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German Pages 752 Year 2000
Hans-Jürgen Prien Das Evangelium im Abendland und in der Neuen Welt
ACTA COLONIENSIA Estudios Ibéricos y Latinoamericanos Herausgeber: Hans-Jürgen Prien und Michael Zeuske I:
Religiosidad e Historiografía. La irrupción del pluralismo religioso tn /América Latina y su elaboración metódica en la historiografía Actas del Simposio Internacional: «Religiosidad e Historiografía: la i r u p x i ó n del pluralismo religioso en América Latina y su elaboración metódica en la 1 historiografía» del 15 al 16 de noviembre de 1996 en el Instituto de Histora Ubérica y Latinoamericana de la Universidad de Colonia
II:
Regiones europeas y Latinoamérica (siglos XVIII y XIX) Actas del Simposio Internacional: «Regiones europeas y Latinoaméric¡a (siglos XVIII y XIX)» del 16 al 17 de diciembre de 1995 en el Instituto de Historiia Ibérica y Latinoamericana de la Universidad de Colonia
III:
Interethnische Beziehungen in der Geschichte Lateinamerikas Akten des Symposions «Interethnische Begegnungen, Konflikte und l'roibleme in der Geschichte Lateinamerikas seit 1492», vom 28. und 29. November 1997 an der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung des Historischen S e m i n a r s der Universität zu Köln
IV:
Beneméritos, aristócratas y empresarios. Identidades y estructuras sodalies de las capas altas urbanas en América hispánica Actas del S i m p o s i o Internacional: „Beneméritos, aristócratas y e m p r e s a r i o s . Identidades y estructuras sociales de las capas altas urbanas en Iberoamérica colonial" del 4 al 6 de diciembre de 1998 en el Instituto de Historia Ibérica y Latinoamericana de la Universidad de Colonia
V:
Hans-Jürgen Prien: Das Evangelium im Abendland und in der Neuen Welt. Studien zu Theologie, Gesellschaft und Geschichte. Zum 65. Geburtstag des A u t o r s herausgegeben von Hans-Martin Barth und Michael Zeuske
Hans-Jürgen Prien
Das Evangelium im Abendland und in der Neuen Welt Studien zu Theologie, Gesellschaft und Geschichte
Zum 65. Geburtstag des Autors herausgegeben von Hans-Martin Barth und Michael Zeuske
Vervuert • Frankfurt am Main • 2000
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Köln, des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft und der MAN AG.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Prien, Hans-Jürgen: Das Evangelium im Abendland und in der Neuen Welt: Studien zu Theologie, Gesellschaft und Geschichte / Hans-Jürgen Prien. Zum 65. Geburtstag des Autors hrsg. von Hans-Martin Barth und Michael Zeuske. - Frankfurt am Main : Vervuert, 2000 ( A c t a C o l o n i e n s i a ; V o l . 5) ISBN
3-89354-195-0
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2000 Alle Rechte vorbehalten Umschlagentwurf: Michael Ackermann Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
Hans-Jürgen Prien
Inhaltsverzeichnis Vorwort
Einleitung
XIII
I. Martin Luther und die Reformation
XV
Grundgedanken der Ekklesiologie beim jungen Luther
1
Wirtschaften zum Wohl des Menschen. Aspekte einer Wirtschaftsethik Martin Luthers
25
II. Anfänge der spanischen Mystik im "Goldenen Jahrhundert"
Göttliche Gnade und menschliche Mitwirkung - Francisco de Ossuna und die Anfänge der spanischen Mystik des 16. Jahrhunderts
55
Ein spanischer Katechismus aus dem Jahre 1529 von Francisco de Ossuna
69
III. Spanien und Amerika: Conquista und Evangelisierung
Christlicher Universalismus und europäischer Kolonialismus. Kirchengeschichtliche Überlegungen zu den Ausgangspunkten der Eroberung Amerikas
101
Die alexandrinischen Bullen von 1493
141
Conquista, Kolonisation und Mission in Hispanoamerika bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts
163
Hernán Cortés' Rechtfertigung seiner Eroberung Mexikos und der spanischen Conquista Amerikas
183
Einleitung und Kommentar zu Bartolomé de Las Casas' Missionsschrift De unico vocationis modo omnium gentium ad veram religionem
207
Pioniere der Evangelisierung Amerikas: Bartolomé de Las Casas, Manuel da Nóbrega und José de Acosta. Ein Vergleich ihrer Missionstheorien
273
Die Kirche im andinen Raum im 16. und 17. Jahrhundert
293
IV. Lateinamerikanische Frömmigkeit
Von der Alten Kirche bis zur Kirche in Lateinamerika heute. Synkretismus als kirchengeschichtliches Problem
337
Heiligenverehrung in Lateinamerika und lateinamerikanische Heilige
355
Artgemäßes Christentum und lateinamerikanische Volksfrömmigkeit. Ein Vergleich zwischen Fragen des Kirchenkampfes im Dritten Reich und der neueren Entwicklung der lateinamerikanischen Christenheit
377
Volksfrömmigkeit in Lateinamerika. Überlegungen von der Kirchengeschichte her
399
Die religiöse Situation in Brasilien nach dem Ende des katholischen Monopols. Der brasilianische Nordosten
419
V. Zum Überlebenskampf der indigenen Bevölkerung
Indianerbilder in Neu-Granada/Kolumbien in Vergangenheit und Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der Beobachtungen Alexander von Humboldts
439
Indianerpolitik und katholische Mission in Brasilien im 19. und 20. Jahrhundert
459
Die gegenwärtige Diskussion über die Indianermission im Kontext der Neubesinnung über die Weltmission
487
Indianerschutz als Teil der deutsch-brasilianischen Beziehungen
499
VI. Protestantismus in Lateinamerika
Protestantismus in Lateinamerika und Ansätze zur Historiographie des Protestantismus
515
Die Haltung der nichtkatholischen Kirchen zum Revolutionsprozeß in Nikaragua (1979-1990)
537
Kirche - Volkstum - Politik. Das Verständnis des Öffentlichkeitsauftrages der Riograndenser Synode in den dreißiger Jahren im Lichte ihrer Publikationen
573
VII. Theologie in Lateinamerika im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts
Weltgeschichte im Koordinatensystem von Kreuz und Auferstehung
605
Befreiung und Entwicklung. Zur Frage strukturverändernden
Handelns lateinamerikanischer Christen
625
Katholische Kirche und Entwicklungsproblematik in Lateinamerika
649
Befreiungstheologie als Zukunftsmodell?
667
VIII. Bibliographie
687
Namens- und Sachregister
700
Wappen des Indienrates, graviert von Pedro Perete im Jahre 1616, aus den "Autos, acuerdos y decretos de gobierno del .... Consejo de las Indias,.... Juntólos el Lic. D. Antonio de León Pinelo", Madrid 1658. Die Darstellung lehnt sich an das Wappen des jungen Königs Karls I. an, das die Säulen des Herkules mit der Devise "Plus ultra" zeigt und auf die Übersee-Expansion in den Atlantik jenseits Gibraltars hinweist.
November 1519: Die erste Begegnung zwischen Moctezuma II., dem 9. Herrscher der Mexica (1502-1520), und Hernán Cortés, als dessen Dolmetscherin und Ratgeberin und Geliebte, die Aztekin Malintzin, später als Christin Doña Marina genannt, fungiert. Zeichnung aus dem Lienzo de Tlaxca, u.a., abgedruckt in: Nigel Davies, The Aztecs. A History, Bunguay 1973.
Vorwort Zum Zustandekommen dieses Bandes bedurfte es der ausdauernden Mithilfe verschiedener Mitarbeiter der Abteilung für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte des Historischen Seminars der Universität zu Köln. Besonderer Dank gilt Frau Ina Hachmeister, der studentischen Mitarbeiterin Prof. Priens, die mit großer Energie und Umsicht die Beiträge computermäßig erfaßt und vereinheitlicht hat, ferner Herrn Dr. Heinz-Joachim Domnick, der das Gesamtmanuskript in eine druckreife Form gebracht, das Register erstellt und dabei auch noch Korrektur gelesen hat, wobei er in letzterer Hinsicht von Herrn Dr. Jürgen Müller unterstützt worden ist. Nicht zu vergessen ist auch die Hilfe von Frau Renate Weber, die ebenfalls für manche Korrekturen und schnelle Kommunikation auf allen Ebenen gesorgt hat. Zu danken ist schließlich der Universität, dem Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft und der MAN AG für Druckkostenzuschüsse. Die Herausgeber
Einleitung Lateinamerika und das Abendland Lateinamerika und das Abendland stehen in einer wechselvollen und spannungsreichen Beziehung zueinander. Sie wird in der Regel unter kolonial- und kulturgeschichtlichen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkten analysiert. Das "Evangelium" scheint dabei kaum eine Rolle zu spielen. Werden missionsthcologische Aspekte zur Geltung gebracht, so geht es gewöhnlich um Theorie und Praxis der römisch-katholischen Missionen; es ist ja auch das lateinisch orientierte, römisch-katholisch ausgerichtete Abendland, das zu Lateinamerika ein spezifisches Verhältnis entwickelt hat. Das "Evangelium" befindet sich dabei in einer schwierigen Rolle. Wurde es in Europa dazu mißbraucht, daß das Abendland sich groß machen konnte, und hat es gerade unter dieser Perspektive Lateinamerika zum Schaden gereicht? Im Zusammenhang der Jubiläumsfeierlichkeiten anläßlich der 500 Jahre zurückliegenden "Entdeckung Amerikas" wurden nur vergleichsweise wenige kritische Stimmen laut. War die in Europa zum Teil enthusiastisch aufgenommene Theologie der Befreiung vielleicht, ohne daß es in Europa bemerkt wurde, auch eine Theologie der Befreiung vom Abendland? Hat sie auch deswegen in Rom Befremden und teilweise Ablehnung hervorgerufen? Das Evangelium wurde und wird im Abendland nicht nur in seiner römischkatholischen Interpretation vertreten. Die reformatorischen Kirchen waren zunächst verständlicherweise zu sehr mit sich selbst und ihrer Situation beschäftigt, als daß sie sich groß für Spanien, Portugal und Lateinamerika hätten interessieren können. Die "neue Welt" eines neuen Verständnisses des Evangeliums war ihnen im Herzen Europas aufgegangen, so daß die geographisch sich abzeichnende "Neue Welt" dagegen verblassen mußte. Sie empfanden sich zudem in starkem Maße als Teil der "einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche" und konnten das Geschäft der Mission guten Gewissens anderen Teilen dieser Kirche überlassen, zumal die durch die Reformation geprägten Territorien zunächst keine eigenen kolonialen Anstrengungen unternahmen. Erst in den folgenden Jahrhunderten sollte sich das ändern und zu einer Missionstätigkeit auch der evangelischen Kirchen fuhren. Das Evangelium in seiner reformatorischen Gestalt erreichte Lateinamerika daher reichlich spät. Erst mit den Einwanderern des 19. Jahrhunderts aus Deutschland und den nordischen Ländern faßte es, besonders im Süden Brasiliens, Fuß, abgesehen von kleinen Territorien im karibischen Raum. Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts werden
XVI allerdings wesentliche Pfingstkirchen erfaßt.
Teile der Bevölkerung
von
den
protestantischen
Hans-Jürgen Prien: Korrespondenz von Lebensweg und Lebenswerk So nimmt es nicht Wunder, daß es jedenfalls in Mitteleuropa nur vergleichsweise wenige evangelische Theologen gibt, die die Situation in Lateinamerika kennen oder auch nur das Spanische und Portugiesische beherrschen. Unter ihnen ist zweifellos an prominenter Stelle Hans-Jürgen Prien zu nennen. Sein Lebensweg führte ihn buchstäblich zwischen dem Abendland und Lateinamerika hin und her. Nach dem Abitur, einer kaufmännischen Lehre in Hamburg und technischen Studien war er 1958 bis 1961 als Technischer Direktor von Representaciones Caribia S.A. in San Salvador/El Salvador tätig. Unmittelbar danach begann er an der Universität Hamburg das Studium von Geschichte, Altamerikanistik und evangelischer Theologie, das er mit der theologischen Promotion 1967 abschloß. Nach der Ordination 1969 ging er emeut nach Lateinamerika: Von 1969 bis 1973 wirkte er als Dozent für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Kirchlichen Hochschule Säo Leopoldo/Rio Grande do Sul in Brasilien. Darauf folgte die Tätigkeit in einem Hamburger Pfarramt, während der er sich im Fach Kirchen- und Dogmengeschichte habilitieren konnte. 1986 wurde er — während meines Dekanats, in diesem Zusammenhang haben wir einander kennengelernt [H.-M. Barth] — zum Professor fiir Kirchengeschichte an der Philipps-Universität in Marburg berufen. Seit 1992 ist er o. Professor für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte und Direktor der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung des Historischen Seminars der Universität zu Köln, wo ich als sein Kollege auf der anderen Professur für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte arbeitete, nachdem wir uns 1989 in Szeged (Ungarn) auf einem Kongreß begegnet waren [M. Zeuske]. Gastprofessuren am Instituto Superior de Educación Teológica (ISEDET) in Buenos Aires, am Seminario Bautista in Managua/Nikaragua, an der Universität Lissabon, an der Universidade Federal de Ceará in Fortaleza/Brasilien, an der Universidad de La Habana in Kuba und an der San-Marcos-Universität in Lima führten ihn immer wieder auf die Iberische Halbinsel und nach Lateinamerika. Das Hinüber und Herüber zwischen Europa und Lateinamerika, zwischen kirchlicher und wissenschaftlicher Tätigkeit, zwischen historischer Theologie und säkularer Geschichtswissenschaft kennzeichnet seinen Lebensweg, der sich in seinem Lebenswerk eindrucksvoll reproduziert. Seine Tätigkeit im Bereich der Wirtschaft hat ihm die Augen geöffnet für ökonomische und politische Fragen. Das Studium Lateinamerikas und der wissenschaftliche Austausch mit die-
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sem Kontinent ist ihm ein wesentliches Anliegen. In Marburg fungierte er als Mitbegründer und Vorsitzender des interdisziplinären "Arbeitskreises für Iberische und Lateinamerikanische Studien" der Philipps-Universität Marburg (CEIILA), der leider ein eigenes Institut für Postgraduiertenstudien in Lateinamerikawissenschaft trotz einer bereits ausgearbeiteten Studienordnung bislang nicht verwirklichen konnte, aber nach wie vor durch Vortragstätigkeit und gelegentliche Veröffentlichungen in Erscheinung tritt. Seit 1973 gehört Hans-Jürgen Prien dem Lateinamerika-Beratungsausschuß der Evangelischen Kirche in Deutschland, seit 1974 dem Ökumenischen Ausschuß für Indianerfragen in Amerika des Deutschen Katholischen Missionsrates und des Evangelischen Missionswerks an. Seine auch ins Spanische übersetzte "Geschichte des Christentums in Lateinamerika" (1978) ist zu einem Standardwerk geworden, an dem niemand, der sich für Lateinamerika ernsthaft interessiert, vorüber kommt. Bei allem ökumenischem Engagement gilt seine besondere Aufmerksamkeit immer wieder auch den Geschicken der Reformation und der evangelischen Kirchen im lateinamerikanischen Kontext. Die Reformation und die Neue Welt Lutherisches Gedankengut ist im vorigen Jahrhundert über die evangelischen Siedler und in unserem Jahrhundert auch über einige Theologen der Befreiung, die in Deutschland studiert haben, nach Lateinamerika eingedrungen. Eine direkte Beziehung zwischen dem historischen Luther und dem Lateinamerikanischen Kontinent gab es jedoch nicht. Immerhin hat Martin Butzer, der Straßburger Reformator, sich wenigstens nebenher kritisch über das Gebaren der Eroberer der "Neuen Welt" geäußert. Obwohl sich also zwischen Luther und Lateinamerika keine direkte Verbindungslinie findet, sind in den vorliegenden Aufsatz-Band zwei Beiträge zu Luthers Theologie aufgenommen worden. Immer geht es in der Auseinandersetzung mit Lateinamerika auch um die allgegenwärtige römisch-katholische Tradition, die durch die Reformation in einem nicht geringen Maße herausgefordert worden war. Hans-Jürgen Prien fragt: Steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen dem jungen Luther und den damaligen kirchlichen Instanzen das Verständnis der Kirchen oder das des Wortes Gottes zur Debatte? Aus spätmittelalterlicher Sicht galt es, die Autorität der Kirche und insbesondere des Papstes zu verteidigen, die sich gerade in Lateinamerika so sehr ambivalent auswirken sollte; Luther war es darauf angekommen, die Priorität des Evangeliums herauszustellen. Besonders aufschlußreich ist nach Prien der Versuch, Luthers Ansätze einer Wirtschaftsethik mit der ökonomischen Situation der "Dritten Welt" und insbesondere Lateinamerikas in Verbindung zu bringen. Obwohl hier viel Zeitbedingtes und aus heutiger Sicht
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Unverständliches aufzufuhren ist, ergeben sich doch Kapitalismus-kritische Grundlinien, die auch in der Gegenwart Beachtung verdienen. Jedenfalls kann man in diesem Zusammenhang studieren, daß es Luther fernlag, im gesellschaftlichen Bereich — dem "Reich zur Linken Gottes" — alles beim Alten zu lassen und nicht verändernd in ihn einzugreifen. Der einschlägige Beitrag ergänzt und präzisiert Hans-Jürgen Priens Monographie "Luthers Wirtschaftsethik" (1992). Er hat sich darüber hinaus in verschiedenen Aufsätzen zu gesellschaftlichen Fragen wie der nikaraguanischen Volksbewegung und der sandinistischen Revolution, dem Einfluß Nordamerikas auf Lateinamerika und Kolumbiens Drogenkrise geäußert. Spanische Mystik Am Beginn von Hans-Jürgen Priens Beschäftigung mit Lateinamerika steht seine Auseinandersetzung mit den Anfängen der spanischen Mystik. Seine Dissertation über Francisco de Ossuna (1967) thematisiert das Verhältnis von Mystik und Rechtfertigung. Zwei Beiträge im vorliegenden Aufsatz-Band ergänzen und präzisieren das dort Gesagte. "Göttliche Gnade" und "menschliche Mitwirkung" stehen bei Ossuna in einem merkwürdig ungeklärten Verhältnis zueinander. Um so erstaunlicher sind die sachlichen Beziehungen, die sich zwischen Ossunas Katechismus von 1529 und Luthers im selben Jahr erschienenen Katechismen - trotz der ins Auge springenden Unterschiede - zeigen. Ossuna redet in einem seelsorgerlich-gewinnenden Ton; er weiß, daß das I. Dekalog-Gebot durch die Gottesliebe erfüllt wird, und daß es letztlich auf das Kreuz Christi ankommt. Der erstmals von Hans-Jürgen Prien ins Deutsche übersetzte Katechismus wird im vollen Wortlaut abgedruckt. Inwieweit konnte die spanische Mystik im "Goldenen Jahrhundert" trotz kolonialer und kirchlicher Herrschaftsstrukturen auch in Lateinamerika wirksam und fruchtbar werden? Geschichtsphilosophische Reflexionen Die kirchliche und gesellschaftliche Situation Lateinamerikas kann ebensowenig wie ihre Geschichte isoliert betrachtet und analysiert werden. Hans-Jürgen Prien versteht es, lateinamerikanische Problemkonstellationen immer wieder in den größeren Horizont der Weltgeschichte einzustellen. Im Rahmen einer Skizze geschichtsphilosophischer und -theologischer Konzeptionen von Friedrich Schiller bis Jürgen Moltmann, in der er besonders die Krise von 1918 und die Herausforderungen des Jahres 1933 herausarbeitet, kommt er zu dem Ergebnis, die Weltgeschichte sei "in einem Koordinatensystem von Kreuz und Auferstehung" zu verstehen: "Der Bezug auf das Kreuz markiert dabei die Diskontinui-
XIX tät, den Bruch zwischen aller irdischen Geschichte und dem Reich Gottes, und der Bezug auf die Auferstehung bezeichnet die antizipierende Wirkung des Reiches Gottes auf die Geschichte, also den präsentischen Aspekt der Eschatologie. Ein Ansatz, der darauf wartet, systematisch-theologisch entfaltet zu werden! Die lateinamerikanische Frömmigkeit ist besonders durch Vermengungen mit Elementen bodenständiger Religiosität charakterisiert. Der Synkretismus-Verdacht liegt nahe und wird sich auch nicht generell von der Hand weisen lassen. Hans-Jürgen Prien macht jedoch darauf aufmerksam, in wie starkem Maße auch das abendländische Christentum synkretistisch geprägt ist. Er belegt dies durch zahlreiche Hinweise auf die dogmatische Klärungsphase der Alten Kirche und das Christus-Bild der Germanen. Die Weise, wie die Gestalt Luthers deutschnational verfremdet wurde, ist ihm "Beispiel für einen sekundären Synkretismus, der von sozio-politischen oder weltanschaulich-ideologischen Motiven bestimmt ist". In Lateinamerika stellte sich das Synkretismus-Problem insofern anders, als dort die Menschen zur Akkommodation gezwungen wurden. Geschichtliche Darstellungen implizieren oft einen religiös oder weltanschaulich gefärbten Kampf um die Geschichte. Wie äußert sich dies im Blick auf "Ansätze zur Historiographie des Protestantismus"? Auch scheinbar rein soziologisch vorgehende Studien urteilen nicht ohne weiteres "wertneutral", ebenso wenig natürlich konfessionalistisch bestimmte Darstellungen. Gerade im Blick auf den noch jungen Protestantismus Lateinamerikas liegt hier noch ein erheblicher Forschungsbedarf vor - nicht nur im Blick auf den deutschen "Einwanderungsprotestantismus in Brasilien" oder den evangelikal geprägten "Missionsprotestantismus", sondern auch hinsichtlich der politischen Optionen der verschiedenen protestantischen Gruppen. In diesem Zusammenhang ist die Einstellung der Rio Grandenser Synode in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zur gleichzeitigen Entwicklung der kirchlichen Situation in Deutschland ebenso aufschlußreich wie betrüblich. Gerade das Auslandsdeutschtum war für nationalistische Töne in Verbindung mit scheinbar protestantischer Selbstvergewisserung besonders anfällig. Der in diesem Zusammenhang wichtige Beitrag: "Die 'deutsch-evangelische Kirche' in Brasilien im Spannungsbogen von nationaler Wende (1933) und Kirchenkampf' (erschienen 1988) ist wegen seiner relativ guten Zugänglichkeit im vorliegenden Band nicht wieder abgedruckt worden (vgl. Bibliographie). Hans-Jürgen Prien hat der Geschichte der evangelischen Kirche lutherischen Bekenntnisses, in deren Auftrag er ja vier Jahre lang als Dozent in Säo Leopoldo tätig gewesen war, eine eigene ausführliche Monographie gewidmet: "Evangelische Kirchwerdung in Brasilien. Von den deutsch-
XX evangelischen Einwanderergemeinden zur Evangelischen Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien" (1989). Conquista und Evangelisierung im weltgeschichtlichen Kontext Es ist ein Allgemeinplatz unter Historikern, daß die Landnahme der Spanier in Amerika auch eine conquista espiritual gewesen ist. Die Prienschen Arbeiten zeigen aber, daß gerade auf diesem Gebiet theologischer und historischer Ansatz fruchtbar werden können. Die wenigsten Historiker, aber auch kaum evangelische Theologen, haben sich wirklich aus der Kenntnis der historischen Theologie Europas und Amerikas sowie der Glaubensinhalte dem Thema genähert. Dieser Teil des Werkes von Hans-Jürgen Prien ist der am deutlichsten Kölnische, der am meisten von der Befruchtung durch und von der Auseinandersetzung mit der Kölner Tradition geprägte. Hier findet sich der große Aufsatz, der den europäischen Kolonialismus in seinen Ansätzen und Motivationen als christlichen Universalismus interpretiert (1992). In der Werkgeschichte reproduziert sich das Itinerar des Autors — von Marburg nach Köln, von der theologischen Fakultät in ein historisches Seminar. Hans-Jürgen Prien geht chronologisch und sachlich weit zurück - auf die wichtigsten offiziellen Texte, die Mission und europäische Ausbreitung begründen sollten, an den Anfang der europäischen Expansion im atlantischen Raum - zu den Papstbullen, sozusagen der frühneuzeitliche Völkerrechtsersatz. Prien beschäftigt sich speziell mit den "Alexandrinischen Bullen von 1493", mit denen sich Kastilien-León gegen portugiesische Ansprüche den Zugriff auf "alle Inseln und Festländer" im Westen sichern wollte. Die alexandrinischen Bullen führten die in den Papstbullen für Portugal (1455/56) begonnene Ersetzung des mittelalterlichen Kreuzzugsgeistes durch den Missionsauftrag fort und verliehen damit die doppelte Gewalt, zu kolonisieren und zu evangelisieren; Prien erinnert in diesem Zusammenhang iberische Autoren an die deutsche Ostkolonisation im 12. Jahrhundert, wo ähnliche Ansätze zur Germanisierung des Christentums gefuhrt hatten. Ob dieses zur Bildung einer "expansiven und militärischen Theokratie" geführt hat, sei dahingestellt, jedenfalls bilden die in den Bullen textlich fixierten Motive wichtige Antriebskräfte der militärischen Conquista. In dem synthetischen Artikel "Conquista, Kolonisation und Mission in Hispanoamerika bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts" von 1996 stellt Prien die Bullen und die Frage der Ausbreitung der Werte und Gewalten des "Abendlandes" in den breiteren Zusammenhang der Entwicklung des Christen-
XXI
tums seit dem 8. Jahrhundert. Der Aufsatz fragt dann in seinem zweiten Hauptteil vornehmlich nach "Rolle und Spielraum der Kirche im spanischen Kolonialprojekt". Der Autor kommt zum Schluß, daß die Kirche dabei - was auch für die weitere Conquista und Kolonisierung Amerikas gelten kann "Werkzeug und Gefangene des monarchisch-absolutistischen Staates" wurde, und daß trotz großer Mühen (Sublimis Deus 1537 und Leyes Nuevas 1542) die "... alltägliche Praxis in Amerika ... hinsichtlich der Behandlung der Indios stets hinter kirchlicher Doktrin und gesetzlicher Theorie ..." zurückbleiben sollte. Als ein Meisterstück der Kölner opera Priens kann der Artikel "Hernán Cortés Rechtfertigung seiner Eroberung Mexikos und der spanischen Conquista Amerikas" gelten. Hier hat sich der Autor in seiner Antrittsvorlesung (1995 dann in der "Zeitschrift für Historische Forschung" publiziert) erstmals einem — wenn nicht überhaupt dem wichtigsten, wegen seiner Vorbildwirkung als Conquistador — der "men on the spot" der Conquista und seinem Verhältnis zur Evangelisierung und zu den Grundwerten des europäischen Christentums zugewandt. Prien vergleicht Cortés, ausgehend von einer Stelle bei Jerónimo de Mendieta, im Subtext, aber an einigen Stellen auch direkt, in "historischer wie in theologischer Perspektive" mit Luther. Der Hauptteil des Artikels beschäftigt sich mit der Rechtfertigung von Cortés. Sie war nicht nur vom Glauben geprägt, daß der Erfolg die Mittel heilige, sondern von einer juristisch ausgeklügelten Taktik, den strategischen Übergang von einem Seeunternehmen zur Landoperation für die Mentalität der Zeit — und damit vor allem vor den eigenen Mannschaften — gültig absichern zu müssen. Der "Verrat" Cortés' an Velázquez wird vom Verfasser ziemlich genau bestimmt: zeitlich auf der dritten Etappe der Reise (Ostern 1519) und geographisch im Lande der Totonaken. Cortés gründete eine Stadt (Villa Rica de la Vera Cruz), um sich von den vecinos für das Landunternehmen legitimieren zu lassen. All das begründete er mit dem "übergeordneten christlichen Sendungsauftrag", sieht- und hörbar — modern "visibel" und diskursiv — im Namen der Stadt, im dauernden Bezug auf den "gerechten Krieg" und im Sinnspruch auf der Fahne des Conquistatrupps. Ziel sei zunächst nicht die Eroberung gewesen, sondern ein "Protektorat..., in dem er [Cortés] als Schiedsrichter gegenseitigen Frieden und Zusammenleben ..." ermöglichen wollte. Im Gegensatz zu Luther, der die Erlösung allein aus der Gnade vertrat, habe Cortés den Kämpfern die himmlische Glorie im Sinne des do ut des-Prinzips für ihren militärischen Einsatz versprochen und den Krieg als gerecht auch und vor allem in dem Sinne bezeichnet, als er zur Beseitigung von Missionshindernissen diene. Prien weist in diesem Zusammenhang auf Verbindungen zur Frühzeit des Christentums im Römischen Reich und zu Cortés' Argumenten hin, die früher
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zur Verteidigung des römischen Staatskultes gegen die Christen der ersten Jahrhunderte gedient hatten. Ein Hauptaugenmerk Priens in seiner Zeit in Köln hat zweifelsohne dem Padre de Las Casas gegolten sowie den Opfern von militärischer und spiritueller Conquista, wie seine kontinuierliche Beschäftigung mit diesen Themenbereichen zeigt. Insofern gehen Kapitel III, mit seinen Aufsätzen über Las Casas, Pioniere der Evangelisierung und über die Kirche im andinen Raum im 16. und 17. Jahrhundert sowie Kapitel IV ("Lateinamerikanische Frömmigkeit") und V ("Zum Überlebenskampf der indigenen Bevölkerung") ineinander über, befruchten sich gegenseitig und zeigen, daß für Hans-Jürgen Prien diese Themen weit über das akademische Interesse hinausragen. Bei Las Casas gilt das Interesse auch dem Mann, der der erste Evangelisator Kubas, Venezuelas und Guatemalas sowie von Chiapas war und für einige Theologen sowie Kirchen- oder Religionshistoriker dafür verantwortlich ist, daß Spanien und Spanisch-Amerika keine Reformation nötig hatten. Die Einleitung zur Lascasianischen Missionsschrift "De unico vocationis modo omnium gentium ad veram religionem" veranlaßte Prien, sich eindringlich mit der Biographie, dem Wirken und der Wirksamkeit von Las Casas in Amerika sowie der Bedeutung dieser Aktivitäten zu beschäftigen. Immerhin gehörte die Schrift, die Las Casas bekanntlich nicht publizierte und die zwischen 1527 und 1534 entstand, zu den Texten im Umfeld der Papstbulle "Sublimis Deus" (1537). Prien weist auf das Anliegen Las Casas' hin, die "schwersten Geschütze" auf die spanischen Befürworter der "Schwertmission" zu richten, die Las Casas mit den Kriegern des Islam verglich, so wie er auch die gesamte kriegerische Conquista der Spanier in enger Beziehung zur Ausbreitung des Islams sah (Eroberung und Tributzahlung statt emsthafter Evangelisierung). Leider wird Las Casas immer nur in seinen Bemühungen um eine friedliche Kolonisierung analysiert, kaum jedoch in seinem Verhältnis zu den Religionen der indianischen Völker. In dem Beitrag über die Missionstheorien von Las Casas, Manuel de Nóbregas und José de Acostas kommt sehr schön die historische Sonderstellung von Las Casas am Beginn der europäischen Kolonisation zum Ausdruck. Theologisch reflektierte Las Casas die Unerfahrenheit der Europäer vor der neuen Situation und dann das Grauen vor den Folgen der kriegerischen Eroberung und vor der demographischen Katastrophe. Die Schrecken machten ihn, nachdem er jahrelang als Kolonistenpriester gewirkt hatte, zu einem kompromißlosen Kämpfer für eine friedliche, keineswegs aber gewaltfreie Kolonisierung und conquista espiritual - ein Begriff, der von ihm nicht benutzt wurde, die Stelle aus dem Lateinischen wird aber so in das Spanische übersetzt.
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Diese Perspektive bietet einen Schlüssel für den nachfolgenden synthetischen Aufsatz "Die Kirche im andinen Raum im 16. und 17. Jahrhundert", der die Unterschiede in der Missionspraxis zwischen der Karibik, Neu-Spanien in der Las Casas-Zeit und dem andinen Raum (Zentrum des Inka-Reiches) herausarbeitet, wieder am Zentralbegriff conquista espiritual. Besonders deutlich wird das Umschlagen in Ratlosigkeit angesichts des kulturell-religiösen Widerstandes der Indios gegen die Kolonisierung in der Frage der "Idolatrie". HansJürgen Prien untersucht systematisch die Entstehung der Bistümer, der kirchlichen Lehranstalten, die Missionsarbeit der einzelnen Orden, um dann "zentrale Fragen der christlichen Ethik" im Lichte dieser Zeit zu diskutieren (Menschenbild, Rechtstitel, Zwangsarbeit, Negersklaverei). Die Stellung Perus in der Chronologie der Conquista des Kontinents, schon vom universalen Triumphalismus der Spanier geprägt, führte dazu, " ... daß das Evangelium von Anfang an in Mißkredit geriet als Religion von Imperialisten, Kolonialisten und Ausbeutern". Lateinamerikanische Frömmigkeit in bewegten Zeiten Dieses Kapitel ist stark durch die historische Theologie Hans-Jürgen Priens geprägt. Synkretismus ist und bleibt, wie am Anfang dieser Einleitung schon gesagt, nicht nur ein Verdacht in Lateinamerika, sondern ein nicht zu übersehendes Thema, sowohl im indianisch-mestizischen wie auch in Afroamerika (Karibik, Brasilien). Das hat Prien versucht auszuleuchten, die Analyse der Religionssysteme und ihrer Beziehungen zur Realität bleibt Aufgabe. Prien untersucht die lateinamerikanische Volksfrömmigkeit unter verschiedenen Perspektiven, die von der Spannbreite seines Ansatzes geprägt sind. Der Synkretismus wurde schon genannt, dazu kommen ein Vergleich zwischen Fragen des Kirchenkampfes im Deutschland des Dritten Reiches und der neueren Entwicklung der lateinamerikanischen Christenheit, Heiligenverehrung und lateinamerikanische Heilige (mit interessanten Bemerkungen zu potentiellen Kandidaten: "exemplarische(n) Christen, die der Ehre der Altäre noch nicht für wert erachtet wurden"), Analysen der Volksfrömmigkeit von der Kirchengeschichte her und der Aufsatz "Die religiöse Situation in Brasilien nach dem Ende des katholischen Monopols. Der brasilianische Nordosten". Letztere Arbeit, in den "Arbeitsheften des Lateinamerika-Zentrums der Universität Münster" zuerst publiziert, setzt dem eigentlich "alten" Thema Prienschen Forschens eine Kölner Krone auf, denn sie spiegelt seine intensive Beschäftigung mit Brasilien und der lusitanischen Welt an der alma mater coloniensis wider. Der Aufsatz endet mit einem Panorama zur ökumenischen Situation und — hier schließt sich aus Kenntnis der Realgeschichte ("soziopolitische Lage") in ge-
XXIV wisser Weise der Bogen zum Synkretismus — mit einem Aufruf zur theologischen Rationalität und zum Dialog mit nichtchristlichen Religionen. Zum Kampf der indigenen Bevölkerung zwischen Unterdrückung, Eigensinn und neuem Aufbruch Hans-Jürgen Prien ist seit Jahrzehnten Mitglied des Ökumenischen Ausschusses für Indianerfragen. Das konnte nicht ohne Folgen für sein Werk bleiben. Obwohl zum Indianerbild und zu Humboldt schon viel geforscht worden ist, vermag Prien aus seiner Perspektive des Theologen und Historikers sowie des Praktikers in diesen Fragen der Diskussion neue Akzente zu geben. Er zeigt die Indianerbilder in Neu-Granada vor dem Hintergrund bis in die Gegenwart hineinreichender Stereotype vom nutzlosen und verbrecherischen Indianer. Dann vermag Prien unter Rückgriff auf die Humboldtschen Tagebücher und das Werk von Charles Minguet die Differenziertheit des Humboldtschen Herangehens an das Thema zu zeigen. Bei Humboldt gibt es in der Tat kein "Indianerbild", sondern eine differenzierte historische, anthropologischindigenistische und soziologische Analyse von Ethnien und Lebenssituationen. Ob sich das mit der Minguetschen Formel, Humboldt habe alle überlebenden Völker Altamerikas in seiner Zeit als "degenerierte Typen einer zerbrochenen Kultur" gesehen (was durchaus vorkommt im Werk Humboldts, aber es gibt auch Hymnen auf das "freie Amerika", womit Humboldt nicht etwa die USA, sondern diejenigen Gebiete meinte, die noch nicht von den Neoeuropäem erobert worden waren), ausdrücken läßt, sei dahingestellt. Wichtig ist — mit Hans-Jürgen Prien — Humboldts Herangehensweise auf Basis eines langjährigen Studiums der Literatur und der persönlichen Beobachtung im Unterschied zu den vorherrschenden Ideologien und Bildem seiner Zeit. Aus direkter indigenistischer, theologischer und sozialer Praxis äußert sich Hans-Jürgen Prien zur Indianerproblematik in den Beiträgen "Indianerpolitik und katholische Mission in Brasilien im 19. und 20. Jahrhundert" und "Die gegenwärtige Diskussion über die Indianermission im Kontext der Neubesinnung über die Weltmission" (beide 1975). Beide stellen Aufrufe zum Verständnis und zur, wenn man so will, "kulturerhaltenden" Mission dar in Zeiten der durch Zwang (und natürlich Korruption u.v.a.m.) und traditionelle Zivilisationsmodelle geprägten Arbeit staatlicher Institutionen wie des brasilianischen FUNAI (= Fundapäo Nacional do Indio, Indianerschutzdienst). Im abschließenden Aufsatz "Indianerschutz als Teil der deutsch-brasilianischen Beziehungen" zieht Prien, ansetzend an den heutigen guten Beziehungen zwi-
XXV sehen Brasilien und Deutschland, aber auch an Aktivitäten des vorigen Bundespräsidenten Roman Herzog, ein erschreckendes historisches Fazit zum Verhältnis von Deutsch-Brasilianern oder Deutschen in Brasilien zu den indigenen Völkern. Das wird in den gängigen nationalistischen Geschichten der deutschen Kolonien in Südbrasilien meist ausgespart. Prien sieht einen Wandel der Indianerpolitik in Brasilien seit 1973 ("Neue Republik"), nicht zuletzt unter dem Druck von Kirchen, Missionaren, IndigenaOrganisationen und — wie im Falle Deutschlands — befreundeten Staaten. Obwohl er diesen Wandel betont und gutheißt, kommt er aber zu sehr kritischen Urteilen in bezug auf die Projekte zum Schutz des Amazonas-Regenwaldes und der dort lebenden Ethnien (im Kern durch Abgrenzung und juristische Absicherung von Indianerland). Hauptkritikpunkt ist die vom Neoliberalismus beeinflußte Politik Präsident Cardosos (Dekret 1775 über Einsprüche während des Demarkierungsverfahrens) und der Verweis darauf, daß die Landrechte der Indios eigentlich schon seit über 400 Jahren (1570ff.) gesichert seien. Sie müßten nur beachtet und mit staatlicher Autorität durchgesetzt werden. Und hieran eben mangelt es angesichts von Landhunger, Spekulation, möglichen Goldfunden, rücksichtsloser Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Suche nach neuen Medikamenten, Holzfällerei durch Großfirmen und, und ... Mit Hans-Jürgen Prien steht für Brasilien und ganz Amerika zu hoffen, daß die "Zukunft erweisen (wird), ob die brasilianische Regierung, wie sie versichert, das neue Dekret nur dazu nutzen wird, die Errichtung von reservas indígenas juristisch unanfechtbar zu machen". Diese Hoffnung wird bestärkt durch die aktive Rolle von weltweit agierenden Organisationen der indigenen Völker und durch die Beispiele anderer lateinamerikanischer Staaten, die zumindest dieses Problem der juristischen Anerkennung des indianischen Land- und Sondereigentums schon gelöst haben. Theologie der Befreiung als Mandat Ein dringendes Problem lateinamerikanischer Gegenwart präsentiert HansJürgen Prien in seinen Beiträgen zur "Theologie der Befreiung", die er im Zusammenhang römisch-katholischer Theologie und ökumenischer Implikationen würdigt. Bereits in vergleichsweise frühen Aufsätzen stellt er heraus, inwiefern sich das von den reichen Ländern vertretene Konzept der "Entwicklung" als unzureichend erwies und durch den Kampf um "Befreiung" ersetzt werden mußte. An Camilo Torres und Helder Cámara macht er "Möglichkeiten und Grenzen des Engagements lateinamerikanischer Christen für strukturellen Wandel" deutlich. Er nimmt den Leser/die Leserin noch einmal hinein in die faszinierenden Anfänge der Theologie der Befreiung und muß konstatieren, daß sowohl
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ihre römisch-katholischen als auch protestantischen Vertreter (wie der brasilianische Presbyterianer Rubem Alves) mit ihren jeweiligen Kirchenleitungen in Konflikt gerieten. Anhand seiner Beiträge kann man sich die Essentials der Theologie der Befreiung vergegenwärtigen und die Auseinandersetzungen um sie nachvollziehen. Hans-Jürgen Prien hat durch seine vielen Beiträge in deutschsprachigen theologischen und kirchlichen Organen entscheidend mithelfen können, daß die Not breiter Massen in Lateinamerika und die entsprechenden Anliegen der Theologie der Befreiung auch in Mitteleuropa bekannt wurden. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ist es um die Theologie der Befreiung still geworden, obwohl sich ihre Forderungen ja noch keineswegs erledigt haben. Die Welt und mit ihr Kirche und Theologie sind zu einer anderen Tagesordnung übergegangen. Nur mit Wehmut liest man heute von den über 200.000 Basisgemeinden in Lateinamerika! Priens Hoffnung, ein "neuer theologischer Ansatz aus Lateinamerika" werde auch die nordamerikanische und die europäische Theologie zum Umdenken zwingen, hat sich bislang nur unzureichend erfüllt. In den Marburger Jahren Hans-Jürgen Priens, in denen er der Forschungsstelle Ökumenische Theologie am Marburger Fachbereich Evangelische Theologie angehörte, haben wir zusammen mit anderen Kollegen Lehrveranstaltungen über die Theologie der Befreiung angeboten; zu einem Seminar war Leonardo Boff eingeladen, der dann jedoch infolge seiner Kontroverse mit dem Vatikan nicht erscheinen konnte. Ein gemeinsamer Brief an Kardinal Ratzinger brachte unseren Protest zum Ausdruck. Ich selbst hatte mir in jenen Jahren vor allem seitens der lateinamerikanischen Basisgemeinden Innovation und Impulse auch für die evangelische Theologie und Kirche erhofft. Unvergeßlich ist mir ein Gespräch beim gemeinsamen Mittagstisch mit Hans-Jürgen Prien und dem damals in San Salvador tätigen Jesuiten Ignacio Ellacüria, der uns in Marburg einen aufschlußreichen und inspirierenden Vortrag gehalten hatte und wenige Tage später einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Ertrag einer Grenzüberschreitung Paul Tillich hat die "Grenze" als den eigentlich theologisch fruchtbaren Ort bezeichnet. Hans-Jürgen Prien hat nicht auf der Grenze oder an der Grenze gelebt, sondern die Grenze, die Kluft zwischen Lateinamerika und dem Abendland, zwischen Theologie und Soziologie, zwischen längst vergangener Geschichte und bedrängender Gegenwart überbrückt und immer wieder nach der einen und der anderen Seite hin überschritten. Er hat dabei neue Quellen erschlossen, bereits edierte Quellen neu gedeutet und eine Vielzahl von Einzelheiten in größere
XXVII Zusammenhänge einzustellen vermocht. Unablässig zitiert er, um den Nachweis zu fuhren, wie und durch wen seine Aussagen belegt sind. Er hat damit einen Prozeß gefördert, der im lateinamerikanischen Denken eine wichtige Rolle spielt: den der "Konszientisation", der Bewußtwerdung. Historikern, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Kirchengeschichtlem und Theologen bietet er eine Fülle von Hinweisen, die aufgegriffen zu werden verdienen. Durch seine Publikationen, von denen in dem vorliegenden Band ja nur ein Teil zusammengestellt werden konnte, hat er nicht nur der deutschsprachigen Theologie, Kirche und Öffentlichkeit, sondern auch den lateinamerikanischen Kirchen einen wichtigen Dienst erwiesen. Mögen die Bemühungen von Wissenschaftlern wie Hans-Jürgen Prien dazu dienen, daß sich die Beziehungen zwischen Lateinamerika und dem Abendland im kommenden Jahrhundert freundlicher und fruchtbarer gestalten, als dies bislang der Fall war! Gewiß können die hier erneut vorgelegten Veröffentlichungen auch dazu beitragen, daß das abendländische Denken sich durch die Neuaufbrüche in Lateinamerika inspirieren läßt und daß das Evangelium in beiden Kontinenten zum Wohl einer desorientierten und bedrohten Menschheit stärker als bisher zum Zuge kommt!
Marburg und Köln/Leipzig, August-September 1999 - Januar 2000 Hans-Martin Barth und Michael Zeuske
I. MARTIN LUTHER UND DIE REFORMATION
Grundgedanken der Ekklesiologie beim jungen Luther1
1. Vorüberlegungen In der gegenwärtigen ekklesiologischen Diskussion kann man zwei große Bereiche unterscheiden: Erstens die seit den sechziger Jahren virulente Diskussion über die Gestalt der Kirche, über das kirchliche Amt im Zeitalter des mündigen Menschen und damit über die Einbettung der Kirche in die pluralistische, demokratische Gesellschaft, über Volkskirche und Bekenntnis- oder Freiwilligkeitskirche, über latente und manifeste Kirche (D. Solle), über die öffentliche Wirksamkeit des kirchlichen Amtes in der heutigen Mediengesellschaft, um nur einige Stichworte zu nennen. Die Infragestellung kirchlicher Strukturen durch die in den siebziger Jahren lawinenartig angestiegene Austrittsbewegung hat dazu beigetragen, daß die Kirche sich selbst zum Problem geworden ist. Dabei wird als Kriterium für die Beurteilung des kirchlichen Selbstverständnisses häufig jener Gedanke Bonhoeffers aus dem Jahre 1944 angeführt: "Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist ..."2 Dabei berufen sich die meisten, die kritische Anfragen an die heute vorfmdliche Kirche stellen, auf Luther. In bezug auf die heutige Identitätskrise der Kirche ist es gut, an den ekklesiologischen Grundsatz zu erinnern, den der junge Luther schon in seiner 1. Psalmenvorlesung vertreten hat: "nulla tentatio - maxima tentatio". Wie Maurer 1958 gezeigt hat, gehört "die Lehre von der Kirche, die ihr geschichtliches Dasein im Stande der Anfechtung verwirklicht ... hinein in die Theologie der Anfechtung überhaupt, aus der die reformatorische Entdeckung herausgewachsen
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Veröffentlicht in: Archiv für Reformationsgeschichte, Jg. 76 (1985), 96-119.
2 Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. E. Bethge. Siebenstern 1, 1951/1964. Entwurf einer Arbeit 190ff. Bekennende Kirche = "Kirche in der Selbstverteidigung. Kein Wagnis für andere". "Wir können uns nicht wie die Katholiken, einfach mit der Kirche identifizieren ... Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muß sie alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die PfatTer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben."
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ist"3. Wenn Luther also damals die Anfechtungslosigkeit seiner Kirche zur eigenen Anfechtung geworden ist, könnte man den Umkehrschluß wagen, daß uns die Identitätskrise der Kirche zur Stärkung unseres Glaubens und unserer Kirche dienen könnte. Zweitens spielt die Ekklesiologie im heutigen inner-ökumenischen Gespräch eine maßgebliche Rolle. Im ökumenischen Dialog mit Rom wird oft behauptet, die Ekklesiologie sei das eigentlich kontroverse Problem. Die u.a. durch Hans Küngs "Unfehlbar? Eine Anfrage" 1970 ausgelöste Diskussion um das Petrusamt scheint das genauso zu bestätigen wie die 1973 durch das Memorandum der Arbeitsgemeinschaft ökumenischer Universitätsinstitute ausgelöste Diskussion um die Anerkennung kirchlicher Ämter4 oder der langjährige Dialog über "Amt und Herrenmahl"5, der auf der Konferenz für Glauben und Kirchenverfassung" in Lima (2.-16. Januar 1982)6 einen vorläufigen Endpunkt erreicht hat. Noch 1971 konnte der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Joseph Kardinal Höffner, feststellen, daß Jesus durch die Berufung der Apostel und die Gründung des Apostelkollegiums unter Petrus "für alle späteren Jahrhunderte und Jahrtausende die Ordnung der Kirche festgelegt" habe, d.h. ihre hierarchische Gliederung mit Bischofskollegium, Bischöfen und Priestern, "die kraft des Weihesakraments 'mit den Bischöfen in der priesterlichen Würde verbunden' sind. Nur in der so geordneten Kirche gibt es die Verwandlung von Brot und Wein in Christi Leib und Blut und die sakramentale Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Christi."7 Anhand von Aussagen des jungen Luther zur Ekklesiologie aus den Jahren 1517-1521 soll im Folgenden nachgeprüft werden, ob wirklich das Kirchenver3 Wilhelm Maurer, "Kirche und Geschichte nach Luthers Diclata super Psalterium": Lutherforschung heute. Referate und Berichte des 1. Internationalen Lutherforschungskongresses Aarhus ... 19S6, hg. v. Vilmos Vajta, Berlin 1958, 96. 4 Reform und Anerkennung kirchlicher Ämter. Ein Memorandum .... München 1973. Vgl. dazu H.-V. Hemtrich: LUTHER 44/1973, 13ff. ^ Um Amt und Herrenmahl. Dokumente zum evangelisch/röm.-kath. Gespräch, hg. v. G. Gaßmann, M. Lienhard, H. Meyer u. H.-V. Hemtrich, ökumenische Dokumentation, Bd. I (enthält das sogenannte Malta-Papier), 2. Aufl. Frankfurt/M. 1974; vgl. dazu G. Müller: Abendmahl und Amt: LUTHER 46/1975,40-43. 6 Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK (Lima-Dokument), 3.Aufl., Frankfurt/M. 1982. 7 Höffner, Eucharistie - Zeichen der Einheit der Gläubigen. Zwölf Fragen und zwölf Antworten zur Interkommunion, Köln 1971, zit. nach Hans H. Harms, "Das Amt nach Lutherschem Verständnis": LUTHER 44/1973,49-65, 50f.
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ständnis oder womöglich das Wortverständnis im Mittelpunkt der reformatorischen Kontroverse zwischen Rom und Wittenberg steht. Dabei sollen Luthers Aussagen und ihre Genesis jeweils im zeitgeschichtlichen und theologischen Zusammenhang gesehen und jede ungeschichtliche Harmonisierung vermieden werden. Wir konzentrieren uns auf das Problem Wort - Kirche und sparen andere Fragen wie z.B. das allgemeine Priestertum der Gläubigen und das Amt der Kirche Christi aus. Die Phase 1517-1521 ist hier nicht ausgewählt, um die These zu unterstützen, Luther sei durch den Zusammenstoß mit der Hierarchie, der sich aus dem Ablaßstreit ergab, dazu gebracht worden, "sich auf das Wesen der Kirche zu besinnen und der veräußerlichten katholischen Anschauung seine tiefer greifende von der unsichtbaren als der wahren Kirche entgegenzustellen". Gegen diese seinerzeit verbreitete These hat sich 1915 Karl Holl mit seinem Aufsatz "Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff' gewandt. Darin legte er dar, Luthers Kirchenbegriff sei nicht ein Erzeugnis der Not, sondern eine Frucht seiner inneren Entwicklung, d.h. seines Verständnisses von iustitia dei, das "unmittelbar auch seine neue Auffassung von Kirche hervortrieb"8. "Aus der Bedeutung, die das 'Wort' für ihn in der persönlichen Erfahrung gewonnen hatte, ergab sich von selbst, daß ihm jetzt das Evangelium als der wichtigste Besitz der Kirche und die Verkündigung als ihre höchste und dringendste Aufgabe erschien." Damit sollte sich auch seine Auffassung der Gnadenmittel der Kirche verschieben. Das Sakrament rückte auf die zweite Position hinter das Evangelium. Für den Kirchenbegriff bedeutete Luthers Wortverständnis, daß Christus durch das gepredigte Evangelium eine Scheidung in der äußeren Kirche vollzieht. Es sondert sich in der äußeren Kirchengemeinschaft ein engerer Kreis derer ab, die das 'Wort' angenommen haben und zum geistlichen Leben erweckt sind.9 Da das 'Wort' allzeit Frucht schaffen muß, mehrt sich die Menge der Gläubigen. Und
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Karl Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Luther, 7. Aufl., Tübingen 1948, 288-325, 289. Joseph Vercruysse drückt sich in seiner Untersuchung der Ekklesiologie Luthers in den Dictata super Psalterium: Fidelis Populus, Wiesbaden 1968, 203 - zurückhaltender aus: "Der Ablaßstreit wirkt als Katalysator. Seine Ekklesiologie ist nicht logische Konsequenz seiner Rechtfertigungslehre. Wenn er sich aber der Ekklesiologie zuwendet, tut er dies naturgemäß auf dem Hintergrund seines jahrelangen Nachdenkens über die Rechtfertigungslehre, den Glauben und die Schrift." 9 Holl, ebd., 291 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang zum Wortverständnis Luthers: Helmar Junghans: Das Wort Gottes bei Luther während seiner ersten Psalmenvorlesung: ThLZ 100/1975, Sp. 161-174. Auch Vercruysse, a.a.O., 206 kommt zu dem Ergebnis, daß Luther in den Dictata den Sakramenten nur geringe Bedeutung beimißt. Andererseits erlangt "das Wort ... allerdings einigermaßen sakramentalen Charakter".
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wenn auch "die Kirche Christi für das leibliche Auge unsichtbar ist, mit dem geistlichen Auge, d.h. mit dem Glauben vermag man sie zu schauen" 10 . Auf die Kontroverse, die diese Thesen Holls ausgelöst haben, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es sei auf die Arbeiten Wilhelm Wagners", Holsten Faggerbergs 12 , Wilhelm Maurers 13 , J.Vercruysses und Jan Aarts 14 verwiesen. So wichtig die Untersuchung der Vorlesungen Luthers bis 1517, namentlich der 1. Psalmenvorlesung für die Genesis von Luthers Theologie im allgemeinen und seines Kirchenbegriffs im besonderen ist, geschichtsmächtig wurde Luthers Denken und Handeln erst im Ablaßstreit ab Ende 1517, weshalb mit diesem Zeitpunkt eingesetzt werden soll. 2. Entwicklung und Artikulierung von Luthers Kirchenbegriff im Ablaßstreit Zum Anlaß der Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (WA l,233ff.) bemerkt Bizer nur, daß Luther sich durch sein Lehramt zur Erörterung des Ablasses, der Macht des Papstes über die Toten im Fegefeuer und zur Verfolgung einer scholastischen Kontroverse über das Bußsakrament gezwungen gesehen habe. 15 Ausgehend von Luthers Begleitbrief zu den Ablaßthesen an Erzbischof Albrecht von Mainz betont Hendrix den Gesichtspunkt der pastoralen Sorge Luthers. Wenn bei den Gemeindegliedem falsche securitas in Bezug auf ihr Heil geweckt wird und Gottes Wort nicht zu seinem Recht kommt, geht es um Leben und Tod. Wenn Albrecht nicht seine instructio summaria zurück-
Holl, a.a.O., 297. Vercruysse, a.a.O., 208f.: "Weiterhin ist das Wesen der Kirche ein dem Menschen verborgenes Geheimnis. Es wird nur den Gläubigen geoffenbart: Durch Glauben und Evangelium wissen sie, was die Kirche coram Deo ist. Wir sehen es aber (noch) nicht. Wir hören davon und glauben es. Leiblich, secundum carnem, ist die Kirche eine sichtbare Gemeinschaft ... Was dem Auge des Menschen erscheint, ist das Gegenteil der verborgenen Herrlichkeit. Die Kirche muß erscheinen wie Christus und wie Gottes Werke, 'velata infirmitate passionis' (WA 3,547,27), als eine arme, gedemütigte, leidende und sterbende Kirche, die all ihr Vertrauen auf Gott gesetzt hat ... Hier liegt der Stein des Anstoßes an der zeitgenössischen Kirche. Diese erscheint Luther nicht als das Gegenteil ihrer verborgenen geistlichen Herrlichkeit, sondern als herrliche, selbstzufriedene, befriedigte, stolze und nicht länger gläubige ..." 11
Wagner, "Die Kirche als Corpus Christi mysticum beim jungen Luther": TKth 61/1937,29-98.
Faggerberg, "Die Kirche in Luthers Psalmenvorlesung 1513-1515": Gedenkschrift fiir Werner Eiert, Berlin 1955, 109-118. 13 Maurer, Kirche und Geschichte .... a.a.O., 85-101. ' 4 Aarts, Die Lehre Martin Luthers über das Amt in der Kirche. Eine genetisch-systematische Untersuchung seiner Schriften von 1512-1525, Helsinki 1972. 15 Bizer, "Luther und der Papst": ThEh NF 69/1958,5.
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zieht, wird die Predigt des Wortes Gottes in gefährlicher Weise behindert. "Die eigentliche Pflicht der Kirchenführer ist es, das Volk mit dem Worte Gottes zu ernähren, und Ablässe hindern sie daran, diese Pflicht zu erfüllen." 16 Im Gegensatz zu den 97 Thesen "gegen die scholastische Theologie" 17 , über die Luthers Schüler Franz Günther aus Nordhausen am 4. September 1517 disputieren sollte, die ohne das erwartete Echo blieben,18 erlangten die 95 Thesen binnen kürzester Frist eine von Luther nicht vorhergesehene Publizität, nachdem sie von Humanisten schnell übersetzt und durch deutsche Drucke verbreitet worden waren. Man kann davon ausgehen, daß die kirchengeschichtliche Virulenz der Ablaßthesen nur der Kombination dreier Faktoren zu verdanken ist: ihrem Inhalt, ihrer Publizität und der Rezeptivität der Leser für die angesprochenen Fragen. Wenn auch Luthers Thesen nicht als Häresie betrachtet werden konnten, da eine lehramtliche Definition über den Ablaß fehlte und erst nach Silvester Prierias Vorarbeiten (Dialogus) am 9. November 1518 in der Bulle Cum postquam erfolgen sollte, so konnte doch eine Reihe von Luthers Behauptungen als Angriff auf das päpstliche Lehramt verstanden werden und dadurch ekklesiologische Relevanz gewinnen, z.B. These 36: "Jeder Christ, der wahrhaft Reue empfindet, hat einen Anspruch auf vollkommenen Erlaß von Strafe und Schuld, auch ohne Ablaßbrief' oder These 56/58: "Der Schatz der Kirche (thesaurus ecclesiae), aus dem der Papst den Ablaß austeilt", besteht "nicht in den Verdiensten Christi und seiner Heiligen; denn diese wirken beständig ohne den Papst: Gnade für den inneren und Kreuz, Tod und Hölle für den äußeren Menschen". Deshalb faßt Luther in These 62 seine reformatorische Erkenntnis zusammen: "Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes." Hier zieht Luther die Konsequenz aus der bereits in den Dictata geäußerten Erkenntnis, daß die Kirche durch die Verkündigung des Wortes ins Dasein gerufen wird, daß sie auf einem Felsen erbaut ist, nämlich auf Christus, die Schrift und den Glauben.19
Scott H. Hendrix, Luther and the Papacy. Stages in a Reformation Conflict, Philadelphia 1981, 26ff. Vgl. WA Brl, 112,66-68, Luthers Forderung an Albrecht zur Rücknahme der Instructio summaria. W. Köhler: Luther und die Kirchengeschichte. Erlangen 1900, 7-21, hat gezeigt, daß einige der Thesen Luthers nur im Zusammenhang mit der Instruktion verstanden werden können. Disputatio contra scholasticam theologiam - WA 1,224-228. Martin Luthers 95 Thesen. Mit den dazugehörigen Dokumenten aus der Geschichte der Reformation, hg. v. Kurt Aland, Hamburg 1965,9, Einleitung. 19 Aarts, a.a.O., 46f„ vgl. WA 4,293,13 f.; 3,227,24-27.
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Wie Bizer bemerkt, mußte Luther nun erleben, "daß der Streit wider seinen Willen sofort das zur Hauptsache machte, was er kaum berührt hatte und gar nicht berühren wollte, und der Ablaßstreit zu einem Streit über die Macht des Papstes wurde"20. Lortz sieht das allerdings in Luthers Ablaßthesen angelegt, indem er einen Angriff "auf die wesentliche Struktur der sichtbaren Kirche, insbesondere gegen den Papst (Thesen 25+37)" und "eine einseitige Tendenz zum allgemeinen Priestertum" (Thesen 37+90) konstatiert. Deshalb gibt er dem Ingolstädter Theologen Johannes Eck recht, der "den Angriff gegen das Papsttum als die Quintessenz der Ablaßthesen bezeichnete", wenngleich Lortz einräumt, daß "die Gefahr einer wirtschaftlichen Schädigung der Kurie" zur Eskalation des Streites beigetragen haben dürfte21. In den im Frühjahr 1518 mit Genehmigung des Bischofs von Brandenburg in den Druck gegebenen Resolutiones disputatum de indulgentiarum virtute (WA l,523ff.) verdeutlichte Luther seine den Ablaßthesen zugrundeliegende theologia crucis, nach der der Sünder nicht den Erlaß verdienter Strafen erstrebe, sondern die Strafen für "die allerbesten und liebenswertesten Dinge" hielte.22 Metanoia, von Luther neutestamentlich als Sinnesänderung verstanden, bedeutet also auch die freudige Annahme der Strafe des gerechten Gottes. In seinem wie ein Vorwort gedruckten Brief an Staupitz vom 30. Mai 1518 erinnert Luther daran, daß jenes Wort seines Ordenslehrers Augustin, daß wahre Buße mit der Liebe zur Gerechtigkeit und zu Gott beginnen müsse, ihm seinerzeit wie eine Stimme vom Himmel über das Wesen der Buße erschienen sei.23 Den Altgläubigen erschien Luthers Versuch, dem Mißbrauch des Ablaßinstitutes zu wehren und den biblischen Sinn der Buße ans Licht zu bringen, indes als Angriff auf das Bußsakrament und zugleich als eine Einschränkung der päpstlichen Schlüsselgewalt, lehnte Luther doch auch die Lehre ab, daß bei der Absolution ein Richterspruch gefällt werde. Papst und Priester "erklären", d.h. verkünden lediglich die göttliche Vergebung: "... suffragium Ecclesiae non est iurisdictio Papae, nec in manu eius quo ad acceptationem dei ..." (Conclusio XXVIII). "Pontifex seruus est et minister meus in clauibus, ipse non eget illis ut pontifex, sed ego" (Conclusio XXXVIII). Dieses rein deklaratorische Verständ-
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A.a.O., 5.
' Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland, 6. Auf 1., Freiburg, Basel, Wien 1982,202.
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Luther beendete den Text der Resolutionen am 5. März 1518; sie kamen aber erst im August aus
dem Druck. Vgl. Hendrix, a.a.O., 39. WA l,525f.: "... poenitentia vera non est, nisi quae ab amore iustitiae et dei incipit".
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nis der Absolutionsvollmacht entspricht einer von Petrus Lombardus vertretenen und in etwa von Gabriel Biel (gegen Thomas, Duns Scotus u.a.) wieder aufgenommenen Theorie.24 Es stimmt zusammen mit Luthers früher Auffassung von humilitas als der "Form und Weise, in der Gott Heil und Vergebung wirkt", wie Kühn bemerkt.25 Luther verlangt zwar, man solle die ungerechten päpstlichen Lasten und Kundgebungen in willigem und demütigen Gehorsam tragen, aber nicht weil sie auf der päpstlichen Schlüsselgewalt beruhen und damit zu Recht bestünden, sondern wie eine Geißel, mit der Gott züchtigt. Im Sinne seiner Theologie des Kreuzes darf man in solchen Fällen dem Papst genauso wenig widerstreben wie dem Widersacher (vgl. Mt 5,25+39; Rom 12,19) und muß dessen Bosheit um der Ehre Gottes willen ertragen (Conclusio LXIX). Ausdrücklich lehnt Luther die auf Petrus Damiani zurückgehende und zur potestas directa in temporalibus papae weiter entwickelte Zwei-Schwerter-Lehre ab.26 Wenn so weitgehenden Machtansprüchen des Papsttums27 seit der Katastrophe Bonifaz' VIII. im Jahre 1302 auch in Zentraleuropa der Boden entzogen war, so ist doch die Bulle Inier cetera Alexanders VI. (1493), mit der er den Katholischen Königen Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon ein Auftragslehen über weite Teile Amerikas erteilte, vielfach als päpstliche "Weltverschenkung" im Sinne der potestas directa gedeutet worden.28 Eine Oberhoheit des Papstes über die weltlichen Reiche erörtert Luther indes gar nicht erst. Er geht noch einen Schritt weiter, indem er auch den in Zusammenarbeit mit der Inquisition üblichen Gebrauch des weltlichen Schwertes gegen Häretiker durch den Papst nicht als rechtens anerkennt,29 womit er der Inquisition praktisch ihr Vollzugsorgan nimmt. 24
Ulrich Kühn, "Versöhnung feiern": ThLZ 108/1983, Sp.4, unter Hinweis auf W. Schwab, Entwicklung der Sakramentstheologie bei Martin Luther, Frankfurt, Bem 1977, 81 ff. Vgl. These 6: "Der Papst kann keine Sündenschuld anders erlassen, als indem er erklärt und bestätigt, daß sie von Gott erlassen sei." 25 Kühn macht darauf aufmerksam, daß Luther von dieser Position bald wieder abrückt und auf Grund von Mt 16,19 dem Absolutionswort des Priesters die eigentlich vergebende Gewalt zuerkennt. In den Resolutionen rangiert dieses allerdings "noch neben der göttlichen Vergebung, ist aber bereits mit dem Glauben gekoppelt". 26
Vgl. Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung, Stuttgart 1970, 392ff. bzw. den größeren Überblick über die zwei Gewalten im Mittelalter (potestates, imperia, gladii, ordines), 321-427. Vgl. die Ausprägung der Zweischwerterlehre in der Bulle Unam Sanctam, 1302. ® Zur Diskussion vgl. H.-J. Prien: Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen 1978, 64f.
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Conclusio LXXX: "Uerum id ego uehementer admiror, quisquam illa glosam inuenerit primus, quod duo gladii significent unum spiritualem (non ut Apostolus uocat, scilicet gladium spiritus, uer-
8 Die Resolutionen enden mit der zukunftsweisenden Feststellung: "Ecclesia irtdiget reformatione ..." (Conclusio LXXXIX): "Die Kirche bedarf einer Reformation, welche nicht die Sache eines Menschen, des Papstes, noch die Sache der vielen Kardinäle ist, wie das jüngste Konzil erwiesen hat (V. Lateranum 1512-17), sondern Sache der ganzen (christlichen) Welt, ja die Sache Gottes allein (totius orbis, immo solius dei); die Zeit für die Reformation aber kennt allein der, der die Zeiten geschaffen hat." Das Ende von Luthers Begleitbrief an Leo X. gibt schwierige Fragen auf: "Darum, allerheiligster Vater, lege ich mich Deiner Heiligkeit zu Füßen und übergebe mich Dir mit allem, was ich bin und habe: verhänget Leben, verhänget Tod, saget ab, heißet gut, verwerft wie Euch beliebt; Eure Stimme werde ich als Stimme Christi, der in Euch regiert und redet, anerkennen ..." Diesem demütigen Schluß geht bekanntlich der Satz voraus: "Reuocare non possum ..." Bizer bemerkt nur zum Schluß: "Es besteht keinerlei Anlaß, diese Worte nicht ernst zu nehmen", geht aber auf den Widerspruch nicht ein.30 Konnte Luther auf seine doch recht entschlossen vorgetragenen Resolutionen eine verständnisvolle Reaktion des Papstes erwarten? Der katholische Kirchenhistoriker Iserloh urteilt, daß zu diesem Zeitpunkt noch eine reale Möglichkeit bestanden hätte, "den für die Ehre Gottes und das Heil der Seelen eifernden Wittenberger Mönch an die Kirche zu binden und in ihr fruchtbar zu machen. Allerdings bedurfte es dazu auf seiten der beteiligten Bischöfe und des Papstes eines annähernd gleichen Maßes an religiöser Kraft und apostolischer und seelsorgerlicher Verantwortung. Daß daran nicht einmal zu denken war, enthüllt die bis an die Wurzeln gehende Schwäche der damaligen Kirche. In diesem Versagen im Bereich des eigentlich Priesterlichen liegt vor allen Mißständen ihre Mitschuld an der Reformation."31 Ein solches Eingeständnis sucht man freilich vergeblich in dem von Remigius Bäumer verfaßten Abschnitt über das "Zeitalter der Glaubensspaltung" in der umstrittenen, anläßlich des Papstbesuches in der Bundesrepublik Deutschland 1980 in hoher Auflage unter das katholische Kirchenvolk gebrachten "Kleinen deutschen Kirchengeschichte"32. Es findet sich auch nichts Vergleichbares in
bum dei), alium materialem, ut sic Pontificem utraque potestate armatum nobis non patrem amabilem, sed quasi tyrannum formidabilem faciant dum nihil potestatem undique in eo uidemus" (Eph 6,17). 30
A.a.O., 6.
31
Erwin Iserloh, Kap. Iff., 53 im HdbKG, Bd. IV, hg. v. Hubert Jedin, Freiburg 1967.
32
Hg. v. Bernhard Kötting, Basel, Wien 1980 - Imprimatur: Freiburg i.Br., den 30. September 1980. Der Generalvikar: Dr. Schlund.
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Bäumers ungleich fundierterer Studie "Martin Luther und der Papst"», in der sich Bäumer ganz auf die Entwicklung der Haltung Luthers gegenüber dem Papsttum konzentriert, aber nicht auf die Berechtigung der theologischen und ekklesiologischen Anfragen Luthers eingeht. Bäumer weist bei Luther bis zum Jahre 1518 entschieden papalistische Aussagen nach, vermag aber auch nicht den Widerspruch zwischen dem "Reuocare non possum" und der anschließend geäußerten Unterwerfungsbereitschaft zu erklären. Andere Übersetzungsversuche katholischer Forscher wie K.A. Meissinger und E. Iserloh34 im Sinne von "Zurückholen, aus dem Verkehr ziehen kann ich die Thesen nicht mehr", verschlagen wenig. Hilfreicher könnte Selges Versuch sein, den Satz auf die Lage vor dem päpstlichen Urteil zu beziehen: Als Disputant kann Luther, nicht widerlegt, auch nicht widerrufen35. Möglicherweise schwankt Luther zwischen von kirchlicher Tradition bestimmter Unterwerfungsbereitschaft und der Erwartung, theologisch ernst genommen zu werden und, wie er später in Worms formulierte, durch Schrift- und Vemunftsgründe widerlegt zu werden. Auch Bäumer möchte nicht von diplomatischer Taktik sprechen, sondern sieht in dem Widerspruch eher einen Ausdruck von Luthers damaliger Zwitterstellung gegenüber dem Papsttum.36 Aber indem er sich zu einseitig auf Luthers Aussagen zum Papsttum konzentriert und diese isoliert von seinem Schriftverständnis betrachtet, verzeichnet er das Bild Luthers. Wichtig ist Hendrix' Hinweis auf die Warnung Clemens' V. (1312), daß Ablaßpriester sich davor hüten sollten, etwas zu verkünden, was nicht in den Ablaßbriefen stehe. Daß Luther diese Warnung in den Resolutionen und in seiner Antwort an Eck anfuhrt, könnte darauf hindeuten, daß Luther meinte, Grund zu der Annahme zu haben, daß der Papst zu seinen Gunsten entscheiden werde.37 33
Münster, 2. Aufl., 1971.
Bäumer, a.a.O., 21 ff.; vgl. Meissinger: Der katholische Luther, München 1952, 299, der die traditionelle Übersetzung, "Widerrufen kann ich nicht", ausdrücklich ablehnt. Iserloh, a.a.O., 53. 35 Kurt Victor Selge, Normen der Christenheit (Diss. habil. masch.) Heidelberg 1968, 10. A.a.O., 26. W. Höhne, Luthers Ansichten und Anschauungen über die Kontinuität der Kirche, 1963, 42, stellt die Frage: Diplomatie? Meissinger, a.a.O., 162, 167, spricht sogar von Schachzügen ersten Ranges. Bäumer weist darauf hin, daß Luther auf Grund der Abmachungen mit Miltitz Anfang Januar 1518 in seinem Unterriehl auf etliche Artikel ... (WA 2,69-73) zum letzten Mal ein starkes Bekenntnis zur Lehrautorität des römischen Stuhles abgelegt habe; freilich begründet er seine Behauptung nicht, daß Bizers Deutung (a.a.O., 30ff.) den Tatsachen nicht gerecht werde, nämlich daß Luther den Papst nur als Obrigkeit im Sinne von Röm 13 anerkenne, ihm zwar viel an der Einigkeit mit dem römischen Stuhle gelegen sei, daß die Sache aber die Frage der Seligkeit gar nicht berühre! 37 A.a.O., 42. - WA 1,387,14-18. In seinem Brief an Leo betont Luther, daß die Ablaßpriester so täten, als gäbe es das Dekret Abusionibus gar nicht - WA 1,527,30-528,1. Hendrix, a.a.O., 40, zitiert auch Selges Hinweis auf Luthers abgestuftes Autoritätsprinzip in den Resolutionen, nach dem Luther
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Nach Iserlohs Urteil kann man Luthers Thesen und Resolutionen "als rechtgläubige Kritik an Mißbräuchen der Ablaß-Praxis und als Beitrag zur Diskussion nicht entschiedener theologischer Fragen verstehen".38 Die den Thesen immanente Intention führe allerdings über die römische Denkungsart hinaus. Die in der Linie der nominalistischen Theologie liegende Trennung von göttlichem und menschlichem Handeln - ein Punkt, den Lortz schon kritisiert hat39 -, die Papst oder Kirche im Bußsakrament die Schuld nur deklaratorisch erlassen ließe, im Sinne der Bestätigung, daß Gott sie erlassen habe, führe bei Luther so weit, "daß er der kirchlichen Strafe bzw. ihrem Erlaß nicht einmal mehr interpretative Bedeutung hinsichtlich der von Gott auferlegten Sündenstrafen" zumesse. Wenn Iserloh meint, daß hier eine Wurzel der baldigen Leugnung des hierarchischen Priestertums als göttlicher Stiftung liege,40 hat er insofern recht, als sich diese Linie hier schon andeutet, wenn man dabei an den character indelebilis denkt, nicht aber im Hinblick auf die Frage der "göttlichen Einsetzung des Predigtamtes".41 Ein Umdenken Luthers in Bezug auf die kirchlichen Ämter mußte aus Luthers exegetischer Arbeit am Neuen Testament folgen. Mit B. Lohse kann man feststellen, daß der Wandel der Ekklesiologie Luthers, der sich schon in seinen Ablaßthesen und Resolutionen andeutet, christologisch begründet ist. Luther betont den Herrschaftsanspruch Christi über die Kirche. Während für die Kurialisten Christus selbstverständlich durch den Papst und die Hierarchie über die Kirche herrschte, war für Luther Christi direkte Herrschaft über die Kirche grundlegend, eine Herrschaft, die sehr wohl Papst und Kurie übergehen könne. Damit gewann die Christologie nicht nur eine konstitutive Bedeutung für die Kirche, sondern zugleich auch eine kritische Funktion.42 Noch bevor die Resolutionen aus dem Druck waren oder Luther irgendeine Reaktion auf seine Ablaßthesen aus Rom vernommen hatte, wurde er aus seelsorgerlichen Gründen einen Schritt weiter geführt. Er predigte am Sonntag Exaudi nichts behaupten wolle, was nicht schriftgemäß sei, was nicht der Väterlehre und schließlich, was nicht dem kanonischen Recht und den päpstlichen Dekretalien entspreche - Normen ... 34. vgl. WA l,529,33f. 38 A.a.O., 51. A.a.O., 202: "Als innerste Triebfeder der Kritik tritt wieder heraus jene überbetonte Trennung des Göttlichen vom angeblich rein Menschlichen, die wir als Zentralkonzeption Luthers anzusprechen haben..." 40 A.a.O., 51 f. Vgl. Regin Prenter, "Die göttliche Einsetzung des Predigtamtes und das allgemeine Priestertum bei Luther": ThLZ 86/1961, 321 ff. Zum neuesten Diskussionsstand vgl. U. Kühn:. Kirche, Handbuch Systematischer Theologie, hg. v. C. H. Ratschow, Bd. 10-, Gütersloh 1980, 3.1ff„ Lit. 42 Bernhard Lohse, "Luthers Christologie im Ablaßstreit": LJB 1960,61.
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(16. Mai 1518) gegen den unevangelischen Mißbrauch des Banns, der damals aus einer Waffe gegen notorische Häretiker zu einem alltäglichen Druckmittel der bischöflichen Finanzverwaltungen gegen säumige Zahler verkommen war. Nachdem Luther schon in den damals noch in Druck befindlichen Resolutionen über den ungerechten Bann geschrieben hatte (Conclusio LXXIV), bezeichnete er nun ausgehend von seinem neuen Kirchenbegriff den Bann nur als Ausschluß aus der äußeren Kirchengemeinschaft, die zu unterscheiden sei von der inneren Gemeinschaft der Gläubigen, die auf dem einen Glauben, der einen Liebe, der einen Hoffnung beruhe. Die Versetzung in diese Gemeinschaft werde nicht durch Menschen bewirkt, daher könne man aus ihr auch nicht durch die Willkür eines anderen Menschen ausgeschlossen werden. Alle Bannriten der Kirche könnten nicht verhindern, daß derjenige, der der Gerechtigkeit treu geblieben sei, die Krone des Lebens erlange. Entstellt durch die Dominikaner verbreitet, schadeten diese sensationell wirkenden Aussagen Luther sehr, der erst nach Entdeckung dieser in seinem Namen veröffentlichten Fälschung den Sermo de virtute excommunicationis für den Druck vorbereitete, nachdem der Bischof von Brandenburg eine geplante Disputation über das Thema des Banns vertagen ließ.43 Wie schon die Theologische Fakultät Mainz in ihrem Gutachten für Erzbischof Albrecht vom 17. Dezember 1517 oder Wimpina und Tetzel in ihren 106 Thesen so verlegte auch der päpstliche Hauptinquisitor Silvester Mazzolini in seinem im Juni 1518 gedruckten Gutachten: In praesumptuosas Martini Lutheri conclusiones de potestate papae dialogus den Akzent der Kontroverse von der Kraft des Ablasses auf die päpstliche Autorität. Damit wurde die Ekklesiologie und namentlich der päpstliche Primat in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gerückt. Während Luther exegetisch argumentiert, argumentiert der Dominikaner Mazzolini da Prierio rein ekklesiologisch. Die Kirche ist für ihn in konzentrischen Kreisen strukturiert. Die Weltkirche ist der äußere Kreis, die Kirche Roms als deren Mittelpunkt der innere Kreis und der Papst als deren Mittelpunkt der innerste Kreis. Die Weltkirche, ein wahres Konzil und der Papst als dessen Haupt können niemals irren, woraus er folgert, man könne dem Papst auch allein Unfehlbarkeit zuschreiben. Aus alledem folgt als letztes fundamentum, daß den Gläubigen in der Kirche Roms und folglich im Papst "die Wahrheit der Schrift, der Lehre und der Tradition autoritativ entgegentritt". Mit diesen ekklesiologischen Prolegomena hat Prierias Luther von vornherein in die 43 WA l,638ff. Die Dominikaner hatten Thesen aus der Predigt Luthers zusammengestellt, ihnen ein Epigramm über die Geldgier der Kurie vorangestellt und alles in Luthers Namen herausgegeben!
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Rolle eines Häretikers gedrängt, der an der Autorität der römischen Kirche zweifelt. Prierias triumphalistische Ekklesiologie im Sinne der Bulle Unam Sanctam (1302) Bonifaz' VIII. stellte genau die Antithese zu Luthers Rechtfertigungslehre und seiner von der theologica crucis geprägten Ekklesiologie dar, nach der der einzelne durch den Glauben und die Kirche durch ihr Stehen unter dem Kreuz gerechtfertigt werden.44 Dies verstand Prierias ebenso wenig wie Johannes Eck, Luthers wohl bedeutendster theologischer Gegner, der Luthers 1 .These, daß das ganze Leben der Gläubigen nichts als Buße sein solle, entgegenhält: "Wenn das Himmelreich auch die gegenwärtige Kirche bezeichnet" woran Eck nicht zweifelt - so sei nicht einzusehen, wieso die Buße das ganze Leben dauern solle, denn im Himmelreich gäbe es ja keine dauernde Buße.45 Bevor Luther im Oktober 1518 nach Augsburg zum Verhör durch den päpstlichen Legaten Cajetan (Thomas de Vio aus Gaeta) reiste, verfaßte er in größter Eile die Ad dialogum Silvestri Prieratis de potestate papae responsio (WA 1,644ff.), in der er seinen Kirchenbegriff weiter ausformulierte. Luther schrieb jetzt, daß die Kirche virtuell nur in Christus vorhanden sei, repräsentativ aber im allgemeinen Konzil. Im übrigen können sowohl Papst wie Konzilien irren, "wie bereits Nikolaus de Tudeschis, Erzbischof von Palermo ( f l 4 4 5 ) festgestellt" habe. Damit berief sich Luther auf den "Kirchenvater des Konziliarismus", der dessen Grundgedanken nach der Niederlage des Basler Konzils (1437) weitertrug.46 Unter Berufung auf Augustin stellt Luther fest, irrtumslos sei allein die Hl. Schrift. Der Reformator behauptet allerdings nicht, daß Papst und Konzilien schon geirrt hätten und wollte sich auch der päpstlichen Ablaßlehre noch fügen, wenn sie definiert wäre. Die Acta Augustana (WA 2,6ff.) wie auch der Bericht Cajetans an Kurfürst Friedrich den Weisen (WA B l,233f.) zeigen, daß es im Verhör im Zusammenhang mit der pauschalen Forderung, Luther solle alle seine Irrtümer bereuen
Heiko A. Oberman, "Wittenbergs Zweifrontenkrieg gegen Prierias und Eck": ZKG 80/1969, 331 ff. bzw. 338. Prierias berief sich auf 1 Kor 2,15: "Spiritualis homo ludicat omnia, ipse a nemine iudicatur", was er auf den Papst bezog. Walther Köhler, Luthers 95 Thesen samt seinen Resolutionen sowie den Gegenschriften von Wimpina-Tetzel, Eck und Prierias und den Antworten Luthers darauf, Leipzig 1903, 2, 16ff.: "Cum enim regnum coelorum in verbis Christi praesentem significare videatur ecclesiam ac tempus plenitudinis evangelicae tune adventantis, non videtur, quomodo poenitentia 'omnen fidelium vitam' exprimât". (Zit. nach Lohse, a.a.O., 62). 46
Zum "Panormitanus" vgl. Hubert Jedin, "Ekklesiologie um Luther": Fuldaer Hefte 18/1968, 9ff„ bzw. 14.
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und widerrufen, zentral um ekklesiologische Fragen ging.47 Cajetan lag daran, Luther zur Anerkennung der im 13. Jahrhundert ausgebildeten Lehre vom thesaurus ecclesiae48 zu bewegen, mit der der Ablaß steht und fällt. Er erinnerte Luther in diesem Zusammenhang an die Bulle Unigenitus Clemens' VI. von 1343, nach der Christus durch sein Opfer einen Schatz erworben habe. Luther akzeptierte diese Aussage, lehnte aber die Folgerung ab, Christus habe diesen Schatz der Kirche zur Verfügung gestellt, so daß sie ihn in Form von Ablaß verteilen könne (WA 2,12f.). Luther wollte den Zugang zu den Verdiensten Christi auf keinen Fall auf den Ablaß beschränkt sehen, ja den Ablaß nicht einmal als den vorzüglichsten Weg dazu ansehen. Pesch bemerkt sicher zu Recht, daß ein bloßer Erlaß von Kirchenstrafen und Auflagen, wie ihn Luther nach der Schlüsselgewalt des päpstlichen Amtes als das einzig Vertretbare betrachtete, den Ablaß damals völlig obsolet und unattraktiv gemacht hätte.49 Aber was wird aus der Kirche, wenn sie wie auch immer gearteten religiösen Bedürfnissen nachgibt, statt auf dem Fundament des Evangeliums stehen zu bleiben? Deshalb fordert Luther als Voraussetzung für einen Widerruf einen Schriftbeweis. "Aus dem Streit um die theologischen Grundlagen der Ablaßpraxis ist ein Streit um die Kompetenz des kirchlichen Amtes in Lehrfragen geworden." Cajetan kann auf der Linie einer immer "papalistischer" werdenden kurialen Ekklesiologie mangels Schriftbeweises seine Zuflucht nur zum Gedanken einer Art "prästabilisierter Harmonie" zwischen Schrift und Amt nehmen, "derzufolge der Geist den Amtsträger davor bewahrt zu lehren, was im Widerspruch zur Schrift steht". Demnach "ist die Lehre des Amtes rückwirkend Maßstab für die Auslegung der Schrift". Luther hingegen hatte sich gerade für den Literalsinn der Schrift als einzig maßgeblichem entschieden, welcher wissenschaftlich exakt zu erheben ist. Pesch bescheinigt Luther gegenüber Cajetan einen Vorsprung an kritischem Bewußtsein und meint, er konnte seine Meinung als ebenso zulässig
Leopold v. Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 2. Buch, Kap. 3, 190 (Köln o.J.), meint freilich: "Da war ihm (Cajetan) Luther schon als Nominalist, als Widersacher der theologischen Alleinherrschaft des St.Thomas, Anführer einer tätigen Gegenpartei auf einer eben aufkommenden Universität höchlich verhaßt." Ranke dürfte die Bedeutung des Gegensatzes von via antiqua und via moderna überschätzen, denn das wirklich Neue war bei Luther sein konsequent vertretenes Schriftprinzip. 48
Vgl. Luthers Thesen 56ff. zum Schatz der Kirche.
49 Otto-Hermann Pesch: "Das heißt eine neue Kirche bauen" - Luther und Cajetan in Augsburg, Begegnung (Fries-Festschrift), hg. v. M. Seckler u.a., Graz 1972, 649. Zu Augsburg vgl. auch K.-V. Selge, "Die Augsburger Begegnung von Luther und Kardinal Cajetan im Oktober 1518. Ein erster Wendepunkt auf dem Weg zur Reformation": Jahrb. der Hessischen kirchengeschichtl. Vereinigung 20/1969, 37-54.
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ansehen wie die des Legaten. Aber war es wirklich in besonderer Weise ein "Konflikt zwischen Leitungscharisma und Lehrcharisma, zwischen Amt und wissenschaftlicher Theologie", wie Pesch meint?50 Ein Leitungscharisma, das sich von den biblischen Grundlagen löst, fuhrt doch zu Enthusiasmus und Irrlehre. Luther hat mit seiner 58. These, daß die Verdienste Christi und der Heiligen beständig ohne Papst wirken, die Machtstellung der römischen Kirche als exklusive Heilsvermittlerin genauso angegriffen wie mit seinem neuen Sakramentsverständnis, das aus den Resolutionen zu These 7 spricht, wonach nicht das (Buß-)Sakrament, sondern der Glaube an das Sakrament rechtfertige.51 Diese Behauptung, daß der Empfänger des Sakraments Glaubensgewißheit für die Vergebung der Sünden haben müsse, bedeutete für Cajetan "eine neue Kirche errichten",52 weshalb er Luther bedrohte, alles, was er sonst sage, um dieser einen Stelle willen zu verdammen. Hier stoßen zwei verschiedene Glaubensbegriffe aufeinander. Für Cajetan garantiert "das selbstverständliche Mittun in der Kirche ... die heilvolle Gemeinschaft mit Gott". Ein Christ darf im Glauben gewiß sein, daß das Bußsakrament göttliche Vergebung der Sünden mitteilt. Luther hingegen fragt nach dem pro me der Vergebung, weil ihm "alles auf die ganz persönliche Gewißheit aus dem Glauben" ankommt.53 R. Mau hat gezeigt, daß "entscheidende Einsichten zur Begründung von Heilsgewißheit" bei Luther bereits zur Zeit der Römerbriefvorlesung (1515/16) vorliegen. "Mit der Betonung der Demut (in ihrem Gegensatz zur superbia der Gesetzesgerechtigkeit) ist Heilsgewißheit nicht ausgeschlossen; vielmehr ist mit ihr der Ort bezeichnet, an dem allein eine im Hören auf das verbum Dei, im Christusglauben zu empfangende Heilsgewißheit sich ereignen kann ... Luther spricht von der im Glauben sich ereignenden Gewißheit, bringt sie aber noch nicht als konstitutives Element des Glaubensbegriffs zur Geltung."54 Durch seine Galaterbrief-Vorlesung (1516/17) mit dem paulinischen Pathos der Verkündigung des Evangeliums ohne des Gesetzes Werke, mit der Herausstellung des Glaubens als einzigen Heilsweges und durch die Lektüre der antipelagianischen Schriften Augustins 50
Pesch, a.a.O., 652ff.
WA l,544,40f.: "Oportet enim accedentem credere, deinde non sacramentum sed fides sacramenti iustificat". "Hoc enim est novam ecclesiam construere" - Opuscula, Lyon 1562, 1 la. Vgl. P. Hacker: Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966, nach Iserloh, a.a.O., 58. 53 Pesch, a.a.O., 655ff. Rudolf Mau, "Zur Frage der Begründung der Heilsgewißheit beim jungen Luther": ThLZ 92/1967, Sp.741-748, 747f.
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scheint Luther die Heilsgewißheit für den Glauben konstitutiv geworden zu sein. Wenn die Kirche Luther durch den Mund Cajetans verbot, "mit Paulus und Augustinus Heil und Vergebung allein von Gottes bedingungsloser Gnade zu erwarten", mußte sich der Gehorsamskonflikt ausweiten zur "Frage nach der Quelle der Heilsgewißheit". "Der Glaube an das Wort gerät in eine Diastase zur Kirche ... Der persönliche Konfliktfall Luthers - die Frage nach der Erlaubtheit oder Unerlaubtheit des Widerrufs - gewinnt modellhafte Bedeutung." 55 Damit wird deutlich, daß bereits in Augsburg das Wortverständnis in den Mittelpunkt der Kontroverse rückte. Die Ekklesiologie wird durch das Wortverständnis geprägt. Cajetans Behauptung, der Papst stehe "supra Concilium, supra scripturam, supra omnia Ecclesiae" (WA 2,8,10f.)56, führte Luther zur eindeutigen Ablehnung des papalistischen Kirchenbegriffs, indem er die Behauptung, der päpstliche Primat verdanke sich unwandelbarem göttlichen Recht nun genauso ablehnte wie die päpstliche Infallibilität. Luther erinnerte daran, daß mehr als acht Jahrhunderte die ganze Christenheit des Orients und Afrikas nicht dem Papst unterstanden habe und daß das Amt der Schlüssel nicht Petrus als Monarchen, sondern als Vertreter des Apostelkollegiums übergeben sei. Luther wollte damit die Oberhoheit Roms nicht in Abrede stellen, aber doch deutlich machen, daß sie das Ergebnis eines geschichtlichen, d.h. auch gottgewollten Prozesses sei, eben parallel zur Entstehung anderer Monarchien und damit eine potestas im Sinne von Rom 13.57 Cajetans ständiger Rekurs auf das Extravagans Clemens* VI. führte Luther zur eindeutigen Überordnung des Schriftprinzips über die päpstlichen Dekretalen, deren Autorität davon abhänge, daß sie dem legitimen Schriftsinn entsprechen,58 was erwiesenermaßen nicht der Fall sei. Mit 55
Pesch, a.a.O., 658f.
Cajetan verwies auf die Verdammung des Basier Konzils durch Nikolaus V. Er hätte auch auf die Bulle Execrabilis Pius' II. v. 18. Januar 1460 Bezug nehmen können, nach der jeder mit dem Bann bedroht wird, der vom römischen Papst an ein zukünftiges Konzil appelliert. ->7 In Acta Augustana - WA 2,10,20 erinnert er an die Feststellung des Panormitanus, daß in Glaubenssachen nicht nur ein Konzil, sondern jeder Christ dem Papst widerstehen könne, wenn er bessere auctoritas und ratio auf seiner Seite habe als der Papst, so wie Paulus dem Petrus widerstanden habe (Gal 2). WA 2,22. Bizer, a.a.O., 6: Der Streit um das Ablaßdekret Clemens VI., "das im kanonischen Recht unter den 'Extravaganten' stand", hatte "eine gewisse Bedeutung, weil die Bulle eine päpstliche Kundgebung mit juristischer Geltung war. Luther bestreitet ihre Autorität, weil sie die Schrift nicht recht zitiere und gebrauche; es steht ihm fest, daß päpstliche Erlasse auch irren können und nur soweit als das Wort Petri anerkannt werden müssen, als sie mit der Schrift und dem Zeugnis der Väter übereinstimmen. Das läuft darauf hinaus, daß ein päpstliches Dekret noch keine Definition ex cathedra
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Hinweis auf die Zurechtweisung des Petrus durch Paulus in Antiochia (Gal 2,14ff.) bemerkte Luther, daß es unsinnig sei, den Nachfolgern Petri mehr Autorität zuzuerkennen als Petrus selbst.59 Damit waren die Fronten klar bezeichnet und ein Bruch zwischen Rom und Luther schien unvermeidbar. Ohnehin hatte der päpstliche Auditor Ghinucci den deutschen Augustiner-Eremiten schon vor dem Verhör in Augsburg zum notorischen Ketzer erklärt und Cajetan einen Verhaftungsbefehl für den "Sohn der Bosheit" übermittelt.60 Nur aus politischen und taktischen Gründen sollte sich die Exkommunikation noch bis Januar 1521 hinziehen. Beim Problem der Glaubensgewißheit war Cajetan der Verdacht gekommen, Luther wolle eine neue Kirche bauen, während es sich für Luther höchstens um eine erneuerte Kirche handeln konnte. Deutet man die Zusammenhänge im Rückblick nicht nur theologiegeschichtlich, sondern im Horizont der Renaissance auch geistesund sozialgeschichtlich, wird man mit Pesch sagen können: "Luthers Theologie, besonders sein Glaubensbegriff und seine Frage nach der Gewißheit, ist der Überschritt des Glaubens vom Mittelalter in ein neues Selbstverständnis des Menschen, das Selbstverständnis des sich selbst entdeckenden Menschen der Neuzeit, dem die Frage nach sich selbst und damit die Gewißheitsfrage nicht mehr ausgeredet werden kann. Luthers Auftritt in Augsburg beginnt diesen Überschritt nicht, aber er macht ihn aktenkundig."61 Luthers notariell in Augsburg hinterlegte Berufung a papa male informato ad papam melius informandum (WA 2,28-33) wie auch seine am 28. November 1518 in der Kapelle zum Hl. Leichnam Christi zu Wittenberg zu Protokoll gegebene Appellation an das bald und rechtmäßig im Hl. Geist zu berufende Konzil dürften weniger im Sinne Iserlohs als ein Abbrechen von Brücken durch Luther zu verstehen sein,62 denn erstens als verzweifelte Versuche, in einer angesichts des drohenden Banns ausweglos erscheinenden Situation einen rechtlich wirksamen Einspruch einzulegen, sich damit zweitens nicht aus der rösei, was auch heute unbestritten ist; es heißt aber auch, daß ganz allgemein päpstliche Kundgebungen an der Schrift und an der Tradition gemessen werden müssen." Bizer (a.a.O., 9f.) vermutet, daß Luthers Stellung zur Schrift im Jahre 1518 einen tiefgehenden Wandel durchgemacht haben müsse; "er hat unterscheiden gelernt zwischen der Schrift und dem Evangelium in der Schrift ... Luther wiederholt nicht einfach die These der Konziliaristen oder auch der Hussiten; es ist ihm nicht um das 'göttliche Recht' im Gegensatz zum menschlichen zu tun, sondern um das Evangelium in der Schrift, das nur durch die Schrift gegeben ist." 59
WA 2,10.
60
Heinrich Boehmer, Der junge Luther, (Leipzig 1925) Göttingen '1955, hg. v. H. Bornkamm, 188f.
61
Pesch, a.a.O., 659f.
62
Iserloh, a.a.O., 62.
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misch-katholischen Papstkirche, zu der sich Luther unverändert zugehörig fühlte, als Häretiker hinausdrängen zu lassen, und drittens als Ausdruck der Hoffnung, doch noch in der Kirche die normative Stimme des Evangeliums zur Geltung bringen zu können. Denn Luther hatte "in Augsburg zur Kenntnis nehmen müssen, daß den Kardinal seine Schriftbeweise gar nicht interessierten ... Statt ihm Beweise aus der Schrift zu geben, verlangte man nur - nach römischem Denken konsequent -, daß er den Urteilsspruch einfach anzuerkennen habe; wenn der Papst kraft seines Amtes unfehlbarer Richter ist, so muß sein Spruch auch ohne Begründung genug sein; dann ist das Verlangen nach einer Begründung auf Grund des allgemein gültigen Rechts, d.h. der Schrift, bereits Revolution, die Revolution, die von der absoluten Fürstengewalt zur konstitutionellen Monarchie fuhrt, Angriff auf das Amt als Amt."63 Entgegen dem Anfang Januar 1519 mit dem päpstlichen Kammerherrn Karl von Miltitz in Altenburg geschlossenen Stillhalteabkommen, nach dem es beide Seiten unterlassen sollten, weiter "von der Materie zu predigen, schreiben und handeln"64, verfolgte Eck weiter seinen Plan einer Disputation mit Luthers älterem Kollegen Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt. Nach dem Prinzip, man schlägt den Sack, wenn man den Esel meint, hatte Eck mit seinen im Dezember 1518 veröffentlichten Thesen über Buße, Ablaß, Schatz der Kirche und Fegfeuer Karlstadt nominell herausgefordert, aber auf Luther gezielt, der Mühe hatte, auch zur Leipziger Disputation zugelassen zu werden.65 Ecks 12., später 13. These über den Primat des Papstes rückte bald in den Mittelpunkt des Streites. Nachdem Luther in der Conclusio zu These 22 in den Resolutionen eher beiläufig daran erinnert hatte, daß die römische Kirche zur Zeit Gregors des Großen (590-604) noch nicht das Haupt aller Kirchen gewesen sei,66 stellte Eck verschärfend fest: "Es ist falsch zu behaupten, daß die römische Kirche vor den Zeiten Sylvesters (314-335) noch nicht die Oberhoheit über die anderen Kirchen gehabt habe." Daraufhin erwiderte Luther in der letzten seiner 13 Antwortthesen67, der römische Primat lasse sich erst in den letzten 400 Jahren mit Hilfe gefälschter Dekretalen behaupten, womit er auf die 1440 von Laurentius Valla u.a. erwiesene Fälschung der Konstantinischen Schenkung anspielte. 63
Bizer, a.a.O., 9.
64
WA Br 1,294; 299.
Vgl. im einzelnen K.-V. Selge, "Der Weg zur Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck im Jahr 1519": Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte, hg. v. B. Moeller u. G. Ruhbach, Tübingen 1973,169-210. 66 "... non erat super alias ecclesias, saltem Graeciae ..." WA 1,571. 67 Disputatio D. Johannis Eccii et pater M. Luther in studio Lipsensi futura. WA 2,160f.; 9,207-212.
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Luther verdeutlichte diese These noch vor der Leipziger Disputation in seiner ausfuhrlichen Resolutio ...de potestate papae6*. Darin erinnert Luther an die untergeordnete Rolle des römischen Vertreters auf dem Konzil von Nicäa, an die Hohen Stühle, die es in der Alten Kirche vor und neben demjenigen Roms gab, und an das an die Ilias gemahnende Durcheinander von Absetzungen von Päpsten durch Kaiser und Bischöfe oder von Bischöfen durch Päpste. Schließlich war das Schisma zwischen Avignon und Rom (1378-1415) und das Konzil von Konstanz, das über drei Päpste zu befinden hatte, damals noch lebhaft in Erinnerung. Indem Luther feststellt, Jesus habe die Schlüssel keiner Privatperson, "sondern allein der Kirche" gegeben,69 ist er gezwungen, seinen Kirchenbegriff weiter zu verdeutlichen. Da nicht Rom, sondern nur Jerusalem zu Recht behaupten könne, die Mutter aller zu sein, können die Schlüssel nicht speziell der römischen Kirche gegeben sein.70 Also folgert Luther, Mt 1,6,17-19 par 18,18f. beziehe "sich weder auf Petrus, noch auf seine Nachfolger, noch auf irgendeine einzelne Kirche, sondern auf alle Kirchen"71, womit er die bischöflich verfaßten Ortskirchen meint.72 Wenn Luther hingegen von Kirche im Singular spricht, meint er die Kirche des 3. Artikels des Apostolikums. Im Glaubensbekenntnis sei nicht von "einer heiligen Kirche der Prälaten" die Rede, sondern von "einer heiligen Kirche, der Gemeinde der Heiligen". Auf diesen Felsen wolle Christus seine Kirche bauen. Denn die Kirche ist da, wo das Wort Gottes gepredigt und geglaubt wird, wie Luther erstmals öffentlich bekennt. Zum Schluß dieser Resolution bekennt Luther, daß er nicht wisse, ob es der christliche Glaube leiden könne, daß auf Erden ein anderes allgemeines Haupt der Kirche aufgestellt werde als Christus, denn die Kirche werde doch "ein Reich des Glaubens genannt, weil unser König nicht gesehen, sondern geglaubt wird" (vgl. IKor 15,25). Wenn ein Papst gestorben sei, sei die Kirche nicht ohne Resolutio Lutheriana super propositione sua decima tertia de potestate papae (27. Juni bzw. vermehrt 18. Aug. 1519). WA 2,183-240. 69
WA 2,191.
70
Ebd., 237.
Ebd., 193. Bizer, a.a.O., 17, bemerkt, daß Luther in seiner Resolutio erstmals seine Exegese von Mt 16,18ff. u. Joh 21 vorlege, nicht um das Papsttum anzugreifen, sondern um es als Institution menschlichen Rechts neu zu begründen, die trotz ihrer Irrtumsfähigkeit ihre Autorität behalten kann. Mit dem Verlust der göttlichen Autorität wird indes auch ihre Gehorsamsforderung eingeschränkt durch die Forderung Petri, daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen (Apg 5,29). "So wenig Luthers neue Auslegung den Bruch mit dem Papsttum zu bedeuten braucht, so sicher ist sie doch eine Stufe auf dem Weg dahin ..." 72 in WA 2,236f., bezieht er sich auf die kirchliche Lehre, daß die Bischöfe Nachfolger der Apostel und damit dem Papst gleichgestellt seien, weshalb er folgert, sie sollten auch nur durch Wahl ordiniert werden und nicht durch den Papst.
19
Haupt; "warum wird also nicht bei Lebzeiten eines Papstes Christus allein für das Haupt gehalten"? 73 Die heute diskutierte Möglichkeit eines Petrusdienstes als Amt der ökumenischen Einheit der verfaßten Kirchen 74 konnte in der historischen Situation Luthers natürlich nicht in den Blick kommen. Nach Luthers Bericht an Spalatin von der Leipziger Disputation 75 im Juli 1519 sind dort die zentralen Fragen von Ablaß, Sünde und Gnade sowie freiem Willen "nicht in würdiger Weise" behandelt, vielmehr spitzte sich alles auf die 13. These vom Primat des Papstes zu. Auch in der Sicht der heutigen Forschung hängt "die welthistorische Bedeutung der ganzen Disputation ... allein an dem Streit über das göttliche Recht des Primats". Allein die Primatsdebatte "wurde ziemlich erschöpfend und tiefgreifend gefuhrt; sie allein erregte mit den Erkennmissen, die sie zutage forderte, mit der Erkenntnis vor allem der Radikalität der Traditions- und Kirchenkritik Luthers, die Geister auf das tiefste. Herzog Georg wurde über ihr zum Gegner Luthers; viele Humanisten traten mit Nachdruck auf Luthers Seite, andere zogen sich von ihm zurück", wie Selge resümierend bemerkt. 76 Der Verlauf der Disputation, in die "die kirchliche Wirklichkeit im zeitlich und räumlich weitesten Sinne" hereinkam, kann hier nicht nachgezeichnet werden. Es wurde deutlich, daß mit bloßen Schriftworten kein zureichender Beweis gefuhrt werden konnte. "Die Geschichte als ganze als Feld des Wirkens Gottes muß die Verwirklichung des göttlichen Gesetzes erkennen lassen. So wird alles zum Disputationsstoff, Bibelworte, Bibelexegesen der Väter, die Wirklichkeit des Lebens der Alten Kirche wie der des Mittelalters, Konzilien von Nicäa bis Konstanz, das Kirchenrecht, die griechische Ostkirche und das Schisma der Böhmen, sogar die Christen in Rußland unter den Tartaren und die Thomaschristen in Indien: Wie ist die Kirche nach Gottes in der Schrift erkennbaren Willen verfaßt, und wo ist diese so verfaßte Kirche in Raum und Zeit sichtbar? Alle anderen Fragen sind dieser Frage zugeordnet." 77 Wenn Luther Ecks Distinktionen ablehnte, etwa die, daß "Christus im Himmel caput und fundamentum principale der kämpfenden Kirche", der Papst aber auf
A.a.O., 239: "Nam et mortuo pontífice Ecclesia non est sine capite, cur ergo vivo pontífice Christus non pro capite solus habetur?" Vgl. zur heutigen ökumenischen Diskussion: Papsttum und Petrusdienst, hg. v. H. Stimimann u. L. Vischer, Frankfurt/M. 1975 (Ökumen. Perspektiven 7); Papsttum als ökumenische Frage, hg. v. der Arbeitsgemeinschaft deutscher Universitätsinstitute, München, Mainz 1979; Petrus und Papst, hg. v. A. Brandenburg u. H. -J. Urban, 2 Bde., Münster 1977/1978. 75
WA Br 1,420-20.7.1519.
76
K.-V. Selge, "Die Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck": ZKG 86/1975, 28f.
77
Ebd., 31.
20
Grund göttlicher Stiftung "ein caput und fiindamentum subordinatum" sei, dann weil die Schrift in ihrem buchstäblichen (theologischen) Sinn akzeptiert werden müsse, wo sie offen und deutlich rede. "Kein Väterwort habe gegen das Schriftwort Autorität." "Allegorisch-spirituelle erbauliche Betrachtungen der Väter kämen als theologische Beweise nicht in Frage." Damit will Luther nicht im Gegensatz zur Tradition die Väterautorität ablehnen, sondern sie richtig gewichten im Sinne seines hermeneutischen Prinzips, "für das er sich auf gute Zeugen, u.a. auf ins Kirchenrecht aufgenommene Worte Augustins berufen kann: die Väter sind als Kommentatoren der Schrift von der Schrift her zu verstehen, die sie auslegen, nicht umgekehrt. Der Lebendigmachende Geist ist für Luther ein ganz anderer als der der distinguierenden Exegese im Lichte der Tradition. Es ist der in den buchstäblichen klaren Gottesworten der Schrift selbst verborgene, dem schlichten nicht distinguierenden Glauben an diese Worte zugesagte Geist." 78 Nachdem in der Primatsfrage keine überzeugende biblische Begründung möglich war, offenbarte die Debatte, daß auch die Vätertradition in dieser Frage gespalten ist, wenngleich Eck die "jüngere Tradition der großen Instanzen der lateinischen Kirche für sich hat". Aber "die ganze jüngere, primatiale Tradition der römischen Kirche, das gesamte hiervon beeinflußte Kirchenrecht" gilt Luther "als suspekt, ja z.T. offen widerchristlich ... gegenüber dieser Fehlentwicklung gilt es, der lateinischen Kirche ihren geistlichen Charakter und ihre ökumenische Weite wieder bewußt zu machen". Luther lehnte einen zum Glaubensartikel erhobenen, durch Worte Christi nur scheinbar begründeten Primat als nicht schriftgemäß ab, ohne zur Rebellion gegen das Papsttum bereit zu sein. "Luther ist noch nicht aktiver Kirchenreformer, aber er hat bereits ein Modell einer reformierten, dem Neuen Testament, dem geistlichen und ökumenischen Charakter des Christentums gemäßeren Kirchenverfassung, ohne Befehls- und Zwangsgehorsamsordnung, entworfen und vorgetragen ... In geistlicher, ökumenischer Freiheit ist die Kirche vor Schismen sicherer als durch nicht authentisch zu begründende Herrschaft, die vielmehr Schismen erzeugt".79 Luthers Leugnung des göttlichen Rechts des Primats trug ihm in Leipzig bekanntlich den publikumswirksamen Vorwurf ein, hussitische Positionen zu vertreten, was Luther sich zwar verbat, aber gleichzeitig zu der gefährlichen Bemerkung veranlaßte, daß von Huß viele christliche, gut evangelische Sätze stammten, z.B. der: "Es gibt nur eine allgemeine Kirche." Das gab Eck die 78 79
Ebd., 33f. Ebd., 35ff.
21
Möglichkeit, von der Frage der Autorität des Papstes überzuleiten zu deijenigen der Autorität der Konzile und zu fragen, ob das Konzil von Konstanz (1414-18) bei der Verurteilung Huß' etwa geirrt habe? Luther erklärt sinngemäß: "Unfehlbar, untrüglich ist allein das Wort Gottes in der Schrift - das Konzil ist wie die Kirche Geschöpf dieses Wortes und nur so lange infallibel, wie es eben dies bleibt, Geschöpf des Wortes, ihm untergeordnet."80 In diesem Zusammenhang steht Luthers berühmter Satz: "Daher will ich frei sein und kein Gefangener einer Autorität: weder des Konzils, noch der Staatsgewalt, noch der Universitäten. Nur das will ich bekennen, was ich als wahr erkannt habe." Für Remigius Bäumer wird aus diesen Worten Luthers Subjektivismus offenkundig! 81 Im Gegensatz zu Iserloh82 verschweigt er, daß Luther damit das "sola scriptura" als Formalprinzip der Reformation aufgestellt hat. Indem Luther das höchste kirchliche Lehramt ablehnte und auch Konzilsentscheidungen auf ihre Schriftgemäßheit untersuchte, wollte er gerade dem kirchlichen Subjektivismus wehren. Man kann Luther nicht mit Vorwürfen von Subjektivismus und Individualismus zum Vorläufer von Pietismus und Aufklärung abstempeln! In seiner Erwiderung auf die Schrift des Leipziger Franziskaners Augustin Alfeld Super Apostolica Sede (Frühjahr 1520) ging Luther erstmals auf deutsch in Vom Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig (WA 6,285ff., 1520) auf die Kontroverse von päpstlichem Amt und Schrift ein. "Wenn er die nach seiner Überzeugung die Schrift verdrehenden Dekretalen der Päpste dulden sollte, so stellt er seinerseits die Bedingung, daß daneben das nach ihm richtige Verständnis der Schrift auch zugelassen werden müsse."83 Ähnlich äußerte er sich in De captivitate Babylonica ... (WA 6,507,21) und fügte 1521 in seiner Erwiderung auf den offenen Brief Hieronymus Emsers über die Disputation von Leipzig im Zusammenhang mit der Frage der Böhmen vom 13. August 151984 hinzu: "Ich begehre nur das Gewissen los zu haben."85 Dabei geht es Luther freilich nicht um jene Gedankenfreiheit, die Schiller den Marquis 80 Ebd., 37. 81 Bäumer, 1980, 59, der hier WA 2,404 zitiert. 1971, 51f. hat er diese Aussage Luthers mit einem Zitat Hans Wolters, Strukturen christlicher Existenz, Würzburg 1968, 68 kommentiert: "Deutlicher läßt sich die Relativierung oder Verwerfung aller bisher geltenden Autorität im Bereich von Geist und Kirche kaum formulieren". 82
A.a.O., 65.
83
Holl, 1915, a.a.O., 324, nach WA 6,322, lff. De disputatione Lipsicensi, quantum ab Boemos obiter deflexa est Hieronymi Emser - W ! 18, Nr.
48. 85 W A 7,26. - Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bock Emsers zu Leipzig Antwort.
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Posa im "Don Carlos" fordern läßt, sondern um den Gehorsam des Gewissens gegenüber der Heiligen Schrift, wie er ihn auf dem Reichstag zu Worms 1521 bekennen sollte: "So bin ich überwunden durch die von mir selbst angeführten Schriftstellen und ist mein Gewissen gefangen in Gottes Wort." Luther meinte indes nie, es handele sich um sein subjektives Schriftverständnis, wie er sich denn auch in Worms bereit erklärte, sich "durch Zeugnisse der Schrift oder durch klare Gründe der Vernunft" eines Besseren belehren zu lassen.86 Aus alledem erhellt, daß hinter der Kontroverse um die Ekklesiologie die grundlegende Auseinandersetzung um das Schriftprinzip steht. Luther selbst betont noch in seiner an Leo X. gerichteten Vorrede zu seinem Traktat Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), er "habe die Absicht gehabt, sich einfach auf das Studium der Schrift zurückzuziehen, aber man habe ihn nicht gelassen, sondern in den Streit über das Papsttum hineingezogen".87 So sollte dann ja auch erst die beiderseitige Anwendung der historisch-kritischen Methode in der Schriftauslegung des 20. Jahrhunderts der Wiederannäherung zwischen den Kirchen der Reformation und Rom den Weg ebnen. Auf die weitere Entwicklung der Stellung Luthers zum Papsttum kann hier nicht eingegangen werden. Es sei nur noch angemerkt, daß der Reformator in seiner nach dem Bann vor der Abreise zum Reichstag von Worms verfaßten Erwiderung auf die Resolutio de potestate papae des Dominikaners Ambrosius Catharinus (von 1519) erstmals öffentlich bekannte, daß er im Papsttum eine Erscheinung des Antichrist sehe.88 Aber die Erkenntnis, daß "etliche Päpste selbst Ketzer gewesen, ketzerische Gesetze gegeben und doch in der Obrigkeit geblieben sind" 8 ', ist für Luther schon in seiner Schrift Vom Papsttum zu Rom ... eine Bestätigung für seine Unterscheidung von Christenheit als einer geistlichen Versammlung der Seelen in einem Glauben90 und der äußerlichen Kirche, von deren Ordnung de iure divino sich kein Wort in der Schrift finde91, "obwohl die geistlich innerliche und die gemachte, äußerliche Kirche zusammengehören wie 86
WA 7,838,2ff. - Verhandlungen mit D. M. Luther auf dem Reichstage zu Worms.
87
Bizer, a.a.O., 35 - WA 7,6ff.
88
WA 7,705-778. - Ad librum eximii Magistri Nostri Ambrosio Catharini, defensoris Silvestri acerrimi, responsio. Schon am 18. Dezember 1518 hatte Luther freilich an Link (WA Br 1,270) geschrieben, "er werde ihm Darlegungen schicken, 'damit Du sehen kannst, ob ich mit meiner Ahnung recht habe, daß der wahre und von Paulus gemeinte Antichrist in der römischen Kirche regiert. Ich glaube ich kann zeigen, daß Rom heute schlimmer ist als die Türken'." Bizer, a.a.O., 9. Zum Kontext vgl. G. Seebaß, "Antichrist IV.": Reformations- und Neuzeit: TRE 3, 1978, 28ff. 89
WA 6,314.
90
Bizer, a.a.O., 29. - WA 6,296,5ff.
91
Ebd., 296, 30.
23
Seele und Leib"92. Die "geistliche innerliche Christenheit", die nicht mit der Kirche der Innerlichkeit des 19. Jahrhunderts verwechselt werden darf, ist der Leib Christi. Was Luther leidenschaftlich ablehnt, ist eine menschliche Ordnung, wie die der Papstkirche, die sich als heilsnotwendig ausgibt. Nach menschlicher Ordnung will er im Sinne von Rom 13 in der "äußerlichen Kirche" auch die hierarchische Struktur anerkennen. Sie kann aber mit der päpstlichen Gewalt an der Spitze "kein Zeichen der Christenheit" sein. Notae ecclesiae, an denen man äußerlich merken kann, "wo dieselbe Kirche in der Welt ist", sind Taufe, Abendmahl und Evangelium.93 Die Kennzeichen der inneren Kirche, zu denen Luther auch die Kreuzesnachfolge zählen kann,' 4 unterscheiden den Leib Christi von der Synagoge des Satans, mit der er nicht etwa die ganze römische Kirche gleichsetzt, sondern nur die Schar der Päpstlichen.95 Für Luther ging es also in der Auseinandersetzung mit Rom immer um die Frage von wahrer und falscher Kirche, während wir heute im ökumenischen Gespräch vom Vorhandensein verschiedener Konfessionskirchen, d.h. äußerer Kirchen, ausgehen.96 Indem Luther Kirche zunächst von ihrem proprium her als communio sanctorum, als Volk Gottes versteht, das nicht an ein bestimmtes äußeres Kirchentum gebunden ist, aber unter seinem Haupt Christus in allen kirchlichen Strukturen präsent ist, gewinnt sein Kirchenbegriff eine große ökumenische Weite, die wegführt von der gegenseitigen Verketzerung, da die Einheit der inneren Kirche vorgegeben ist, was allerdings eine Prüfung der Kennzeichen einer verfaßten Kirche keineswegs überflüssig macht.
92
Ebd., 297,3.
93
Ebd., 300f.
94
Luther spricht vom "Heilthum des Heiligen Creutzes" in seiner Siebener-Reihe der notae in Von Konziliis und Kirchen (1539), WA 50,628 u.ö. Zur gegenwärtigen Forschungslage vgl.: Johannes Datine: Die Kirche vor der Frage nach ihrer Wahrheit. Die reformatorische Lehre von den "notae ecclesiae" und der Versuch ihrer Entfaltung in der kirchlichen Situation der Gegenwart, Göttingen 1980; Peter Steinacker: Die Kennzeichen der Kirche. Eine Studie zu ihrer Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität, Berlin, New York 1982. 95
WA 6,300f.
96
Vgl. hierzu B. Lohse, "Die Einheit der Kirche bei Luther": LUTHER 1979, lOff.
24
3. Schlußthesen Das Ergebnis unserer Überlegungen soll in fünf Thesen zusammengefaßt werden: 1. Ausgangspunkt Luthers ist eine neue Auslegung der Schrift, wie sie in der Psalmen-, Römer- und Galater-Vorlesung zutagetritt. Von daher ist Luther zu einer neuen Auffassung von Ablaß, Buße und Glaubensgewißheit gekommen. Seine 95 Thesen dürfen nicht isoliert gesehen werden. Sie sind eine Frucht seines neuen Schriftverständnisses. 2. Luther hatte nicht die Absicht, Papsttum und Konzilsautorität anzugreifen. Vielmehr hatte er ein seelsorgerliches Ziel vor Augen: Die Wiederherstellung des neutestamentlichen Sinns von Buße. 3. Aus dem am Literalsinn und dem, was Christum treibet, orientierten Schriftprinzip ergibt sich eine klare Priorität: Das Wort steht vor der Kirche, die Kirche steht unter dem Wort, ist creatura evangelii.91 4. In der Kontroverse Luthers mit Rom ist deutlich geworden, daß die Altgläubigen die Kirche zwar nicht über das Wort stellen, aber doch Kirche und Wort so eng miteinander verbunden sehen, daß das Wort nur in der römischen Kirche in Verbindung mit dem kirchlichen Lehramt laut werden kann. Schon wer versucht, innerhalb der Kirche das Wort kritisch gegen die Kirche anzuwenden, hat den Boden der römischen Kirche verlassen! 5. Von daher ist die Frage, ob bei dem Konflikt das Wortverständnis oder das Kirchenverständnis im Mittelpunkt gestanden habe, nicht eindeutig zu entscheiden. Es kommt auf den Standpunkt des Betrachters an. Aus römischer Sicht ging es primär um die Ekklesiologie, aber aus protestantischer Sicht und auch nach Luthers Verständnis stand eindeutig der Konflikt um das Wortverständnis im Vordergrund.
97
WA 6,560,33ff. - De captivitate Babylonica.
Wirtschaften zum Wohl des Menschen Aspekte einer Wirtschaftsethik Martin Luthers 1
1. Vorüberlegungen Die Frage, ob die Ökonomie eine theologische Frage sei, mit anderen Worten, ob Theologen ein Mandat haben, ihre Stimme auch zu wirtschaftlichen Fragen zu erheben, ist seit dem Neuprotestantismus umstritten. Maßgebliche protestantische Theologen haben behauptet, daß dem Bereich der Wirtschaft gleichsam eine Eigengesetzlichkeit zukomme und sich diesbezüglich auf Luthers ZweiReiche-Lehre berufen, die sie im Sinne einer strikten Trennung von weltlicher und geistlicher Sphäre verstanden haben. Es läßt sich indes zeigen, daß sie sich damit nicht auf Luther berufen können, der sich nicht nur mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigt, sondern sogar ethische Maßstäbe für das Wirtschaften entwickelt hat. Die Schlüsselfrage für Luthers Einstieg in die Wirtschaftsproblematik war die Zinsfrage. Das ergab sich für ihn aus dem scholastischen Zinsverbot, das viele im Zeichen des beginnenden Frühkapitalismus für unzeitgemäß hielten. Heute würde es nur noch Unverständnis hervorrufen, wenn die Kirchen ein Zinsverbot forderten. Und doch stellt die Zinsfrage auch heute ein virulentes Problem für Weltwirtschaft, Entwicklungsländer und Ökologie dar. 2. Die Aktualität der wirtschaftsethischen Überlegungen Luthers Immer einmal wieder sind Luthers Äußerungen zum Frühkapitalismus aus aktuellem Anlaß kommentiert oder seine Schriften dazu neu herausgegeben worden. So hielt es z.B. der Landesverein für Innere Mission, Dresden, im Jahre 1931, d.h. in einer Zeit, als das NSDAP-Programm, das auch einen Abschnitt mit der Überschrift »Freiheit von der Zinsknechtschaft« enthielt, immer bekannter wurde, für angezeigt, in der Reihe »Luthers Flugschriften für unsere Zeit«, in der auch Luthers Schriften zur Judenfrage erscheinen sollten, »Von ' Veröffentlicht in: Jörg Ohlemacher (Hg.), Land der Reformation. Land der Reformen, Erfurt 2 1998, 161-196. Der Beitrag ist auch unter dem Titel »Theologie und Ökonomie - Aspekte einer Wirtschaftsethik Martin Luthers« 1995 in »Christliches ABC Heute und Morgen« veröffentlicht worden.
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Kaufshandlung und Wucher« "zu wohlfeilem Preise" "einem großen Kreise" zugänglich zu machen. Auf dem Umschlagtext heißt es: »Man wird dabei immer wieder aufs neue erstaunt sein, wie klar Luther die Probleme erfaßt, wie er mit prophetischem Blicke eine Entwicklung voraussieht, die in den Jahrhunderten nach ihm eingesetzt hat. Und man wird sich gern von ihm Klarheit schenken lassen und seiner Führung anvertrauen.« Und 1947, als die CDU das Ahlener Programm konzipierte, wurde dieselbe Lutherschrift in einem Heftchen erneut veröffentlicht. Roser, einer der Herausgeber, bemerkt im Vorwort: »Wenn Luther von der Notwendigkeit eines >streng, hart, weltlich Regiments< über die Wirtschaft spricht, wenn er das Recht auf Monopolbildung ausschließlich dem Staat zuerkennt und wenn er schließlich als Maßstab gezahlter Preisbildung die Arbeitsleistung anerkennt, rührt er an Fragen, die in der heutigen Auseinandersetzung über den Sozialismus so brennend sind wie zu seiner Zeit.«2 1971 löste Dieter Fortes die Quellenlage auf den Kopf stellende Behauptung, Luther habe den Darlehenszins befürwortet, weshalb er ihn zum Schrittmacher des Kapitalismus erklärte, berechtigten Widerspruch aus. Diese drei Beispiele zeigen, wie schnell man in die Irre geht, wenn man Äußerungen des Reformators, die vor mehr als 400 Jahren gemacht worden sind, aus Effekthascherei aus ihrem zeitgeschichtlichen Kontext herausreißt. Vor solchem »Fundamentalismus« kann nur gewarnt werden. Andererseits stehen wir in der Gefahr, die heutige Weltlage völlig falsch einzuschätzen, wie das der US-Amerikaner Francis Fukuyama 1989 mit seinem Aufsatz »Das Ende der Geschichte?« getan hat.3 Inzwischen ist aus diesem Titel mit Fragezeichen ein dickes Buch ohne Fragezeichen geworden. In ihm wird proklamiert, die moderne liberale Demokratie stelle »eine erfolgreiche Synthese zwischen der Moralität des Herrn und der Moralität des Knechts dar« und überwinde »die Kluft zwischen ihnen«. »Am Ende der Geschichte gibt es keine ideologische Konkurrenz mehr zur liberalen Demokratie.« Abgesehen davon, daß es diese liberale Demokratie nur in einer Minderheit von Staaten gibt, wird das wirtschaftliche Standbein der liberalen Demokratie, der Kapitalismus, völlig ausgeklammert, obgleich das ungehinderte Profitstreben uns nicht nur Wohlstand, sondern auch ökologisch ruinierte Landschaften, Seen, Flüsse, Meere, ja
2 Sozialwissenschaftliche Schriftenreihe Nr. 3, hg. v. Herbert Holtzhauer und Dieter Roser (Neckarverlag H. Holtzhauer), Schwenningen/N. 3
Vgl. hierzu Thomas H. Diehl u. Carsten Feller (Hg.), Das Ende der Geschichte?! Die »Neue Weltordnung« nach der Systemkonfrontation, Gießen 1994.
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sogar einen Himmel ohne schützende Ozonschicht beschert hat. Diesbezüglich ist die Lage im Westen nur dank möglicher Kritik der öffentlichen Meinung graduell besser als in den Gebieten des ehemaligen östlichen Staatskapitalismus. Das offenkundige sozioökonomische Versagen der Regimes des real existierenden Sozialismus kann unseren Blick nur allzu leicht von den Schattenseiten des Kapitalismus ablenken, die ganz besonders kraß in der Schuldenkrise der Dritten Welt4 zum Ausdruck kommen, die freilich nur ein Teilaspekt des umfassenden wirtschaftlichen Nord-Süd-Konflikts ist. Ein wesentlicher Teil der Schuldenkrise resultiert aus der rüstungsbedingten Hochzinspolitik der ReaganAdministration in den achtziger Jahren, so daß man an die Verurteilung des Wuchers durch Luther denken muß. Der Harvard-Ökonom Benjamin Friedman nennt die »Reaganomics« ein »Spiel«, das versagt habe, weil der Wirtschaftspolitik keine sorgfältige Analyse zugrundegelegen habe und weil deren Ausgangspunkt, daß eine Steuersenkung zu einer Erhöhung der Sparleistung fuhren müsse, sich nicht bewahrheitet habe. Während in den fünfziger Jahren der (inflationsbereinigte) durchschnittliche Realzinssatz für Wertpapiere bei 2,60% lag und danach stark absank, stieg der Realzinssatz für kurzfristige Wertpapiere in den achtziger Jahren auf 4,95%. Das bedeutet, daß mittelfristige Anleihen mit einem Nominalzinssatz von 13,37% ausgegeben wurden. Diese hohen Zinssätze lockten Anlagekapital ins Land, so daß z.B. der Wechselkurs der DM gegenüber dem US$ von Dezember 1980 bis Anfang 1985 von DM 1,97 auf DM 3,30 anstieg. Gigantische Budget-Defizite und eine negative Zahlungsbilanz machten die USA zum größten Schuldner der Welt.5 Die Zins-Hausse führte zu einer unseriösen Finanzpolitik zahlloser Spar- und Darlehensinstitute, die um jeden Preis hohe Zinserträge erlangen wollten, und zu Beginn der neunziger Jahre zu einer der schwersten Krisen des US-Bankenwesens. Seit 1989 steht in den USA der faktische Konkurs von mehr als einem Viertel der 4613 »Savings and Loans« Geldinstitute ins Haus, was wegen der bestehenden Bundesgarantie auf 4 Vgl. z.B. GKKE (Hg.), Schuld und Verschuldung - Ein kirchlicher Dialog zwischen Nord und Süd. Brasilianisch-deutsche Konferenz »Die internationale Schuldenkrise - Ursachen, Auswirkungen, Lösungsansätze« im März/April 1987 in Sankt Augustin bei Bonn. Veranstaltet vom Brasilianischen Kichenrat (CONIC) und der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE). Schriftenreihe der GKKE H. 15, Bonn 1988; Hartmut Sangmeister, »Die Lösung der Schuldenkrise in Lateinamerika mit marktwirtschaftlichen Konzepten«: Thomas H. Diehl u. Carsten Feller (Hg.), Das Ende der Geschichte?! - Gießen 1994,45-63. ^ Vgl. Benjamin M. Friedman, Day of Reckoning: The Consequence of American Economic Policy in the 1980's, New York 1988, 233ff.; 172f.; 182; 209ff.
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deren Einlagen den Steuerzahler 500 Milliarden US-Dollar oder noch mehr kosten kann. Der Grund dafür liegt in der Freigabe spekulativer Finanzgeschäfte für diese Institute Mitte der siebziger Jahre. Hatten diese ländlichen Institute jahrzehntelang ihr Auskommen durch die Differenz »zwischen den Zinsen auf Spareinlagen und jenen auf Hypotheken« gehabt, so konnten sie die Erwartung von zehn und mehr Prozent »Wucher«-Zinsen auf Sparguthaben auf diese traditionell solide Weise nicht mehr finanzieren, sondern kauften nun alles, was der Markt zu bieten hatte und hohe Renditen versprach, womit sie dann bald Schiffbruch erlitten.6 Damit sind einige Herausforderungen für eine christliche Wirtschaftsethik angesprochen. Sie sind zu ergänzen durch Armutsprobleme in der Ersten Welt, durch Unterernährung, Hunger und Elend in den Entwicklungsländern sowie Ungerechtigkeiten des internationalen Wirtschaftssystems, die auch die evangelischen Kirchen zwingen, Klarheit über die Frage der Relevanz der Bergpredigt für die Wirtschaftsethik zu gewinnen. Nun ist es sicher kein Zufall, daß über 50 Jahre zwischen dem Erscheinen der letzten deutschsprachigen Wirtschaftsethik (Georg Wünsch, 19277) und der neuen Darstellung von Arthur Rieh« (1984/1990) liegen. 1988 hat der Rat der EKD eine Stellungnahme der Kammer für Kirchlichen Entwicklungsdienst zum Thema »Bewältigung der Schuldenkrise« zeitgleich mit einer ähnlichen Verlautbarung der Katholischen Bischofskonferenz herausgegeben, in der u.a. festgestellt wird: »Auslandsverschuldung und Armut sind ein Ausdruck struktureller Ungerechtigkeiten, die auf nationaler wie internationaler Ebene bestehen.«' Dabei fällt auf, daß die Stellungnahme der EKD, die die zukunftsweisende Unterscheidung von legalen und legitimen Schulden und der Sozialverträglichkeit des Schuldendienstes macht, überhaupt nicht auf Luthers Wirtschaftsethik rekurriert, obgleich man in der Forschung seit Ende der siebziger Jahre ein ver-
6 Vgl. Martin Ebbing, »Betrüger, lasche Aufseher und kassierende Politiker«: Frankfurter Rundschau Nr. 107 v. 8. Mai 1990, 17. 7 Georg Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, Tübingen 1927. 8 Arthur Rieh, Wirtschaftsethik, Gütersloh, Bd. I (1984) M991, Bd. II (1990) '1992. 9 Bewältigung der Schuldenkrise - Prüfstein der Nord-Süd-Beziehungen. Eine Stellungnahme der Kammer der EKD iilr Kirchlichen Entwicklungsdienst. EKD Texte 23, Hannover 1988, 3, bzw. die katholische Erklärung: Die Internationale Schuldenkrise - eine ethische Herausforderung. Zum Beitrag der Bundesrepublik Deutschland. Die Deutschen Bischöfe - Kommission Weltkirche, H. 7, Bonn 1987; vgl. auch »Schuldenkrise: Zwei Erklärungen - ein gemeinsames Anliegen« (o. Vf.): HerKon 42/7 (1988), 315-317.
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stärktes Interesse an der Wirtschaftsethik Luthers feststellen kann. Der fehlende Bezug auf Luther dürfte verschiedene Gründe haben: 1. Der Versuch, 1970 auf der 5. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Evian, »die sozial-ethischen Implikationen der Rechtfertigungslehre in den Vordergrund zu stellen«, stieß auf geteilte Reaktionen, ja ließ die Frage laut werden, »ob damit den Gedanken Luthers Gerechtigkeit widerfahre«. 10 2. Ferner ist zu bedenken, daß Luther nicht versucht hat, »eine theologische Ethik als eigenständige Disziplin zu begründen«. Die ethischen Ausfuhrungen Luthers sind, wie Helmut Thielicke bemerkt, »nichts anderes als Beispielsammlungen für den evangelischen Neuansatz seiner Theologie«, was freilich schon sehr viel ist, hat er doch in legitimer Nachfolge Jesu die Mannigfaltigkeit der Fälle im Rahmen des Dekalogs »ständig auf das eine Gebot des Gottfurchtens-und-liebens zurückgeführt«. 11 Wenn hier also von der »Wirtschaftsethik« des Reformators gesprochen wird, ist stets diese Einschränkung zu bedenken, die aber nicht in dem Sinne mißverstanden werden darf, als habe der Reformator seine wirtschaftsethischen Aussagen nur zufällig gemacht. Vielmehr bilden sie ein logisches Ganzes, das er vom Zentrum seiner Theologie her begründet. Deshalb ist es bedauerlich, daß immer noch eine zuverlässige Gesamtdarstellung der Sozialethik des Reformators fehlt. 3. Luthers wirtschafts- und sozialethische Grundsätze Luthers wirtschafts- und sozialethische Grundsätze ergeben sich aus der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation seiner Zeit bzw. seiner Wahrnehmung dieser Situation. Die Epoche ab 1500 ist in Europa soziopolitisch gekennzeichnet durch die Herausbildung und Festigung des Territorialstaates und wirtschaftlich einerseits durch eine Krise des Geld- und Währungssystems, die sich durch stagnierende Löhne bei langfristig steigenden Preisen für Grundnahrungsmittel verschärfte, andererseits ist die Epoche bestimmt durch die weiträumige Integration Europas und die Ausbildung des Welthandels infolge der Entdeckungen in Übersee, durch eine nur begrenzte Diversifizierung zwischen Stadt und Land, die in Ackerbürgerstädten zum Ausdruck kam, die de-
Joachim Wiebering, »Luther in der heutigen theologischen Ethik«: Das lebendige Wort. Beiträge zur kirchlichen Verkündigung. Festgabe für Gottfried Voigt zum 65. Geburtstag, Berlin 1982, 112125, 116. 11
H. Thielicke, Theologische Ethik 1, Tübingen 1958,31 f., Nr. 88f.
30 zentralisierte Produktion in Form des Verlages und die Zentralisierung der handwerklichen Produktion in den städtischen Manufakturen, d.h. vorindustriellen Fabriken. Das Aufkommen des Frühkapitalismus zeigt sich besonders in den großen Handelsgesellschaften und im Bergbau, wo die traditionelle Verfügung der Arbeitskräfte über die Produktionsmittel immer mehr durch bloß finanziell beteiligte Gewerke, eine frühe Form von Aktionären, verdrängt wurde und wo ein starker Konzentrationsprozeß infolge von Absatzkrisen und Überproduktionskrisen einsetzte. 12 Den auslösenden Faktor für die Ausbildung frühkapitalistischer Produktionsformen
stellte das Handelskapital
dar, das in
Deutschland mit den Namen der Fugger, Welser, Höchstetter und Fürer verbunden ist, die für Kapitalballungen von bis dahin nicht gekannten Ausmaßes standen. Die frühkapitalistische Wirtschaftsweise, zu deren Charakteristika die wachsende Technisierung und die zunehmende Trennung von Kapital und Arbeit gehören, ermöglicht die Profitmaximierung, indem nun dem Geld nicht nur die Funktion eines Tauschmittels zukommt - also Tausch von Ware gegen Geld und wiederum Tausch von Geld gegen Ware -, sondern eine selbständige Bedeutung, so daß Geld gegen Ware und Ware gegen Mehr-Geld bzw. im Bankwesen Geld gegen Mehr-Geld >getauscht< wird.13 Profitmaximierung ermöglicht die erneute Investition von Gewinn, die wiederum Gewinn erzeugt und damit zur Kapitalvergrößerung fuhrt. Dieses Wirtschaftssystem, in dem sich Kapital und Arbeit trennten, erzeugte bei den Unternehmern eine neue Mentalität, einen Wirtschaftsgeist, der auf Erwerbsgewinn und Vermögensmehrung ausgerichtet ist. Die mittelalterliche Wirtschaft, die sich wesentlich an der reinen Bedarfsdeckung orientiert hatte, wurde von einer expansiven Wirtschaft abgelöst, die auf Profitmaximierung abzielte, die sie mit kapitalistischen Methoden wie Monopolgewinnung und Kartellabsprachen zu sichern suchte. Luther war Teil der Antimonopolbewegung, die auch im Reichstag einflußreich war. Das Schlagwort Monopol hatte damals einen ähnlichen Klang wie Kapitalismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ohne hier auf die regionalen Unterschiede eingehen zu können, wollen wir uns Luthers Wahrnehmung der Wirtschaftsprobleme zuwenden. Durch seine väter' 2 Vgl. Ekkehard Westermann, »Rechtliche und soziale Folgen wirtschaftlicher Konzentrationsprozesse im Mansfelder Revier in der ersten Hälfte des 16. Jh.«: Jb. f. Wirtschaftsgeschichte 3 (1990), 113-130. Vgl. W. Weber, »Geld, Glaube, Gesellschaft«: Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 239, Opladen 1979,13.
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liehe Verwandtschaft in Möhra hatte Luther einen nur begrenzten Zugang zum Bauerntum, denn er war stolz auf seinen gesellschaftlichen Aufstieg. Mehr als ein Bauernenkel ist er von der Seite seiner Mutter her ein Sproß des Bürgertums. Das Bergwesen lernte er durch seinen Vater in Mansfeld kennen, der aber in jenen Jugendjahren noch mehr Bergmann war, was die ärmlichen Verhältnisse im Elternhaus erklärt, und erst später zum wohlhabenden Bergkaufmann aufstieg.14 Der Übergang seines Vaters vom Bergbauern zum Hauer im Bergbau und dessen späterer Aufstieg zum Hüttenmeister veranschaulichte Martin sozusagen den Übergang von der agrarischen zur frühkapitalistischen Wirtschaftsform. Außerdem war Luther schon als Junge mit Hans Reinicke befreundet, mit dem er 1495 auf die Schule nach Magdeburg ging, wo er im Hause des bischöflichen Offizials Paul Moßhauer wohnte. Die Familien Reinicke und Moßhauer waren im Mansfeldischen begütert und stellten Hüttenmeister und Räte der Grafen von Mansfeld. Daher konnte Luther den rigorosen Verdrängungs- und Konzentrationsprozeß im Mansfelder Revier genau verfolgen, was seine wirtschaftlichen Vorstellung erheblich beeinflußt haben dürfte.15
Vgl. Ekkehard Westermann, »Hans Luther und die Hüttenmeister der Grafschaft Mansfeld im 16. Jh. Eine Forschungsaufgabe«: Scripta Mercaturae 9, München 1975, 53-94. Westermann in seiner Rezension zu Prien, Luthers Wirtschaftsethik: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 80 (1993), 228ff., zitiert: »Zwischen 1508 und 1536 verringerte sich die Zahl der Mansfelder Hüttenmeister von 42 auf 21. Von den 88 Feuern des Jahres 1535 besaß ein Drittel von ihnen allein 47, von denen aber faktisch mindestens 16 zwei Saigerhandeisgesellschaften gehörten.« Dieser Konzentrationsprozeß spiegelte sich auch in einer zeitgenössischen Stimme. Sie klagte 1530/ 31 : » ... das kein Stadt in Teutschland, darin so grosse hab und guetter die leng so wenig bey keinem geschlecht und namen blieben als hie zu Eyßleben piß her geschehen ist...« (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 111, 1990) - Westermann, Rechtliche und soziale Folgen, weist daraufhin, daß Martin Luther mit einem Brief vom 14. März 1542 die Mansfelder Grafen Philipp und Georg davor gewarnt habe, den Prozeß der Verdrängung der Hüttenmeister und der Feudalisierung des Bergbaus fortzusetzen, sonst könne bald jeder Oberherr seinen Unterherm auffressen - nach Hanns Freydank, »Martin Luther und der Bergbau«: Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen im preussischen Staate, Bd. 81 (1933), B315ff., 323. Vgl. dazu auch Martin Kessler, »Genealogische Beziehungen Martin Luthers zu seinem Mansfelder Freundeskreis«: Luj 58 (1991), 7-12, 7, der nach Dieter Stievermann, »Sozial- und verfassungsgeschichtliche Voraussetzungen Martin Luthers und der Reformation: der landesherrliche Rat in Kursachsen, Kurmainz und Mansfeld«: Martin Luther. Probleme seiner Zeit, hg. v. Volker Press und D. Stievermann, Stuttgart 1986, 137-176, 169, Anm.153; 171, Anm. 169, daraufhinweist, daß Luther mit Beamtenschaft und Bergunternehmertum des Mansfeldischen auf vielfältige Weise freundschaftlich und verwandtschaftlich verbunden war. Stievermann nennt »in Eisleben den Kanzler Kaspar Müller, die Räte Johann Thür, Dr. jur. Johann Rühel und Dr. jur. Philipp Drachstedt, die Hüttenmeister Jakob Heidelberg und Christoph Moshauer, in Mansfeld die Hüttenmeister Jakob Luther, Nikolaus Oemler, Hans Reincke und den gelehrten Philipp Gluenspieß, in Hettstedt die Hüttenmeister Stelwagen und in Stolberg den Rentmeister Wilhelm Reiffenstein, von denen Rühel, Drachstedt und Reiffenstein neben der Bestallung im Dienst ihrer Landesherren ebenfalls Hüttenmeister gewesen
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Luther, der seine Jugend im städtischen Milieu von Mansfeld, Magdeburg, Eisenach und Erfurt verbracht und dann als Bettelmönch in Erfurt und Wittenberg gelebt hat, war ein durch und durch städtisch geprägter Mensch. In Wittenberg erlebte er die Strukturen einer durch Lokalgewerbe und Konsumhandel geprägten Lokalgewerbestadt, während er Exportgewerbestädte kaum direkt kannte, obgleich ihm Leipzig mit seinem frühkapitalistischen Wirtschaftsgefuge in etwa vertraut war. Durch die umfangreiche Wirtschaft seiner Frau Katharina von Bora sind viele Alltagsprobleme an ihn herangetragen worden. Noch wichtiger dürfte sein, daß Luther später als Haupt der evangelischen Bewegung in Mittel- und Ostdeutschland durch Anfragen von Stadträten und befreundeten Prädikanten immer wieder mit wirtschaftlichen Fragen konfrontiert wurde. Viele spätere Beobachter hat Luthers rigorose Ablehnung selbst von mäßigen Zinsgeschäften, die ihnen als Rückfall ins Mittelalter erscheint, verwirrt. Denn während die Spätscholastik das ursprüngliche Wuchergesetz elastisch gemacht hatte, kehrte Luther zur ursprünglichen kompromißlosen Ablehnung des Zinses als Wucher zurück, da er hierin einen einseitig wirtschaftsegoistischen Geist am Wirken sah. Zwar thematisiert Luther den Zusammenhang von Wucher und Ablaß nicht,16 aber es darf nicht übersehen werden, daß die Entwicklung der Lehre vom Fegefeuer und vom Ablaß und noch mehr die Ablaßpraxis die Hemmschwelle für Wucher drastisch reduziert haben dürfte. Vor der Entwicklung der Lehre vom Fegefeuer gab es für Wucherer nur den Weg in die Hölle. Nach der Lehre vom Fegefeuer konnten sie indes hoffen, durch eine Reinigungsstrafe im Fegefeuer doch noch über die Schwelle des Himmels zu gelangen. Die Möglichkeit, dieser Strafe durch Ablaß zu entgehen, dürfte die Hemmschwelle für Wucher weiter herabgesetzt haben.17 Luther lehnt die Kasuistik des Kanonischen Rechts ab. Seine ethische Argumentation geht von Jesu Weisung in der Bergpredigt aus, die er in den drei Graden des Leidens, Gebens und Leihens zusammengefaßt sieht. Die hier geforderte Liebespflicht gilt unumschränkt für jeden Nächsten, und sei er ein Widersacher oder Feind. Der Christ hat geradezu ein Nächstenamt, um seine Mitmenschen vor Unrecht zu schützen. Im Blick auf verantwortungslose Vertreter sind. Sie alle standen - abgesehen von Müller und Thür - nicht nur in freundschaftlicher Beziehung zum Reformator, sondern auch in einem Verschwägerungsverhältnis.« 16
In seiner Schrift »Widerruf vom Fegefeuer« - WA 30 11(360) 367-390(1530) - ist sich Luther dieses Zusammenhangs offenbar bewußt geworden. Vgl. Jacques le Goff, Wucherzinz und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter, Stuttgart 1988,96f.
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der Wirtschafts- und Finanzmächte erinnert der Reformator an die Leidensforderung der Bergpredigt: »... sage derselben Scharrhansen einem das wort Gottes, so wider yn ist«18, nämlich das Wort des Gottes, der »eyn richter für die armen und durfftigen«" ist, so wirst du leiden müssen. Solches Leiden und nicht Anbetung der Mächtigen sei dem Christen geboten. Luther überprüft die Motivationen auch des wirtschaftlichen Handelns vom Gebot der Nächstenliebe und der Billigkeit (Goldene Regel) her. So steht für ihn fest, daß der Zinskäufer - wir würden heute sagen, der Darlehensgeber - seinen Nächsten übervorteilen will, weil er nicht dieselben Bedingungen auf sich angewandt sehen und sich nicht am Risiko beteiligen wolle. Deshalb deckt der Reformator hier und in anderen Fällen Eigennutz und Wirtschaftsegoismus als die eigentlichen Motive auf. Luthers Kritik gilt besonders denjenigen, die Bedürftige oder in Not Geratene beschweren, ja sie bei Zahlungsunfähigkeit ihres Grund und Bodens, d.h. ihrer Erwerbsgrundlage, und ihrer Produktionsmittel berauben. Das zinssuchende Geld erscheint Luther »dem ungerechten Wesen der >monopoliaeinfältigem< Leihen, während er jenes Leihen verurteilt, dem die Absicht der Darleihenden innewohnt, >daß sie mit Geld herrschenWucher< ankomme, sondern auf die Sünde, die dahinter stehe, dann kann mit seiner Kritik am Zinskauf nicht eo ipso jede Form von Darlehensgeschäft verdammt werden. Demzufolge ist eine ethische Differenzierung angebracht, die Luthers Intention nicht widerspricht: »Als Ergebnis der Auseinandersetzung von ethischer Grundforderung und praktischer Wirtschaftsordnung« muß ein Unterschied bei der Beurteilung von Konsumtiv- und Produktiv-Darlehen gemacht werden. Wenn zur dringend nötigen Bedarfsdeckung geliehen werde, wenn es also darum gehe, einen »andern zu unterstützen, einem Unterhaltsmangel abzuhelfen«, sei und bleibe der Christ zu zinsloser Leihe verpflichtet.22 Die wirtschaftliche Notlage des Nächsten dürfe nicht egoistisch ausgenutzt werden. Dieses Prinzip ist in Kastenordnungen, als kollektive Verpflichtung zu sozialer Hilfe eingegangen und hat wesentlich erst seit der 2. Hälfte des 19. Jh. seinen Ausdruck in staatlichen Sozialhilfegesetzen gefunden. Den Notwucher nicht mehr erwerbsfähiger alter Leute hat Luther 1524/1539 als Akt der Barmherzigkeit gebilligt.23 Daß Luther eine Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Bereichs eindeutig ablehnt, zeigt sich u.a. an seiner kompromißlosen Ablehnung der kaufmännischen Prinzipien des höchsten erzielbaren Preises und des höchsten erzielbaren Zinses, da beide eindeutig im Widerspruch zum Gebot der Nächstenliebe und dem naturrechtlichen Prinzip der Billigkeit bzw. der Reziprozität (Goldene Regel) stehen. Zugleich seien sie Raub und Diebstahl, also klare Verstöße gegen das 7. Gebot.
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' Schubert, a.a.O., 74, Anm. 1, zit. nach Strieder, »Kirche, Staat und Frühkapitalismus«: Festschr. Georg v. Hertling, zum 70. Geburtstag, 1913 dargebracht von der Görresgesellschaft, 528, Anm. 20. 22 Schubert, a.a.O., 75. Vgl.: »Von Kauffshandlung und Wucher« - WA 15, 294-332 und »An die Pfarrherni wider den Wucher zu Predigen, Vermahnung« - WA 51,331-424.
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Gegenüber der auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Geldwirtschaft, deren soziale Folgeerscheinungen Teuerung, Armut und Abhängigkeit sind, erinnert Luther an die evangelischen Weisungen der Bergpredigt, die, »so viel es das Gewissen betrifft«24, auch in wirtschaftlichen Dingen für die Christen eine verbindliche Norm bilde. Luthers Ethik ist ohne seinen Sündenbegriff nicht zu verstehen. Die von ihm konstatierte inflationäre Vermehrung von Geiz und Wucher in seiner Umwelt gilt Luther als Zeichen der beginnenden Endzeit. Dieser eschatologische Denkansatz bestimmt auch seine Kreuzestheologie, nach der das menschliche Herz sich von den Gütern dieser Welt lösen soll. Geiz und Habgier (avaritia)25, die ihren Ausdruck im Wucher finden, fuhren zu zügelloser Profitgier. Wucher werde durch Kontraktformen wie der des Zinskaufes nur verschleiert. In dem Bestreben des Menschen, sich mittels des Geldes der wirklichen, materiellen Unverfügbarkeiten seiner Existenz zu entheben, versuche er, sich der Verfügungsgewalt seines Schöpfers zu entziehen. Das meint die theologische Redeweise vom Dienst des Mammon. Deshalb geißelt Luther die Zinskaufmentalität als ein Sicherheitsstreben, das die menschliche Kreatürlichkeit verkenne, was auf Gottesleugnung hinauslaufe. Von dieser Ursünde könne nur die Annahme der Erlösung durch Christus rechtfertigen: »...groß Geld und Gut (kann) Hunger nicht stillen, noch ihm rathen, sondern verursacht mehr die Theurung. Denn wo reiche Leute sind, ist es allezeit theuer, Zu dem macht Geld niemand recht fröhlich, sondern macht einen viel mehr betrübt und voller Sorgen; denn es sind Dornen, so die Leute stechen, wie Christus den Reichthum nennet. Noch ist die Welt so thöricht, und will alle ihre Freude darinnen suchen.«26 Deshalb denkt Luther, wenn er den Mammonismus geißelt, »an >Geldnaturwidriges< Kapital zu verwandeln beginnt«, verdammt der Reformator »den Gebrauch von Geld als unnatürlich, schädlich, unmoralisch und teuflisch«.27 Luther bejaht also das Geld als Zirkulationsmittel, lehnt aber dessen Verselbständigung zum Kapital ab. 24
WA 15,294,21 f.
Vgl. hierzu neuerdings: Ricardo Rieth, »Habsucht« bei Martin Luther. Ökonomisches und theologisches Denken, Tradition und soziale Verantwortung im Zeitalter der Reformation, Weimar 1996. 26 W A . T R 3, 192, 16-20 (3143c), 26. bis 31. Mai 1532. 27 Theodor Strohm, »Luthers Wirtschafts- und Sozialethik«: Leben und Werk Martin Luthers. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag ..., hg. v. Helmar Junghans, Berlin 1983, Bd. 1, 205-223, 212; zum
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Ausgehend vom 1. Gebot bestimmt die Antithese >Gott< oder >Mammon< Luthers wirtschaftsethisches Denken. Die Begriffe Wucher und Geiz werden für Luther zum Inbegriff dieser blasphemischen Haltung. Hochmut (superbia) und die 1539 von Luther als Hauptsünde bezeichnete Habgier (avaritia) hindern den Menschen sowohl am Gottesdienst wie auch an dem von Gott geforderten Dienst am Mitmenschen. >Geizwänste< wollen die Menschen beherrschen, ja sie fordern geradezu göttliche Verehrung, womit sie gegen das erste Gebot verstoßen. Anderseits praktizieren sie vielfältigen, unersättlichen Mord und Raub28, indem sie anderen Menschen ihre Lebensgrundlage entziehen. Diese teuflische Maximierung des Potentials der Mächte der Finsternis fuhrt Luther 1539 dazu, die Anwendung der Kirchenzucht gegen Wucherer zu verlangen, womit er Geiz und Habgier und deren Folge, den Wucher, d.h. unersättliche, menschenverachtende Profitgier, implizit zum ethisch begründeten Bekenntnisfall erklärt. 2 ' Wenn Luther mit der bisweilen individualisierend-monokausalen Anwendung der Begriffe Habgier und Wucher auch die sozioökonomischen Probleme seiner Zeit nicht hinreichend beschreiben kann, so trifft er damit doch das Wesen kapitalistischen Denkens und Handelns. Im Rahmen seines eschatologischen Denkens bilden die Mächte des Frühkapitalismus einen Teil des satanischen Zerstörungspotentials. »Luther ist von der Kraft jener Mächte, die Gottes Reich zerstören wollen, tief überzeugt, so daß er sich nicht der Illusion hingibt, Ermahnungen, die >Regeln der Billigkeit< einzuhalten (Barge), würden irgendetwas in der Welt verändern.« Aber er will dennoch das Wort Gottes öffentlich so klar zu Gehör bringen, daß jeder versteht, worum es geht, daß nämlich die wirtschaftsethischen Fragen auch die eigene Seligkeit berühren. Tatsächlich gehen die Vorgänge der Wirtschaft und des Handels jeden an, »sei es als Produzent, Verbraucher, Käufer, Kaufmann, Handwerker, Kreditgeber und -nehmer, als Ratsherr, Fürst, Hausvater, Hausmutter, Priester, Lehrer, als Tagelöhner, Arbeitsloser oder Bettler«. Luther ist trotz aller Widerstände, die er sieht, über-
Mammonismus vgl. Hermann Barge, Luther und der Friihkapitalismus (SVRG 168) Gütersloh 1951, 32. »Denn Gott ist dem wucher vnd geitz feinder, weder kein mensch denckt, Weil es nicht ein einfältiger mord oder raub, sondern ein vielfeltiger mord und raub ist...«- WA 51,422, 15ff. Man spricht vom casus confessionis slanlis et cadentis ecclesiae, vom Fall des Bekenntnisses, mit dem die Kirche steht und fällt, d.h. von der Notwendige^, den Glauben in Abgrenzung gegen das Böse klar zu bekennen, um die Kirche vor dem Zusammenbruch durch Unglaubwürdigkeit zu bewahren. In neuerer Zeit haben die Mitgliedkirchen des Lutherischen Weltbundes 1977 auf ihrer 6. Vollversammlung in Daressalam erstmals einen ethischen Bekenntnisfall erklärt, nämlich die Ablehnung der Apartheid in Südafrika.
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zeugt, daß die Verhältnisse sich ändern werden, wenn Gottes Wort gehört werdet Luthers aus der Bergpredigt gewonnene Utopie ist eine kreditlose Wirtschaft, deren Grundzüge er entwarf. Aber er strebt keine biblizistische Reglementierung der Wirtschaft an. Er schlägt immer wieder Wege vor, die aus christlicher Sicht noch zu verantworten sind. Deshalb macht er konkrete Vorschläge zur kaufmännischen Preisbildung nach dem Prinzip der Billigkeit, zu der auch die Gewährleistung der ziemlichen Nahrung< und des »feyhls im Handel« gehört, aber genauso der Schutz der legitimen Interessen des Nächsten, der beim Handel nicht übervorteilt werden dürfe (Goldene Regel).31 Der gegen Luther erhobene Vorwurf der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis verkennt, daß die radikale Anwendung an sich humaner Prinzipien die Gefahr der Entartung zur Unmenschlichkeit in sich birgt. Es ist eine Stärke der Ethik Luthers, daß er unter Recht nie nur die streng normative Anwendung als richtig erkannter Prinzipien versteht, sondern daß er immer unter dem Aspekt der Billigkeit ihre Auswirkung im Einzelfall mit zu berücksichtigen sucht. Deshalb lehrt Luther auch kein unbedingtes Zinsverbot, sondern erklärt schon im »Kleinen Sermon« 151932 Zinsgeschäfte von 4-6% unter bestimmten Umständen für tragbar. Auch im »Großen Sermon«" sah er 1520 bei beiderseitigem Bedürfnis Kaufwechsel zu diesem Zinssatz als tolerierbar an und akzeptierte schließlich 1539 in der »Vermahnung« begründete Verzugszinsen (Schadewacht) und Notwucher. Aber immer kommt es ihm darauf an, daß der Zins nicht zu einem situationsunabhängigen starren Recht zu Lasten des Nächsten wird. Der originelle Ansatz der Ethik Luthers basiert also auf einem Verständnis der Bergpredigt, das durch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bestimmt ist. Er grenzt sich vom Bestreben des linken Flügels der Reformation ab, die Bergpredigt als nova lex für die unmittelbare Weltgestaltung zu betrachten. Aber auch wenn er die Bergpredigt nicht zu einer politischen Norm erhebt, reGerta Scharffenorth, Den Glauben in das Leben ziehen ... Studien zu Luthers Theologie, München 1982, 324. Es ist unklar, ob Luther unter "feyhl" (Fehler) Rücklagen oder Verzinsung versteht. Er meint damit nicht durch Mutwillen oder avaritia verursachte wirtschaftliche Sünden - vgl. zum ganzen Komplex H.-J. Prien, Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen 1992, 1 lOff. 32
Eyn Sermon vom Wucher 1519, WA 6,36-60.
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Sermon vom Wucher 1520, WA 6,202-276.
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duziert er sie keineswegs zu einer Individualethik, wie in der älteren Forschung teilweise angenommen wurde. Die Bergpredigt gilt also nicht nur als evangelische Paränese, sondern auch als usus theologicus legis uneingeschränkt für alle Christen. Hier könne es keine Stufen- oder Ständeethik geben.34 Die Bergpredigt dürfe aber nicht gesetzlich verfälscht werden, d.h. zu einem politischen Handlungsprogramm gemacht werden, das im Sinne des primus seu politicus usus legis mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werde. Andererseits kommt es nicht zu einer unausgleichbaren Spannung zwischen den Forderungen der Bergpredigt an den Menschen als Christperson, also die individuelle Sphäre betreffend, und seinem Handeln als Weltperson, d.h. in Amt und Beruf, denn die Grenzen zwischen Luthers Person-, Amts- und Standesbegriff sind fließend. Auch das Recht der Stände beruhe auf ihrer Dienstfunktion für den Nächsten, weil die Forderungen der Bergpredigt in Gestalt der neu verstandenen Goldenen Regel dem natürlichen Recht es verschärfend folgen, weshalb sie auch richtungweisend für die Obrigkeit seien. Sämtliche Stände, Ämter und Dienste seien in Gottes weltlichem Regiment damit beauftragt, für die Sicherung der Lebensrechte aller Menschen einzutreten. Der Christ habe also als Weltperson auch ungerechte soziale Strukturen, selbst wenn sie auf Rechtstiteln beruhen, zu hinterfragen. Denn gerade in einer Übergangssituation bedürfe es neuer Regelungen durch die Obrigkeit. Der von der Bergpredigt geforderte Besitz- und Gewaltverzicht wird von Luther nicht selbstzerstörerisch interpretiert, so daß er zur völligen Verarmung konsequenter Christen führen könnte, sondern findet seine Grenze am status oeconomicus, d.h. an der Pflicht der Fürsorge für die eigene Familie. Auch hierbei geht es nicht um eine Ermäßigung der Forderungen der Bergpredigt, sondern um die Anwendung des Prinzips der Nächstenliebe sowie des communio-Gedankens, der davon ausgeht, daß die christliche Gemeinde Nächstenhilfe nur praktizieren kann, wenn ihre Glieder Eigentum besitzen, d.h. Luther verteidigt nicht das private Verfügungsrecht über Eigentum, sondern seine Gemeinschaftsfunktion. In diesem Sinne kann er Eigentum als Geschenk und Ordnung Gottes betrachten. Auch in seiner Dreiständelehre 35 geht es Luther nicht um eine religiöse Überhöhung der überkommenen Gesellschaftsordnung, vielmehr begründet er die Be-
34 D.h. die Ethik kann nicht abgestuft werden für Laien, d.h. Weltmenschen, und Ordensleute oder für die verschiedenen Stände differenziert werden, sondern gilt in gleicher Form für alle Christen. 35
Vgl. Prien, a.a.O., 162ff.
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rechtigung der Stände gerade mit ihrer Dienstfunktion für den Nächsten, so daß man auch in dieser Hinsicht von einem Nächstenamt sprechen kann. Wie beim Eigentumsbegriff ist Luthers ethisches Denken auch bezüglich der Arbeit und der Arbeitsverhältnisse von den Strukturen des status oeconomicus geprägt. Nicht Produktivität, Ertrag, Erwerb oder Arbeitsleistung, also die Prinzipien des aufkommenden Frühkapitalismus, bestimmen seine Arbeitsethik, sondern der Dienstcharakter der Arbeit für das Gemeinwesen und die Ermöglichung der Bedarfsdeckung. Luther erkannte, daß der monastische Müßiggang das Gemeinwohl gefährdete und noch dazu eine negative Vorbildfunktion für arbeitsunwillige Arme haben mußte. Aus dem Zusammenwirken von kirchlich geförderter unproduktiver, monastisch-kontemplativer Lebensführung, religiös begründetem Mendikantentum (Bettelorden) und als verdienstlich eingestuftem Geben von Hungeralmosen entstand ein circulus vitiosus, der die wirtschaftliche Entwicklung bremste, die zur allgemeinen Bedarfsdeckung nötig ist, so daß die soziale Not, die Teile der Bevölkerung zur Bettelei zwang, perpetuiert wurde. Nicht nur die avaritia der Besitzenden, sondern auch eine negative Einstellung von Teilen der Bevölkerung zur Güter produzierenden Arbeit war in den Augen Luthers ein Faktor für die Aufrechterhaltung von sozialem Rückstand und Armut. Um der avaritia zu steuern und den Armen zu helfen, förderte er die Gründung »gemeiner Kästen«, d.h. kommunaler Sozialkassen. Hier ging es Luther genau wie bei seinem Kampf gegen den Wucher um praktische Armenhilfe. Gegenüber der Unlust zu regulärer Tätigkeit erinnerte er an den paulinischen Grundsatz: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« (2 Thess 3, 10b). Arbeit ist für Luther indes nicht nur eine Bedingung zum Lebensunterhalt, sondern Bestandteil der Gottesbeziehung. Denn Gott würdigt den Menschen, sein Mitarbeiter auf Erden zu sein, weshalb der Reformator Arbeit bzw. den arbeitenden Menschen auch die »Larve«36 (Maske oder Hülle) nennen kann, »unter der der verborgene Gott selber alles wirkt und damit den Menschen das gibt, was sie zum Leben nötig haben«.37 Indem er die menschliche Arbeit als Tun im Dienste der Schöpfung qualifizierte, konnte er die mittelalterliche Hochschätzung der Muße der Kontemplation
36 Vgl. WA 31 1,436,7-11. 37
Strohm, a.a.O., 209, mit Verweis auf WA 31 1,437,7. Vgl. auch Karl-Heinz zur Mühlen, »Arbeit VI«: TRE III (1978), 636.
40 genauso als unmoralisch bekämpfen wie den Müßiggang arbeitsscheuer Elemente. Sein Kampf gegen leibliche Armut hinderte ihn indes nicht an der Hochschätzung geistlicher Armut, die er als Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Gott und als Überwindung der Habgier verstand. Im Rahmen seiner Kreuzestheologie 38 entgrenzte er die geistliche Armut, d.h. er erhob diese Sondertugend der Ordensleute zu einer Zielvorstellung für das Glaubensleben aller Christen. 4. Aufgaben der geistlichen und weltlichen Obrigkeit Luthers Kampf gegen den Wucherzins ist nur ein Teilaspekt seines Kampfes für soziale Gerechtigkeit. Einerseits hat Luther dem Rat von Danzig von einem abrupten Zinsverbot abgeraten, andererseits hat er durchaus die Möglichkeit einer völligen Abschaffung des Zinses durch die Obrigkeit offengelassen. Diese Flexibilität ist Luther z.B. von marxistischer Seite als Inkonsequenz angelastet worden. Luther sah auch auf den Gebieten der Wirtschaftsgesetzgebung und der Festsetzung von Höchstpreisen in Notzeiten Handlungsbedarf für die Obrigkeit, denn er lebte in einer wirtschaftlichen Übergangssituation, in der viele Fragen neuer Regelungen bedurften. So entzog sich damals der Fernhandel zunehmend jeder Kontrolle der territorialen Obrigkeiten. Die Zinsfrage war für Luther so wichtig, weil er sie nicht als eine Begleiterscheinung, sondern geradezu als Ausdruck des gotteswidrigen Geistes des Frühkapitalismus 39 verstand. Aber bezüglich Luthers Reaktion darauf muß man zwischen den beiden Regimenten differenzieren. Das Predigtamt als Teil des geistlichen Regiments Gottes muß, ausgehend vom 1. und 7. Gebot und von der Bergpredigt im Sinne des usus theologicus legis vor dem kapitalistischen Geist, der im Handelskapital in monopolitischen Praktiken agiert und im Finanzkapital in Form der Vermehrung des Kapitals durch feste Zinssätze denkt, eindringlich warnen, weil er unter Absehung von Gott selbstmächtig über das Leben, die Zeit, die Gaben der Schöpfung und damit auch über die Arbeits- und Produktionsbedingungen verfügen will. Die Folge ist sowohl eine Störung der Gesellschaftsordnung wie auch eine Herabsetzung der menschlichen Arbeit, bei der eine sichtbare Struk-
38
Vgl. hierzu : Walther von Loewenich, Luthers Theologia Crucis (1929), Bielefeld '1982.
Zur Diskussion des Begriffes »Kapitalismus« vgl. H.-J. Prien, Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen 1992,40ff.
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tur gegenseitigen Helfens nach und nach verdrängt wird von anonymer Abhängigkeit vom Geld. Das kirchliche Wächteramt ist nach Luthers Auffassung dazu verpflichtet, alle Faktoren des sozioökonomischen Bereichs anzuprangern, die Verstöße gegen den Dekalog und die sich aus dem Gebot der Nächstenliebe und der Goldenen Regel ergebende Forderung der Billigkeit darstellen. Das bedeutet, daß die Kirche durch Predigt, Katechese, Fürbitte, Seelsorge und als ultima ratio auch Kirchenzucht ihren Gliedern die Befolgung der ethischen Maßstäbe fiir den Umgang mit weltlichen Gütern nahebringen muß. Die Aufgabe des weltlichen Regiments der Obrigkeit, als Teil des weltlichen Regiments Gottes, kann für Luther nicht darin bestehen, die evangelischen Prinzipien für das Geschäftsgebaren durchzusetzen, sondern nur grobe Mißbräuche zu verhindern. Dementsprechend erklärte er 1525 dem Rat der Stadt Danzig ausdrücklich, daß geistliches und weltliches Regiment geschieden werden müssen und nicht vermischt werden dürfen, und exemplifiziert dies an der Zinsfrage. Zinskauf und Zinspfennig bleiben für ihn »ganz unevangelisch, da Christus lehret: >Leihet ohne Wiedernehmen!zurechtzubringenvemünftiger Leute< haben über die Zinszahlung zu entscheiden, d.h. also Luther bleibt bei seinem Grundsatz der Risikobeteiligung des Gläubigers. Die andere Möglichkeit sei, daß vermögende Gläubiger, die schon lange Zeit Zinsen eingenommen haben, einen Teil der gezahlten Zinsen als Tilgung auf die Schuldsumme anrechnen. Ist der Gläubiger aber alt und unvermögend, so soll nichts abgezogen werden, daß man ihm »nicht also das Maul von der Krippen stoße und zum Bettler mache«.42 Auch hier ist also der soziale Gesichtspunkt für Luther maßgebend, der der Sache nach das 1539 gebilligte »Notwücherlein« antizipiert. Das Prinzip der Billigkeit stellt dabei die Brücke zur Bergpredigt dar. Allgemein kann man feststellen, daß »die Art und Weise, wie Martin Luther zu brennenden sozialökonomischen Fragen Stellung bezog, ... von einer tiefen Verbundenheit mit dem Volk« zeugt. »Gewiß trat er dafür ein, daß jeder bei seinem Stande bleiben und demgemäß leben solle, daß beispielsweise die Bauern ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Grundherren nachkämen. Aber andererseits fordert er auch vom Adel, dem Klerus und den Fürsten, die Tyrannei zu lassen und mit Vernunft an den Bauern zu handeln«.43 Zwar rüttelt Luther nicht an der grundherrlichen Eigentumsordnung, aber sein Standesbegriff ist insgesamt eher dynamisch als statisch und darf nicht durch die Brille der lutherischen Orthodoxie betrachtet werden. Die Überwindung der Zweiteilung der Gesellschaft in geistlichen und weltlichen Stand mit der Aufhebung der Sonderstrukturen der Geistlichen verdeutlicht, daß die Reformation auch gesellschaftliche Strukturänderungen bewirkt hat. Luther betont die Verantwortung der weltlichen Obrigkeit für die Güterordnung und sieht es als ihre Aufgabe an, das Ethos der Goldenen Regel zum Schutz der Schwachen durchzusetzen. Diese Verantwortung beschränkt sich nicht auf Marktregulierungen zur Sicherstellung der für die Versorgung lebenswichtigen Güter und zur Gewährleistung gerechter Preise und vertretbarer Zinssätze, jedenfalls solange, wie Zinsen nicht gänzlich abgeschafft sind, sondern sie schließt, wie Luthers Beteiligung an der Antimonopolbewegung zeigt, auch gesetzliche Maßnahmen gegen große Handelshäuser ein, die der Reformator we-
42 43
Vgl. WA.B 3,484-86.
Frank Gratz, Luthers Stellung zum Frühkapitalismus: WZ(J)GS 32 (1983), 85-99, 94 mit Bezug auf »Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben« (1525) - WA 18,291 -334,334.
43
gen der wirtschaftlichen und sozialen Folgen ihres ungehemmten Konkurrenzverhaltens und ihres ungezügelten Profitstrebens, modern gesprochen, geradezu als Ausdruck sündiger Strukturen betrachtet. Er hat erkannt, daß strukturelle Gegegebenheiten der Wirtschaft einerseits aus Habgier entsprungen sein können oder andererseits Habgier und als deren Folge Wucher begünstigen können. Seine Forderung an die Obrigkeit, Wucherzinsen, Bürgschaften, Monopole, spekulativen Warenaufkauf (Vorkauf) etc. zu unterbinden, beweist, daß er in diesen Usancen ein Sachliches DrittesArbeiten, daß man Güter kriegt, das ist rechtHerz< nicht hängen sollte. In der modernen Erwerbswelt aber darf es reine Zufriedenheit nicht mehr geben,
Martin Honecker, Einfuhrung in die Theologische Ethik, Berlin, New York 1990,285. 46
WA 29,551.
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weil sie prinzipiell Stillstand oder Rückschritt bedingt. So fuhrt keine Brücke von christlicher Arbeit zum modernen >Kapitalismusfremdes< Geld in die Produktion einfließen und zu Kapital werden konnte, wenn auch nicht in unkontrolliertem Maße.« Freilich bleibt Luther bei seiner Forderung nach Beteiligung des Finanzkapitals am Geschäftsrisiko. Auch darf nicht außer acht gelassen werden, daß Luthers Blick vornehmlich auf die agrarische Produktion und auf die Ebene der einfachen Warenproduktion gerichtet blieb.49 In unserer durch Machbarkeit charakterisierten technisch-industriellen Welt stellt sich auch die Frage nach Produktivkrediten natürlich ganz anders als zu Luthers Zeiten. Luthers Ablehnung des Zinses beruht stets auf der Voraussetzung, daß der Kapitalgeber einseitig Vorteile aus der Notlage eines anderen zieht. Wohnungsbaukassen und Hypothekenbanken etwa, die mit der Differenz zwischen mäßigen Soll- und Habenzinsen arbeiten und breiteren Volksschichten allererst die Möglichkeit zum Erwerb von Wohneigentum schaffen, würden auf der Linie von Luthers ethischem Denken keinesfalls unter das Verdikt des Wuchers fallen. Es darf nicht übersehen werden, daß der Machtmißbrauch des Finanzkapitals durch Wucher oder des Handels- bzw. Industriekapitals durch Monopolpraktiken, die Luther angeprangert hat, seitdem in der Geschichte des Kapitalismus noch »eine gewaltige Rolle gespielt« hat: »offene Gewalttätigkeit zur Nieder49
Vgl. Frank Gratz, »Luthers Stellung zum Frühkapitalismus«: WZ(J)GS 32 (1983), 85-99, 92.
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haltung von Konkurrenten und von Arbeitern und Arbeiterorganisationen, Wertpapierschwindel in großem Stile, um Sparern das Geld aus der Tasche zu ziehen und ihre in Aktien verbrieften Ansprüche dann durch falsche Börsengerüchte zu entwerten, Wucherpreise für Land oder Waren in besonderen Zwangslagen usw., sehr häufig unter stillschweigender Duldung durch die Behörden und Gerichte. Erst allmählich hat die öffentliche Meinung im Rechtsstaat und die wachsende Macht der Demokratie solche Gewinnquellen versperrt. Allgemein ist unbestreitbar, daß ein System im Dienste des Profitstrebens die Selbstsucht anstachelt und zu einer sekundären Tugend erhebt.«50 So zutreffend diese Feststellung auch ist, bleibt doch zu bedenken, daß Eigennutz eine menschliche Realität ist, auf die sich eine rationale Wirtschaftsordnung einstellen muß. Gerade angesichts des Zusammenbruchs des Systems des »real existierenden Sozialismus« erscheint Hesses Warnung vor Versuchen, Theorieentwürfe verwirklichen zu wollen, die von der Voraussetzung ausgehen, auf besseren Menschen eine bessere Gesellschaft zu errichten51, als sachgemäß. Luthers Kampf gegen Monopole traf einen besonders typischen Zug des Kapitalismus, wie die gegenwärtige Konzentrationsbewegungen der Wirtschaft im Zeichen der multinationalen Gesellschaften und die Schwierigkeiten, dagegen nationale Kartellgesetze anzuwenden, zeigen. In gewisser Weise befinden wir uns heute in einer vergleichbaren Übergangssituation wie Luther, in der staatliche Gesetze nicht mehr recht greifen. Galt das im 16. Jahrhundert für die großen Handels- und Finanzgesellschaften, so gilt das heute besonders für die multinationalen Unternehmen. In der »pluralisierten Gesellschaft« des 19. und 20. Jh. konnte die individuelle Moral der Unternehmer die ethischen Rahmenbedingungen des Subsystems Wirtschaft auch im nationalen Rahmen nicht mehr sichern. Dieser Verlust an Lenkungskraft ist durch den »Ausbau der rechtlichen und institutionellen Rahmenordnung für die Wirtschaft und des Systems von materiellen Anreizen zu erwünschtem wirtschaftlichen Handeln und von Sanktionen bei unerwünschten ökonomischen Aktivitäten« ausgeglichen worden. Die Frage nach der Moral in der Wirtschaft gilt heute weniger der Verantwortung der individuellen wirtschaftlichen Entscheidung als »der Verantwortbarkeit des ökonomischen Sy-
50
E. Heimann, Art. »Kapitalismus«: RGG5 III, 1959, 1136-1141, Sp. 1138. Der Vf. war Prof. für Sozialwissenschaften in Hamburg und Honorarprof. für Sozialethik an der Ev.-theol. Fakultät Bonn. 51
Vgl. a.a.O., 16.
49 52
stems im ganzen«. Eine Beurteilung des kapitalistischen Systems kann aber nur unter Einbeziehung der von ihm verursachten Erscheinungen in der Dritten Welt erfolgen. Der europäische Beobachter hat den in den Industrienationen der nördlichen Hemisphäre mehr oder weniger innerhalb der sozialen Marktwirtschaft gezügelten >trilateralen< Kapitalismus53 vor Augen, der sich hier als das relativ am besten funktionierende Wirtschaftssystem erwiesen hat. Aber nur die Auswirkungen des trilateralen Kapitalismus auf die Industrieländer in den Blick zu nehmen, hieße die »eine Welt« aus dem Blick zu verlieren, also die Menschen in der Dritten Welt zu vergessen, die dem >peripheren< Kapitalismus ausgesetzt sind, der bisher keinerlei soziale und ökologische Reformbereitschaft bewiesen hat. Der Nord-Süd-Konflikt zeigt, daß die Funktionstüchtigkeit des trilateralen Kapitalismus eindeutig zu Lasten der Entwicklungsländer und neuerdings auch des zerfallenen Ostblocks geht. Viele der von Luther kritisierten Praktiken des Kapitalismus gehören in den Entwicklungsländern nach wie vor zu den Alltagserscheinungen. Beispielsweise besteht das von Luther zutreffend kritisierte Problem des Fernhandels mit Luxusgütem dort in leicht veränderter Form fort. So wie damals in Deutschland volkswirtschaftlicher Schaden entstand, weil verfugbares Kapital nicht in die Produktion investiert, sondern von einer kleinen Oberschicht zum Konsum von eingeführten Luxusgütem verbraucht wurde, so entsteht heute ein vergleichbarer Schaden, weil die »Staatsklasse«54 der Entwicklungsländer die ohnehin knappen Devisen der jeweiligen Volkswirtschaften für den Import von Luxusgütern verschwendet. Im Zeichen der Umweltkrise und der Forderung der sozialen Menschenrechte hat die Frage nach gerechten Preisen, die von auskömmlichen Löhnen und umweltverträglichen Produktions- und Entsorgungsbedingungen abhängen, neue Aktualität gewonnen. Der Jesuit Ignacio Ellacüria, Rektor der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador, einer der entscheidenden Vermittler für den Friedensprozeß in EI Salvador, der offenbar gerade wegen dieser Funktion eines der acht Todesopfer des Massakers rechtsgerichteter Militärs im November 1989 wurde, hat in seinem Vortrag in Marburg im Oktober 1989 bemerkt:
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Hesse, a.a.O., 12f. 53 Der in der Ära Carter geprägte Begriff Trilateralismus bezeichnet die wirtschaftliche Aktionseinheit von Nordamerika, Europa und Japan. Zum Begriff »Staatsklasse« vgl. Peter Hiinermann, »Lateinamerikas Staatsklasse und die Armen«: HerKorr 38 (1984), 475-480.
50
»Es gibt keinerlei Reformen des Kapitalismus auf dem Subkontinent ... Und nirgendwo hat sich die bevorzugte Option für die Armen, die Überwindung der Dynamik des Kapitals und die Forderung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung durchgesetzt, und noch weniger hat man die Form gefunden, in der das unterdrückte und beherrschte Volk zum primären Subjekt der Prozesse wird.« Es erinnert an Luthers Kritik an den >Monopolia< von 1524, wenn Ellacüria feststellt: »Die grundlegende Dynamik, dem anderen das Eigene zum höchstmöglichen Preis zu verkaufen und vom anderen das von ihm Angebotene zum niedrigsten Preis einzukaufen, gepaart mit der Absicht, die eigenen kulturellen Normen zu übertragen, um ihn in Abhängigkeit zu halten, zeigt sehr klar, wie inhuman das System ist, das auf dem Prinzip beruht, daß jeder Mensch des anderen Wolf ist (Hobbes), und nicht auf dem Prinzip einer möglichen und wünschenswerten universalen Solidarität.«55 Hier kann zweifellos nur eine neue Weltwirtschaftsordnung helfen, die den Kapitalismus im Rahmen einer weltweiten sozialen Marktwirtschaft verbindlichen moralischen Normen unterwirft. Dies aber »setzt eine feste Weltgemeinschaft der Menschen voraus, in der sich jedermann als einer von allen Menschen betrachtet und nicht mehr allein als ein Mitglied seiner engen Familie oder nur als einer von allen Angehörigen seines Volkes«.56 Auch im Blick auf die Verzerrung der Terms of Trade, also der Relation zwischen Preisen für importierte Rohstoffe und exportierte Fertigwaren im Warenverkehr zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern, die zu einer immer größeren Ausbeutung der in der Dritten Welt arbeitenden Bevölkerung führt, erscheint die Frage nach gerechten Preisen, die Luther aus dem scholastischen Denken übernommen hat, keineswegs so abwegig und antiquiert, wie früher angenommen, wenn sich auch das Luther bekannte System fester behördlicher Preistaxen nicht bewährt hat und Anfang des 19. Jhs. endgültig überwunden worden ist. Die Frage ist freilich, wie weltweit gerechte Preise erreicht werden können. Diesbezüglich reicht es nicht, wenn Hesse bemerkt, mit Luther können Forderungen der Entwicklungsländer nach gerechten Preisen, »die am Sachgemäßen völlig vorbeigehen, nicht begründet werden«.57 Hier müßte zunächst ge-
Ignacio Ellacüria, »Utopie und Prophetie aus Lateinamerika«: Hans-Joachim Lope (Hg.), Utopie und Wirklichkeit. Lateinamerikanische Wege ins 21. Jh., CEILA Marburg Bd. 2, Münster, Hamburg 1991, 11-25. 56
Hesse, a.a.O., 21.
57
Ebd., 22.
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klärt werden, was diesbezüglich sachgemäß ist. Man wird Hesse darin zustimmen können, daß mit Preisfestsetzungen das globale Problem einer Weltwirtschaft- und Sozialordnung nicht zu lösen ist, aber zugleich betonen müssen, daß völlig verzerrte Preise, die auf Hungerlöhnen und die Umweltschäden nicht berücksichtigenden Transportkosten basieren, ein Indikator für ein nicht menschengerechtes, ein nicht umweltgerechtes und folglich nicht sachgemäßes Wirtschafts- und Sozialsystem sind. Hinsichtlich der gigantischen Schuldenkrise, in die große und kleine Staaten der Dritten Welt verstrickt sind, ist einerseits Luthers Kritik an Konsumtionskrediten noch ziemlich aktuell, wenn man bedenkt, daß ein nicht geringer Teil der Kredite über den jeweiligen Staatsapparat zu Konsumzwecken der »Staatsklasse« ausgegeben bzw. im Zuge der Korruption auch selbst vereinnahmt und in Fluchtkapital verwandelt worden ist. Luthers Gesichtspunkt der Ausnutzung der Notlage eines anderen müßte angesichts mancher Praktiken der Kreditgewährung zwischen Privatbanken bzw. Weltbank und Drittweltregierungen von der individuellen auf die kollektive staatliche Ebene gehoben werden. Schließlich bleibt Luthers Hauptforderung zu bedenken, daß der Kreditgeber am Geschäftsrisiko zu beteiligen sei. Wenn Privatbanken im Zeichen des Petrodollar-Booms überaus leichtsinnig Entwicklungsländern Kredite geradezu aufgedrängt haben, die nicht produktiv investiert worden sind, dürfte die Zinsbedienung solcher Kredite nicht auch noch mit internationalen Finanzmechanismen wie Weltbank und Weltwährungsfonds zum Nachteil der Masse der armen Bevölkerung erzwungen werden. Für Luther ist im voraus berechneter Zins nicht nur zu verwerfen, weil er dem Nächsten allein das Risiko aufbürdet, sondern auch weil er »die Zukunft aus Gottes Verfugung« herausnimmt, was der Gotteslästerung gleiche. Außerdem ist die zumindest implizit vom Reformator erhobene Forderung nach »gerechten Zinsen« bedenkenswert, da ein erheblicher Anteil des Schuldenbergs mit den explosionsartig angestiegenen Zinsen zusammenhängt. Hier könnte es helfen, wenn Entwicklungskredite in viel höherem Ausmaß als bisher von den Geberländem zu staatlich abgesicherten Niedrigzinskonditionen gewährt würden. Schließlich leuchtet die Aktualität des Gedankens, daß ein reicher Gläubiger einen Teil der gezahlten Zinsen auf die Schuldsumme anrechnen sollte, unmittelbar ein. Wenn er von der von Luther vorgeschlagenen personalen
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Ebene zwischen Gläubiger und Schuldner auf die zwischenstaatliche Ebene übertragen würde, könnte er einen Beitrag zur Bewältigung der Schuldenkrise leisten, freilich nur, wenn gleichzeitig menschengerechte und sachgemäße interne Wirtschafts- und Sozialreformen in den Schuldnerländern erfolgten. Außerdem können Christen in viel größerem Maße als bisher nicht nur entsprechend dem zweiten Grad der Bergpredigt über Entwicklungsorganisationen ä fonds perdu helfen, sondern auch entsprechend dem dritten Grad nach dem Modell der ökumenischen Entwicklungshilfebank durch zinsfreie Einlage von Vermögensanteilen, so daß zinsfreie Darlehen für Basisprojekte verstärkt ermöglicht werden. Luthers Kampf gegen menschenverachtende Profitgier entspricht einer biblisch begründeten ethischen Grundorientierung, die nichts an Aktualität verloren hat und die mit Hilfe der Goldenen Regel auch Nichtchristen plausibel gemacht werden kann. Schließlich wäre auch theologisch zu bedenken, was es bedeutet, daß wir in einer Zeit leben, in der einerseits menschliche Schuld vor Gott, deren Last Luther umtrieb und nach dem gnädigen Gott suchen ließ, der auch den Schuldigen rechtfertigt, verharmlost und relativiert wird, daß aber anderseits irdische Schulden gegenüber Menschen, menschlichen Bankunternehmen oder Staaten in einem Maße verabsolutiert werden, daß ihre Begleichung geradezu als heilige Christenpflicht betrachtet wird, für die es auch im Notfall keine Alternative gibt. Der Weltwährungsfonds betrachtet Staaten, die nicht zahlen können, geradezu als moralisch schuldig. Und die Reichen neigen überall dazu, Armut mit Faulheit gleichzusetzen. Als Christen sollten wir uns von Luther ermutigt fühlen, nach den Rahmenbedingungen eines Weltwirtschaftssystems zu fragen, das Staaten serienweise zu ewigen Schuldnern verurteilt. Wenn es in diesem Zusammenhang eine moralische Schuld gibt, ist sie gleichermaßen bei Gläubigern und Schuldnern zu suchen. Das ist die theologische Konsequenz der Rechtfertigungslehre. Von Luther her sind die Kirchen aufgefordert, christliches Verständnis von Arbeit und Wirtschaft, von Gerechtigkeit und Verantwortung für die Schöpfung im Dialog mit Vertretern der Wirtschaft stärker zur Geltung zu bringen.
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Literatur: Hans-Jürgen Prien, Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen 1992 mit umfangreicher Bibliographie. Ulrich Duchrow, Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft, Gütersloh, München 1994.
II. ANFÄNGE DER SPANISCHEN MYSTIK IM "GOLDENEN JAHRHUNDERT"
Göttliche Gnade und menschliche Mitwirkung Francisco de Ossuna und die Anfänge der spanischen Mystik des 16. Jahrhunderts' 1. Die Wurzeln der spanischen Mystik2 Neben Reforminitiativen der Kronen der Katholischen Könige, die in wechselseitiger Beeinflussung mit dem Franziskanerobservanten Francisco Jiménez de Cisneros (1436-1517), dem Beichtvater Königin Isabellas, Erzbischof von Toledo und Generalinquisitor erfolgten, sollte die Mystik, die hier Gegenstand unserer Betrachtung ist, eine wesentliche Rolle bei der Erneuerung der Spiritualität in Spanien spielen. Die hochmittelalterliche deutsche Mystik hatte im 15. Jh. in den Niederlanden in Verbindung mit der Blüte der Devotio Moderna eine Nachblüte gehabt, die nach Spanien ausstrahlte, wo diese neue Form von Frömmigkeit und Spiritualität literarisch vermittelt besonders den 1373 gegründeten Orden der Hieronymiten mit seinem Zentrum Santa Maria Guadalupe beeinflußte, der 1516 schon 49 Häuser besaß. Entscheidende Träger dieser neuen Spiritualität waren die spanische Reformund Observanzbewegung im letzten Viertel des 15. Jhs. 3 Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang die Kartäuser ausgehend von ihrem Zentrum "El Paular de Segovia", femer fuhrende Benediktiner wie García Jiménez de Cisneros (fl510), der als Abt (ab 1488) die Abtei Monserrat, das katalanische Heiligtum, reformierte. Das war erst möglich, nachdem König Ferdinand ' Unveröffentlichter Vortrag im Arbeitsgespräch "Spanische Mystik und deutscher Pietismus", Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel: 1.-2. Oktober 1996. Hier wird die Schreibweise des 16. Jhs. für Ossuna beibehalten. Heute werden Stadt und Name Osuna geschrieben. 2 Zur spanischen Mystik vgl. E. Allison Peers, Spanish Mysticism, London, Methuen 1924; Studies of the Spanish Mystics, Bd. 1, London 1927, revidiert u. erweitert 1951, Bd. 2, 1930; kurze Auszüge aus beiden Bänden finden sich in: Die spanischen Mystiker, Zürich 1956. 3 Vgl. Melquíades Andrés Martin, Los Recogidos. Nueva visión de la mística española (1500-1700), Madrid 1975,21.
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von Aragón, der den vormaligen Subprior zum Abt gemacht hatte, die Abhängigkeit der Abtei vom römischen Kardinal Deila Rovere aufgehoben hatte,4 dessen Kommende die Abtei bis dahin gewesen war. Der neue Abt richtete eine Druckerei in der Abtei ein, die es ihm erlaubte, die Verbreitung der flämischniederländischen Spiritualität zu fördern.5 Dabei spielte Jan Mombaer (Johannes Mauburnus) mit seinem "Rosetum"6 als Vermittler zwischen der Devotio moderna und dem spanischen Reformkatholizismus eine wichtige Rolle, indem er Abt García Jiménez de Cisneros und Francisco de Ossuna beeinflußte. Das gilt auch für Ignatius von Loyola (1491-1556), wobei lediglich unklar bleibt, ob er über Abt Garcia de Cisneros oder direkt von Jan Mombaer die "Anregung für seine Methodik der Betrachtung bekommen hat". Jedenfalls hat er 1522 in Manresa bei der Abfassung seiner "Ejercida espiritualia" die "Nachfolge Christi" des berühmten Vertreters der niederländischen Devotio moderna Thomas von Kempen, das meistgelesene Buch des Spätmittelalters, "in die Hand bekommen und seitdem kein anderes Andachtsbuch lieber gehabt" als dieses. "Damit ist die direkte Verbindung der Devotio moderna zur katholischen Reform des 16. Jh. gegeben."7 Die flämisch-niederländische Spiritualität ist durch Übersetzungen in Spanien bekannt geworden 8 und in spanische Werke eingegangen, wie in die "Übungen im geistlichen Leben" des Garcia de Cisneros (1500), das "Leben Christi" (1496) des Francesco Eiximenis oder in die Abecedarios des Franziskanerobservanten Francisco de Ossuna (ca. 1492 - 1542). Francisco de Ossuna wurde die prägende Autorität der kontemplativ-mystischen Frömmigkeit bis etwa 1560, weil er als erster diese Frömmigkeit in der Volkssprache
4 Vgl. Luis Suárez Fernández, Historia de España. Edad Media, Madrid 1970, 637. ^ Vgl. Suárez Fernández, a.a.O., 637ff.; José María Revuelta Somalo, "Renovación de la vida espiritual": Luis Suárez Fernández (Hg.), Historia General de España y América, Bd. V, Madrid 1981, 189270. Rosetum exercitiorum spiritualium et sacram meditationum - Zwolle? 1494; Basel 1504; Paris 1510. 7 Vgl. Erwin Iserloh, HKG(J) III/2, 538; Thomas von Kempen, Nachfolge Christi - übersetzt von Hermann Endrös, mit einem Nachwort von Edzard Schaper, Frankfurt a. M. 1957 u.ö. (Fischer: Bücher des Wissens 168); Obras completas de San Ignacio de Loyola - BAC, Madrid 1963; I. v. Loyola, Die Exerzitien. Übertragen von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 1965; Heinrich Boehmer, Die Jesuiten. Auf Grund der Vorarbeiten von Hans Leube neu hg. v. Kurt Dietrich Schmidt, Stuttgart 1957. Suárez Fernández, a.a.O. 1970, 637 bemerkt, daß ein "Exercitatorio de la vida espiritual" des García Jiménez de Cisneros Ignatius als Modell für seine Exerzitien gedient habe. 8 Vgl. zur Aufzählung H.-J. Prien, Francisco de Ossuna. Mystik und Rechtfertigung. Ein Beitrag zur Erforschung der spanischen Theologie und Frömmigkeit in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, Diss. Hamburg 1967,47f.
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propagierte.9 Für das auf spanisch noch nie Gesagte und Unsägliche der Mystik mußte er erst eine eigene Terminologie schaffen. Er ist damit zum geistlichen Vater der spanischen Mystik des 16. Jhs. geworden, aus der Gestalten wie Teresa de Jesús (Theresa von Avila) oder Juan de la Cruz (Joh. vom Kreuz) besonders herausragen.10 In Spanien entstanden bemerkenswerte Laienbewegungen, die wir modern gesprochen als Basisgemeinschaften betrachten würden. Zum Teil waren sie mit dem Franziskanertum verbunden und stellten ein Europa-weites Phänomen dar wie die Beginen, Frauen, die nach dem franziskanischen Ideal lebten, und zwar mehr oder weniger abgeschieden von der Welt in eigenen Gemeinschaftshäusern, ohne Habit, in unauffälliger Kleidung, ohne feierliche Gelübde, aber doch in echter Armut und Keuschheit nach der Regel des Dritten Ordens der Franziskaner. Die Attraktivität dieser Gemeinschaften scheint auch an der weiblichen Selbstbestimmung gelegen zu haben, d.h. an der Freiheit vom spätmittelalterlichen Patriarchat mit der sexuellen und arbeitsmäßigen Ausbeutung in einer Ehe. Aber solche freien Gemeinschaften waren schon seit dem Hochmittelalter stets dem Verdacht der Häresie ausgesetzt gewesen und wurden von den Franziskanern und der Amtskirche dazu angehalten oder besonders im Zeitalter der Reformation gar gezwungen, die Regeln des Zweiten Ordens der Clarissinnen zu übernehmen, sich also in eine kanonische Gemeinschaft umzuwandeln, einschließlich feierlicher Gelübde und Klausur, abhängig von Ordensaufsicht und Hierarchie, was zum Verlust ihrer früheren Tätigkeitsfelder in der Diakonie, ihrer Eingliederung in die Welt und ihrer großen Volksnähe fuhren mußte." Eine ebenfalls vom Franziskanismus beeinflußte Laienbewegung war im 15. Jh. in Vizcaya entstanden. Sie ist unter dem Namen, den ihm die Inquisition gab, nämlich der "Häretiker von Durango", in die Geschichte eingegangen. "Innerhalb dieser Bewegung gab es apokalyptische Momente, Prophezeiungen vom Weltuntergang. Dies führte dazu, daß man Haus, Arbeit, insgesamt die reale Welt verließ und in Massen in die Berge flüchtete, was mit der Rückkehr zu einer Art von primitiv-natürlichem Lebenswandel verbunden war". Es kam
® Vgl. die wesentlich ausfuhrlichere Aufzählung bei Martin, a.a.O., 97f. Vgl. dazu Prien, a.a.O.; Francisco de Osuna, Versenkung. Weg und Weisung des kontemplativen Gebets. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Erika Lorenz, (Herder: Texte zum Nachdenken), Freiburg 1982. 1 • Vgl. J. Ignacio Tellechea Idigoras, "Die Basisgemeinden in Spanien im Zeitalter der Reformation": Elmar Klinger/Rolf Zerfass (Hg.), Die Basisgemeinden: ein Schritt auf dem Weg zur Kirche des Konzils, Würzburg 1984, 178-192, 184.
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offenbar "zu einem Bruch mit der Kirche und ihren traditionellen Formen, verbunden mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Dissidentengruppe". Das löste eine brutale Unterdrückung durch die weltliche Obrigkeit aus, so daß es von dieser Bewegung zu Beginn des 16. Jhs. nur noch kleine Reste gab.12 In unserem Zusammenhang interessieren nun jene zwei Laiengemeinschaften, die von der neuen asketisch-mystischen Frömmigkeit beeinflußt waren, die Francisco de Ossuna propagierte, nämlich die der Beaten und diejenige der Alumbrados. Wollte man die im Spanien des 16. Jhs. weit verbreitete Erscheinung der beatas mit Betschwestern übersetzen, würde man sie von vornherein lächerlich machen, weshalb ich auf eine Übersetzung verzichte. Beaten nannte man "Frauen aus dem Laienstand, die in der Welt leben, aber einen besonderen Lebenswandel fuhren: Es handelt sich um Jungfrauen oder Witwen, die in einer Gemeinschaft oder in ihren eigenen Häusern wohnen, die sich dem Gebet und der Frömmigkeit hingegeben, Dienste in der Pfarrei übernehmen, keinen strengen Regeln unterworfen sind, Werke der Nächstenliebe verrichten ... Da sie nicht der Kontrolle durch die Hierarchie oder durch einen Orden unterliegen und abhängig sind von der Führung und Hilfe der Priesterschaft", wurde den Beaten leicht unterstellt, sie liefen "Gefahr, vom Weg der Rechtgläubigkeit und der Moral" abzukommen. Gegen Ende des 16. Jhs. verfaßte ein Schüler des Hl. Johannes von Avila, nämlich Diego Pérez de Valdivia, den "Aviso de gente recojida" für die Beaten.13 Recogimiento war die Form der kontemplativen Sammlung, die Francisco de Ossuna propagiert hatte. Ossuna stand in direktem Kontakt mit einer anderen Gruppe Devoter, den Alumbrados (Illuminaten) in Kastilien.14 Bei diesen Erleuchteten handelt es "sich um eine zahlenmäßig sehr kleine, über verschiedene Städte Kastiliens verstreute Gruppe. Sicher scheint, daß viele ihrer Mitglieder konvertierte Juden waren." Sie akzeptierten zwar äußerlich die üblichen Formen kirchlichen Lebens, entwickelten aber ein eigenes Gruppenleben in "Konventikeln", ähnlich wie es im Pietismus gepflegt werden sollte, "in denen die Hl. Schrift gelesen, ein verinnerlichtes Christentum gelebt" wurde, man sich dem stillen Gebet verschrieb, sich von der Masse der Christen und ihren Gewohnheiten distanzierte 12
Vgl. ebd., 183f.
13
Vgl. ebd., 185.
14
Vgl. Prien, a.a.O., 48f.
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und sich nur unwillig äußeren Praktiken wie Fasten, Bilderverehrung, Wallfahrten etc. unterwarf. Im Hinblick auf Lehre und Ethik waren sie sich ihrer Sache sehr sicher, denn sie hielten sich im positiven Sinne für von Gott Erleuchtete, während derselbe Name im Munde Andersdenkender bald einen höhnischen Beigeschmack bekam. Die geistliche Erfahrung stellte für sie einen besonderen Wert dar. Sie strebten nach der Verwirklichung reiner Nächstenliebe und hatten kein Verständnis für formalistische, äußerliche Praktiken. Einige ihrer Prinzipien und allgemeinen Verhaltensweisen führten zu Spannungen, "ja zum Bruch mit der Kirche", so daß es zu Verfolgungen durch die Inquisition kam, die sie zwar mit Mißtrauen beobachtete, sich ihnen gegenüber aber maßvoll verhielt und nach entlastenden Motiven suchte.15 1525 hatte die Inquisition allerdings das Lesen der Schriften Luthers und quasi lutherische Glaubensauffassungen verboten, die man bei den Illuminaten vermuten konnte.16 "So in die Sackgasse geratend, begannen die Illuminaten, Gedanken von Erasmus für ihre eigenen Zwecke auszulegen. Sie lasen seine Werke, und sein Enchiridion wurde für sie zum Handbuch."17 Man kann nachgerade sagen, daß die Alumbrados "nach dem Erscheinen der spanischen Ausgabe des 'Enchiridions' von Erasmus von Rotterdam" im Jahre 1526 mit den Erasmianern zu verschmelzen begannen.18 Aber bald geriet auch der Erasmianismus ins Visier der Inquisition, nachdem 1529 der den Lehren des Erasmus wohlgesonnene Großinquisitor Manrique, Erzbischof von Sevilla, in Ungnade gefallen war und sich auch die schützende Hand Kaiser Karls V., bedingt durch seine Reise nach Italien, entfernte. Doch werfen wir nun einen Blick auf den Lebensweg Francisco de Ossunas.
Vgl. Tellechea, a.a.O., 190f.; vgl. im einzelnen: Bemardino Llorca SJ, Die spanische Inquisition und die "Alumbrados" (1509-1667), Berlin, Bonn 1934 und die etwa doppelt so umfangreiche spanische Publikation Bemardino Llorcas, La Inquisición Española y los Alumbrados (1509-1667), Salamanca 1980, 65ff.; Alvaro Huerga, Predicadores, Alumbrados e Inquisición en el Siglo XVI, Madrid 1973; Antonio Márquez, Los Alumbrados. Orígenes y filosofía (1525-1559), Madrid M 980. Am 2.4. bzw. 23.9.1525 - vgl. Henry Kamen, Die spanische Inquisition, München 1967, 87 (The Spanish Inquisition, London 1965). 17
Ebd., 87.
18
Vgl. F. W. Kantzenbach, Art. "Alumbrados", R G G 3 1 (1957), Sp. 300f.
60 2. Ossunas Vita Francisco stammt aus der andalusischen Herzogsresidenz Osuna." Sein bürgerlicher Name ist unbekannt. Alle Daten zu seinem Leben müssen aus verstreuten Hinweisen aus seinen Werken gewonnen werden. Er dürfte um 1492 geboren sein. Als junger Mann nahm er 1510 an der Eroberung von Tripolis teil. Danach widmete er sich lateinischen und humanistischen Studien, unternahm 1512/13 eine Wallfahrt nach Santiago de Compostela. 1513/14 dürfte der Andalusier in das Noviziat eines Minoritenkonvents der kastilischen Observanten eingetreten sein. Wahrscheinlich hat Francisco sich in den ersten vier Jahren humanistischen und philosophischen Studien gewidmet und dann vom Konvent Alcalá aus als externer Student an der von Kardinal Jiménez de Cisneros gegründeten Reformuniversität von Alcalá de Henares vier Jahre Theologie studiert, ohne zu promovieren. Vielleicht ist er 1519/20 zum Priester ordiniert worden und hat danach seine theologischen Studien in Alcalá noch fortgesetzt. Die erste aktenkundige Jahresangabe ist aus seiner Zeugenaussage in einem Inquisitionsprozeß gegen Francisco Ortiz belegt, nämlich 1523, wo er demnach bereits als Priester im Konvent La Salceda lebte und Mönche im benachbarten Konvent von Pastrana in der Methode der Sammlung (recogimiento) unterwies. In der Einöde von La Salceda, praktisch einer Eremitage, einem der Rekollektenhäuser der kastilischen Provinz, das der Zielsetzung der 1518 wieder erstarkten Bewegung "zurück in die Wüste" entsprach, hat Ossuna seine grundlegenden mystischen Erfahrungen unter Anleitung eines erfahrenen Seelenfuhrers gesammelt.20 Hier hat er die Hauptpunkte seiner geistlichen Methode in einer Reihe von Merksätzen zu Papier gebracht, und zwar hat er die Sätze in alphabetischer Reihenfolge angeordnet, so daß jeweils das Anfangswort eines Satzes mit dem nächsten Buchstaben begann. Entsprechend den 22 Buchstaben des kastilischen Alphabets zuzüglich eines Schlußsatzes entstanden so 23 Merksätze. Er zeigte seine "demütige Lehre" einigen Freunden, die sie wahrscheinlich abschrieben. Da die kurzen Sentenzen, gerade in einer Zeit, in der die Alumbrados bereits von der Inquisition beobachtet wurden, Fehldeutungen ausgesetzt
" Für den Ort benutze ich die heutige Schreibweise, für den Namen Franciscos diejenige des 16. Jhs. Martin, a.a.O., 108 bemerkt, daß es hier eine gute Bibliothek gab, die noch auf die Zeit zurückging, in der der spätere Kardinal Jiménez de Cisneros hier Guardian gewesen war, und daß hier bereits die Methode der Sammlung praktiziert wurde, ohne dies näher zu belegen. Tatsache bleibt, daß Ossuna der erste Autor ist, der die Methode des recogimiento entfaltet und beschrieben hat.
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waren, führte er sie weiter aus in seinem dreiteiligen Abcedario. Aber der 3. Teil, der zuerst erschien, kam erst 1527 im Druck heraus. Während Francisco die Ordensbrüder in Pastrana unterrichtete und dort auch Alumbrados in seinem Freundeskreis traf, war seine Lehre also noch nicht schriftlich abgesichert. Mit seinem Studiengenossen Francisco Ortiz, der im Konvent Pastrana Logik lehrte, sprach er über den mit dem Gebet der Sammlung verbundenen Tod des Denkens (no pensar nada). Bei einer solchen Gelegenheit dürfte Ortiz ihm auch von seiner überschwenglichen Verehrung für die Beata Francisca Hernández geschwärmt haben, die in Valladolid einen Kreis von Illuminaten um sich gesammelt hatte. Jedenfalls erbat sich Francisco vom Weltpriester Olivares, ebenfalls einem Verehrer der Francisca, einige von ihr geweihte Rosenkranzperlen. Als Francisca Hernández 1529 zum dritten Mal von der Inquisition verhaftet wurde und ihr 1530 der Prozeß gemacht wurde, befand sich Ossuna bereits wieder in Andalusien. Seine letzte Station in der kastilischen Provinz dürfte der Observantenkonvent Escalona extra muros gewesen sein, denn er hat sein "3. ABC" dem Herzog von Escalona gewidmet, einem großen Freund von Sammlung und innerer Erleuchtung, den er in Escalona kennengelernt haben dürfte. Ossuna verbrachte seine schöpferischste Periode in Sevilla, wo er bis 1531 fünf seiner in spanisch verfaßten Werke veröffentlicht hat. Hier war er auch 1528/29 interimsmäßig Indiengeneralkommissar des Franziskanerordens, so daß er die nach Amerika ausreisenden Ordensbrüder zu betreuen hatte. Im Gegensatz zur Beata Francisca Hernández, die Ossuna nicht persönlich kannte, stand er mit einer anderen Beata in direkter Beziehung, mit Magdalena de la Cruz, der Äbtissin der Ciarissen von Córdoba, die sich auch der besonderen Wertschätzung des Kardinalerzbischofs von Sevilla und Großinquisitors Alonso de Manrique erfreute. 1544, also ca. drei Jahre nach dem Tode Ossunas, sollte die Beata Magdalena übrigens von der Inquisition zu lebenslanger Einschließung verurteilt werden, weil sich ihre Wunder und Prophezeiungen als Betrug entpuppt hatten. 1532 trat Ossuna eine längere Europareise an, die dem Druck seiner lateinischen Werke diente. Pfingsten 1532 nahm er in Toulouse an der franziskanischen Generalkongregation teil und blieb noch eine Zeitlang bei den dortigen Observanten. 1533 erschien dort sein "Sanctuarium Biblicum". Im Languedoc stieß Ossuna erstmals auf protestantische Kräfte. Seine Reise führte ihn weiter über Lyon nach Paris, wo 1534 sein Predigtband "Pars Meridionalis" erschien. 1534 gelangte der seraphische Schriftsteller, wie er gern genannt wird, nach
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Flandern, wo er 1535/36 in Antwerpen drei lateinische Werke veröffentlichte. Hier verfolgte er auch die Entwicklung der Reformation aus der Nähe. Von Antwerpen aus unternahm Francisco eine Wallfahrt zu den Elftausend Jungfrauen der Hl. Ursula in Köln und zum Schrein der drei "Magierkönige" und schließlich von dort nach Aachen, "in die Krönungsstadt des Kaisers", "da sich dort andere allerheiligste Reliquien befinden".21 Eine großzügige Einladung durch ein Kurienmitglied nach Rom, das ihm anbot, dort alles nach Herzenslust besichtigen zu können, lehnte er mit der ironischen Bemerkung ab, daß er von Rom nichts anderes erbitte, als daß es ihn von seinem romadizo (Halskatarrh) befreie.22 Dem Wallfahrtswesen gegenüber ist Ossuna ohnehin sehr kritisch eingestellt. Denn von seiner Eucharistiefrömmigkeit her betont er, daß Gott in der Hostie zu jedem ins Haus komme.23 So kehrte Ossuna 1536/37 auf dem Seewege wieder nach Spanien zurück,24 wo sich seine Spur im Norden verliert, wo er zwischen 1540 und 1542 gestorben sein dürfte.25 3. Das Proprium der Mystik Ossunas Für den vom italienischen Neuplatonismus des 15. Jhs. beeinflußten Spanier bleiben die "geschaffenen Dinge" eine Treppe, die den Füßen des Weisen zum Aufstieg zu Gott dient. Im Gegensatz zu den Nominalisten kann er die Ordnung der geschaffenen Dinge noch im Bilde der Jakobsleiter begreifen. Für den Menschen bedeutet der Aufstieg Kenntnis des Schöpfers und der Abstieg Kenntnis seiner selbst. Die Gotteserkenntnis wird freilich noch mehr durch die Betrachtung der Menschheit Christi gefordert als durch die Betrachtung der geschaffenen Dinge. Der Zentralbegriff der Mystik Ossunas recogimiento ist vieldeutig und gelegentlich so mißverstanden worden, als sei Francisco über den mystischen Vorbereitungsgrad der Kontemplation nicht hinaus gelangt.26 In Wirklichkeit meint er mit recogimiento zunächst das Sammeln des Menschen in sich und dann in einer zweiten Stufe das gleichzeitige Sammeln des Menschen in sich und in
21
Vgl. Prien, a.a.O., 24 - 5. ABC II, c. 33, Bl. 175v.
22
5. ABC I, c. 83, Bl. 109r.
23
Vgl. Prien, a.a.O., 402.
M. Castro, "Osuna, Francisco de, OFM": Diccionario de Historia Eclesiástica de España, Bd. III, Madrid 1973, 1850f., meint, Ossuna werde Anfang 1537 in Vigo oder La Corufta angekommen sein. in Burgos und Valladolid hat er noch Editionen seiner Werke betreut - vgl. Prien, a.a.O., 25f. 26
Vgl. Prien, a.a.O., 57 mit Anm. 20.
63 27
Gott. Dieses "in Eins Sammeln Gottes und der Seele" "ereignet sich in Wahrheit, wenn die göttliche Klarheit sich wie in Glas oder Kristall in die Seele gießt, sonnengleich die Strahlen ihrer Liebe und Gnade voraussendend, die das Herz durchdringen und im Höchsten der ersten Seele aufgenommen werden. Darauf folgt der vollkommenste recogimiento, der Gott mit der Seele und die Seele mit Gott verbindet und sammelt. Und sie hat teil an demselben Herrn, in dem sie ganz gesammelt ist."28 Es läßt sich also eindeutig zeigen, daß der Begriff recogimiento bei Ossuna alle drei Stufen der irdischen Hierarchie des Pseudo-Areopagita umfaßt, nämlich purgatio, illuminatio und perfectio, bzw. unio. Wenn er die Sammlung in der höchsten Stufe eine transformación in Gott oder einen trocamiento de voluntades, einen Willenstausch, nennt, dann ist damit das Ziel der unio deutlich umschrieben. Dabei gilt zu bedenken, daß die imago Dei, die Ossuna in der synderesis, dem höchsten Teil der ánima, lokalisiert, eine Voraussetzung für die Möglichkeit der Einung der Seele mit Gott darstellt. Die Möglichkeit der Kommunikation zwischen Mensch und Gott beruht also auf der analogia entis zwischen der von der imago Dei geprägten synderesis und Gott. Sie macht eine naturhafte, zeitlich begrenzte Einung der Seele mit Gott in diesem Leben möglich. Die Weisung Christi nach Joh 4,24, Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten, ist für den seraphischen Schriftsteller nur in Form einer vollkommenen Sammlung, die von allem Kreatürlichen scheidet, zu erfüllen. Ausgehend vom hellenistischen Leib-Geist-Dualismus betont Ossuna, daß der Mensch im Gebet der Sammlung den höchsten Grad der Vergeistigung erreicht.29 Das Erlösungswerk Christi zielt nach Franciscos Verständnis von Joh 4,24 deshalb in hohem Maße darauf ab, den Menschen zu vergeistigen und ihm so den mystischen Zugang zu Gott zu eröffnen. Deshalb hat der Erlöser die für die Sammlung hinderliche Vielfalt der kultischen Zeremonien des Alten Bundes abgeschafft. 30 Analog dazu kann Ossuna die "spekulative und forschende Theologie" der verschiedenen scholastischen Richtungen als Grundlage und Steigbügel der mystischen Theologie bezeichnen, die zwar nicht verzichtbar, aber doch dem unteren Stockwerk zugeordnet sind. Als Mystiker zieht es der Spanier in seinen frühen So übersetzt Eduard Boehmer, Francisca Hernández und Frai Francisco Ortiz. Anfänge reformatorischer Bewegungen in Spanien unter Kaiser Karl V. Aus den Originalakten des Inquisitionstribunals zu Toledo dargestellt, Leipzig 1865, 253 das "recoger en uno á dios y al ánima". 28
3. ABC bei Boehmer, ebd., 384 zitiert.
29
Vgl. 3. ABC, Trat. 13, c. 4,466.
30
Vgl. 3. ABC, Trat. 15, c. 1,482-483.
64
Schriften vor, sich vom Streit der theologischen Schulen abzuwenden, die devotio und die Suche nach persönlicher Gottesgemeinschaft zu fördern und zu popularisieren.31 Er bestreitet das traditionelle Dogma natürlich nicht, aber es ist von seiner Position doch nur noch ein kleiner Schritt bis zur Verächtlichmachung Thomas von Aquins und Duns Scotus', die zu seiner Zeit die Inquisition der Beata Maria Cazalla und ihrem Bruder Bischof Juan Cazalla als Alumbrados vorwarf.32 Diese Gefahr war umso größer, als Ossuna sich bemühte, seine Mystographie über die Geistlichkeit hinaus einer breiteren Öffentlichkeit nahezubringen. Andererseits kann man gar nicht hoch genug bewerten, daß Ossuna und die ihm nachfolgenden spanischen Mystiker des "Goldenen Jahrhunderts" starke volksmissionarische Kräfte in der Kirche entbunden haben. 4. Ossunas synergistische Gnadenlehre Der erwähnte Analogiegedanke erhält ein wirksames Gegengewicht durch Ossunas gleichzeitige Betonung der göttlichen Gnade, ohne die alle Versuche, zur unio zu gelangen, vergeblich bleiben müssen. Trotz der Beibehaltung eines synergistischen Schemas kann Ossuna sowohl gute Werke als auch die unio als reines Geschenk Gottes verstehen.33 Ossuna ist davon überzeugt, daß die Voraussetzung zu echter Nächstenliebe Eigenliebe ist, d.h. zunächst eine Einheit der Seele mit sich selbst hergestellt werden muß, um eine Einheit der Seele mit dem Nächsten zu ermöglichen.34 Dieser philosophisch begründete Eudämismus geht auf Augustin zurück. Auf dessen Exegese von Sir 14, 5-6 bezieht sich Francisco auch: Nur derjenige könne richtig Almosen geben, der bei sich selbst anfange, da Almosen ein Werk der Seele seien und Gott nach Jesus Sirach Barmherzigkeit gegenüber der eigenen Seele geboten habe.35 Insofern kann man im Blick auf den Spanier Karl Holls Urteil zitieren, daß eine wahrhaft restlose, d.h. eine um Gottes Willen auch auf das eigene Glück verzichtende Liebe für Augustin und die Scholastik ein unerschwinglicher Gedanke gewesen sei. Und Holls Folgerung, daß die deutsche Mystik zwar einen Vernichtungskampf geSeine dogmatische Uninteressiertheit läßt in den späteren Schriften nach, z.B. dem auf die Intensivierung der Eucharistiefrömmigkeit abzielenden "Gracioso Combite de las gracias del sancto Sacramento del altar", Sevilla 1530. H Vgl. Henry Charles Lea, "Mystics and Illuminati": Chapters from the Religious History of Spain, Philadelphia 1 8 9 0 , 2 4 I f . und Kamen, a.a.O., 88f. 33
Vgl. Prien, a.a.O., 65f.
34
Vgl. 3. ABC, Tratado 6, c. 2, 380 bzw. Prien, a.a.O., 60.
35
Vgl. 4. ABC, cap. 32, 514 bzw. Prien, a.a.O., 123.
65
gen die Ichheit führe, es aber nicht zu hindern vermöge, daß sich gerade in ihr das Ich und die Ichsucht aufs stärkste hervordrängen, trifft natürlich auch auf Ossuna zu.36 Wenn man nun den Zusammenhang von göttlicher Gnade und menschlicher Mitwirkung betrachtet, so muß zunächst hervorgehoben werden, daß für Ossuna die grundlegende gratia gratum faciens von Gott umsonst, ohne jegliches Verdienst auf Seiten des Empfängers geschenkt wird, und zwar um der Verdienste Christi willen. Freilich versteht Ossuna diese Gnade im scholastischen Sinne als ein donum, das einen habitus oder eine dispositio im Menschen schafft. 37 Es bedarf allerdings auch menschlicher Verdienste zur Erlangung der Seligkeit. Nur sind diese als Früchte und Wirkungen der gratia gratum faciens zu verstehen, weshalb der Andalusier auch zur Überwindung eines falschen Verdienstdenkens aufrufen kann.38 Die menschlichen Verdienste sind also recht eigentlich keine menschlichen Leistungen, sondern Früchte am Baum der Gnade. Die gratia gratum faciens wird dem Menschen bei der Taufe als ein supranaturaler Habitus eingegossen, aber er kann durch Sünden wieder verloren gehen. Die Erfahrungen des religiösen Lebens lassen den Menschen immer wieder daran zweifeln, ob er den physisch-geistigen Kräftekomplex des Gnadenhabitus wirklich besitzt. Das fuhrt zu einer ständigen Gnadenungewißheit, die den Menschen veranlaßt, sich unaufhörlich mit Hilfe der Sakramente oder auf mystische Weise, um die Erlangung der Gnade zu bemühen. Nur dann kann sich der Prozeß der inneren Erneuerung und der Gerechtmachung des Menschen ungehindert entwickeln.39 Die starke Berücksichtigung der psychologischen Momente führt zu Widersprüchen. So kann schon der junge Ossuna Tugendwerken doch einen Eigenwert zuschreiben und sie als notwendige dispositio für die Gnade betrachten, weil er furchtet, die Menschen könnten in ihrem Eifer nachlassen, wenn ihre Werke vor Gott völlig wertlos sind.40 Während man in Ossunas Texten aus den Jahren 1527-1530 kein echtes Verdienstdenken finden kann,41 kann der AndaluVgl. Karl Holl, "Was verstand Luther unter Religion?": Ges. Aufsätze Bd. I, Tübingen (1932) 7 1948, 1-110, 161f. bzw. zur Rolle der Selbstliebe in der katholischen Ethik "Der Neubau der Sittlichkeit": ebd., 155-287. 37
Vgl. Belege bei Prien, a.a.O., 266f.
38
Vgl. ebd., 270f.
39
Vgl. ebd., 276.
40
Vgl. ebd., 280f.
41
Vgl. ebd., 291
66
sier später Jak 2,14ff. zum hermeneutischen Prinzip der paulinischen Worte über den Glauben machen und den Eindruck erwecken, daß ein in Werken tätiger Glaube die Jakobsleiter zum Himmel darstelle, die der Mensch selbst erklimmen könne.42 Im Hinblick auf die Mönche kann er sagen, daß Gott diejenigen belohnen muß, die außer den Geboten (praecepta) auch die evangelischen Räte (consilia) gehalten haben, womit er auf den auf Tertullian zurückgehenden Begriff der erga supererogatoria, der nichtpflichtmäßigen Werke, zurückgreift.43 Ähnlich wie Erasmus von Rotterdam behauptet Ossuna das liberum arbitrium. Deshalb kann er das Grundmotiv der paulinischen Anthropologie, die Verknechtung des Menschen unter die Sünde, nicht rezipieren, sondern interpretiert die diesbezügliche Schlüsselstelle Rom 7,13 ff. im Sinne des hellenistischen Leib-Geist-Dualismus. Demnach erleidet der Mensch jegliche fleischliche Versuchung, Verzweiflung, Zorn, Rachsucht oder Neid nur, wenn er sie nicht willentlich annimmt, sondern zurückweist. Der Geist des Menschen kann sich also von den sündhaften Regungen des Körpers freihalten. Der Mensch befindet sich gleichsam in einem Niemandsland zwischen Oben und Unten und hat die Freiheit, sich diesbezüglich zu entscheiden.44 Während der Spanier die Freiheit des Menschen zum konstituierenden Element seiner Anthropologie macht, scheint er die Freiheit Gottes zu vergessen. Angesichts seiner widersprüchlichen Aussagen zur Notwendigkeit der Gnade und dem Ungenügen der guten Werke und seinen Ausfuhrungen zur Willensfreiheit ist man geneigt, Luthers Kritik an Erasmus zu wiederholen: "Perpetuo enim tractatu oblitus, quod dixisti, lib. arb. nihil posse sine gratia, probas, quod lib. arb. omnia possit, sine gratia."45 Ossuna freilich kommt es weniger auf den freien Willen als solchen an, als auf dessen Aufgabe und Opferung auf dem Weg der Askese und Sammlung. Die Gottesherrschaft sieht er offenbar in den geistlichen Übungen, die zu unio mit Gott fuhren.46 Asketisch-mystische Übungen und Gebete sind aber einerseits Verdienste, anderseits kann der Gipfel nicht allein durch menschliche Willensanstrengung erklommen werden. Die unio mit der Gabe des "Friedens der
42 4
Vgl. ebd.,287f.
3 Vgl. ebd., 297f.
44
Vgl. ebd., 299f.
45
De servo arbitrio, WA 18,678,29f.
46
So interpretiert er das Gleichnis vom Gericht Mt 25 oder das Gleichnis vom Schatz im Acker - vgl. Prien, a.a.O., 304f.
67
Sammlung" bleibt eine unverfiigbare Gabe Gottes. Aber auch hier gilt die scholastische Sentenz, wenn der Mensch die dispositio bewirkt hat, d.h. wenn der gute Wille, den Ossuna per definitionem mit dem guten Gewissen gleichsetzt, alles getan hat, was an ihm liegt, wird Gott es an seinem Zutun, also an seiner Gnade, nicht fehlen lassen.47 Wenn bei Ossuna auch unklar bleibt, ob er wie Gabriel Biel annimmt, daß der Mensch die reine Gottesliebe wirklich aus seinen natürlichen Kräften hervorbringen kann, ermuntert er den Leser doch immer wieder: Tu, was an dir ist, dann wird es Gott an seiner Hilfe nicht fehlen lassen.48 Es läßt sich wahrscheinlich machen, daß Ossuna ähnlich wie Duns Scotus es in Anlehnung an Augustin tut, das Problem von göttlicher Allwirksamkeit und Willensfreiheit des Menschen zu lösen versucht, indem er das liberum arbitrium psychologisch-praktisch faßt, also nur die psychologische und praktische, nicht aber die metaphysische Freiheit des Menschen behauptet. Dem skotischem Denken entsprechend hebt er den entscheidenden Anteil des menschlichen Willens an den verdienstlichen Werken hervor. Entsprechend seiner unsystematischen und eklektizistischen Denkweise kann er nicht nur skotische mit skotistisch-nominalistischen Vorstellungen vermischen, sondern auch mit thomasischen. Aber bei seiner Rede vom freien Willen hat Ossuna es im Unterschied zu Thomas von Aquin versäumt zu erklären, daß auch das liberum arbitrium nur motum a Deo die Disposition zur Gnade bewirken kann. Für die Leser Ossunas bleibt als Fazit seiner Rechtfertigungslehre im wesentlichen die durch die asketischen Elemente gegenüber dem zeitgenössischen Nominalismus noch verstärkte Forderung des facere quod in se est im Gedächtnis haften. Luthers Frage nach dem gnädigen Gott bleibt unbeantwortet. Sie stellte sich dem Andalusier nicht, zumindest nicht in derselben Schärfe wie bei dem deutschen Augustiner-Eremiten, weil Ossuna auf dem Weg der Sammlung die Nähe Gottes erfuhr. Die Forderung des facere quod in se est und die Überzeugung, daß letztlich alles menschliche Tun vor Gott wertlos ist, weshalb der Mensch durch Demut vernichtet werden muß, bilden die beiden Pole der Verkündigung Ossunas. Die Selbstvernichtung durch Demut erfolgt auf dem Weg der imitatio Christi, durch die der Mensch sein Herz neu macht. Aber die zu erstrebende 47
Vgl. ebd., 305f.
48
Vgl. ebd., 308.
68
conformitas Christi wird Gott im Himmel nur denen schenken, die sie bereits in diesem Leben erlangt haben.49 Die von Ossuna prinzipiell gewonnene Erkenntnis der Gratuität der göttlichen Gnade wird also praktisch wieder entwertet, weil er doch eine Bindung der Gnade an das menschliche Tun annimmt. Das zeigt sich deutlich an seiner Annahme, das frühverstorbene Kinder, die ja allein auf Gottes Gnade angewiesen sind, in eine besonders niedrige himmlische Hierar-
C ' t U ü a fciîo: en pfona oc todo mscebo críftiano Demanda cófeio en (a oifpofició ?o:dc oc fa vida al aucro: ocla piefen* re ob:a:y en efpccial le p:cgúrafifera biëqfe oefpofe. Francisco de Ossuna lehrt seinen Schüler Villa señor. Holzschnitt aus dem "Norte de los estados" (Textanfang), - Sevilla 1531, wieder abgedruckt bei: Pére Fidèle de Ros, Le Pére François d'Osuna, Paris 1936.
49
Vgl. ebd., 221 f. So schon in dem wohl bereits 1529 fertiggestellten "Norte de los estados", Sevilla 1531 - vgl. im einzelnen Prien, a.a.O., 261.
Ein spanischer Katechismus aus dem Jahre 1529 von Francisco de Ossuna1 1. Leben und Werk des Francisco de Ossuna Vor einer Erörterung von Ossunas Katechismus soll der verhältnismäßig unbekannte Spanier kurz vorgestellt werden. Ossuna ist ein franziskanischer Theologe und Mystiker der vortridentinischen Epoche, der die mitteleuropäische mystische Tradition in bahnbrechender Weise für die spanische Frömmigkeit des 16. Jahrhunderts fruchtbar gemacht und dabei Ansätze des Vorläufers der spanischen Mystik Ramón Llull (t 1315) aufgenommen hat. Ossunas Einfluß war bestimmend für die innere Entwicklung von Teresa de Jesús und reicht hin bis zu Juan de los Angeles (fl609). Francisco ist um 1492 in dem kleinen andalusischen Städtchen Osuna2 geboren. Sein bürgerlicher Name ist unbekannt. Etwa 1513/14 trat er in das Noviziat eines Minoritenklosters der Observanten der kastilischen Ordensprovinz. Seine Studien in humanistischen, philosophischen und theologischen Fächern dürften 8 Jahre gedauert haben, wovon er die letzten 4 Jahre an der damals nach Salamanca berühmtesten spanischen Universität verbrachte, der 1509 von Kardinal Ximénez de Cisneros begründeten Universidad de Alcalá de Henares, die es im 16. Jahrhundert bis auf 12 000 Hörer brachte. In seiner Zeit wurde dort bekanntlich die Polyglotten-Bibel "La Complutense" (1515-20) bearbeitet und gedruckt. 1519/20 wurde Ossuna wohl als Priester ordiniert und studierte anschließend noch weitere drei Jahre in Alcalá Theologie, ohne indes zu promovieren. In der Einsamkeit des Rekollektenhauses seiner Ordensprovinz "Nuestra señora de la Salceda" hat er dann seine grundlegenden mystischen Erfahrungen gesammelt. Dort wurde er auch zum Schriftsteller wider Willen. Als Freunde die in alpha1
Veröffentlicht in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 83. Jg. (1972), 365-390.
2 Vgl. zur Vita im einzelnen meine Dissertation, Francisco de Ossuna. Mystik und Rechtfertigung. Ein Beitrag zur Erforschung der spanischen Theologie und Frömmigkeit in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Diss. Hamburg 1967, 599 S. (Photo-Offsetdruck), 17ff. - vgl. ThLZ Jg. 93, Sp. 552f. Verweise auf die Diss. werden im folgenden abgekürzt: FdO. Für die Stadt wähle ich die heutige Schreibweise.
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betischer Reihenfolge abgefaßten Merksätze seiner geistlichen Methode verbreiteten, die wegen ihrer Kürze mißverständlich waren, zumal zur Zeit der mystischen Erweckungsbewegung der Alumbrados, sah er sich nämlich zu näheren Erläuterungen veranlaßt. Aus diesem Bemühen entstand das zunächst auf drei Bände geplante ABECEDARIO, das seine frühe Hauptschaffensperiode (1523-1531) eröffnet. Der erste Band bietet eine Anleitung zur imitatio Christi, der zweite ist der Askese gewidmet und der dritte, der als sein bedeutendstes Werk anzusehen ist, fuhrt in den recogimiento, das mystische Gebet der Sammlung, ein. Bis 1527, als der 3. Bd. des ABC als erster von allen im Druck erschien, blieb Francisco in der kastilischen Ordensprovinz, wo er zuletzt im Kloster Escalona extra muros wohnte. Von 1528-31 hielt er sich in seiner andalusischen Heimat in Sevilla auf, wo er kurze Zeit als Indiengeneralkommissar seines Ordens fungierte. Hier erschien 1528 der erste und 1530 der zweite Band des ABC, ferner ebenfalls 1530 ein vierter Band unter dem Titel "Ley de amor ... ", sowie der "Gracioso convite de las gracias del santo sacramento del altar...". Das 4. ABC bietet eine Lehre des vollkommenen Gebets, das die höchsten und die niedrigsten Dinge auf Gott bezieht und in ihnen Gottes Liebe zurückstrahlen sieht. Der "Convite" ist eine Schrift über das Altarsakrament, deren Proprium in der Propagierung der häufigen Kommunion besteht. Dieses Werk markiert damit gleichzeitig Ossunas innere Entwicklung, die ihn von der täglichen Sammlung zur täglichen Kommunion und Sammlung führte, also zur sakramentalen Mystik. Die Eucharistie fuhrt die mystische unio mit Christus auf körperliche und geistige Weise herbei. 1531 kam dann der "Norte de los estados" heraus, aus dem der Katechismus stammt. Hierüber wird weiter unten noch einiges zu sagen sein. Franciscos europäische Wandeijahre (1532-1536) führten ihn über Toulouse, wo er erstmals mit protestantischen Kräften in Berührung kam, Lyon und Paris nach Flandern, wo er 1535-36 in Antwerpen blieb und auch eine Wallfahrt nach Köln und Aachen unternahm. In dieser zweiten Schaffensperiode trat der Andalusier besonders als Prediger hervor. Er veröffentlichte vier Predigtbände, die er nach den vier Himmelsrichtungen benannte, sowie zwei biblisch exegetische Traktate. Diese sechs für die europäische Öffentlichkeit bestimmten Werke verfaßte er in Latein, während er sonst spanisch schrieb. Seine letzten Lebensjahre (1537-41) verbrachte Ossuna in Nordspanien, wo er noch zwei Bücher schrieb, die erst posthum herauskamen. Es handelt sich um das 5. ABC und um "Die fünf Wunden". Im 5. ABC hat Francisco seine flandri-
71
sehen Erfahrungen verarbeitet und seine ethischen Vorstellungen breit entfaltet. Wie der Untertitel "Consuelo de pobres y Aviso de ricos" andeutet, will der Verfasser äußerlich Reiche und Arme von der Liebe zu den falschen Reichtümern abhalten und sie entsprechend seinem franziskanischen Armutsideal äußerlich arm und innerlich reich machen. "Die fünf Wunden", die erst 1554 unter dem Titel "Sechster Teil des ABC ..." veröffentlicht wurden, schrieb Ossuna bereits als Schwerkranker nur noch auf Drängen einer Herzogin. In seinem letzten Werk kehrt er wieder zum Ausgangspunkt seiner Frömmigkeit zurück, d.h. zur Betrachtung des Kreuzesleidens Christi. Der "Norte de los estados", aus dessen Kapitel "El estado del niño", der Stand des Kindes, Bl. 92v-96r, der aus dem Kontext nicht besonders herausgehobene Katechismus stammt, erschien in Spanien von 1531-1550 in drei Auflagen. Dieser "Polarstern der Stände" soll ein Wegweiser sein für Jünglinge, Verlobte, Verheiratete, Verwitwete und Enthaltsame. Das Buch ist in Form eines Dialogs zwischen dem Autor und seinem fiktiven Neffen Villa señor abgefaßt, der seinen Onkel in allen Lebenslagen zu Rate zieht. Da Villa señor alle oben erwähnten Stände durchläuft, kann Ossuna in den Dialogen, die oft zu langen Monologen des Autors ausarten, für jeden Stand einprägsame Regeln aufstellen. Das Kapitel über das Kind enthält außer dem Katechismus noch vielfältige Erziehungshinweise sowie Anweisungen zum Beten, zur Erklärung des Kirchgebäudes etc. Ossunas pastorale Absicht im "Norte" geht dahin, die scholastische Ethik volkstümlich vorzutragen und zu erläutern. Damit entspricht Francisco wesentlich dem Anliegen der von Kardinal Ximénez de Cisneros eingeleiteten Reform der spanischen Kirche, die Spanien zum Vorort der katholischen Reform machen sollte. 2. Ossunas Katechismus im Kontext der zeitgenössischen katechetischen Literatur Die Geschichte der katechetischen Literatur Spaniens im 16. Jahrhundert ist kaum erforscht. 3 Deshalb schien es mir angebracht zu sein, den Text des Katechismus von Ossuna, auf den ich bei der Arbeit an meiner Dissertation stieß, in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen und zu kommentieren, dies um so
3
Von den Nachschlagewerken bringt lediglich der DThC, Bd. 12, Paris 1910, Sp. 1916 im Art. "Catéchisme" von E. Mangenot die Aufzählung einiger Katechismen, die ab 1552 erschienen sind.
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mehr als er in einem Buch enthalten ist, dessen Titel die Forschung bisher kaum auf ihn hat aufmerksam werden lassen.4 Franciscos Katechismus steht in der spätmittelalterlichen Tradition. Querverbindungen zu Luthers Katechismen sind schon rein zeitlich ausgeschlossen, da sich wahrscheinlich machen läßt, daß der Spanier den "Norte" schon 1529 verfaßt und zum Druck eingereicht hat.5 Der Begriff Katechismus begegnet bei ihm freilich nicht. Das ist nicht weiter verwunderlich, da Katechismus herkömmlich "entweder einen liturgischen Akt vor der Taufe oder den dadurch veranlaßten Unterricht der Paten sowie auch das Abfragen des Erlernten in der Beichte durch die Priester" bezeichnete.6 Ossuna hingegen will den Hausvätern eine Hilfe zur christlichen Erziehung ihrer Kinder in den Hauptstücken des Glaubens und der Ethik geben. Seine Intention entspricht insofern weitgehend deijenigen Luthers.7 Aber erst der Reformator machte den Begriff Katechismus auch in diesem Sinne populär, indem er darunter sowohl den Unterricht in der christlichen Religion als Handlung wie als abgegrenzten Lehrstoff, ferner die Bezeichnung eines Buchinhalts und schließlich auch ein Buch mit diesem Inhalt verstehen konnte.8 Während Katechismus als Buchtitel, womöglich auf Grund von Luthers Anregung in der Deutschen Messe von 1526,9 in Deutschland zuerst 1528 bei Althamer sowie bei Brenz - bei letzterem nur im Untertitel - vorkommt,10 begegnet er in Spanien selbst, soweit ich sehe, erstmals 1568, wohl unter dem Einfluß des Tridentinums." Schon 1556 waren hingegen in Venedig die "Comentarios sobre el Catechismo Cristiano" des spanischen Konzilstheologen und Erzbischofs von
4
Nur Fidèle de Ros, Un Maître de Ste. Thérèse. Le Père François d'Osuna. Paris 1936 erwähnt (270), daß Ossuna einen Katechismusversuch auf 14 Seiten vorgelegt habe, und kennzeichnet die Stücke kurz dem Inhalt nach. 5
FdO, 22.
6 O. Albrecht, Vorbemerkungen zu den beiden Katechismen, WA 301,455. 7
Vgl. ebd., 458ff.
8
A.a.O., 449ff.
9
WA 19,76,2ff.
Vgl. Albrecht, a.a.O., 456 - Althamer, Katechismus, d. i. Unterricht zum christlichen Glauben ... in Frageweise und Antwort gestellt; Brenz, Fragestücke des christl. Glaubens. Catechismus minor und major. 11 Cathecismo prouechoso . . . En el cual se declara solamente nuestra ley Christiana ser la verdadera ... y las otras sectas, ser engaños del demonio. Zaragoza. Juan Millán. 1558. 132 fols. + 2 hs. 8 o , vgl. José Simon Díaz, Bibliografia de la Literatura Hispanica, Bd. 5, Madrid 1961 ff. - No. 1479.
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Toledo Bartolomé Carranza de Miranda erschienen, der bekanntlich u.a. wegen der hierin vertretenen Theologie von der Inquisition angeklagt worden ist. Nun steht Ossunas Katechismus allerdings in der spanischen Devotionsliteratur der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts keineswegs allein da. Genauso wie in Deutschland sind in Spanien mittelalterliche Beicht- und Betbücher als Vorläufer der Katechismen anzusehen. 12 Auch Luthers Betbüchlein von 1522 mit seiner "Kurzen Form" der drei Hauptstücke ist ja nur eine evangelische Überarbeitung derartiger mittelalterlicher Erbauungsliteratur. 13 Als Beispiel für Spanien sei der 1507 erschienene "Espejo de la conciencia" (Gewissensspiegel), der Juan Bautista Viñonez zugeschrieben wird, erwähnt. 14 Neben derartigen Beichtspiegeln, die auch häufig als "confesionarios" bezeichnet werden, gibt es Moraltraktate wie die "Epilogación de la Moral Philosophia" des Juan de Luzón aus dem Jahre 1508.15 In diesem Buch werden u.a. die Kardinaltugenden, die Laster und die Todsünden an Hand vieler Beispiele abgehandelt. Ein Ständebuch, wie es Franciscos "Norte" ist, findet sich, soweit ich sehe, erst wieder 1555 unter dem Titel "Enchiridion de estados" von Domingo de Valtanes. 16 Enchiridion ist bekanntlich auch der zweite selbständige Titel von Luthers Kleinem Katechismus. 17 Die nach Inhalt und Zeitpunkt der Abfassung nächste Parallele zu Ossunas Katechismus dürfte der 1532 erschienene "Libro de doctrina christiana" von Gutierre González sein, 18 der im folgenden hauptsächlich zum Vergleich herangezogen werden soll. Es ist ein eigenartiger Zufall, daß dieses Buch fast auf den Tag genau ein Jahr nach Franciscos "Norte" in der selben Stadt, nämlich Sevilla, ediert worden ist ("Norte" 7.6. 1531 - "Libro ..." Juni 1532). Sein Verfasser war zur Zeit des Drucks bereits als apostolischer Protonotar in Rom. Er wird als
Vgl. F. Cohrs, Die evangelischen Katechismus-Versuche vor Luthers Echiridion, 5 Bde., 19001907, Bd. 4, 241. 13
Albrecht, a.a.O., 437 - Ein Betbüchlein . .." WA 10 II 376ff.
52 fols. + 24 hs. 27, 5 cm. gót. - J. Simon Diaz, Cuadernos Bibliográficos, Impresos Del XVI: Religión, Madrid, 1964, No. 6. Ebd. No. 7 - erschienen in Zaragoza. "... donde se pone lo que deuen guardar los que tienen el estado del matrimonio: y los eclesiásticos: y los religiosos, hombres y mugeres". Vgl. Díaz, Bibliografía Bd. 6, No. 2368. 17
Druck B v. I. 1529 - vgl. Albrecht, Besondere Einleitung in den Kl. Katechismus, W A 30 l,539ff.
Es enthält auf BI. 1-38' Erklärungen zum Credo, zum Dekalog, zum Septenar der Todsünden, zu den Werken der Barmherzigkeit, den fünf Sinnen, den 10 Geboten des kanonischen Rechts, dem Beichtsakrament und seinen Bedingungen und zum Vaterunser. Der 2. Teil Bl. 39 v -53 r enthält unter der Überschrift "Libro de doctrina moral" Verhaltens- und Erziehungsmaßregeln und eine Art Ständeethik.
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Stifter der "Santa capilla de la concepción de nuestra señora de sant Andrés de Jaén" bezeichnet und dürfte vor seiner Berufung an den päpstlichen Stuhl Bischof der ca. 100 km östlich von Córdoba gelegenen Provinzhauptstadt Jaén gewesen sein. Er hat einen dauernden Unterricht für Kinder und andere Lernwillige in Jaén eingerichtet, für den sein Buch als Leitfaden dienen soll. Er schreibt darin sogar die Einteilung des Katechismusunterrichtes vor. Dieses Katechismusbuch und der von González ins Leben gerufene Katechismusunterricht in Jaén sind in der durch den Verfall des Katechismusunterrichtes gekennzeichneten Epoche durchaus bemerkenswert" und mögen eine Auswirkung des Geistes der katholischen Reform in Spanien darstellen. Daß Luthers Katechismen einen Einfluß ausgeübt haben, ist sehr unwahrscheinlich, da man in Spanien in jener Zeit noch außerordentlich schlecht über die Vorgänge 20 in Deutschland informiert war. Außerdem verrät der Inhalt der Schrift keinerlei antireformatorischen Akzent. Selbst in Deutschland erschienen erst ab 1533 von Luthers Arbeiten auf diesem Gebiete angeregte katholische Katechismen von Erasmus, G. Witzel (1535) und Joh. Dietenberger (1537). Wie dieser Überblick zeigt, dürfte Ossunas Katechismus, der kein Beichtspiegel sein will, sondern der Förderung der christlichen Erziehung dienen soll, zu den frühesten spanischen Werken dieser Gattung gehören, wenn er nicht überhaupt der erste in dieser Intention verfaßte Katechismus ist, was sich angesichts der derzeitigen Forschungslage schwer mit Sicherheit feststellen läßt, da man nie sicher sein kann, daß die geprüften Bibliographien auch wirklich alle Quellen berücksichtigt haben. Eine kritische Gesamtausgabe der spanischen Katechismen des 16. Jahrhunderts, die etwa der von Cohrs entspräche,21 gibt es bislang nicht. Symptomatisch ist auch, daß z.B. in dem ansonsten recht gründlichen Artikel "Catechism" in der 1967 erschienenen New Catholic Encyclopedia (Bd. III, 225ff. G. S. Sloyan) spanische Katechismen des 16. Jahrhunderts überhaupt nicht erwähnt werden. Der Katechismus steht in Ossunas Werk keineswegs isoliert da. Er ist eingebettet in die Ständeethik des "Norte" und in vielfältige Bemühungen des Autors, die Glaubenslehre auch den Laien nahezubringen. Er hat schon 1527 im 3. ABC eine ausfuhrliche Erklärung des Paternoster vom Doppelgebot der Liebe her
Vgl. dazu die entsprechenden Äußerungen von Luther, Melanchthon, Jonas, Brenz u.a. bei Albrecht, Vorbemerkungen 466f. 20
Vgl. Ludwig Pfandl, "Das spanische Lutherbild des 16. Jhs.": HJ 1930, 472ff. Zur katechetischen Arbeit von Erasmus vgl.: Rudolf Padberg, Erasmus als Katechet, Freiburg 1956. 21
Vgl. Anm. 12.
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vorgetragen und ebd. eine andere von Franz von Assisi kommentiert. Weitere Erklärungen des Herrengebets finden sich im "Convite" und im 6. ABC.22 Im 3. ABC und besonders im 4. ABC hat er das Doppelgebot der Liebe eingehend ausgelegt sowie die Tugenden erklärt, im "Convite" ausfuhrlich die Eucharistie erläutert und im 5. ABC seine Ethik für Arme und Reiche entwickelt. Außerdem hat er vielfach sein Ideal der Bußtugend dargelegt. All dies tat er bewußt in der Landessprache. In den im Ausland in Latein erschienenen Predigtbänden finden sich keine Katechismuspredigten. Seine ethischen Bemühungen scheint der Spanier bewußt auf seine Landsleute konzentriert zu haben. Es ist nicht auszuschließen, daß Francisco in seiner Katechetik Anregungen von Johannes Gerson empfangen hat, den er in seinen Schriften sonst mit Vorliebe zitiert.23 Es soll hier nun keineswegs der Eindruck erweckt werden, als hätte das katechetische Interesse im Zentrum des Wirkens von Ossuna gestanden. Aber es gehört gleichsam in den Unterbau seines asketisch-mystischen Bemühens um eine Verinnerlichung der Frömmigkeit und um ein persönliches Gottesverhältnis mit dem Ziel einer totalen imitatio Christi. Diese von der Devotio moderna befruchtete asketisch-mystische Frömmigkeit sucht der Spanier unter Mönchen und Laien zu popularisieren, wenngleich er seine besondere Hochschätzung des Ordensstandes nicht verheimlichen kann. Denn trotz der von ihm angeregten freiwilligen Übernahme von monastischen Idealen durch die Weltchristen wie Armut, Enthaltsamkeit, Einsamkeit, dauernde Buße und geheime Gelübde, bleiben diese den Mönchen unterlegen, weil die von Francisco angestrebte Form der Devotio im Ordensstand in vollkommenerer Weise und mit größerer Verdienstlichkeit hervorgebracht werden kann.24 3. Bemerkungen zum Aufbau und zur Theologie von Ossunas Katechismus Wie sich aus seinen Schlußbemerkungen ergibt, hat Ossuna seinem Katechismus bewußt einen dreiteiligen Aufbau gegeben, dessen Teile sich folgendermaßen kennzeichnen lassen.
22
3. ABC, Trat. 16, c. 8, ebd. Trat. 13, c. 2; Convite - 25. gracia, Bl. 96"; 6. ABC, Pröl., Bl. 9r. Vgl. besonders Gerson, de parvulis ad Christum trahendis. Vgl. hierzu FdO, 170ff. Ossunas monastisches Ideal.
76
1) Glaubensinhalt:
Symbolum Apostolicum, sieben Sakramente, drei theologische Tugenden.
2) Positive Glaubenstat:
Dekalog, Kirchengebote, Werke der Barmherzigkeit.
3) Abwehrende Glaubenstat:
Kampf gegen die sieben peccata mortalia, die Versuchungen der fünf Sinne und gegen die drei Feinde: Teufel, Welt und Fleisch.
Der Aufbau von Franciscos Katechismus - übrigens in anderer Weise auch derjenige seines Landsmanns González25 - weicht mithin erheblich von der seit Mitte des 15. Jahrhunderts üblichen Form ab, in der als Hauptstücke Vaterunser, Ave Maria, Glaube und Dekalog aufeinander folgen, während nebenher andere Lehrstücke wie die Seligpreisungen, die Todsünden, die Werke der Barmherzigkeit und andere Stücke Eingang gefunden haben.26 Während Luther den Aufriß seiner Katechismen am Schema Gesetz und Evangelium orientiert, erreicht Ossuna durch die Dreigliederung in Glaube, aus dem Glauben erwachsende Tat und Erkenntnis der Sünden eine bemerkenswerte innere Verbindung der einzelnen Stücke im Aufbau seines Katechismus. Wie der ganze "Norte", so ist auch der Katechismus in Dialogform im Stile der Diatribe gehalten.27 Ein vollständiges Bild von jedem Topos erhält man also nur, wenn man die Erklärung des Autors mit der Antwort des fiktiven Neffen Villa señor (V. s.) zusammen betrachtet. Denn der Neffe stellt vielfach nicht nur Fragen, sondern rekapituliert das Gehörte mit beachtenswerten Nuancen. Francisco arbeitet im Gegensatz zu Luthers Verfahren im Kleinen Katechismus nicht mit Verhörs- oder Examensfragen. Sein Katechismus ist nicht für die Hand der Kinder, sondern für die der Hausväter bestimmt, die er instandsetzen will, christlichen Elementarunterricht zu erteilen. Mehr Wert als auf das Abfragen der Kinder legt der Andalusier auf deren Einleben in das Christentum, das die Väter genau kontrollieren sollen.28 25
Vgl. Anm. 18.
26
Joh. Bauer, "Katechismus. I Geschichtlich": RGG 2III, Sp. 654.
27
In der populären und pädagogischen Literatur des Spät-MA gab es zahlreiche Schriften in Dialogform, "wo das Kind oder der Jünger fragt, der Meister aber antwortet", und zwar auch in der Katechismusliteratur des 16. Jhs. - vgl. Albrecht, a.a.O., 543. Vgl. Schlußbemerkungen im Katechismus (im folgenden stets abgekürzt = K).
77
Betrachten wir nun die wichtigsten Stücke von Ossunas Katechismus. Ad l: Das Apostolicum Den Text des Credo und des am Schluß des Katechismus gegen Versuchungen empfohlenen Vaterunsers setzt Francisco als in der Volkssprache bekannt voraus, da beide schon oft gedruckt sind.29 Er bringt seine Erklärung in zwölf Abschnitten entsprechend der etwa seit dem 5. Jahrhundert üblichen Zwölfteilung des Apostolicums.30 Im Gegensatz zu González erwähnt er allerdings die einzelnen Apostel nicht, auf die die zwölf Artikel in der patristischen Tradition zurückgeführt werden.31 Durch seine imperativische Fassung der Erklärung der zwölf Artikel legt Ossuna starken Nachdruck auf die fides histórica. Aber wie die Antwort von Villa señor zeigt, bleibt er nicht beim extra nos stehen, sondern betont auch das pro nobis bzw. pro me. Die in der ersten Person formulierte Antwort erhält einen besonderen Akzent dadurch, daß in ihr der Glaube an Gott in Gebetsform bekannt, also Gott in der zweiten Person angeredet wird. Nebenbei bemerkt läßt sich die Antwort unschwer in drei Teile gliedern, wie der Abdruck zeigt. Im 1. Art., "de Deo", bemüht sich der spanische Mendikant, eine Trennung zwischen Gott dem Schöpfer und dem Erlöser zu vermeiden, indem er das Vatersein Gottes sogleich definiert als natürliche Vaterschaft Jesu Christi und als schöpferische Vaterschaft des Menschen. Und schon aus der Tatsache, daß Gott sein Schöpfer ist, gewinnt Villa señor die Zuversicht, daß er ihn auch erlösen werde. Diese starke Erlösungszuversicht steht allerdings in einer gewissen Spannung zur Betonung der Allmacht Gottes, die nach dem Kontext im skotischen Sinne als absolute Freiheit Gottes zu verstehen ist, mit der Gott über die acceptatio oder reprobatio des Menschen entscheidet.32 Besonderer Ausdruck der Allmacht Gottes ist als extra me die creatio ex nihilo und als pro me die Zu-
29 Norte Bl. 5 - vgl. Ros, a.a.O., 270. Vgl. Cohrs 4, 358ff. Die Einteilung in 12 Artikel ist zuerst in einer Auslegung von Rufinus aus dem Jahre 404 überliefert. Schon Justin und Irenäus kannten indes eine Einteilung in drei Art., die später vergessen und erst von Luther wieder aufgenommen worden ist - vgl. A. Adam, "Apostolikum": RGGM, Sp. 510. 3 ' González (= G), a.a.O., Bl. 5 v ff. 32 Vgl. FdO, Die Frage der Prädestination, 191ff.
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versieht, daß Gott meine Bitten nicht nur erhören kann, sondern auch erhören wird, da er mein Vater ist. Die Art. 2-7 sind in der Fassung des Autors vorwiegend christologisch in der Antwort des Neffen hingegen überwiegend soteriologisch bestimmt. Dssuna versucht die Herkunft des Sohnes aus dem Vater im Bilde des Lichtstrails, der von der Sonne ausgeht, und im Bilde des Flusses, der aus der Quelle entspringt, zu veranschaulichen. Er betont das nikänische vere Deus et vere homo. Er nennt Jesus in bewußter Paradoxie einerseits den Vater der Christen, um ihnen augenfällig zu machen, daß sie alle Brüder seien (2. Art.), und andererseits ihren Bruder, um Christi Richteramt etwas von seiner Bedrohlichkeit zu nehmen (vgl. Antwort ad Art. 2-7). Ohne alle Einzelheiten von Franciscos Apostolicumserklärung hier korrmentieren zu wollen, sei noch besonders auf die mariologischen Aspekte im 3. Art. hingewiesen. Obgleich im Credo nur von Marias Jungfräulichkeit in pertu die Rede ist, erhebt der Franziskaner entsprechend der Tradition seines Ordens Marias Virginität in partu et post partum, die zuerst von Hieronymus ir. seiner Schrift "Adversus Helvedium, de perpetua virginitate Beatae Mariae' (MPL 23,181ff.), behauptet worden ist, zum heilsnotwendigen Glaubenssatz. Noch gravierender ist die mariologische Komponente, die Ossuna seiner Soteriologie inkorporiert hat. Sie besteht in der Feststellung von Villa señor, daß die Gnade, die der Christ für seine geistliche Wiedergeburt benötigt, von Maria ausgeht, und zwar einzig aus dem Grund, weil auch Jesus aus Maria geboren ist! An anderer Stelle kann der spanische Observant sogar sagen, daß Gott alle Gnaden durch die Hände Marias erweist. Konsequenterweise nennt er sie dann auch "media inter coelum et terram".33 Daß Ossuna entgegen der spätmittelalterlijhen Tradition, der auch González folgt, das Ave Maria34, das gerade unter dem Einfluß der Bettelorden in die Katechismen eingedrungen ist, nicht eigens in seinen Katechismus aufgenommen hat, besagt angesichts seiner Vorliebe für die Mariologie gar nichts, schärft er doch an anderer Stelle im "Norte" Villa señor ein, daß sein Sohn jeden Morgen kniend Credo, Paternoster, Ave Maria und Salve Regina beten müsse.35 Ferner sei anmerkungsweise erwähnt, daß alle von ihm veröffentlichten Predigten mit einer eine bis anderthalb Seiten langen Invo:atio ad Beatam Virginem beginnen, die mit dem Ave Maria endet.
33
Vgl. FdO, Überblick über Ossunas Mariologie 386ff. + dort Anm. 42 + 46.
34
F. Cohrs, "Katechismen": RE J , Bd. 10, 137.
3
5 Bl. 4.
79
Im 5. Art. trifft das spanische Wort "infierno" nicht genau den Sinn des lateinischen inferí, da es Hölle oder Unterwelt bedeuten kann. Ossuna definiert diesen Begriff, den man bei der interkonfessionellen neuen deutschen Übersetzung des Apostolicums jetzt mit "Reich des Todes" wiedergeben will,36 entsprechend der thomistischen Tradition durch den Terminus Limbus37 als Verwahrungsort der vor Christi Erlösungstat gestorbenen Gerechten des Alten Bundes. Gemäß der Antwort von V. s. scheint er auch anzunehmen, daß die Seelen der gestorbenen Christen zunächst in den Limbus hinabstiegen. Bemerkenswert ist indes, daß er nicht bei einer Historisierung der Höllenfahrt Christi stehen bleibt, sondern aus ihr die Gewißheit gewinnt, daß Christus auch seine Seele aus dem Limbus erretten werde. Im 8. Art. erwähnt Francisco die Taufe zwar nicht expressis verbis, aber im Kontext seiner Theologie bezieht sich seine Bemerkung, daß Christus, der Richter und Bruder der Christen, ihnen den Heiligen Geist gegeben habe, auf die Geistverleihung in der Taufe.38 Er versteht den Heiligen Geist als Kraft der göttlichen Liebe, die Vergebung schenkt und Heiligung bewirkt. Im 9. Art. fällt auf, daß Ossuna wie schon Surgant in seinem "Manuale Curatorum" (1503) statt "katholische Kirche" "christliche Kirche" schreibt, und zwar im Gegensatz zu González.39 Auch erwähnt er anders als beispielsweise Dietenberger den Papst als irdischen Statthalter Christi nicht.40 Daraus dürfen allerdings keine voreiligen Schlüsse gezogen werden, denn der Spanier bejaht die Institution des Papsttums.41 Dennoch bleibt es bemerkenswert, daß er 1529, als ihm die reformatorische Kritik des Papsttums von Hörensagen bekannt gewesen
Vgl. H. v. Schade, "Das Glaubensbekenntnis neu übersetzt": Lutherische Monatshefte, Jg. 8 (1965). 37 G. spricht ebenfalls von Limbus und fügt als Erklärung Schoß Abrahams hinzu. 38
Vgl. FdO, Die Bedeutung der Taufe, 252ff., besonders 256.
Von Ossuna haben wir zwar nicht den Text des Credo in Landessprache, da er ihn als bekannt voraussetzt, doch dürfte die einleitende Formulierung seiner Erklärung - Has de creer por lo semejante lo noveno a la santa iglesia cristiana - mit dem ihm geläufigen Text übereinstimmen, herrscht doch auch bei G. wörtliche Übereinstimmung zwischen dem Credotext Bl. 6' und dem Beginn seiner Erklärung Bl. 9': Creo la santa iglesia catölica. Vgl. Christoph Moufang, Katholische Katechismen des 16. Jhs. in deutscher Sprache, 1. Aufl. 1881, 2. Aufl. 1964, 28. Auch G., a.a.O., Bl. 9' erwähnt den Papst nicht, sondern begründet nur die Universalität der katholischen Kirche. 4
' Vgl. FdO, Ossunas Haltung gegenüber dem Papsttum, 413fF. Daß die Kirche auch ein sichtbares Oberhaupt auf Erden hat und daß sie hierarchisch gegliedert ist, wird allerdings auch in deutschen Katechismen jener Zeit meist nicht sonderlich betont - vgl. Martin Ramsauer, "Die Kirche in den Katechismen": ZKTh 73 (1951), 129ff. - besonders 132.
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sein muß,42 es nicht für nötig hielt, es an dieser Stelle zu verteidigen. Er betont stattdessen den bischöflich-kollegialen Aspekt geistlicher Vollmacht und die Verbindlichkeit des bischöflichen Lehramts.43 Mit wohl gegen die reformatorische Bewegung gerichteter Spitze hebt er dann hervor, daß zur Gemeinschaft der Heiligen hier auf der Erde nur diejenigen gehören, die im Schöße der heiligen katholischen Kirche bleiben, "die zusammen sind, umfangen und vereint in der Liebe". Sanctorum communio ist also kein selbständiges Bekenntnisglied neben der ecclesia wie remissio und resurrectio, das wahrscheinlich ursprünglich in der griechischen Fassung der Ostkirche die Gemeinschaft an den Heilsgaben (sancta) des eucharistischen Tisches bezeichnete,44 sondern wird personal (sancti) und appositionell verstanden. Der Zusatz sanctorum communio ist für Francisco eine Wesensbestimmung der "santa iglesia catölica", die er mit der lateinisch-römischen Kirche identifiziert. Außerhalb derselben gibt es keine sanctorum communio und demzufolge wohl auch keine sancti. Anzumerken bleibt immerhin, daß Ossuna mit sancti nicht nur die "Heiligen" im spezifisch katholischen Sinne meint, auch nicht nur die defuncti, sondern im neutestamentlichen Sinne, die vom Heiligen Geist Geheiligten, die teilhaben "an der Liebe und Vergebung der Sünden". Es ist bezeichnend für Ossuna, der mit seiner Passions- und Wundenfrömmigkeit den Gläubigen einen direkten Zugang zu Gott eröffnen möchte, daß er im 10. Art. die Vergebung der Sünden nicht an die kirchliche Schlüsselgewalt bindet,45 sondern als einzige Vorbedingung der Vergebung das Ablassen von der Sünde und die reuevolle an Gott gerichtete Bitte um Verzeihung verlangt. Für den Glaubensbegriff des Spaniers ist seine Unterscheidung zwischen fides implicita und fides explicita wichtig, wie sie sich aus dem letzten Satz zu Art. 9 und dem Beginn von Art. 12 ergibt. Die Unterscheidung beider Glaubensarten ist seit etwa 1200 üblich.46 Wie Thomas verlangt Francisco fides explicita für das apostolische Symbol, was seine Imperative hinlänglich zeigen.47 Aber wäh42
FdO. 416ff.
43
Vgl. auch ebd., 414.
44
Vgl. Werner Eiert, "Die Herkunft der Formel Sanctorum communio": ThLZ 74 (1949), 578ff.
Vgl. dagegen Dietenberger, Moufang, a.a.O., 30. G. betont Bl. 9', daß die universale kath. Kirche die Sündenvergebung habe. Die Sakramente sind Instrumente der Heiligung und folglich der Sündenvergebung. 46
Vgl. A. Ritsehl, Fides implicita, Bonn 1890,4ff.
47
S. th. II, 2 q 2 a 5 resp. - vgl. FdO IV F Anm. 14.
81
rend man bei der römischen Kirche des Spätmittelalters mit ihrem ergistischen und nomistischen Wesen nur ein geringes Interesse an der fides explícita der Laien erkennen kann,48 erhöhte Ossuna in seinem Bemühen, dem Volk die Hauptfragen des Glaubens in seiner Sprache verständlich zu machen, die Anforderungen an die fides explícita gegenüber anderen Praktikern und Nominalisten seiner Zeit wesentlich.49 Er verlangt fides explícita für die sieben Sakramente und die drei theologischen Tugenden50. Fides implícita genügt also nur für solche Glaubensgeheimnisse, die der Andalusier nicht erklärt, nicht aber für solche, die er erläutert, wie er in seinem Buch über die Eucharistie bemerkt.51 In seinem Bestreben, die fides explícita auszuweiten, kann er soweit gehen, auch das Maß der göttlichen Gnade von dem Maß des als assensus verstandenen Glaubens abhängig zu machen, so daß fides ganz ungeschützt als Kompendium kirchlicher Lehren, die man für wahr halten muß, verstanden werden kann. Die Kluft zwischen scientia und sapientia muß im Glauben nötigenfalls durch ein sacrificium intellectus überbrückt werden. Das aus Ossunas Devotio und Theologie nicht wegzudenkende facere quod in se est spielt mithin ebenfalls beim Glauben eine Rolle.52 Die sieben Sakramente Da Francisco die Sakramente zur fides explícita rechnet, muß er sie auch erklären, was er hier freilich nur in aller Kürze tut. Wenn auch Cohrs' Behauptung, daß die Sakramente in den Katechismen des Spätmittelalters nicht erklärt würden, weil die Kirche von den Laien nur verlangt habe, daß sie imstande sein müßten, die sieben Sakramente aufzuzählen, 53 so verallgemeinernd nicht zutrifft, so scheint andererseits ihre Erklärung in den Katechismen auch nicht die Regel gewesen zu sein. Der Christenspiegel von Dederich von Münster z.B. hat als Beichtspiegel aus naheliegenden Gründen nur ein Kapitel über die Beichte,54 genauso González, der die übrigen Sakramente nur aufzählt. Ossuna und Gon48
Theodosius Hamack, Katechetik, Erlangen 1882, 66.
Vgl. z.B. die Anforderungen an die fides explicita bei Innozenz III - A. Ritsehl, a.a.O., 10, weitere Belege bei Hamack, DG III, 1910, 507, Anm. 1. 50
Norte Bl. 93v-94'.
51
Convite, 5. gracia, Bl. 18\
52
Vgl. im einzelnen FdO, Der Glaubensbegriff Ossunas, 372ff„ bes. 379f.
Cohrs, a.a.O., 4, 269, vgl. dagegen Albrecht, a.a.O., 445, der auf die Hymelstraß, Der Seele Trost und Joh. Herolts, Discipulus de eruditione Christi fidelium hinweist, wo die Sakramente erklärt werden. Vgl. Moufang, a.a.O.
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zález gliedern die Sakramente in fünf heilsnotwendige und zwei nur besondere Personengruppen betreffende. Aber während die Reihenfolge bei González genau mit der später in Trient festgelegten übereinstimmt, stellt Francisco die Buße der Eucharistie voran, was nicht zuletzt daran liegen wird, daß er das Bußsakrament nur als eine Art Vorspann zur Eucharistie ansieht.55 In seiner Vorbemerkung zu den Sakramenten unterscheidet der Andalusier in der augustinischen Tradition scharf zwischen dem äußeren Sakramentsgeschehen und der es begleitenden göttlichen Tat an der Seele.56 Er übersetzt an anderer Stelle den Begriff Sakrament als "Zeichen einer geheiligten Sache", das sowohl die Gnade darstellt, die es vermittelt, als auch das Leiden des Herrn, durch das es seine Kraft erhalten hat. Seine Kreuzesmystik relativiert gleichzeitig wieder den Sakramentsbegriff. Denn durch jede Art der Betrachtung des Leidens Christi erlangt der Gläubige Gnade. Und alles, was mit dem Kreuz Christi zusammenhängt, hat den Charakter eines Mysteriums oder Sakraments.57 So ist es in diesem Denkschema nur folgerichtig, daß Ossuna neben der Wassertaufe noch andere fast gleichwertige Taufen mehr oder weniger mystischen Charakters kennt und neben dem Bußsakrament die noch höher geschätzte Bußtugend als christliche Grundhaltung, sowie neben der effektiven auch die sehr wertvolle geistige Kommunion. Ein derartiges Bild vom Sakramentsverständnis des spanischen Bettelmönchs erhält der Leser des ganz volkstümlich angelegten "Norte" allerdings nicht. Er erfährt nur, daß die Wassertaufe nach ältester christliche Tradition eine Abwaschung zur Vergebung der Sünden darstellt, und zwar sowohl der Aktualsünden als auch der Erbsünde, die Ossuna umschreibend erwähnt. Francisco versteht die Sündenvergebung nicht im neutestamentlichen Sinne als gnadenhafte Schuldbefreiung, die der Mensch geistig erlebt, sondern als einen gleichsam physischen Akt, der eine reale Sündentilgung bewirkt, wie aus Parallelen deutlich wird.58 Seine sonst keineswegs eindeutige Auffassung der Beichtbuße bringt Francisco hier auf die Formel: confessio - contritio - satisfactio. Betrachtet man sie isoliert, so kann sie nichts anderes bedeuten, als daß attritio, bloßes Mißfallen an
FdO, 370. Das einzige, was G. zu den Sakramenten sagt, ist, daß sie bis auf Taufe, Firmung und Weihe alle wiederholbar sind - Bl. 6". 56
Zu Augustin s. Seeberg, DG II, 448.
57
2. ABC, Trat. 17, c. 1,BI. 125'.
58
FdO, 252ff.
83
den Sünden, als Vorbedingung zur sakramentalen Beichte ausreicht. Durch die confessio, also kraft sakramentaler Wirkung, wird aus der attritio dann contritio, Herzensreue.59 Damit liegt der Spanier praktisch auf der Linie von Duns Scotus. In diese Richtung weist auch ein Zitat des doctor subtilis, das Ossuna 1530 in seinem 4. ABC bringt.60 Ossunas Auffassung ist in dieser Frage allerdings sehr schwankend, so daß diesbezüglich auf eine ausfuhrliche Erörterung andernorts verwiesen werden muß.61 Die für Francisco typische Spannung zwischen der außersakramentalen Bußtugend und dem Bußsakrament wird auch andeutungsweise in seinem kurzen Katechismus sichtbar, und zwar aus einem Vergleich seiner Erklärung des 10. Art. und des Bußsakraments. In seiner kurzen Bemerkung zur Eucharistie setzt sich der Andalusier nur von einem symbolischen Abendmahlsverständnis ab. Er versteht die reale Gegenwart Christi in den Altargaben physisch.62 Erstaunlich ist, daß er mit keinem Wort seine Vorliebe für die häufige Kommunion erwähnt, die er bahnbrechend als erster spanischer Theologe des 16. Jahrhunderts öffentlich vertrat.63 Möglicherweise hat er von 1529-1531 noch eine innere Entwicklung in Richtung auf die mystische Hochschätzung der Eucharistie durchgemacht, oder er hat es für richtiger befunden, diesen wichtigen Punkt erst ausführlich begründet im "Convite" vorzutragen. Beim Ehesakrament spricht Ossuna entsprechend seiner Vorliebe für die Virginität mit einem gewissen Understatement davon, daß es vollzogen wird, "wenn einige heiraten", als ob er ergänzen wollte: wenn sie es auch besser lassen würden. Obgleich die Ehe ein Sakrament ist und die Jungfräulichkeit nicht, ist er überzeugt, daß die Ehe nur dem Nicht-Sündigen entspricht, die Virginität aber dem Gutes-Tun, wie denn auch im Paradies vor dem Sündenfall die Virginität herrschte.64 G. BI. 24v hingegen verlangt deutlich contritio als Vorbedingung zur Beichte, durch die andere Stellung der Trias: Contrición en el corazón, confesión por su misma boca, satisfacción por obra. 4. ABC c. 46,641 - Místicos Franciscanos Españoles I, Madrid 1948. FdO, Ossunas Auffassung von Buße, Beichte und Ablaß, 314ff. 62
FdO, Ossunas Verständnis der Eucharistie, 340ff., bes. 344f.
63
Ebd., 361ff.
Vgl. FdO, 165ff. - Die Virginität ... Die Bewertung von Ehe und Virginität findet sich bei Hieronymus, Adv. Jov. 1,13. Die Ansicht, daß im Paradies das Prinzip der Virginität herrschte, ist schon von Chrysostomus, Gregor von Nyssa und Hieronymus vertreten worden. Hieronymus Ep. 22,19, Gregor, Orat. catech., c. 5 und de opif. hominis - vgl. B. Lohse, Mönchtum und Reformation, Göttingen 1963, 51, Anm. 42. Zu Chrysostomus vgl. O. Zöckler, Die Lehre vom Urständ des Menschen, Gütersloh 1879,11.
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Die drei theologischen Tugenden Die drei theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe sind für den Spanier keine positive Ersatzform für den Dekalog wie in manchen mittelalterlichen Beichtspiegeln,65 sondern Bestandteile der fides explicita. Er bemerkt andernorts, daß diese Trias von Gott aus gesehen immer eine Einheit bilde, für den Menschen hingegen eher als eine Addition von drei Gaben des Heiligen Geistes wirke. Sie werden in der Taufe eingegossen66 und stärken die drei Kräfte der Seele. Ossuna kann die drei Gaben dann auch auf die drei Personen der Trinität verteilen. Ad 2: Während "Luther im Kleinen Katechismus die einzelnen Hauptstücke äußerlich ganz unverbunden, gleichsam wie Blöcke nebeneinandergestellt hat"67, bemüht sich der Spanier, die Stücke durch kurze Überleitungen zu verbinden. Intention, Worte und Gedanken des Christen müssen im Zeichen des Kreuzes stehen, das ist Glaube. Und sie finden ihren Ausdruck in der mit ihnen korrespondierenden Tat. Die Tat muß sich ausrichten nach der Trias Dekalog, Gebote des kanonischen Kirchenrechts und Werke der Barmherzigkeit. Der Dekalog Der Dekalog ist im 13. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Beichtinstitut allmählich zu einem festen Lehrstück des Katechismus geworden. 68 Schon die Stellung des Dekalogs im zweiten Teil des Katechismus zeigt indes, daß Ossuna ihn nicht speziell als Beichtspiegel verstanden wissen will. Der usus elenchticus tritt ganz zurück hinter den tertius usus legis. Der Dekalog stellt einen Leitfaden christlicher Sittlichkeit dar. Zur Sündenüberführung dient stattdessen die Me65
Vgl. E. Chr. Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie, Leipzig, 3. Aufl. 1911, Bd. II, 387. Luther führte umgekehrt eine Reduktion auf den Dekalog durch, indem er den mittelalterlichen Überlieferungsstoff kritisch sichtete. Die 5 Sinne sah er im 5. + 6. Gebot eingeschlossen, die Werke der Barmherzigkeit im 5. + 7. Gebot, die Todsünden Hoffart im 1. + 2., Unkeuschheit im 6., Zom und Haß im 5., Fraß im 6., "Trägheit im 3. und wohl in allen" Geboten - WA 7,211,28ff. (1520), zitiert nach Albrecht, a.a.O., 435. Diese Reduktion der Todsünden ist keineswegs völlig neu. G. Bl. 12' erwähnt sie unter Verweis auf Alexander von Haies, und zwar folgendermaßen: Zustimmung zu Sünden ist im 1. Gebot verboten, Neid und Zorn im 5., Akedie im 3., Geiz im 7., Fleischeslust und Völlerei im 6. 66 FdO, 256. 67 E. W. Kohls, Der Evangelische Katechismus von Gengenbach, Heidelberg 1960, 10. 68 Albrecht, a.a.O., 434, der früheste mittelalterliche Katechismus, der eine Behandlung des Dekalogs enthält, ist das Speculum ecclesiae des Erzbischofs Edmund von Canterbury ( t 1246) - H. W. Surkau, "Katechismus": RGG J III, 1179-1186, Sp. 1182.
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ditation über das Septenar der Todsünden, über die Versuchungen der Sinne und über die Feinde Teufel, Welt und Fleisch. Francisco fuhrt den Dekalog in der im Mittelalter gekürzten und christianisierten Form auf, also unter Weglassung des Bilderverbotes, entsprechender Kürzung des 3. und 4. Gebotes und Einführung des Begriffes Feiertag statt Sabbat, aber ohne Zählung der Gebote. Aus dem Vergleich der spanischen Fassungen des Dekalogs von Francisco und González ergibt sich, daß es offenbar im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts in Spanien keine festgeprägte Sprachform für den Dekalog gab. So zählt Ossuna die Gebote im Infinitiv auf, González in der 2. ps. sg. fut., was am ehesten dem hebräischen Original entspricht.69 Auch einzelne Begriffe wechseln bei beiden.70 Im Gegensatz zu González stellt Francisco das 6. und 7. Gebot aus nicht ersichtlichen Gründen um. Das 8. Gebot hat bei ihm eine fehlerhafte Form. Die Auslassung von "falsch" vor Zeugnis mag entweder durch seine eigene Flüchtigkeit oder durch einen Druckfehler bedingt sein. Das 1. Gebot, das Ossuna in bemerkenswerter Freiheit durch das Gebot der Gottesliebe ersetzt hat,71 kommentiert er am ausfuhrlichsten. Er versteht nämlich den ganzen Dekalog als Setzung der Liebe Gottes72 und deckt den Mangel an Gottesliebe als wahre Quelle aller Sünden auf.73 Deshalb verlangt er absolute Hingabe des Menschen an Gott und ein uneigennütziges Gottvertrauen, das den Christen dazu befähigt, Gutes und Schlechtes geduldig aus Gottes Hand zu empfangen. Die Gottesliebe muß darin gipfeln, daß der Gläubige alles für wohlgetan hält, was Gott tut, auch wenn er ihn tötet und verdammt. Faktisch verlangt der spanische Mystiker damit nichts anderes als die resignatio ad itifernum, die auch Luther bis zum Anfang der zwanziger Jahre mehrfach erwähnt, aber später vom Durchschnittschristen nicht mehr zu fordern wagt.74
69
A.a.O., Bl. 6'. G. hat übrigens die Zählung der Gebote. 0 Ossuna schreibt beim 8. Gebot "no levantar testimonio", G. dagegen richtig: "no diras falso testimonio contra tu pröximo". Beim 9. Gebot schreibt Ossuna "fremdes" und G. "verheiratetes" Weib, entsprechend Ossuna beim 10. "fremde Sachen" und G. ,"die Sachen deines Nächsten". Für non moechaberis von Vulg. setzen beide "fomicar", für non furtum facies nimmt Ossuna "no hurtar", also das spanische Äquivalent, und G. "no furtaras", die alte Form von hurtar. 7
7
' Eine ganz ähnliche Fassung hat das 1. Gebot in Dederichs Christenspiegel: "Boven alle dynk haiff lief eynen got" - Moufang, a.a.O., 9. 72
3. ABC, Trat. 16, c. 7 - 503-504 - vgl. Mirs Neuauflage des 3. ABC, 1911.
73
2. ABC, Trat. 20, c. 1, Bl. 161*. Vgl. FdO, Das Rätsel der praedestinatio ad poenam und die resignatio ad infemum, 196ff.
86
Bei Ossuna begegnet der Gedanke der resignatio ad infernum erstmals 1527 im 3. ABC, wo er weniger befremdlich wirkt, da die Lehre der oratio recollectionis sich an die in Askese und Mystik am weitesten Fortgeschrittenen wendet, während der Katechismus für Hausväter und Kinder bestimmt ist. Der gemeinsame Hintergrund von Luther und Francisco ist die Mystik, in der z.B. bei Tauler und beim Verfasser der Theologia Deutsch der Gedanke der resignatio ad infernum vorkommt.75 Während indes Karl Holl meint, daß in der Mystik jener Verzicht "nur eine 'Übung', ein frommes 'Spiel' sei, bei dem man heimlich ganz sicher weiß, daß es doch nicht ernst wird", muß man Ossuna die Ernsthaftigkeit dieses Gedankens zubilligen. Er bleibt anders als Luther, für den der Vollzug dieses Gedankens letztlich doch unmöglich wird, weil er aus der völligen Ergebung in Gottes Willen zu einer Heilsgewißheit kommt, vor dem Rätsel der möglichen Verdammung stehen. Ganz menschlich und zugleich seinem mystischen Ideal entsprechend bittet er Gott, ihm im Falle der reprobatio doch wenigstens in diesem Leben einigen Genuß seiner Herrlichkeit empfinden zu lassen.76 Die Auslegung der Gebote weist im übrigen keine hervorstechenden Besonderheiten auf, so daß auf eine Kommentierung verzichtet werden kann. Genau wie González faßt Francisco das 9. und 10. Gebot zusammen. Er interpretiert das Nicht-Begehren zutreffend als gut sein im Innern des Herzens.77 Die Kirchengebote scheint der Andalusier weitgehend als bekannt vorauszusetzen, denn er führt sie nicht so vollständig auf wie sein Landsmann, der sie analog zum Dekalog in ein Zehnerschema gebracht hat.78 Ad 3: Abschließend soll noch das Septenar der Todsünden und Ossunas Hamartiologie kurz beleuchtet werden. Das Septenar der vitia principalia stammt von Gregor d. Gr.79 und wurde wesentlich durch Petrus Lombardus und die Beichtpraxis des Hochmittelalters
K. Holl, Die Rechtfertigung in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit, Ges. Aufsätze, Bd. I, Luther, Tübingen '1948, 111-154, 150. 76
ABC, Trat. 5, c. 4, 374 - vgl. FdO 198.
77
G. hingegen setzt codiciar mit concupiscencia gleich (vgl. Ex 20,17 Vulg.) und erläutert unter Verweis auf Alex. v. Haies mit apetito desordenado, apetito sensitivo und apetito razonable. 78
A.a.O., Bl. VI*
79
Zur Vorgeschichte vgl. FdO, 241 ff.
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eingebürgert. 80 Die von Gregor stammende Reihenfolge der fünf vitia spiritualia und der zwei vitia carnalia wurde dann später von Heinrich von Ostia und Thomas von Aquin so abgeändert, daß die Anfangsbuchstaben der vitia das akrostichische Denkwort SALIGIA ergaben: superbia, acedia, luxuria, ira, gula, invidia, avaritia. In der mystischen Literatur des Spätmittelalters bürgerte sich nach dem populären Sprachgebrauch die Bezeichnung Todsünde ein. Die seit Heinrich von Ostia traditionelle Reihenfolge der vitia principalia wurde nicht mehr genau beachtet. Francisco kann sogar ganz andere Sündenreihen als Tod- oder Hauptsünden bezeichnen. Im "Norte" findet sich das Septenar zweimal. In Bl. 83r zählt er die Todsünden beinahe in der SALIGIA-Folge auf, vertauscht nur wie der Aquinat die Stellung von acedia und avaritia.8I Im Katechismus hingegen hat er noch zusätzlich invidia und ira in der Reihenfolge ausgetauscht. Auffälligerweise zählt González das Septenar in ebenjener Weise auf.82 Er behandelt die Todsünden im übrigen wesentlich ausführlicher und leitet von jeder Todsünde noch eine Anzahl "Tochtersünden" ab.83 Die Erklärungen Ossunas zum Septenar der Todsünden, zu den fünf Sinnen und den drei größten Feinden vermitteln nur einen unzulänglichen Eindruck von seiner Hamartiologie, die hier nicht in extenso entfaltet werden kann.84 Nur Folgendes sei angemerkt: Während Paulus den Menschen unter die Sünde verknechtet sieht, versteht der spanische Mystiker die Sünde als eine heilbare Krankheit, die das Menschsein nicht bis ins Letzte prägt. Für seine Mystik ist ein solches Sündenverständnis eine unerläßliche Voraussetzung. Denn die Annahme der Möglichkeit einer unio der Seele mit Gott geht davon aus, daß die Seele durch die via purgativa von Sünden und päthos gereinigt und durch Gottes Gnade wieder in ihrem ursprünglich guten Wesen hergestellt werden kann, so daß sie praktisch der Fesseln des Kerkers des Leibes ledig wird. Sein Streben nach apátheia führt Francisco nicht zu einer Ermäßigung des Sündenverständnisses, sondern zu einer erheblichen Verschärfung. Sein Rigorismus läßt sich sowohl bei der Beurteilung des peccatum veníale wie auch des peccatum mor-
RE 10, 737 Katechismen - F. Cohrs, vgl. auch C. A. G. von Zezschwitz, System der christlichkirchlichen Katechetik, 1872ff., Bd. II, 266ff. Schon die catechesis theotisca, der Weißenburger Katechismus aus dem 9. Jh., enthält eine Aufzählung von 20 Hauptsünden (peccata criminalia) - vgl. Achelis, a.a.O., 388. S. th. 2 q 84 a 4 concl. Der Aquinat kümmert sich sonst allerdings auch nicht um die Reihenfolge und erwähnt das Merkwort SALIGIA nicht - Zöckler, a.a.O., III, 84. Bl. 6'. Die 7. Todsünde ist "accidia o pereza". 83
Bl. 15'-22\ FdO, Die Hamartiologie Ossunas, 224ff.
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tale beobachten. So erweitert er die Fassung des Begriffs peccatum mortale durch die Aufnahme der altlateinischen Tradition, nach der jeder Verstoß gegen den Dekalog eine Todsünde ist, und er vertieft den Begriff dadurch, daß er auf die Wurzel der Sünde hinweist: den Bruch der Liebe Gottes. Andererseits bemüht er sich gemäß seiner Auffassung von der Heilbarkeit der Sünden um eine klare Eingrenzung der Aktualsünden. Eine Aktualsünde liegt für ihn dann vor, wenn man innerlich einer sündhaften Regung zugestimmt hat. Das liberum arbitrium setzt seine mit der Möglichkeit der Heilung rechnende Anthropologie natürlich voraus. Denn nur deshalb kann er hoffen, auch des peccatum veniale Herr zu werden, das schon durch kleine Regungen der Phantasie eintreten kann. Ohne einen klar umgrenzten Sündenbegriff wäre ein nachkontrollierbarer Fortschritt auf dem Wege zur Vollkommenheit undenkbar. Vollkommenheit aber ist für Ossuna auch der Zielpunkt des Katechismus, d.h. des grundlegenden christlichen Unterrichts, der sein Ziel in der alten Kirche in der Taufe, im späteren Mittelalter in der Beichte und bei Luther im Altarsakrament hatte.85 4. Der Text von Ossunas Katechismus in deutscher Übersetzung86 Franciscos Glaubenslehre beginnt mit der Erklärung der zwölf Artikel des Symbolum Apostolicum: Der Autor: Der Glaube ist das Fundament der Christenheit und du glaubst, wenn du erkennst, daß alles Gute von deinem Gott kommt und wenn du ihm nichts Böses zutraust, noch ihm etwas zuschreibst, was einen widrigen Nachgeschmack zu haben scheint, noch von ihm Gründe und Argumente verlangst für das, was er uns offenbart hat, denn er kann nicht lügen. Eine Debatte über seine Worte ist nicht zulässig. Denn weil sie von ihm kommen, haben sie vollste Autorität. (1) Auf diese Weise mußt du also erstens glauben an einen Gott, Vater Jesu Christi, seines Sohnes, von Natur aus und dein Vater kraft der Schöpfung, denn er hat dich geschaffen. Und er hat aus dem Nichts alle Dinge geschaffen: den Himmel und die Erde und deinen Körper und deine Seele, und er ist so mächtig, 85
Vgl. Albrecht, a.a.O., 444. 86 Weder der "Norte de los Estados", der 1551 zum letzten Mal in Burgos gedruckt worden ist, noch der aus diesem Buch entnommene Katechismus sind jemals ins Deutsche oder eine andere europäische Sprache übersetzt worden, weshalb eine Obersetzung des auch im Original schwer zu beschaffenden Textes ratsam erschien.
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daß er tun kann, was er will: dich verdammen oder dich erretten und dir geben kann, wenn du ihn bittest; und er kann alles tun, was er mit Bezug auf dich für gut befindet. Und auch in Bezug auf alles übrige kann er alles tun, denn er, der den Himmel geschaffen hat und die Erde, Engel und Menschen, Hohes und Tiefes, Körperliches und Geistiges, das Sichtbare und das Unsichtbare, er, der alles schuf, hat über alles eigene und vollkommene Macht. (2) Zweitens mußt du glauben an Jesus Christus, der Gott und Mensch ist und deshalb zwei Namen hat und Gottes Sohn heißt und es ist, nicht weil Gott sich verheiratet hätte, sondern weil er so wie eine Sonne aus sich den Sohn hinausschickt, der ein ewiger und vor aller Zeit gezeugter Lichtstrahl ist. Glaube also, daß der Sohn von seinem erhabenen Vater geboren wird, wie ein Fluß aus der Quelle entspringt. Und weil der Vater ihn mit aller seiner Macht gesandt hat, damit er das Werk unserer Erlösung vollbrächte, mußt du glauben, daß er unser einziger Herr ist, der uns seinem Vater darbringt. Und er hat ihn auch zu deinem Vater gemacht, damit du viele Brüder hast. (3) Drittens mußt du glauben, daß dieser Sohn unseres Herrgottes aus Liebe zu uns Mensch geworden ist im jungfräulichen Leib unserer Herrin, der heiligen Jungfrau Maria, durch ein Wunder und von ihr geboren ist, wobei sie immer Jungfrau blieb, ohne Schmerzen noch Makel, noch Flecken, und deshalb feiern wir das Fest der allerheiligsten Geburt. (4) Viertens mußt du glauben, daß dieser unser Herr, der, um Mensch zu werden, nicht aufhörte, Gott zu sein, es für gut erachtete, Leiden und Tod in dieser Welt zu ertragen. Und er wurde von denen ermordet, die seine Heiligkeit mit rasendem Neid erfüllte. Aber er verzieh den Tod, brachte ihn seinem Vater als Opfer für unsere Sünden dar, für die wir hinlänglich die Hölle verdient hatten, und wir wurden durch diese Opfergabe von der Hölle befreit. (5) Fünftens mußt du glauben, daß, als der wahrhaftige Sohn unseres Herrgottes am Holz des Kreuzes starb, seine Gottheit noch mit seiner Seele und mit seinem Körper vereinigt und verbunden war wie die Sehne des Bogens, wenn das Holz bricht. Und die Seele unseres Herrn Jesu Christi stieg zusammen mit seiner Gottheit in die Unterwelt an den Ort des Limbus hinab, wo ihn die heiligen Väter mit größtem und heißen Sehnen erwarteten. Und bei seiner Auferstehung führte er sie von dort hinweg, wo sie gefangen und festgehalten waren, bis Christus um ihretwillen hinabstiege und mit bitterem Schmerz das bezahlte, was sie schuldeten. Er stieg hinab, um die Seelen zu befreien, und er auferstand am dritten Tage als Zeichen dafür, daß er die Körper aus der Verwesung befreien muß.
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(6) Sechstens mußt du glauben, daß er sich danach vierzig Tage aufhielt, um die Apostel zu trösten, und in den Himmel mit der Beute aufstieg, nachdem er jenen rasenden und großen Fürsten der Finsternis besiegt hatte. Und er ließ die Tür des Himmels für alle die Seinen offen, setzte sich zur Rechten des himmlischen Vaters, der ihn sehr gut empfing, indem er ihm denselben Anteil an sich gab, den er immer besessen hatte. (7) Siebtens sollst du glauben, daß er vom obersten der Himmel kommen wird, um einen gerechten Urteilsspruch über alle Geborenen und noch zu Gebärenden, Lebende und Tote, höllische Dämonen und gute und schlechte Menschen zu fällen, so daß niemand dem, was er verdient hat, entrinnt. Diesen Tag kennt niemand. (8) Achtens mußt du an den Heiligen Geist glauben, der die dritte Person der allerheiligsten Dreifaltigkeit ist, die immer auf gleiche Weise mit dem Vater und dem Sohne alle Dinge, die sind und irgend sein werden, bewirkt. Und er ist die Liebe, die aus beiden hervorgeht, wie aus der Sonne und aus dem Lichtstrahl die Wärme hervorgeht. (9) Gleichfalls mußt du neuntens an die heilige christliche Kirche glauben, in deren Prälaten die Vollmacht unseres Herrn Jesu Christi wohnt. Und deinen ganzen Glauben mußt du in Übereinstimmung bringen mit der heiligen Kirche und nicht mit dem, der sich von ihr trennt, sondern mit denen, die zusammen sind, umfangen und vereint in Liebe. Denn diese sind Heilige auf der Erde und diejenigen, die in der Herrlichkeit vereint sind, sind Heilige im Himmel, wo du dein Herz haben mußt. Und das, was du vom Glauben nicht offenkundig weißt, mußt du der heiligen katholischen Kirche überlassen. (10) Zehntens sollst du glauben, daß Gott denen die Sünden verzeiht, die von ihnen ablassen und reumütig um Verzeihung bitten, denn ohne dies zu tun, ist niemand ein Freund Gottes. (11) Du mußt den elften Artikel glauben, daß die Toten, wenn Gott es anordnet, auferstehen werden zum Tage des Gerichts und alle mit Leib und Seele, um Rechenschaft von sich abzulegen. (12) Endlich mußt du offen glauben, daß das Leben, in das alle auferstehen werden, unterschiedlich sein wird, denn die Guten werden ein Leben der Herrlichkeit im Himmel und die Schlechten ein Leben der Qual in der Hölle empfangen, und alles wird für immer sein mit Leib und Seele, damit jeder Mensch zusammen das Gute oder Böse, das er getan hat, auskoste. Villa señor: Ich habe die Güte unseres Herrn gehört und bedacht, der uns (ad 1) befiehlt, Dinge von so großem Nutzen für unsere Seelen zu glauben. O mein Gott, wenn ich glaube, daß du der allmächtige Gott bist, denke ich, daß du mir
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geben kannst, soviel wie ich dich bitte. Und wenn ich berücksichtige, daß du der Vater bist, ist mir klar, daß du es mir nicht verweigern wirst, sondern daß sich das Können mit dem Wollen verbinden wird. Denn da du mich geschaffen hast, mußt du mich auch erlösen. (ad 2-7) Und es liegt auf der Hand, denn du hast deinen Sohn zu meinem Herrn gemacht, der empfangen und geboren wurde, damit ich durch Gnade wiedergeboren würde aus seiner Mutter, die sie (d.h. die Gnade) mir auch schenken wird. Denn du hast ihn mir als ein Kind gegeben, und er hat mir sein Leben gegeben und sein Blut am Kreuz. Und da er um seiner Freunde willen in den Limbus hinabgestiegen ist, wird er wenigstens einen Engel um meiner Seele willen hinabschicken. Und schließlich wird sie auferstehen, wenn du, mächtiger Vater, die Auferstehung zu Ende fuhren willst, die du in deinem Sohn Christus begonnen hast, der alle richten muß. Die Christen aber werden sich mehr freuen (als die anderen Menschen), denn sie haben den Richter zum Bruder. (ad 8-12) Er hat ihnen den Heiligen Geist gegeben, damit er sie durch Teilhabe an der Liebe und Vergebung der Sünden inzwischen heilige, so daß sie danach sicher auferstehen in das selige Leben, das alle ersehnen. (Die Sakramente) Nun wäre noch das zweite zu erklären, was ein Christ glauben muß. Der Autor: An zweiter Stelle kommen die sieben Sakramente der heiligen Mutter Kirche, bei denen der oben genannte Grundsatz sehr nützlich ist, indem er zeigt, wie man die geistlichen Dinge durch die körperlichen gewinnt. Denn bei den Sakramenten geht es darum, daß wir glauben müssen, daß das äußerliche Geschehen, das wir sehen, das Werk ist, das Gott an der Seele tut. (Die Taufe) Das erste Sakrament und die Tür zu den anderen ist, wenn einer getauft wird, den man herbeigebracht hat, damit er ein Christ werde. Und während er untergetaucht wird, spricht der Geistliche die Worte, die Christus befohlen hat. Auf Grund dieses Bades des Körpers mußt du an das der Seele glauben, das besser ist, denn sie wird rein gewaschen von allen Sünden und von der Sünde, in der wir empfangen worden sind.
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(Die Firmung) Das zweite Sakrament, das auch obligatorisch für jeden Menschen ist, ist die Firmung, die der Bischof vollzieht mit dem Zeichen des Kreuzes und der Chrisamsalbung. In ihm stärkt Gott den Taufglauben. (Die Buße) Das dritte, das obligatorisch ist für die, die gesündigt haben, ist die Buße, die drei Teile hat: mündliche Beichte und Herzensreue (contrición) und Genugtuung durch die Tat. Und diese Buße muß in jeder Fastenzeit erfolgen, wenn nicht vorher Todesgefahr besteht, z.B. beim Ausziehen in den Krieg oder auf das Meer oder wenn jemand ein Sakrament spenden oder empfangen soll. (Die Eucharistie) Das vierte Sakrament ist die 'Altar-Kommunion', bei der man die konsekrierte Hostie empfängt, in der Christus wahrhaftig enthalten ist wie im Himmel, nur daß er sich verbirgt, um dir die Möglichkeit zu geben, ihn zu empfangen. (Die Letzte Ölung) Das fünfte nennt sich Letzte Ölung, bei dem man die Kranken ölt. (Die Weihe) Das sechste erfolgt, wenn ein Priester geweiht wird. (Die Ehe) Das siebte wird vollzogen, wenn einige heiraten. Die ersten fünf mußt du empfangen, um ein Christ zu sein, und die anderen beiden, wenn du eines davon begehrst. Villa señor: In diesen sieben Sakramenten, die von Christus zur Wiederherstellung unserer Gesundheit eingesetzt sind, leuchtet die göttliche Güte, die uns von neuem in der Taufe gebiert und uns in der Firmung wachsen läßt und uns zu essen gibt mit seinem göttlichen Brot. Und für die, die wiederum erkranken, gibt er Raum zur Buße. Und er verteilt die Seinen: die einen, damit sie durch das Priesteramt Seelsorge betreiben, und die anderen, damit sie durch die Ehe der Leiber die Diener Gottes vermehren. Und für alle hält er das letzte Sakrament bereit, damit sie sich reiner von dieser Welt verabschieden, wenn sie sterben.
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Wenn jemand also an Taufe, Firmung, Buße, Kommunion, Letzte Ölung, Priesterweihe und Ehe glaubt, muß er das dritte wissen. (Die drei theologischen Tugenden) Der Autor: Zum dritten mußt du es (das Kind) daran gewöhnen, an die drei theologischen Tugenden zu glauben, die zum Christen entscheidend dazu gehören. Wie das Licht unserer Augen nicht ausreicht, um die Dinge, die wir vor uns haben, gut zu sehen, wenn nicht Licht von woanders zu uns kommt, das uns hilft zu sehen, so genügen für sich allein die Kräfte unserer Seele auf Grund ihrer Naturanlage nicht für die Dinge Gottes. Und deshalb gießt er uns Glaube und Hoffnung und Liebe ein, wenn wir uns zu den Seinen machen, damit durch den Glauben unser Verstand, durch die Hoffnung unser Gedächtnis und durch die Liebe unser Wille gestärkt würden. Da Gott uns diese Tugenden eingießt, müssen wir uns ihrer in starkem Maße bedienen, denn dazu gibt er sie uns. Zweifle nie im Glauben, sondern bleibe fest im Glauben, verteidige ihn und stirb für ihn; auch gehe deine Hoffnung nicht hinaus aus dem Bereich zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes, die ihm notwendigerweise eigen sind, noch werde deine Liebe lau! Villa senor: Auch hierin erstrahlt Gott sehr deutlich. Denn der Vater gießt uns Glauben ein, damit wir an die große Macht seiner Herrlichkeit glauben, und der Sohn Hoffnung, das zu erlangen, was er uns erworben hat, und der Heilige Geist Liebe, weil er uns liebt und uns die Mittel gibt, ihn zu lieben. Laßt uns nun sehen, was der Christ wissen muß, um es in die Tat umzusetzen. (Vom Wert des Kreuzeszeichens) Der Autor: In diesem zweiten Drittel, das die Tat erfordert, ist das SichBekreuzigen und das Kreuz-Schlagen sehr hilfreich. Denn das Kreuz, das man an der Stirn macht, weist uns daraufhin, daß unsere Intention immer dem Kreuz Christi dienen muß, da wir Christen sind. Und das Kreuz, das du über den Mund schlägst, lehrt dich, daß deine Worte am Kreuz gemessen werden. Und wenn du dich an der Brust bekreuzigst, gibst du zu erkennen, daß deine Gedanken zum Kreuz gehen. Aber das große Kreuz, das über die ersten drei geht, bezeichnet das Werk, das mit den drei erwähnten Dingen übereinstimmen muß. (Der Dekalog) Das erste, was du mit Willen, Worten und Gedanken und Werk halten mußt, ist der Dekalog der zehn Gebote, nämlich:
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(1) Gott lieben (2) bei ihm nicht zu nichtigem Zwecke schwören (3) die Feiertage halten (4) Vater und Mutter ehren (5) nicht töten (6) nicht stehlen (7) nicht huren (8) kein Zeugnis ablegen (9) kein fremdes Weib begehren (10) nicht nach fremder Habe trachten. (Gebotserklärung) Villa señor: Wie muß ich Gott lieben? (adl) Der Autor: Indem du ihn so gut liebst, daß es kein Gut gibt, das du ihm nicht wünschst bis hin zum Angebot deiner selbst für ihn. Habe Mißfallen an allen Dingen, die ihm nicht dienen, wie es sich für die Liebe gebührt. Und freue dich am Gut der Seinen. Schätze weder die Dinge der Welt noch das Leben so hoch wie Gott, deinen Herrn, noch habe für irgendeine Sache mehr Wertschätzung als für ihn. Betrachte das, was du eine Zeit lang sehr geliebt hast, und liebe ihn dann mehr, als du jemals irgendeine Sache geliebt hast. Und wenn es geschieht, daß du etwas sehr liebst, so gedenke dabei der Güte Gottes, die noch viel mehr geliebt werden muß. Wenn du vermeidest, ihn zu beleidigen, weil er so gut ist, glaube, daß du ihn liebst, wenn du außerdem alle anderen Gebote hältst und dich durch Buße von aller Sünde reinigst. Verbinde deinen Willen mit dem seinen. Und das mußt du auch tun, wenn dich etwas bedrückt, was er tut. Halte alles für wohlgetan, auch wenn er dich tötet und verdammt! Dann nämlich wirst du ihn wahrhaftiger lieben, wenn du erreichst, was er liebt, und das fliehst, was er haßt. Er liebt alles Gute und verabscheut alles Böse. Setze also jegliche Liebe, die du verspürst, in Beziehung zu der Liebe zu Gott. Meine immer Gutes von ihm. Und das Gute, das dir widerfährt, empfange aus seiner Hand und auch das Schlechte, wenn du geduldig werden willst. Villa señor: Für den Glauben braucht der Mensch große Beharrlichkeit und auch für die Liebe zu Christus, dem Sohn Gottes. Denn darin besteht die Summe des Ganzen. Aber es ist gut, wenn Sie mir alles zusammen sagen, da ich meinem Sohn alles beibringen muß, was er tun muß.
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Der Autor: Sorge dafür, daß er die 10 Gebote auswendig kann und die Gebote seiner Mutter, der Kirche, und die Werke der Barmherzigkeit, die er dem Nächsten schuldig ist. Besprich mit ihm kurz jeden Punkt für sich, so verständlich wie du kannst. Und danach laß dir einiges von dem, was du ihm gesagt hast, wiedererzählen, denn es ist für ihn fruchtbar, wenn er es sagt. Und damit du siehst, was er einhält (erfüllt), sage ihm: (ad 2) Schwöre weder im Scherz noch im Ernst noch eitel ohne zwingende Notwendigkeit, noch fälschlich, wenn es Lüge ist, was du sagst. Und wenn es wahr ist, bedenke, daß es für den Christen genügt, seine Sache zu bejahen, indem er sagt: so ist es. Brauche den Namen Gottes nicht ohne Ehrerbietung, sondern halte ihn lieb und wert. (ad 3) Sündige nicht an Feiertagen, sondern ruhe aus, und höre die Messe, und lies die Lebensläufe der Heiligen. (ad 4) Sohn, bedenke, daß Gott dir befiehlt, Vater und Mutter zu lieben und zu ehren und ihnen Hochachtung entgegenzubringen und ihnen zu gehorchen und ihnen zu geben, was du hast, wenn sie es benötigen. Ehre auch die Alten und deine Lehrer und die Priester. (ad 5) Bringe niemanden um, noch tue jemandem etwas Schlechtes an, noch wünsche jemandem den Tod, noch leihe jemals Beistand und Rat für das Üble, das andere tun. (ad 6) Das Nicht-Stehlen besteht darin, daß du nicht raubst, noch Betrügereien begehst, noch fremdes Gut behältst, noch Diebe begünstigst, noch dir aneignest, was dir nicht zukommt. (ad 7) Das andere Gebot fordert alle Sauberkeit von dir, daß du keine Frau außer der Deinen, mit der du verheiratet bist, berührst, noch daß du auf andere Weise irgendeine Schmutzigkeit begehst. (ad 8) Meide schlechtes Zeugnis und decke keine verborgenen Schlechtigkeiten auf. Unterstütze keine Verleumdungen, noch erzähle Schlechtes, das du gehört hast, weiter, noch lüge. (ad 9 + 1 0 ) In den anderen beiden Geboten will Gott, daß du auch im Innern des Herzens gut bist, daß du kein fremdes Gut begehrst, um es zu stehlen oder es ohne Recht zu besitzen. Auch sollst du nicht zu sündigen begehren, noch jemandem Schlechtes antun. (Die Kirchengebote) Die Gebote deiner Mutter der Kirche, die du auch befolgen mußt, sind:
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An Sonn- und Feiertagen eine ganze Messe hören, vom 7. Lebensjahr an jeweils in der Fastenzeit beichten, oder wenn du Meeresgefahr oder Todesgefahr befürchtest, oder die Sakramente spenden oder empfangen mußt. Das andere ist: vom 12. Lebensjahr an zu Ostern kommunizieren. Und das andere: zu den festgesetzten Zeiten fasten und im übrigen die Zehnten und die Erstlinge entrichten. (Die Werke der Barmherzigkeit) Das letzte, was du einhalten mußt, sind die Werke der Barmherzigkeit. Die körperlichen sind diese: Kranke besuchen, den Hungrigen speisen, den Durstigen tränken, dem Gefangenen helfen, den Nackten kleiden, dem Bedürftigen Unterkunft gewähren, die Toten beerdigen. Die geistlichen sind: Die Einfältigen unterrichten, guten Rat geben, für die Feinde beten, den Irrenden strafen, dem Schuldigen vergeben, zu Gott beten für Lebende und Tote. Villa señor: Nachdem wir die drei Sachen gesehen haben, die jeder Christ ins Werk setzen muß, wäre es gut zu sehen, vor welchen Dingen er sich zu hüten hat. Der Autor: Vor weiteren drei Dingen: nämlich den Todsünden und den fünf Sinnen und den drei Hauptfeinden der Seele. (Die Todsünden) Die Sünden sind: soberbia, avaricia, lujuria, envidia, gula, ira, pereza (= accidia). Und die Sinne sind: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen. Die drei größten Feinde sind: die Welt, der Teufel und das Fleisch, das am schwersten zu besiegen ist. Villa señor: Wie erkennt man, wenn die sieben Sünden in Aktion treten? Der Autor: (Soberbia) Wenn du danach trachtest, sehr angesehen zu sein, und der Ehre nachläufst, indem du von allen geschätzt werden möchtest, und dir herausnimmst zu befehlen, und dich rühmst oder etwas Gutes tust, um von deinen Nachbarn gelobt zu werden, oder damit sie dich einen Heiligen nennen. Wenn du gegen die Wahrheit streitest und dich selbst hochschätzest, wenn du dich in große Dinge mischst, die deine Kräfte übersteigen. Wenn du die anderen verachtest und über den Lebenswandel anderer richtest, aber nicht willst, daß man deinen richtet, noch Gott dankst für das Gute, das er dir getan hat. Glaube,
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daß der Hochmut dich besiegt, wenn du einer von diesen (Versuchungen) anheimfällst. (Avaricia) Die Habsucht besiegt dich, wenn du fremdes Gut mit Gewalt oder durch Betrug behältst, und wenn du das Erbe deines Nächsten beeinträchtigst und ihm Schaden zufügst. Wenn du auf Gewinn ausleihst und lügst, um zu gewinnen, oder spielst oder mogelst oder es tun möchtest. (Lujuria) Die Wollust besiegt dich, wenn du dich unzüchtigen Gedanken hingibst oder das Weib anrührst, das nicht das Deine ist. Wenn du also nicht heiratest, kannst du dich einem Weibe nicht nähern, noch auch nur sie ansehen, um sie zu begehren, noch kannst du ein fleischliches Vergnügen haben auf irgendeine Weise ohne große Sünde. Und du mußt sogar die fleischlichen Wonnen bedauern, von denen du nachts träumst. (Ira) Der Zorn besiegt dich, wenn du dich sehr aufregst und rasendem Schmerz verfällst, verdammst und verfluchst oder Gott lästerst oder dich vergißt in Worten, Taten oder erregter Gebärde. (Gula) Dich besiegt die Völlerei, wenn du viel ißt oder trinkst, wenn du aus Naschhaftigkeit ißt und trinkst, ohne es nötig zu haben, oder konzentriert (Wein), statt mit Wasser verdünnt, wenn du mit großer Begierde ißt oder verbotene Dinge ißt oder nicht fastest, wenn du fasten kannst. (Envidia) Der Neid besiegt dich, wenn fremdes Gut dich bekümmert, und wenn du dich über die Schicksalsschläge anderer freust und wenn du das Gute, das du bei anderen siehst, nicht lobst oder das Gute, das du kennst, aus schlechter Absicht verschweigst oder es schlecht beurteilst und bestrebt bist, Gerüchte in Umlauf zu setzen. (Pereza) Die Faulheit besiegt dich, wenn du aus Nachlässigkeit das unterläßt, wozu du verpflichtest bist, und wenn du im Besuch der Messe saumselig bist und dir die Predigt nicht gefällt oder du die Pfarrer langweilig nennst, und wenn du dich beim Beten beeilst oder zwischendurch anderen Beschäftigungen nachgehst, und wenn dir die Dinge Gottes nicht wohl schmecken, du nicht kommunizierst, noch dein Gewissen richtig erforschst, noch den besserst, den du bessern kannst, noch das wiedergutmachst, wozu du verpflichtet bist, noch die Werke der Barmherzigkeit erfüllst, sondern dich lau und unzufrieden verhältst. Auf diese Weise besiegen die Todsünden den schlechten Christen. Villa señor: Nun wäre noch zu betrachten, wie die fünf Sinne und die anderen drei Feinde uns die Seele überwinden.
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(Die fünf Sinne) Der Autor: Die Augen besiegen dich, wenn du ihnen nichts verweigerst, was sie sehen wollen, wenn sie das Unanständige und das Schöne ansehen, um es zu begehren, und den Nächsten scheel betrachten oder verächtlich machen, was sie sehen. Der Geruchsinn besiegt dich, wenn du die Kranken wegen des Gestanks verabscheust und die weibischen Wohlgerüche und den Dunst der Geilheit liebst. Das Gehör besiegt dich, wenn es sich an Gerede erfreut und Lügen und Gerüchten und Zoten und schlechten Dingen lauscht. Der Geschmack besiegt dich, wenn du als Leckermaul dich am Geschmack der Dinge ergötzt und alle Buße dir schlecht schmeckt. Der Tastsinn richtet dich zugrunde, wenn er dich veranlaßt, deine Glieder und fremde Glieder um unzüchtiger Lust willen zu berühren oder wenn du andere küßt und umarmst als deine Frau oder weiche und zarte Dinge liebst. Villa señor: Nun bleibt nur noch zu betrachten, wie der Teufel und die Welt und das Fleisch gegen uns streiten. (Die drei größten Feinde: Teufel, Welt, Fleisch) Der Autor: Die drei Kräfte der Seele werden von diesen drei Feinden bekämpft, die jeweils für ihren Obersten kämpfen. Der Teufel bekämpft den Verstand, indem er Irrtümer und schlimme Vorahnungen ausstreut, um unseren Glauben zu verwirren. Und dann besiegt er die ganze Seele, wenn er sie glauben macht, was sie nicht (glauben) darf und sie irrige Meinungen hegen läßt und Dinge gegen die heilige Mutter, die Kirche, wobei sie auf Hexen und Wahrsager hört. Die Welt bekämpft die Vorstellungskraft (memoria), indem sie ihr das Wohlergehen derer vor Augen fuhrt, die ihr folgen, und die Bedrücktheit der Diener Gottes, die sie fliehen. Die Welt besiegt uns, indem sie uns den Gebräuchen der meisten folgen läßt, die auf dem breiten Weg zu gehen pflegen, der in die Verdammnis führt, indem sie uns als Richtschnur die fremden Sünden vorführt, denen die Welt nachgeht, und die Gesellschaft und die Menge der Bösen, die sich Welt nennt. Das Fleisch bekämpft die dritte Kraft der Seele, nämlich den Willen. Und es bekämpft ihn mit weibischen Schmeicheleien und Wonnen. Und es ergreift die ganze Seele, wenn es uns die Vernunft beiseite schieben und den körperlichen Gelüsten folgen läßt wie das Vieh, das auf die Weide geht, und wie diejenigen, die immer dem Vergnügen nachgehen.
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Villa señor: Wie können die Todsünden und die erwähnten Sinne und die drei Feinde, die die Seele bekämpfen, besiegt werden? (Das Kreuz als universales Heilmittel) Der Autor: Alles wird mit dem Kreuz besiegt, an dem alles zuerst besiegt worden ist. Vom verbotenen Baum sind alle Übel gekommen und mit dem Baum des Kreuzes, den uns Christus gegeben hat, werden sie alle wiedergutgemacht. Wenn der Hochmut dir zu schaffen macht mit seiner Anmaßung, richte die Augen des Herzens auf die Niedrigkeit des Kreuzes, an dem Christus das Haupt sehr gedemütigt und mit Domen gekrönt trägt. Wenn dich die Habgier mit ihrem überflüssigen Begehren anficht, betrachte die Armut des Kreuzes, an dem Christus entblößt ist. Was er hatte, war ihm genommen. Wenn die unzüchtige Wollust dich aufschreckt, betrachte den unberührten Jesus Christus am Kreuz, umgeben von Reinen, nämlich seiner Mutter und St. Johannes. Wenn der Neid dir Schläge gibt, betrachte das offene Herz und die geöffneten Hände Christi, der sogar für seine Feinde am Kreuz betet. Wenn die Völlerei sich abmüht, dich zur Sünde zu verfuhren, achte auf das Kreuz, an dem nur Galle und Essig gebraucht wird. Wenn der Zorn (dich packt), betrachte die Sanftmut dessen, der, obgleich er angenagelt und beschimpft war, nie zornig antwortet. Wenn die Faulheit auf dir lastet, mußt du die Arbeit des Kreuzes betrachten, die erst mit dem Sterben ein Ende hatte. Und wenn dich irgendeiner deiner Sinne dem Bösen zugeneigt machen sollte, betrachte alle (Sinne) Christi, die gekreuzigt wurden, damit du die deinen kreuzigst. Und die drei Hauptfeinde, die ich erwähnte, stürzten dort, wo die Welt bebte und der Teufel floh und das unschuldige Fleisch gequält wurde. Folglich darfst du keinen anderen Schild in der Hand haben als das Kreuz, wenn du dich vor allen zuwiderlaufenden Dingen bewahren willst. (Schlußbemerkungen) Und dies mußt du sehr genau mit deinem Sohn durchsprechen, indem du ihm die oben erwähnten Dreiergruppen nennst und sie ihm dann nach und nach erläuterst. So gewöhnst du ihn daran, ein Christ zu sein. Wenn er irrt, sollst du ihn strafen, nicht so sehr wegen des Irrtums, vielmehr weil er deine gute Lehre nicht bewahrt. Und zeige ihm, daß jeder Sieg von oben
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kommt. Und deshalb soll er, wenn er in Versuchung gerät, das Paternoster in der Volkssprache beten. Darüberhinaus sollst du ihn auf jede Weise gut aufziehen, damit er gleichzeitig an Leib und Güte wachse. Mache ihm deutlich, wie wichtig es für ihn ist, ein guter Christ zu sein. Das ist das Beste, was du ihm vererben kannst. Damit er auf solche Weise das Reich der Himmel zum Erbteil erhalten möchte.87
Hier endet der katechismusartige Teil. Villa seflor fragt im Anschluß nach den Kleidervorschriften fiir seine Frau.
III. SPANIEN UND AMERIKA: CONQUISTA UND EVANGELISIERUNG
Christlicher Universalismus und europäischer Kolonialismus Kirchengeschichtliche Überlegungen zu den Ausgangspunkten der Eroberung Amerikas 1
Vorbemerkung Zunächst sei an die facta bruta erinnert, die man früher als Phantasiegebilde der leyenda negra abgetan hat, die aber durch die neuere Forschung bestätigt, indes in der deutschen Kirchengeschichtsschreibung bislang noch kaum zur Kenntnis genommen worden sind: Zunächst der Bevölkerungsrückgang: Von mindestens 60 Mill. Einwohnern im Jahre 1492 sank die indigene Bevölkerung im spanisch-portugiesischen Kolonisationsgebiet bis zum Jahre 1570 auf nur 12-14 Mill.2 Der Rückgang erklärt sich zu einem gewissen Grade zwar aus brutalen Massakern bei der Eroberung und »Pazifizierung«, dürfte aber zum größeren Teil auf die Folgen von Sklavenund Zwangsarbeit und Epidemien zurückzufuhren sein. Ohne einen neuen Historikerstreit auslösen zu wollen, wird man sagen können, daß »Vernichtung
1 Veröffentlicht in: H.-J. Prien (Hg.), 1492 und die Folgen. Beiträge zur interdisziplinären Ringvorlesung an der Philipps-Universität Marburg im WS 1991/92, CEILA-Marburg Bd. 4, Münster, Hamburg 1992, 76-140. Die hier abgedruckte Fassung wurde überarbeitet und gekürzt. Bezüglich der weggelassenen Abschnitte »8. Fallbeispiel der Conquista: Die Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés« und »9. Das indianische Menschenbild der Eroberer« sei verwiesen auf: »Conquista, Kolonisation und Mission in Hispanoamerika bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts« und auf »Hernán Cortés' Rechtfertigung seiner Eroberung Mexikos und der spanischen Conquista Amerikas« sowie auf »Ethnizität und Christianisierung im kolonialen >Lateinamerikader geliebte Sohn Christoph Kolumbus< in weiter Ferne mitten im Ozean neue Inseln und Länder entdeckt, >in denen zahlreiche Volksstämme friedlich beeinander leben und, wie berichtet wird, nackt einhergehen und kein Fleisch essendaß es nur einen Gott und Schöpfer im Himmel gibtzur Annahme des katholischen Glaubens und guter Sitten< recht geeignet zu sein. Auch bergen die Inseln große Reichtümer. Ihr habt Euch deshalb entschlossen, jene Länder und Inseln samt all ihren Bewohnern >Euch zu unterwerfen und zum katholischen Glauben zu fuhrenempfehlen diesen Euren heiligen und löblichen Vorsatz vielmals dem Herm< und ermahnen Euch, das Missionswerk mit allem Eifer zu beginnen. Damit Ihr nun, von
Weckmann, a.a.O., 37ff. Rom habe den Inselbezug aus folgendem Absatz der Silvester-Legende herausgelesen: »... et per nostra imperialium iussionum sacras tarn in oriente quam in occidente, videlicet in Iudea, Grecia, Thracia, Africa et Italia vel diversis insulis nostram largitatem eis (ecclesiis beatorum apostolorum Petri et Pauli) concessimus, ea prorsus ratione, ut per manus beatissimi nostri Silvestri pontificis successorumque eius omnis disponantur...« - Mansi, II, 603. 21 A.a.O., 128ff. Weckmann verfolgt die Theorie weiter hinsichtlich der Inseln im Mittelmeer (11141450), einschließlich gegensätzlicher Ansprüche von Papsttum und Kaisertum, und dann hinsichtlich der Ausdehnung der Doktrin auf die Inseln im Atlantik (1344-1493).
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Unserer Apostolischen Huld beschenkt, diese große Aufgabe >noch bereitwilliger und kühner< auf Euch nehmt, so >schenken und übertragen und überweisen Wir Euch, den Königen von Kastilien und Leon, sowie Euren Erben und Nachfolgern für alle Zeit< alle Länder und Inseln, die hundert Meilen westlich von einem zu bestimmenden Punkt der Azorischen und Kapverdischen Inseln liegen. Euch und Eure Nachfolger >machen, bestimmen und erklären Wir< zu Herren all dieser Gebiete >mit voller, freier und jedweder Gewalt, Autorität und Jurisdiktionund sei er kaiserlicher und königlicher Würdedonatio Alexandrina< und die >divisio mundi< von 1493. Eine kirchenrechtliche Studie«: AKathKR 117 (1937) 363-402, vgl. 373ff„ 378, 394. Es handelt sich bei den Entwürfen bzw. Bullen um Empfängerausfertigungen, die dem Brauch entsprechend von der kastilischen Hofkanzlei angefertigt wurden (vgl. ebd., 395), deren erster Entwurf verschollen ist, während Eximiae devotionis v. 3. Mai 1493 (vordatiert) und die beiden Fassungen von Inter celera vom 3. und 4. Mai (vordatiert) erhalten sind (vgl. den Zusammenhang mit anderen Kirchenlehnsemchtungen seit dem 11. Jh. ebd., 390ff.). Staedler spricht mehrfach etwas anachronistisch vom spanischen Staat oder von Spanien und von der Belehnung der Krone Spaniens mit der Landeshoheit über Westindien (z.B. 378), während in den Bullen Ferdinand und Isabella noch als König und Königin von Kastilien, León, Aragón, Sizilien und Granada angesprochen werden, Westindien aber ausdrücklich den Kronen von Kastilien und León, die Isabella trug, als Lehen zugesprochen wird. Indem die Lehnsrechte freilich auf unbegrenzte Zeit auch den Erben und Nachfolgern zugesprochen wurden und nach dem Tode Isabellas ( t l 5 0 4 ) Ferdinand ( t l 5 1 6 ) allein herrschte und seit der Thronbesteigung Karls I. (V.) die Thronunion dauerhaft gefestigt wurde, kann man natürlich von Spanien sprechen. Auf die Frage, wieso Rom die entdeckte oder noch zu entdeckende Welt als Kirchengut betrachten konnte, geht Staedler nicht ein. Vgl. den Text der westindischen Edikte bei E. Staedler, »Die westindischen Lehnsedikte Alexanders VI. (1493)«: AKathKR 118 (1938), 377-417. Diesbezüglich stellt die von Weckmann entdeckte Omni-Insular-Doktrin eine wichtige Ergänzung dar. In der 2. Fassung von »Inter cetera« ließ Spanien die Investiturklausel fallen, ebenso verzichtete es darauf, seine Rechte in Analogie zu den portugiesischen Rechten bei der Afrikabelehnung zu deuten, und gab den Wünschen der portugiesischen Krone nach der Vereinbarung einer Schiffahrtsgrenze nach, wobei die Wahl der meridianbestimmenden Insel offenblieb. Man einigte sich später auf die Kapverdischen Inseln und schrieb 1494 im Vertrag von Tordesillas fest, daß 370 leguas westlich den Kapverdischen Inseln liegende Gebiete Spanien zustünden, eine Linie die 310° westlicher Länge entspricht - ebd., 394f. Vgl. den Text des Vertrages von Tordesillas u.a. bei E. Bradford Bums, A documentary history of Brazil. New York 1970, 16-19. 29
Höffner, a.a.O., 215. Höffner, ebd., 210f., verweist als Parallele auf die Praxis des 19. Jhs., sich koloniale Eroberungen von Großmächten garantieren zu lassen. Das übersieht Felix Becker, »Das Kainszeichen des Kolonialismus. Zur Frage des Rechts und der Rechtfertigung spanischer Kolonial-
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Nachdem Christoph Kolumbus Land für die Krone Kastiliens im Westen in Besitz genommen hatte, das nach geltendem Recht der portugiesischen Okkupation vorbehalten war, arbeitete der spanische Hof vier verschiedene Bullenentwürfe aus, um von Rom eine päpstliche, d.h. nach damaliger Auffassung völkerrechtliche Absicherung der eigenen Ansprüche durch eine Pönformel zu erlangen, und führte parallel dazu Verhandlungen mit Portugal. Erst im dritten Entwurf (Inter cetera v. 3. Mai 1493) wagte man es in der spanischen Hofkanzlei, »die auf die excommunicatio latae sententiae abgestellte Pönformel« anzubringen. Glücklicherweise verzichtete Portugal auf eine Auseinandersetzung mit Spanien aufgrund kirchlicher Monopolstatute und beschritt den Weg völkerrechtlicher Vertragsvereinbarungen. Die Kronen verhandelten wohl von April 1493 bis in den November hinein in Barcelona, woraufhin die Schiffahrtsgrenze im Staatsvertrag von Tordesillas vom 7. Juni 1494 einvernehmlich festgelegt wurde.30 Wenn Alexander VI. sich auch weder eine Schiedsrichterrolle bei der Aufteilung der Welt angemaßt noch Länder verschenkt hat und, wie Staedler glaubhaft gemacht hat, persönlich wohl gar nicht mit der Ausfertigung der Bullen befaßt war, bleibt doch festzuhalten, daß die römische Kurie, indem sie die jenseits des Atlantiks entdeckten Länder zum Lehnsgegenstand machte, d.h. als Kirchengut betrachtete, dem Geist des päpstlichen Universalismus huldigte, der sich wie seit der Eroberung der ersten Inseln im Atlantik durch Portugal und Kastilien dabei der Omni-Insular-Doktrin bediente. Weckmann macht zu Recht darauf aufmerksam, daß die Bulle »Inter cetera« von 1493 sich im Grunde gar nicht auf Amerika beziehe, das als Kontinent noch gar nicht entdeckt war, sondern daß es sich bei den »kolumbischen Inseln« nach dem Erkenntnisstand von Kolumbus um Inseln handeln sollte, die Indien östlich vorgelagert waren, so daß man die alexandrinischen Bullen im Kontext der zeitgenössischen Kartoherrschaft in Amerika«: Gold und Macht, Spanien in der Neuen Welt, Rautenstrauch-Museum für Völkerkunde, Köln 1987, 33-40, 35, wenn er behauptet, es handele sich nicht um einen Akt »lehnsrechtlicher Übertragung der entdeckten und zu entdeckenden Gebiete an Spanien«, noch um einen päpstlichen Missionsauftrag, da es nicht im Interesse der kath. Könige gelegen habe, »ihren Besitztitel von päpstlichen Bedingungen abhängig werden zu lassen«. Fernando Mires, Die Kolonisierung der Seelen, Fribourg, Luzem 1991, 26ff., der weder die grundlegende Untersuchung Staedlers noch Höffners darauf fußende Ausführungen zu kennen scheint, meint rein vom Wortlaut her, von einer Schenkung ausgehen zu können. Die Tatsache, daß die Bulle »Inter cetera« schließlich ihren Ort in der Leonicus Kollektion gefunden hat, die auf Anweisung Pauls V. (1605-1621) angelegt wurde und ausschließlich Akten zur weltlichen Oberhoheit des Hl. Stuhls enthält, erhärtet zweifelsfrei, daß es sich um einen Lehnsakt handelte, der im Zusammenhang mit der Omni-Insular-Doktrin verstanden werden kann. 3° Staedler, a.a.O., 371ff.
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graphie als prä-amerikanische oder noch besser pseudo-asiatische deuten müsse. Der Ausdruck »terras firmas« beziehe sich nach dem Vorgang der Bullen für Portugal nur auf die Genehmigung der Errichtung von Stützpunkten an den Küstenstrichen.31 Staedler bemerkt im übrigen, daß ein Territorial-Kirchenlehn durch Laienhand eigentlich mit der Theorie der Kirchengutsnatur der ganzen Oikumene aufgrund des primatus Petri nicht vereinbar sei. Trotzdem habe sich die Praxis der Kirche mit diesen Gegebenheiten abgefunden und sich darein gefugt, daß die Theorie vom weltlichen primatus Petri und der Universal-Lehnshermeigenschaft der Kirche nur insoweit durchgesetzt werden konnte, »als sie nicht von Laienseite mit Erfolg bestritten« wurde. Schon im Investiturstreit habe Rom den überspitzten Versuch, »die Kirchenlehnseigenschaft des Römischen Kaiseramts aus dem primatus Petri abzuleiten«, nicht durchsetzen können. Andererseits konnte Rom bekanntlich die Lehnshoheit gegenüber den interitalienischen Normannenstaaten im 11. Jh. durchsetzen. Und die Grafschaft Portugal suchte 1143 päpstlichen Schutz und wird seitdem in römischer Tradition als Kirchenlehn angesehen und im 15. Jh. urkundlich auch so behandelt. Johann ohne Land, König von England (1199-1216), hat in den zum Krieg mit Frankreich parallelen siebenjährigen Auseinandersetzungen mit Rom, die zum Interdikt gefuhrt hatten, 1213 nicht nur die Friedensbedingungen Innozenz1 III. angenommen, sondern den päpstlichen Gesandten Krone und Reich in einem Verzweiflungsakt übergeben und als Lehen der römischen Kirche zurückerhalten, nachdem er zugleich für alle seine Nachfolger dem Papst Treueid und Huldigung als Vasall geschworen hatte. Seitdem mußte die englische Krone Rom Tribut entrichten, bis Edward III. (1327-1377) im Jahre 1366 die päpstliche Lehnsherrschaft aufkündigte. 32 Die kastilische Krone dagegen hatte sich erfolgreich dem Anspruch des primatus Petri widersetzt. Auch im Falle von Westindien hat Spanien diese Doppeltheorie nicht akzeptiert. Eine ursprüngliche Gebietsherrschaft der Kirche
31 Vgl. Weckmann, a.a.O., 251 ff. Zu Johann ohne Land vgl. Johannes Haller, Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit III, Reinbek 1965, 298ff. Haller mutmaßt, daß Johann meinte, England sei als Eigentum St. Peters vor allen Feinden am sichersten, da jeder Angreifer sich fortan direkt an der Kirche versündigen würde. Weckmann, a.a.O., 94ff., vermutet trotz unklarer Quellenlage, daß auch hierbei die Omni-Insular-Doktrin eine entscheidende Rolle gespielt hat, kann er doch zeigen, daß der Chronist Johannes Longus ausdrücklich darauf hinweist, England unterstehe Kraft der Donatio Constantini der päpstlichen Oberhoheit - Chronica s. Bertini (M. G. H., SS, XXV). Auch habe Rom trotz der Ablehnung seiner Ansprüche durch das englische Parlament i.J. 1366 bis ins 16. Jh. an seinen Ansprüchen festgehalten. In diesem Zusammenhang erörtert Weckmann auch, ob sich der Peterspfennig zu einer Art Tributleistung entwickelt habe.
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durch den primatus Petri wurde nicht anerkannt. Aber indem die spanischen Kronen sich um ein Auftragslehn bemühten, wurde eine abgeleitete Kirchenherrschaft begründet. Rom überließ es also den spanischen Kronen, »ein der christlichen Kultur noch ferngebliebenes Landgebiet sich politisch anzueignen, auf dem hernach die Kirchenhoheit und die Ausbreitung der christlichen Glaubenslehre platzgreifen konnten«.33 Wenn von protestantischer Seite Blanke kritisiert: »Der Papst verschenkt Reiche, die ihm gar nicht gehören, ja, die er nicht einmal kennt«, und zwar »aus der Fülle seiner apostolischen Vollmacht heraus«, die er in der Bulle »Romanus Pontifex« vom 8. Januar 1455 zweifellos »im Sinne der päpstlichen Weltherrschaft« versteht, »wie sie im Hochmittelalter Innozenz III. (1198-1216) und Bonifaz VIII. (1294-1303) verkündet hatten: Der Papst hat die Oberhoheit über den gesamten Erdkreis, auch über die Heidenvölker.« »Heidnische Staaten haben also überhaupt keine Daseinsberechtigung ... Die Bulle Nikolaus' V. von 1455 hat ... in der Bulle Alexanders VI. von 1493 ihr genaues Gegenstück.«34 so kann man ihm vorhalten, er verkenne den Charakter des Auftragslehns von »Inter cetera« und den Gesichtspunkt, daß sich die Bulle zweifellos zunächst nur auf Inseln und Küstenstriche bezog. Aber im Kern bleibt seine Kritik doch berechtigt, denn indem der Papst Auftragslehn über heidnische Staaten, und seien es Inselstaaten, vergibt, leugnet er deren Existenzberechtigung nach der erwähnten Theorie, daß sich legitime staatliche Macht nur vom geistlichen Schwert ableiten lasse. Und die Wirkungsgeschichte läuft genau in Richtung der Bestätigung des päpstlichen Universalismus. So schreibt der spanische Humanist, Jurist und Hofchronist Karls V., Juan Gines de Sepülveda (ca. 1490-1573), noch Mitte des 16. Jhs. in seinen »De Rebus Hispanorum Gestis ad Novum Orbem Mexicumque« unter Bezug auf die Bullen Alexanders VI., daß der Papst »die gute Absicht und die Entschlossenheit« der spanischen Könige, »die Indianer zu unterwerfen, damit sie leichter die christliche Religion mit der Predigt des Evangeliums annehmen, als sehr gut anerkannt« habe. Darüber hinaus habe er »kraft eigener Vollmacht und Autorität und derjenigen Christi, dessen Vikar er ist, ihnen und ihren Nachkommen auf unbegrenzte Zeit Recht und Befugnis (über diese
33
Vgl. Staedler 1937, 387f.
Fritz Blanke, »Mission und Kolonialpolitik«: Missionsprobleme des Mittelalters und der Neuzeit, Zürich 1966, 89-114, 89ff.
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Gebiete) gegeben, damit sie ihn (den Missionsauftrag) durchfuhren. Wenn sich auch die kirchliche potestas, die Christus seinem Stellvertreter gab, wesentlich auf jene Dinge bezieht, die die Religion berühren, so bezieht sie sich doch auf die Gesamtheit des Erdkreises und erstreckt sich auch auf die zivile Gesetzgebung und auf jede andere, wenn deutlich sein sollte, daß dies aus Gründen der Regierung oder der Verbreitung der Religion erforderlich ist, wie es diese Frage zumeist bei den Indianern bedingt, welche, wenn sie nicht der Herrschaft der Christen unterworfen werden, nicht bewegt werden können, allein durch das Mittel von Lehre und Überzeugung den Glauben an Christus anzunehmen, jedenfalls nicht ohne große und zahlreiche Gefahren und Schwierigkeiten und nach Ablauf einer sehr langen Zeit.«35 So wichtig es ist, den Rechtscharakter der Bulle genau zu bestimmen und zwischen der päpstlichen Intention, nämlich der Missionierung der Inselbevölkerung, und dem »machiavellitischen« Gebrauch, den die spanischen Könige von dem päpstlichen Dokument gemacht haben, zu unterscheiden,36 so gilt es doch gerade aus der Sicht der Eroberten, primär die grausame von Gewaltanwendung gekennzeichnete Wirkungsgeschichte zu beachten, die die Bulle, wenn nicht ermöglicht, so doch erleichtert hat. Doch soll vorher noch kurz dargelegt werden, worin die Lehre von der päpstlichen Oberhoheit über die Heidenvölker und die Rechtfertigung der Gewaltanwendung gegen Heiden wurzelt. Der Rekurs auf Augustin ist nicht nur aus theologiegeschichtlichen Gründen unvermeidlich, sondern auch deshalb weil ein Mann wie der spanische Humanist Sepülveda sich zur Rechtfertigung seiner Theorie der Kombination von Unterwerfung und Mission extensiv auf Augustin beruft (vgl. Abschnitt 9).
Hechos de los españoles en el Nuevo Mundo y México, lib. I, núm. XII - JONNIS GENESIJ SEPULUEDAE, CORDUBENSIS, De rebus Hispanorum ad novum terrarum Orbem, Mexicumque: gestis - edición crítica de Demetrio Ramos con la colaboración de Lucio Mijares Pérez y Jonas Castro Toledo im Sammelband: Juan Ginés de Sepúlveda y su Crónica Indiana..., Valladolid 1976, 185-496, 20 lf. Dies betont Lopetegui, in: León Lopetegui SJ und Félix Zubillaga SJ, Historia de la iglesia en la América española, Madrid 1965, 53ff., der P. Castañeda Delgado, La teocracia pontificial y la conquista de América, Vitoria 1968, vorwirft, allzu leichtfertig vom theokratischen Denken Alexanders VI. zu reden. Der Papst habe sich keineswegs als Hen- der Welt gefühlt, bestenfalls in eingeschränktem Sinne als Herr der Heidenwelt.
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3. Von Augustins Gedanken des Missionszwangs zum »politischen Augustinismus« des Papsttums im Hochmittelalter Solange die Christen von den antiken Kulturvölkern als eine jüdische Sekte angesehen wurden, wurde der verächtliche Begriff Barbaren auf sie angewandt. Nach der unter Konstantin d. Gr. eingeleiteten Verschmelzung des Imperium Romanum mit dem Christentum wurden in beiden Reichshälften zunehmend die Begriffe Römer und Christen identifiziert. Der Sinn des Begriffs Barbar aber wandelte sich dergestalt, daß er künftig die Ungläubigen, also die Heiden bezeichnete.37 Einen Krieg aber gegen Barbaren zu fuhren, hielt z.B. Aristoteles »für ganz naturgemäß gerechtfertigt«, eine Ansicht, die zwar keineswegs von allen griechischen Philosophen geteilt wurde, die aber für die römische Staatspraxis selbstverständlich wurde.38 Eine solche Ansicht wurde zwar nicht einfach von der Christenheit rezipiert, sie hat aber möglicherweise dazu beigetragen, die Hemmschwelle für Gewaltanwendung gegen Heiden zusammen mit anderen Argumenten zu reduzieren, ein Prozeß, dessen Beginn man bei Augustin beobachten kann. Die Bereitschaft Augustins, religiöse Zwangsmaßnahmen der staatlichen Behörden zu billigen, hat ihm den Ruf eingebracht, »der erste Theoretiker der Inquisition zu sein«.39 In Wirklichkeit kann man Augustins Denken nur aus seiner inneren Entwicklung, aus der kirchlichen Situation in Nordafrika und der gesamten Reichskirche verstehen. Außerdem muß die Entwicklung des Denkens des Kirchenvaters im Kontext der katholischen Bischöfe der Reichskirche der Provinz Nordafrika gesehen werden, die nicht gegen religiösen Zwang gegen-
37
Vgl. J. Jüthner, Ait. »Barbar«: RAC Bd. 1, Stuttgart 1950, Sp. 1173-1176, 1176. Es ist übrigens aufschlußreich, daß auch den Azteken die spanischen Konquistadoren wie Barbaren vorkamen und im Kampfgeschehen auch so genannt wurden, um den Widerstandswillen der Krieger zu erhöhen - vgl. den Aufruf des Hauptmanns Hecatzin 1520 bei der Verteidigung Tenochtitláns: »Warriors of Tlatelolco, now is the time. Who are these barbarians? Let them come ahead!« - vgl. The Broken Spears. The Aztec Account of the conquest of Mexico. Edited and with an Introduction by Miguel LeónPortilla, Boston 1966 (Original: Visión de los Vencidos, México D. F. 1959), 106. 38
Vgl. Friedrich Lammert, Art. Kriegsrecht, RACA Suppl. Bd. VI (1935), Sp. 1351-1362, Sp. 1353 mit Verweis auf Aristoteles, pol. I 8, 1256 b 27. Vgl. R. A. Markus, Saeculum: History and Society in the Theology of Saint Augustine, Cambridge 1970 - vgl. den Auszug: »Coge intrare: Die Kirche und die politische Macht«: G. Ruhbach (Hg.), Die Kirche angesichts der Konstantinischen Wende, Darmstadt 1976, 337-361, 338.
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über dem Heidentum waren. Markus hat die Zusammenhänge überzeugend dargestellt.40 Hier können nur einige Gesichtspunkte herausgestellt werden. In seiner Theologie der »christlichen Zeiten« besaß Augustin eine voll entwikkelte Rechtfertigung für religiösen Zwang. Theodosius und seine Nachfolger galten ihm als Instrumente einer göttlichen Absicht, wenn sie Götzenbilder zerstörten und ihre Völker zum Christentum zwangen. Allerdings läßt gegen Ende der ersten Dekade des 5. Jhs. Augustins Enthusiasmus für das theodosianische Reichskirchensystem als Ausdruck der »christlichen Zeiten« nach, d.h. er befreite sich zunehmend von der eusebianischen Form der Reichstheologie und lehnte diese dann in der 2. Dekade ausdrücklich ab. Deshalb ist es ein schwer erklärbares Paradoxon, daß Augustin an religiösem Zwang festhielt, obgleich seine theoretische Grundlage für religiösen Zwang mit der eusebianischen Geschichtstheologie entfallen war. Hilfreich zur Erklärung dieses Paradoxons ist sicher die Beobachtung, daß im Afrika Augustins der Zwang zu den Gegebenheiten des Lebens gehörte. Als Provinzbischof war Augustin tief in die Ausübung von Zwang verstrickt. »Die Verwaltungsroutine ... machte die Unterscheidung zwischen Kirche und Staat in diesem Bereich unbrauchbar. Ein afrikanischer Bischof sah sich nicht mit der Frage konfrontiert, ob Zwang zu rechtfertigen war oder nicht; er war in vielfältiger Weise durch seine gesellschaftliche Stellung, selbst durch seine bischöflichen Pflichten, Teil eines repressiven Regimes.«41 So weit war es also weniger als ein Jahrhundert nach der Konstantinischen Wende schon gekommen. Dies ist ein wichtiger Gesichtspunkt, den es auch zu beachten gilt, wenn man an die Stellung der Bischöfe innerhalb der Patronatsverfassung im Kolonialsystem Amerikas seit dem 16. Jh. denkt. Dies ist aber mehr der unbewußte Hintergrund des Denkens Augustins. Im Vordergrund seiner »Theorie« des Zwangs stehen seelsorgerliche Überlegungen, wie Markus herausgearbeitet hat. Das römische Prinzip der severitas hat sein seelsorgerliches Handeln in zunehmendem Maße bestimmt. So kann Augustin i.J. 407 Zwang mit einer Arznei vergleichen, »die einem widerstrebenden Patienten zu seinem eigenen Wohl verabreicht wird«.42 D.h. Zwang erscheint als ein echtes Werk der Liebe, »denn >es ist besser, mit Strenge zu lieben, als mit Nachsicht zu täuschenAlle, die ihr findet, zwinget einzutreten< (Lk 14,23)?« Das ist also jenes ominöse Zitat »cogite intrare« aus dem Gleichnis vom Festmahl, das nach Augustin immer wieder für den Missionszwang angeführt werden sollte. Augustin verweist darauf, daß man in der ganzen Bibel lese, »daß Strafe als ein Heilmittel angewandt« werde.44 Über den qualitativen Unterschied zwischen göttlichen und kirchlichen Strafen denkt er nicht nach.45 Juan Gines de Sepülveda sollte sich in seinen »De Rebus Hispanorum Gestis ad Novum Orbem Mexicumque« zur Rechtfertigung der Eroberung Mexikos direkt auf Augustins Interpretation von »cogite intrare« beziehen. Er wollte hieraus zwar keinen Missionszwang ableiten, wohl aber das Recht der Christen, die Heiden zu unterwerfen, die Götzenbilder zu beseitigen und so die Voraussetzungen zur Mission zu schaffen. Er lobt das von dem römischen Statthalter Genadius in der Provinz Afrika erlassene Gesetz, das die Todesstrafe und die Konfiskation der Güter für Verehrer von Götzenbildern vorsah. Durch die Unterwerfung der Heiden werde die Predigt des Evangeliums erleichtert, weshalb sie auch vom Kanonischen Recht gebilligt werde. Außerdem entspreche es dem Naturrecht, Völker von Wilden, deren Sitten und Institutionen der natürlichen Vernunft widersprechen, zur Not auch mit Gewalt zu unterwerfen.46 Zurück zu Augustin: Seine »schreckliche Lehre« der Gewaltanwendung hängt auch mit seiner römischen »Vorstellung von disciplina« zusammen. Er hat diese Vorstellung mit der Grundstruktur seiner Theologie verknüpft. Seit seinen
44
Ebd., 2,6-8.
Markus, a.a.O., 346f. Im Detail ist die Argumentation für Zwang gegenüber den Heiden anders als gegenüber Schismatikern. Bei den Heiden ging es darum, »sie zu zwingen, eine Wahrheit anzunehmen, fiir die sie blind waren, und eine historische Bestimmung zu akzeptieren, die sich in der christlichen Kirche und ihrem Bündnis mit dem Römischen Reich ausdrückte«, bei den donatistischen Schismatikern hingegen ging es darum »sie in die Herde zurückzuholen, zu der sie rechtmäßig gehörten und von der sie abgeirrt waren«. Im letzteren Fall erschien Augustin Zwang als ein legitimer Teil der seelsorgerlichen Tätigkeit der Kirche unter ihren eigenen Schafen. Auch jemand Schmerzen zuzufügen, kann zur diligentia pastoralis gehören! - vgl. Sermo 46, de pastoribus. In seinem letzten antidonatistischen Traktat aus dem Jahre 420 »konnte Augustin noch im gleichen Tenor an einen donatistischen Bischof schreiben, der sich in seiner herrlichen Kathedrale vor dem gegen ihn ausgeschickten kaiserlichen Beamten verschanzt hatte und drohte, sich selbst samt seiner Gemeinde darin zu verbrennen: >Der gegen Dich geschickte Tribun ist nicht Dein Verfolger; er verfolgt Deinen Verfolger, d.h. Deinen Irrtum . . . < « - Contra Gaudentium I 18, 19 (CSEL 53). Hechos de los españoles en el Nuevo Mundo y México, lib. I, núm. XII - a.a.O., 202.
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Endftinfzigem verstand er Entscheidungsfreiheit und Zwang und Furcht immer weniger als Gegensätze, hatte doch auch Gott in seinem langen Erziehungsprozeß des Volkes Israel immer wieder Furcht und Zwang angewandt. »Mag draußen Zwang zu finden sein, im Innern wird der Wille geboren«, dieser Satz aus seiner einzigen Predigt über das Gleichnis vom Königlichen Hochzeitsmahl (Mt 22,1 ff.) blieb seine »ständige Antwort auf den Einwand, daß >die Unwilligen nicht mit Gewalt zur Wahrheit gebracht werden sollenpersonalistische< Begriffe aufzulösen«, in »hohem Maße mit der sich immer stärker herauskristallisierenden Auffassung von Regierung in der römischen Spätantike« übereinstimmte. »Der >Staat< verschwand immer mehr; er wurde zu einem abstrakten Begriff, der hinter der rein persönlichen, schon fast feudalistischen Autorität der senatorischen Statthalter der westlichen Provinzen nur noch verschwommen« wahrnehmbar war.48 »Im Lauf des frühen Mittelalters, als es immer schwieriger wurde, den Begriff des >Staates< auf irgendetwas anzuwenden, was sich in Westeuropa finden ließ, wurden die Kategorien von Augustins >atomistischem Personalismus< bereitwilliger angewandt als je zuvor. Jahrhundertelang war es viel leichter, politische Realitäten in Begriffen von Herrschern, Beamten, ihren Pflichten und Idealen zu betrachten als in Begriffen abstrakter politischer Ideen wie >StaatRegierung< oder öffentlicher Gewaltpolitische Augustinismuseine Tendenz, das Naturrecht in der übernatürlichen Gerechtigkeit, das Recht des Staates in dem der Kirche aufgehen zu lassenatomistische Personalismus< war es vor allem, der es ihm ermöglichte, eine derartige Theorie des Zwangs zu entwickeln«. Zum Verständnis von Augustins Denken ist es also von entscheidender Bedeutung, daß dies eine Theorie des Zwangs durch die Kirche war, die sich für ihn weniger leicht in ihre Glieder auflöste als der Staat. Für die ganze Kirchengeschichte des Mittelalters ist es von großer Bedeutung zu verstehen, daß die Kirche sich im Abendland als die einzige wirklich konsistente Organisation verstand, während der Staat sich im Grunde auflöste in Christen mit weltlichen Funktionen, denen gegenüber die Kirche, und d.h. im Hoch-Mittelalter das immer stärker werdende Papsttum, eine Weisungsbefugnis beanspruchte, was man als politischen Augustinismus bezeichnet. So sehr der alte Augustin den Gedanken eines christlichen Staates ablehnte, wenn damit an eine Angleichung von Staat und Gesellschaft an die Ordnung 48
Markus, a.a.O., 350-358 mit Anm. 56. Ebd., 360f., nach: H. X. Arquilliere, L' Augustinisme politique, Paris 1934,4.
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des Gottesreiches gedacht wird,50 so sehr widerspricht der politische Augustinismus, wie er in der Bulle »Unam sanctam« Bonifaz VIII. zum Ausdruck kommt, nach der die Kirche nicht nur das geistliche Schwert fuhrt, sondern auch über das weltliche Schwert verfügt, das sie den Fürsten nur überläßt, um es für die Kirche zu handhaben (gladius temporalis pro ecclesia exercendus), dem Denken des Kirchenvaters. Nach dieser Theorie, die von Theologen wie Heinrich von Segusia (f 1270) und Ägidius Romanus (f 1316) theoretisch untermauert worden ist, hat der Papst die Oberhoheit über den gesamten Erdkreis, auch über die Heidenvölker. Demnach haben also heidnische Staaten überhaupt keine Daseinsberechtigung, denn ihnen hat der Papst ja das weltliche Schwert nicht überlassen! Implizit hat die Theorie von der Atomisierung des Staates im Denken des alten Augustin seinen Ansatz zur Säkularisierung des Staates in der Wirkungsgeschichte untergraben, denn die erstarkende Kirche des Abendlandes versuchte, mit ihrem römischen Zentralismus die Träger staatlicher Macht zu Erfüllungsgehilfen ihres theokratischen Machtanspruchs zu machen. Ohne diesen Hintergrund ist die Bulle »Inter cetera« von 1493 nicht zu verstehen. Und ohne die Nachwirkung der augustinischen Theorie des Zwangs durch die Kirche läßt sich die Bereitwilligkeit der Mehrheit des iberischen »Kirchenpersonals«, in Amerika Missionszwang als legitim hinzunehmen, kaum erklären, hatte doch Alexander VI. selbst in jener Bulle von der »heiligen und löblichen Absicht« der Könige Isabella und Ferdinand gesprochen, »die Bewohner und Eingeborenen« der neu entdeckten Länder »zum Dienst an Unserem Heiland und zum Bekenntnis des katholischen Glaubens zu fuhren«. Dafür wird das Verb reducere (span. reducir/Reduktion) verwandt, mit dem später in Amerika die Zwangszusammensiedlung der Indios bezeichnet werden sollte.51 Das Moment des Zwangs ist in der päpstlichen Ausdrucksweise implizit enthalten. Zum »politischen Augustinismus« vgl. Rudolf Lorenz, »Zwölf Jahre Augustinusforschung (19591970)«: ThR 40 (1975), 96-149, 122; A. Schindler, Art. »I. Augustin«: TRE 4 (1979) 646-688, 682 und Gordon Leff, Art. »II. Augustinismus im Mittelalter«: TRE 4 (1979) 699-717, 716f. Diesbezüglich gilt es Chadwicks Feststellung zu beachten, daß Augustin zwar der Meinung gewesen sei, »daß ein christlicher Herrscher die Kirche unterstützen solle und sich auch öffentlich gegen die Sünde aussprechen solle«, daß der Kirchenvater aber über die Augustinauslegungen im mittlalterlichen Kirchenrecht sehr erstaunt gewesen wäre, in denen behauptet wird, »daß er gemeint habe, das Reich solle von den Bischöfen mit dem Papst an ihrer Spitze geleitet werden. Er liebte die Kirche von ganzem Herzen, aber das Versagen ihrer Glieder, Geistlicher wie Laien, bescherte ihm immer wieder Augenblicke düsterer Schwermut.« - Henry Chadwick, Augustin, Göttingen 1987, 111. 51 Vgl. Tratados II, a.a.O., 1284. Zum System der Reduktionen vgl. H.-J. Prien, Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen 1978, 215ff. »Reducción a pueblos« - Umsiedlung aus verstreuten Wohnsitzen in nach spanischem Vorbild organisierte Ortschaften - galt zusammen mit der
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4. Kreuzzüge und Inquisition Kreuzzüge wie Inquisition sind im Zeichen des »politischen Augustinismus« kurz hintereinander im Hoch-Mittelalter entstanden, nachdem es Heidenkriege schon vorher gegeben hatte. Ein besonders bekanntes Beispiel sind die Sachsenkriege Karls d. Gr. (772-802).« Wie schon bei Augustin zu beobachten ist, hängt die Bereitschaft zur Gewaltanwendung gegen Menschen innerhalb der Kirche und gegen Menschen außerhalb der Kirche eng zusammen. Dem ersten Kreuzzug lag ein Hilfeersuchen Kaiser Alexios' I. von Byzanz (1081-1118) an Papst Urban II. zugrunde, das Urban auf einer Synode in Clermont 1095 bekanntgab. Die Kampfbereitschaft der Ritter war motiviert durch den Wunsch nach Befreiung des Heiligen Grabes im Zusammenhang mit der zunehmenden Mode der Jerusalemwallfahrt und dem Wunsch, der östlichen Christenheit zu helfen und dadurch eine Union zu ermöglichen. Die Kampfbereitschaft wurde erhöht durch die päpstliche Verleihung eines Stoffkreuzes, das der Bewegung den Namen gegeben hat, und durch die Verkündung eines Plenarablasses. Natürlich spielte auch Abenteuerlust eine Rolle. Die Ablenkung des Kampfdranges der Ritter auf äußere Feinde kam außerdem dem inneren Frieden zugute. Schließlich konnte durch die Ausbildung des Gedankens eines Heiligen Krieges gegen Heiden und Ketzer der Ritterstand in das Corpus Christianum integriert werden.53 Der Gedanke, die Befreiung des Heiligen Grabes durch die Schätze Westindiens zu ermöglichen, beflügelte noch Christoph Kolumbus.54 Weil »das mittelalterliche Papsttum auch den Anspruch auf die politische Mitgestaltung
Lebensweise nach spanischen Gesetzen und Gewohnheiten als Ausdruck der Zivilisation, die wiederum als Vorbedingung zur Mission angesehen wurde. Vgl. dazu: Reinhard Schneider, »Karl der Große - politisches Sendungsbewußtsein und Mission«: Kirchengeschichte als Missionsgeschichte Bd. II/l, hg. v. Knut Schäferdiek, München 1978,227-248. Vgl. H. Roscher, Art. »Kreuzzüge«: EKL3 II, Sp. 1470-1474; ideengeschichtlich zur germanischen Komponente des Rittertums vgl. Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart 1935/Darmstadt 1980. Der von Urban II. auf der Synode von Clermont 1095 verkündete Kreuzzugsablaß »pro omni paenitentia reputetur«, galt »pro remissione omnium peccatorum« - Mansi XX, 816; MSL 151,483 zit. bei Brieger, Art. »Indulgenzen«: RE\ Bd. IX, Leipzig 1901, 79. Kolumbus meinte auf seiner dritten Reise (1498-1500), auf der er die Mündung des Orinoco und die Perleninseln entdeckt hat, das Irdische Paradies gefunden zu haben, dessen Reichtümer ohne weiteres ausreichen würden, um den letzten entscheidenden Kreuzzug zur Rückeroberung des Heiligen Grabes in Jerusalem mit 100.000 Mann Infanterie und 10.000 Mann Kavallerie führen zu können - vgl. Luis Weckmann, »The middle Ages in the conquest of America«: L. Hanke, History of Latin American civilization. Sources and interpretations, Boston '1967, vol. I The colonial experience, 1022, 11 f.
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des orbis christianus erhob, wird es begreiflich, daß auch die Päpste die Ketzerverfolgung bejahten«. 55 Das ist der Ausgangspunkt der päpstlichen Inquisition, die sich, wie das Beispiel des 1209 von Innozenz III. ausgerufenen Albigenserkreuzzugs in Südfrankreich zeigt, auch mit dem Kreuzzugsgedanken verbinden konnte. Hier wurden die Ritter gegen innere Feinde der Christenheit aufgeboten. Die Ausbildung der Inquisition erfolgte im Zuge der erneuten Rezeption des römischen Kaiserrechts, zu dem die Strafandrohung gegen Ketzer, besonders Androhung der Todesstrafe gegen die Manichäer gehörte. Außerdem spielte der aus der engen Verbindung von Kirche und Imperium Romanum resultierende Zwang zur Kircheneinheit unvermindert eine Rolle. Die mit neuen Mitteln zu erzwingende Glaubenseinheit wurde zunehmend auch juristisch verstanden. Nachdem die Inquisition zunächst Sache der Bischöfe gewesen war, faßte Gregor IX. (12271241) in der Konstitution »Excommunicamus« i.J. 1231 die bisherige Ketzergesetzgebung zusammen 56 und betraute mit der Wahrnehmung der nun zusätzlich geschaffenen päpstlichen Inquisition den Bettelorden der Dominikaner. Innozenz IV. dehnte das Privileg, Inquisitor werden zu können, 1246 auf die Franziskaner aus. Die germanisch-romanischen Staaten hatten bis dahin nur kirchliche Strafen wie Bann und Klosterhaft fiir Ketzer gekannt. Nun aber wurde 1231 von Gregor IX. die Hinrichtung durch Verbrennen für Hartnäckige oder Rückfallige angeordnet, eine Strafe, die im römischen Kaiserrecht für Manichäer, im germanischen Recht für Zauberei und Giftmischerei vorgesehen war. Wie die inquisitorische Folter sollte auch die Todesstrafe vom weltlichen Arm vollzogen werden. Entscheidend für die Strafverschärfung war der erstmals durch Innozenz III. gebrauchte Vergleich der Ketzerei mit Majestätsbeleidigung. 57 Während bis in die erste Hälfte des 12. Jhs. einige Bischöfe und Bernhard von Clairvaux noch dafür plädiert hatten, »der Glaube solle in Güte dem Herzen nahegebracht werden, nicht mit Gewalt erzwungen werden«, wandten sich von Thomas von Aquin (1225-1274) bis ins 16. Jh. hinein alle Theologen als Verteidiger des universalen orbis christianus »auch gegen >Fremdkörpersoziale Kontrolle< über alle Be-
58 Vgl. Höffner 1969,47ff.
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lange des täglichen Lebens ausgeübt wurde«.59 Dieses Prinzip sollte auch in Amerika gelten, nachdem Philipp II. 1570/71 Inquisitionstribunale in Mexiko und Lima errichtet hatte. Ihre Aufgabe war die Überwachung der katholischen Orthodoxie, wobei Orthodoxie mit Gehorsam gegenüber der etablierten Ordnung gleichgesetzt wurde. Da Religion und Politik eine unteilbare Einheit bildeten, wurde auch von der Inquisition kaum zwischen politischer und religiöser Häresie unterschieden. »Das heilige Offizium klagte Häretiker als Verräter und Verräter als Häretiker an«.60 Wenn auch die Reconquista der Iberischen Halbinsel gelegentlich die Züge eines Maurenkreuzzuges angenommen hat, so ist sie doch im allgemeinen kein Glaubenskrieg gewesen, der auf die Christianisierung der Mauren abzielte, sondern war zunächst von »Verteidigung und Selbstbehauptung gegen die Macht des Islam« und später zunehmend von der Zielvorstellung einer »Wiederherstellung Spaniens, wie es vor der arabischen Invasion bestanden hatte«, einschließlich der Wiederaufrichtung der alten Bistümer und der Wiederherstellung der Klöster bestimmt.61 »Das Staatsinteresse hielt den Kreuzzugsgeist in Schranken.«62 Aber in dem Maße, wie die Christen seit Ende des 13. Jhs. endgültig die politische Vormacht errungen hatten, ließ auch die für mittelalterliche Verhältnisse ungewöhnliche Toleranz in Spanien nach, ja sie endete abrupt kurz nach dem Fall des Nasriden-Reiches 1492. Gleichzeitig stellt der Hl. Jakob (Santiago) ein Verbindungsglied zwischen Reconquista Spaniens und Conquista Amerikas dar. Vor den Mauren geflüchtete Mönche hatten vielleicht Reliquien des Hl. Jakob nach Galizien gebracht, das von den Mauren nicht erobert worden war. Hier entstand im 9. Jahrhundert die Legende, daß man auf einem Feld außerhalb der Stadt Iria Flavia zur Zeit des Bischofs Theodemir die Gebeine des Hl. Jakob gefunden habe, so daß das Wallfahrtszentrum Santiago de Compostela entstand. Tatsächlich haben Grabungen Zum nationalen Band vgl. Dieter Boris, Ursprünge der europäischen Welteroberung, Heilbronn 1992, 67, zur sozialen Kontrollinstanz vgl. H. Kamen, Art. »Inquisition«: TRE XVI (1987), 189-196, 193. Richard E. Greenleaf, »The Mexican Inquisition and the Enlightenment«: Greenleaf (Hg.), The roman catholic church in colonial Latin America, New York 1971, 164-176, 174 mit Bezug auf Nueva España, genauso J. A. de Sousa Montenegro, Evolu^äo do catolicismo no Brasil, Petrópolis 1972, 20ff., mit Bezug auf Brasilien. 61
Vgl. Jan Dhondt, Das frühe Mittelalter (Fischer Weltgeschichte Bd. 10), Frankfurt 1968, 195, der die Reconquista wohl zu stark mit dem Kreuzzugsgedanken identifiziert. R. Konetzke, »Christentum und Conquista im spanischen Amerika«: Saeculum 23 (1972), 59-73, 61.
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unter der Kathedrale von Santiago ergeben, daß sich hier das Grab des Bischofs Theodemir und Reste eines römischen Mausoleum aus dem 1 .-2. Jh. befinden. Obwohl man vermuten könnte, die 1170 gegründete Bruderschaft, die den Namen Santiagos annahm, sei zum Schutz der Pilger gebildet und habe sich dann zum Ritterorden von Santiago umgebildet, wie ja auch aus dem im Pilgergewand dargestellten Santiago ein Ritter auf weißem Pferd mit dem gezückten Schwert in der Hand wurde, ist dem nicht so. Vielmehr wurde diese Bruderschaft von König Ferdinand II. von León nach der Eroberung von Cáceres in der Extremadura gleich als Ritterorden gegründet, um die Maurengrenze zu schützen (päpstliche Bestätigung durch Alexander III. 1175). Erst durch die Allianz des ersten Großmeisters mit dem Erzbischof von Santiago, durch den sich die Ritter verpflichteten, die erzbischöfliche Stadt Albuquerque zu verteidigen, erhielten sie im Gegenzug ein Banner Santiagos und wurden nun Vasallen des Heiligen.63 Unter den Vorderhufen des Rosses Santiagos wird stets ein am Boden liegender Maure abgebildet. Santiago erhielt den Beinamen »Matamoros«, der Maurentöter, und wurde zum Kriegsheiligen der Reconquista. Nach der Legende soll er schon 822 auf seinem Schimmel reitend in die Schlacht von Clavijo eingegriffen haben. Bei der Eroberung der Neuen Welt behielt Santiago seine Bedeutung als Schlachtenhelfer. Der Schlachtruf der Konquistadoren lautete weiterhin: »Santiago!« Und aus dem »Matamoros« wurde ein »Mataindios«, ein Indianertöter. Auf den Darstellungen in Amerika pflegt ein Indio unter den Füßen seines Rosses abgebildet zu sein. Bei der Eroberung Mexikos riefen des Truppen von Cortés ständig auch Santiago an, und nach dem Rückzug aus Tenochtitlán am 1. Juli 1520 erwähnt der Conquistador Bernal Díaz Castillo, daß ein Aztekenführer bezeugen könne, wie Santiago den Spaniern in einer Abwehrschlacht geholfen habe.64 Sowohl litera63
Vgl. D. W. Lomax, La Orden de Santiago (1170-1275), Madrid 1965; J. L. Martín, Orígenes de la Orden Militar de Santiago (1170-1195), Barcelona 1974; Odilo Engels, »Die Anfänge des spanischen Jakobusgrabes in kirchenpolitischer Sicht«: Römische Quartalschrift 75 (1980), 146-170, wiederabgedruckt in: Reconquista und Landesherrschaft, Paderborn etc. 1989, 301-325. Bemal Diaz del Castillo, Historia Verdadera de la Conquista de la Nueva España. Hg. v. Joaquín Ramírez Cabanas, México D. F. 1969 bzw. die englische Übersetzung: The true History of the conquest of Mexico written in the Year 1568 by Captain Bernal Diaz del Castillo, one of the Conquerors, and translated from the Original Spanish by Maurice Keatinge, with an introduction by Arthur D. Howden Smith (London 1800), reprinted New York 1927, 263: »Then to hear the valiant Sandoval, how he encouraged us crying out, >Now gentlemen is the day of victory; put your trust in God, we shall survive for he preserves us for some good puposeSantiago!< in die Schlacht stürzt, so weniger in der Hoffnung auf ein Eingreifen des Schutzheiligen der Spanier als vielmehr, um sich selbst Mut zu machen und die Gegner in Schrecken zu versetzen.« & Vgl. Tratados de Fray Bartolomé de Las Casas II (Biblioteca Americana, serie de Cronistas de Indias), México D. F. 1965, 1284. In der Bulle »Inter cetera« vom 3. Mai 1493 ist ähnlich von der »tyrannischen Macht der Mauren« die Rede - ebd., 1277.
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tum übergetreten waren (Marranen), bildeten das Rückgrat des entstehenden Bürgertums. Im Gefolge der Judenpogrome von 1492 kam es zu den schlimmsten Judenmassakem der spanischen Geschichte.68 Neid und Besitzgier der Altchristen dürften ähnlich wie bei den Judenpogromen in Deutschland wesentliche Motive gewesen sein.69 Ca. 150.000 Juden sollen 1492 unter weitgehender Zurücklassung ihres Vermögens Kastilien, wo 85% der Juden lebten, und Aragon verlassen haben.70 Jene etwa 50.000, die sich zur Taufe bereitfanden, wurden zusammen mit den früheren Marranen verstärkt von der Inquisition überwacht und verfolgt. Dasselbe Schicksal blühte den Juden in Portugal und jenen, die aus den spanischen Reichen dorthin geflohen waren, als auch dort 1536 die Inquisition eingerichtet wurde. Ob es zu einer tragischen Verbindung zwischen der Judenvertreibung und dem »Unternehmen Amerika« kam, wie Wassermann behauptet, ist nicht sicher.71 Zehn Jahre später sollte auch den Mauren unter Mißachtung der Kapitulationsbedingungen die Stunde des christlichen Zwanges schlagen. 1502 wurden die ca. 1 Mill. Mauren in Kastilien vor die Alternative Taufe oder Auswanderung gestellt, woraufhin ca. 300.000 Taufunwillige vertrieben wurden, während sich ca. 700.000 dem Bekehrungszwang fügten. Wie die konvertierten Juden wurden auch die übergetretenen Mauren (moriscos) gern der Scheintaufe verdächtigt, weshalb sie einer besonders strengen Überwachung durch die Inquisition ausgesetzt waren. Außerdem schützten sich die Altgläubigen gegen den Aufstieg der Konvertiten durch ihre Gesetze zur limpieza de sangre (Blutreinheit). Christliche Nachkommen von Juden und Mauren durften bis in die vierte Generation nicht in religiöse Orden aufgenommen werden und durften auch keine staatlichen Ämter und Würden bekleiden. Der durch die Blutreinheit bestimmte spanische Begriff der Rassereinheit ist
Vgl. B. Lewin, La inquisición en Hispanoamérica, Buenos Aires 1967, 129f. 69
Vgl. zu Deutschland E. Iserloh, »Die Juden in der Christenheit des Mittelalters«: HKG(J) III/2 (1968) Neudruck 1985,723. 70
Vgl. Heinrich Pleticha, Christoph Kolumbus. Der Beginn der Neuzeit. Gütersloh 1987, 124.
Jakob Wassermann, Christoph Kolumbus. Der Don Quijote des Ozeans, München 1977, 120f. Als sich 1493 die Finanzierung der 2. Reise des Kolumbus mit einer Anleihe der Krone Kastiliens beim Herzog von Medina-Sidonia in Höhe von 5 Mill. Marevedis allein nicht darstellen ließ, wurde auf »das geraubte und beschlagnahmte Eigentum der vertriebenen Juden, ihre Häuser, Kapitalien, Juwelen und die gesamte fahrende Habe« zurückgegriffen.
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allerdings weniger biologisch als geistlich geprägt.72 Er bezeichnet die altchristliche Abstammung. Bezeichnenderweise wurde der religiöse Fanatismus, der zur Vertreibung der Mehrzahl der Juden und Mauren geführt hat, von denselben Kräften gefördert, die die innere Reform des spanischen Katholizismus auf ihre Fahnen geschrieben hatten, z.B. von dem franziskanischen Erzbischof von Toledo und Beichtvater der Königin Isabella, Francisco Jiménez de Cisneros. Mögen die Katholischen Könige »trotz ihres persönlichen, beinah fanatischen Glaubens, anfangs keine Pläne zur Herbeiführung der religiösen Einheit Spaniens mittels der Inquisition gehabt« haben, so war doch die religiöse Zwangseinheit schließlich das Ergebnis ihrer Politik,73 weshalb man auch von der Hispanisierung Spaniens im 16. Jh. sprechen kann. Es ist bezeichnend für die Mentalität gewisser Kreise, welche Ratschläge König Philipp II. zur Lösung des Morisco-Problems gegeben wurden. Einige empfahlen ihm, die Moriscos auf Schiffe zu verladen und auf dem Weg nach Afrika ins Meer werfen zu lassen. Ein Bischof hatte die originelle Idee vorzuschlagen, die Moriscos kastrieren und dann nach Amerika schicken zu lassen, damit sie auf natürliche Weise ausstürben, ohne weitere Ketzer zeugen zu können.74 Auf der Iberischen Halbinsel, auf der eine besondere Situation von völkischreligiösem Pluralismus bestanden hatte, ist es also nach Durchsetzung der Hegemonie der Christen im Geiste augustinischer Tradition zu einem besonderen Ausmaß von Gewaltanwendung gegen Nichtchristen gekommen. Bei der Eroberung und Kolonisierung Amerikas konnte kaum mehr Toleranz und Verständnis gegenüber anderen Religionen und ihren Anhängern erwartet werden, als in Spanien und wenig später in Portugal praktiziert oder vorgedacht wurde.
72
Vgl. Höffner 1969, 85.
H. Kamen, Die spanische Inquisition, München 1967,62f. Vgl. Höffner 1969, 57ff., der weiter auf Aegidius Romanus ( t 1316) hinweist, den radikalsten >Augustinisten< des Orbis christianus, der bei Heiden im eigentlichen Sinne weder Reich noch Königtum, ja nicht einmal privates Eigentumsrecht erkennen wollte, während Augustinus Triumphus ( t 1328) meinte, nur gewaltsame Übergriffe der Heiden gegen Christen könnten die Unterwerfung der Heiden rechtfertigen. 74 Vgl. Vicente Siliö, Nuevo Manual de la Historia de Espafia, Madrid 1969, 531 ff.
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6. Theologische Rechtfertigung von Glaubenszwang und gerechtem Krieg gegen Heiden Fast alle Theologen seit Thomas von Aquin unterscheiden zwischen Häretikern und Apostaten einerseits, gegen die sie Gewaltanwendung billigen, und Heiden und Juden andererseits, gegen die kein unmittelbarer Glaubenszwang angewandt werden dürfe.75 Heiden außerhalb der Grenzen des antiken Imperium Romanum waren nach der Rechtstheorie am ehesten vor christlichen Angriffen sicher. So urteilte Thomas de Vio Cajetanus (1469-1534): »Kein König, kein Kaiser, auch nicht die römische Kirche darf gegen sie Krieg fuhren.«76 Allerdings meinten viele Theologen in augustinischer Tradition, daß Heiden für Gewalttaten gegen Christen und für Lästerungen der christlichen Religion durch Kreuzzüge bestraft werden dürften.77 Mit einer solchen Argumentation konnte dann auch Gewaltanwendung bei der Conquista begründet werden. Schließlich ist zu beachten, daß es einige päpstliche und kaiserliche Schriftsteller gab, die vom mittelalterlichen Universalismus ausgehend, »jedem heidnischen Staat die Daseinsberechtigung« absprachen. Dies gilt von Heinrich von Segusia (f 1270), der behauptete, alle Heiden seien dem Stellvertreter Christi unterworfen. Wenn sie dessen Herrschaft nicht anerkennten, dürften sie mit Waffengewalt unterworfen und ihres Besitzes beraubt werden.78 Von hier aus läßt sich also eine Linie ziehen zu den Bullen »Inter cetera« von 1493 und weiter zur Konquistadorenproklamation von 1514. In diesem Zusammenhang spielt auch die Lehre vom gerechten Krieg eine Rolle. Wie schon erwähnt, gilt ein Krieg gegen Barbaren für Aristoteles und später für die Römer eo ipso als ein gerechter Krieg. Heinrich von Susa (t 1270), Kardinal von Ostia, der berühmteste Dekretalist des 13. Jhs., rechtfertigte so die 7
5 Höffner 1969, 50, Anm. 46a weist daraufhin, daß nur »Duns Scotus meinte, man dürfe die Erwachsenen >minis et terroribus< zur Taufe zwingen; die dritte oder vierte Generation werde dann wohl auch im Herzen gläubig werden (in: 4. Sent dist. 4. qu. 9). Nur wenige Skotisten, z.B. Bartolomäus Mastrius ( t 1673) schlössen sich ihm an.« Secunda Secundae Partis totius Theologiae D. Thomae Acquinatis, Thomae a Vio Cajetani Commentarius illustrata, qu. 66. a. 8. zit. nach Höffner 1969, 56. 77 Vgl. Höffner, a.a.O., 50. Vgl. Höffner 1969, 57ff., der weiter auf Aegidius Romanus (f 1316) hinweist, den radikalsten >Augustinisten< des Orbis christianus, der bei Heiden im eigentlichen Sinne weder Reich noch Königtum, ja nicht einmal privates Eigentumsrecht erkennen wollte, während Augustinus Triumphus (t 1328) meinte, nur gewaltsame Übergriffe der Heiden gegen Christen könnten die Unterwerfung der Heiden rechtfertigen.
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Kreuzzüge. Weil ein Kreuzzug eine Fortsetzung jener Kämpfe darstelle, die schon Rom gegen Barbaren und Heiden unternommen habe, dürfe er »römischer Krieg« genannt werden. Und da nach der Konstantinischen Wende der Begriff Barbaren zunehmend Heiden bezeichnete, lag es gemäß römischer Tradition nahe, jeden Heidenkrieg als gerechten Krieg zu betrachten, wie dies »etwa Heinrich von Segusia (f 1270) und noch im 15. Jh. der Sieneser Professor Martinus Laudensis« taten. Tatsächlich wurde der Krieg gegen die Ungläubigen im Mittelalter schlechthin der »Römische Krieg« genannt. »Dem Kaiser und den Fürsten wurde der Heidenkrieg als heilige Pflicht eingeschärft«,79 was sich freilich primär auf den Krieg gegen die Sarazenen bezog. Der gerechte Krieg wird als ein Gottesgericht über das Unrecht verstanden und trägt mithin religiöse Züge.80 Innozenz IV. (1243-1254) ging der Frage nach Schuld und Unrecht der Heiden näher nach und erklärte, der Papst als Stellvertreter Christi habe das Recht, »gerechte und verdiente Strafen über die Heiden zu verhängen«, und zwar nicht wegen Verletzung des Evangeliums, das nur für die Christen gelte, wohl aber wegen Verletzung des Naturgesetzes. Innozenz IV. ging noch einen Schritt weiter, indem er behauptete, der Papst habe auch das Recht, den Heiden zu befehlen, christliche Glaubensboten in ihren Ländern zuzulassen. Wenn sie diesbezüglich dem Papst den Glauben verweigerten, könne er sie mit weltlicher Gewalt zwingen, indem er ihnen den Krieg erkläre. »Damit war theoretisch das Verhältnis zu den Heidenvölkern als dauernder Kriegszustand gekennzeichnet.« Auch diese Lehren wurden weiter tradiert und verteidigt, etwa von Augustinus Triumphus im 14. und von Antonin von Florenz im 15. Jh.81 Im Grunde war damit die Theorie von der Beleidigung Gottes als Kriegsgrund entwickelt, die in der spanischen Conquista des 16. Jhs. eine Rolle spielen sollte. Wie sich der spanische Absolutismus der Inquisition zur politischen Zentralisierung des Staates bediente, so galt im Spanien des 16. Jhs. das »compelle intrare«, d.h. Heidenmission durch kriegerische Unterwerfung, als nationales Zum Hostiensis vgl. Eberhard Straub, Das Bellum Justum des Hernán Cortés in Mexico, Köln, Wien 1976, 37; zum übrigen vgl. Höffner 1969, 63; zum mittelalterlich-christlichen Kriegsrecht vgl. im einzelnen das Gratianische Dekret (1139-1142) ebd., 64ff. So schon in einem Aufruf Papst Leos IV. (847-855) an das fränkische Heer im Kampf gegen die Sarazenen - Höffner, a.a.O., 65. Vgl. Höffner, a.a.O., 68f., der auch auf Paul Vladimiri von Krakau hinweist, der die päpstliche Lehre noch übertraf, indem er 1415 meinte, »die Sünde des Unglaubens führe zum Verlust des >Menschenrechtspotest finaliter jus humanum amittereapostolisch< weggelassen, und es wird weder die Investitur noch die Übertragung der Privilegien der portugiesischen Könige erteilt, vielmehr werden diese auf zwei verringert: Wiederübertragung (redonatio) der Inseln und térras firmas, die die Könige dem Papst unterstellt haben, an dieselben, und zwar innerhalb des Bereiches, den er festlegt. Allgemeines Verbot, die Inseln und térras firmas, die Gegenstand der päpstlichen Konzession sind, ohne besondere Erlaubnis und Lizenz der Entdeckerkönige zu betreten.«12 Die Bulle »Eximiae devotionis«, im Juli 1493 ausgefertigt, rückdatiert auf den 3. Mai.13 Außer inhaltlich die vorigen Bullen teilweise zu wiederholen, »gesteht sie den Königen von Kastilien und León für die Länder, die sie noch entdecken würden, dieselben Privilegien zu, die vormals Portugal für die entdeckten Gebieten in Afrika zugestanden worden sind.«14 Mit der Bulle »Piis Fidelium«, ausgefertigt am 25. Juni 149315 wird der kastilischen Krone ausdrücklich der Auftrag zur Heidenmission in den entdeckten Übersee-Gebieten erteilt.16 Mit der sogenannten Erweiterungsbulle »Dudum siquidem« vom 25. September 1493,17 »wird die donatio erweitert >auf alle Inseln und térras firmas, die schon gefunden sind oder noch gefunden werden, die schon entdeckt sind oder noch entdeckt werden, die denen die nach Westen oder sogar Süden fahren, begegnen, und zwar sowohl in den westlichen Gebieten wie auch in den östlichen und denen, die es in Indien gibt.«18
12 Giménez Fernández, a.a.O., 40f. Giménez Fernández , ebd., 185ff. hat nachgewiesen, daß die Bulle im Juli 1493 ausgestellt, aber auf den 3. Mai zurückdatiert worden ist, wohl um den Zusammenhang mit »Inter cetera« I zu wahren. Antonio García y Garcia, a.a.O., 33. Manuel Giménez Fernández, »Nuevas consideraciones...«, 181f. Vgl. Günter Kahle, Lateinamerika in der Politik der europäischen Mächte 1492-1810, Köln, Weimar, Wien 1993, 8. 16
Giménez Fernández, a.a.O., 187ff. 18 Garcia y García, a.a.O., 33f.
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2. Forschungsprobleme Hier können nur kurz die Probleme angedeutet werden, die diese fünf Bullen für die Forschung darstellen. Wie Alberto de la Hera bemerkt, machen sich die Bullen zum Teil gegenseitig überflüssig. »Inter cetera« I wird durch »Inter cetera« II überholt. »Die Bulle Eximiae ihrerseits war für sich genommen von geringem Nutzen hinsichtlich der praktischen Wirksamkeit, weil in Kastilien kein Pendant zum Christusorden existierte, auf das die Missionskompetenzen hätten übertragen werden können, weshalb die Übertragung dessen, was besagtem Orden in Portugal zugestanden war, auf Kastilien keinen rechten Sinn machte.« Daher »bedurfte die Eximiae einer anderen Bulle, die sie ergänzte und die Pflicht der Könige, Missionare in die neuen Länder zu entsenden, konkretisierte, eine Pflicht, die ihnen die beiden Inter caetera als Begründung für die Souveränität auferlegten. Diese andere Bulle war die Piis Fidelium, ... die auf Vorschlag der Könige fray Bernardo Boyl als päpstlichen Vikar für die Westlichen Indien ernannte und ihn mit der Ordnung und Leitung der Evangelisationsarbeit beauftragte.«" Die Bullen Inter I und Piis blieben fast bis Ende des 19 Jhs. unbekannt. »Die Dudum wurde während der Zeit der spanischen Herrschaft nicht mehr angeführt.« Die Inter II hingegen »genoß immer besondere Publizität«.20 Die Frage, warum Bullen, die zu ganz verschiedenen Zeiten ausgefertigt worden sind, fast auf denselben Tag datiert sind, bedarf ebenfalls der Erklärung. Die Rechtsgrundlage der Bullen im Augenblick ihrer Ausfertigung und ihre Wirkung in der Folgezeit müssen ebenfalls untersucht werden, um nur einige zentrale Probleme zu nennen.21 »Tatsache ist, daß wir über sehr wenige Beurteilungskriterien verfugen. Wir haben den Text der Bullen, und zwar in Gestalt des Originals und verschiedener Kopien. Wir kennen einige, sehr wenige, unzweifelhafte Tatsachen, die offenkundig und direkt mit ihnen in Zusammenhang stehen. Aber es gibt viele, die wir nicht kennen. Die Archive bewahren über diesen Punkt ein verzweifeltes Schweigen«, wie García-Gallo bemerkt.22 Es ist in der Forschung unbestritten, daß die römische Kurie diese Bullen auf Wunsch
" Alberto de la Hera, Iglesia y Corona en la América Española, Madrid 1992, 55. 20
Vgl. ebd., 63.
21
Vgl. ebd., 63f.
22
Vgl. A. de la Hera, a.a.O., 66f.
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der kastilischen Krone ausgefertigt »Empfängerausfertigungen«.
hat.
Es
handelt
sich
also
um
Angesichts der Fülle der Probleme soll bei der Interpretation der Bullen zweierlei gefragt werden: Erstens, welche Ziele die kastilische Krone mit den Bullen verfolgte, und zweitens, wie die Kurie die römische Rechtsposition bei diesem Akt versteht, bzw. wie sie sie zum Ausdruck bringt. 3. Die Ziele der Krone von Leon und Kastilien In Bezug auf die Ziele der Krone besteht in der Forschung relative Einmütigkeit. Es ging darum, die von Kolumbus 1492 entdeckten Inseln gegenüber Ansprüchen der Krone Portugals zu schützen. Denn die portugiesische Krone hatte durch verschiedene Bullen ihre Rechte im Zusammenhang mit ihrer ÜberseeExpansion absichern lassen, und zwar beginnend mit ihrem Ausgreifen nach Nordafrika, d.h. mit der Eroberung Ceutas i.J. 1415, die Martin V. 1418 mit der Bulle Rex Regum bestätigte. 1436/37 erhielt Portugal die päpstliche Lizenz für den an sich verbotenen Handel mit den Ungläubigen in Afrika (Dudum cum ad nos 1436 und Praeclaris tue devotionis 1437). Im Zusammenhang mit dem weiteren Vordringen an die afrikanische Westküste bis über Guinea hinaus erlangte Portugal von Nikolaus V. 1452 durch die Bulle Divino amore communiti das Kreuzzugsmonopol, was darauf hinweist, daß das Interesse Roms an der portugiesischen Übersee-Expansion durch den Kampf gegen die Sarazenen bedingt war. Außerdem erreichte Portugal durch die Bulle Romanus Pontifex 1455 den Ausschluß aller anderen christlichen Herrscher, und d.h. besonders der Kastilien von den Gebieten südlich des Kaps Bojador, wobei als Ziel erstmals Indien genannt wird.23 Oliveira Marques betont, daß die portugiesischen Afrika-Expeditionen in den allgemeinen Kontext der Kreuzzüge eingeordnet werden müssen. Seit der Bulle Romanus Pontifex »ging es um weit mehr als um Marokko oder den Norden des Kontinents. Es ging um die Eroberung beliebiger Territorien Schwarzer südlich der Sahara, praktisch des ganzen Kontinents, wo auch immer er enden mochte, vorausgesetzt daß die jeweiligen Bewohner nicht Christus anbeteten. Die Por23 Vgl. Juan Manzano Manzano, »El derecho de la Corona de Castilia al descubrimiento y conquista de las Indias de Poniente«: Revista de Indias 7-10 (1942), 397-427, 341: »usque ad Indos«.
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tugiesen behielten die Hände vollkommen frei, um in Afrika mit völliger Billigung des Heiligen Stuhls zu regieren. Lediglich das Reich des Priester(königs) Johannes blieb außerhalb des Bereichs ihrer Souveränität.«24 In diesem Zusammenhang ist hinsichtlich der portugiesischen Aktivitäten die Argumentation Weckmanns zu beachten: »Der Gebrauch verschiedener Begriffe wie portu, maria, provintias darf uns nicht verwirren. Die drei bezeichnen ein und dieselbe Sache. So verstanden es die Portugiesen selbst, deren Reich im 15. Jh. aus einer langen Kette von Küstenhandelsniederlassungen bestand.25 Das heißt ... es handelt sich um eine päpstliche Konzession, die sich auf Inseln bezieht und auf eine Genehmigung für die Portugiesen, Häfen und Handelsniederlassungen entlang der afrikanischen Küste zu gründen. Letzteres war zulässig, weil nach römischem Recht die Küste wie die Luft und das Wasser zum allgemeinen Gebrauch offen waren.«26 Wie Kahle treffend bemerkt, ist durch die Bulle Romanus Pontifex aus dem anfänglichen Kreuzzugsmonopol nun »juristisch ein Handelsmonopol geworden«. Die Monopolisierung des Afrikahandels stellt das eigentlich Neue der Bulle Romanus Pontifex und ihrer Bestätigung durch den folgenden Papst Calixt III. in Inier caetera 1456 dar. Im übrigen bildet die Bulle Romanus Pontifex das eigentliche Vorbild für spätere päpstliche Zuteilungen, d.h. auch für die alexandrinischen Bullen von 1493.27 Man müßte noch hinzufügen, daß das Moment der Kreuzzüge in den Hintergrund tritt und verschwindet. »Während in den portugiesischen Bullen die Erlaubnis erteilt wurde, die afrikanischen Ungläubigen zu versklaven und sich ihrer Güter zu bemächtigen, schweigen die kasti24
A. H. de Oliveira Marques, Historia de Portugal, Lissabon (1972) 21973, 230. 25 Luis Weckmann, Constantino el Grande y Cristóbal Colón. Estudios de la supremacía papal sobre islas (1091-1493), México 1992 (2. Aufl. von: Las Bulas Alejandrinas de 1493 y la teoría política del papado medieval, México 1949), 196f. Aber das neue Element (portus et maria et provintias), ist im Text der Bulle Romanus Pontifex zweitrangig. Die Bulle bezieht sich zunächst auf einzelne Inseln und auch nach der Erwähnung von porlus et maria et provintias behalten die Inseln einen gewissen Vorrang. Und wenn in späteren Bestätigungsbullen portus et maria durch loca o térras ersetzt werden, wird weiterhin der Begriff insulae benutzt. 26 Ebd., 196. Vgl. Kahle, Lateinamerika, 4f., der in Bezug auf den Vorbildcharakter von »Romanus Pontifex« auf Francis Gardiner Davenport, European Traties bearing on the history of the United States and its dependencies, 4 Bde. (Washington 1917-1937), Bd. I, 28-32 und Alfonso García Gallo, »Las bulas«, 779-784 verweist. Alberto de la Hera, Iglesia y Corona, 54, bemerkt, daß Kalixt III. mit der Bulle »Inter caetera« dem portugiesischen Christusorden die geistliche Aufsicht über die Länder, die Portugal auf dem afrikanischen Kontinent entdecken und erobern sollte, übertragen habe«.
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lischen Bullen über diesen Punkt. Der Kreuzzugsgeist wurde, wie es in jenen Jahren schon bezüglich der Kanarischen Inseln geschehen war, durch den Missionsauftrag ersetzt.«28 Dussel meint, daß die portugiesische Krone »die Ausbreitung des christlichen Glaubens« als eines der Ziele ihrer Afrika-Expansion erklärte, um die päpstliche Unterstützung zu erhalten. »So kam die religiöse Begründung der Herrschaftspraxis zustande. Der Heilige Stuhl erkannte die possessio Portugals über die entdeckten und zu entdeckenden Länder an. Zweitens war besagte Machtausübung in Afrika exklusiv. Wer dagegen verstoße, würde dem Bann verfallen. Schließlich war besagte Macht auch wirtschaftlich begründet, d.h. langsam entwickelte sich die Logik des Kolonialismus. Außerdem verlieh der Papst der portugiesischen Krone ein Recht und eine Pflicht, das ius patronatus und die Pflicht der >Verbreitung des Glaubens< unter den Völkern, die von den Sarazenen beherrscht oder ihrer Macht unterworfen waren.« Dussel urteilt: »Es war das erste Mal in der Geschichte, daß das Papsttum einer Nation die doppelte potestas zu kolonisieren und zu evangelisieren zuerkannte, damit also den zeitlichen und den geistlichen Bereich vermischte, das Politische und das Kirchliche, das wirtschaftliche und das Evangeliumsgemäße, so daß es dadurch eine expansive und militärische Theokratie, eben die iberische Christenheit," schuf. Diese irrtümliche Vermischung liegt der ganzen portugiesischen und später spanischen Kolonialevangelisation oder Missionskolonisation zugrunde.30 Obgleich ich die theologische Kritik Dussels teile, muß ich daran erinnern, daß die Vermischung von »Zeitlichem und Geistlichen, von Politischem und Kichlichem« schon in der deutschen Ostkolonisation mit dem Wendenkreuzzug 1147/48 und mit der Erteilung von Kreuzzugsprivilegien für die Eroberungskämpfe des Deutschritterordens seit Innozenz III. (1198-1226) begann. Den Kontext für diese Entwicklung hat die Germanisierung des Christentums gebilGarcia Gallo, a.a.O., 675. Derselbe Autor bemerkt, daß die Päpste in keiner der portugiesischen Bullen »von der Bildung eines Lehens mit den entsprechenden Verpflichtungen der Ehrung und Anerkennung der Oberherrschaft des Heiligen Stuhls und der Zahlung einer Abgabe an ihn« sprechen. Der Begriff »Christenheit« oder »Modell der Christenheit« wird von lateinamerikanischen Autoren in ähnlichem Sinne wie corpus christianum in der deutschen theologischen Literatur verwendet. Enrique D. Dussel, Historia General de la Iglesia en América Latina. Tomo 1/1 Introducción general a la Historia de la Iglesia en América Latina, Salamanca 1983, 342f.
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det, die den Gedanken eines christlichen Rittertums und damit den Schwertgebrauch für die Kirche gefördert hat. Aus alledem wird deutlich, daß die päpstlichen Privilegien für die Krone Portugals so umfassend waren, daß ein analoger Schutz für die Ansprüche Kastiliens auf die von Kolumbus entdeckten westindischen Inseln erlangt werden mußte, zumal König Johannes II., in dessen Gewalt Kolumbus auf der Rückkehr aus der Karibik geraten war, weil er wegen der ungünstigen Wetterlage Lissabon hatte anlaufen müssen, sogleich die neu entdeckten Gebiete für sich beanspruchte, und zwar aufgrund des Staatsvertrages von Alca?ovas von 147931, der den kastilisch-portugiesischen Streit um den Besitz der Kanaren zu Gunsten Kastiliens regelte und im Sinne der Bulle »Romanus Pontifex« festlegte, daß sich Kastilien nicht südlich einer Linie, die vom Kap Bojador in Westrichtung verlief, betätigen durfte.32 Kastilien mußte also im Zweifelsfall erst nachweisen, daß eventuelle Gebietsansprüche nördlich dieser Linie lagen. Sicher dienten die alexandrinischen Bullen der kastilischen Krone primär als Trumpfkarte in der unvermeidlichen diplomatischen Auseinandersetzung mit Portugal. Daß ihr freilich die in der Forschung viel diskutierte Frage nach der rechtlichen Grundlage für eine derartige päpstliche Entscheidung völlig gleichgültig war, wie Pietschmann meint," entspricht modernem Denken, aber kaum spätmittelalterlichem oder frühneuzeitlichem Denken, stellte doch für die Monarchen das Papsttum, das sich von seiner Schwächephase im Zeichen von Schisma und dem darauf folgenden Konziliarismus wieder erholt hatte, noch immer eine wichtige Autorität dar. Und die historischen Erfahrungen mit päpstlichem Handeln ließen es geraten erscheinen, die juristischen Implikationen des Texts der Bullen genau zu bedenken, dies um so mehr als die Textformulierungen in der kastilischen Hofkanzlei weitgehend vorgegeben wurden, wie Staedler gezeigt hat.34 Mögliche päpstliche Deutungen der Bullen dürfte man also sehr
Vgl. Horst Pietschmann, »Die Kirche in Hispanoamerika«: Willi Henkel, Die Konzilien in Lateinamerika. Teil I. Mexiko 1555-1897, Paderborn, München, Wien, Zürich 1984,1-48, 8. 32 Wie Manzano, a.a.O., 342 bemerkt, erwähnt der Vertrag von Alcäfovas zwar nicht expressiv verbis eine Demarkationslinie wie später der Vertrag von Tordesillas, enthält aber die erste Teilung des Atlantik, indem er implizit eine Ost-West-Linie anerkennt, die von den Kanaren aus verläuft und der Trennung der jeweiligen Eroberungen dient. Das Ergebnis von Alcägovas wurde von Sixtus IV. durch die Bulle Aeterni Regis i.J. 1481 anerkannt - vgl. ebd., 343. Der Text des Vertrages ist abgedruckt bei Davenport, European Treaties, Bd. 1,50-55 und bei Garcia Gallo, Las bulas, 785-797. Vgl. »Die Kirche in Lateinamerika«: Willi Henkel, Die Konzilien in Lateinamerika. Teil I. Mexiko 1555-1897, Paderborn, München, Wien, Zürich 1984, 1-48, 8. 34 Vgl. E. Staedler, »Die >donatio Alexandrina< und die >divisio mundi< von 1493. Eine kirchenrechtliche Studie«: AKathKR 117 (1937), 363-402, vgl. 373ff„ 378, 394. Es handelt sich bei den
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wohl bedacht haben. In Ermangelung eines Völkerrechts hatten Ende des 15. Jhs. päpstliche Bullen im christlichen Abendland internationales Gewicht, wenngleich sie im Konfliktfall zweckmäßigerweise noch durch zwischenstaatliche Verträge ergänzt wurden, wie die Verhandlungen in Barcelona und Tordesillas zeigen. Trotzdem darf nicht außer acht gelassen werden, daß selbst der Vertrag von Tordesillas noch von Papst Julius II. am 24. Januar 1506 mit der Bulle Ea quae bestätigt wurde.35 Wichtig ist nun besonders die Frage, wofür genau die Krone Kastiliens päpstlichen Rechtsschutz erhalten wollte, wenn sie für die Bullen die Bezeichnungen »Inseln und Festländer« vorschlug. Es erscheint nach wie vor am plausibelsten, daß Kolumbus die Westroute nach Indien suchte und nach den damaligen kartographischen Kenntnissen damit rechnete, unterwegs auf Indien vorgelagerte Inseln zu stoßen, so »daß die Reise in den Orient auf einem jungfräulichen Weg das Ziel war und die auf dem Weg nach dort zu entdeckenden Inseln als Ruhepunkte auf dem Weg dienen sollten«. 36 »Dementsprechend heißt es in den CaEntwürfen bzw. Bullen um Empfangerausfertigungen, die dem Brauch entsprechend von der kastilischen Hofkanzlei angefertigt wurden (vgl. ebd., 395), deren erster Entwurf verschollen ist, während Eximiae devotionis v. 3. Mai 1493 (vordatiert) und die beiden Fassungen von Inter cetera vom 3. und 4. Mai (vordatiert) erhalten sind (vgl. den Zusammenhang mit anderen Kirchenlehnserrichtungen seit dem 11. Jh. ebd., 390ff.). Staedler spricht mehrfach etwas anachronistisch vom spanischen Staat oder von Spanien und von der Belehnung der Krone Spaniens mit der Landeshoheit über Westindien (z.B. 378), während in den Bullen Ferdinand und Isabella noch als König und Königin von Kastilien, León, Aragón, Sizilien und Granada angesprochen werden, Westindien aber ausdrücklich den Kronen von Kastilien und León, die Isabella trug, als Lehen zugesprochen wird. Indem die Lehnsrechte freilich auf unbegrenzte Zeit auch den Erben und Nachfolgern zugesprochen wurden und nach dem Tode Isabellas (tl504) Ferdinand (tl516) allein herrschte und seit der Thronbesteigung Karls I. (V.) die Thronunion dauerhaft gefestigt wurde, kann man natürlich von Spanien sprechen. Auf die Frage, wieso Rom die entdeckte oder noch zu entdeckende Welt als Kirchengut betrachten konnte, geht Staedler nicht ein. Vgl. den Text der westindischen Edikte bei E. Staedler, »Die westindischen Lehnsedikte Alexanders VI. (1493)«: AKathKR 118 (1938), 377-417. Diesbezüglich stellt die von Weckmann behauptete Omni-Insular-Doktrin eine wichtige Ergänzung dar. In der 2. Fassung von »Inter cetera« ließ Spanien die Investiturklausel fallen, ebenso verzichtete es darauf, seine Rechte in Analogie zu den portugiesischen Rechten bei der Afrikabelehnung zu deuten, und gab den Wünschen der portugiesischen Krone nach der Vereinbarung einer Schiffahrtsgrenze nach, wobei die Wahl der meridianbestimmenden Insel offenblieb. Man einigte sich später auf die Kapverdischen Inseln und schrieb 1494 im Vertrag von Tordesillas fest, daß 370 leguas westlich den Kapverdischen Inseln liegende Gebiete Spanien zustünden, eine Linie die 310° westlicher Länge entspricht - ebd., 394f. Vgl. den Text des Vertrages von Tordesillas u.a. bei Davenport, European Treaties, Bd. 1, 86-100, bei Garcia Gallo, Las bulas, 819-823, bei E. Bradford Bums, A documentary history of Brazil, New York 1970, 16-19 und José Manuel Garcia, »A Minuta do Tratado de Tordesilhas«: Tordesillas. A partilha do Mundo, OCEANOS No. 18 (Juni 1994 - Lissabon), 62-76. Hieran erinnert z.B. Weckmann, a.a.O., 251 f. Manzano, a.a.O., 343, der seinerseits Emiliano Jos zitiert.
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pitulaciones de Santa Fe (de la Vega de Granada, 17 April 1492) >Inseln und Festlandc, und dieses Festland, dieser Kontinent oder Regionen eines Kontinents konnten nichts anderes sein als die von Ostindien.«37 Da Kolumbus den Erdumfang völlig unterschätzte und nur mit einem Weg von ca. 800 leguas von den Kanarischen Inseln rechnete, d.h. mit ca. 4500 km, und tatsächlich in dieser Entfernung auf Inseln stieß, mußte er überzeugt sein, auf Indien vorgelagerte Inseln gestoßen zu sein.38 Genau am 13. Oktober 1492 vermerkt er in seinem Bordbuch: »aber um keine Zeit zu verlieren, möchte ich abfahren um zu sehen, ob ich auf die Insel Cipango39 stoßen kann«, d.h. auf Japan. Und am 23. Oktober 1492 schreibt er: »Ich möchte heute nach der Insel Kuba abfahren, von der ich annehme, daß sie Cipango ist...«. 40 Da der portugiesische König Johannes II. offenbar aufgrund der Annahme, diese Inseln lägen südlich der im Vertrag von Alca^ovas stipulierten Ost-WestLinie, bereits seinen Anspruch auf die neu entdeckten Inseln angemeldet hatte,41 war die päpstliche Unterstützung des kastilischen Anspruchs höchst erwünscht, dies um so mehr, als der portugiesische König, dessen Krone sich nach dem entsprechenden Gesuch von 1143 auf päpstliche Schutznahme stützte und seitdem in römischer Tradition als Kirchenlehn betrachtet wurde, seine eigenen Übersee-Ansprüche auf päpstlichen Bullen gründete. Da es sich bei den »kolumbischen Inseln« nach dem Erkennmisstand von Kolumbus um Inseln handeln sollte, die Indien östlich vorgelagert waren, konnte sich nach der Logik der Dinge der durch die Schenkungsbulle, also »Inter cetera« vom 3. Mai 1493, begründete kastilische Anspruch nur auf scheinbar Indien vorgelagerte Inseln und noch zu entdeckende Abschnitte der indischen Küste beziehen. Darauf haben u.a. Manzano42 und Weckmann hingewiesen. Da
Manzano, ebd., 344. Weckmann, a.a.O., 204 weist in diesem Zusammenhang auf den Brief hin, den die Katholischen Könige am 30. März 1493 an Kolumbus geschickt haben, in dem es in der Anschrift heißt: »An Don Cristóbal Colón, unseren Admiral des Atlantiks und Vizekönig und Gouverneur der Inseln, die in den Indien entdeckt worden sind«. Weckmann fügt S. 211 hinzu: »Die Erwähnung von Festländern, wie die Bulle sie enthält, muß in dem traditionellen Sinne der Genehmigung von Küstenstützpunkten verstanden werden, auf dieselbe Weise wie sie einige Zeit zuvor den Portugiesen durch die Bulle Romanus Ponlifex päpstlich zugestanden worden war.« 3 g Vgl. Weckmann, ebd., 545f. Cristóbal Colón, Los Cuatro Viajes del Almirante y su Testamento. Edición y Prólogo de Ignacio B. Anzoátegui, Madrid (1946) 51971, 32. Man vergleiche dazu auch die Karte bei Salvador de Madariaga, Kolumbus, München, Wien 1989 mit der Lage von Cipango. Manzano, a.a.O., 45. 41
Vgl. Weckmann, a.a.O., 408. Vgl. Manzano, a.a.O., 415f.
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Amerika als Kontinent noch gar nicht entdeckt war, können sich die Bullen nicht auf Amerika beziehen. Deshalb schlägt Weckmann vor, daß man die alexandrinischen Bullen im Kontext der zeitgenössischen Kartographie als präamerikanische oder noch besser pseudo-asiatische deuten müsse. Der Ausdruck »terras firmas« beziehe sich nach dem Vorgang der Bullen für Portugal nur auf die Genehmigung der Errichtung von Stützpunkten an den Küstenstrichen.43 Im Gegensatz dazu betont Garcia Gallo, daß die mittelalterliche Omni-insularTheorie in keinem päpstlichen Dokument vorkomme und »daß die Bullen Romanus Pontifex und Aeterni Regis sich eher auf kontinentale Teile Afrikas oder auf Meere und Handel als auf die Inseln bezögen«.44 Mir scheint, daß die Bullentexte diese Behauptung nicht überzeugend begründen. Außerdem bemerkt Garcia Gallo, daß Weckmann vergesse, daß in Ititer II ein geradezu zwanghaftes Bestreben zutagetrete, überall dort, wo in Inter I »insulas et terras« stehe, nun terras firmas zu schreiben.45 Tatsache ist aber, daß Portugal im 15. Jh. nur Interesse an Inseln und Küstenstützpunkten in Afrika gezeigt hat, und zwar mit Ausnahme des Bantu-Königtums des Manikongo, das einen Sonderfall darstellt. Hier hatte sich der Manikongo Nzinga Nkuvu mehr aus politischen als aus religiösen Gründen 1491 taufen lassen, und die herrschende Schicht folgte seinem Beispiel. Hierin kann man eine Parallele zur mittelalterlichen Germanenmission sehen, bei der auch das Vorbild des Königs ausschlaggebend war. Der Manikongo erhielt nach dem Vorgang des kaiserlichen Taufpatronats in einer prächtigen Tauffeier den Namen des portugiesischen Königs Johannes.46 Man kann direkt im mittelalterlichen Sinne davon sprechen, daß Portugal der Lehnsherr 43
Vgl. Weckmann, a.a.O., 251 ff.
44
In Romanus Pontifex von 1454 heißt es: »...idem Alfonsus rex, seu eius auctoritate predictus Infans, iuste et ligitime, insulas, terras, portus et maria, huiusmodi acquisivit ac possedit et possidit« (10). Und in der Inier cetera von 1456 bestätigt Kalixt III.: »...quod spiritualis et omnímoda iurisdictio ordinaria, dominum et potestas, in spiritualibus duntaxat, in insulis, villis, portubus, tenis et locis a capitibus de Boiador et de Nam usque per totam Guineam et ultra illam meriodionalem plagam usque at Indos acquisitis et acquirendis...« (6). Es ist also von terrae die Rede, aber nicht ausdrücklich von Festländern - vgl. den Text bei Garcia Gallo, a.a.O., Apéndices, 769 und 777. Außerdem bezieht sich Kalixt direkt auf den Wunsch Königs Alfonsos und des Infanten Heinrich »die geistlichen Rechte in Bezug auf dieselben einsamen Inseln, Länder, Häfen und Orte zu erlangen, die im Atlantik bis zur Südküste Guineas liegen...« (4), 776. Der Text legt also nicht nahe, daß hier die Eroberung eines Kontinents ins Auge gefaßt wird, sondern eher die von Inseln, Häfen und Küstenstreifen. Weckmann, a.a.O., 214 bemerkt außerdem, daß der Ausdruck terra firma im Mittelalter die Landmasse einer Insel bezeichnete und benutzt wurde, um die Küsten und größeren Sandbänke im Unterschied zu den kleinen oder kleineren Küsten zu bezeichnen. A.a.O., 669. Auch Oliveira Marques versteht, wie oben zitiert, Romanus Pontifex als Ermächtigung zur kontinentalen Eroberung - a.a.O., 230.
46
Vgl. Horst Gründer, Welteroberung und Christentum, Gütersloh 1992, 50f.
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des Manikongo-Reiches wurde und der Manikongo der Vasall Portugals. Jedenfalls konnte Portugal seinen Einfluß auf das Manikongo-Reich zunächst nur indirekt über die Person des Manikongo-Königs ausüben. Was nun die alexandrinischen Bullen von 1493 anbelangt, ist zu beachten, daß sie im Zuge des Fortgangs der Erkundung des karibischen Raumes sowie der Entdeckung und schrittweisen Eroberung des Festlandes, also des südlichen Zentralamerika (Castilla de Oro) und Neuspaniens, umgedeutet wurden von präasiatischen in präamerikanische Bullen. Das zeigt sich an der Deutung der alexandrinischen Bullen im nächsten halben Jahrhundert in Spanien. Besonders seit das Eroberungsunternehmen durch die Dominikaner in Santo Domingo ab 1511 infragegestellt zu sein schien, griff die Krone auf diese Bullen zurück, machte aber zusätzlich das Recht des Eroberers geltend, wie sich aus einem Brief des spanischen Dominikanerprovinzials Alonso de Loaysa von 1512 ergibt, der an den Dominikaneroberen Pedro de Córdoba in Santo Domingo gerichtet ist, in dem er schreibt, »es liegt vor aller Augen, daß Ihre Majestät diese Inseln >iure belli< erworben habe und daß seine Heiligkeit sie dem Herrn, unserem König gegeben habe, weshalb auf ihnen Versklavungen vorgenommen werden dürfen«.47 Daraus folgt also, daß die päpstlichen Bullen von der Krone Kastiliens als Legitimationsurkunden für die Eroberung gewertet wurden. 4. Die Rolle der römischen Kurie Zunächst ist zu bedenken, daß Papst Alexander VI. schon von seiner aragonesischen Herkunft her Ferdinand V. und Isabella wohl gesonnen war und daß Ferdinand als König von Aragón und Neapel-Sizilien Alexander »als Bündnispartner gegen die Ansprüche Karls VIII. von Frankreich in Italien unentbehrlich« war. Deshalb fanden die Wünsche der spanischen Könige im Sinne eines »do, ut des« im Vatikan ein offenes Ohr.48 Giménez Fernández behauptet sogar, »die auf Indien bezüglichen Bullen des Jahres 1493 waren für Alexander VI. Objekt eines simonistischen Handels«.49
47 »Mensajera del provincial de los dominicos, para los dominicos que están en las Indias, de reprehensión«, März 1512: J. M. Chacón y Calvo, Cedulario Cubano (Los orígenes de la colonización), Colección de documentos inéditos para la Historia Hispanoamericana, Madrid 1929, 445-447, zitiert nach Gustavo Gutiérrez, Gott oder das Gold, Freiburg etc. 1990,45. G. Kahle, Lateinamerika, 6. 49 Manuel Giménez Fernández, Nada más, 11 f. bezieht sich auf »die Heiratsbündnisse der Söhne Rodrigo Borgias mit Verwandten Ferdinands von Aragón«.
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Alexander wurde aber nicht als Schiedsrichter tätig. Seine Bullen waren kein Schiedsspruch. Denn sie wurden ohne Kenntnis und Anhörung der portugiesischen Krone ausgefertigt, weshalb »der Streit zwischen den Kronen noch lange nach Ausfertigung der Bullen andauerte«.50 Giménez Fernández geht davon aus, daß die Motive Ferdinands V. bei der Anforderung der Bullen »grundlegend pragmatischer Natur« waren. Daraus folgert er, daß die Könige von Kastilien51 ursprünglich nicht die »politische Souveränität, sondern ein wirtschaftliches Besitzrecht« erlangen wollten. So plausibel diese These, nach der für Ferdinand V. und für Kolumbus die wirtschaftlichen Interessen absoluten Vorrang hatten und »anfänglich bei den Katholischen Königen und bei Kolumbus« kein Missionseifer vorhanden war, auch erscheinen mag, desto dringlicher ist es, die nächste These zu überprüfen, nach der die Katholischen Könige sich des Missionsproblems erst bewußt geworden seien, als Rom dieses als Motiv für die Bulle Inter I erwähnte.52 Denn gegen diese Annahme spricht, daß die Könige von Kastilien zweifellos darüber unterrichtet waren, daß die umfassenden Zugeständnisse, die Rom der Krone von Portugal in der Bulle Romanus Pontifex gemacht hatte, ebenfalls an die Pflicht zur Ausbreitung des Glaubens gebunden worden waren. Andernfalls bliebe nur noch die Erklärung, daß Ferdinand V. Alexander VI. für so korrupt gehalten habe, daß er ihm zu Gefallen bereit sein würde, auf eine so grundlegende Forderung wie die der Mission zu verzichten. Abgesehen von der Frage, in wieweit der Wortlaut der Bullen von der spanischen Hofkanzlei vorgegeben war, ist aus der Sicht der römischen Kurie entscheidend, was der Text der einzelnen Bullen, wenn er von der mittelalterlichen römischen Tradition gelesen wird, tatsächlich besagt. In der Bulle Inter cetera I nimmt der Papst zustimmend davon Kenntnis, daß die spanischen Könige »mit göttlicher Hilfe« ihrer Macht gewisse »Länder und Inseln zusammen mit ihren Eingeborenen und Bewohnern unterworfen haben, um sie unter die Herrschaft unseres Glaubens zu bringen«. Mit der klassischen Lehnsformel »donamus,
2
Silvio A. Zavala, Las Instituciones Jurídicas en la Conquista de América (Madrid 1935), México 1971, 33.
Ferdinand I. war einerseits König von Aragón, anderseits aber nicht nur Prinzgemahl Königin Isabellas von Kastilien, sondern nach dem Schiedsspruch von Segovia vom 15. Jan. 1475 auch König von Kastilien mit dem Namen Ferdinand V., wenn auch minderen Rechts als die Königin, die ein Vorrecht hatte. In der Praxis aber regierten beide in gegenseitigem Einverständnis. Giménez F., Nada más, 18.
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concedimus et assignamus« übergibt der Papst »alle und jedes der Länder und oben erwähnten Inseln, die zuvor unbekannt waren« den Königen von Kastilien und Leon und »im Namen der Vollmacht (auctoritas) des allmächtigen Gottes, die uns in der Person des heiligen Petrus übertragen ist, und der Stellvertretung Christi« verleiht er die Investitur über sie den Königen und ihren Erben und Nachfolgern." In der Bulle Inter cetera I wird als Grund für das Eingreifen des Papstes genannt, daß »die Könige aus Gründen der Vermehrung des Glaubens die entdeckten und in Besitz genommenen Länder und Inseln und ihre Einwohner dem Papst unterstellen; der Papst nimmt die Unterstellung an und verlangt von den Königen, daß sie die eingeborenen Völker bekehren.« Der Papst nimmt die »Gewährung apostolischer Gnaden motu proprio vor, um die Sache zu erleichtern«. Auch wird die Formel der redonatio terrae und der Investitur derselben mit der Jurisdiktion, d.h. der politischen Souveränität benutzt.54 5. Die wissenschaftliche Polemik um die Bullen Von protestantischer Seite hat Fritz Blanke 1969 kritisiert: »Der Papst verschenkt Reiche, die ihm gar nicht gehören, ja, die er nicht einmal kennt«, und zwar »aus der Fülle seiner apostolischen Vollmacht heraus«, die er in der Bulle »Romanus Pontifex« vom 8. Januar 1454 zweifellos »im Sinne der päpstlichen Weltherrschaft« versteht, »wie sie im Hochmittelalter Innozenz III. (1198-1216) und Bonifaz VIII. (1294-1303) verkündet hatten: Der Papst hat die Oberhoheit über den gesamten Erdkreis, auch über die Heidenvölker.« »Heidnische Staaten haben also überhaupt keine Daseinsberechtigung ... Die Bulle Nikolaus' V. von 1454 h a t . . . in der Bulle Alexanders VI. von 1493 ihr genaues Gegenstück.«55 Diese Kritik entspricht wesentlich dem Stand der Forschung bis Anfang des 20. Jhs., als »die Historiker die Bullen als außergewöhnliche Dokumente betrachteten, durch die die Könige von Spanien sich dank der Konzession Alexanders VI. sich der halben Welt bemächtigt hätten ... Was diese Autoren am meisten umtrieb, war die divisio mundi, durch die der amerikanische Kontinent und die Vgl. die spanische Übersetzung: Tratados de Fray Bartolomé de Las Casas - prólogos de Lewis Hanke y Manuel Giménez Fernández, transcipción de Juan Pérez de Tudela Bueso y traducciones de Agustín Millares Carlo y Rafael Moreno, Bd. 2 (México 1965), 1277-1281. Vgl. Giménez Fernández, a.a.O., 206. 55 Fritz Blanke, »Mission und Kolonialpolitik«: Missionsprobleme des Mittelalters und der Neuzeit, Zürich 1966, 89-114, 89ff.
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unendliche Zahl der Inseln im Pazifik Spanien zuerkannt worden seien. Man betrachtete dies als Ergebnis eines Schiedsspruches des Pontifex Maximus oder als eine reine Schenkung, die auf eine ungerechte päpstliche Laune zurückging.«56 Was nun die päpstliche Rechtsgrundlage anbelangt, hat Staedler schon 1937 plausibel gemacht, daß es richtiger wäre, von einem »beneficium Alexandrinum« als von »donatio Alexandrina« zu sprechen, denn die Konstitutionsformel donamus, concedimus, assignamus bezeichne die Errichtung eines politisch bezweckten Laienlehns aus Kirchengut in der Gestalt eines Auftraglehns. Diese Formelbildung gehe auf altrömischen Gebrauch zurück, wo sie in »öffentlich-rechtlichen Benefizialakten zur Versorgung von Heeresdienstveteranen mit staatlichem Landgrund« begegne, ein Tatbestand, den schon Hugo Grotius (1583-1645) verkannt habe, der die Formel nach dem römischen Zivilrecht gedeutet habe, obwohl sie einen öffentlich-rechtlichen Tatbestand bezeichne. Demnach bedeuten die Westindienedikte Alexanders VI. die Belehnung der Kronen Spaniens mit der Landeshoheit über die auf deren Kosten entdeckten und noch zu entdeckenden Länder westlich des Atlantiks, wobei es den Kronen überlassen blieb, »sich wegen einer Schiffahrtsgrenze mit Portugal zu einigen«, das ältere Rechte aufgrund der Bulle von 1454 von Nikolaus V. geltend machen konnte.57 Die immer wiederholte Kritik an der angeblichen päpstlichen >Weltverschenkung< beruht demnach auf der Verwechslung eines öffentlich-rechtlichen Aktes mit einem zivilrechtlichen Akt nach dem römischen Recht. Diese These scheint in der iberischen Forschung aufgrund von Sprachschwierigkeiten mit dem Deutschen noch kaum zur Kenntnis genommen zu sein. Begründet wird das päpstliche Handeln mit der in die pseudoisidorischen Dekretalen eingegangenen Sylvesterlegende, sowie möglicherweise mit der Omniinsular-Doktrin. Wenn Alexander VI. sich auch weder eine Schiedsrichterrolle bei der Aufteilung der Welt angemaßt noch Länder verschenkt hat und, wie Staedler glaubhaft gemacht hat, persönlich vielleicht gar nicht mit der Ausfertigung der Bullen befaßt war, bleibt doch festzuhalten, daß die römische Kurie, indem sie die jenseits des Atlantiks entdeckten Länder zum Lehnsgegenstand machte, d.h. als Kirchengut betrachtete, dem Geist des päpstlichen Universa56
A. de la Hera, a.a.O., 62.
57
Vgl. E. Staedler, Die »donatio Alexandrina«, 373ff„ 378, 394.
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lismus huldigte, der sich wie seit der Eroberung der ersten Inseln im Atlantik durch Portugal und Kastilien dabei wahrscheinlich der Omni-Insular-Doktrin bediente, wie Weckmann plausibel gemacht hat. Der wissenschaftliche Streit dreht sich aber bis heute weiter um die Frage, ob die Formel donamus, concedimus et assignamus im Sinne der Überlassung eines Lehens verstanden werden kann, wie dies Staedler, Hoeffher und Zavala tun, oder nicht. Garcia Gallo ist der Meinung, daß die Beweise für eine lehnsrechtliche Erklärung ungenügend sind. Trotz aller widersprechenden Stimmen der wissenschaftlichen Diskussion läßt sich aber nicht wegdiskutieren, daß im Text die lehnsrechtliche Konstitutionsformel und die Investitur begegnet. Höffner weist noch auf den näheren Inhalt von »Inter cetera« hin, der die Bulle als Lehnsurkunde ausweise, nämlich auf die Umschreibung der Lehnspflicht als Aufgabe der Missionierung der Heidenvölker in den entdeckten Gebieten. »Eine Lehnsabgabe wird nicht erhoben. Der Lehnsschutz besteht in der selbst eintretenden Exkommunikation, der alle verfallen sind, die das Lehen zu stören wagen. Auch die Abgrenzung des Lehnsbereiches ist vorgesehen.«58 Das dagegen ins Feld geführte Argument des Fehlens des Begriffs Investitur in Inter II verliert an Bedeutung, wenn man berücksichtigt, daß dieser Begriff in der Dudum siquidem erneut auftaucht. 59 »Bezüglich des entscheidenden Arguments, daß die zweite Bulle Inter cetera vom 4. Mai Anfang des 17. Jhs. in das Investiturregister des Heiligen Stuhls eingefügt worden ist«, bemerkt Garcia Gallo: »eine Sache ist es, daß der Papst im 17. Jh. die Indien als Lehen der Kirche unterwerfen wollte und eine andere, ob es wirklich ein Lehen war«.60 Dies ist der Schwachpunkt in der Argumentation Garcia Gallos. Wenn Papst Paul V. (1605-1621) die Bullen noch im juristischen Sinne eines Lehens verstand, kann man das nicht hinreichend damit erklären, daß er ein Papst der Gegenreformation war, »für den eine Rückwendung zu den mittelalterlichen Traditionen charakteristisch war«, so daß es sich um »einen Versuch, die kirchli-
Vgl. Joseph Höffner, Kolonialismus und Evagelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier (1947) 2 1969,215. 59 Vgl. Weckmann, a.a.O., 210. 60
Vgl. Garcia Gallo, a.a.O., 688-692.
157 61
chen Privilegien der Feudalepoche wiederzubeleben« handele. Seit dem Mittelalter waren das universalistische und das feudale Denken im Papsttum stark miteinander verbunden, weshalb es wahrscheinlicher ist, daß Alexander VI. Ende des Mittelalters die Bullen im Lehnssinn verstand. Ich teile die Meinung Weckmanns, daß »die Alexandrinischen Bullen nur deutbar und verständlich sind, wenn sie als das betrachtet werden, was sie sind: mittelalterliche Dokumente«.62 Ich meine, die für die Forschung relevante Frage ist gar nicht die von Garcia Gallo gestellte, ob die Alexandrinischen Bullen wirklich im Sinne des Lehnsrechts verstanden werden müssen oder nicht, denn das hinge von der realen politischen Macht des Papsttums gegenüber den kastilischen Königen im Jahre 1493 ab. Vielmehr geht es darum, ob die Kurie, die sich ihrer Schwäche in politischen Dingen wohl bewußt war, die Bullen im Sinne des Lehnsrechts interpretieren konnte und ob die Krone Kastiliens das in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick als geringeres Übel hinnahm, um für die Verhandlungen mit Portugal etwas in der Hand zu haben. Genau das scheint mir der Fall zu sein. Der Heilige Stuhl drückte in den Bullen seine traditionellen universalistischen Forderungen aus,65 und die Krone Kastiliens nahm das hin, um ihre juristische Position gegenüber der Krone von Portugal zu verbessern. Ein anderes schwieriges Problem der Forschung ist die Datierungsfrage der Bullen. Seit van der Linden 1914 die Diskrepanz zwischen den Ausstellungsdaten der drei Bullen Inier / , Inter II und Eximiae devotionis nachgewiesen hat,64 gibt es bezüglich der Erklärung dieses Phänomens zwei Hypothesen, die
Garcia Gallo, a.a.O., 692 mit Bezug auf van der Linden, »La prétendue inféodation...«: Bulletin Cl. Lettres de l'Académie de Belgique, XXIV (1938), 430. 62 Vgl. a.a.O., 23. Dem hat sich Charles Verlinden angeschlossen, wenn er schreibt: »Es wäre unrichtig, die Bullen von 1493 der Moderne zuzurechnen ... Tatsächlich stehen sie am Ende einer langen Reihe mittelalterlicher Rechtstraditionen, die mit ihnen auslaufen. Sie gehen zurück auf die sogenannte Insel-Theorie Urbans II....« - »Die kuriale Lehnspolitik im Dienste der europäischen Expansion«: E. Schmitt (Hg.), Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 1, München 1986, 190-194, 190. 63 Man muß mit Weckmann, a.a.O., 22, bedenken, »daß die päpstliche Kanzlei eine der methodischsten und routiniertesten Einrichtungen Europas ist und daß die Abfassung der päpstlichen Bullen im Rahmen des Möglichen und vorzugsweise traditionellen Wegen und Modellen folgt, die durch frühere Dokumente vorgegeben sind. Die Tatsache, daß die Neue Welt« oder besser gesagt, einige Inseln im Westen entdeckt worden sind, »als Alexander VI. auf dem päpstlichen Thron saß, war etwas rein Zufälliges und nur deshalb wurde der Papst gebeten, über die neuen Länder zu verfügen«. 64 Vgl. H. van der Linden, »Alexander VI. and the démarcation of the maritime and colonial domains of Spain and Portugal, 1493-1494«: American Historical Review, XXII-1 (Oktober 1916), 1-20.
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deren Entstehungsgeschichte und die Motive der Autoren, nämlich König Ferdinands und Papst Alexanders, verschieden erklären, aber an der grundsätzlichen Bedeutung der Dokumente nichts ändern, denn der geographischkartographische Erkenntnisstand hat sich in den Monaten April bis Juli 1493 nicht verändert. Manuel Giménez Fernández hat 1944 dargelegt, daß die Datierung der Bullen Inter II und Eximiae devotionis auf den 3. und 4. Mai beweise, daß sie als Ersatz fíir Inter I vom 1. April bestimmt waren »und daß sie deshalb ausgestellt worden sind, als ob sie anstelle jener gewährt worden wären. Daher spiegeln die Bullen die politische Linie Ferdinands im Frühjahr 1493 hinsichtlich des Papstes, Portugals und Kolumbus' wider.« Im Gegensatz dazu hat Alfonso García Gallo 1957 die Hypothese aufgestellt, daß die drei Bullen gleichzeitig angefordert, gewährt und ausgestellt worden seien, »obgleich ihre Übermittlung einen verschiedenen Verlauf genommen und ihr Versand nicht gleichzeitig, sondern nacheinander erfolgt sei. Folglich ergänzen und verbessern und erweitern sich diese Bullen nicht untereinander, sondern die drei ergänzen sich innerhalb einer gemeinsamen Konzeption, wobei jede eine eigene Funktion hat.«65 Demnach bildeten die drei Bullen das Gegenstück zu den drei Portugal gewährten atlantischen Bullen, nämlich Romanus Pontifex Nikolaus' V., der Inter Cetera Kalixts III. und der Aeterni Regis Sixtus' IV. »Entsprechend dieser Hypothese spiegeln die Bullen nicht die Grundlage der Beziehungen zwischen Spanien und Rom während mehrerer Monate und die langfristigen Ziele Ferdinands hinsichtlich der Indien wider, sondern die anfängliche Planung des Indienunternehmens, wie der Katholische König es vorhatte, nachdem die Verwirklichung der kolumbinischen Projekte beschlossen war.«66 Hier steht Hypothese gegen Hypothese. Gleichwohl scheint mir mit Alberto de la Hera die Hypothese von Giménez Fernández plausibler zu sein. García-Gallo kann die Namensgleichheit der Bullen Inter cetera nicht befriedigend erklären, »eine Identität, die kaum logisch war, wenn beide gleichzeitig gewährt worden sein sollten, denn normal wäre es gewesen, wenn drei Bullen, die gleichzeitig für drei verschiedene Zwecke bestimmt waren, drei verschiedene Namen tragen würden. Auf derselben Linie nimmt die Ähnlichkeit und auf lange Strecken die Gleichheit ihrer Texte wunder, die aus denselben Gründen kaum erklärlich ist.« 65
A. Garcia Gallo, a.a.O., 563f.
66
Vgl. A. de La Hera, a.a.O., 70f.
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Auch bleibt unerfindlich, wieso drei gleichzeitig gewährte Bullen innerhalb der Kurie so verschiedene Wege genommen haben sollten. De la Hera schließt: »Wer die verschlagenen Absichten von Papst und König zugibt«, muß die Hypothese von der »sukzessiven Ausstellung der Bullen akzeptieren, wer nicht, kann die Gleichzeitigkeit annehmen.«67 Wenn man noch die Beobachtung berücksichtigt, daß Inter I in der Folgezeit in Spanien verschwiegen wurde, erscheint allemal die Hypothese der sukzessiven Entstehung der Bullen im Kontext der geschichtlichen Entwicklung der Monate April bis Juli 1493 als plausibler. Zu Unrecht vernachlässigt scheint mir in der Forschung der wichtige Hinweis Weckmanns zu sein, daß die Bullen Inter cetera von 1493 sich im Grunde gar nicht auf Amerika beziehen, das als Kontinent noch gar nicht entdeckt war, sondern daß es sich bei den »kolumbischen Inseln« nach dem Erkenntnisstand von Kolumbus um Inseln handeln sollte, die Indien östlich vorgelagert waren, so daß man die alexandrinischen Bullen im Kontext der zeitgenössischen Kartographie als prä-amerikanische oder noch besser pseudo-asiatische deuten müsse. Der Ausdruck terrae firmae beziehe sich nach dem Vorgang der Bullen für Portugal nur auf die Genehmigung der Errichtung von Stützpunkten an den Küstenstrichen.68 Nach dem damaligen Erkenntnisstand handelte es sich um Inseln mit Stammeskulturen, die unter die Jurisdiktion der kastilischen Krone fallen sollten. Die Kenntnis von organisierten Staatsgebilden wie denen der Azteken und Inka hätte die Frage neu gestellt. Die päpstliche Handlungsweise bei der Gewährung der Bullen scheint mir allerdings im Unterschied zu Weckmann doch eher von der Silvesterlegende,69 wie sie in den pseudo-isidorischen Dekretalen Gestalt angenommen hat, erklärlich zu sein als von der Omni-Insular-Theorie. Die alexandrinischen Bullen passen in den »Rahmen der monistischen hierokratischen Theorie, nach der Gott dem menschgewordenen Christus die Weltherrschaft übergeben hatte. Christus hatte sie Sankt Petrus und seinen Nachfolgern übertragen mit der Bedingung, daß sie die Welt evangelisierten. Alexander VI. hat seinerseits« einen kleinen 67
Vgl. ebd., 74f.
68
Vgl. Weckmann, a.a.O., 25Iff.
Weckmann, a.a.O., 215, weist selbst daraufhin, daß noch »fray Bartolomé de Las Casas hundert Jahre nach der Entdeckung Lorenzo Vallas über deren Fälschung von der Wahrheit der konstantinischen Schenkung ausgeht, wenn er von der Bekehrung des römischen Kaisers durch Papst Silvester spricht...«
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Teil der Welt, nämlich einige Inseln der Indien, den Königen von Kastilien überlassen.70 Die Päpste Gregor VII., Innozenz III. und Bonifaz VIII. haben diese Sichtweise vertreten, die für die Kurie gültig blieb, unabhängig davon, ob dieser umfassende Anspruch politisch durchsetzbar war oder nicht oder ob nur eine Minderheit der Dekretalisten dieser Theorie folgte, wie Antonio Garcia y Garcia bemerkt.71 Die Bullen von 1493 müssen im Kontext des Kanonischen Rechts des Hochmittelalters gemäß der potestas directa in temporalibus interpretiert werden. Entscheidend ist, daß die kastilischen Könige, um ihre Entdeckungen und die geplanten Eroberungen zu sichern, zumindest theoretisch bereit waren, ein solches Recht anzuerkennen, das implizit auch in den portugiesischen Bullen enthalten war. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, daß die pizarristischen Rebellen noch 1546 meinten, sich an den römischen Papst wenden zu können, um ihm anzubieten, das Gebiet, das Pizarro erobert hatte, als sein Lehen anzunehmen, damit die Kolonisten sich von der spanischen Oberhoheit befreien und die Verwaltung Perus im Namen des Papstes durchfuhren könnten, denn letztlich habe ja der Papst »dem König von Kastilien die Herrschaft über die Indien übertragen«. Diese Erwägung war für den Fall bestimmt, daß die Krone nicht bereit sein sollte, die Regierung Perus Gonzalo Pizarro und seinem Nachfolger zu überlassen, und zwar mit der Maßgabe, daß während zweier Leben die Audiencia nicht tätig werde und daß zusätzlich die EingeborenenKommenden als dauerhaft zuerkannt werden.72 Hieraus erhellt, daß in der öffentlichen Meinung noch ein halbes Jahrhundert nach ihrer Ausstellung der lehnsrechtliche Charakter der alexandrinischen Bullen präsent war.73 Zusammenfassend kann man feststellen, daß Rom 1493 seine potestas directa angesichts der realen Machtverhältnisse nicht durchsetzen konnte. Trotzdem
A. García y García, »La Donación pontifìcia de las Indias«, 35. 71
Ebd. 72 Teodoro Hampe Martínez, Don Pedro de la Gasea 1493-1567, Lima llermo Lohmann Villena, Las ideas jurídico-politicas en la rebelión de 1977, 73-76 bezieht. Vgl. den Text der königlichen Instruktionen vom Palacio, Madrid, Ms. 409, Nr. I und in Biblioteca de la Real Academia Mata Linares, Bd. 84,f. 1.
1989, 113, der sich auf GuiGonzalo Pizarro, Valladolid 26.11.1546 in Biblioteca de de la Historia, Madrid, Col.
Matthias Gillner, Bartolomé de las Casas und die Eroberung des indianischen Kontinents, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, der diesen Aufsatz nicht zur Kenntnis genommen hat und Inter II wiederum weitgehend isoliert von den übrigen vier Bullen betrachtet, kommt S. 76 zu dem Schluß: »Doch ob die päpstlichen Dokumente als Schenkungsbullen gedeutet oder zu Lehensurkunden zurückgestuft werden, an dem hierokratischen Selbstverständnis des Papstes ändert sich nichts. So oder so spricht er sich an den entdeckten oder zu entdeckenden Gebieten das Herrschaftsrecht zu.«
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haben die kastilischen Könige, die niemals eine lehnsrechtliche Beziehung ihrer Gebiete zum Heiligen Stuhl akzeptiert haben und sie im Unterschied zu Portugal und teilweise Aragón auch nie nötig gehabt hatten, 1493 offenbar auf die Theorie der potestas directa rekurriert, um ihre Rechte auf die entdeckten Gebiete optimal zu sichern. Schließlich ist anzumerken, daß die Krone angesichts der 1511 entfesselten kolonialethischen Diskussion 1513 in der Konquistadorenproklamation (¡requerimiento),74 die wahrscheinlich von dem Kronjuristen Juan López de Palacios Rubios abgefaßt ist, und vor Kriegshandlungen den Eingeborenen verlesen werden sollte, die Bullen im Sinne des hierokratischen Monismus gedeutet hat. Die Bullen wurden folglich benutzt, um kriegerische Akte beim Eroberungsunternehmen zu rechtfertigen. Diese Vorgehensweise stellt eine im Namen des Christentums vorgenommene Perversion dar. Der Möglichkeit eines solchen Mißbrauchs dürften sich auch schon die Vorgänger Papst Alexanders VI. bewußt gewesen sein, als sie die Bullen für die portugiesische ÜberseeExpansion gewährten.
z U m Inhalt vgl. u.a. Benno Biermann, OP, »Das Requerimiento in der Spanischen Conquista«: NZM 6 (1950), 94-114.
162
Atlantische Trennungslinien aus: Alfonso Garcia Gallo, "Las Bulas de Alejandro VI": Anuario de Historia del Derecho Espaflol, Bd. XXVII u. XXVIII, Madrid 1957-58, 461-829, S. 828. Die Küsten Europas, Nordafrikas, der Azoren, des Archipels von Madeira, der Kanaren und der Kapverden, die damals nach ihrer geographischen Lage genau bekannt waren, sind mit einer dicken schwarzen Linie dargestellt, genauso die von Kolumbus auf seiner ersten Reise "entdeckten" Inseln. Die noch unbekannten Gebiete erscheinen mit dünner schwarzer Küstenlinie, und zwar entsprechend den Koordinaten, die sie auf der Toscanelli-Karte haben, die Kolumbus und wohl auch die Königshäuser kannten. Die obere horizontale Linie, die vom Kap Bojador, bzw. der südlichsten Kanaren-Insel nach Westen verläuft, ergibt sich implizit aus dem Vertrag von Alcäfovas von 1479 zwischen Portugal und Kastilien. Sie wurde von König Johannes II. in den Verhandlungen mit den Katholischen Königen erneut vorgeschlagen. Der kastilische Handels- und Entdeckungsbereich lag nördlich dieser Linie. Daraus ergibt sich, daß der portugiesische König Ansprüche auf die von Kolumbus entdeckten Inseln erheben konnte, da diese südlich der Linie liegen. Die rechte durchgezogene Nord-Süd-Linie entspricht dem Vorschlag der Bulle Inter Cetera II und verläuft 100 leguas östlich der Kapverden oder der Azoren. Die zweite durchgezogene Linie folgt aus dem Vertrag von Tordesillas von 1494 und entspricht 370 leguas westlich der Kapverden. Da eine offizielle Vermessung nie erfolgt und auch die Länge der legua nicht definiert worden ist (Schwankungsbreite 6,1 - 6,7 km), ergaben sich bei den portugiesischen und kastilischen Kosmographen erheblich Abweichungen, die westlich bzw. östlich der Tordesillas-Linie gestrichelt dargestellt sind.
Conquista, Kolonisation und Mission in Hispanoamerika bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts1
Die Vorgänge von Eroberung, Kolonisation und Mission im von Spaniern eroberten Teil Amerikas, auf den ich mich hier beschränken will, können nur vor dem Hintergrund der Lage Europas im allgemeinen und deijenigen der Iberischen Staaten im besonderen seit dem 15. Jh. verstanden werden. Das heißt, es müssen folgende Prämissen beachtet werden. 1. Prämissen 1.1.
Der machtpolitische Kontext
Seit dem 8. Jh. befand sich das Abendland im Zangengriff der islamischen Araber und der von ihnen unterworfenen Völker. Aber während auf der Iberischen Halbinsel durch die von germanischem Kampfgeist erfüllte Reconquista die Befreiung des Territoriums, das dann das Königreich Portugals und des Algarves bildete, schon bis 1250 und die Bezwingung des letzten maurischen Redukts, des Nasridenreiches von Granada, durch das Königspaar Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón bis 1492 erfolgen sollte, brach der südöstliche Schutzpuffer des Abendlandes, das Oströmische Reich, unter dem Ansturm der Turkvölker 1453 endgültig zusammen. 1463 war das heute so umkämpfte Bosnien dem Osmanischen Reich schon einverleibt. Und das Zeitalter der Reformation und Karls V. war gekennzeichnet durch die ständige Bedrohung des Reiches durch die Türken, die 1529 sogar erstmals die kaiserliche Residenz Wien belagerten. 1.2.
Das Selbstverständnis des Abendlandes
Seit der Konstantinischen Wende des 4. Jhs. hat sich eine scheinbar unauflösliche Verbindung von Obrigkeit und Kirche und eine völlige kirchliche Durchdringung der Gesellschaft entwickelt, ein Phänomen, das wir in der Wissen' Veröffentlicht in: Friedrich Edelmayer/Bemd Hausberger/Michael Weinzierl (Hg.), Die beiden Amerikas. Neue Welt unter kolonialer Herrschaft, Historische Sozialkunde 7, Frankfurt a. M. 1996, 67-80.
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schaft seit Ende des 19. Jhs. Corpus christianum nennen, während in der spanischsprachigen Literatur vom "Modell der Christenheit" (modelo de cristiandad) die Rede ist. Als die beiden Häupter des Corpus christianum galten Papst und Kaiser. Ihr Streit um die Vormachtstellung in der Christenheit, der sogenannte Investiturstreit, hat bekanntlich weite Strecken des Hochmittelalters geprägt. In etwas veränderter Form sollte diese Konzeption übrigens auch in den reformatorischen Territorien Deutschlands weiter wirksam bleiben. 1.3.
Die portugiesische Afrika-Expansion
In der Situation der jahrhundertelangen Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Islam und denen des christlichen Abendlandes, in der letztere seit dem Ende der Orientkreuzzüge in die Defensive geraten waren, betrachtete das Papsttum die 1415 mit der Eroberung von Ceuta beginnende Afrika-Expansion des Königreichs Portugal, das als päpstliches Lehen galt, mit Wohlgefallen. Da es sich um ehemalige Gebiete des römisch-konstantinischen Reiches handelte, galt ihre Eroberung durch abendländische Christen ohnehin als legitime Rückeroberung, also als eine Fortsetzung der iberischen Reconquista. Das portugiesische Vordringen an der westafrikanischen Küste war von vornherein von wirtschaftlichen und politischen Gesichtspunkten bestimmt, wurde aber von Rom aus christlich-machtpolitischen Gründen mit päpstlichen Bullen unterstützt, denen im Abendland damals eine Bedeutung zukam, wie sie viel später das Völkerrecht erlangen sollte. Angesichts des bevorstehenden, bzw. gerade erfolgten Falls von Konstantinopel erkannte Rom der portugiesischen Krone 1452 das Kreuzzugsmonopol zu (Bulle Divino amore communiti) und schloß 1455 alle anderen Mächte des Abendlandes von Handelsaktivitäten südlich des Kap Bojador aus (Bulle Romanus Pontifex). Dabei wurde erstmals die Erkundung des Seeweges nach Indien als Ziel der portugiesischen Aktivitäten genannt, also die Durchbrechung des durch die Beherrschung des Vorderen Orients gegebenen arabisch-türkischen Handelsmonopols. In Rom konnte man hoffen, daß die islamischen Mächte durch eine Allianz portugiesischer und äthiopischer Kräfte im Rücken angegriffen würden. 1.4.
Die Verbindung von Kolonisation und Evangelisierung
In der Bulle von 1455 sind Herrschaftsrechte, wirtschaftliche Rechte und die Pflicht zur Mission miteinander vermischt. Diese Verbindung von Kolonisation
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und Evangelisierung sollte für die portugiesische und die spätere kastilische Übersee-Expansion charakteristisch werden. Ihre Vorgeschichte ist schon in der deutschen Ostkolonisation erkennbar. Rom hatte bereits 1147 die Teilnehmer des Kampfes gegen die Wenden mit Kreuzzugsprivilegien ausgestattet, und Papst Innozenz III. (1198-1226) hatte dem Deutsch-Ritterorden die Kreuzzugsprivilegien für seine kriegerische Kolonisation in Nordpolen und im Baltikum zuerkannt. Auch gewisse Unternehmungen im Zuge der Reconquista auf der Iberischen Halbinsel waren von Rom mit Kreuzzugsprivilegien ausgestattet worden. In diesem Zusammenhang ist von einer "Germanisierung des Christentums"2 gesprochen worden, die den Gedanken eines christlichen Rittertums bzw. von Ritterorden erst ermöglicht habe. Diesbezüglich ist aber auch die seit Augustin zunehmende, theologisch begründete Gewaltbereitschaft der Kirche gegenüber Heiden, die sich Missionsversuchen energisch verschließen, zu beachten.5 1.5.
Die kastilische Übersee-Expansion
Das kastilische Interesse richtete sich zunächst auf die Kanaren, die auch von Portugal beansprucht wurden. Im Vertrag von Alcáijovas mußte Kastilien Portugal 1479 für die Anerkennung seiner Rechte auf die Kanaren einen hohen Preis bezahlen, nämlich die Ausschließlichkeit der Rechte der portugiesischen Krone auf den Afrikahandel und eine Schiffahrtsgrenze, die sich von Kap Bojador in westlicher Richtung über den Atlantik erstrecken sollte, anerkennen. Als Portugal durch die Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung durch Bartolomeu Diaz 1487 der Seeweg nach Indien offenstand, lag die einzige Chance Kastiliens, am Handel mit Indien zu partizipieren, tatsächlich in der von Kolumbus versprochenen Entdeckung eines westlichen Seeweges nach Indien, was die Unterstützung der Krone für dessen Unternehmen im Jahre 1492 erklärt.
2 Kurt Dietrich Schmidt, "Germanisierung des Christentums": Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. II, Tübingen 1958, Sp. 1440-1442. 3 Vgl. Hans-Jürgen Prien, "Christlicher Universalismus und europäischer Kolonialismus": 1492 und die Folgen, hg. v. H.-J. Prien (Arbeitskreis für Iberisch-Lateinamerikanische Studien, PhilippsUniversität Marburg), CEILA Marburg Bd. 4, Münster, Hamburg 1992, 76-140.
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1.6. Die rechtliche Absicherung der vermeintlichen westlichen Route nach Indien Die 1492 von Kolumbus für Kastilien entdeckten und beanspruchten AntillenInseln, die er für Indien vorgelagerte Inseln hielt und als Stützpunkte für die Indienfahrt benutzen wollte, lagen südlich der in Alca?ovas festgelegten Linie, die über Südflorida ungefähr bis an die heutige Nordgrenze von Mexiko verläuft.4 Das erklärt das lebhafte Bemühen des Königspaars von Kastilien und Aragon, von Papst Alexander VI. ähnliche Bullen, wie die portugiesische Krone sie bereits erhalten hatte, zu erlangen und so die Verhandlungsposition gegenüber Portugal zu verbessern. Das ist der Kontext der alexandrinischen Bullen von 1493. In der 2. Fassung der Bulle Inter cetera begegnet der entscheidende Vorschlag Kastilien-Aragöns, nämlich die Ersetzung der Ost-West-Linie durch eine Nord-Süd-Linie, die 1494 im Staatsvertrag von Tordesillas durchgesetzt werden konnte, wenn auch auf portugiesisches Insistieren hin weiter nach Westen verschoben, nämlich 370 leguas westlich von den Kapverdischen Inseln, d.h. die Hälfte der von Kolumbus gemessenen Entfernung bis zu den Antillen, wobei allerdings die Länge dieser leguas umstritten war.5 Diese Verschiebung der Nord-Süd-Linie nach Westen hat, wie sich später herausstellen sollte, Portugal Rechte auf einen Teil Südamerikas gesichert. Die Tordesillas-Linie entspricht keineswegs einer Weltteilung, wie oft in der Literatur behauptet worden ist, zumal ihr das Pendant auf der anderen Seite der Welt fehlte, das erst 1527 durch den Vertrag von Zaragoza hinzukommen sollte. Es handelte sich zunächst um eine Schiffahrts- und Handelsgrenze, die Kastilien für die westliche Indienfahrt jegliche europäische Konkurrenz vom Halse halten sollte. 1.7. Zur Bedeutung der alexandrinischen Bullen Die rechtliche Bedeutung der Bullen ist in der Forschung umstritten. Da sie 1493 ausgestellt sind, d.h. zu einer Zeit, als erst ein paar Inseln in der Karibik
4 Im Vertrag von 1479 ist nur implizit eine solche Linie gedacht, da es dort heißt, daß alle Gebiete südlich der Kanaren Portugal zustehen. ^ Vgl. Kirkpatrick Sale, The Conquest of Paradise. Christopher Columbus and the Columbian Legacy, New York 1990, 22. Ein Meridiangrad konnte damals 16 2/3, 17 1/2 oder 18 leguas entsprechen, also 6,1, 6,3 oder sogar 6,7 km, d.h. mehr als drei heutigen nautischen Meilen (1852 m), vgl. Antonio Estácio dos Reis, "Um Erro que o Cosmógrafo Jaime Ferrer näo cometeu": Océanos 18 (1994), 105-112, 107.
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bekannt waren und man weder auf der Iberischen Halbinsel noch in Rom etwas von der Existenz des amerikanischen Kontinents ahnte, und Kolumbus diese Inseln selbst als Indien vorgelagert bezeichnete, können die Bullen als "pseudoasiatische" gelten. In der eingeschränktesten Interpretation erlaubten die Bullen die Errichtung von Stützpunkten an den Küstenstrichen von schon entdeckten und noch zu entdeckenden Inseln bzw. an der Küste des indischen Festlandes.6 In der Sichtweise des mittelalterlichen päpstlichen Universalismus handelt es sich bei den Überseegebieten offenbar um Kirchengut, das der Papst in diesem Fall als politisch bezwecktes Laienlehen in der Gestalt eines Auftragslehens nach dem römischen öffentlichen Recht an die kastilische Krone vergeben hat,7 wobei die Lehnspflicht in der Aufgabe der Missionierung der Heidenvölker in den entdeckten Gebieten bestand.8 Dies ist der wichtigste Unterschied zu den afrikanischen Bullen, die von der Fiktion ausgingen, daß es sich bei der dortigen Bevölkerung um Sarazenen handelte, die als hartnäckige Ketzer galten, weshalb deren Versklavung als zulässig erachtet wurde. Die kastilische Krone hat die Bullen als Ermächtigung zur gewaltsamen Inbesitznahme zunächst von Inseln und später immer größerer Teile des nach und nach entdeckten amerikanischen Festlandes betrachtet. Ein päpstlicher Protest gegen die Methoden der Wahrnehmung des Lehnsrechtes und gegen dessen ständige geographische Ausweitung ist nie laut geworden, so daß man von einer stillschweigenden römischen Duldung der extensiven kastilischen Interpretation der Bullen sprechen kann. Um das Handeln der Kirche in Amerika im 16. Jh. beurteilen zu können, muß eine letzte Prämisse geklärt werden: 1.8.
Rolle und Spielraum der Kirche im spanischen Kolonialprojekt
Das direkte päpstliche Handeln erwies sich als völliger Fehlschlag, denn der von Alexander VI. mit der 4. Bulle (Piis Fidelium) 1493 zum Apostolischen 6 Vgl. Luis Weckmann, Constantino el Grande y Cristóbal Colón. Estudio de la supremacía papal sobre islas (1091-1493), México D.F. 1992 (2. Auflage von Las Bulas Alejandrinas de 1493 y la teoría del papado medieval, México D.F. 1949), 252ff. 7 Vgl. E. Staedler, "Die 'donatio Alexandrina' und die 'divisio mundi' von 1493. Eine kirchenrechtliche Studie": AKathKR 117 (1937), 363-402, 373ff.; 378; 394. 8 Vgl. Joseph Höffner, Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1969 (2. Auflage von Christentum und Menschenwürde, 1947), 215.
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Vikar der neu entdeckten Gebiete ernannte Pauliner-Pater Bernardo Boyl, der mit 11 Ordensleuten Kolumbus auf der 2. Reise nach Hispaniola begleitet hatte, baute dort keine selbständige kirchliche Autorität auf und initiierte auch nicht die Indianermission. Boyl und die meisten seiner Begleiter "verstrickten sich alsbald in Zwistigkeiten und Intrigen" und kehrten 1494 bzw. 1495 nach Spanien zurück. "Nur die Laienbrüder Juan Deledeule, Juan Tisin und Ramón Pané blieben länger auf Haiti und wurden Augenzeugen der Entwicklung, die von einer friedlichen Kolonialunternehmung zur bewaffneten Invasion umschlug. Zu Tausenden wurden die Tainos versklavt und zur Arbeit für die Männer gezwungen, die in Spanien vielfach der Unterschicht angehört hatten. Dem von seinem Bruder zum Statthalter eingesetzten Bartolomé Kolumbus entglitt die Kontrolle; die drei verbliebenen Ordensbrüder sahen die 'Conquista' ohnmächtig mit an."9 Nachdem 1499 die anderen beiden auch heimgekehrt waren, verblieb nur noch der Ordensmann Pané auf Hispaniola. Einen Priester gab es weit und breit nicht. Christoph Kolumbus scheint an der Anwesenheit einer operationalen Gruppe von Ordensleuten, die an Eigengewicht gewonnen hätten, auch nicht interessiert gewesen zu sein. Der fuhrende franziskanische Vertreter der spanischen Reformbewegung, Francisco Jiménez de Cisneros, Beichtvater Königin Isabellas (ab 1492) und als Erzbischof von Toledo (ab 1495) Primas der Kirche Kastiliens, hat entscheidend dazu beigetragen, daß Kolumbus als Gouverneur im Jahre 1500 abgesetzt wurde und daß das Kolonialkonzept endgültig vom Gedanken der Gründung von Handelsfaktoreien auf eine Siedlungskolonisation geändert wurde. Der von den Franziskanern Deledeule und Tisin über die desolate religiöse Situation auf Hispaniola unterrichtete Cisneros überzeugte die Monarchen, die wegen der Rückeroberung des maurischen Emirats Granada von Papst Alexander VI. 1496 den Ehrentitel "Katholische Könige" erhalten hatten, von der Notwendigkeit, Ordensleute zu entsenden, die weder von Gier nach Gold erfüllt waren, noch die Indios schlecht behandelten oder als Sklaven hielten.10 Infolgedessen reisten 1500 drei und 1502 17 Franziskaner aus, so daß das Generalkapitel der Franziskaner-Observanten 1505 "die Errichtung der ersten selbständigen Ordenspro-
® Johannes Meier, "Die Anfange der Kirche auf den karibischen Inseln": Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft (1991), 151; 207. Vgl. Juan Gil Fernández, "Los Franciscanos y Colón": Archivo Ibero-Americano XLVI (1986), 79-110,91-96.
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vinz in der westlichen Hemisphäre" beschließen konnte," deren Name noch auf die vermeintliche Lage vor Indien hinweist: "Santa Cruz de las islas de Indias". Die neue Indienpolitik sah vor, Kolonisten und Autochtone in das spanische Corpus christianum einzugliedern, d.h. in den abendländischen orbis christianus, der die gottgewollte Ordnung auf Erden darstellt, außerhalb derer es nur Verderbnis und Unordnung gibt.12 Das erforderte einerseits die Entsendung von Missionaren, die die kastilische Krone nach den Bullen Inter caetera selbst vorzunehmen und zu kontrollieren beanspruchte, und bedingte andererseits den Aufbau kirchlicher Strukturen nach abendländischem Vorbild, also die Errichtung von Bistümern mit Domkapiteln, ein aufwendiges Vorhaben, das den Bedürfnissen der Missionssituation keineswegs entsprach. Nach dem Vorbild des für Granada Erreichten strebten die Monarchen eine Patronatskirchenverfassung an, die den direkten Einfluß Roms auf die neue Kirche weitgehend ausschaltete und ihnen die Verfugung über den Kirchenzehnten sicherte, was ihnen in verschiedenen Bullen in den Jahren 1501 bis 1511 zugestanden wurde, so daß man davon sprechen kann, daß Rom sich selbst marginalisierte.13 Erst 20 Jahre nach der sogenannten Entdeckung, als den Ureinwohnern schon unendlich viel Leid zugefugt worden war, sollte 1512 schließlich Alonso de Manso als erster Bischof in der Neuen Welt eintreffen und in San Juan de Puerto Rico seine Tätigkeit aufnehmen, während es noch zwei Jahre dauern sollte, bis mit Pedro Suárez de Deza der erste Bischof nach Concepción de la Vega auf Hispaniola kam.14 Das Patronatskirchensystem wurde im Laufe des 16. Jhs. so ausgebaut, daß vom Bischof bis zum Dorfpriester alle Geistlichen von der Krone bzw. ihren Vertretern vorgeschlagen bzw. ernannt wurden, so daß sie Staatsbeamten glichen, was ihren Handlungsfreiraum gegenüber dem Staat sehr einengte. Die Kirche wurde
11
Meier, a.a.O., 9.
Vgl. Sr. Maria Carmelita de Freitas Fl, "Die 'Geistliche Eroberung'. Zwei Wege der Evangelisierung": Conquista und Evangelisation, hg. v. Michael Sievernich SJ u.a., Mainz 1992, 35-58, 35. Vgl. Pedro Borges, "La Santa Sede y la Iglesia Americana": Historia de la Iglesia en Hispanoamérica y Filipinas (Siglos XV-XIX), hg. v. Pedro Borges, Biblioteca de Autores Cristianos, Estudio Teológico de San Ildefonso de Toledo, Quinto Centenario, Bd. I, Madrid 1992,47-61,47f. Vgl. Felix Zubillaga SJ, "Capítulo V. - Penetración gradual de la Iglesia": León Lopetegui SJ/Felix Zubillaga SJ (Hg.), Historia de la Iglesia en la América Española. Desde el Descubrimiento hasta comienzos del siglo XIX. México. América Central. Antillas, Madrid 1965, 250ff.
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schließlich Werkzeug und Gefangene des monarchisch-absolutistischen Staates.15 Nachdem die Prämissen klar sind, können wir uns kirchlichem Handeln in Spanisch-Amerika in den Situationen von Conquista und Kolonisierung zuwenden. 2. Kirchliches Handeln in Spanisch-Amerika in den Situationen von Conquista und Kolonisierung 2.1. Die Einheit von Evangelisierung und Sozialethik Die kleine Gruppe von vier Dominikanern unter Leitung des Oberen Pedro de Córdoba, die 1510 in Santo Domingo ankam und 1511 auf fünfzehn anwuchs, war die erste, die gemeinsam die Missionsaufgabe anpackte16 und bald den Widerspruch zwischen der Botschaft des Evangeliums und dem Verhalten der spanischen Altchristen gegenüber den Einheimischen erkannte. Nachdem Kolumbus schon eine exorbitante Tributpflicht für die Indianer eingeführt hatte, wurde den Siedlern Anfang des 16. Jhs. das Recht zugestanden, über Grund und Boden zu verfugen und Indianer fiir sich arbeiten zu lassen, "wenn sie sie gleichzeitig im christlichen Glauben unterwiesen". Madariaga, der große Kolumbus-Biograph, resümiert: "Mit anderen Worten: was auch immer auf der Insel vorfiel, stets endete es mit einem neuen Schritt in Richtung auf eine völlige Hörigkeit der Eingeborenen"17, die nach offizieller Lesart freie Vasallen der Krone waren. Das führte zur Entstehung der 1503 von Königin Isabella genehmigten encomienda oder Kommende, in der die Indianer "als freie Personen ... und nicht als Knechte" gut behandelt werden sollten.18 Die Wirklichkeit sah freilich ganz anders aus. Der nackte Schrecken packte die friedlichen Taino ob der Zwangsarbeit in Form des Tributsystems bzw. der Kommende. Sie flüchteten auf benachbarte noch von Spaniern freie Inseln, begingen aus Verzweiflung Selbstmord mit Kassawagift, starben an Unterernährung, Überarbeitung, Kummer oder an für Europäer nicht so gefährlichen Vgl. Hans-Jürgen Prien, Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Göttingen 1978, 123 ff. Vgl. Lorenzo Galmés, "Grandes Evangelizadores Americanos": Borges, a.a.O., 615-630,616. " Salvador de Madariaga, Kolumbus, Bern, München, Wien 1989 (Vida del Muy Magnífico Señor Don Cristóbal Colón, Obersetzung von Raymond Bérenger), 428. 18 Richard Konetzke, Colección de Documentos para la Historia de la Formación Social de Hispanoamérica 1493-1810. Bd. I (1493-1592), Madrid 1953, Dok. 11, 16-17, 17.
171
Krankheiten wie Grippe, Masern, Pocken (erste Pockenepidemie 1507"), die die Spanier eingeschleppt hatten und gegen die die Einheimischen keine Widerstandskräfte besaßen, so daß die Urbevölkerung auf Hispaniola nach knapp 15 Jahren des spanischen Jochs, also 1508, um mehr als 80% zurückgegangen war, weshalb König Ferdinand der Katholische 1510 erstmals die Gefangennahme von Indianern auf von Spaniern unbewohnten Inseln und Festlandsküstenstreifen und deren Verschleppung nach Hispaniola genehmigte.20 Die Religionspolitik Ferdinands des Katholischen hatte die Kirche und ihre Vertreter "zu bloßen Kaplänen der Sklavenhalter gemacht, deren Mißbrauch sie kaschierten oder imitierten", was man schon daran erkennt, daß auch Kleriker, ja sogar die der Armut verpflichteten Franziskanerkonventualen sich Indianer zuteilen ließen.21 Und nicht einmal die Kleriker kamen dann ihren religiösen Verpflichtungen gegenüber den ihnen zugewiesenen Indianern nach, wie sogar der König 1509 kritisierte.22 Das war die Situation, die die Dominikaner nicht lange mit ansehen konnten, weshalb sie am 4. Adventssonntag 1511 ihren besten Prediger, Antonio de Montesinos, auf die Kanzel schickten, damit er der Wahrheit des Evangeliums Gehör verschaffe. Er machte den Hörern klar, daß sie sich wegen der unmenschlichen Behandlung der Indianern im Zustande der Todsünde befinden und keine Absolution erhalten können, wenn sie das an den Indianern begangene Unrecht nicht wiedergutmachten. Denn die Indianer haben vernunftbegabte Seelen wie die Spanier - was nicht wenige in Abrede stellten, um ihr Gewissen zu beruhigen - und müssen der Forderung Jesu entsprechend geliebt werden wie jeder andere Nächste. Erstmals wurde in dieser Predigt, die alle Dominikaner solidarisch unterschrieben hatten, die vom Evangelium her begründete menschliche Geschwisterlichkeit mit den Ureinwohnern eindeutig proklamiert. 23 Obgleich Montesinos alles mit seiner Sorge um das Seelenheil der Spanier begründet hatte, brach ein von Verständnislosigkeit zeugender Sturm der Entrüstung los. Im Grunde genommen sahen Kommendenherren und Beamte ihre Vorrechte unerwartet in Frage gestellt, ja sogar die sofort informierte Krone sah 19
Vgl. Helmut Knolle, 500 Jahre Veriming, Ölten, Freiburg 1992,71.
20
Vgl. Meier, a.a.O., 210f.
2
' Vgl. Manuel Giménez Fernández, Bartolomé de Las Casas, Bd. 1: Delegado de Cisneros para la Reformación de las Indias (1516-1517), Sevilla 1953,43. 22 23
Vgl. Meier, a.a.O., 211.
Vgl. Gustavo Gutiérrez, Gott oder das Gold, Freiburg, Basel, Wien 1990, 31 ff. (Dios o el oro en las Indias. Siglo XVI, Lima 1989).
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ihre Autorität quasi subversiv bedroht, wie sich aus einem königlichen Antwortschreiben an den Gouverneur Diego Kolumbus (vom 20. März 1512) ergibt. Nach Konsultationen mit seinem Rat und Theologen betrachtet er die Predigt Montesinos', die er fälschlich als Aussage eines einzelnen versteht, als "unerhörte, völlig unbegründete Neuheit", die "kein gutes Fundament in Theologie, Kanones und Gesetzen" habe. Ferdinand der Katholische hält den Sklavendienst der Indianer für theologisch und kirchenrechtlich begründet und begründet die Position der Krone in Westindien mit der päpstlichen "Schenkung" (Bullen Inter cetera). Der vom König ebenfalls eingeschaltete zuständige Dominikanerprovinzial Alonso de Loaysa erinnert in seinem Schreiben an Pedro de Córdoba (vom 16. März 1512) daran, daß der König jene Inseln iure belli erworben habe, also sowohl nach dem Kriegsrecht wie nach der päpstlichen "Schenkung" berechtigt sei, die Indianer zu versklaven.24 Den Widerspruch zum Evangelium verkennt er bei dieser rein juristischen Argumentation freilich. Loaysa verbietet mit Androhung von Exkommunikation und schweren Strafen weitere Predigten über das sensible Thema, jedenfalls ohne vorherige Genehmigung durch den Gouverneur und den Rat des Königs. Damit darf das Evangelium also nur insoweit gepredigt werden, wie die Obrigkeit es für opportun hält. Pedro de Córdoba reiste nach Spanien, um sich zu rechtfertigen. Obwohl man ihm bei Hofe eine Audienz zu verwehren trachtete, gelang es ihm, bei König Ferdinand Gehör zu erlangen, ihn zu beeindrucken und dadurch den Konsultationsprozeß von Valladolid in Gang zu setzen, der zu einer Reform der Indiengesetze in Gestalt der Gesetze von Burgos von 1512 führte, die indes wiederum einen faulen Kompromiß darstellen.25 Mit vielen gut gemeinten Vorschriften, die wie üblich nicht in die Praxis umgesetzt werden sollten, wurde versucht, eine anständige Behandlung der Indianer zu erreichen, deren Arbeitspflicht nicht angetastet wurde. Man hielt an der Hypothese fest, daß die Indianer durch das Zusammenleben mit den Spaniern evangelisiert werden könnten, ja ordnete deren zwangsweise Zusammensiedlung mit den Spaniern an. Hiermit beginnt die karibische Phase der Reduktion. Interessant ist die Begründung der Arbeitspflicht, nämlich die Behauptung der Siedler, die Indianer seien von Natur aus faul und lasterhaft ["porque de su natural son inclinados a ociosidad y malos vicios"]26. Das bedeutet natürlich, daß sie, die nur Subsistenzwirtschaft gewohnt 24
Vgl. Gutién-ez, a.a.O., 39ff.
25
Vgl. Galmés, a.a.O., 617.
26
Konetzke, a.a.O., Dok. 25; 38-57; 38f.
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waren, sich dem Arbeitszwang einer auf die Gewinnung von Mehrwert ausgerichteten Wirtschaft zu entziehen trachteten. Außerdem muß man wissen, daß Faulheit in der mittelalterlichen Tradition damals nicht nur als Mangel einer sekundären Tugend, eben des Fleißes galt, sondern als Bestandteil der um 400 entstandenen Achtlastertheorie des orientalischen Mönchsvaters Evagrius Ponticus, die vom abendländischen Mönchsvater Johannes Cassian bald darauf übernommen wurde, als Laster, also als schwere sündhafte Verfehlung angesehen wurde.27 Das bedeutet aber, daß die Christen geradezu ein gutes Werk an den Indianern tun, wenn sie sie zur systematischen Arbeit anhalten, und sei es unter Zwang! So konnte eine traditionelle Moralvorstellung, die ihren Ursprung keineswegs im Evangelium hat, sondern auf stoisch-asketische Spekulation zurückgeht, dazu benutzt werden, die erwünschte Ausbeutung der indianischen Arbeitskraft zu rechtfertigen und christlich zu bemänteln. In den Beratungen in Valladolid ist übrigens von Dominikanerpater Matías de Paz (f 1519), seines Zeichens Professor zu Valladolid, das im Alten Testament und namentlich im Deuteronomium (5. Buch Mose) und von dessen Redaktor, dem Deuteronomisten, entwickelte Exodus-Landnahme-Paradigma auf die Conquista übertragen worden. Die Christen übernehmen demzufolge die Rolle der Israeliten bei der Landnahme. Die Kriegführung gegen die Ungläubigen wird als Recht der Christen zur Verherrlichung und zum Lob des Gottesnamens ausgegeben. Der Offizier Martín Fernández de Enciso vergröberte diese Sicht der Dinge in der Junta weiter, indem er die Landeroberung durch Israel und die spanische Conquista direkt in Parallele setzte, womit er nach eigenem Zeugnis die Kommission beeindruckt zu haben scheint. Josuas gewaltsame Eroberung sei gerechtfertigt gewesen, weil Gott den Heiden das Gelobte Land wegen ihres Götzendienstes abgesprochen und Abraham und seinen Nachkommen geschenkt habe. Weil die Indianer "notorische Götzendiener, Kannibalen und Sodomiten seien und sich zudem noch gegenseitig töteten", habe der Papst als Vertreter Gottes auf Erden deren Ländereien rechtmäßig den Katholischen Königen überantwortet, weshalb sie mit den Indianern verfahren könnten wie Josua mit den Kanaanitern, wenn sie den Spaniern bei der Landnahme Widerstand leisteten.28 Auch wenn die Kommission diese hermeneutische Argumentation nicht direkt übernahm, sollte sich die Soldateska "zum Erstaunen der kirchli-
Vgl. Hans-Jürgen Prien, Francisco de Ossuna. Mystik und Rechtfertigung, Hamburg 1967 (Dissertationsdruck), 242f. 28
Vgl. Mariano Delgado, Gott in Amerika. Texte aus fünf Jahrhunderten, Düsseldorf 1991,23ff.
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chen und weltlichen Amtsträger" noch bis 1573, als Philipp II. weitere Eroberungskriege verbot, immer wieder auf das Vorbild der Eroberung des Gelobten Landes durch Israel berufen, bei der auf Gottes Befehl große Grausamkeiten begangen wurden.29 Man sieht, wie sich das deuteronomistische Bild Jahwes als "Kriegsmann" immer wieder gegen das neutestamentliche Bild des liebenden und sogar am Kreuz leidenden Gottes durchgesetzt hat, so daß ein erfolgreicher Conquistador wie Cortés, der Eroberer Mexikos, noch in der zweiten Hälfte des 16. Jhs. von geistlichen Autoren wie Juan de Torquemada und Gerónimo de Mendieta als neuer Mose gerühmt werden konnte. Was die Überlieferungsgeschichte solcher Vorstellungen anbelangt, sei darauf hingewiesen, daß Thomas von Aquin die Ansicht des Kirchenvaters Augustin30 übernommen hat, es gebe analog zu den Kriegen Israels gegen die Ungläubigen ebenfalls unter Christen Kriege auf Befehl Gottes, die dazu dienen, Ungläubige, die unbeirrbar an ihren Irrtümern festhalten und deren Gottlosigkeit alles Maß übersteige, zu bestrafen und ihre Länder zu annektieren. Dieser Gedanke fand zu Beginn des 16. Jhs. Anhänger in Spanien, die ihn mit messianischen Ideen der spanischen Reichssendung verbanden und die spanische Geschichte mit der Reconquista als Parallele zur Geschichte der Landnahme Israels verstanden, weshalb sie auch alttestamentliche Prophezeiungen auf Kastilien bezogen. Nach dieser Vorstellung ist Spanien von Gott dazu ausersehen worden, das Evangelium in der Welt zu verbreiten und das Reich göttlichen Friedens heraufzufuhren.31 Die Dominikaner auf Hispaniola gaben ihren Kampf zur Verteidigung der Indianer indes nicht auf, dem sich 1514 ebenfalls der Weltpriester Bartolomé de Las Casas und schließlich auch die Franziskaner auf Hispaniola angeschlossen haben. Enttäuscht von den schwächlichen Maßnahmen der vom Regenten Kardinal Cisneros nach Hispaniola zur Reform des Kommendenwesens und zur Übernahme der Verwaltung entsandten Hieronymitenmönche schrieben Dominikaner und Franziskaner am 28. Mai 1517 an den jungen König Karl I., den späteren Kaiser, der inzwischen seine Herrschaft in Spanien angetreten hatte: Die Christen fallen in dieses Land ein "wie wütende Wölfe in eine Herde gutmütiger Schafe; und da die Menschen, die hierher kamen, keine gottesfurchtigen, sondern gewinnsüchtige Leute mit vielen anderen Leidenschaften im Herzen sind, fingen sie an, das Land auf alle nur mögliche Weise zu vernichten und 29
Vgl. Delgado, a.a.O., 33.
30
Vgl. Prien 1992, a.a.O. und weiter oben 101-139.
31
Vgl. Eberhard Straub, Das Bellum Iustum des Hernán Cortés in México, Köln, Wien 1976,45 f.
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zu zerstören. So müssen wir sagen, daß keine Feder, besser Zunge reicht, das alles zu berichten. Das geht so weit, daß von den Menschen, die man zählen konnte und die eine Million und hunderttausend waren, alle vernichtet und aufgelöst sind und nicht einmal zwölftausend unter kleinen und großen, alten und jungen, gesunden und kranken übrig geblieben sind." Zusammenfassend bemerken sie, daß die Zerstörung Hispaniolas dermaßen brutal sei, daß die paar tausend überlebenden Indianer, "mehr das Äußere von angemalten Toten als von lebendigen Menschen haben"32. Diese tragischen Vorgänge würden wir heute als Genozid bezeichnen. Es überzeugt keineswegs, wenn Waldenfels diesbezüglich bemerkt, daß Begriffe wie Genozid oder Ethnozid für die Frühzeit nicht sachgerecht seien, weil sie unterstellten, "daß Europäer, europäische Christen und auch europäische Ordensleute sich mit dem Willen zum Völkermord auf den Weg gemacht hätten"33. Damit würde Genozid zu einem völlig subjektiven Begriff, bei dem es nicht auf das Faktum, sondern auf die persönliche Einstellung ankommt, die sich stets schwer nachweisen läßt. Mitte der dreißiger Jahre waren die Probleme nicht geringer geworden, sondern hatten sich nach der Eroberung des Azteken- und Inkareiches, Zentralamerikas und Teilen des heutigen Kolumbiens großflächig ausgedehnt. Das wirtschaftliche Zentralinteresse der entstehenden Kolonialgesellschaft, nämlich die Verfügung über Arbeitskraft und Eigentum der Indios (Versklavung oder Kommende), trug nach wie vor wesentlich zu deren Massensterben bei. Die Herabsetzung des Menschenbildes der Indios, an der auch kirchliche Kräfte, sogar Dominikaner beteiligt waren, diente der Rechtfertigung der Ausbeutung der Indianer. Ob der Provinzial von Mexiko, Domingo de Betanzos diesbezüglich eine negative Rolle gespielt hat, ist umstritten. Andere Dominikaner bemühten sich um eine lehramtliche Äußerung Roms. Der von Mexiko nach Rom gereiste Dominikanerpater Bemardino de Minaya OP (ca. 1489-1562/63?), der zumindest von der Missionsschrift Bartolomé de las Casas' "De Unico Vocationis Modo" beeinflußt ist, wahrscheinlich dieselbe sogar in Abschrift dem Papst vorgelegt hat, bewirkte 1537 die Bulle Sublimis Deus, wobei es auch eine Rolle gespielt haben wird, daß der erste Bischof von Tlaxcala, der Dominikaner Julián Garcés, 1535 schriftlich gegenüber dem Papst Paul III. (1534-49) für die Indianer als vernunftbegabte Menschen eingetreten war. 32
Gutiérrez, a.a.O., 5If.
Hans Waidenfels SJ, "Die Orden in Lateinamerika aus europäischer Sicht": Conquista und Evangelisation, hg. v. Michael Sievernich SJ u.a., Mainz 1992,447-462,453.
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Sublimis DeusiA bezieht sich zunächst auf das Menschenbild der Indianer, indem sie feststellt: die Indianer sind wahre Menschen, nicht etwa Tiere in Menschengestalt, ein Vorwand, der dazu dient, sie ungeniert "wie Tiere zum Sklavendienst einzuspannen". Dahinter verbirgt sich offenbar die Auffassung, nur Christen seien wahre Menschen. Das Menschsein der Indianer und aller anderen "Völker, die künftig den Christen bekannt werden", ergibt sich aus der universalen Gültigkeit des neutestamentlichen Taufbefehls (Mt 28,19). Die Bulle gilt zugleich als Magna Charta der indianischen Menschenrechte, betont sie doch, daß die Indianer auch als Heiden gemäß dem Naturrecht unter keinerlei Vorwand ihrer Freiheit und ihrer Güter beraubt werden dürfen. Zugleich fordert sie im Geiste der Missionstheologie des Las Casas, daß die Indianer "durch das Beispiel eines guten Lebens zum Glauben eingeladen werden" sollen, aber nicht zum Glauben gezwungen werden dürfen. Das Ausfuhrungsbreve Pastorale Officium bedroht alle Zuwiderhandelnden automatisch mit der Exkommunizierung. Da der Präsident des Indienrates, Kardinal Francisco Garcia de Loaysa, Erzbischof von Sevilla, selbst Dominikaner, ein Vertreter der reaktionären Kräfte war, hat Minaya offenbar dafür gesorgt, daß das Ausfuhrungsbreve Pastorale Officium an den Kardinal Juan Pardo de Tavera, Erzbischof von Toledo, gerichtet war. Trotzdem gelang es Loaysa, über Karl V. in Rom die Außerkraftsetzung des Ausfiihrungsbreves mit der Begründung zu bewirken, daß der kastilische König als Patronatsherr bzw. der Indienrat nicht vorher konsultiert worden sei und deshalb sein Placet verweigere. Damit blieben die Aussagen von Sublimis Deus zwar gültig, aber die Bulle wurde ohne die übliche Strafandrohung gleichsam zu einem Papiertiger. Und Minaya mußte seine Kühnheit, sich ohne Genehmigung des Indienrates, aber mit Unterstützung der Kaiserin nach Rom begeben zu haben, büßen. Denn der Kaiser teilte seiner Frau Isabella von Portugal mit, daß es nicht angehe, daß Minaya nach "Indien" zurückkehre, woraufhin er von seinem Orden für zwei Jahre nach Trianos in Leon verbannt wurde und die Neue Welt nie wieder betreten hat.35 Josef Metzler, America Pontificia. Primi Saeculi Evangelizationis 1493-1592, Cittá del Vaticano 1991,364-366. Vgl. Alberto de la Hera, "El Derecho de los Indios y la Libertad a la Fe. La bula 'Sublimis Deus' y los problemas que la motivaron": Anuario de Historia del Derecho Español XXVI (1956), 89-181; P. Benno Biermann, "Zur Auseinandersetzung um die Menschenrechte der Indianer. Fray Bemardino de Minaya OP und sein Werk": Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 24 (1968), 179-189.
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Die Bulle als solche blieb in Kraft, nur fehlte ihr der Nachdruck der automatischen Exkommunizierung von Übertretern. 1542 sollte Sublimis Deus ihrer Intention nach praktisch in die "Neuen Gesetze" eingehen, für die Las Casas so lange gekämpft hatte. Aber auch die Neuen Gesetze ließen sich nicht voll durchsetzen, und zwar gerade nicht in bezug auf die Aufhebung der Kommenden. Die alltägliche Praxis in Amerika sollte hinsichtlich der Behandlung der Indios stets hinter kirchlicher Doktrin und gesetzlicher Theorie zurückbleiben. Obgleich die These Aristoteles', daß einige Völker so primitiv seien, daß sie den von Natur aus höher entwickelten Völkern als Sklaven zu dienen haben - vgl. Politeia I, 3-6, implizit bereits durch die Bulle Sublimis Deus verworfen worden war, hat der bedeutendste spanische Humanist, der Jurist und Hofchronist Karls V., Juan Ginés de Sepúlveda, sie in seinem Democrates alter 1544/45 und auch in der letzten großen, auf Drängen von Bartolomé de Las Casas zugestandekommenen kolonialethischen Anhörung in Valladolid 1550/51 erneut aufgegriffen, um damit das spanische Zivilisierungskonzept in der Neuen Welt zu rechtfertigen. 2.2. Evangelisierung im kolonialen Kontext Abgesehen von einigen bald gescheiterten Experimenten von Mission außerhalb des direkten Kolonialgebietes war Evangelisierung, jedenfalls 1573, als Philipp II. weitere Eroberungskriege verbot, untrennbar verbunden mit "Eroberung und Kolonisierung: die Krone mußte ihr Gold bekommen und Gott als Gegengabe Seine Seelen" 36 . Man muß sich zunächst fragen, welche missionarische Vorbildung die Ordensleute der Bettelorden mitbrachten, denen die Aufgabe der Evangelisierung in der Neuen Welt anvertraut wurde. Diesbezüglich wird gelegentlich auf die langjährigen Erfahrungen der Bettelorden in der Mongolei, in Indien und China verwiesen. 37 Da hieran kaum ein Ordensmann aus den Landen der Kronen von Kastilien und Aragón beteiligt gewesen sein dürfte, werden dort gewonnene Erfahrungen hier ziemlich unbekannt gewesen sein. Außerdem lag ein grundlegender Unterschied vor. In jenen asiatischen Gebieten waren christliche Mis-
36 Louise M. Burkhart, The Slippery Earth. Nahua-Christian Moral Dialogue in Sixteenth-Century Mexico, Tuscon 1989, 15. 3? Vgl. Paulo Suess, "Bekehrungsauftrag und Conquista": Conquista und Evangelisation, hg. v. Michael Sievernich SJ u.a., Mainz 1992, 201-222, 204.
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sionare auf Duldung angewiesen, was Zurückhaltung und Anpassung ihrerseits erforderte. Indes hatten Ordensleute aus Aragón, speziell aus Mallorca, wo die Spiritualität Llulls noch weiter wirkte, und später aus Kastilien seit dem 14. Jh. Erfahrungen bei der Mission der Guanchen auf den Kanarischen Inseln gesammelt. Hier hatte es seit Mitte des 14. Jhs. verschiedene friedliche Missionsexperimente gegeben, die indes am Mißtrauen der Guanchen scheiterten, das sich in gewaltsamen Übergriffen gegen die Missionare entlud. Wahrscheinlich befürchteten sie, die Missionare stellten die Vorhut der Eroberer dar. Tatsächlich wurde das Mißtrauen durch Piratenangriffe, die auf Sklavenfang abzielten, zusätzlich genährt. Die weitere Missionsarbeit erfolge im 15. Jh. dann auch im Zuge gewaltsamer Kolonisationsuntemehmungen. 38 Auch in Amerika traten die Missionare an der Seite der Eroberer auf. Diese Rolle kannten die spanischen Ordensleute nur allzu gut. Außer der GuanchenMission oblag ihnen im gerade 1492 zurückeroberten Reich von Granada die Bekehrung der Muslime. Selbst bei den Franziskanern wirkte weniger das Vorbild Franz von Assisis, der 1219 die Kreuzfahrer vom Angriff auf Damiette abzuhalten versuchte und mit Sultan Melek-al-Kamil ein Religionsgespräch führte, oder dasjenige des großen katalanischen Franziskaners Raimundus Lullus (Ramón Llull "f" 1315/16), der Sprachstudium und Religionsforschung zur Voraussetzung der Mission erklärt und die friedliche Bekehrung der Muslime durch die Predigt gefordert hatte. Wenn man bedenkt, daß sogar ein so bedeutender Vertreter der Ordensobservanz und der katholischen Reform in Spanien wie der schon erwähnte Francisco Jiménez de Cisneros, der als Erzbischof von Toledo 1499 von Königin Isabella mit der Aufgabe betraut worden war, in Zusammenarbeit mit dem Erzbischof von Granada, Hernando de Talavera, die Konversion der Mudejaren verstärkt voranzutreiben, bald mit unduldsamem Glaubenseifer in die Mission eingriff und der Krone in einem Gutachten empfahl, die an sich durch die Kapitulationsbedingungen geschützten Einwohner des Emirats zu zwingen, entweder das Christentum anzunehmen und ihre Gebräuche abzulegen oder sie aus Spanien zu vertreiben, 3 ' wird man ohne unzulässige Verallgemeinerung behaupten können, daß eine Tendenz zur Zwangsbekehrung spanischen
Vgl. Josep-Ignasi Saranyana/Elisa Luque Alcaide, La Iglesia Catölica y America, Madrid 1992, 63 ff. 39
Vgl. Hartmut Heine, Geschichte Spaniens in der frühen Neuzeit 1400-1800, München 1984,45.
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Kirchenleuten nicht unbedingt fernlag. Tatsächlich sollten die Mudejaren ja schon 1502 vor diese Alternative gestellt werden. Die Utopie einer universalen Christenheit, die den spanischen Klerus weithin bestimmte, kann mit dem biblischen Satz "Eine Herde und ein Hirt" zusammengefaßt werden. "Diese Utopie war politisch, sozial und religiös geprägt" entsprechend dem bereits erwähnten Modell des Corpus christianum. In diesem Wunschbild der "einen Herde war kein Platz für Juden, Muslime, Ketzer, Häretiker und Ungläubige. Sie waren Fremdkörper und sollten beseitigt werden"40. Deshalb nimmt es nicht wunder, daß es in Amerika nur einmal ein Religionsgespräch, und auch das nicht als gleichberechtigten interreligiösen Dialog, gegeben hat, und zwar 1524 in Mexiko zwischen Franziskanern und Vertretern des aztekischen Adels.41 "Unzweideutig verkünden die Franziskaner den absoluten Monotheismus des christlichen Glaubens, und sie verneinen jegliche Existenzberechtigung der vielen aztekischen Götter, die Dämonen genannt werden." Obgleich die Azteken betonen, daß es dabei um ihre ganze Kultur und den Sinn ihres Lebens gehe, wird die polytheistische Gottesverehrung "von den Franziskanern als Beleidigung des wahren Gottes aufgefaßt" und die durch die Spanier erlittenen Mißhandlungen gar als Strafe Gottes für diese Beleidigung erklärt, wenn auch nicht entschuldigt.42 Der Übertritt zum christlichen Glauben wurde mit Selbstverständlichkeit von den Besiegten erwartet. Nur den sich freiwillig Unterwerfenden wurde in der 1513 von der Krone vorgeschriebenen Konquistadorenproklamation (Requerimiento), die vor Beginn vor Kampfhandlungen verlesen bzw. übersetzt werden sollte, zugesagt, daß sie nicht gezwungen werden würden, "Christen zu werden"43, was freilich de facto nur einen Aufschub bedeutete. Der u.a. von dem aus Peru stammenden Jesuiten-Superior Antonio Ruiz de Montoya durch seine 1639 erfolgte Veröffentlichung geprägte Begriff der "Conquista espiritual" verdeutlicht hinlänglich die Ambivalenz des EvangelisaAmulf Camps OFM, "Begegnung mit indianischen Religionen. Wahrnehmung und Beurteilung in der Kolonialzeit": Conquista und Hvangelisation, hg. v. Michael Sievernich SJ u.a., Mainz 1992, 348372, 349. Vgl. Hans Wißmann, Sind doch die Götter auch gestorben: das Religionsgespräch der Franziskaner mit den Azteken von 1524, Gütersloh 1981; Christian Duverger, La Conversion Des Indiens De Nouvelle-Espagne avec le texte des Colloques Des douze de Bemardino de Sahagún (1564), Paris 1987; Burkhart, a.a.O., 1989. 42 Camps, a.a.O., 360. P. Benno Biermann, "Das Requerimiento in der spanischen Conquista": Neue Zeitschrift fur Missionswissenschaft 6 (1950), 94-114.
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tionsuntemehmens. Ruiz de Montoya benutzte den Begriff "geistliche Eroberung" sicher nicht nur, um sich des Wohlwollens der Krone für die von den Paulistaner Bandeirantes bedrohten Paraguay-Reduktionen zu versichern, sondern auch weil die Missionare ihre Heldentaten als geistliche Eroberung für das Gottesreich verstanden wissen wollten.44 Die durch den Begriff "Eroberung" hergestellte Nähe zu den Taten bzw. Untaten der Conquistadoren scheint nach der damaligen Mentalität nicht gestört zu haben. Eine echte Respektierung des anderen, seiner Religion und Kultur, ein Dialog, der zu einem gegenseitigen Lernprozeß fuhrt, war für die Spanier wie für andere Europäer des 16. Jahrhunderts gemäß den geschilderten Voraussetzungen nicht möglich. Die Bettelmönche sind gekommen, "um die Indianer zu bekehren, und ihre Missionstheologie war eindeutig": Nullam salus extra ecclesiam oder etwas allgemeiner ausgedrückt: Nur im katholischem Christentum gibt es Heil. Jegliche indianische Religiosität gilt als Götzenverehrung, als Idolatrie und ist folglich eine Sache des Teufels. Theoretisch galten die Indianer als Kinder Gottes, de facto aber schien der Teufel sie als Heiden fest im Griff zu haben.45 Daher hielt man es für angebracht, alles zu beseitigen, was sie an ihre heidnische Vergangenheit erinnern konnte, das heißt, auch ihre Kultur. Christlicher Glaube und iberische Kultur des Renaissancezeitalters wurden gemeinsam vermittelt. Die üblichen Werte der abendländischen Kultur galten geradezu als Voraussetzung für eine erfolgreiche Evangelisierung. Menschenbildung (policia) und Mission bildeten eine Einheit. Die kombinierte Wirkung von politischer Unterwerfung und Evangelisierung läßt sich im einzelnen nur nach Völkern und Gebieten darstellen. Alle Nahua in Zentralmexiko z.B., die Epidemien, Zwangsarbeit und Ausbeutung überlebt haben, wurden zumindest oberflächlich Christen. Wegen ihrer Armut, ihres einfachen Lebensstils, ihrer fehlenden Besitzgier erschienen die Nahua den Bettelmönchen als besonders für das Christentum geeignet. Die Nahua ihrerseits schätzten die Bettelmönche aus ähnlichen Gründen, hoben sie sich doch wohltuend durch solche Eigenschaften von den Eroberem und Kolonisten ab. Besonders die Franziskaner meinten in ihrem apokalyptischen Mystizismus, die Utopie des Tausendjährigen Reiches Christi unter ihnen verwirklichen zu können.46 Der Generalminister der Franziskaner, Francisco de los Angeles, brachte
44 45
Vgl. Freitas, a.a.O., 36.
Vgl. Camps, a.a.O., 372. 46 Vgl. John Ledy Phelan, The Millenial Kingdom Of The Franciscans In The New world. A Study Of The Writings of Gerönimo de Mendieta (1525-1604), Berkeley, Los Angeles 1956.
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in seinen Abschiedsworten an die zwölf 1524 nach Mexiko ausreisenden Franziskaner zum Ausdruck, daß sie den Azteken das Evangelium am Vorabend des Weltendes predigen würden.47 Diese Überzeugung erklärt das Phänomen der Massentaufen, die nach entsprechender Predigt völlig freiwillig erfolgten. Die Einwohner ganzer Ortschaften ließen sich geschlossen taufen, z.B. 1530 die 15000 Einwohner von Xochimilco an einem Tag. Die zivilen Behörden hielten sich dabei in Mexiko völlig zurück, betrachteten sie doch den Schutz, den die Ordensleute ihren Schäfchen zukommen ließen, eher als hinderlich für die wirtschaftliche Ausbeutung der Arbeitskraft der Indianer.48 Die Franziskaner betrachteten die Nahua als liebenswerte, wenn auch irrende Kinder, die ihnen strikten Gehorsam schuldeten. Als die Nahua doch nicht zu den erhofften Musterchristen wurden, konnten die Missionare sich das nur durch die Macht des Teufels oder die Schwäche der Nahua erklären. In Wirklichkeit hatte eine trotz aller Anstrengungen der Missionare mangelhafte Kommunikation sie zu Fehlurteilen verleitet. Als seit den fünfziger Jahren des 16. Jhs. in Mexiko zunehmend Weltgeistliche die Missionsgemeinden übernahmen, ließ die Kommunikation weiter nach, da jene sich meist mit den äußeren Zeichen des Christseins zufriedengaben. Insgesamt bemühten sich die Nahua erfolgreich, eigene Elemente religiöser Welterklärung zusammen mit Sprache und Kultur zu bewahren, indem sie christliche Elemente mehr oder weniger oberflächlich in die eigene Kultur einfügten.49 Synkretistische Formen von Volksfrömmigkeit zeugen bis heute davon. In Mexiko stellt der Kult der Jungfrau von Guadalupe eine für die katholische Kirche befriedigende heidnisch-christliche Religionsverschmelzung dar.50
Vgl. C. R. Boxer, The Church Militant and Iberian Expansion 1440-1770, Baltimore, London 1978, 113. 48
Vgl. Duverger, a.a.O., 132.
49
Vgl. Burkhart, a.a.O., 15ff., 192f.
50 Vgl. Boxer, a.a.O., 107.
182
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Der Hl. Jakobus (Santiago) fuhr 1535 nach Felipe Guamän Poma de Ayala, Nueva Corönica y Buen Gobiemo, vom Himmel herab und kämpfte auf der Seite der Spanier, die vom Heer des Manco Inca Yupanqui in Cuzco eingeschlossen waren. Historisch interessant ist, daß der inkaische Christ Poma de Ayala Anfang des 17. Jhs. diese Legende wie eine Tatsache berichtet. Den Schlachtruf "Santiago" haben die Spanier auch in Peru benutzt. Indem Poma de Ayala berichtet, Santiago sei mit Blitz und Donner, also den Attributen des inkaischen Donnergottes Illapa, vom Himmel herabgefahren, insinuiert er eine Symbiose von Illapa und Santiago, die besagt, daß sogar die eigenen Götter sich dem Christengott und seinen Heiligen unterworfen haben. Die Bilderchronik ist mehrfach veröffentlicht. Dieses und andere Bilder sind der Ausgabe von Franklin Pease (Biblioteca Ayacucho), Caracas 1980, Bde. 1-2, entnommen (Bd. 1,404).
Hernán Cortés' Rechtfertigung seiner Eroberung Mexikos und der spanischen Conquista Amerikas1
1. Einleitende Überlegungen Mehrere Kongresse haben sich anläßlich der 500. Wiederkehr seines Geburtstages im Jahre 1985 mit Hernán Cortés und seinem Werk beschäftigt, zwei in seiner Heimatprovinz Extremadura, ein dritter in Salamanca. 2 Das ist nicht verwunderlich, denn keine Gestalt der spanischen Übersee-Expansion des 16. Jhs., einmal abgesehen von Kolumbus, hat die Phantasie der Zeitgenossen und der Nachwelt so angeregt wie Hernán Cortés, der Sohn verarmter kastilischer Landadeliger aus Mérida in der kargen Grenzprovinz Extremadura, der als Bezwinger des Aztekenreichs, als Eroberer der riesigen Landmasse Mexikos mit ihren damals bis zu 25 Mill. Einwohnern, 3 in die Geschichte eingegangen ist. Er erscheint als ein Mann mit eisernem Willen, der seinen einmal gefaßten Plan gegen Widerstände in der eigenen Truppe ungesetzlich, d.h. ohne eine entsprechende Ermächtigung der spanischen Behörden, mit machiavellistischer Skrupellosigkeit durchgeführt und dafiir schließlich die Anerkennung Kaiser Karls V. erlangt hat, der ihn nach der endgültigen Eroberung der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlán 1521 zum Gouverneur, Generalkapitän und obersten Richter Neuspaniens, 1525 zum Adelantado mit Adelswappen ernannt hat. Schließlich hat der Kaiser den Mann, der ihm ohne Auftrag mit Neuspanien ein weit größe-
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Veröffentlicht in: Zeitschrift für Historische Forschung 22 (1995), 1, 71-93. Überarbeitete und leicht erweiterte Fassung der am 8. Dezember 1993 auf dem Lehrstuhl für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln gehaltenen Antrittsvorlesung. 2 Vgl. Hernán Cortés y su Tiempo. Actas del Congreso Hernán Cortés y su tiempo. V Centenario (1485-1985), Mérida 1987; Hernán Cortés Hombre de Empresa. Primer congreso de Americanistas Badajoz 1985, Valladolid 1990; Actas del Primer Congreso Internacional sobre Hernán Cortés y de las Primeras Jomadas de Colaboración Fuerzas Armadas Universidad de Salamanca, hg. v. Alberto Navarro González, Salamanca 1986. 3 Zur Diskussion um die Bevölkerungsgröße Altamerikas vgl. Nicolás Sánchez-Albomóz, "The population of colonial Spanish America": Leslie Bethel (Hg.), The Cambridge History of Latin America, Cambridge 1984, Bd. II, 3ff., 4. 25 Mill, entspricht den Forschungen von S. F. Cook und W. Borah, "The rate of population change in Central Mexico, 1550-1579": HAHR 37 (1957), 463-70; idem, The Indian population of Central Mexico, 1531-1610, Berkeley and Los Angeles 1960; idem, The aboriginal population of Central Mexico on the eve of the Spanish Conquest, Berkeley and Los Angeles 1963; idem, "Conquest and population: a demographic approach th Mexican history": Proceedings of the American Philosophical Society 113 (1969), 177-83.
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res und volkreicheres Gebiet als Altspanien zugeführt hat, 1529 bei einem persönlichen Empfang sogar in den Stand eines Marquis erhoben.4 Die Bewunderung für Cortés hat auch den Franziskanerpater Gerónimo de Mendieta, einen der großen Kirchenhistoriker Amerikas des 16. Jhs., erfaßt, der 1596 schreibt: "Man muß in diesem Zusammenhang rühmend bekennen, daß Gott ohne jeden Zweifel diesen beherzten Feldhauptmann D. Fernando Cortés erwählt hat, um durch ihn die Tür (dieses großen Landes Anáhuac) zu öffnen und den Weg für die Prediger seines Evangeliums in dieser Neuen Welt zu bereiten, wo für die katholische Kirche durch die Bekehrung vieler Seelen der große Verlust und Schaden, den der verfluchte Luther zum selben Zeitpunkt in der alten Christenheit verursachen sollte, ausgebessert und ausgeglichen werden sollte. Glücklicherweise wurde das, was auf der einen Seite verlorenging, auf der anderen wiedererlangt. Und so entbehrt es nicht des Geheimnisses, daß in demselben Jahr, in dem Luther in Eisleben in Sachsen geboren wurde, Fernando Cortés in Medellin, einer spanischen Stadt, geboren wurde; jener um die Welt zu verwirren und viele Gläubige um die Fahne des Dämons zu sammeln ... und dieser um eine unendliche Menge von Heiden, die unzählige Jahre erfüllt von Lastern und blind in der Götzenverehrung der Macht Satans ausgeliefert waren, der Herde der Kirche zuzuführen." 5 Welches Wort könnte besser demonstrieren, daß es sachgemäß ist, die Vorgänge des 16. Jhs. sowohl in historischer wie in theologischer Perspektive zu untersuchen. Denn das, was man seit der Aufklärung immer stärker als Kirchen- und Profangeschichte voneinander getrennt hat, bildete damals wie zuvor im Mittelalter noch einen untrennbaren Zusammenhang. Nebenbei bemerkt irrt Mendieta leicht hinsichtlich der Geburtsjahre, denn Luther wurde 1483 und Cortés erst 1485 geboren. Wichtig aber ist, daß er beide Gestalten in dieser Weise in Parallele setzt und dann Cortés zu einem neuen Mose hochstilisiert, indem er darauf verweist, daß 1485, im Geburtsjahr des Cortés, der Haupttempel in der azte-
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Der Titel Adelantado faßte im Grunde nur die drei 1521 zuerkannten Funktionen zusammen. Vgl. die Artikel "Adelantado" und "Adelantado en Indias": Diccionario de Historia de España, hg. v. Germán Bleiberg, Madrid (1952) J 1968, Bd. I, 38. 5 Fray Gerónimo de Mendieta, Historia Eclesiástica Indiana. Con algunas advertencias del P. Fray Joan de Domayquía, México 1945, Bd. II, 12 (Libro tercero, C. I). Mendietas Historia Eclesiástica Indiana von 1596 ist eines der wichtigsten Standardwerke des 16. Jhs., das allerdings erst 1870 von Joaquín García Icazbalceta erstmals in Mexiko veröffentlicht worden ist.
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kischen Hauptstadt Tenochtitlán mit der Opferung von 80.000 Personen eingeweiht worden sei, und daraus folgert, der Jammer so vieler Seelen habe Gott bewogen, so wie er einst Mose nach Ägypten gesandt habe, Cortés gleichsam als einen Mose redivivus nach Mexiko zu senden, um dieses große Übel abzustellen.6 Übrigens hat Mendieta am Ende des 16. Jhs. die quasi messianische Einschätzung von Cortés, die sich besonders bei den Franziskanern in Neuspanien frühzeitig herausgebildet hat, nur zusammengefaßt, aber damit auch dauerhaft begründet.7 Cortés selbst hat sich als "Eroberer im Dienste beider Majestäten, Gottes und des Königs", ja, als Werkzeug der göttlichen Vorsehung verstanden.8 Kolonialverwaltung und Krone hatten ihre Rechtsposition in der Neuen Welt erstmals durch die berühmten Adventspredigten des Dominikaners Antonio de Montesinos in Santo Domingo 1511 implizit in Frage gestellt gesehen. Daraufhin beriet die Junta von Valladolid, die ab 1512 tagte und zu den Gesetzen von Burgos und der Abfassung der Konquistadorenproklamation (requerimiento) 9 führte. In den Beratungen in Valladolid ist von Dominikanerpater Matías de Paz ( f l 5 1 9 ) , Professor zu Valladolid und ab 1513 zu Salamanca, das im Alten Testament und namentlich im 5. Buch Mose (Deuteronomium) und von dessen Redaktor (Deuteronomist) entwickelte Exodus-Landnahme-Paradigma auf die 6
Ebd., 12f. Der Templo Mayor auf einer gewaltigen Pyramide war eine Doppeltempel, der dem Regengott Tlaloc und dem Stammes- und Sonnengott Huitzilopochtli geweiht war. Die genannte Zahl von Opfem ist völlig unglaubwürdig und scheint auf einer Verwechslung mit der Zahl der Bauarbeiter zu beruhen. "Die religiöse Begründung des Menschenopfers machte dieses Ausmaß nicht nötig." Hanns J. Prem, Geschichte Alt-Amerikas, München 1989, 145. Auch Wolfgang Haberland, Amerikanische Archäologie, Darmstadt 1991, 235, urteilt: "Die Zahlen, die immer und immer wieder genannt werden, erweisen sich bei näherer Betrachtung als falsch, als 'Feindpropaganda', ausgestreut von Spaniern, die damit die Eroberung rechtfertigen, aber auch von anderen zentralmexikanischen Gruppen, die dadurch die Mexica diskriminieren wollten. In dieser - und nicht nur in dieser - Hinsicht waren die Mexica besser als ihr Ruf." Vgl. hierzu die Untersuchung des Leiters der Ausgrabung des Templo Mayor: Eduardo Matos Moctezuma, Vida y Muerte en el Templo Mayor, México 1986. 7 Vgl. Pedro Borges Morán, "Mesianismo, Conquista y Evangelización en Hernán Cortés": Hemán Cortés y su Tiempo. Actas del Congreso ..., 461-474, 467, der daraufhinweist, daß schon der erste Bischof in Mexiko-Stadt, der Franziskaner Juan de Zumárraga, 1529 den Ungehorsam Cortés' gegenüber Velázquez mit dem Hinweis auf eine göttliche Inspiration gerechtfertigt habe - vgl.: "Carta de Zumárraga a S. M..", México, 27 Aug. 1529: J. García Icazbalceta, Don Fray Juan de ZumárTaga. Documentos, México 1881, 2. Und Toribio Paredes de Benavente OFM, genannt Motolinia, hat schon den Ausdruck gebraucht, daß Cortés der Predigt des Evangeliums die Türen geöffnet habe - vgl.: Historia de los indios de la Nueva España, trat, a, c. 12; Carta a S. M., Tlaxcala, 2, Jan. 1555 (Biblioteca de Autores Españoles, Bd. 240, 344f.). 8 Vgl. Borges Morán, a.a.O., 472. 9 Vgl. z.B. Benno Biermann OP, "Das Requerimiento in der spanischen Conquista": Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft (NZM) 6 (1950), 94-114. Lewis Hanke, "The Requerimiento and Its Interpreters": Revista de Historia de América 1 (1938), 25-34.
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Conquista übertragen worden. Die Christen übernehmen demzufolge die Rolle der Israeliten bei der Landnahme. Die Kriegführung gegen die Ungläubigen wird als Recht der Christen zur Verherrlichung und zum Lob des Gottesnamens ausgegeben. Der Offizier Martín Fernández de Enciso vergröberte diese Sicht der Dinge in der Junta weiter, indem er die Landeroberung durch Israel und die spanische Conquista direkt in Parallele setzte, womit er nach eigenem Zeugnis die Kommission beeindruckt zu haben scheint. Josuas gewaltsame Eroberung sei gerechtfertigt gewesen, weil Gott den Heiden das Gelobte Land wegen ihres Götzendienstes abgesprochen und Abraham und seinen Nachkommen geschenkt habe. Weil die Indianer "notorische Götzendiener, Kannibalen und Sodomiten seien und sich zudem noch gegenseitig töteten", habe der Papst als Vertreter Gottes auf Erden deren Ländereien rechtmäßig den Katholischen Königen überantwortet, weshalb sie mit den Indianern verfahren könnten wie Josua mit den Kanaanitern, wenn sie den Spaniern bei der Landnahme Widerstand leisteten.10 Auch wenn die Kommission diese hermeneutische Argumentation nicht direkt übernahm, sollte sich die Soldateska "zum Erstaunen der kirchlichen und weltlichen Amtsträger" noch bis 1573, als Philipp II. weitere Eroberungskriege verbot, immer wieder auf das Vorbild der Eroberung des Gelobten Landes durch Israel berufen, bei der auf Gottes Befehl große Grausamkeiten begangen wurden." Man sieht, wie sich das deuteronomistische Bild Jahwes als "Kriegsmann" immer wieder gegen das neutestamentliche Bild des liebenden und sogar am Kreuz leidenden Gottes durchgesetzt hat und wie Cortés noch Ende des 16. Jhs. als neuer Mose gerühmt werden konnte. Was die Überlieferungsgeschichte solcher Vorstellungen anbelangt, sei darauf hingewiesen, daß Thomas von Aquin die Ansicht des Kirchenvaters Augustin12 10 Vgl. "Memorial que dió el Bachiller Enciso de lo ejecutado por él en defensa de los Reales derechos, en la materia de los indios": Colección de Documentos inéditos relativos al descubrimiento, conquista y organización de las posesiones españolas en América y Oceanía, sacados, en su mayor parte, del Real Archivo de Indias, hg. v. Luís Torres de Mendoza. 42 Bde., Madrid 1864-1884 (Neudruck: Vaduz 1964-1966), Bd. I, 441-450, bzw. die entsprechenden Hinweise bei Mariano Delgado, Gott in Amerika. Texte aus fünf Jahrhunderten, Düsseldorf 1991, 23ff. Delgado hat den Rekurs auf das von ihm sogenannte "Exodus-Paradigma" in verschiedenen zeitgenössischen spanischen Texten nachgewiesen. 11 Delgado, a.a.O., 33, weist auf den "Bericht aus Yucatán" des Franziskanerbischofs Diego de Landa von 1566 hin, in dem dieser Rekurs auf das Exodus-Paradigma noch als Schutzbehauptung der Spanier angesichts der von ihnen begangenen Grausamkeiten begegnet - vgl. Diego de Landa, Bericht aus Yucatán. Hg. u. mit einem Nachwort von Carlos Rincón. Obersetzung von Linda Scheie und Mary Ellen Miller, Leipzig 1990,38. 12 Zu Augustin und zur Vermittlungsgeschichte vgl. H.-J. Prien, "Christlicher Universalismus und europäischer Kolonialismus": H.-J. Prien (Hg.), 1492 und die Folgea CEILA-MARBURG, Bd. 4, Münster, Hamburg 1992, 76-140.
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übernommen hat, es gebe analog zu den Kriegen Israels gegen die Ungläubigen ebenfalls unter Christen Kriege auf Befehl Gottes, die dazu dienen, Ungläubige, die unbeirrbar an ihren Irrtümern festhalten und deren Gottlosigkeit alles Maß übersteige, zu bestrafen und ihre Länder zu annektieren. Dieser Gedanke fand zu Beginn des 16. Jhs. Anhänger in Spanien, die ihn mit messianischen Ideen der spanischen Reichssendung verbanden und die spanische Geschichte mit der Reconquista als Parallele zur Geschichte der Landnahme Israels verstanden, weshalb sie auch alttestamentliche Prophezeiungen auf Kastilien bezogen. Nach dieser Vorstellung ist Spanien von Gott dazu ausersehen worden, das Evangelium in der Welt zu verbreiten und das Reich göttlichen Friedens heraufzuführen.13 Der Gedanke des Ausgleichs für die Verluste der Reformation in Europa sollte übrigens ein mächtiger Antrieb für das Evangelisationsuntemehmen in der Neuen Welt werden. Und die Verquickung von gewaltmäßiger Eroberung und Mission wurde u.a. durch den Gedanken gerechtfertigt, daß man meinte, in der Neuen Welt mit Dämonen zu kämpfen, die die religiösen Vorstellungen der Ureinwohner beherrschten, Dämonen desselben Satans, dessen Werkzeuge in Europa im Kampf gegen die alleinseligmachende römische Kirche die Reformatoren waren. Die schon im 16. Jh. diskutierte Rechtfertigung der spanischen Conquista Amerikas ist gerade im Zusammenhang mit dem 500. Jahrestag der Ankunft von Christoph Kolumbus in der Neuen Welt in zahlreichen Vorträgen und Veröffentlichungen wieder aufgelebt. Bei der Diskussion über die Berechtigung der spanischen Übersee-Expansion wird das religiöse Moment nicht selten unterschätzt. In diesem Zusammenhang Cortés' eigene Rechtfertigung seines Eroberungsunternehmens zu untersuchen, ist aus mehreren Gründen aufschlußreich: 1. Da Cortés weder ein Mandat des zuständigen Gouverneurs von Kuba, Diego Velázquez, noch der Krone zur Eroberung des Aztekenreichs hatte, war er in besonderem Maße gezwungen, sein Unternehmen mündlich vor der Truppe und schriftlich gegenüber dem Kaiser zu rechtfertigen. Dabei sind zwei Rechtfertigungsebenen zu unterscheiden: einerseits die Begründung seines so nicht auto13
Vgl. Eberhard Straub, Das Bellum Iustum des Hernán Cortés in Mexico, Köln, Wien 1976, 45f. mit Verweis auf Augustin, lib. quaest. VI, 10: "Sed etiam hoc genus belli sine dubitatione iustum est, quod Deus imperat apud quem non est iniquitas et novit quid cuique fieri debeat: in quo bello ductor exercitus, vel ipse populus, non tarn auctor belli quam minister iudicandus est." - vgl. Alfred Vanderpol, La doctrine scolastique du droit de guerre, Paris 1919, 161.
188 risierten Unternehmens, andererseits, und dies besonders gegenüber der Truppe, die Begründung des Rechts der kastilischen Krone auf die Unterwerfung der Völker Amerikas. Dieses Recht der kastilischen Krone wurde zwar nicht prinzipiell in Frage gestellt, aber in schwierigen Situationen hielt es Cortés aus psychologischen Gründen für ratsam, dieses Recht mit theologischen Argumenten der Truppe gegenüber zu begründen, um sie zu ermutigen. 2. Cortés war der erste Eroberer, der mit amerikanischen Hochkulturen konfrontiert wurde, deren Niederzwingung alles andere als sicher war, weshalb Cortés sich veranlaßt sah, den Durchhaltewillen seiner Truppe immer wieder durch überzeugende Begründungen der Berechtigung des Unternehmens zu stärken. 3. Da Cortés die großräumige Eroberung des Festlandes eingeleitet hat und zugleich der große Lehrmeister für den Eroberer des Inkareiches Francisco Pizarro war, kommt seiner Argumentation besondere Bedeutung zu. Dabei gilt es herauszustellen, was an seiner Rechtfertigung über seinen speziellen Fall hinaus Allgemeingut zur Rechtfertigung der spanischen Conquista geworden ist. Aus technischen Gründen muß diese Untersuchung auf die Anfangsphase, d.h. auf das Jahr 1519, beschränkt bleiben, also auf die Zeit vor der endgültigen Eroberung der Aztekenhauptstadt Tenochtitlán im Jahre 1521. Das Bild von Cortés ist durch seine spektakulären Erfolge in der Historiographie verklärt worden. Schon so frühe Chronisten wie der Hofkaplan des alten Cortés, Francisco López de Gomara (1511-ca. 1566), wie auch der Mitstreiter des Cortés, Bemal Díaz del Castillo (1492-ca. 1580), betrachten Cortés mit den Augen von Renaissance-Menschen als großen Führer (caudillo)14, wenngleich Díaz gegenüber López de Gomara zwischen Cortés und den Hauptleuten den grundlegend gemeinschaftlichen Charakter des Unternehmens auf der Entscheidungsebene hervorhebt.
14 Vg!. Demetrio Ramos, Hernán Cortés. Mentalidad y propósitos, Madrid 1992, 15, mit Verweis auf Luis Navarro García, "El lider y el grupo en la empresa cortesiana": Hernán Cortés y su Tiempo. Actas del Congreso..., 671-684.
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2. Die Vita des jungen Hernán Cortés Die Schlüsselfrage zur Vita15 von Cortés ist, wo Cortés seine juristischen Kenntnisse gewonnen hat, nachdem klargeworden ist, daß er nicht, wie in der älteren Forschung angenommen, in Salamanca studiert hat. Schon Pereyra hat 1941 daraufhingewiesen, daß eine juristische Ausbildung in Valladolid anzunehmen sei.16 Inzwischen hat Demetrio Ramos gezeigt, daß Cortés mit der Protektion seines Onkels Francisco Núñez de Valera in Valladolid, am damaligen Sitz des kastilischen Hofes, wohnen und arbeiten konnte. Denn sein Onkel war Referent des kastilischen Kronrates (relator del Real Consejo de Castilla). Im Notariat (escribanía), das sein Onkel dort auch unterhielt, dürfte Cortés in den Jahren 1501-1504 seine entscheidenden juristischen Kennmisse erworben haben. In jener Zeit ab 1500 haben später so mächtige königliche Sekretäre wie Lope Conchillos und Francisco de los Cobos in Valladolid bescheidene Posten im königlichen Sekretariat gehabt, genau wie Francisco de Lizaur, der wie der Gouverneur von Hispaniola, Nicolás de Ovando, aus Brozas stammte und als dessen Page oder Sekretär mit ausreiste. Hier dürfte ein Beziehungsnetz für Cortés entstanden sein. Von 1504 bis 1511 hat sich Cortés auf Hispaniola aufgehalten. Durch die Teilnahme an der Bekämpfung eines indianischen Aufstands, der sogenannten Pazifizierung in Xaragua, erhielt Cortés eine kleine Kommende. Dank der Protektion durch Lizaur und der Empfehlung von Conchillos dürfte Cortés die escribanía der Stadt Azua erhalten haben. Ein solches städtisches Notariat war eine königliche Einrichtung in munizipaler Regie, in der der gesamte offizielle Schriftverkehr der Stadt abgewickelt wurde, die königlichen Verordnungen umgesetzt und Verträge, Testamente, Gesuche und dergleichen abgefaßt wurden, was solide juristische Kenntnisse voraussetzte.17 15
Zur Vita von Cortés vgl. auch Mario Hernández Sánchez-Barba, Hernán Cortés, Madrid 1987 und José Luis Martínez, Hemán Cortés, México (1990) 2 1990, 1. Nachdruck 1992. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund vgl. J. H. Elliott, "The mental world of Hernán Cortés": Spain and its World 15001700. Selected Essays, New Häven, London 1989, 27-41. 16 Carlos Pereyra, Hernán Cortés, México (1941) '1953, 25f. William H. Prescott, Mexico and the life of the conqueror Fernando Cortés, New York 1900, 2 Bde., Bd. 1, 170ff. weist in seinem immer noch wichtigen, aber in vielen Aspekten überholten Standardwerk darauf hin, daß Cortés nach Las Casas (Historia de las Indias) und Bernal Díaz del Castillo zwar baccalaureus iuris gewesen sein soll, daß er diesen Titel womöglich aber in seinem Alter erhalten habe, als die Universität Salamanca sich geehrt fühlte, einen so berühmten Mann einst in ihren Mauern gehabt zu haben. 17 Vgl. Ramos, a.a.O. (1992), 28-36; Jacques Lafaye, Los Conquistadores, México (1970) '1978, 108 (Übersetzung: Elsa Cecilia Frost, Les conquistadores, Paris 1964); Carlos Pereyra, Hernán Cortés,
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Als Mann aus der Zeit Ovandos hatte Cortés ab 1509 unter dem neuen Gouverneur Diego Colón, dem Sohn des Entdeckers, keine weiteren Aufstiegsmöglichkeiten auf Hispaniola. Aber der von Colón völlig unabhängige Schatzmeister der Krone, Miguel de Pasamonte, der auf Hispaniola residierte und in ganz Westindien18 darüber wachen mußte, daß der königliche Fünfte einkam, ernannte Cortés 1511 zum Finanzbeamten für Kuba, weshalb er sich dem Eroberungsunternehmen Kubas unter Diego Velázquez (1465-1524) in nichtmilitärischer Funktion anschloß. Die Ernennung Cortés1 auf einen solchen Vertrauensposten dürfte einen längeren Kontakt mit Pasamonte voraussetzen, so daß der Hinweis Lafayes, daß Cortés durch den Umgang mit Pasamonte seine juristischen Kenntnisse weiter verbessert habe, zu beachten ist. Lafaye erinnert daran, daß Machiavelli 1513 zu seinem II principe wesentlich von der Gestalt König Ferdinands inspiriert worden sei, so daß Cortés durch Pasamonte, den langjährigen vertrauten Mitarbeiter Ferdinands des Katholischen, eine machiavellistische Praxis aus erster Hand kennengelernt habe." Pasamonte diente wie die 1511 auf Hispaniola gegründete Audiencia20 der königlichen Machtkontrolle des Gouverneurs Diego Colón. Da Diego Velázquez die Eroberung Kubas im Auftrage des Gouverneurs durchführte, war Cortés als Beauftragter des königlichen Schatzmeisters Pasamonte, der so etwas wie eine parallele Autorität darstellte, eine wichtige Person. Deshalb nimmt es nicht wunder, daß Velázquez Cortés auch zu seinem eigenen Sekretär machte. Er wurde mit einer Kommende belohnt und siedelte sich in der ersten von den Spaniern gegründeten Stadt, Santiago de Baracoa an,21 wo er sich wiederum der Landwirtschaft widmete und sich in der Viehzucht hervortat, aber auch in der Goldgewinnung durch Ausbeutung der leibeigenen Indios. Er muß hier erfolgMéxico (1941) s 1953,28f. "Escribanía de Ayuntamiento en la villa de Azúa" schreibt G. de Illescas in seinem kurzen Beitrag über das Leben von Cortés, in: Santiago de Magariños (Hg.), Hernán Cortés. Estampas de su vida (Instituto de Cultura Hispánica, Madrid 1947, 22-25, 23. 18 Vgl. Ramos, a.a.O., 41. 19 Vgl. Lafaye, a.a.O. (1978), 108f., 116. 20 Zu dieser Gerichts- und Verwaltungsbehörde vgl. Horst Pietschmann, Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas, Münster 1980. 21 Vgl. Lafaye, a.a.O., 109. Bei G. de Illescas, a.a.O., 23, begegnet die Schreibweise Barfucoa. Pereyra, a.a.O., 21, erwähnt, daß Cortés bei der Gründung von Baracoa dort Bürger (vecino) wurde und wiederum mit der Leitung des städtischen Notariats betraut wurde (escribanía) - vgl. Bemal Diaz del Castillo, Historia Verdadera de la Conquista de la Nueva España. Edición critica por Carmelo Sáenz de Santa María, Madrid 1982, 38 (cap. XX), der davon spricht, daß Cortés zweimal alcalde von Baracoa gewesen sei, wo er wohnte. Nach Las Casas war Cortés auch Sekretär von Velázquez - vgl. Pereyra, a.a.O., 36. Leocésar Miranda Saborit, Santiago de Cuba (1515-1550), Santiago de Cuba 1995, weist an Hand von Quellentexten nach, daß Cortés Bürgermeister von Santiago war (15151518), was nicht ausschließt, daß er vorher alcalde von Baracoa war.
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reich gewirtschaftet haben und bald zu einem beachtlichen Vermögen gekommen sein.22 Das Verhältnis zwischen Cortés und Velázquez scheint zeitweise gespannt gewesen zu sein, was daran gelegen haben dürfte, daß Cortés als Finanzbeamter eine gewisse Kontrollfunktion gegenüber dem Statthalter ausübte und daß er sich außerdem zum Sprachrohr für viele Siedler gemacht hat, die mit der Art der Amtsführung von Velázquez unzufrieden waren. Dennoch avancierte Cortés in Baracoa zum alcalde ordinario,23 zu einem gewählten Verwaltungschef, einer Art Stadtdirektor auf Zeit. 3. Das Unternehmen Mexiko Nach dem Quellenbefund ist die Frage völlig offen, wieso Cortés, der sich bei der Eroberung Kubas nicht militärisch betätigt hat und sich im übrigen auch sonst nicht bei der Erkundung und Eroberung des karibischen Raums hervorgetan hat, mit dem größten militärischen Kommando betraut wurde, das Velázquez zu vergeben hatte. Es ist Demetrio Ramos gelungen, die Gründe für die Übertragung des Kommandos an Cortés plausibel zu machen. Francisco Hernández de Córdoba (1475-1518), der Entdecker der Halbinsel Yucatán, und nach ihm Juan de Grijalva (1489-1527), ein Neffe Velázquez', waren 1517 bzw. 1518 bei ihren Handels- und Erkundungsexpeditionen auf heftigen indianischen Widerstand gestoßen. Da Velázquez eine königliche Vollmacht für Eroberung und Siedlung noch fehlte, die von Grijalva an der Küste entdeckten Reichtümer aber schnell andere Spanier von Hispaniola oder Jamaica anlocken würden, zumal Francisco de Garay, den Gouverneur von Jamaica, mußte Velázquez daran gelegen sein, seine Erstlingsrechte durch einen Mann zu schützen, der es verstand, auf diplomatischem Wege mit den Einwohnern der Küste gute Beziehungen herzustellen, die einen ertragreichen Tauschhandel (rescate) ermöglichten. Für eine solche Aufgabe empfahl sich Cortés, der im übrigen über das nötige Vermögen zur Mitfinanzierung der Expedition und über zahlreiche Sympathisanten auf der Insel verfügte, die er zur Teilnahme bewegen konnte, weil sie nicht über Kommenden verfügten und keine Zukunftsaussichten auf Kuba hatten.24 22
1518 hatte er bereits 2000 kastilische Goldtaler (castellanos de oro - von Heinrich IV. geprägte Münze oder ab 1480 von den Kath. Königen geprägte Münze) in das Geschäft des Kaufmanns Andrés Duero gesteckt. 23 Vgl. Pereyra, a.a.O., 38. 24 Vgl. Ramos, a.a.O. (1992), 42ff.
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Cortés' Auftrag lautete, sechs schiffbrüchige Spanier aus der Gefangenschaft der Maya auf Yucatán zu befreien, die Eingeborenen aufzufordern, sich dem Joch des Königs von Kastilien zu unterwerfen, Informationen über deren Religion zu sammeln, herauszufinden, was es mit den Maya-Kreuzen auf sich habe und ob sie "Moscheen" oder Gebetshäuser und Idole haben, den Eingeborenen Grundbegriffe des christlichen Glaubens zu vermitteln, Tauschhandel mit den Bewohnern der Küste zu treiben und dabei Erkenntnisse über die "Geheimnisse des Landes" zu sammeln, d.h. Spionage zu treiben. Er sollte die Küste so genau wie möglich erkunden und kartographieren, geographische Erkenntnisse gewinnen und besonders Aufklärung beschaffen über Edelmetalle, Perlen und deren Herkunft, aber auch über sonstige für den Handel brauchbare Artikel. Bei den Tauschgeschäften sollte er die Indianer freundlich behandeln, protokollarisch durch den mitreisenden Notar von allen Inseln und Landstrichen Besitz ergreifen." Wahrscheinlich hoffte Velázquez, den königlichen Vertrag (capitulación) mit der Siedlungsvollmacht so rechtzeitig zu erhalten, daß er Cortés auch noch zum Siedeln ermächtigen konnte, denn er hatte nicht nur Cortés' Ankündigung der Siedlung bei der Werbung geduldet, sondern sogar vor dem Notar Vicente López in Gegenwart des Bürgermeisters von Santiago de Cuba, Andrés Duero, davon gesprochen, Cortés solle die Länder und Inseln San Juan de Ulua und Cozumel besiedeln, wie der Notar im Vorwort zu den Instruktionen erwähnt.26
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"Instrucciones de Diego Velázquez a Hernán Cortés" (vom 23. Oktober 1518) abgedruckt in: José Luis Martínez (Hg.), Documentos Cortesianos, Bd. 1: 1518-1528, Secciones I a III, México 1990, 4557. J. H. Elliott, "Cortés, Velázquez and Charles V.": Hernán Cortés. Letters from Mexico. Hg. u. übersetzt von Anthony Padgen, mit einer Einleitung von J. H. Elliot, XI-XXXVII, New Häven, London 1986, XI Vf. weist d a r a u f h i n , daß die Klausel 27, Cortés dürfe alle Maßnahmen ergreifen, die dem "Dienst für Gott und die Majestäten" am ehesten entsprechen, Cortés auch eine Hintertür zur Gründung einer Siedlung öffnete. 26 Vgl. ebd., 46. In den Instruktionen selbst findet sich kein diesbezüglicher Hinweis, offenbar weil dafür noch die Rechtsgrundlage fehlte. Pereyra, a.a.O., 61 meint, Cortés sollte die Gebiete nicht verlassen, offenbar weil Velázquez sie für sich sichern wollte, während er auf die königliche capitulación wartete, die tatsächlich schon am 13. November 1518 in Zarragoza ausgefertigt worden ist, aber auf Kuba vor dem endgültigen Absegeln der Flotte von Cortés am 10. Febr. 1519 nicht bekannt war. Cortés erfuhr davon, als am 1. Juli 1519 ein Schiff mit Nachschub unter dem Kommando von Francisco de Saucedo in San Juan de Ulúa ankam - vgl. Elliott, a.a.O., XIX. Velázquez, der bis dahin nur in Abhängigkeit vom Admiral Diego de Colón handeln konnte, wurde in der capitulación zum Adelantado der "Insel" Yucatán ernannt. Im übrigen war die capitulación bewußt allgemein gehalten. Demetrio Ramos, "El oculto objetivo con que se preparò la expedición de Hernán Cortés": Hernán Cortés Hombre de Empresa. Primer Congreso..., a.a.O., 7-23, versucht nachzuweisen, daß das Hauptziel der Expedition von Cortés in der Suche nach der Ost-West-Passage nach den Gewürzinseln bestanden habe, vermutete doch der Chefnavigator Alaminos, der schon Kolumbus gedient hatte, die Asien vorgelagerten Inseln ganz in der Nähe. Die Möglichkeit einer Passage wurde nördlich und süd-
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4. Cortés' Rechtfertigung seines Unternehmens Im Unterschied zur älteren Forschung kann man Cortés nicht unterstellen, er habe von Anfang an das Ziel verfolgt, das Aztekenreich zu erobern, schon weil die Geographie der Region noch keineswegs eindeutig geklärt war und er von der Existenz dieses Reiches erst während der Expedition immer genauere Kunde erhielt. Vielmehr fällt auf, daß Cortés es von vornherein zu vermeiden versuchte, in kriegerische Auseinandersetzungen mit den Einwohnern des Landes verwickelt zu werden,27 wenngleich er in Tabasco zunächst einmal die Schlappe wieder auszugleichen suchte, die hier 1518 Hernández de Córdoba in Champotón erlitten hatte, um so die spanische Autorität und die Überlegenheit seiner Waffen zu demonstrieren.28 Auch neuere Autoren gehen davon aus, daß Cortés zum Rebellen wurde, als er ohne weitere Rücksprache mit Velázquez mit der Besiedlung begann und aus dem seegestützten Unternehmen einen großangelegten Landfeldzug machte. Er habe sich außerhalb des Rechts gestellt und sei damit zum Erfolg verurteilt gewesen, wenn er eine Chance haben wollte, wieder in die spanische Gesellschaft aufgenommen zu werden. Trotzdem scheint es Cortés klar gewesen zu sein, daß der erhoffte Erfolg seines Unternehmens allein zu seiner Rechtfertigung nicht ausreichen würde. Er mußte eine Rechtskonstruktion finden, nach der er als jemand erschien, der den wahren Interessen der Krone Kastiliens diente. Wie eine solche Rechtskonstruktion gefunden wurde, schildert die vom Stadtrat (cabildo) von Vera Cruz verfaßte Carta primera de relación.2» In ihr werden die Ergebnisse der ersten beiden Küstenerkundungsfahrten von 1517 unter Francisco Hernández de Córdoba, der allererst die Küste Yucatáns entdeckt hatte, und von 1518 unter Juan de Grijalva, geschickt relativiert und
lieh von Yucatán vermutet. Für diese Suche sei die Gründung eines Stützpunktes erwogen worden, was die Größe der Expedition erkläre. Alaminos habe die Küste nördlich von Yucatán als Teil des asiatischen Festlandes angesehen. 27 In Punkt 11 der instrucciones wird Cortés aufgrund des verlustreichen Gefechtes von Hernández de Córdoba ausdrücklich aufgetragen, kriegerische Auseinandersetzungen mit den Eingeborenen zu vermeiden - vgl. a.a.O., 51. Ramos, a.a.O. (1992), 61 weist daraufhin, daß López de Gomaras Wiedergabe eines Gebets, in dem vom gerechten Krieg die Rede ist, eines Gebets, das Cortés vor dem Auslaufen von Kuba gesprochen haben soll, einer späteren Projektion entspricht, denn Cortés habe keinen Krieg gewollt. 28 Vgl. zu den früheren Expeditionen z.B. Fernando Benítez, La Ruta de Hernán Cortés, México 1950 (21956), 47ff. 29 Die meisten Forscher gehen davon aus, daß dieser Bericht de facto von Cortés selbst konzipiert worden ist - vgl. z.B. Martínez (Hg.), a.a.O., 45 Anm. 1.
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als oberflächliche Küstenreisen dargestellt.30 Diego Velázquez erscheint in diesem Schreiben als ein raffgieriger Gouverneur, dem es nur darauf ankommt, durch Handelsfahrten Gold zu erbeuten, während Cortés behauptet, bewegt "vom Eifer, Euren königlichen Hoheiten zu dienen", alles, was er besaß, in die Ausrüstung der Flotte investiert zu haben. Damit habe er zwei Drittel der Kosten übernommen, während Velázquez an seinem Drittel auch noch verdiente, indem er Wein und Wäsche und andere geringwertige Artikel geliefert und weit über den Einstandspreisen abgerechnet habe.31 Gleich bei der ersten Begegnung mit Mayas auf der Insel Cozumel soll Cortés, die doppelte Zielsetzung seines Unternehmens durch einen Dolmetscher verdeutlicht haben: Den Ureinwohnern solle keinerlei Schaden entstehen, vielmehr solle ihnen erstens die "Kenntnis unseres heiligen katholischen Glaubens" vermittelt werden und zweitens sollen sie wie alle Indios in den von Spaniern bevölkerten Gebieten "Vasallen Eurer Majestäten" werden, d.h. "Euren königlichen Hoheiten" dienen und gehorchen. Zur Erklärung wurde ihnen mitgeteilt, daß die Spanier die "größten Fürsten der Welt zu Herren hatten" und daß jene einem größeren Fürsten dienten, womit auf den Papst hingewiesen wurde. Damit wurde also einerseits Königin Johanna und Kaiser Karl V. als größten Fürsten der Welt32 geschmeichelt, andererseits der Auftrag der Spanier im Rahmen der Bulle Inter cetera Papst Alexanders VI. vom 4. Mai 1493 (2. Fassung) beschrieben, nach der die Lehnspflicht der Missionierung mit der Durchsetzung der Landeshoheit der spanischen Kronen verbunden ist.33 Erklärungen 30
Vgl. a.a.O., 13ff., bes. 17. Im einzelnen zu den erwähnten Expeditionen vgl. Pereyra, a.a.O., 42ff. A.a.O., 18. 32 Die Wahls Karl I. von Spanien zum deutschen König und damit zum römischen Kaiser ist erst nach der Abreise Cortés' von Kuba am 28. Juni 1519 erfolgt, was in Mexiko am 19. Juli 1519 bei Abfassung der Carta primera de relación nicht bekannt sein konnte. Es ist deshalb immer wieder diskutiert worden, wieso in ihr in der Anrede bereits der Titel emperador benutzt wurde. José Valero Silva, El Legalismo de Hernán Cortés como Instrumento de su Conquista, México 1965, 16, urteilt, Cortés habe Karl nur mit dem höchsten Adelstitel anreden wollen. Ramos, a.a.O., 62f., meint in Übereinstimmung mit Claudio Sánchez Albornoz, La Edad Media española y la empresa de América, Madrid 1983, 12, daß Cortés im mittelalterlich-spanischen Sinne Karl als ersten Träger aller spanischen Kronen als emperador angesehen habe. Diesbezüglich muß daran erinnert werden, daß König Sancho III. Garcés el Mayor (1004-1035) von Navarra nach der Machtübernahme in León 1034 einen Kaisertitel führte - vgl. Ludwig Vones, Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter 711-1480, Sigmaringen 1993,49f. 33 Freilich konnte sich diese Bulle nach dem geographischen Erkenntnisstand von 1493 nur auf Indien vorgelagerte Inseln und nicht auf das damals noch gar nicht entdeckte Festland Amerikas beziehen, ein Detail, das die spanischen Kronen allerdings nie beachtet haben. Außerdem hat Luis Weckmann, 31
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dieser Art, die eine Art von requerimiento eigener Art darstellen, ließ Cortés bei jeder Begegnung mit Indianergruppen wiederholen, um eventuelle kriegerische Maßnahmen als gerechten Krieg erscheinen lassen zu können, worin man einen Teil seines Legalismus sehen kann.34 Den Entschluß, die Küstenexpedition in eine echte Landunternehmung umzufunktionieren, hat Cortés auf der 3. Etappe der Reise gefaßt. Mit Hilfe des bewährten Steuermanns der Reisen Hernández de Córdobas und Grijalvas, Antón de Alaminos, gelangte die Flotte am Gründonnerstag 1519 an die Mündung des Rio Jamapa. Zwischen schnell errichteten Hütten und den in Stellung gebrachten Geschützen zelebrierten der Merzedariermönch Bartolomé de Olmedo und der Säkularkleriker Juan Díaz die Ostermesse.35 In der Carta primera de relación wird dann nur kurz von der freundschaftlichen Begegnung mit einem Kaziken der Totonaken berichtet, der den kaiserlichen Vasallenstatus annahm, um dann zum Kernpunkt zu kommen, der Frage der Fortfuhrung des Unternehmens, die man nun diskutiert habe, und zwar geleitet von der Absicht, dem Herrn Jesus Christus und den königlichen Hoheiten auf das eifrigste zu dienen, deren Herrschaftsgebiete und Einkünfte zu mehren. Der gute Wille des Kaziken und seiner Untertanen lasse es nicht geraten erscheinen, gemäß dem Mandat des Diego Velázquez nur Tauschhandel (rescate) zu treiben36 und dann nach der Isla Fernandina, wie man damals Kuba nannte, zurückzukehren, weil dann nur Velázquez sich des Goldes erfreuen werde. Es erschien allen ratsam, im Namen der königlichen Hoheiten hier zu siedeln und eine Ortschaft zu gründen und in ihr das spanische Recht zu praktizieren und das Land vor dem bisher praktizierten Tauschhandel zu bewahren, da er ihm nur schade und ein schlechter Dienst an den Hoheiten sei. Diese Ansicht trugen die Vornehmen und hidalgos37 Cortés vor. Er solle so bald wie möglich ein StadtregiLas Bulas Alejandrinas de 1493 y la Teoría Política del Papado Medieval. Estudio de la supremacía papal sobre islas 1091-1493, México 1949, daraufhingewiesen, daß auch die päpstlichen Bullen des 15. Jhs. zugunsten Portugals sich stets nur auf Meere, Inseln und Küstenstriche bezogen haben. 34 Vgl. José Valero Silva, a.a.O. (1965), 44. Ramos hat wahrscheinlich gemacht, daß Cortés den offiziellen Requerimiento des Hofes von 1514, die sogenannte Konquistadorenproklamation, nicht kannte - vgl.: Los "'Requerimientos' Cortesianos y sus pretensiones pactistas": Hemán Cortés y su Tiempo: Actas del Congreso..., 282-291. 35 Vgl. Pereyra, a.a.O., 84; Jorge Gurría Lacroix, Itinerario de Hernán Cortés. Itinerary of Heman Cortes, México 1973, 65. 36 Die Behauptung, daß die Expedition nur dem Tauschhandel dienen solle, stimmt nicht. José Valero Silva, a.a.O., 23, nimmt an, Cortés habe gehofft, die Könige würden die die Instrucciones nicht lesen, bevor sie die Gründung von Veracruz gebilligt hätten. 37 Zum Begriff hidalgo vgl. Richard Konetzke, "Zur Geschichte des spanischen Hidalgos": Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. I. Reihe: Ges. Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens, Bd. 19, Münster 1962, 147-160.
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ment ernennen. Cortés habe sich Bedenkzeit bis zum nächsten Tage erbeten und dann bemerkt, daß der Vorschlag den königlichen Hoheiten mehr nütze als der Tauschhandel, obgleich er durch Tauschhandel seine großen Unkosten wieder ausgleichen könne. Aber der Dienst an den Majestäten gehe ihm über alles, weshalb er den Vorschlag der Stadtgründung annehme. Gleich darauf sei er an die Vorbereitung der Stadtgründung unter dem Namen Rica Villa de la Vera Cruz (Reiche Stadt des hl. Kreuzes) gegangen. Damit wurde der übergeordnete christliche Sendungsauftrag zum Ausdruck gebracht und an den Tag der dortigen Ausschiffung, nämlich den Karfreitag 1519 (spanisch: Viernes Santo de la Cruz) erinnert. Das Adjektiv "reich" bezog sich auf die fruchtbare Landschaft.38 Am Tage nach ihrer Ernennung und Vereidigung traten die Stadtfunktionäre im Stadtrat zusammen, luden Cortés vor und verlangten im Namen der königlichen Hoheiten, daß er die von Velázquez erhaltenen Vollmachten und Anweisungen vorlege. Da seine Vollmachten nicht so weit reichten, konnte er nicht mehr als oberster Vertreter des königlichen Rechts und Feldhauptmann fungieren. Die Lage erforderte aber die Ernennung eines Gouverneurs als Platzhalter der Krone. Dafür kam freilich niemand eher in Frage als Cortés mit seiner langjährigen Erfahrung in jener Weltgegend, war er doch vom großen Dienstwillen gegenüber der Krone erfüllt und hatte er alles geopfert, um die Flotte auszurüsten. Deshalb wurde er nun im Namen der Krone und des Stadtrates als oberster Vertreter des Rechts und königlicher Feldhauptmann {Justicia Mayor y Capitán General) bis zum Eintreffen eines königlichen Bescheides eingesetzt. Sodann wurde beschlossen, der Krone nicht nur den königlichen Fünften, sondern alles an Gold, Silber und Edelsteinen zu schicken, was man bisher durch Tausch und Geschenke erlangt hatte, um damit seine große Dienstbereitschaft zu beweisen. Als Prokuratoren sollten Francisco de Montejo und Alonso Hernández Portocarrero mit den Schätzen und dem Brief auf direktem Wege nach Kastilien segeln in der Hoffnung, daß die Majestäten der neugegründeten Stadt ihre Gunst erweisen werden.39 Wie wir von Bernal Díaz del Castillo wissen, ist dieser Entscheidungsprozeß keineswegs so einvernehmlich, wie in diesem Brief dargestellt, verlaufen. Hartnäckige Anhänger des Velázquez, die nach Kuba zurückreisen wollten, wurden unter Arrest gestellt, schließlich zwei sogar hingerichtet,
38 Vgl. Pereyra, a.a.O., 88f. Erst die vierte Gründung der Stadt sollte die endgültige sein - vgl. Gurria Lacroix, a.a.O., 91. 39 Vgl. "Instrucciones de Hernán Cortés a los Procuradores Francisco de Montejo y Alonso Hernández Portocarrero Enviados a España", abgedruckt bei Martínez (Hg.), a.a.O., 77-85. Daß die Soldaten alles Edelmetall an die Krone schickten und nicht nur den königlichen Fünften, unterstreicht ihren ehrlichen Dienstwillen gegenüber der Krone - vgl. Ramos, a.a.O., 106.
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die heimlich nach Kuba entweichen wollten, um Cortés bei Velázquez zu denunzieren. Das berichtet Cortés dem Kaiser im zweiten von ihm selbst verfaßten Brief 1520 auch. Üblicherweise werden diese Vorgänge so interpretiert, daß Cortés es verstand, seinem Unternehmen eine formaljuristische Grundlage zu geben. Ramos macht indes plausibel, daß die Stadtgründung und die Fortsetzung des Unternehmens nicht nur dem Willen des großen Protagonisten Cortés und einiger seiner Freunde, die ihn unterstützten, entsprang. Vielmehr dürfte es sich um eine Art Revolte der Truppe gehandelt haben. Denn die verarmten Teilnehmer der beiden früheren Expeditionen, die zum Teil schon mit Pedrarias am Darién gewesen waren, hatten bei einer reinen Erkundungsreise mit Tauschhandel wenig zu gewinnen. Der Profit ginge wesentlich an die Kompagnons Velázquez und Cortés. Nur die Siedlung im neuen fruchtbaren Land mit Zuteilung von Kommenden, die sie auf Kuba nicht bekommen hatten, könnte ihnen nützen. Sie bedrängten Cortés, sich selbständig zu machen, während eine kleine Anzahl von Velázquez-Freunden und Kommendenbesitzern unbedingt nach Kuba zurückkehren wollte. Bemal Díaz gehörte zur ersten Gruppe, die sich ihres Wertes bewußt geworden war. Deshalb empört ihn die Darstellungsweise López de Gomaras, die Cortés zum großen Mann und Helden hochstilisiert.40 Der Brief des Cabildos von Veracruz, der Cortés aus der Rolle eines Gesetzesübertreters befreien soll und der nach der Lehre Thomas von Aquins davon ausgeht, daß mangels einer legitimen Autorität die Autorität an die Gemeinschaft zurückfällt,41 dürfte deshalb mehr der geschichtlichen Wirklichkeit entsprechen als früher in der Forschung angenommen. Es scheint sich keineswegs um ein von Cortés inszeniertes Komplott gehandelt zu haben. Aber die Entwicklung
40
Vgl. Ramos, a.a.O., 99ff., der Parallelen zum antiseñoralismo und anticolombinismo der cabildos von Hispaniola i.J. 1518 sieht und von einer "Volksrevolution" spricht. Hier wie dort wollten die Siedler direkt der Krone unterstehen - ebd., 103. 41 Vgl. Hernández Sánchez-Barba, a.a.O., 55. In diesem Zusammenhang wird in der Forschung auch der Gesetzessammlung Alfons X. von Kastilien, den Siele Partidas aus den Jahren 1256-1263 Bedeutung beigemessen. Danach ist das Gemeinwohl das oberste Prinzip im Personenverbandsstaat, das König und Vasallen verbindet. Während in der Carta primera de relación Velázquez eigennützige Privatinteressen unterstellt werden, erscheint Cortés als Vertreter des Gemeinwohls, das die Kolonisierung in Mexiko erheischt. Nach den Siete Partidas können Gesetze aber nur auf Verlangen aller Menschen eines Landes außer Kraft gesetzt werden. Genau dies geschah in Veracruz durch den Beschluß des Cabildos mit den Instrucciones des Velázquez - vgl. Elliott, a.a.O., XVIIIf., der sich stützt auf Victor Frankl, "Hernán Cortés y la tradición de las Siete Partidas": Revista de Historia de América 54 (1962), 9-74. Die Partidas sind in den Bänden 2-4 von Los Códigos Españoles concordados y anotados, Madrid 1948-5, enthalten.
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kam für ihn nicht unerwartet und unerwünscht, und er hat sie keineswegs zu verhindern versucht, was seinen Rechtfertigungsbedarf erklärt. Der besondere Beitrag von Cortés bestand in seinem unumstößlichen Willen, persönlich mit Moctezuma zusammenzutreffen, um ihn als Vasallen zu gewinnen. Dazu riskierte er eine gewagte Landoperation, nachdem es ihm gelungen war, die Truppe von deren unbedingter Notwendigkeit zu überzeugen. Durch die Schilderung der religiösen Sitten, nämlich Menschenopfer und Sodomie, die den Spaniern als schlimme Gotteslästerung erscheinen mußten, wurde die Unterwerfung der Azteken noch dringlicher gemacht. Entsprechend der damaligen katholischen Mentalität konnte der Kampf gegen Teufel und Dämonen nicht nur durch die Predigt des Evangeliums vorgetragen werden, sondern mußte Strafanwendung und Züchtigung einschließen.42 Aber entgegen dem Cortés-Bild, das vom Endergebnis der Conquista darauf schließt, daß Cortés von Anfang an ein zu allem entschlossener Eroberer war, scheint Cortés' Ziel zu Beginn des Marsches ins Landesinnere eher darin bestanden zu haben, ein Protektorat zu errichten, in dem er als Schiedsrichter gegenseitigen Frieden und Zusammenleben ermöglichte. Nach allem, was Cortés von den Totonaken und Malinche, der ihm geschenkten aztekischen Adeligen, die ihm als Dolmetscherin diente, gehört hatte, galten Moctezuma und die Azteken als Fremde im Lande, das sie noch nicht lange beherrschten. Deshalb hoffte er, daß alle unterdrückten Völker sich den Spaniern beim Befreiungskampf anschließen würden, um dem Kaiser gleichsam ein großes Taifal-Rtich als Protektor anbieten zu können.43 Cortés hätte demnach in den Kategorien der spanischen Reconquista gedacht, bei der es auch vorgekommen ist, das sich kleine maurische Taifas christlichen Herrschern unterstellten. Schon auf der 2. Etappe in Tabasco dürfte Cortés klar geworden sein, daß das religiöse Moment eine Anpassung seiner Taktik erforderlich machte. Denn das religiöse Moment hatte bei den Indios nicht nur eine mystisch-spirituelle, sondern auch eine politische Dimension, die sie zusammenschweißte. Außerdem war sie die Grundlage für die kriegerische Macht jenes geheimnisvollen Monarchen im Landesinnem. Deshalb fugte Cortés fortan seinen Proklamationen an die einheimischen Herrscher (requerimientos) eine befreiende Dimension hinzu, ein Bündnisangebot mit den Spaniern gegen Moctezuma. Durch das Angebot eines Paktes wurde aus dem Schutzangebot, das die Kaziken passiv akzeptieren 42 43
Vgl. Cartas de relación de la Conquista de México, Madrid (1945) 7 1982, 30. Vgl. Ramos, Hernán Cortés, 133f.
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konnten, ein aktives Bündnis.44 Cortés spielte wahrscheinlich auch kein doppeltes Spiel, wenn er sich einerseits mit den Totonaken verbündete und andererseits weiter Verhandlungen mit den Azteken pflog. Denn er hoffte, auch die Azteken zu Vasallen machen zu können und als Schiedsrichter ein Gleichgewicht zwischen Herrscher und Beherrschten herzustellen und den Kaiser an die Spitze dieser Konstruktion stellen zu können.45 5. Cortés1 Ermutigungsversuche gegenüber seiner Truppe Cortés hat in seiner Korrespondenz stets den religiösen Aspekt der Eroberung Mexikos besonders betont. Man wird mit Borges Morán annehmen dürfen, daß das zu seiner Rechtfertigungsargumentation gehört,46 was keineswegs bedeutet, daß es nicht gleichzeitig seiner Überzeugung entsprach. Insofern wird man annehmen können, daß Cortés die christlichen Argumente, die er nach der Überlieferung bei seinen Ermutigungsversuchen gegenüber der Truppe verwendet haben soll, in der einen oder anderen Form auch tatsächlich benutzt hat. Sie stellen einerseits eine Rechtfertigung seines Unternehmens und anderseits auch eine Rechtfertigung der spanischen Conquista als solcher dar. Da nun die diesbezüglichen Überlieferungen divergieren, kann der Historiker nichts anderes tun, als sie nebeneinanderzustellen und zu vergleichen, um nach dem Wahrscheinlichkeitsprinzip zumindest Vermutungen äußem zu können. Schon bei der Abreise aus Kuba äußerte Cortés nach der Überlieferung von López de Gomara seine Gewißheit, daß man große Reichtümer erlangen werde, daß es aber den Guten mehr um Ehre als um Reichtum gehe. "Wir beginnen einen gerechten und guten Krieg, der großen Ruhm einbringen wird. Der allmächtige Gott, in dessen Namen und Glauben er unternommen wird, wird uns
44
Vgl. ebd., 75ff. Vgl. ebd., 134ff. Zur Conquista Mexikos insgesamt und zur indianischen Sicht der Vorgänge vgl. die ungedruckte Dissertation von Arturo Gabriel Dávila-Sánchez, En busca de la ciudad perdida. México en el siglo XVI (1519-1575), University of California at Berkeley 1990. 46 P. Borges Morán, "Mesianismo, Conquista y Evangelización en Hernán Cortés": Hernán Cortés y su Tiempo. Actas del Congreso..., 461-474,464. Cortés stellte sich selbst immer wieder als Werkzeug Gottes bei der Conquista Mexikos hin. Aber, so bemerkt Borges Morán, diese Selbsteinschätzung hatten die meisten Konquistadoren einschließlich Velázquez. Aber bezüglich der Ausrottung des Götzendienstes und der Bekanntmachung des christlichen Glaubens konnte sich Cortés auf die Instrucciones des Velázqez berufen. Schon Valero Silva, a.a.O., 38 hat daraufhingewiesen, daß Cortés sein ganzes Unternehmen als gottgewollt dargestellt habe, so daß den Königen kaum etwas anderes übrigbleiben konnte, als das fait accompli zu billigen. 45
200 den Sieg geben."47 Der Gedanke des gerechten Krieges48 erfüllte die Spanier allgemein bei der Conquista. Ob er hier wirklich von Cortés ausgesprochen worden ist, wo die Entwicklung der Expedition noch recht unklar war und der Auftrag Tauschhandel lautete und nicht Eroberung, steht auf einem anderen Blatt. Díaz del Castillo überliefert ein anderes bezeichnendes Detail. Cortés habe bald nach seiner Ernennung Fahnen anfertigen lassen, auf die er neben dem königlichen Wappen auf jeder Seite die Worte sticken ließ: "Amici sequemur crucem, si enim fidem habuerimus, in hoc signo vincemus."49 Das Entscheidende ist bisher in der Forschung übersehen worden, nämlich daß sich Cortés damit in Parallele zu Konstantin d. Gr. setzte und sein Unternehmen als genauso gottgewollt hinstellte wie den Sieg Konstantins. Denn Konstantin soll im Jahre 312 im Krieg gegen Maxentius vor der Schlacht an der milvischen Brücke in Rom eine Kreuzesvision gehabt haben und dabei nach der Lebensbeschreibung des Euseb einen griechischen Satz gehört haben, der lateinisch meist wiedergegeben wird als: "In hoc signo vinces". Daraufhin ließ er nach dem älteren Bericht des Laktanz auf den Schilden seiner Soldaten ein auf das Monogramm Christi in Kreuzform hinauslaufendes Zeichen anbringen.50 Díaz del Castillo erwähnt an späterer Stelle, daß Cortés, als man beim Marsch ins Landesinnere auf die erste große Verteidigungsschanze in Tlaxcala stieß, der Truppe zurief: "Folgen wir unserer Fahne, meine Herren, die das Zeichen des Kreuzes ist, so daß wir mit ihr sie47
Francisco López de Gomara, Historia de la Conquista de México. Con una introducción y notas por F. Joaquín Ramírez Cabañas, México 1943, Bd. 1,63. 48 Zum gerechten Krieg vgl. Silvio Zavala, Hernán Cortés y la teoría escolástica de la guerra justa. La >utopia< de Tomás Moro en la Nueva España y otros estudios, México 1937. Zum Legalismus des Cortés vgl. ebd., 45-54 sowie Victor Frankl, "Hernán Cortés y la tradición de las Siete Partidas": Revista de Historia de América 54-55 (1962), 9-74. 49 Die lateinische Version ist nicht überliefert. Aber Bernal Díaz del Castillo, der die spanische Version wiedergibt - "Hermanos, sigamos la señal de la santa cruz con fe verdadera, que con ella venceremos." - versichert, daß der Originaltext auf "Standarten und Fahnen" lateinisch gewesen sei - vgl. a.a.O., 38 (cap. XX). Die in der Forschung vorgenommenen Rückübersetzungen ins Lateinische differieren etwas. Obige stammt von G. de Illescas a.a.O., 25, der sie folgendermaßen übersetzt: "Amigos, sigamos la cruz; porque si fe tenemos, con esta señal venceremos." Pereyra 1953, 65f. spricht davon, daß Cortés "eine Standarte" anfertigen ließ, auf der unter einem Kreuz die besagte Inschrift stand, die er folgendermaßen rückübersetzt hat: "Amici, sequamur crucem, et si nos fidem habermus, vere in hoc signo vincemus." Ramos 1992, 56, gibt die spanische Version folgendermaßen wieder: "Amigos, sigamos la cruz; y nos, si fe tuviéramos en esta señal, venceremos. Er geht überhaupt nicht auf die Frage ein, ob der Text auf der Fahne in Latein oder Spanisch war, und nennt die Fahne nur eigenartig ("curiosa"). 50 Vgl. H. Kraft, Art. Monogramm Christi. RGG3 IV (1960), Sp. 1104ff. (toútoo níka - hierdurch siege)-
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gen!" Die Truppe antwortete einmütig: "Auf, mit Glück! Bei Gott ist die wahre Stärke!"51 Es scheint sich hier also tatsächlich um eine zentrale Denkkategorie von Cortés zu handeln, die seinen Glauben, aber auch sein Sendungsbewußtsein ausdrückt.52 Aufschlußreich ist auch, wie Cortés angesichts des massiven Widerstandes der Tlaxcalteken, die er als Verbündete gewinnen wollte, nach schweren Schlachten Anfang September 1519 von den Anhängern des Velázquez wegen der Vielzahl der verletzten Spanier geschürte Zweifel bezüglich der Möglichkeit, eine Begegnung mit Moctezuma in Tenochtitlán zu erzwingen, in einer Ansprache an die Truppe zerstreute.53 Die Ansprache ist in verschiedenen Versionen überliefert. Nach Cortés' Bericht an den Kaiser vom 30. Oktober 1520 appellierte er an die Vasallentreue der Soldaten gegenüber dem Kaiser, seien sie doch dabei, für den Kaiser "die größten Reiche und Herrschaften zu gewinnen, die es in der Welt gab". Diese Argumentationsweise ist typisch für Cortés. Immer wieder betont er in seinem Bericht, daß er alles für den Kaiser tue, ja, daß er auf dessen Befehl handele. Er muß so sehr davon überzeugt gewesen sein, daß er dem Kaiser einen großen Dienst erwies, daß er es sich zumindest nicht anmerken ließ, wenn er Zweifel hatte, ob der Kaiser seine Handlungsweise nachträglich approbieren werde. So kann er auch versichern, daß die Truppe dank der königlichen Gunst Mut faßte. Es folgt eine christliche Begründung: "Und im übrigen seien wir als Christen verpflichtet, gegen die Feinde unseres Glaubens zu kämpfen, und dafür würden wir in der anderen Welt Seligkeit gewinnen und in dieser Welt würden wir mehr Ruhm und Ehre erlangen als bis in unsere Zeiten irgendeine Generation vor uns." Außerdem stehe der Gott auf ihrer Seite, dem nichts unmöglich sei, was sie schon an den vergangenen Siegen und der Vielzahl der gefallenen Feinde gesehen haben.54
51 Díaz de Castillo, a.a.O., 119 (cap. LXII) "Señores, sigamos nuestra bandera, que es la señal de la cruz, que con ella venceremos." 52 Übrigens spielte auch Aberglaube bei der Truppe eine erhebliche Rolle. López de Gomara zählt zahlreiche Gegenstände des Aberglaubens auf., die die Soldaten zu ihrem magischen Schutz mitnahmen - vgl. Pereyra, a.a.O., 72. 53 Fernando Mires, En Nombre de la Cruz, San José 1986, 31 zitiert aus dieser Rede, ordnet sie aber nicht in den genauen Kontext ein, so daß man auch meinen könnte, Cortés habe diese Rede nach der "Noche triste" gehalten. 54 Vgl. Carta segunda enviada a su sacra majestad del emperador nuestro señor por el capitán general de la Nueva España, llamado don Femando Cortés: Cartas de la conquista de México, Madrid (1945) '1982, 33-112, 33. Im Text selbst spricht Cortés natürlich nicht vom Kaiser, sondern von "Eurer Ho-
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Zur selben Zeit, in der Martin Luther die Erlösung des Sünders ohne alles Verdienst und Würdigkeit, allein aus Gnade, als Kemaussage des Neuen Testaments verkündete, versprach Cortés in der Tradition von Kreuzzug und Heiligem Krieg im Sinne des do ut ¿es-Prinzips den Kämpfern die himmlische Glorie als Lohn für ihren Einsatz. Die Verpflichtung zum Krieg gegen die Heiden scheint in der spanischen Tradition des Maurenkriegs der Reconquista eine allgemein akzeptierte Vorstellung gewesen zu sein, die sich, wie erwähnt, auch auf Thomas von Aquin berufen kann. Nach Díaz del Castillo appellierte Cortés u.a. an die Vernunft, indem er dem Heer klarmachte, daß es nur Sieg oder Untergang gebe. Die Vorstellung, die Spanier könnten ruhig an der Küste bei den verbündeten Totonaken wohnen, sei irreal. Die Azteken würden einen Rückzug an die Küste als Schwäche interpretieren und sogleich offensiv werden, so daß die Totonaken dann so sehr unter den Druck der Azteken geraten würden, daß sie wieder unter deren Oberhoheit zurückkehren würden. Denn die Azteken würden nicht eher ruhen, bis sie ihre alten Klientelverhältnisse wiederhergestellt hätten. Wenn sie nicht von den Azteken ausgerottet werden wollten, müßten die Totonaken auf deren Seite gegen die Spanier kämpfen. Um dies zu verhindern, sei die Fortsetzung des Marsches ins Innere das geringere Übel.55 Nach der Überlieferung von López de Gomara soll Cortés auch in traditioneller Weise an die Ehre der Spanier appelliert haben, die im Krieg nie zurückgingen. Allerdings räumt Cortés ein, daß die Spanier in der Neuen Welt noch nirgendwo das Meer so weit hinter sich gelassen hätten, dafür werde allerdings der Erfolg und der Gewinn nach dem Spruch "je mehr Mauren, desto mehr Gewinn" auch desto größer sein.56 Nach der Überlieferung von Díaz del Castillo ging dem Appell an die Vernunft die religiöse Begründung voran. Cortés erinnerte daran, daß der allmächtige Gott der Truppe immer beigestanden habe und ihr auch künftig beistehen werde. Diese Hoffnung begründet er ausdrücklich mit dem Einsatz für die Ausbreitung des christlichen Glaubens: "Denn vom ersten Tag unseres Unternehmens an haben wir seine heilige Religion allen Völkern nach bestem Vermögen verkündet und die Götzen zerstört.
heit". Der Brief beginnt aber mit der Anrede: "Muy alto y poderoso y muy católico príncipe, invictísimo emperador y señor nuestro" - a.a.O., 33. 55 Vgl. Díaz del Castillo, a.a.O., 132ff. (cap. LXIX). 56 López de Gomara, a.a.O., Bd. 1, 176f.
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Wir dürfen im Vertrauen auf Gott und unseren Schutzpatron, den heiligen Petrus, den Feldzug in dieser Provinz", gemeint ist Tlaxcala, "für abgeschlossen betrachten (...); all' unser Tun ist darauf abgestellt, Gott zu verherrlichen und den Ruhm und Nutzen unseres Kaisers zu mehren."57 Hier wird wie in Cortés' eigenem Bericht die als untrennbar gedachte Verbindung von regnum Dei und regnum christianum deutlich. Wie im hochmittelalterlichen regnum christianum und in seiner spanischen Ausprägung noch zu Beginn des 16. Jhs. in der Krone potestas temporalis und potestas spiritualis verbunden sind, so dient die Ausbreitung des regnum christianum der Ausbreitung des regnum Dei. Das zeigt auch die Überlieferung der Rede durch den Humanisten Juan Ginés de Sepúlveda: "Ich habe in meinen Gedanken derartige Schwierigkeiten (wie wir sie jetzt zu bestehen haben), oft bedacht, und ich bekenne, daß ich mich einige Male unwohl bei diesen Gedanken fühlte. Aber indem ich die Dinge von einer anderen Seite betrachte, kommen mir immer Dinge in den Kopf, die mich ermutigen und anregen. Zunächst einmal die Erhabenheit und Heiligkeit der Sache; denn wir kämpfen für die Sache Christi, wenn wir gegen die Verehrer der Götzenbilder kämpfen, die deshalb Feinde Christi sind, denn sie beten böse Dämonen anstelle des guten und allmächtigen Gottes an. Und wir fuhren Krieg, sowohl um jene zu strafen, die sich hartnäckig widersetzen, als auch um die Bekehrung jener zum Glauben an Christus zu ermöglichen, die die Autorität der Christen und unseres Königs akzeptiert haben."58 Hier kann man deutlich beobachten, wie eine Ideologie zur Legitimation der spanischen Expansion entsteht, wenn Cortés den Krieg als Unternehmen zur Beseitigung von Missionshindernissen darstellt und fortfährt: "Wenn wir Krieg fuhren und Christus der Urheber und Führer ist, ist es gottlos und ein Zeichen von Feigheit, die wert ist, bestraft zu werden, die Heere der Menschen zu furchten, so gewichtig sie sein mögen, statt die Masse der Feinde zu verachten, wenngleich sie (noch) so zahlreich und kriegerisch sein mögen."59 Cortés stellt sich hier geradezu neben Mose, so als ob er im Namen Christi sein Heer durch 57
Bei Lopez de Gömara, a.a.O., 177f. fehlt allerdings der Bezug auf den Kaiser. Nach Lopez' Überlieferung betonte Cortes, die Soldaten seien verpflichtet, dem Ruhm und der Ausbreitung ihres heiligen katholischen Glaubens zu dienen, Götzendienst, Blasphemie und zumal Menschenopfer zu beseitigen. 58 Eigene Übersetzung nach Juan Gines de Sepülveda, De Rebus Hispanorum Gestis ad Novum Orbem Mexicumque. Opera Omnia, Madrid 1780, bzw. Spanische Übersetzung: Juan Gines de Sepülveda y su Crönica Indiana. En el IV. Centenario de su Muerte 1573-1973, Valladolid 1976, 187-462, 322. Hervorhebungen vom Vf. 59 Ebd., 325.
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Mexiko führe, und macht aus dem Eroberungsuntemehmen einen heiligen Krieg. Nach dieser Überlieferung bezog sich Cortés angesichts von Gewissenszweifeln auf das erste Gebot. Gleichzeitig betrachtete er, ähnlich wie die ihm wahrscheinlich unbekannte Konquistadorenproklamation, Zwangsmaßnahmen bei hartnäckigem Widerstand gegen die Oberhoheit der spanischen Kronen als legitim, wahrscheinlich mit Blick auf die in den Bullen Inter cetera von 1493 gewährten Privilegien. Es ging ihm demnach um die Anerkennung der religiösen Oberhoheit der römischen Kirche, der politischen Oberhoheit der Krone und um die Sicherung der freien Verkündigungsarbeit der Kirchenvertreter. Besonders auffällig ist die Aussage: "(...) hacemos la guerra tanto para castigar a aquellos que se obstinan en su pertinacia (...)" - Wir bekriegen jene, die sich hartnäckig widersetzen. Diese Argumentation ist insofern verblüffend, als hier eine wörtliche Übereinstimmung mit der Begründung für Christenverfolgungen in der Antike vorliegt, was in der Forschung bisher völlig übersehen worden ist. Der Gouverneur von Pontus und Bithynien, Plinius d. Jüngere, schrieb nämlich nach 112 n. Chr. an Kaiser Trajan, er verurteile jene Christen zum Tode, die seiner Aufforderung, am Staatskult teilzunehmen und von Christus abzulassen, nicht nachkamen, sondern "einen starren und unbeugsamen Trotz" an den Tag legten, d.h. pertinacia et inflexibilis obstinatio.60 Das Christentum hat offenbar bei der Conquista quasi die Funktion des römischen Staatskultes übernommen. Pertinacia et inflexibilis obstinatio - Hartnäkkigkeit, Starrsinn, Widerspenstigkeit waren im römischen Reich polizeirechtli-
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Hervorhebungen vom Vf. Wie wir der Korrespondenz des etwa i.J. 112 als Prokonsul nach Pontus und Bithynien entsandten gewissenhaften Beamten Plinius d. Jüngeren mit Kaiser Trajan (98-117) entnehmen, wurde damals schon das bloße Bekenntnis zu Christus als ein Staatsverbrechen angesehen. Wörtlich heißt es in Brief 96: "Interim in iis, qui ad m e tamquam Christiani deferebantur, hunc sum secutus modum. interogavi ipso, an essent Christiani. confitentes iterum ac tertio interTOgavi supplicium minatus; perseverantes duci iussi. neque enim dubitabam, qualecumque esset, quod faterentur, perlinaciam certe inflexibilem obslinationem debere puniri" - Plinii Caecilii Secundi, Epistularum Libri Decem - hg. v. Helmut Kasten, München 4 1979, 600f. Trajan antwortete Plinius in Brief 97 übrigens, er solle Christen nicht nachspionieren, sie hingegen bestrafen, wenn sie angezeigt werden, aber nicht auf anonyme Anzeigen hin tätig werden. Wer durch Vollzug eines Opfers für die römischen Götter seine Reue unter Beweis stellt, sei zu begnadigen.
205
che Kategorien, die man heute als Widerstand gegen die Staatsgewalt bezeichnen würde. Sie reichten Plinius für die Verhängung der Todesstrafe aus.61 Ich gehe hier auf die Frage der möglichen Zwischenstufen des traditionsgeschichtlichen Vermittlungsprozesses, die ich an anderer Stelle erörtert habe,62 nicht weiter ein. Wenn man nicht ausschließt, daß diese Formulierung so von Cortés gebraucht worden sein könnte, muß man sich fragen, wo er die Formel kennengelernt haben könnte. Dies könnte in Valladolid oder auf Hispaniola bei Pasamonte der Fall gewesen sein. "Starrer und unbeugsamer Trotz" galt nach der Erklärung der friedlichen Absichten, die Cortés in seinen requerimientos kundtat, offenbar als ein Grund für gerechten Krieg, handelte es sich doch um Widerstand gegen die legitime Obrigkeit des Königs, folglich um ein crimen laesae majestatis. Im Falle von Cortés ist das freilich insofern besonders bemerkenswert, als er einer Vollmacht der Krone für sein Unternehmen ermangelte. Man könnte freilich in Anknüpfung an Konetzke folgern, wie der Stadtrat von Veracruz "die Auflehnung gegen die legale Autorität des Gouverneurs von Kuba als einen notwendigen Akt der Selbsthilfe, um das allgemeine Beste des Landes und das recht verstandene Interesse des Herrschers zu wahren"63, ansah, so betrachtete Cortés seinen Zug an den Hof Moctezumas in Tenochtitlán in mittelalterlicher spanischer Tradition als Ausdruck legitimen Handelns im recht verstandenen
61
Vgl. Antonie Wlosok, "Rom und die Christen. Zur Auseinandersetzung zwischen Christentum und römischem Staat": Der altsprachliche Untemcht, Beiheft 1 zur Reihe XIII, Stuttgart 1970, 29. Auf die umfassende Diskussion zu den Rechtsgrundlagen der Christenverfolgung im Römischen Reich kann hier nicht eingegangen werden, vgl. dazu z.B. Paul Kerensztes, The Imperial Roman Government and the Christian Church. I. From Nero to the Seri, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (ANRW), hg. von Hildegard Temporini und Wolfgang Haase, II, 23.1, Berlin, New York 1979, 247315,286, der zu dem Ergebnis kommt: "The Rescript of Trajan to Pliny only made this understanding of criminality of the Christian name more formal. An initial ban was laid down, before the Rescript, perhaps in an Imperial edict, and/or very likely subsequent enactments such as Imperial mandata which spelled out the criminality of Christianity; the ban was now put by the Emperor Trajan in the form of Rescript. Trajan mainly adds the authority of his Imperial Rescript to what already had the force of law." Vgl. auch Dieter Liihrmann, Marburg, "Superstitio - die Beurteilung des frühen Christentums durch die Römer": ThZ 42 (1986), 193-213, 196f., der betont, daß eben jene Haltung der Christen, die die erste Frage des Plinius, ob sie Christen seien, bejahten und die ihre Bejahung bei der zweiten und dritten Befragung auch unter Androhung der Todesstrafe wiederholten, von Plinius als pertinacia et inflexibilis obstinatio gewertet wurde. 62 Vgl. Prien, a.a.O., 76-140, 116. 63 Durch seine Abgesandten ließ Cortés bei Hofe sinngemäß erklären, er habe durch sein Handeln das allgemeine Beste höher gestellt als die strikte Befolgung eines Befehls. Vgl. Richard Konetzke, Entdecker und Eroberer Amerikas. Von Christoph Kolumbus bis Hernán Cortés, Frankfurt a. M. 1963, 99.
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Interesse der kastilischen Krone. Diese Deutung wird durch die neue juristische Interpretation von Pérez-Prendes unterstützt. Danach war es in der Tradition des mittelalterlichen Personenverbandsstaates auch nach kastilischem Öffentlichen Recht möglich und gerade in Westindien auch üblich, sich unter Umgehung der hierarchischen Zwischenstufen der Machtausübung direkt an den Monarchen zu wenden, 64 wenn es, so ist zu ergänzen, nachweislich dem übergeordneten Interesse des Reiches diente. Sánchez-Barba spricht in diesem Zusammenhang vom Gesuchsrecht (derecho de suplicación), nach dem der König als oberster Schiedsrichter angerufen werden konnte.65 Natürlich war es nie sicher, ob der Monarch der Argumentation des Bittstellers folgen würde. Das dürfte der Grund dafür sein, daß sich Cortés auf jederlei Weise zu rechtfertigen versuchte.66
64
Vgl. José Manuel Pérez-Prendes, "Los criterios jurídicos de Hernán Cortés": Actas del Primer Congreso Internacional ... (1986), 208-239, 217-221. Pérez-Prendes' Folgerung, daß Cortés vor die Entscheidung gestellt, entweder der untergeordneten Instanz des Velázquez zu gehorchen und nach Kuba zurückzukehren oder seine Ernennung zum interimistischen Generalkapitän anzunehmen, bei letzterer Option deshalb dem Reichsinteresse mehr gedient habe, weil er damit das Risiko ausgeschlossen habe, daß der rebellische Cabildo in die Fußstapfen der Comuneros treten konnte, erscheint mir aus zwei Gründen nicht plausibel. Erstens wußte Cortés noch gar nichts von dieser erst 1520 ausgebrochenen Rebellion. Zweitens hat sich der Cabildo selbst mit der Carla Primera de Relación an den Kaiser gewandt und seinen Gehorsam betont. Drittens hat Cortés seiner Truppe wenig später klargemacht, daß ein Rückzug auf die Küste unweigerlich zum Untergang der Spanier führen müsse. Erst recht eine einzelne Stadt hätte demnach keinerlei Chance gehabt, dem aztekischen Druck zu widerstehen, so daß ein Ausscheiden aus dem Reichsverband nicht zu erwarten war. Freilich wird in der Forschung zu Recht daraufhingewiesen, daß Cortés' Emissäre, als sie endlich im März 1520 in Valladolid von Karl V. vorgelassen wurden, in die Situation der Rebellion der Comuneros gerieten, die Cortés Verhalten in noch ungünstigerem Licht erscheinen lassen konnte - vgl. Elliott, a.a.O., XIV; vgl. auch. M. Giménez Fernández, Hernán Cortés y su revolución comunera en la Nueva España, Sevilla 1948. 65
A.a.O., 54. Es gibt kaum wisssenschaftlich befriedigende deutsche Textausgaben. Verfugbar ist zum Thema z.B.: Hernán Cortés, Die Eroberung Mexikos. Eigenhändige Berichte an Kaiser Karl V. 1520-1524. Neu hg. u. bearbeitet v. Hermann Homann, Tübingen, Basel 1976 (ohne die Carta Primera de Relación)-, Die Eroberung Mexikos. - Drei Berichte von Hernán Cortés an Kaiser Karl V. Mit 112 Federlithographien von Max Slevogt. Übersetzungen von Mario Spiro und C. W. Koppe. Hg. v. Claus Litterscheid, Frankfurt a. M., Leipzig 1980 - (enthält die drei Berichte von 1520, 1522, 1524. Zugrunde liegt die 1918 in Berlin erschienene Obersetzung Spiros); Bemal Díaz del Castillo, Geschichte der Eroberung Mexikos. Mit zahlreichen Abbildungen hg. u. bearbeitet von Georg A. Narciß. Mit einem Nachwort von Georg A. Narciß und Tzvetan Todorov, Frankfurt a. M. 1988; vgl. hingegen die neue englische kritische Ausgabe: Hernán Cortés. Letters from Mexico. Hg. u. übersetzt von Anthony Padgen, mit einer Einleitung von J. H. Elliot, Cortés, Velázquez and Charles V., XI-XXXVII, New Häven, London 1986. 66
Einleitung und Kommentar zu Bartolomé de Las Casas' Missonsschrift, De unico vocationis modo omnium gentium ad veram religionem1
1. Zur Biographie Las Casas'
Anläßlich des 500. Geburtstages Las Casas' hat der Dominikanerorden offiziell die Selig- und Heiligsprechung Las Casas' beantragt.2 Es ist schon eigenartig, daß Johannes Paul II., der aus aktuellen Anlässen schon viele Selig- und Heiligsprechungen bekanntgegeben hat, 1992, beim Gedenken an den 500. Jahrestag der »Entdeckung« der Neuen Welt, nicht wenigstens die Seligsprechung des großen spanischen Dominikaners vollzogen hat. 1.1.
Kindheit und Jugend
Von Bartolomés Kindheit und Jugend wissen wir wenig. In einer der letzten Biographien heißt es: Bartolomé »ist wahrscheinlich am 11. November 1484« in Sevilla geboren, »als zweiter Sohn eines gewissen Pedro de Las Casas, eines bescheidenen Händlers«. Sein Vater stammte eigentlich aus der converso3Familie Peñalosa aus Segovia.4 Das steht im Widerspruch zu Bartolomés ' Dieser Beitrag ist nur in der katalanischen Ausgabe der Missionsschrift veröffentlicht worden: Bartolomé de Las Casas, L'únic métode de cridar tots eis pobles a la religió veritable. Introducció de Hans-Jürgen Prien. Traducció de Jordi Avilés, Barcelona 1998 (73 Clássis del Cristianisme), 7-73. 2 Lewis Hanke, »Mi vida con Bartolomé de Las Casas, 1930-1985«: En el Quinto Centenario de Bartolomé de Las Casas, Madrid 1986, 11-19, 14 schreibt, daß der Maestro General de la Orden de Predicadores in einem Vortrag in Berkeley im Jan. 1985 mitgeteilt habe, »que fray Bartolomé había sido propuesto formalmente para ser beatificado y canonizado«. 3 D.h. aus einer Familie von Judenchristen, was den spanischen Altchristen immer als etwas anrüchig galt. 4 José Alcina Franch, Bartolomé de Las Casas, Madrid 1987, 15. Lewis Hanke, Bartolomé de Las Casas, Bogotá 1965, 39, geht noch von dem früher angenommenen Geburtsjahr 1474 aus, das die Comisión de Estudios de Historia de la Iglesia en Latinoamérica (CEHILA) 1974 veranlaßt hat, ihren II Encuentro Latinoamericano in Chiapas abzuhalten unter dem Motto: Bartolomé de Las Casas (1474-1974) e Historia de la Iglesia en América Latina (Barcelona 1976). Hanke konnte angesichts des früheren Geburtsdatums auch noch annehmen, »daß er an der Universität von Salamanca studiert habe«- ebd. 39. Carlos Gutiérrez, Fray Bartolomé de Las Casas sus Tiempos y su Apostolado, Madrid 1878, 33f., nannte Bartolomés Vater noch Antonio, bezeichnete ihn als soldado de marina und behauptete, er habe Colón auf seiner ersten und zweiten Reise begleitet und sei 1498 »mit einem guten Vermögen« heimgekehrt. Die Annahme des Geburtsjahres 1474 geht auf die Angabe Antonio de Re-
208 Selbstbezeichnung als Altchrist.5 Andererseits nennt er selbst seinen Onkel Francisco de Peñalosa. 6 Über Juan de Peñalosa hatte der Witwer Pedro de Las Casas de Bekanntschaft Cristóbal Colons gemacht, weshalb er sich zusammen mit seinem Bruder Francisco de Peñalosa an der 2. Expedition des Admiráis beteiligte und am 25. September 1493 nach Hispaniola segelte. Der knapp neunjährige Bartolomé blieb zusammen mit seiner bereits verheirateten älteren Schwester Isabel de Sosa zurück in Sevilla. Später berichtete er in seiner Historia de las Indias, daß er sich noch gut an die sensationelle Rückkehr des Admiráis 1493 mit sieben federgeschmückten Indios und Papageien erinnere. Als Kolumbus 1495 zum 2. Mal zurückkam, hatte »das Bild des guten Wilden« nach den Kämpfen mit den Kariben schon etwas gelitten. 7 Zuerst kam sein Onkel Francisco und Weihnachten 1499 auch sein Vater aus Westindien zurück, »der einen jungen Diener und Sklaven mitbrachte, einen Taino-Indianer, den ihm Kolumbus geschenkt hatte, und den jener seinem Sohn Bartolomé schenken sollte«. Der Indianer, mit dem er sich überall zeigte und Bewunderung erregte, war der ganze Stolz des Fünfzehnjährigen. Durch ihn und durch die Erzählungen von Vater und Onkel wurden sein Westindien-Bild geprägt. Auf Befehl Königin Isabellas wurde der Taino zusammen mit den anderen Indio-Sklaven im Juni 1500 durch die Bobadilla-Expedition repatriiert. Aber es müssen schon engere Bande zwischen Bartolomé und seinem TainoPagen entstanden sein, denn später sollte er ihn auf Hispaniola suchen.
g
mesáis zurück, Fray Bartolomé sei 1566 mit 92 Jahren gestorben (Historia General ... X, c. 24). Inzwischen haben Helen Rand Parish und H. E. Weidmann, »The corTect birthdate of Bartolomé de Las Casas«: HAHR 56 (1976), 385-403, ein Dokument im Indienarchiv vom 19. November 1516 entdeckt, in dem Las Casas beschwört, 31 Jahre alt zu sein, was auf das Jahr 1484 oder 1485 fuhrt. 5 Cristiano viejo - vgl. Brief vom 30.4.1534 (Obras V 58b) nach Benno Biermann OP, Las Casas und seine Sendung, Mainz 1968 (Walberberger Studien der Albertus-Magnus-Akademie), 5. Zur Jugend zitieren die verschiedenen Biographen meist Manuel Giménez Fernández, »La juventud en Sevilla de Bartolomé de Las Casas«: Miscellanea... dedicados a Fernando Ortiz, La Habana 1956, Bd. II, 671771 - vgl. Marianne Mahn-Lot, Bartolomé de Las Casas et le Droit des Indiens, Paris 1982, 11. In der neuesten Biographie von Alvaro Huerga, Vida y Obras, OC 1, Madrid 1998, 30ff., die hier noch nicht berücksichtigt werden konnte, kommt der Vf. Zu dem Ergebnis, daß über die Abstammung Bartolomés von Alt- oder Neuchristen keine Gewißheit zu erlangen ist. 6 Vgl. Historia de las Indias, 1. I, c. 82 - Mahn-Lot, a.a.O., 12, die daraus schließt, daß sein Vater Pedro den Nachnamen seiner Mutter angenommen und sich Las Casas genannt hat. Bartolomé stammte demnach über den Großvater väterlicherseits von bekehrten Juden ab. ? Alcina Franch, a . a . O . , 16, bzw. Mahn-Lot, a.a.O., 13. Alcina Franch, der keinen Anmerkungsapparat hat, zitiert ungeniert ohne Quellenangabe Mahn-Lot! 8 Alcina Franch, a.a.O., 17; Historia, 1 I, c, 176 - Mahn-Lot, a.a.O., 14.
209
Bartolomés intellektuelle Fähigkeiten erlaubten es, daß er 1500-1501 die Domschule besuchte, an der »der große Gelehrte Antonio de Nebrija lateinische und 9
kastellanische Grammatik lehrte«. Hierauf geht wahrscheinlich das ausgezeichnete Latein Bartolomés zurück. 10 In der Literatur ist gelegentlich die Annahme geäußert worden, daß Bartolomé hier bereits die niederen Weihen erhalten habe," wofür es indes keinerlei Beleg gibt. 1.2.
Das erste Jahrzehnt in der Neuen Welt (1502-1512)
R. Marcus, der dieses Jahrzehnt besonders untersucht hat, kommt zu dem Schluß: »Jene zehn Jahre, von denen Las Casas vorzog, nur wenige Erinnerungen zu bewahren, haben wahrscheinlich viel mehr Bedeutung für ihn gehabt, als man ihnen bisher beigemessen hat.« Es sind entscheidende Jahre einer ersten inneren Entwicklung Bartolomés. »Der gerade achtzehnjährige Jüngling, ein Goldsucher und Soldat gegen die Indianer, macht nach einer Reise nach Rom und seiner Ordination als Priester dem Kolonistenpfarrer Raum, der sich schon nicht mehr ausschließlich der Goldgewinnung widmet. Er ist zwar noch mehr auf materiellen Ertrag als auf geistlichen Fortschritt erpicht, aber er ist schon von den Grundprinzipien seines Denkens durchdrungen. Das eine war wirtschaftlicher Natur: Die Ausbeutung der für die Indianer so todbringenden Goldvorkommen war für die Spanier eine weniger gewinnbringende Tätigkeit als die Landwirtschaft ... Das andere war politischer Natur: die bewußte Anwendung von bewaffneter Gewalt war die schlechteste Methode zur Unterwerfung der Indianer. Persönlich sollte er sich ihnen niemals wieder mit der Waffe in der Hand nähern. Künftig sollte er, wenn auch nicht immer mit Erfolg, versuchen, in den Beziehungen zwischen Spaniern und Indianern Methoden friedlicher Überredung vorherrschen zu lassen.«12 ' Nebrija ist der Verfasser der ersten spanischen Grammatik. Alcina Franch, a.a.O., 17f. Mahn-Lot, a.a.O., 15f. drückt sich vorsichtiger aus und meint, es sei möglich, daß Bartolomé die Domschule besucht habe. Denn es gibt keine Belege dafür. Thomas Eggenberger und Ulrich Engel, Bartolomé de Las Casas. Dominikaner - Bischof - Verteidiger der Indios, Frankfurt a. M. 1991, schreiben in ihrer Zeittafel, 141, ohne Beleg: »1500: Las Casas kämpft auf Seiten des spanischen Heeres gegen die Morisken.« Auch Biermann, a.a.O., 5, bemerkt, er sei wahrscheinlich Soldat in Granada gewesen. Huerga, a.a.O., 37, weist darauf hin, daß die Forscher sich bezüglich des Besuchs der Domschule nicht einig seien. " Vgl. Raymond Marcus, »El primer decenio de Las Casas en el Nuevo Mundo«: IberoAmerikanisches Archiv, NF 3 (Berlin 1977), 87-122, 94. Franch, a.a.O., 17f. schreibt 1987 noch: »nachdem er damals sicherlich die niederen Weihen erhalten hatte«. '^Marcus, a.a.O., 118f.
210
Daß Las Casas keine Autobiographie veröffentlicht und nicht versucht hat, die Anfänge seiner inneren Entwicklung hagiographisch zu verklären, sollte man positiv bewerten. Man kann deshalb davon ausgehen, daß er seiner Mentalität nach den übrigen Spaniern glich, die damals in die Karibik kamen. Folgende Einzelheiten können als weitgehend sicher gelten: Am 15. April 1502 kam er mit der Expedition des neuen Gouverneurs Nicolás de Ovando, Komtur des Alcántara-Ordens, in Santo Domingo an.13 Bartolomé schreibt: »Ich habe mit meinen eigenen Ohren gehört ... wie sie als gute Nachricht und Grund zur Freude vermeldeten, daß die Indianer sich erhoben hatten, weil sie sie nun bekämpfen und folglich Indianer gefangennehmen und als 14
Sklaven nach Kastilien verkaufen könnten.« »Man weiß nicht, zu welchem Zweck er gekommen ist. Auch ist nicht überliefert, daß sein Vater mit ihm auf die Insel zurückkehrte, auf der er zuvor dank der zweiten Reise des Kolumbus gewesen war. Es gibt kein Indiz seiner Anwesenheit vor 1514.«' 5 Hypothetisch kann mit Marcus angenommen werden, daß Bartolomé »sich anfangs der Goldsuche und -gewinnung in den reichen Vorkommen der Provinz Cibao mit Hilfe von Indianerarbeit widmete«. Ob er 1503 an den Feldzügen in Xaragua oder in der Provinz Haniguayaba, letztere unter dem Kommando von Diego Velázquez, teilgenommen hat, ist ungewiß. Festzustehen scheint hingegen »seine Beteiligung, zweifellos als Soldat, am zweiten Krieg in der Provinz Higüey, der im Sommer 1504 stattfand.«17 Es Trotzdem schreibt Mahn-Lot, a.a.O., 15ff. noch 1982: »Pedro de Las Casas hatte die Hoffnung, in Westindien ein Vermögen zu machen, noch nicht aufgegeben. Deshalb schloß er sich der Expedition der ca. 2500 Emigranten an, die mit dem neuen Gouverneur Nicolas de Ovando, Komptur des Alcantara-Ordens, am 13. Februar 1S02 aussegelte. Und diesmal nahm er seinen Sohn Bartolomé auf das große Abenteuer mit. Sie kamen am 15. April 1502 in Santo Domingo an. Das erste, was er dort hörte, war die Nachricht vom Aufstand der Indianer in der Provinz Higuey, der die Gelegenheit bot, viele Sklaven zu gewinnen. Historia de Las Indias, Lib. II, c. 3, 215: »Yo lo oí por mis oídos mismos ... por manera que daban por buenas nuevas y materia de alegría estar indios alzados, para poderles hacer guerra, y por consiguiente, captivar indios para enviar a vender a Castilla por esclavos.« Marcus, a.a.O., 117. Ebd., 117. Mahn-Lot, a.a.O., 18 meint, vielleicht habe er zuerst den Vater in die bergige Region von Cibao auf Goldsuche begleitet. " Marcus, a.a.O., 118. Mahn-Lot, a.a.O., 19, hingegen behauptet, er habe 1503 als Neunzehnjähriger persönlich an Ovandos Expedition nach Xaragua, der Westprovinz in der Nähe des heutigen Port-auPrince teilgenommen, wo die den Spaniern gegenüber loyale Herrscherin Anacaona ca. 300 ihrer lugartenientes zu einem Fest versammelt hatte, die Ovando plötzlich niedermetzeln ließ, während er die übrigen Indianer versklaven ließ. Dieser barbarische Akt der Pazifikation Ovandos und die weiteren Kämpfe in der Region Higuey dürften Schlüsselerlebnisse Bartolomés gewesen sein. Biermann, a.a.O., 5, bemerkt vorsichtiger: F.r muß selbst als Soldat mitgewirkt haben. Trotzdem dürfte er kein
211
gibt aber keinerlei Belege dafür, daß Bartolomé, wie meist behauptet wird, dafür eine Kommende erhielt.
18
Wahrscheinlich ist nur, daß er 1504-1506 »in der 19
Stadt Concepción de la Vega oder in ihrer Nähe« lebte. 1506-1508 unternahm Bartolomé eine Reise nach Europa, die ihn auch nach Rom führte, wo er Ende 1506 die Priesterweihe erhalten zu haben scheint. 20 1508 trat er seine zweite Reise nach Amerika an.2' Bisher konnte nicht plausibel erklärt werden, warum Bartolomé erst 1510 in Gegenwart des neuen Gouverneurs Diego Colón, des Sohnes des Entdeckers, seine erste Messe auf Hispaniola in Concepción de la Vega gesungen hat.22 Marcus macht wahrscheinlich, daß Las Casas sich seit 1508 der Landwirtschaft gewidmet habe und nennt ihn wilder Konquistador gewesen sein. Huerga, a.a.O., 44, geht davon aus, daß Las Casas zumindest an dem Feldzug Velázquez' teilgenommen und dadurch den Titel eines Conquistador, die Freundschaft von Velázquez und einige Indianer gewonnen habe, so daß er Kommendenbesitzer wurde. Vgl. Marcus, a.a.O., 118: »Las Casas nunca afirmó haber tenido labranzas cerca de Concepción de Vega.« Vgl. ebd. Marcus hat auf den Überlieferungsfehler in Kap. IX der Apologética Historia aufmerksam gemacht, nachdem es schien, als habe er Landwirtschaft (labranzas) gehabt, die ihm jährlich »mehr als 100 000 castellanos (»más de cien mil castellanos«) eingebracht habe. Mahn-Lot, a.a.O., 21 f., geht aber nach wie vor davon aus, daß er zumindest eine kleine encomienda hatte. Ebd. bezieht sie folgendes Selbstzeugnis, das Las Casas auf Kuba bezieht, gleichzeitig auf Hispaniola, ohne dies ausdrücklich zu vermerken: »bei der Behandlung der Indianer verhielt er sich immer menschlich, liebevoll und fromm, denn seine Natur war mitfühlend, weil er das Gesetz Gottes verstand; aber er ging hinsichtlich ihrer Körper nicht weit darüber hinaus« - HI, III, c. 32 - OC 5, 1892f. - also hinsichtlich ihres leiblichen Wohls. Huerga, a.a.O., 46 belegt, daß Las Casas auf Hispaniola einige Indianer in der Kommende und einen sogar als Sklaven gehabt habe. Biermann, a.a.O., 6, weist auf einen Brief v. 30. April 1534 hin (Obras V, Opúsculos, cartas y memoriales, ed. por J. Pérez de Tudela, Madrid 1958, 58a), in dem er schreibt, daß er seit 18 Jahren gepredigt und Beichte gehört habe, was die Priesterweihe 1506 bestätigt. Mahn-Lot, a.a.O., 22, hält es freilich für wahrscheinlicher, daß Bartolomé auf der ersten Station seiner Reise, in Sevilla, vom dafür zuständigen Erzbischof ordiniert worden ist. Diese Annahme unterstützt auch Huerga, a.a.O., 57-62. 2 ' Mariano Delgado, »Chronologische Übersicht über Weg und Werk des Bartolomé de Las Casas«: Bartolomé de Las Casas. Werkauswahl, hg. v. M. Delgado, Bd. 1 Missionstheologische Schriften, Paderborn, München, Wien, Zürich 1994,27-33, 27 nennt ohne Begründung das Jahr 1507. 22 Fest steht jedenfalls, daß Las Casas »im November 1510 der erste war, der in der Neuen Welt, in Concepción de la Vega, die Primiz gehalten hat, wo zufällig der Dominikaner Pedro de Córdoba angekommen war« - Marcus, a.a.O., 118. Marcus, ebd., 107ff., weist bezüglich der zwischen Priesterweihe und Primiz verflossenen Zeit darauf hin, daß dies nach den damaligen kanonischen Bestimmungen zulässig war und daß auch Ignatius von Loyola viel Zeit verstreichen ließ. Wie Loyola ursprünglich nach seiner Ankunft im Heiligen Land die Primiz feiem wollte, liegt es nahe anzunehmen, daß Las Casas dies auf Hispaniola tun wollte. »In seinen Werken erscheint Hispaniola als das neue Land der Verheißung schlechthin (vgl. seine Beschreibung in den ersten zwanzig Kapiteln seiner Apologética historia) und in einem Brief vom 20. Juni 1555 an Prinz Philipp sollte er noch schreiben: >Es ist der Schlüssel zu den gesamten Indienc. Außerdem ist es möglich, daß Las Casas, der als erster Primizfeiernder in der Neuen Welt ein Waise war, eine feierliche Gelegenheit für die Feier seiner Primiz abgewartet hat.«
212
einen Kolonistenkleriker. 23 Einen gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet der Eintritt in den Priesterstand nicht, denn Säkularpriester hatten damals auf der Iberi24 sehen Halbinsel und in Westindien einen sehr schlechten Ruf. Bartolomé dürfte öfter den von seinem Reisegefährten von 1502, Alonso de Espinal, gegründeten Franziskanerkonvent in der Vega besucht haben. Noch 1510 trafen auch die ersten vier Dominikaner-Observanten 25 aus dem Konvent San Esteban in Salamanca in Santo Domingo ein. Bartolomé könnte deren Prior Pedro de Córdoba anläßlich dessen Besuches in Concepción predigen gehört haben. Nach der Messe widmete sich Córdoba mit Hilfe eines Dolmetschers gleich der Indianer-Katechese. Schon bis Ende 1510 stieg die Zahl der Dominikaner auf zwölf bis fünfzehn an.26 Zu Geschäftszwecken dürfte sich Las Casas häufig nach Santo Domingo begeben haben, weshalb man in der Forschung vielfach davon ausgeht, daß er auch dem großen Ereignis des 4. Adventssonntags, dem 21. Dezember 151127 beiwohnte, nämlich dem Hochamt mit der Predigt des besonders eloquenten Antonio Montesinos vor Gouverneur, Verwaltungsspitze und Konquistadoren.
28
Zum
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ersten Mal wurde die grauenhafte Indianersklaverei als ein Verbrechen angeprangert, durch das die Kommendenbesitzer in Todsünde gefallen seien [Historia de Indias (HI) III, c. 4 - OC 5, 1761 ff.]. Trotz aller Drohungen bestätigte Montesinos im Auftrage des Kapitel wohl am Sonntag nach Weihnachten seine Anklagen (ebd., c. 5 - OC 5, 1765ff). Ebd., 108f.: »Zumindest erscheint es als wahrscheinlich, daß Las Casas in jener Zeit die Erträge eines Erbes in Cibao, in der Nähe des Forts Santo Tomás genoß...« 24 Vgl. Mahn-Lot, a.a.O., 23. Vgl. HI, II, c. 54 - OC 4, 1513ff. - drei Priester und ein Laienbruder. Miguel Angel Medina, Los Dominicos en América, Madrid 1992, 15, bemerkt: »Die Dominikaner, die mit Angelegenheiten einer internen Reform beschäftigt waren, maßen den Ereignissen in Amerika nicht die gebührende Wichtigkeit bei. Das erste Jahrzehnt des 16. Jhs. ging zu Ende, als der Orden zu erwachen schien.« 26 Vgl. Mahn-Lot, a.a.O., 24f. - HI, 1. II, c. 54, 383f. Marcus, a.a.O., 114, weist daraufhin, daß Pérez Fernández 1976, 85-89 diesen Termin für die erste Predigt nachgewiesen habe. Marcus hat freilich die genauen bibliographischen Daten anzugeben vergessen. Cf. Mahn-Lot, a.a.O., 26. Delgado, a.a.O., 27 meint allerdings, daß »Las Casas wahrscheinlich nicht anwesend« war, aber in Concepción de la Vega gleich vom Inhalt der Predigt erfuhr. Nach der Rechtstheorie wurde zwischen Indianersklaven, die in gerechtem Krieg gefangen sein sollten, und Kommendenindianem, die als freie Vasallen der Krone galten, unterschieden. De facto wurden sie aber in jener Zeit alle brutal wie Sklaven behandelt.
213
Las Casas selbst bestätigt, daß er sich »nicht in Übereinstimmung mit den Dominikanern, die kurz zuvor auf die Insel gekommen waren«, befand, »wo sie ihre ethisch-religiösen Prinzipien durchsetzen wollten, besonders hinsichtlich der Verteidigung der Indianer«.30 Marcus erinnert daran, daß fray Domingo de Mendoza, der für die Aussendung der ersten Dominikaner nach Hispaniola gesorgt hatte, aus der Kongregation des Dominikaners Savanarola, nämlich Sankt Markus von Florenz, stammte: »Angeregt von P. Domingo de Mendoza wurden die Aspirationen der reformierten Dominikaner, die in der Alten Welt frustriert waren, in >neue Himmel und auf neue Erde< übertragen in eine Gesellschaft unter einer theokratischen Regierung, die von Sünde frei war, in Übereinstimmung mit den Weissagungen Jesajas (65, 17 u. 66, 22) und der Offenbarung des Johannes (21,1). Dieser Geist übertrug sich auf Pedro de Córdoba, denn der Prior der Dominikaner in Santo Domingo entstammte dem Konvent des Hl. Tomás von Avila, wo man unter Führung von P. Juan Hurtado de Mendoza »versuchte, das >Anziehende, das seit jeher von der lombardischen Kongregation ausgegangen war und welches das Werk Savanarolas auf die spanischen Reformer auszuüben begann, bis in die letzte Konsequenz umzusetzen«:«.31 Auf Hispaniola wurden jedenfalls dann Bettelmönche gegen Bettelmönche ausgespielt. Fray Alonso de Espinal, der Prior der 1502 ins Land gekommenen Franziskaner, ließ sich überreden, an den Hof zu reisen, »um dem König kundzutun, daß die Dominikaner gegen die Anordnung des Königs gepredigt hätten, Indianer zu halten, und wenn man über sie verfugte, würde Gold gewonnen und den Hoheiten die Erträge gesandt, und daß andernfalls das Land sich nicht halten könne«. »Und der gute Franziskanerpater, fray Alonso del Espinal (sie), übernahm mit seiner nicht geringen Unwissenheit den Auftrag der Gesandtschaft, wobei er sich nicht klarmachte, daß sie ihn schickten, um so viele Tausend Menschen, unschuldige Nächste, in Gefangenschaft und ungerechter Sklaverei zu halten, in der sie mit Sicherheit umkommen würden« (HI, III, c. 5 - OC 5, 1768). So urteilt Bartolomé jedenfalls im historischen Rückblick. 32 Die ersten Kontakte mit den Dominikanern führten vielleicht dazu, »daß sie seine Achtung 30
Marcus, a.a.O., 118.
Marcus, ebd., 112f., der sich bezieht auf Vicente Beltrán de Heredia, OP: Las corrientes de espiritualidad entre los Dominicos de Castilla durante la primera mitad del siglo XVI. Salamanca 1941, 78. 32
M. Delgado »Geschichte Westindiens«, Werkauswahl, Bd. 2, 1995, 231, Anm. 15, urteilt, daß sich aus der literarischen Kontroverse über die Haltung der Franziskaner klar ergebe, »daß die Franziskaner die Vorteile der encomienda persönlich genossen und den Siedlern vielfach verpflichtet waren«.
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erwarben, nicht aber seine zustimmende Unterstützung. Um sie zu erlangen, sollten noch spätere Kontakte mit den Dominikanern auf Kuba und ein Wandel der sozioökonomischen Bedingungen erforderlich sein, der auf den Schaden der >alten< Inseln hinauslief.« 33 Für Las Casas genügte dieser Denkanstoß 1511 also noch nicht. Er erteilte anderen Kommendenbesitzern weiterhin die Absolution. Und er fuhr fort, »das Leben eines Kolonistenpfarrers« zu fuhren, »der vielleicht die Vorteile des Erbes in der Nähe des Xanique-Flusses, das er erwähnt, genoß. Er interessierte sich für Expeditionen, die von Hispaniola abgingen, um andere Gebiete im Karibikbecken zu kolonisieren, die möglicherweise als Lebensmittellieferanten dienen konnten.«34 Nachdem Diego Colón beschlossen hatte, die Nachbarinsel Kuba zu erobern und zu besiedeln und mit dieser Aufgabe den reichen Diego Velázquez beauftragt hatte, wurde Bartolomé nach eigenen Angaben von Velázquez aufgefordert, dieses Unternehmen, das Ende 1511 begann, 35 als Militärkaplan zu begleiten (HI, III, c. 21 - OC 5, 1841 ff.). Er reiste mit der zweiten Welle der Spanier einige Monate später (HI, III, c. 25 - OC 5, 1861 ff.). Er gewann bald die besondere Wertschätzung Diego Velázquez' (HI, III, c. 28, - OC 5, 1873). Bartolomé mußte Hauptmann Pánfilo de Narváez bei der weiteren »Befriedung« der Insel begleiten. Er bemühte sich nach seinem eigenen Zeugnis, die Indianer von Widerstand gegen die Spanier abzuhalten, sie zu bewegen, den Spaniern freiwillig Unterkunft in den Dörfern zur Verfügung zu stellen. Und er war bestrebt, überall die kleinen Kinder zu taufen »es waren viele, denen Gott seine
ü Marcus, ebd., 115, der sich stützt auf Demetrio Ramos, »La >conversión< de Las Casas en Cuba: el clérigo y Diego Velázquez«: Estudios sobre fray Bartolomé de las Casas, Sevilla 1974, 247-257. 34 35
Ebd., 118.
Über den Beginn der Kuba-Unternehmung gehen in der Literatur die Meinungen auseinander. Jacobo de la Pezuela, Historia de la Isla de Cuba, Madrid 1868, 71, schreibt, daß das Unternehmen 1511 beschlossen worden sei. I. A. Wright, The Early History of Cuba 1492-1586, New York 1916, 23, hingegen meint, daß es gegen Ende 1510 oder, wie allgemein angenommen, in den ersten Monaten des Jähes 1511 begonnen sei. Ramiro Guerra y Sánchez, Manual de Historia de Cuba, Habana 1938, 22, geht von Anfang 1511 aus und betont, daß Las Casas nicht zum ersten Aufgebot gehört habe. Hortensia Pichardo, Documentos de la Historia de Cuba, La Habana 1973, 63, hingegen nimmt sogar 1510 an. Wenn demnach Las Casas schon irgendwann 1511 nach Kuba gekommen wäre, könnte er die Montesinos-Predigten von Dezember 1511 nicht selbst gehört haben und wäre wahrscheinlich auch nicht sehr zuverlässig darüber informiert worden. Huerga, a.a.O., 63 zeigt indes, daß die Landung auf Kuba erst am 15. Aug. 1511 erfolgte, so daß Las Casas erst 1512 dort angekommen sein dürfte.
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heilige Taufe zukommen ließ, weil er sie für seine Herrlichkeit vorherbestimmt hatte...«36 (HI, III, c. 29 - OC 5, 1875ff.). Aber er konnte manch ein willkürliches Massaker doch nicht verhindern (vgl. ebd., 1879f.). Las Casas, der große Verdienste bei der »Befriedung« Kubas erworben hatte, erhielt von Velázquez eine gute Kommende in Canaoreo, dem heutigen Caonao, in der Nähe des Hafens von Xagua am Arimao. Er wurde zum Mitgründer des heutigen Trinidad (HI, III, c. 32 - OC 5, 1890ff.).37 Über seine innere Einstellung schreibt er rückblickend: Mit den ihm zugeteilten Indianern {indios de repartimiento), »nahm er sich vor, Landwirtschaft zu betreiben und einen Teil von ihnen in die Minen zu schicken, wobei er sich kaum darum kümmerte, den Indianern die Glaubenslehre zu erteilen, obgleich das naturgemäß seine Hauptaufgabe gewesen wäre. Aber in jenem Punkt war der guter Pater zu jener Zeit ebenso blind, wie die Laien, die ihm wie Söhne anvertraut waren...« (HI, III, c. 32 - OC 5, 1892). Wenn sich schon ein Pfarrer kaum um die Seelsorge seiner 38 Kommenden-Indianer kümmert, was kann man dann von den Laien erwarten, 39
denen die Gesetze von Burgos von 1512 diese Aufgabe auferlegten. Die Gesetze von Burgos rechtfertigen ja sogar die encomienda, indem sie den encomenderos die Aufgabe der Evangelisierung übertrugen! 1.3 Die erste Bekehrung Die Konszientisierung in der Indianerfrage, wie man heute sagen würde, also die Bewußtmachung, beschreibt Las Casas selbst als einen längeren Prozeß, der sich von den Predigten Montesinos im Dezember 1511 bis zum Sommer 1514 hinzog. Als besonderer Fixpunkt erscheint dabei die Vorbereitung auf das 36 Zu Bartolomés Prädestinationsbegriff vgl. 233fT. Vor seiner Abreise nach Spanien ließ er sich 1515 von einem alcalde in einer probanza bestätigen, daß er 3-4 Jahre auf Kuba zum Wohle des Königs zur Befriedung der Indianer fast aller Provinzen und in Predigt, Taufe, Kommunion und Beichte für die Spanier gearbeitet habe. Las Casas wollte damit Verleumdungen vorbeugen - HI, III, c. 81 OC 5,2093. 37Auf einer Erinnerungstafel in Trinidad, auf der Las Casas als Mitgründer der Stadt bezeichnet wird, heißt es, der Gründungsakt sei im Dezember 1513 vollzogen worden. Er betont, er habe zwar die indios gut behandelt, aber hauptsächlich hinsichtlich ihres leiblichen Wohlergehens -»pero no pasaba esto mucho adelante de lo que tocaba a los cuerpos, todo lo concerniente a las ánimas puesto al rincón« - ebd. Auf Grund des Protestes der Dominikaner hatte die Krone in den Gesetzen von Burgos die Pflicht der Kommendenbesitzer, ihre Indianer im christlichen Glauben zu unterrichten, verankert - vgl. die Hinleitung der »Ordenanzas para el Tratamiento de los Indios« - Richard Konetzke, Colección de Documentos para la Formación Social de Hispanoamérica 1493-1810, Madrid 1953, Bde. 1-3,1, 3840.
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Pfingstfest 1514, auf dem der Kleriker Bartolomé auf Wunsch des Gouverneurs Diego Velázquez ein Hochamt in Sancti-Spiritus halten sollte, weil es außer ihm damals nur noch einen anderen Priester auf Kuba gab, der sich ganz im Osten der Insel, in dem weit entfernten Baracoa aufhielt (HI III, c. 79 - OC 5, 2080ff). In der Literatur heißt es öfter, es habe sich um die Gründungsmesse der Stadt gehandelt.
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Bei der Durchsicht seiner vorjährigen Pfingstpredigten befaßte er sich mit verschiedenen Bibeltexten, u.a., wenn ihn seine Erinnerung nicht trüge, auch mit Jesus Sirach. Er zitiert den Vulgata-Text Ecclesiaticus 34, 21-25, der mit dem Satz beginnt: »Inmolantis ex iniquo oblatio est maculata, et non sunt bene41
placitae subsannationes iniustorum.« Bei der Lektüre mußte er an »Elend und Knechtschaft, die jene Leute erleiden«, denken und erinnerte sich an »das, was er auf dieser Insel Hispaniola gehört und erfahren hatte, was die Ordensleute des Heiligen Dominikus predigten, nämlich daß man nicht guten Gewissens Indianer halten könne und daß sie denjenigen, die es taten, nicht die Beichte abnehmen und sie nicht absolvieren wollten« (HI, III, c. 79 -OC 5, 2081), was er damals nicht akzeptiert habe. Aus dieser Stelle geht also nicht mit Sicherheit hervor, ob Las Casas eine der beiden Predigten Montesinos seinerzeit selbst gehört hat oder ob er nur die Erzählungen darüber vernommen oder ob er ähnliche Predigten der Dominikaner bei anderer Gelegenheit gehört hat. Und Bartolomé erinnert sich nun auch daran, daß ihm ein Dominikaner die Absolution verweigern wollte, weil er seine Kommendenindianer nicht freilassen wollte. Er wurde schließlich von der Gelehrsamkeit des Paters überwältigt. Möglicherweise erhielt er also die Absolution mit der Auflage als satisfactio seine Indianer frei zu lassen, »aber hinsichtlich der Freilassung der Indianer 42 kümmerte er sich nicht um seine Meinung«. Da Las Casas schon im Frühjahr 1512 nach Kuba gereist war und da es dort zunächst keine Dominikaner gegeben hat, kann sich dieser Vorfall nur Anfang 1512 kurz nach den Predigten von Dezember 1511 zugetragen haben. Nun erst im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Pfingstpredigt bedachte er seine ignorantia, und es wurde ihm klar, in welcher Gefahr er schwebte, »da er die Indianer wie die anderen hielt und So Eggensperger/Engel, B. de Las Casas, 57 oder Johannes Meier, Zeuge einer befreienden Kirche. Bartolomé de Las Casas, Leutesdorf 1988,13. 41
»Ein Brandopfer von ungerechtem Gut ist eine befleckte Gabe, Opfer der Bösen gefallen Gott nicht.« »Pero cuanto a dexar los indios no curó de su opinión« - HI, III, c. 79, 92f.- OC 5, 2082.
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bedenkenlos jenen die Beichte abnahm, die sie hielten« (a.a.O.). Bartolomé schreibt nichts davon, daß er nun auch erkannte, daß die Absolution, die er wahrscheinlich von jenem Dominikaner erhalten hatte, ungültig war, weil er die Satisfaktionsauflage nicht erfüllt hatte. Schließlich entschloß er sich, auf seine Kommendenindianer zu verzichten: »um freimütig die Indianerzuteilungen und Kommenden als ungerecht und tyrannisch verdammen zu können, beschloß er, sogleich die Indianer loszulassen und 43
sie dem Gouverneur Diego Velázquez zu überlassen«. Während in der Literatur häufig behauptet wird, Las Casas habe »seine Indio-Zwangsarbeiter in die 44 Freiheit entlassen« , konnte er das aufgrund der bestehenden Rechtslage offenbar gar nicht, ja er machte sich sogar klar, daß es ihnen unter neuen Herren womöglich noch schlechter gehen werde. Und er schreibt rückblickend »wie sie sie letztlich umbrachten« (a.a.O., 2083). Aber um der Glaubwürdigkeit seiner Predigt willen, mußte er mit gutem Beispiel vorangehen und auf seine Indianer verzichten. Bevor er aber damit an die Öffentlichkeit trat, informierte er den Gouverneur Velázquez von seinem Vorhaben, der konsterniert war, »von ihm eine so neue wie ungeheuerliche Sache zu hören«, d.h. daß sich dieser Weltkleriker, dem man wirtschaftliches Geschick nachsagte, der Meinung der Dominikaner anschloß. Er gab ihm deshalb »vierzehn Tage, um die Sache gut zu überdenken« (a.a.O., 1083f.). Erst durch seine Predigt »am Tage der Himmelfahrt unsere (lieben) Frau« (a.a.O., 2084), also am 15. August 1514, wurde die Sache publik. Nach seiner Verzichterklärung begann er in der Predigt »ihnen ihre Blindheit, ihre Ungerechtigkeiten und tyrannischen Maßnahmen und Grausamkeiten vorzuhalten, die sie gegen jene unschuldigen und überaus sanften Leute begingen, daß weder sie noch45derjenige, der sie verteile, erlöst werden könne, so lange sie am repartimiento festhielten« (a.a.O., 2085). Die Predigt rief Erstaunen, ja Entsetzen hervor, »einige waren von Reue erfüllt«, aber für die meisten waren die Ermahnungen, daß sie den Indianerdienst nicht ohne Sünde fortsetzen konnten, »so neuartige Sachen... als wenn man sagte, daß Vieh des Feldes dürfe nicht zu
43 »Acordó, para libremente condenar los repartimientos o encomiendas como injustas y tiránicas, dexar luego los indios y renunciarlos en manos del gobernador Diego Velázquez« (ebd.). 44 So z.B. Eggensperger/Engel, a.a.O., 58. System der indigenen Zwangsarbeit, wörtlich: Verteilung der Indianer, das weitgehend mit der Kommende identisch ist.
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Diensten herangezogen werden«, weshalb sie der Botschaft nicht glaubten (a.a.O., 2085).46 1.4 Der Weltkleriker Las Casas im Dienste der Sache der Indianer (15141522) Las Casas blieb zunächst noch in Kuba. Da kamen Anfang 1515 vier Dominikaner aus Santo Domingo, die es als Himmelsgeschenk empfanden, daß ein Kleriker ganz in ihrem Sinne predigte und sie über die Lage der Indianer auf Kuba informieren konnte, während für Las Casas diese Verstärkung ein großer Trost war. Er ließ sie bei sich in der Fastenzeit und in der Karwoche predigen. Schließlich drängten sie Bartolomé, selbst auch zu predigen, was er am Tage der Dreieinigkeit tat. Angesichts der Hartherzigkeit der Siedler rief er an Trinitatis aus: »Ich bitte Gott, daß das Blut, das er fiir sie (die Indianer) vergossen hat, am Tage des Endgerichts, wo ihr keinerlei Ausrede mehr vorbringen könnt, Richter und Zeuge gegen eure Grausamkeit sei...« (HI, III, c. 81 - OC 5, 2091). Aber das Ergebnis auch dieser Predigt war, daß sich niemand bekehrte. Nachdem die Dominikaner sahen, daß sie angesichts der fürchterlichen Unterdrückung weder etwas in der Indianermission noch bei den Spaniern ausrichten konnten, denen sie die Sakramente der Kirche verweigerten, beschlossen sie, daß ihr Vikar, fray Gutierre de Ampudia und der Diakon Diego de Alberca zusammen mit Las Casas nach Santo Domingo reisen und ihrem Oberen, fray Pedro de Córdoba, über die Lage auf Kuba berichten sollte. Bartolomé hielt den wahren Zweck der Reise geheim und sagte Diego Velázquez und den Spaniern, er wolle nach Paris reisen, um sich an der Sorbonne zu graduieren (a.a.O., 20892094).47
Für Las Casas war der Verzicht auf die Indianer noch dadurch erschwert, daß er die Kommende zusammen mit seinem Freund Pedro de Renteria innehatte, der sich zum Zeitpunkt dieser Vorgänge auf einer Geschäftsreise in Jamaica befand. Renteria war gerade zu einer ähnlichen Ansicht bezüglich der Indianer gekommen und wollte nach Spanien reisen, um den König zu bitten, wenigstens Schulen für Indianerkinder zu errichten. Aber nun plädierte er dafílr, daß Bartolomé allein nach Spanien reisen sollte, und er verkaufte seine Schiffsladung Mais, Kassabe und Schweine und stellte den Erlös Las Casas für seine Reise zum Hof zur Verfügung - HI, III, c. 80 - OC 5,2086f. 47 Noch auf dem langen Landweg in Kuba verstarb Gutierre de Ampudia. Unverständlich ist, warum Mahn-Lot, a.a.O., 33, nur von zwei Dominikanern spricht, die nach Kuba gekommen sind.
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Zur selben Zeit, als Las Casas Kuba verließ (etwa im Juli 1515), reiste auch Pánfilo de Narváez nach Kastilien, dieser um seinen Kampf zum Wohle der Indianer aufzunehmen, jener um im Auftrage Diego Velázquez' die Erblichkeit der Kommenden von der Krone zu erreichen sowie die Befreiung Velázquez' aus seiner Abhängigkeit von Vizekönig Diego Colón und seine direkte Unterstellung unter den König als Gouverneur (a.a.O., 2094). Als Bartolomé in Santo Domingo ankam, hatte sich der Prior Pedro de Córdoba gerade mit einer Anzahl Dominikaner und Franziskaner in Richtung venezolanische Küste eingeschifft, wo er mit Billigung König Ferdinands ein friedliches Missionsexperiment beginnen wollte. Aber ein fürchterlicher Sturm zwang ihr Schiff in den Hafen zurück, so daß die Begegnung Pedros und Bartolomés zu48
stände kam, die eine lebenslange Freundschaft begründen sollte. Pedro de Córdoba lobte das Vorhaben Bartolomés, aber er sagte ihm als Realist, wohl aufgrund seiner Erfahrungen mit der Krone nach dem »Skandal« von 1511: »gewiß wirst du, solange der König (Ferdinand der Katholische) lebt, von dem was du willst und was wir erstreben, nichts durchsetzen können«, zumal der König dem Bischof von Burgos, Juan Rodríguez de Fonseca (1451-1524), der die Secretaría de las Indias leitete, und seinem skrupellosen Werkzeug Lope 49 Conchillos (7-1521) vertraute, die beide selbst Kommendenindianer in Westindien für sich arbeiten ließen.50 Pedro de Córdoba gab Bartolomé, der sich nicht entmutigen ließ, Antonio Montesinos als Begleiter mit auf die Reise, die die beiden im September 1515 antraten. Montesinos stellte in Sevilla den Kontakt zum Erzbischof Diego Deza, OP her," der die Pläne Bartolomés mit einem Empfehlungsschreiben an König Ferdinand unterstützte (HI, III, c. 83 - OC 5, 2100f.). Bartolomé erreichte den Hof in Plasencia kurz vor Weihnachten 1515 und vermied aus den erwähnten Gründen den Kontakt mit Fonseca und Conchillos. Zwei Tage vor Weihnachten konnte er zu König Ferdinand vordringen, aber nur kurz den Brief des Erzbischofs von Sevilla abgeben und dem König vor Augen stellen, daß Westindien Nach der Abreise Bartolomés brach Pedro de Córdoba 1515 erneut nach Venezuela auf, wo die Franziskaner ihren Stützpunkt bei dem Dorf Cumaná südlich der Insel Margarita wählten und die Dominikaner ca. 60 km weiter westlich beim Dorf Chiribichi (HI, III, c. 83 - OC 5,2101). W »Sed cierto, que mientras el rey viviere, no habéis de hacer cerca de lo que deseáis y deseamos nada« - HI, III, c. 83 - OC 5,2100f. Vgl. R. E., »Conchillos, Lope«: Germán Bleiberg (Hg.), Diccionario de Historia de España, Madrid 1968, Bd. 1, 932f. 51 Cf. Mahn-Lot, a.a.O., 35.
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bald wüst und leer sein werde, wenn die Indianerpolitik nicht geändert werde. Der König vertröstete ihn auf eine spätere ausführliche Audienz, die nie mehr stattfinden sollte, weil der König am 23. Januar 1516 in Sevilla sterben sollte, wohin sich Las Casas in Erwartung einer zweiten Audienz begeben hatte (ebd., c. 84,2102ff.). Ferdinand hat den Brief, wahrscheinlich ungelesen, an Conchillos weitergegeben, womit dieser und Fonseca von den gefährlichen Absichten des Klerikers erfuhren. Auf Betreiben des königlichen Beichtvaters, fray Tomás de Matienfo, OP, suchte Bartolomé dann doch das Gespräch mit beiden. Conchillos versuchte ihn mit verlockenden Angeboten zu bestechen. Bischof Fonseca ließ sich nicht einmal durch den Bericht vom Tode 7000 indianischer Kinder in drei Monaten auf Kuba beeindrucken, so daß Bartolomé schließlich lautstark bemerkte: »Also bedeutet es weder Euer Ehren noch dem König etwas, daß jene Seelen sterben? O, großer ewiger Gott, wem soll es dann etwas bedeuten?«, und hin52
ausging. Nach dem Tode des Königs faßte er sich Mut und zog Richtung Flandern, um Prinz Don Carlos um Abhilfe zu bitten (a.a.O., 2105), aber er fand bereits in Madrid, bei den beiden Regenten Kardinal Jiménez de Cisneros und Hadrian von Utrecht, dem Rektor der Universität Löwen und vormaligen Erzieher des Prinzen, offene Ohren, ebenso bei den Ratsmitgliedern Lic. Zapata, Dr. Carvajal, Dr. Palacios Rubios und dem Bischof von Avila (HI, III, c. 85 - OC 5, 2106ff.). Palacios Rubios, Las Casas und der ihn unterstützende Antonio Montesinos wurden beauftragt, einen Plan auszuarbeiten, wie die Indianer in Freiheit regiert werden könnten. Dabei gingen sie davon aus, daß die Spanier ihre Ländereien selbst bearbeiten könnten »und ihr ganzes Leben nicht, wie bisher, aus Müßiggang bestehe (ebd., 2109). 54
Der Regentschaftsrat nahm den Plan an und beschloß drei Hieronymiten mit dessen Durchfuhrung zu betrauen, ein Orden, der bis dahin noch nicht in den »¿Que ni a vuestra señoría ni al rey que mueran aquellas ánimas no se da nada?, ¡oh gran Dios eterno! y ¿a quién se le ha de dar algo?;« ebd. c. 84, 2105. Nach der damals gültigen Lehre der katholischen Kirche fallen die Seelen ungetaufter Kinder der ewigen Verdammnis anheim. Juan Rodríguez de Fonseca (1451-1524), Hofkaplan der Katholischen Könige, Bischof von Burgos, der vor der Schaffung des Indienrates (1524) die Amerikapolitik koordinierte, war durch die Regenten von seinen Funktionen in den Indiengeschäften entbunden worden, wodurch der Einfluß der Gruppe der Fernandistas erheblich reduziert worden war (HI, III, c. 86. 117). Die Hieronymiten hatten sich der devotio moderna geöffnet und waren im 15. Jh. in Spanien ein einflußreicher Orden geworden, der Handwerk und Mystik pflegte Aber seit 1425 ist eine gewisse
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Indien gearbeitet hatte, weshalb man sich von dessen Vertretern unvoreingenommenes Handeln versprach. Obgleich Las Casas bei der Auswahl der drei Hieronymiten hinzugezogen wurde, zeigte es sich schon in Madrid, daß sie sich weniger von Bartolomé beeinflussen ließen als von den nach Spanien gereisten Sprechern der Siedler, die Las Casas und die Indianer nach Kräften verleumde.
ten.
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Kardinal Cisneros erklärte zwar, daß die Indianer frei seien, 56 aber die Befreiung der Indianer sollte durch ein Reduktionsmodell verwirklicht werden, das den Siedlern weiterhin die Verfugung über die Arbeitskraft der Indianer ermöglichen sollte." Das war für Hispaniola schon reichlich spät, wenn man in Betracht zieht, daß die Zahl der dortigen Ureinwohner bereits von 1,1 Mill. bei der 58
ersten spanischen Zählung auf 10.000 im Jahre 1516 zurückgegangen war. Außerdem setzte die Siedler-Lobby durch, daß die Indianer nicht befreit werden sollten, wenn sie nach spanischen Begriffen nicht so zivilisiert waren, daß sie 59 ihre eigenen Angelegenheiten selbst verwalten konnten. Hier wird das Ringen von vier Interessengruppen bei Hofe deutlich: der Aragonesen oder Marranen, repräsentiert durch Fonseca und Lope de Conchillos, die mit Hilfe des monarchischen Absolutismus ihre Geschäfte in Amerika fordern Verweltlichung des Ordens zu beobachten. »So bleiben die Hieronymiten letztlich besonders wegen ihres Reichtums in Erinnerung, der Nähe zur Macht, der Gunst Karls V. und Philipps II. und wegen ihrer einflußreichen Klöster von Guadalupe, Yuste und El Escorial, die ihnen übertragen wurden.« Mariano Delgado, Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 2, Historische und ethnographische Schriften, Paderborn etc. 1995, 268, vgl. Américo Castro, Aspectos del vivir hispánico, Madrid ! 1987, 60-193. Eine ähnlich einflußreiche Stellung hatten sie in Portugal, wie das Hieronymitenkloster in Lissabon zeigt, dessen Bau Dom Joäo III 1524 angeordnet hat und das als Symbol von Macht und Reichtum der portugiesischen Kolonialmacht gilt. Vgl. HI, III, c. 87. - OC 5,1217: »und im übrigen sprachen sie nur schlecht von dem Kleriker (d.h. Las Casas) und den elenden Indianern, die sie als Viehzeug und Hunde diffamierten« (»y en otra materia no hablaban sino en decir mal del clérigo y de los miserables indios, infamándolos de bestias y que eran unos perros«). 56 Vgl. HI, III, c. 88 - OC 5,2120f. 5? Vgl. ebd., 2121 ff. das entsprechende memorial. 58 Vgl. HI, III, c. 89, 131 und c. 94, 149. Vgl. HI, III, c. 89, 132 spricht Las Casas von dem »schädlichen Irrtum, daß diese Leute weder filr sich leben können, noch zur Zivilisation befähigt seien« (»pernicioso error que estas gentes no eran para vivir por sí, ni eran hábiles para tener policía«), der einige Ratsmitglieder bestimmte. Immerhin wurde ein längerer Änderungskatalog zu den Gesetzen von Burgos beschlossen - vgl. ebd., 132ff. Die Idee, kastilische Bauern auf Staatskosten Landwirtschaft in den Indien treiben zu lassen, wurde nicht weiter verfolgt - ebd., 134f.
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und sich mit der zweiten Gruppe, den Kolumbisten, in der Notwendigkeit der Ausbeutung der Indianer und der wirtschaftlichen Ressourcen einig sind. Die Siedler, die Anhänger des entmachteten Admiráis Diego Colón sind, stehen allerdings der Ideologie der Bewegung der comunidades60 nahe und möchten mehr politische und wirtschaftliche Autonomie durchsetzen. Die dritte Gruppe besteht wesentlich aus der Mehrheit der Bettelmönche und anderen Klerikern, die den Nachdruck auf die Evangelisierung und Hispanisierung der autochthonen Bevölkerung und deshalb auch auf ihren Schutz legen. Unter König Karl I. kamen dann die flämischen Beamten (die flämische Kamarilla) als vierte Gruppe hinzu, die ebenfalls primär Wirtschaftsinteressen verfolgte und womöglich Las Casas' Plädoyer gegen die Ausbeutung der Indianer dazu mißbrauchte, um die Fernandistas zu entmachten. Das Lavieren der Hieronymiten dürfte sich wesentlich daraus erklären, daß sie zwischen den Interessengruppen der Fernandisias, der Colombistas und der Bettelmönche vermitteln sollten, deren divergierende Interessen auch die Gesetze von Burgos prägen. Las Casas wurde zwar zum »Bevollmächtigten oder universellen Beschützer aller Indianer der Indien«62 ernannt, aber diese Vollmacht beeindruckte die Hieronymiten unter Leitung von Luis de Figueroa so wenig, daß sie ihm sogar untersagten, sich auf demselben Schiff wie sie einzuquartieren. So segelten sie getrennt am 11. November 1516 ab. Las Casas hatte zum Abschied Kardinal Jiménez de Cisneros vom zweifelhaften Verhalten der Hieronymiten informiert. Die ratlose Frage des Kardinals: »Auf wen können wir uns dann verlassen?«63 könnte man geradezu als Motto für den weiteren lebenslangen Kampf Bartolomés dienen. Hier zeichnet sich bereits ein Zug ab, der sein ganzes weiteres Leben charakterisieren sollte: Wenn er schließlich Rückendeckung der Obrigkeit für den Indianerschutz gefunden hatte, sollte es prompt zu einem Rückschlag kommen. Daß er trotzdem immer wieder Mut und Energie fand, den
1521 sollte es zum bewaffneten Widerstand zahlreicher Städte zur Verteidigung ihrer Rechte gegen den zunehmenden Zentralismus der Krone kommen. Man spricht vom Aufstand der comuneros, ein Begriff, der dem des gemeinen Mannes im damaligen Reichsgebiet verwandt ist. Cf. M. Delgado, Exkurs »Am Hof, bei den Regenten Cisneros und Hadrian (1516)«: Werkauswahl, Bd. 2, 267f. 62 »Procurador o protector universal de todos los indios de las Indias« ernannt - HI, III, c. 90 - OC 5, 2135. Das Zitat lautet vollständig: »El cardenal, oídas estas palabras, quedó como espantado, y al cabo de un poco dijo: >¿Pues de quién lo hemos de fiar? Allá vais, mirad por todos.Sie werden ... ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden, und ihre Lanzen zu Sicheln; nicht mehr wird ein Volkgegen ein anderes Volk 0 Brasil para Cristoindianischer< Kultur, Frankfurt a. M. etc. 1992,43ff.
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1.2.3. Neue religiöse Erscheinungen Seit den fünfziger Jahren kann man zwei neue Phänomene beobachten: 1. Die Entstehung multinationaler religiöser Unternehmen: der Tiefenevangelisation16, der Church Growth-Bewegung 17 , der Massenevangelisationsorganisationen eines Billy Graham, des von Bill Bright ins Leben gerufenen »Studentenkreuzzugs für Christus« und World Vision mit ihren z. T. über die staatliche Entwicklungshilfe der USA finanzierten Hilfsprogrammen. Alle diese Unternehmen sind dem Lager der Evangelikaien zuzurechnen, deren Bemühungen um die Evangelisierung der letzten nichtchristlichen Indios im Amazonasbecken sektiererische Züge annimmt, wenn etwa die New Tribes Mission Kirchenwachstum zum einzigen Ziel erhebt und damit ethnische Strukturen zerstört, Zwietracht sät und eine Verteidigung der berechtigten Interessen der Ethnien im Umwandlungsprozeß unmöglich macht. Ähnlich wirkt die kulturell entfremdende Arbeit der Wycliffe Bible Translators bzw. des Summer Instituts of Linguists.l8 1.2.4. Ökumenische Zusammenarbeit im Protestantismus Frühere Impulse zur ökumenischen Zusammenarbeit gingen vom Missionsprotestantismus aus und verfolgten das pragmatische Ziel, die missionarische Glaubwürdigkeit, die durch die Zersplitterung leidet, mit Hilfe einer räumlichen Abgrenzung der Missionsgebiete zu erhöhen. Sie sind Anfang der siebziger Jahre im Zeichen der rechten Entwicklungsdiktaturen an soziopolitischen Streitfragen gescheitert.
Zu dem von R. Kenneth Stracham entworfenen Programm des Evangelism in Depth vgl. Prien, Die Geschichte, a.a.O., 1133ff. Als »Prophet« der Church Growth-Bewegung gilt Donald McGavran - vgl. »The institute of church growth«: International Review of Mission (IRM) 55 (1961), 430-434; ders.: »Church growth strategy continued«: IRM 57 (1968), 335-343; vgl. auch Prien, Die Geschichte, a.a.O., 1129ff. und allg. zum evangelikalen Protestantismus in Lateinamerika: David Stoll, Is Latin America Turning Protestant? The politics of Evangelical Growth, Berkeley, Los Angeles, Oxford 1990. Vgl. Ökumenischer Ausschuß für Indianerfragen (Hg.), Indianer-Reader. Dokumente und Aufsätze zum Aufbruch indianischer Völker in Mittel- und Südamerika, Mettingen 1982; Die frohe Botschaft der Zivilisation. Evangelikaie Indianermission in Lateinamerika, hg. v. der »Gesellschaft für bedrohte Völker«, Göttingen, Wien 1979. Zum befreienden Neuansatz der Indianermission vgl.: Carlos Brandäo u.a., Inculturafäo e Libertafäo. Semana de Estudos Teológicos CNBB/CIMI, Säo Paulo 1986.
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Ende der siebziger Jahre kam es zu einem neuen Anlauf der kontinentalen Zusammenarbeit, der indes angesichts der enormen Polarisierung hinsichtlich der Stellung zu den politischen und sozio-ökonomischen Problemen zu einer konkurrierenden Doppelgründung führte: zum »Lateinamerikanischen Kirchenrat« (CLAI, 1978/82), der den ökumenisch offenen Teil des Protestantismus repräsentiert, der schon vom Namen her die Tür für den Beitritt der römischkatholischen Kirche offenhält, und zur »Ev. lateinamerikanischen Bruderschaft« (CONELA, 1982) des evangelikalen Lagers, das den Hauptgrund der Probleme des Subkontinents nicht in der Misere der Masse der Bevölkerung sieht, sondern im Vordringen fremder Ideologien wie dem Marxismus, dem Kommunismus und der Theologie der Befreiung. Eine Institutionalisierung protestantisch-katholischer Zusammenarbeit auf nationaler Ebene ist bisher nur in Brasilien zwischen der Nationalen Bischofskonferenz und fünf protestantischen Kirchen im »Nationalrat christlicher Kirchen« (CONIC, 1982) gelungen. Das Ende des Ost-West-Konflikts, das das von den konservativen evangelikalen Kräften oft beschworene Gespenst des Kommunismus auch in Lateinamerika verblassen läßt, hat 1992 zu einer Auflockerung der Fronten gefuhrt. Nach Hjähriger Konfrontation ist es durch Vermittlung der aufgeschlosseneren evangelikalen Kräfte der Fraternidad Teológica Latinoamericana (FTL) auf dem »3. Lateinamerikanischen Evangelisationskongreß« in Quito (CLADE III) erstmals zu einem Dialog der fuhrenden Vertreter von CLAI und CONELA gekommen, bei dem die Evangelikalen plötzlich eine stärkere Sensibilität für die verheerenden sozialen Probleme der Masse der Bevölkerung des Subkontinents zeigten. CONELA scheint nun offenbar bereit zu sein, die tieferen Gründe der Misere der Massen des Subkontinents, d.h. deren sozio-ökonomische Implikationen, vorurteilsfreier zu analysieren.19 2. Forschungsprobleme und Ansätze zur Historiographie des Protestantismus in Lateinamerika Einige Gebiete sollen exemplarisch herausgegriffen werden. 2.1. Der deutsche Einwanderungsprotestantismus in Brasilien Die 1970 nach Porto Alegre einberufene und angesichts der Menschenrechtsverletzungen der brasilianischen Militärdiktatur im letzten Augenblick nach 19
Vgl. Rápidas 2 3 4 (Quito, September 1992), 4f.
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Evian verlegte »5. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes« war der äußere Anlaß dafür, daß Joachim Fischer in Säo Leopoldo, der schon lange über die Riograndenser Synode (RGS) gearbeitet hatte, eine »Geschichte der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien«20 vorlegte, die wegen des Zeitdrucks nicht quellenmäßig untermauert werden konnte und auf Grund der Vorarbeiten vorwiegend eine Geschichte der RGS ist. Als lutherischer Kirchenhistoriker arbeitet Fischer hier und in anderen Arbeiten die ekklesiologischen Aspekte heraus, zeichnet den Weg von der Gemeindekirche mit Hilfs- oder Pseudopfarrem zu einer vom Preußischen Oberkirchenrat unterstützten Synode nach. Sein besonderes Interesse gilt auch dem Kampf um die volle Durchsetzung der Kultfreiheit und der bürgerlichen Gleichberechtigung der Protestanten im 19. Jh. Die Einwandererkirchen im allgemeinen und die deutschen Einwandererkirchen im besonderen - die vier brasilianischen Synoden (gegr. 1886, 1905, 1911, 1912), die sich 1968 zur »Ev. Kirche luth. Bekenntnisses in Brasilien« zusammengeschlossen haben, heute mit ca. 800.000 Gliedern die größte Einwandererkirche, die »Deutsche Ev. La Plata-Synode« (gegr. 1899/1900) und die »Deutsche Ev. Chile-Synode« (gegr. 1906), haben auf Grund ihrer Deutschtum und Protestantismus integrierenden Ekklesiologie erhebliche Schwierigkeiten bei der Identitätsfindung innerhalb des lateinamerikanischen kirchlichen und gesellschaftlichen Kontexts gehabt, die sich durch den nationalsozialistischen Mißbrauch des Volkstumsdenkens noch verstärkten. Der Vortragende ist dieser Problematik 1971 als erster in einer kleinen Untersuchung nachgegangen: »Kirche-Volkstum-Politik. Das Verständnis des Öffentlichkeitsauftrages der Riograndenser Synode in den dreißiger Jahren im Lichte ihrer Publikationen«21. Es zeigte sich, daß die noch lebenden Pfarrer jener Zeit kaum bereit waren, an einer öffentlichen Vergangenheitsbewältigung mitzuwirken. Der Kommentar von Kirchenpräsident Karl Gottschald gegenüber dem Verfasser lautete sinngemäß: Mußten Sie denn ausgerechnet dieses Thema aufgreifen? Immerhin, das Eis war damit gebrochen und Martin Dreher, der erste kirchengeschichtliche Doktorand der Kirchlichen Hochschule Säo Leopoldo, konnte dann ungestört in den siebziger Jahren in München die Fragestellung »Kirche und Deutschtum in der Entwicklung der Ev. Kirche luth. Bekenntnisses in Brasilien«22 bearbeiten. Der Titel ist insofern irreführend, als Dreher nicht die erst In: Jahn, Es begann am Rio dos Sinos, Erlangen 1970, 85-206. 21
Estudos Teológicos 11 (Säo Leopoldo 1971), 15-41.
22
Göttingen 1978.
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1968 gebildete EKLBB untersucht hat, sondern das Deutschtum in der RGS und in der Lutherischen Synode, und zwar in der Zeit bis zum 2. Weltkrieg. René Emani Gertz, ein weiterer Doktorand aus Säo Leopoldo, hat 1980 in Berlin »Politische Auswirkungen der deutschen Einwanderung in Südbrasilien. Die Deutschstämmigen und die faschistischen Strömungen in den 30er Jahren«21 untersucht. Dabei geht es konkret um die Affinität Deutschstämmiger, speziell im Staate Santa Catarina, für die brasilianische Variante des Faschismus, den Integralismus, der 1937 nach der Erklärung des »Estado Novo« von Präsident Getülio Vargas unterdrückt wurde. Im Auftrage der Historischen Kommission des Deutschen Nationalkomitees des LWB hat der Vortragende 1989 den Band »Evangelische Kirchwerdung in Brasilien. Von den deutsch-evangelischen Einwanderergemeinden zur Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien«24 veröffentlicht, in dem erstmals Quellenmaterial aus den Archiven aller vier Synoden und des Evangelischen Zentralarchivs ausgewertet worden ist. So konnte die Entstehung und Geschichte der vier Synoden im Kontext der brasilianischen Geschichte, ihre Beziehung zum deutschen und nordamerikanischen Kirchentum, die Zeit des Nationalsozialismus und die Krise der beiden Weltkriege und der Weg des Synodalbundes in den Lutherischen Weltbund und in den Ökumenischen Rat der Kirchen erstmals breit fundiert dargestellt und die ekklesiologische Bedeutung des Volkstumsdenkens genauer herausgearbeitet werden. 1989 und 1990 sind in München und Heidelberg zwei weitere Dissertationen zur Vorgeschichte der EKLBB vorgelegt worden, die 1993 bzw. 1992 im Druck erschienen sind. Henrique Krause beschäftigt sich mit »Lutherische Synode in Brasilien. Geschichte und Bekenntnis der Ev.-luth. Synode von Santa Catarina, Paranà und anderen Staaten Brasiliens«, der einzigen der vier Synoden, die explizit lutherisch geprägt ist. Krause zeichnet nicht nur ein umfassendes Bild dieser sogenannten »Gotteskastensynode« mit allen Entwicklungs- und Strukturproblemen, z.B. dem klerikalen Kirchenbegriff der zu kirchlichem Bevormundungsdenken und -handeln erzogenen Neuendettelsauer Gotteskastenpastoren, 25 sondern auch von der Tätigkeit des bayerischen Gotteskastenvereins selbst. Lauri Emilio Wirth beschäftigt sich mit dem »Evangelischen Gemeindeverband
23
Diss. masch., Berlin 1980.
Die lutherische Kirche, Geschichte und Gestalten, hg. von Wolf-Dieter Hauschild ... im Auftr. d. Histor. Komm. d. Dt. Nationalkomitees d. Luth. Weltbundes, Bd. 10, Gütersloh 1989. 25 Vgl. a.a.O., 217.
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von Santa Catarina«,26 jener synodalähnlichen Organisation, die mit dem Evangelischen Oberkirchenrat (EOK) bzw. dem Deutschen Evangelischen Kirchenbund zusammenarbeitete und die durch die räumliche Überschneidung mit der »Gotteskastensynode« ständigen Reibereien ausgesetzt war und des »Mischmaschprotestantismus« bezichtigt wurde. Im übrigen ist in der neueren Forschung die Motivation lateinamerikanischer Staaten oder einzelner Staatsmänner, die die Einwanderung forderten, genauer untersucht worden. Dabei zeigt sich, daß folgende Momente eine Rolle spielen: der Wunsch, fähige Arbeitskräfte anzuziehen, die zumal in Brasilien auch die schwarzen Sklaven ersetzen sollten, der Gedanke mit europäischen Einwanderern die eigene Bevölkerungssubstanz zu verbessern, die Indianer zurückzudrängen und Grenzräume zu sichern, z.B. Südbrasilien gegen die La PlataProvinzen oder Südchile gegen die Araukaner. Wirth z.B. thematisiert »Die Indianerfrage in der deutschen Kolonisationsfront« in Santa Catarina27 und zeigt, daß kein deutscher Pfarrer jemals gegen die Indianervemichtung seine Stimme erhoben hat. Hinsichtlich der Frage, warum größere Einwandererströme sich in Lateinamerika nur auf wenige Staaten gerichtet haben, weist Bastian darauf hin, daß die Anwerbung von Einwanderern nur dort hinlängliche Früchte brachte, wo die Verfassungen ein Mindestmaß an religiöser Toleranz gewährten. Deshalb blieb die Einwanderung etwa in Peru oder Mexiko spärlich, obgleich Mexiko allen Anlaß gehabt hätte, die dünn besiedelten Nordprovinzen Texas, Neu Mexiko und Kalifornien gegen die expansiven USA durch Einwanderer zu sichern.28 2.2. Der Missionsprotestantismus Die seit den siebziger Jahren sprunghaft anwachsende Zahl der Anhänger der verschiedenen Formen des Missionsprotestantismus, zumal in Pfingstkirchen und evangelikalen Kirchen, die z.B. in Brasilien den Anteil der »Protestanten« auf über 10% und in machen mittelamerikanischen Staaten, zumal in Guatemala, auf mehr als 25% hat ansteigen lassen, hat das Interesse der Forschung verstärkt auf die verschiedenen Formen von Missionsprotestantismus gelenkt.
Protestantismus und Kolonisation in Brasilien. Der evangelische Gemeindeverband in Brasilien. Kontextualität, Ekklesiologie und Institutionalisierung einer deutschen Hinwandererkirche in Santa Catarina. Erlanger Monographien aus Mission und Ökumene Bd. 15, Erlangen 1992. 27
Vgl. a.a.O., 48ff.
28
Bastian, Historia, a.a.O., 111.
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Im Zuge der sozioreligiösen Untersuchungen der lateinamerikanischen Wirklichkeit, die 1958-1961 in der Vorbereitungsphase des 2. Vatikanischen Konzils unter Federführung des Direktors des »Zentrums fur sozioreligiöse Studien« in Brüssel, François Houtart, von der »Federación Internacional de los Institutos Católicos de Investigaciones sociales y socio-religiosas« mit Sitz in Fribourg und Bogotá durchgeführt worden sind, hat der Jesuit Prudencio Damboriena von der Gregoriana in Rom 1962/63 zwei Bände »El Protestantismo en América Latina« vorgelegt, in denen er erstmals versucht, das Phänomen des Protestantismus auf dem ganzen Subkontinent darzustellen. In Bd. 1 wird die Ausbreitung des Protestantismus in vier Phasen geschildert, ferner die Methoden der Mission, die Bildung des einheimischen pastörlichen Nachwuchses. Es folgt eine länderspezifische Auflistung der Ausbildungsinstitutionen,29 sowie je ein Kapitel über die Indianermissionsarbeit der Wycliffe Bible Translaters bzw. des Sommerinstituts und über die Adventisten des 7. Tages. In Bd. 2 folgt im ersten Teil auf eine soziographische Einleitung eine länderspezifische Übersicht, in der sich jeweils kurze geschichtliche Informationen und Beschreibungen der einzelnen protestantischen Institutionen und Statistiken finden. Im zweiten Teil, der von Enrique Dussel stammt, werden »Kirchen, Sekten, Gesellschaften, protestantische Vereinigungen in Lateinamerika« beschrieben. Wie aus dem Kontext der Reihe nicht anders zu erwarten, arbeiten die Autoren mit soziologischer Methodik. Sie breiten eine erstaunliche Materialfülle aus. Ihr Kirchenbegriff ist nicht rein soziologisch definiert, so daß nur vom Katholizismus als Kirche die Rede wäre, sondern scheint gar nicht recht durchdacht zu sein, denn während Damboriena zwischen Kirchen des historischen Protestantismus und Sekten differenziert,30 kann Dussel ganz allgemein von »den lateinamerikanischen Kirchen« sprechen.31 Die Herausgeber Fr. Houtart und G. Pérez sind sich darüber im klaren, daß weitere Studien erforderlich sind, um zu ergründen, warum der Protestantismus sich in einigen Ländern mehr und in anderen weniger ausgebreitet hat. Auch müßte die Beziehung zwischen seiner Ausbreitung und den pastoralen Strukturen der römisch-katholischen Kirche untersucht werden. Der Eindruck der Herausgeber hingegen, daß die lateinamerikanische Mentalität, also das, was Vertreter des Lateinamerikanischen Bischofs-
Unter Brasilien, 94-96, fehlen u.a. die Hochschulen der EKLBB in Säo Leopoldo und der MissouriLutheraner in Porto Alegre. 30
Vgl. z.B. Bd. 11,41.
31 Vgl. Bd. II, 173.
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rates (CELAM) im Vorfeld der Konferenz von Puebla 1979 als das »grundlegend katholische Substrat der Bevölkerung« bezeichnen sollten, einer stärkeren Ausbreitung des Protestantismus in Lateinamerika entgegenstehe,32 ist in der Zwischenzeit widerlegt worden. Damboriena kommt das Verdienst zu, den Kontext der etwa seit der Jahrhundertwende enorm zunehmenden missionarischen Aktivität des US-Protestantismus untersucht zu haben. Die verstärkten Missionsanstrengungen des US-Protestantismus ab Ende des 19. Jh. haben frömmigkeitsgeschichtliche, organisatorische und ideologische Ursachen, die hier nur angedeutet werden können. Der Missionsgedanke hat durch die Studentenfreiwilligenbewegung in den USA eine enorme Dynamik erhalten. Das schon 1888 auf 3000 Mitglieder angewachsene »Student Volunteer Movement for Foreign Missions« (SVM) wählte als Motto »Die Evangelisation der Welt in dieser Generation«. Dieser Ausspruch ist gleichsam zum Schibboleth der nordamerikanischen Missionsanstrengungen geworden. Er wurde schon im Jahre 1900 von William Newton Clarke, einem prominenten liberalen Theologen des Colgate Theological Seminary in Hamilton, N. Y., in seinem Buch »Study of Christian Missions« bestritten, weil er Probleme aufwerfe, »die durch romantische, unrealistische Erwartungen eines schnellen und vollständigen Triumphes des Evangeliums, durch materielle Interessen, einen Kreuzzugsgeist, rassistische Gegensätze und nationale Ambitionen in einer Zeit von Leidenschaft und Unruhe« geschaffen werden.» Die »Foreign Missions Conference of North America« (gegründet 1893) veranstaltete im Jahre 1900 in New York die »Ecumenical Missionary Conference«, an der 170-200.000 Menschen teilnahmen. Diese größte missionarische Massenveranstaltung der Geschichte belegt, wie sehr die Missionsbegeisterung um die Jahrhundertwende angewachsen war. Nachdem die Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh äußere Mission ausschließlich unter nichtchristlichen Völkern betrieben sehen wollte, gründeten die nordamerikanischen Protestanten unter Robert E. Speer 1913 die sich ausschließlich mit Lateinamerika befassende »Foreign Missions Conference« in New York, die zur Koordinierung der Missionsaktivitäten ein ständiges Komitee ins Leben rief, das »Committee on
32
Vgl. Bd. I, 11 f.
33 W. N. Clarke, a.a.O., 172f., 243 zit. nach Gerald H. Anderson, »American Protestants in Pursuit of Mission: 1886-1986«: International Bulletin of Missionary Research, vol. 12 (Ventnor, N. J. 1988), 98ff.
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Cooperation in Latin America«, von dem in der ersten Hälfte des 20. Jh. alle weiteren kontinentalen Initiativen ausgehen sollten. Ein wesentliches Motiv für den Missionseifer ist der für den USKulturprotestantismus kennzeichnende Gedanke des »manifest destiny«, der etwa ab 1840 virulenter wurde und besagt, daß die Christen der USA von der Vorsehung mit dem Auftrag betraut seien, die Segnungen Amerikas anderen Völkern zu vermitteln. Herman Melville (1819-1891) brachte das 1850 auf die Formel: »Wir Amerikaner sind das besondere, erwählte Volk, das Israel unserer Zeit; wir tragen die Bundeslade der Freiheitsrechte der Welt.«34 Dieser Gedanke der »offenkundigen Erwählung«, der bis in die neunziger Jahre hinein primär auf die kontinentale Westexpansion bezogen worden war, gewann seitdem Bedeutung für die grenzüberschreitende Mission. Er wurde nämlich ausgeweitet in dem Sinne, daß die USA der bevorzugte Vertreter Gottes für sein Wirken in der Geschichte seien. Hierbei schwingt nun auch die Vorstellung von der rassischen Überlegenheit der Angelsachsen mit. Nachdem im Zuge der Westverlagerung der Imperien im Laufe der Geschichte (vom Reich Alexanders des Großen über Rom) diese Bewegung die USA erreicht hat, sind sie als Zentrum der westlichen Zivilisation berufen, den Primat ihrer politischen Institutionen, die Reinheit des amerikanischen Protestantismus und das Englische als Sprache der Menschheit auszubreiten. Diese Gedanken haben ihren klassischen Ausdruck in den Schriften Pastor Josiah Strongs (1847-1916), des Sekretärs der Congregational Home Missionary Society in seinem Buch »Our country« (1886) gefunden, das ein Bestseller wurde. Daran wird deutlich, daß es ähnlich wie zuvor in Spanien und Portugal auch in den USA zu einer Verbindung von Mission und Zivilisierung kam, und zwar wiederum im Dienste imperialer und wirtschaftlicher Interessen, wenn auch verdeckter als im 16. Jh. Dieser ideologische Hintergrund, den man als Kulturprotestantismus bezeichnen kann, machte sich im Selbstbewußtsein der Missionare bemerkbar, die sich als die Boten ihrer erfolgreicheren und folglich, wie sie meinten, »höheren« Zivilisation fühlten. Daß die Verbindung von Vorsehung, Frömmigkeit, Politik und Patriotismus, eine ideologische Gemengelage zur Förderung der auswärtigen Mission, sich auch mit dem erwachenden Imperialismus der USA verbinden konnte, wurde besonders 1898 im Krieg gegen Spanien deutlich, in dem sich noch zusätzlich Antikatholizismus bemerkbar machte. 34 Melville ist ein Romanschriftsteller, der bei uns am ehesten als Vf. von »Moby Dick« bekannt ist. »We Americans are peculiar, chosen people, the Israel of our times; we bear the ark (Bundeslade) of the liberties of the world«: »White-Jacket«, zitiert nach Edward McNall Bums, The American Idea of Mission: Concepts of National Purpose and Destiny, New Brunswick, N. J. 1957, 1.
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Dieser Krieg, der zur Annexion Puerto Ricos und zur Besetzung Kubas (18981902) und dessen jahrzehntelanger politischer und wirtschaftlicher Gängelung führte, eröffnete eine Epoche von US-Interventionen im karibischen Raum, die allgemein mit der Monroe-Doktrin (1823) und seit der von den USA 1903 bewirkten Sezession Panamas von Kolumbien zusätzlich mit dem Schutzbedürfnis im strategischen Vorfeld des Panama-Kanals begründet wurden. Nach dem 1. Weltkrieg läßt sich beobachten, daß der wachsende politische Druck der USA auf die Staaten Lateinamerikas mit einem zunehmenden missionarischen Interesse des nordamerikanischen Protestantismus einherging. Die starken Missionsanstrengungen in Lateinamerika wurden von den Missionsgesellschaften dadurch gefördert, daß sie dem Publikum in den USA ein besonders düsteres Bild von der Verfassung und den Lehren der dortigen katholischen Kirche vermittelten. Man sagte den Protestanten in den USA, aber auch in England, sie dürften nicht vom heimischen Katholizismus auf denjenigen in Lateinamerika schließen, da in der römischen Kirche Lateinamerikas der reinigende Einfluß des Protestantismus noch nicht wirksam geworden sei. So beschrieb J. A. Brown die religiöse Situation auf dem Subkontinent auf der riesigen New Yorker Missionskonferenz im Jahre 1900 in den schwärzesten Farben. Er sprach von »einem Kontinent, der von den Pfaffen beherrscht ist, ohne häusliches Leben, ein Opfer der Anarchie, des Götzendienstes, des Kultes heidnischer oder halbheidnischer Gottheiten, kontrolliert von der korruptesten Priesterschaft, deren einziges Instrument der Seelenhandel ist - eine Tätigkeit, die sie in der ganzen Welt berüchtigt gemacht hat, obgleich es im Namen des Evangeliums geschieht.«35 Im Schatten des nordamerikanischen Einflusses hat sich die missionarische Aktivität protestantischer Gruppen in diesen Ländern ungemein verstärkt, was sich bezüglich Haitis, Kubas und Puerto Ricos besonders gut belegen läßt. In Puerto Rico begann die protestantische Mission allererst nach dem spanischamerikanischen Krieg. Und Haiti hat heute mit weit über 300.000 Protestanten unter den Antillen den prozentual höchsten Anteil an Protestanten.36
Ecumenical Missionary Conference, New York 1901, 476 zit. nach Prudencio Damboriena SJ, El Protestantismo en América Latina, Bd. 1, Fribourg, Bogotá 1962, 22, Anm. 7. Vgl. im übrigen: H.-J. Prien, Die Geschichte, a.a.O., 794; ders., Der Einfluß Nordamerikas auf Lateinamerika auf soziopolitischem und religiösen Gebiet«: Bernhard Mensen SVD (Hg.), Fünfhundert Jahre Lateinamerika. Vortragsreihe 1988/1989 Akademie Völker und Kulturen St. Augustin, Nettetal 1989, 81-111. Vgl. Committee on Cooperation in Latin America. Annual Report 1928, 5, nach Damboriena, a.a.O., 24
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Natürlich wurden auch die Akte des US-Imperialismus in der Karibik von Protestanten gerechtfertigt. So würdigte H. Beach 1904 die Besetzung Kubas und die Annexion Puerto Ricos als Akte der göttlichen Vorsehung für den USProtestantismus: »Die Vereinigten Staaten haben Westindien besetzt, um der Welt zu zeigen, daß die Erziehung und das reine Christentum die Menschen darauf vorbereiten können, sich selbst zu regieren.«37 Der junge deutsche Theologe Heinrich Schäfer hat mit seinen Veröffentlichungen 1988 und 199238 den Blick auch stärker auf die theologischen Implikationen der Glaubensmissionen gelenkt. Väter der Glaubensmissionen, wie der Baptist Adoniram Judson Gordon, der Gründer des Boston Missionary Training Institute, der presbyterianische Geistliche Albert Benjamin Simpson, der Gründer der Christian and Missionary Alliance (1887) und der Kongregationalist Cyrus Ingerson Scofield, Gründer der Central American Mission (1890),39 bezogen ihren missionarischen Elan aus eschatologischer Naherwartung in Form des Prämillenarismus des späten 19. Jh.,40 d.h. aus jener chiliastischen Auffassung, die mit einer baldigen Geschichtskatastrophe rechnet, auf die die Errichtung des Tausendjährigen Reiches mit der Wiederkehr Christi folgen wird. Diese Erwartung findet einen adäquaten Ausdruck im Dringlichkeitsmotto: »Evangelisierung der Welt in dieser Generation«, während etwa das »Social Gospel« eher dem Postmillenarismus entspricht, also der Erwartung der Verwirklichung einer auf christlichen Prinzipien beruhenden, soziale Gerechtigkeit verwirklichenden Gesellschaft auf Erden durch die Gläubigen selbst, verbunden mit einem historischen Hineinwachsen in das Millennium, an dessen Ende die Wiederkehr Christi stehen soll.41
Beach, Geography of Protestant Missions, London 1904, 9. Hieraus darf freilich nicht geschlossen werden, daß alle US-Missionare im 20. Jh. US-Interventionen gebilligt haben. Hier hat es durchaus auch kritische Stimmen gegeben - vgl. Bastian, Historia, a.a.O., 168ff. Befreiung vom Fundamentalismus. Entstehung einer neuen kirchlichen Praxis im Protestantismus Guatemalas, Münster 19S8; Protestantismus in Zentralamerika. Christliches Zeugnis im Spannungsfeld von US-amerikanischem Fundamentalismus, Unterdrückung und Wiederbelebung »indianischer« Kultur, Frankfurt a. M. etc. 1992 - Diss. Bochum 1991. 39 Robert Scofield ist der Hg. der Scofield Reference Bibel, einer mit Anmerkungen versehenen King James Bible, die dem Missionar die exegetische Bibliothek ersetzen soll und deren hermeneutisches System auf dem »premillenial dispensationalism« beruht. 40 4
Vgl. Anderson, a.a.O., 99.
' Vgl. M. Riesebrodt, a.a.O.; Dana L. Robert, >The Crisis in MissionsA Century of World Evangelization: North American Evangelical MissionsPovo de Deus