalität gezwungen worden. Es waren in erster Linie die Probleme der Beobachtung und der Komplementarität (z.B. der Ausschließung von Welle und Partikel in der Lichttheorie), die eine Ergänzung der Kausalitätsvorstellung durch diejenige des statistischen Naturgesetzes notwendig erscheinen ließen. Beides führte zur Einbeziehung des Unanschaulichen in die theoretischen Überlegungen." 406
Diese Aussagen sind in hohem Maße irreführend, sogar fehlerhaft, denn ihnen liegt eine mangelnde Unterscheidung zwischen allgemeinem Kausalitätsprinzip und Kausalgesetz zugrunde. 407 Tatsächlich hat sich die moderne Physik durch die Entdeckung der Unschärferelation lediglich zu einer Ein401 Vgl. zu den Differenzen zwischen den Anschauungen Jungs und denen der östlichen Philosophien auch, allerdings wenig kritisch, M. Wegener-Stratmann, C.G. Jung und die östliche Weisheit, bes. p. 131 ff., die das psychologische Interesse Jungs dem metaphysischen der östlichen Anschauungen gegenüberstellt. Gerade in Hinblick auf die monistischen Ansätze bei Jung, die höchst metaphysischen Gehalt haben, kann dieses Argument nur bedingt überzeugen. Das Auffallende bei Jung ist vielmehr die Leugnung jedweden methapysischen Ansatzes, der Versuch der Verwissenschaftlichung der Metaphysik. 402 Vgl. dazu auch M.-L. v. Franz in: C.G. Jung (Hrsg.), Der Mensch und seine Symbole, p. 304 ff.; A. Samuels u.a., Wörterbuch Jungscher Psychologie, p. 231 ; F. Capra, Wendezeit, p. 201 f., 403 ff. 403 Vgl. W. Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik (1955). 404 JGW 8, 267. 405 JGW 14, 232. 406 L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 385. 407 Vgl. D. Spies, Philosophische Aspekte der Psychologie C.G. Jungs, p. 107.
§ 27 Der "phänomenologische Standpunkt"
257
schränkung des Kausalitätsprinzips veranlaßt gesehen, was die Möglichkeit kausaler Gesetzmäßigkeilen keineswegs ausschließt. Genauer müßte man sogar sagen, daß der Gedanke der Erkennbarkeit einer durchgängigen kausalen Determiniertheit aufgegeben werden mußte. Abgesehen davon besteht über die Deutung der Quantenmechanik keineswegs Einigkeit.
L. Frey-Rohn weiter: "Jung konnte aber noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Psychologie und Physik nachweisen: Ebenso wie in der Physik auf der Stufe atomarer Größenordnung unkontrollierbare Wirkungen seitens des Beobachters auf das zu beobachtende System stattfanden, verlangte auch die Erforschung der psychologischen Hintergrundphänomene die Berücksichtigung des Beobachters. Auch in der Psychologie modifizierte nämlich nicht nur das beobachtende Subjekt jeweils die objektive Natur der Hintergrundsphänomene, sondern auch das Psychoid-Unbewußte veränderte seinerseits durch seine anordnenden Wirkungen die bewußten Ergebnisse."408
Dazu ist zu sagen: Insofern Jung das Gemeinsame von Materie und Psyche in ihrer relativen Undurchschaubarkeit sieht, so handelt es sich dabei jedenfalls um ein allgemeines erkenntnistheoretisches Problem, das Materie und Psyche nur gleichermaßen als Gegenstände der Erkenntnis, und damit als einem gemeinsamen Sein, nämlich dem Objekt-sein zugehörig, auszeichnet. Zur Relevanz dieser Problematik flir die Möglichkeit psychologischer Erkenntnisse sei auf die Behandlung des Suggestionsproblems verwiesen.409 Wenn man Kausal- wie Synchronizitätsprinzipien, wie hier vertreten, als Erklärungen auffaßt, die durch Deutungen entstanden sind, so ergibt sich auf Grundlage dieser Deutungen eine epistemologische Basis, den Zusammenhang - gleich welcher Art - zwischen Einzelphänomenen zu erklären.
§ 27 Der "phänomenologische Standpunkt" A. Phänomenologie Wiederholt beruft sich Jung ausdrücklich auf seinen "phänomenologischen Standpunkt", ohne diesen aber weiter zu erläutem. 410
408
L. Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, p. 387. Oben § 19. 410 H.H. Balmer, Die Archetypentheorie von C.G. Jung, p. 104, verwirft den angeblich "phänomenologischen Standpunkt" Jungs mit dem Hinweis, in seiner Bibliothek seien keine Werke "phänomenologischer" Autoren zu finden, es sei also anzunehmen, daß Jung überhaupt keine Ahnung von der modernen phänomenologischen Richtung hatte. Diese Information kann als Hinweis verstanden werden, ein Beweis ist sie sicher nicht, und als Grundlage eines Urteils fehlt ihr der Werkbezug. T. Wolff, Studien zu C.G. Jungs Psychologie, p. 65 FN I bemerkt lakonisch: "Phänomenologisch ist hier 409
17 Löffelmann
258
3. Kapitel: Analytik
Der Phänomenologie, wie sie von Husserl begründet wurde, geht es nicht, wie den Erfahrungswissenschaften, um die Erfahrung individuellen Seins, sondern um die Erfassung dessen, was über die individuelle Erscheinung hinausgeht, des Wesens. Zu diesem Zwecke befleißigt sie sich einer sogenannten Epoche, einer "Einklammerung der natürlichen Einstellung", welche die Welt "naiv-geradehin" als immer daseiende betrachtet, kurz: sie löst sich von allen bisher geltenden Auffassungen und Meinungen. Durch die Epoche wird die absolute Seinsregion der transzendentalen Subjektivität eröffnet, in der das Eidos (Wesen) durch eidetische Intuition in einem spontanen, originär gebenden Akt (einem Analogon des sinnlichen Wahrnehmens) unmittelbar und in voller Totalität erfaßt werden kann, wodurch wir ein direktes Wissen von den wesenhaften Strukturen der Welt, und aufgrund des intentionalen Charakters des Bewußtseins (F. Brentano: Bewußtsein von etwas), direkte Kenntnis vom Be. erIangen. 411 wußtsem Husserl hat in seinen "Logischen Untersuchungen" den Psychologismus kritisiert.412 Den Kern seiner Kritik bildet die Auffassung, daß die Psychologie nicht wie die Logik eine Wissenschaft apriorischer Wahrheiten sei, sondern eine empirische Wissenschaft, die bestimmten Gesetzen, etwa der Induktion und Falsifizierung, unterliege, daher aus einem empirischen psychologischen Satz keine logische Norm gefolgert werden könne. Nun behauptet aber Jung, seine Wissenschaft sei eine empirische. Schließt das einen phänomenologischen Standpunkt nicht von vornherein aus? Andererseits wurde im letzten Kapitel gezeigt, daß von einer empirischen Fundierung der Jungsehen Erkenntnisse bei weitem nicht gesprochen werden kann. Unterliegt Jung also vielleicht einem wissenschaftstheoretischen Selbstmißverständnis und ist er in Wahrheit nicht Empiriker, sondern Phänomenologe?
B. Analytische Psychologie als Phänomenologie? Mit seiner Kritik gegen die Wissenschaftsverfallenheit des westlichen Denkens im Materialismus einerseits und andererseits seiner Ablehnung eines skeptizistischen Relativismus, dem er als objektives Fundament alles Erkennens die objektive Psyche gegenüberstellt, verfolgt Jung jedenfalls eine ausgesprochen natürlich nicht im Sinne der modernen Philosophie verstanden, sondern als Bewertung der psychischen Phänomene vom psychologischen Standpunkt aus." So einfach kann man es sich natürlich nicht machen. Zum "phänomenologischen Standpunkt" Jungs vgl. auch J.W. Hüllen, Die philosophischen Relationen der Komplexen Psychologie C.G. Jungs, p. 229 ff. 411 Einführend zur Phänomenologie: Husserliana II und III; A. Reinach, Was ist Phänomenologie? (1914). 412 Vgl. § 25 C.
§ 27 Der "phänomenologische Standpunkt"
259
phänomenologische Haltung. Dem entspricht Jungs Verhältnis zum Widerstreit von Idealismus und Realismus, von denen auch Husserl behauptet, daß sie am Wesen des Erkenntnisproblems vorbeigingen. 413 Jung setzt diesen Auffassungen die psychische Disposition, das "esse in anima" entgegen, Husserl das transzendentale, "reine" Bewußtsein, die transzendentale Subjektivität. Beide suchen also eine Überwindung der seit alters bestehenden Subjekt-ObjektDichotomie. Die "transzendentale Subjektivität" Husserls ist eine Region, die alle Welten "in sich trägt", nämlich "in sich" durch wirkliche und mögliche "intentionale Konstitution"414 . Das gilt nach Jung auch ftir das kollektive Unbewußte, welches in Form von Archetypen "Welt" in sich trägt und Wirklichkeit konstituiert, wenngleich sich nicht sagen läßt, inwiefern es intentionalen Charakter hat. Husserl wie Jung wurde denn auch gleichermaßen vorgeworfen, ihre Ideen bzw. Archetypen seien "platonische Hypostasierungen", was beide energisch zurückgewiesen und ihren Gegnern umgekehrt Unverständnis und "ldeenblindheit"415 vorgeworfen haben. Beide Ansätze sind gekennzeichnet durch idealistische Züge. Husserl weist jeglichen Idealismus von sich, indem er den Unterschied zwischen Realität und Sein herausstellt; Realität und Welt seien Titel für Sinneseinheiten416, die durch die Intentionalität des Bewußtseins konstituiert seien, denn "(n)iemals ist ein an sich seiender Gegenstand ein solcher, den Bewußtsein und Bewußtseins-Ich nichts anginge." 417 Dies mache einen Gegenstand aber noch nicht zu einer Idee. So könnte man es auch verstehen, wenn Jung von "Realität" spricht: Realität als die durch Archetypen sinnkonstituierte Welt. Darüber hinaus geht es Jung - im Gegensatz zu Freud - um die Aufdeckung von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen, was eine charakteristisch phänomenologische Forderung darstellt. Auch Sartre, der sich der phänomenologischen Methode Husserls verpflichtet, spricht in einer frühen Arbeit von den Bedeutungen und dem Sinn psychischer Phänomene. Die Psychologie müsse die Phänomene befragen, "d.h. eben die psychischen Ereignisse, insofern sie Bedeutungen, und nicht insofern sie pure Tatsachen sind. "418 Das scheint geradezu die final-prospektive Haltung Jungs zu kennzeichnen. Da "die Bedeutung einer Bewußtseinstatsache darin besteht, daß sie stets das Dasein in seiner Ganzheit anzeigt", so Sartre, "gehen (wir) von jener synthetischen Ganzheit 413 Vgl. Husserliana III, 44 ff., 55. 414 ib. 73. 415 ib. 48 f. 416 ib. 134. 417 ib. 112. 418 J.-P. Sartre, Entwurf einer Theorie der Emotionen, in: Die Transzendenz des Ego,
p. 161. 17°
260
3. Kapitel: Analytik
aus, die der Mensch ist, und stellen das Wesen des Menschen fest, bevor wir mit Psychologie beginnen." 419 Dieses Wesen ist dem Bewußtsein in der eidetischen Intuition "unmittelbar gegeben". Die zentralen Begriffe dieser Aussagen - Bedeutung, Sinn, Ganzheit, unmittelbar Gegebenes - werden auch von Jung verwendet. Mit seiner Weigerung, Urteile von Gut und Böse abzugeben, solange deren Realitäten 420 noch "in umbra" verborgen sind und sich nicht in Situation durch erlebendes oder ganzheitliches Erkennen evident zeigen, vollzieht Jung schließlich im ethischen Bereich der Werterfahrung offensichtlich eine phänomenologische Epoche. "Verborgenheit", "Situation" und eine besondere Art des "intuitiven Erkennens" sind auch zentrale Begriffe der Phänomenologie. Damit scheint ein gemeinsamer Boden für die Psychologie Jungs und die Phänomenologie bereitet. Eine weitere Annäherung kann über den Wahrheitsbegriff Jungs erfolgen, wie er sich unter anderem in der eben beschriebenen Epoche äußert. In seiner Behandlung des Phänomens von Gut und Böse pflegt Jung nämlich eine Auffassung von Wahrheit, die sich vom üblichen, empiristischen Verständnis von "Wahrheit", nach dem eine Behauptung wahr ist, wenn sie mit dem Sachverhalt, den sie beschreibt, übereinstimmt, entfernt. Denn das Wahr-sein kommt nach Jung nicht dem Urteil, sondern vielmehr dem Sachverhalt zu, der in Erscheinung tritt, welcher wahr ist als "psychische Realität". Jung schreibt: "Die Idee ist psychologisch wahr, insoweit sie existiert. Psychologische Existenz ist subjektiv, insoweit eine Idee nur in einem Individuum vorkommt. Aber sie ist objektiv, insoweit sie durch einen consensus gentium von einer größeren Gruppe geteilt wird. (... ) Ein Elefant ist wahr, weil er existiert. Der Elefant ist weder ein logischer Schluß noch eine Behauptung, noch ein subjektives Urteil eines Schöpfers. Er ist einfach ein Phänomen."421
Das zeichnet auch Jungs Verhältnis zur Religion aus. "Ein Glaube beweist mir nämlich nur das Phänomen des Glaubens, aber keineswegs den geglaubten Inhalt."422 Ein Glaube ist wahr als psychische Realität. Dieser Wahrheitsbegriff nähert sich, was weder Fromm noch Balmer sehen423, Heideggers Rekonstruktion der frühgriechischen Auffassung von Wahr419 420
ib. p. 194, l5!r. Vgl. §§ 32, 33. 421 JGW II, 2 f. (Hervorhebg. durch d. Verf.). 422 C.G. Jung, Erinnerungen, p. 322. 423 Fromm schreibt: "Jungs Anwendung der Konzeption der Wahrheit ist unhaltbar. Er behauptet, ,die Wahrheit ist eine Tatsache und kein Urteil' und ,ein Elefant ist wahr, weil er existiert'. Aber er vergißt, daß Wahrheit sich immer und notwendigerweise auf ein Urteil bezieht und nicht auf die Beschreibung einer Erscheinung, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und mit einem Wortzeichen benennen." (E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, p. 24). Später macht Fromm sein grundlegendes Unverständnis für Jung
§ 27 Der "phänomenologische Standpunkt"
261
heit, wie sie ihm als Ausgangspunkt für seine Explikation der phänomenologischen Methode dient. "Wenn man, wie es heute durchgängig üblich geworden ist, Wahrheit als das bestimmt, was ,eigentlich' dem Urteil zukommt, und sich mit dieser These überdies auf Aristoteles beruft, dann ist sowohl diese Berufung ohne Recht, als vor allem der griechische Wahrheitsbegriff mißverstanden. 4Wahr' ist im griechischen Sinne( ... ) das schlichte, sinnliche Vernehmen von etwas."42
Wahrheit ist "Unverborgenheit", wie Heidegger das griechische "aletheia" übersetzt. 425 DieserUnverborgenheit wendet sich die Phänomenologie zu. - Ist die Wissenschaft Jungs in diesem Sinne also eine phänomenologische?
C. Die Psyche als Phänomen
Als Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage kann ein konkretes Anwendungsbeispiel der phänomenologischen Methode dienen, das exemplarisch mit Jungs Untersuchungen zum Mandala verglichen wird. Habe ich ein solches Mandala als Gemälde oder Plastik vor mir liegen, so kann ich, in Anwendung der phänomenologischen Reduktion davon absehen, daß es sich um ein individuelles Ding aus einem bestimmten Material (Papier, Leinen, Sand ... ) handelt, auf dem (mit dem) Kreise und Figuren dargestellt sind, das mit bestimmten Farben bemalt ist, eine bestimmte Größe und Form hat usw., und ich kann mich z.B. der rechteckigen Form dieses Dings als solcher zuwenden und apriorische Aussagen über das Wesen des Rechtecks machen, z.B. daß es an zum Vehikel für die Verbreitung seiner eigenen Ideologien, wenn er, ohne sich auf den Jungsehen Wahrheitsbegriff einzulassen, unzutreffend erklärt: "Jung scheint zu denken, daß etwas Objektives gültiger und wahrer ist als etwas nur Subjektives. Sein Kriterium für den Unterschied zwischen subjektiv und objektiv hängt davon ab, ob eine Idee nur in einem Individuum lebendig ist oder von einer Gesellschaft aufgestellt ist. (.. )es handelt sich dabei um einen soziologischen Relativismus, der die gesellschaftliche Billigung einer Idee zum Maßstab für ihre Gültigkeit, ihren Wahrheitsgehalt und ihre ,Objektivität' macht." (a.a.O. p. 25). Balmer schließt sich diesem Urteil unkritisch an: "Es zeigt sich hier schlagartig, daß der Jung'sche Wahrheitsbegriff überhaupt nichts mehr gemein hat mit irgendeinem Wahrheitsbegriff Irgendeine Idee wird wahr, wenn nur genügend Leute dran glauben." (H.H. Balmer, Die Archetypentheorie von C.G. Jung, p. 112). Fromms und Balmers Aussagen sind dabei gar nicht zutreffend. Jung unterscheidet nur zwischen subjektivem und objektivem Wahrsein und behauptet nicht, daß etwas "wahr wird" oder "wahrer" (wahr- wahrer- am wahrsten?) ist. 424 M. Heidegger, Sein und Zeit, p. 33; vgl. ib. p. 212 ff. 425 ib. p. 219; dazu kritisch W. Röd, Der Weg der Philosophie. Band 2, p. 463: "Tatsächlich enthält das griechische Wort eine Wurzel, die ,verbergen' bedeutet: ,alethes' heißt jemand, der nichts verbergen will und der in diesem Sinne wahrhaftig ist. Da hier die subjektive Offenheit des Sprechenden, nicht die Offenheit des Seins gemeint ist, ist Heideggers Berufung auf ein vermeintliches frühgriechisches Verständnis der Wahrheit, an das er anzuknüpfen meinte, nicht gerechtfertigt."
3. Kapitel: Analytik
262
allen Ecken gleich große Winkel hat, oder ich kann mich den Farben als solchen zuwenden und aussagen, daß das karminfarbene Rot zum erdigen Braun eine ästhetische Nähe hat, oder, falls es ein plastisches Mandala ist, der reinen Raumgestalt oder der Geometrie seiner Abbildungen, auch dem Mandala als Ganzem, um das Eidos des Mandalas zu erfassen, das z.B. in seiner Funktion als Mittel der Kontemplation liegt. Damit gelange ich zu Aussagen über Wesenheiten des Rechtecks, der Farbe, des Raumes, der Geometrie oder des Mandalas, keinesfalls aber über solche der Psyche. Ich könnte die Wesenheit der Psyche also nur bestimmen, wenn ich die Psyche als Phänomen (im Sinne des vulgären Phänomenbegriffs) bestimmen könnte, an dem das, was sich je schon zeigt, zum "Sichzeigen" im Sinne der Phänomenologie gebracht werden kann. Es besteht aber genau diese Schwierigkeit, die Psyche als solches vorgängiges Phänomen zu bestimmen, da sie sich nicht ohne weiteres zeigt, wie etwa Gegenständlichkeiten. Das gibt auch Jung zu, der sagt, daß "kein Mensch weiß, was ,Psyche' ist, und daß man ebensowenig anzugeben weiß, wie weit ,Psyche' in der Natur reicht."426 Wir wissen nicht, was Psyche im Sinne des vulgären Phänomenbegriffs ist, jedenfalls aber ist sie kein Mandala. Erst recht muß dies vom Unbewußten gelten, das nicht einmal als exemplarisches Anschauungsmaterial dienen kann, da es per definitionem unanschaubar ist. Worauf sollte also ein intuitives Erfassen aufbauen? Bei Jung wird das Unbewußte weitgehend, entsprechend dem Bewußtsein bei den Phänomenologen, als leistender Grund des Welt- und Seinsvermeinens, als Ursprungs- und Möglichkeitsgrund dafür, daß die Gegenstände als transzendent und seiend erscheinen, erkannt. Der lndividuationsprozeß, der zu dieser Einsicht führt, ist also in Hinblick auf das Ergebnis eine Art phänomenologischer Prozeß. Fraglich ist aber, wie das Unbewußte überhaupt als solchermaßen leistender Grund erkannt werden kann, da es doch gerade unbewußt ist. Mit anderen Worten, bei Jung vermag nicht das Bewußtsein einfach auf das Unbewußte zu reflektieren, so wie bei den Phänomenologen das Bewußtsein auf sich selbst reflektiert. Wäre die phänomenologische Methode also durchführbar, so ergäbe sich daraus gerade ein Argument gegen die Art des Unbewußten, wie es Jung versteht. Gemeinsam ist den beiden Ansätzen jedenfalls, daß lndividuationsprozeß und phänomenologische Methode gleichermaßen vage bleiben. Aber auch Jung spricht von der Undefinierbarkeit der Psyche und wendet sich damit gegen die materialistisch-neurologische Auffassung der Psyche als "Sekret des Gehirns" .427 Er erklärt, daß das Unbewußte der Beobachtung nicht
426 427
JGW 8, 468. Vgl. JGW 8, 8.
§ 27 Der "phänomenologische Standpunkt"
263
unmittelbar zugänglich sei und nur erschlossen werden könne428 , weicht jedoch wiederum von dieser Auffassung ab mit der Behauptung, daß das Unbewußte die Menge aller "unmittelbar erfahrbaren inneren Tatbestände" sei, um endlich zu der Einsicht zu gelangen: "Die Psyche ist existent, sie ist sogar die Existenz selber." 429 Damit ist keine Aussage über die Psyche getan, sondern dieser nur der geheimnisdurchwirkte Schleier der Existenz umgehängt. Freilich könnte es sein, daß die Psyche oder das Unbewußte selbst ein Eidos sind, da sie unmittelbar erfahren werden. Dann müßte man fragen: Eidos wovon? Wie gelangt Jung zur Erfahrung des Eidos? Jedenfalls ist das Eidos kein "innerer Tatbestand", keine "psychische Realität", sondern das Wesen eines Seins. D. Phänomene und Tatsachen Jungs Archetypenlehre beansprucht auch, die Existenz, das Leben, den Kosmos zu erklären. Sollte dies durch die phänomenologische Methode geschehen, so müßte man wie Heidegger z.B. die Existenz zum Phänomen nehmen, um zur Wesenheit des Seins zu gelangen. Daß Jung die Existenz untersuchen würde, ist nirgendwo ersichtlich. Jung untersucht Patientenberichte, Mythen, Märchen, Mandalas, in denen er auch Gemeinsamkeiten zu entdecken meint, nämlich die "archetypischen Bilder". Was er also allenfalls erkennen kann, sind Wesenheiten archetypischer Bilder, jedoch keine Archetypen, die Energie haben und die die Psyche oder gar Dinge anordnen. 430 Der Archetypus ist weder das Wesen des Mandalas noch der Psychose, des Traumbilds, des Märchens oder des Narrativs. Er könnte das Wesen der archetypischen Bilder sein, aber nur insofern sie Bilder sind, nicht Psyche, Welt oder ähnliches. Indem Jung eingesteht, daß der Archetypus an sich unerkennbar sei, verliert dieser von vomherein den Charakter einer Wesenheit im Sinne Husserls. Desgleichen ist nirgendwo erkennbar, daß Jung seine Erkenntnisse in Vollzug einer phänomenologischen Methode gewinnen würde. Jung formuliert zwar eine phänomenologische Zielsetzung, er geht von Sinnstrukturen und dem ganzheitlichen Wesen des Menschen aus, daneben legt er aber größten Wert auf die Feststellung, sich nur auf "Tatsachen" zu stützen. Diese beiden Ansprüche sind im Rahmen eines phänomenologischen Standpunkts unvereinbar, denn der Phänomenologie geht es gerade nicht um Tatsachen, auch nicht um solche, 428 Vgl. JGW 8, 167: "Wir dürfen daher wohl von der Existenz einerunbewußten Seele reden. Sie ist unserer Beobachtung allerdings nicht unmittelbar zugänglich - sonst wäre sie ja gar nicht unbewußt - sonden kann nur erschlossen werden." 429 JGW II, 9. 430 Vgl. auch den völlig anderen Charakter von Sartres "Entwurf einer phänomenologischen Theorie", J.-P. Sartre, Entwurf einer Theorie der Emotionen in: Die Transzendenz des Ego, p. 175 ff.
264
3. Kapitel: Analytik
die durch Introspektion gewonnen werden, sondern um Phänomene. Phänomenologie ist gerade keine Erfahrungswissenschaft und phänomenologische Wahrheiten sind keine empirischen Wahrheiten (die daher auch nicht der Falsifizierbarkeit offenstehen), wenn auch notwendige, also echte Wahrheiten a . . 431 pnon. Von solchen apriorischen Annahmen geht Jung aus. Der Dualismus seiner Energetik, die Ganzheitlichkelt des Menschen, das Vorhandensein von Archetypen stellen solche Annahmen dar. Insofern kann seine Theorie nicht auf Erfahrung gegründet sein. Die Phänomenologie bekennt sich zu einer Methode, bei der die Beschreibung von "Tatsachen" "im Ausgang von dem in einer apriorischen Anschauung beschriebenen und festgelegten Dasein"432 erfolgt. Diese Beschreibung von "Wesenheiten" des Daseins erfolgt durch die Methoden der eidetischen, der transzendentalen oder der phänomenologischen Reduktion. Bei Jung findet sich keine Durchfiihrung derartiger phänomenologischer Methoden; es ist nicht klar, woher er seine apriorischen Anschauungen bezieht. Möglicherweise stellt die Zeit seiner "Nachtrneerfahrt" eine Art phänomenologischer Epoche dar. Jungs Interesse zielt im Grunde wohl gar nicht auf das Wesen von irgend etwas; Gegenstand seines Interesses ist die Psyche. Während die Phänomenologen die phänomenologische Reduktion in einem methodologischen Vorstadium vollziehen, um darauf eine Wesenslehre zu gründen, die "notwendig zu einer Ontologie" fuhrt, mündet bei Jung die Epoche unmittelbar in die Psyche, in der sich dann alles Sein ereignet, und nicht mehr darüber hinaus. Wiederum zeigt sich also, daß Jung der idealistischen Reduktion erliegt. Allenfalls in den monistischen Aussagen kann man ontologische Ansätze erblicken. Daran, daß die Archetypen Jungs allerdings viel zu materiell, d.h. inhaltlich bestimmt sind, läßt sich erkennen, daß Jung nicht nach einem Wesen gefragt hat, sondern der Erstellung seiner Archetypentypologie eine natürliche Einstellung zugrundeliegt, die die phänomenologische Methode gar nicht vollzieht. Denn der König, die Mutter, der Prophet usw. sind als solche keine Wesenheiten im Sinne der Phänomenologie, wie das Ding überhaupt, der Ton überhaupt usw. Sie haben vielmehr den Charakter von Rollentypen, die durch Abstraktion gewonnen sind. Das Eidos wird hingegen gerade nicht durch Abstraktion gewonnen, sondern durch Wesensschau. 433 So berichtet auch M. Boss434 , daß er den Mutterarchetypus als "ein gedankliches Isolations- und hypostasiertes Abstraktionsprodukt"435 verstehe, und diese Deutung ist naheliegend, da nicht ersichtlich ist, 431 Vgl. Husserliana III, 23; The Oxford Companion to Philosophy, p. 660. 432 J.-P. Sartre, a.a.O., p. 194.
433 434
Vgl. Husserliana III, 50 f. Vgl. M. Boss, Der Traum, p. 56 ff., 131 f., 191.
435 ib. p. 131.
§ 27 Der "phänomenologische Standpunkt"
265
aufwelchem Wege Jung sonst zu seinen Archetypen gelangen würde. Während es also Husserl gelingt, den Vorwurf der Hypostasierung durch Hinweis auf den vollkommen selbständigen Gegenstandsbereich des Eidos auszuräumen, trifft dies auf Jung nicht zu, dessen Archetypen der Sache nach stets etwas Unbestimmtes bleiben. Und die Epoche, die er im ethischen Bereich vollzieht? Auch hier zeigt sich deutlich, daß Jung auf dem Standpunkt des Skeptizismus stehenbleibt Während seitens der Phänomenologie z.B. Scheler die Ansicht vertrat, daß Werte eine Art Sein hätten und daß sie in evidenter Weise, als Inhalte des Fühlens, erfaßt werden könnten, daß das Gefühl sogar nicht nur einzelne Werte, sondern auch die Wertordnung erschließe, wird letzteres von Jung gerade abgelehnt. Der Unterschied liegt darin begründet, daß Scheler als Phänomenologe nach den Wesenheiten der Werte fragt und so ihren objektiven Charakter zu erschließen vermag, während es für Jung einen objektiven Charakter der Werte nur gibt, insofern die Werte Seiendes sind. Bei Jungs "phänomenologischem Standpunkt" handelt es sich allem Anschein nach also wirklich um nichts weiter als einen "Standpunkt", um eine Haltung also, der sich gerade die Phänomenologie verweigert, denn diese verschreibt sich "weder einem ,Standpunkt', noch einer ,Richtung', weil Phänomenologie keines von beiden ist und nie werden kann, solange sie sich selbst versteht."436 Jung dagegen verschreibt sich dem Standpunkt der Psychologie, denn das "sachhaltige Was" seines Forschens ist die Psyche. Insofern ist der Begriff der "psychischen Phänomenologie" (nicht: phänomenologischen Psychologie), den Jung verwendet, schon in sich widersprüchlich.
E. Die phänomenologische Psychologie
Husserl setzt sich im Rahmen seiner "Ideen" auch mit dem Verhältnis der Phänomenologie zur Psychologie auseinander. Er analysiert dabei das Mißverständnis der Psychologen, die Phänomenologie als Teildisziplin der Psychologie zu betrachten, was mit der grundverkehrten Ansicht zusammenhänge, "als ob es sich bei der Phänomenologie um eine Restitution der Methode innerer Beobachtung handle oder direkter Erfahrung überhaupt."437 Der Psychologie als Erfahrungswissenschaft setzt er die sogenannte "rationale" (eidetische) Psychologie entgegen, "eine nicht von oben aus leeren ,Begriffen' (vagen Wortbedeutungen) heraus konstruierte wie die alte metaphysische Psychologie, son-
436 437
M. Heidegger, Sein und Zeit, p. 27. E. Husserl, Husserliana V, 38.
266
3. Kapitel: Analytik
dern eine aus reiner Intuition geschöpfte Wesenslehre"438 . Was muß eine solcherart phänomenologische Psychologie leisten? Sie beschreibt jedenfalls nicht das reale Dasein der Charaktere, Typen, Dispositionen, Empfindungen, Vorstellungen, Phantasien, Wahrnehmungen usw., die als tatsächlich existierende Bewußtseinszustände in der Wirklichkeit bei Tieren und Menschen vorkommen. Vielmehr: "Wahrnehmungen können aber nicht nur als tatsächlich existierende Zustände im Zusammenhang faktischer Bewußtseinseinheiten, zugehörig zu faktischen psychophysischen Individuen in der faktischen Welt erforscht werden, gleichgültig ob im singulären Einzelfall oder in erfahrungswissenschaftlicher Allgemeinheit, vielmehr können wir eine ,eidetische Reduktion' vornehmen, alle Fragen nach realem Dasein, nach Urteilssetzung von solchem ausscheiden und die Einstellung rein eidetischer Forschung nachvollziehen. Wir beschäftigen uns dann mit dem Eidos, dem Wesen Wahrnehmung, und mit dem, was zu einer ,Wahrnehmung als solcher' gehört, gewissermaßen zum ewig gleichen Sinn von möglicher Wahrnehmung überhaupt. Und ebenso für jede wesentliche Artung von Wahrnehmungen, z.B. Dingwahrnehmungen, Wahrnehmung von sinnlichen Erscheinungen (die nicht als Dinge bewußt sind), Wahrnehmungen von Bewußtseinserlebnissen u.dgl. Wir unterscheiden also die ,möglichen' Wahrnehmungen überhaupt nach Grundartungen, wir fragen für jede, was zu ihr wesentlich gehört, und was sie ihrem Wesen gemäß als notwendig zu ihr gehörig fordert, welche Wandlungen, Umbildungen, Verknüpfungen sie rein durch ihr Wesen möglich macht, sei es mit Phänomenen derselben Artung oder mit denen anderer Artung usw. Eben dieselben Probleme ergeben sich für Erinnerungen, Phantasien, Erwartungen, dunkle Vorstellungen, Denkerlebnisse jeder Art, Geftlhls-, Willenserlebnisse."439 Jung erachtet zwar die Archetypen als Bedingungen möglicher Wahrnehmung, er beschäftigt sich aber nirgends mit der Wahrnehmung als solcher, mit ihren Artungen, mit Erinnerungen, Phantasien, dunklen Vorstellungen als solchen, sondern mit Psychosen, Mythen, Märchen, alchemistischen Traktaten usw. Mit einer phänomenologischen Untersuchung im Sinne Husserls und wie sie bei späteren Phänomenologen noch als Ausgangspunkt dient, hat Jungs Vorgehen nichts gemein. Wenn Jung sich also auf unmittelbare Erfahrung und Intuition beruft, so braucht man dahinter nicht methodische Überlegungen zu vermuten, die zu Einsichten fuhren können, welche zwar bezweifelbar, zumindest jedoch begründet sind. Am treffendsten ist es wohl, über die "Phänomenologie" Jungs mit den Worten Husserls zu urteilen, nämlich "daß das Wort zum Modewort geworden ist, und es nun so ziemlich jedem Autor, der die Welt mit einer philosophischen Reform zu beschenken unternimmt, beliebt, seine Ideen unter dem Titel Phänomenologie in Kurs zu bringen"440 .
438 ib. 23 f.; Husserl legt großen Wert darauf, diese rationale Psychologie, die eine Eidetik der Bewußtseinszustände und damit "ein Stück rationaler Ontologie der Seele" ist, genau von der Eidetik des transzendental gereinigten Bewußtseins, welche allein die echte und reine Phänomenologie sei, zu unterscheiden (vgl. a.a.O. 75). 439 ib. 40. 440 ib. 57 FN I.
§ 27 Der "phänomenologische Standpunkt"
267
Unbenommen bleibt es dabei freilich, zu veimuten, Jung sei auch ohne ausdrückliche Anwendung einer phänomenologischen Methode zu ähnlichen Ideen wie Husserl gelangt. Daß er in außergewöhnlicher Weise mit intuitiven und seherischen Fähigkeiten begabt war, geht schließlich aus seinen "Erinnerungen" hervor. 441 Die Archetypen sind auch nicht nur auf Rollentypen beschränkt, es gibt z.B. einen Archetypus "Energie", und manchmal klingt an, daß die Archetypen nicht nur auf die kardinalen Lebenssituationen bezogen, sondern überhaupt unbeschränkt sind, so wie es bei Husserl eine unbeschränkte Zahl von Wesenheiten gibt. Der Archetypus könnte so in Übereinstimmung mit dem Eidos gebracht werden. Was Jung als "empirisch" bezeichnet, könnte man als "phänomenologisch", als auf "eidetische Intuition" oder "erlebendes Erfahren" zurückgehend verstehen. Es würde sich dann auch klären, wie Jung aufgrund so unterschiedlicher exemplarischer Anschauungsmaterialien zu einheitlichen Ergebnissen kommen konnte, denn das Mandala oder der Mythos müssen nicht als real erfahrbarer Gegenstand vorliegen, sie können nach phänomenologischer Sicht auch Phantasieprodukte sein.442 Will man Jung so verstehen was angesichtsseiner unpräzisen Aussagen durchaus möglich ist-, so ist damit allerdings eine radikale Konsequenz verbunden: die Analytische Psychologie wäre nicht mehr Psychologie, sondern Phänomenologie, soweit sie die Archetypenlehre betrifft. Auf diese aufbauend könnte sie freilich wieder phänomenologisch fundierte Psychologie sein. So ließe sich die Archetypentheorie durch die Phänomenologie Husserls deuten, ohne im echten Sinne, als "strenge Wissenschaft", wie sie Husserl vorschwebte, selbst Phänomenologie zu sein. Und die Widersprüche und Ungereimtheiten der Jungsehen Theorie müßte man als Produkte des Unvermögens Jungs erachten, Ordnung in seine Gedanken und Intuitionen zu bringen.
F. Einwände gegen die Phänomenologie Weiter als bis zu dieser Möglichkeit kann eine Deutung des "phänomenologischen Standpunkts" Jungs nicht vordringen. Um aber das Thema nicht mit einem solchermaßen offenen Ergebnis zu beenden, seien noch einige allgemeine und gewiß nicht erschöpfende Einwände gegen die phänomenologische Philosophie vorgebracht, die es ermöglichen, den phänomenologischen Boden wieder zu verlassen. 1. Die Phänomenologie bedient sich einer äußerst vagen Terminologie (die allerdings nach Ansicht der Phänomenologen durch ihren Gegenstand gerecht-
441
442
Vgl. auch H.F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, p. 978. Vgl. z.B. A. Reinach, Was ist Phänomenologie?, p. 53 f.
268
3. Kapitel: Analytik
fertigt wird 443 ). Die normale Sprache ist an einer realistischen Außenwelt orientiert und zur Beschreibung von "Wesenheiten" ungeeignet. Was die Phänomenologie unter "absolutem Bewußtsein", "synthetischer Ganzheit", "Wesen" usw. versteht und wie ihre Methoden durchzufuhren sind, wird nie ganz klar. 2. Es gibt nichts dem Bewußtsein "unmittelbar Gegebenes". Alle Erfahrung ist bereits Erfahrung "im Lichte von Theorien". Das hat zutreffend vor allem der Holismus gezeigt. Der phänomenologische Standpunkt ist, sofern er also ein absolutes Wissen beansprucht, schon von diesem Verständnis her unhaltbar. Darüber hinaus steht der Vorwurf des Idealismus und Solipsismus im Raum, den auszuräumen Husserl nach Ansicht mancher Kritiker nie überzeugend ge. 444 1ungen Ist. 3. Es muß gefragt werden, warum gerade die Wesenheit eines Phänomens durch phänomenologische Reduktion dem Bewußtsein offenbar werden sollte, und nicht etwas anderes. Und selbst, wenn man annimmt, daß durch eidetische Intuition eine Wesenheit ergriffen werden kann, wenn dies die den Wesenheiten angemessene Erkenntnisart ist, woher aber kann die Gewißheit genommen werden, daß es sich dabei um ein absolutes Wissen handelt? Was zeichnet die Intuition gegenüber der bloßen Wahrnehmung aus, daß sie als Methode angesehen wird, ein gesichertes ontologisches Fundament fiir die Erfahrungswissenschaften bereitstellen zu können? 4. Wenn Husserl sagt: "Es war eben auf dem Boden der reinen Logik ein Schema zu zeichnen, als Stück der von ihr ausgehenden Grundverfassung aller möglichen Erkenntnis" 445 , so offenbart sich in dieser Aussage gerade eine Schwäche der Phänomenologie. Darauf, daß die sogenannte reine Logik kein apriorisches Absolutum ist, sondern gerade eine Einschränkung objektiven Wissens darstellt, hat Fikentscher in den "Modes of Thought" wiederholt hin• 446 gewiesen. 5. Bei Heidegger wird Verstehen gar zum Vollzug des Daseins, denn das Dasein ist "dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. (...) Dasein versteht sich in irgendeiner Weise
Vgl. z.B. M. Heidegger, Sein und Zeit, p. 38 f. Vgl. z.B. W. Röd, Der Weg der Philosophie. Band 2, p. 429 f.; The Oxford Cernpanion to Philosophie, p. 383 a.E., 659 a.A., 660 a.E. Sofern aber die transzendentale Subjektivität als leistender Grund des Welt- und Seinsvermeinens, nicht also des Seins, erachtet wird, und "Realität" nur als Titel für Sinneseinheiten, also für etwas kraft der Intentionalität auf das Bewußtsein Bezogenes und daher Verstehbares, als ein Sein, das einen Sinn hat, angesehen wird, sofern die Phänomenologie also eine Wesensanalyse der menschlichen Erkenntnis ist, scheint der Vorwurf des Idealismus nicht mehr gerechtfertigt. Anders, sofern sie eine Ontologie begründen will. 445 Husserliana III, 39. 446 Vgl. §§ 6, 8, 39. 443
444
§ 27 Der "phänomenologische Standpunkt"
269
und Ausdrücklichkeit in seinem Sein."447 Und: "Das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je selbst."448 Die existenziale Analytik ist daher zwar "letztlich existentiell, d.h. ontisch verwurzelt" 449 , das ist aber kein hinreichender Grund dafür, daß sie auch das Sein trifft. Daß es dem Dasein um sein Sein geht, bedeutet nicht ein Verstehen des Seins. Und wenn das Dasein sich "in irgendeiner Weise" verstehen kann, warum dann gerade in seinem Sein? Das Verstehen als Vollzug des Daseins muß nicht auf das Verstehen des Seins gerichtet sein. Das Verständnis des Seins (die prinzipielle Tauglichkeit der Methode, ihre erfolgreiche Durchführbarkeit) wird mit der phänomenologischen Methode also schon unterstellt. 6. Die Phänomenologie geht von der Möglichkeit einer reinen und absoluten Erkenntnis aus. Insbesondere Husserl vertrat den Anspruch (den er gegen Ende seines Lebens wieder fallen ließ), die Wesenheit als solche, unabhängig von theoretischen Deutungen, also unverfalscht, erschauen zu können. Die phänomenologische Philosophie will damit letztbegründend sein. Kritikern, die an der Möglichkeit einer "Wesensschau" zweifelten, hielt Husserl dagegen "ldeenblindheit" vor. 450 Dies ist eine typische ad-hoc-Hypothese, wie sie Popper als beispielhaft flir unwissenschaftliches Vorgehen angesehen hat. Darin zeigt sich auch die Tendenz der Phänomenologie zur Psychologisierung der Transzendentalphilosoph ie.451 7. Um das unzerreißbare Zusammenspiel noetischer und noematischer Strukturen, in dem sich die "Welt" "konstituiert", zu erklären, ist es nicht notwendig, einen phänomenologischen Standpunkt einzunehmen. Daß der Beobachter bereits die Idee einer Tatsache hat, wenn er sie, durch Abgrenzung gegenüber anderen Tatsachen feststellt, ist nichts anderes, als die Theoriebeladenheit des Erfahrungshorizonts. Diese Idee darf nicht stillschweigend vorausgesetzt werden, sie muß aber auch nicht durch phänomenologische Reduktion begründet werden. Denn erstens ist eine solche Methode auch nicht voraussetzungslos, sondern ihrerseits Ausdruck einer - zudem fragwürdigen - bestimmten, "theoriebeladenen" Weitsicht. Zweitens ist j ede Beschreibung, sei es von Phänomenen oder Wesenheiten, eine bloße Theorie der Wirklichkeit. Eine Haltung, die nach Letztbegründungen sucht, vertritt ein fundamentalistisches ErkenntnisideaL Daß es solche Letztbegründungen nicht gibt, sondern jede Erkenntnis im Kontext eines ganzen Systems - in der Terminologie Kuhns: eines Paradigmas - steht, macht eine Theorie noch nicht unwissenschaftlich. Was im 447
M. Heidegger, Sein und Zeit, p. 12. p. 41 .
448.b I .
ib. p. 13. Vgl. W. Röd, Der Weg der Philosophie. Band 2, p. 428; ebenso M. Scheler, N. Hartmann (vgl. a.a.O. p. 439, 444) und J.-P. Sartre (Das Sein und das Nichts, p. 718). 451 W. Röd, Der Weg der Philosophie. Band 2, p. 429, 431. 449
450
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3. Kapitel: Analytik
einzelnen als "wissenschaftlich" gelten kann, läßt sich dabei nicht pauschal, sondern nur je nach den Ansprüchen und Möglichkeiten einzelner Disziplinen entscheiden. Unentbehrlich wird es jedenfalls sein, daß die Wissenschaft sich ihrer Voraussetzungen bewußt ist.
§ 28 Konfrontation 1: Existenzialismus A. Annäherung Zwar hat sich im vorgehenden Kapitel die Jungsehe "Philosophie" trotz einiger auffälliger Gemeinsamkeiten nicht gerade als ausgesprochene Phänomenologie erwiesen, der Gedanke einer Einordnung der Theorien Jungs in die geistigen Strömungen seiner Zeit soll dennoch weiter verfolgt werden. Von existenzialistischer Seite452 hat J.-P. Sartre eine Auffassung des Bewußtseins vertreten, die der Konzeption von Jung in gewissen Aspekten recht nahe kommt. Sartre unterscheidet zwischen zwei Existenzarten, dem "Für-sichsein" und dem "An-sich-sein". Schon in dem frühen Essay "Über die Einbildungskraft" schreibt er: "Ich betrachte dieses weiße Blatt Papier vor mir auf dem Tisch; ich nehme seine Form, seine Farbe, seine Lage wahr. Diese verschiedenen Eigenschaften besitzen gemeinsame Merkmale: Zunächst einmal bieten sie sich mir als Erscheinungen dar, die ich nur feststellen kann, deren Sein jedoch in keiner Weise von meiner Willkür abhängt. Sie sindfür mich, nicht ich. Sie sind aber auch nicht die Andern, d.h. sie hängen von keiner Spontaneität ab, weder der meinen, noch der eines anderen Bewußtseins. Sie sind zugleich gegenwärtig und träge. Diese oft beschriebene Trägheit des sinnlichen Inhalts ist die Existenz an sich. Eine Untersuchung, ob dieses Blatt sich in eine Anzahl von Vorstellungen auflöst, oder ob es mehr ist, mehr sein muß, fuhrt uns nicht weiter. Sicher ist eines, nämlich, daß das Weiß, das ich feststelle, nicht durch meine Spontaneität entsteht. Diese träge Form, die außerhalb aller Spontaneitäten liegt, die man beobachten und nach und nach erfahren muß, ist das, was man ein Ding nennt. Mein Bewußtsein kann niemals ein Ding sein, denn seine Art des Seins an sich ist nichts anderes als ein Sein für sich. Existieren bedeutet für es, sich seiner Existenz bewußt zu sein. Es erscheint als reine Spontaneität gegenüber der reinen Trägheit der dinglichen Welt. Wir können deshalb von Anfang an zwei Existenzarten setzen; denn eben dadurch, daß sie träge sind, entgehen die Dinge der Herrschaft des Bewußtseins; ihre Trägheit schützt sie und bewahrt ihnen ihre Autonomie." 453 Sartre spricht hier zwar auch von einer Eigenschaft des sinnlichen Inhalts, die die Existenz an sich sei, so daß man gegen seine Auffassung dieselben Vorwürfe erheben könnte, die oben allgemein gegen idealistische Konzeptio452 Einführend zum Existenzialismus vgl. die Beiträge in K. Salamun, Was ist Philosophie?, p. 39 ff. 453 J.-P. Sartre, Über die Einbildungskraft (1936), in: Die Transzendenz des Ego, p. 53.
§ 28 Konfrontation 1: Existenzialismus
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nen geltend gemacht wurden, andererseits mißt er der Frage nach der ontologischen Qualität des Dings und der Entstehung der Sinnesdaten keinen großen Wert bei, und er reduziert nicht das Physische auf das Psychische in dem Sinne, daß er keine Unterscheidung mehr zwischen ihnen treffen würde. Im Gegenteil bildet diese Unterscheidung den Kerngedanken seiner Philosophie. Sartre hat sich daher nicht zu Unrecht gegen den Vorwurf gewandt, seine Philosophie sei ein Idealismus, der "die Wirklichkeit im Strudel der Vorstellungen zu ertränken" drohe. 454 In "Die Transzendenz des Ego" entwirft Sartre seine Konzeption des unpersönlichen präreflexiven Cogito ("dieser Stuhl ist bewußt"), die er Descartes' Auffassung von einem Ich, das dem Denkakt vorausgeht, und das auf das Bewußtsein determinierenden Einfluß haben könnte ("Ich habe Bewußtsein von diesem Stuhl"), gegenüberstellt. Er beweist, daß das Ich im Grunde selbst, neben den Objekten der Welt, ein Transzendentes ist und damit die prinzipielle Undurchschaubarkeit und relative Unerkennbarkeit alles Transzendenten teilt. Das Ich ist Gegenstand des Bewußtseins, es ist also nicht im Bewußtsein, sondern in der Welt. Es ist ein Gegenstandfür das Bewußtsein und es kann nicht im Bewußtsein sein, weil dieses sonst "den Keim von Undurchschaubarkeit" in sich tragen würde, was den "Tod des Bewußtseins" bedeuten würde, denn im Bewußtsein ist alles "klar und vollkommen durchsichtig". "Das Ego ist nicht Eigentümer, sondern Objekt des Bewußtseins." Und: "das transzendentale Bewußtsein ist unpersönliche Spontaneität." Diese Spontaneität "hat fiir jeden von uns etwas Beängstigendes, diese rastlose Seinsschöpfung, deren Urheber wir nicht sind( ... )." "Im Gewahrwerden dessen, was man die Unentrinnbarkeit seiner Spontaneität nennen könnte, ängstigt sich das Bewußtsein mit einem Mal. Diese absolute und unheilbare Angst, diese Angst vor sich selbst, die uns konstitutiv fiir das reine Bewußtsein scheint, gibt den Schlüssel zu den besprochenen psychasthenischen Störungen." 455 Diese Formulierungen erinnern an Jungs Theorie des Unbewußten. "Nicht wir haben ein Unbewußtes, sondern das Unbewußte hat uns." Dem Unbewußten wird auch schöpferische Kraft zugesprochen. Jung schreibt: "Die Psyche erschafft täglich die Wirklichkeit."456 Und das Unbewußte bricht auch über das Bewußtsein herein, es verursacht Angst und Abwehrreaktionen. Das Ich schließlich ist bei Jung eine Illusion, die der Aufrechterhaltung des mühsam erworbenen Bewußtseins dient, es macht aber nicht die eigentliche psychische Natur des Menschen aus, nicht seine Person, denn diese wird bestimmt durch das Selbst, das nicht nur Bewußtsein, sondern auch Unbewußtes umfaßt. Für Sartre ist die Erschaffung des Ego "ein Versuch des Bewußtseins ( ... ), sich J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, p. 42. ib. p. II, 38, 39, 40 f. 456 JGW 6, 53 .
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3. Kapitel: Analytik
selbst durch Sich-Entwerfen auf das Ich und völliges Aufgehen im Ich zu entgehen ( ... )." Sartre fordert daher die "reine Reflexion", in der das Bewußtsein sich dem Ego entzieht und es beherrscht, die "Epoche", Aufhebung der "natürlichen Einstellung", in der das Bewußtsein sich selbst als Sich-Bewußtsein, als Ursprung und leistenden Grund alles Welt- und Seinsvermeinens entdeckt. Jung spricht demgegenüber von "Bewußtwerdung" des Unbewußten und "Ganzheitlichkeft". - Inwiefern besitzen diese beiden Ansätze nun über den bloßen Anschein hinaus Gemeinsamkeiten?
B. Die Kritik des Unbewußten bei Sartre Zunächst einmal muß festgestellt werden, daß sich Sartre ausdrücklich gegen die psychologische Annahme eines Unbewußten ausgesprochen hat. Er schreibt: "Die allgemein anerkannte Behauptung, dergemäß unsere Gedanken einem unpersönlichen Unbewußten entspringen und im Bewußtwerden ,personalisiert' werden, scheint uns eine unvollständige und materialistische Interpretation einer richtigen Anschauung zu sein. Diese Auffassung hat bei den Psychologen Unterstützung gefunden, die recht wohl verstanden hatten, daß das Bewußtsein nicht aus dem Ich ,hervorgeht', jedoch die Idee einer sich selbst erzeugenden Spontaneität nicht zu akzeptieren vermochten. Diese Psychologen haben daher naiverweise angenommen, die spontanen Erlebnisse ,gingen' aus dem Unbewußten, in dem sie bereits existierten, ,hervor', ohne zu bemerken, daß sie damit nur das Seinsproblem zurückgeschoben hatten, das man doch endlich einmal stellen muß, und das sie verdunkelt hatten, da ja das Vorwegbestehen der Spontaneitäten innerhalb der Grenzen des Vorbewußten mit Notwendigkeit ein passives Sein wäre."457 Diese Argumentation Sartres, insofern sie sich auf die "allgemein anerkannte Behauptung" eines Unbewußten im Sinne der Freudschen Auffassung bezieht, mißversteht diesen Begriff des Unbewußten. Denn das Unbewußte im Freudschen Sinn ist weder ein unpersönliches, noch existieren in ihm spontane Erlebnisse; es existieren in ihm verdrängte persönliche Erlebnisse, die zwar durchaus "spontane", d.h. unvorhersehbare und nicht steuerbare Auswirkungen hervorbringen können, diese Art der Spontaneität hat aber nichts zu tun mit der seinserschaffenden Spontaneität, die Sartre meint. Gemeint sein kann auch nicht das "Es" , aus dem sich nach Freud das "Ich" entwickelt, denn das Es ist als solches weder unbewußt noch unpersönlich, und es existieren in ihm auch keine Gedanken. Die Beschreibung Sartres könnte aber auf die - allerdings weniger anerkannte - Auffassung Jungs zutreffen, nach der es ein unpersönliches Unbewußtes gibt, dem eine gewisse schöpferische Kraft innewohnt. Jung hat freilich wiederholt darauf hingewiesen, daß das kollektive Unbewußte keine Gedanken und Erlebnisse enthalte, da Vorstellungen nicht vererbt werden 457
J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, p. 39.
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könnten. Die Archetypen, aus denen es besteht, sind vielmehr strukturierende Elemente. In "Das Sein und das Nichts" vertieft Sartre seine Kritik und bezieht sie näher auf die Psychoanalyse Freuds. Er entwirft eine existentielle Psychoanalyse, deren Aufgabe es ist - Heidegger überschreitend458 - , den grundlegenden Seiosentwurf des Daseins zu erschließen. Ihr Grundsatz ist, "daß der Mensch eine Ganzheit und keine Ansammlung von irgendetwas ist; daß er folglich in der bedeutsamsten und in der oberflächlichsten seiner Verhaltensweisen ganz und ungeteilt zum Ausdruck kommt"459, demgegenüber Sartre die Psychologie beschuldigt, "komplexe Persönlichkeit (... ) auf einige Urbegierden zu reduzieren"460. Die Erklärung der Individualität gelinge ihr gerade nicht, vielmehr "verschwindet der Mensch"461 • Besonders wirft er den ",psychologischen' Erklärungen" (allerdings nicht der Psychoanalyse Freuds) vor, daß sie auf "unerklärbare Urgegebenheiten" verweisen, worin er eine "Weigerung" sieht, "die Untersuchung weiter vorzutreiben. Dort, wo der Psychologe haltrnacht, ist die betreffende Tatsache eben als Urtatsache gegeben."462 Die existentielle Psychoanalyse hingegen überschreitet diese willkürliche Begrenzung und entdeckt (auf eine Art und Weise, die nur angedeutet wird463 ) den ursprünglichen, absurden, da nicht aus sich selbst erklärbaren, Grund des Daseins, den Seinsentwurf, die Urwahl. Die Psychologie beschäftige sich dagegen mit Neigungen, Begierden und Trieben, also mit sekundären, abgeleiteten Phänomenen. Entsprechend seinem Verständnis von der Spontaneität des Bewußtseins wird die ursprüngliche Wahl auch nicht zunächst im Unbewußten vollzogen, um sich dann in einer konkreten, empirischen Wahl auszudrücken, sondern sie ist je schon die transzendente Bedeutung, das "Jenseits" der empirischen Wahl. Gegenstand der Untersuchung ist "nicht eine in den Finsternissen des Unbewußten
458 Entgegen Heidegger, Sein und Zeit, p. 12, der schreibt: ;,Das Dasein ist (.. ) dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.", formuliert Sartre, Das Sein und das Nichts, p. 29: "(D)as Bewußtsein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, insofern dieses Sein ein Sein in sich einbezieht, das ein anderes als es selbst ist." (im Original Sperrung); oder p. 710: "Das Für-sich ist nämlich ein Sein, dem es in seinem Sein um das Sein in Gestalt eines Seinsentwurfes geht." (Hervorhebg. durch d. Verf.). 459 J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, p. 715. 460 ib. p. 702. 461 ib. p. 706. Die Äußerung Sartres (ib. p. 704): "genauso findet übrigens die Psychiatrie ihr Genüge daran, die allgemeinen Strukturen des Irrsinns ans Licht zu ziehen, und sucht nicht den individuellen Gehalt der Psychosen zu verstehen", ist in dieser Allgemeinheit allerdings nicht gerechtfertigt. Sie verkennt die individuelle Therapiesituation als "Drama" zwischen Patient und Therapeut und die allgemeinen Strukturen als Hilfs-Verstehensmittel im hermeneutischen Sinn. 462 J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, p. 704. 463 Vgl. ib. p. 718, 722 f.
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vergrabene Gegebenheit ( ... ), sondern eine freie und bewußte Selbstbestimmung - die nicht einmal im Bewußtsein ihren Sitz hat, sondern mit diesem Bewußtsein selbst eines ist."464 Damit leugnet465 Sartre die Existenz eines Unbewußten überhaupt, an seine Stelle tritt bei ihm das reine Bewußtsein. Der Vorwurf, daß die Psychologie den Menschen als Ganzheit verschwinden lasse, trifft auf Jung gerade nicht zu, dem diese Ganzheit selbst Anliegen ist. Allerdings führt Jung den Menschen auch auf "Urgegebenheiten" zurück, die Archetypen, die allerdings nicht jenen Urgegebenheiten vergleichbar sind, die Sartre im Auge hatte, da sie keine sekundären Phänomene sind. Vielmehr sind sie selbst unerklärbar (obwohl Jung versucht, sie a posteriori zu begründen) und in ihrer Paradoxheit absurd. Den begrifflichen Unterschieden zum Trotz deuten sich bei Sartre und Jung also ähnliche Theoriestrukturen an.
C. Die Parallelen
Sartre geht es um die Reinigung des Bewußtseins vom Ego, das jenes als sein "Wächter" und "Gesetz" selbst konstituiert zu haben scheint. Für Jung ist das Ich, das weithin gleichbedeutend ist mit "Bewußtsein", hingegen ein "Clown"466 , weil es nur das tut, was es ohnehin tun muß, da es vom Unbewußten dominiert ist. Diese Formulierung ist, wie sich zeigen wird, etwas stark, und es ist gewiß nicht verfehlt, das Jungsehe Ich auch als Wächter über das Unbewußte zu bezeichnen, der den Hereinbruch des Unbewußten über das Bewußtsein verhindern will, auch wenn er es unter Umständen gar nicht kann . (So vielleicht, wie man auch andere, aus der Tiefe kommende Kräfte, z.B. vulkanische, überwacht, ihren Ausbruch aber nicht verhindern kann.) In gleicher Weise vermag das Ich bei Sartre unter Umständen nicht die sich aufdrängende, absolute und unheilbare Angst des Bewußtseins vor der eigenen Spontaneität zu bändigen. Die Unterscheidung zwischen Ich und Bewußtsein bei Sartre entspricht also soweit derjenigen zwischen Bewußtsein und Unbewußtem bei Jung. Dieser Vergleich zeigt bereits, daß sich Jung und Sartre dem, was sie unter Bewußtsein verstehen, von verschiedenen Seiten nähern, nämlich einmal von seiten des Unbewußten, einmal von seiten des Ego. Bewußtsein ist von ib. p. 721. Von einer Widerlegung kann man nicht sprechen. Sartre weist die Idee des Unbewußten vielmehr durch eine Aneinanderreihung suggestiver Fragen von sich, die sein, aus dem eigenen statischen Verständnis des Bewußtseins erfolgendes, Unverständnis flir den dynamischen Charakter des Freudschen Unbewußten deutlich machen. (vgl. a.a.O. p. 721 f.; vgl. auch H. Lang, Zum Begriff des Unbewußten in: H. Vetter u.a. (Hrsg.), Die Philosophen und Freud, p. 44 ff.). 466 Vgl. R. Keintzel, C.G. Jung, p. 31 m.w.N.; vgl. JGW 6, 64; 7, 41 f., 304; 8, 229. 464
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beiden Ansätzen her erstrebenswert. Für Jung bedeutet es Integration des Unbewußten, Selbstwerdung, Ganzheitlichkeit, auch Freiheit von der "Fremdbestimmung" durch Unbewußtes, zuweilen, vor allem in den Überlegungen zu Moral und Ethik, klingt an, daß es eine Bürde sein kann, eine Last zunehmender Kultivierung. Bei Sartre ist die Erlangung reinen Bewußtseins eine durchaus zwiespältige Angelegenheit. Einerseits erzeugt sie jene unvermeidbare Angst, andererseits ermöglicht sie einen Blick auf die Zusammenhänge des Weltvermeinens. Die Selbsterkenntnis des Bewußtseins als "Sich-Bewußtsein" führt auch zu der Erkenntnis, daß der Mensch "zur Freiheit verurteilt" ist. 467 Bewußtsein ist bei Sartre etwas viel Umfassenderes als bei Jung, es ist auf etwas Reines, Absolutes, Vollkommenes ausgerichtet, weil es sich vom Irrationalen, Unvollkommenen, Inferioren, dem Ego, abgrenzen will, weil es letztlich das undurchschaubare Ego, d.h. das Psychische erklären soll. Bewußtsein ist hingegen bei Jung etwas viel Bescheideneres, Labiles, Gefahrdetes, weil es der Irrationalität des mächtigen Unbewußten gegenübersteht. Die beobachtete Irrationalität menschlichen Verhaltens, ihre Unvermeidlichkeit, wird so einmal dem Ego, einmal dem Unbewußten zugeschrieben. Nur macht einmal die Beengung des Bewußtseins (bzw. die Grenzenlosigkeit des Unbewußten) Angst, einmal seine Grenzenlosigkeit.
D. Kritik
Die Auffassungen Jungs bzw. Sartres bilden demnach zwei Modelle, die mit ähnlichen Mitteln zentrale psychische Erfahrungen erklären wollen: die Angst vor dem Irrationalen, vor der Halt- und Grenzenlosigkeit, vor dem Verlust der Erdverhaftetheit, vor der Durchsichtigkeit (Klarheit) und Geisterhaftigkeit reinen (bloßen) Bewußtseins. Es ist dies auch der Versuch einer Antwort auf die Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen, der Subjekt und Objekt zugleich ist. Das unpersönliche Cogito und das unpersönliche Unbewußte nehmen das Subjekt (Ich) als Objekt neben den Objekten der Welt in sich auf und schaffen so eine Ebene der gemeinsamen Realität von Subjekt und Objekt. Dazu muß freilich die "natürliche Einstellung" des Ich-Verständnisses aufgegeben werden, der Mensch darf nicht mehr eigentlich das sein, wofiir er sich hält: ein Subjekt unter Objekten. Das absolute, reine, unpersönliche Bewußtsein und das kollektive, unpersönliche Unbewußte müssen zu einem "leistenden Grund" werden, der Erfahrungen "konstelliert" oder gleich Welt "erschafft". Beide Begriffe sind daher auch nicht besonders fruchtbar, weil sich der Mensch gewöhnlich eben als ein zuweilen irrationales Ich erfährt und nicht als etwas darüber, in welcher Art auch immer, Hinausgehendes. Und er erfiihrt sich als "Sei-
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18•
Vgl. § 35 D.
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endes unter Seiendem", wenn auch als ein mit Seinsverständnis ausgezeichnetes Seiendes, nicht als etwas, das Seiendes "erschafft". Die Konzeption eines reinen, absoluten, unpersönlichen Bewußtseins hat dabei große Ähnlichkeit zu östlichen Auffassungen. Die Lösung vom Ich ist sogar besonderer Gegenstand vieler meditativer Lehren. Diese Auffassung fuhrt keineswegs in einen Solipsismus, da es ja kein Ich mehr gibt, das der Illusion unterliegen könnte, daß da keine "Anderen" mehr sind, sondern nur noch ein vom Ego gereinigtes, absolutes, unpersönliches Bewußtsein. Daß es solch ein Bewußtsein gibt und daß es erfahrbar ist, soll hier nicht in Frage gestellt werden. Der Anspruch, daß es Sein "erschafft", das über sein eigenes hinausgeht, ist aber unbegründet (was Sartre in "Das Sein und das Nichts" ausdrücklich betont), denn das Ich steht zwar in einer Wechselbeziehung zur Welt, aber die Welt kommt auch ohne ein Ich aus; die Zweifelhaftigkeit eines Ich-Denkens rechtfertigt nicht den Zweifel an der Realität. Man kann das Bewußtsein auch im Sinne buddhistischer Lehren als "leer" und im Sinne Sartres als "Nichts"468 erkennen, das bedeutet aber nicht, daß damit die Welt als "leer" erkannt würde. Erkenntnis über Ich und Bewußtsein ist eine Sache, Erkenntnis über die Welt eine andere. Daß zwischen beiden eine "Wechselbeziehung" besteht, kann auch erklärt werden, ohne daß ein reines Bewußtsein oder ein kollektives Unbewußtes herangezogen werden müßten. Die aus der Subjektstellung des Menschen resultierenden Phänomene, wie die Theoriebeladenheil der Erfahrung, der Sprache usw., sind Ausflüsse dieser Wechselbeziehung. Das absolute Bewußtsein und weniger noch das kollektive Unbewußte sind auch keineswegs Erscheinungen, die unmittelbar gegeben und einsichtig wären. Auf das kollektive Unbewußte kann ohnehin nur mittelbar, aufgrund seiner Auswirkungen geschlossen werden. Aber auch das absolute Bewußtsein ist nicht unproblematisch, schließlich erfordert es eine Reflexion und Reduktion, und die Entscheidung hierzu ist, worauf R. Ingarden hinweist, entweder unkritisch, beruht also auf einem Dogma, oder sie muß ihrerseits durch eine phänomenologische Reduktion gewonnen werden, fuhrt also in das Problem des Anfangs. 469 Der Auffassung Jungs wie der der Phänomenologie bleibt jedenfalls das Verdienst, Verständnis ft1r eine "Sphäre" geschaffen zu haben, "in der die Methoden der äußeren Beobachtung und der Introspektion gleichberechtigt sind 468 J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, p. 37: "Von allen egologischen Strukturen befreit, erlangt das transzendentale Feld seine ursprüngliche Klarheit wieder. Es ist in gewissem Sinne ein Nichts, weil alle physischen, psycho-physischen und psychischen Objekte, alle Wahrheiten und alle Werte außerhalb seiner liegen, weil mein ICH seinerseits aufgehört hat, daran teilzuhaben." In "Das Sein und das Nichts" bezeichnet Sartre das Bewußtsein auch als "Leere". 469 R. Ingarden, Husserliana I, 205 f., nach Anmerkungen des Übersetzers zu J.-P. Sartre, Die Transzendenz des Ego, p. 49.
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und sich wechselseitig ergänzen können."470 Daneben mag man vielleicht noch eine absolute, unbedingte, denknotwendig erforderliche (Kant) und nur mittelbar erkennbare, bzw. "nur der Phänomenologie zugängliche" "Sphäre" erkennen können - die des absoluten Bewußtseins und des kollektiven Unbewußten -, und es ist vielleicht auch nicht verfehlt, dort eine starke schöpferische Kraft zu vermuten; dies berechtigt aber nur zu der Annahme, daß diese Sphäre der Ursprungs- und Möglichkeitsgrund daftir ist, daß Gegenstände als transzendent und seiend erscheinen, nicht, daß sie es sind oder daß sie gar als solche erschaffen werden. Um die Anerkennung einer realistischen, vom Bewußtsein ontologisch unabhängigen Welt kommen phänomenologische Anschauungen schon rein sprachlich nicht herum. "Die Welt hat nicht das ICH geschaffen, und das ICH hat nicht die Welt geschaffen, beide sind Gegenstände des absoluten, unpersönlichen Bewußtseins und finden sich durch es in Beziehung gesetzt."471 Dieses Bewußtsein und Selbst-Bewußtsein des Subjekts setzt "Welt" und "ICH" (auch "Selbst") in Beziehung, indem es beide als "seiend und transzendent" erkennt, denn es hat weder zur Welt noch zu sich selbst als Objekt einen externen Standpunkt. Das schließt nicht aus, daß den "Archetypen" dabei die Funktion formgebender Elemente zukommt, nicht einmal, daß sie die Erkenntnis möglicherweise dominieren, und es erfordert nicht, daß das Bewußtsein Welt "erschafft". "Es genügt, wenn das ICH zugleich mit der Welt ist und wenn die ihrem Ursprung nach rein logische Subjekt-Objekt Dualität als philosophisches Grundanliegen verschwindet. " 472 Die strukturellen Parallelen zwischen der Auffassung Sartres von einem präreflexiven Cogito und Jungs kollektivem Unbewußten finden freilich, wenn man das Jungsehe Werk nicht vergewaltigen will, ihre Grenze dann, wenn das Unbewußte inhaltlich näher bestimmt wird, wenn also gesagt wird, es bestehe aus Archetypen, wenn diese selbst wiederum näher klassifiziert werden, kurz: wenn dem Unbewußten ein Inhalt zugesprochen wird. Das präreflexive Cogito hat sich gerade nicht zum Inhalt, daher können darüber auch keine Gesetzmäßigkeiten ausgesagt werden, denn "ein Gesetz ist ein transzendenter Bewußtseinsgegenstand; es kann ein Bewußtsein vom Gesetz geben, aber kein Gesetz des Bewußtseins."473 Man muß aber genau festhalten, daß die Archetypen nicht im Unbewußten sind - als ihr Inhalt gewissermaßen -, sondern daß das Unbewußte aus Archetypen besteht, oder besser noch, daß es archetypisch ist, z.B. weil es Strukturen in Form von Archetypen hat. Der Archetypus muß das sein, was dem Unbewußten selbst zukommt. Dennoch wird 470 I"b. p. 38 . 471 ib. p. 42 (Hervorhebg. durch d. Verf.). 472 ib. 473 J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, p. 21.
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3. Kapitel: Analytik
auf diese Weise das Unbewußte inhaltlich bestimmt, es wird materiell beschrieben als etwas, das ist, wie es ist, und das ist, was es ist, als ein Sartresches "An-sich" also. Es ist eben nicht "Nichts". Andererseits kommt hier auch wieder eine Schwäche der Jungsehen Theoriebildung zum Tragen, nämlich die der inhaltlichen Bestimmung seiner Aussagen. Jung spricht manchmal davon, das Unbewußte könne nicht erkannt werden (was freilich noch nicht bedeutet, daß es Nichts sein muß, dies aber auch nicht ausschließt); sofern er aber doch inhaltlich bestimmte Aussagen darüber trifft, stehen diese, wie gezeigt wurde, empirisch und analytisch gerade auftönernen Füßen. Man kann, die hier dargelegten Gedanken vorläufig abschließend474 , auch sagen, daß dem Jungsehen Unbewußten, im Gegensatz zu Sartres Bewußtsein, das von daher seinen Charakter und sein "Wesen" gewinnt, das ontologische Fundament ermangelt. 475 Das hängt mit dem zusammen, was Heidegger überhaupt fur die positive Forschung der Anthropologie, Psychologie und Biologie festgestellt hat, nämlich daß es ihnen an den ontologischen Fundamenten fehle. Der Vergleich mit Sartre hat aber eines klar werden lassen: Die Jungsehen Theorien stehen, ihrer Unausgereiftheit zum Trotz, nicht ohne Bezug oder als platonische oder taoistische Anachronismen in der Zeitgeschichte. Vielmehr hat Jung, vielleicht dank seiner intuitiven und seherischen Fähigkeiten, den Geist der Zeit sehr wohl zu erfassen vermocht und in seinen Gedanken zum Ausdruck gebracht. Das begründet auch seine Aktualität. Jedenfalls ist es sinnvoller, seine Theorien auf einen zeitgeschichtlichen Zusammenhang476 zurückzufuhren, der die Persönlichkeit prägte, als auf das, was man angeblich über diese Persönlichkeit selbst zu wissen vermeint. 477 Von der Zeit, in der wir leben, sind wir geprägt, ohne sie aber überblicken zu können.
Vgl. noch unten§ 35 D zum Problem der Freiheit. Das "Nichts", von dem Stich spricht, auf das Jung seine Theorie gegründet habe, ist also tatsächlich im vulgären Sinn nichts; bei Sartre erfährt es seine ontologische Begründung. 476 Vgl. § 4 1. 474 475
477 Th. W. Adomo, Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre ( 1927) in: Gesammelte Schriften. Band I, p. 317 schreibt in seiner frühen Arbeit über das Unbewußte, daß die tiefenpsychologischen Theorien eine gesellschaftliche Funktion erfüllten. "Man wird sie freilich nicht in der isolierten Struktur der einzelnen Theorien suchen dürfen und gewiß nicht in der Psychologie der Autoren, die jene Lehren prägten."
§ 29 Konfrontation II: Evolutionäre Theorien
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§ 29 Konfrontation II: Evolutionäre Theorien A . .. Evolution" in der Analytischen Psychologie Die Analytische Psychologie macht Aussagen über das Denken. Ihr Gegenstand ist die Psyche des Menschen. Sie beschreibt phylogenetische und ontogenetische Entwicklungslinien des Bewußtseins, und diese Beschreibungen bilden einen zentralen Pfeiler des gesamten Theoriegebäudes.478 Nachgezeichnet werden die Differenzierung des Bewußtseins, die phylogenetische Entstehung ontogenetisch apriorischer Anschauungs- und Denkformen479 , die Entwicklung des Ich zum Selbst, des Kollektivismus zum Individualismus und zum Stadium der Ganzheitlichkeit, kulturgeschichtliche Entwicklungstendenzen werden als Belege der Thesen herangezogen, ebenso Wandlungen von Gottesbildem, Märchen werden im Sinne einer stufenweisen Höherentwicklung interpretiert, Symbole haben dynamischen Charakter und spiegeln einzelne Entwicklungsstadien wieder, es wird von "primitiven" Gesellschaften gesprochen und von "Kulturmenschen", und alle diese Prozesse, die man unter den einen Begriff "Individuationsprozeß" subsumieren kann, verlaufen angeblich "final". Nach Jung ist die Psychologie des Einzelnen zugleich die Psychologie der Menschheit, das Individuum "ein sozialer Mikrokosmos" und umgekehrt. 480 Er folgert daher, daß der Individuationsprozeß das "Anfangsstück eines Entwicklungsweges" ist, "den eine zukünftige Menschheit nehmen wird."481 Der Urzustand des Menschen besteht nach Jung in einem "apriorischen Einssein von Objekt und Subjekt"482 , der Primitive verfuge noch nicht über ein differenziertes Bewußtsein und fühle sich mit der kollektiven Psyche weitgehend identisch.483 Durch "archetypische Zwänge"484 tritt an die Stelle der ursprünglichen Einheit schließlich die Erkenntnis der im Unbewußten nebeneinander existierenden Gegensätze485 (die gleichzeitig auch ontische Bedingungen allen Seins und jeglicher Evolution sind486); durch Bevorzugung eines Poles der Gegensatzpaare entsteht Spannung, die Voraussetzung jeglicher energetischer Prozesse ist, 478 Vom schwierigen Problem des Unbewußten, das an anderen Stellen ausführlich erörtert wird, soll hier abgesehen werden, da es speziell nur die tiefenpsychologischen Theorien auszeichnet, also keinen interdisziplinären Vergleich zuläßt. 479 V gl. oben § 24 C. 480 Vgl. JGW 10, 315; 7, 4. 481 JGW 8, 257 f. 482 JGW 6, 493. 483 Vgl. dazu oben§§ 10, 22. 484 Vgl. JGW II , 175: "Damit erscheint die Bewußtwerdung des Menschen als das Produkt präformierender, archetypischer Vorgänge oder - metaphysisch ausgedrückt als ein Teil des göttlichen Lebensprozesses." 485 Vgl. JGW 7, 163 f., 202 f. ; 8, 57. 486 Vgl. oben§§ 14 C und 26.
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3. Kapitel: Analytik
diese Spannung fuhrt zur weiteren Differenzierung und zur Herausbildung eines Ich. Letztbegründung der Evolution ist also wiederum der Archetypus, der den Primitiven dazu drängt, "gegen die Natur zu handeln, um ihr nicht zu verfallen."487 Integration der verdrängten Pole der Gegensatzpaare kennzeichnet schließlich die letzte Stufe der Entwicklung, die GanzheitlichkeiL Einen gedrängten Abriß dieser Entwicklungsprozesse schildert Jung so: "Die Welt ist, wie sie immer war, aber unser Bewußtsein unterliegt eigentümlichen Veränderungen. Zuerst in fernen Zeiten (was jedoch noch heute an lebenden Primitiven beobachtet werden kann), lag der Hauptteil des psychischen Lebens anscheinend außen in menschlichen und nicht menschlichen Objekten: er war projiziert, wie wir jetzt sagen würden. In einem Zustand mehr oder weniger vollkommener Projektion kann es kaum ein Bewußtsein geben. Durch das Zurückziehen der Projektion entwickelte sich langsam die bewußte Erkenntnis. Die Wissenschaft begann merkwürdigerweise mit der Entdekkung astronomischer Gesetze, also mit der Zurückziehung der quasi fernsten Projektion. Das war eine erste Phase in der Entseelung der Welt. Ein Schritt folgte dem anderen: schon in der Antike wurden die Götter aus den Bergen und Flüssen, aus den Bäumen und Tieren entrückt. Unsere moderne Wissenschaft hat ihre Projektionen zwar bis zu einem fast unerkennbaren Grade verfeinert, aber unser tagtägliches Leben wimmelt noch so von Projektionen. Sie machen sich breit in Zeitungen, Büchern, Gerüchten und gewöhnlichem gesellschaftlichen Klatsch. Alle Lücken, wo wirkliches Wissen fehlt, werden immer noch mit Projektionen ausgefüllt."488
Auf die Unvorsichtigkeit der Jungsehen Begriffsbildung und die empirische Fragwürdigkeit seiner Thesen ("was jedoch noch heute an lebenden Primitiven beobachtet werden kann"), auf die idealistische Verwechslung von Psychischem und Physischem ("lag der Hauptteil des psychischen Lebens in Objekten"), auf die Unbestimmtheit, Unvollständigkeit und Zirkelhaftigkeit der Aussagen (warum zieht sich die Projektion zurück? aufgrund der Erlangung von Bewußtsein? aufgrund des Zwangs der Archetypen?; was ist unter "Wissenschaft" zu verstehen? auch kosmisch-magische Vorstellungen? Astrologie?), auf die Unangemessenheit des Anspruchs, alles erklären zu wollen (Primitive, Götter, Antike, Wissenschaft, Klatsch ...) und auf andere Schwächen, die sich in dem kurzen Zitat zeigen, soll nun nicht mehr im einzelnen eingegangen werden. Es interessiert hier das Konzept der Evolution als solches, und dieses macht einen Vergleich mit anderen evolutionären Theorien naheliegend.
B. Evolutionäre Theorien
Mit dem Anspruch der Klärung onto- und phylogenetischer Entwicklungsprozesse steht die Analytische Psychologie nicht allein. In neuerer Zeit hat sich damit vor allem die Biologie beschäftigt, die man als Basis zur Schaffung einer 487 JGW 8, 427 (Hervorhebung aufgehoben). 488 JGW II, 90 f.
§ 29 Konfrontation II: Evolutionäre Theorien
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umfassenden Theorie des Menschen angesehen hat. Maßgebend fur die Entwicklung der Evolutionären Erkenntnistheorie, waren die Werke von Teilhard de Chardin "Der Mensch im Kosmos" (1950) und K. Lorenz "Die Rückseite des Spiegels" (1973). Lorenz und Teilhard de Chardin gehen davon aus, daß die Prinzipien der Evolution - Vereinigung von Untersystemen zu SystemGanzen, Ansteigen der Komplexität und Organisationshöhe, Differenzierung der Organe und Funktionen, Kompensation der Differenzierung durch Zentralisation des Organismus - in allen Schichten des Lebens, von den Urformen bis zur Noosphäre gelten, also insbesondere auch in den kulturellen Gebilden des menschlichen Geistes. Mit Versuchen der Übertragung des Evolutionsprinzips auf das Gebiet des Rechts beschäftigt sich H. Zemen. 489 Er kommt zu der eher zurtickhaltenden Einsicht, daß vermutlich "die Gesetze der Evolution des Rechts uns schließlich nur von einer relativen Stringenz erscheinen können, denn auf vollständige Einsicht wird man kaum hoffen dürfen." Dennoch hält er die "Erforschung der universalen Entwicklungsgesetze des Rechts (fiir) unentbehrlich, fur welche die moderne Evolutionslehre neue und gesicherte Grundlagen und Muster bietet."490 Zerneo stützt sich in seiner Arbeit allerdings auf weniger vorsichtig verfahrende Werke von F. Gschnitzer, G. Dei Vecchio, G. Eörsi, Y. Noda und N. Luhmann, deren gemeinsames Anliegen es ist, die aUgemeinen Prinzipien der Evolutionstheorie auf das Gebiet des Rechts zu übertragen. 491 Insbesondere die Arbeit des japanischen Rechtsvergleichers Yosiyuki Noda492 sei hier hervorge-
489 H. Zemen, Evolution des Rechts ( 1982). 490 ib. p. 125, 126. 491 Die Arbeit von Zemen, die er freilich selbst als "Vorstudie" versteht, bleibt leider zu sehr im allgemeinen befangen. Zemen bekennt sich zu der "Konzeption J. Kohlers, vom Ausgangspunkt der Idee einer universalen Rechtsgeschichte zur Idee einer universalen Rechtsphilosophie fortzuschreiten" (H. Zemen, a.a.O. p. 125 f.), der von der rechtsanthropologischen Forschung allerdings nurmehr "wissenschaftsgeschichtlicher Wert" (U. Wesel, a.a.O. p. 362) zugemessen wird. Die Darstellungen der deutschen sogenannten ethnologischen Jurisprudenz um Kohler entsprechen - wie auch die von Zemen - in ihrem universellen Anspruch nicht der neueren Erkenntnis von der Abhängigkeit auch primitiven Rechts von spezifischen Gesellschaftsstrukturen und Kulturbedingungen. Über E.A. Hoebels Konzeption der "bei der Änderung des Rechts anzutreffenden Tendenzen" (E.A. Hoebel, The Law of Primitive Man, p. 288 ff.) schreibt L. Pospisil anerkennend, daß diese bereits "erkennen läßt, daß die Entwicklung von Rechtssystemen auf divergierenden Wegen erfolgen kann und daß mit den begrifflichen Mitteln weltweit gültiger Generalisierungen nur allgemeine Tendenzen, nicht aber genau abgegrenzte, definitiv bestimmbare Entwicklungsstadien aufgezeigt werden können." Dies entspricht einer empirischen "Grundanschauung, die eine lineare und einem universell gültigen Schema gehorchende Entwicklung des Rechts innerhalb der menschlichen Gesellschaft zurückweist." (L. Pospisil, Anthropologie des Rechts, p. 246, 239). 492 Y. Noda, Quelques reflections sur le fonderneut du droit compare - Essai d'une recherche anthropologique du fonderneut du droit compare, in: Aspects nouveaux de Ia
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3. Kapitel: Analytik
hoben, da diese sich ebenfalls um eine Fruchtbannachung der Jungsehen Gedanken flir die Rechtsforschung bemüht und insofern den Bogen schlägt zwischen Rechtswissenschaft, Evolutionismus und Analytischer Psychologie. Nach Noda gründet das Universelle aller Rechte darin, daß diese sich von einem "Urrecht" ableiten lassen, welches- im Sinne der Archetypenlehre Jungs - als "urtümliches Bild" im "kollektiven Unbewußten" der Menschheit enthalten ist. Dieses Urrecht, das im kollektiven Unbewußten aller Rechtssysteme wirkt, werde von späteren, ethnisch divergierenden Archetypen des Rechts überlagert und ergänzt. Diese These, die sich anscheinend eher unkritisch die Jungsehe Begrifflichkeit dienstbar macht, sowie der Gedanke des Evolutionismus im allgemeinen, der die genannten Arbeiten prägt und der lange Zeit als das Paradigma von Wissenschaftlichkeit überhaupt und als gesicherte Erkenntnis galt, müssen sich einer grundsätzlichen Kritik unterziehen.
C. Kritik
Gegen die These der Evolutionären Erkenntnistheorie, das mentale Leben des Menschen könne durch eine vollständige Theorie kognitiver Prozesse als Produkt einer gesetzmäßigen evolutionären Entwicklung erklärt werden, können verschiedene Einwände erhoben werden, die die Begründung der Theorie als zirkulär, bzw. ihren umfassenden Anspruch als unhaltbar ausweisen. 493 Diese Einwände beruhen auf der Überlegung, daß sich die Voraussetzungen der Evolutionären Erkenntnistheorie - a) Erkennbarkeit der Außenwelt; b) Verläßlichkeit biologischer und physikalischer Methoden und Resultate; c) die Annahme, Erkenntnisf