Das fremde Ich: Fernando Pessoa [Reprint 2018 ed.] 9783110845891, 9783110038354


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German Pages 223 [236] Year 1971

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Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
Einleitung. Zur Aufgabe und Methode
Lebensumriß
I. Narziß am Brunnen
II. Kronos: Die entthronte Zeit
III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum
IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz
V. Im verwunschenen Spiegelsaal des „Ich"
VI. Der Hüter des Seins: Alberto Caeiro
VII. Futurismus und Expansion: Älvaro de Campos
Vin. Ästhetische Versöhnung in einer unversöhnten Welt: Ricardo Reis
IX. Mensagem: Botschaft und Verheißung
Schlußbetrachtung
Bibliographie
Namenverzeichnis
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Das fremde Ich: Fernando Pessoa [Reprint 2018 ed.]
 9783110845891, 9783110038354

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Georges Güntert Das fremde Ich Fernando Pessoa

Gemälde von A l m a d a Negreiros

Georges Güntert

Das fremde Ich Fernando Pessoa

W DE G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1971

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

ISBN 3 11 003835 8

©

1971 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sdie Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, Berlin

David Mourao-Ferreira und Joao Belchior Viegas gewidmet

Vorbemerkung Es waren zunächst die portugiesischen Lektoren an der Universität Zürich, die Professoren José A. Ribeiro und Fernando Camacho, die mir eine erste Begegnung mit dem Dichter Fernando Pessoa vermittelten. Als ich nach abgeschlossenem Romanistikstudium von der Möglichkeit hörte, mich um ein Stipendium des Instituto da Alta Cultura zu bewerben, zögerte ich nicht, die Lehrtätigkeit in der Schweiz für einen halbjährigen Studienaufenthalt in Portugal zu unterbrechen. In Lissabon, wo ich an der Universität mit den Professoren Prado Coelho und Lindley Cintra zusammentraf, reifte in mir der Entschluß, über den größten portugiesischen Dichter des 20. Jahrhunderts eine Arbeit zu verfassen. Monatelange Lektüre machte mich mit dem Wesen des Dichters und seiner Sprache vertraut, so daß ich noch vor der Rückkehr, im Frühling 1966, mit der Niederschrift dieser Studie beginnen konnte. Die Freundschaft mit dem Dichter David Mourao-Ferreira verhalf mir zu einem Besuch bei der Familie Pessoas, wo mich der Verwalter des Nachlasses, Herr Oberst Caetano Dias, freundlich empfing und mir bereitwillig die berühmte Truhe, in der noch immer zahlreiche Manuskripte ruhen, zeigte. An eine Veröffentlichung dieser Manuskripte war meinerseits nicht zu denken, da sich Prof. Coelho und Dr. Georg Rudolf Lind schon in die Arbeit geteilt hatten. Im gleichen Jahr 1966 erschienen denn auch unter ihrer Leitung die bisher wichtigsten Sammlungen von Prosatexten des Dichters. Mein Ziel war von Anfang an eine kritische Untersuchung und Wertung, die, wenn immer möglich, das gesamte Werk Pessaos einbeziehen würde. In zweijähriger Arbeit ist sie soweit gediehen, daß ich dieses Ziel als erreicht betrachte. Allen, die diese Arbeit in irgendeiner Weise gefördert haben, möchte ich hier meine Dankbarkeit bezeigen: zunächst meinen Lehrern in Zürich, Coimbra und Lissabon, die mir zu einem tieferen Verständnis der romanischen Kulturen, insbesondere der portugiesischen, verhalfen, dann dem Staat Aargau, der midi für sieben Monate vom Schuldienst beurlaubte, und schließlich dem Instituto da Alta Cultura, das durch die Gewährung eines Stipendiums diese Arbeit erst ermöglichte. Den Herren Dr. Jost Müller und Dr. Herbert Walz gehört für das aufmerksame Durdisehen der Texte besonderer Dank. Zuletzt sei auch die Großzügigkeit des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung erwähnt, dank dessen Beitrag diese Studie als Buch erscheinen kann. Madrid, im April 1968 Georges Güntert

Inhalt Einleitung. Zur Aufgabe und Methode

1

Lebensumriß

7

I. Narziss am Brunnen II. Kronos: Die entthronte Zeit

15 31

III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

52

IV. Estar — ser: Die Tragik der Existenz

74

V. Im verwunschenen Spiegelsaal des „Ich" VI. Der Hüter des Seins: Alberto Caeiro VII. Futurismus und Expansion: Alvaro des Campos

98 121 142

VIII. Ästhetische Versöhnung in einer unversöhnten Welt: Ricardo Reis I X . Mensagem: Botschaft und Verheißung

174 194

Schlußbetrachtung

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Bibliographie

210

Namenregister

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Einleitung Zur Aufgabe und Methode So wenig das Werk Fernando Pessoas im deutsdien Sprachgebiet bekannt ist, so stark ist dennoch die kritische Literatur darüber, und nicht nur in Portugal, in den letzten dreißig Jahren angewachsen. Ein Blick auf die nach Vollständigkeit trachtenden Bibliographien 1 von Jacinto do Prado Coelho, Alvaro Bordalo, Adolfo Casais Monteiro und neuerdings Luigi Panarese (bis 1966 nachgeführt) zeigt Hunderte von Artikeln aus Zeitungen und Zeitschriften, dazu ein gutes Dutzend ausführlicher Untersuchungen, denen sich Jahr für Jahr neue zugesellen. Viele dieser Studien beschränken sich auf Einzelaspekte der Person oder des Werks. Daß sie zusammen eine verwirrende Vielfalt von Deutungsversuchen bilden, mag bei einer so undurchsichtigen und widersprüchlichen Dichterpersönlichkeit nicht weiter verwundern. Als Pessoa 1935 starb, war er in Europa so gut wie unbekannt. Selbst in Portugal bedeutete sein Name nicht mehr als ein Kuriosum für Literaten — wenige nur vermuteten in ihm einen Dichter von Format. Sein Werk lag größtenteils ungeordnet in einer zum Familienbesitz gehörenden Truhe, der die Herausgeber in mühevoller Arbeit Text um Text zur Veröffentlichung entnahmen 2 . Zu Lebzeiten waren — mit Ausnahme des Buches „Mensagem" (1934) — nur einige Gedichte Pessoas aus literarischen Zeitschriften (Orpheu, Athena, Contemporänea, Portugal Futurista, Exilio, etc.) bekannt. Die 1927 in Coimbra gegründete „Presenja" war es, die ihn nach dem Tod einem weiteren Leserkreis vorstellte 3 . Aus der Gruppe, die sich um diese Zeitschrift scharte, 1

2

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1

J. do Prado Coelho, Subsidios para urna bibliografía, in Diversidade e unidade em Fernando Pessoa, Lisboa, 1. Auflage, 1949; in der 2. Auflage, Lisboa 1963, ist die Bibliographie nadigeführt, pp. 235—244. A. Bordalo, Bibliografía de Fernando Pessoa, in „Gazeta do Bibliógrafo", Nr. 4, Beilage zum Heft 28/30, II, Serie „Portucale", Juli—Dez. 1950. A. Casais Monteiro, F. Pessoa e a crítica, in „Cadernos de Poesia", Heft 10, 3 a Serie, 1951. L. Panarese, Poesie di F. Pessoa, Milano 1967, mit ausführlicher, nahezu vollständiger Bibliographie, pp. XV—XLIII. Mit der Herausgabe des Gesamtwerks wurde 1942 begonnen; was die Prosa betrifft, ist ihre Veröffentlichung noch jetzt nicht ganz abgeschlossen. Cf. Darüber unsere Bibliographie am Schluß des Buches, unter »Werke Pessoas". „Presenfa", Nr. 48, Juli 1936, enthält Beiträge von Guilherme de Castilho, Pierre Hourcade, Raúl Leal. Güntert, Pessoa

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Zur Aufgabe und Methode

gingen zwei bedeutende Pessoa-Kenner hervor: Adolfo Casais Monteiro und J o â o Gaspar Simôes, Verfasser des ersten kritischen Aufsatzes über Pessoa; ihm verdanken wir ferner die erste, ausführliche Biographie und eine grundlegende, wenn auch nicht unanfechtbare Darstellung des Werkes 4 . Um die Mängel dieser umfassenden Arbeit aufzuzeigen, schrieben Casais Monteiro und Eduardo Freitas da Costa 5 je eine Replik, in der sie Simôes' psychologische Interpretation als einseitig, die Gesamtdarstellung als „biographie romancée" beanstandeten, wobei Freitas da Costa sogar ein Verzeichnis der Ungenauigkeiten aufstellte. Jacinto do Prado Coelho, der seine Doktorarbeit 6 über Pessoa ganz auf das Sprachliche ausrichtete, wies der Forschung neue Wege. Von der Stilistik Dámaso Alonsos und mehr noch von der neueren französischen Kritik beeinflußt, versuchte er als erster eine phänomenologische Beschreibung des Pessoaschen Werkes. Als erste eigentlich kritische Studie erscheint sie noch heute gültig und wertvoll. Prado Coelho verzichtete auf eine ästhetische Wertung der Texte und suchte nach Motiven (im Sinne Billeskov Jansens) oder Themen, ohne die Stilanalyse zu vernachlässigen. Pessoas „metaphysische Unruhe" und Skepsis vor Augen, stellte er das Werk in seiner verwirrenden Vielfalt vor, um dann von den „Heteronymen" aus — gleichsam von der Peripherie her — die gemeinsamen Merkmale zu beleuchten und die existentiellen Erlebnisse des Dichters aufzudecken. Dabei fielen die Namen Kierkegaard, Pirandello, Sartre, wodurch der Dichter — wie schon bei Jorge de Sena 7 , der Pessoa einen Spätsymbolisten nannte und ihn mit George, Rilke, Milosz und Yeats verglich — in europäischen Zusammenhängen gesichtet wurde. Prado Coelho ging nie so weit, seinen Weg als den einzig richtigen zu bezeichnen und etwa die biographische Darstellung von Gaspar Simôes ganz abzulehnen, doch stellte er dem historischen und (allzu positivistisch) psychologischen Gesichtspunkt seine phänomenologische Sehweise und 4

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6

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J . Gaspar Simôes, Vida e Obra de F. Pessoa, Historia duma geraçâo, in 2 Bd., Lisboa, s. d. (aber 1951). Als erster hatte Simôes in Temas, Coimbra 1929, über Pessoa geschrieben; in den folgenden Jahren mehrten sidi seine Beiträge, cf. Biographie. E. Freitas da Costa, F. Pessoa — Notas a urna crítica romanceada, Lisboa 1951; A. Casais Monteiro, F. Pessoa e a crítica, op. cit. D a z u die Rezension von Joâo Mendes in „Broteria" vol. L V I I I , H e f t II, Feb. 1954, pp. 205—209. J . do Prado Coelho, Diversidade e unidade em F. Pessoa, op. cit., 1. Auflage, 1949. Zwei Jahre vorher war ein Aufsatz: Reflexôes sobre a crítica literaria: A liçâo de F. Pessoa im „Diário Popular" vom 1 5 . 1 0 . 1 9 4 7 erschienen, in dem der Kritiker seine Methode vom Werk her neu überprüfte. Jorge de Sena, Carta a F. Pessoa, in „ O Primeiro de Janeiro" vom 9. 8. 1944 und F. Pessoa, Indisciplinador de almas, Vortrag, am 1 2 . 1 2 . 1 9 4 6 im Ateneu Comercial in Porto gehalten, später in D a Poesia Portuguesa, Lisboa 1959, pp. 171—192, publiziert.

Zur Aufgabe und Methode

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vor allem eine eingehende Textkritik gegenüber. Bei der Analyse einzelner Pseudonyme (Caeiro, Campos) erwies sich sein Vorgehen als richtungsweisend, weniger veilleicht bei Reis, dessen ästhetische Bedeutung für das Gesamtwerk eher unterschätzt wurde. Die Einheit des Werks trotz einer Vielheit von Stilen und „Personen" zu verteidigen, schien ihm damals Hauptanliegen der Pessoaforsdiung zu sein. — In einem Vorwort zu den neu herausgegebenen Prosaschriften des Dichters8 hat er kürzlich die Entstehung der „Heteronyme" von neuen Gesichtspunkten aus betrachtet und eine abwägendere Haltung angenommen. In einem Nachwort zur zweiten Auflage seines Pessoabuches mußte Prado Coelho sich gegen zahlreiche Einwände verteidigen, besonders seitens einer Gruppe, die den „Fall Pessoa" überhaupt nicht klären wollte und dieser Poesie jedwelche Anspielung oder Bedeutung absprach. Der Verlegenheit, in der sich die literarischen Kreise Lissabons nach Pessoas Tod befanden, ist es wohl zuzuschreiben, daß unter den Kritikern zunächst diese Auffassung überwog. Casais Monteiro 9 stützte sich gar auf ästhetische Aussagen des Pseudonyms Caeiro, um geltend zu machen, daß Pessoas Dichtung nicht im einen oder anderen Sinne kritisch ausgelegt, sondern als reine Poesie, als dichterische Freiheit und Spiel der Phantasie hingenommen werden solle. Dem widersetzten sich besonders jene — unter sich sehr verschiedenen — Kritiker, die in der Aufspaltung der Persönlichkeit eine vorsätzliche oder zumindest bewußt gesteuerte Haltung des Dichters vermuteten. Ant6nio Quadros, Älvaro Ribeiro oder E. Freitas da Costa 10 hoben philosophische oder politische, jedenfalls stark vom intellektuellen Denken her bestimmte Züge der Persönlichkeit Pessoas hervor, wobei die politische Lesart das Bild des Dichters, der sich nie festlegte, völlig verfälschen mußte. Joel Serräo 11 , der an Pessoa eine Tendenz zur gewollten Selbstanalyse wahrnahm, ferner 8

9

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11

l*

Prado Coelhos Aufsatz über das Problem der Heteronyme steht als Einleitung zu Paginas Intimas e de Auto-Interpretafäo, Textos estabelecidos e prefaciados por J. Prado Coelho e G. R. Lind, Lisboa 1966, pp. XXI— XXXVII. A. Casais Monteiro, F. Pessoa e a critica, op. cit. In Estudos sobre a Poesia de F. Pessoa, Rio de Janeiro 1958, zeigt sich der Autor gegenüber Prado Coelho versöhnlicher. Antonio Quadros, Modernos de Ontem e de Hoje, Lisboa 1947 und besonders der Artikel: Poesia, Drama e Metamorfose em F. Pessoa, in „Jornal de Letras e Artes", I, Nr. 1, 4. Oktober 1961. Älvaro Ribeiro, F. Pessoa, Poeta e Fil6sofo, Vorwort zu A Nova Poesia Portuguesa, de F. Pessoa, Lisboa 1944. E. Freitas da Costa, Fernando Pessoa, selecjäo de textos e prefäcio, Lisboa 1960. Joel Serräo, Simples Introdujao is Cartas de F. Pessoa a Armando CortesRodrigues, Lisboa 1945.

4

Zur Aufgabe und Methode

Mario Sacramento und Jorge de Sena 12 , um nur die besten Aufsätze der portugiesischen Kritik zu erwähnen, machten trotz flexibleren Darstellungen den Fall Pessoa vollends zu einer kunsttheoretischen Streitfrage, für die es bis heute keine endgültige Antwort gibt. Die Kritik der fünfziger Jahre war sich wenigstens darin einig, in Pessoa einen der größten Dichter Portugals zu sehen und seine Schlüsselstellung in der neueren Literatur anzuerkennen. Von den Interpreten, die in Pessoa in erster Linie den nationalen Dichter sahen, unterschied sich Agostinho da Silva 13 mit einem originellen Beitrag, den er „Ein Fernando Pessoa" nannte. Er wies darin der prophetischen Dichtung „Mensagem" die zentrale Stelle im Gesamtwerk zu und sah in Pessoas Spiel mit den „Heteronymen" die wahre Botschaft eines Portugiesen an das andersdenkende Europa des Kapitalismus. Pessoa war für ihn der Dichter des freien Spiels, nicht des Plans und des Gewinns, ein Dichter, der für ein Reich der Unschuld und der Unbekümmertheit lebte und schrieb — eine Auffassung, die sich jedoch ebensogut auf „europäische" Künstler übertragen ließe. Inzwischen hatte sich die Fachkritik des eigenartigen Dichters angenommen; Pessoas Nachruhm überschritt die Grenzen Portugals. Es schrieben über ihn der Spanier Entrambasaguas, die Franzosen Hourcade und Guibert, der Deutsche Beau, die Brasilianer Cleonice Berardinelli und Gilberto de Mello Kujawski 14 , wobei vielleicht der schönste und ausgewogenste Beitrag von einem Dichter, dem Mexikaner Octavio Paz 15 , stammte. Dieser definierte Pessoas Werk als „Suche nach der verlorenen Identität" und zeigte darin die schöpferische Weiterentwicklung eines ursprünglich romantischen Kunstproblems auf: für die deutsche Romantik, für Nerval, dann für Rimbaud und viele andere Dichter der Moderne war das Ich ein Hindernis, das Hindernis; Pessoa gestaltete seine inneren Erfahrungen dichterisch, führte sie zu dramatischen Höhepunkten und stellte so die portugiesische Literatur um 1915, zur Zeit des „Orpheu", vor eine höchst moderne Problematik, um die sie andere Kulturen beneiden konnten. Octavio Paz, der die Eigenart des Pessoaschen Wesens auf wenigen Seiten erfaßte, sah den englisch geschulten Dichter mit Recht in einer europäischen Tradition. Aber sein Verhältnis zur portugiesischen Kultur ist nicht zu unterschätzen, entschied sich doch der zweisprachige M

13 M 16

Mario Sacramento, Introduyäo äs Condifoes Negativas duma Reconcilia^o com F. Pessoa, in „Vertice", X I I , Nr. 108, Aug. 1952; und F. Pessoa, Poeta da Hora Absurda, Lisboa, s. d. (aber 1959). Jorge de Sena, Aufsätze in Da Poesia Portuguesa, op. cit. A. da Silva, Um Fernando Pessoa, Porto Alegre 1959. Für diese Werke siehe Biographie am Sdiluß des Budies. Octavio Paz, El Desconocido de si mismo — F. Pessoa, jetzt in Cuadrivio, Mexico 1965; ursprünglich Vorwort zu Antologia, Mexico 1962.

Zur Aufgabe und Methode

5

Pessoa schließlich für seine Muttersprache. Die Begegnung mit den Dichtern der Renaissance, allen voran Camöes18, mit der neueren Lyrik von Garrett über Antero de Quental zu den Saudosisten sowie die Auseinandersetzung mit der geistigen Situation Portugals blieben nicht ohne Einfluß auf den Weg des Dichters. Diese Entwicklung aufmerksam verfolgend, verfaßte Maria Alíete Dores Galhoz, die Herausgeberin der in Brasilien erschienenen Pessoa-Ausgabe, über die Generation von „Orpheu" eine Dissertation, deren Ergebnis heute als Einführung zu „Obra Poética" gedruckt vorliegt. 17 In Deutschland wurde Pessoa erst in jüngster Zeit durch einen Aufsatz von Albin Eduard Beau 18 und besonders durch die Übersetzung von Georg Rudolf Lind 19 bekannt, während in der Schweiz 1960 ein einziger Artikel in französischer Sprache erschien20. Eine vorher veröffentlichte Übertragung einzelner Gedichte war unbeachtet geblieben21; erst Linds Bemühungen verhalfen Pessoa im deutschen Sprachgebiet zu einem Leserkreis. Lind, der zusammen mit Prado Coelho den Nachlaß Pessoas ediert, war der geeignete Mann, den deutschen Leser mit dem Dichter bekannt zu machen. Er begnügte sich mit je einem kurzen Nachwort, eine größere Bearbeitung der Dichtung Pessoas im deutschen Sprachraum blieb aus. Die Aufsätze von Bruno Linnartz 22 , der sich der heteronymen Dichtung Caeiros zuwandte, und Wolfgang Rothe 23 erschienen während der Vorbereitungen zu dieser Arbeit. Das Fehlen einer größeren kriti18

17

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23

Cf. in diesem Sinne den wertvollen Aufsatz von David Mouráo-Ferreira, Sá de Miranda, a Écloga e Fernando Pessoa, in „Távola Redonda", Heft 11, 15. Dez. 1951. M. A. Dores Galhoz, Vorwort zu Fernando Pessoa — Obra Poética, 1. Auflage, Rio de Janeiro 1960; 2. Aufl. 1965; cf. audi die von der gleichen Autorin verfaßte Einleitung zu einem Nachdruck der ersten Nr. des „Orpheu", Lisboa 1959. Beide Aufsätze sind Zusammenfassungen einer unveröffentlichten Diss.: O Movimento Poético do Orpheu, in 2 Bd., Faculdade de Letras, Lisboa 1953. E. A. Beau, Über die Bruchstücke zu einem Faust des portugiesischen Dichters F. Pessoa in „Goethe" (Jahrbudi der Goethe Gesellschaft), XVII, Weimar 1955, pp. 169—184. F. Pessoa — Poesie, port.-deutsch von G. R. Lind, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1962; F. Pessoa — Dichtungen, deutsch von G. R. Lind, Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1965. Cf. auch den Aufsatz: G. R. Lind, Traduzindo F. Pessoa, Sep. von „Ocidente", LXII, Lisboa 1962. Pierre Furter, F. P. ou le poete Protée, in „Gazette de Lausanne", 20./ 21. 8.1960. E. Roditi, Schein und Sein in Leben und Dichtung des F. Pessoa, in „Die neue Rundschau", II/III, Frankfurt/M. 1956. B. Linnartz, Alberto Caeiro als Antipode F. Pessoas, in „Romanistisdies Jahrbuch", 1966, XVII, pp. 323—342. W. Rothe, Die vierfache Poesie F. Pessoas, in „Rom. Forschungen", L X X V I I I , 1966/1, pp. 90—114.

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Zur Aufgabe und Methode

sehen Studie in deutscher Sprache 24 wäre Grund genug gewesen, sich mit Pessoa näher zu befassen. Doch werden vor allem die Schönheit und Originalität dieser Dichtung unsere Begegnung mit ihr rechtfertigen. In der vorliegenden Untersuchung bemühen wir uns, einem kritischen Gedanken treu zu bleiben, wie er uns seit der ersten Berührung mit dem Werk Pessoas vorschwebte. Als Schüler Poulets von der „Nouvelle Critique" herkommend, versuchen wir — im Gegensatz zu Prado Coelho, der von der Verschiedenheit der Heteronyme zur Einheit Pessoas gelangen wollte — uns mitten in das Denken und in die Welterfahrung des Dichters hineinzuversetzen. Das in der Sprache erscheinende Denken schafft sich Raum und Zeit, es ist der Ort, wo wir uns selbst zuerst orientieren müssen. Daher gehen wir von der eigennamigen (orthonymen) Dichtung aus, betrachten Pessoa-ipse vor und nach der Entstehung der Heteronyme und suchen das proteushafte Werk dieses Dichters, der unter vier Namen schrieb, von seiner Grunderfahrung her zu erfassen. Als Text dient uns die Ausgabe „Obra Poetica" 2 5 , haben sie mit dem neunten den in mehreren Büchern ergänzt. 26 Andere Quellen vermerkt.

einbändige, in Brasilien erschienene Pessoain ihrer zweiten, verbesserten Auflage. Wir Band der portugiesischen Ätica-Ausgabe und und Heften publizierten Werken in Prosa werden in den Anmerkungen ausdrücklich

Grundsätzlich werden wir alle Zitate portugiesicher Lyrik deutsch und portugiesisch wiedergeben, während wir englische oder französische Aussprüche unübersetzt lassen. Auf eine poetische Übertragung wird im allgemeinen verzichtet, bei einzelnen Gedichten jedoch, die stark vom Klang her leben, hat sich die Mühe einer geformten Nachübersetzung gelohnt. Insbesondere für die Heteronyme, aber auch f ü r einzelne eigennamige Werke, besteht die Möglichkeit, Linds Übersetzung zu benützen. Zur Unterscheidung werden eigene Versuche mit * bezeichnet. 24

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Noch vor dem Drude unserer Arbeit ist inzwischen die Diss. von T. Wyss, Dialog und Stille, Zürich 1969, erschienen. Neben Studien über Max Jacob und Ungaretti umfaßt sie eine Untersuchung über Pessoa (pp. 207—76). Fernando Pessoa — Obra Poetica, em um volume. Organizacpao, introdu9ao e notas de Maria Aliete Galhoz, Aguilar, Rio de Janeiro, 2. edijäo, 1965, im weiteren abgekürzt OP. Siehe Bibliographie am Schluß dieser Arbeit.

Lebensumriß Im Jahre 1888 schreibt der große Erzähler Efa de Queiros sein Meisterwerk „Os Maias" zu Ende. Mehr als eine bloße Familienchronik ist dieser Roman ein nuanciertes, scharfsinniges, aber pessimistisches Zeitdokument, in dem festgehalten wird, wie selbst die aktivsten unter den modern erzogenen, jungen Portugiesen der Indolenz ihrer Vorfahren verfallen und die müßige, resignierte Lebensweise der Umwelt übernehmen, wie dadurch im kulturellen und sozialen Leben des Landes die geistigen Kräfte lahmgelegt werden und ein apathischer Konservatismus immer wieder überhandnimmt. Gegen den Schluß des Romans läßt der Verfasser den im Ausland erzogenen Carlos nach längerer Abwesenheit in Portugals Hauptstadt zurückkehren, wo er mit seinem Freund Joäo da Ega, einem vom Realismus der siebziger Jahre geprägten Schriftsteller, in dem Eya de Queiros sich selber zeichnet, zusammentrifft. Mit Erstaunen nimmt Carlos die Veränderung wahr, die sein Jugendfreund in der Zwischenzeit durchgemacht hat. Der früher revolutionär gesinnte E$a zieht den Vergleich mit den Jahren des engagierten Realismus, den er und seine Freunde um 1870 begeistert verkündeten, und der geistigen Situation Lissabons, nur kurz vor der Jahrhundertwende. Während die beiden in einer Droschke durch die Stadt fahren, grüßt Ega auf einmal den früher wegen seiner ultraromantischen Verse verachteten Dichter Alencar so freundlich, daß ihn Carlos betroffen zu einer Erklärung nötigt. Selber überrascht meint Ega, nichts zeige die erschreckende Dekadenz des Landes besser als die Tatsache, daß jetzt dieser Dichterling wie ein Genie allenthalben wieder geschätzt werde. Ega sieht wohl, daß auch sein eigenes Verhalten die Züge dieses Niedergangs trägt; gelassen fügt er hinzu, vielleicht seien er und seine Freunde nie etwas anderes als Romantiker gewesen, niedrige Wesen, die sich vom Gefühl und nicht von der Vernunft leiten ließen. Im übrigen verhindere die Gesellschaft Lissabons eine andere Entwicklung, sie vereitle alle Pläne, die zu einer geistigen Erneuerung führen könnten. Dies düstere Urteil fällt der für die damalige Zeit repräsentative Schriftsteller ausgerechnet im Geburtsjahre unseres Dichters. Pessoas Leben beginnt demnach mitten in einer Krisenzeit, die — entgegen den Auffassungen de Queir6s', der die Epoche noch zu sehr vom Höhepunkt des Realismus her bewertet — nicht nur dekadente Züge aufweist. Der laute Optimismus der anfangs stark politisch orientierten Realisten, die sich von ihrer Bewegung eine rasche Verbesserung der Zustände versprechen, macht damals zumindest einer Ernüchterung Platz. Antero de

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Lebensumriß

Quental vereinsamt über seinen philosophischen Problemen; Sampaio Bruno wendet sich okkultistischen Fragen zu; Teófilo Braga zieht sich in ein kleinbürgerliches Leben zurück. Oliveira Martins, der sich selbst aktiv in die Politik eingeschaltet und es im Norden des Landes zu einem Sitz im Parlament, nicht aber zum Minister gebracht hatte, kehrt im gleichen Jahre 1888 enttäuscht nach Lissabon zurück, um sich dort den „Vencidos" (Besiegten) anzuschließen, die Portugal eine sichere Katastrophe voraussagen. Nur die Dichter bleiben kämpferisdi: Guerra Junqueiros „Velhice do Padre Eterno" (1885), ein heftiger Angriff auf den erstarrten Katholizismus und die zerrüttete Monarchie, und der „Anti-Cristo" (1884) von Gomes Leal bilden das Tagesgespräch der aufgeklärten Bürger. Äußerlich entwickelt sich Lissabon damals geruhsam, aber stetig: Straßen werden verbreitert, neue Quartiere entstehen, das elektrische Licht nimmt den dunklen Nächten der Romantiker ihren Zauber, bessere Verkehrsmittel bringen das Land Europa näher. Mehr verändert sich im Alltag der Stadt nicht. Geboren am 13. Juni 1888, verbringt Pessoa, der in gutbürgerlichen Verhältnissen mitten im alten Stadtteil des Chiado, nahe beim Theater Sao Carlos 27 aufwächst, die ersten Lebensjahre in einer wohlbehüteten, von äußeren Ereignissen unberührten Welt. Das Familienleben der Pessoas bietet außer den harmlosen Anfällen der zeitweise geistesgestörten Großmutter Dionisia kaum Abwechslungen. Der plötzliche Tod des Vaters aber, im Jahre 1893, überschattet diese Kindheit. Pessoas junges Gemüt leidet darunter, und mehr noch, als er mit seiner Mutter, die inzwischen mit dem portugiesischen Konsul in Durban eine zweite Ehe eingeht, Lissabon verlassen und nach Südafrika übersiedeln muß. In der Fremde erhält Fernando Antonio Nogueira Pessoa, so lautet sein ganzer Name, in einer von irischen Schwestern geleiteten Klosterschule, dann an der Durban High School eine englische Ausbildung, die er mit großem Erfolg abschließt. 1904 wird ihm sogar als Auszeichnung für eine Bestleistung in Englisch der Queen Victoria Memorial Prize verliehen; der Weg zur Universität steht ihm offen. Diese äußeren Erfolge erringt das sonst scheue und verschlossene Kind, welches allzu stark an seiner Mutter hängt, auf Kosten einer inneren Vereinsamung. Ein jüngerer Bruder, Jorge, war nach wenigen Monaten gestorben. Um die Leere, die ihn umgibt, zu bevölkern, erfindet er Phantasiegebilde: so unterhält er sich als Sechsjähriger mit dem imaginären „Chevalier de Pas", in dessen Namen er sidi selber Briefe schreibt. Später versucht sich der lesehungrige Schüler noch während der Schulzeit 17

Alle biographischen Angaben entstammen dem Werk von Joäo Gaspar Simoes, Vida e Obra de F. Pessoa, op. cit., unter Berücksichtigung der Korrekturen, die Freitas da Costa anbrachte; siehe Anmerkung 5.

Lebensumriß

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im Dichten. Meist sind es traurige Verse, den Verlust einer geliebten Person beklagend: fehlt ihm der Vater, der jung verstorbene Bruder oder die Mutter, die für ihn wenig Zeit hat? Seit dem 15. Altersjahr fühlt er sich zum Dichter berufen, doch nach außen hin verheimlicht er seine literarischen Neigungen. Niemand, auch seine Mutter nicht, steht im wirklich nahe. Seine einzigen Freunde sind Bücher: Milton, Shakespeare, dann Byron und Shelley unter den Romantikern, zur Entspannung die „Pickwick Papers" — ihnen gilt seine Liebe und Bewunderung. Die intellektuelle Wissensbegierde stillt er an deutschen (Schopenhauer, Nietzsche) und griechischen Philosophen, die er auf englisch liest. Angeblich aus gesundheitlichen Gründen, aber auch, um sich auf einen einträglichen Beruf vorzubereiten, fährt Pessoa mit 17 Jahren nach Portugal zurück, um an der Universität Lissabon zu studieren. Er hat erst Mühe, sich einzuleben; zu brüsk ist der Wechsel, zu fremdartig die neue Lebensweise. — Nach dem Ultimatum und der Wirtschaftskrise der neunziger Jahre ist im öifentlichen Leben Portugals, das wie Spanien sich den Neuerungen nicht länger verschließen kann, vieles in Fluß geraten. Politisch drängt das Land zu rasdien Veränderungen, die 1908 im Königsmord und 1910 in der Einführung eines republikanischen Regimes gipfeln. Pessoa, der seine Heimat sehr früh verlassen und hernach eine sorgsame Erziehung in puritanischer Umgebung genossen hat, steht den geistigen Gärungsprozessen — im Universitätsmilieu besonders spürbar — zunächst hilflos gegenüber. An der philosophischen Fakultät, die ihn enttäuscht, schließt er kaum Freundschaften; um gesellschaftliche Erfolge bemüht er sich nicht. Er lebt bei Verwandten, zwei alleinstehenden Tanten, die ihn bemuttern und die auch die nun 80jährige Großmutter Dionisia betreuen. Es braucht Jahre, bis er sich in Lissabon zurechtfindet. Daß der Versuch, eine Druckerei mit Verlag zu gründen, scheitert, wobei er um seine Ersparnisse kommt, trägt mit zur Ernüchterung des beruflichen Ehrgeizes bei. Der junge Mann hat aber längst ein anderes Ziel vor Augen: er will Dichter werden. Kaufmännisch geschult, tritt er zwar als Fremdsprachenkorrespondent eine Stelle an. Dieser Beschäftigung, die ihn wenig in Anspruch nimmt und ihm genug Zeit zum Schreiben läßt, bleibt er sein Leben lang treu. Beruf und Berufung gehen von nun an auseinander. Das Verhältnis, das Pessoa allmählich zur portugiesischen Literatur gewinnt, bestärkt ihn in der Absicht, als großer Dichter für die Kultur seines Landes wegweisend zu werden. Vorläufig verfaßt der Denker die meisten Aufzeichnungen noch auf englisch, als Dichter zieht er mehr und mehr seine Muttersprache vor. Er ahnt in der portugiesischen Kultur das Brachliegen großer Kräfte, die bloß auf das Genie, das sie zum Leben erwecke,

10

Lebensumriß

•warten. Mißtrauisch gegenüber dem Symbolismus, den damals Eugénio de Castro, Camilo Pessanha und auf ihre Weise Guerra Junqueiro und Gomes Leal verkörpern, sucht er neue W e g e . D i e Lektüre M a x Nordaus, der

alle

„dekadente"

Kunst zurückweist, verhärtet

seine

ablehnende

Haltung gegenüber den Symbolisten und h i l f t den Boden vorbereiten, auf dem sein erstes Manifest „ A

Nova

Poesia Portuguesa"

gründet.

D a m i t öffnet sich der literarische Bannkreis Pessoas, w i e er in dieser A r b e i t ausführlich beschrieben w i r d . Aus dem Jahre 1909 stammen Pessoas erste Aufzeichnungen zu einem „Faust". Nicht nur die Erschütterung des inneren Gleichgewichts, auch die faustische T a t k r a f t ,

die sich der

Dichter

erträumt,

kennzeichnen

diese Zeit. Drei Jahre später verkündet er den verblüfften Lesern der Zeitschrift „ A Á g u i a " , eine neuer Camöes werde bald am kulturellen H o r i z o n t des Landes erscheinen, um Portugal die einstige G r ö ß e wiederzubringen. „ A Á g u i a " w a r z w e i M o n a t e nach dem Ausrufen der Republik in der nördlichen Hauptstadt P o r t o entstanden. Ihr Leiter, A l v a r o Pinto, der sich auf die Mitarbeit des Dichters Teixeira de Pascoaes und seiner Freunde stützen konnte, w a r republikanisch gesinnt. In der neuen f r e i heitlichen

Ordnung

literarischen

schienen

Kreisen

das

überall

Schlagwort

glaubte an ein portugiesisches

Kräfte der

aufzubrechen,

Erneuerung

indes

umging;

„Ressurgimento". Dies zu

in

man

bekräftigen,

verkündete Pascoaes v o n P o r t o aus eine nationale Poetik und Philosophie, den „Saudosismo"

(von

„saudade" abgeleitet, der messianischen

Sehnsucht nach Erlösung und Wiedergeburt Portugals). Dieser Gruppe, die das Land geistig wiederbeleben wollte, gehörten außer Pascoaes eine Reihe v o n Dichtern und Denkern an: Augusto Casimiro, A f o n s o Lopes Vieira, M a r i o Brandáo, der spätere Historiker Jaime Cortesáo, Correia de Oliveira und A f o n s o Duarte. A l s Philosoph der Saudosisten

galt

Leonardo Coimbra, ein Schüler v o n Sampaio Bruno. D e r gleiche Kreis von

Schriftstellern

und

Dichtern

gründete

1912

die

Bewegung

der

„Renascenja Portuguesa", welche sich zur A u f g a b e machte, „die lusitanische Seele zu enthüllen und sie ihrer ursprünglichen Wesensart zuzuführen" 2 8 . Dieser spätromantischen Bewegung, die sich allzusehr an der Vergangenheit orientierte, steht Pessoa eine Zeitlang nahe; in ihren Z e i t schriften erscheinen seine ersten Aufsätze. Doch des Dichters W e g e sollten anders verlaufen. Seiner inneren Entwicklung folgend, überwirft er sich mit den Autoren der „Renascenja Portuguesa", die sich weigern, Pessoas ausgefallene Beiträge zu veröffentlichen. Z w e i Jahre später stellt er in der

í8

Dichtung

seines ersten Heteronyms,

des

„Meisters"

Caeiro,

die

„Revelar a alma lusitana, integrá-la ñas suas qualidades essenciais e originárias", cf. Teixeira de Pascoaes in einem Brief an Unamuno, zit. bei A. Margando, Teixeira de Pascoaes, A Obra e o Hörnern, Lisboa 1961, p. 309.

Lebensumriß

11

sentimentalen, „mystischen" Dichter — Saudosisten und Symbolisten — bloß. Pessoas literarischer Horizont ist zu groß, seine Welt zu erlebt, um sich einer Schule zu verschreiben. Von der Bühne der Öffentlichkeit tritt er vorübergehend ab. Tagsüber sitzt er sinnend in seinen Stammcafes, nachts hinter dem Schreibtisch, in seine Arbeit vertieft. Durch die Absonderung, die der Verzicht auf ein bürgerliches Leben mit sich bringt, entdeckt er seine schöpferischen Kräfte und die Magie der Sprache, wie sie vor ihm Poe und Baudelaire erfuhren. Als ihn aus Paris die Nachricht von modernistischen Bestrebungen in Kunst und Literatur erreicht, horcht er auf. Die Kunde vermittelt ihm ein Freund und Weggefährte, Mario de Sá-Carneiro, dem er seine Pläne anvertraut. Beide sind sich darin einig, daß die Dichtung Portugals erneuert werden muß und daß dies von der Poetik her geschehen müsse. Ihr Briefwechsel kreist um kunsttheoretische Forderungen — die Namen Picasso, Max Jacob, Marinetti, werden darin erwähnt. Diesem direkten Zugang zum europäischen Kunstleben verdankt Portugal die Entstehung des Modernismus in Kunst und Literatur. Um Pessoa bildet sich eine Avantgarde, die innerhalb weniger Jahre Großes leistet. Mit Sá-Carneiro und einer Gruppe von jungen Dichtern und Malern (Almada-Negreiros, Luis de Montalvor, Santa-Rita Pintor, Cortes-Rodrigues, Alfredo Guisado und dem in Brasilien weilenden Ronald de Carvalho) plant er die Herausgabe der modernistischen Zeitschrift „Orpheu", die frischen Wind ins portugisische Geistesleben bringen soll. An der ersten Nummer will er sich gleich unter zwei Namen beteiligen, indem er als Pessoa-ipse das Drama „O Marinheiro" und als Alvaro de Campos zwei Gedichte veröffentlicht. Seine große Entdeckung dieser Zeit ist die dichterische Möglichkeit zur Entpersönlichung, die Erfindung der Heteronyme. Was er darunter versteht, geht aus einer Aufzeichnung, die in seinem Nachlaß lag, hervor: „Der erste Grad der lyrischen Dichtung ist derjenige, in dem der Dichter sich auf sein Gefühl konzentriert und dieses Gefühl zum Ausdruck bringt. Ist er aber ein Wesen mit wandelbaren, mannigfaltigen Gefühlen, so wird er gleichsam eine Vielzahl von Personen zum Ausdruck bringen, die nur durch Temperament und Stil verbunden bleiben. Einen Schritt weiter und wir haben einen Dichter vor uns, der — als Wesen mit vielfältigen und fiktiven Gefühlen — eher phantasie- denn gefühlvoll ist und jeden seelischen Zustand mehr mit der Intelligenz als mit dem Empfindungsvermögen erlebt. Dieser Dichter wird sich wie eine Vielzahl von Personen aussprechen, die nicht mehr durch das Temperament, sondern nurmehr durch den Stil geeint sind; denn das Temperament ist durch den Stil ersetzt worden und das Gefühl durch die Intelligenz. Noch einen Schritt weiter auf dem Wege zur Entpersönlichung... und

12

Lebensumriß

wir haben den Dichter vor uns, der sich in jeden seiner verschiedenen geistigen Zustände so hineinlebt, daß er seine Persönlichkeit vollkommen a u f g i b t , . . . dabei wird sogar der Stil mannigfaltig. Ein letzter Schritt und wir finden den Dichter, der verschiedene Dichter zugleich ist, einen dramatischen Dichter, der Lyrik schreibt. Jede Gruppe unmerklich verwandter Seelenzustände wird dabei zur Persönlichkeit mit eigenem Stil, deren Gefühle sich von den typischen Gefühlserlebnissen des Dichters selbst unterscheiden, ja ihnen durchaus entgegengesetzt sein können." 29 Das kindliche Bestreben, seine Einsamkeit zu bevölkern, wirkt sich beim erwachsenen Diditer in der Erschaffung von Heteronymen aus. „Die Musik, die mich bei dieser Beschäftigung bezaubert" — schreibt er später an Casais Monteiro — „hat sich wohl ein wenig verändert, aber die Faszination ist dieselbe geblieben." 30 Bereits 1914 hat er alle wichtigen „dramatischen Geschöpfe" — Alberto Caeiro, Alvaro de Campos und Ricardo Reis — auf die poetische Bühne gestellt, auf der er sich beim Spiel selber zuschaut. Ihre Namen tauchen in Zeitungen und Manifesten auf, doch niemand (außer Sá-Carneiro) kennt vorerst das Geheimnis ihrer Identität. Sie begleiten und ergänzen Pessoas Werk, mehr noch: sie widersprechen ihm und polemisieren untereinander. Ihrem Einzelschicksal nachzugehen, wird ein wichtiges Anliegen dieser Arbeit sein. Daß Pessoa neben so viel schöpferischer Tätigkeit in der Muttersprache weiterhin auch englisch dichtet, zeugt von seiner literarischen Vielseitigkeit. Vom Wert seiner englischen Dichtung überzeugt, gibt er 1918 die virtuosen „35 Sonnets" als „plaquette" im Selbstverlag heraus; ihnen folgt „Antinous", ein Gedicht, in dem er erotische Beziehungen bis zur Grenze des künstlerisch Erlaubten schildert. Als einziges Echo auf diese Neuerscheinungen bringen die Londoner „Times" und „The Glasgow Herald" eine wenig begeisterte Rezension. Das äußere Drama Pessoas liegt offensichtlich in diesem Mißverhältnis der Erfolge zu seiner ausschließlichen Hingabe an die Literatur. Audi das Abenteuer des „Orpheu" endet nach zwei Nummern als Mißerfolg, weil ihm die finanzielle Unterstützung versagt blieb. Die jungen Künstler werden verlacht und verhöhnt, am liebsten sähe man sie im Irrenhaus 31 . Alvaro de Campos' Expressionismus, der sich über alle Tabus hinwegsetzt, erregt das größte Ärgernis. Enttäuscht kehrt Sá-Carneiro, der sich wie Pessoa sehr viel von dieser Zeitschrift versprochen hatte, nach Paris zurück. Ein Jahr später, 29

Fernando Pessoa, Páginas íntimas e de Auto-Interpretafäo, op. cit., pp. 106, 107. 30 Brief an Casais Monteiro vom 13. Jan. 1935, in F. Pessoa, Páginas de Doutrina Estética, selecjào, prefácio e notas de Jorge de Sena, Lisboa 1946, p. 261. " M. Aliete Dores Galhoz, Introdu9ao geral, in OP, pp. 21—29; siehe auch die eingehende Untersuchung O Movimento Poético di Orpheu, Diss., unveröffentlicht, op. cit.

Lebensumriß

13

1916, nimmt er sich das Leben. Wiederum stürzt die Einsamkeit auf den nun bald dreißigjährigen Dichter ein. Da weitere Versuche, sich zu bestätigen (etwa 1917 mit der neuen Zeitschrift „Portugal Futurista"), mißlingen, verfällt er einer zunehmenden Resignation, die sich in seinem Werk niederschlägt. Heute hat sich erwiesen, daß seine Hoffnungen nicht grundlos waren und daß die Avantgarde des „Orpheu" künstlerisch genial war. Jahre vergehen, bis eine neue Generation ein ähnliches Experiment wagt, aber auch mit „Presenja" (1927) wird jene schöpferische Schwungkraft und das dichterische Niveau nicht mehr erreicht. So unstet und launisch Pessoa im Alltag sich gibt, so verfängt sich sein Leben doch mehr und mehr in einer Vielfalt von kleinen Gewohnheiten, die immer seltener von einem schöpferischen Akt unterbrochen werden. Der Gedanke, der geistigen Unbeweglichkeit der Umwelt sei nicht beizukommen, verfinstert seine Existenz. Polemiken — nicht nur literarischer Art — mit einer öffentlichen Meinung, die der Diktatur den Weg bahnt, bilden in den zwanziger Jahren seine nach außen hin auffallendste Tätigkeit. Fragment über Fragment häuft sich indessen auf seinem Arbeitstisch, und langsam füllt sich die Truhe mit Stößen von Manuskripten, die er bald planvoll anlegt, bald wirr durcheinander wirft. Noch immer schweben ihm Projekte mannigfachster Art vor; die wenigsten werden ausgeführt. Im Nachlaß finden sich Entwürfe zu portugiesischen (Ines de Castro) und englischen Dramen (The Duke of Parma, Prometheus revinctus), Studien zu einer Geschichte der englischen Literatur, Kriminalgeschichten; Aufsätze über den Sturz der portugiesischen Monarchie, über die Persönlichkeit und die Identität Shakespeares, über Okkultismus, Astrologie, Rosenkreuzertum, Freimaurerei und gnostische Religionsfragen. Zeitweise denkt Pessoa daran, Astrologe zu werden und sich so das Leben zu verdienen. Wie weit er dies ernsthaft meint, ist schwer zu sagen. Das Intermezzo mit dem englischen Zauberkünstler Aleister Crowley läßt vermuten, daß Pessoa die Astrologie doch nur als eine höhere Form des Hokuspokus betrachtet. Anders verhält es sich mit dem Okkultismus: Der Dichter scheint „lange Zeit ernstlich geglaubt zu haben, im Sinne des Rosenkreuzerordens zu den geheimen Erwählten zu zählen." 32 Die Lebensführung des Dichters ist für den Biographen wenig ergiebig. Mit Ausnahme seiner Mutter stand ihm keine Frau nahe. Die Liebe zu Ophelia, einer scheuen und sanften Arbeitskollegin, mit der er im Jahre 1919 einen intimen Briefwechsel führte, war — um mit Caeiro zu sprechen — wohl nur ein „nachzuholendes Versäumnis". Als seine Mutter im Jahre 1925 stirbt, verliert er seine letzte Bindung an das Leben. Mit zunehmendem Alter verfällt er mehr und mehr dem Alkohol. SI

Cf. G. R. Lind, F. Pessoa — Dichtungen, Nachwort, op. cit., p. 229.

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Lebensumriß

Im November 1935 stirbt er, nur 47jährig, an einer Leberkolik. Der verschlossene Mann, der sein Leben lang am Rätsel seines „Ich" herumdenkt, war zu keiner echten Liebesbeziehung fähig. Schicksalssdiläge nehmen ihm den einzigen Freund, Sa-Carneiro, dem er sich anvertraut hat und zugleich die Hoffnung, mit seinem Werk an die Öffentlichkeit zu treten. Auch „Athena", eine 1924 gegründete Zeitschrift, für die Pessoa sich noch einmal einsetzt, bringt die erhoffte Wendung nicht. Umsonst bemüht er sich um die Stelle eines Bibliothekars in Cascais — Mensch und Dichter erleben nichts als Mißerfolge. Erst 1927, als mit „Presenja" eine neue Generation (José Regio, J. Gaspar Simóes, Casais Monteiro, Miguel Torga) zu Wort kommt, beginnt sich das Land für ihn zu interessieren. Man gibt ihm Gelegenheit, Ausschnitte aus den Werken Reis' und Caeiros zu veröffentlichen. Angespornt durch die Bewunderung der jungen Generation, denkt Pessoa von neuem daran, sein Werk für eine Publikation zu ordnen. Den Hauptteil des Werks kann er nodi selber zusammenstellen; darauf stützen sich die „Obras Completas", die 1944—1956 im Verlag Ätica von J. Gaspar Simóes, Luis de Montalvor und Jorge Nemésio herausgegeben wurden. In diese Zeit fällt auch die Veröffentlichung seines ersten Buches „Mensagem" (Botschaft). Als patriotische Dichtung empfunden, trägt ihm das Werk nur einen Nebenpreis der offiziellen Kulturkommission ein. Auch diese einzige Ehrung war ein Mißverständnis. Bei seinem Tode begnügten sich die Lissaboner Zeitungen zu vermerken, eine seltsame Figur der portugiesischen Literatur sei dahingegangen. Ein einzigartiger Mensch war Pessoa zweifellos. Im Restaurant „Irmäos Unidos" hängt das Bild, das Almada Negreiros, Mitarbeiter am „Orpheu", von ihm malte. Ganz in Schwarz gekleidet sitzt der Dichter mitten in einer Welt von sich überschneidenden, streng geometrischen Räumen an einem Tisch, in der einen Hand die Zigarette, die andere auf ein Heft gelegt. Seine feinen, glatten Hände scheinen es kaum zu berühren. Vor ihm auf dem Tisch steht eine Kaffeetasse und ein kleines rundes Glas mit Alkohol, daneben eine Nummer der Zeitschrift „Orpheu". Auf sie fällt das ganze Licht, der größte Teil des Tisches liegt im Dunkel. Hell erleuchtet ist auch das seltsam starre Gesicht, in dem nur die Augen leben. Bei näherem Hinschauen scheint der Blick nicht nach außen, sondern wieder nach innen zu gehen. Die schwarz-weiße Silhouette des Dichters kontrastiert mit den grellen Gelb- und Rottönen, in welchen sich die vielschichtigen Räume überspiegeln. Der in sich verschlungene Körper — Beine und Schultern bilden eine verzerrte Acht — verwehrt sich gegen eine Kommunikation mit den schreienden Farben. Von dieser Spannung her kommt die Faszination, die von dem Bild ausgeht. 33

Im Jahre 1969, nach der Schließung des Restaurants, wurde das Bild versteigert. Es befindet sich zur Zeit im Besitz der Cämara Municipal von Lissabon.

Yeux, lacs avec ma simple ivresse de renaître . . . (Mallarmé)

I. Narziß am Brunnen Wie jemand, der von der Küste gegen das offene Meer blickt, so sieht sich Pessoas Bewußtsein angesichts der Wirklichkeit. Sòzinho, no cais deserto, a està manhà de verào Olho prò lado da barra, olho prò Indefinido Olho e contenta-me ver Pequeno, negro e claro, um paquete entrando Vem muito longe, nitido, clàssico à sua maneira Deixa no ar distante atras de si a orla va do seu fumo Vem entrando, e a manhà entra com eie, e no rio Aqui, acola, acorda a vida maritima . . -1 Ganz einsam, am verlassenen Kai, an diesem Sommermorgen schau ich hinaus zur Reede, schau ins Grenzenlose, schau und ergötze midi am Anblick eines Postsdiiffs, klein und schwarz und hell, das eben einfährt. Weit draußen kommt es, glänzend, klassisdi auf seine Weise, läßt in der fernen Luft den nichtigen Saum eines Rauchs zurück. Es kommt heran, und mit ihm kommt der Morgen : auf dem Flusse erwacht schon hüben und drüben das Seemannsleben . . ,2 So ertönt der Anfang der berühmten, 1915 im „Orpheu" veröffentlichten Meeresode des Pseudonyms Alvaro de Campos, und dies scheint uns — obwohl nicht mit dem eigenen N a m e n des Dichters unterzeichnet — ein echter Beginn: der eines Bewußtseins, das zum Leben erwacht, und damit zugleich der Wirklichkeit Einlaß gewährt. Bei vielen Dichtern, etwa bei dem Amerikaner Walt Whitman, diesem Vorbild Alvaro de Campos' 3 , hat die Küste einen rezeptiven Sinn, denn an der Grenze von Wasser und Land mag leicht ein befruchtender Kontakt entstehen. Das Meer wogt zum Land heran, durchtränkt und bereichert es, um rauschend wieder zurückzuströmen. Aber Pessoas Bewußtsein gleicht nicht der nach Wasser dürstenden Erde, auch liegt es nicht da wie ein Fels, passiv und gelassen, der sich von den nahenden ' F . Pessoa: Obra Poetica, Aguilar, 2. Aufl., Rio de Janeiro 1965, abgekürzt OP, pp. 314—15 (A. de Campos). 2 Übersetzt von G. R. Lind, in F. Pessoa: Poesie, Suhrkamp, Frankfurt a. Main 1962. So weit möglich, habe idi Linds Übertragungen übernommen. Die mit * bezeichneten sind eigene Versuche. s Vgl. aus der gleichen Schaffensperiode (Juni 1915) das Gedicht „Saudajio à Walt Whitman".

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I. Narziß am Brunnen

Wellen umspülen läßt. Dem stets erneuten Anschlagen der Wellen zu lauschen und es geduldig nachzuzeichnen, um dann seinen Standpunkt auf dem Festen umso entschlossener zu behaupten, ergäbe diese Begegnung von Bewegtem und Unbewegtem nicht in erster Linie eine epische Ausgangslage, den Auftakt zu einer neuen Odyssee? Doch Pessoa wählt dafür die lyrische Form der Ode. Nicht am Cabo da Roca, an diesem westlichsten Vorsprung Europas, der in den Ozean hinausdrängt, sondern auf einem Hafenquai Lissabons befindet sich hier der Dichter, allein auf verlassenem Ufer. Es spricht nicht der Nationalist, der Portugiese, Vertreter seines Volkes, Träger des lusitanischen Schicksals, es spricht ein Bewohner Lissabons, der den Alltag der Stadt nur zu gut kennt: ohne Pathos, schlicht und anfangs fast prosaisch. Der Ausblick auf den mündenden Tejo, der sich hier auftut, läßt sich sogar biographisch deuten. Alvaro de Campos, das Pseudonym, teilt Pessoas Gewohnheiten: vom Café Martinho 4 aus, über den weiten, manchmal leer wirkenden Terreiro do P a j o hinweg — so mag der Dichter die Wasserflädie des Tejo vor sich sehen. Im Sommermorgen erglänzt der zur Mündung geweitete, gegen den Ozean hin offene Tejo. Das Wasser strömt langsam vorbei, je nach dem Flutstand, auf- oder abwärts, aber nicht zum Betrachter heran. Nicht heftig, nicht überwältigend — so wie die Wellen der Sinnesempfindungen die Insel des Bewußtseins auf einmal von allen Seiten her überspülen können — ist Pessoas Erlebnis vor diesem Wasser. Allein steht er an der Hafenmauer und schaut. Dreimal wiederholt sich die Verbform „olho" (ich schaue), und verstärkt klingt sie im Infinitiv „ver" (sehen) nach. Der Übersetzer schreibt richtig: „Ich ergötze mich am Anblick", wobei zu bemerken wäre, daß im portugiesichen Verb „contentar" audi die etymologisch getreuere Bedeutung „es genügt mir (zu sehen)" mitschwingt. Pessoas Bewußtsein erwacht und nimmt sich als schauendes Bewußtsein wahr. Es ist zuerst Auge, tut, was mit den Augen getan wird: hinausschauen, ins Freie gelangen. Bevor wir überhaupt erfahren, was es schaut, lenkt der Dichter unseren Blick auf dieses immerzu angespannt schauende Auge. Vorderhand schaut es noch auf nichts Konkretes, sondern richtet sich recht ungewiß gegen die Einfahrt des Hafens, die sich gleich einer offenen, leeren Weite vor ihm auftut. Inhaltlos wie das weiße Blatt, auf das der Dichter schreiben wird, ist das Meer hier Sinnbild eines noch unbestimmten, unerfüllten Bewußtseins. Wir befinden uns jedoch an einem Hafen, vor uns erstreckt sich die Reede. Oder bedeutet etwa „barra" mehr als nur „Einfahrt", schwingt vielleicht auch der andere 4

Siehe die Biographie von António Quadros: Fernando Pessoa, A Obra e o Hörnern, Arcádia, Lissabon 1960. pp. 194—96.

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Sinn des Wortes, „Riegel, Eisenstab", mit hinein? Der Dichter läßt uns kaum Zeit für solche hintergründigen Deutungen, denn gleidi fährt er ruhig weiter und, als gäbe er uns bloß ein Synonym, sagt er, er schaue „in die unbestimmte Ferne, ins Grenzenlose". Ehe er etwas im Blick festhält, sieht er sich als ins Unbestimmte und Grenzenlose blickendes Bewußtsein, als Eingang zum Meer der noch unfaßbaren Wirklichkeit. Doch ein Schiff nähert sich langsam, weit außen, dem Hafen, ein kleines, bescheidenes Postsdiiff. Gleich dem seltsamen Schiff in Antonionis Fabel, die er seinem Film „Deserto Rosso" einzufügen verstand, bringt dieses Schiff durch sein Erscheinen etwas Neues, ist es Träger einer Botschaft. Diese scheint sich an jemand zu richten, denn das Boot steuert in Richtung des Schauenden. Im weiten Raum der Gewässer bahnt sich eine Bewegung an, deren Ziel der freilich noch nicht erreichte Hafen ist. Mit ihr erwacht Leben auf dem Meer, und die Welt Pessoas fängt an, sich zu drehen. „Alle Welt" starrt gespannt auf das kommende Schiff, von dem sich der Tag sein Licht, das Wasser seine Bewegung, der Wartende am Ufer ein verheißendes Wort verspricht. Das Bewußtsein Pessoas erwacht somit als schauendes und gleichzeitig •wünschendes Denken, das auf Verlängerung dieses Schauens hofft und nach Bestehen strebt. Der hier beschriebene Hafen ist also weniger der Ort einer Ausfahrt, als vielmehr Ziel und Endpunkt einer Einfahrt. Es ist der Ort, wo die von weither kommenden Schiffe ihre Fahrt vollenden, wo alle Bewegung zur Ruhe kommt, ähnlich dem Strömen des Flusses Tejo, der hier, vor den Toren Lissabons, zu Meer wird. 5 Einfahrt oder Ausfahrt, Meer oder Fluß, schon befinden wir uns in Widersprüchen gefangen. Und vom kleinen Dampfer, der — kaum ist er am Horizont aufgetaucht — sich ans Ankern macht, bleibt nur noch eine dünne Rauchspur auf der sich wieder leerenden Wasserfläche zurück. Os paquetes que entram de manhä na barra Trazem aos meus olhos consigo O misterio alegre

6

e triste

d e q u e m chega

e

parte.*

Bei mehreren Dichtern gewinnt das Motiv der Ein- oder Ausmündung (FlußMeer, Fluß-See) tiefere Bedeutung. Als Versöhnung des Kleinen und des Großen in Hölderlins Rheinhymne (Str. 15), als Harmonie von Bewegung (Zeit) und Ruhe (Ewigkeit) in Manzonis „Promessi Sposi" (Einleitung) oder ganz anders wieder in Gongoras barocken „Soledades" (II, 1—15), wo die seltsame Vermischung des Süß- mit dem Salzwasser den Ubergang NaturKunst versinnbildlicht. Pessoa sieht darin weniger einen Ort der Metamorphose als vielmehr eine von Anfang an bestehende Mehrsdiiditigkeit von Ebenen und eine Komplexheit in den Beziehungen des Bewußtseins mit der Außenwelt. « OP, p. 315 (A. de Campos).

2 Güntert, Pessoa

18

I. Narziß am Brunnen Die Postschiffe, die morgens in die Reede einfahren bringen meinen Augen das heiter-traurige Geheimnis von Ankunft und Abfahrt.

Pessoas dichterisches Bewußtsein, das sich in diesem kommenden und schwingenden Boot erfährt, ist vorerst unmittelbare Zukunft und nicht Gegenwart, Annäherung und nicht Nähe; zugleich aber ist es schon wieder Entfernung und Abwesenheit, nur Gegenwart wird es nicht. Zwischen dem Schiff und dem Betrachter am Ufer ist Distanz, die — falls das Schiff nicht einläuft — unüberbrückbar bleibt. Die Hafenmauer, anstatt Wasser und Land zu verbinden, wirkt in Pessoas Gedicht trennend und begrenzend. Man mag uns vorwerfen, den Anfang des pessoanischen Denkens in der Dichtung eines später enstandenen Pseudonyms gesucht zu haben. Tatsächlich hat Pessoa die „Ode Maritima" erst 1914, dem Entstehungsjahr seiner Masken oder Pseudonyme, gedichtet. Im Jahr zuvor war ein eigennamig unterschriebenes Gedicht, welches mit unserem ersten Zitat vieles gemeinsam hat, entstanden : Olho o Tejo e de tal arte Que me esquece olhar olhando E subito isto me bäte De encontro ao devaneando — O que ê ser-rio, e correr? O que é estâ-lo eu a ver? 7

Idi seh' den Tejo solcherart: im Sehen mich ganz versehend und unvermittelt stellt sich meinem Träumen dies entgegen — Was heißt Fluß-Sein und fließen? Was heißt da-sein und es sehen?*

Das Auge des Dichters ist auch hier auf das Wasser gerichtet, doch wird dieses nicht näher beschrieben. Seine Aufmerksamkeit gilt nicht dem Naturschauspiel, sondern der eigenen Art zu sehen. Er ist dermaßen auf sein eigenes Sehen konzentriert, daß ihm das Bild des Flusses wieder entschwindet. Statt dessen schlägt dem Dichter ein plötzlicher Gedanke entgegen, der ihm seine Verschiedenheit von den gesehenen Dingen vorhält. Er sieht sich der Wirklichkeit entzogen, als wäre diese wie ein Scheinoder Spiegelbild jäh verschwunden. Sekundenlang verschwindet der Fluß, verliert der Denkende die Verbindung zur Außenwelt. Dadurch wird er des Abstands und zugleich der Wesensverschiedenheit von Bewußtsein und Fluß, von Denken und Sein gewahr. Sein Denken wirft sich vor ihm auf gleich einer Mauer. Jenseits dieser Mauer scheint es lebendige Kontinuität, diesseits jedoch nur Spiegelung und Unterbrechung zu geben. Anstatt die Dinge an sich herankommen zu lassen und in sich aufzunehmen, widerspiegelt sie das Bewußtseins Pessoas. Das Spiegelbild aber zieht Un Wirklichkeit oder Trennung mit sich: entweder wähnt sich 7

OP, p. 111. „Je suis étant, et me voyant; me voyant me voir, et ainsi de suite" sagt Valérys Monsieur Teste, der diese Spiegelung in ähnlicher Weise erlebt. Cf. Marcel Raymond, De Baudelaire au Surréalisme, Paris 1952, p. 154.

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das Bewußtsein, ohne sich selbst zu erfassen, mit den Erscheinungen identisch, oder es erkennt sich als stets abwesendes und unversöhnlich andersartiges. Ein Zwiespalt charakterisiert Pessoas Denken, wie wir sehen werden, von allem Anfang an. Zwar gehört die Spannung zwischen Außen- und Innenwelt zum Erlebnis eines jeden Dichters, wie überhaupt jeder Mensch diesen Konflikt einmal oder immer wieder regeln muß. Der Dichter ist ja wohl immer, bevor er spricht, ein Sehender. Auf Schritt und Tritt begegnen ihm im gewohnten Alltag, ohne daß sich dieser im geringsten veränderte, Strukturen, Bilder, Konfigurationen von seltsamer Art und tiefer Richtigkeit. Dichtung als die ursprüngliche K r a f t solchen neuen Sichtens eines tieferen Seins im Seienden erweist sich damit als ebenso Welt entdeckend wie Wirklichkeit begründend. Der Gegensatz von Ich und Welt, Innen und Außen, scheint in diesem dichterischen Sichten vorübergehend aufgehoben. Was uns zu Pessoa hinzieht, ist die nur ihm eigene, unverkennbare Art des Welterlebnisses, die sich für uns sichtbar in seiner Sprache niederschlägt. Als Dichter und nicht als philosophischer Denker spürt er intuitiv, wie vor ihm so viele im 19. Jahrhundert — Schopenhauer, Kierkegaard, Flaubert, Nietzsche, aber auch Marx 8 —, daß das Denken nicht erst beim Geist anfängt, sondern in der Wirklichkeit wurzelt. Die Dichter, die englischen und deutschen Romantiker insbesondere, hatten dies längst geahnt, ohne ihren Erfahrungen eine systematische oder doktrinäre Straffung zu geben. Zu Lebzeiten Pessoas setzen sich allmählich Diltheys und Bergsons Lebensphilosophien durch. Als Reaktion auf die „Verdinglichung" der Welt weitet sich indessen die K l u f t zwischen Geist und Seele, zwischen positivem Wissen und Erleben, und schließlich drängt sich um die Jahrhundertwende die altbekannte romantische Spannung Leben-Kunst von neuem in den Vordergrund. Frankreich und England machen, mit zum Teil anderen Vorzeichen und geringen zeitlichen Verschiebungen, eine ähnliche Entwicklung wie Deutschland durch. Die ästhetisierende Haltung der Präraffaeliten, die dem Traum verpflichtete Poetik der Symbolisten sowie die ganze vielgestaltige „l'Art-pour1'Art"-Bewegung wirken mehr oder weniger direkt in die deutsche „Neuromantik" und in den Jugendstil hinein.9 So erklären sich — allen VerSchon der junge Marx will ja, im Gegensatz zu Hegel, die Idee „im Wirklichen selbst" suchen, so im Brief an seinen Vater vom 10. X I . 1837; Cit. bei A. Hübscher: Deutsche Geisteswelt, vol. II, p. 11, Darmstadt 1958. ® Hier geht es um allseits bekannte Themen der vgl. Literaturwissenschaft, die in jeder neueren Lit.geschichte nachgeschlagen werden können. Pessoas Urteil über die genannten Strömungen — deutsche Dichter kannte er nur in sehr beschränktem Maße — finden sich erstmals dargestellt in: A N o v a Poesía Portuguesa, in „A Águia", II. Serie, N r . 4, 5, 9, 11 und 12, Porto 1912, abgedruckt in: A N o v a Poesia Portuguesa, Ed. Inquérito, Lissabon 1944. 8

2*

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sdiiedenheiten zum Trotz — seltsamste Bezüge zwischen Dichtern und Künstlern jener Epoche, auch wenn sie sich nie gekannt haben. Vergleicht man etwa den Anfang der „Ode Maritima" und die Problematik, die sie einschließt, mit frühen Gedichten Rilkes, den „Liedern der Mädchen" beispielsweise, so ergeben sich augenscheinliche, ja verblüffende thematische Parallelen. 10 Die gesellschaftlich-kulturellen Voraussetzungen in Portugal, zu Anfang dieses Jahrhunderts, lagen zwar anders, doch hatte auch hier bei der geistigen Elite der Kulturpessimismus Fuß gefaßt und sich bei auffallend vielen Dichtern (allen voran Antero de Quental, dann bei Antonio Nobre, Gomes Leal, den Saudosisten usw.) mit dem einheimischen Weltschmerz, der „Saudade", vermählt. 11 Als Dichter mit europäischem Horizont muß Pessoa, trotz der Randsituation seines Landes, trotz der eigenen, jahrelangen Abgeschiedenheit, zweifellos von diesen Zusammenhängen her beleuchtet werden. Im frühesten portugiesischen Gedicht, das wir von Pessoa kennen, einem vereinzelten, vom vierzehnjährigen Gymnasiasten gewagten Versuch, zeigt sich in noch ungelenker Sprache eine ähnliche Diskrepanz oder vielmehr eine Spannung zwischen hier und dort, nun und ehemals. Der junge Dichter sieht sich am Fenster sitzen und durch eisbeschlagene Fensterscheiben auf ein vorbeigehendes Mädchen blicken. Der Akzent liegt auf dem Moment des Vorübergehens. Mit der dreifachen Wiederholung: „Ela passa, passa, passa . . . " , möchte der junge Pessoa diese Erscheinung in ihrer Gegenwart beschwören. In der folgenden Strophe aber, bei gleicher Ausgangslage, bleibt die Vorübergehende aus, als wäre sie für immer verschwunden. Julgo ver a imagem dela. Q u e já nao passa . . . nao passa." 1 2

Ich glaube (noch), ihr Bild zu sehen — Doch sie kommt n i c h t , . . . nicht mehr.*

Diese frühen Verse des High-School-Studenten sind dichterisch von geringer Bedeutung. Aus verschiedenen Gründen aber erscheinen sie uns 10

11

12

Vgl. aus den „Liedern der Mäddien": „Die Mädchen sehn: der Kähne Fahrt / kehrt fernher hafenein, / und schauen scheu und dichtgepaart, / wie schwer das weisse Wasser ward /: denn das ist so des Abends Art, / wie eine Angst zu sein." R. M. Rilke, Sämtl. Werke, I, Insel-Verlag, 1955, p. 174. Siehe vor allem: Antero de Quental: Prosas, 3 vol., Coimbra 1923, 1926, 1931, insbesondere den Artikel: Tendencias gerais da filosofia na seg. metade do sáculo X I X . Wertvolle Hinweise finden sich in den Aufsätzen von Joel Serráo: Temas Oitocentistas, vol. II, Lissabon 1962, spez. im 3. Kapitel: Em torno da experiencia oitocentista do tedio; Temas de Cultura Portuguesa, vol. II, Lissabon 1965. Ferner: A. J . Saraiva und O. Lopes: Historia da Literatura Portuguesa, 4. Aufl., Porto 1963, besonders pp. 823—962.

OP, p. 103.

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I. Narziß am Brunnen

aufschlußreich. Thematisch geht es um den Verlust einer geliebten Person: ist es die ein J a h r zuvor verstorbene Stiefschwester, wie Joäo Gaspar Simoes meint 13 , oder gar eine noch tiefer liegende Erinnerung an den toten Vater? Aus den Worten spricht ein Bedauern ob der „verlorenen Zeit" und das Angstgefühl eines jungen Menschen, der die Vergänglichkeit alles Zeitigen erfahren hat. Trotzdem wirken diese Verse, bei näherem Zusehen, allzu abstrakt. Wenn sie tatsächlich im Mai 1902 auf den Azoren verfaßt wurden, so muß die ihnen eignende Stimmung umso mehr verwundern. Die von Schnee und Eis belegten Fenster (auf den Azoren?) lassen sich zwar assoziativ mit der engelhaften Erscheinung der Vorübergehenden in Verbindung bringen, weisen aber deutlich auf die starke Introvertiertheit des Kindes hin, das von seiner Umwelt, von der näheren Umgebung, kaum etwas aufnimmt. Auch zwei englische Gedichte aus dem Jahre 1901 — wenn man den von Pessoa selbst gesetzten Daten Glauben schenken darf 1 4 — bestätigen diese Thematik, gemäß der Vergangenes und Gegenwärtiges verglichen werden. „Separated from thee . . . " , beginnt das eine, einer entschwundenen Jugendliebe (a simple boyish passion) gewidmet. „Anamnesis", Erinnerung, heißt das andere, dessen platonischer Titel auf die erste Griechischlektüre hinweist. Die in sorgfältiger Schülerschrift hingesetzen Verse sprechen von einem verlorenen, untergegangenen Traumleben, vom glücklichen Reich der Seelen vor ihrer Irdischwerdung. Wenn schon der Dreizehnjährige dem vergangenen Glück nachtrauert, so darf man Pessoas Jugend wohl kaum als glücklich bezeichnen. Dies wird übrigens von den meisten Biographen bestätigt 15 . Der Kindheit noch nicht entwachsen, vermißt Pessoa schon die lichte Traumwelt der ersten, noch unbewußten Lebensjahre, weil ihm vor dem bewußten Leben der Erwachsenen graut. Doch haben auch für ihn, wie er sich selber ausdrückt, Tag 13

J. G. Simoes, Vida e Obra de Fernando Pessoa, vol. I, p. 61 und ff., Lissabon, s. d. (1951).

14

O P , p. 621/22. Datum: 1 2 . 5 . 1 9 0 1 . Pessoa hat datiert und vermutlidi fast alle aufbewahrt.

15

J . G. Simoes, op. cit., übersdireibt das 2. und 3. Kap. seiner Biographie „Das Kind seiner Mutter" (nach einem gleichnamigen Gedicht aus dem Jahr 1925, dem Todesjahr von Pessoas Mutter) und „Der Eindringling", um damit die psychologische Situation des Kleinkindes zu kennzeichnen. Vgl. vor allem pp. 15—44. Ant6nio Quadros, Fernando Pessoa, A Obra e o Hörnern, op. cit., ist eher geneigt, Pessoas Kindheit als „glücklich" oder doch als normal („uma infäncia banal") zu bezeichnen. Aufschlußreich für die Gedanken des jungen Pessoa ist in erster Linie seine frühe, englisch verfaßte Bekenntnislyrik, die er dem Pseudonym Alexander Search ( = der Sucher?) unterschiebt. Darüber orientiert nun G. R . Lind, Die englische Jugenddichtung F. Pessoas, in „Aufsätze zur portugiesischen Kulturgeschichte", Bd. 6, Münster 1966, pp. 1 3 0 — 6 3 .

die meisten

Manuskripte

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und Nacht endgültig begonnen: „My childhood before Night und Day!" 1 6 Tag und Nacht, die sich nicht mehr vereinen, bedeuten ewiges Getrenntsein. Was jetzt ist, schließt aus, was vorher war, so wie die Nacht den Tag verneint. Das flüchtige Vorbeiziehen der Dinge vor dem Fenster seines Bewußtseins gilt nicht nur für die äußere Wirklichkeit. Er selber ist dieses Verfließen, dieses Nicht-mehr-sein. Schon sehr früh erfährt sich denn Pessoa als ein nie faßbares, immer fliehendes, ungleiches Wesen. In einer sechs Sonette umfassenden Komposition aus dem Jahre 1909, geschrieben zu einem Zeitpunkt also, in dem Pessoa sich intensiver als Dichter betätigt, finden wir dieselbe qualvolle Trennung wieder. Wie der Titel sagt, geht es hier um die „Suche nach dem Schönen", nach dem Idealen, so wie es die portugiesischen Symbolisten, Eugenio de Castro 17 etwa, verehrten. Der junge Pessoa aber fühlt sich davon unendlich weit entfernt. Er fügt hinzu, wir seien nicht nur dem fernen Ideal der Schönheit, sondern auch unserer eigenen Seele, die sich uns nie ganz enthülle, fremd. Es bleibe uns nur die Suche, das Verlangen nach dem Schönen und nach der Erkenntnis. Wie qualvoll ist jedoch ein Verlangen, von dem der Dichter zum vornherein weiß, daß es nie gestillt wird. Und schon hier, in diesen ersten dichterischen Versuchen des jungen Pessoa, finden sich Schlüsselwörter wie Nutzlosigkeit, Qual, Langeweile und Traum. Etwa ab 1910 verstärkt sich in Pessoa das Bestreben, jede Art von poetischen Gedanken, jeden Kontakt mit der Realität als „verinnerlichte Landschaft", als Geschehen im Raum, wiederzugeben. Seine Abstraktheit erkennend, wird er sich bewußt, daß in der Sprache eine Vereinigung von Innen- und Außenwelt entsteht, daß im Wort sich Leben und Geist begegnen. Diese Erkenntnis kann nicht genug hervorgehoben werden. Einmal bestätigt sie Pessoas Hang zum Subjektiven, demzufolge alle von außen her kommenden Erfahrungen und Reize ausschließlich der Selbsterkenntnis dienen. Anderseits zeigt sie doch auch den — wenn auch öfters mißglückten — Versuch des Dichters, in der Realität stärker Fuß zu fassen. Dadurch entzieht sich Pessoa, wie ehemals Baudelaire, ein für alle Mal der Gefahr, Bekenntnislyrik, im Sinne der minderwertigen, spätromantischen Poesie, zu schreiben. Der zwischen Leben und Schreiben hinundhergerissene Dichter erkennt in der Sprache etwas Doppeltes: subjektive Regung und Konfiguration einerseits, Medium, „unabdingbare 16

OP, p. 622, Englische Gedichte.

17

Die sechs Sonette Pessoas „Em Busca da Beleza" sind Carlos Celestino Corado gewidmet und antworten dem Dichter E . de Castro auf sein Gedicht „Epigrafe", in dem es heißt: „Procuremos sömente a Beleza, que a Vida / 6 um punhado infantil de areia ressequida, / um som de dgua ou de bronze e uma sombra que p a s s a . . . " Vgl. O P , p. 657, zit. von Maria Aliete Galhoz.

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Beziehung auf Allgemeines" anderseits18. Wenn sich seine seelischen Zustände in den Bildern der Natur, im ruhig daliegenden See oder im weitgedehnten, einsamen Meer spiegeln, so spürt er die Befruchtung dieser Realitäten durch das Imaginäre, erlebt er deren Verwandlung und Entpersönlichung. So ähnlich sagt es später einmal Eugenio de Castro im Sonett „A Beira do Lago": „Entre a paisagem, onde a vista pousa / e o espirito que a ve, risonho ou triste, / mais duma vez, tal concordància existe, / que ver e ver-se a gente é urna só cousa." 19 Der die Landschaft betrachtende Geist, heißt es da, vermähle sich oft derart mit ihr, daß das Hinsehen einem Hineinsehen gleichkomme. Was Eugénio de Castro, dem gegenüber der junge Pessoa eine eher abweisende Haltung einnimmt, in geschwollenen Versen aussagt, findet sich in Pessoas theoretischen Entwürfen zu einer Poetik. Aufschlußreich für die Entstehung dieser Grundmetapher (Seele-Landschaft) sind besonders seine Äußerungen über „moderne Dichtung" 20 . In einem Abschnitt über Ästhetik der neueren portugiesischen Poesie schreibt er, als hätte er ein neues De Vulgari Eloquentia zu verfassen, die moderne Dichtung müsse vage, subtil und komplex sein und erklärt nachfolgend die Bedeutung dieser drei Eigenschaften. Vage sei nidit wirr, sondern beziehe sich auf das Unbestimmbare und Undefinierbare der zu wählenden Objekte. Die Diditung habe sich damit zu befassen, ohne allerdings auf höchste Klarheit im Ausdruck zu verzichten. Vage, aber dunkelsinnig sei der französische Symbolismus21 gewesen, den er als „zu subjektiv und pathologisch"22 abtut, im Gegen18

Vgl. auch Theodor Adorno, Noten zur Literatur, I, in : Rede über Lyrik und Gesellschaft. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 1958.

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Dieses Sonett entstand erst in den letzten Lebensjahren des Dichters. Veröffentlicht wurde es in: Eugénio de Castro, Sonetos Escolhidos, Lissabon 1946, p. 117. Jetzt in A N o v a Poesia Portuguesa, op. cit., aber erstmals 1912 in „A Aguia" erschienen. Siehe vor allem den Abschnitt: A N o v a Poesia Portuguesa no seu aspecto psicològico, pp. 6 1 — 1 0 6 . Pessoa will mit seinem kritischen Urteil weniger die Großen, die aus der symbolistischen Strömung hervorgingen oder sie antizipierten (Verlaine, Mallarmé, Rimbaud), als vielmehr die eigentlidie Sdiule, Moréas und sein Programm, dann auch Dichter wie Samain, Maeterlinck, den früher Verhaeren, etc., treffen. Dasselbe vernichtende Urteil gilt dem portugiesischen Symbolismus, verkörpert in den Werken Eugénio de Castros, während der erst später bekannt gewordene Camilo Pessanha ( 1 8 6 7 — 1 9 2 6 ) von Pessoa höher eingeschätzt wird. Die Lektüre des Wiener Positivisten M a x Nordau (frz. Übersetzungen, z. B. L a Dégénérescence) scheint nicht ohne Einfluß auf Pessoa geblieben zu sein. Schon 1913 modifiziert aber Pessoa seine einseitige Haltung und verwirft Nordaus Schriften, in denen immer wieder die „klassische Klarheit" der Goethezeit gegen die „dekadente, ichbezogene Mystik" der Symbolisten aus-

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satz zur Dichtung des neuen Jahrhunderts, die zugleich vage und bestimmt, erlebt und gedacht sein solle, mit andern Worten, die danach trachten solle, Leben und Denken wiederzuvereinen. Als subtil könne man diejenige Dichtung bezeichnen, die eine einfache Sinnesempfindung mit einem sie belebenden und im einzelnen charakterisierenden Ausdruck wiedergebe. Es gehe nicht darum, äußere Details, etwa die Umrisse, zu schildern, sondern innere Elemente, Gefühle in Poesie umzusetzen, ohne sich von der Sinnesempfindung wesentlich zu entfernen. Pessoa führt hierauf zwei Verse von Albert Samain an, um sie wie folgt zu kommentieren: „Je ne dis rien, et tu m'icoutes / Sous tes immobiles cheveux". „Samain verdoppelt die direkte Empfindung eines dumpfen, nächtlichen Schweigens zu zweit in ein dreifaches Gefühl des Stillseins, dasjenige von zwei sich mitteilenden Seelen und ihrer unbewegten Körper, er fügt aber nichts Neues dazu, als eben diesen verstärkten Eindruck der Stille.. ." 23 . Noch an einem portugiesischen Beispiel, einer Dichtung von Mario Beiräo (geboren 1892) zeigt Pessoa, daß es ihm darum geht, Empfindungen möglichst vielschichtig in ihrer zweioder mehrfachen Dimension zu vermitteln. Schließlich müsse die moderne Dichtung komplex sein, d. h. die Empfindungen sollen einen Ausdruck finden, der sie kompliziere, gerade dadurch, daß er ihnen ein intellektiv-klärendes Element mitgibt. So ausgedrückt, füllten sich die Sinnesempfindungen mit neuem, reicherem Gehalt. Der subtile Ausdruck intensiviere, der komplexe hingegen weite aus und vergrößere. In der subtilen Dichtung werde eine Idee intellektueller, eine Emotion emotioneller dargestellt. Die komplexe Dichtung jedoch wolle die „Vergeistigung der Emotion und die Versinnlichung der Idee". Pessoa erweist sich somit seit den frühesten Jahren seines dichterischen Schaffens als eigenwilliger Theoretiker und scharfsinniger Kritiker, besonders auch des eigenen Schaffens. In einer leider nicht datierten Notiz, erstmals in der brasilianischen Gesamtausgabe erschienen, spricht er über „verinnerlichte Landschaften": 1. Bei jeder geistigen Regung erfolgt in uns eine doppelte Art von Wahrnehmung. Während wir uns eines Seelenzustandes bewußt werden und unsere Sinne nach außen gerichtet und von dort beeinflußt sind, haben wir gleichzeitig eine beliebige Landschaft vor uns, wobei wir unter dem

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M

gespielt wird. Vgl. Pessoas Brief über die eigene Bildung an José Osório de Oliveira, aus dem Jahr 1932, in der literarischen Beilage des „Diario de Lisboa" vom 29. 5.1936 veröffentlicht. Jetzt auch in: Páginas de Estética, op. cit. pp. 158—60. A Nova Poesia Portuguesa, op. cit., p. 71. A. Samain, „Au jardín de l'infante", Heure d'Eté, VI. id., p. 72.

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Begriff „Landschaft" alles, was die Außenwelt in einem bestimmten Moment unseres Wahrnehmens formt, verstehen. 2. Jeder Seelemustand ist eine Landschaft, d. h. jeder geistige Zustand kann nicht nur als solcher dargestellt werden, sondern ist auch wirklich. Es gibt in uns einen inneren Raum, in dem die Materie unseres psychischen Lebens sich regt. So ist die Trauer ein stiller See, die Freude ein sonniger Tag in unserem Geist. Und selbst wenn man nicht will, daß jeder Geisteszustand eine Landschaft ist, so muß man doch zugeben, daß ein jeder durch eine Landschaft versinnbildlicht werden kann. Wenn ich sage „Sonne scheint in meinen Gedanken", wird niemand dabei verstehen, meine Gedanken seien traurig. 3. Wenn wir nun gleichzeitig von der äußeren Realität und von unserem Geist Bewußtsein haben, und unser Geist eine Landschaft ist, so werden wir zugleich zwei Landschaften gewahr. Diese aber fallen zusammen, durchdringen sich gegenseitig, so daß unser Gemütszustand, wie immer er sein mag, von der geschauten Landschaft ein wenig beeinflußt wird. An einem sonnigen Tag kann ein betrübtes Herz nicht so traurig sein wie an einem Regentag. Doch auch die äußere Landschaft erfährt eine Beeinflussung von unserem Gemütszustand. Zu allen Zeiten schrieb man, besonders in Versen, Dinge wie: „Die Geliebte ist fern, und die Sonne will nicht scheinen" und ähnliches mehr. Aus diesem Grund muß diejenige Kunst, die nach einer guten Darstellung der Wirklichkeit strebt, diese in simultaner Darstellung der inneren und äußeren Landschaft wiedergeben. Daraus ergibt sich, daß sie versuchen muß, den Schnittpunkt der beiden Landschaften zu finden. Es müssen zwei Landschaften sein, aber möglicherweise — falls man nicht zugibt, daß Gemütszustände Landschaften sind — wird man nur den Schnittpunkt eines „Seelenzustandes", (eines bloßen Gefühls also), mit der äußeren Landschaft suchen... Das lange Zitat scheint uns insofern berechtigt, als wir Pessoas Poetik durch eine ausführliche Beschreibung dieser Grundmetapher um einen Schritt näher kommen. Im gleichen Zusammenhang gibt Pessoa seiner Überzeugung Ausdruck, daß die Dichter seiner Zeit, besonders seit der Romantik, seit Poe und Baudelaire, mehr und mehr ihre eigenen Kritiker sind und sein müssen, wenn sie neue Wege begehen wollen. Indem er betont, jede Form, jede dargestellte Landschaft seiner Dichtung sei auch Gemütszustand, d. h., subjektiver Gedanke, kommt er der phaenomenologischen Betrachtungsweise, der wir uns in dieser Studie anvertrauen, entgegen. Die dichterische Aussage ist objektiv und subjektiv zugleich. Die sprachlichen Mittel versuchen den geistigen Strukturen des Denkenden gerecht zu werden. Oder wie es schon Coleridge sagte 25 , dem Pessoa manche Anregung verdankt: „In jedem Kunstwerk ist Versöhnung von 85

Coleridge, Poe und Oscar Wilde werden einmal als geniale Poeten und Kritiker gewürdigt. Vgl. F. Pessoa: Páginas de Estética e de Teoria e Crítica Literárias, herausgegeben von G. R. Lind und J . do Prado Coelho, Lissabon 1966, p. 243.

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Äußerem und Innerem; das Bewußte prägt sich so im Unbewußten, um sich darin zu offenbaren." 26 Erscheint die poetische Sprache fähig, dieser „inneren, geistigen Landschaft", dem Raum der Gedanken, Gestalt zu verleihen, so wird sie ihrerseits zum Weg der Erkenntnis und der Deutung. Vielleicht kann die Kunst das wiedergeben, was uns die Wirklichkeit, das Leben, vorbehält. Der poetische Text soll aber für Pessoa, im Unterschied zu den Romantikern, eher aus der Analyse des Gefühls als aus dessen Widerspiegelung leben. Durch derartige Forderungen stellt sich Pessoa selbstbewußt in die Neuzeit, obschon er die Grundlagen dafür bei den introspektiv orientierten englischen Romantikern gefunden hatte. Außer an Coleridge mögen die obigen Ausführungen über die versöhnende Kraft der Sprache an die doppelte Naturschau bei Wordsworth erinnern. Dem Dichter der „Prelude" ermöglicht es seine Sehweise, die Landschaften sowohl als „objektiv Seiendes" wie auch als Übergang zu einer eigentlicheren, hinter der sichtbaren Natur liegenden Welt zu erfassen27. Bei Wordsworth wie bei Pessoa ist der Weg der Dichtung ein Sehertum des Seienden, die Abbildung der unerschöpflichen Komplexheit jener lebendigen Verhältnisse und Bezüge, die zwischen der Natur und dem Leben, den Erscheinungen der Seele und des Denkens hin und her gehen, in denen der Mensch und die Welt, das Ich und das Seiende, in der Begegnung eins wird. Wordsworth's Naturstimmungen, ihr Zwielicht, ihr ferner, im Westen versinkender Horizont, der den Betrachter zum träumenden Verweilen einlädt, scheinen gewissen Momenten Pessoas nicht unähnlich zu sein, doch verfremdet dieser die „Stimmung" sogleich, und verneint sie. Aus dem transzendenten Sehen bei Wordsworth, der die Natur bestehen läßt und durch die Dinge selber zur tieferen Einsicht über ihr Wesen gelangt, wird bei Pessoa ein Licht- und Schattenspiel von Nichts und Wirklichkeit. Wenn wir uns den Gedichten dieser frühen Jahre zuwenden, so finden wir das Ergebnis unseres Vergleichs bestätigt. Deutlich wird dieses Auf und Ab der Pessoaschen Naturerscheinungen im Bild der Welle, wie es uns die erste Strophe von „Mar. Manhä" (1909, „Meer. Morgen", d. h. Raum und Zeit), ein „orthonymer" Vorbote der Meeresode, zeigt. 28 26

S. T. Coleridge, Essay on the fine arts, in F. Farley's Bristol Journal, 1814.

27

Vgl. die Studie von P. De Man, Symoblic landscape in Wordsworth and Yeats, in: In Defense of Reading, Dutton, Inc., New Y o r k 1962, p p . 2 2 — 3 7 .

28

OP, p. 105. Pessoas Frühstil interessiert sidi für die Wellenlinie, die Serpentine und entbehrt in auffallender Weise einer gewissen Tiefe. Damit trifft er sich mit einer ästhetischen Tendenz der Epoche, dem Ästhetizismus des „Art Nouveau", des Jugendstils, cf. Anmerkung 9 ; in diesem war die sdilangenartig erregte Wellenlinie ein wesentliches Stilelement. Ein Beispiel: „Como uma cobra que em serenas / dobras se alongue a colear" (OP, p. 106).

I. Narziß am Brunnen Suavemente grande avança Cheia de sol a onda do m a r ; Pausadamente se balança, E desce como a descansar."

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Sanft und groß naht vom Meer voller Sonn die Welle heran. Zögernd wiegt sie sich hin und her und senkt wie zur Ruh sich dann/'

Anders als bei Wordsworth, anders auch als bei Shelley oder Keats, denen die Natur Ausgang und Übergang zur Idee bedeutet, ist Pessoas Naturschau weniger ein Deuten als ein Sehen, ein Re-flektieren, das Spiegeln eines Bewußtseins, das sich im Spiegelbild erfährt und zu bestätigen hofft. Der ferne Horizont seiner Naturbilder rundet die Landschaft Pessoas weder ab noch deutet oder vertieft er sie, er läßt sie im Nichts verlaufen. Ohne Tiefe wirkt die Weite dieser Natur nicht anziehend, sondern befremdend. Und immer wieder zerfällt oder vergeht das Geschaute, da sich zwischen dem Denken und dem Gedachten Distanz einschiebt. „Nur sehen wollen, das hält noch beiseite. Nimmt auf und hin, was ins Auge fällt. Zwar kann auch der Blick wandern, aber er faßt nichts an, wenn er bloß auffasst. Der nur Betrachtende ist ruhig, und je mehr er sich so hält, desto ungestörter, auch unstörender kann er betrachten. Hierbei hält er sich eben für sich, berührt nichts."29 So weit Ernst Bloch in seiner Tübinger Einleitung in die Philosophie. Auch Jean Starobinski zeigt in seinen Essays zur Literatur 30 überzeugend, daß der Gesichtssinn von allen Sinnen am meisten Abstand schafft. Abstand nicht nur von den Dingen, sondern auch vom eigenen Ich. „De quem é o olhar Que espreita por meus olhos? Quando penso que vejo, Quem continua vendo Enquanto estou pensando? 91

Wessen ist der Blick, der durdi meine Augen schaut? Wenn ich denke, daß ich sehe, Wer fährt dann fort zu schauen, während ich denke?*

Daß Pessoas Welt nur selten die durchdringende Gegenwart der Düfte, berauschende Farben und Klänge oder gar die massige Unmittelbarkeit des Geschmack- und Tastsinns kennt, scheint uns bezeichnend. Sein Denken ist vor allem ein Sehen: Wie das Sehen schafft es Abstand, wir haben es mit einem nicht sehr sinnlichen, sondern mit einem betont intellektuellen „Denken" zu tun. Pessoa schreibt vom Schiff nicht, es nähere sich, er sieht es kommen. Sogar vom Wind wird er einmal sagen, „er komme, das Meer zu sehen"32. Das unmittelbar Sensorielle genügt ihm nicht, es ist ihm zuwider. Nie erlebt er die Dinge in ihrem aufdringlichen Gewicht, er sieht sie vielmehr von weitem erscheinen. Und in ihnen betrachtet sich sein Bewußtsein aus der Ferne. 11

30 31 32

Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, II, p. 7, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. Main 1964. Jean Starobinski, L'oeil vivant, Paris 1961. OP, p. 132. O P , p. 129.

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Einem Bewußtsein, das sich selber nur aus Distanz sieht und doch alles versucht, um sich selber zu erkennen, entspricht die Haltung des in sich versunkenen Narziss' am Brunnen, der über seinem Spiegelbild die Welt vergißt. Wie der frühe Mallarmé, der sein reines Denken im Spiegel des Bewußtseins reflektiert sieht, so neigt sich Fernando Pessoa über die Dinge, die Dinge selbst vergessend. Was zurückbleibt, ist ein leerer Reflex, ein Bild, das sich vernebelt, ein Nebel, der sich im Nichts verzieht: „Ärvore verde Meu pensamento Em ti se perde Ver é dormir Neste momento." 33

Grüner Baum Mein Gedanke verliert sidi in dir — Sehen ist schlafen in diesem Augenblick.*

Anders als Keats 34 , der im verzauberten Hinblicken auf einen schönen Gegenstand seine Identität an das Objekt vergibt, verliert Pessoa auch gleich das Objekt unter seinen Augen. Aus dem grünen Baum, der mit seiner leuchtenden Farbe Leben in sich trägt, wird eine Silhouette, bevor auch diese in die Nacht zurückfällt. In „Chuva Obliqua" werden die Feldblumen erst weißlich wie Segel, bis sie sich mit ihnen im Meer verlieren. Etwas ähnliches vollzieht sich an Pessoas Bewegungen: „Contemplo o lago mudo Que uma brisa estremece. N a o sei se penso em tudo Ou se tudo me esquece." 35

Ich betrachte den stummen See, den eine Brise erzittern läßt. Idi weiß nicht, ob ich das alles denke oder ob all das midi vergißt.*

Diese Strophe stammt aus einem späten, um 1930 entstandenen Gedicht. Es soll zeigen, wie beharrlich Pessoa seit den ersten Werken — wenigstens im eigennamigen Dichten — seinen Themen verhaftet bleibt. Die Außenwelt ist ihm Spiegelbild, eine dem reichen, unfaßbaren Innenleben nie ganz gleichwertige Entsprechung. Stumm und nichtssagend erscheint das Bild des Betrachters an der Wasseroberfläche, auf die sich das Bewußtsein projiziert. Gaston Bachelard hat in seinen wertvollen Studien über die Phänomenologie des Wassers36 auf die Zusammenhänge zwischen Narzissmus, Traum und Täuschung hingewiesen. Luis de Montalvor (1891—1947), zeitgenössischer Dichter, Freund und Mitarbeiter Pessoas am „Orpheu", hat diese Seite der Pessoaschen Natur erkannt. Nicht umsonst hat er ihm das Gedicht „Narciso" gewidmet und 33

OP, p. 525. Vgl. Richard Harter Fogle, Einleitung zu J. Keats, Selected Poetry and Letters, N e w York 1964. Darüber auch B. Linnartz, Alberto Caeiro als Antipode Fernando Pessoas, in „Romanistisches Jahrbuch", XVII, Hamburg 1966, pp. 323—342. 35 OP, p. 151. 3 ' G. Bachelard, L'eau et les rêves, Paris 1942.

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es in der zweiten Nummer jener Zeitschrift veröffentlicht. Besser als manchem Kritiker gelang es diesem an Mallarmé geschulten Lyriker, Pessoas Art richtig zu sehen. So heißt es in „Narciso": „ . . . M a s esti a sombra que näo vejo / depois e antes de mim, e, se afundo o olhar na ànsia / de me ver, só me vejo ao colo da Distäncia!" 37 Und anderswo im gleichen Gedicht: „Na paisagem do ser corre um rio sem fim / Os meus gestos säo corno a outra margem de mim." 38 Jedes neue Erwachen des Bewußtseins ist bei Pessoa ein Blick auf den Spiegel. Bei jeder Regung erscheint ein neues, verändertes Spiegelbild, so daß sich eine sukzessive, aber unzusammenhängende Spiegelung ergibt, in der die Gegenstände auftauchen und verschwinden. Der Gedanke spiegelt nicht nur den Gegenstand seines Inhalts, sondern auch sich selber. Sprachlich äußert sich dieses Re-flektieren in paradox anmutenden Konstruktionen, einem der häufigsten Stilmittel unseres Dichters: „Olho . . . que me esquece olhar olhando"ia „A minha consciència de ter consciéncia de ti é urna prece" 4 0 Mein Bewußtsein, von Dir Bewußtsein zu haben, ist ein G e b e t . . .

mover estàvel.. ."41 „ó horror paradoxal deste pensar

„com um

" 42

Hinter soldi verwirrenden, ja beängstigenden Verdoppelungen steckt anscheinend eine dramatische Geisteshaltung, die um Ausdruck ringt, ohne den Knoten der Verwirrung lösen zu können. Immer wieder tastet Pessoa die Sprache nach neuen, kühneren Möglichkeiten ab, um seiner Beklemmung Luft zu schaffen. Die syntaktischen Experimente des Dichters gehen sehr weit und erheischen besondere Beachtung. Es geht hier um Ernsteres als um bloße Wortspiele. Im zweiten Zitat etwa wird diese Spiegelung zum Ausdruck des Nie-Erreichten. Das Denken Pessoas wird da „Gebet, Bitte", unersättliches Verlangen. Je mehr er denkt, desto weiter zurück bleibt sein Denken in bezug auf das Leben, auf die unermeßliche Größe des Seins. Je klarer, je schärfer der Gedanke, umso abstrakter, aber auch unwirklicher und leerer das Bild. Viver-pensar, sentir-pensar, usw. sind 37

38

39 40 41 42

Luis de Montalvor, Poemas, Jardim da Poesia, P o r t o s. d., p. 24. „Aber da ist der Schatten, den idi nicht sehe / vor und hinter mir und, versenke ich den Blick in Sehnsucht, / midi zu sehen, so sehe ich midi nur von der Distanz umschlungen." id., p. 26. „In der Landschaft des Seins fließt ein Fluß ohne Ende / Meine Hände sind wie mein anderes Ufer . . OP, p. 111. O P , p. 111. O P , p. 106 „mit einer ruhenden Bewegung". O P , p. 470 aus dem Ersten Faust, Teil II. „O schreckliches, paradoxes Denken . . . "

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unüberbrückbare Gegensätze, die auch die Sprache nur mit Kunstgriffen bewältigt. Was bleibt Pessoa anders übrig, als zu warten und zu hoffen, daß sich der Wasserspiegel bewege oder trübe, daß sich die abweisende Glätte in irgendeiner Weise lockere und sich ihm zugänglich zeige? So harrt denn das Bewußtsein des Augenblicks, der die Art seines Denkens verändere und verschiebe. In den einzelnen Gedichten klingt so anfänglich immer wieder Hoffnung und Erwartung an. Im folgenden vermeinen wir nochmal Zeilen der Meeresode zu hören. Das Gedicht ist jedoch dem späten Alvaro de Campos zuzuschreiben: „Vai pelo cats fora um bulicio de chegada próxima Comejam chegando os primitivos da espera Ja ao longe o paquete de Africa se avoluma e esclarece." 43 Auf dem Kai draußen herrscht Aufregung baldiger Ankunft Die ersten Wartenden finden sich allmählich ein. Weit draußen zeichnet sich schon hell und klar das Postschiff aus Afrika ab . .

Nicht weniger zuversichtlich klingt der Auftakt zu einem Gedicht des orthonymen Pessoas aus dem Jahre 1910: „Ó naus felizes, que do mar vago Volvéis enfim ao silencio do porto Depois de tanto nocturno mal —" 44

Glückliche Schiffe, die ihr endlich vom weiten Meer zum stillen Hafen findet, nach so viel nächtlichem Irren . . .*

Die Wartenden am Hafen beugen sich ungeduldig über die Hafenmauer. Von der See her naht langsam das angekündigte Schiff. Wird es wohl doch noch einfahren? 43 44

OP, p. 413 (Alvaro de Campos). OP, p. 107.

U p o n the sodden ground His old right hand l a y nerveless, listless dead, unsceptred; and his realmless eyes w e r e closed. (J. Keats, Hyperion)

II. Kronos: Die entthronte Zeit Und wirklich, von Zeit zu Zeit scheint sich der lautlose Wasserspiegel in Narziss' Brunnen zu bewegen. Wie von einem leisen Schauer überrascht, beginnen sich Wellen abzuzeichnen. Das Spiegelbild wird weicher, undeutlicher, als ob das Licht der Außenwelt sich mit dem Wasser vermengen würde. Ein geheimnisvolles Schattenspiel huscht über die Wellen, auf denen die Strahlen erzittern: Treme em luz a agua Mal vejo.1

Es zittert das Wasser im Licht kaum seh idi's*

Alles bewegt sich, auch das Bild vor des Dichters Augen. In dieser Undeutlichkeit, im zitternden Zwielicht, lebt etwas Neues auf. Die plötzlich entstandene Bewegung verheißt neues Leben. Wie in der Meeresode das Schiff den anbrechenden Tag begleitet, so entspräche dem Erwachen des Bewußtseins als Zeitbestimmung am ehesten der Morgen. Der Morgen kündet sich beispielsweise hier mit dem leisen Gezwitscher eines Vogels an: Leve, breve, suave U m canto de ave Sobe no ar com que principia O dia.

Leicht, kurz, sachte steigt Vogelsang in die L u f t und mit ihm beginnt der Tag.

Escuto, e passou . . . Parece que f o i so porque escutei Que parou. 2

Idi h o r c h , . . . und vorbei ist's N u r weil ich horchte, scheint es, bradi es ab.*

In solchen Augenblicken ist Pessoa ein Diditer feinster klanglicher Nuancen. Sein Ton ist bald verhalten, zart, bald dumpf ausklingend. Um seine Dichtung zu erfassen, muß der Leser hinhorchen können. Nicht der Gesichtssinn, sondern das etwas feinere Gehör nimmt hier das Neue wahr. Gleich dem aufsteigenden Flug einer Lerche im heiteren Frühlingsmorgen erhebt sich heller Gesang. Doch sind es bloß wenige Töne, kurze und rasch verklingende Noten, die an unser Gehör gelangen. Das leise Singen 1 8

OP, p. 142. OP, p. 140. Hier der Versudi einer Nadididitung: Schwebend, bebend, hebend / steigt Vogelsang / in die L u f t und der Tag / hebt an. Ich h o r c h , . . . und vorbei ist's. N u r weil ich horchte, scheint es, / setzt' es aus.

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II. Kronos: Die entthronte Zeit

scheint von Anfang an unsicher und bedroht, im Singen hallt schon das Verklingen mit. Wie das uns täuschende Geistersdiiff der „Ode Maritima", so ist die Botschaft dieser Töne zugleich Verkündigung und Verneinung. Die Freude, die Hoffnung weichen einem schmerzlichen Gefühl des Fernseins und der Verlorenheit. Die Schuld dieser plötzlichen Verdüsterung liegt jedoch am hinhorchenden Bewußtsein. Sobald dieses sich auf die feinen Töne richtet, sobald es sie denkt, verklingen sie, und mit ihnen schwindet ein Hauch von Glück. Sei es der Gesang eines Vogels, sei es ein am weiten Horizont auftauchendes Segel, oder wiederum das sachte Rauschen des Windes, in all diesen Erscheinungen wird in die Leere, die sie anfänglich wie ein noch unbelebter Tag umgibt, der Begriff der Zeit eingeführt. Die Dinge tauchen auf, kommen heran, verschwinden, und ihr leises, kaum faßbares Erscheinen läßt in der Sprache sichtbare, meßbare Spuren zurück. Damit tritt auch die Zeit auf, zuerst als ferne Zukunft, als virtuelle Kraft, die das Bewußtsein aktualisieren könnte. Anstatt sich jedoch in Gegenwart zu verdichten, bleibt sie unwirksam und fern, als entweder noch abwesende oder schon Vergangenheit gewordene, gewesene Zeit. Den so geschauten Dingen wohnt kaum mehr Leben und nur geringe Ausdruckskraft inne. Es sind schwache Regungen der Natur, gefährdete Erscheinungen am Horizont, denen die Kraft zu dauern abgesprochen scheint. Die Winde bei Pessoa wehen sachte (abgesehen von den Stürmen des Pseudonyms Älvaro de Campos), weit schwächer als Victor Hugos gewaltige Windstöße3, leiser auch als Leopardis Wind der Zeit im „Infinito" 1 . Sie erinnern eher an die linden Herbstlüfte von Shelley, mit denen sie aber die gleichzeitig zerstörende und bewahrende Kraft nicht teilen 5 . „Brisa, hausto, sopro, aragem, sussurro, murmürio, vento l i v i d o . . heißen diese feinen Luftströmungen; „esvair-se, soerguer, pairar, ondular, estremecer, expirar, tremer, etc.", die dazugehörigen Verben 6 . Pessoas Bewußtsein erfährt durch den Wind nur ein leichtes Zittern, ein schwaches Erbeben, so schwach, daß es dies kaum in Erinnerung behält. Die Zeit, die am Horizont des Bewußtseins auftaucht, ist so unbeständig und flüchtig, daß von Anfang an an ihrer Wirklichkeit zu zweifeln * Victor Hugo schreibt einmal: „Je suis ce grand vent, vaste, invincible et vain." Zitiert aus G. Bachelard: La poetique de l'espace, Paris 1961, p. 179, not. 2. 4

Giacomo Leopardi: Canti, Einaudi, Turin 1962, p. 105. „E come il vento / odo stormir fra queste piante, / io quello infinito silenzio a questa voce vo comparando." (Infinito)

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P. B. Shelley: The Lyric Poems, London 1895. Aus „Ode to the west wind", p. 9 : „Wild spirit, which art moving everywhere / Destroyer and preserver."

II. Kronos: Die entthronte Zeit

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ist. Sie gleicht dem Windhauch, der kommt und geht, dem raschen Verströmen der Wellen, der hastig verwelkenden Blume: Flor que nào dura Mais do que a sombra dum momento Tua frescura Persiste no meu pensamento. 7

Blume, kaum dauerst du den Schatten eines Augenblicks, deine Frisdie lebt fort in meinen Denken.*

Pessoas Blume verblüht rascher noch als die üppigen Sträuße der Barockdichter. Nicht ein einziger, gegenwärtiger Augenblick gehört ihr. Meist hat sie nicht einmal einen besonderen Namen, sie ist Verneinung, Schatten der hinfälligen Wirklichkeit. Pessoa-ipse scheut das Konkrete, Plastische; umso mehr zieht es ihn zum Schattenhaften, spukhaft Vergänglichen. Doch nicht das Thema der Vergänglichkeit ist in seinem Denken zentral. Schneller noch als bei den Dichtern des 17. Jahrhunderts zerfallen seine Gestalten in Nichts, ja sie werden nicht einmal sinnlich gegenwärtig, denn von Anfang an gebricht es ihnen an Substanz. Beim Barockmenschen steht die Zeit im Gegensatz zur überzeitlichen Ewigkeit. Ihr dramatischer Ablauf ist eine Folge dieses Vergleichs. Eine solche finden wir aber auch hier, in Pessoas zitiertem Gedicht-Fragment, eine Gegenüberstellung von Blume und Zeit einerseits und Frische oder zeitloser Idee anderseits. „Frescura", die Frische, ist ein Abstraktum, das einzige, was von der lebendigen Blume im Bewußtsein zurückbleibt und zwar nur darum, weil sie sich als Idee dem Leben entzieht. Im Gegensatz zu Mallarmé aber, der in der abstrakten Idee das Gültig-Nichtgültige, einzig Mögliche findet, dessen Blume allen gleicht und dodi keine von allen ist, haftet dem abstrakten Denken Pessoas etwas durch und durch Negatives an.8 Lebensverneinend, lebensfremd, verfällt gerade das Abstrakte dem Nichts. In dieser Weise mag man den folgenden Vers aus „Hora Absurda" deuten: „Minha ideia de ti é um cadaver que o mar traz à praia . . Meine Idee von dir ist eine Leiche, die das Meer an den Strand s p ü l t . . .

Pessoa nennt also die Ideen, die uns bleiben, „gestrandete Leichen". Wenn in Mailarmes „Igitur" die allegorische Titelfigur des Textes zu den • Vgl. audi M. de Lourdes Rodrigues Saraiva: Algumas tendèncias do estilo da poesia ortònima de F. Pessoa, Diss. Lissabon 1955 (unveröffentlicht). Und Bruno Linnartz, Alberto Caeiro als Antipode F. Pessoas, op. cit. 7 OP, p. 505. 8 Über die stilistischen Aspekte des Negativen bei Pessoa vgl. J . do Prado Coelho, Diversidade e Unidade em F. Pessoa, Lissabon 1963, p. 151 ff. In der lexikalisch-stilistischen Studie von M. de Lourdes Rodrigues Saraiva, op. cit., findet sich ein nicht ganz belangloses statistisches Resultat: „nao" ist das am häufigsten vorkommende Wort, es wird von Pessoa 89mal gebraucht. • OP, p. 109. 3

Güntert, Pessoa

34

II. Kronos: Die entthronte Zeit

Gräbern am Meer hinabsteigt, um diesem mit der Giftpistole „den Tropfen an Nichts, der dem Meer noch fehlt" zu geben, wenn in „Un coup de dés" die Würfel stillstehen, so hat die Zeit längst aufgehört; „übrig bleibt der leere, absolute Raum, das Nichts" 10 . Ein Nichts, das endlich negiert und durchbrochen werden kann. Für Pessoa ist aber das Nichts kein solcher Durchbruch und Neubeginn, es ist nur Abgrund, Ungrund, Grundlosigkeit. Alle Erscheinungen seiner Welt drohen ihm zu verfallen. Die Zeit verwandelt sich immerfort in Geschehenes, in eine starre Anhäufung von längst erloschenen Erlebnissen. Gäbe es die Gegenwart, so gliche sie ja nicht einem Punkt auf der Zeitlinie der Uhrzeit. Sie müßte mehrdimensionierte, erlebte Zeit sein: Mitte, Kern, Ursprung in einem.11 Eine Mitte jedoch ist bei Pessoa nicht da. All sein Denken wirkt auffallend unstet, haltlos, peripher. So ist Gegenwart für Pessoa höchstens Bewußtsein einer Nicht-Gegenwart, ein eiliges Hinübergleiten der Realität ins Nichts der Idealität. In einem englischen Sonett findet er dafür die Worte: „The stream of time, known by birth-bursting bubbles The gulf of silence, empty even of nought." 1 2

Die Sprache der englischen Gedichte ist ebenso abstrakt wie die der meisten portugiesischen Werke. Anstatt eine Landschaft hinzuzeichnen und vom „Fluß" zu sprechen, schreibt er allegorisch „Strom der Zeit". So hätten vielleicht die Dichter des Barock ihre Flüsse bezeichnet. Und die Allegorie verdeutlichend, geht der Dichter hier auf die einzelnen Teile ein, auf die Teilmomente der Zeit, welche rasch vergehenden Luftblasen auf der Flußoberfläche gleichen. Ein Einfluß der Metaphysical Poets, jener englischen Barockdichter des 17. Jahrhunderts, ist hier nicht auszuschließen. Wären diese Verse dreihundert Jahre früher geschrieben worden, sähe man in ihnen, wenigstens in der ersten Hälfte, typische Beispiele des dramatischen Zeitgefühls aus Shakespeares Epoche. Gerade Shakespeare zeigt uns die Vergänglichkeit in ähnlicher Weise: „Like as the waves make towards the pebbled shore So do our minutes hasten to their end; Each dianging place with that whidi goes before, In sequent toil forwards do contend." 1 5

10

Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik, Rowohlt, Hamburg 1957 2 , p. 95; J . P. Richard, L'Univers Imaginaire de Mallarmé, Paris 1961, pp. 183—195.

11

W. Keller, Die Zeit des Bewußtseins, in: Das Zeitproblem im 20. Jh., Bern 1964, pp. 44—69.

12

Sonett X V I I I , OP, p. 594.

13

Shakespeare, Sonnets, 60.

II. Kronos: Die entthronte Zeit

35

I n der Dichtung der Spätrenaissance und des Barock fänden sich leicht Hunderte von Beispielen solch hastiger Zeitflucht. Zwei Jahrhunderte früher ziehen Jorge Manriques Flüsse noch gelassen, aber unaufhaltsam zum Meer: Nuestras vidas son los rios que van a dar a la mar que es el morir.14

Unsere Leben sind die Flüsse, die zum Meer hin münden, welches das Sterben ist.

D e r Glaube dieses noch mittelalterlichen Dichters überwindet stoisch die Angst vor der Vergänglichkeit. Gegen Ende der Renaissance trübt sich das Zeitgefühl immer mehr und dynamisch tritt es in den meisten barocken Kunstwerken in Erscheinung. Das Leben ist kein ruhiges D a h i n fließen mehr, es wird zu einem Flüchten und Vergehen, j a zur Zerstörung und Zerstückelung, davor, j e nachdem tröstend oder abschreckend, der Abgrund des Ewigen sich auftut. Bei den Romantikern wiederum mag sich das Grunderlebnis in ähnlicher Weise wiederholen, doch trachtet der romantische Mensch im allgemeinen im Gegenwärtigen aufzugehen, als ob die Zeit stillstünde und sich in Ewigkeit verwandelte. Wie Georges Poulet treffend formuliert, „bringen sie die Ewigkeit in die Zeit" 1 5 . In der portugiesichen Romantik ließe sich etwa an J o a o de Deus Gedicht „A V i d a " denken, worin dieser zu seiner Zeit sehr beliebte Dichter das Leben mit allerlei Vergänglidiem vergleicht. Mittelalterliche, barocke „topoi" reichen sich darin die H a n d . So schließt eine dieser Strophen: „A vida e folha que c a i ! " — Das Leben ist ein fallendes B l a t t ! „Gefallene B l ä t t e r " — Folhas caidas — nennt Almeida de Garrett seine schönsten Liebesgedichte, und auch Eugenio de Castro stellt die Vergänglichkeit des Lebens ins Zentrum seines Dichtens, um darauf aus der Distanz des Ästheten zu antworten. 1 6 Pessoa jedoch stellt über das rasche Verfließen der Zeit weder die Ewigkeit noch weitet er die Zeit träumerisch ins Grenzenlose. E r läßt sie, ehe sie ihn durchdringt, im Meer des Nichts versinken. Das Aktuelle der Zeit bleibt ihm versagt, denn es durchflutet seine Welt nicht. Nicht V e r -

14

15

ls



Jorge Manrique, Coplas a la muerte del maestre de Santiago Don Rodrigo Manrique, su padre, in „Poesía española medieval", Ed. Planeta, Barcelona 1969, p. 686. Georges Poulet, in „Journal of the History of Ideas", 15, 1954, p. 7; ferner in: Etudes sur le temps humain, Paris 1950. Eugenio de Castro, Obras Poéticas, Imprensa Nacional, Lisboa 1926. Vgl. besonders den ersten Band: Oaristos (1890). Das Wort stammt von Verlaine: „Ardent oarysts dont le dénouement diaste . . . " , zit. p. 25.

36

II. Kronos: Die entthronte Zeit

gehen und Hast bestimmen sein Werk, sondern das Bewußtsein bleibenden Zeit.17

der aus-

Es ist auffallend, daß gerade die Uhrzeit, der Stundenschlag, die stärkste Empfindung von Zeitlosigkeit hinterläßt. Pessoa gleicht darin nicht etwa Mallarmes Schläfer 18 , der trotz dem Frühgeläut der Glocken weiterträumt. Es geht in seinen Gedichten nicht nur um die Verschiedenheit zweier Welten, der zeitlosen Welt des Geistes und der fließenden Wirklichkeit. Im Gegenteil, die Glockenschläge ertönen dumpf und langsam, einer nach dem andern, in des Dichters Seele. Ein jeder Schlag gleicht dem nächsten so sehr, daß die monotone Wiederholung den vorigen Schlag fast auslöscht. Länger als sein Hallen ist sein Verhallen, und trostlos dehnt sich das Intervall des Schweigens. Ganz ähnlich tönt ja Eug£nio de Castros Gedicht „Epigrafe", das Pessoa als junger Dichter kommentiert hatte: „Murmurio da agua na clepsidra gotejante / Lentas gotas de som no relögio da torre " — „Plätschern der Wassertropfen von der Stundenuhr / An der Turmuhr fallen die Schläge wie langsame Tropfen." 19 N u n aber zu Pessoas Gedicht:

17

18 19

Ö sino da minha aldeia Dolente na tarde calma Cada tua badalada Soa dentro da minha alma.

O Glocke meines Dorfes klagend im stillen Abend ein jeder deiner Schläge klingt drin mir in der Seele.

E e täo lento o teu soar Täo como triste da vida Que ja a primeira pancada Tem o som de repetida.

Und so langsam ist dein Schlagen und so des Lebens müde, daß schon der erste Schlag wie ein Widerhall ertönt.

Por mais que me tanjas perto Quando passo, sempre errante Es para mim como um sonho Soas-me na alma distante.

So nah du mir auch klingst wenn idi, stets irrend, vorübergeh bist du für midi wie ein Traum und fern hallst du mir in der Seele.

Ähnlich drückt sich Adolfo Casais Monteiro in der Einleitung zu einer Anthologie von Dichtern aus, wenn er die Dichtung Pessoas als „treffendes Beispiel eines Dichtwerks ohne Zeit" charakterisiert. Vgl. A. Casais Monteiro, Antologia de poetas portugueses e estrangeiros, 2. ed., Lissabon 1945, Confluência, p. 13 (Einleitung). Stéphane Mallarmé, Oeuvres Complètes, Pléiade, Paris 1945, p. 36. Eugénio de Castro, A Sombra do Quadrante, cit. von Maria Aliete Galhoz, OP, p. 656. Die Wasseruhr (clepsidra) ist ein in der Dichtung um 1900 beliebtes Thema: Pessanha in Portugal, A. Machado in Spanien (Poesias Complétas, XXI) kennen es. Stunden, die wie Tropfen auf den Dichter fallen — monoton, endlos — finden sich auch in A. Palazzesdiis frühen Werken (Ore sole, 1905 entstanden, jetzt in Opere Giovanili, Mondadori, Milano 1958), und gerade bei Palazzeschi wird diese Monotonie zum Bild des Zeitlosen, der Leere.

II. Kronos: Die entthronte Zeit A cada pancada tua Vibrante no ceu aberto Sinto mais lange e passado Sinto a saudade mais perto.20

37

In jedem deiner Schläge die im weiten Himmel verhallen empfind ich Vergangenheit ferner empfind ich die Sehnsucht n ä h e r / '

Daß Pessoa von einer Dorfglocke spricht, wo er doch mitten in Lissabon aufwuchs, hat gewisse Kritiker zum Widerspruch gereizt. Der Dichter schrieb es ja selber an J . Gaspar Simoes: „Die Glocke meines D o r f e s , . . . , ist die Kirche der Märtyrer hier im Chiado. Das Dorf, in dem ich zur Welt kam, ist der Säo Carlos-Platz . . ," 2 1 Im Ausdruck „Glocke meines Dorfes" steckt etwas Verwirrendes, er ist ein Mittel der Verfremdung. Die melancholische Heimweh-Stimmung ist von Anfang an in Frage gestellt, umso mehr jedoch wird der Ich-Charakter des Ganzen betont. Alles spielt sich in der subjektiven Innenwelt ab, in der die gewohnte Logik des Zeitlichen und Räumlichen ihre Rolle ausgespielt hat. Autobiographisch ausgelegt, verwickelt uns das Gedicht in Widersprüche — und dies gerade war des Dichters Absicht. Einer nationalen Kritik, die vielfach noch dem Positivismus verhaftet war, wollte er vor Augen führen, daß zwischen Erlebnissen und Einflüssen einerseits, der Welt des Kunstwerkes andererseits, keine einfachen Kausalitätsverhältnisse bestehen. Einer nach dem andern verhallen die Stundenschläge. Obschon die Zeit des Stundenschlages die meßbarste ist, die man sich vorstellen kann, fehlt diesem Gedicht jede genaue Angabe. Alles ist verschwommen und seltsam: das Dorf, der wehmütige Abend, die Seele, in der die Schläge wie im Traum verhallen. Sie fallen schwer und melancholisch, als wollten sie besagen, daß der Moment unwiderruflich Vergangenheit wurde. Es ist nicht zufällig, daß die Glockenschläge in den Abend hinein klingen. Der Abend ist das Wiederaufkommen der Schatten, das Versinken des Tages in der Nacht. Jeder Morgen im Bewußtsein Pessoas enthüllt sich schließlich als ein dem Tod geweihter Abend. „ N o entardecer da terra O sopro do longe Outono Amareleceu o chäo.

Beim Dämmern der Erde hat der Hauch des langen Herbstes den Boden gelb gefärbt.

!0

O P , p. 140. Hier der Versuch einer Nachdichtung: O meines Dorfes Glocke singt, / in der Abendruhe klagend / ein jeder deiner Schläge klingt / wieder in meiner Seele sdilagend. / So gemach ist mir dein Hall / und so des Lebens zag / daß schon dein erster Schlag / mit klang als wär er Widerhall. / So nah du mir auch klingest, / meines Gehns und Irrens Saum / bist nicht mehr als wie ein Traum / der du kaum an meine Seele dringest. / In jedem deiner Schläge, / den offenen Himmel erschwingend / rückt ferner die Vergangenheit / rückt näher sehnende Verlorenheit.

21

Brief an J . G. Simoes, in F. Pessoa, Paginas de Doutrina Estética, herausgegeben von Jorge de Sena, Lissabon 1946, pp. 225, 226.

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II. Kronos: Die entthronte Zeit Um vago vento erra Como um sonho mau num sono N a lívida solidáo.22

Ein unsteter Wind fegt — wie ein böser Traum im Sdilaf — über die fahle Öde.*

Was der Abend dem Tag, ist der Herbst den Jahreszeiten. „Outono, outonal", sogar das Verb „outonar", gehören zu Pessoas eigenstem Wortschatz. Nicht, daß er sich dadurch von seinen Zeitgenossen unterschiede: melancholische Herbststimmungen sind bei den portugiesischen Dichtern seiner Epoche auffallend häufig. 23 Man denke nur an Antonio Nobres „A Vida", beginnend mit den Worten: „Oh, grandes olhos outonais!" 24 ; an „Tarde de Outono" von Teixeira de Pascoais25, an „Outro" von Camilo Pessanha 28 , an gewisse Sonette Eugénio de Castros 27 , an die herbstlichen Lila- und Goldtöne bei Mario de Sá-Carneiro 28 — immer wieder begegnen wir in dieser Epoche einem herbstlich-wehmütigen Zeitgefühl. Wo nun aber die meisten dieser Dichter, Teixeira de Pascoais etwa, im Naturgefühl aufgehen und sich ganz wie die Romantiker mit der sterbenden Welt eins fühlen, jedoch ohne den schönheitsgläubigen Idealismus eines Keats (To Autumn) oder eines Shelley zu teilen, weist Pessoas Herbst nicht auf die fliehende, sondern auf die entflohene, verlorene Zeit hin. Sä-Carneiro, dieser Freund Pessoas, kommt ihm vielleicht am nächsten, wenn er schreibt: „Für midi ist immer gestern, ich habe weder morgen noch heute." 29 Die Zwischentöne und Schattierungen des Herbstes erfreuen sich in der gesamten Fin-de-sieicle-Literatur großer Beliebtheit. Verlaines monotone Musikalität — Pessoa parodiert sie zuweilen — ist für viele portugiesische Dichter der Jahrhundertwende hoch geschätztes, ja überschätztes Vorbild. Versucht man, Pessoas Herbst näher zu bestimmen, so könnte man ihn ein langsames, in die Länge gezogenes Erschlaffen nennen. Die Verben 22 23

24

25 26

27 28

29

OP, p. 139. Schon Efa de Queiroz macht sich in seinem ersten Roman, O Crime do Padre Amaro, über den Mißbrauch solcher Herbstlyrik lustig: „Era uma Canfáo dos tempos románticos de 51, o Adeus: Dizia uma suprema despedida, num bosque, por uma tarde pálida de Outono...", Obras de E. de Q., vol. I, p. 71, Lello e Irmáo, Porto, s. d. António Nobre, S6, Porto 1962, p. 125. Von ihm sagt Pessoa einmal: „Er kommt im Herbst und durch die Dämmerung. Weh dem, der ihn versteht und liebt!" T. de Pascoais, Obras Completas, Bertrand, Lissabon 1965, vol. I, p. 149. C. Pessanha, cit. in „Líricas Portuguesas", vol. I, Portugália, Lissabon 1959, p. 373. E. de Castro, Sonetos Escolhidos, Lissabon 1946, p. 89 und passim. Mario de Sä-Carneiro, Poesías, Ática, Lissabon 1940. pp. 53, 161, etc. vor allem auch in: Indicios de Oiro, in „Orpheu" I, op. cit. Aus der spanischen Dichtung ließen sich Rubén Daríos Otoñales als Beispiel anführen (1887). id., p. 61.

II. Kronos: Die entthronte Zeit

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„entardecer, amarelecer" (spät werden, dämmern; vergilben), auch der Neologismus „opalescer" (wie ein Opal glänzen) unterstreichen durch ihren durativen Wert diese Dehnung. „Palidez, amarelidoes", sind dem Dichter nicht zu ausgefallen, als daß er sie nicht wiederholt verwenden würde. Solchen Wörtern wohnt eine Tendenz zur Auflösung, eine Energiearmut inne, durch die ein jedes Licht unerbittlich dem Dunkel, die nur noch schimmernde Wirklichkeit dem Nichts weichen muß. Der orthonyme Pessoa versucht — im Unterschied zu den oben aufgeführten Diditern — vergeblich, im Zustand des Übergangs, zwischen Herbst und Winter, zwischen Licht und Dunkel, zu verweilen. Er möchte jenen Augenblick, in dem er sein Besußtsein erlöschen sieht, erhaschen, ihn festhalten, dehnen, in eine Stimmung verweben. Dann hat seine Sprache Momente von fast „Verlainscher" Melodik, dann strömt sie dieselbe „grundlose" Traurigkeit, „Fadeur", aus 30 . Ausströmen hieße jedoch dauern, wenn auch in einem entkräfteten, passiven Zustand. Pessoas Trauer hebt sich von selbst auf, ihr Erschlaffen ist endgültig. Wie oben der Boden der Herbstlandschaft, einziges Element einer öden Natur, „vergilbt" und zur fahlen Einsamkeit des Winters verstummt, so ist der abendliche Übergang vom Tageslicht zur Dunkelheit ein Erstarren des Lebens und ein Erkalten. Die Vergangenheit wird in ihrer Verhärtung, in ihrer Unabänderlichkeit erlebt — daher der häufige Gebrauch des Wortes „kalt" 3 1 . Näo e ainda a noite Mas e ja frio o ceu. Do vento o ocioso ajoite Envolve o tedio meu.32

Noch ist es nicht Nacht Aber schon ist der Himmel erkaltet. Die müßigen Stöße des Windes Umgeben meine Trauer.*

Es heißt hier „ i ja frio" und nicht „estä", wo doch das letztere das vorübergehende, noch nicht fixierte Sich-befinden eher wiedergäbe. Die Verbform „e" hat endgültigen Wert. Der weiten Landschaft sind die Wärme und das Licht des Tages bereits entzogen. Ein anderes, sehr bekanntes Gedicht, „O Menino da sua mäe", kurz nach dem Tod von Pessoas Mutter verfaßt, erinnert zeitweise an Rimbauds „Dormeur du Val". Doch nichts vom Lichtreichtum, vom impressionistischen Erzittern der Natur, die den jungen Toten einhüllt, findet sich hier wieder. Der Ton ist von Anfang an ruhig und gelassen, voller Todesahnung. Bei Pessoas Gedicht wird gleich ersichtlich, daß der junge Mensch 30

Siehe J. P. Richard, in Poesie et Profondeur, La fadeur de Verlaine, Paris

31

Auf die phänomenologische Bedeutung dieses Worts geht auch J. do Prado Coelho, op. cit., ein. Vgl. vor allem p. 80.

32

OP, p. 145.

1955, pp. 165—85.

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II. Kronos: Die entthronte Zeit

tot ist. Steif liegt er nun auf der „verlassenen Ebene", über die ein noch lauer Wind weht. Der Wind, Wärme und Bewegung versprechend, steht in deutlichem Gegensatz zum toten Körper, welcher langsam erkaltet. „No plaino abandonado Que a morna brisa aquece De balas trapassado — Duas, de lado a lado — J a z morto, e arrefece.33

In der verlassenen Ebene von lauem Winde erwärmt, liegt er, durchdrungen von Kugeln — zwei auf beiden Seiten — tot liegt er da und erkaltet.*

Wenn die Erfahrung der Wirklichkeit so kurzlebig ist und das Wort des Dichters sie dennoch erfassen möchte, so stellt sich Pessoa das Problem, wie er solch sekundenlange, fast nichtige Momente, Impressionen, Visionen, zu einem längeren Gedicht verweben solle. Nach der ersten Strophe, ja schon nach zwei, meist kontrastierenden Versen scheint bereits alles gesagt, ist alles Gesagte widerrufen. Was folgt, erweckt den Anschein von müßigen Wiederholungen. Hier liegt ein wesentlicher Punkt, aber auch die Schwäche von Pessoas orthonymer Dichtung. Untersucht man den Aufbau eines solchen Gedichtanfangs näher, so geht hervor, daß gerade die oben verwendete, fünfzeilige Strophe, mit der auffallenden Einschiebung im vierten Vers, dem Denken des Dichters entgegenkommt. Aus dem Gegensatz „abandonado" — „aquece" (1. und 2. Vers) geht es über in den 3. Vers, der, mit der Partizipform „trapassado", den Tod besiegelt. Dann aber, bevor endgültig alles verloren wäre, schiebt sich eine beschreibende Erweiterung ein, als gäbe es noch etwas beizufügen. Der fünfte Vers bestätigt das Ersterben jeglichen Lebens umso grausamer: „Jaz morto, e arrefece". Der Klammer, dem Einschiebesatz,34 kommt oft eine ähnliche stilistische Funktion zu: sie verzögert oder befremdet, als täuschendes, trügerisches „Ritardando". Auch in unserm Gedicht sagt die Erweiterung nichts Positives, nichts Neues aus. Zwei Kugeln auf beiden Seiten haben den jungen Soldaten getroffen: von zwei Seiten ist der Tod, das Nichts, in den Körper eingedrungen. Beidseits der toten Gegenwart lauert das Nichts. Abgesehen vom Pseudonym De Campos, zeigt besonders der orthonyme Pessoa eine Vorliebe für die Kurzform. Eine Strophe genügt ja, um der aufkommenden Erwartung oder Hoffnung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die letzte Strophe bestätigt zumeist nur, was im zweiten oder dritten Vers der ersten drohend schon vorweggenommen wurde. Dem dialektischen, jedoch nicht konstruktiv-dialektischen Denken Pessoas »» O P , p. 146. S 4 Vgl. die Gedichte „Hora M o r t a " O P , p. 107, „Abat-Jour", p. 149, „Dä a surpresa de ser", p. 152, „Cai chuva do ciu cinzento", p. 541, um nur einige Beispiele zu nennen.

II. Kronos: Die entthronte Zeit

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entsprechen scheinbar in sich abgeschlossene und dodi nach Widerspruch verlangende Strukturen, am ehesten wohl eine Dreistufigkeit im Aufbau. Gedichte mit drei Strophen überwiegen. 35 Die wenigen längeren Kompositionen, z. B. „Hora Absurda" oder „Alem-Deus" sind in frühen Jahren, vor oder bei der Enstehung der Pseudonymen verfaßt worden. Doch dürfen in diesem Zusammenhang die dramatischen Werke, „O M a n n heim" oder die Faustfragmente nicht außer acht gelassen werden. Ihre bruchstückhafte, an Widersprüchen reiche Form stützt sogar unsere Behauptung. In „O Marinheiro" hat der Leser gar den Eindruck, gefangen zu sein und bei so vielen sich widersprechenden Formulierungen nicht vom Fleck zu kommen. Pessoas Dichtung bewegt sich nicht vorwärts, sie entwickelt sich nicht. Selbst der Reim, anstatt weiterzuführen, bindet eher zurück, er wirkt hemmend oder negierend. Im Portugiesischen reimt „frio" (kalt) mit „rio" (Fluß). Fließen — gefrieren, erstarren: ein für die Welt unseres Dichters bezeichnendes Wortpaar. „Aqui à beira do rio Sossego sem ter razio Este seu correr vazio Figura, anónimo e frio A vida vivida em vio." 3 9

Hier am Flussesrand weil ich ohne Grund. Dieses Fließens Leere, namenlos und kalt, ist sinnlos gelebten Lebens Sinn.*

Der sich bewegende Fluß steht somit im Gegensatz, aber auch in Beziehung (der Reim hat immer diese Doppelfunktion) mit der starren Kälte, der „erstarrten Bewegung" des teilnahmslosen Betrachters. Anderswo erscheint das Bewußtsein als „erstarrende Geste", als „Höhle von Stalaktiten", lebendigen Formen nur nachgebildet. Mit Soeren Kierkegaard könnte es sagen: „Jede Blume meines Herzens wird zur Eisblume". 3 7 Beispiele der Dreistufigkeit (Gedichte mit 3 Strophen) wären etwa: „Trila na noite uma flauta", OP, p. 141; „Natal", p. 148 oder audi das erste Gedicht „Quando ela p a s s a . . p . 103. Im ganzen sind von den 158 Dichtungen des Cancioneiro (d. h. Pessoa-ipse, ohne die „unveröffentlichten Gedichte") nidit weniger als 55 dreistrophig. Das ist kein Zufallsergebnis. s s OP, p. 158. " S. Kierkegaard, Tagebücher, I, Diederichs-Verlag, Düsseldorf/Köln 1962, p. 100. Unamuno nimmt das Bild wieder auf, wenn er zu zeigen versucht, wie der Verstand, die Logik, ja das Denken überhaupt, alles Lebendige tödlich trifft. „Der Verstand (la inteligencia) sucht Totes, da das Leben ihm entgeht. Flüchtiges Strömen will er in Eiszapfen bannen, will es festlegen." Vgl. M. de Unamuno, El Sentimiento tragico de la Vida (1913), ed. Plenitud, Madrid 1966, p. 81. 35

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II. Kronos: Die entthronte Zeit „Meu pensamento seca como um vago ribeiro no verao. Regresses, e trago

nas mäos flores que a vida prontas seque."3*

Mein Denken trocknet aus wie ein dünner Badi im Sommer. Wieder komm ich und bring Blumen in meinen Händen, die das Leben bald dörren läßt.*

Erkalten, austrocknen, verdorren: dem verhängnisvollen Wirken dieser Verben ist Pessoas Welt unterworfen. Der (im Portugiesischen übliche) Konjunktiv „seque" (anstelle eines Futurums), verstärkt durch das Adverb „prontas", läßt das Blühen und Verblühen noch rascher aufeinanderfolgen, ganz dem Gedanken des Dichters entsprechend, für den es kein Verweilen gibt. Eine Frage drängt sich nun auf: wenn Pessoas Zeitgefühl nicht bloß das Vergehen, sondern das Vergangensein meint, ist es dann überhaupt noch ein Zeiterlebnis, ist es noch Erlebnis? Einen Tagesbeginn beschreibend, vergleicht ihn der Dichter mit dem verblichenen Kleid einer Witwe: „Clareia cinzenta a noite de diuva Que o dia chegou. E o dia parece um traje de

viuva

Que ja desbotou.39

Grau lichtet sich die Regennadit, denn der Tag hat begonnen. Und der Tag sieht aus wie ein

Witwengewand, schon verblidien.

Nichts ist bezeichnender für Pessoas Sprache als dieser paradoxe Zusammenfall von Morgen und Abend, von Kommen und Gehen. Wünschen und Begehren bedeutet gleich viel wie Verlieren und Verloren-haben: „Ich fühle, ich wünsche, ich kenne mich — es gibt nur Verloren-haben". 40 Dieser Aussage fehlt das zentrale „Ich bin", das Cogito eines sich selbst erkennenden Geistes. Anders ausgedrückt: Das Dunkel der Nacht setzt sich im Morgengrauen und durch den Tag hindurch fort, um sich in der neuen Dunkelheit wieder zu finden. In Pessoas Welt wird es nie taghell, sein Licht ist „cinzento", grau, aschfarben, ein Zwielicht, jeder Klärung abhold. Diese eintönige Farblosigkeit gehört zu den auffallendsten Zügen eines großen Teils des Pessoaschen Werks (Ricardo Reis, der Epikuräer, und der frühe Älvaro de Campos ausgenommen) und räumt ihr unter der zeitgenössischen Dichtung Portugals einen besonderen Platz ein. Deutlich hebt sie sich ab von den kunstvoll-üppigen und bildreichen Versen eines Eug^nio de Castro 41 , von den düsteren, elegischen Diditun38 39 40 41

OP, p. 504. OP, p. 550. OP, p. 500. Im Vorwort zu seiner ersten Gedichtsammlung „Oaristos" beschreibt Eugenio de Castro die literarische Situation der damaligen portugiesischen Poesie wie folgt: „Mit Ausnahme von zwei oder drei leuchtenden Figuren, stützen sich die heutigen Dichter Portugals auf ein paar Dutzend abgeschliffene Ausdrücke

II. Kronos: Die entthronte Zeit

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gen der Saudosisten, aber audi von einer gewissen, teils an Verlaine inspirierten Wehmut, wie sie nuancenreich, herbstfarben auf Portugals Symbolisten überging. Vor allem unterscheidet sich Pessoa-ipse von der farbenreichen Sprache seines Freundes Mario de Sä-Carneiro, dem er über Jahre hinweg als kritischer Berater zur Seite stand. Obschon Pessoa dessen Gedichte jeweils vor ihrer Veröffentlichung zur Ansicht erhielt, hat er nie etwas von ihren sprühenden Regenbogenfarben übernommen. Schon im ersten Gedicht „Partida" (Abfahrt) fragt sich Sä-Carneiro, was denn Natur und Leben dem Künstler bedeuten. Dichten heiße ins Azurblaue aufzusteigen, auf , Suche nach der Schönheit auszugehen, alle Hindernisse zu übersteigen und „verrückte Farben" zu erfinden. Und die Farben werden ihm erst genügen, wenn er sie mit Synästhesien bereichert hat: „Die Farbe ist schon nicht mehr Farbe, sie ist Ton und Duft!" 4 2 Sich selbst als intellektuellen Dichter hinstellend, schreibt Pessoa dazu: „Kein Sensationist ging weiter als Sa-Carneiro im Ausdruck der ,farbigen Empfindungen', wie das Sensationisten nennen. Seine Einbildungskraft, eine der reinsten in der modernen Literatur, sogar diejenige Poes' in der Erzählung ,The Strange Death of Professor Antena' übertreffend, durchquert in rasendem Flug die Elemente, die ihr die Sinne liefern, und sein Farbgefühl ist eines der ausgeprägtesten, die es unter Dichtern je gab." 43 Jene Zeit, die der Stundenschlag an unser Ohr brachte, war keine Zeit, sondern leerer, toter Begriff. Die Wirklichkeit, so wie sie das Bewußtsein erfährt, entzieht sich ihr. Pessoas Welt kennt nur die nicht erfüllte oder verbrauchte Zeit, leeres Wähnen und tote Vergangenheit. Im englischen „Antinous" — dieses klassische Motiv teilt Pessoa mit Rilke, mit George, usw.44 — beschreibt er den Kaiser Hadrian vor der Leiche eines geliebten Knaben, wie er diesen noch einmal betrachtet: „The boy lay dead, and the day seemed a night Outside. The rain feil like a sick affright Of Nature at her work in killing him. Memory of what he was gave no delight, Delight at what he was, was dead and dim.a

42 48 44

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und Gemeinplätze... Was den Reim betrifft, herrscht franziskanische A r m u t . . . Was den Wortschatz angeht, nicht weniger. Etwa 2/s der Wörter, die unsere Sprache ausmachen, liegen verstaubt, unbekannt, unwirksam in den Wörterbüchern, wie wertloses Gerumpel im Trödlerladen." Obras Complétas, vol. I, op. cit. Mario de Sà-Carneiro, Poesias, Ätica, Lissabon 1940, pp. 51—54. Paginas de Doutrina Estética, op. cit., p. 148. Vgl. „Antinous admirandus", „Klage um Antinous", aber audi „Klage um Jonathan", in: Der Neuen Gedichte anderer Teil, R . M . R i l k e , Sämtl. Werke, op. cit. Dazu auch: J . Rosteutscher, Das ästhetische Ideal, Bern 1956, im Kapitel über Rilke. OP, p. 601.

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Wenn sich die Dinge dem Bewußtsein entzogen haben, so ist ihr Schwinden endgültig. Der Erinnerung ist es versagt, sie wieder zu beleben, so wie der Kaiser den schon verwesenden Körper des Geliebten nicht wieder auferwecken kann. Der tote Körper weckt im Betrachter keinerlei Erinnerungen, er ist schon so verstellt, so gänzlich anders, daß alle jetzigen Empfindungen von den früheren völlig verschieden sind. „Hier ist alles Abstand, und dort war's Atem", sagt Rilke in der Achten Elegie. Ebenso ist es dem Dichter, wenn er sich seiner Kindheit erinnert, versagt, sie nochmals zu erleben. Das Paradies jener Zeit, „da es weder Tag noch Nacht gab", ist für immer entschwunden: „Nipht einmal die Erinnerung bleibt mir". 48 Und selbst dort, wo Sehnsucht oder Erinnerung etwas Fernes, Vergangenes wachrufen, handelt es sich um eine Täuschung. „Ah, como incerta, na noite em frente, De uma longinqua tasca vizinha Uma aria antiga, sübitamente. Me faz saudades do que as näo tinha." 47 „Ach wie ungewiß, in der Nadit gegenüber, aus einem weit entfernten, nahen Wirtshaus eine alte Weise mich auf einmal mit Sehnsucht quält an ein Damals, da ich keine hatte."*

Pessoas Sehnsucht, seine „Saudade", unterscheidet sich hier deutlich von der gefühlsbetonteren der „Saudosisten", mit denen er eine Zeit lang an der Zeitschrift „A Äguia" arbeitete. Dichter wie Teixeira de Pascoais48 oder Ant6nio Nobre suchten ihren Weltschmerz in der wiedererlebten Kindheit, in der vertrauten Natur ihrer Heimat, im Traum und in der Erinnerung zu lindern und zu klären. Im Gedicht „Antönio" 49 , beispielsweise, geht Nobre so vor, daß er in kurze Bilder verdichtete Stationen seiner Kindheit gleich einer Kreuzwegandacht seiner jetzigen Existenz gegenüberstellt, um diese erinnernd zu erfüllen, und gleichsam das Kind dem Dichter und diesen dem Kind näher bringt. Nobres Bewußtsein 41 47

OP, p. 553. OP, p. 557.

48

In der Zeitschrift „Renascenja Portuguesa" definiert T. de Pascoais das Wort „Saudade": Saudade ist durch Sehnsucht (desejo) vergeistigte, fleischliche Liebe. Sie ist die Venus und die Jungfrau Maria in einer Frau, Synthese von Himmel und Erde, Treffpunkt aller kosmischen Kräfte, Zentrum des Universums; die Seele der Natur in der menschlichen Seele und diese wiederum in der Natur. Saudade ist die ewige Persönlichkeit unseres Volkes: kennzeichnendes Aussehen, einmalige Verkörperung, durch die sie bei andern Völkern auffällt. Zit. von M. Ariete Farinho das Dores, O Movimento poetico do Orpheu, Diss., (unveröffentl.), Lissabon 1953, I. Teil, p. 22.

49

Antönio Nobre, S6, op. cit., pp. 13—21.

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wirkt hier wie eine Zauberrute, die alles, was sie berührt, in Schwingung bringt. Für Pessoa ist die Erinnerung etwas ganz anderes. Der Dichter sieht wohl die Straßen, die Gesichter von gestern wieder; doch die Beziehung zu ihnen bleibt äußerlich. Erinnern heißt für ihn bloß feststellen, Kenntnis nehmen vom Vergangenen, wie wenn sich ein neuer Schatten vor schon erloschenes Licht stellen könnte. Es bleibt etwas wie Sehnsucht in uns zurück, eine Art von gegenstandslosem Verlangen. „Como às vezes num dia azul e manso N o vivo verde da planicie calma Duma súbita nuvem o avanzo Pálidamente as ervas escurece Assim agora a minha pàvida alma Que súbito se evola e arrefece A memòria dos mortos aparece .. . 50

Wie zuweilen an sanften, blauen Tagen im lichten Grün der stillen Ebene, der Rand einer jäh auffahrenden Wolke die Gräser bleidi verdüstert, so erscheint nun meiner bangen Seele, die plötzlidi kälter werdend sich verzieht die Erinnerung an die Toten . . .*

Erinnerung an die Toten ist kein eingestimmtes Verweilen, sondern schiere Erkenntnis des Endgültigen. Wie weit sind wir dodi vom Proustschen Gnadenmoment entfernt! 51 Ganz anders denken ja auch die portugiesischen Spätromantiker. In Teixeira de Pascoais' „Elegia de Amor1* zeigt sich die Erinnerung als Glücksmoment: „Um raio de luar Entrando, de improviso , N o meu quarto sombrio Onde medito, a sós, Deixa a tremer, no ar, U m pálido sorriso Um murmurio de luz Que lembra a tua voz . . ."52

Ein Strahl von Mondlicht, der plötzlich in mein dunkles Zimmer tritt, w o idi sinnend allein bin, läßt in der Luft ein blaßes Lächeln, ein Murmeln von Licht aufblitzen, das midi an deine Stimme erinnert.*

Ist hier der sachte Lichtstrahl Botschaft, Brücke zum Vergangenen, so entbehrt Pessoas Erinnerung jeglicher Helle, sie wirkt im Gegenteil verdunkelnd. Das Blau und Grün des Tages verfärbt sich unter ihrer Einwirkung ins Leichenblasse, an die Stelle der Farben tritt lebloses Grau. 50 51 5S

OP, p. 507. Vgl. auch Bruno Linnartz, op. cit., p. 332. Elegia de Amor, in: Líricas Portuguesas, I, Portugàlia, Lissabon 1959, p. 395. Es ist eines der wenigen Gedichte von T. de Pascoais, das Pessoa schätzte. T. de Pascoais war ihm zu wenig intensiv und zu wenig konstruktiv als Dichter, siehe Páginas de Doutrina Estética, op. cit., p. 128 und p. 354.

46

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Die Erinnerung entblößt sich endlich als etwas Leeres und Totes, als Illusion vor dem Nichts. „Meu ser vive na Noite e no Desejo, Minha alma e uma lembranja que ha em mim." 53 Mein Sein lebt in der Nacht und in der Sehnsucht Meine Seele ist Erinnerung, die da in mir ist.*

Vergangenes und Zukünftiges werden hier im gleichen Atemzug genannt und bleiben dennoch leblos. Aber ruft nicht manchmal ein Wind, der über Pinien streift, wehmütige Erinnerungen in uns wach? „Vento que passas nos pinheirais Quantas desgranas Lembram teus ais.

Wind in den Pinienwäldern, wieviel Unheil erweckt dein Wehen.

A dor que ignoras Presta os teus ais Vento que dioras Nos pinheirais." 54

Dem Schmerz, den du nicht ahnst, leih deine Klage, Wind, der du weinst in den Pinienwäldern.

Eine lebendige Beziehung zum Vergangenen vollzieht sich auch hier nicht. Das Wehklagen des Windes ist zufällige Nachahmung unserer früheren Traurigkeit, denn der Wind ist „unwissend". Leopardi hätte es ähnlich gesagt: zwischen dem „Weinen" des Windes und dem Schmerz der Menschen besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Die äußere Natur ist letztlich ebenso ungnädig wie unsere eigene. Pessoas Zurückblicken wirkt nie verbindend, es zerlegt das Vergangene in Zeitfragmente, Zeiträume, denen schließlich keine echte Zeit mehr eignet. Auf solche Weise können wir über unsere eigene „Geschichte" nie die Wahrheit erfahren. Wir können höchstens, wie Gantenbein, eine ähnliche Geschichte neu erfinden. ,,Maravilha-te memòria! Lembras o que nunca foi, E a perda daquela história Mais que uma perda me doi." 55

Verwundere didi, mein Gedächtnis, du erinnerst, was niemals war, und der Verlust jener Geschichte schmerzt mehr mich als was verloren ward.*

Wie selten bei einem Dichter ist hier das Tasten nach dem früheren Sein ein schmerzliches Irregehen, das die Qual noch steigert. Darüber zu 53 54 55

OP, p. 493. OP, p. 498. OP, p. 530.

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sprechen ist „fingir", „mentir", denn Vergangenes steht außerhalb der Wahrheit. Das Leben erscheint demnach als monotone Wiederholung von gleichen Wellenschlägen, die sich alle zu sehr gleichen, um zu überraschen. Was wir zu erinnern glauben, ist leblose Verlängerung der Gegenwart, welche selbst uns nie gehört. Von nun an ist alles Paradoxe möglich. So schreibt denn das Pseudonym Alvaro de Campos: „Die Erinnerung an etwas, woran ich mich nicht erinnere, späht nach meiner Seele".56 Und Pessoa-ipse ruft enttäuscht aus: „Quem me dera que a poesia Fosse mais do que a escrever! Canta agora a cotovia Sem se lembrar de viver . . o h

Adi, wäre dodi die Dichtung mehr, als sie zu schreiben! Horch, die Lerche singt, n e ihres Lebens zu gedenken . .

Nicht nur der Blick zurück läßt den Dichter vor dem Nichts erschaudern. Auch von vorn, von der Zukunft her, naht nichts Besseres. Der gequälte Mensch ahnt schon, daß sich alles eintönig, gleich, wiederholen wird. Das Thema der Wiederholung ist denkbar negativ zu werten: „Todos os ocasos fundiram-se na alma As relvas de todos os prados foram frescas sob os meus pés Secou em teu olhar a ideia de te julgares calma E eu ver isso em ti é um porto sem navios .. .58 Alle Sonnenuntergänge fielen in meiner Seele zusammen Die Rasen aller Wiesen wurden kühl unter meinen Füßen In deinem Blick verdorrte die Idee, sich ruhig zu glauben Und didi nun so zu sehen, ist ein Hafen ohne Schiffe . . / '

Die ganze Strophe, sie stammt aus dem wortreichen Gedicht „Hora Absurda" (1913), drückt perfektische Zustände aus, eben weil in der Pessoaschen Welt schon alles besiegelt ist, ehe es gelebt oder erfaßt wird. Das Wort des Dichters erreicht seinerseits die Wirklichkeit nie ganz; indem es sie ausspricht, verneint es sie. Im perfektischen Ausdruck zeigt sich (nicht) erlebte Zeit als abgeschlossen und verbraucht, im ebenfalls häufig gebrauchten Infinitiv ist das verbale, aktive Element stark vermindert oder aufgehoben. Wie Mallarmé, wenn auch nicht aus denselben Beweggründen, scheint Pessoa die „am wenigsten verbalen Formen des Verbs" 59 vorzuziehen. Es entsteht so eine an zeitlichem Geschehen arme, 56

OP, p. 362 (A. de Campos). " OP, p. 568. 58 OP, p. 110. 69 A. Thibaudet: La poésie de Stephane Maliarme, Paris 1926, p. 321. Für Pessoa siehe auch die Lizenzarbeit (unveröffentl.) von M. de Lourdes Saraiva Rodrigues, op. cit., im Kapitel über das Verb.

48

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ja sogar zeitlose Dichtung, in der mehr und mehr die Unabänderlidikeit, die quälende Monotonie eines Daseins zutage treten. Ein seltsam vernichtender Zug, ein im Grunde ganz negativer, saturnischer Hang zur Selbstzerstörung ist dem Denken Fernando Pessoas eigen. Wie Nervals, wie Goethes Zeit, ist die seine der Gott Kronos, der die Taten, die er erzeugt, seine eigenen Kinder, wieder verzehrt. Ein solcher Zeitpessimismus findet sich aber seit eh und je in der portugiesischen Literatur. Sogar die großen Dichter des Goldenen Zeitalters, ein Epiker und Renaissancemensch wie Camoes, haben die Zeit nicht anders als saturnisch gesehen. So schreibt denn dieser in der ersten Ekloge: „Mas tu, Tempo, que voas apressado, Um deleitoso estado quäo asinha Nesta vida mesquinha transfiguras Em mil desaventuras, e a lembranja Nos deixas por heranja do que levas! Assi(m) que, se nos cevas com prazeres E' pera nos comeres no melhor. Cada vez em pior te väs mudando." 60 Du aber, Zeit, die du so schnell verfliegst Wie leicht verwandelst du in diesem elend Leben ein glücklich Dasein in tausend Mißgeschicke, und fürs Geraubte läßt du Erinnerungen als Erbe uns zurück. So nämlich: uns mit Genüssen mästend, um uns zur besten Zeit dann aufzuzehren. Und immer schlimmer wirst du mittlerweilen.*

Durch die ganze portugiesische Renaissance hindurch läßt sich — neben gemäßigteren Tönen — diese pessimistische Haltung verfolgen. Weniger häufig als im Ursprungsland der neuen Gesinnung, in Italien, trifft man in Portugal auf ein unbeschwertes „Carpe diem". Eine geschiditlichsoziologisdie Erklärung würde wohl nicht ausreichen, diesen schwermütigen Zug der Portugiesen zu deuten. Noch scheint das mittelalterliche „Ubi sunt" in Sä de Miranda (1481—1558) nachzuwirken, wenn er von der Zeit sagt, sie sei „gefräßig und zerstöre alles". 81 Ein tief religiös 60

61

Luis de Camoés, Obra Completa, I parte, primeira écloga, Aguilar, Rio de Janeiro 1963, p. 380. Vgl. eine kurze, interessante Studie über das Zeitproblem in der port. Renaissance: F. A. Falcáo: Algumas notas para um estudo sobre o tema do „Fluir do tempo" na poesia lírica portuguesa do sáculo XVI, Lizenzarbeit (unveröffentl.), Lissabon 1953.

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empfindender Dichter, Bruder Agostinho da Cruz (1540—1619), vermag die Vergänglichkeit durch den Glauben an das Feste und Ewige zu überwinden. So stirbt sein Fluß der Zeit nie, er geht zum Meer und kommt zurück im Kreislauf aller Gewässer. Bei Camoès aber, auch bei andern Renaissancedichtern, so bei Antonio Ferreira (1528—69), drängt sich das Kronos-Motiv dramatisch in den Vordergrund. Gerade dieser Dichter, der in seinem Land italienische und klassische Formen und Themen verbreitet, hat uns in seiner Tragödie „Castro", eine Neubearbeitung der weltberühmten Geschichte des Infanten Pedro und seiner treuen Geliebten Inés de Castro, das wohl eindrücklichste Beispiel des Kronosmythos gegeben. 62 Es ist wohl kein Zufall, daß auch Fernando Pessoa diesen tragischen Themenkreis wiederbearbeiten wollte. Seine „Ines de Castro" gelangte aber, wie so vieles andere, nie zur Ausführung. 63 Kronos oder Saturn, dieser Dämon der Gegensätze, verleiht der Seele auf der einen Seite die Trägheit und den Stumpfsinn, auf der andern die Schärfe der durchdringenden Intelligenz, die höhere Einsicht. Er ist ein 62

Inés de Castro, ganz Gegenwart zu Beginn der Tragödie, so wie es ihre Liebe zu Pedro und zu allen Geschöpfen will, wird im 3. Akt, im Traum, von einer fürchterlichen Ahnung gepackt. Sie träumt, sie befinde sich in einem unheimlichen Wald, wo alles dunkel beschattet daliegt. Plötzlich hört sie von ferne wildes Heulen, und ein Löwe stürzt sich auf sie und ihre Kinder. Zwar läßt sie der Löwe (der Vater Dom Pedros) unbehelligt, er wird aber bald von einem Rudel gieriger Wölfe (die Hofleute) abgelöst, die sie und ihre Kinder anfallen. Beim Erwachen fühlt sie sich zu tiefst beunruhigt. Bisher war ihr Leben dauerndes Erfülltsein, nun aber sehnt sie erstmals mit Bangen den Tag herbei, damit er der schrecklichen Nacht ein Ende bereite. Früher, so erklärt sie ihrer Amme, liebte sie sowohl den Tag wie auch die Nacht, die sie mit glücklichen Träumen bescherte. „Aqueles meus enganos me sustinham / das noites para os dias. E esta noite / perdía estes enganos com a vida." (Castro, III, 1, v. 93—95). Inés hat in dieser Nacht den Abgrund der Zeit entdeckt, der sich gierig vor ihr auftut. Umsonst sucht ihre Amme sie zu trösten, umsonst weist sie sie hin auf die Natur, zum schönen Fluß Mondego, dessen Wellen zum Ort des Geliebten fließen, welcher seinerseits durch dieses Wasser an Inés gemahnt werde. Diese Stelle (III, 153—62) gehört zu den schönsten der Tragödie, die im wesentlichen eine Tragödie der Zeit ist. Wenn der Chor am Schluß des III. Aktes Inés' Ahnung bestätigt, nimmt der Dichter das Grundmotiv wieder auf, die Zeit — wie Saturn — mit Flügeln darstellend: „Teme teus erros, mocidade cega / Fuge a ti mesma, logra-te do tempo, / Que assi te deixa, correndo e voando / com suas a s a s . . . " (III, 217—20). Zit. aus António Ferreira, Castro, Colecfáo Lit. Atlántida, Coimbra 1961. 63 Zwei maschinengeschriebene Blätter aus Pessoas Nachlaß geben uns darüber Auskunft. Cf. F. Pessoa, Páginas íntimas e de Auto-Interpretayào, herausgegeben von J. Prado Coelho und G. R. Lind, Lissabon 1966, p. 87. 4

Güntert, Pessoa

50

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Gott der Extreme, Herrscher über das goldenen Zeitalter, dann trauriger, entthronter, geschändeter Gott. Im Räume dieser Dialektik verlief in der Renaissance die Diskussion über das Wesen der Melancholie. 64 Ricardo Reis, das horatianische Pseudonym Pessoas, nimmt seinerseits das Kronosmotiv wieder auf, indem er versucht, das Grundübel Pessoas, diese melancholische Niedergeschlagenheit, diesen Hang zur Verzweiflung, zu überwinden. Auch für ihn fließt die Zeit ohne Unterlaß, doch eben deshalb wird er sie schwerelos genießen: „Tao cedo passa tudo quanto passa!" 6 5 „Atrás nao torna, nem, como Orfeu, volve sua face,

Saturno.""

„Venha depois com as suas cas caídas A velhice que os deuses concederam Que esta hora por ser sua N a o sofra de Saturno Mas seja o templo onde sejamos deuses.. . " 6 7

So schnell vergeht alles Vergängliche !* Nicht wie Orpheus kehrt Saturn wieder und nimmer wendet er uns sein Gesicht.* Möge dann das gebrechliche Alter mit seinen weißen Schläfen kommen, die Götter haben's gewollt. Daß diese Stunde aber, um sich zu gehören, nicht unter Saturn leide, sondern Tempel sei, wo wir die Götter seien . . .*

Reis, das klassischste aller Heteronyma, übernimmt das Motiv anscheinend direkt aus der Literatur der Antike, die auch dem eigennamigen Dichter bekannt und für ihn fast ebenso bedeutsam ist. „Fernando Pessoa suffers from classical culture," bemerkt der futuristische Alvaro de Campos leicht ironisch in einem Vorwort 6 8 . Pessoa hat in seiner Jugend viele klassische Dichter gelesen, aber zumeist in englischer Übertragung. Sein Weg zur Antike geht zuerst über den Umweg des englischen Neoklassizismus. Nicht nur aus der portugiesischen Literatur der Renaissance, auch dorther war ihm das Saturn-Motiv vertraut. Sicher kannte er 64

85 66 67 68

Zum Kronosmotiv in der Renaissance siehe auch E . Panofsky und F. Saxl: Dürers „Melancolia I " . Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung. Leipzig—Berlin 1923. Studien der Bibliothek Warburg, 2, p. 18 ff. Zur Aufwertung der Saturnischen Melancholie in der Renaissance: Marsilius Ficinus, De vita triplici, I, (1482) und Philippus Melandithon, De anima, Vitebergae 1548. O P , p. 277 (Ricardo Reis). O P , p. 280 (Ricardo Reis). O P , p. 293 (Ricardo Reis). Páginas íntimas, op. cit., p. 140.

II. Kronos: Die entthronte Zeit

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Keats' „Hyperion", in dem ja Saturn zu Fall kommt. Wiederum geht es hier nicht darum, direkte Einflüsse aufzuzeichnen. Mit solchen Behauptungen wäre unserm Dichter, der sich selbst gegen diese Art von Literaturkritik sträubte, nur schwer beizukommen. „Through I have been a reader voracious and ardent, yet I remember no book that I have read, so far were my reading states of my own mind, dreams of my own, nay, provocations of dreams.. ," e 9 Seine Welt gleicht dennoch dem Schattental Saturns vor dem Fall, jenem versunkenen Traumland „ohne Nacht und Tag". Sie will uns wie jenes als Tal voller Schwermut (the shady sadness), „fern vom heilsamen Hauch des Morgens, fern vom feurigen Mittag und von des Abends einzigem Stern", erscheinen.70 Seine Flüsse erinnern an jene stummen Bäche, seine Pinienhaine an die finstern Gefilde jener Landschaft, in der „wenn ein welkes Blatt fällt, es liegen bleibt". Land ohne Leben, ohne Bewegung, ohne Zeit. Doch was bei Keats nur ein Anfang war, ist bei Pessoa-ipse auch das Ende. 60 70

4*

id., p. 17. John Keats, Hyperion, I. deutsch zit. aus Keats: Gedichte und Briefe, Manesse, Züridi 1950, p. 164.

Porque a noite é a imagem do Nâo-Ser... (Antero de Quental)

III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum Die bedrückendste Eigenschaft des Pessoaschen Werkes offenbart sidi uns mehr und mehr: es ist die unerschütterliche Stabilität der inneren Situation. Sein Schauplatz ist eine Welt, in der zunächst keine Bewegung, keine Veränderung sich abzeichnet, es vielleicht auch keine Erlösung gibt. Alle Zeit hat sich als „Unzeit" erwiesen; ebenso beklemmend wird auch alles Räumliche. Gleich einem Hafen, der sich den Schiffen verschließt, erscheint Pessoas Welt von „außen" als unzugänglicher Ort ohne Tor und Tür. Von „innen" her, um uns in einer so traditionellen Weise, die der Dichter selber in Frage stellt, auszudrücken, wirkt dieser Ort eng und bedrückend. Die Lage des Pessoaschen Bewußtseins kommt der eines Gefangenen in seiner allzu engen Zelle gleich. Ähnlich dem Kranken in Mallarmés „Les Fenêtres" 1 , oder eher noch dem Bewußtsein Pierre Reverdys, der von sich sagen muß: „Je ne suis pas plus loin que ma prison" 2 , ist es audi Pessoa unmöglich, sich aus dieser Enge zu befreien. Stets wieder am selben Ort festgehalten, sieht er sich in größter Verlassenheit. In einem unvollendeten Gedicht aus dem Jahre 1924 heißt es: „Aquí neste profundo

apartamento

Em que nao por lugar, mas mente estou N o claustro de ser eu, neste momento Em que me encontro e sinto-me o que vou Aqui, agora rememoro Quanto de mim deixei de ser E inútilmente ( . . . ) choro O que sou e nao pude ter.®

1 2

Hier in dieser tiefen Abgeschiedenheit wo ich nicht räumlich, dodi im Geiste weile, im Kreuzgang meines Ichseins, in diesem Zeitpunkt, wo idi mir begegne, in mir fühle, was ich . . .gehe (!) Hier, zu dieser Stunde gedenke ich dessen, was ich zu sein geendet und umsonst... wein ich, um was ich bin und was nicht zu behalten war.*

Stéphane Mallarmé, Oeuvres Complètes, Pléiade, Paris 1945, p. 32. Pierre Reverdy, Tendresse, aus Ferraille, in Poètes d'aujourd'hui, Seghers, Paris 1951, p. 175.

» OP, p. 505.

III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

53

Mit der Wiederholung des Zeitadverbes (neste momento, agora) bringt der Dichter das Negativ-Zeitliche mit dem Negativ-Räumlichen (aqui, no claustro de ser eu), der Verlassenheit, dem Eingeschlossensein, in Beziehung. Das Gedicht ist mißlungen: zu abstrakt, ist es nie vollendet worden. Pessoa entgeht in seinem Spätwerk der Gefahr der „Manier", wie Goethe dies nennen würde, nicht. Dennoch hilft das Beispiel unserer Untersuchung weiter. Ein Ausdruds wie „no claustro de ser eu" scheint uns bedeutsam: „claustro" kann sowohl „Kloster, Klause" wie „Kreuzgang" heißen, d. h., sich auf die innere Enge oder auf die qualvolle Suche nach dem Idi beziehen. Doch auch im Kreuzgang ist der Dichter eingeschlossen, schreitet er wie ein Mönch die immer gleichen vier Gänge ab 4 und harrt geduldig der Erlösung. „Herr, werde ich meine Hände denn nie aus diesen Fesseln lösen könen?" 5 fleht der Dichter anderswo. Was im obigen Gedicht verwirrt, ist die seltsam befremdende Verschiebung von „sou" (ich bin) zu „vou" (ich gehe), das an seine Stelle tritt. Pessoa-ipse weicht dem Wort „ser" oder „sou" wenn immer möglich aus, am häufigsten, indem er es negiert. Auch hier wird es nicht als Antwort (Reim) oder Ergänzung zu „estou", sondern erst am Schluß als etwas Fehlendes, Abwesendes, genannt. Dieser stilistisch allzu kühne Eingriff (sou — vou) verschlimmert nur die Lage des gefangenen Bewußtseins. Die Klause verdichtet sich nicht etwa zu einer Behausung. Ein Raum des Geborgenseins, eine im Augenblick ruhende, erfüllte Insichgeschlossenheit, ist bei Pessoa unmöglich. Bilder der Abgeschiedenheit und des Verirrtseins häufen sich schon im 1906 verfassten Gedicht „Soul-Symbols". Pessoa (d. h. sein erstes Pseudonym: Alexander Search) erfährt sein Wesen als einsamen unbenannten Fluß, als vergessene, unerforschte Insel voll von Grotten und Höhlen, als eine sich zum Labyrinth verbauende Herberge, die ihn mit Entsetzen erfüllt. Dichter, die wie Pessoa die Zeit vermissen, befinden sich zumeist auch im ausweglosen, mittelosen Raum: Antonio Machados Gedichte „La Fuente" (1901) oder „Cenit" (1903) bleiben in dieser Problematik befangen 8 . So auch Alexander Search: 4

Dürfte man nicht sogar in den vier Gängen des Kreuzganges die vier wichtigen Heteronymen, also Pessoa-ipse, Caeiro, De Campos und Reis sehen? Das wahre „Idi" würde sich dann an der „encruzilhada", am Kreuzweg (ein anderer Ausdruck Pessoas), finden. Das Thema des Kreuzwegs (crocicchio) findet sich in ähnlicher Weise im frühen Werk des Italieners Palazzeschi (cf. Paesi e Figure, II Segno, in Opere Giovanili [op. cit. p. 47.] Am Kreuzweg zwischen Ich und Welt wird das Wort Zeichen, das Zeichen Wort. 5 OP, p. 499 op. cit., p. 47. • A. Machado, Poesías Sueltas, ed. Losada, Obras, pp. 31—33, Buenos Aires 1964. Der spätere Madiado nimmt diese Gedichte in seinen Gesamtausgaben nicht mehr auf.

54

III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum " I t is an olden inn with corridors Woven in a labyrinth and scarce of light Where through the night the sound of shutting doors Vague in its cause and place, fills us with fright." 7

Höhlen, Gänge, Wände: jeder Moment seines Daseins zwingt Pessoa in eine neue Zelle, die sich von den früheren in keiner Weise unterscheidet. Aus dem Gefängnis wird ein fortwährendes Gefangenwerden. Es dünkt den Dichter, das Leben verflechte sich wie Spinnennetze ineinander. Immer wieder bedeckt sich der Horizont mit neuen tückischen Schleiern und Geweben: „A aranha da minha Sorte F a z teia de muro a muro . . . " 8

Die Spinne meines Schicksals webt Netze von Mauer zu Mauer . . .

Pessoa wird ständig vor dieselbe Mauer gestellt. Die Zelle seiner Einsamkeit wird zum Gang ohne Ausflucht und ohne Ziel. Je mehr der Dichter sich sucht, je mehr er denkt, umso enger bleibt er angekettet und gefangen. Wiederum könnte er mit Reverdy sagen: „Plus je pense et moins je suis".9 Freilich sagt er, genauer der Pessoasche Faust, nicht „pensar", sondern eben „ver" (sehen): „Quanto mais claro vejo em mim, mais escuro & o que vejo". 10 Sehen, die Pessoasche Form des Denkens, führt irre, es verstrickt noch mehr im undurchsichtigen, unübersichtlichen Gewebe des Schicksals. Gleiches bestätigen Szenerie und Ablauf des dramatischen Gedichts „O Marinheiro", mit dem Pessoa in der ersten Nummer des „Orpheu" auftrat. Er nennt es dort ein „statisches Drama in einem Bild". In einem leeren, schwach erleuchteten Schloßgemach kommen drei wartende Frauen immer auf dasselbe Gesprächsthema zurück. Ihre Reden drehen sich um einen Vermißten, einen Heimkehrer, der nie zurückkommt. Man kann sich schwerlich etwas Monotoneres als diesen Dialog vorstellen. Das Gespräch will immer wieder verstummen, jede Einzelstimme spricht für sich, macht sich etwas vor, ohne die andern zu erreichen. Eine seltsame, aber zusammenhanglose, „moderne" Musikalität klingt aus diesen Stimmen. Man denkt am ehesten an die raffinierten Anklänge und Tonschwankungen, aber auch an die Pausen, in den Spielen eines Tschechov (Die drei Schwestern, 1908), dann an Maeterlinck, den frühen Hofmannsthal, an Palazzeschis „vecchiette", an Rilke. Dieser sagte von Maeterlincks Dramen, die, 7 8 8 10

Zit. aus G. R . Lind, Die englische Jugenddiditung Pessoas, op. cit., p. 138. O P , p. 556. Pierre Reverdy, Le livre de mon bord, Mercure de France, Paris 1948, p. 158. O P , p. 470 (Fausto). „Je klarer ich in mir sehe, um so düsterer wird das, was ich sehe."

III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

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mangels Handlung, für unaufführbar galten, „die Handlung sei eben verinnerlicht, sie liege in den Worten selber." 11 Den Raum, den sich diese Stimmen zum Widerhall wählen, beschreibt Pessoa so: „Ein Zimmer, vermutlich in einem alten Schloß. Vom Fenster her erkennt man, daß es kreisrund ist. In der Mitte erhebt sich ein Sarg über einem Katafalk, darauf eine weißgekleidete Schloßjungfer. Vier Fackeln in den Ecken. Rechts, ziemlich genau dem Zuschauer gegenüber, ist ein einziges, hohes und enges Fenster,.. ," 12 . Wie in jeder noch so eng bedrückenden Zelle gibt es auch in diesem Raum eine Öffnung nach außen. Die drei wachenden Jungfrauen schauen alle durch dieses Fenster, durch das in weiter Ferne ein Streifen Meer im fahlen Mondlicht aufblinkt. Weder die Hoffnung auf das Kommende noch das Beweinen des Vergangenen führt den Dichter zu größerer Freiheit. Alles Leben, alle Bewegung und somit auch alle Freiheit ist „draußen", d. h. jedenfalls nicht da, wo wir sind. So ist Pessoas Haltung denn die eines Wartenden vor dem Fenster. Nicht nur in den frühesten Gedichten, auch in der großartigen „Tabacaria" (1928), dem wohl besten Spätwerk, blickt der Dichter durch ein Fenster auf die Straße, auf ein Gegenüber. Aber nun nicht mehr wehmutsvoll, einem vorübergleitenden Wesen nachtrauernd, sondern resigniert und verhärmt. Diese Resignation geht wie ein Leitfaden durch das Werk dieses Dichters, der weiß, daß er nur das Fremdsein und die Entfernung der Dinge wahrnehmen kann: „Cheguei ä janela porque ouvi cantar E' um cegó e a guitarra Que estáo a chorar.13

Idi trat zum Fenster, da ich singen hörte Ein Blinder und seine Guitarre waren da und weinten.*

Von seinem Fenster sieht (sich) der Dichter (als) einen Blinden, der seine Guitarre bei sich trägt, ohne sie je zu erblicken. Das Thema der Entfernung verdoppelt sich hier: gleich wie der Zuhörer fern von der wehmütigen Musik wartet, so trennt den Spielmann seine eigene Blindheit von dem Instrument. Auch wenn das Licht der Außenwelt auf unser Bewußtsein träfe, so würde unser Blindsein nur eine neue Mauer vor uns aufrichten. Diese Blindheit ist im letzten des Dichters Unfähigkeit, die Welt und sich selber zu erfassen. Die Mauer bedeutet bei Pessoa nicht etwa Schutz, sie ist immer trennende Wand. " R . M . R i l k e , im Vortrag: Maurice Maeterlinck, 1902, in Sämtl. Werke, V. op. cit., pp. 527—49. OP, p. 441 (O Marinheiro). 13 OP, p. 543.

12

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III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

Mehr als einmal spielt der Diditer dialektisch das Thema Nah-Fern durch, so insbesondere in „Chuva Obliqua" (Schräger Regen). Hier als dramatischen Abschluß einer wirbelnden Komposition: In der Stille eines Zimmers ertönt auf einmal eindringliches Trommeln eines Tamburins. Hingerissen, finden wir uns unvermittelt ins weiße Andalusien versetzt, dem Rhythmus eines wilden Flamencos folgend. Anstelle des dunklen Gemachs ist nun alles starr und hell erleuchtet, das Licht steigert sich, die Szene weitet sich, doch plötzlich verzerrt sie sich und entgleitet: De repente todo o espajo para . . . Pära, escorrega, desembrulha-se . . .

14

Plötzlich verhält der ganze Raum... hält, entgleitet und entwirrt sich . . .

Der Raum entgleitet ins Endlose. Das Zimmer hat keine Wände, der Tanz keine Bewegung mehr. Statt einem Gefühl der Befreiung überkommt uns erschreckende Leere. Der rauschende Flamenco führt hinüber ins Unwirkliche — bricht dort unvermittelt ab. Wäre es aber doch so, daß ein hinreißender Tanz, ein bewegter Rhythmus, der Zauber einer Melodie uns anderswohin versetzen könnten? Der letzte Teil von „Chuva Obliqua" gleicht dem An- und Ausklingen einer Symphonie, deren Mittelstück wir vergeblich suchen. Der Dichter hebt den Taktstock und schon ertönt, wie hergezaubert, ferne Musik, in der er sich selbst weit weg als Kind mit einem Hund und einem Ball vor einer Hinterhofmauer spielen sieht. Das Bild wird zunehmend bunter und belebter. Jenseits der Mauer führt ein gelbgekleideter Jockey sein blaues Pferd spazieren, diesseits rennt der grüne Hund wild vorüber. Diese Traumwelt ist von wehmütiger Musik untermalt: E a müsica atira com bolas k minha infancia . . .15

Die Musik wirft mit Bällen nadi meiner Kindheit...

Es ist ja die wunderbare Kraft der Musik, Erinnerungen zu wecken und unsere Gedanken in die Ferne schweifen zu lassen. Aber auch in diesem Gedicht weist nichts in Richtung der Proustschen Sonate von Vinteuil. Hier wird die Musik, so wie sie allmählich leiser und verhaltener klingt, zur weißlichen Mauer, in schwindlige Höhen wachsend: Todo o teatro e um muro branco de müsica . . . 18 14 15 16

OP, p. 115. id., p. 116. id., p. 116.

Das ganze Theater ist eine Mauer aus Musik . . .

III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

57

Statt die Farben (blau und gelb einerseits, grün andererseits) zu verschmelzen und dem Bild einen Wohlklang zu verleihen, wird diese Musik zu Stein, während das Jagen von Kind, Hund und Reiter immer gehetzter und absurder wird. Die Wirklichkeit der Anfangs-Szene fällt auseinander, vertauscht sich, ohne sich neu zu ordnen. Man könnte sich bei Kafka („Auf der Galerie") wähnen. Die bunten Farben verlieren an Kraft, die Töne verstummen, das Bild wird schwarz-weiß, bis es ganz entschwindet. Und das Verstummen der Musik gleicht einem Einsturz: E a musica cessa como um muro que desaba . . . 1 7

Und die Musik bricht ab wie eine stürzende Mauer . . .

Den Gedanken des Dichters scheint ein böser Zauber innezuwohnen, der sie immer wieder zu nichts werden läßt. Die Mauer, die sie von den Dingen trennt, ist letztlich nichts anderes als diese erst weißliche, dann sich verdunkelnde Leere ohne Substanz und Leben. Sie selber ist auch Illusion, und doch wirkt sie zugleich erdrückend nah und unendlich fern. Dieser Dialektik begegnen wir nun auf Schritt und Tritt: „Um muro de nuvens densas

Poé na base de Ocidente Negras roxuras pretensas Com a noite tudo acaba

O céu frió é transparente-18

Eine Mauer von dichten Wolken häuft tief unten im Westen dunklen, scheinhaften Purpur . . . Mit der Nacht bricht alles auf. Der Himmel ist kalt und transparent.*

Eine abendliche Himmelslandschaft (1929 entstanden), die den Dichter anspricht. Eine dichte Wolkenwand, welche, sich im Abendhimmel auftürmend, die letzten Sonnenstrahlen verschluckt, löst sich auf einmal auf im nächtlichen Himmel, indes das dunkle Abendrot verschwindet. Lyrisch, fast feierlich-dramatisch, tritt uns dieser Abendhimmel entgegen; kalt und „sachlich" erscheint darauf die Nacht. Durchsichtig und fremd starrt sie uns entgegen. Vom beengenden Kerker, in dem sich das Bewußtsein Pessoas manchmal erkennt, zum leeren, leblosen Raum ohne Grenzen ist es ein kleiner Schritt. Bei jedem neuen Gedanken wiederholt sich diese Verwandlung, gleich einem Sturz ins Leere. Überspitzt ausgedrückt: Pessoas Gedanken gleichen Bausteinen für eine ständig wachsende Mauer, die ihn selbst in die Enge treibt oder plötzlich, alle Dimensionen verlierend, einstürzt und als trostloses Nichts vor ihm steht. 17

id., p. 116.

18

O P , p. 149.

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III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

Seit den frühesten Jahren seiner dichterischen Existenz erlebt Pessoa den Regen in dieser eigentümlichen Doppelseitigkeit. Im zweiten Teil von „Chuva Obliqua" („Schräger Regen") erblicken wir durch den Regen hindurch eine hell erleuchtete Kirche. Gedämpftes Kerzenlicht glimmt aus dem geschlossenen Gotteshaus durch die Scheiben in den Regen. Dieser bildet einerseits eine Verlängerung und eine Verdichtung der trennenden Mauer, andererseits, das Licht in sich aufnehmend, es weitertragend, ist er deren Auflösung und Lockerung. Wie ein Leitkörper, ein Medium (ist es die längst gesuchte Verbindung?), bringt er uns den Lichtschimmer näher, als ob uns dieser durch die Nässe des Regens hindurch berührte. Die Wirklichkeit wird hier, gemäß dem Programm der Sensationisten als „komplex" empfunden, sie erfüllt uns synästhetisch. Alles scheint zu andächtiger Stimmung verwoben. 19 Die Grenzen der Außen- und Innenwelt sind wie aufgehoben: „Alegra-me ouvir a chuva porque ela e o templo estar aceso

E as vidrafas da igreja vistas de fora sao o som da chuva ouvido dentro .. ."20 Gern lausch ich dem Regen, denn er ist die lichterfüllte Kirche Die Kirchenfenster, angeschaut von draußen, sind Regen rauschen, von drinnen . . .

por

angehört

Noch ist die Übereinstimmung der beiden Bereiche nicht vollkommen, denn der Regen wirkt täuschend. Sobald er aufhört, ist die Distanz zum Tempel und zur Lichtquelle wieder offensichtlich. Eine Weile lang läßt es Pessoa bei dieser Illusion bewenden, indem seine Gedanken das Wechselspiel fortsetzen. Hin und her, hinüber und zurück, eilen sie, als könnten sie die Mauer doch durchdringen. Die einzelnen Elemente des Innenraums (Altar, Kerzen, Licht) mit dem Draußen (der Lauschende, der Regen) verbindend, vollbringt er wahre syntaktische Kunststücke: "O esplendor do altar-mor e o eu nao poder quase ver os montes Atrav£s da chuva que l ouro täo solene na toalha do altar." 21 Der Glanz des Hochaltars: ich kann die Berge kaum erkennen durch all den Regen — dieses feierliche Gold der Altardecke... 19

20

Man vergleiche, was Heidegger einmal über das Wort „Stimmung" schreibt: „Stimmung ist nie ein bloßes Gestimmtsein in einem Innern für sich, sondern ist zuerst ein so und so sich-Bestimmen- und Stimmenlassen in der Stimmung." (M. Heidegger: Nietzsche, I, p. 119, Pfullingen 1961.) OP, p. 114. Vgl. auch in „Antinous", wo der Regen als Echo fast gleichzeitig drinnen und draußen wahrgenommen wird: „The rain again like a vague pain arose / And put the sense of wetness in the air." (OP, p. 605)

" OP, p. 114.

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Dem Übersetzer ist es hier unmöglich, Pessoas Kunstgriffe genau zu übertragen. Die dem Portugiesischen geläufige Konstruktion des persönlichen Infinitivs kommt dem Dichter in verblüffender Weise entgegen. Er operiert damit so lange, bis ihm die seltsamsten Bezüge glücken. Manchmal geht er zu weit 22 , dann bricht auch die Verbindung wieder. Dieses Ringen mit der Sprache ist nichts weniger als sein verzweifelter Versuch, Getrenntes zu vereinen oder doch in Beziehung zu bringen. Wild überschneiden sich all diese Bezugslinien, ; n der Hoffnung, endgültig zu sein. Anfangs spielerisch, wird die Sprache nach und nach forcierter, bis der Leser angesichts der Unsinnigkeit solcher Versuche stutzt. Die Infinitivkonstruktion, in ihrer „persönlichen Unpersönlichkeit", entspricht wie kaum eine andere der substanzarmen Welt Pessoas. Als Nominalkonstruktion entbehrt sie jedes Zugreifens. Sie ist höchstens virtuelles Verbum, dessen Aktualisierung der Dichter jedoch immer wieder verneint. Dem oben erwähnten Zitat ist ferner beizufügen: das die Beziehung bildende „¿" (dt. = ist) bedeutet ebenfalls nicht Ubereinstimmung, sondern — da es ja zwei unversöhnliche Realitäten verbindet — nur die Absurdität einer solchen. Wollte man den Satz auf Deutsch möglichst genau wiedergeben, so müßte er etwa lauten: „Der Glanz des Hochaltars ist (zugleich) mein Unvermögen, die Berge durch den Regen hindurch, der all das feierliche Gold der Altardecke ist, zu erkennen." Wörtlich übersetzt enthüllt der Satz seine tragische Negativität. Dieser Regen, der eingangs die Innen- und Außenwelt auf einander abzustimmen vermochte (lauschen-rauschen), schleicht sidi nun überall ein. Sein Rauschen ertönt schließlich in der Stimme des zelebrierenden Priesters. Doch da bricht es ab und mit ihm verklingt die Stimme. Alles kommt ins Stocken, wird zum einheitlichen Grau, verstummt. Und das Bild ist wie weggewischt. Ein deutscher Kritiker sagt einmal mit Recht, man könnte eine Reihe von Gedichten Pessoas als „Regenpoesie" zusammenstellen23. Beim genauen Hinsehen decken wir noch folgendes auf: Pessoas Gedichte kennen selten oder nie den starken, prasselnden Regen. Nicht dröhnender Platzregen, sondern die feine atlantische „Chuvinha", an die man in den Küstenstädten Portugals gewöhnt ist, dieses alles durchdringende Geriesel, das einen, ohne daß man es merkt, in kürzester Zeit durchnäßt — das ist eines der Bilder, die sein Werk auszeichnen. Die Platzregen und Stürme 22

In einer portugiesisdien Arbeit über den Stil des eigennamigen Pessoa steht klipp und klar: „Em Pessoa, a substituifáo da forma pessoal pelo infinito leva a auténticos erros gramaticais." Vgl. M. Lourdes Saraiva Rodrigues, op. cit., p. 74.

® Bruno Linnartz, in: Alberto Caeiro als Antipode Fernando Pessoas, „Romanistisdies Jahrbudi 1966", XVII, p. 326.

!

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überläßt er den Pseudonymen. Im fast unhörbaren Geriesel lauert jeweils schon die Stille: „Täo calma e a diuva que se solta no ar (Nem parece de nuvens) que parece que näo e chuva, mas um sussurrar que de si mesmo, ao sussurrar, se esquece. Chove. Nada apetece."24 So gelind ist der Regen, gelöst in der Luft (als käme er nidit aus Wolken) als wärs nicht Regen, sondern Flüstern ein Flüstern, das beim Flüstern sich selbst überhört. Es regnet. Nichts regt an . . ."*

Diese Stille hat nichts Einladendes, sie verbirgt keine Fülle. Es ist das Schweigen des Nichts, das uns durch alle Erscheinungen hindurch anblickt. Wie die Mauer ist der Regen ein täuschendes Bindeglied zwischen nah und fern, innen und außen. Er ist Pessoas wichtigstes Bild für den Vorgang der Entwirklichung. „Chove? Nenhuma chuva c a i . . ." 25 „Regnet es? Kein Regen f ä l l t . . . " Die Welt einzufangen, sie zu bestimmen und zu ordnen, das wäre die Aufgabe unserer Gedanken. Wenn ihnen aber Richtung und bestimmender Pol fehlen, dann ist es undenkbar, daß sie sich konzentrieren. Je mehr sie es versuchen, desto abwegiger wird ihr Verlauf sein. „Je mehr ich es begreife", sagt Pessoas Faust, „umso dunkler wird mir beim Begreifen."26 Dieser Faust ist wie derjenige Goethes an die Grenzen seines Denkens und Erlebens gelangt. Ihm bleibt versagt, sich ins Zentrum einer Welt zu stellen. Pessoa unterschreibt in diesen Bruchstücken seine Kapitulation vor dem Leben. Fausts erstes Wort ist „Flucht", Flucht vor dem erdrückenden Geheimnis seiner Existenz. Eher als eine vom Menschen gedeutete und auf ihn abgestimmte Welt, finden wir daher bei Pessoa menschenleere Weiten, Mondlandschaften. Pessoas Landschaft ist wohl am häufigsten eine große, weite Fläche, eine regungslose Ebene, ein nächtlicher Himmel oder das offene Meer, auf denen irgendwer, der Orientierung ungewiß, nadi einem Weg sucht. „Ha no firmamento um frio luar." 27 " OP, M OP, 2C OP, 17 OP,

p. 175. p. 121. p. 470 (Fausto). p. 129.

Im Firmament ist kalter Mondsdiein.*

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Die Welt des Dichters erscheint hier als schwach beleuchtete Nacht mit kaltem Mondlicht. Das Verbum „hd" — es tönt portugiesisch wie einfaches offenes A — dient mehr als einmal dazu, ein Gedicht zu eröffnen. Als Verbform hat das unpersönliche „ha" geringe Ausdruckskraft, in der deutschen Ubersetzung wäre es eigentlich wegzulassen. „Ha" ist, ähnlich dem Französischen il y a, Vorhandensein, Dasein. Selbst in Zeitbestimmungen braucht Pessoa merkwürdigerweise nicht „ser", er verwendet auch dort das unbestimmtere, verräumlichende „haver": "Comega a haver meia-noite, e a haver sossego . . ." 28 Bald wird es Mitternacht und ruhig werden . .

Gleich fremd und unpersönlich wie diese Zeit entstehen in ihm die Gefühle. Sie sind irgendwo da, ohne daß er sich ganz mit ihnen eins fühlte: „O que ha em mim e sobretudo cansa90 . . ." 2 t In mir ist vor allem Müdigkeit..

Unpersönlicher könnte sich der Dichter schwerlich ausdrücken. Die Müdigkeit hängt über ihm wie ein leerer Himmel, trostlos, sinnlos. Wiederum dieselben Worte für eine kalte Nacht: „Ha um frio e um vdcuo no ar 'sti sobre tudo a pairar Cinzento-preto o luar." 30

Kälte, Leere, hängt in der Luft Ober allem sdiwebt Grau-schwarzer Mondensdiein.

Die Nacht ist zugleich siditersdiwerendes Dunkel und endlose Weite. Nie aber ist sie so stockfinster, daß sie abschirmen oder isolieren würde. Vor uns, hinter uns, rundherum ist nichts da außer dieser gleichförmigen, grauen Stille. Anders als das Dunkel einer chaotischen, noch ungeformten Welt, wie wir sie aus dem biblischen Schöpfungsbericht kennen, ist das keine nächtliche Welt im Aufbruch. Beide Male, in diesen Zitaten, ist nämlich der Mond nicht als orientierender Lichtkörper, sondern nur als schwaches Zwielicht sichtbar. Ungleich der Sonne, die die Dinge mit Licht und Wärme erfüllt, ist dieses falsche, reflektierte Mondlicht mehr scheinbar denn wirklich. Anstatt die Nacht zu erhellen, weist es, ähnlich den Lichtschimmern in Dantes Limbus, auf das Fehlen echten Lichtes hin. Die Nacht Pessoas hat zudem oft, ober nicht durchweg, etwas Erstarrtes und Abweisendes an sich. Nicht selten leitet sie müde Gedanken der OP, 511, " OP, OP,

88

p. 392 (Älvaro de Campos), siehe auch Pessoa-ipse, pp. 106, 124, 510, 523, 541, 543. p. 393 (Älvaro de Campos). p. 551.

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III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

Trauer und der Verlassenheit ein. So überraschen uns die folgenden Zeilen mit diesem brüsken Übergang nicht: der Mondschein, die frühe Morgenstunde, künden mit ihrem Zwielicht den kommenden Tag an. Da dieser nichts Neues bringt, ist der Lichtschimmer selbst schon sinnlos. „Luar triste de antemanhá De outro dia e sua vá 'speranja e inútil afá.

Trauriges Licht des Morgengrauens, des neuen Tages und seiner eitlen Hoffnung, seiner vergeblichen Mühe.

E ' como a morte de alguém Que era tudo que a alma tem E que näo era ninguem.31

Dem Tod gleich von jemandem, der alles war, was die Seele hat und der doch niemand war."

Nicht immer sind die Landschaften Pessoas so nächtlich-wehmütig. Hin und wieder erscheint, wenn auch meist nur als Verneinung, der helle Tag. Am ehesten zeigt er sich dann als sonnenschwerer Nachmittag, dem unverzüglich die Dämmerung folgt. Im Lied der singenden Schnitterin, „Ela canta, pobre ceifeira" 32 , bildet der frische Gesang im hellen Sommertag einen starken Gegensatz zum mühseligen Leben, dem er entspringt. Die Unbeschwertheit der Sängerin wird zu Unverstand, als übersähe sie das bedrückende Dunkel, das sie umgibt. Der orthonyme Pessoa zeigt sich in der Wahl seiner „Seelenlandschaften" beharrlich. Es sind dies, wie gesagt, unendlich weite, maßlose Räume. Ein Raum ohne Grenzen trägt noch das letzte Verebben der Wellen am Ufer des Bewußtseins. Jede Regung des Geistes vernichtet die vorherige; trotzdem verlängert sich die Landschaft, vergrößert sich die Leere im Bewußtsein. Wie wenn wir mit dem Zug durch eine monotone Gegend fahren, deren Aspekte sich stets wieder zum Verwechseln ähnlich sind, so erscheint schon bald die Welt im Werk des Dichters. Ein undatiertes, vielleicht sehr frühes Gedicht führt die bezeichnende Aufschrift „Alentejo visto do comboio" 33 , Alentejo vom Zug aus gesehen. Anscheinend handelt es sich um ein Epigramm aus dem Jahre 1907, das einem englischen Brief an Armando Teixeira Rebelo beigelegt war. 28 Jahre später hat dieselbe Landschaft Älvaro de Campos inspiriert.34 Merkwürdig karg, resigniert, ist es dann nur ein Selbstgespräch des Dichters. Die Landschaft schwingt nicht hinein, sie liegt da als Distanz zwischen den Zeilen. Der portugiesische Leser erlebt sie dennoch in einem 81 32 33

34

OP, p. 552. OP, p. 144. Jorge Nemesio, in A Obra Poetica de F. Pessoa, Bahia 1958, p. 143, bezeichnet es als eines der ersten Gedichte Pessoas, ebenso denkt Joao Gaspar Simoes, op. cit. Joao Gaspar Simoes zitiert den Brief und das englisch verfaßte Epigramm, welches mit Alvaro de Campos' Notiz, „Escrito num livro abandonado em viagem" nicht viel gemeinsam hat. Op. cit., I, p. 95.

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Ausdruck wie „dos lados de Beja", aus der Gegend von Beja.35 Zwischen Beja und dem Ziel, der Hauptstadt Lissabon, blickt er durch die Scheiben des fahrenden Zuges auf die eintönigen Höhenzüge und Bodenwellen dieser Ebene. Der Reisende will aus der Provinz hinaus in die Hauptstadt, von der Peripherie zur Mitte. Hinter ihm versinken die Felder in der Ferne. Eine Distanz wird überwunden, eine Bewegung führt scheinbar zum Ziel. Pessoas Welt aber kennt kein Endziel. So verlängert sich der Raum ins Unendliche, der Reisende ermattet, das Bild verdüstert sich und die Bewegung wird zum hilflosen Treten am Ort. Nicht umsonst hatte der junge Reisende Höllenvisionen angesichts dieser leeren Weite. In einem grenzenlosen Raum kann es kein Vorwärtskommen, keine Bewältigung des Raumes geben. Kierkegaard hatte merkwürdigerweise ein ähnliches Erlebnis in den Ebenen Jütlands. So notiert er einmal in sein Tagebuch: „Eben weil man auf der Heide eine so weite Aussicht hat, hat man überhaupt keinen Maßstab; man geht und geht, die Gegenstände verändern sich nicht, da eigentlich kein Gegenstand da ist, (denn damit ein Gegenstand da sei, ist stets das andere erforderlich, wodurch er ein Gegenstand wird, aber das ist das Auge nicht; das Auge ist das Verknüpfende) 38 . Keine irdische Landschaft gibt uns stärker den Eindruck der Verlassenheit im Raum als die Wüste. Wüste und Meer entsprechen sich als Symbole der schwer zu bewältigenden Distanz. In der frühchristlichen Zeit wird das Leben oft mit einer mühseligen Pilgerreise durch wüste Gegenden verglichen. Für den Gläubigen gibt es einen Weg; ihn aufzufinden und immerfort einzuhalten ist sein Auftrag. Schon seit Petrarca entsprechen der Einsamkeit des modernen Menschen eher das steuerlose Schiff und der verirrte Reiter 37 . Im Gedicht „A Mumia" führt uns der Dichter eine gefährdete Karawane vor Augen, die unendliche Einöden durchzieht. Daß diese Leere und diese Gefährdung seinem Bewußtsein gehören, weiß er selber: „Andei leguas de sombra dentro em meu pensamento."38

Ich durchlief meilenweites Dunkel in meinen Gedanken.*

Wie den Reiter in der Wüste nach Wasser dürstet, so wartet das Bewußtsein auf Klarheit und Licht. 35

36 87

38

Im englischen Text des jungen Pessoa war die Landschaft so geschildert: „Nothing with nothing around it / and a few trees in between / None of which very clearly green, / Where no river or flower pays a visit. / If there be a hell, I've found it, / For if it ain' here, where the Devil is it?", id., p. 95. Soeren Kierkegaard, Tagebücher, I, p. 245, op. cit. Vgl. W. H. Auden, The Endiafed Flood, Three critical essays on the romantic spirit, New York 1949. Besonders im Kap.: The Sea and the Desert. OP, p. 131.

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III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum „Ha um 6asis no Incerto E, como uma suspeita De luz por näo-ha frinchas Passa uma caravana."38

Eine Oase im Ungewissen Und eine Karawane, die wie ein Lichtschimmer, durch keine Spalten geht.*

In der Oase wird der Reiter rasten und Kräfte sammeln. Sie ist audi ein Ort der Besinnung, der Orientierung. Wo der Leser „deserto" (Wüste) erwartet, schreibt Pessoa „Incerto", (das Ungewisse). In dieser Ungewißheit gibt es, mangels Führung, kein Fortbewegen, nur Umherirren. Verblüffend wirkt die Gegenüberstellung: „Ha um öasis — näo-ha frinchas" (Spalten) und ebenso absonderlich der Vergleich, die Karawane wie ein Irrlicht zu sehen. Sie ist demzufolge Karawane und Fata Morgana, Wüste und gespiegeltes Wüstenbild, ebenso unwirklich wie das reflektierte Mondlicht, wie ein Gespensterschiff auf der hohen See. „Man marks the earth with ruin — his control stops with the shore." 49 So weit Lord Byron. Wenn nun Pessoa das Meer in seine dichterische Welt bringt, so stellt er sich zunächst einmal in eine lange, ununterbrochene nationale Tradition, die von den „Cantigas do Amigo" — wo in einem Beispiel41 die auf der Insel zurückgelassene Geliebte in den Wellen versinkt — zu den Lyrikern der Renaissance, bis hinauf zu dem gewaltigen Meeresepos von Camoes und hinüber in die Neuzeit, etwa zu Aleixandro Herculanos Gedicht „Tempestade" (Sturm) führt. Die Dichtung der Portugiesen, wie überhaupt ihr ganzes Wesen, läßt sich ohne das Meer nicht denken. Auch Fernando Pessoa sieht im Meer eine dramatische Versinnbildlichung des eigenen Daseins. Eigentlich dramatisch wird diese Thematik bei ihm nur an zwei Orten, in der „Ode Maritima" von Alvaro de Campos und im Buch „Mensagem" (Botschaft). Sei es dort das an Geschichte so reiche „Mar portugues", wo er die bezwungene See als durchfahrenen und eroberten Raum, die „possessio maris", besingt, sei es in der übrigen Dichtung, wenn er in „Hora Absurda" das verlassene, uferlose Meer beschreibt, dieses ist stets geheimnisvoller Träger seiner Poesie, jedoch meist ohne die bei andern Dichtern, etwa bei Thomas Mann 42 , so wesentliche Tiefenwirkung. Eher ließe sich das seltsame Goethegedicht „Meeres Stille" zum Vergleich herbeiziehen: „Glatte Fläche ringsumher — keine Luft von keiner Seite." Das Meer ist für Pessoa jener grenzenlose Raum, »» OP, p. 131. 40 In The Childe Harold, zit. bei W. H. Auden, op. cit., Anmerkung 28. 41 Cantigas do Amigo nennt man die früheste galizisdi-port. Volksdiditung. Hier geht es um das bekannte: „Sedia-m'eu na ermida de San Simion.. C. V. 438, C. B. N . 795. 42 Vgl. besonders H. Lehnert, Thomas Mann, „Fiktion, Mythos, Religion", Kohlhammer, Stuttgart 1965, p. 12, 37, 81. Th. Mann, Gesammelte Werke in 12 Bd., Frankfurt 1960 (I, 671).

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in dem die Zeit versinkt. Sobald das Schiff die Ufer endgültig verlassen hat, verliert der Reisende auf dem Meer jegliches Zeitgefühl. Im Bereich der ewig gleichen Horizonte verwischt sich das Zurückgelegte im Schweigen der Wellen. „O teu silencio e uma nau com todas as velas pandas Brandas, as brisas brincam nas flamulas, teu sorriso"4® Dein Schweigen ist ein Schiff mit vollen, aufgeblähten Segeln Sanft spielen die Winde in den Wimpeln, deinem Lächeln.*

In „Lisbon revisted" läßt Pessoa sein Pseudonym De Campos sagen, er sehe die Stadt auf diese Weise auftaudien und verschwinden: „E entra na noite como um rastro de barco se Na ägua que deixa de se o u v i r . . ." 4 4

perde

Und in die Nacht eingeht, wie sich die Spur eines Schiffes im Wasser verliert, das niemand mehr rauschen h ö r t . . .

Dieses Verstummen ist die unheimliche Ruhe der „Hora Absurda": „A hora sabe a ter sido" — die Stunde riecht nach Vergangenem. Es ist das Vergessen, das Ausfallen und Schweigen der Zeit im unfaßbaren Raum. Zwar fährt Pessoas Schiff beharrlich mit vollen Segeln, doch hinterläßt es im Meer keine Spur. Nur die Winde, wie ein leises Versprechen, spielen in seinen Wimpeln. Ihre fast unmerkliche Berührung ist der einzige Kontakt mit der Wirklichkeit. Er berührt wie das rätselhafte Lächeln einer Maske, deren Gesicht niemand kennt. Spricht man von einem Raum ohne Zeit, so mag der Leser versucht sein, an die zeitlose Innerlichkeit der späteren Rilke-Gedichte zu denken: an ein Sonett wie „Römische Campagna", wo der Weg von allem Zufälligen und Vergänglichen weg mitten ins Bleibende führt, oder wieder an die „Treppe der Orangerie", die alle Zeitlichkeit übersteigt45. Rilkes Versailler Treppe — wir erwähnen sie vergleichshalber — läßt alles Prekäre hinter sich, um „königlich" nurmehr zu schreiten. Dieses Schreiten vollzieht sich in einer Innenwelt, in der „Leere, die alles überlebt", d. h. " OP, p. 109. OP, p. 360 (Älvaro de Campos). 45 Hier der Text des Gedichtes „Die Treppe der Orangerie", aus den Neuen Gedichten, I. Teil, R. M. Rilke, Sämtl. Werke, op. cit., p. 527: (zweite und dritte Strophe). „So steigt, allein zwischen den Balustraden, / die sidi verneigen schon seit Anbeginn, / die Treppe: langsam und von Gottes Gnaden / und auf den Himmel zu und nirgends hin; als ob sie allen Folgenden befahl / zurückzubleiben, — so daß sie nicht wagen / von ferne nachzugehen; nicht einmal / die schwere Schleppe durfte einer tragen." 44

5

Güntert, Pessoa

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in der künstlerischen Erfüllung des ganz verinnerlichten, poetischen Gedankens, in der Fülle der ver-dichteten Sprache. Gerade diese Fülle, sei sie nun ästhetisch oder ontologisdi verstanden, steht in schroffem Gegensatz zu Pessoas Substanzlosigkeit. Vom „reinen Gedanken", wie ihn Rilke versteht, (und) noch viel weniger von Ideen, will Pessoa in der eigennamigen Dichtung nichts wissen. Ein Denken, das die Dinge nicht sinnenhaft einbezieht, das nicht über sich hinaus wieder zu ihnen führt, scheint ihm sinnlos, gleich den mechanischen, ruckhaften Bewegungen, einer falsch gesteuerten Maschine. Bevor der Dichter ins Leere stürzt, versucht er sich krampfhaft im entweichenden Raum zurechtzufinden. Der Versuch scheitert. Neben „Hora Absurda" steht das Gedicht „Hora Morta". Der zeitverneinende Stundenschlag findet hier eine im Räumlichen genaue Entsprechung: Der Mond, dieses letzte, schwach glimmende Nachtlicht ist nur da, um bald zu erlöschen. „Lenta e lenta a hora Por mim dentro soa (Alma que se ignora) Lenta e lenta e lenta Lenta e sonolenta

A Ina se escoa .. .46

Langsam, unendlich langsam tönt der Stundenschlag in mir (Seele, die sich nicht weiß . . . ) Langsam, langsam, unendlich langsam und schläfrig leert sich der Mond . . .*

Die Natur läßt in uns eine Spur von monotonen Rhythmen zurück, die wiederholten, gleichtönenden Klängen entsprechen. Soar, lua, escoar, aus fast lauter Vokalen bestehend, — man vergleiche daneben die kräftigen spanischen Entsprechungen: sonar, luna, excolar — geben mit negativer Eindringlichkeit das Bild einer verlassenen, sterbenden Landschaft wieder, die im Traum versinkt. Denken ist nutzlos, es bleibt dem Dichter nur, die Welt zu träumen. Nicht jedes Sinneserlebnis ist so negativ wie der Stundensdilag oder das erloschene Mondlicht. In „Chuva Obliqua" hatten Töne und Klänge des Dichters Ohr eine Zeit lang berührt. Sollte nicht doch der Musik eine stärkere Suggestion eignen, kraft derer wir eine innere Resonanz während geraumer Zeit empfänden? Klingt nicht irgendeine leise Melodie durch des Dichters Werk, die die gläserne Härte seines Denkens etwas milderte oder sie gar aufhöbe? Das lineare Spiel der Flöte, ihr sanftes, aber durchdringendes Tönen, ist weder Pessoa-ipse noch andern Dichtern seiner Zeit unbekannt. Cesärio Verde, dieser große, in Alvaro de Campos stark gegenwärtige Dichter, lauscht dem Flötenspiel in der nächtlichen Stadt und bringt dessen gleichmäßige Melodie mit dem linearen Verlauf der Häuserreihen « OP, p. 107.

4

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und der Straßenzüge zusammen. Aus dem allmählichen Crescendo dieser Töne entsteht so ein langgezogener, kontinuierlicher Übergang vom Alltäglichen der Stadt, über Stadt und Land, ins Bleibende, von der ephemären Gegenwart zu Gedanken an das Vollkommene, Schöne und Ewige. „E eu sigo, corno as linhas de uma pauta A dupla correnteza angusta das fadiadas Pois sobem, no silêncio, infaustas e trinadas As notas pastoris de urna longinqua flauta."" Idi folge, wie die Streifen eines Linienblattes, den engen Doppelzeilen der Fassaden; Dann steigen traurig trillernd aus der Stille die Töne einer fernen Hirtenflöte.*

Was hier, aus tiefer Vergangenheit kommend, so klagend die großstädtische Welt dieses bürgerlichen Dichters belebt, das sind Töne aus dem goldenen Zeitalter Pans. Wohl klingen sie traurig, denn die Stadt hemmt ihre Melodie. So wie Bäume, Pflanzen, Tiere, alles Natürliche den Häusern weichen mußte, so wurde diese Musik in eine ferne Welt abgedrängt. Nichtsdestoweniger führt ihr Klang über dieses Häusermeer hinaus in weit entfernte, bukolische Bereiche. Wie Pan ehemals im Schilfrohr, aus dem er die Flöte schnitt, die Stimme der Syrinx wieder zu hören hoffte, so lauschen diese Diditer der Sprache ihrer eigenen Anima. Das Syrinx-Motiv scheint Pessoa (und Reis) aus der lyrischen Tradition der Engländer bezogen zu haben. Shelleys „Hymn of Pan" und Keats' „Endymion" — nach ihnen dann Mallarmé in „L'Après-midi d'un Faune" — spielen auf diesen Mythos an. Die Flöte ist dort Sinnbild des künstlerischen Schaffens, des Strebens nadi Verewigung. Mallarmés Faun wirft die Flöte weg und wird dafür bestraft 48 . Direkt von Mallarmé wird Luis de Montalvor das Thema übernommen haben. So erscheint es denn audi in dem Fernando Pessoa gewidmeten Gedicht „Narciso" 49 . 47

Cesario Verde, O Livro de Cesario Verde, Obra Completa, Portugalia Ed., Lissabon 1964, p. 109.

48

Vgl. auch K. Wais, Stephane Mallarmé: 2 Gedichte und ihre Vorgänger, in: „Französische Marksteine", Berlin 1958, pp. 252—77.

40

Luis de Montalvor, op. cit., p. 23. Hier die betreffende Strophe: „Tarde de tentafáo! Que estranhas melodias / inquietara o céu de um rumor ignorado? / Seringe! Tua flauta arrosa de encantado / e sangue de Ilusào esta tarde em demencia / que a legenda recorda; e da imortal essència / do sonho esta hora antiga exuma o velho idilio."

5*

68

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Entzückt lauscht Ricardo Reis (-Pessoa) dem Flötenspiel. Für ihn bedeutet es ein melancholisches Verweilen in der flüchtigen Welt der Sinne. Er weiß, die Musik dauert nur, um dann doch abzubrechen. Gerade deshalb ist er bereit, all ihrer Schönheit sich zu öffnen. „A flauta antiga do deus durando .. ."50 „A flauta calma de Pä, descendo Seu tom agudo no ar pausado Deu mais tristeza ao moribundo Dia suave.51

Die Flöte des antiken Gottes, verweilend . . . Pans ruhige Flöte, ihr hoher Ton, sich in der Windesstille langsam senkend verlieh dem sterbenden, süßen Tag größere Traurigkeit."'

Träumerisch umspielt diese Musik das Verblassen des Tages. Ihr süßes Piano verzaubert ihn ein letztes Mal, ohne sein Dahineilen aufzuhalten. Lang und nachhaltig, aber klagend hört Camilo Pessanha das Flötenspiel, so etwa im Gedicht „Ao longe os barcos de flores" (Fern die Blumenboote): „SS, incessante, um som de flauta chora.. ."52 Übersetzt: „allein, unaufhörlich, klagt ein F l ö t e n t o n . . E i n s a m k e i t und Trauer begleiten die Stimme dieses Dichters, für den die Welt im tiefsten Grunde ein ästhetisdies Phänomen ist. Nur die Musik dringt in ihre Tiefen, nur die lyrische Sprache kreist um die Mitte des Geheimnisses. Einsam und wehmutsvoll ist seine Dichtung, wie Mondlicht (Pessoa liebt sie!), von einer fernen Sonne gespeist. Anders als beim Symbolisten Pessanha, anders auch als bei Cesärio Verde, diesem Dichter des 19. Jahrhunderts, der an den Kategorien der Uhrzeit und des Meßbaren unerschütterlich festhält, hat das Flötenspiel für den orthonymen Pessoa etwas Unbestimmtes, Sinnloses. Verloren in der Nacht klingt eine Melodie, doch ist es nicht ein verharrender, einziger Ton, auch keine Art von Bergsonsdier Duree, sondern ein stets unterbrochenes Trillern. „Trila na noite urna flauta. E' de algum pastor? Que importa? Perdida serie de notas vaga e sem sentido nenhum. Como a vida. Sem nexo ou principio ou fim ondeia A ária alada Pobre ária fora de música e de voz, táo cheia de nao ter nada."53

60 51 52 M

OP, p. 256 (Ricardo Reis). OP, p. 255 (Ricardo Reis). Camilo Pessanha, Ao longe os barcos de flores, aus Clepsidra, Lissabon 1945. Zitiert aus Líricas Portuguesas, I, Portugalia Ed., Lissabon 1959, p. 374. OP, p. 141—42.

III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

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Flötentriller in der Nadit. Irgendeines Hirten? Was soll's? Vergebens: Sinn hat des vagen Tönen Reihens keinen gleichwie des Lebens. Ohne Band und Beginnen und Ende, der Lüfte Schwingen. Arme Sänge, so fern von Musik und Stimme, bloß lauter Nichts von Dingen.*

Ein Blick auf die Reimpaare genügt: algum — nenhum, alada — nada. Beginn und Ende, zusammenhanglos, versinken die Triller im Schweigen der Nacht. Niemand fängt sie auf, empfängt sie. Ihr Tönen ist unterbrochen, abgebrochen ist aber auch der Weg zurück zur Stimme und zum Urheber der Töne. Sie gehören niemandem, richten sich an niemand. Wenn Pessoa, im Pseudonym Reis, auf Cesdrio Verdes „sober" (ansteigen) mit „descer" (sinken) antwortet, wenn der orthonyme Dichter, anstatt wie Pessanha „chorar" (klagen), „trilar" (trillern) schreibt, so ist dies vielleicht kein bewußtes Spiel mit Gegensätzen, aber bestimmt auch kein Zufall. Keiner dieser Dichter ist ihm geistig sehr nahe verwandt. Am ehesten nodi ließe sich eine Beziehung zu Antero de Quental, den Pessoa verehrte, herstellen. Anteros gebrochener Idealismus, seine pessimistische Weltsicht, entlockten ihm Worte, die Pessoa in ähnlichem Zusammenhang wieder aufnimmt. Im Sonett „Notturno" etwa, ertönt bei Einbruch der Nadit dumpfer Gesang: „Como um canto longinquo — triste e lento — Que voga subtilmente se insinua, Sobre o meu corajäo, que tumultua Tu vertes pouco a pouco o esquecimento .. ."54

Wie ferner Gesang — trauernd und gemessen, der sadite treibt und leise schwingt und Ruhe meinem Herzenssturme bringt, gießest mir mal um mal Vergessen.. .*

Dieses Singen bricht nicht ab, es wiegt ein. Die einbrechende Nacht des Vergessens (Schopenhauer!) ist letztlich ein Trost. Sie lindert zum mindesten das „fiebrige Sehen, den Durst nach dem Idealen" 65 , ohne ihn ganz zu löschen. Auch Antero de Quentals Pessimismus kommt demjenigen Pessoas nicht gleich. Pessoa verdankt dem Dichter und Philosophen aus Coimbra freilich sehr viel. Seine frühe Dichtung, gerade was die Themen der Enttäuschung und des Schmerzes anbelangt, gestaltet sich mit einem Wortschatz, der zum Teil Anteros Sonetten entstammt: „Dor, mägoa, 54 55

Antero de Quental, Sonetos, Sä da Costa, Lissabon 1962, p. 95. Der Ausdruck findet sidi audi beim jungen Pessoa, OP, p. 104.

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III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

descren9a, desgraga, tèdio, ànsia, horror, vazio, ilusào" einerseits, „caminho, estrada, desejo, aspirafäo, visäo, p e r f e i j a o , sonho, beleza" andererseits, sind in auffallender H ä u f u n g beiden Dichtern gemeinsam. D a s ebenfalls bei beiden Dichtern v o r k o m m e n d e R e i m p a a r „ t a j a — desg r a f a " stützt unsere Behauptung betreffs einer geistigen Verwandtschaft, zeigt aber gleichfalls wichtige Unterschiede 5 6 . I m Sonett „A Santos Valente" braucht A n t e r o das W o r t „ t a j a " (Gefäß) f ü r die Enge u n d Spärlichkeit der irdischen Freuden u n d vergleicht es mit d e m unendlich größeren „bitteren Kelch des Unheils", den wir alle trinken müssen. D e r T o n dieses Sonetts ist allgemein verbindlich, in der zweiten Strophe heißt es „nossa a l m a " , unsere Seele. A n t e r o de Q u e n t a l spricht i m N a m e n der Menschheit. I m entsprechenden Gedicht Pessoas, übrigens auch ein Sonett 5 7 , finden wir dieses R e i m p a a r nicht a m A n f a n g , als Ausgangssituation, sondern in der Schlußterzine. Pessoa vergleicht nicht, f ü r ihn gibt es nichts mehr abzuwägen. Seine Sprache ist radikal pessimistisch: „Ä perf e i f à o - só a desgra;a assiste" Den Kelch der Lebensfreude h a t er, der bloß Einundzwanzigjährige, leergetrunken. S t a t t „uns" sagt er teilnahmslos, aber bestimmt, „derjenige, der", u m d a n n das Gedicht mit diesen entsetzlichen W o r t e n zu schließen:

„Só quem da vida bebeu todo o vinho . . . Conhece o tédio extremo da desgrana que olha estúpidamente o nauseabundo cristal inútil da vazia taga."ss

Wer des Lebens Krug bis auf den Grund geleert... Der nur kennt die letzte Qual des Unheils, das auf das unnütz ekelhafte Glas der leeren Schale starrt.*

N u n , zu viele Adjektive, zu viel Übertreibung, u m als Dichtung ernst genommen zu werden. A n t e r o vermittelt dem jungen Dichter das V o k a bular des Pessimismus, doch seine Melancholie, sein noch romantischer Weltschmerz v e r w a n d e l n sich hier in (rhetorische?) Verzweiflung. Indes Pessoa sich v o n A n t e r o löst u n d seine Denkweise sich v o m Idealismus des 19. J a h r h u n d e r t s abzuwenden versucht, verwickelt u n d v e r i r r t er sich n u r aufs neue im D e n k l a b y r i n t h seiner Zeit. R i c a r d o Reis' ( = Pessoa) sinkende Töne, sein Erlebnis des leise ausgehaltenen u n d doch verstummenden Flötenspiels, ist dem eigennamigen Dichter nicht ganz u n b e k a n n t . I m Gedicht „Plenilùnio" klingen einmal solche seltsam unbewegte Töne a n : 5

' Antero de Quental, Sonetos, op. cit., p. 83. OP, p. 104. 58 OP, p. 104. 57

I I I . Irrungen und Verlorenheit: Der Raum „Sob o azular do luar . . . E ouve-se no ar a expirar . . . A expirar mas nunca expira Urna flauta que d e l i r a . . . 5 9

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Unter dem blauen Mondenrauch Hörbar wird der Lüfte Hauch . . . Aushauchend hauchet nie sich aus, Jene Flöte des irren Kehraus.*

Pessoas Vorliebe für die Endung -ar, die auf das Ohr des Lesers audi bei Substantiven wie ein Infinitiv wirkt, suggeriert das Unvollendete, wie es auch im Satz „mas nunca expira" zum Ausdruck kommt. „Luar" ist ihm lieber, weil körperloser als „lua" (Mondschein — Mond). „Luar" tönt verfeinert, im Raum verbreitet und verdünnt, dazu klingt es auch an „ar", Luft, an. Vom Azur, das die idealistische Dichtung des 19. Jahrhunderts ersehnte, behält Pessoa nur die substantivierte Verbform „azular" : ein blasses, kaum lebensfähiges Bläulichwerden, — so scheint uns. Pessoas Flötenspiel bringt keine Botschaft, sie formt sich ja nicht zur Melodie. Wie sagte doch einmal Gottfried Keller im Gedicht „Stille der Nacht": „Ich höre einen Flötenton, den mir die Luft von Westen bringt..." Westen und Osten aber fehlen in Pessoas Welt ohne Mittelpunkt. Die Musik, die er von Zeit zu Zeit erklingen hört, ist nicht gestaltete Zeit, sondern ein bald trauriges, bald irres Delirieren, dem Traum mehr denn dem Wirklichen zugekehrt. Die Tonschwingungen sind somit unharmonisch und sinnlos. Damit enthüllt sich Pessoas Existenzgefühl als eines der geringsten, schwächsten, das sich denken läßt. Allseits vom Nichts eingefangen, ist es bestenfalls eine Art Echo oder Widerhall des verlorenen Seins. Umgeben vom Nichts, ist Pessoa dennoch kein Nihilist. Seine Dichtung führt uns nie ganz zu Valéry oder Benn, denn die Unpersönlichkeit des perfekten Kunstwerkes vermag ihm das Fehlende nicht zu ersetzen. Pessoa-ipse beschränkt sich darauf, dieses fortwährende Schwinden der Wirklichkeit zu beschreiben. Beschreiben bedeutet aber auch festhalten. Immer wieder versucht der Dichter verzweifelt, auf dem äußersten Rand zwischen Bewußtsein und Nichtsein zu verweilen. „Entre", zwischen, ist vielleicht die wichtigste Praeposition seiner Sprache: „Entre papel e pena", „entre mim e o que penso," „entre o luar e a folhagem," „entre o que vivo e a vida . . . " etc. „Jazo-me serri nexo ou firn Tanto nada quis de nada que hoje nada o quer de mim. Enevoa-se-me o ser Como um olhar a cegar A cegar, a escurecer."m 59

D a lieg idi ohne Bindung, ohne Ziel, Nichts wollt' idi so sehr von nichts D a ß es heute nichts will von mir. (Alles) verdüstert sich mir — Zu sein wie ein erblindendes Auge : erblindend dahindämmernd.*

O P , p. 134, wörtlich: Unter der Bläue des Mondenscheins . . . / U n d man hört in der Luft ausatmen. / Aushauchend, haucht sie nie sich aus — / Eine delirierende Flöte. OP, p. 549.

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III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

So eintönig er sich auch wiederholt — manchmal wirken seine Verse wie willenloses Gestammel, von ein paar Reimen oder Assonanzen zusammengehalten — dieses armselige Dichten ist ein Versuch, der Ungenüge des Daseins Leben einzuflößen. Nichts, oder fast nichts, bleibt dem Dichter. Gerade darum will er retten, was zu retten ist. Sein Dichten wird zum ontologischen Wiederbelebungsversuch. Wir denken an den frühen Ungaretti: Zahlreiche Gedichte sind wie bei ihm bloßes Atmen, ins Leere gehaucht. „Nada. Passaram nuvens e eu fiquei."111 Nichts. Wolken zogen vorüber und ich blieb.*

Zu verstummen im Rausdien des Windes, zurückzubleiben unter vorbeiziehenden Wolken, ein kurzes Atmen, schon vorüber, — das ist es, was Pessoa in seine Welt bringt. Nichts beweist, daß es mehr gäbe als das, was wahrgenommen wird. Was so erscheint, hat kein Bestehen. Wie ein Fächer, gleichgültig und oberflächlich, öffnet und schließt sich sein Bewußtsein dieser Welt immerzu von neuem. „E a hora como um leque fedia-se . . Und die Stunde schließt sich wie ein Fächer . .

Schon in „Hora Absurda" hieß es: „O teu silencio i um leque Um leque fechado, um leque que aberto seria täo belo, täo belo Mais mais belo e näo o abrir, para que a Hora nao peque . . ."6' Dein Schweigen ist ein Fächer, ein geschlossener Fächer: offen wäre er so schön — Doch schöner ist es, ihn nicht zu öffnen, damit die Stunde sidi nicht beflecke *

Den Fächer zu öffnen hieße: der Wahrheit den Rücken kehren, ihr eine erfundene Schönheit vorzuziehen, sidi etwas vorzumachen. Pessoas Fächer unterscheidet sich auch da von demjenigen Mallarm^s, der sich schließt, um erst recht dann seine im reinen Geist enfaltete Pracht zu zeigen. Ein leises Rauschen, als hätte sich der nun ruhige Fädier eben erst geschlossen, ein Blinzeln, ein unbestimmbares Auf und Ab, das ist es, was « OP, p. 564. •2 OP, p. 127. OP, p. 110.

III. Irrungen und Verlorenheit: Der Raum

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Pessoas Sprache dem Leben abringt. Es hat nicht einmal so langen Bestand, daß es die Zeit eines Augenblickes füllte. Eingeengt, dann wieder verloren, doch immer unsicher, jeden Moment vor dem Abgrund des Nichts, so zeigt sich uns seine Welt. Ein Moment der Gewißheit, Leben und Denken vereint, und die Welt Pessoas hätte eine Stütze, hätte Struktur. So aber bleibt alles in der Schwebe. Dichten heißt denn vorerst auch nur, sich des fortwährenden Scheiterns bewußt zu sein.

Und ewig sinnlos Suchen, wirres Sehnen (Hofmannsthal)

IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz D i e Wirklichkeit ins Auge fassen: für den Dichter hieße das, sie prüfen, bewerten, gestalten. Durch diesen A k t überschritte das Bewußtsein die Grenze, welche ein Seiendes vom andern trennt. Einer immerzu verflüchtigten Welt ausgeliefert, erkennt aber Pessoa schon sehr früh seine U n fähigkeit, Grenzen zu ziehen. „Mine eyes the finite that they meet / a b h o r " , schreibt schon Pessoa-Search in seiner allzu abstrakten Sprache 1 , Nicht die Dinge kreisen um ihn, er selber — ohne Standpunkt und Begrenzung — befindet sich außerhalb der Dinge. Bewegt er sich, so ziehen sich diese zurück, sie verblassen, verstummen. Schaut er still um sich, so flieht die Welt dahin wie gleichgültig treibende Wolkenfelder. Sein Dichten wird so zur Suche, zur J a g d nach dem Wirklichen, denn nur daher kann eine Antwort auf die zentrale Frage nach dem eigenen Ich kommen. I n „Chuva O b l i q u a " verfolgen sich H u n d und Reiter, beide tollgeworden, in immer neuen Variationen, doch bleibt der eine diesseits, der andere jenseits der Mauer, oder aber die Mauer dreht sich heimtückisch um sich selbst, indem sie das Bild mit denselben Schranken auf den K o p f stellt. W i r haben gesehen, wie Pessoa in jenem Gedicht solche Verschiebungen durchexerziert. Den unter sich so verschiedenen Abschnitten ist nur eines gemeinsam: die W a n d der Trennung, die Unmöglichkeit der Vereinigung. Was immer in Pessoas Blickfeld gerät, erweist sich als unerbittlich fern und fremd. D a ß alles Neueintretende seinen Reiz auf den ersten Blick verliert, ahnt der Dichter wohl zum voraus. Prophetisch spricht er zu seinem Schicksal: „Tornar-te-ás só quem tu sempre f o s t e w a r s

t

Du wirst nur sein, der du seit jeher . *

I n diesem gegenwartslosen Satz wird auch die Zukunft ihrer Offenheit beraubt, sie wird in die Vergangenheit gestoßen. Dem Vergangenen aber fehlt die Hoffnung. Ohne Hoffnung, sogar ohne Illusionen, fühlt sich das nach dem Leben ausschauende Bewußtsein Pessoas von Anfang an einsam und verloren. J e genauer es die Welt betrachtet, je mehr es sie denkt, desto fremder wird diese ihm: 1 1

Zit. bei G. R. Lind, Die englische Jugenddichtung Pessoas, op. cit., p. 140. OP, p. 497.

IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz „Sou o ser que vé E vé tudo estranho."'

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Ich bin das Wesen, das sehend alles befremdend sieht.*

Gerade weil sich der Dichter nicht mit dem andern identifizieren kann, bleibt alles rätselhaft, entrückt, abseits. „Ich habe immer versucht, ein Zuschauer des Lebens zu sein, ohne mit mit dem Leben zu vermengen; so sehr, daß ich dem, was in mir vorgeht, wie ein Fremder zusehe," 4 schreibt Pessoa 1914 in einer Notiz. Damit beweist er sich als Denker, dem jede Spontanität abgeht. Es führt bei ihm ja so weit, daß Denken und Fühlen nicht demselben Ich zu entspringen scheinen. Dazu ist sein Denken dermaßen unstet und sprunghaft, daß niemals Kontinuität und schon gar nicht das, was man ein „Denkgebäude" nennen könnte, entsteht. In einem Brief an seinen Freund, den Dichter Mário Beiráo, spricht sich Pessoa wie folgt aus: „Meine Seele ist so stark meinen überstürzten Gedanken ausgeliefert, daß ich aus meiner Aufmerksamkeit ein Notizheft machen muß." 6 Es ist bekannt, mit welcher Beflissenheit der Dichter immerzu Gedanken oder Verse notierte und alles aufbewahrte. Das hat jedoch mit einem systematischen Registrieren der Lebensvorgänge nidits zu tun. Pessoa widerspricht sich allzu oft, ja er vergnügte sich geradezu damit, seine Ansichten in verblüffender Weise zu wechseln. Seine Bekannten und Freunde hat er so immer wieder vor den Kopf stoßen können. Am bekanntesten ist wohl die Episode mit Almada Negreiros: Pessoa hatte seine Kritik über Almada Negreiros' Ausstellung geschrieben, behauptete aber nachher, er habe sie sich gar nicht angesehen. Nicht nur Pessoas Stil ist paradox, auch seine Lebensweise war es.8 Der oben erwähnte Brief an Mário Beiráo wurde am 1. Februar 1913 geschrieben. In der Folge bemühte sich Pessoa, ein genaues Tagebuch zu führen. Zwei Monate lang bringt er es fertig, alles scheinbar Wichtige aufzuzeichnen. Doch gibt es unter seinen Notizen nichts Zusammenhangärmeres, nidits Unbedeutenderes als diese Tagebuchstellen. Auch die dichterischen Ergebnisse jener Monate scheinen nicht gerade erheblich. Unter anderem entsteht das Gedidit „Impressöes do Crepúsculo" (Eindrücke der Dämmerung), mit dem der von Maeterlinck beeinflußte Pessoa die portugiesiche Schule des „Paülismo" begründen will (pauis = Sümpfe). 3

4 5

6

OP, p. 142. Vgl. auch das Sonett „Logos" von Antero de Quental, op. cit., p. 202, 2. Strophe: „Que estranho ser és tu (se és ser) que assim / Me arrebatas contigo e me passeias / Em regióes inominadas, cheias / De encanto e de pavor, . . . de nao e sim . . . Páginas íntimas, op. cit., p. 65. id., p. 29, anschließend findet sich das Tagebuch aus dem Jahre 1913, vgl.

p. 68.

A. Quadros, Fernando Pessoa, op. cit., besonders im Kap. „Angùstia e Fingimento", pp. 84 und ff.

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IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz

Es ist dies ein Gedicht voll flüchtiger, unzusammenhängender Visionen, in denen zwar durchschimmert, was im späteren Schaffen wesentlich wird, aber doch in konfuser Mengung verbleibt. Die Rastlosigkeit jener Monate spiegelt sich vor allem auch in der intensiver werdenen Korrespondenz mit Sá-Carneiro. Überhaupt ist das Frühjahr 1913 für Pessoa eine besonders unruhige Periode, der ein rascher Stilwechsel im dichterischen Ausdruck entspricht. Pessoa nähert sich allmählich der Krise, der Krise seiner Persönlichkeit, die mit der Entstehung der Pseudonyme zusammenhängt. In jeder Regung des Pessoasctien Bewußtseins steckt insofern etwas Negatives, als es früheres Empfinden ignoriert, das eigene Denken kurzum wieder verneint, ohne es zu gliedern. Dieses Bewußtsein hat seine Bedeutungslosigkeit zur Genüge erfahren. Somit ist die orthonyme Dichtung schwierigen und entwickelten Strukturen eher abgeneigt. Sie scheut lange Satzgefüge oder verwirrt und kompliziert diese, gerade um vieldeutig zu bleiben. Einer ersten Periode, in der sich Pessoa an traditionelle Versmaße hält (an das Sonett, in seiner italienischen oder englischen Form, vor allem), folgt die immer stärkere Tendenz zum freien Vers, der dem Dichter eher zu entsprechen scheint. Im „Paülismo" ist ein Höhepunkt an metrischer Freiheit erreicht: Verzicht auf Sätze, oder zumindest auf deren „logische" Gliederung; an ihrer Stelle eine auf den ersten Blick unzusammenhängende Reihung von Bildern, von Substantiven, Adverbien, Adjektiven — alles Attribute derselben Negativität. Darin besteht auch der Non-Konformismus von „Impressoes do Crepúsculo" — seine vier letzten Zeilen können auf konjugierte Verben fast ganz verzichten. Eine neue, gültige Form setzt sich erst mit „Chuva Obliqua" durch, dann nämlich, wenn Pessoa-ipse seinem ersten Pseudonym, Caeiro, „antwortet". Auch da brechen freilich die errichteten Strukturen immer wieder aus den Fugen. Der Morgen des Erwachens, der uns eingangs dieser Betrachtungen so verheißend ansprach, bedeutet ja nicht eigenes Aufwachen. N u r scheinbarer Anfang, wird er stets zum fremden, falschen Tag. „Manha dos outros!" nennt ihn Pessoa einmal überspitzt, „Morgen der andern." Das Fremdsein liegt nicht bloß in der andersgearteten Umwelt, es beherrscht des Dichters Dasein so gänzlich, daß es ihn von sich selbst entfremdet hält. Nur dieses Fremdsein ist ihm eigen: alles Körperliche entzieht sich dem Geistigen, das Fühlen sprengt bald die Bande des Denkens, bald wird es vom Denken gelähmt, welches schließlich selbst passiv und desinteressiert verharrt (alheio). In seinen letzten Lebensjahren beschränkt sich Pessoa darauf, dies immer wieder zu bestätigen. „Tenho tanto sentimento Que é frequente persuadir-me De que sou sentimental.

Ich habe so viel Gefühl, daß idi mir des öftern sage, sentimental zu sein.

IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz Mas reconhefo, ao medir-me Que tudo isso e pensamento Que nao senti afinal." 7

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Doch erkenn' idi, dies ermessend, daß all dies Gedanken waren, die am End' ich gar nicht fühlte.*

Die Sehnsucht nach dem Leben, nadi dem ungeteilten, vollen Erleben der Welt, wird zur veränstigten Hast, zur Hetze. Die Dinge verzerren sich und starren dem Bewußtsein entgegen, als offenbarten sie ihm nur ihre immerzu gleichbleibende Bezugs- und Belanglosigkeit: „Nao sei, mas meu ser Tornou-se-me estranho"8

Ich weiß gar nicht, mein Wesen ist mir so fremd geworden.*

Das Sein ist stets anderswo, außerhalb der uns beengenden Grenzen, jenseits der Mauer, der Küste fern: Es gehört uns nicht. Dies ist das unerträgliche Befinden des Pessoaschen Bewußtseins, wenn es ins bewegte Meer hinausblickt: „Alheia a n6s, em nos e fora Uns fremd, in uns, außer uns rui a hora e tudo nela ruivergeht die Stunde und alles stirbt in ihr. 9

Damit die Schranke zwischen Bewußtsein und Welt abgebaut würde, müßte der Dichter diese aufstellen oder doch erfassen können. Da dies aber unmöglich ist, sollte er sie zu ignorieren versuchen? Zur Abendstunde, im Nebel, im Dunst, das heißt in den Dämmerstunden des Bewußtseins, scheint sich alles zu einer Einheit zu fügen. In solchen Momenten fühlt sich Pessoa angesprochen — da setzt sein Dichten an. Einen Augenblick lang liegt alles nahe: Die Welt neigt sich dem Dichter zu, doch wiederum nur, um ihm sein (und ihr) Vergehen im schwindenden Licht zu verdeutlichen. Nebel, Dunst, Regen — sie sind nicht bloßes Medium, sie sind ebensosehr Hindernis der Berührung. Auch sie erliegen der „ewigen Strömung", die alles fortreißt (Rilke). „Es gibt zwischen mir und der Welt einen Nebel, der verhindert, daß ich die Dinge so sehe, wie sie in Wahrheit sind — so wie sie die andern sehen." 10 7

O P , p. 172.

8

OP, p. 143. Zu beachten das Fehlen des Artikels beim Possessiv-Pronomen. Im Portug. kann er in Einzelfällen wegfallen, so bei Anreden, Verwandtschaftsnamen, familiären und vertrauten Dingen, in festen Ausdrücken, d. h., überall dort, wo er nicht zu aktualisieren braucht. „Meu ser" tönt erst vertraut, jedoch auch gleich abstrakter, fremder, unbestimmter als „o meu ser". Vgl. Gramática Portuguesa (Vázquez Cuesta — Mendes da Luz), Gredos, Madrid 1961, pp. 4 1 7 — 2 0 .

• O P , p. 497. 10

Páginas íntimas, op. cit., p. 2 7 (vermutlich aus dem Jahr 1915).

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IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz

Schaut Pessoa auf den „Seespiegel" seiner Innenwelt, so grüßen da aus der Tiefe keine Lichter wie etwa in Wordsworth's „Grasmere Lake". Der glatte Wasserspiegel verhüllt wohl gähnende Schlünde, verhindert aber auch eine tiefere Einsicht hinunter zum Grund der Existenz. An der Oberfläche treiben, wie er selbst einmal schreibt, tote Algen, abgebrochene Blätter 11 . Manchmal dringt eine Art Echo aus diesem leblosen Untergrund. Sekundenlang, vom Widerhall eines Reims, dem Klang einzelner Vokale, besonders lang ausklingender Nasale (-äo) aufgehalten, scheinen Gefühl und Welt (auf romantische Art?) in eine zumeist wehmütige Stimmung verwoben: „Paira a. tona da agua Uma vibragäo Hä uma vaga magoa N o meu coragäo"12

Auf dem Wasserspiegel ein Schweben — im Herzen unbestimmtes Sehnen.

Von Luftschwingungen leise belebt, zeigt sich dieser Seespiegel erst nicht abweisend. Die Bewegungen der Luft suchen sich dem Wasser mitzuteilen. Trotzdem vollzieht sich diese rhythmische Übertragung nicht. Die beiden Strophenteile I und II entsprechen sich in Klang und Betonung, ohne sich aneinanderzuschmiegen. Ähnlichkeit ist noch nicht Identität, und das Wort Sehnen, Schmerz, „magoa", weist jede tröstliche Harmonie von sich. Mag auch der Reim wie Entsprechung klingen, es steckt in ihm das trügerische Narren des Echos. Er verbindet zwar die Luftschwingung mit den Saiten der Seele (vibrafäo), doch dieses wehmütige Anklingen ist nicht Antwort, sondern Spiegelung, Rückprall. „Im Himmel meiner Seele gab es nie auch nur einen einzigen Stern!" schreibt Pessoa schon in „Hora Absurda" (1913) und nichts wird ihn von dieser bitteren Erkenntnis abbringen. Sind wir also völliger Standortlosigkeit preisgegeben, tappen wir stets im Dunkel? Bevor Pessoa endgültig dieser Verworfenheit (Heidegger sagt, der Verwechselung ausweichend: „Geworfenheit") zustimmt, fragt er sich, ob es nicht vorwitzig und abwegig sei, bei der Auseinandersetzung mit dem Leben immer gleich metaphysisch zu denken. Vielleicht sucht er die „Lösung" zu weit weg, vielleicht fängt alle Erhellung des Daseins bei uns selbst, körpernah, physisch zuerst, an? So wagt es denn der Dichter, sich selbst nochmals zu überprüfen, indem er das Einfache erwägt. Aber wiederum schaut er auf seine H a n d : „Eu ergo a minha mäo. Olho-a de mim, e o que ela e näo sou eu. 11 12

OP, p. 151. OP, p. 147.

Ich erhebe die Hand, Schau sie mir an und was sie ist, bin ich nicht.

IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz

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Zwischen mir und dem, was ich bin, ist Dunkel.*

Entre mim e o que sou há a escuridao,13

Schon die eigene Hand erscheint als Fremdkörper vor des Dichters Augen. Stumm weist sie dessen Denken von sich, beweist sie ihr Anderssein. Doch, wo beginnen die Grenzen zwischen der zum kalten Objekt erstarrten Hand und demjenigen, der sie erkennt? Der eigene Körper, der das Ich trägt, leugnet jede Wesensverwandtschaft mit dem Denkenden. Auch ein intimes Flüstern, ein Gesang, der Wohlklang einer Stimme, ertönen nur, um gleiches Befremden hervorzurufen. Erst kommt der Klang wie über eine Brücke uns entgegen: „Tua voz 6 uma ponte . . . " u Doch die Brücke hält der Belastung unseres Denkens nicht stand, mitten über dem Abgrund bricht sie ab. Stimmen sind in Pessoas Welt nur da zu verstummen. „Como uma voz de fönte que cessasse.. ." 1 5 Wie die Stimme einer Quelle, die versiegt... Oder sie sind uns unverständlich, weil sie zu einer andern Welt gehören: „Canta agora a cotovia Sem se lembrar de viver." 1 8

Es singt nun die Lerche Ohne sich zu erinnern, daß sie lebt."1

Eine der feinsinnigsten Stellen dieser Art, wo es dem Dichter gelingt, die Unmöglichkeit eines Kontaktes zwischen Denken und Leben poetisch vollkommen wiederzugeben, zeigt uns das Bild der Harfenspielerin. Ihr leichtes Spiel scheint aus zarten, sich sacht bewegenden Händen herzurühren. Kindlich sie bewundernd, träumt der Dichter davon, ihre Hände zu küssen und durch diese Berührung auf das Geheimnis ihres schönen Spiels zu kommen. Doch müßte er nicht die Hände, sondern deren Bewegung küssen können: „ ö tocadora de harpa, se eu beijasse teu gesto, sem beijar as tuas maos." 1 7 O Harfenspielerin, küßte ich doch nicht deine Hand, sondern dein Spielen . . .*

Der Kuß, dieses Symbol der Vereinigung, wird für Pessoa zur sinnlosen Bewegung, die — anstatt dem Geheimnis des Harfenspiels auf 13 14 15 18

17

OP, p. 495. OP, p. 494. OP, p. 128. OP, p. 568; vgl. dasselbe Bild in Anteros Sonett „Acordando", op. cit., p. 2 6 : „Em sonho, as vezes, se o sonhar quebranta / Este meu vao sofrer, esta agonia, / Como sobe cantando a cotovia, / Para o ceu a minha alma sobe e canta." OP, p. 124.

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IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz

den Grund zu kommen — dieses vereitelt und unterbricht. Dem Geheimnis fern, bleibt Pessoa einer unerfüllten Sehnsucht unterworfen. Die Liebe, die unmittelbare Verschmelzung mit dem Leben, bleibt ihm fremd 18 . Die Existenz ist ein Rätsel. Die Natur ihrerseits spricht zu uns in Rätseln. Wenn der Dichter eine Landschaft — das verschlafene Lissabon an einem Sommernachmittag, — wenn er die Welt der Dinge im Sonnenschein daliegen sieht, möchte er diesen Glanz in sich aufnehmen, an ihm teilhaben. Die von der Sonne beschienenen Häuser, Straßen, Bäume fühlen zwar nicht wie Menschen, ihnen ist ein anderes Dasein beschieden. Das Licht ist ihnen „Fassade", dennoch glänzen sie „froh" in der Sonne, solange sie können. Wäre der Mensch wie sie, so teilte er zum mindesten zeitweise ihre Unbekümmertheit. „Se eu, ainda que ninguém, Pudesse ter sobre a face Aquele clario fugace Que aquelas arvores tèm Teria aquela alegria Que as coisas tèm de fora Porque a alegria é da hora; Vai com o sol quando esfria."19

Wenn ich, obsdion ich niemand bin, auf meinem Antlitz das flüchtige Scheinen jener Bäume hätte . . . Hätte ich jene Lebensfreude, die die Dinge nach außen haben, denn die Freude gehört der Zeit: mit der Sonne geht und erlischt sie.*

Der denkende Mensch aber erlebt das Leben selten unmittelbar. Wie Camus' „Fremder" mag sich Pessoa sagen: Wenn ich Baum unter Bäumen wäre, dann hätte dieses Leben einen Sinn oder vielmehr, dann bestünde mein Seinsproblem nicht. Sich mit einem „dinglichen" Dasein zu bescheiden, gelingt dem orthonymen Dichter nicht, wohl aber versucht dies sein Pseudonym Alberto Caeiro. Caeiros Existenz wird demnach zu einem forwährenden Wandern mit der Zeit, ohne daß er diese je zu ergründen suchte. Auf solche Weise versichert er sich jener Lebensfreude (alegria), von der hier die Rede ist. Pessoa selbst ist nicht so unbekümmert, ist er doch ganz unfähig, sich einer ephemären Lebenweise zu verschreiben. „Mein schlimmstes Übel: meine metaphysische Gegenwart in der Welt nie vergessen zu können." 20 Daraus ergibt sich nicht nur ein völliges Fehlen der Spontaneität. Vielmehr lähmt ihn dieses Denken an ein mögliches „Dahinter" und „Darunter" der Dinge so sehr, daß es ihm das Leben zur Qual macht. Der Dichter atmet mit einem Messer an der Brust, seine Existenz ist Leben vor dem Abgrund, gleich derjenigen des zu Tode Verurteilten. 18

António Quadros, Fernando Pessoa, op. cit., II. Kap.: „Amor e Renúncia". » OP, p. 172. 10 Páginas Intimas, op. cit., p. 27.

I V . E s t a r - s e r : Die Tragik der Existenz

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Die Folgen dieser Erkenntnis schildert Pessoa selber: „Daher (habe ich) diese transzendente Ängstlichkeit (timidez transcendental), die meine Bewegungen lähmt, die all meinen Sätzen das Blut der Einfachheit und der Spontanität entzieht." 21 In seltenen Momenten von unsagbarer Angst gepackt, verfällt er einer dauernden Beklemmung. Wie selten eines, ist sein Werk Ausdruck dieses Unbehagens auf dem brüchigen Grund einer ständigen existentiellen Angst. Die Dunkelheit, die um ihn herrscht, hat nichts mehr von den umfangenden, ahnungsvollen Nächten der Romantiker. In jenen verbinden sich ja Sein und Nichtsein, sie sind der unendliche „Ungrund" — bei Schelling oder Novalis —, die geheimnisvolle Vermengung von Bewußtsein und Natur. Pessoas Nacht entbehrt des beschwichtigenden Charakters, den Novalis in den „Hymnen" preist. Seine Nacht hat nichts zu enthüllen, sie ist das Nichts, „Näo-Ser". Ein Gedicht aus dem Jahre 1917 beschreibt ein Aufwachen mitten in der Nacht. Aus dem Schlaf geschreckt, sieht sich der Dichter plötzlich körperloser Finsternis gegenüber. Er nennt das ihn übermannende Gefühl „terror antigo", uralte Angst, wohl weil sie jenseits der Zeit gründet. Er fühlt sich ihr widerstandslos ausgeliefert, da sich das erwachende Bewußtsein im Dunkel auf nichts anderes als auf sie stützen kann. Ehe es eigentlich zu denken vermag, spürt es die lähmende Herrschaft dieser Angst in sich. Sie fällt über ihn her und läßt ihn seine Unfreiheit schlagartig erkennen. Er, der nie etwas in sich fühlte, nie unmittelbar erlebte, wird plötzlich gewahr, daß dieses Gefühl ihm seit eh und je eigen war. Wie ein Herrscher steigt die Angst von ihrem Thron, stärker als alles übrige: „ E eu sinto a minha vida de repente Presa por uma corda de Inconsciente A qualquer m ä o nocturna que me guia.

Sinto que sou ninguem salvo uma sombra D e um vulto que nao vejo e que me assombra E em nada existo como a treva f r i a . . , " 2 2 U n d , v o n einem Strick, von Unbewußtem, spür ich mein Leben plötzlich angebunden an irgendeine dunkle H a n d , die mich führt. Ich spüre, ich bin bloß ein Schatten eines unsichtbaren, schrecklichen Gesichts. U n d wie die kalte Nacht, bin ich nirgends.* 21

id., p. 2 7 . Schon die englisch verfaßte Jugenddichtung bestätigt diese E r f a h rung, etwa das schon zitierte Gedicht „Soul-Symbols" ( 1 9 0 6 ) .

22

O P , p. 129.

6

Güntert, Pessoa

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IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz

In dieser absoluten Dunkelheit ist die Distanz des Sehens endlich aufgehoben. Was Pessoa hier zustößt, mag vorerst an das plötzliche Erwachen der Statue von Condillac erinnern23. Doch die Nacht schickt ihm keinen Rosenduft, der das Aufwachen in sinnlichen Freudentaumel hüllte. Im Gegenteil, Pessoa erlebt hier seine Existenz in ihrer Blöße. Bei diesem Erwachen sieht sich die Nacht der Nadit gegenüber. Im Bereich des Seienden gäbe es wohl nichts Substanzloseres als diesen Schatten, als den Pessoa sich erkennt. Schatten ist Abglanz, Nichtmehr-Sein, jene letzte Stufe der Negativität, die sidi noch in Worte fassen läßt. Was sich in den Spekulationen eines Gedidites wie „Chuva Obliqua" beinahe spielerisch ereignete, nämlich die erstarrende Verwandlung eines farbenfrohen, lebendigen Bildes in eine Welt von schwarzen Silhouetten, ist hier auf erschütternde Weise erlebt, ein schauriges Tasten auf dem Grund der Existenz. „In dieser Welt, in der wir uns vergessen, sind wir nur Schattenbilder" 24 , schreibt der Dichter später einmal. Schattenbilder sind Zerrbilder, wie wir sie aus Angstträumen kennen. „Assombrar", im obigen Text, umschließt einen Doppelsinn: verdunkeln und erschrecken. Die Nacht strahlt keinerlei Ruhe aus, sie wirkt, statt erlösend, quälend. Das Nichts verrät sich als Zwang und als endgültige Beraubung der Freiheit. „Der Gedanke, daß irgendetwas durch Gott oder durch die Welt determiniert sein könnte, erfüllt mich mit Schrecken."25 Wie für Kierkegaard, ist Pessoas Drang nach der „Eigentlichkeit" der Existenz ein Ruf nach Freiheit. Existieren heißt aber dem völligen Fehlen der Freiheit und daher einer ständigen Angst ausgesetzt zu sein. Existenz: „AusgesetztSein" hat auch für Pessoa wieder den herkömmlichen Sinn, als denjenigen der Verbannung an unwohnlichem Ort. Unwohnlich ist des Menschen Befinden, wenn kein Herd, keine Mitte, keine Heimat da ist. Dies ist Pessoas tiefste Seinserfahrung, sie ist existentieller Art. Einem dunklen Drängen gehorchend, das ihm keine Freiheit läßt (preso), irrt er umher, als gäbe es irgendwo des Rätsels Lösung. Doch dieses „nächtliche Hand" narrt und führt zugleich. Es gibt in der Existenz etwas zu Entwirrendes, („Há qualquer c o i s a . . . " ) , es verbleibt immer ein ungelöster Knoten. Faust spricht es aus: „O misterio do mundo O íntimo, horroroso, desolado

23

Das Geheimnis der Welt, das innerste, schreckliche, erschütternde

P. Condillac, Traité des Sensations, Vorwort; in Oeuvres Philosophiques, I. Presses Univ., Paris 1947, p. 222.

24

OP, p. 178.

23

Paginas Intimas, op. cit., p. 19.

IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz Verdadeiro mistério da existência Consiste em haver esse mistério."'"'

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wahrhafte Geheimnis der Existenz besteht darin, daß es dieses Geheimnis gibt.*

Weil die Qual des Suchens kein Ende hat, weil das Bewußtsein vor dem Abgrund immer aufs neue erschauert, gerade dadurch „existiert" es, und darin besteht sein ursprüngliches Lebensgefühl. Das klingt jenen Sartreschen Passagen der „Nausée" verblüffend ähnlich, wo der Protagonist seinen ersten existentiellen Gedanken freien Lauf läßt: „J'existe. J e pense que j'existe. Oh! le long serpentin*1, ce sentiment d'exister . . . Ma pensée; c'est moi: voilà pourquoi je ne peux pas m'arrêter. J'existe parce que je p e n s e . . . et je ne peux pas m'empêcher de penser. En ce moment même C'est affreux — si j'existe, c'est parce que j'ai horreur d'exister."2* Spuren dieses Angstgefühls haften unserem Existenzgefühl in jedem Moment des Daseins an. Sogar ein Anhauch von Glück zieht Zaudern, Unsicherheit, die in dieser qualvollen Ausgangssituation gründen, mit sich. So ist ein Vogelflug am Himmel ein den Dichter erst heiter stimmender, dann plötzlich ein quälender Anblick. Sobald dieser, der nicht wie ein Vogel, aber gleich dessen leichter Bewegung sein möchte, seine Distanz und Andersartigkeit erkennt, enthüllt sich ihm seine mangelnde Freiheit. Der Flug am Himmel, Symbol des Freiseins, stimmt ihn traurig. Daß er aber diesen Schmerz verspüren kann, beweist ihm immerhin sein zwar ungenügendes Dasein. So schreibt er denn: „Vejo passar um voo de ave E me entristeço."

Idi sdiaue einem Vogelflug nach, wie er vorüberzieht, und werde traurig.*

Und dasselbe Gedicht schließt mit den Worten: „Porque ter asas simboliza a liberdade que a vida nega e a aima précisa? Sei que me invade Um horror de me ter que cobre Como uma dieia Meu coraçâo, e entorna sobre

Warum bedeutet Flügel haben die Freiheit, die das Leben verweigert und die Seele braucht? Idi weiß, es überkommt mich ein Schaudern zu sein, das wie Hochwasser mein Herz überschwemmt und sich vergeudend

OP, p. 459—60 (Fausto). Vgl. auch die Definition von „existir", in einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahre 1912, zit. bei Antonio De Pina Coelho, F. Pessoa, Textos Filosóficos, I, pp. 187—88. "Auch Pessoa vergleicht sein monotones Denken mit einer Sdilangenlinie, OP, p. 106: „Como uma cobra que em serenas / Dobras se alongue a colear". 18 J. P. Sartre, La Nausee, Gallimard, Paris 1938, p. 129. Vgl. auch J. Prado Coelho, op. cit., p. 86, der auf die Verwandtschaft mit Sartre hinweist.

2S

6*

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IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz Minha alma alheia. Um desejo, nao de ser ave Mas de poder Ter nao sei qué do voo suave Dentro em meu ser."2'

über meine mir fremde Seele ein Verlangen ergießt, nidit Vogel zu sein, sondern etwas von dem sanften Flug in meinem Wesen haben zu dürfen.*

Die Sprache dieser Verse verrät das nie befriedigte Lebensgefühl des Dichters. Die drei Schlußstrophen, die wir hier anführen, sind ineinander verschlungen. Frage drängt sich an Frage. Alle Stufen des Grunderlebnisses werden hier angedeutet: ein anfängliches Anders- und Gequältsein, das sich zum Schrecken steigert. Dieser Schrecken ist ein Gefühl des Ertrinkens oder Erstickens, denn die Flut des Lebens überfällt den Menschen ziellos und sinnlos, ohne seine Seele zu speisen. Die Seele — das ist das Absurde der Situation — bleibt durstig; das Wasser überspült sie, ohne sie zu erfüllen. Hilflos schaut sich das Bewußtsein dieses Menschen nach einem Halt um. Sein Zaudern ist ein weiteres Dahingleiten auf zielloser Bahn. Und die Menge der Gedanken, die es überfluten, verbessern seine Lage nicht, sondern ziehen es immerzu in den Abgrund. Vorn und hinten, überall ist Abgrund, fehlt der Boden: Denken ist im letzten ein Schaudern vor dem Tod. Mit jedem Gedanken tut Pessoa einen Schritt ins Leere. Sind die Dinge, die ihn erst geheimnisvoll an sich ziehen, in seinen Gedanken, so legen sie ihre Maske ab. Das Leben erscheint so als eine fortwährende Demaskierung, in der es nichts als seine Leere dartut. „Por qué abrem as coisas alas para eu passar? Tenho medo de passar entre elas, táo paradas conscientes. Tenho medo de as deixar atrás de mim a tirarem a Máscara. Mas há sempre coisas atrás de mim. Sinto a sua auséncia de olhos fitar-me, e estremezo — Sem se mexerem, as paredes vibram-me sentido Falam comigo sem voz de dizerem-me as cadeiras. Os desenhos do paño da mesa tém vida, cada um é um abismo."** Warum öffnen die Dinge Flügel, damit ich sie passiere? Ich fürchte midi, hindurchzugehen zwischen ihnen, die so bewußt fest sind. Ich fürchte, sie hinter mir die Maske ausziehen zu lassen Aber immer sind Dinge hinter mir. Ich fühle ihre fehlenden Augen mich anstarren und ersdiaudere. Ohne sich zu rühren, wispern die Wände mir einen Sinn zu. Es sprechen die Stühle zu mir mit unverständlichen Stimmen. Die Musterung des Tisdituchs enthält Leben, jedes Muster ist ein Abgrund.*

«• OP, p. 138. » OP, p. 133.

J

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Die Welt der Dinge zeigt sich hier seltsam abweisend und einladend zugleich. Das Bewußtsein ist ihr nicht gewachsen. Es versteht die Sprache der Dinge nicht, es fühlt sich von ihnen bedroht. Einzeln erscheinen sie vor ihm, stehen sie da und lassen sich dennoch nicht begreifen. Sie lassen sich vom Blick des Menschen wohl durchdringen, um sich ihm erst recht heimtückisch zu verschließen. Jede gedachte Einzelheit — Pessoa betont hier das Einzelne mit dem Hinweis auf das durchbrochene Muster der Tischdecke — tut sich gleich einem Loch auf und entzieht sich dem Ganzen. „Between me and my consciousness / is an abyss.. ." 3 1 Wiederum zeigt sich das Nichts, vor dem Pessoas Denken erschauert, als Abgrund. Das Leben aber ist dieses haltlose Ins-Leere-Stürzen, es ist unerschöpfliche Grundlosigkeit. Das Gedicht, dem wir die oben zitierten Verse entnommen haben, schließt mit den Worten: „As arestas fitam-me. Sorriem realmente as paredes lisas.

Sensafäo de ser s6 a minha espinha.

As espadas." 3 2

Die Kanten starren mich an. Die glatten Wände lächeln wirklich. Das Gefühl, nur meine eigene Qual zu sein. Die Schwerter.*

Die Dinge haben sich ihrer Substanz entleert. Von ihrem erst beängstigenden Gewicht verbleiben — im Bewußtsein des Betrachters — nur Linien, Kanten. Die glatten Wände lächeln „wirklich", also menschlich? Die Verfremdung ist perfekt. Was da noch ist, ist bloße Abstraktion des Wirklichen. Man wäre fast geneigt, an ein kubistisches Bild zu denken, dem unvermittelt die Tiefe entzogen würde. Der merkwürdige Schluß ist weniger surrealistisch, als er zuerst scheinen mag. In „espinha" klingt auch „espinho" (Dorn) an. Die weibliche Form, (Gerippe, Rückgrat), auch Angst, Schwierigkeiten, Qual bedeutend, ist sozusagen das Abstraktum zur männlichen. All diese Kanten und Linien stechen bedrohlich hervor: wie Schwerter, die uns verletzen. Dieses forwährende Einsinken und Stürzen ruft uns das Verlorensein des gefallenen Sünders in der strengsten Moraltheologie in Erinnerung. Doch kein Richter wäre da, über Pessoa zu urteilen und ihn zu erretten. Sein Sündenfall entzieht sich theologischen Auslegungen. Immerhin mag verwundern, daß ein so aufschlußreiches Gedicht wie „A Queda" (Der Fall) einer Gedichtreihe, die den Titel „Al&n-Deus" (Jenseits-Gott) trägt, eingegliedert wurde. Sagt Pessoa aber „Deus", so ist damit nur ausnahmsweise der christliche Gott gemeint und wohl auch nicht der " O P , p. 623 (Englische Gedichte). » ! O P , p. 133.

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gestrenge J a h v e seiner mütterlichen Vorfahren. Katholisch erzogen, steht der College-Student in Durban seit frühesten Jahren unter dem Einfluß der englischen Kultur, in der besonderen Ausprägung der spätromantischviktorianischen Lebensweise. Es gehört zu seinen Nebenbeschäftigungen, den G o t t Miltons oder den puritanischen Geist katholischen Auffassungen gegenüberzustellen. 33 Aber Pessoa kann keiner christlichen Konfession zugerechnet werden. Nicht nur ist sein Credo mit konfessionellen K a t e gorien nicht zu fassen, er wendet sich nach und nach theosophischen Lehren zu oder verkündet großsprecherisch ein portugiesisches Neuheidentum, dem er mindestens zwei seiner Heteronyme, Caeiro und Reis, zuweist. Wie hätte er zu einem Glauben, zum unerschütterlichen Festhalten an dem einen, Ganzen, gelangen können, er, der sich selbst eine „verlorene Kreatur in ungedeuteter W e l t " nannte? „Deus näo tem unidade, Como a terei eu?" 34

Gott ist nidit Einer, Wie soll ich es sein?*

Das Grundlose der Existenz ist gewiß teilweise Anteros Vermächtnis. Den jungen Pessoa treibt es in die Schlingen dieser Verwirrung. N i e sehen wir bei ihm eine eindeutige Haltung, Gewißheit. I m Gedicht „Visäo", 1910 verfaßt, erscheint die Qual zu leben als infernalische Vision: „Jaz — urna térra náo — nao há um solo Mas estranha, gelando em desconsolo, A alma que vé esse país sem véu Hirtamente silente nos espa90s Urna floresta de escamados bracos Inútilmente erguidos para o céu." 35

Liegt, ein Land nicht, fehlt doch ein Grund, aber, erstarrend in Verzweiflung, fremd der Seele, die dies Gelände ohne Schleier sieht schweigend in die Räume ragend — ein Wald, von ausgefleischten Armen, vergeblich gegen den Himmel erhoben.*

U m diese Zeit schreibt Pessoa unfreiwillig gekünstelt, umständlich. Doch zeichnet sich sein späterer Stil bereits deutlich a b : D e n zwei T e r zinen fehlt ein aktives Verbum; „ j a z " ist zu nichtsagend, das dazugehörige Subjekt wird ihm durch Negierung entzogen. Besonders das Ende des Sonetts sticht dem Leser ins Auge: Dieser farblose, kahle, stachlige 33

84 35

Vgl. besonders den Abschnitt „Sobre Paganismo, Cristianismo e Neopaganismo", eine Zusammenstellung von Texten über religiöse Themen, in Páginas íntimas, op. cit., pp. 221—323. OP, p. 531. OP, p. 106. Antero de Quentals geistige Präsenz ist hier offensichtlich. Das Sonett „Erguendo os bra90s para o céu distante" nennt Antero übrigens „Divina Comédia", siehe: Sonetos, op. cit., p. 176.

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Wald von sich gen Himmel reckenden Armen ist ein Bild des Sdireckens, Dantes Höllenwald der Selbstmörder nicht unähnlich: „Non pomi v'eran, ma stecchi con tosco . . ( I n f . XIII, 6). Pessoa vergleicht sein Leben wiederholt mit einem Sturz ins Leere. So etwa im schon erwähnten „A Queda" (Der Fall) aus dem Jahre 1913: „Da minha ideia do mundo caí... Vacuo além do profundo Sem ter Eu nem Alt Vácuo sem si-próprio, caos De ser pensado como ser Escada absoluta sem degraus"'*

Von meiner Weltsicht stürzte ich herab . . . Leere unter aller Tiefe — Ohne Ich noch Dort zu haben, Leere ohne sich selber, Chaos als Seiendes gedacht zu werden Losgelöste Treppe ohne Stufen . .

Nach dem Sturz bleibt das Verhältnis zur Welt derart in der Schwebe, daß sich nichts mehr ordnet, nichts mehr verdichtet. Wenn ein der Welt so eng verbundener Dichter wie Victor Hugo sein Bewußtsein visionär als spiralenförmige Einrollung im Raum erkennt 37 , so gleicht dasjenige Pessoas dem einer steilabfallenden Treppe, die im Leeren hängt und ins Leere führt, ohne Anfang und Ende. Von einem Aufstieg, einer wirklichen Aufwärtsbewegung, kann schon beim frühen Pessoa nicht die Rede sein. Den Berg der Vollkommenheit, der Erkenntnis, den noch Antero de Quental mühsam zu bezwingen suchte, ignorierend, landet Pessoa am Abgrund des Nichts, in der Verwirrung, im Chaos. Das Tappen im Dunkel ist ein rettungsloses Umherirren, ein Abstieg in nie zu ergründende Tiefen. Straucheln, Abgleiten, Stürzen — über eine stufenlose Treppe — das sind freilich Verben, die eine Handlung beschreiben, dodi sie vermögen Pessoas Welt nur eine negative Struktur zu geben. Ein Fortbewegen unter solchen Bedingungen erweist sich notgedrungen als sinnloses, absurdes Im-Kreis-Gehen. Von jenem fernen Ideal, vom Traum, sich einmal ganz und wesentlich zu erkennen, bleiben nur Splitter. Es sind die Splitter eines zerbrochenen Zauberspiegels. Nachdem Narziss seinem Drang nadi Vereinigung nachgab, ist er ertrunken und erstarrt. Sein Bild hat sich erst getrübt, dann ist es zerstückelt, zersplittert in tausend Fragmente, die nicht mehr zusammenfinden. Alvaro de Campos ( = Pessoa) wird von seiner Seele dasselbe sagen. Er schreibt einmal, sie gehe in Scherben wie " OP, p. 112. Vgl. etwa das Gedicht „Les Djinns", Orientales, X X V I I I : „Fuyons sous la spirale de l'escalier profond!" Oder in Post-scriptum de ma vie, Promontorium Somnii: „Spirales vertigineuses de l'esprit sur lui-même, qui font la pensée pareille à une couleuvre!" zit. bei Georges Poulet, La Distance Intérieure, Pion, Paris 1952, pp. 194—230.

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ein leeres Gefäß, sie stürze, die Straße hinunter, und zerbreche in mehr Stücke, als am Krug Ton war." 38 Die Zersplitterung des Bewußtseins ist somit „mehr als total", dies ist wiederum paradox. Mit anderen Worten: So oder so, es gibt und gab kein Ganzes, auch wenn sich alle Splitter vereinen ließen. „Partiu-se o espelho magico em que me revia identico E em cada fragmento fatidico vejo so um bocado de mim Um bocado de ti e de mim." 3 ' Der magische Spiegel zerbrach, in dem ich mein Ebenbild wiedersah In jedem Schicksalssplitter sehe ich nur ein Teilchen von m i r . . . Ein Teildien von dir und von mir.

Aber dasselbe Bild findet sich schon bei Pessoa vorgeformt. Pessoas Herz nennt sich einen zerbrochenen Krug, der umstürzt: „Meu corafao 6 uma anfora que cai e que se parte""* Mein Herz ist ein Krug, der stürzt und zerbricht.. .*

Den Momenten des Zergehens, des Stürzens und der Angst folgen wieder andere, in denen diese Angst nur hintergründig lauert. Pessoa ist kein Dichter des Plötzlichen, des Schreckens, ja nicht einmal der Angst. Die weitaus meisten seiner Gedichte sind Ausdruck einer geheimen, unbekannten Qual, einer nie erfüllten Sehnsucht, die nur äußerlich den Namen „saudade" mit der Dichtung der Zeitgenossen gemeinsam hat. Vor und nach der Erkenntnis seiner Grundsituation ist unser Dichter gleich weit gekommen. Stets tönt dieselbe Klage aus seinen Versen: „O azul do c£u faz pena a quem nao pode ter na alma um azul do ceu tambem com que viver." 41

Himmelsblau schmerzt den, der nicht auch Himmelsblau in seiner Seele haben kann, womit zu leben.*

Dieses ausweglose Gequältsein charakterisiert vor allem das Spätwerk des eigennamigen Dichters. Indem er seinen Heteronymen neue Bereiche öifnet, überläßt er sich solcher Schwermut. Aus andauerndem Betrübsein und verborgener Angst vor dem Nichtsein nährt sich etwas, das schlimmer noch ist als Traurigkeit oder Weltschmerz: ein müder OP, p. 378 (Älvaro de Campos). OP, p. 360 (Älvaro de Campos). 40 OP, p. 109. „Anfora", merkwürdig literarisches Wort, läßt an John Keats griechische Vase denken, dieses Symbol der rätselhaft ewigen Dauer, des durch die Kunst eingefangenen Augenblickes. J. Keats, Ode on a Grecian U m , Selected Poetry and Letters, op. cit., p. 247. " OP, p. 139. 38



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Überdruß ohne Hoffnung, Abulie, „o tedio", wie die Portugiesen das nennen. 42 Jener „tedium vitae". der Antero de Quental in den Selbstmord trieb, (Unamuno sagt einmal von den Portugiesen, sie seien ein Volk von Selbstmördern), derselbe, an dem die meisten Romanhelden E j a de Queiros' leiden und der überhaupt aus Portugals Dichtung nicht wegzudenken ist. Es ist die lusitanische, auch im Fado besungene Abart des „Ennui", sozusagen eine nationale Variante des romantischen Mal-dusiècle, das den Portugiesen allerdings schon seit ihrem bitteren Niedergang zu Ende des 16. Jahrhunderts im Blute liegt. In Pessoas negativer Welterfahrung findet dieser „tèdio" einen neuartigen Ausdruck, so etwas wie eine nochmalige Verfinsterung. Einmal sagt es der Dichter in einfachster Weise: „Doi-me quem sou"43

Es tut weh zu sein, der idi bin . .

O d e r wieder: „O tèdio das horas incertas Pesa no meu corajào." 44

Die leere Trübsal Ungewisser Stunden lastet auf meinem Herzen.*

Welche Last, diese quälende Langeweile immerfort ausstehen zu müssen! Pessoa muß sie fast physisch verspürt haben: „In diesem tragischen Moment meines Lebens", schreibt er in einem Brief an Jaime Cortesáo, „bin ich der unfreiwillige Atlas einer Welt des Überdrusses (tèdio), der mir beinahe physisch, spürbar, auf den Schultern lastet." 45 Joel Serrào meint etwas kategorisch, in Anbetracht dieser Geistesverfassung hätten dem Dichter vier Wege offengestanden, nämlich der Selbstmord, der Wahnsinn, eine religiös-transzendente Lösung seiner Konflikte und . . . der Alkohol. In seinen letzten Lebensjahren ist Pessoa mehr und mehr der Trunksucht verfallen. 48 Aber nicht nur der orthonyme Pessoa, auch die „anderen Personen" seiner Dichtung müssen sich mit der Sisyphuslast des „tèdio" auseinandersetzen. Pessoas Drang nach poetischer Verwirklichung entspringt ja 42

43 44 45

40

Zum Thema des „tedio" in der portugiesischen Dichtung: vor allem den Aufsatz „O tedio como realidade psíquica", in Joel Serrào, Temas Oitocentistas, II, Portugàlia, Lissabon 1962, pp. 157—243. Ferner die unveröffentlichte Diss. von Maria P. Canhas Mendes, Contribuido para o estudo do motivo do tedio ñas obras de Fernando Pessoa e de Mario de Sá-Carneiro, Universidade de Lisboa, Lissabon 1966.

OP, p. 524. OP, p. 561. Zit. bei J. Serrào, A Vivencia do tedio na poesia de F. Pessoa, in „Comercio do Porto", 28. 2.1961, I. Parte. ibd., II. parte, 28. 3.1961.

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geradewegs diesem Unbefriedigtsein. Die erste Aufgabe der heteronymen Dichter ist es, diesem Ungenügen abzuhelfen. Alvaro de Campos, von solchen Gedanken heimgesucht, schreibt in „Opidrio", er nehme aus Enttäuschung über die Nichtigkeit des Lebens zum Rauschgift der Phantasie Zuflucht, denn nur so könne er seine Leere ausfüllen und überwinden. Sein ständiges Rauchen versinnbildlicht eine ununterbrochene Ausflucht aus dem Lebensdilemma. „Und idi raudie weiter" 47 , schreibt er im Gedicht „Tabacaria", doch der Tabakladen bleibt ihm verwehrt, bleibt auf der andern Straßenseite. Rauchen ist Sucht nach Zerstreuung, ein teils spielerisches, teils bewußtes Verbrennen und Verbrauchen von Energie, stets auf neue Zufuhr angewiesen. Es entsteht dabei kein großes Feuer, keine Flamme schlägt aus der glimmenden Asche. Der spätere Alvaro de Campos erinnert an den Romanhelden von Italo Svevos „Coscienza di Zeno" 48 , mit dem er die ziellose Untätigkeit gemeinsam hat. Als Portugiese versucht jener seine Lebensweise, die sich im Spätwerk nach und nach bestätigt, mit einem „nationalen Charakterzug" zu begründen. Er schlage die Zeit tot, sagt er, weil er zu jenen Portugiesen gehöre, die „nach den Entdeckungen arbeitslos blieben." 49 Das ziellose, nutzlose Verpuffen der Lebensenergie gehört zum Pessoaschen Wesen. Eine psychoanalytische Interpretation seines Werkes müßte dem große Bedeutung zumessen. Vorderhand sehen wir darin ein Zeichen fortwährender Unsicherheit vor dem, was kommt, und hilfloser Gleichgültigkeit, die die existentielle Angst höchstens bemäntelt. Gleich dem jungen Mallarmé, der bei jeder Ausfahrt in die Realität bereits die nahende Katastrophe ahnt, denkt Pessoa — und hier trifft er sich mit Alvaro de Campos — wie ein Schiffbrüchiger. Hin- und her geschüttelt, in einen verzweifelten, aber sinnlosen Kampf verwickelt, ist sein Bewußtsein der Übersättigung, dem Ekel vor den Dingen ausgesetzt. Im Portugiesischen haben die Verben für „seekrank werden" (enjoar) und für „verdrießen, langweilen" (enojar) die gleiche Wurzel. Die beiden Begriffe gehören auch in der Welt Pessoas zusammen. Wie in Dantes Hölle sind die Regungen des denkenden und handelnden Menschen richtungslos, verloren. Ob er links oder rechts schaut, ob er geht oder steht, nichts verändert sich in dieser statischen Welt. 47 48

49

OP, p. 362—66 (Alvaro de Campos). Italo Svevo, La Coscienza di Zeno, Dell'Oglio, Milano 1938. Cf. besonders das dritte Kapitel. OP, pp. 301—06 (Alvaro de Campos). Zum Gedidit „Opiärio", wo das Rauchen Sinnbild einer tatenlosen Existenz wird, vgl. auch die jüngst erschienene Untersuchung von Maria Luisa Guerra, Interpretajào fenomenològica do Opiario, Sep. von „Ocidente", vol. LXXIV, Lissabon 1968.

IV. Estar-ser: Die Tragik der Existenz » ,Vou com um passo como de ir parar Pela rua vazia Nem sinto como um mal ou

mal-estar

«50 50 A vaga chuva fria . . ."

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Idi gehe stockenden Schrittes durch die öde Straße

und spüre nicht einmal als Obel oder Unwohlsein den schwachen, kalten Regen."'

Der Alltag der Existenz gleicht einem Regentag. Die schleichende Farblosigkeit solcher Tage lastet sonst auf dem Dichter. Heute aber schreitet er geistesabwesend dahin und kaum wird er des Regens gewahr. Ein passives Sich-gehen-lassen steht auf seinem Gesidit geschrieben. So sehr läßt er sich treiben, daß er kaum mehr denkt, kaum mehr sieht, öffnet er nun auf einmal seine Augen, so versteht er blitzartig die Leere seines Daseins und es überkommt ihn ein Gefühl des Ekels: "Náusea. Vontade de nada. Existir por nao morrer." 51

Ekel. Nichts begehren. Existieren, um nicht zu sterben.

Wie in Sartres „Nausée" wirkt hier das Nidits als ein Magnet aus dem Abgrund. Dodi nicht vor dieser Anziehung graut und ekelt es Pessoa: Sein arg bedrängter Lebenswille fühlt sich sogar geködert. Am äußersten Rand des Bewußtseins, dort wo der Tod das Leben streift, schiebt sich dieses Ekelgefühl zwischen Leben und Denken. In Alvaro de Campos' „Ode Maritima" tritt ebenfalls gleidi zu Anfang ein Gefühl des Ekels auf, unmittelbar dem Erwachen folgend. Erinnern wir uns kurz jener Szene, in der das Bewußtsein des Dichters vor dem Hafen auf ein im Morgenwind herannnahendes Schiff wartet. Nun fährt aber De Campos weiter: „Mas a minha alma está com o que vejo menos Com o paquete, que entra Porque ele está com a Distáncia, com a Manhá Com o sentido marítimo desta Hora

Com a do