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German Pages [388] Year 2006
Rolf Peter Sieferle, Fridolin Krausmann, Heinz Schandl, Verena Winiwarter Das Ende der Fläche
Umwelthistorische Forschungen Herausgegeben von Bernd-Stefan Grewe und Verena Winiwarter in Verbindung mit Franz-Josef Brüggemeier, Bernd Herrmann, Martin Knoll, Christian Pfister, Joachim Radkau und Rolf Peter Sieferle Band 2
Rolf Peter Sieferle, Fridolin Krausmann, Heinz Schandl, Verena Winiwarter
Das Ende der Fläche Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung
2006 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Rolf Peter Sieferle ist Professor fiir Geschichte an der Universität St. Gallen, Schweiz. Fridolin Krausmann ist Dozent für Soziale Ökologie am Institut fiir Soziale Ökologie an der Fakultät fur Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Universität Klagenfurt in Wien. Heinz Schandl ist dort Universitätsassistent. Verena Winiwarter ist Dozentin für Umweltgeschichte an der Abteilung fiir Kultur- und Wissenschaftsanalyse an der Fakultät fiir Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) der Universität Klagenfurt in Wien.
Gedruckt mit Unterstützung der Breuninger Stiftung, Stuttgart
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Pflügender Bauer vor Industrieanlage, aus: Eugen Diesel, Deutschland arbeitet, Berlin 1934 © 2006 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 91390-0, Fax (0221) 91390-11 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-31805-5 / ISBN-10 3-412-31805-1
Inhalt
1.
Vorwort
2.
Das sozialmetabolische Regime der solarenergiebasierten Landwirtschaft Sozialer Metabolismus und Kolonisierung der Natur Energieflüsse und Stoffkreisläufe Grundeigenschaften von Agrargesellschaften Trajektorien der nordwesteuropäischen Landwirtschaft
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
Fallstudien zur Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung Vorindustrielle Landwirtschaft in Mitteleuropa Räumliche Differenzierung von Agrarsystemen Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten Vergleich mit anderen lokalen Ausprägungen von agrarischen Systemen
1
7 7 19 32 38
51 51 59 69 92
4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.
Die industrielle Transformation Neue institutionelle Arrangements Uberseeische Expansion und Kolonialismus Wissenschaft, Technik und Innovation Industrialisierung und Fabriksystem Fossile Energie und mineralische Ökonomie
104 106 110 118 124 131
5.
Die energetische Transformation im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland Einleitung Landwirtschaftliche Revolution und institutioneller Wandel Flächennutzung und Produktivität Die Transformation des Energiesystems Die Uberwindung der Flächenlimitierung
140 140 144 153 167 180
5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 6. 6.1. 6.2. 6.3.
Landnutzung und Energie in Österreich 1800-2000 Methodische Einleitung Energie und Landnutzung in Österreich im frühen 19. Jahrhundert . . . Kohle, Klee und Kartoffeln - Die partielle Transformation des Energiesystems im 19. Jahrhundert 6.4. Die Transformation des Energiesystems im 20. Jahrhundert
192 192 194 208 222
VI
Inhalt
6.5. Zusammenfassung: Die Transformation des Energiesystems 1830-1995 7.
241
7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5.
Die energetische Transformation im Vereinigten Königreich und in Osterreich Einleitung Vorreiterund Nachzügler Die schrittweise Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche . . . . Die vollständige Transformation Ende der Wachstumsperiode seit den Ölkrisen?
248 248 251 261 274 281
8. 8.1. 8.2. 8.3. 8.4. 8.5.
Die Transformation des sozialmetabolischen Regimes Rekapitulation: Die Phasen der Transformation Wunder oder Wachstum Der europäische Sonderweg Die Ära der Industriegesellschaft Das Ende der Transformation
289 289 300 307 320 330
9. Anhang 9.1. Gesellschaftlicher Stoffwechsel und Material- und Energieflußanalyse (MEFA) 9.2. Definitionen 9.3. Quellen für die historische MEFA 9.4. Quellengrundlagen für die Modellierung der drei Agrarökosysteme . . . 9.5. Abkürzungen und Dimensionen
335 335 340 342 345 347
10. Literatur
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1. Vorwort
Seit vor etwa 25 Jahren die ersten umwelthistorischen Arbeiten veröffentlicht wurden, wird immer wieder die Frage gestellt, was Umweltgeschichte eigentlich ist. Hat sie einen eigenen Gegenstandsbereich, oder handelt es sich bloß um eine neue Sichtweise, eine geänderte Perspektive, in der vertraute Themen der Wirtschaftsgeschichte behandelt werden? Inzwischen hat die Umweltgeschichte - vor allem in den USA - weite und heterogene Felder bearbeitet. Das Spektrum reicht von eher naturwissenschaftlich ausgerichteten Rekonstruktionen vergangener Umweltzustände, etwa in der Klimageschichte, über die klassischen Verschmutzungsthemen, also die Bearbeitung von Vorläufern aktueller „Umweltprobleme" wie Wasser- oder Luftverschmutzung, Untersuchungen über Nutzungen von Ökosystemen durch verschiedene Kulturen bis hin zu mentalitätsgeschichtlichen Arbeiten über gesellschaftliche Reaktionen auf Naturkatastrophen oder die Konzeptionalisierung von Naturphänomenen. Diese Forschungslandschaft ist inzwischen so groß und unübersichtlich geworden, daß es schwierig ist, sich in ihr zu orientieren. In der vorliegenden Studie wird ein biophysischer Ansatz verfolgt, der sich nicht auf „Umweltprobleme" konzentriert, sondern der Frage nach dem „sozialen Metabolismus", also dem Stoffwechsel zwischen menschlichen Gesellschaften und ihrer natürlichen Umwelt nachgeht. Die Beteiligten blicken auf eine Zusammenarbeit zurück, deren Anfänge in den frühen 1990er Jahre liegen und in der zwei unterschiedliche Forschungsstränge und Erklärungstraditionen miteinander verbunden werden: die Geschichte von Energiesystemen sowie die rezente Materialflußanalyse, deren Betrachtungszeiträume um historische Dimensionen erweitert wurden. Rolf Peter Sieferle hat in seinem 1982 erschienenen Buch „Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution" versucht, Ansätze der Energiesystemanalyse auf den historischen Übergang vom agrarischen Solarenergiesystem zu einem Industriesystem, das auf der Nutzung fossiler Brennstoffe beruht, anzuwenden. Dieses energetische Erklärungsprinzip historischer Prozesse hat eine eigene Geschichte (cf. Martinez-Alier 1987). Das physikalische Konzept „Energie" ist erst im 19. Jahrhundert entstanden, nachdem die Verwandlung von thermischer in mechanische Energie nicht nur technisch vollzogen, sondern auch theoretisch erklärt werden konnte. Im Zuge der Entwicklung der Physiologie, der Thermodynamik und der Agrarchemie kam es im späten 19. Jahrhundert zu ersten Ansätzen einer energetisch-naturalistischen Gesellschaftstheorie, von der es Wirkungslinien bis zur Humanökologie von Eugene Odum oder der Kulturökologie von Roy Rappaport im 20. Jahrhundert gibt. Diese energetischen Theorien wurden zunächst vor allem von Naturwissenschaftlern wie Eduard Sacher,
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Vorwort
Leopold Pfaundler oder Bernard Brunhes vertreten und stießen unter Sozialwissenschaftlern zum Teil auf vehemente Ablehnung. Beispielhaft hierfür ist die negative Reaktion Max Webers (1909) auf die „energetische Kulturtheorie" des Chemikers Wilhelm Ostwald (1909,1912), was im Zusammenhang mit der Herausbildung einer eigenständigen Soziologie zu sehen ist, die sich polemisch von naturwissenschaftlichen Ansätzen abhob (Fischer-Kowalski 1998, Lutz 2000). Ein ähnliches Schicksal hatte der Versuch des Chemikers Frederick Soddy (1922), die Ökonomie mit einem physikalischen Unterbau zu versehen. In seiner naturalistischen Perspektive handelt es sich bei Wirtschaftswachstum im wesentlichen um eine konventionelle Angelegenheit, also nicht um eine Zunahme von materiellem Reichtum, sondern um fiktive Finanzoperationen (Kredit, Geld). Soddys Ansätze wurden später von Nikolaus Georgescu-Roegen wieder aufgenommen und bilden eine theoretische Grundlage der ökologischen Ökonomie. In der Kulturanthropologie hat vor allem Leslie White (1943,1949,1954) energetische Erklärungsansätze verwandt und damit großen Einfluß auf die spätere Kulturökologie ausgeübt. Eine weitere wichtige und grundlegende konzeptionelle Studie ist Fred Cottrells „Energy and Society" (1955), die heute leider weitgehend vergessen ist. Historiker haben sich Energiefragen zunächst nur sporadisch oder im Zusammenhang mit technischen und ökonomischen Studien zugewandt (e.g. Nef 1932, 1934/35,1957), doch hat sich dies seit der Energiedebatte der siebziger Jahre geändert. Energie wurde nun zu einem Thema, das Publizität hatte, und es wurden auch Historiker gefragt, welche Bedeutung sie in der Geschichte besaß. Die populärwissenschaftliche Zeitschrift Scientific American brachte 1971 einen Sonderband „Energy and Power" heraus, in dem Energienutzungsformen in verschiedenen Gesellschaftstypen untersucht wurden, und es entstand nun eine Vielzahl von Einzelstudien, zu denen auch das Buch „Der unterirdische Wald" gehört. 1 Der zweite Forschungsstrang, der in diese Studie eingeht, konzeptionalisiert den „sozialen Metabolismus" bzw. „gesellschaftlichen Stoffwechsel" in Bezug auf rezente Gesellschaften, wofür ein entsprechendes methodisches Inventar entwickelt wurde. 2 Stoffwechsel oder Metabolismus ist ein Begriff aus der Biologie, der die mit Stoffumwandlungen verbundenen Energieumsätze bezeichnet. Seit dem 19. Jahrhundert wurde Stoffwechsel zu einem Konzept der Biochemie, anwendbar auf der Ebene zellulärer Vorgänge, aber auch zur Beschreibung ganzer Organismen. Seit den 1840er entwickelte sich hieraus in der Systemökologie ein
1 Nef 1977; Ryan 1979; Thomas 1980; Meiosi 1982; Radkau 1986; Debeir et al. 1989; Smil 1991, 1994; Malanima 2001. Zum neueren Stand vgl. die Beiträge in Cavaciocchi 2003. 2 Vgl. etwa Ayres et al. 1970; Ayres und Ayres 1998; Daniels und Moore 2001; Haberl 2001; Krausmann et al. 2004; Schandl et al. 2002.
Vorwort
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zentraler Begriff zur Beschreibung des Verhältnisses von Organismen zu ihrer Umwelt. Stoffwechsel beschreibt den komplexen biochemischen Prozeß der Aufnahme und Konvertierung von Material und Energie zur Ermöglichung organischen Wachstums, worunter auch die spezifischen Regulationsprozesse im Rahmen des materiell-energetischen Austauschprozesses fallen. Eugene Odum und andere Vertreter der Systemökologie verwandten das Stoffwechselkonzept zur Beschreibung aller Ebenen im biologischen Prozeß, von der einzelnen Zelle bis hin zum Ökosystem. Auch menschliche Gesellschaften organisieren Material- und Energieflüsse mit ihrer natürlichen Umwelt. Sie extrahieren Rohstoffe, verarbeiten sie zu Nahrungsmitteln und anderen Produkten, konservieren diese in Form von Gebäuden, technischen Infrastrukturen und langlebigen Gütern und geben sie schließlich am Ende der Extraktions-, Produktions-, Distributions- und Konsumkette mit einer gewissen Zeitverzögerung in Form von Emissionen und Abfällen wieder an die Natur ab. Dazu benötigen sie mehr oder weniger große Mengen an Energie, die sie ebenfalls den natürlichen Systemen entnehmen und schließlich in Form von Abwärme wieder in die natürliche Umwelt entlassen. Dieser Stoffwechsel ist aufs engste mit der Nutzung und Bewirtschaftung von Land sowie räumlichen Mustern gesellschaftlicher Organisation verbunden. Gesellschaftliche Entwicklung und Energieverwendung wurden schon relativ lange als zusammengehörend angesehen und wurden auch in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung wahrgenommen. Gleiches trifft für die stoffliche Seite des gesellschaftlichen Metabolismus nicht zu. Erst in den 1970er Jahren, als bestimmte Stoffe für Störungen in den natürlichen Systemen verantwortlich gemacht wurden, traten die Materialien in das gesellschaftliche Bewußtsein. Zunächst lag die Aufmerksamkeit bei den Schadstoffen. Um 1990, gleichzeitig mit dem Paradigmenwechsel im Umweltdiskurs hin zu nachhaltiger Entwicklung, begannen sich Wissenschaft und Politik systematisch für die physische Seite der Ökonomie zu interessieren. Daraus resultierten zunächst methodische und konzeptionelle Arbeiten zum Metabolismus der Industriegesellschaft (Ayres und Simonis 1994) sowie Arbeiten, die den Stoffwechsel als eine Grundoperation jeglicher gesellschaftlicher Organisation definierten (Fischer-Kowalski und Haberl 1993) und sich auf rezente Gesellschaften konzentrierten. Die Arbeitsgruppe um Marina Fischer-Kowalski am Institut für Soziale Ökologie in Wien stieß bald auf das Problem, daß die Trajektorien des sozialen Metabolismus nur dann zu verstehen sind, wenn man längere Zeiträume als nur wenige Jahre oder ein paar Jahrzehnte ins Visier nimmt und die enge und ausgeprägten Veränderungen unterworfene Beziehung zwischen gesellschaftlichem Metabolismus und Landnutzung berücksichtigt. Hieraus resultierte ein Forschungsprogramm, das sich mit einer universalgeschichtlichen Erfassung und Periodisierung des sozialen Metabolismus befaßt und in das die historische Analyse von Energiesystemen bzw. von sozialmetabolischen Regimes integriert wer-
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Vorwort
den konnte (Fischer-Kowalski et al. 1997; Sieferle 1997; Fischer-Kowalski et al. 2003). Die vorliegende Studie, in die diese beiden Forschungsstränge einmünden, ist daher interdisziplinär orientiert. Sie verbindet historische, sozialwissenschaftliche und humanökologische Erklärungsansätze und Methoden. Gesellschaften können auf sehr unterschiedliche Weise ihren Stoffwechsel mit der Natur organisieren, sowohl was dessen Umfang als auch seine Qualität betrifft. Das Minimum dieses Stoffwechsels liegt auf einem Niveau, auf dem die Subsistenz der jeweiligen menschlichen Population gesichert wird, was dem biologischen oder basalen Metabolismus ihrer Mitglieder entspricht. Wenn Gesellschaften dazu übergehen, in die Reproduktionsbedingungen der natürlichen Systeme einzugreifen, indem sie diese „kolonisieren" (Fischer-Kowalski und Haberl 1993), also Landwirtschaft betreiben und Vieh halten, steigt der gesellschaftliche Stoffwechsel beträchtlich an. Wir nennen diesen Typus den agrarischen Metabolismus (eine Übergangsform vom basalen zum erweiterten Metabolismus). Der erweiterte oder industrielle Metabolismus ist dort zu finden, wo Gesellschaften in großem Maßstab auf nicht erneuerbare Materialien zurückgreifen, wie zum Beispiel fossile Energieträger und metallische Erze. Wenn Gesellschaften im Rahmen des erweiterten Metabolismus Materialien mobilisieren, die in den natürlichen biosphärischen Kreisläufen normalerweise keine oder eine mengenmäßig sehr unbedeutende Rolle spielen, entstehen Umweltprobleme einer völlig neuen Art, da Abfallprodukte erzeugt werden, die den biosphärischen Prozessen fremd sind und in den natürlichen Systemen nicht oder nicht ausreichend absorbiert werden können. Der erweiterte Metabolismus ist perspektivisch in einer endlichen materiellen Welt mit Knappheitsproblemen konfrontiert, was erstmals im Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972) in öffentlichkeitswirksamer Form thematisiert wurde und auch im neuen Diskurs der nachhaltigen Entwicklung einen zentralen Argumentationspunkt bildet, wenn auch mit deutlichen Modifikationen. 3 Betrachtet man die Entwicklung seit den 1970er Jahren, so haben umweltpolitische Maßnahmen zur Reduktion lokaler Umweltbelastungen beigetragen. Jedoch organisieren sich die Probleme zunehmend auf globalem Niveau.
3 Der Umweltdiskurs der 1970er Jahre war von der Vorstellung geprägt, daß weiteres wirtschaftliches Wachstum nicht automatisch zu einer steigenden Lebensqualität führe. Vielmehr führe stetiges oder gar exponentielles Wachstum in einer begrenzten Welt in die Katastrophe. Diese wachstumskritische Perspektive löste harten politischen Widerspruch aus. In den 1990er Jahren hat ein Themenwechsel im Umweltdiskurs weg von den Grenzen des Wachstums hin zur Idee einer nachhaltigen Entwicklung stattgefunden. Nun wird argumentiert, daß nicht das Wirtschaftswachstum an der Umweltkrise schuld sei, sondern die mit wirtschaftlichen Prozessen einhergehenden Energie- und Materialflüsse. Diese neue Idee wird unter Stichworten wie effiziente Nutzung von natürlichen Ressourcen oder Dematerialisierung von Wohlstand geführt und ist politisch wesentlich leichter zu kommunizieren.
Vorwort
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Probleme der Nachhaltigkeit der Wirtschafts- und Lebensweise können prinzipiell an beiden Enden des gesellschaftlichen Stoffwechsels auftreten. Auf der Seite der Entnahme von Materialien aus der Natur war Knappheit wesentlicher Rohmaterialien immer wieder ein Kernproblem der Wirtschaft. Auf der Seite der Rückgabe an die Natur treten Probleme immer dann auf, wenn Abfälle und Emissionen nicht mehr auf unschädliche Weise in natürliche Stoffkreisläufe eingebunden werden können. Für die Phase der Industrialisierung seit den letzten zweihundert Jahren läßt sich eine entscheidende Differenz feststellen: 1. Solarenergiebasierte Agrargesellschaften haben grundsätzlich eher mit Knappheitsproblemen zu kämpfen, da ihnen die Systemrestriktionen des Solarenergieflusses recht enge Grenzen setzen. Ihre „Umweltprobleme" sind daher primär Ressourcenprobleme, während Deponieprobleme aufgrund der einfachen Tatsache, daß Stoffe und Energieträger sehr knapp sind, nur in beschränktem und lokalen Maßstab auftreten konnten. Ernsthafte Schwierigkeiten bereiteten ihnen aber unerwünschte Koevolutionseffekte ihrer Grundstrategie, die in der Kontrolle und genetischen Veränderung von Organismen lag. Sie hatten immer wieder mit neuen Tier- und Pflanzenkrankheiten, mit Schädlingen und Parasiten zu kämpfen, im Extremfall mit Seuchen, die durch den engen Kontakt mit Tieren auftreten konnten. Hier handelte es sich um Nebenfolgen der Landwirtschaft als solcher, d. h. dies war nicht grundsätzlich zu vermeiden, sondern die Menschen mußten Strategien entwickeln, wie sie damit umgehen konnten. 2. Die Industriegesellschaften haben sich dagegen auf einen Entwicklungspfad begeben, der (zumindest mittelfristig) die Ressourcenprobleme gelöst hat. Große Rohstoffknappheit war hier immer ein eher regionales Problem und nicht eines des absoluten Mangels natürlicher Ressourcen. Das fossile Energiesystem gestattete es, die Materialentnahmen auf ein Niveau zu schrauben, das im Rahmen des traditionellen Solarenergiesystems unerreichbar war. Die Kehrseite dieses Erfolgs war aber das Auftreten von „Umweltproblemen" in einem engeren Sinn, also von Schäden, die infolge der Deponierung der mobilisierten Stoffe in der Umwelt auftraten. Dies war tatsächlich ein neuartiges Problem, da Deponieeffekte nun großräumig, wenn nicht sogar global auftreten konnten (etwa im Treibhauseffekt mit der Perspektive einer anthropogenen Änderung des Weltklimas). Die vorliegende Studie versucht, den Transformationsprozeß zu analysieren, der vom solarenergetischen Regime wegführte und die Uberwindung seiner Restriktionen ermöglichte. Zu diesem Zweck wird ein Zeitraum von über 250 Jahren untersucht, innerhalb dessen sich diese Transformation im wesentlichen vollzog. Mit dieser Arbeit werden zahlreiche Themen berührt, die sich nicht nur auf Umweltgeschichte in einem engeren Sinn beziehen, sondern sich zu einem generellen Erklärungsversuch des Prozesses der Industrialisierung ausweiten. Damit wird angestrebt, den Stellenwert umweltgeschichtlicher Problemlagen innerhalb eines größeren historischen Kontextes zu bestimmen.
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Vorwort
Ein wichtiges Resultat dessen liegt in der Periodisierung, also der Identifizierung von historischen Weichenstellungen und Verzweigungssituationen. „Umweltprobleme" in einem engeren Sinne sind erst im 20. Jahrhundert in dramatischer Form aufgetreten (McNeill 2000). In dieser Studie kann aber gezeigt werden, daß sich die Dynamik dieser Problemlagen schon etwa hundert Jahre früher aufgebaut hatte. Der entscheidende Wendepunkt lag um 1830, während spätere Phasenübergänge innerhalb des größeren Gesamtmusters blieben. Dieses Buch ist das Resultat einer mehrjährigen Zusammenarbeit, die von verschiedenen Personen und Institutionen gefördert wurde. An erster Stelle ist die Breuninger Stiftung zu nennen, die im Rahmen ihres historischen Förderungsschwerpunkts „Der europäische Sonderweg" eine Reihe von Vorstudien ermöglicht hat, mit wiederholten Gelegenheiten zu Tagungen und Workshops, und ohne deren Unterstützung auch diese Publikation nicht möglich gewesen wäre. Wir möchten uns hierfür ausdrücklich alle bei Helga Breuninger bedanken. Unser Dank gilt weiter dem Fonds für Wissenschaftliche Forschung (FWF), der wesentliche Teile der Forschungsarbeit, die in diesem Buch zusammengeführt werden, im Rahmen des Projekts „Historischer Wandel der gesellschaftlichen Naturverhältnisse" (P16759) gefördert hat, sowie dem Grundlagenforschungsfonds der Universität St. Gallen. Die empirischen Daten zu Kapitel 3 stammen aus dem Kontext des Forschungsprogramms „Nachhaltige Entwicklung österreichischer Kulturlandschaften", das vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst initiiert und finanziert wurde. In diesem Programm war es möglich, erstmals in Osterreich große, empirische Studien zum Zusammenhang zwischen Landnutzung und gesellschaftlicher Entwicklung durchzuführen. Insbesondere bedanken wir uns bei den Mitgliedern der Forschungsteams, deren Daten hier weiter ausgewertet wurden. Christoph Sonnlechner, der an der Vorstudie zu Kapitel 3 mitgearbeitet hat, möchten wir besonders erwähnen. Unser Dank gilt auch zahlreichen Personen, die auf diversen Workshops Anregungen gegeben und uns in unserem Vorhaben unterstützt haben. Besonders erwähnen möchten wir Marina Fischer-Kowalski, Helmut Haberl und Niels Schulz, mit denen wir immer wieder grundsätzliche Diskussionen geführt haben, deren Anregungen in dieses Buch eingegangen sind. Danken möchten wir ferner Simone Gingrich und Franziska Haydn für ihre Unterstützung beim Aufbau der Datenbasis, die unserer Arbeit zugrunde liegt, sowie Birgit Biehler, die uns bei der technischen Fertigstellung des Manuskripts geholfen hat. St. Gallen, Wien im Winter 2005 Rolf Peter Sieferle, Fridolin Krausmann, Heinz Schandl, Verena Winiwarter
2. Das sozialmetabolische Regime der solarenergiebasierten Landwirtschaft
2.1. Sozialer Metabolismus und Kolonisierung der Natur Jeder individuelle Organismus steht in physischen Austauschbeziehungen mit seiner natürlichen Umwelt. Er schaltet sich in Energieflüsse und Stoffströme ein, entnimmt seiner Umwelt hochwertige Energie sowie brauchbare Stoffe und gibt Abwärme und Abfälle an sie zurück. Dieser Metabolismus ist eine fundamentale Eigenschaft aller Lebensprozesse. Die Organismen betreiben ihn, um ihre eigene Struktur aufrecht zu erhalten, um innerhalb ihrer Umwelt zu agieren und schließlich, um sich über längere Zeiträume hinweg fortzupflanzen. Wenn man diese Austauschbeziehung zwischen einem Organismus und seiner Umwelt näher betrachtet, fällt auf, daß die Grenze zwischen dem Organismus und seiner Umwelt nicht einfach und eindeutig definiert ist. Auf den ersten Blick haben wir scharf umrissene Entitäten vor uns. Der Organismus besitzt eine spezifische Identität, die etwa in seinem singulären Genom fixiert ist, durch das sich jeder Organismus von anderen Organismen unterscheidet. Außerdem befindet sich der Organismus in einer zeitlichen Kontinuität, d. h. innerhalb seines Lebenslaufs ändert sich seine Identität nicht grundlegend, auch wenn er wächst, altert oder traumatisiert wird. Schließlich bildet der Organismus auch eine morphologische Einheit, also einen physischen Körper, der eine klare Grenze zur Außenwelt besitzt und in der Lage ist, diese Grenze aufrechtzuerhalten, Eindringlinge abzuwehren und Verletzungen zu heilen. Der Kern der Identität eines Organismus ist in seinem Erbgut enthalten, das in DNA-Molekülen chemisch fixiert ist. Sie bilden eine programmatische Einheit, die es in der Ontogenese möglich macht, daß sich ein physischer Komplex synthetisiert, in dem dieses Programm repräsentiert ist. Im funktionalen Zentrum des Organismus liegt daher ein Informationskomplex, der einerseits selbst an ein physisches (chemisches) Substrat gebunden ist, andererseits aber Anweisungen enthält, die zum Aufbau eines größeren physischen Funktionskomplexes führen können. Damit dies geschieht, muß allerdings eine Reihe von Randbedingungen existieren, so daß aus der schieren Existenz bestimmter DNA-Moleküle noch nicht der konkrete Aufbau des Organismus abgeleitet werden kann. Es handelt sich nicht um einen „Bauplan", an dem der geschulte Leser bereits das fertige Gebäude ablesen könnte, sondern es ist ein Programm, dessen Vollzug an zahlreiche kontingente Umweltbedingungen gebunden ist. Der individuelle Organismus bildet daher einen Phänotyp, dessen Basis der Genotyp ist, ohne daß ersterer bruchlos aus letzterem abgeleitet werden könnte. Der Phänotyp ist nicht vollständig im Genotyp enthalten, sondern in ihm schla-
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Solarenergiebasierte Landwirtschaft
gen sich auch Manifestationen der Umweltbedingungen nieder, die während der Ontogenese präsent und wirksam waren. Hinzu kommt aber noch ein weiterer Wirkungszusammenhang, der von Dawkins (1982) als „extended phenotype" bezeichnet wurde: Die Grenzen des Organismus sind nicht identisch mit den Grenzen der Wirksamkeit des Genotyps. Dieser führt nicht nur zur Synthese des Organismus selbst, sondern auch zur Synthese von Artefakten, die räumlich vom Organismus getrennt, aber funktional auf ihn bezogen sind. Dies kann an einem Beispiel erläutert werden. Wenn eine Spinne ein Netz baut, so folgt sie hierbei einem Programm, das in ihrem Genom enthalten ist. Das Spinnennetz ist von Spinnenart zu Spinnenart verschieden, so daß ein Kenner leicht von einem bestimmten N e t z auf die Spinnenart schließen kann, die es gesponnen hat. Dies bedeutet aber, daß der Phänotyp dieser Spinne sich nicht auf ihren Organismus beschränkt, sondern sich von diesem ablöst und zum extrasomatischen Artefakt wird. Der Genotyp wirkt damit über die Synthese und Steuerung des Organismus hinaus und verfestigt sich in Objekten, die zugleich zur Umwelt des Phänotyps werden. Ahnliches gilt auch für das Verhältnis von Vogel und Vogelnest, von Biber und Biberdamm, von Bienenvolk und Bienenstock und für viele weitere Beispiele. Dies bedeutet aber, daß die Grenze zwischen Organismus und Umwelt nicht so scharf gezogen ist, wie man zunächst meint. Wir haben nicht nur eine Beziehung zwischen aktiven Organismen und einer passiven Umwelt vor uns, die gewissermaßen die Randbedingung für die Existenz der Organismen bildet, sondern Umwelt und Organismus formieren vielfach einen eng verschränkten Funktionskomplex, innerhalb dessen bestimmte Eigenschaften der Umwelt von den Organismen selbst produziert und reproduziert werden. In der Biologie spricht man hierbei auch von „Nischenkonstruktion" (Laland et al. 2000), womit gemeint ist, daß die jeweilige ökologische Nische eines Organismus nicht nur als dessen Umwelt fungiert, an die er sich anzupassen hat, sondern von ihm auch aktiv verändert, wenn nicht gestaltet wird. D a diese Umwelt ihrerseits selektierend auf den Phänotyp wirkt und daher die Genfrequenz in der Folgepopulation mitbestimmt, ist der Organismus in der Lage, ein Stück weit seine eigenen Selektionsbedingungen zu steuern. Die Umwelt ist nicht nur ein passiver, externer Selektionsagent, sondern sie tritt in Wechselwirkung mit den Phänotypen, die sie selektiert. All das sind Vorgänge, die nicht nur in der Lebenswelt der Menschen stattfinden. Umweltveränderung ist kein Privileg unserer Spezies, sondern ein Grundelement aller natürlichen Arten und Ökosysteme. Dies gilt auch für die Ausdehnung metabolischer Wirkungen über den Organismus hinaus, also die Entstehung spezifischer Artefakte und Artefakt-Komplexe. Was ist dann aber das spezifisch Menschliche und wo kommt der „soziale Metabolismus" ins Spiel? U m dies zu verstehen, müssen wir die spezifisch menschliche Strategie der „kulturellen Evolution" als ein emergentes Phänomen begreifen, d. h. als ein Phä-
Sozialer Metabolismus
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nomen, das historisch entstanden ist und daher zunächst nach den gleichen Prinzipien evolutionär prämiert worden sein mußte, die auch für andere Merkmale von Organismen gelten. In der organischen Welt sind grundsätzlich die Programme, die zur Synthese von Replikatoren führen, in DNA-Molekülen fixiert. Dies gilt für die Organismen selbst wie auch für ihre extrasomatischen Extensionen oder Artefakte, also die Spinnennetze, Vogelnester, Bienenstöcke oder Biberdämme. Die Instruktionen, die zum Bau dieser Gebilde führen, sind molekular kodiert. Allerdings gibt es auch in der Tierwelt verhaltensrelevante Informationsträger und Verarbeitungsmechanismen, die an das Nervensystem gebunden sind. Nicht jede Information, die Verhalten steuert, ist fest im Erbgut verdrahtet. Wir können uns die Emergenz der „Kultur" bzw. der „kulturellen Evolution", also der Grundstrategie unserer Spezies, als Resultat eines evolutionären Prozesses vorstellen, der ein eigentümliches Verfahren der Informationstradierung hervorgebracht hat, das sich autopoietisch verselbständigt hat.4 Kulturelle Traditionsbildung als solche, d. h. die nicht-genetische Gewinnung, Speicherung, Verarbeitung und Weitergabe von Informationen, ist kein Spezifikum des Menschen. Spezifisch menschlich ist jedoch die Verabsolutierung dieser Strategie: In der mehrere hunderttausend Jahre umfassenden Geschichte der Hominiden spielten genetische Veränderungen eine relativ untergeordnete Rolle. Noch drastischer ist es, wenn wir die enormen Unterschiede zwischen einzelnen menschlichen Populationen und ihren naturalen Wirkungsprofilen beobachten, wie sie bis vor kurzem auf der Erde bestanden. Theoretisch hätte ein Beobachter erwarten können, daß er es mit unterschiedlichen Spezies zu tun hat, die jeweils gut adaptiert im tropischen Regenwald, in der Wüste, an Küsten, im Hochgebirge oder im ewigen Eis leben und eine Vielfalt von unterschiedlichen Merkmalen (Sprachen, Riten, Verhaltensstile, Techniken) hervorgebracht haben. Heute wissen wir, daß die genetische Differenz zwischen einzelnen Menschenpopulationen außerordentlich gering ist, so daß diese enorme Vielfalt fast vollständig auf Differenzen der kulturellen Muster zurückgeführt werden kann. Weshalb wurde die Emergenz der Kultur evolutionär prämiert? Hierzu gibt es unterschiedliche Erklärungsmodelle, die sich auf Adaptation an die natürliche Umwelt, auf sexuelle Selektion und auf Kooperation (intraspezifische Adaptation) beziehen. Die Ausprägung kultureller Evolution hat eine Reihe von Vorzügen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: -
Da die kulturelle Vererbung (Tradierung) nicht identisch mit der biologischen Vererbung ist, kann die Gruppe größer sein als die Zahl der direkt miteinander Verwandten.
4 Dieses Argument wird systematisch entfaltet in Sieferle 1997.
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Solarenergiebasierte Landwirtschaft
Die Gruppenselektion von kulturellen Merkmalen vereinigt (konservative) Tradierung mit (progressiver) Beschleunigung in der Ausbildung von Merkmalen, sie ist also gegenüber dem Wandel der Umweltbedingungen weit elastischer als die genetische Vererbung. Kulturell definierte Gruppen können sich durch Symbolgebrauch leichter voneinander abgrenzen (isolieren), als dies auf genetischer Grundlage möglich wäre. Sie können neue Mitglieder kooptieren und im Laufe einer Generation assimilieren. Innerhalb kulturell integrierter Gruppen ist die Identifikation und Diskriminierung von Betrügern und anderen Regelverletzern leicht; zudem begünstigt dies eine interne Strukturierung im Sinne der Bildung von Statushierarchien.
Kulturelle Evolution im Kontext kooperativer Gruppen ist daher primär ein „soziales" Phänomen, nicht so sehr aber ein technisch-ökonomisches Instrument. Intelligenzentwicklung, Sprache, Symboldeutung, kommunikative Kompetenz dienen also weniger der Lösung von Problemen der Adaptation an die äußere Umwelt als der Bewältigung der sich rasch vermehrenden Komplexitätsprobleme innerhalb sozialer Gruppen. Diese entwickeln eine interne Struktur, unterscheiden sich von anderen Gruppen, und die Menschen sind permanent damit beschäftigt, Absichten und Handlungen anderer Menschen zu interpretieren sowie Antworten darauf zu entwickeln. Nicht zuletzt geht es dabei auch um den Kampf um soziale Rangpositionen, die (auch in unmittelbar biologischen Sinn) mit höheren Reproduktionschancen verbunden sein können. Es besteht allerdings ein wichtiger Unterschied zwischen der natürlichen und der kulturellen Evolution. Die Selektion, die von der natürlichen Umwelt auf einen Organismus ausgeht, ist nicht oder nur wenig positiv rückgekoppelt. Das Klima etwa wirkt zwar auf den Organismus, dieser wirkt aber kaum auf das Klima. Ein solcher Zusammenhang gilt vor allem für abiotische Faktoren, während bei interagierenden Spezies (etwa Prädatoren und ihrer Beute) durchaus ein positiv rückgekoppelter „Rüstungswettlauf" in Gang kommen kann. Wenn aber die Selektion nur in eine Richtung wirkt, also von der „Umwelt" auf den „Organismus" (oder das Genom), dann ist eine stabile Anpassung zu erwarten. Dies entspricht dem verbreiteten naturteleologischen Muster der Harmonie und der Funktionalität, das in der älteren Tradition der Biologie und Ökologie immer betont wurde. Kulturelle Evolution ist dagegen ähnlich wie Evolution durch sexuelle Selektion positiv rückgekoppelt, denn die sozialen Kommunikationen finden rekursiv unter den gleichen Teilnehmern statt, werden hin und her gespielt, so daß sich das erzeugte Muster rasch irgendwo hin schrauben kann, ohne daß seine Richtung prognostizierbar wäre. Hier findet keine Anpassung an gegebene Umstände statt, sondern es organisiert sich ein offenes selbstreferentielles Spiel, in dem sich beliebige Prozesse mit großem Freiheitsgrad organisieren können, und
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zwar mit hoher Geschwindigkeit. In diesem Sinne ist die kulturelle Evolution ein Phänomen sui generis, sie ist also nicht ein Instrument des Organismus (oder der „Spezies") zum Zweck des Uberlebens, sondern sie löst sich recht bald von ihrer ursprünglichen Funktion ab und generiert eigentümliche autopoietische Züge. Im Prozeß der kulturellen Evolution formiert sich die Kultur zu einem „System", das eigene Imperative entwickelt, die nicht mehr ohne weiteres auf adaptive Funktionen bezogen werden können. In dem Maße, wie die Kultur sich von adaptiven Leistungen emanzipiert, kann sie fast beliebige Merkmale entwickeln, und ihre internen Integrationsleistungen treten gegenüber ihren technisch-ökonomischen Aspekten in den Vordergrund. Die Kultur differenziert sich dann in verschiedene Subsysteme, die jeweils einer eigenen Entwicklungslogik folgen. Diese Systeme können zwar noch immer bestimmten Funktionen zugerechnet werden, doch fällt bald auf, daß sie sich in der Erfüllung dieser Funktionen nicht erschöpfen. Die wesentlichen Leistungsbereiche des kulturellen Systems lassen sich in der Tradition der Soziologie in drei Felder unterteilen: 1. Das kognitive Subsystem enthält Wissen und Normen, Sinn, Religion, Stil und künstlerischen Ausdruck. 2. Das ökonomische Subsystem enthält Technik und Subsistenz, Tausch und Arbeit. 3. Das politische Subsystem enthält die Sozialstruktur, Herrschaft, Recht, Militär und Verwaltung. Diese drei Systeme bilden eine strukturierte Einheit in dem Sinne, daß sie übergreifende Organisationsprinzipien besitzen, die als autopoietische „symbolische Felder" verstanden werden können, zwischen denen eine Isomorphic von Grundplausibilitäten besteht. Sie sind nicht primär in Hinblick auf die Erfüllung einer adaptiven Funktion nach außen konstruiert, sondern folgen primär ihren internen Imperativen. Allerdings stehen sie grundsätzlich vor dem Vorbehalt, daß sie ein „sozialmetabolisches Minimum" erfüllen müssen, das die Freiheitsspielräume eingrenzt, die die autopoietische kulturelle Evolution prinzipiell besitzt. Was dies bedeutet, kann an einem Beispiel erläutert werden: Eine Teilfunktion des kognitiven Systems besteht in der Klassifikation von Gegenständen unter dem Gesichtspunkt ihrer Eßbarkeit oder Nicht-Eßbarkeit. Prinzipiell ist diese Klassifikation nicht an Eigenschaften der natürlichen Umwelt gebunden, sondern sie kann prioritär nach internen Imperativen des jeweiligen kulturellen Systems verfahren. So gibt es bekanntlich Kulturen, die Schweinefleisch als ungenießbar kategorisieren, obwohl viele Menschen in Europa und China aus Erfahrung wissen, daß es durchaus bekömmlich und nahrhaft ist. Offenbar hat die Klassifikation von Schweinefleisch als nicht-eßbar eine rein kulturelle Bedeu-
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tung. 5 Umgekehrt aber gilt, daß ζ. B. Tollkirschen von keiner Kultur in die Kategorie des Eßbaren eingeordnet werden können, da sie eben objektiv giftig sind. Hieraus wird eine charakteristische Asymmetrie erkennbar: In die Kategorie des Nicht-Eßbaren können auch eßbare Gegenstände aufgenommen werden, während die Kategorie des Eßbaren weitaus enger definiert ist. Eben hiermit ist das „sozialmetabolische Minimum" gemeint: Die kulturelle Autopoiesis findet dort ihre adaptive Grenze, wo es um das Uberleben des Phänotyps geht. Ein symbolisches Klassifikationssystem, das Tollkirschen für eßbar erklärte, würde mit der es tragenden physischen Population verschwinden, die an Atropinvergiftung gestorben wäre. Der autopoietische Freiraum der Kultur hat also eine objektive Grenze dort, wo die physische Population, die den materiellen Informationsträger für diese Kultur bildet, vom Untergang bedroht ist. Die symbolische Kultur ist zwar nicht identisch mit der Population, doch kann keine symbolische Kultur überleben, die nicht von einer physischen Population kopiert und tradiert wird. Eben in diesem Überleben der Population liegt das physische Existenzminimum der Kultur. Wenn wir also in einer evolutionären Perspektive von „menschlicher Gesellschaft" sprechen, so ist damit immer eine Einheit von physischer Population und symbolischer Kultur gemeint. Aus dieser Perspektive wird deutlich, was „sozialer Metabolismus" sein kann. Es handelt sich in einem wörtlichen Sinne um den physischen Stoffwechsel zwischen menschlichen Gesellschaften und ihrer natürlichen Umwelt, doch ist dieser Zusammenhang weitaus komplexer und weniger transparent, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Sofern Gesellschaft lediglich als ein System symbolischer Kommunikation verstanden wird, hat sie überhaupt keine metabolische Dimension. Die immaterielle Kultur oder Gesellschaft als Kommunikationssystem kann nicht selbst auf die Natur wirken, da es keine Berührung zwischen materiellen und immateriellen Systemen geben kann. In einem physischen Austauschverhältnis mit der Umwelt kann nur die physische Population der Menschen stehen. Deren Wirkungs- und Verhaltenprofil ist jedoch nur zu verstehen, wenn man es als Ausdruck genuin symbolisch-kultureller Vorgänge begreift. Diese Relation wird dadurch kompliziert, daß die physische Population der Menschen selbst evolutionären Wirkungen ausgesetzt ist, die untrennbar mit kulturellen Prozessen verbunden sind. Die Geschichte des sozialen Metabolismus ist die Geschichte einer Koevolution zweier autopoietischer Systeme, nämlich der Natur und der Kultur, wobei letztere die erstere durch physische Wirkungszusammenhänge affiziert. Die
5 Es gibt allerdings auch Versuche, diesen Nahrungstabus im Sinne des Kulturmaterialismus eine adaptive Funktion zuzuschreiben (etwa Harris 1985), doch streifen sie bald das Absurde.
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menschliche Population muß physisch in das naturale System integriert sein und materielle Austauschprozesse mit ihm organisieren. Die affizierte und kolonisierte Natur wird damit nicht etwa zu einem Teil der Gesellschaft, die im physischen Sinne nur aus Menschen besteht, und die Relation der Menschen zu ihrer natürlichen Umwelt ist alles andere als instrumenteil durchorganisiert. Es handelt sich vielmehr um einen offenen und im Grunde blinden evolutionären Prozeß, in dem ebenso viel gelingen wie schiefgehen kann. Wenn wir in stammesgeschichtliche Zeiträume zurückgehen, so erscheint die Eigenart der Hominiden bzw. der Entwicklungslinie, die zum Homo sapiens führte, als Emergenz einer kulturellen Evolution, die untrennbar mit biologischen Effekten verknüpft ist. Dies bedeutet keineswegs, daß die biologische Evolution des Menschen von der kulturellen Evolution der menschlichen Gesellschaft „abgelöst" wird, sondern daß beide unlösbar zu einem evolutionären Komplex verschmolzen sind. Die Menschen sind auch in organischer Hinsicht ein Produkt der kulturellen Evolution sowie der Artefakte-Wirkungen, die sie hervorgebracht hat. Der Sonderweg der Hominiden begann mit der Beherrschung des Feuers und mit der kulturellen Evolution. Der Zusammenhang dieser beiden Faktoren wird deutlich, wenn wir berücksichtigen, daß eine Voraussetzung für die kulturelle Evolution die Zunahme der Gehirngröße war. Hier ist eine konvergente Entwicklung von organischer und kultureller Evolution zu vermuten, die untrennbar mit der Nutzung des Feuers verbunden ist. Die Stoffwechselrate des menschlichen Gehirns ist etwa neunmal so hoch wie die durchschnittliche Stoffwechselrate des menschlichen Körpers. Man müßte also erwarten, daß bei Gehirnwachstum der basale Metabolismus zunimmt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Es besteht eine auffällige Diskrepanz zwischen dem hohen Energiebedarf des Gehirns und dem relativ ineffizienten Verdauungssystem des Menschen, das weiterhin dem älteren Primatenmuster folgt. Die gesteigerten Versorgungsansprüche des Gehirns wurden vielmehr dadurch gedeckt, daß die Hominiden mehr energiereiche fleischliche Nahrung zu sich nahmen, vor allem aber dadurch, daß sie ihre Nahrung kochten. Kochen und Garen kann aber als eine Externalisierung eines Teils der menschlichen Verdauung verstanden werden: Die Menschen verlagerten gewissermaßen einen Teil ihres Verdauungsprozesses nach außen, nahmen also durch Garen und chemische Denaturierung vorverdaute Nahrung zu sich. Dies machte es möglich, ein leistungsfähiges Gehirn mit einem kleinen und relativ ineffizienten internen Verdauungssystem zu kombinieren. In diesem Sinne ist also die Beherrschung des Feuers mit dem Gehirnwachstum untrennbar verbunden. Der Mensch bzw. die Hominiden ist die einzige pyrophile, d. h. in Symbiose mit dem Feuer lebende Säugetiergattung, die es gibt. Die Beherrschung des Feuers, die etwa eine Million Jahre zurückreicht, steht am Anfang der Menschwerdung, und sie hat nicht nur externe, ökologische Effekte, sondern hat auch in ei-
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nem genetisch-evolutionären Sinn auf den Menschen gewirkt. Das Feuer gehört damit zum erweiterten phänotypischen Funktionsbereich unserer Spezies, und mit seinem Gebrauch sind zahlreiche somatische und extrasomatische Effekte verbunden (Goudsblom 1992, Pyne 2001). Feuer ermöglichte nicht nur die chemische Veränderung der Nahrung mit dem Effekt, daß vieles leichter verdaulich und auch das Nahrungsspektrum verbreitert wurde. Feuer war auch ein wirkungsvolles Mittel zur Jagd, wenn gezielt Flächenbrände entfacht wurden, um Jagdtiere in Panik zu versetzen, so daß sie leichter erbeutet werden konnten. Diese Praxis hatte weiterreichende Auswirkungen auf die Umwelt. Gebiete, die periodisch Flächenbränden ausgesetzt werden, entwickeln eine andere Vegetation, als wenn dies nicht der Fall ist. Die regelmäßige Entfachung von Bränden begünstigt pyrophile Pflanzen oder Pionierpflanzen, vor allem Gräser, die sich auf gestörten Böden leicht ansiedeln oder deren Wurzelwerk von Flächenbränden nicht beschädigt wird. Vom Menschen angelegte Brände erzeugten somit Grasland, also Weidegebiete für große Herbivoren, und eben diese bildeten die favorisierte Jagdbeute der Hominiden. In gewisser Weise produzierte der Mensch hier also seine ökologische Nische selbst: Feuer schuf Nahrung für Jagdbeute, erleichterte die Jagd und machte das gewonnene Fleisch leichter verdaulich, half bei der Konservierung durch Trocknung und Räucherung und zerstörte Parasiten im Fleisch, machte die Nahrung also gesünder. Die regelmäßige Nutzung des Feuers hatte weitreichende Wirkungen, und sie dürfte ein zentraler Faktor für die Erfolgsgeschichte der Hominiden und ihrer Ausbreitung über die ganze Erde sein. Man kann sich kaum vorstellen, wie Menschen ohne das Feuer auch nur in gemäßigten Zonen überleben könnten. Feuernutzung kann daher als zentrales Element der Uberlebensstrategie von paläolithischen Jäger- und Sammlergesellschaften verstanden werden. Die Nutzung von Feuer ist eine universelle Eigenschaft der Spezies Homo sapiens und ihrer phylogenetischen Vorfahren. Alle rezenten Menschengruppen beherrschen das Feuer. Es handelt sich also nicht um ein beliebiges „soziales Konstrukt", sondern um eine universelle, anthropologisch fixierte Eigenschaft, die als solche nicht zur Disposition steht. Allerdings war mit der Nutzung des Feuers der systematische Schritt zur Kolonisierung von Natur im engeren Sinne noch nicht vollzogen. Kolonisierung der Natur bedeutet vielmehr, daß systematisch und auf Dauer angelegte kontrollierte Funktionsbereiche innerhalb von natürlichen Ökosystemen entstehen, die vom Menschen nicht nur ursprünglich erzeugt, sondern auch aufrecht erhalten werden (Fischer-Kowalski et al. 1997). In einem strengem Sinne war das erst im Rahmen der Landwirtschaft der Fall. Stabile Modifikationen der Natur im Sinne der „Nischenkonstruktion" entstanden aber nicht erst mit der Landwirtschaft, sondern reichen weit in die Vergangenheit nicht nur der Hominiden zurück. Mit der Landwirtschaft begann jedoch eine neue Epoche, die von strukturellen Eigenschaften geprägt war, die sich fundamental von dem unterscheiden, was zuvor der Fall war.
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In universalgeschichtlicher Hinsicht ist es daher sinnvoll, unterschiedliche „sozialmetabolische Regimes" zu unterscheiden, womit epochale Einheiten der Interaktion zwischen menschlichen Gesellschaften und ihrer natürlichen Umwelt gemeint sind. Diese Regimes besitzen bestimmte Grundeigenschaften, Attraktoren und Grenzen. Letztere können sie nicht überschreiten, ohne sich selbst zu transzendieren, d. h. ihre Überschreitung leitet eine Transformation in ein anderes Regime ein. Die einzelnen Regimes haben bestimmte Charakteristika bzw. Muster, die ihre Eigenschaften und ihre Spielräume definieren. Letztere sollten nicht zu eng gesehen werden, sondern es gibt innerhalb eines sozialmetabolischen Regimes ein größeres Spektrum von Ausprägungen. In der Vergangenheit lassen sich in diesem Sinne zwei große sozialmetabolische Regimes unterscheiden, die von unterschiedlichen Formen des Energieflusses geprägt waren und deren Epoche vor etwa 200 Jahren zu Ende ging. 1. Das Regime unkontrollierter Solarenergieflüsse der Jäger- und Sammlergesellschaften. Als sozialmetabolisches Regime begann es mit der systematischen Nutzung von Feuer, also vor über einer Million Jahren, wobei die Ursprünge im Dunkeln liegen. Die Feuernutzung entfaltete massive und dauerhafte Wirkungen auf die natürliche Umwelt, doch handelte es sich noch nicht um eine aktive Kolonisierung der Natur, sondern um eine weitreichende Nischenkonstruktion. 2. Das Regime kontrollierter Solarenergieflüsse der Agrargesellschaften. Dieses Regime begann vor etwa 10.000 Jahren mit dem universalgeschichtlichen Übergang zur Landwirtschaft, der sogenannten neolithischen Revolution, und es ging mit der industriellen Transformation zu Ende. Innerhalb dieses Regimes fand also der größte Teil der überlieferten Geschichte statt, von einfachen bäuerlichen Gesellschaften bis hin zu den komplexen agrarischen Zivilisationen. 3. Vor etwa 200 Jahren begann ein sozialmetabolischer Transformationsprozeß, der auf der Nutzung fossiler Energieträger beruht und die energetische Basis
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der Industrialisierung bildet. Diese Transformation ist noch nicht abgeschlossen. Die Industrialisierungsepoche besitzt selbst nicht den Charakter eines dauerhaften „Regimes", da sie im physisch-energetischen Sinne prinzipiell nicht nachhaltig ist. Die dauerhaften Merkmale und Struktureigentümlichkeiten des sich in der Gegenwart und Zukunft bildenden neuen sozialmetabolischen Regimes sind daher noch nicht bekannt. Dies hat zur Folge, daß wir nur in der Lage sind, das neue Regime negativ, d. h. in seiner Differenz zum vorangegangenen Regime zu beschreiben. Befassen wir uns näher mit den Strukturmerkmalen des agrarischen Regimes. Der idealtypische Kern der agrarischen Produktionsweise bestand in der kontrollierten und intendierten Kolonisierung der Natur, die sich vom älteren Pfad der N i schenkonstruktion dadurch unterschied, daß immer mehr systematischer Aufwand für die Aufrechterhaltung der kolonisierten Funktionsbereiche betrieben wurde. Freilich ist es nicht möglich, eine wirklich trennscharfe Unterscheidung zwischen (heteronomer oder evolutionärer) Nischenkonstruktion und (intendierter oder geplanter) Kolonisierung zu treffen, denn auch die avancierteste K o lonisierung enthält noch immer ein großes Maß an Heteronomie, also von unkontrollierten (und vielleicht prinzipiell unkontrollierbaren) Wirkungen. Auch ist der historische Beginn der Landwirtschaft nicht leicht zu lokalisieren, denn ihm lag natürlich nicht eine historische Entscheidung zugrunde. Es gab keine „Erfindung" der Landwirtschaft oder eine eindeutige Ablösung von natürlichem durch künstliches Verhalten, sondern die Ursprünge der Landwirtschaft können selbst als Elemente eines evolutionären Prozesses verstanden werden, der von den Beteiligten weder gewollt noch begriffen wurde. Entscheidend für den evolutionären Ubergang zur Landwirtschaft war der selektive Effekt der Aussaat. Wenn lediglich Erntewirtschaft betrieben wird, Menschen also regelmäßig ihrer Umwelt Pflanzen entnehmen, um sie zu verzehren, besteht die Folgegeneration der Nahrungspflanzen aus Organismen, die aus nicht-geernteten Samen gewachsen sind. Bei reiner Erntewirtschaft ohne kontrollierte Aussaat ist die Entnahme von Pflanzen(samen) von ihrem natürlichen Standort also kontraselektiv in Hinblick auf Eigenschaften, die der Mensch wünscht. Wenn dagegen ausgesät wird, liegt für die Pflanze eine positive evolutionäre Prämie darauf, erfolgreich geerntet, gelagert und wieder ausgesät zu werden, d. h. also, den geernteten Teil des Samens zu vermehren, da nur dieser Samen wieder auf das Feld gelangt, so daß aus ihm die nächste Generation der Pflanze wächst. N u r so kann ein koevolutiver Prozeß in Gang kommen, wie ihn Rindos (1984) analysiert hat: Was dem Menschen nützt, also viel, nahrhafter, transportierbarer und lagerbarer Samen, nützt auch der kultivierten Pflanze. Analoges gilt für die Domestikation von Tieren. Im Gegensatz zu Jäger- und Sammlergesellschaften, die weder künstliche Konzentration von Pflanzen betreiben noch große Nahrungsvorräte anlegen,
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stehen Ackerbauern in permanenter Auseinandersetzung mit konkurrierenden Parasiten. 6 Dadurch kommt ein evolutionärer „Rüstungswettlauf" zwischen den Nutzpflanzen und ihren Parasiten in Gang, in den die Bauern durch technische Innovation zugunsten der favorisierten Organismen intervenieren (Züchtung, Fruchtwechsel, Symbiosen, Konservierungsmethoden). Dieser Wettkampf zwischen Pflanzenschutzbestrebungen und Schädlingen ist daher nicht erst ein Nebeneffekt der Agrarchemie, sondern eine Grundeigenschaft jeder landwirtschaftlichen Produktion. Hier liegt eine der Ursache dafür, daß Agrargesellschaften innovativ sind und zur Dynamik tendieren müssen. Die Nutzpflanzen geraten durch diesen Prozeß in dauerhafte symbiotische Abhängigkeit von den Bauern. Sie müssen nicht nur vor Nahrungskonkurrenten des Menschen geschützt, sondern auch von Wildformen isoliert werden, da sonst immer wieder Rückzüchtungen vorkommen. Am besten ist es daher, wenn eine Pflanze in einem Raum kultiviert wird, in dem sie von Natur aus nicht vorkommt, denn dort drohen weder Schädlingsbefall noch Hybridisierung. Dieser Zusammenhang kann ein Schlüssel für die mehr oder weniger erfolgreiche geographische Ausbreitung von Kulturpflanzen sein. Elemente der Kontrolle und der Koevolution gab es auch vor der Landwirtschaft, und die vorindustrielle Landwirtschaft bleibt weit davon entfernt, ihre Bedingungen wirklich vollständig zu beherrschen. Entscheidend ist aber, daß sich die agrarische Produktionsweise auf einen irreversiblen Pfad der Kolonisierung von Natur begeben, also wachsende Bereiche der natürlichen Umwelt in einen „künstlichen" Zustand versetzt hat, wodurch sie spezifisch menschlichen Bedürfnissen besser gerecht wurden. Zu diesem Zweck wurden große Artefaktbereiche geschaffen, die funktional als Kulturzonen von der natürlichen „Wildnis" abgegrenzt wurden. Eine Folge davon war, daß Agrargesellschaften über große und wachsende Bestände verfügten, die durch Arbeit erzeugt wurden: Geräte, Baulichkeiten, Vorräte, Nutztiere, gerodete Flächen, Deiche, Bewässerungsanlagen usw. Diese Kolonisierung im Sinne der Schaffung von kontrollierten Artefaktbereichen war jedoch nicht nur mit ursprünglicher Arbeit verbunden, sondern sie machte einen permanenten Aufwand erforderlich, der notwendig war, den künstlichen Zustand gegenüber Tendenzen der „Verwilderung" aufrechtzuerhalten. Die kulturellen Freiheitsgrade wurden durch diese Kolonisierung stark reduziert. Gesellschaften, die in hochgradig kolonisierten Welten leben, sind bei Strafe des Untergangs gezwungen, diese künstlichen Zustände zu erhalten. Sie haben damit Entwicklungspfade aufgebaut und Rahmenbedingungen geschaffen, die sie nicht mehr ohne weiteres verlassen können.
6 A u s der Perspektive der Nutzpflanzen sind die Menschen natürlich auch Parasiten, wenn auch symbiotischen Charakters.
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Kolonisierung der Natur darf nicht mit Naturbeherrschung verwechselt werden. Die landwirtschaftliche Produktionsweise wie auch die auf sie folgende Industriegesellschaft streben zwar eine vollständige Kontrolle der von ihnen kolonisierten naturalen Funktionsbereiche an. Innerhalb des kulturellen Systems kann sogar der Eindruck entstehen, man habe es mit einer vollständigen sozialen Konstruktion der Natur zu tun. Dies ist jedoch eine Illusion: Die kolonisierten Zonen bleiben nach wie vor innerhalb der Natur und stehen in permanenter Wechselwirkung mit nicht-kolonisierten naturalen Funktionsbereichen. Eine vollständige Kolonisierung der gesamten Natur im Sinne einer totalen Kontrolle ihrer Wirkungszusammenhänge ist nicht zuletzt deshalb ausgeschlossen, da dies eine vollständige Instrumentalisierung des kulturellen Systems für sozialmetabolische Zwecke einschlösse. Dazu müßte die Kultur aber ein übergeordnetes Steuerungszentrum entwickeln, das nicht nur sämtliche physischen Wirkungen vollständig theoretisch repräsentieren, sondern auch das kulturelle System selbst in einer Weise beherrschen müßte, daß unerwartete Nebeneffekte physischer Prozessen, die es in Gang gesetzt hat, ausgeschlossen würden. Da dieses kulturelle Steuerungszentrum aber selbst Element des autopoietischen Systems der Kultur bleiben müßte, träte hierbei eine typische Paradoxie der Selbstbezüglichkeit auf: Ein Teilsystem kann nicht zugleich ein Metasystem sein. Es ist daher unvermeidlich, daß die Relation von naturalem und kulturellem System einen R e v o lutionären Charakter behält. In den sogenannten Umweltproblemen kommt diese Differenz zwischen angestrebter Naturbeherrschung und realer Autopoiesis naturaler Systeme am deutlichsten zum Vorschein. Das Auftreten von Umweltproblemen, also von unerwarteten, ungewollten und unerwünschten naturalen Nebeneffekten gezielten naturverändernden Handelns, ist im Rahmen der Kolonisierung der Natur unvermeidlich. Allerdings besteht hier eine bemerkenswerte zeitliche Verzögerung. Technische Wirkungen auf naturale Systeme können innerhalb sehr kurzer Zeiträume stattfinden, da die Variationsgeschwindigkeit des kulturellen Systems weitaus größer ist als die des naturalen Systems, das zum großen Teil an die Trägheit genetischer Evolution gebunden ist. Lediglich Mikroorganismen mit extrem kurzer Generationenfolge können hier Schritt halten, auch wenn sie keine gezielten Anpassungsstrategien entwickeln können. Die menschlichen Eingriffe in natürliche Zusammenhänge können daher immer wieder einen Vorsprung gegenüber den Reaktionen des naturalen Systems auf diese Eingriffe gewinnen. Dieser Vorsprung kann auch als Pioniersituation verstanden werden, die so lange anhält, bis das naturale System wieder evolutionär nachgezogen hat. Pioniersituationen sind in historischen Innovationsphasen regelmäßig aufgetreten, doch wurden sie früher oder später von der Eigendynamik naturaler System wieder eingeholt. Der klassische Fall hierfür ist in Agrargesellschaften das Auftreten von Zoonosen, also von Infektionskrankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden. 7 Ohne Zweifel ist die Haltung von Tieren von großem
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Nutzen für die Menschen, und zunächst sind auch keine gravierenden Nachteile zu spüren. Allerdings führt Landwirtschaft, die mit Viehhaltung gekoppelt ist, zu einem permanenten engen Kontakt zwischen Menschen und Tieren mit höchst unerfreulichen langfristigen Nebeneffekten. Wenn gleichzeitig die menschliche Bevölkerungsdichte hoch ist und die hygienischen Bedingungen schlecht sind, ist zu erwarten, daß früher oder später Erreger von Infektionskrankheiten, die unter den Nutztieren endemisch sind, die Artenschranke überwinden und den Menschen befallen können. Die großen Seuchen der Geschichte gehen fast alle auf diesen Effekt zurück, d. h. sie können als eine ungewollte Nebenwirkung der Viehhaltung und der großen Bevölkerungsdichte in Agrargesellschaften verstanden werden. Es bestand hierbei aber ein charakteristischer Verzögerungseffekt: In der Pioniersituation stand der Nutzen der Tiere im Vordergrund. Mit dem Auftritt von Pandemien mußten spätere Generationen aber den Preis dafür bezahlen. Jede Intervention in Naturzusammenhänge richtet dort eine Störung an, die mehr oder weniger weitreichende Folgen haben kann. Die Natur ist viel komplexer als alle Versuche, sie zu nutzen oder zu kontrollieren. Die Strategie der Kolonisierung gerät damit in eine paradoxe Dynamik: In dem Maße, wie die Zugriffe auf die Natur zunehmen, nimmt die Beherrschung der Natur ab. Dies bedeutet aber, daß die Kolonisatoren sich auf einen Entwicklungspfad begeben, der dahin tendiert, daß ein immer größerer Aufwand betrieben werden muß, um Störungen zu beheben, die auf eine versuchte und gescheiterte Naturbeherrschung zurückzuführen sind. Dieser Vorgang kann auch als Aufbau einer „Risikospirale" bezeichnet werden (vgl. Müller-Herold und Sieferle 1997). Am logischen Ende dieses Prozesses ist man nur noch mit Reparaturmaßnahmen beschäftigt, d. h. der Nettoeffekt der Kolonisierung ist neutral, wenn er nicht sogar negativ wird.
2.2. Energieflüsse und Stoffkreisläufe Die Grundstruktur der solarenergiebasierten landwirtschaftlichen Produktionsweise kann auf einem abstrakteren Niveau in einer Weise beschrieben werden, daß die wesentlichen Merkmale aller Agrargesellschaften getroffen werden. Einen zentralen Zugang hierzu bildet die Analyse des Energieflusses, denn der Umfang des sozialen Metabolismus, also der gesamte Bereich von Produktion, Konsum, Technik und Bevölkerungsentwicklung, wird letztlich von der Verfügbarkeit von Energie bestimmt. Der Energiefluß durch die kolonisierten Funktionsbereiche definiert die materielle Handlungsreichweite einer Gesellschaft
7 Mit diesem Problem befaßt sich ein wichtiger Strang der neueren Krankheitsgeschichte, etwa McNeill 1976, Cohen 1989, Ewald 1994.
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und ein gutes Stück weit auch ihr physisches Profil, also die materielle Struktur der Artefakte und deren Wirkungen auf die äußere Umwelt. Die Materialien, aus denen sich die organischen und mineralischen kolonisierten Funktionsbereiche zusammensetzen, werden durch den Einsatz von Energie mobilisiert. Dies hat zur Folge, daß der sozialmetabolische Materialdurchsatz insgesamt von der verfügbaren Energiemenge begrenzt wird, d. h. die scharfen energetischen Restriktionen des agrarischen Regimes setzen auch dem Materialumsatz eine deutliche Schranke. Dennoch ist es sinnvoll, den materiellen Aspekt gesondert zu betrachten. Zwei Komplexe spielten in Agrargesellschaften hierbei eine Rolle. 1. Der Boden bildet die Grundlage der agrarischen Biomassenutzung, und von ihm hängt ein Großteil der produktiven Potenzen ab. Es handelt sich bei ihm keineswegs nur um einen passiven, dauerhaften Bestand, der beliebig genutzt werden könnte, sondern er ist als erschöpfliche Ressource anzusehen. 8 Boden ist ein komplexes Aggregat von mineralischen Stoffen, organischem Material und Kleinorganismen. Er ist als ein System sui generis anzusehen, besitzt eine eigene Geschichte wie auch eine eigene Entwicklungstendenz, unabhängig von menschlichen Interventionen (vgl. Mannion 1991). Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Böden, die verschiedene Eigenschaften haben und mehr oder weniger empfindlich auf Störungen reagieren. Daher sind generalisierte Aussagen über die langfristigen Chancen und Potentiale der Bodennutzung nicht möglich, sondern es handelt sich jeweils um empirische Fragen. Die landwirtschaftliche Nutzung von Böden war grundsätzlich problematisch, auch unter den Bedingungen der vorindustriellen, solarenergiebasierten Landwirtschaft (vgl. Hillel 1991). Wenn Wälder gerodet oder Steppen umgepflügt wurden, wurde der Boden den erodierenden Kräften von Wind und Wasser stärker ausgesetzt, als wenn er von seiner natürlichen Vegetation bedeckt wäre. Ackerbau beschleunigte die Erosion und konnte sich damit längerfristig seine eigenen Grundlagen entziehen. Wenn trockenes Land bewässert wurde, bestand die Gefahr, daß der Boden versalzt und längerfristig unfruchtbar wurde, wie dies in den frühen Zentren der Landwirtschaft in Mesopotamien der Fall war (Yoffee und Cowgill 1988). Eine nachhaltige Bodennutzung war aber grundsätzlich möglich, besonders wenn es sich um stabile, junge Böden handelte, wenn die Bewässerung durch Regen erfolgte, und wenn Landwirtschaft relativ extensiv betrieben wurde, in Kombination mit Viehwirtschaft und Waldnutzung. Dies war im mittleren und nordwestlichen Europa der Fall, wo Landwirtschaft über mehrere tausend Jahre betrieben wurde, ohne daß es zur flächendeckender Bodenzerstörung gekommen
8 Grundsätzlich sind Böden erneuerbare Ressourcen, allerdings liegen die Erneuerungsraten im Bereich mehrerer hundert Jahre.
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wäre. Andere Landwirtschaftsgebiete in Europa haben keine so günstige Bilanz aufzuweisen (vgl. Hughes 1996, Bork et al. 1998). Aber auch andere Typen der Landwirtschaft konnten über sehr lange Zeiträume hinweg betrieben werden, wie das Beispiel des Naßreisanbaus in Chinas demonstriert. 2. Gewerbliche Materialien wie Metalle, Salze und andere Chemikalien wurden in allen agrarischen Zivilisationen genutzt, die auch einen nicht-agrarischen, gewerblichen Wirtschaftssektor besaßen. Ein prinzipielles Problem lag hier in der Verfügbarkeit mineralischer Ressourcen. Abbau, Verhüttung und Verarbeitung von Metallen war immer mit einem recht hohen Energieaufwand verbunden, der aus dem agrarischen Sektor (Forstwirtschaft) gedeckt werden mußte. Die grundsätzliche solarenergetische Energieknappheit kam auch hier zum Tragen. Wenn leicht abzubauende Vorkommen erschöpft waren, mußten die Stollen vertieft, mußten Erze mit geringerem Metallgehalt genutzt oder mußten die Transportwege verlängert werden. Damit stieg aber der Energieaufwand, und die Metallurgie stand längerfristig vor der Perspektive, von steigenden Kosten erdrosselt zu werden. Man konnte darauf zwar durch Prospektion und technischen Fortschritt reagieren, doch stellte sich unweigerlich das Problem abnehmender Grenzerträge. Im Gegensatz zum Agrarsektor ruhte die Rohstoffbasis des gewerblichen Sektors auf einer nicht-nachhaltigen Grundlage, was angesichts der geringen technischen Innovationsdynamik dieser Gesellschaften längerfristig zu ernsthaften Problemen führen konnte. Die Kehrseite der Extraktion von Rohstoffen ist die Deponie von Abfällen. Wenn Stoffe knapp sind, bildet allerdings ihre Entsorgung kein großes Problem. Was in der Landwirtschaft selbst anfiel, wurde konsumiert, verfüttert, verbrannt oder als Dünger auf das Feld verbracht. Chemische „Umweltverschmutzung" in unserem Sinne konnte es nur im gewerblichen Sektor geben, und da blieb sie ein lokales und beschränktes Phänomen. 9 Eine Belastung mit schädlichen Immissionen fand sich nur in unmittelbarer Nähe von Produktionsstätten, etwa bei Kupfer- oder Bleibergwerken und ihren Abraumhalden. Es gibt aber keine Anzeichen dafür, daß diese Deponieprobleme in dem Sinne die Nachhaltigkeit gefährdet hätten, als von ihnen eine Störung des dauerhaften Betriebs der entsprechenden Wirtschaftsform (oder auch nur einer bestimmten Anlage) ausgegangen wäre. Kehren wir zur Energie zurück. Die sozialmetabolische Grundstrategie der agrarischen Produktionsweise bestand in energetischer Hinsicht darin, Solarenergieflüsse zu kontrollieren, und dies geschah durch zwei unterscheidbare Methoden, die in der folgenden Abbildung dargestellt sind. Auf der rechten Seite der Abbildung finden sich die agrarischen Biotechnologien, deren Nutzung untrennbar mit allen Formen der Landwirtschaft verbun-
9 Eine bakterielle Kontamination durch Mischung von Abwässern mit Trinkwasser ist hingegen verbreitet. Typhus und andere gastrointestinale Erkrankungen sind die Folge.
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I
Sonnenenergie
£
elektromagnetische Strahlung
I i 1•l! 1 I I
Erwärmung der Atmosphäre
Temperatur Verdunstung « · · · ran differenzen α ine rei
Wasserkraft
Wind
mechanische Energie
mechanischer Zweig
Ir
mmmm ETI r τ ι Photosynthèse
Wald
Weide
Brennstoff
thermische Energie
Tiere
Acke
Menschen
mechanische Energie
biotechnischer Zweig
Abb. 2.2: Struktur des agrarischen Solarenergiesystems
den war, von den einfachsten bäuerlichen Gesellschaften bis zu den hochentwikkelten agrarischen Zivilisationen. Die von der Sonne eingestrahlte Energie wird primär durch die Photosynthèse von Pflanzen eingefangen und chemisch gebunden, sekundär von Tieren umgewandelt und schließlich in eine für den Menschen brauchbare Form gebracht. Das Agrarsystem nutzte als Energiekonverter in erster Linie Lebewesen, die als Nahrungsmittel, als Werkzeuge, als Baumaterial, als Kraftquelle und als Transportmittel dienten. Zu diesem Zweck wurde versucht, deren Lebensprozesse weitgehend unter Kontrolle zu bringen: Menschen rodeten Wälder, legten Acker an, säten und pflanzten, bewässerten und dränierten, brannten ab und bauten an, züchteten und rotteten aus, vermehrten und schützten ihre Nützlinge und bekämpften die Schädlinge, die Unkräuter, das Ungeziefer und die Raubtiere. Die Kontrolle des Solarenergieflusses durch die Nutzung von Biokonvertern fand im Rahmen der agrarischen Produktionsweise durch drei systematisch unterscheidbare Methoden statt: 1. Modifikation von Habitaten mit dem Ziel einer Umgestaltung von Ökosystemen, was es ermöglichte, daß Pflanzen an Standorten lebten, die ihnen von Natur aus verschlossen wären. Es handelte sich hierbei um Maßnahmen wie
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Rodung, Bewässerung, Entwässerung, Terrassierung, Düngung usw. Hierbei wurde schließlich die gesamte Landschaft umgestaltet und es entstand ein neuartiger Landschaftstypus: die Agrikulturlandschaft. Diese Landschaft war auf permanente Intervention zu ihrer Aufrechterhaltung angewiesen. 2. Genetische Veränderung von Biokonvertern, bei der durch gezielte oder unbeabsichtigte Züchtung neuartige Eigenschaften der Symbionten erzeugt wurden. Die wichtigsten Nutztiere und Nutzpflanzen der Landwirtschaft haben sich genetisch weit von ihrem Ursprungstypus entfernt und wären ohne permanenten Schutz durch den Menschen nicht überlebensfähig. Diese „kolonisierten" Organismen können daher als technische Artefakte angesehen werden, als lebende Maschinen zur Energieumwandlung. 3. Management von Flächenproportionen. Die agrarische Produktionsweise stand in energetischer Hinsicht vor dem Grundproblem, daß sie keine technische Methode besaß, einzelne Energieformen ineinander zu transformieren ein Grund, weshalb sie keinen physikalischen Energiebegriff besaß, sondern davon überzeugt war, daß Nahrung, Licht, Wärme oder Bewegung qualitativ unterschiedliche Dinge waren. Wenn es darauf ankam, eine optimale Proportion zwischen einzelnen Energieformen, also etwa von Nahrung, Kraft und Wärme zu erzeugen, so bestand der einzige Weg in einer Optimierung der Flächenanteile, von denen die einzelnen Energieformen stammten. Wenn also etwa zu viel (potentielle) thermische, aber zu wenig mechanische Energie verfügbar war, konnte man nur ein Stück Wald roden, um dort eine Wiese zur Gewinnung von Futter für Arbeitstiere anzulegen. Eine direkte technische Konversion war vor der Erfindung der Dampfmaschine (Transformation von Wärme in Bewegung) und des elektrischen Generators (Transformation von Bewegung in nutzbare Wärme) nicht möglich. Biotechnologien kamen in mehr oder weniger differenzierter Form in allen Agrargesellschaften vor. Allerdings gab es große Unterschiede, was den Grad der Spezialisierung betrifft, und vieles hing auch von den ökologischen Bedingungen ab. Wo keine geeigneten Nutztiere existierten, konnte man sie natürlich auch nicht einsetzen. Dies war vor allem ein Problem für die Landwirtschaft im vorkolumbischen Amerika. Dort waren vor etwa 12.000 Jahren fast alle Großtiere ausgestorben bzw. ausgerottet worden, die später in der Landwirtschaft hätten gebraucht werden können. Daher gab es keine Zugtiere (keine Pferde, Rinder, Kamele oder Esel) und kaum eßbare Tiere (keine Schweine, Hühner, Enten, Ziegen oder Schafe), wodurch die agrarischen Zivilisationen in Amerika vor ernsthaften Problemen standen. In wärmeren Regionen wurde wenig Brennholz benötigt, so daß der Anteil der Wälder gering sein konnte. Ganz konnte auf Holz jedoch nicht verzichtet werden, da es als Brennstoff für die Essenzubereitung und für andere chemische
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Prozesse wie auch als Rohstoff für zahlreiche Geräte und im Bauwesen gebraucht wurde. In Gebieten, in denen Hackbau betrieben wurde, konnten die Bauern auf den Einsatz von Zugtieren verzichten, auch wenn diese prinzipiell zur Verfügung standen, weshalb keine Weideflächen benötigt wurden. In den Anbaugebieten für Naßreis in China etwa konnte der Gebrauch von Arbeitstieren drastisch verringert werden, und die Hacke ersetzte wieder den Pflug. Dies ermöglichte eine höhere Bevölkerungsdichte und eine größere Flächenproduktivität, allerdings zu Lasten der Arbeitsproduktivität und des Potentials zur Mechanisierung. Im linken Zweig der Abbildung werden die Grundformen der mechanischen Konversion von Sonnenenergie gezeigt. Hier setzte man auf direkte kinetische Nutzung von Solarenergieströmen, die als Wind oder fließendes Wasser in der Biosphäre verfügbar waren. Einfache bäuerliche Gesellschaften kannten diese mechanischen Konverter noch nicht, sondern beschränkten sich auf die Biokonversion. In den höher entwickelten agrarischen Zivilisationen war die mechanische Konversion aber weit verbreitet. Allerdings handelte es sich um relativ späte technische Entwicklungen. Das ursprünglich wichtigste dieser mechanischen Geräte, das Segelschiff, existiert allerdings bereits seit etwa 5.000 Jahren und bildete die Grundlage des Ferntransports in agrarischen Zivilisationen. Von entscheidender Bedeutung war dann aber die Wassermühle, die vor rund 2000 Jahren erfunden wurde und aus der sich in der Folgezeit die gesamte Rädertechnik (Maschinen, Uhren) entwickelt hat. Windmühlen sind dagegen erst relativ spät entstanden und haben sich nicht flächendeckend durchgesetzt. Ihr wichtigster Nachteil bestand darin, daß sie nicht zuverlässig genug waren, um kontinuierliche Prozesse mit ihnen zu betreiben. Ihre Nutzung blieb daher auf anspruchslosere Aufgaben beschränkt, wie das Pumpen von Wasser oder das Mahlen von Getreide. 10 Mit den mechanischen Konvertern konnte lediglich kinetische Energie in eine technisch brauchbare Form gebracht werden. Andere Energieformen (Wärme, Nahrung, Licht) konnten mit ihnen nicht gewonnen werden. Hinzu kam das Problem der Standortabhängigkeit. Wassermühlen konnten nur gebaut werden, wo genügend Wasser mit ausreichendem Gefälle vorkam. In trockenen, kalten oder flachen Gebieten lohnte sich diese Investition häufig nicht. Außerdem konnte die mechanische Energie der Mühlen nicht transportiert und gespeichert werden (im Gegensatz zu Energieträgern wie Holz, Heu oder Getreide). Ihre Verwendung blieb daher auf die unmittelbare Nähe der Mühle beschränkt. Insgesamt war auch hier der Umfang der Energieströme nicht zu beeinflussen, wohl aber konnte der Wirkungsgrad ihrer Nutzung vergrößert werden. Hier bestanden also Spielräume der Effizienzverbesserung, ohne daß größere Durchbrüche möglich waren. Es handelte sich immer um ein langsames Herantasten an elasti-
10 Vgl. zur Wind- und Wassermühle Bayerl 1989; Munro 2003; Davids 2003.
Energieflüsse und Stoffkreisläufe
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Tab. 2.1: Energieumsatz pro Kopf (GJ/a) Autor Simmons 1989 Fischer-Kowalski und Haberl 1997 Malanima 2001
Jäger und Sammler
Agrargesellschaften
Gegenwart
7-10
73
350 (USA)
65
233 (Österreich)
10-20
14-60
sehe Grenzen, in dessen Verlauf die Mühlen und die von ihnen angetriebenen Arbeitsmaschinen kontinuierlich verbessert werden konnten. Es gibt in der Literatur einige Versuche, das Ausmaß der Energie- und Materialflüsse in verschiedenen Produktionsweisen zu quantifizieren und hierbei epochale Unterschiede zu identifizieren. 11 Ausgangspunkt dieser Berechnungen ist der basale Metabolismus des Menschen, der energetisch bei einem Brennwert der täglich verzehrten Nahrung von 8-16 M J liegt und den man mit 3,5-4 GJ/P im Jahr als Referenzwert ansetzen kann. Eine solche energetische Betrachtung ist relativ einfach, da es sich bei Energieumsätzen um eindeutige Prozesse handelt. Dies ist bei Stoff- und Materialumsätzen wesentlich schwieriger, schon auf der physiologischen Ebene des basalen Metabolismus des Menschen. Die Materialien, die ein Individuum umsetzt, bestehen zu etwa 2 kg/d aus Wasser, wozu etwa 1 kg/d Trockennahrung kommen mag. Außerdem müßte man eigentlich auch den Luftumsatz hinzuzählen. Im folgenden wollen wir uns aber auf die energetische Betrachtung beschränken, wobei deutlich werden wird, daß bereits hier beträchtliche Definitionsprobleme auftauchen. Wie sich leicht erkennen läßt, gibt es hier beträchtliche Differenzen, die auf unterschiedliche Berechnungsmethoden zurückgehen. Bei Angehörigen von Jäger· und Sammlergesellschaften geht Simmons davon aus, daß der Energieumsatz um das Zwei- bis Dreifache über dem basalen Metabolismus liegt. Bei FischerKowalski und Haberl ist es das Drei- bis Sechsfache. Diese Zahlen sind aber sicherlich viel zu niedrig. Der Nahrungsdurchsatz des Menschen liegt zwar bei 3,5—4 GJ/P.a, doch handelt es sich hierbei um die „Endenergie", also den Brennwert der aufgenommenen Nahrung, und nicht um die eingesetzte Primärenergie. Wenn wir eine Energiebilanz einzelner menschlicher Gesellschaften aufstellen wollen, müssen wir uns dafür entscheiden, wo die Systemgrenze gezogen wird. Wenn ζ. B. die Zugkraft von Tieren gezählt wird, so macht es einen deutlichen Unterschied, ob man von der geleisteten Arbeit ausgeht oder von der einge-
11 Vor allem Simmons 1989; Fischer-Kowalski und Haberl 1997; Malanima 2001.
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Solarenergiebasierte Landwirtschaft
setzten Primärenergie, also dem Brennwert des Futters, das die Tiere benötigen so wie in einer aktuellen Energiebilanz entweder der Strom gezählt wird, der aus der Steckdose kommt, oder der Brennstoffverbrauch in den Kraftwerken. Bei der Betrachtung menschlicher Nahrung können unterschiedliche trophische Niveaus berücksichtigt werden. Wenn wir von pflanzlicher Biomasse als Primärenergieträger ausgehen, so kommt man zu beträchtlichen Unterschieden, je nach dem, ob diese direkt als pflanzliche Nahrung verzehrt oder erst an Tiere verfüttert wird, die Milch produzieren oder deren Fleisch von Menschen gegessen wird. Der Wirkungsgrad bei der Verwandlung von Tierfutter in Fleisch beträgt etwa 12-15 % , so daß bei fleischlicher Nahrung etwa das Achtfache der Primärenergie gegenüber vegetarischer Nahrung benötigt wird. Dies bedeutet, daß der Primärenergieeinsatz der menschlichen Nahrung zwischen 4 und 32 GJ/P.a liegt, je nach dem Anteil von Fleisch an der Nahrung. Dieses Problem müßte man schon bei der Betrachtung von paläolithischen Jäger- und Sammlergesellschaften berücksichtigen. Die anthropologischen Daten, die hierzu gerne herangezogen werden, beziehen sich auf die gut untersuchten !Kung San- Buschmänner in der Kalahari (Lee 1968). Hier handelte es sich allerdings um eine geographisch marginalisierte Gruppe, die sich vor allem von Nüssen ernährte. In Gesellschaften von paläolithischen Großwildjägern dürfte der kalorische Anteil von Fleisch an der Nahrung bei mindestens 50 % gelegen haben mit der Folge, daß der primäre Nahrungsenergiebedarf rund 16,5 GJ/P.a betrug. Hinzu kommt, daß man die Wirkungen der Feuernutzung berücksichtigen muß. Handelt es sich lediglich um lokale Lagerfeuer, kommt man auf niedrigere Werte, als wenn man den Effekt von Flächenbränden mit berücksichtigt, die zum Zweck der Jagd gelegt werden. Zählt man alle Lebewesen hinzu, die als ungenutzte „Kollateralschäden" dieser Jagdmethode mitverbrannt werden oder sonstwie zu Tode kommen, können gewaltige Dimensionen erreicht werden. Daten hierzu liegen nicht vor, doch ist eine grobe Abschätzung möglich: Angenommen, die abgebrannte Fläche beträgt 1 km 2 . Das ist für eine Treibjagd in der Savanne nicht viel, doch sind es immerhin 100 ha. Wenn auf einem Hektar Savanne 50 m 3 Biomasse mit einem Brennwert von 9 GJ/m 3 stehen, so sind dies 450 GJ/ha oder 45 TJ/km 2 . Wenn zweimal im Jahr einen solchen Brand angelegt wird, kommt man auf einen jährlichen Energieumsatz von 90 TJ, der sich auf eine Gesamtbevölkerung von vielleicht 24 Personen verteilt, pro Kopf also 3,75 TJ im Jahr - das wäre etwa das Zehnfache des aktuellen Energieumsatzes in den USA! Zu erstaunlich hohen Zahlen kommt man sogar in Gebieten, in denen keine Flächenbrände möglich sind, etwa in Grönland oder Neufundland. 12 Die Inuit
12 Hierzu liegen keine historischen Daten vor. Die vielzitierte Studie von Kemp (1971) bezieht sich auf rezente Inuit, die Schneemobile etc. benutzen.
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ernährten sich (mangels Pflanzen) zu etwa 90 % von fleischlicher Nahrung, 1 3 so daß wir auf einen Primärenergieeinsatz von etwa 30 GJ/P.a kommen. Ihre Zugtiere, die Schlittenhunde, wurden ebenfalls mit Fleisch ernährt. Wenn die Biomasse der Hunde etwa gleich groß ist wie die der Menschen (4 Hunde pro Person), so kommt auf die Zugtiere ein Energiebedarf von 32 GJ/P.a. Schließlich sind noch die Brennstoffe zu berücksichtigen. Hierbei handelt es sich ebenfalls fast ausschließlich um tierische Biomasse (Talg von Seehunden, Walblubber, fette Vögel, die im Ganzen verbrannt werden). Wenn täglich 1 kg Brennstoff verbraucht wird, so liegt dem ein Primärenergieeinsatz von 8 kg pflanzlicher Biomasse zugrunde, also rund 45 GJ/P.a. Für die Gesamtbilanz der Inuit bedeutet dies, daß ihr Energieumsatz bei mehr als 100 GJ/P.a liegt, also deutlich über den Werten für Agrargesellschaften. In der aktuellen Energieflußanalyse zieht man die Systemgrenze dort, wo der Energiefluß vom Menschen kontrolliert wird (Haberl 2001). Wenn also Schlachttiere gefüttert werden, wird der Brennwert des Futters bzw. der Energieaufwand für die Bereitstellung des Futters gezählt. Wenn dagegen Fische gefangen werden, zählt man nur den dafür betriebenen Aufwand, nicht aber den Brennwert der Pflanzen, von denen sich die Fische ernährt haben. Auch bei Jagdtieren wird nur der Brennwert des Fleisches gezählt, da deren Nahrungsgrundlage von den Jägern nicht kontrolliert wird. Diese Methode hat den Vorzug, daß die tatsächlich „kolonisierten" Energieströme nach einem einheitlichen Verfahren erfaßt werden können. Für historische Vergleichszwecke kommt man durch diese Definition jedoch zu einem paradoxen Resultat: Der Energieumsatz pro Kopf muß in dem Maße zunehmen, wie die Kontrolldichte der Kolonisierung wächst. Dies hat aber zur Folge, daß gerade eine gewachsene Effizienz der Energienutzung, wie sie mit der Entwicklung der Agrargesellschaften verbunden ist, von diesem Verfahren nicht abgebildet wird. Die üblichen Abschätzungen kommen daher zu dem Ergebnis, daß der Energieumsatz im Laufe der historischen Entwicklung zugenommen hat, als eine Art Ausdruck von lang angelegtem „Wirtschaftswachstum". Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, daß dies lediglich dann gilt, wenn man die aktuelle Definition der Systemgrenzen übernimmt. Betrachten wir als Beispiel die Brandrodungswirtschaft, die die Frühphase der neolithischen Landwirtschaft in den gemäßigten Zonen dominiert hat. Bei dieser Wirtschaftsform wird regelmäßig ein Waldstück niedergebrannt und die Asche in den Boden eingearbeitet. Nach 3-5 Jahren Getreideanbau wird dieses Feld wieder aufgegeben und eine neue Brandrodung vorgenommen. Hier könnte also die gesamte Energie des verbrannten Holzes in
13 Nicht berücksichtigt ist, daß es sich hierbei zu einem großen Teil um das Fleisch von Karnivoren handelt (Robben, Seevögel, Lachse etc.), so daß wir zur Ermittlung des Primärenergiebedarfs eine weitere trophische Ebene berücksichtigen müßten mit der Folge, daß die ermittelten Werte noch einmal mit dem Faktor 8 multipliziert werden könnten.
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Solarenergiebasierte Landwirtschaft
die Bilanz aufgenommen werden, auch wenn die Verbrennung nur für die Gewinnung von Anbaufläche sowie zur Düngung diente. Auf einem Hektar Wald mit einem Alter von hundert Jahren mag ein Holzbestand von 500 m 3 stehen, mit einem Energiegehalt von 4.500 GJ. Wenn die Brandrodungsfläche 5 Jahre lang genutzt wird, käme in die Energiebilanz von einem Jahr ein Betrag von 900 GJ. Zur Ernährung einer Person ist aber unter den Bedingungen der Brandrodung mindestens eine Fläche von einem Hektar erforderlich. Wenn wir weitere Inputs berücksichtigen (etwa Fleisch von gejagten Tieren), liegt also der Energieumsatz einer einfachen Brandrodungswirtschaft bei etwa 1000 GJ/P.a. Das ist zwar weniger als die Jagd mit Flächenbränden, doch wird deutlich, daß Entwicklung der Dauerlandwirtschaft demgegenüber drastische Energieeinsparungen pro Kopf gebracht hat, was die Voraussetzung für eine Zunahme der Bevölkerungsdichte bildete. Wo ziehen wir die Systemgrenze? Wenn der brandgerodete Wald außerhalb des kolonisierten Bereichs verortet wird, wird bei der Brandrodungswirtschaft nur die geerntete Biomasse gezählt, nicht aber das abgebrannt Holz. Mit dieser Methode kämen wir also zu dem paradoxen Ergebnis, daß die avancierte Landwirtschaft einen höheren Energieumsatz hätte als die Brandrodungswirtschaft, und zwar aus dem Grund, weil in ihr der kolonisierte Funktionsbereich größer ist. Generell führt daher im solarenergetischen Kontext eine Zunahme der Kolonisierung, d. h. eine Erweiterung der Kontrolltiefe von Energieströmen trotz einer höheren Energieeffizienz zu einem wachsenden Metabolismus. Tab. 2.2: Kolonisierte und affizierte Flächen in verschiedenen Produktionsweisen Jäger/ Sammler
Brandrodung
Dreifelderwirtschaft
Industrieller Ackerbau
100% natürliche Vegetation
80 % Wald 20 % Ackerland
25 % Weide 25 % Wald 17% Brache 33 % Ackerland
90 % Ackerland 10% Wald
0,1
5
40
200
10
50
70
150
Indirekte Nutzung (GJ/P.a)
3.800
900
3
6
Gesamtnutzung (GJ/P.a)
3.810
950
73
156
Gesamtnutzung (GJ/km 2 )
381
4.750
2.920
31.200
Struktur der Landnutzung
Bevölkerungsdichte (P/km 2 ) Direkte Nutzung (GJ/P.a)
Energieflüsse und Stoffkreisläufe
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Dieses Ergebnis ist sicherlich nicht sehr einleuchtend, wenn man unterschiedliche Produktionsweisen miteinander vergleichen will. Die Energiebilanz wäre hier nämlich lediglich Ausdruck der Kolonisationstiefe, nicht aber Ausdruck des gesamten „ökologischen" Energieflusses von der pflanzlichen Primärproduktion bis zum menschlichen Verbrauch. Eine Jägergesellschaft, die regelmäßig Flächenbrände anlegt, verursacht gewaltige Energieumsätze, die aber durch die Definition der Systemgrenze verschwinden, wenn wir lediglich den Brennwert der Jagdbeute zählen. U m dieser Tatsache gerecht zu werden, sollten wir in der Analyse vergangener Gesellschaften zusätzlich zu den „kontrollierten" oder „kolonisierten" Funktionsbereichen, die mit den gängigen Methoden der Materialflußanalyse erfaßt werden, auch lediglich „affizierte" Bereiche berücksichtigen. Hierbei spielt dann auch die Dimension der Bevölkerungsdichte eine Rolle. Die historische Tendenz der Agrargesellschaften ging in Richtung einer Zunahme der Kontrolle der Biomasseproduktion. Dieser Prozeß konnte mit einer steigenden Bevölkerung pro Flächeneinheit einhergehen. Am logischen Ende dieses Trends stünde die völlige Monopolisierung der Nettobiomasseproduktion durch den Menschen, auf niedrigstem trophischen Niveau der Ernährung, also ohne fleischliche Nahrung und unter Verzicht auf animalische Konversion. Eine solche vegetarische, hortikulturalistische Gesellschaft (die in manchem an Tendenzen der chinesischen Gesellschaft erinnert), hätte die höchstmögliche Energieeffizienz, die höchstmögliche Kontrolltiefe der Kolonisierung - und zugleich einen direkten Energieumsatz pro Person, der wegen der maximalen Ausweitung der Systemgrenze deutlich über der Jägergesellschaft oder der Brandrodungswirtschaft liegt. Wir müssen daher nicht nur den Pro-Kopf-Umsatz von Energie berücksichtigen, sondern auch den Energieumsatz pro Flächeneinheit, um zu einem realistischen Bild zu kommen. Vergleichbare Definitionsprobleme treten auch auf, wenn wir den energetischen Metabolismus der neuzeitlichen europäischen Agrargesellschaften, wie ihn Malanima (2001) ausführlich beschrieben hat, etwas näher betrachten. 14 Der erweiterte Metabolismus setzt sich in seinem Modell aus Nahrung (Endenergie), Brennstoffen und dem Anteil an animalischer Konversion zusammen. Sonstige Verwendungen von Biomasse werden ebenso ignoriert wie der Primärenergieeinsatz bei der Nahrung. In Anlehnung an Braudel vermutet Malanima, daß im 18. Jahrhundert auf vier Menschen ein Zugtier kam, das täglich Futter mit einem Brennwert von 60100 MJ, im Schnitt 80 MJ benötigte. Pro Kopf wäre das ein Brennwert von 20 MJ/d oder 7,3 GJ/P.a, wobei allerdings beträchtliche regionale Unterschiede bestanden. So konnten in Nordeuropa wegen der Niederschläge im Sommer
14 Malanima benutzt veraltete Dimensionen wie kcal, PS etc., die hier in aktuelle Dimensionen umgerechnet werden (1 cal = 4,187 J, 1 PS = 700 W).
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Solarenergiebasierte Landwirtschaft
(Wiesen, Weiden) mehr Tiere gehalten werden als im Süden. Daten zu Österreich zeigen, daß Malanima eher großzügig, im wesentlichen aber korrekt rechnet: Um 1800 wurden auf dem Gebiet des heutigen Osterreich etwa 628.000 Stück Zugtiere (Ochsen und Pferde) gehalten, womit auf 5,5-6 Menschen ein Stück käme. Ihr Futterverbrauch lag bei ca. 2,1 t Trockenmasse pro Tier, das sind 38 GJ/Stück und Jahr und entspricht 100 MJ/d. Wir kämen damit rechnerisch auf 16-18 MJ/ d pro Mensch, was geringfügig unter den Daten von Malanima liegt. Beim Brennstoffbedarf von Haushalten gab es wieder beträchtliche regionale Unterschiede. Der Verbrauch von Holz lag zwischen 1 kg (Italien), 4 kg (Mitteleuropa) und 8 kg (Skandinavien) pro Tag und Person (ohne gewerbliche Verwendung). Wenn man für 1 kg Holz einen Brennwert von 14 MJ zugrunde legt (er hängt vom Wassergehalt des Holzes ab), lag der Bedarf in Europa zwischen 14 und 112 MJ pro Person und Tag oder 5-40 GJ/P.a. Malanima ignoriert allerdings die gewerbliche Nutzung von Holz. Sie flächendeckend einzuschätzen, ist außerordentlich schwierig. Wenn wir davon ausgehen, daß in Österreich im frühen 19. Jahrhundert 20—40% des Brennholzes vom gewerblichen Sektor verbraucht wurden, können wir die Pro-Kopf-Werte um bis zu 50 % erhöhen. Man kann auch eine überschlägige Näherung versuchen, die einzelne Gewerbezweige näher betrachtet. Im 18. Jahrhundert wurden in Europa grob geschätzt pro Kopf der Bevölkerung etwa 2 kg Eisen im Jahr produziert. In England benötigte man für die Herstellung von 1 t Schmiedeeisen 50 m 3 Holz (Hammersley 1973), das wären pro Kopf und Jahr 0,1 m 3 Holz. Wenn 1 m 3 Holz einen Brennwert von 9 GJ hat, wären dies also 0,9 GJ/P.a, die anteilig auf die Eisenproduktion zurückgehen. Setzt man für weitere energieintensive Gewerbe wie Glasherstellung, Kalk- und Ziegelbrennen, Salzsieden etc. einen Faktor 10 an, so kämen wir insgesamt auf 8-10 GJ/P.a. Bei der menschlichen Nahrung schließlich nimmt Malanima lediglich die Werte für den basalen Metabolismus, also 8-16 MJ/P.d bzw. 3 , 5 ^ GJ/P.a. Dabei wird jedoch das Problem der trophischen Ebenen und des Primärenergieeinsatzes nicht gesehen. Der niedrige Wert von 3,5—4 GJ/P.a impliziert nicht nur völlig vegetarische Ernährung, sondern auch, daß die gesamte nutzbare Biomasse tatsächlich verzehrt wurde, inklusive der Wurzeln, Stengel etc., was natürlich abwegig ist. Wir wissen, daß in reifen Agrargesellschaften der Anteil fleischlicher Nahrung für die Masse der Bevölkerung im Zuge des Bevölkerungswachstums drastisch zurückging (Montanari 1993). Im 14. Jahrhundert wurden in Europa etwa 100 kg Fleisch pro Kopf im Jahr verzehrt. Im 18. Jahrhundert waren es nur noch etwa 15-20 kg. Dies bedeutet aber, daß der Umsatz der Nahrungsenergie sich im Laufe der Zeit dramatisch verringert hat, was durch den Aufschwung der gewerblicher Nachfrage nach Brennstoffen wahrscheinlich kaum kompensiert wurde. Zur Nutzung der Biokonverter muß schließlich noch die mechanische Konversion von Energie hinzugezählt werden. Eine Wassermühle hatte eine Leistung
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Energieflüsse und Stoffkreisläufe
von etwa 3,5 kW (= 5 PS). Bei 8 Stunden Betriebsdauer sind dies 28 kWh oder 100 MJ/d. Auf 250 Personen kam im Schnitt eine Mühle, also pro Person 0,4 M J / d. Außerdem ist noch die Windenergie zu berücksichtigen, deren Umfang schwer quantifizierbar ist. Es handelt sich hierbei um die Nutzung von Windmühlen, vor allem aber von Segelschiffen. Malanima setzt nur 0,1 MJ/P.d an, was wohl realistisch ist. Der Beitrag der mechanische Energiekonversion lag also pro Kopf bei etwa 0,5 MJ/d. Aus diesen Daten läßt sich die folgende Übersicht erstellen. Tab. 2.3: Energieumsatz im Europa des 18. Jahrhunderts Verwendungszweck
Energieumsatz MJ pro Tag und Person
Futter für Zugtiere
20
Nahrung (vegetarisch)
5-10, 0 8
Nahrung (fleischlich)
1-40, 0 20
Brennstoffe (Haushalt)
15-120, 0 70
Brennstoffe (Gewerbe)
10
Wasser und Wind Summe
0,5 50-200, 0 130 (= 18-73 GJ/P.a, 0 47)
Damit läge also der agrargesellschaftliche Energiebedarf pro Kopf (inklusive gewerblicher Nutzung) zwischen 18 und 73 GJ/P.a, also um den Faktor 5 - 2 0 über dem basalen Metabolismus von 3,5 GJ/P.a. Diese Zahlen liegen in der Nähe der Werte von Simmons (1989), der mit 73 GJ/P.a rechnet, und Fischer-Kowalski und Haberl (1997), die von 65 GJ/P.a ausgehen. Diese Werte werden auch von den empirischen Ergebnissen, die in diesem Band präsentiert werden, bestätigt (vgl. Kapitel 3 . 4 und 6). Auch wenn nicht anzunehmen ist, daß es Gesellschaften gab, deren Energienutzung konsistent in allen Bereichen nahe den jeweiligen oberen oder unteren Extremwerten lag, wird doch deutlich, daß die Streuung weitaus größer war, als die genannten Autoren vermuten, und dies gilt umso mehr, wenn man dies mit den affizierten Bereichen von Jäger- und Sammlergesellschaften vergleicht, deren Pro-Kopf-Werte mindestens die gleiche Größenordnung besitzen. Malanimas Höchstwert liegt unter den Werten der anderen Autoren, was darauf zurückzuführen ist, daß er die gewerbliche Nutzung ignoriert und nicht den gesamten Biomasse-Input der agrarischen Ökonomie, sondern nur die landwirtschaftliche Endenergie in Form von Nahrung und Futter für Zugtiere berücksichtigt. Die hier vorgestellten überschlägigen Berechnungen kommen zu dem Ergebnis, daß wir nicht davon ausgehen können, daß die Energieverwendung pro Kopf der Bevölkerung im Zuge der landwirtschaftlichen Entwicklung zugenommen hat, im Gegenteil: Es ist zu vermuten, daß eine wachsende Effizienzverbesserung
32
Solarenergiebasierte Landwirtschaft
zu einer Zunahme der Flächenproduktivität geführt hat. In Kombination mit einem Rückgang fleischlicher Nahrung wäre also der Metabolismus pro Kopf bezogen auf die Primärenergie gesunken, was auch von einem wachsenden gewerblichen Verbrauch von Energieträgern nicht überkompensiert worden wäre. Umgekehrt bedeutet dies aber bei einer wachsenden Bevölkerung, daß der aggregierte Energieumsatz zugenommen hat, was sich vor allem in einem gestiegenem Energieumsatz pro Flächeneinheit zeigt.
2.3. Grundeigenschaften von Agrargesellschaften Das solarenergiebasierte Wirtschaftssystem der Agrargesellschaften war flächengebunden. In diesem System war die einzige mögliche Form der Bereitstellung speicherfähiger Energie die Landwirtschaft, die einen Nettoenergiegewinn in Form von Biomasse erwirtschaften mußte, um Nahrung und gewerbliche Rohstoffe bereitstellen zu können. Aus dem Charakter des solarenergetischen Regimes lassen sich einige Grundeigenschaften von Agrargesellschaften ableiten. Zunächst einmal waren sie prinzipiell energetisch nachhaltig, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es keine größeren Energiebestände gab, die sie hätten verzehren können. Die wichtigsten landwirtschaftlichen Nutzpflanzen waren einjährig, bildeten also nach der Ernte einen Energievorrat, der die (nutzbare) Photosyntheseleistung eines Jahres umfaßte. Tiere wurden etwas älter, aber kaum mehr als 20 Jahre. Wasser und Wind mußten in dem Moment genutzt werden, da sie verfügbar waren. Hier gab es praktisch keine Speichermöglichkeiten. Der größte Energiespeicher, über den Agrargesellschaften verfügten, war der Wald. Er konnte als Urwald ein Alter von bis zu 300 Jahren haben. Ein agrarisch genutzter Wald dagegen war im Schnitt nur etwa 50 Jahre alt. Er ist nicht als ein zu verbrauchender Bestand, sondern als Energiepuffer anzusehen. Tab. 2.4: Energiebestände in Agrargesellschaften Bestand
gespeicherte Energie (in Jahren)
Urwald bewirtschafteter Wald
50-80
300
Niederwald (Brennholz)
10-20
Großvieh (Pferde, Rinder)
10-20
Kleinvieh (Schweine, Schafe)
2-5
Geflügel
1-2
Getreide
1-2
Obst, Gemüse Wassermühle (Damm) Wind (Segelschiff, Windmühle)
1 1 Tag kein Speicher
Grundeigenschaften von Agrargesellschaften
33
Eine wichtige Eigenschaft des agrarischen Solarenergiesystems wird aus diesen geringen Beständen erkennbar: Die Menschen schalteten sich in Flüsse ein, da sie keine Bestände verbrauchen konnten. Diese Flüsse waren jedoch klein, so daß Energie grundsätzlich knapp war. Wenn aber Energie knapp ist, dann ist alles knapp. Agrargesellschaften waren daher immer von Mangel und Armut geprägt (Wrigley 1992). Wenn man als Kern der agrarischen Produktionsweise das flächenbasierte Solarenergiesystem begreift, wird deutlich, daß einzelne Elemente dieses Systems wie etwa der Wald als konkurrierende Nutzungsformen von Flächen angesehen werden müssen. Behält man diesen Zusammenhang im Auge, wird verständlich, was mit dem Topos der vorindustriellen „Holzknappheit" gemeint sein kann: Holzfällen „zerstört" im gleichen Sinne den Wald, wie die Getreideernte ein Weizenfeld zerstört, d. h. Holz war in der Agrargesellschaft prinzipiell so knapp wie das Produkt jeder anderen Form der Flächennutzung auch. Allerdings bestand ein wichtiger Unterschied darin, daß zur Produktion von Holz weit weniger Arbeit aufgewendet werden mußte als zur Produktion von Getreide. Daher konnte der Eindruck entstehen, Holz sei ein freies Gut, das nur geerntet, nicht aber gepflanzt werden mußte. Betrachtet man aber die gesamte Struktur der agrarischen Produktionsweise, so wird deutlich, daß Holz kein Bestand war, der (wie etwa ein Vorkommen von Erzen) erschöpflich war, sondern daß es sich beim Wald um eine Flächennutzungsform handelte, deren Opportunitätskosten von alternativen Nutzungsformen dieser Fläche bestimmt wurden. Die Strahlen der Sonne treffen über größere Flächen verteilt auf der Erde ein. Solarenergiesysteme gehen daher von einer geringen Energiedichte aus. Sie müssen Sonnenenergie erst konzentrieren, um sie nutzen zu können, und dafür muß Energie aufgewandt werden. Zu diesem Zweck waren in den solarenergiebasierten Agrargesellschaften umfangreiche Anstrengungen und Investitionen erforderlich. Wenn fließendes Wasser genutzt werden sollte, mußten häufig Staudämme angelegt werden, die Land überfluteten und zu deren Errichtung große Mengen an Erde bewegt werden mußten. Vor allem war aber in der Landwirtschaft zur Einbringung sowie zur Beförderung der Ernte zu den Konsumenten ein hoher Transportaufwand erforderlich. Wenn ein Transportgut wie Getreide oder Holz als Energieträger verstanden wird, so liegt es auf der Hand, daß der Energieaufwand beim Transport auf Dauer nicht höher sein darf als der Energiegehalt des transportierten Guts. Prinzipiell mußte der energetische Erntefaktor beim Transport positiv sein, was bedeutete, daß die Wege nicht zu lang sein durften. Dies hatte zur Konsequenz, daß sich Agrargesellschaften immer über eine weite Fläche verteilten. Größere Konzentrationen der Bevölkerung oder des Gewerbes bildeten die Ausnahme und konnten nur auf Grundlage entsprechender Machtverhältnisse alimentiert werden. Die Transportkosten waren in Agrargesellschaften grundsätzlich sehr hoch, vor allem beim Uberlandtransport. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele und auch
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Solarenergiebasierte Landwirtschaft
Berechnungen. Laut Diokletians Preisedikt kostete die gleiche Entfernungseinheit beim Transport über einen Fluß das Fünffache des Seewegs, und auf dem Landweg sogar das 28-56fache (Mann 1990,226). Braudel (1986, III, 652) gibt die folgende Schätzung für das Verhältnis der Transportkosten auf unterschiedlichen Medien im 18. Jahrhundert: Medium Seeweg Kanal Fuhrwerk Lasttiere
Faktor 1 3 9 27
Die Kosten verdreifachten sich also jeweils. Anfang des 19. Jahrhunderts kostete der Transport von einer Tonne Nutzlast auf dem Landweg über eine Entfernung von 50 km ebenso viel wie über den Atlantik. Bairoch (1993, 60) mißt die Transportkosten in Getreideeinheiten. Er kommt zu dem Ergebnis, daß im 18. Jahrhundert bei Uberlandtransport eines Guts mit dem Gewicht von einer Tonne über 1 km Kosten in der Höhe von 3,9 kg Getreide entstanden. Uber einen Fluß oder Kanal waren es 0,9 kg, über das Meer 0,3-0,4 kg. Wenn wir diese Kostenrelationen auf den Transport von Holz anwenden, wird deutlich, wie prohibitiv hoch die Transportkosten waren. Eine Tonne Holz kostete im 18. Jahrhundert etwa so viel wie 10 kg Getreide. Beim Transport von einer Tonne Holz über eine Entfernung von 1 km ergibt sich eine Preissteigerung von 40 % über den Landweg, von 10 % über ein fließendes Gewässer und von 4 % über den Seeweg. Eine wichtige Konsequenz dieser enormen Transportkosten ist die Tatsache, daß für Agrargesellschaften Durchschnittswerte größerer Räume irrelevant waren, was sich auch darin ausdrückt, daß sie keine Tendenz zur räumlichen Homogenisierung entwickeln konnten. Agrargesellschaften bildeten gewissermaßen ein Archipel mit relativ geringem physischem Austausch zwischen den einzelnen „Knappheitsinseln", so daß grundsätzlich mit großen Differenzen zwischen einzelnen Regionen zu rechnen ist, was nicht nur in kulturell-stilistischer, sondern auch in ökonomischer und technischer Hinsicht gilt. Das Agrarsystem war als Solarenergiesystem, das auf der Nutzung konstanter Flüsse beruhte, prinzipiell negativ rückgekoppelt, d. h. jedes aktuelle Wachstum untergrub das Potential künftigen Wachstums, so daß sich die agrarische Ökonomie zwangsläufig einer Grenze näherte. Dauerhaften Fortschritt oder spürbares „Wirtschaftswachstum" gab es nicht, doch konnte sich das Niveau des Reichtums asymptotisch einer elastischen stationären Obergrenze annähern. Diese Logik des Agrarsystems wurde von den klassischen Ökonomen (Adam Smith, David Ricardo, John Stuart Mill) mit dem Konzept der stationären Zustands auf den
Grundeigenschaften von Agrargesellschaften
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Begriff gebracht. 15 Was Elvin (1988) in Bezug auf China als „high-level equilibrium trap" bezeichnet hat, war das Schicksal aller Agrargesellschaften, in denen zwei ökonomische Grundprinzipien galten: 1. Das Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag in der Agrarproduktion, wonach ab einem bestimmten Schwellenwert die Investition einer weiteren Einheit von Arbeit eine geringere Ertragseinheit produziert. D a dies aus dem Charakter des Solarenergiesystems als Management gegebener Flüsse folgt, hatte es den Charakter eines Naturgesetzes. Es konnte nur (durch technischen Fortschritt) zeitweilig suspendiert, nicht jedoch völlig außer Kraft gesetzt werden. 2. Das Bevölkerungsgesetz, wonach bessere Subsistenzchancen die Zahl der Konsumenten erhöhen und damit selbstdestruktiv sind. Dies setzte allerdings einen mechanischen Zusammenhang zwischen Nahrung und Bevölkerung voraus, der jedoch im Prinzip kulturell zur Disposition stand, also von den Menschen über Maßnahmen der Fertilitätskontrolle beeinflußt werden konnte. Agrargesellschaften konnten nicht auf Dauer wirtschaftlich wachsen. Es war schon ein Erfolg, wenn eine zunehmende Bevölkerung längerfristig ernährt werden konnte. Es ist aber fraglich, ob und wie lange es zu einer nachhaltigen Steigerung des materiellen Lebensstandards der gesamten agrarischen Bevölkerung kommen konnte. Außer Frage dürfte allerdings stehen, daß sich die Situation für die agrargesellschaftlichen Oberschichten im Laufe der Zeit verbessert hat. Ein französischer Aristokrat des 18. Jahrhunderts hatte zweifellos einen höheren Lebensstandard als ein fränkischer Baron tausend Jahre zuvor. O b dies auch für die Bauern gilt, kann jedoch bezweifelt werden. Aber selbst wenn sich der Pro-KopfUmsatz von Energie und Materialien im Zuge der landwirtschaftlichen Entwicklung auch für die Unterschichten erhöht haben sollte, blieb er doch auf einem so niedrigen Niveau und besaß eine so geringe Dynamik, daß man von „Wachstum" als Systemeigenschaft nicht sprechen kann. Agrargesellschaften kannten zwar kein kontinuierliches Wirtschaftswachtum im heutigen Sinne, doch waren sie durchaus zur innovatorischen Dynamik fähig. Sie waren sogar auf permanente Innovationen angewiesen, da sie immer in Auseinandersetzung mit variablen Naturkräften standen. Das agrarische Ökosystem befand sich nicht in einem harmonischen „Gleichgewicht", sondern Bauern hatten es immer wieder mit dem Auftritt neuartiger Faktoren zu tun, etwa neuer Schädlinge und neuer Pflanzenkrankheiten. Die agrarische Kolonisierung der Natur erzeugte keinen stabilen Endzustand, sondern setzte koevolutionäre Prozesse in Gang, die nicht unbedingt günstig und symbiotisch verlaufen mußten.
15 Vgl. Wrigley 1994; Sieferle 2001, 191 -196.
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Solarenergiebasierte Landwirtschaft
Auch der gewerbliche Sektor war darauf angewiesen, daß es eine kontinuierliche Dynamik gab. Dies lag daran, daß er bei dem Zugriff auf mineralische Rohstoffe mit abnehmenden Grenzerträgen, Erschöpfung der Lagerstätten, Verlängerung der Transportwege etc. rechnen mußte, was mit technischen Innovationen zu kompensieren war. Die beschränkten Kommunikationssysteme erschwerten aber die Diffusion neuer Entwicklungen, so daß häufig buchstäblich das Rad zweimal erfunden werden mußte. Das städtisch-handwerkliche Gewerbe war zwar in der Regel zu Innovationen fähig, und die Geschichte der agrarischen Zivilisationen durchzieht eine Kette von neuen Techniken wie ein roter Faden - doch waren noch keine Verfahren zur gezielten Entwicklung von neuer Technologie verfügbar, wie sie dann im Kontext der Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden. Die agrargesellschaftliche Grundstrategie einer Kolonisierung der Natur drückte sich prinzipiell darin aus, daß große Artefaktbereiche angelegt und unterhalten werden mußten. Agrargesellschaften verfügten immer über beträchtliche Bestände (Bauten, Geräte, gespeicherte NahrungsVorräte). Dies führte aber nicht nur zu internen Konflikten zwischen den Bauern, was einen neuen institutionellen Regelungsbedarf schuf. Die Bestände lockten auch Beutesucher an, aus deren Perspektive es sich hierbei um einen Uberschuß handelte, den es abzuschöpfen galt. Dieses soziale Prädatorentum provozierte als Antwort eine Abwehr mit militärischen Mitteln, was schließlich dazu führte, daß soziale Schichtung und Ungleichheit in sämtlichen agrarischen Zivilisationen auftraten und sich stabilisierten (vgl. etwa Sanderson 1995). Bei dieser sozialen Schichtung sind Surplusaneignung (Ausbeutung) und die Gewährung von Dienstleistungen (Schutz) nur schwer voneinander zu trennen. Die sozialökonomische Basis der agrarischen Zivilisationen lag in der tributären Aneignung von Surplus. Dies bedeutete, daß die Produzenten (Bauern) einen Teil der Ernte regelmäßig als Rente, Tribut oder Steuer abgeben mußten, wovon eine „herrschende Klasse" mit ihrem Anhang von Spezialisten und Bediensteten ernährt und versorgt wurde. Wenn etwa 80 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt waren, so mußten die übrigen 20 % von dem ernährt werden, was die Bauern produzierten. Da die Ernährungslage der Oberschichten besser war als die der Bauern (höherer Fleischanteil an der Nahrung), kann geschätzt werden, daß 30-35 % der Gesamtproduktion als Surplus abgeschöpft wurden. Von 100 % der Gesamtproduktion verzehrten also 80 % der Bevölkerung einen Anteil von höchstens 65 % und 20 % der Bevölkerung einen Anteil von 3 5 % . Da die witterungsbedingte Schwankungsbreite der Ernteerträge bei etwa 25 % lag,16 befand sie sich im Bereich des Surplus, was unter den gegebenen
16 Hierbei ist die Größe des betrachteten Raums ausschlaggebend: Je größer der Raum, desto geringer die summierte Schwankung.
Grundeigenschaften von Agrargesellschaften
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sozialen Bedingungen bedeutete, daß Ernteschwankungen rasch zu Hungersnöten führten, da die Surplusabschöpfung relativ unelastisch war. 17 Voraussetzungen für die institutionelle Verfestigung der agrarischen Zivilisationen zu einem „Staat", der seinen Untertanen mit Zwangsgewalt entgegentreten konnte, waren die vergleichsweise niedrige Komplexität sowie die hohe Resilienz der dezentralen agrarischen Produktion. Die geringe Störungsanfälligkeit des Agrarsystems, das auf (im Verhältnis zur Industriegesellschaft) relativ geringfügigen materiellen Investitionen beruhte, führte dazu, daß Plünderung mit recht geringen Kollateralschäden möglich war - im Gegensatz zur Industriegesellschaft, in der dauerhafte Plünderung in kurzer Zeit das System völlig zerstören würde. Diese Prämierung der Plünderung erzeugte das für agrarische Zivilisationen typische und in ihnen weitverbreitete Ubergewicht der Politik vor der Ökonomie: Es war leichter, durch Anwendung von Zwang und Gewalt reich und mächtig zu werden als durch Arbeit und andere Wirtschaftsleistungen, so daß Gewaltspezialisten (adlige Krieger) fast immer einen höheren sozialen Rang hatten als Produzenten (Bauern, Handwerker) oder Händler. Eine solche soziale Schichtung, die sich in allen komplexen Agrargesellschaften findet, bildete eine starre Belastung der Ökonomie, die die Anpassungsmöglichkeiten der Bevölkerung an Umweltschwankungen eher reduzierte. Es war dies eine wichtige politisch-institutionelle Grenze, die neben die sozialmetabolische Schranke trat und deren Überwindung für die industrielle Transformation entscheidend wurde. Zu den Charakteristika des Agrarsystems kommt somit als weiterer beschränkender Faktor die permanente Störung der Produktion durch die Plünderung, 18 die in dem Maße zunehmen konnte, wie der Reichtum wuchs, womit ein weiterer Zuwachs von Reichtum begrenzt wurde. Dies bedeutet umgekehrt, daß eine hohe evolutionäre Prämie darauf lag, Methoden zur institutionellen Stabilisierung und zur Friedenssicherung zu entwickeln: Ein wesentliches Element zur Legitimierung staatlicher Ordnungen lag in eben dieser Sicherungsleistung, was sich auch darin ausdrückte, daß die relativen Verlustraten gewaltsamer Konflikte in einfachen bäuerlichen Gesellschaften deutlich über denen in komplexen agrarischen Zivilisationen lagen (Keeley 1996). Grundsätzlich gilt also, daß ein gemeinsames Muster der agrarischen Zivilisationen existierte, das mit den Systemeigenschaften der agrarischen Produktion sowie der sozialen Organisationsform komplexer Gesellschaften zusammenhängt. Agrargesellschaften unterschieden sich von Jäger- und Sammlergesell-
17 In einzelnen agrarischen Zivilisationen wie Ägypten oder China bestand ein gegenläufiger Effekt darin, daß von den Herrschenden zentrale Nahrungsvorräte für Notfälle angelegt wurden. 18 Ernest Gellner hat dies in dem Wortspiel „prédation" vs. „production" ausgedrückt.
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Trajektorien der Landwirtschaft
Schäften sowie dem Gesellschaftstypus, der heute „modern" genannt wird, durch eine Reihe von Merkmalen, die wie folgt zusammengefaßt werden können: -
-
-
Ihre materiellen Lebensprozesse beruhten primär auf der Kontrolle von Pflanzen und Tieren sowie von deren Lebensbedingungen. Ihre physische Reichweite wurde von den Restriktionen des Solarenergiesystems bestimmt und begrenzt, weshalb sie immer zu einem stationären Zustand tendierten. Sie waren unkontrollierbaren Naturprozessen ausgesetzt (Seuchen, Klimaextreme), was eine demographische Stabilisierung erschwerte. Sie produzierten einen materiellen Surplus, was zur inneren wie äußeren Abschöpfung, von Tribut bis hin zur Plünderung, einlud und die Entwicklung entsprechender Institutionen prämierte. Sie waren prinzipiell dezentral organisiert, d. h. sofern eine politische Machtzentrale existierte, hatte sie (im Vergleich zur „modernen" Gesellschaft) eine geringe Regelungsintensität und Durchgriffsstärke.
2.4. Trajektorien der nordwesteuropäischen Landwirtschaft Bei einer vergleichenden Betrachtung agrarischer Zivilisationen fallen zahlreiche Unterschiede zwischen ihnen auf. Dies kommt daher, daß Agrargesellschaften weit stärker als die Industriegesellschaft von konkreten Umweltbedingungen abhingen, also vom jeweiligen Boden, dem Klima, den verfügbaren Organismen, dem geomorphischen Profil etc. Dies war ein Grund für ihre enorme Vielfalt, die sich ζ. T. aus adaptiven Anforderungen ergab. Die Industriegesellschaft ist demgegenüber tendenziell ubiquitär, da sie ihre Standortbedingungen weitgehend selbst erzeugen kann: Ein Automobilwerk in Shanghai unterscheidet sich weniger von einem Automobilwerk in Wolfsburg als der chinesische Naßreisanbau von der europäischen Dreifelderwirtschaft. Für die Betrachtung von Agrargesellschaften folgt daraus eine analytische Schwierigkeit. Sobald man ihre generellen Systembedingungen umrissen hat (Solarenergie, Dezentralität, Boden, Bestände und Flüsse, Energiedichte, Nährstoffzyklus etc.), muß man sich auf konkretere Umstände einlassen, sowohl was die Produktionsbedingungen betrifft, als auch die sozial-politischen Strukturen, die ein größeres autopoietisches Potential besitzen. Dies erschwert die Formulierung einer Theorie der Agrargesellschaft, die für alle Gesellschaften dieses Typs gilt, was wiederum deskriptive Verfahren plausibel macht. Die Nicht-Universalität der agrarischen Rahmenbedingungen führt notwendigerweise dazu, daß eine universelle Theorie dieser Gesellschaften einen gewissen Abstraktionsgrad nicht unterschreiten kann. Die generelle Rede von „der Agrargesellschaft" wird also recht bald problematisch und man muß daran gehen, spezielle Eigenschaften und Entwicklungs-
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potentiale zu unterscheiden. Dies wird wichtig, wenn unterschiedliche Typen der Produktivitätssteigerung betrachtet werden, deren Verfolgung zu unterschiedlichen Entwicklungen führt. Einmal gewählte Pfade können nämlich kaum mehr verlassen werden. Zwei Grundstrategien lassen sich hierbei unterscheiden: 1. Steigerung der Flächenproduktivität bei verstärktem Arbeitseinsatz. Hier handelt es sich um den Versuch, von einer gegebenen Fläche einen immer größeren Ertrag zu gewinnen. In Agrargesellschaften geht eine solche landwirtschaftliche Effizienzsteigerung in der Regel mit einer Steigerung des Arbeitsaufwands einher, d.h. eine Intensivierung führt zur Zunahme der Flächenproduktivität bei Abnahme der Arbeitsproduktivität. Man kann dies als Pfad der Hortikulturalisierung bezeichnen. Im Extremfall kann dies dazu führen, daß der Einsatz von Arbeitstieren zurückgeht und die Hacke den Pflug wieder ablöst. Diese Trajektorie weist also nicht in Richtung Mechanisierung bzw. Industrialisierung, wohl aber kann sie zu einem recht stabilen Zustand führen, in dem eine große Bevölkerung ernährt werden kann. Der klassische Fall hierfür ist China. 2. Steigerung der Arbeitsproduktivität und Mechanisierung. Diese Strategie zielt darauf, den Arbeitseinsatz bei der Gewinnung landwirtschaftlicher Produkte zu verringern, so daß pro Arbeitseinheit ein größerer Ertrag anfällt. Hier handelt es sich also um eine Extensivierung der Produktion, die mit zwei Tendenzen zusammengehen kann: technischem Fortschritt und Vergrößerung der Anbaufläche. Letzteres ist in alten Agrargesellschaften kaum möglich, da sie über keine größeren Flächenreserven verfügen. Bei einer neuen Landnahme kann aber gerade darin eine wichtige Strategie liegen, und eben dies war bei der Besiedlung Amerikas durch europäische Bauern der Fall. Der Pfad einer Mechanisierung der Landwirtschaft wurde daher exemplarisch in den U S A seit dem 19. Jahrhundert eingeschlagen, doch gab es Ansätze dazu auch in Europa (Niederlande, England). Mitterauer (2001) hat ein Erklärungsmodell dafür vorgelegt, wie und weshalb sich in China, im arabischen Raum und im nördlichen Europa im frühen Mittelalter jeweils unterschiedliche agrarische Muster ausgeprägt haben, was dazu führte, daß sich unterscheidbare Zivilisationen bildeten, die dann über längere Zeiträume hinweg innerhalb ihres generellen Rahmens geblieben sind. Dies ist im Fall der arabischen und der (süd-)europäischen Welt insofern bemerkenswert, als beide in kultureller Hinsicht auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen, die hellenistisch-römische Zivilisation, die sich nach Südosten bzw. Nordwesten verlagerte, wobei recht gegensätzliche Kulturen entstanden sind, nicht nur in symbolischer, sondern auch in materieller Hinsicht. Im mediterranen und kleinasiatischen Raum hat die Transhumanz angesichts der klimatischen Bedingungen eine große Bedeutung gewonnen. Hackfrüchte spielten eine größere Rolle als der Feldbau, und die Baumkultur (Früchte, Ol) lie-
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ferte einen hohen Anteil an der Nahrung. Auch der Wein war als Kalorienlieferant nicht zu unterschätzen. Die wichtigste agrartechnische Einrichtung waren Bewässerungsanlagen. Schließlich wurde im südlichen und östlichen Mittelmeerraum der antike Wagen bereits in den Jahrhunderten nach der Zeitenwende zugunsten des Maultiers bzw. des Kamels als Packtier wieder aufgegeben, weil letztere mit einer viel einfacheren Transportinfrastruktur auskommen. 19 Im südlichen China entwickelte sich in den letzten 1.500 Jahren der Naßreisanbau. Zuvor waren im Norden Weizen und Hirse kultiviert worden, seit der Han-Zeit setzte sich dann aber vom Süden ausgehend der Naßreisanbau durch und verbreitete sich durch künstliche Bewässerung in Gebieten, in denen auch Weizen oder Hirse kultiviert werden konnten. Naßreis ist eine spezielle Züchtung, die für warme und feuchte Gebiete mit guten Böden sehr gut geeignet ist und mehr als zwei Ernten im Jahr ermöglicht. Es wurden komplexe Anbaumethoden entwickelt, die es erlaubten, die Ernte bei gegebener Fläche zu steigern, jedoch um den Preis eines überproportionalen Anstiegs der Arbeitsbelastung. Die gesamte Fläche mußte zweimal im Jahr bearbeitet werden, hinzu kam das sehr aufwendige Umsetzen der jungen Pflanzen vom Saatbeet auf das Feld. Man konnte auf diese Weise zwar mehr Menschen ernähren, doch mußten die einzelnen weitaus intensiver arbeiten. Aussaat, Umpflanzen, Jäten, vor allem auch Düngung (mit menschlichen Exkrementen aus der Stadt sowie Olpreßrückständen) und der Unterhalt des Bewässerungssystems (Dämme, Pumpen) erforderten einen gewaltigen Aufwand. Die Landwirtschaft wurde tendenziell hortikulturalisiert, die Bevölkerungsdichte stieg, ebenso nahmen die Erträge pro Flächeneinheit zu - wir haben also den klassischen Fall einer Steigerung der Flächenproduktivität bei gleichzeitigem Fall der Arbeitsproduktivität vor uns. Während in Frankreich im 18. Jahrhundert von einem Hektar 500 kg Getreide geerntet wurden, waren es in China 3 t ungeschälter bzw. 2,1 t geschälter Reis. 20 In den begünstigten Intensivlandwirtschaftsgebieten Chinas konnten also rund viermal so viele Menschen von einer gegebenen Fläche ernährt werden wie in Europa, allerdings um den Preis eines enormen, nicht mechanisierbaren Arbeitsbedarfs. Es handelte sich um komplexe Handarbeit, die von einfachen mechanischen Verfahren nicht ohne weiteres abgelöst werden konnte. 21 Von daher ist es verständlich, daß unter diesen Bedingungen der Anteil der Arbeitstiere zurückging, wenig Gerät eingesetzt werden konnte und kaum Anreiz zum technischen Fortschritt bestand, da die Effizienzschwelle zu hoch war.
19 Bulliet 1975; Laiou 2002; Weintritt 2004. 20 Umfangreichere Daten zur chinesischen Landwirtschaft finden sich bei Helbling 2003. 21 „Growing rice is a matter of meticulous cultivation that requires constant attention of skilled human labour and not brute, repetitive, mechanical force". Vries 2003, 48.
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Naßreisanbau hat viel mit Weinbau oder Obstanbau gemein, wo die Mechanisierung erst sehr spät, erst unter industriellen Bedingungen einsetzen konnte und wo keinerlei Skaleneffekte existierten, sondern Kleinbetriebe begünstigt wurden. Es handelte sich um einen Typus der flächen-, arbeits- und ressourcenintensiven Landwirtschaft, der sich fundamental von der flächen- und resourcenextensiven, aber energieintensiven Getreidelandwirtschaft des nördlichen Europa unterscheidet. Der Landwirtschaftstypus, der sich seit dem Mittelalter im nordwestlichen Europa entwickelte, beruhte dagegen auf völlig anderen ökologischen und technisch-ökonomischen Grundlagen. Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen saisonaler und Dauerlandwirtschaft (Hesse 1996). Die saisonale Landwirtschaft besitzt Engpässe, die auf regelmäßige jahreszeitliche Schwankungen der Temperatur oder der Niederschläge zurückgehen. Unregelmäßigen Niederschlägen kann man mit künstlicher Bewässerung begegnen, was allerdings mit einem hohen Aufwand verbunden ist. Wenn die Vegetationsperiode dagegen durch starke Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter beschränkt ist, können sich die Bauern an diese Situation nur passiv anpassen. Grundsätzlich ist hier zu erwarten, daß die Erträge pro Flächeneinheit geringer sind als bei Dauerlandwirtschaft oder bei künstlicher Bewässerung, da nur eine Ernte im Jahr möglich ist. Dies kann ein Grund dafür sein, daß im nordwestlichen Europa der Übergang zu einer agrarischen Zivilisation so spät stattgefunden hat. Die neolithische Revolution als solche hat in Europa etwa zur gleichen Zeit eingesetzt wie in anderen Landwirtschaftszonen (Lüning 2000), doch hat sich hier zunächst ein Typus der extensiven Schwendkultur stabilisiert, deren Erträge lange Zeit nicht ausreichten, den parasitären Apparat einer agrarischen Zivilisation mit Städten, stabilen Herrschaftszentren und einer komplexen Sozialstruktur zu alimentieren. Nordwesteuropa verharrte daher bis vor etwa tausend Jahren im Stadium einer bäuerlichen Gesellschaft, die als Häuptlingstum ohne differenzierte Hochkultur zu kennzeichnen ist. Im nördlichen Europa überwog bis ins Altertum die Viehhaltung, kombiniert mit etwas Getreideanbau, vor allem durch Brandrodungswirtschaft (Schwendbau). Im Mittelalter kam es dann zu einer „Agrarrevolution" (Mitterauer 2003), in deren Zentrum ein Prozeß der „Vergetreidung" stand: der Anbau von Roggen als Brotgetreide und Hafer als Nahrung für die Pferde. Basis dessen wurde ab dem 6. Jahrhundert die Dreifelderwirtschaft, bei der die gesamte Feldflur in drei Abschnitte unterteilt wurde: Sommerfeld (Hafer), Winterfeld (Roggen) und Brache. Dazu kamen Extensivflächen wie Wiesen, Weiden und Wälder. Bei der archaischen Zweifelderwirtschaft wechselte man zwischen einem Jahr Bebauung und einem Jahr Brache. Dies bedeutete, daß jeweils nur 50 % der gesamten Anbaufläche genutzt wurden. Die mittelalterliche nordwesteuropäische Dreifelderwirtschaft war dagegen wesentlich komplexer.
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Dies hatte gegenüber der Zweifelderwirtschaft mehrere Vorteile. Zum einen wurde die Gesamtfläche jetzt nicht nur zu 50 %, sondern zu 66 % für Ackerbauzwecke genutzt. Ferner hatte der Anbau zweier Getreidearten einen Portfolioeffekt, Ernteschwankungen konnten also besser ausgeglichen werden. Im Unterschied zur Landwirtschaft im südlichen Mittelmeerraum handelte es sich in Nordwesteuropa um Regenlandwirtschaft, bei der eher das Problem der Entwässerung bestand. Die feuchten Sommer des nördlichen Europa ermöglichten die Nutzung von Wiesen, d. h. die Verfügung über Flächen, auf denen im Sommer Gras wuchs und die regelmäßig gemäht werden konnten, so daß Viehfutter für den Winter bereitstand. In Kombination mit der Weide, die auf der Brache sowie auf Marginalböden und auf den Stoppelfeldern stattfand, gestattete diese relativ extensive Landnutzungsform einen hohen Anteil von Großvieh wie Rindern und Pferden in der Landwirtschaft, die als Zug- und Reittiere genutzt werden konnten. Die jahreszeitlich beschränkte Vegetationsperiode machte es erforderlich, daß bestimmte Arbeiten wie Pflügen oder Ernte innerhalb recht kurzer Zeiträume stattfinden mußten, so daß man auf den Gebrauch von Arbeitstieren nicht verzichten konnte. Die nordwesteuropäische Landwirtschaft war somit untrennbar mit einer Nutzung von Extensivflächen zur Ernährung der Tiere verbunden, weshalb sich hier keine Tendenz zur Re-Hortikulturalisierung aufbaute, wie sie im Mittelmeerraum und in China zu beobachten war. Durch die Präsenz von Nutztieren gab es im nordwestlichen Europa dagegen ein Potential zur Mechanisierung, nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in anderen Gewerbezweigen. Das gilt vor allem für das Transportwesen, in dem zunehmend Karren und Wagen eingesetzt wurden, auch wenn es bis ins 18. Jahrhundert noch immer einen großen Anteil von Packtieren gab (Esel, Maultiere), die so gut wie keine Infrastrukturanforderungen stellten. Die dafür erforderlichen Arbeitstiere konnten von den Extensivflächen ernährt werden. Für den (längerfristigen) Erfolg einer auf ausschließlicher Nutzung von Solarenergie beruhenden Landwirtschaft war das Management der Bodenfruchtbarkeit entscheidend. 22 Die Bodenfruchtbarkeit hängt von der Verfügbarkeit von Pflanzennährstoffen, vor allem von Stickstoff, Phosphor und Kalium ab, vom Vorhandensein ausreichender Feuchtigkeit sowie von der Bodengare, d. h. den physikalisch-biologischen Parametern der Fruchtbarkeit. Verdichteter Boden, in dem es an Wurzelkanälen und Fraßkanälen von Regenwürmern fehlt, ist auch bei
22 Bei Kulturböden kann man zwar von einer „natürlichen Bodenfruchtbarkeit" sprechen, aber es ist wesentlich sinnvoller, die „Ertragsfähigkeit des Kulturbodens" als ein Produkt aus naturalen Bedingungen und menschlichen Eingriffen zu verstehen, weil hierdurch die Abhängigkeit der Bodenfruchtbarkeit von der Bewirtschaftung deutlich wird (Dabbert 1994,27).
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ausreichendem Nährstoffangebot nicht fruchtbar, weil er zu wenig Luft enthält und den Bodenlebewesen mangels Poren keine Lebensräume bietet. Die Aktivität dieser Lebewesen ist entscheidend für die Verfügbarmachung mineralischer Nährstoffe für die Pflanzen. Die Bodenfruchtbarkeit, insbesondere die Zusammensetzung der Bodenlebewesen, die ein Drittel der Masse eines Bodens ausmachen, hängt von der Bewirtschaftung des Bodens ab, weil Pflanzen mit dem Ökosystem Boden in sehr unterschiedlicher Weise interagieren und die Bodenökologie durch Maßnahmen wie Pflügen entscheidend beeinflußt wird (Helal und Sauerbeck 1984, 175-182). Das ältere Konzept der Bodenfruchtbarkeit ging in der Tradition von Justus Liebig von den chemischen Nährstoffen aus: Ein Mangel an Nährstoffen führt zu vermindertem Ertrag und der jeweils im relativen Minimum vorhandene Nährstoff determiniert den Ertrag (Liebig'sches Minimumgesetz). Diese Erklärung ist aber eindimensional. Ihre Prävalenz hat die Fragen nach anderen Wirkungszusammenhängen behindert, die für den Ertrag ebenso wichtig sind. Zu ihnen gehören Bodengare, Feuchtigkeit, Konkurrenz mit anderen Pflanzen, Erosion, Durchwurzelung/Verdichtung, Stabilität des Bodenlebens - dies alles sind Faktoren, zu denen historische Forschung noch aussteht.23 Uber den Zusammenhang von Mikronährstoffen und biologisch-physikalischen Bodenparametern fehlen sowohl Daten als auch modellhafte Überlegungen. Die Bodeneigenschaften unterliegen der Einflußnahme durch den Menschen in unterschiedlichem Ausmaß. Bewirtschaftungsmaßnahmen haben (in absteigender Reihenfolge) Einfluß auf die biologische Aktivität, auf das Gefüge, auf den Humusgehalt, auf Nährstoffspeicher, auf Nachlieferung, auf die Reaktion, und auf die Gründigkeit (Tiefe) eines Bodens. Die Körnung ist vom Menschen praktisch kaum beeinflußbar, die Gründigkeit kann als Folge von Erosion negativ beeinflußt werden. (Dabbert 1994, 31). Veränderungen in der Bodenfruchtbarkeit sind ein wesentlicher Faktor des gesellschaftlichen Wandels und können ein Grund für die Aufgabe von Siedlungen und Wirtschaftsflächen sein. Die Berücksichtigung nicht-mineralischer Bedingungen der Fruchtbarkeit verändert unsere Einschätzung der Effizienz agrikultureller Maßnahmen in der solarenergetischen Ökonomie. Aus der von der Agrikulturchemie dominierten Sichtweise des frühen 20. Jahrhunderts stammt die abschätzige Vermutung, daß in der vorindustriellen Landwirtschaft alle Böden nährstoffdefizient gewesen sein müssen. Sie ist so undifferenziert sicher nicht haltbar. Die Verfügbarkeit von Nährstoffen in der europäischen Landwirtschaft des Mittelalters wurde in der Agrargeschichte schon in den späten 1970er Jahren diskutiert, wobei allerdings sehr allgemein und ohne detaillierte Quellenbasis
23 Vgl. hierzu Campbell und Overton 1991; Shiel 1991, besonders 5 8 - 7 5 ; McNeill und Winiwarter 2004.
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eine Reihe von Schätzungen und Annahmen getroffen wurden, die insgesamt die Folgerung nahelegten, daß Stickstoff wahrscheinlich doch in einigermaßen ausreichender Menge auf die Felder rückgeführt wurde. Die Berechnungen zu Nährstoffflüssen in lokalen Agrarsystemen in Osterreich, die in Kapitel 2 und 5 dargestellt werden, unterstützen diese These. Sie zeigen, daß in den untersuchten Agrarsystemen im frühen 19. Jahrhundert zwar eine ungefähre Balance zwischen Nährstoffentnahme und -ersatz herrschte, allerdings auf einem deutlich niedrigeren Niveau als in der industrialisierten Landwirtschaft. 24
Tab. 2.5: Stickstoffhaushalt der mittelalterlichen Landwirtschaft Vorgang Ernte 750 kg Weizen
Export von Ν (kg/ha) 15
3
Saatgut Eintrag über Regen, Staub, Vogelmist
3
Bindung durch Bodenbakterien (ohne systematischen Kleeanbau) Auswaschung Summe
Import von Ν (kg/ha)
4-10 2 17
16
Quelle: Loomis 1978, modifiziert nach Holland 1999. 2 5
Aus Tab. 2.5 geht hervor, daß der Stickstoffhaushalt unter den gegebenen Bedingungen in Mitteleuropa bis zu einem Hektarertrag von 750 kg nachhaltig auch ohne Düngung ausgeglichen war. 2 6 Düngung zur Auffüllung der Nährstoffspeicher der wichtigsten Pflanzennährstoffe ist seit der Antike schriftlich belegt. Tierische Exkremente liefern hauptsächlich Stickstoff, einzig Dünger aus Vogelexkrementen enthält nennenswerte Mengen an Phosphor. Diese Tatsache hat im 19. Jahrhundert zum Abbau und Eintrag von Guano (das sind angehäufte Vogelexkremente) geführt. O b in einem landwirtschaftlichen Betrieb Geflügel gehalten wird oder nicht, könnte auf die Phosphordefizienz einzelner Böden durchaus merklichen Einfluß haben. Kaliummangel konnte vor dem Abbau von Kalisalzen einzig durch Pflanzenasche (Pottasche) behoben werden, und ein latenter Kali-
24 Cooter 1978; Loomis 1978. 25 Wir danken Klaus Butterbach-Bahl für diesen Hinweis. 26 Eine Voraussetzung dafür war, daß durch Regen N O x eingetragen wurde, das durch Blitzschlag in der Atmosphäre entstanden ist. Dies setzte allerdings eine bestimmte Frequenz von Gewittern voraus, die regional sehr unterschiedlich sein konnte.
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mangel ist für einen Gutteil der agrarisch genutzten Böden Europas für die vorindustrielle Zeit nicht unwahrscheinlich. Die Pottascheproduktion für gewerbliche Zwecke war eine wesentliche vorindustrielle Nutzung unter anderem skandinavischer Wälder. Pottasche war daher ein sehr teures Düngemittel (Ostlund et al. 1998). Die Bodenfruchtbarkeit profitiert aber auch von anderen Maßnahmen. Die Unterdrückung konkurrierender Spezies steigert den Ertrag der gewünschten Spezies beträchtlich (Gallant 1991). Es handelt sich dabei um Verfahren, die unter „Jäten" und allgemeiner „Unkrautbekämpfung" zu subsumieren sind. Neben der Dränage, d. h. der Entwässerung durch Anlage von Grabensystemen, sind außerdem physikalische Bodenverbesserungen durch Einbringen von Sand in tonige oder lehmige Böden und durch die Entfernung von großen Steinen zu nennen. Dränage ist ein im europäischen Maßstab durchaus bedeutender Prozeß gewesen (vgl. etwa Herrmann 1997). Daneben gibt es Verfahren, die in die Verwitterungs- und Mineralisierungsprozesse im Boden eingreifen. Am bekanntesten ist das „Mergeln", d. h. die Ausbringung von Kalktonmineralien auf Agrarflächen. Das Mineral Mergel bewirkt keine Düngung, sondern es ist ein Eingriff in die Chemie des Bodens, mit dem Nährstoffe verfügbar gemacht werden. Die Veränderung der Bodenacidität (des Säure/Basengleichgewichts) und des Mineralhaushaltes durch eine solche Maßnahme führt zu unmittelbar verbesserten Wachstumsbedingungen für die Kulturpflanzen. Der beschleunigte Aufschluß von Bodenmineralien hat aber auch zur Folge, daß langfristige Nährstoffdepots kurzfristig ausbeutbar werden, und daher kann zu starker Einsatz von Mergel einen Boden regelrecht „ausmergeln" d. h. alle langfristigen Speicher in einer Weise abbauen, daß eine Nachbildung über Verwitterung nicht mehr in ausreichenden Maße erfolgt. Erosion von Kulturböden ist ebenfalls ein natürlicher Prozeß, dessen Dynamik und Ausmaß aber durch menschliche Eingriffe stark beeinflußt wird. Veränderungen des Reliefs (Terrassenbau) vermindern die durch die Kultivierung beschleunigte Erosion. Andere Strategien, die auf die Erosionsgeschwindigkeit Einfluß haben, bestehen in der Anlage von Windschutzgürteln und Hecken, der Begrünung der Brache oder dem Rücktransport von Erde, die ins Tal geschwemmt wurde, auf die an Hängen angelegten Felder. Jede Kultivierungsmaßnahme steigert tendenziell die Erosion, da der Boden freigelegt und damit dem Angriff von Wind und Wasser ausgesetzt wird. Man kann, sofern aus den Untersuchungen in Deutschland und Frankreich verallgemeinert werden kann, vermutlich seit dem ausgehenden Mittelalter, mit einiger Sicherheit aber ab dem 17. Jahrhundert mit einer deutlichen Verminderung der Bodenfruchtbarkeit durch Erosion rechnen. Diese Tatsache müßte ein wesentliches Element jeder Erklärung säkularer Wandlungsprozesse in Europa sein. Die Frage etwa, ob durch die zahlreichen agrartechnischen Entwicklungen, seien es Innovationen bei Pflügen und mit anderen Ackergeräten (Herrmann 1985, 97-
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186) oder Änderungen in der Fruchtfolge (Overton 1996) eine längerfristige Steigerung der Erträge möglich war oder nur die erosionsbedingte Verschlechterung ausgeglichen wurde, ist für die Interpretation der langfristigen historischen Prozesse entscheidend. Hier ist vor potentiellen Zirkelschlüssen, mit deren Hilfe Veränderungen der Erträge ohne ausreichende Quellenbasis beschrieben werden, zu warnen. Eine generelle Antwort auf die Frage, ob die technologische Produktivitätserhöhung bei schlechter werdender Ertragsfähigkeit der Kulturflächen einen längerfristigen Nettoertragszuwachs erwirtschaftet habe, ist wohl nicht zu geben. Im 18. Jahrhundert wurde im Gebiet des heutigen Deutschland regional durch die Kombination von Starkregen und Bevölkerungswachstum auf bereits einigermaßen unter Druck geratenen landwirtschaftlichen Flächen eine als krisenhaft wahrgenommene Entwicklung in Gang gesetzt (vgl. Bork et al. 1998). Die unterschiedliche Erodierbarkeit der Böden und Gesteine hat eine kleinräumige Differenzierung der Erosionserscheinungen zur Folge. Bork hält - im Gegensatz zu Blaikie und Brookfield 1987 - die Starkregenereignisse des 18. Jahrhunderts für den entscheidenden Faktor, da die Bewirtschaftung in dieser Zeit sogar auf erosionshemmendere Verfahren wie das Konturpflügen und die Besömmerung (d. h. Begrünung) der Brache umgestellt wurde. Umwelthistorisch bedeutend ist die Frage, welches Ausmaß die Bodendegradation im 18. Jahrhundert erreicht hat. Begreift man mit Wilkinson (1973) Innovation als Reaktion auf sich verschlechternde Zustände, könnte einer der Gründe für die agrarischen Innovationen des 18. und 19. Jahrhunderts in der Erosion fruchtbarer Böden zu suchen sein. In der Forschung wurde der Zusammenhang bis dato noch nicht ausreichend thematisiert, sondern in der Literatur dominieren ökonomische und populationsdynamische Erklärungen neben wissenschaftshistorischen Studien. Die Erosion als weiterer Faktor könnte helfen, die komplexen Vorgänge zu erhellen. Die Geschichte der nordwesteuropäischen Landwirtschaft läßt sich grob in zwei Abschnitte einteilen: Die erste Expansionsphase, die vor etwa 1000 Jahren einsetzte und in sozio-politischer Hinsicht mit dem Ubergang zur agrarischen Zivilisation (mit der Entstehung von Städten, Handwerk, seßhaften Herrschern, religiösen und wissenschaftlichen Institutionen usw.) verbunden war, stieß im 14. Jahrhundert an eine ökologische Schranke, was schließlich in die Katastrophe des Schwarzen Todes einmündete. Die langsame Erholungsphase, die sich an diesen Zusammenbruch anschloß, war mit einer demographischen und institutionellen Konsolidierung verbunden, während deren es zu einem langsamen Prozeß agrartechnischer Innovationen kam, der sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert beschleunigte. Es ist plausibel, daß die besonderen Merkmale der nordwesteuropäischen agrarischen Zivilisation wichtige, wenn nicht unabdingbare Voraussetzungen für den späteren Weg in die Industrialisierung bildeten. Das agrarische alte Europa
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war zwar nicht zwangsläufig selbsttranszendierend, d. h. auf seine eigene Auflösung angelegt, sondern scheint ein recht stabiles Muster gebildet zu haben. Dennoch besaß es Merkmale, die die Ausbreitung der Industrialisierung begünstigten. Einige dieser Merkmale hängen direkt mit der Organisation der Landwirtschaft zusammen: -
-
Der Pflugbau ermöglichte im Gegensatz zum Hackbau eine Mechanisierung der Bodenbestellung. Die extensive Landwirtschaft besaß relativ große Reservekapazitäten und war damit weniger anfällig gegenüber Witterungsschwankungen. Der Anbau von Brotgetreide (vor allem Roggen), kombiniert mit ausreichenden Wasserläufen begünstigte die Ausbreitung der Wassermühle, was schließlich zur Mechanisierung anderer Gewerbezweige führte. Pferde dienten als Zugtiere und bildeten die Basis der mittelalterlichen Ritterheere, woraus sich eine Tendenz zur dezentralen Machtverteilung ableiten läßt.
In der Literatur wird häufig die Position vertreten, daß der industriellen Transformation eine „landwirtschaftliche Revolution" vorausgegangen sei, die als wichtige Voraussetzung für diese gilt. 27 Ein Merkmal dieser landwirtschaftlichen Revolution, die vor allem in England und einigen wenigen Gebieten Kontinentaleuropas (etwa den Niederlanden) stattfand, lag darin, daß mit ihr ein Pfad eingeschlagen wurde, der zur Steigerung der Arbeitsproduktivität führte. Im Vergleich zum agrarischen Produktivitätsniveau, das in außereuropäischen Zivilisationen erreicht wurde, sind diese Ergebnisse allerdings nicht gerade sensationell. Noch im frühen 19. Jahrhundert lagen die Erträge der indischen und chinesischen Landwirtschaft deutlich über denen der fortgeschrittensten Gebiete Europas (vgl. Helbling 2003). Was als landwirtschaftliche Revolution bezeichnet wird, ist daher im Grunde nichts anderes als ein Ausreizen des Innovationspotentials, das die solarenergetische Landwirtschaft grundsätzlich besitzt und das in anderen Zivilisationen schon Jahrhunderte früher erreicht wurde. So richtig es sein mag, daß die Ertragssteigerungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts die europäischen Gesellschaften vor einer malthusianischen Krise bewahrten, so wenig war dies doch ein Pfad, der automatisch zur Industrialisierung führen mußte. In dieser Studie wird gezeigt, daß die Ertragssteigerungen bis weit ins 19. Jahrhundert vollständig innerhalb der Systembedingungen der solarenergiebasierten Landwirtschaft blieben und daß deren Rahmenbedingungen erst im 20. Jahrhundert gesprengt wurden.
27 Hierzu existiert eine umfangreiche, kontroverse Literatur. Vgl. Chambers und Mingay 1966; Kerridge 1967; Allen 1994; Overton 1996.
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Die agrartechnischen Innovationen, die im 17. und 18. Jahrhundert in einigen Gebieten Nordwesteuropas wie den Niederlanden oder England begannen, sich aber flächendeckend erst im frühen 19. Jahrhundert durchsetzten, beruhten auf einer Reihe von technischen und institutionellen Einzelprozessen, die für die Zeitgenossen nicht notwendig miteinander verbunden waren, aber retrospektiv eine Einheit bilden: -
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Fernhandel mit Getreide. Die regionale Schwankungsbreite der Ernteerträge in der vorindustriellen Landwirtschaft war enorm hoch, was auf unterschiedliche Witterungsbedingungen zurückging. Fernhandel mit Lebensmitteln nivellierte diese Marge, was als Risikominimierung durch Ausweitung des Versorgungsraums interpretiert werden kann. Dieser Vorgang wurde von dem Ausbau der Transportinfrastruktur (Kanäle, Häfen, Straßen, Brücken) begünstigt. Braudel und Spooner (1967,470) demonstrieren, daß dies ein längerfristiger Prozeß war. Um 1440 lag der Abstand zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Getreidepreis in Europa bei 570 %. Um 1760 war er auf 88 % gefallen. Dies bedeutet, daß sich tendenziell ein einheitlicher Markt für Getreide gebildet hatte, so daß lokale Witterungsschwanken an Bedeutung verloren. Im Zuge der Gemeinheitsteilungen, die in England mit den enclosures seit dem 17. Jahrhundert begannen, wurde das System von Flurzwang und Allmende aufgegeben, d. h. das gesamte Land wurde individuellen Eigentümern zugeschrieben, entweder Grundeigentümern (England, Osteuropa) oder Bauern (Niederlande, Frankreich, Süddeutschland). Jetzt wurden Innovationen möglich, da Aufwand und Ertrag bei der selben Person anfielen. Es kam zu Marktorientierung, Spezialisierung, Ferntransport, Sonderkulturen, zahlreichen Experimenten. Durch Aufgabe der Brache und Übergang zur Dauernutzung der Feldflur konnte die nutzbare Fläche einmalig um bis zu 50 % vermehrt werden. Neue Fruchtsorten wurden gezüchtet bzw. aus Ubersee importiert: Leguminosen (Futter und Gründüngung), Hackfrüchte, vor allem Kartoffeln, Futterrüben, Mais. Neue Ernährungsgewohnheiten. Im Zuge der Neuzeit setzte sich in ganz Europa eine Reduktion des trophischen Niveaus für die Mehrzahl der Bevölkerung durch, vor allem für die Unterschichten. Der Fleischanteil an der Nahrung sank, weniger beliebte Pflanzen mußten verzehrt werden, vor allem Kartoffeln oder schlechtere Getreidesorten (Hafer oder Gerste statt Weizen oder Roggen). In Südeuropa wurde der Mais zur Hauptnahrung der Unterschichten, die zunehmend Polenta (oder Kukuruz) statt Brot essen mußten. Verschiedene Maßnahmen zur chemischen Bodenverbesserung wurden (weiter-) entwickelt. Dazu gehörten etwa Kalkung oder Mergeln des Bodens, vor
Grundeigenschaften von Agrargesellschaften
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allem aber gezielte Düngung. Hierbei handelte es sich allerdings, sieht man vom Import von Guano und der Aufbringung von Knochenmehl ab, um einen bloßen Flächentransfer von Bodenchemikalien. Züchtung und Kontrolle von Saatgut, systematisch seit dem 17. Jahrhundert. Auf diesem Weg wurden ertragreichere Sorten erzeugt, was vor allem bedeutete, daß der Anteil unerwünschter Pflanzenteile zugunsten der erwünschten erhöht wurde. Bei importierten Pflanzen wie der Kartoffel war die Züchtung Voraussetzung dafür, daß sie unter den neuen ökologisch-klimatischen Bedingungen überhaupt angebaut werden konnten. Winter- und Stallfütterung auf der Basis von Futter-Anbau (Klee und Rüben) führte zur Verstetigung der Protein-Zufuhr (Milch, Fleisch) und zur Verringerung von Konservierungsproblemen. Neue Ackerbaugeräte wie der eiserne Pflug, die Sense oder die Sämaschine erhöhten die Arbeitsproduktivität. Einen gleichen Effekt hatte der Einsatz des Pferds statt des Ochsen in der Landwirtschaft. Im 17. Jahrhundert pflügte ein Ochse 0,4 ha/Tag. Anfang des 18. Jahrhunderts konnte mit einem Pferd bereits 0,5-0,6 ha/Tag gepflügt werden, und am Ende des 18. Jahrhunderts waren es bereits 0,8 ha/Tag (Smil 1994).
Die landwirtschaftliche Entwicklung vor der Industrialisierung tendierte dazu, immer mehr Elemente der Pflanzenproduktion und ihrer Randbedingungen unter aktive Kontrolle zu bringen, wodurch die Bevölkerung wie auch der Arbeitseinsatz zunehmen konnten, während der materielle Lebensstandard längerfristig sinken mußte. Dies ist am Fall von Dänemark besonders gut demonstriert worden. Kjaergaard (1994) schätzt, daß Maßnahmen wie die Regulation des Wasserspiegels durch Dränage und Bodenverbesserungen durch Mergeln und Klee-Anbau die landwirtschaftlichen Erträge in Dänemark von 1500 bis 1800 um 50 % gesteigert haben, während der Arbeitsaufwand um 100 % zugenommen hat. Eine Reihe von Arbeiten waren saisonunabhängig (Torfstechen, Errichten von Feldmauern), so daß es auch im Winter keine Pause mehr gab. Es ist dies die Logik der Landwirtschaft, wie sie schon von älteren Autoren beschrieben wurde: Der Lebensstandard der Unterschichten sinkt im Zuge der Entwicklung der Landwirtschaft, und die soziale Ungleichheit nimmt zu (vgl. Abel 1972, 1978). Das Agrarsystem bewegte sich seit der Krise des späten Mittelalters in eine sich zuschnürende Knappheitsfalle, auf die zunächst mit wachsender Askese, mit mehr Arbeit und Disziplin reagiert wurde. Die scharfe „protestantische" Arbeitsethik der Neuzeit war vielleicht eine Antwort auf eine ökologische Problemlage. Sie erleichterte den mentalen Umgang mit der zunehmenden Verknappung und wurde deshalb evolutionär prämiert. Bereits Adam Smith hat darauf aufmerksam gemacht, daß Arbeitsteilung und Produktivität in der Landwirtschaft nicht ebenso steigen können wie im gewerb-
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Trajektorien der Landwirtschaft
lichen Sektor. 28 Dieses Argument wurde dann von Thomas R. Malthus und David Ricardo ausgeführt und von John Stuart Mill systematisch entfaltet. Wichtig daran ist, daß die Landwirtschaft die Rohstoffbasis für die gesamte vorindustrielle (d. h. vor-fossile) Ökonomie bildete. Sie lieferte nicht nur Nahrung, sondern zahlreiche gewerbliche Rohstoffe (Fasern wie Wolle, Hanf, Flachs, Baumwolle; Öle; Farben; Felle, Leder, Horn, Holz, Knochen etc.) und die Verbrennung von Biomasse bildete die energetische Basis für die Nutzung mineralischer Rohstoffe (Salz, Keramik, Metalle, Ziegel, Chemikalien). Wenn das Prinzip des abnehmenden Grenzertrags für die landwirtschaftliche Produktion galt, mußte es daher früher oder später auch auf Sektoren durchschlagen, in denen Produktivitätsfortschritte möglich waren. Es war dies der zentrale Grund dafür, daß es in Agrargesellschaften nicht zu längeren kontinuierlichen Prozessen des wirtschaftlichen Wachstums kommen konnte.
28 Dies gilt allerdings nur unter den Bedingungen der solarenergiebasierten Landwirtschaft. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lagen die agrarischen Produktivitätssteigerungen über denen in zahlreichen gewerblichen Sektoren.
3. Fallstudien zur Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
3.1. Vorindustrielle Landwirtschaft in Mitteleuropa Die industrielle Transformation nimmt ihren Anfang von einer kleinräumig differenzierten landwirtschaftlichen Struktur, die sie anschließend tiefgreifend verändert. Um diesen Prozeß verständlich zu machen, wollen wir zunächst verschiedene lokale Ausprägungen des mitteleuropäischen landwirtschaftlichen Generaltyps untersuchen. Agrarsysteme unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der angewandten Nutzungstechniken voneinander, sondern sie prägen auch unterschiedliche sozio-ökonomische Einheiten aus, in denen die Produktion organisiert ist. Besonders in marktnahen Gebieten Europas haben wir es im 19. Jahrhundert mit Wirtschaftsformen zu tun, die die Effizienzspielräume im Rahmen des solarenergetischen Systems so weit wie möglich ausgereizt haben. Eine der Folgen dieser Optimierung ist eine starke kleinräumige Ausdifferenzierung. Die solarenergetische Landwirtschaft muß standortgerecht wirtschaften, weil sie sonst keinen positiven Erntefaktor erwirtschaften kann. Ein gemeinsames Merkmal aller Agrarsysteme kann im Umgang mit den Risiken der agrarischen Produktion identifiziert werden: Die meisten Systeme verfügen über Puffer (seien dies Getreidespeicher der Grundherrschaft, Wälder oder Allmenden) und sie verwenden Strategien der Risikominimierung auf Kosten der Maximierung des Ertrags (Sieferle und Müller-Herold 1996). Strategien der agrarökologischen Risikominimierung sind in vielen Gegenden Europas auf der Ebene dörflicher Gemeinden angesiedelt, während der Hof die sozio-ökonomische Einheit bildet. Mit der Hofbindung wurde bereits seit karolingischer Zeit versucht, militärische und grundbezogene obrigkeitliche Interessen gemeinsam zu verwalten. Ende des 18. Jahrhunderts ist auch die Steuerabschöpfung perfektioniert. Die Etablierung von Höfen als stabilen Wirtschaftseinheiten ist Ergebnis eines Optimierungsprozesses durch die Grundherrschaft. 29 Im solarenergiebasierten Agrarsystem ist die einzige mögliche Form der Bereitstellung speicherfähiger Energie die Land- und Forstwirtschaft. Die lokale Einheit der Produktion, gleich ob sie als Dorf oder einzelner Hof konstituiert ist, ist daher der Ort, an dem Solarenergie (in Form von Biomasse) oder solarbasierte Leistung (in Form von menschlicher wie tierischer Arbeitskraft) zur Verfügung
29 Dies wurde in einer Detailstudie zur frühen Entwicklung des Dorfes Theyern auch empirisch gezeigt, vgl. Projektgruppe Umweltgeschichte 1999, Kapitel Theyern bis 1820.
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Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
gestellt wird. Wind und Wasserkraft als nicht oder nur unter großem Aufwand (Dammbau) speicherfähige Energieformen spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Die agrarische Produktion ist somit von drei wesentlichen Faktorengruppen bestimmt: Der Bevölkerung, die die Arbeitskräfte zur Verfügung stellt und gleichzeitig der wichtigste Konsument der Produkte ist. Den technischen und institutionellen Bedingungen der Produktion, d. h. im wesentlichen der Agrarverfassung und Agrarverwaltung. Den lokalen naturalen Rahmenbedingungen, d. h. dem Agrarökosystem. Die Bedingungen, unter denen die Leistungen (Biomasse- und Arbeitskraftbereitstellung bzw. Reproduktion) erbracht werden, sind naturräumlich vorgegeben. Ihre Ausprägung hängt aber auch ganz entscheidend von sozialen und ökonomischen Einflüssen ab. Jede dieser Faktorengruppen kann unabhängig oder in Kopplung mit anderen Faktoren eine starke Dynamik aufweisen. Darüber hinaus ist das System von externen Faktoren abhängig. Militärische Kollateralschäden wirken sich auf die Gesamtsituation ebenso aus wie Schwankungen im Klima oder extreme Witterungsereignisse. Für die Untersuchung von Agrarökosystemen müssen die Beziehungen zwischen den drei Faktorengruppen verstanden werden. Eine schematische Darstellung jener Zusammenhänge, die die vorindustrielle Landwirtschaft in Europa prägen, findet sich in Abb. 3.1. 30 Im Zentrum steht das lokale agrarwirtschaftliche System, dessen jeweilige Ausprägung von mehreren Faktorengruppen abhängig ist. In der Bildmitte oberhalb der Systemdarstellung sind jene Faktoren aufgelistet, die heute üblicherweise als „Standortbedingungen" bezeichnet werden. Neben den natürlichen Bedingungen zählt hierzu vor allem die Verfügbarkeit von Arbeitskraft. Auf der rechten Seite finden sich die gesellschaftlich-institutionellen Rahmenbedingungen, ferner die Anbausysteme und die Siedlungsstruktur, die über die „Bevölkerungsbewegung" miteinander verknüpft sind. So müssen etwa zum Anbau arbeitsintensiver Sonderkulturen entsprechende Arbeitskräfte vorhanden sein. Kommt es zur Migration aufgrund von Verdienstmöglichkeiten im gewerblichen Sektor, können solche arbeitsintensiven Wirtschaftsformen unter ökonomischen Druck geraten. Externe Einflüsse, die unabhängig von der Grundherrschaft auf das System wirken (Kriege, Epidemien, etc.), werden in der Modelldarstellung mit den Begriffen „Stabilität und Instabilität" abstrakt zusammengefaßt und in ihrer Wirkung auf die Produktion beschrieben.
30 Ein ausführlicher Überblick über Möglichkeiten der Modellierung historischer Agrarsysteme findet sich bei Winiwarter und Sonnlechner 2001. Die von uns erarbeiteten Modelle basieren in allen Details auf Quelleninhalten, was ihren besonderen W e r t im Rahmen historischer Betrachtungen ausmacht.
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U m den gesellschaftlichen Umgang mit agrarischen Ressourcen und dessen Veränderung bis zur industriellen Revolution zu betrachten, führen wir hier einen neuen methodischen Ansatz ein. Wir gehen davon aus, daß Erhaltung und Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit die Voraussetzung für die Erreichung der Ziele des Agrarsystems, die Ernährung der Bevölkerung und die Versorgung der Herrschenden, sind. Unter solarenergetischen Bedingungen muß dafür eine im Vergleich zum O u t p u t sehr große Menge interner Flüsse gesteuert werden. Diese Flüsse werden in diesem Kapitel qualitativ und quantitativ vergleichend f ü r vier naturräumlich wie organisatorisch sehr verschiedene Dörfer betrachtet, mit dem Ziel, eine exemplarische Beschreibung des sozialen Metabolismus im ancien régime biologique (Braudel) zu liefern, die Erklärungswert f ü r die industrielle Transformation hat. Quellengrundlage unserer Untersuchung ist der erste flächendeckende Grundsteuerkataster f ü r das Gebiet des heutigen Osterreich, der ab 1820 angelegt wurde. In den „Operaten" zum Franziszeischen Kataster und in den Katasterkarten selbst enthaltene Informationen wurden qualitativ und quantitativ ausgewertet. 31 Im Kataster sind unter anderem Bonitätsklassen der Böden angegeben, die die Grundlage der Steuerbemessung bildeten. Das in unserem Forschungszusammenhang entwickelte Modell besteht aus drei Teilen. Es umfaßt ein Modell der Bevölkerungsentwicklung, ein Modell der agrarischen Produktion, sowie ein Modell des Agrarökosystems, das im wesentlichen Massenflüsse (insbesondere Nährstofftransporte) im Agrarsystem abbildet. Die Modellierung des Agrarökosystems wird räumlich differenziert vorgenommen. Eine wichtige Entscheidung betrifft die Skalierung des Modells. Die räumliche Einheit darf weder zu klein noch zu groß sein, will man zu einigermaßen kohärenten Typen kommen. Die Modellierung erfolgte auf der Ebene des Dorfes, da es in der vorindustriellen Periode die Skalenebene darstellt, auf der die räumliche Differenzierung der Produktionsweise am deutlichsten wird. In der Überblicksdarstellung (Abb. 3.2) werden die materiellen und energetischen Beziehungen zwischen den drei Bereichen sichtbar. Das Modell zeigt insbesondere die Interaktionen, auf die es bei der Rekonstruktion des sozialen Metabolismus unter feudalen Produktionsverhältnissen ankommt. Im Gebiet der Habsburgermonarchie kann man allgemein davon ausgehen, daß zum Zeitpunkt der Erhebung der Katasterdaten (ab ca. 1820-1840) weitgehend „feudale", d. h. grundherrschaftliche Strukturen bestanden haben, da die Grundentlastung erst nach 1848 Veränderungen bewirkte (Bruckmüller 1999). Die Agrarproduktion ist in der feudalen Gesellschaft stark obrigkeitlich, in diesem Fall durch die Grundherrschaft geprägt. Die Grundherrschaft ist Inhabe-
31 Eine Quellenkritik des Katasters findet sich im Anhang.
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Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
rin sehr weitreichender Rechte. Inwieweit sie von diesen Rechten auch Gebrauch machte, läßt sich nicht generell beantworten. Es gab kleine Grundherrschaften, deren Besitz in manchen Fällen geographisch weit verstreut lag. Diese Grundherrschaften hatten einen größeren Verwaltungsaufwand, ihre Rechte zu verfolgen und wohl geringere Mittel zu deren Durchsetzung als große Herrschaften mit arrondiertem Besitz. Insgesamt war im 18. Jahrhundert der staatliche Zugriff auf die Untertanen bereits stark, nicht zuletzt auch über landesfürstliche Verfügungen, die zu Lasten der Grundherren gingen. Die Grundherrschaft stellte Produktionsmittel in Form von Saatgut, aber auch in Form von Grund und Boden zur Verfügung. Sie bestimmte auch über die jeweils verwendete Technologie, schöpfte einen Teil des erwirtschafteten Surplus ab und intervenierte bei der Verteilung von erzeugten Produkten. Sie griff aber auch in das Teilsystem Bevölkerung ein. Sie tat dies etwa, indem sie Migrationen innerhalb ihres Gebietes und über die Gebietsgrenzen hinweg erlauben bzw. verbieten konnte. Eine weitere Eingriffsmöglichkeit der Grundherrschaft in das demographische System bestand durch die teilweise Verfügungsgewalt über das Heiratsverhalten der Bevölkerung: Die Grundherrschaft konnte die Verheiratung jedes ihrer Untertanen untersagen oder aber aktive Peuplierungspolitik betreiben, und konnte damit auch in Konflikt zu Interessen der Gemeinden geraten. Sie griff damit erheblich in das generative Verhalten der Bevölkerung ein, allerdings ist auch dieser Eingriff regional verschieden stark. Je nach Wichtigkeit des nichtagrarischen oder protoindustriellen Sektors ist zum Beispiel die Inzidenz von „Bettlerhochzeiten", also die Verheiratung von Personen ohne Bauernstelle, regional verschieden. Ebenso sind die Illegitimitätsraten regional recht unterschiedlich. Die Wirksamkeit obrigkeitlicher Maßnahmen auf die Bevölkerung ist unterschiedlich, doch kann gezeigt werden, daß es externe, obrigkeitliche Einflüsse auf die demographische Entwicklung in österreichischen Orten gab (Zeileis und Veichtlbauer 2002). Das Management der Pflanzenährstoffe war von zentraler Bedeutung. Uber den Beweidungskreislauf wurden Nährstoffe von extensiven Flächen wie zum Beispiel den Hutweiden, den Rainen oder dem Wald in Form von Dünger auf die intensiv genutzten Ackerflächen gebracht. Dieser Nährstofftransfer war über viele Jahrhunderte eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren der Dreifelderwirtschaft. Ein Dorf mit seinen räumlichen und sozialen Bezügen kann nicht als abgeschlossenes System betrachtet werden. Es gab Marktbeziehungen, die zum Austausch von wichtigen Gütern und Kapital führten, und es gab Migration von Menschen. Auch wurden landwirtschaftliche Güter von außerhalb des Dorfes liegenden Agrarflächen, sogenannten Uberlandgründen, in das dörfliche Ökosystem transportiert.
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Fünf wesentliche Parameter bestimmen die lokale Ausprägung des Agrarsystems (vgl. hierzu Abb. 3.1): 1. Topographie (agrarische Nutzung und infrastrukturelle Bedingungen) 2. Naturräumliche Grundlagen (insbesondere agrarklimatische Bedingungen und Bodenbedingungen, inklusive der Hydrologie) 3. Mechanismen der sozialen Regulierung der landwirtschaftlichen Aktivitäten 4. Besitzrechte 5. Verhältnis von landwirtschaftlichem Arbeitsaufwand und Arbeitskräfteangebot, sowohl auf dem einzelnen Hof, als auch in der durch soziale Puffer verbundenen größeren Einheit, ζ. B. einer Grundherrschaft. Die lokale Verfügbarkeit von Nahrung hängt von Erträgen, von den Lagerbedingungen und von der Verteilung ab. Wenn Nahrung verfügbar ist, ist ihre Verderblichkeit das größte Problem. Das Verderblichkeitsproblem wurde unter den Bedingungen der Agrargesellschaft bis zu einem gewissen Grad unter Aufwendung von Energie für den Transport gelöst, indem die Abgaben über das Jahr verteilt in kleinen Portionen zu leisten waren. Das Risiko des Verderbens wurde tendenziell jedenfalls auf die Abgabenpflichtigen übergewälzt. Oftmaliger Transport kleiner Mengen statt Kühlung oder Konservierung spielt bei einer energetischen Betrachtung eine nicht zu unterschätzende Rolle, auch wenn die Entfernungen klein sind. Das Verderblichkeitsproblem bleibt auch nach der Ablösung der Naturalabgaben durch Geld, also in jener Situation, die wir im 18. und 19. Jahrhundert vorfinden, bestehen. Für die Nährstoffkreisläufe ist entscheidend, ob auf den brach liegenden Feldern die eigenen Tiere der Bauern weiden oder ob dieses Recht den Grundherren zusteht. In den von uns untersuchten Beispielen gibt es keine grundherrschaftlichen Weiderechte. Für eine Rekonstruktion anderer Agrarökosysteme muß die Frage der jeweiligen Rechtskonstruktion der Bewirtschaftung jedenfalls berücksichtigt werden. Die Konzentration der im Feudalsystem grundsätzlich differenzierten Abgaben in einer Hand (etwa wenn der Landesfürst und Bischof zugleich Grundherr und Pfarrherr ist) schafft Raum für Flexibilität und ist damit ein komparativer Vorteil gegenüber zersplittertem Eigentum. Eine solche flächig arrondierte Herrschaft in einer Hand kommt dem im europäischen Osten weit verbreiteten gutswirtschaftlichen System in dieser Hinsicht sehr nahe, vermeidet aber den zentralen administrativen Aufwand für die Bewirtschaftung großer Güter, indem kleine, selbstorganisierte Einheiten belassen bleiben, deren Steuerung man seitens der Herrschaft nur insoweit unternimmt, als man Abgaben vorgibt, die zu leisten sind, was allerdings die Möglichkeit von Skalenerträgen einschränkt. Die jeweils vorhandene Bevölkerung wird im dynamischen Gleichgewicht der Reproduktion von drei Faktoren bestimmt: Es ist dies neben der Geburtenund Sterberate auch die kulturell bestimmte Heiratsrate. Aus dem jeweiligen Ver-
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hältnis von Geburten zu Todesfällen kann in zeitlicher Abfolge das Auftreten von Subsistenz- und epidemischen Krisen analysiert werden. Eine solche demographische Analyse kann erst nach dem Einsetzen regelrechter Bevölkerungsaufzeichnungen in den Kirchenbüchern (Matriken) erfolgen. Das Verteilungs-, Speicherungs- und Puffersystem des Hofes moduliert den Einfluß der Produktmengen auf die Bevölkerungsdynamik. Der Hof ist als ökonomische Einheit der Subsistenz und Reproduktion in seiner internen Logik handlungsbestimmend (Netting 1993). H ö f e bilden im untersuchten Raum die Grundeinheit der agrarischen Produktion. Sie bestehen aus einem bäuerlichen Haushalt, in dem neben einer Familie auch noch Gesinde leben kann, sowie den von den Angehörigen dieses Haushaltes bewirtschafteten Flächen. Der Hof ist die Schnittstelle zwischen der Reproduktion der Bevölkerung und der Bereitstellung von Arbeitskraft für das Produktionssystem. Unter Reproduktion sind dabei alle jene Leistungen zu verstehen, die dem Erhalt des Lebens der Haushaltsmitglieder dienen, nicht nur der Aufzucht von Kindern. Der H o f erfüllt an dieser Schnittstelle die Funktion eines Verteilungs- und Allokationssystems. Einerseits müssen die äußeren Ansprüche befriedigt werden, die seitens der Grundherrschaft und anderer Abgabenberechtigter an den Hof gestellt werden. Andererseits müssen die inneren Ansprüche an Nahrung, Kleidung, Bauten, Produktionsmitteln und anderem mehr befriedigt werden. Die Verbindung zwischen der lokalen Produktion und der Einbindung von Gütern in Märkte wird ebenfalls vom Hof übernommen, insbesondere, nachdem die Ablösung von Naturalabgaben in Geld weitgehend erfolgt ist. H ö f e und Haushalte sind keineswegs stabile Einheiten, da durch die Abfolge der Generationen das Verhältnis von Konsumenten zu Produzenten innerhalb einer Haushaltseinheit starken Schwankungen unterworfen ist. Die ökonomische Situation eines Hofes hängt nicht nur von der Flächenausstattung ab, sondern auch von der vorhandenen Arbeitskraft im Verhältnis zu den zu versorgenden Personen. Zu den Angehörigen eines Haushalts zählte von Fall zu Fall auch Gesinde, dessen Bevölkerungsbewegung anderen Regeln unterworfen ist, die hier nicht im Detail betrachtet werden können, die aber ebenfalls das Verhältnis zwischen Produzenten und Konsumenten beeinflussen. Neben der Verteilung ist die Speicherung von Gütern eine wesentliche Aufgabe des Hofes, die zum Teil an Grundherrschaften ausgelagert wird, von der aber die Lebensqualität der Haushaltsmitglieder stark abhängt, was die Uberwindung von Zeiten des Mangels an Gütern betrifft, die ja in vorindustrieller Zeit relativ häufig auftraten. Der Hof ist also ein Ort der Verknüpfung von Produktströmen und Arbeitsleistungen und daher auch jene Einheit, auf die Grundherren ihren Einfluß direkt ausüben, nicht nur durch Abschöpfung von Produkten oder Geld, sondern auch durch vermehrungswirksame Regelungen und Einflußnahme auf die Möglichkeiten der Hofstabilisierung durch Migration. Auch auf die Ausstattung der H ö -
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fe, was Bauten und Produktionsmittel angeht, haben die Grundherren Einfluß, deutlich wird dieser vor allem dann, wenn in Folge von Extremereignissen vermehrte Bautätigkeit nötig wird, um etwa durch Kriege oder Naturkatastrophen beschädigte Häuser wieder aufzubauen, wozu Grundherren üblicherweise direkte und indirekte Hilfeleistungen erbringen. Die zur Bewirtschaftung der Flächen nötige Arbeitsleistung ist eine von drei wesentlichen Einflußgrößen des Produktionssystems. Im Gegensatz zur Gutswirtschaft wird in der grundherrschaftlichen Organisationsform der Produktion der größte Teil der bewirtschafteten Flächen in Eigenregie der Höfe genutzt. Neben der Arbeitsleistung ist die technische Ausstattung und die jeweilige Ausprägung des Nutzungsregimes, etwa in Form der Fruchtfolge (was unter dem Begriff „Technologie" zusammengefaßt werden kann), für das Produktionssystem bestimmend. Einsatzstoffe sind etwa Saatgut und Dünger. Dazu kommen noch Produktionsmittel, also längerlebige Geräte wie Pflüge, Wagen, Werkzeuge etc. Die Produktion wird auch von „administrativen Bedingungen" bestimmt. Darunter fallen vor allem solche Leistungen, die zur räumlichen Synchronisation der Arbeiten der einzelnen Höfe nötig sind, etwa der sogenannte „Flurzwang". Er macht es möglich, daß die kleinen, über die Dorfgemarkung in „Gemengelage" verteilten Flächen gemeinsam bewirtschaftet werden können, was die infrastrukturellen Anforderungen (ζ. B. Viehzäune) stark senkt, aber andererseits individuellen Verbesserungsbestrebungen Grenzen setzt. Der Einfluß der Grundherren auf die Produktion ist evident und kann über die Art der vorgeschriebenen Abgaben auch quellenmäßig gefaßt werden. Daneben sind gerade geistliche Grundherrschaften auch Zentren der Weiterentwicklung agrikulturellen Wissens, welches an die Untertanen unter anderem in Form von Instruktionen zur Bewirtschaftung weitergegeben wird. Ein umfangreiches Regelwerk, das aus Ordnungen, Weistümern etc. besteht, gibt die Rahmenbedingungen der Produktion vor. Das Produktionssystem umfaßt nicht nur die Ackerflächen, sondern alle im agrarökologischen System miteinander verbundenen extensiven wie intensiven Flächen. Der aus der Produktion resultierende Strom an Produkten, zu dem auch das Holz und die Sammelprodukte zu zählen sind, wird in drei Teile aufgeteilt. Ein Teil dient als Saatgut für den nächsten Produktionszyklus, ein weiterer Teil muß an Abgabenberechtigte geliefert werden - hier erfolgt die Verteilung über den Hof - und ein dritter Teil steht den auf dem Hof wohnenden Menschen direkt für die Reproduktion oder auch indirekt über den Markt zur Verfügung. Arbeitskraft wird durch Robotleistungen auf Eigenflächen der Grundherrschaft direkt aus dem dörflichen Verband abgeschöpft. Daneben erfolgt auch eine indirekte Abschöpfung über die Produkte. Produktionswirksame Arbeit wird nicht nur in der Produktion, sondern auch für die Bereitstellung und Aufrechterhaltung der nötigen baulichen Infrastruktur geleistet, daneben ist noch der Gütertransport als wesentliche Infrastrukturleistung zu berücksichtigen, die eben-
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falls durch die bäuerliche Bevölkerung erbracht wird. Grundherren verdienen zudem am Mühlen- und Tavernenzwang. Die verschiedenen Ausprägungen agrarischen Wirtschaftens lassen sich bei allen lokalen Differenzen als Abwandlungen eines Grundmodells auffassen, welches aus extensiven und intensiven Flächen besteht, und in dem Tiere als Arbeitskräfte und zur Konzentration von Nährstoffen von extensiven auf intensive Flächen Verwendung finden. Es ist in Abb. 3.3 dargestellt. Der Arbeitseinsatz durch Menschen erfolgt überwiegend auf den intensiven Flächen. Wenn ein D o r f vorwiegend Vieh produziert, wird dieser Arbeitsaufwand nicht direkt auf der Fläche, sondern vielmehr für die Betreuung des Viehs verwendet. Den Nährstofftransfer (etwa Dünger für die Ackerflächen) heben wir aus den internen Produktströmen heraus, weil er für das Funktionieren des Systems im Sinne der Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit besonders wichtig ist. Die prinzipiellen Produktkategorien sind: 1. Nahrungsmittel inklusive Getränke (auch Wein und Bier) 2. Energieträger (Holz), in Spezialfällen T o r f 3. Rohstoffe für die Produktion gewerblicher Güter (z.B. Fasern zur Tuchherstellung, Pottasche zur Glaserzeugung, Eichenrinde für Gerberei, Schafwolle, etc.) Eine Unterscheidung in vorwiegend der Erzeugung marktfähiger Güter dienende, hochspezialisierte Formen des Wirtschaftens von einer eher subsistenzorientierten, alle Güterkategorien produzierenden Wirtschaftsform sollte wegen der Konsequenzen für die Rolle externer Material- und Energieflüsse vorgenommen werden. Die folgenden Fallstudien repräsentieren verschiedene Ausprägungen des Grundtyps gemischter Wirtschaftsweise in einem gemäßigten Klima, sind aber alle durch eine Mischung von subsistenz- und marktorientierter Wirtschaft gekennzeichnet. Ein wesentlich stärker in Märkte integrierter Typus, nämlich eine Weinbaugemeinde, wird im Anschluß an die folgenden drei mikrostrukturell untersuchten Beispiele präsentiert. In den Quellen schlecht belegt, aber aufgrund unserer Kenntnisse der Nahrungszusammensetzung höchst wahrscheinlich ist das Sammeln wilder Pflanzen und in geringem Umfang der Fang wildlebender Tiere. Diese findet neben der agrarischen oder forstlichen Nutzung der Flächen statt. Diese Nutzungsweise ist im Modell als „Sammelflächen" bezeichnet. Ihr Beitrag zur Massenbilanz kann lokal sehr unterschiedlich sein, die Uberbrückung von Knappheiten, auch der Ausgleich einzelner Nährstoffdefizite kann jedenfalls vermutet werden. Auch Arnold Niederer (1996, 189-192) widmet der Darstellung der Sammelwirtschaft im alpinen Raum ein eigenes Unterkapitel und weist auf die Bedeutung der Sammeltätigkeit hin. Wir gehen davon aus, daß das Sammeln im Wald, in den Auen und in kleinen, sonst ungenutzten Flächen wie etwa in Hecken auch außerhalb des alpinen Raums von Bedeutung ist. Eine Nährstoffbilanzierung müßte die Ergebnisse von Sammeltätigkeiten berücksichtigen. Sammeln schlägt sich auch und
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vor allem in der Arbeitslast von Frauen und Kindern nieder. Gerade die Tätigkeiten von Kindern sind es aber, die, wie etwa Netting (1993, 71) nachweist, die Wirtschaftlichkeit der familialen Ökonomie ausmachen. Pflanzennährstoffe sind in der vorindustriellen Landwirtschaft grundsätzlich knapp. Um die Ertragsfähigkeit der Flächen zu erhalten, wird über das weidende Vieh ein Ersatz entnommener Nährstoffe versucht, der durch die Anwendung mineralischer Nährstoffträger oder Aufschließer (ζ. B. Mergel) zur Bodenverbesserung ergänzt werden kann. Es ist offensichtlich, daß dieser energetisch kostspielige Schritt einen vergleichsweise großen internen Fluß von Material und Energie zur Folge hat, dessen Umfang dem Produktstrom nach außen entsprechen könnte. Die im engeren Sinn landwirtschaftlich genutzten Flächen werden im Fruchtwechsel bzw. in einer mehrteiligen Folge von Brache und Bewirtschaftung kultiviert. Innovationen in der Bewirtschaftung dieser Flächen, wie sie in England mit der Einführung der Kultur von Futterpflanzen und Leguminosen erfolgten, hatten wesentlichen Einfluß auf die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit und die Erträge, ein Beweidungskreislauf war aber im gesamten mitteleuropäischen Kulturland Voraussetzung für dauerhaft bzw. längerfristig bewirtschaftbare Flächen. 32 Zur räumlichen Situation sollte angemerkt werden, daß die Bewirtschaftung externer Flächen, also solcher, die in einiger Entfernung vom Siedlungszentrum außerhalb der geschlossenen Dorffluren liegen und verstreut einzelnen Höfen zugehören, durchaus üblich und weit verbreitet war, so daß eine Bilanzierung keinesfalls ohne solche externe Flächen vorgenommen werden kann. Solche Flächen wurden häufig zum Ausgleich lokaler Defizite verwendet, etwa als zusätzliche Wiesen für Viehfutter. Wegen des Zeitaufwands für die Bewirtschaftung wurden entweder intensive Nutzungen, bei denen ein entsprechend hoher Ertrag zu erzielen war (ζ. B. Weingärten), oder extensive Nutzungen, bei denen der Arbeitsaufwand gering war bzw. zeitlich konzentriert anfällt (ζ. B. Wiesen), bevorzugt. Will man verstehen, welche Umwälzungen die industrielle Transformation mit sich brachte, müssen qualitative und quantitative Daten zu einzelnen Ausprägungen des hier allgemein beschriebenen Systems miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dies geschieht auf den folgenden Seiten.
3.2. Räumliche Differenzierung von Agrarsystemen Die großräumige Segregation agrarischer Nutzungen, die sich im Zuge der Industrialisierung herausgebildet hat und bis heute die Landschaft prägt, hat ihre Grundlage in einem geänderten sozialen Metabolismus. Im vorindustriellen Eu-
32 Vgl. dazu Achilles 1989.
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ropa, insbesondere im Alpenraum, existierte durch die nötige, jeweils bestmögliche Nutzung lokaler naturräumlicher Bedingungen dagegen eine kleinräumige Vielfalt lokaler Formen. Für das Verständnis des Wandlungsprozesses von kleinräumiger Lokaldifferenzierung zu großräumiger Segregation ist eine Kenntnis des vorindustriellen Ausgangssystems unabdingbar. Auf Basis der vorgestellten Modellierungsgrundlagen wurden für vier Dörfer im Gebiet des heutigen Osterreich Darstellungen der Agrarökosysteme erarbeitet, die einer Quantifizierung zugänglich sind, und die zur Darstellung unterschiedlicher Typen genutzt werden. Jeder Versuch einer Typisierung für ein System, dessen Charakteristik die kleinräumige Differenzierung ist, ist problematisch. Dennoch kann mit vier Typen ein Gutteil der Systeme auf einem Niveau mittlerer Abstraktion beschrieben werden. Auszugehen ist dabei von historischen und naturräumlichen Spezifika. Die folgenden Typen werden aufgrund von Differenzen in der Quellenlage und der empirischen Bearbeitung nicht alle gleich ausführlich behandelt. 33 Durch die Diskussion auf zwei Abstraktionsebenen wird aber deutlich, welcher Abstraktionsgrad der Fragestellung nach dem gesellschaftlichen Metabolismus und seiner Veränderung im Zuge der Industrialisierung angemessen ist.
3.2.1 Überblick über die untersuchten Orte Osterreich verfügt auf kleinem Raum über eine hohe Vielfalt an Ausgangsbedingungen für agrarische Produktion und ist daher für die Untersuchung der räumlichen Differenzierung von vorindustriellen Wirtschaftstypen gut geeignet. Das Gebiet des heutigen Osterreich ist in drei Großlandschaften gegliedert. Neben den Alpen sind dies das Granit- und Gneishochland nördlich der Donau sowie das Alpenvorland, das gemeinsam mit den Beckenlagen zur dritten Großlandschaft zusammengefaßt wird. Bei der Auswahl der Dörfer gingen wir davon aus, daß in den verschiedenen Großlandschaften auch unterschiedliche Produktionstypen entwickelt wurden. Drei Dörfer, die für je einen dieser Landschaftstypen repräsentativ sind, wurden im Rahmen einer großen empirischen Studie untersucht, deren Ergebnisse Grundlage der hier präsentierten Auswertungen sind. Es handelt sich um die Orte Voitsau, Großarl und Theyern. Ein vierter Typus wurde bereits in einer früheren empirischen Studie beschrieben (Nußdorf ob der Traisen), allerdings steht für dieses Dorf nur ein lückenhafter Datensatz zur Verfügung. Die beiden unmittelbar aneinander angrenzenden Gemeindegebiete von Nußdorf und Theyern sind naturräumlich durchaus unterschiedlich, obwohl sie in der gleichen Großlandschaft liegen.
33 Vgl. hierzu die Diskussion der Quellengrundlagen im Anhang.
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Für die drei hier im Detail untersuchten Orte gibt es Quellenmaterial über die Hofstruktur der Siedlungen seit dem Mittelalter. Durchgehende Hofbestandsübersichten liegen für fünf eingehend untersuchte H ö f e im Ellmautal, einem Teil des Gemeindegebiets von Großarl, ab 1350, für Theyern ab ca. 1400 und für Voitsau ab 1491 vor. Die drei Orte sind in jeglicher Hinsicht, vor allem aber, was die Entwicklung ihrer Kulturflächen angeht, außergewöhnlich gut und einheitlich dokumentiert. Dies verdanken wir dem Umstand, daß sich die drei Gemeinden praktisch ausschließlich in der Hand jeweils eines Grundherren befanden, zwei davon gehörten zur selben Grundherrschaft. Der grundherrschaftliche Zugriff war dadurch aber auch besonders stark, was den Gemeinden wenig Spielraum für autonome Entscheidungen ließ. Solche Entscheidungen muß es in einem gewissen Ausmaß gegeben haben, etwa was die Allmendenutzung u.ä.m. betrifft. Diesbezüglich steht aber kaum Quellenmaterial zur Verfügung, weshalb diese Aspekte auch nicht eingehend untersucht werden können. Die im Zuge unserer empirischen Untersuchung erstellten sogenannten „Hofbestandsübersichten" 3 4 sind Quellenkompilationen aus diversen Archiven und mehreren Quellentypen. Als Hauptgrundlage dienten für die beiden niederösterreichischen Untersuchungsgebiete Urbare, Dienst-, Grund- und Gewährbücher; für Salzburg waren es statt der Gewährbücher die erzbischöflichen Anlaitlibelle, die denselben Zweck erfüllten. 35 Die Grundlage der Hofstruktur und der Besitzverhältnisse wurde für alle vier Untersuchungseinheiten im Mittelalter durch den Rodungsprozeß gelegt, der die Ausgangsstrukturen für alles Künftige darstellt. 36 Die Katastralgemeinde Theyern (E15°40' N48°21') in Niederösterreich liegt in einem südlichen Nebental des Donautals auf einem aus kalkreichem Konglomerat gebildeten Höhenzug westlich der Traisen in der Nähe von deren Mündung. Die Traisen mündet wenig flußabwärts der Stadt Krems in die Donau. Theyern befindet sich im Plateaubereich des Höhenzugs inmitten einer R o dungsinsel auf ca. 250 m Seehöhe. Die nächstgelegene Klimastation (Krems) verzeichnet eine langjährige Jahresmitteltemperatur von 9,6 °C und 520 mm Niederschlag. Das weitere Umland von Theyern ist durch den Übergang von den
34 In diesen Übersichten wurden alle Daten zusammengefaßt, die zu einer Wirtschaftseinheit gehören, um diese möglichst genau zu erfassen. 35 Die verwendeten Archivalien stammen aus dem Niederösterreichischen und Salzburger Landesarchiv sowie aus dem Stiftsarchiv Göttweig. Detaillierte Ausführungen zum Zustandekommen einer Hofbestandsübersicht und ihrer Auswertung s. Projektgruppe Umweltgeschichte 1999, Theyern bis 1820. Die Entwicklung der Höfe. 36 Für Theyern und Voitsau wurde dieser Prozeß in eigenen Publikationen ausführlich dargelegt, für Großarl mit dem Ellmautal, sowie für Nußdorf aufgrund der schlechteren Quellenlage angedeutet. Ausführlich hierzu Projektgruppe Umweltgeschichte 1999, und Dies., 2000.
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Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
silikatischen Gesteinen des Böhmischen Massivs zu tertiären Molassesedimenten gekennzeichnet. Diese Sedimente bilden den Untergrund. Sie werden zum überwiegenden Teil von kalkreichen Oncophora-Schichten gebildet. Darüber lagert das ebenfalls tertiäre „Karlstettener Konglomerat", welches von einem Vorläufer der Traisen aufgeschüttet wurde. Auf der Rodungsinsel sind die eiszeitlichen Lößablagerungen von großer Bedeutung. Sie stellen durch ihre leichte Bearbeitbarkeit, den ausgeglichenen Mineralgehalt und ihre hohe Wasserkapazität eine gute Grundlage für die landwirtschaftliche Nutzung dar. Das kalkreiche und wasserdurchlässige Konglomerat hingegen ist für landwirtschaftliche Kulturen schlecht geeignet. Dieser Unterschied der beiden wichtigsten Untergrundmaterialien spielte schon in den vergangenen Jahrhunderten bei der Ackerflächenverteilung eine Rolle und spiegelt sich auch heute noch darin wieder. Die Ackerfläche geht trotz moderner Bearbeitungsmethoden nicht über die Grenzen der Lößdecke hinaus. Die in Abb. 3.4 dargestellte Nutzung entspricht der geologischen Untergrundverteilung. Die alpine Gemeinde Großarl (E12°33' N47°16') liegt im Pongau, einem Teil des Bundeslandes Salzburg, im Bereich der Nordabdachung der mittleren Zentralalpen. Für die empirische Untersuchung wurden fünf Höfe im Gemeindegebiet, in einem Seitental des Großarltales, dem Ellmautal, herangezogen, nur die Ausführungen zur physischen Ökonomie (Kapitel 3.3.5) beziehen sich auf die gesamte Gemeinde. Die Gipfel erreichen hier Höhen um 2200 m. Der Dauersiedlungsbereich reicht mit Einzelgehöften bis in Höhenlagen von 1300 m. Die nächstgelegene Klimastation (Rauris, 980 m) verzeichnet eine langjährige Jahresmitteltemperatur von 6,1 °C und 1100 mm Niederschlag. Die eiszeitliche Vergletscherung hat im Zusammenwirken mit den relativ weichen phyllitischen Gesteinen die Morphologie des Talraumes geprägt. Die weitgespannten zentralalpinen Flachhänge werden von kleinen Fließgewässern zerschnitten, die in der Fallirne zu Tal ziehen und dort in den Ellmaubach einmünden. Diese tobel- bzw. kerbtalartigen Einschnitte bilden die natürlich vorgegeben Grenzen zwischen den Nutzflächen der meist einzeln stehenden Bauernhöfe. In Gunstlagen hat selbst in diesen Höhenlagen in der Vergangenheit eine bescheidene Ackerbaunutzung stattgefunden. Dominierend war aber die Viehwirtschaft. Die im Ellmautal angetroffene Form der höhenstufenangepaßten Almwirtschaft mit Beweidung und Bergmähdern ist eine für Europa typische Nutzungsform (Abb. 3.5)! Das dritte Untersuchungsgebiet, die Gemeinde Voitsau (E15°17' N48°25') im südlichen Waldviertel in Niederösterreich, liegt im Granit- und Gneishochland (auch „böhmisches Massiv" genannt). Das Massiv ist der zu einer Mittelgebirgslandschaft reduzierte Rumpf eines variszischen Faltengebirges. Metamorphe Silikatgesteine dominieren und bilden das Substrat für silikatische Braunerden, die die Grundlage für den Ackerbau darstellen. Tonreiche Verwitterungsprodukte dieser Gesteine werden in den Talmulden zusammengeschwemmt und führen zu
Räumliche Differenzierung von Agrarsystemen
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einem durch Gewässer geprägten Standortmosaik. Sie sind die Ursache für Talbodenvernässungen und Niedermoorbildung. Lokal können aber kalkhaltige metamorphe Gesteine zu Tage treten, die zur inselartigen Ausbildung von trokkeneren Standorten mit artenreicherer Vegetation führen. Im Süden ist das Gemeindegebiet durch einen kleinen Flußlauf begrenzt, der am unteren Rand von Abb. 3.6 sichtbar ist. Die Alpenauffaltung hat im Bereich dieses Mittelgebirges zur Ausbildung von Flächentreppen geführt, die nach Westen hin ansteigen und Höhen knapp über 1000 m erreichen. Voitsau selbst liegt zwischen 600-800 m Seehöhe. Am westlichen Rand des Waldviertels liegen die Höhenzüge des Weinsberger Waldes und des Ostrongs. Sie schirmen das Gebiet gegen Westwetterlagen ab, es ist dadurch hinsichtlich seines Mesoklimas stärker kontinental geprägt und damit kälter und niederschlagsärmer als entsprechend der geographische Lage zu erwarten wäre. Die nächstgelegene Klimastation (Zwettl, 520m) verzeichnet eine langjährige Jahresmitteltemperatur von 7,3 °C und 660 mm Niederschlag. Die ursprüngliche Waldvegetation im Waldviertel ist seit dem Hochmittelalter weitgehend gerodet worden und beschränkt sich auf ackerbaulich nicht nutzbare, flachgründige Standorte, die traditionell als Hutweideflächen oder für Brennholzgewinnung genutzt wurden. Lediglich die flußbegleitenden Bachgehölze sind als naturnahe Waldreste anzusehen. Die größeren Waldinseln sind oft schon seit mehreren Jahrhunderten in naturferne Nadelholzforste umgewandelt. Da die im Waldviertel gelegene Gemeinde Voitsau bis dato keinem Kommassierungsverfahren (Flurbereinigung) unterzogen wurde, zeichnet die aktuelle Flurform noch heute die hochmittelalterlichen Gewanne und ihre Streifenflur nach. Bemerkenswert sind dabei aus ökologischer Sicht die zwischen den schmalen Parzellen verlaufenden Stufenraine, die teils artenreiche Wiesenvegetation aufweisen, teils nach Aufgabe früherer Nutzungen verbuscht sind. Die historische Entwicklung in den drei Dörfern weist Ähnlichkeiten, aber auch wichtige Unterschiede auf. Die Primärrodung erfolgte in Theyern bereits im frühen Mittelalter, die Entwicklung hin zu einem Dorf mit Ackerbau vollzog sich im Hochmittelalter. Das Kloster Göttweig versuchte den Ort im Zuge von Besitzarrondierungen im Kernbereich seiner Grundherrschaft ganz in seine Hand zu bekommen. Zuvor besaß das Kloster nur einen Teil der Höfe. 1400 gelang es schließlich, den letzten fehlenden ehemaligen Herrenhof Theyerns zu erwerben. Somit war der gesamte Ort vollständig in Göttweiger Hand. Seit dem 15. Jahrhundert war die Zahl von 17 Höfen relativ konstant, wenngleich die Höfestruktur noch lange nicht ihre endgültige Ausformung erhalten hatte. In einem länger dauernden Prozeß der erst gegen 1550 ein Ende fand, erfolgten noch einige Umgliederungen in der Hofstruktur. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die bis zum Franziszeischen Kataster der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „stabile" Struktur von 3 Ganzlehen, 10 Halblehen und 4 Hofstätten herausgebildet. Die größte Ausdehnung der Rodungsfläche war Ende des 14. Jahrhunderts zu verzeichnen.
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Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
Im Ellmautal und in Voitsau traten geistliche Institutionen als Rodungsherren auf. Im Fall von Voitsau waren die Göttweiger Benediktiner, in Großarl bzw. im Ellmautal vornehmlich die Erzbischöfe von Salzburg im Rodungsprozeß federführend. Während die Besiedlungsstruktur im Ellmautal nach zwei Besiedlungsphasen des Hochmittelalters kaum noch Weiterentwicklungen erfuhr und die Hofstruktur - aus Schwaigen 3 7 gebildet, die sich über mehrere Höhenstufen hinweg erstreckten - damit konstant blieb, war das Spätmittelalter für Voitsau eine Zeit der Umstrukturierung und Ausdifferenzierung. Zu Beginn des H . J a h r h u n derts gab es in Voitsau noch 16 Ganzlehen, 1 Mühle und zwei bis drei Hofstätten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts finden wir einen Ausdifferenzierungsprozeß, der im Urbar von 1361 aufgezeichnet wurde. Höfe wurden aufgespalten, in einigen Fällen kamen kleinere Betriebseinheiten hinzu. Die gerodete Fläche wurde auf das Maximum ausgedehnt, selbst die bewaldeten Flächen an der Kleinen Krems, dem Flüßchen, das den O r t im Süden durchfließt, wurden gerodet und für die Dotierung von zwei Halblehen herangezogen. Diese Entwicklung wurde im 15. Jahrhundert wieder gebremst und zum Teil ins Gegenteil verkehrt. Sehr kleine Betriebseinheiten (Hofstätten) wurden wieder aufgelöst bzw. in Halblehen umgewandelt, also wohl besser dotiert. 1491 weist das Urbar schließlich eine Hofstruktur aus, die bis ins frühe 19. Jahrhundert, das heißt bis in die Zeit des Franziszeischen Katasters, gleich bleiben sollte. Voitsau bestand damals aus 14 Ganzlehen, 8 Halblehen, 2 Hofstätten und 2 Mühlen. In Theyern und Voitsau dominierte der Ackerbau. Die um die Orte gruppierte Flur war daher im wesentlichen durch Ackerparzellen gekennzeichnet, wobei in Voitsau der Anteil an Wiesen höher war. Im alpinen Ellmautal herrschten Grünlandwirtschaft und Viehzucht vor, die von den Schwaighöfen aus betrieben wurde und wird. N u r im Talbereich gab es hier Ackerbau. Die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts war aufgrund kriegerischer Verwicklungen für die beiden niederösterreichischen Orte Theyern und Voitsau ökonomisch sehr schwierig. Insbesondere Theyern drohte um 1500 völlig zu veröden. Die H ö f e konnten nur durch Interventionen der Grundherrschaft wieder mit Inhabern besetzt werden. Uber die gesamte erste Jahrhunderthälfte blieb jedoch niemand lange auf einem der Theyerner Höfe, auch nicht auf den großen. Die überaus häufigen Hofübertragungen belegen dies. Manche der 17 Höfe mußten im Jahr bis zu drei Mal neu ausgegeben werden. Das bedeutet, daß manche H o f inhaber den H o f nicht einmal über eine Vegetationsperiode bewirtschafteten. 3 8 In Voitsau war die Situation nicht derart dramatisch. Das D o r f stand nie vor der Verödung. Die Übertragungsraten der Höfe mit geringer Grundausstattung lagen im Zeitraum 1500 bis 1550/1600 aber ebenfalls sehr hoch. Kaum ein Inha-
37 Bezeichnung für vornehmlich der Viehwirtschaft gewidmete, ganzjährig bewohnte Höfe. 38 Projektgruppe Umweltgeschichte 1999, Kap. Theyern bis 1820: Die Entwicklung der Höfe.
Räumliche Differenzierung von Agrarsystemen
65
ber hielt sich mehrere Jahre auf dem Hof. Insbesondere die beiden Hofstätten weisen überdurchschnittlich hohe Raten des Besitzerwechsels auf und liegen damit auf Theyerner Niveau. Sie konnten aber immer wieder mit Inhabern besetzt werden. Die Mühlen sowie einige Halblehen scheinen ebenfalls durchgehend in Schwierigkeiten gewesen zu sein. Die größeren Höfe bzw. jene mit mehr zugehörigem Land dürften resilienter gewesen sein. Zumindest mußten die Inhaber ihre Höfe nicht aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten verlassen. Im Ellmautal kann um 1500 bzw. zwischen 1500 und 1600 keine erhöhte Hofübertragungsrate festgestellt werden. Dieser Umstand dürfte mit der besseren Ausstattung der Höfe mit Kulturland zusammenhängen. Dies gilt auch für den anschließenden Zeitraum von 1600 bis 1800.39 Die drei Untersuchungsgebiete weisen im Zeitraum vom hohen Mittelalter bis 1600 also eine unterschiedliche Dynamik in der Hofstruktur auf. Während im Ellmautal seit 1350 keine Veränderungen bezüglich der Höfe im Tal festgestellt werden können, ist der Wandlungs- und Aufspaltungsprozeß in Voitsau erst im 15. Jahrhundert abgeschlossen. In Theyern diversifizierte sich die Höfestruktur am stärksten. Dort endete der Ausdifferenzierungsprozeß der Höfestruktur - jedoch nicht die demographischen Dynamik - erst nach 1550. Insgesamt läßt sich feststellen, daß im Lauf der Jahrhunderte in allen drei Großlandschaften Österreichs die Höfe mit der größten Ausstattung mit Kulturland im allgemeinen geringere wirtschaftliche Schwierigkeiten hatten. Die Inhaber kleinerer Höfe waren in Jahren mit schlechten Getreidepreisen gezwungen, ihr Getreide trotzdem zu verkaufen, die besser ausgestatteten Bauern hatten Reserven und verkauften erst dann, wenn die Preise wieder günstig für sie waren. Theyern um 1500 ist die Ausnahme von dieser Regel. Hier war man um 1500 in einer derartig schweren, durch vielfältige Umstände herbeigeführten Krise, daß auch die beste Hofausstattung nicht mehr half. 40 Kleine Betriebseinheiten, insbesondere Hofstätten, konnten aufgrund der geringen Ausstattung mit bewirtschaftbarem Boden die natürliche Variabilität der Erträge schlechter ausgleichen. Auf solchen Hofstätten war es nicht möglich, Reserven für schlechtere Zeiten anzulegen. Die Hofübertragungsraten sind hier durchgehend höher als in den größeren Betriebseinheiten. Dies weist auf die schwachen wirtschaftlichen Grundlagen hin. Vergleicht man die Trends in den drei Orten, so läßt sich eines feststellen: je abgelegener ein Ort liegt, desto „stabiler" scheint er zu sein. Je mehr Anbindung an Märkte gegeben ist, desto dynamischer ist die Entwicklung. Theyern ist am
39 Vgl. dazu Projektgruppe Umweltgeschichte, 2000, Kap. Höfe und Inhaber. Theyern, Voitsau und Ellmautal. 40 Projektgruppe Umweltgeschichte, 1999, Kap. Theyern bis 1820: Die Entwicklung der Höfe.
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Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
ehesten zentral gelegen. Durch die Bewirtschaftung von Weingärten verfügten die Theyerner über ein marktgängiges Produkt und pflegten deshalb intensivere Marktbeziehungen. Das Halten eines Hofes durch einen Inhaber bzw. das wirtschaftliche Auskommen auf einigen Theyerner Höfen scheint auch nur aufgrund von Weinbau möglich gewesen zu sein. Brachen die Märkte ein oder gaben nach, gerieten diese H ö f e sofort in Schwierigkeiten. In Voitsau konnte das praktisch nicht passieren, da es wenig Marktbeziehungen gab. Hier kann man von einer fast geschlossenen Subsistenzwirtschaft ausgehen. Für Theyern gilt das wegen des Weines nicht in demselben Maß. Weinbau ist, wie alle Hortikulturen, sehr schlecht mechanisierbar, wodurch hier der unmittelbare Einfluß der fossilenergetischen landwirtschaftlichen Revolution auf den gesellschaftlichen Stoffwechsel gering bleibt. Indirekte Veränderungen, vor allem durch geänderte Transportbedingungen, dürften weit wichtiger sein. Der Theyern benachbarte Ort Nußdorf, der im Anschluß an die detaillierte Diskussion der drei ackerbaulichen Typen vorgestellt wird, steht für den hortikulturell dominierten Wirtschaftstyp, eine Wirtschaftsform, die in Gunstlagen Europas auch großflächig dominieren kann, auf dem Gebiet des heutigen Osterreich aber nur kleinere Gebiete umfaßte und umfaßt. Aufgrund der meist sehr zersplitterten Besitzverhältnisse, die für solche Orte typisch sind (da viele Grundherrschaften Bedarf an Wein hatten, den sie so, wenn auch in geringen Mengen, decken konnten) ist die quellenmäßige Aufarbeitung deutlich schwieriger. Für den im Rahmen der empirischen Studien untersuchten Ort Nußdorf ist zudem eine Reihe von Archivalien verloren gegangen, so daß dieser Ort nur auf allgemeinerer Ebene beschrieben werden kann. In Orten, an denen Wein und Obstbau dominieren, wurde schon früh der Getreidebedarf durch Import aus anderen Gemeinden gedeckt, zu wertvoll war das hortikulturell nutzbare Land. Weinbaugegenden waren damit oft Vorreiter größerräumiger Verflechtungen. Großarl dürfte wegen der Viehzucht und der bestehenden Marktanbindung beim Jungvieh ebenso wie die Weinorte weit weniger subsistenzwirtschaftlich ausgerichtet gewesen sein als die ackerbaulich dominierten Orte. Uber Probleme, die Ellmautaler H ö f e durch schwankenden Erfolg auf den Viehmärkten gehabt haben können, wissen wir allerdings nichts. Das hortikulturelle Landschaftsmuster der Gemeinde Nußdorf ist in Abb. 3.7 gut zu erkennen.
3.2.2. Wirtschaftsweise und räumliches Organisationsmuster Siedlungsstruktur und Flurgestalt der untersuchten Gemeinden sind mit der jeweils vorherrschenden agrarischen Wirtschaftsweise verbunden. Klima und Böden der Ortschaften Voitsau und Theyern erlaubten eine klare Ausrichtung der vorindustriellen Agrarproduktion auf den energetisch effizienteren und intensiveren Getreidebau. Hier sind die handelnden Personen zu engen Dorfgemein-
Räumliche Differenzierung von Agrarsystemen
67
Schäften inmitten der Feldflur zusammengeschlossen. Die seit dem Hochmittelalter bestehende Dreifelderwirtschaft verlangt aus Gründen der Flächenökonomie eine gemeinschaftliche Organisation des Feldbaus und Weidegangs. Der daraus resultierende Flurzwang drückt sich räumlich in der hochmittelalterlichen Gewannflur und der Gemengelage der Acker aus (Rösener 1992, 55). Das Ackerland von Voitsau und Theyern war in größere zusammenhängende Flurteile, die sogenannten Gewanne, gegliedert. Die Aufteilung dieser Feldstücke unter den bewirtschaftenden Höfen erfolgte in Form schmaler, langgestreckter Ackerparzellen (Abb. 3.4 und 3.6). Daraus ergab sich die charakteristische Gestalt der Langstreifenflur, welche in Voitsau noch heute zu sehen ist. Im klimatisch und geomorphologisch weniger für den Ackerbau geeigneten Voitsau (Abb. 3.6) wird heute eine gemischte Grünland-Ackerbauwirtschaft betrieben. Im frühen 19. Jahrhundert war die Grasfläche dagegen zugunsten des Getreidebaus stark reduziert. Selbst die stärker geneigten Hänge wurden mit Getreide bebaut. Damit waren die Wiesen auf die Talmulden der Kleinen Krems und deren Seitenbäche im südlichen Teil der Gemeindefläche sowie auf kleinere talförmige Vertiefungen innerhalb der Ackerflur beschränkt. Im flacheren nördlichen Bereich der Gemeindefläche durchsetzten dagegen staunasse Bereiche mit Wiesennutzung die Ackerfläche der dortigen Hochfläche, da, wie im Operat zum Kataster erklärt wird: „das Bodenwasser weniger leicht abfließen kann". Allerdings durchzog mit den Rainen ein feines Netz von Grasstreifen das Akkerland. Ihre Ausprägung als Stufenraine mit teilweise beträchtlicher Höhe machte sie auch landwirtschaftlich wertvoll. Im Franziszeischen Kataster sind sie daher trotz geringer Breite als eigene Parzellen ausgewiesen. Sie dienten dem Vieh als Hutweiden. Wald stockte lediglich auf einer für die landwirtschaftliche Nutzung nicht geeigneten, flachgründigen Geländekuppe, deren besonders saures Substrat von Quarzit bestimmt ist (Fuchs und Fuchs 1986). Als größeres Fließgewässer begrenzt die Kleine Krems die Gemeinde im Süden. Vereinzelte Überschwemmungen verursachten Schäden an den dort gelegenen Kulturflächen. In den klimatischen und geomorphologischen Ungunstlagen des alpinen Ellmautales wurde seit Beginn der Erschließung vorwiegend Viehwirtschaft betrieben. Die Einzelhoflage der bewirtschaftenden Höfe prägte und prägt die räumliche Organisation des Tales (Abb. 3.5). Lage und Gestalt der Hoffluren ergeben sich aus der Zerschneidung der Hänge durch herabziehende Fließgewässer. Die auf diese Weise geschaffenen Hangabschnitte werden von den jeweils ansässigen Höfen räumlich getrennt bewirtschaftet. Deren Grundstücksfläche erstreckt sich vom Talboden hinauf zu den Waldflächen der Mittelhanglagen. In einem Fall (Hof Promegg Nr. 78) zieht sich das Hofgut über alle Höhenzonen hinweg bis hinauf zu den hofeigenen Almflächen und Bergmähder. Im Gegensatz zu den heutigen Grünlandbetrieben in alpinen Lagen wirtschafteten die Höfe des frühen 19. Jahrhunderts auf subsistenzorientierter Basis
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Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
(Zwittkowits 1982). Die untersuchten Höfe des Ellmautales betrieben eine höhenstufenangepaßte, gemischte Wirtschaft mit einer Kombination von Grünland- und Ackerbau. Die Flächen der unteren Hanglagen dienten dabei der abwechselnden Wiesen- und Egartennutzung. Egärten sind Flächen, die vorwiegend im Talbereich gelegen, in einem mehrstufigen Rotationsverfahren dem Getreidebau dienten. Die etwas abgeflachten, tiefgründigen und südexponierten Flächen wurden als Acker genutzt. Zahlreiche Acker von beträchtlicher Größe waren im Tal in die dominierende Wiesenfläche eingebettet. Ihre unregelmäßige Gestalt ergab sich aus der Einpassung in die Morphologie des Geländes. Die umgebenden Wiesen zeichnen dagegen schmale Geländestufen, seichtgründige oder steinige Böden und Steilflächen nach. In unmittelbarer Hofnähe befand sich zusätzlich jeweils ein Gemüsegarten. Im Mittelhangbereich erstreckten sich ausgedehnte Hutweiden mit einzelnen extensiv genutzten Wiesen. Die höchste Stufe nahmen schließlich Bergmähder und Almen ein. Wälder bedeckten lediglich die steilsten oder besonders felsige Lagen. Selbst in den engen Einschnitten der Seitenbäche waren sie nur abschnittsweise als schmale Streifen ausgebildet. Allerdings weist das Parzellenprotokoll von 1831 einen Großteil des Graslandes als mit Bäumen und Gestrüpp bewachsen aus. In Ost/West Richtung verlaufende Alpentäler sind in „sonnseitige" und „schattseitige" Hanglagen differenziert. Die Bewirtschaftung trägt im Allgemeinen dieser Differenz Rechnung. Auch hier ist eine Optimierung der Nutzung von Standortbedingungen merkbar. Am Schattenhang waren die Grenzen der eben beschriebenen Zonierung - offensichtlich aufgrund der geringeren Sonneneinstrahlung - etwas durchbrochen. In den Niederungen war das Verhältnis der Kulturen zugunsten des reinen Grünlandes verschoben. Egartenwirtschaft fand dort nur auf den Talböden sowie den west- oder ostexponierten Lagen der begrenzenden Bacheinschnitte statt. Dagegen erstreckte sich die extensive Hutweidenutzung auf dieser Seite des Tales bis in die Niederungen. Am Sonnhang wurden in Tallage nur die steilen Bacheinschnitte beweidet. Die „Erdabsitzung" einer derartig genutzten Steilfläche an der westlichen Begrenzung des schattseitigen Ellmaugutes ist somit auf Ubernutzung durch den Menschen zurückzuführen. In engem Zusammenhang mit derartigen Erosionserscheinungen entstanden auch die morphologischen Kleinformen der Hänge wie Stufen oder Terrassen (Fehn 1982, 280). Der Ellmaubach selbst war von zahlreichen Schotterflächen im Besitz der Gemeinde gesäumt. Von den Bächen der Gemeinde weist dieses Fließgewässer bei Starkregen oder plötzlicher Schneeschmelze die größten Verschönerungen auf. T r o t z bedeutender Flurschäden an den anliegenden Grundstücken bestanden nach Angaben der Operate jedoch keine „Schutzanstalten" gegen Überflutungen.
69
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
3.3. Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten Einen Uberblick über wesentliche Charakteristika der drei im Detail untersuchten Landnutzungssysteme (sowie auch der in Kapitel 3.4.3 beschriebenen Gemeinde Nußdorf), die in der Folge auch kurz in Hinsicht auf den Typus, den sie repräsentieren, beschrieben werden, gibt Tab. 3.1. Abb. 3.8 bietet einen Vergleich der Landbedeckung in den vier Dörfern (vergleiche auch die Karten zur Landbedeckung in Abb. 3.4 bis 3.7).
Tab. 3.1: Bevölkerung, Landnutzung und Viehbestand in den untersuchten Orten [Einheit]
Theyern ι Nußdorf Voitsau Großarl
Bevölkerung
[Anzahl]
102
Haushalte
[Anzahl]
Höfe
[Anzahl]
Landw. Arbeitskräfte
462
129
650
20
77
29
122
17
63
24
80
[Anzahl]
67
249
85
429
Bevölkerungsdichte
[P/km 2 ]
45
127
40
22
Viehdichte pro Gesamtfläche
[GVE 500 /km 2 ]
24
33
30
10
Viehdichte pro landw. Fläche
[GVE 500 /km 2 ]
38
85
32
17
Hofgröße (Gesamtfläche/Hof)
[ha/Hof]
13,0
5,6
13,5
30,9
Hofgröße (landw. Fläche/Hof)
[ha/Hof]
8,4
2,2
13,0
21,0
Gesamtfläche*
[km 2 ]
2,25
3,63
davon Uberlandgründe
[km 2 ]
0,26
Ackerland
[%] [%] [%] [%] [%]
Landnutzung
Gartenland Grünland Wald Sonstige Flächen Externe
k.D.
3,25 29,00 0,21 k.D.
54%
20%
62%
5%
6%
17%
1%
0%
3%
2%
33%
53%
35%
58%
1%
27%
2%
3%
3%
15%
0,9
Weide/Holzbezugsrechte* ••'[km2]
Viehbestand 54
120
99
284
Gesamtbestand
[GVE 500 ]
Pferde
[%GVE 5 0 0 ]
8%
14%
0%
6%
Ochsen
[%GVE 5 0 0 ]
34%
0%
60%
0%
Kühe
[%GVE 5 0 0 ]
32%
61 %
24%
66%
Kälber/Jungvieh
[%GVE 5 0 0 ]
6%
10%
8%
12%
70
Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
Tab. 3.1: Fortsetzung Schweine
[%GVE 5 0 0 ]
9%
14%
4%
1%
Schafe
[%GVE 5 0 0 ]
10%
0%
3%
11 %
Ziegen
[%GVE 5 0 0 ]
0%
0%
0%
3%
Geflügel
[%GVE 5 0 0 ]
1%
1%
0%
0%
*
Diese Fläche inkludiert die sogenannten Überlandgründe, nicht aber externe Flächen mit
Holzbezugs- bzw. Weiderechten. * * Anteiliger Wert, berechnet
3.3.1. Subsistenzorientierte, gemischte Landwirtschaft auf Lößboden im stiftlichen Wirtschaftsverband: Theyern Theyern ist mit einer Gesamtfläche von nur 2,25 km 2 die kleinste der drei im Detail untersuchten Gemeinden, sie weist mit 45 P/km 2 allerdings die höchste Bevölkerungsdichte auf. Der Ortskern von Theyern besteht aus 17 Höfen. Er befindet sich inmitten einer Lößschicht, die von Konglomeratgestein umgeben ist. Die gerodete und ackerbaulich genutzte Fläche folgt ziemlich genau dieser Lößauflage. Betrachtet man die Verteilung der Gesamtfläche des Ortes auf die Kulturarten (Abb. 3.4 und 3.8), so stellt man fest, daß Theyern von Ackern und Wald dominiert wird. Die Acker nehmen zusammen 54 % der Fläche ein, 35 % sind von Wald bestanden. Trotz des bedeutenden Viehbestandes von 24 G V E / k m 2 sind in dieser vom Ackerbau dominierten Gemeinde lediglich 9 % als Wiesen, Gärten und Hutweiden ausgewiesen. Die hauptsächlich vorhandenen Kulturarten wurden für die Katasteraufnahme und Grundsteuerbewertung nach der Bonität zumeist in drei sogenannte „Klassen", unterteilt. Diese Klassen wurden nicht überregional, sondern am jeweiligen Ort festgelegt. Die durchschnittlich gute, „normale" und damit prozentuell überwiegende Fläche wurde üblicherweise der zweiten Klasse zugeschlagen. Dies trifft sowohl auf die Bewertung der Ackerflächen wie auch auf jene der Wälder zu. Das Ackerland wurde in Theyern noch in Form der traditionellen Dreifelderwirtschaft genutzt in der in einem dreijährigen Zyklus Brache, Wintergetreide (Roggen) und Sommergetreide (Linsgetreide) abwechselten. In Theyern wurden allerdings bereits fast ein Drittel der Brache mit Kartoffeln und vor allem Klee bestellt. Aus dem Modell des Agrarökosystems von Theyern 1827 (Abb. 3.9) ist ersichtlich, daß der Schwerpunkt auf Ackerbau und den daraus resultierenden Produktströmen liegt. Daneben spielt Vieh (inklusive der Schafe und Schweine) eine nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. Beinlich 1998). Es wurde im Wald, auf Brachäckern und auf Restflächen wie Hutweiden und Rainen geweidet, womit es zum Nährstofftransfer auf diese Flächen und über den nächtlich im Stall abgegebenen Dung auch von diesen Flächen kam. Wiesen sind im Gemeindegebiet von
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
71
Theyern stark unterrepräsentiert, auch wenn man die etwa 2 ha Überlandwiesen der Theyerner berücksichtigt. Das reichlich vorhandene Holz wurde lediglich in der Gemeinde selbst verwertet. Im Gegensatz zu den anderen Produkten gelangte es praktisch nie auf den Markt, sondern diente als Heizmaterial in den bäuerlichen Haushalten, als Baumaterial und wurde in beträchtlichen Mengen in den Weingärten (8 ha) außerhalb Theyerns als Weingartenstecken verwendet. In die geringen Flächen dieser Weingärten flöß im Vergleich zur Fläche sehr viel menschliche Arbeit. Die meiste Arbeit - tierisch wie menschlich - wurde aber auf den Ackern verrichtet. Beide Formen von Arbeitsleistung wurden zusätzlich als Robot in Form von Hand- und Spanndiensten für die Grundherrschaft, das Stift Göttweig, aus Theyern abgezogen. Ebenso flöß ein gewisser Teil des Produktstroms direkt oder indirekt - mittels Geld - an die Herrschaft. Dabei diente der Hof als Verteilungszentrum, egal ob die Produkte in Form von Naturalabgaben an die Herrschaft weitergeleitet wurden oder der Weg über den Markt gewählt wurde.
3.3.2. Subsistenzorientierte, gemischte Landwirtschaft auf Marginalstandort im stiftlichen Wirtschaftsverband: Voitsau
Voitsau ist eine typische Gemeinde des Granit- und Gneishochlandes im nördlichen Niederösterreich. Die Gemeinde umfaßt mit Überlandgründen ein Gebiet von 3,25 km 2 und weist eine recht hohe Bevölkerungsdichte von 40 P/km2 auf. Auf 600 bis 800 m Seehöhe gelegen, ist das Klima in dieser Gemeinde kälter und feuchter als im nur etwa 40 km weiter südlich liegenden Theyern. Trotz der klimatisch ungünstigeren Bedingungen ist auch in Voitsau die Landnutzung vom Ackerbau dominiert (Abb. 3.10). 62 % der von den Voitsauern insgesamt genutzten Fläche (inklusive der Uberlandgründe) werden von Äckern in insgesamt drei Klassen bedeckt. Etwa ein Drittel der Fläche wird als Grünland genutzt und Wald ist mit unter 1 % praktisch nicht vorhanden. Allerdings besaßen die Voitsauer Holzbezugs- und Weiderechte für zwei nicht im Kataster von Voitsau erfaßte Gebiete, die Kotteser bzw. Voitsauer Heide. Der Brennholzbedarf wurde von diesen Flächen gedeckt, ebenso wie ein guter Teil der Futterversorgung des Voitsauer Viehs. Die Nutzungsrechte der Voitsauer schätzen wir über die Bedarfsstruktur auf ein Äquivalent von knapp 90 ha Wald und Weidefläche, sie bedeuteten also - verglichen mit jenen innerhalb der Gemeinde - eine Erweiterung der Nutzflächen um ein Viertel. Auch in Voitsau hatten Flächen außerhalb der Gemeindegrenzen große Bedeutung für das Funktionieren des Agrarökosystems bzw. des örtlichen Wirtschaftssystems. Für die historische Rekonstruktion ergeben sich daraus spezielle Probleme. Jede einzelne Fläche muß für sich in den Quellen verortet und aus dem Kontext des Verbandes herausgenommen werden, um dem Ort, zu dessen Agrarökonomie sie gehört, zugeordnet werden zu kön-
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Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
nen. Auch in Voitsau wurde Dreifelderwirtschaft mit Roggen als Wintergetreide und Hafer als Sommerfrucht betrieben. Im Gegensatz zu Theyern wurde die Besömmerung der Brache mit neuen Feldfrüchten hier aber noch kaum betrieben. N u r auf einem kleinen Teil der besten Acker wurden im Brachejahr Kartoffeln angebaut. Das Agrarökosystem in Voitsau (Abb. 3.10) ähnelt jenem von Theyern durchaus. Unterschiede bestehen lediglich im höheren innergemeindlichen Grünlandanteil. Dieser höhere Stellenwert findet in der Unterscheidung von drei Wiesenklassen auch in der Verwaltungsquelle (den Operaten zum Franziszeischen Kataster) seinen Niederschlag und spiegelt sich in einer recht hohen Viehdichte (30 G V E / k m 2 ) wieder. In Voitsau werden allerdings keine Pferde gehalten, die in der Landwirtschaft erforderliche Zugkraft wird von Ochsen geleistet, die 60 % des gesamten Viehbestandes ausgemacht haben. Arbeitskraft fließt in diesem System vor allem in den Ackerbau. Die Voitsauer konnten keinen Weinbau betreiben, dafür ist die Lage des Ortes im Granit- und Gneishochland ungeeignet. Sie waren auf den Getreidebau und die Erträge daraus angewiesen. D a die kargen Urgesteinsböden und das rauhe Klima der Höhenstufe keine hohen Erträge zuließen, handelte es sich in Voitsau im wesentlichen um Subsistenzwirtschaft. Außer dem Abfluß von Produkten an die Grundherrschaft, den Vogt und die Kirche gab es keine überschüssigen Produkte. Daher konnte die Gemeinde auch nichts auf den Markt bringen.
3.3.3. Ostalpine Almwirtschaft kombiniert mit Holzwirtschaft für den Bergbau: Großarl/Ellmautal Das Gemeindegebiet von Großarl ist mit 29 km 2 um ein Vielfaches größer als das von Theyern oder Voitsau, die Bevölkerungsdichte liegt mit 22 P/km 2 allerdings deutlich tiefer. Die Salzburger Gebirgsgemeinde im Pongau, die sich von 900 Metern im Talbereich bis auf über 2000 Meter hinauf erstreckte, war im frühen 19. Jahrhundert von Grünland-, Egarten- und Holzwirtschaft geprägt (Abb. 3.8). Die Wiesen hatten 15 % Anteil an der Gesamtfläche der Katastralgemeinde. Die kleinen Hausgärten beliefen sich auf weniger als 1 % , die Hutweiden insgesamt auf 17 % . 30 % der Gesamtfläche entfielen auf Almen, auch Alpen genannt, nur 6 % der Fläche auf Egärten. Die Egartenwirtschaft ist eine im Alpenraum verbreitete Landnutzungsform, in der sich Ackerbau und Grünland in einem unterschiedlichen zeitlichen Rhythmus abwechseln. Ein Zyklus dauerte in Großarl zwischen 4 und 8 Jahre, inklusive zwei bis drei Jahre Wiesennutzung. Roggen (Winterkorn) stellte neben Winterweizen und Gerste die wichtigste Feldfrucht in der Egartenwirtschaft Großarls dar. Der Hochwald stellte mit 32 % den größten Anteil an der Nutzfläche Großarls.
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
73
Das agrarökologische Modell für Großarl (Abb. 3.11) sieht entsprechend anders aus als jenes für Theyern oder Voitsau. Der Grünlandanteil von insgesamt mehr als 53 % und der Waldanteil von 27 % lassen erkennen, wo die Schwerpunkte der Bewirtschaftung hier liegen. Es ist zu betonen, daß der Großteil des Waldes dem Landesfürsten gehörte und die im Tal ansässige Bevölkerung von dessen Nutzung ausgeschlossen bzw. diese stark eingeschränkt war. Dieses generelle Muster gilt insbesondere für den Salzburger Pongau, der in sehr hohem Ausmaß dem Landesfürsten als Grundherren unterstand. 41 Das Holz wurde für die Saline Hallein benötigt. Das Management dieser Ressource wurde seit dem Mittelalter sehr bewußt und mit hohem Verwaltungsaufwand betrieben (Sonnlechner und Winiwarter 1999). Die Arbeitskraft flöß zu einem erheblichen Teil in die Viehhaltung und damit auch in die Grünlandbereiche wie Wiesen und Mähder. Auch die wenigen Egärten zur Getreideproduktion waren Intensivflächen, deren Bewirtschaftung sehr viel Arbeit erforderte. Mit ihrer intensive Bewirtschaftung und hohen Düngergaben erlaubte die Egartenwirtschaft, auch in großen Höhenlagen relative hohe Getreideerträge (> 600 kg/ha netto) zu erwirtschaften. Insgesamt genügte die Erntemenge aber nur notdürftig der Eigenbedarfsdeckung. An marktgängigen Produkten aus Großarl sind vor allem Vieh wie auch Milchprodukte, speziell Käse, und Holz zu nennen. Wie auch Christian Pfister in seiner Klimageschichte als Spezifikum der Almwirtschaft anführt, ist ein Ort wie Großarl auf leistungsfähige Viehmärkte angewiesen, da die größten Flächen nur für den Sommer zur Verfügung stehen und daher keinesfalls das gesamte Vieh überwintert werden kann (Pfister 1985). Daran ist zu sehen, daß auch eine extensive Form der Flächennutzung auf Märkte angewiesen sein kann. Robotdienste waren als Hand- und Spanndienste vor allem im Wald bzw. im Zusammenhang mit der Holzproduktion zu leisten. Produktabschöpfung seitens des Grundherrn erfolgte über das Vieh, über die Abgabe von Vieh für die herrschaftliche Küche sowie Käsedienste.
41
Im Pinzgau oder beispielsweise auch in Tirol gab es eine große Anzahl freier Bauern, die einen eigenständigen, wenn auch durch landesfürstliche Auflagen teilweise eingeschränkten Holzhandel betreiben konnten. Es wäre zu prüfen, inwieweit sich die Untertanen an die Verbote des Holzverkaufs aus ihnen zur Nutzung übergebenen grundherrschaftlichen Wäldern hielten. Diese in der neueren Forstgeschichte vieldiskutierte Problematik kann hier nicht näher beleuchtet werden.
74
Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
3 . 3 . 4 . Vergleich der Hofökonomie in den drei empirisch untersuchten Gebieten42 Überblick über die Quellen Die Wirtschaftseinheit Hof stellt ein Schlüsselelement der agrarischen Produktion und der dabei erfolgenden Transformation von Natur- in Kulturlandschaft dar. Gleichzeitig fungiert der Hof als ökonomische und institutionelle Einheit des im Dorf agierenden Personenverbandes und bildet dessen sozio-ökonomische Grundstruktur. Damit spielen die Höfe eine entscheidende Rolle in der Untersuchung der dynamischen Wechselwirkungen von Gesellschaft und Natur. Höfe sind Untersuchungseinheiten mit kulturlandschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung. Zur Typisierung der Höfe werden die Kriterien Ertragslage, Kulturaufwand und Kulturflächenausstattung herangezogen. Die resultierenden Produktionstypen werden in Folge hinsichtlich ihres demographischen und landschaftsgestaltenden Verhaltens verglichen. Als Kernzeit der Typisierung dient die Zeit der Erstellung des Franziszeischen Katasters um 1820. Die ausführlichen Steuerschätzungsoperate bieten die erforderlichen Grundinformationen zu den Produktionsverhältnissen einzelner Höfe erstmals flächendeckend für ganz Osterreich - allerdings sind einige dieser Quellen verloren gegangen oder wurden sogar skartiert. Die gewonnenen Betriebstypen dienen dann auch der Analyse weiter zurückreichender Zeitreihen der Dorfentwicklung. Die hohe Stabilität der untersuchten Hofstrukturen 43 und der dazugehörigen Kulturflächenanteile ermöglicht eine derartige Vorgehensweise. Auch in vorindustrieller Zeit erfolgte die Landbewirtschaftung nicht ausschließlich auf den im jeweiligen Dorf liegenden Flächen. Zur Erhebung der Produktionstypen ist es daher notwendig, auch alle auswärtigen Kulturflächen, die eine Dorfgemeinschaft bewirtschaftete, durch möglichst genaue Ertragsdaten zu belegen. Zu diesem Zweck wurden für Theyern zusätzlich die Operate der Nachbargemeinden Nußdorf, Inzersdorf, Getzersdorf, Reichersdorf und Höbenbach sowie für Voitsau die der angrenzenden Orte Voirans, Leopolds, Kottes, Kalkgrub und Dankholz erhoben 44 .
42 Vgl. dazu grundsätzlich Projektgruppe Umweltgeschichte, 1999. 43 Projektgruppe Umweltgeschichte, 1999, Kap. ,Die Entwicklung der H ö f e ' , und oben, Kap. 3.1. 44 Im Anhang befindet sich ein Überblick über die Quellenangaben, auf dem die folgenden Analysen beruhen.
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
75
Ergebnisse Ertragspotential und ökonomischer Status Die Reinertragslage der Höfe in allen drei untersuchten Orten kann vergleichend betrachtet werden. Die Summe der gerundeten Reinerträge aller gemeindeinternen und auswärtigen Kulturflächen liefert den aus der Agrarproduktion erwirtschafteten Nettoertrag eines Hofes. Damit ist ein wichtiges Maß zur ökonomischen Einstufung der untersuchten Höfe gegeben. Eine diesbezügliche Reihung der Höfe entspricht in Voitsau und Theyern mit nur geringen Abweichungen der in den Quellen nach der Größe getroffenen Einstufung in Ganz-, Halb- und Viertellehen. Die untersuchten Hofstellen Großarls sind in den historischen Aufzeichnungen dagegen undifferenziert als Ganzlehen angeführt. Im Gegensatz zu den drei ertragsstarken Ganzlehen am südexponierten Hang des Ellmautales nahmen die in Talbodennähe am Schatthang gelegenen Höfe allerdings lediglich eine Ubergangsposition zwischen den Halb- und Viertellehen ein. In Summe ergibt der Hofvergleich einen gleichmäßigen Trend fallender Erträge mit nur schwacher Abflachung innerhalb der drei oben beschriebenen Hoftypen. Einzig die Gruppe der Ganzlehner erscheint in sich stärker differenziert und zeigt mit Erträgen zwischen 70 und 140 Gulden eine vergleichsweise große Bandbreite. Werden die Erträge der Gemeinde auf die jeweiligen Höfe entsprechend ihrer ökonomischen Stellung im Dorf anteilsmäßig aufgeteilt, so bildeten die ertragsstärksten Ganzlehner eine deutlich bevorzugte Klasse mit Beträgen um 120 Gulden. Die restlichen Ganzlehner gruppierten sich um 100 bzw. zwischen 70 und 85 Gulden. Die größeren Voitsauer Ganzlehner hoben sich nochmals eindeutig von den kleineren ab. Diese Differenzierung findet in der Gestalt und Lage der zugeordneten Acker eine Entsprechung. Innerhalb der Halblehner waren die Theyerner Höfe durch den hohen Zuschlag an Gemeindeerträgen aus den dortigen Gemeindewäldern gegenüber den Voitsauer Höfen besser gestellt. Einige lagen bereits über den ertragsmäßig kleinsten Voitsauer Ganzlehen, so daß sich die quellenterminologisch begründeten Hoftypen hier etwas vermischen. Auch eine der Voitsauer Mühlen sowie ein Viertellehen in Theyern gehörten ertragsmäßig zur Gruppe der Halblehner. Grundsätzlich bildeten letztere jedoch eine recht homogene, eng begrenzte Klasse mit Erträgen zwischen 40 und 70 Gulden. Nach Abzug der Gemeindeerträge betrug die Spanne nur mehr 20 Gulden. Den geringsten Ertrag erwirtschaftete neben den oben erwähnten kleinen Ganzlehen aus Großarl eine Gruppe von Viertellehen in Theyern und Voitsau inklusive der zweiten Mühle. Hier bewegten sich die Erträge zwischen 20 und 35 Gulden. Die genaue Aufschlüsselung der Erträge nach den Kulturtypen zeigt die stärkere Abweichung der Zusammensetzung des Ertragsaufkommens in Großarl. Geringen Erträgen aus den Egärten (10-25 Gulden), stehen mit 25-85 Gulden
76
Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
hohe Einnahmen aus dem Grünland (Almen, Hutweiden, Wiesen) gegenüber. In Summe machen letztere, noch ohne Einrechnung des Futterertrags aus den Egärten, 60-80 % des gesamten Reinertrags (exklusive der Wälder und Gärten) aus. Mit Beträgen von 20 bis 45 Gulden wiesen auch die größeren Ganzlehen, einige Halblehner sowie besonders die Mühlen in Voitsau beträchtliche Grünlanderträge auf. Hier lieferten die Grasflächen immerhin noch 20 bis 50 % des Gesamtaufkommens (exklusive der Wälder und Gärten). In Theyern bezogen einzig die Ganzlehen erwähnenswerte Erträge von 5-10 Gulden aus dem Grünland. Prozentual bedeutet dies einen Anteil von maximal 10 % . Betrachtet man hingegen die Getreideerträge, so dominierten die Betriebseinheiten aus Theyern innerhalb des jeweiligen Lehenstyps. Darüber hinaus erwirtschafteten sie bis zu 15 Gulden aus auswärtigen Weingärten. Damit bestand in Theyern eine stärkere Betonung des Acker- und Weinbaus, während sich der Ertrag in Voitsau zugunsten des Grünlandanteils verschoben. In Abb. 3.8 ist der bedeutende Anteil von Grünland (Almen und Wiesen) für Großarl deutlich. In Großarl und Theyern waren außerdem die Anteile der Waldflächen an der Gemeindefläche recht groß. In Voitsau gab es, wie ausgeführt, im Gemeindegebiet praktisch keinen Wald, dafür hatten die Voitsauer Weide- und Holznutzungsrechte an der benachbarten Voitsauer Heide.
Arbeits- und Materialaufwand Neben dem Ertrag ist der „Kulturaufwand", also die Arbeit und die nötigen Materialien zur Bewirtschaftung von Flächen ein wesentlicher Faktor der ökonomischen Bewertung der Höfe. Trotz der möglichen Abweichungen zwischen festgelegtem und tatsächlich bestehendem Kulturaufwand wird hier wegen der Datenlage der nach Instruktion 45 bestimmte Wert herangezogen. Der Gesamtaufwand errechnet sich wieder aus der Summe der Einzelflächen. Vergleicht man Kulturaufwand und Reinertrag in den drei Orten, ergibt sich folgendes Bild: Die Reihung der Höfe nach dem Kulturaufwand entspricht grob dem Trend des Reinertrags. Wie zu erwarten, stieg die in Gulden bemessene Kulturleistung von den Viertellehnern zu den Ganzlehnern stark an. Die Beträge bewegten sich dabei in der enormen Spanne von 135 Gulden. Mit 150 Gulden wiesen die größten Ganzlehner aus Voitsau und Theyern die fünffache Belastung eines durchschnittlichen Viertellehners auf. Ein Vergleich der Dörfer ergibt, daß im ackerbaudominierten Theyern der nach Geldwert höchste Kulturaufwand geleistet wurde. Dahinter steckt die Bewirtschaftungsintensität der Acker und der auswärtigen Weingärten. Der betriebene Aufwand der größeren Theyerner Halblehner über-
45 Die Schätzungsinstruktion diente als detaillierte Anleitung für die Durchführung der E r tragsschätzung. Sie war die Grundlage der Arbeit der Schätzungskommissionen in den einzelnen Orten.
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
77
traf mit 70 bis 90 Gulden den der nach Reinerträgen stärkeren kleinen Voitsauer Ganzlehner. Die absoluten Werte liegen in Theyern und großteils auch in Voitsau über denen der Reinerträge eines Hofes. Lediglich die grünlandintensiven Höfe aus Großarl und Voitsau, insbesondere die dortigen Mühlen, weisen ein umgekehrtes Verhältnis auf. Der Kulturaufwand der größeren Ganzlehen von Großarl lag im Bereich der wesentlich ertragsschwächeren Theyerner Halblehen. Die kleineren entsprachen sogar den diesbezüglich am geringsten belasteten Viertellehen von Voitsau und Theyern. Nach einer Kosten-/Nutzenrechnung scheint die Grünlandwirtschaft effizienter als der Ackerbau gewesen zu sein. Dies ist um so beachtlicher, als die für die Wirtschaften in Großarl errechnete Handarbeitszeit von 120 bis 600 Arbeitstagen pro Jahr den vergleichbaren Arbeitsaufwand in Voitsau mit maximal 190 Arbeitstagen weit überstieg. Bereits die Anzahl der Arbeitstage in Großarl läßt erkennen, daß es sich um Höfe mit viel Gesinde handelt. Die erforderliche Kulturarbeit auf den Äckern und Wiesen setzte sich zu sehr unterschiedlichen Teilen aus Zug- und Handarbeit zusammen. Zugarbeit erfolgt in Großarl durch Pferde, in Voitsau durch Ochsen. Der Vergleich des Kulturaufwands in Voitsau und Großarl zeigt den deutlich höheren Anteil an Handarbeit in Großarl. Die Vermutung, daß die Zugarbeit den übermäßigen Einsatz an Handarbeit in Großarl kompensieren und somit für den höheren Kulturaufwand in Voitsau ausschlaggebend sein könnte, wird durch den Geldwert widerlegt, welcher den unterschiedlichen Arbeiten nach marktüblichen Preisen zugeordnet ist. Aus den Angaben der Operate kann für die Zugarbeit in Voitsau ein Geldwert von 0,18 Gulden pro Ochse und Tag errechnet werden. Dieser war deutlich geringer als jener der gemeinen (0,2 Gulden) und besonderen Handarbeit (0,3 Gulden). Damit glich die Zugarbeit die umfangreichere Handarbeit in Großarl nicht aus. Entscheidend für den Unterschied im Kulturaufwand dürften zwei andere Komponenten sein. Im Ackerbauort Voitsau stand dem beschriebenen Arbeitsaufwand ein beträchtlicher Materialbedarf an Samen und der Verlust des „Dreschertheils" gegenüber. Gemeinsam betrugen diese Faktoren nach den dort marktüblichen Preisen mit Werten zwischen 2,7 und 3,6 Gulden mehr als 50 % des gesamten Kulturaufwandes der einzelnen Ackerklassen. Grünlandorientierte Wirtschaftseinheiten wiesen dagegen deutlich weniger Materialaufwand auf. Ressourcenbedarf und Bearbeitungsintensität der Egärten übertrafen jene der Äcker in Voitsau und Theyern. Mit einem jährlichen Samenbedarf im Wert von 1,5 bis 4,5 Gulden und 16 bis 36 Handarbeitstagen pro Joch war dieser Mehraufwand zumindest bei den Egärten erster und zweiter Bonitätsstufe deutlich ausgeprägt. Insgesamt erbrachten diese Kulturflächen jedoch einen sehr geringen Teil des Gesamtertrages. Zusätzlich existierten erhebliche Unterschiede im Geldwert der Handarbeit. Der Wert eines Handarbeitstages liegt im arbeitsintensiven Großarl lediglich bei 0,07 Gulden. Damit ist diese wesentlich niedriger bewertet als in
78
Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
Voitsau (0,2 und 0,3 Gulden). Gemeinsam mit dem sehr unterschiedlichen Materialbedarf erklärt der ortsspezifische Wert der Arbeit die großen Abweichungen im Kulturaufwand der grünland- und ackerbauorientierten Höfe.
Kulturflächen und Produktionsausrichtung Uber die agrarische Produktion nutzt und gestaltet der Hofinhaber die ihm als Parzellen zugewiesenen Teile der Kulturlandschaft. Umgekehrt bestimmen Art und Umfang der Kulturflächenausstattung ökonomische Stärke, Nahrungsbasis, Kulturaufwand und Arbeitsrhythmus eines Hofes. Die Produktionstypen sind daher auch durch ihre Kulturflächen charakterisiert. Die unterschiedliche Situation der untersuchten Dörfer läßt sich aus Abb. 3.8 entnehmen. Betrachtet man den Flächenumfang der einzelnen Höfe, so unterschied sich die Situation des alpinen Dorfes Großarl mit Hofflächen von 130 bis 280 Joch deutlich von den beiden anderen Gemeinden. Allerdings nahmen die Almen und unproduktiven Flächen jeweils mehr als zwei Drittel der jeweiligen Gesamtfläche ein. Die vorwiegend Ackerbau treibenden Höfe in Voitsau und Theyern bewirtschafteten lediglich Grundflächen von 10 bis 40 Joch. Aufgrund der Gemengelage in Voitsau und Theyern bedeutete die geringere Gesamtfläche jedoch nicht automatisch auch kürzere und damit günstigere Wegstrecken zur Bewirtschaftung der Kulturflächen. Die einzelnen Lehentypen bewirtschafteten Flächengrößen von 5-10, 10-20 und 20-90 Joch Grundfläche. Vernachlässigt man die drei überdimensional ausgestatteten Höfe in Großarl, sowie entsprechend einen in Voitsau, so schwankt die Kulturfläche der Ganzlehner ebenfalls lediglich im Bereich von 10 Joch. Die einzelnen Lehen waren des weiteren durch die zugeordnete Ackerfläche unterschieden. Die entsprechenden Flächenausmaße betrugen 2-9, 9-14 und 1427 Joch. Allerdings bewirtschafteten die Theyerner Bauern innerhalb dieser Klassen deutlich mehr Grund als die Voitsauer Bauern. Die Höfe in Großarl bewirtschafteten hingegen lediglich kleine Acker- bzw. Egartflächen. Als Ausgleich dazu waren sie neben den Almen (16-135 Joch) auch mit Wiesen (12-38 Joch) und Hutweiden (4-41 Joch) am reichsten bestückt. Die Ausstattung mit Grünland differenziert jedoch auch die Gemeinden Voitsau und Theyern. So bewirtschafteten die Höfe in Voitsau Wiesen und Hutweiden im Ausmaß von 2 - 1 0 bzw. 1-4 Joch, wobei die Ganzlehner in der Regel wiederum besser gestellt waren. In Theyern waren hingegen einzig den Ganzlehen erwähnenswerte Wiesenflächen (1 Joch) zugewiesen. Die Differenzen hinsichtlich der Kulturflächen zwischen den Orten sind als alleiniger Fokus der Betrachtung also nicht ausreichend, da die ökonomische Differenzierung innerhalb der Orte doch sehr ausgeprägt ist. Dies hat vor allem Auswirkungen auf die Versorgung der Hofinhaber und der von ihnen abhängigen Personen, wirkt sich aber auch in der grundherrschaftlichen Ökonomie durchaus noch aus.
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
79
Resümee
Die Analyse einzelner Höfe als verbindender Einheit von demographischen, naturräumlichen und historischen Faktoren ermöglicht eine Untersuchung der „Mikrostruktur", der internen Differenzierung innerhalb der als solchen bereits kleinen Untersuchungseinheiten „Dorf" bzw. „Siedlung". Die vergleichende Analyse von Zeitreihen in den drei Fällen ergibt, daß die Resilienz bzw. Stabilität der drei Orte sehr unterschiedlich war. Während Theyern zumindest zwei Mal in seiner Geschichte vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch stand, sind derartige Entwicklungen für die beiden anderen Orte nicht bekannt. Der äußere Anlaß war zwar kriegerischer Natur, aber die Instabilität des Ortes durch die vergleichsweise schlechte Ausstattung der Hofstellen angelegt. 46 Die mikrostrukturelle Analyse ergibt, daß die Höfe in Theyern schlechter ausgestattet waren als jene in Voitsau. In Voitsau ist die naturräumliche Lage an sich schlechter als in Theyern. Doch die Resilienz ergibt sich nicht direkt aus naturräumlichen Bedingungen, sondern aus den aufgrund dieser Bedingungen in den jeweiligen ökonomischen Einheiten erwirtschaftbaren ökonomischen Puffern. Wenngleich es unsinnig wäre, eine flächendeckende Analyse mit diesem Detaillierungsgrad zu fordern, sollte die hier vorgeführte Detailstudie dazu Anlaß geben, den ökologisch/ökonomischen Mikromechanismus vermehrt auch für mesoskalige Untersuchungen mit zu berücksichtigen.
3.3.5. Die physische Ökonomie der Dörfer im Vergleich: Landnutzung und gesellschaftlicher Metabolismus Quellen und Methoden
Der Franziszeische Kataster bietet neben parzellenscharfen Daten zur Landbedeckung und Landnutzung, zu Grundbesitzern und -nutzem, sowie den steuerlichen Ertragsschätzungen mit den sogenannten Operateti auch detaillierte qualitative und quantitative Informationen über die lokale Landnutzungsgestaltung. Diese Informationen können dazu genutzt werden, ein physisches Bild des sozialen Metabolismus vorindustrieller Landnutzung zu zeichnen. Die Daten erlauben eine quantitative Abschätzung der einzelnen Produktströme, ihrer Verwendung als menschliche Nahrung, Futter oder zur Energiegewinnung ebenso wie eine Rekonstruktion von Nährstoffflüssen in den historischen Agrarökosystemen. Diese Daten liegen nicht alle auf Ebene der einzelnen Höfe vor. Unsere Analyse muß sich daher auf die Dorfgemeinschaft beschränken. Das stellt insofern keine Einschränkung der Aussagekraft einer solchen Untersuchung dar, als die Landnutzung nicht - wie in der modernen Landwirtschaft - primär auf Ebene
46 Vgl. ähnliches für ein Beispiel aus Dänemark Christiansen 1995.
80
Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
der einzelnen Betriebe organisiert war, sondern wie in Abschnitt 3.1 gezeigt wurde, eine Integration der Agrarökosysteme und der landwirtschaftlichen Produktion auch auf dörflicher Ebene stattfand: Die dörfliche Integration drückt sich etwa in den gemeinschaftlich genutzten Flächen (Allmenden) oder dem auf dörflicher Ebene geregelten Arbeitsrhythmus der Dreifelderwirtschaft aus. In diesem Abschnitt präsentieren wir eine Betrachtung des sozialen Metabolismus der D ö r fer Theyern, Voitsau und Großarl und untersuchen dabei die Unterschiede ebenso wie die gemeinsamen biophysischen Charakteristika (in den Tabellen sind auch - soweit vorhanden - Daten für die in Kapitel 3.4.3 beschriebene Gemeinde Nußdorf enthalten). Die quantitativen Betrachtungen zum sozialen Metabolismus der lokalen Agrarsysteme basieren auf einer Adaptation des Methodeninventars der Material- und Energieflußrechnung ( M E F A ) für lokale, historische Produktionssysteme und berücksichtigen die in den konzeptuellen Modellen der Agrarökosysteme dargestellten Systemzusammenhänge. 4 7 W i r haben versucht, die in den Modellen identifizierten physischen Beziehungen (Produktströme, Verbrauch durch Menschen/Nutztiere, Nährstofftransfers) aufgrund der Angaben in den Katasteroperaten und verschiedener Modellannahmen zu quantifizieren und dabei konsistent zu den in der M E F A verwendeten Systemgrenzen und Bilanzierungskriterien zu bleiben. Eine insbesondere für historische Untersuchungen wesentliche Eigenschaft dieser Methode ist die Möglichkeit der Validierung von quantitativen Daten und Modellannahmen durch Kenntnis über die entsprechenden Systemzusammenhänge: So muß etwa das auf empirischen D a ten beruhende Futteraufkommen mit dem berechneten Futterbedarf bei gegebenem Viehbestand und Produktionsleistung übereinstimmen. Auf diese Weise ist es möglich, Lücken in den Datensätzen zu schließen, Unplausibilitäten in den Primärdaten oder Modellannahmen zu identifizieren oder andere qualitative Rückschlüsse über die Eigenschaften des untersuchten Systems (ζ. B. den Ernährungszustand des Viehs) zu ziehen. A b b . 3.3 hat eine schematische Darstellung der betrachteten Material- und Energieflüsse und der untersuchten Subsysteme vorgeführt. N o c h ausständig - aber für eine umfassende Betrachtung von entscheidender Bedeutung - ist eine quantitative Betrachtung der Rolle menschlicher und tierischer Arbeitskraft. Grundsätzlich bieten die Katasteroperate mit den Angaben zum Kulturaufwand wichtige Informationen für eine quantitative Untersuchung dieses Aspektes von agrarischen Produktionssystemen, allerdings ist für diesen Schritt noch sehr grundsätzliche Arbeit über
47 Detaillierte Angaben zu den methodischen Grundlagen und den getroffenen Annahmen finden sich in Krausmann 2004; Krausmann 2005a.
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
81
die Systemzusammenhänge und die Annahmen zur Quantifizierung zu leisten. 4 8
Viehwirtschaft Wie sich schon aus den modellhaften Darstellungen der Agrarökosysteme der Dörfer ableiten läßt, 4 9 kommt der Viehwirtschaft aus biophysischer Hinsicht in der vorindustriellen Landbewirtschaftung in Nord- und Mitteleuropa eine Schlüsselrolle zu. Das gilt nicht nur für alpine Regionen (Großarl), die für Ackerbau aus klimatischen Gründen nicht geeignet sind, weshalb das Landnutzungssystem primär auf Rinder oder Schafhaltung ausgerichtet ist, sondern auch für die Tiefländer, in denen Getreideanbau im Vordergrund des Wirtschaftssystems steht, wie etwa in Theyern oder Voitsau. Der Rolle der Viehwirtschaft in der vorindustriellen Landwirtschaft widmen wir daher in diesem Abschnitt besondere Aufmerksamkeit. Die empirischen Daten zeigen, daß die Viehwirtschaft in allen drei Dörfern unabhängig von der vorherrschenden Flächennutzung eine wichtige Rolle spielte. Die relativen Viehdichten (gemessen in Großvieheinheiten zu 500 kg Lebendgewicht je km 2 Gesamtfläche, siehe Tab. 3.1) liegen in den ackerbaudominierten Gemeinden mit 24 G V E / k m 2 (Theyern) und 30 G V E / k m 2 (Voitsau) sogar deutlich höher als in der auf Viehwirtschaft ausgerichteten Gemeinde Großarl (10 G V E / k m 2 ) . 5 0 Das liegt zunächst am hohen Zugviehbedarf in den Ackerbauregionen: In Theyern betrug der Anteil der als Zugvieh nutzbaren Ochsen und Pferde am Viehbestand über 40 % und in Voitsau über 60 % . In Großarl waren es dagegen nur rund 6 % . 5 1 Im alpinen Großarl mit seinem hohen Anteil an wenig produktiven Almflächen konnte deutlich weniger Vieh pro Flächeneinheit mit ausreichend Futter versorgt werden als in den anderen beiden Gemeinden. Das Rind war in allen drei Dörfern die dominante Nutztiergattung: Der Rinderanteil am Gesamtbestand betrug in allen Gemeinden über 70 % . Wichtigstes und universellstes Nutztier war zweifelsohne die Kuh. Sie produzierte wichtigen
48 Vielversprechend scheint in diesem Zusammenhang die Auswertung der Daten zum Kulturaufwand in Kombination mit Angaben zum Arbeitsaufwand für bestimmte landwirtschaftliche Tätigkeiten aus der historischen Agrarliteratur. 49 Vergleiche Abb. 3 . 9 - 3 . 1 1 . 50 Zum Vergleich: Im Jahr 1830 lag die mittlere Viehdichte in Österreich im Durchschnitt bei 17 und im Jahr 1999 bei 26 G V E 5 0 0 / k m 2 . 51 Der hohe Ochsenbestand in Voitsau spiegelt nicht nur den Zugkraftbedarf der Landwirtschaft wider, sondern auch eine stärker auf Viehzucht ausgerichtete Wirtschaftsform als in Theyern. Der Anteil des Zugviehs an der insgesamt installierten Leistung, also des Leistungspotentials von menschlichen Arbeitskräften und Zugvieh gemessen in kW, machte in Theyern etwa drei Viertel und in Voitsau über 80 % aus, in Großarl dagegen nur etwas über 50 % .
82
Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
Dünger, war auch als Zugtier einsetzbar (was vor allem auf kleinen Höfen geschah) und leistete durch die effiziente Umwandlung von Stroh und Heu in Milch einen regelmäßigen Beitrag zur Nahrungsversorgung. Am Ende der über 10-jährigen Nutzungsdauer lieferte sie schließlich auch noch Fleisch und Rohstoffe wie Leder oder Knochen. Trotzdem spielten auch die anderen Nutztiere eine wichtige, regional aber recht unterschiedliche Rolle: Durch Schafhaltung lassen sich magere Flächen mit vergleichsweise geringem Arbeitsaufwand zur Gewinnung von Nahrung und Rohstoffen nutzen. Schweine wurden in der vorindustriellen Landwirtschaft vor allem als effiziente Verwerter von Resten und Abfällen eingesetzt, oder sie wurden durch Waldweide ernährt. In Theyern machte der Anteil von Schafen und Schweinen immerhin 19 % des Viehbestands aus, und auch in Großarl spielten Schafe und Ziegen mit 14 % des Viehbestands eine wichtige Rolle (Tab. 3.1). Pferde wurden nur in Großarl und Theyern genutzt. Das mag zum einen eine Frage des Wohlstandes gewesen sein, hing aber auch ursächlich mit der Bedeutung der Waldwirtschaft zusammen. Pferde sind beispielsweise zur Holzbringung besser einsetzbar als Ochsen.
Tab. 3.2: Futteraufkommen in kg Trockenmasse (kg-j-M) je Großvieheinheit (GVE 50 o) und in Relation zum berechneten Futterbedarf Parameter Futteraufkommen gesamt
[Einheit]
Theyern
Nußdorf
Voitsau
Großarl
[k&m/
4109
1922*
3917
3801
[%] [%] [%] [%] [%] [%] [%]
9%
4%
7%
0%
GVE 5 0 0 -a] Getreide etc. Milch Erntenebenprodukte Heu Weide Almweide Aufkommen in % des Bedarfes
0%
1%
0%
1%
61 %
64%
41 %
9%
12%
11 %
25%
26%
17%
20%
26%
27%
88%
42%*
36% 93%
96%
* Der Wert für Nußdorf berücksichtigt nur das Futteraufkommen innerhalb der Gemeindegrenzen. Daten zur Nutzung von Uberlandgründen oder zu eventuellen Zukaufen von Futtermitteln liegen nicht vor. Siehe Abschnitt 3.4.3
Die Futterbilanz (Tab. 3.2) zeigt, daß das Vieh im allgemeinen nicht in direkter Nahrungskonkurrenz zum Menschen stand, sondern entweder von Flächen ernährt wurde, die für den Ackerbau ungeeignet waren, oder von Nebenprodukten des Ackerbaues bzw. der Nahrungsverarbeitung lebten: Der Anteil von Bio-
83
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
masse, die auch vom Menschen als Nahrung genutzt werden kann (Getreide, Kartoffeln), am Futteraufkommen war sehr gering und betrug in Theyern 9 % , in Voitsau 7 % und in Großarl weniger als 1 % . Dagegen machten Erntenebenprodukte in Theyern zwei Drittel und in Voitsau immerhin 40 % des Futteraufkommens aus. In Großarl war die wichtigste Futterquelle im Sommer die Weide (63 % ) und im Winter das Wiesenheu (27 %). Aber auch in Theyern (17 % ) und Voitsau (26 % ) leistete Weide einen wichtigen Beitrag zur Versorgung des Viehs im Sommer. Neben der Nutzung expliziter Hutweideflächen wurden praktisch alle Flächen zu bestimmten Zeiten im Jahr beweidet: Die Nachweide auf Wiesen, die Stoppelweide auf abgeernteten Feldern, die Brachweide, die Waldweide und die Beweidung der zahlreichen Raine machten in Voitsau 65 % und in Theyern 98 % der geweideten Biomasse aus. 52 Insgesamt zeigt sich aber, daß sowohl die verfügbare Futtermenge, wie auch die Qualität des Futters recht gering waren. Das Futterangebot erreichte in allen Gemeinden nur knapp den von uns errechneten Bedarf und das trotz des - mit heute verglichen - recht geringen Lebendgewichtes bzw. der geringen Produktionsleistung des Nutzviehs: Die ausgewachsenen Rinder wogen nur 250-300 kg und die jährliche Milchleistung einer Kuh wird mit durchschnittlich 1000-1500 kg angenommen. 53 Es wurde offensichtlich soviel Vieh wie möglich gehalten.
Tab. 3.3: Nahrungsproduktion aus Pflanzenbau und Viehwirtschaft, Nahrungsbedarf und Surplus. Alle Angaben in Nährwerten (GJjsjW) Parameter
[Einheit]
Theyern Nußdorf Voitsau Großarl
Nahrungsproduktion insges.
[GJNWI
632
Davon vom Ackerland
1328
738
1967
[ % gesamt]
62%
38%
69%
19%
Davon von Dauerkulturen
[ % gesamt]
11%
22%
2%
0%
Davon Fleisch
[ % gesamt]
7%
7%
8%
6%
Davon Milch
[ % gesamt]
20%
33%
21 %
75%
Pflanzliche Nahrung gesamt
[ % gesamt]
73%
60%
71 %
19%
Tierische Nahrung gesamt
[ % gesamt]
27%
40%
29%
Milch : Fleisch Verhältnis
[GJnw/GJNWJ
10,7
17,8
9,6
40,7
Pflanzlich : tierisch
[GJNW/gJNW1
2,8
1,5
2,4
0,2
Nahrungsbedarf (4,5 GJ/Kopf) [ G J N W ] Surplus
459
[ % Produktion] 27%
2079 - 57 %
581 21%
81 %
2925 —49 %
52 Diese quantitativen Angaben sind als grobe Schätzung zu verstehen. 53 Zum Vergleich: im Jahr 1999 wog eine ausgewachsene Kuh in Osterreich knapp 600 kg bei einer Milchleistung von durchschnittlich fast 5000 kg im Jahr.
84
Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
Nahrungsproduktion Obwohl die Nahrungsproduktion bei der Viehhaltung nicht im Vordergrund stand, lieferte die Viehwirtschaft einen wichtigen Beitrag zum gesamten Nahrungsoutput der Landwirtschaft in den untersuchten Dörfern (Tab. 3.3): Fleisch spielte dabei die geringste Rolle. Sein Anteil an der insgesamt produzierten Nahrung lag - gemessen in Nährwert - in allen drei Dörfern nur bei 6-8 %. Von großer Bedeutung war dagegen die Milchproduktion: Der Anteil der Milch lag auch in den Ackerbaugemeinden Theyern und Voitsau bei ca. 20 %, in Großarl machte Milch drei Viertel der Nahrungsproduktion (und damit auch des täglichen Speiseplans) aus. In Theyern und Voitsau lieferten die Produkte des Ackerbaus, zum größten Teil Roggen und andere Getreidesorten etwa zwei Drittel der Gesamtproduktion, in Großarl immerhin knapp ein Fünftel. Nährstoffversorgung Ein zentrales Problem der vorindustriellen Landwirtschaft war die Frage der Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit. Durch die landwirtschaftliche Ernte wurden dem Boden Nährstoffe entzogen und diese mußten, wollte man ein langsames Absinken der Erträge vermeiden, wieder ersetzt werden. Dieser Ersatz von Nährstoffen war ein Ergebnis der lokalen Organisation des Landnutzungssystems, die eine Reihe von Ökosystemaren Prozessen und gesellschaftlichen Bewirtschaftungsmaßnahmen integrierte. Am Beispiel des Stickstoffs läßt sich das gut zeigen. Zum Ersatz des entzogenen Stickstoffs konnten einerseits Ökosystemare Prozesse ausgenutzt werden, dazu zählten die Deposition von Luftstickstoff, die Stickstoff-Fixierung durch Bodenmikroorganismen und die Stickstofffixierende Eigenschaft von bestimmten Futterpflanzen.54 Eine weitere, besser steuerbare Möglichkeit stellten Transfers von Stickstoff zwischen extensiv und intensiv genutzten Flächen bzw. die Schließung lokaler Kreisläufe dar. Dabei spielte die Viehhaltung eine entscheidende Rolle: Durch die Fütterung des Viehs im Stall bzw. auch bei Weidehaltung während des Tages, aber nächtlicher Stallhaltung konnten Nährstoffe von den Weideflächen, vom Grünland und vom Wald in Form von tierischem Mist konzentriert und dann auf die Ackerflächen ausgebracht werden. 55 Auch die Waldstreu, also die Entnahme nährstoffreicher Biomasse aus den Wäldern, die anstelle von Stroh, das überwiegend verfüttert wurde, als Einstreu in den Ställen verwendet wurde, spielte ebenfalls eine Rolle beim Nährstofftransfer. Neben dem Transfer von Nährstoffen lag die Bedeutung des Viehs auch im Aufschluß der Pflanzennährstoffe des Futters durch die Verdauung.
54 Auch Bewässerung und die Nutzung von periodischen Überschwemmungen, etwa von Wiesen, sind zu nennen, spielten aber in den untersuchten Gemeinden keine besondere Rolle. 55 Weitere Techniken des Nährstofftransfers sind etwa die Plaggenwirtschaft, Seetang-Düngung etc.
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
85
Tab. 3.4: Stickstoffflüsse: E n t z u g v o n Stickstoff ( N ) durch Biomasseentnahme ( D E ) nach Landnutzungsklassen, natürliche und sozioökonomische Inputs sowie E x p o r t e von Stickstoff Parameter
[Einheit]
Nußdorf
Voitsau
Großarl
ern
3405
2897
4375
4824
25
22
21
33
848
2426
3808
10
11
19
10
They-
Stickstoff E n t z u g ( D E ) Entzug Ackerland und Gärten
[kgN]
Entzug Ackerland und Gärten
[kgN/ha]
Entzug Grünland und Wald
[kgN]
Entzug Grünland und Wald
[kgN/ha]
22329
Input Ökosystemare Prozesse"·
[kgN]
1899
1327
1360
886
Saatgut
[kgN]
276
192
443
170
Viehmist m i n * *
[kgN]
821
1720
1546
4093
[kgN]
1436
3010
2705
7163
Viehmist m a x * *
Anteil ökos. Prozesse am Gesamtinput [ % gesamt] (max)
58%
35%
50%
69%
Nährstoffersatz Ackerland und G ä r t e n Input Ökosystemare Prozesse*
[ % Entzug]
56%
46%
31 %
18%
Input Saatgut
[ % Entzug]
8%
7%
10%
4%
Input Viehmist min
[ % Entzug]
24%
59%
35%
85%
Input Viehmist max
[ % Entzug]
42%
104%
62%
148 %
Stickstoff in Importen und E x p o r t e n Import (Dünger, Nahrung, Futter, Holz)
[kgN
/ha
]
0
k.D.
0
0.20
Export (Dünger, Nahrung, Futter, H o l z )
[kgN /ha]
1,97 k.D.
0,91
0,16
Import im Vergleich zum Entzug
[ % von D E ]
0 % k.D. %
0%
2%
Export im Vergleich zum Entzug
[ % von D E ]
8 % k.D. %
4 %
1%
'·" unter Ökosystemaren Prozessen werden hier biologisch-chemische Prozesse verstanden, die in den Agrarökosystemen auch ohne gesellschaftliche Steuerung ablaufen, bzw. unter vorindustriellen Bedingungen einer gesellschaftlichen Steuerung weitgehend entzogen waren. Dazu zählen wir hier die Deposition von Luftstickstoff und die N-fixierenden Eigenschaften von Bodenorganismen und bestimmten (Kultur)pflanzen. * * in den beiden Varianten der Berechnung des Stickstoffinputs durch Viehmist spiegeln sich unterschiedliche Annahmen zu den bei Lagerung und Aufbringung auftretenden N-Verlusten wieder, siehe Text. """'""darunter sind ausschließlich sozioökonomische Transfers von Biomasse oder Düngemitteln in die oder aus den dörflichen Systemen zu verstehen.
86
Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
Eine quantitative Untersuchung der Stickstofftransfers für die drei Dörfer (Tab. 3.4) zeigt, daß in Theyern, wo bereits in beträchtlichem Ausmaß Futterleguminosen in der Brache gebaut wurden, über die Hälfte des dem Ackerland 56 durch die Ernte entzogenen Stickstoffs durch Ökosystemare Prozesse ersetzt werden konnte. In Voitsau machte der Beitrag von Deposition und Fixierung auf dem Ackerland immerhin 31 % und in Großarl 18 % aus. Saatgut lieferte in den Ackerbaugemeinden weitere 8 bis 1 0 % und 4 % in Großarl. Tierischer Mist wurde laut Operaten im allgemeinen nur auf den Ackern ausgebracht. Je nach Annahme der Verluste an Stickstoff 57 während Lagerung und Ausbringung war es möglich, durch den Mist dem Boden in Theyern bis zu 42 % und in Voitsau bis zu 62 % der entzogenen Nährstoffe zurück zu geben. Das zeigt - trotz der Unsicherheiten, die solche Berechnungen in sich bergen - , daß es in den Ackerbaugemeinden gelang, die Stickstoffbilanz auf den Ackern ausgeglichen zu halten, wobei Ökosystemare Prozesse und Mistwirtschaft ungefähr einen gleich großen Beitrag leisteten. In Großarl fiel deutlich mehr Viehmist an, als zum Ausgleich des Nährstoffentzuges auf den Ackerflächen nötig war (bis zu 150 %), hier wurden aber auch Wiesen gedüngt. Alle anderen Flächen wurden nicht gedüngt. Sie waren hinsichtlich des Nährstoffersatzes ausschließlich auf Ökosystemprozesse und den feldfallenden Mist der Tiere angewiesen. Das führte unter anderem dazu, daß Wälder und Weiden meist recht ausgehagert waren und deutlich geringere Biomasseerträge als das Ackerland aufwiesen. Insbesondere die Produktivität der Wälder wurde durch die Beweidung und die Streuentnahme spürbar verringert. 58
Produktivität Um die Produktivität der drei landwirtschaftlichen Produktionssysteme zu vergleichen, können unterschiedliche Maßzahlen verwendet werden (Tab. 3.5). Das Netto-Ertragsniveau für Getreide, also die Bruttoernte abzgl. Saatgut je ha Anbaufläche, lag in allen drei Gemeinden auf einem für heutige Verhältnisse sehr niedrigen Niveau, nämlich bei etwa 0,6 t/ha. 59 Auf den Egartenflächen von Großarl wurden erstaunlicherweise höhere Erträge erwirtschaftet als in Voitsau, was vermutlich mit der besseren Nährstoffversorgung und der intensiveren Pflege der kleinen Egärten zusammenhing. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man
56 Inklusive der intensiv genutzten Haus-, Wein- und Obstgärten. 57 Es wurde angenommen, daß die Stickstoffverluste durch Lagerung und Ausbringung zwischen 40 und 60 % lagen. Die Zahlen sind um feldfallenden Mist bereinigt. 58 D e r Holzertrag der Wälder lag mit durchschnittlich 3 fm/ha um 1830 sehr niedrig. Heute werden in den untersuchten Regionen Holzerträge von über 6 fm/ha erwirtschaftet. Siehe dazu auch Stuber und Bürgi 2001; Stuber und Bürgi 2002. 59 Zum Vergleich, im Jahr 1999 lag der Nettoertrag für Getreide in Österreich bei durchschnittlich 5,5 t/ha, also um einen Faktor 10 über den Werten von 1830.
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
87
Tab. 3.5: Maßzahlen zur landwirtschaftlichen Produktivität: Flächen- und Arbeitsproduktivität und Nahrungsproduktion Parameter
[Einheit]
Theyern
Nußdorf
Voitsau Großarl
Getreideertrag brutto
[kg F W /ha]
819
1085
732
862
Getreideertrag netto
[kg F W /ha]
639
907
557
622
[kg Körnerernte/kg Saat]
5
6
4
4
[GJGCv/HAL-
38
39
26
12
[GJNW/P]
6,2
2,9
5,7
3,0
[GJNW/P]
9,4
5,4
8,7
4,6
Nahrungsproduktion pro Gesamtfläche
[GJNW /ha ges ]
2,8
k. D.
1,8
0,7
Nahrungsproduktion pro landw. Fläche
[GJNW /HALW]
4,4
k.D.
2,1
1,2 ( 2,1)*
Tier. Produktion pro landw. Fläche
[GJNW / h a lwl
1,2
k. D.
0,6
1,0
[DElw/0]
7
k. D.
10
10
Verhältnis Ertrag:Saatgut Flächenproduktivität
WF]
Nahrungsproduktion pro Person Arbeitsproduktivität: Nahrungsprod. pro Arbeitskraft
Umwandlungseffizienz"' *
* Werte in Klammern: pro ha landwirtschaftlicher Fläche exklusive Almen. ** Die Umwandlungseffizienz gibt das Verhältnis von insgesamt umgesetzter landwirtschaftlicher Biomasse (DE]W) zu landwirtschaftlichen Endprodukten (O) (im wesentlichen Nahrung), jeweils gemessen in Brennwert (GCV) an. die Flächenproduktivität des Nahrungsoutputs insgesamt betrachtet. Die Nahrungsproduktion je ha landwirtschaftlich genutzter Fläche w a r im klimatisch begünstigten Theyern mit 4,4 G J am höchsten, mehr als doppelt so hoch wie in Voitsau, w o nur 2,1 G J je ha erwirtschaftet wurden. In Großarl w a r der W e r t erwartungsgemäß mit nur 1,2 G J am geringsten, da dort der Schwerpunkt der Landbewirtschaftung auf almwirtschaftlicher Viehhaltung lag. Vergleicht man die physische Arbeitsproduktivität, also den Nahrungsoutput je landwirtschaftlicher Arbeitskraft, 6 0 entsteht ein etwas ausgeglicheneres Bild: Die physische Arbeitsproduktivität lag in Theyern und in Voitsau etwa bei 9 GJ/
60 Als landwirtschaftliche Arbeitskräfte werden alle Personen in landwirtschaftlichen Haushalten im Alter von 15 bis 65 gezählt. Genauere Angaben sind aus den Katasterdaten nicht ableitbar.
88
Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
Arbeitskraft, während man in Großarl nur etwa auf den halben Wert (4,6 GJ/Person)kam. Eine weitere wichtige Maßzahl ist der relative Energieertrag der Landwirtschaft. Er zeigt das Verhältnis des Energieertrags der Landwirtschaft in Form von Nahrung zum gesellschaftlichen Energieaufwand (vgl. Leach 1976). Als gesellschaftlicher Energieaufwand wird dabei unter vorindustriellen Bedingungen nur die menschliche Arbeit gerechnet, wobei ein Arbeitstag mit einem Nahrungsäquivalent von 6,5 MJ bewertet wird (Fluck 1992). Tierische Arbeit wird nicht als Energieaufwand gewertet, da sie innerhalb des agrarischen Produktionssystems bereitgestellt wird. Unter den Bedingungen des kontrollierten Solarenergiesystems mußte klarerweise deutlich mehr Nahrung erzeugt werden, als die Gesellschaft in Form von Arbeit in die Nahrungsproduktion investierte. Eine grobe Schätzung für die drei Dörfer zeigt, daß in Theyern und Voitsau jeweils etwa 6 Joule an Nahrung pro Joule Energieinput erzeugt wurden, während in Großarl der Ertragsfaktor nur bei knapp drei lag. Nimmt man einen Nahrungsbedarf von durchschnittlich 4,5 GJ/Person und Jahr an, 61 dann konnte in Theyern und Voitsau ein Uberschuß von etwa 20-30 % erwirtschaftet werden (Tab. 3.3). Dieser Uberschuß diente vor allem dazu, Natural- bzw. Geldabgaben an die Grundherren zu leisten. In beschränktem Ausmaß erlaubte er auch die Partizipation an lokalen Märkten. Anders lag die Situation in Großarl. In dieser Gemeinde wurden nur etwa 50 % der von der Bevölkerung pro Jahr benötigten Nahrung erzeugt. Dabei muß man allerdings berücksichtigen, daß die Wertdichte der Agrarprodukte von Großarl höher war als die der Ackerbauregionen. Der ökonomische Wert eines Joules Nahrungsenergie in Form von Fleisch war 1830 etwa 2,5 mal und in Form von Milch etwa 1,7 mal so hoch wie der in Form von Getreide. 62 Das weist darauf hin, daß die Nahrungsversorgung in Großarl stärker als in den anderen Gemeinden durch den Verkauf von Vieh, Käse und Holz sichergestellt wurde. 63
Biomasse- und Energieumsatz Die Schlüsselrolle der Viehwirtschaft für die Funktionsweise der vorindustriellen Landwirtschaft zeigt sich deutlich in ihrem Einfluß auf die Biomasse bzw. Energieflüsse im Landnutzungssystem. Uber 95 % der gesamten landwirtschaftlichen Biomasse (ohne Holz) wurden in allen Dörfern in Form von Futter oder Einstreu
61 Dieser Bedarfswert orientiert sich am physiologischen Energiebedarf der Bevölkerung (etwa 3,5 G J / K o p f ) und inkludiert Lager- und Verarbeitungsverluste. 62 Preise nach Mühlpeck et al. 1979. 63 Ahnliches gilt für die Weinbaugemeinde Nußdorf. Auch hier reichte die Nahrungsproduktion nur zur Deckung von 60 % des Nahrungsbedarfes. Allerdings ist die Wertdichte des in Nußdorf produzierten Weines (ca. 20 % der Nahrungsproduktion) um den Faktor 4,7 höher als die von Getreide.
Das Agrarökosystem in den untersuchten Orten
89
in der Viehwirtschaft umgesetzt. Der Pro-Kopf-Umsatz an landwirtschaftlicher Biomasse hängt daher eng mit der Viehwirtschaft zusammen. Je mehr Vieh pro Person gehalten wird, um so höher ist der Umsatz an landwirtschaftlicher Biomasse. Dementsprechend war der Umsatz von landwirtschaftlicher Biomasse in Voitsau (69 GJ/Person) am höchsten, gefolgt von Theyern (52 GJ/Person) und Großarl (30 GJ/Person). Aus den Untersuchungen zum sozialen Metabolismus der drei Dörfer lassen sich wichtige Hinweise auf die Struktur des vorindustriellen Energiesystems gewinnen: U m 1830 wurden in den drei Dörfern keine fossilen Energieträger benutzt, das Energiesystem basierte daher vollständig auf der Nutzung von landund forstwirtschaftlicher Biomasse. 64 Der Energieumsatz insgesamt lag in allen drei Gemeinden auf einem recht ähnlichen Niveau, bei 70 bis 90 GJ/Person. Die Entnahme von Primärenergie (d. h. land- und forstwirtschaftlicher Biomasse) lag in Theyern bei 36 GJ/ha, in Voitsau bei 29 GJ/ha und in Großarl bei 21 GJ/ha. Energieimporte in die Dörfer gab es praktisch keine. Auch die Exporte waren im Vergleich zum internen Umsatz sehr klein. Sie beliefen sich in Theyern und Voitsau auf wenige Prozent. Nur in Großarl waren sie durch die Holzverkäufe relativ hoch (13 % der gesamten Entnahme). Bezogen auf die Fläche machten sie aber auch in diesem Fall nur 2,7 GJ/ha aus. Resümee In Abschnitt 3.3 wurde gezeigt, wie sich die untersuchten Dörfer in ihrer naturräumlichen Ausstattung, aber auch in der Gestaltung des Landnutzungssystems unterscheiden. Diese Unterschiede spiegeln sich zwar in den biophysischen Eigenschaften wieder, es zeigen sich aber auch sehr deutlich gemeinsame Grundeigenschaften vorindustrieller Landbewirtschaftungssysteme, die in engem Zusammenhang zu den Limitierungen des solaren Energiesystems stehen. Eines der Grundprobleme der vorindustriellen Landwirtschaft war ihre weitgehende Abhängigkeit von lokal verfügbaren Produktionsmitteln. Insbesondere im Hinblick auf Energie und Nährstoffe war sie praktisch vollständig auf interne, d. h. am Hof oder innerhalb des Dorfes verfügbare Ressourcen angewiesen. Nur in Ausnahmefällen konnten punktuell externe Inputs, etwa die Anwendung von Guano in bestimmten Sonderkulturen, eine quantitativ bedeutende Rolle spielen. In der Regel, und so auch in den untersuchten Dörfern, mußte alles, was dem Boden durch die landwirtschaftliche Ernte an Nährstoffen entzogen wurde, entweder durch natürliche Prozesse (Deposition von Luftstickstoff, Fixierung durch Mikroorganismen) nachgeliefert oder durch internes Recycling und Nährstofftransfers (ζ. B. Viehmist, Weidekreislauf) wieder zurückgegeben werden. Wird dieser Ausgleich nicht bewerkstelligt, kommt es unweigerlich zu einer Minde-
64 Abgesehen von der Nutzung von Wasserkraft in der Mühle von Voitsau.
90
Landwirtschaft am Vorabend der Industrialisierung
rung der Bodenfruchtbarkeit und damit zu Rückgängen im Ertrag. Ähnliches gilt für die Bereitstellung der notwendigen (Arbeits)Energie. Sämtliche für die Landnutzung erforderliche Arbeitsenergie - und dabei handelt es sich bis ins 20. Jahrhundert ausschließlich um tierische und menschliche Arbeitskraft - mußte aus dem Wirtschaftssystem mit Primärenergie, d. h. Futter bzw. Nahrung, versorgt werden. Gelang dies nicht, dann ließ sich das Bewirtschaftungssystem nicht aufrecht erhalten. In der subsistenzorientierten Landwirtschaft waren daher die Rückkoppelungsmechanismen zwischen Agrarökosystem und Bewirtschaftung immer sehr unmittelbar und direkt spürbar, was letztlich darauf hinauslief, daß im Extremfall die ausreichende Ernährung der lokalen Bevölkerung nicht sichergestellt werden konnte. Unter derartigen Bedingungen bestand Landwirtschaft in einer komplexen Optimierung der Nutzung von lokal verfügbaren Ressourcen unter den jeweiligen Umweltbedingungen. Die quantitativen Betrachtungen zum sozialen Metabolismus der untersuchten Dörfer zeigen nun eine Reihe von den damit in Zusammenhang stehenden biophysischen Grundeigenschaften der vorindustriellen Landwirtschaft auf. Insbesondere wird die integrative Bedeutung der Viehwirtschaft erkennbar. Im Unterschied zur industrialisierten Landwirtschaft war Viehhaltung nicht primär auf die Produktion von Milch und Fleisch ausgerichtet, sondern hatte einen multifunktionalen Charakter. In den Ackerbauregionen war die Haltung von Vieh, wie gezeigt wurde, aus mehreren Gründen unerläßlich: Zum einen wurde es wegen der im Ackerbau erforderlichen Zugkraft gehalten, zum anderen stellte Viehhaltung für die Bauern eine der wenigen Möglichkeiten eines aktiven Nährstoffmanagements dar. Erst in dritter Hinsicht wurde Vieh zur Produktion von Nahrung und Rohstoffen gehalten. Um diese Leistungen zu erbringen, wurde im allgemeinen nicht wertvolles Getreide verfüttert, sondern ein Großteil des Futters war sonst nicht unmittelbar verwertbare Biomasse. Anders in Großarl: Die Viehwirtschaft ermöglichte überhaupt erst die Nahrungsproduktion in Regionen und Höhenlagen, die für den Ackerbau ungeeignet sind. Durch die Haltung von Wiederkäuern war man in der Lage, ausgedehnte und zum Teil natürliche Grünlandflächen zur Produktion von Nahrung zu nutzen, und ermöglichte damit beträchtliche Bevölkerungsdichten in großer Höhe. Daneben war Vieh natürlich auch in Großarl unerläßlich für die erforderliche Zugkraft und die Düngung der Egartenflächen. Viehhaltung spielte also eine Schlüsselrolle in der auf lokaler Optimierung beruhenden vorindustriellen Landwirtschaft. Sie ermöglichte den Transfer von Pflanzennährstoffen von extensiv zu intensiv genutzten Flächen und erlaubte die Konzentration von knappen Betriebsmitteln auf bestimmte ertragreiche Flächen. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der durch die biophysische Analyse sichtbar wird, ist die „relative physische Geschlossenheit" lokaler Agrarsysteme. Aus einer sozioökonomischen Perspektive wäre es sicher verfehlt, wenn man die lokalen Produktionssysteme als „geschlossene" Subsistenzwirtschaften betrachten würde,
Abb. 3.1: Überblicksdarstellung naturaler, sozialer und ökonomischer Einflußgrößen auf die Ausprägung eines lokalen agrarwirtschaftlichen Systems
Naturale, soziale und ökonomische Einflußgrößen der A u s p r ä g u n g des lokalen agrarwirtschaftlichen Systems
NiclHegransche Wwechenssektmsn
Quelle: Winiwarter und Sonnlechner 2001
Abb. 3.2: Beziehungen zwischen Bevölkerung, Produktion und Agrarökosystem Überbiicksdarstellung vorindustrieiler Agrarwirtschaft in Europa, Beziehungen z w i s c h e n den drei großen Teilbereichen
BEVÖLKERUNG Bevölkerung» weis«
—
¿j.
AGRARÖKOSYSTEM íunttrliogt auch
Miaren
UmweUeinftusjeti;
externe Beziehungen Umweltfaktoren (Klima, etc.)
Pratfvkttlrom
Verbrauch durcit NlhrMsfftrancter Art *n
Quelle: Winiwarter und Sonnlechner 2001
>
»
Abb. 3.3: Überblicksdarstellung des mitteleuropäischen agrarökologischen Systems vor der Industrialisierung
D a s a g r e r ö k o l o g i s c h e S y s t e m in M i t t e l e u r o p a v o r d e r I n d u s t r i a l i s i e r u n g m t n t c h l . Ariwr(»krett
NMniotflr»rt»
CO τ-
Ο O σ> τ-
Ο Oí Τ-
Ο CNJ σι τ-
Ο co σι Τ-
Ο σ> Τ-
Ο m σ> τ-
Ο co σ> τ-
Ο Γ>σ> τ-
Ο CO σ> τ-
Ο σ> σι τ—
• Landwirtschaftliche B e v ö l k e r u n g 0 S o n s t i g e B e v ö l k e r u n g ED W i e n Quelle: Butschek et al. 1998; Hain 1852; Land- und forstwirtschaftliche Landes-BuchführungsGesellschaft m.b.H. in Wien 1960; Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammer 1998; Statistik Austria 2002; eigene Berechnungen.
211
Kohle, Klee und Kartoffeln
Abb. 6.2: Pro-Kopf-Verbrauch von Kohle und Holz in Wien
Holzverbrauch —·— Kohleverbrauch Quelle: Krausmann 2005b
Kohle 1839 wurde in Wien der Nordbahnhof eröffnet und in den folgenden Jahren eine Eisenbahnverbindung zu den böhmischen Kohlerevieren geschaffen. Mit den neuen Möglichkeiten für den Ferntransport von Massenrohstoffen veränderten sich trotz des Mangels an ergiebigen Kohlelagerstätten auch wichtige Teile des gesellschaftlichen Energiesystems auf dem Gebiet des heutigen Osterreich. Vor allem für industrielle Prozesse und in Urbanen Zentren, allen voran in Wien, auch für den Hausbrand, wurde zunehmend Kohle statt Brennholz verwendet. Der Kohleverbrauch von Wien wuchs im 19. Jahrhundert mit einer jährlichen mittleren Rate von 10 % zwischen 1840 und 1880. Die Geschwindigkeit dieses Wachstumsprozesses hing zum Teil an der schnell wachsenden Bevölkerung der Großstadt, aber auch der durchschnittliche Verbrauch von Kohle pro Kopf stieg bis etwa 1880 mit exponentiellen Wachstumsraten von 10 kg im Jahr 1830 auf über 600 kg im Jahr 1880. Der Brennholzverbrauch ging währenddessen sowohl pro Kopf und als auch in absoluten Zahlen zurück, und um 1870 wurde in Wien etwa soviel Kohle wie Holz verbraucht (siehe Tab. 6.9, Abb.6. 2). Dennoch verlor Brennholz auch im städtischen Bereich während des gesamten 19. Jahrhunderts nie völlig an Bedeutung.
212
Landnutzung und Energie in Österreich
Tab. 6.8: Primär- (8a) und Endenergieumsatz (8b) nach Energieträgern in Österreich 1830-1910 8a
1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910
Primärenergieumsatz
[PJ]
263
274
285
312
352
387
470
534
590
Primärenergieumsatz
[GJ/ Kopf]
73
72
72
74
78
78
87
89
89
Landwirtschaftliche Biomasse
[%]
47%
48%
49%
47%
44%
41%
37%
34%
28%
Holz
[%]
52%
51%
50%
47%
42%
33%
24%
19%
17%
Kohle
[%] 0,3% 0,5% 0,9% 5,9%
14% 27%
38%
47%
54%
Wasserkraft
[%] 0,3% 0,3% 0,3% 0,3% 0,3% 0,2%
0%
0%
0%
8b
1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910
Endenergieumsatz
[PJ]
147
157
167
183
212
243
309
372
431
Endenergieumsatz
[GJ/ Kopf]
41,0
41,5
42,1
43,1
47,0
49,2
57,3
62,2
65,2
Nahrung
10%
10%
10%
9%
9%
8%
7%
6%
6%
21%
22%
22%
21%
18%
16%
14%
12%
10%
69%
68%
67%
60%
51%
33%
21%
14%
10%
Kohle
[%] 0,4% 0,9% 1,6%
10%
23%
43%
58%
68%
74%
Wasserkraft
[%] 0,6% 0,6% 0,5% 0,5% 0,4% 0,4% 0,3% 0,2% 0,2%
[%] [%] [%]
Futter Zugtiere H o l z und Holzkohle
Quelle: Krausmann 2001b; Krausmann und Haberl 2002; Krausmann et al. 2003b; eigene Berechnungen.
Tab. 6.9: Energieumsatz nach Energieträgern in Wien, 1800-1910 1800:1810:1820:1830:1840:1850:1860 1870:1880:1890 1900 1910 Energieumsatz
[PJ]
8
9
7
8
10
10
11
15
19
39
61
67
Energieumsatz
[GJ/Kopf]
35
36
27
29
27
23
22
24
27
28
37
33
Nahrung
[ % ] 1 4 % :14% :19%:17% 18% 22% 2 3 % :20% :19%:18% 13% 16%
Futter
[ % ] 4 % 3% 4 % 4% 4 % 5% 5% 4% 5% 6% 4 % 4%
Holz
[%] 80% !32% ;76% ;78% ;76% (Ά % 49% :59% :18% 7% 5% 4 %
Kohle
[%] 1% 0 % 1% 1% 2% 9% 22% :36% !>8% (d9% ;77% :76%
Quelle: Krausmann 2005b
Kohle, Klee und Kartoffeln
213
Auf der Ebene von Österreich insgesamt ergibt sich ein ganz ähnliches Bild (Tab. 6.8): Der Kohleverbrauch stieg mit ähnlich hohen Wachstumsraten wie in Wien an und mußte schon ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Ausmaß durch „Importe" aus anderen Teilen der Monarchie, vor allem aus Böhmen, gedeckt werden. Die Kohleimporte überstiegen die im heutigen Bundesgebiet geförderten Mengen vermutlich bereits um 1860, um 1910 wurden nur mehr 10 % der im heutigen Osterreich verbrauchten Kohle auch in diesem Gebiet gefördert. Insgesamt war der Verbrauch von Kohle auf dem Gebiet des heutigen Osterreich bis zum ersten Weltkrieg auf 260-320 PJ gewachsen, entsprechend einem Pro-Kopf-Verbrauch von 40-48 GJ/Kopf. 1 5 1 Zu den großen Verbrauchern von Kohle zählten am Vorabend des ersten Weltkrieges neben den städtischen Haushalten insbesondere die Eisenindustrie 152 und die Eisenbahn, 153 die jeweils 15-25 % des gesamten Kohlebedarfs verursachten.
Biomasse Die Entwicklung des Holzverbrauchs im 19. Jahrhundert ist nicht einfach zu rekonstruieren. Es liegen keine verläßlichen statistischen Daten zum Holzeinschlag oder -verbrauch vor, und Schätzungen zum Holzbestand und dem nachhaltigen Ertrag der Wälder allein lassen keine einwandfreie Schätzung zu. 154 In vielen Industrieregionen mit traditionell hohem Brennholzbedarf kam es vermutlich zu einer rasch einsetzenden und drastischen Reduktion des Holzverbrauches zwischen 1850 und 1900. Manche energieintensiven Industriezweige wie die Eisenverhüttung waren aber auf Holz als Energieträger bzw. Prozeßrohstoff optimiert, und ihr Holzverbrauch war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch deutlich im Steigen begriffen. Noch 1884 wurden etwa 75 % des gesamten im heutigen Osterreich hergestellten Roheisen auf Basis von Holzkohle hergestellt, und der vollständige Ablöseprozeß durch Mineralkohle dauerte bis in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. 155 Seinen Höchstwert erreichte der Holzverbrauch der Roheisenerzeugung um 1870 mit über 20 PJ/Jahr und sank dann bis 1900
151
Genaue Angaben zum Kohleverbrauch in Österreich sind schwierig. Zwar sind die Entnahmen auf dem Gebiet des heutigen Osterreich in der Statistik gut erfaßt, aber über die „Importe" von Kohle aus anderen Provinzen der Monarchie liegen keine genauen Zahlen vor. Aus Angaben in der Literatur lassen sich für die Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges Werte zwischen 2 1 0 PJ und 280 PJ ableiten (vgl. K A A W 1925; Weber 1957).
152 Aufgrund der Eisenerzvorkommen im steirischen Erzberg war das heutige Osterreich ein bedeutender Produzent von Roheisen und Eisenwaren. 1830 wurden noch über 70 % der Roheisenproduktion Cisleithaniens im heutigen Österreich hergestellt (siehe Tab. 6.7c). 153 Abgeleitet aus Zahlen für die Monarchie 1913 und für die Republik 1930 ( 1 - 1 , 5 Mio. t oder 3 0 - 4 0 PJ). Quellen: Weber 1957; Statistisches Handbuch 1913.Siehe u . a . Hwaletz 2001,33. 154 Krausmann 2001b. 155 Siehe u. a. Hwaletz 2001, 33.
214
Landnutzung und Energie in Österreich
rasch auf einen Wert von 5-7 PJ. Der Kohleverbrauch der österreichischen Eisenindustrie stieg demgegenüber exponentiell an und erreichte 1900 ca. 40-50 PJ. Auch in waldreichen ländlichen Regionen, wo Brennholz in großem Ausmaß zur Verfügung stand, wurde vermutlich in Haushalten und auch im Kleingewerbe im gesamten 19. Jahrhundert weiterhin dem Brennholz der Vorzug gegenüber der Kohle gegeben. Aus verschiedenen Angaben in der Literatur kann man ableiten, daß der Holzbedarf zwischen 1830 und 1910 um bis zu 25 % zurückging. Unter Umständen überschätzen diese Zahlen aber den tatsächlichen Rückgang, denn es gibt kaum Möglichkeiten, Modellannahmen zur Berechnung des landwirtschaftlichen Brennholzverbrauch im stark agrarisch geprägten Osterreich zu verifizieren, da der Holzverbrauch je Haushalt sehr variabel und von der lokalen Verfügbarkeit und den klimatischen Bedingungen abhängig war. Die Spannweite des Holzverbrauchs in mitteleuropäischen Haushalten dürfte pro Kopf zwischen 2 m 3 und 8 m3/Jahr gelegen haben. 156 Der Verbrauch von Biomasse insgesamt blieb zwischen 1830 und 1910 trotz deutlich ausgeprägtem Bevölkerungswachstum praktisch konstant bei etwa 270 PJ/a. Diese Entwicklung ist ein Resultat aus dem rückläufigen Brennholzverbrauch einerseits und der deutlich steigenden Produktion bzw. der Steigerung des Verbrauches landwirtschaftlicher Biomasse andererseits. Die Produktion landwirtschaftliche Biomasse wuchs mehr oder weniger parallel zur Bevölkerung zwischen 1830 und 1880 um 24 % und zwischen 1880 und 1900 um weitere 15 % und stieg von 123 PJ auf insgesamt 178 PJ. Die pro Kopf produzierte landwirtschaftliche Biomasse ging auf Grund des ausgeprägten Bevölkerungswachstums leicht zurück, so daß 1910 nur mehr 30 GJ/Kopf verbraucht wurden (im Gegensatz zu 35 GJ/ Kopf im Jahr 1830). Der Anteil von Biomasse am Gesamtenergieumsatz nahm allerdings deutlich ab: Noch 1850 entfielen über 95 % des Primärenergieumsatzes auf Biomasse, 40 Jahre später waren es nur mehr 60 % (Tab.6. 8, Abb. 6.10a).157 Am Beispiel der Stadt Wien zeigt sich der Transformationsprozeß des Energiesystems noch deutlicher (Tab. 6.9, Abb. 6.10c): Der Anteil der Biomasse ging von über 90 % im Jahr 1840 innerhalb von 50 Jahren auf ca. 30 % zurück. Der Stellenwert menschlicher und tierischer Nahrung im Energiesystem der Stadt Wien nahm anfänglich bis in die 1860er Jahre zu (von ca. 18 auf 30 % des Gesamtumsatzes) und begann dann zu sinken. Von den 8,6 GJ Biomasse, die 1890 pro Kopf in Wien konsumiert wurden, entfielen drei Viertel auf landwirtschaftliche Biomasse.
156 Angaben zum Holzverbrauch in ländlichen Haushalten u. a. in Johann 2004; Malanima 2001; Seiter 1995. 1 5 7 Die Zahlen zum Biomassemetabolismus sind aus den Angaben in Krausmann 2 0 0 1 b abgeleitet.
Kohle, Klee und Kartoffeln
215
6 . 3 . 2 . Die agrarischen Innovationen im 19. Jahrhundert Trotz der zunehmenden Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche blieb die Landwirtschaft bis ins 20. Jahrhundert ein wichtiges Element des gesellschaftlichen Energiesystems. Die Landbewirtschaftung mußte einen kontinuierlich steigenden Bedarf an Nahrung für Menschen und Zugtiere decken, während die Arbeits- und Flächenproduktivität der Landwirtschaft selbst kaum von fossilenergiebasierten Technologien profitieren konnte. Die im vorhergehenden Abschnitt genannten Limitierungen der landwirtschaftlichen Produktion (Nährstoffverfügbarkeit, Erwirtschaften eines Energiegewinns etc.) blieben bis weit ins 20. Jahrhundert erhalten, obwohl durch die neuen Möglichkeiten des Ferntransportes und des ansteigenden Fernhandels mit Agrarprodukten Konzentrationsprozesse angetrieben wurden. Mit der wachsenden Industrialisierung, der Zunahme der Bevölkerung und der Verstädterung begannen im 19. Jahrhundert auch in der im europäischen Vergleich relativ rückständigen österreichischen Landwirtschaft Veränderungen zu greifen. Die institutionellen Voraussetzungen für diese Veränderungen waren die Grundentlastung und der Abbau grundherrschaftlicher Strukturen sowie damit verbundener dörflicher Regelmechanismen (z.B. Flurzwang) seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. 158 Eine der wesentlichen technologischen Neuerungen in der Landnutzung war der zunehmende Anbau von Hackfrüchten und Futterleguminosen auf dem Brachfeld der Dreifelderwirtschaft. Während der Anteil der Getreidefläche an der Ackerfläche im gesamten 19. Jahrhundert praktisch konstant bei knapp zwei Dritteln lag, stieg der Anteil der neuen Feldfrüchte (leguminose Futterpflanzen und Hackfrüchte) an der gesamten Ackerfläche auf Kosten der Brache zwischen 1830 und dem Beginn des 20. Jahrhunderts von 14 % auf 30 % (Tab. 6.10). Vor Ausbruch des ersten Weltkrieges war der Anteil der Brachflächen an der Ackerfläche auf unter 5 % gesunken. Der Anbau der ertragreichen Kartoffel 159 trug direkt zur Steigerung des Outputs an pflanzlichen Nahrungsmitteln bei, noch bedeutender waren aber die Auswirkungen der neuen Kulturpflanzen auf die Viehhaltung: Sowohl Kartoffeln wie auch Klee und andere Leguminosen waren hochwertige Futtermittel und konnten dazu beitragen, daß die Verfügbarkeit von Stallfutter erhöht sowie die
158 Das Revolutionsjahr 1848 brachte in Österreich die Aufhebung der Grundherrschaft und initiierte die Grundentlastung, siehe etwa Hoffmann 1978 159 In Osterreich lieferte der Kartoffelanbau um 1900 einen Nahrungsertrag von ca. 22 G J N ^ je ha, der Ertrag von Getreide (Roggen) lag mit 13 G J i ^ / h a deutlich unter diesem Wert. Zudem erfolgte der Anbau der Kartoffel meist anstelle der Brachhaltung (berechnet aufgrund der Angaben in Krausmann 2001b).
216
Landnutzung und Energie in Österreich
Tab. 6.10: Entwicklung der Nutzung des Ackerlands in Österreich 1830-1910 1830
1870
1890
1910
20391
19395
19986
20206
Getreide
62%
62%
62%
63%
Leguminose Futterpflanzen
12%
15%
16%
16%
Hackfrüchte
2%
6%
7%
14%
Sonstige Feldfrüchte
8%
6%
6%
4%
15%
10%
10%
3%
In % der Ackerfläche Ackerfläche
[km 2 ]
Brache Quelle: Krausmann 2001b
Futterqualität deutlich verbessert wurde. Der Stellenwert von Stroh und minderwertigen Weideflächen im Futteraufkommen wurde verringert, während das Futteraufkommen insgesamt gesteigert werden konnte. Zwischen 1830 und 1910 wurde das Futteraufkommens in Osterreich um etwa 35—40 % erhöht, was eine Erhöhung des Rinderbestandes um ca. 20 %, des Schweinebestandes um das Fünffache und der Produktion tierischer Nahrungsmittel um 90 % (von 4,6 auf 9,3 P J N W ) ermöglichte. In der Folge stand auch mehr Stroh für Einstreu zur Verfügung und der sozio-ökonomische Druck auf die Waldökosysteme wurde durch eine Reduktion von Waldstreuentnahme und Waldweide verringert. Tab. 6.11: Entwicklung der Viehwirtschaft in Österreich, 1830-1910 1830
1870
1890
1910
Viehbestand
[1000 GVE]
1440
1970
2295
2650
Zugviehbestand"'
[1000 Stück]
554
661
740
733
Futteraufkommen
[10 9 StE]**
3000
k.D.
k.D.
4300
[PJNW] [1000 t]
4,6
6,3
7,5
9,3
38
44
54
67
Endproduktion*** Ν in tier. Mist
* Pferde und Ochsen ''"'Das Futteraufkommen wird in Stärkeeinheiten (StE) gemessen. rische Endproduktion inkludiert Fleisch, Milch und Eier Quelle: Krausmann 2001b und eigene Berechnungen
Tie-
Die mit der Zunahme der Stallfütterung verbundene Steigerung des Düngeraufkommens und der Anbau von stickstoffixierenden Leguminosen bewirkten eine deutliche Verbesserung der Stickstoffversorgung im Ackerbau; 160 Um 1830
160 Die Angaben zu den Stickstoffflüssen in der österreichischen Landwirtschaft 1830 und 1910 stammen aus bisher nicht veröffentlichten Berechnungen des Autors. Die Berech-
Kohle, Klee und Kartoffeln
217
wurden dem Ackerland durch die landwirtschaftliche Ernte jährlich ca. 58.000 t Stickstoff entzogen. Dem stand ein sozioökonomisch gesteuerter Stickstoffeintrag durch leguminose Feldfrüchte von ca. 12.000 t und durch Stallmist von 38.000 t gegenüber. Bis 1910 wurde durch die Zunahme von Leguminosenanbau und Stallfütterung der Eintrag durch N-Fixierung um 66 % auf 22.000 t und die N-Rückführung aus Stallmist um 76 % auf 67.000 t erhöht. Damit stieg der Nähstoff-Input auf den Ackerflächen insgesamt um 60 % auf 89.0001. Insgesamt 25 % des Mehrinputs trug der Leguminosenanbau und 75 % die Stallfütterung bei. Das bewirkte deutlich höhere Erträge im Pflanzenbau (z.B. von 900 auf 1200 kg/ha bei Roggen) und fast eine Verdoppelung der tierischen Produktion. Parallel dazu stieg natürlich auch der Stickstoffentzug durch die landwirtschaftliche Ernte um 43 % auf 83.000 t an. Insgesamt wurde die Nahrungsproduktion der österreichischen Landwirtschaft durch diese Entwicklung deutlich gesteigert - zwischen 1830 und 1910 kam es fast zu eine Verdoppelung des Nährwerts landwirtschaftlicher Endprodukte von 14 auf 27 PJ (siehe Abb. 6.7a). Trotzdem blieb die Zunahme der Nahrungsproduktion unter dem Bevölkerungswachstum und es wurde in zunehmendem Ausmaß Nahrung zur Versorgung der städtischen Ballungsräume aus anderen Regionen der Monarchie, vor allem Ungarn, Böhmen und Mähren, „importiert". Herauszustreichen ist, daß die agrarischen Innovationen im 19. Jahrhundert zwar eine deutliche und relativ rasche Steigerung der Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft und insbesondere der Flächenproduktivität bewirkten, daß sie aber nicht mit grundlegenden strukturellen Veränderungen in der Funktion der Landwirtschaft verbunden waren. Die landwirtschaftliche Modernisierung des 19. Jahrhunderts bewegte sich, mit Ausnahme der gestiegenen Verwendung von Metallen in landwirtschaftlichen Geräten und dem von der Eisenbahn ermöglichten Ferntransport, weiterhin fast vollständig innerhalb des Rahmens einer solarenergiebasierten Landwirtschaft. Limitierend für die weitere Entwicklung der Landwirtschaft blieben aber nach wie vor die Versorgung mit Stickstoff und anderen Pflanzennährstoffen (v. a. Phosphor und Kalium) und der hohe Bedarf an menschlicher und tierischer Arbeitskraft. Die Substitution von biogener Arbeitskraft durch Maschinen, die von fossilen Energieträgern angetrieben wurden, begann erst im 20. Jahrhundert
nung des N-Entzuges durch die Ernte basiert auf Angaben zur Entnahme landwirtschaftlicher Biomasse und ihrem spezifischen N-Gehalt, der N-Eintrag durch Ackerleguminosen wurde auf Grund von Anbauflächen und N-Fixierung pro Flächeneinheit berechnet. Das N - A u f k o m m e n wurde über Viehbestandsangaben, Anfall von tierischem Mist je G V E und Verlustraten (Ausgasung, Auswaschung) geschätzt. Daten und Koeffizienten stammen u. a. aus Sandgruber 1978a, Krausmann 2001b und Krausmann 2005a.
218
Landnutzung und Energie in Österreich
wirksam zu werden. U m 1900 wurden in der österreichischen Landwirtschaft zwar in etwa 30 % der landwirtschaftlichen Betriebe Maschinen (v. a. Dresch-, Häcksel- und Getreidereinigungsmaschinen) verwendet, die Antriebskraft dieser Maschinen war aber fast ausschließlich menschliche (70 % ) und tierische (25 % ) Arbeit. N u r 2 % der Betriebe nutzten dampfbetriebene Maschinen. 1 6 1 Die Innovationen des 19. Jahrhunderts waren daher nicht mit einer spürbaren Reduktion der landwirtschaftlichen Bevölkerung bzw. der Beschäftigten in der Landwirtschaft verbunden, sondern führten tendenziell eher zu einer Steigerung des Arbeitseinsatzes (vgl. auch Abb. 6.1). Die Bestellung der ehemaligen Bracheflächen sowie die Stallhaltung und der gestiegene Viehbestand erforderten insgesamt eine höhere Arbeitsleistung. Dementsprechend ist auch die installierte Leistung 1 6 2 je ha Nutzfläche um 10-20 % von 0,17 kW/ha auf 0,20 kW/ha gestiegen, wobei vor allem der Anteil der tierischen Arbeitskraft deutlich zugenommen hat. D a vermutlich auch der Grad der Ausnutzung der verfügbaren Leistung gestiegen ist, kann man davon ausgehen, daß die tatsächlich in der Landwirtschaft geleistete Arbeit um mindestens 20-30 % zugenommen hat. Im Gegensatz zur Agrarmodernisierung im 20. Jahrhundert brachte der Optimierungsprozeß im 19. Jahrhundert aber noch einmal eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz der Landwirtschaft. Die Produktivitätssteigerungen übertrafen den Mehraufwand an Arbeit beträchtlich, und das Verhältnis zwischen gesellschaftlichem Energieaufwand und Energieertrag in Form von Agrarprodukten ist zwischen 1830 und 1910 von ungefähr 1:5 auf 1:9 angestiegen. 163 Eine strukturell wichtige Veränderung stellte die zunehmende Marktintegration der österreichischen Landwirtschaft dar. Der Anstieg der nicht-agrarischen bzw. Urbanen Bevölkerung von knapp einer auf über 4 Mio. (vgl. Abb. 6.1) bedeutete auch, daß die Landwirtschaft wesentlich mehr Nahrungsmittel in die Städte lieferte. Der „Export" von Agrarprodukten aus den immer noch auf lokaler Ebene integrierten Produktionssystemen war gleichbedeutend mit einem Export von ohnehin knappen Pflanzennährstoffen und einer zunehmenden Off-
161 Berechnet nach Angaben in Sandgruber 1978a und Statistisches Handbuch 1910 (landwirtschaftliche Betriebszählung von 1902). 162 Vgl. dazu Fußnote 148. 163 D e m Energieertrag in F o r m von landwirtschaftlichem Endprodukt (Getreide, Fleisch, Milch etc.) wird der direkte und indirekte gesellschaftliche Energieaufwand in F o r m des Nahrungsäquivalentes menschlicher Arbeit gegenüber gestellt. Futter für Arbeitstiere wird nicht als Energieaufwand gewertet, da es innerhalb des landwirtschaftlichen Produktionssystems erzeugt wird. Unter industriegesellschaftlichen Bedingungen inkludiert der gesellschaftliche Energieaufwand auch Treibstoffe für landwirtschaftliche Maschinen, landwirtschaftlichen Stromverbrauch, Energieaufwand zur Düngemittelerzeugung etc.
Kohle, Klee und Kartoffeln
219
nung von lokal weitgehend geschlossenen Stoffkreisläufen. 164 Die Urbanen Zentren müssen als Senken für Pflanzennährstoffe begriffen werden: In der nach Wien gelieferten Nahrung und dem Futter für die städtischen Zugtiere waren Ende des 19. Jahrhunderts beispielsweise mindestens 15.000 bis 20.000 t Stickstoff enthalten, 165 was ungefähr 20-25 % der jährlich den österreichischen Ackerflächen durch die Ernte entzogenen Stickstoffmenge (ca. 80.000 t im Jahr 1910) entspricht. Dieser Stickstoff (sowie alle anderen in den Agrarprodukten enthaltenen Pflanzennährstoffe) landete mit den menschlichen Ausscheidungen in Gewässern bzw. der Luft und ging damit für die Landwirtschaft verloren. Die Nährstoffverluste konnten im 19. Jahrhundert noch weitgehend durch nicht-fossile Techniken wie Bewässerung, Fruchtfolgemaßnahmen, die gezielten Nutzung von Leguminosen zur Fixierung von Luftstickstoff oder den Abbau mineralischer Düngemittel wie Mergel kompensiert werden. 166 Einer weitere Steigerung der Marktintegration der low input Landwirtschaft des frühen 19. Jahrhunderts hätten aber vermutlich mittelfristig die damit verbundenen Nährstoffverluste enge Grenzen gesetzt. 167 Die agrarischen Innovationen des 19. Jahrhunderts können zusammenfassend als ein weiterer Optimierungsschritt der Landwirtschaft des Solarenergiesystems verstanden werden. Zahlreiche technische Neuerungen wie neue Kulturpflanzen und Fruchtfolgen, effizientere landwirtschaftliche Geräte und Arbeitsweisen bewirkten zwar eine deutlich Steigerung der Flächen- und Arbeitsproduktivität, aber sie stellten keinen fundamentalen Bruch in der grundsätzlichen Funktionsweise der Landwirtschaft dar. Es handelte sich überwiegend um biogene Prozesse, und die Rolle der Viehhaltung als multifunktionales und integrierendes Element in den lokalen Produktionssystemen blieb erhalten. Fossilenergie war praktisch nicht involviert, wenn man von einem gewissen und mengenmäßig unbedeutenden indirekten Kohleverbrauch durch die gesteigerte Anwendung von Eisen in landwirtschaftlichen Geräten absieht. Der Optimierungsprozeß brachte beträchtliche Leistungssteigerungen der Landwirtschaft,
164 Nimmt man an, daß in Theyern oder Voitsau die Nahrungsproduktion entsprechend dem österreichischen Durchschnitt zwischen 1830 und 1910 etwa verdoppelt werden konnte, bedeutet dies (bei gleichbleibender Bevölkerung und daher gleichbleibendem lokalen Nahrungsbedarf) eine Steigerung des potentiellen Exports landwirtschaftlicher Biomasse aus den lokalen Produktionssystemen um den Faktor 3 bis 4. 165 Berechnet aufgrund von Angaben zum Nahrungsverbrauch in Wien (Sandgruber 1982) und spezifischem N-Gehalt je kg. 166 Dazu gehört auch die Verwendung von phosphathaltigem Vogelmist (Guano), der in Südamerika in großen Mengen abgebaut und seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach Europa exportiert wurde. In Osterreich war die Guano-Anwendung aber von sehr untergeordneter Bedeutung. 167 Dieser Zusammenhang wurde bereits 1865 von Justus von Liebig angesprochen.
220
Landnutzung und Energie in Österreich
aber auch eine zunehmende Öffnung der lokalen Produktionssysteme durch Marktintegration. Ob damit das Innovationspotential der vorindustriellen Landwirtschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend ausgereizt war, oder ob weitere Produktivitätssteigerungen auch ohne die direkte und indirekte Verwendung von fossiler Energie in der Landwirtschaft möglich gewesen wären, ist schwer zu sagen. Fest steht, daß alle landwirtschaftlich nutzbaren Flächen und praktisch die gesamte verfügbare Biomasse genutzt wurden. Auch weitere Optimierungsprozesse hätten nicht dazu führen können, die Grenzen der mitteleuropäischen Trokkenlandwirtschaft (d.h. Nährstoffverfügbarkeit und Arbeitskraftbedarf) zu überwinden.
6.3.3. Resümee Die Transformation des Energiesystems durch die Nutzung von Kohle im 19. Jahrhundert äußert sich in einem Anstieg des Primärenergieumsatzes von über 100% zwischen 1830 und 1910. Das beeindruckende Wachstum des Energieumsatzes spiegelt in Österreich aber vor allem das Wachstum des Gesamtsystems wieder und nur in viel geringerem Ausmaß auch ein Wachstum des Pro-KopfNiveaus des Energiekonsums (Tab. 6.8). Da auch die Bevölkerung um 85 % gewachsen ist, lag der Energiekonsum pro Kopf mit 90 GJ nur etwa 30 % über dem Wert von 1830. In Wien mit seinem enormen Wachstum im 19. Jahrhundert ist der Energiekonsum pro Kopf bis etwa 1860 gesunken und bis Ende des 19. Jahrhunderts nur geringfügig über das Niveau von 1830 angestiegen (vgl. Tab. 6.9). Der Anteil der Biomasse am Energieumsatz ist in diesem Zeitraum zwar von fast 100 % auf weniger als 50 % zurückgegangen, in absoluten Zahlen hat sich der Verbrauch zwischen 1830 und 1910 aber kaum verändert. Die Bedeutung der Biomasse im gesellschaftlichen Energiesystem wurde durch den Transformationsprozeß im 19. Jahrhundert zwar deutlich reduziert, aber bei weitem nicht marginalisiert. Pro Kopf und Jahr wurden um 1910 in Österreich immer noch ca. 3.200 kg Biomasse und 2.300 kg Kohle sowie 75 kg Eisen verwendet. Die Transformation des Energiesystems und der Ubergang in eine „mineral economy" im Sinne von Wrigley (1988) war am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Gewerbe, Industrie und in städtischen Zentren vollzogen. Dort hat die Kohle biogene Energieträger praktisch völlig abgelöst und auch die Rolle tierischer und menschlicher Arbeitskraft zurückgedrängt. Weite Bereiche der österreichischen Gesellschaft, allen voran die ländliche Bevölkerung und die Landwirtschaft, waren um 1910 immer noch in einem - wenn auch weitgehend ausgereizten - solarenergie-basierten System verhaftet, dessen energetische
Kohle, Klee und Kartoffeln
Abb. 6.3: Virtueller Flächenbedarf zur Versorgung der Stadt Wien mit Energie 18001910, in tausend Hektar 1.200 E Kohle Hl Holz
Anmerkung zu Abb. 6.3: Der Flächenbedarf zur Holzversorgung errechnet sich aus dem durchschnittlichen nachhaltigen Holzertrag (5 m 3 /ha). Der virtuelle Flächenbedarf des Kohlekonsums entspricht der Waldfläche einer dem Brennwert der verbrauchten Kohle äquivalenten Holzmenge. Quelle: Krausmann 2005b
Grundlage noch fast ausschließlich auf Brennholz und menschlicher und tierischer Arbeitskraft beruhte. Räumlich gesehen beschränkte sich das Fossilenergiesystem in Osterreich also auf einige wenige Industriestandorte und städtische Zentren, 168 die durch ein Netz aus Eisenbahnlinien verbunden waren. Eingebettet war dieses Fossilenergiesystem am Beginn des 20. Jahrhunderts in die Matrix des ruralen Solarenergiesystems. Der Transformationsprozeß im 19. Jahrhundert ermöglichte vor allem ein absolutes Wachstum des sozioökonomischen Systems über die Grenzen des solaren Energiesystems hinaus.
168 1910 gab es im heutigen Bundesgebiet 9 Städte mit mehr als 20.000 EW und einer Gesamtbevölkerung von 2,5 Mio. Einwohnern (37 % der gesamt Bevölkerung). 80 % dieser städtischen Bevölkerung lebte in Wien (Statistisches Handbuch 1910).
222
Landnutzung und Energie in Österreich
Eine Berechnung der virtuellen Fläche des Energiekonsums verdeutlicht das Ausmaß der durch die Kohle induzierten Veränderungen im gesellschaftlichen Energiesystem (siehe Abb. 6.6): Wollte man die um 1910 auf dem Gebiet des heutigen Osterreich verbrauchte Kohle (gemessen an ihrem Brennwert) durch Brennholz ersetzen, so entspräche das dem nachhaltigen Holzertrag einer zusätzlichen Waldfläche von ca. 7 Mio. ha, also einer Fläche von knapp der gesamten bioproduktiven Gesamtfläche Österreichs. Der Kohleverbrauch der Stadt Wien alleine entspräche dabei einer Waldfläche von einer Mio. ha (Abb. 6.2). Die Nutzung fossiler Energieträger führte also bereits im 19. Jahrhundert zu einer teilweisen Entkoppelung des gesellschaftlichen Energiesystems von der Fläche und ermöglichte so Wachstumsprozesse, die deutlich die biophysischen Grenzen eines solarenergiebasierten Energiesystems überschritten.
6.4. Die Transformation des Energiesystems im 20. Jahrhundert 6.4.1. Die Entwicklung von Struktur und Niveau des Energiekonsums
Der Erste Weltkrieg endete mit dem Kollaps der Habsburger Monarchie. Auf die Republik Osterreich als einem der Nachfolgestaaten der Monarchie entfielen 18 % der landwirtschaftlich Nutzfläche, 22 % der Gesamtbevölkerung, 30 % der Gesamtfläche, etwa ein Drittel der fabrikmäßigen Betriebe und der Roheisenerzeugung, aber nur knapp 9 % der Kohleförderung Cisleithaniens (siehe auch Tab. 6.7). Der neue Staat wurde aus dem ökonomischen Kontext eines integrierten und hochgradig arbeitsteilig organisierten Wirtschaftsraumes gerissen, was sich insbesondere auch auf das Energiesystem auswirken mußte. 169 Vor dem Krieg wurden insbesondere die österreichische Schwerindustrie und die Stadt Wien mit ihren über 2 Mio. Einwohnern mit Ressourcen aus den nicht-österreichischen Provinzen der Monarchie versorgt. Dem überproportional hohen Energiebedarf des neuen Osterreich standen 1919 daher nur in beschränktem Ausmaß entsprechende Energieressourcen im Inland gegenüber, und die österreichische Landwirtschaft war vergleichsweise rückständig und weit davon entfernt, die Selbstversorgung des Landes mit Nahrung gewährleisten zu können. Verstärkt durch die Schäden, die der Erste Weltkrieg hinterlassen hatte, herrschte im Nachkriegsösterreich akuter Mangel: Nur etwa ein Viertel des ohnehin gesunkenen Kohleverbrauches und nur knapp die Hälfte des Nahrungsbedarfs konnten aus dem Inland gedeckt werden. Insbesondere die Bundeshauptstadt Wien war von der Energieknappheit betroffen. 170
169 Siehe dazu Brusatti 1973; Eigner 1997; Koren 1961a; Sandgruber 1995. 170 Beri 1921; Meihsl 1961.
223
20. Jahrhundert
Ein konsistentes Bild der biophysischen Entwicklung in der Zeit zwischen 1914 und 1945 ist aufgrund der über weite Strecken lückenhaften bzw. unsichern Daten nur annähernd zu zeichnen. Nach dem Ersten Weltkrieg kam es rasch zu einer Umstrukturierung der österreichischen Industrie, einem Ausbau der inländischen Rohstofförderung (insbesondere Braunkohle), und auch der Zwang zur Innovation in der unterentwickelten Landwirtschaft zeigte Wirkung. 171 Bis 1930 wurde die österreichische Kohleförderung um 30% gegenüber 1910 gesteigert (Tab. 6.12). Die Landwirtschaft konnte bereits Mitte der 1920er Jahre mehr Menschen mit Nahrung versorgen als 1910 (Abb. 6.7a), und der Energieumsatz insgesamt erreichte 1930 wieder fast das Vorkriegsniveau von 600 PJ. Dann brach er bedingt durch die Weltwirtschaftkrise erneut ein, kletterte bis Anfang der 1940er Jahre auf über 600 PJ, bis die Integration ins Deutsche Reich und der 2. Weltkrieg Anfang der 1940er Jahre erneut eine gravierende Störung der Entwicklung verursachten (Siehe Abb. 6.4). Trotz dieser Turbulenzen in der Entwicklung ist erkennbar, daß bereits in der Zwischenkriegszeit ein Prozeß begann, der ab den 1950er Jahren voll zum Tragen kam und dann sehr schnell zu einer strukturellen Veränderung des Energiesystems und der Landnutzung führen sollte. Wie Tab. 6.12 zeigt, wurde die inländische Förderung fossiler Energieträger zwischen 1930 und 1970 um den Faktor 5,5 gesteigert und die Stromgewinnung aus Wasserkraft 172 zu einer wichtigen Form der Energiegewinnung ausgebaut. Gleichzeitig wuchsen die Importe von fossilen Energieträgern zwischen 1930 und 1970 um mehr als das Dreifache, und der Anteil von Erdöl am Verbrauch fossiler Energieträger kletterte auf fast 60 %. Tab. 6.12: Inländische Entnahme (DE) und Importe von Fossilenergie und Strom aus Wasserkraft zw. 1910 und 1970 DE Fossile DE Wasserkraft Netto-Importe Fossilenergie
Strom- Anteil Öl an verbrauch Fossilen [%]
[PJ]
[PJ]
[PJ]
34
0,9
286
6
1930
46
6,6
146
8,6
7
1950
156
19
133
20
25
1970
250
80
472
89
57
1910
[PJ]
0
Quellen: Stromverbrauch nach Butschek et al. 1998 und Koren 1961b; Weber 1957; alle anderen Krausmann und Haberl 2002
171 Meihsl 1961 ; Sandgruber 2002; Schöhl 1935. 172 Die relative Bedeutung der Stromerzeugung aus Wasserkraft steigt, wenn man berücksichtigt, daß die Effizienz der thermischen Stromerzeugung bis in die 1960er Jahre nur bei 20-30 % lag. Hätte man die 1930 aus Wasserkraft erzeugte Menge an elektrischer Energie in Kohlekraftwerken erzeugt, wäre dazu Kohle mit einem Brennwert von 30—40 PJ erforderlich gewesen.
224
Landnutzung und Energie in Österreich
Der Energieumsatz insgesamt verdoppelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb von nur zwei Jahrzehnten von 600 PJ im Jahr 1950 auf über 1200 PJ im Jahr 1970. Wie Abb. 6.4 zeigt, reflektiert die Steigerung des Energieumsatzes vor allem die Zunahme des Verbrauchs von Erdöl und später auch Erdgas. Der Anteil der Biomasse am gesamten Energieumsatz sank von knapp der Hälfte im Jahr 1950 auf etwa ein Drittel im Jahr 1970, obwohl der absolute Verbrauch von Biomasse in diesem Zeitraum um 40 % angestiegen ist. Im Vergleich zur Entwicklung im 19. Jahrhundert war dieser Transformationsprozeß ein geradezu explosionsartiger Vorgang. Die Wachstumsraten des Energieumsatzes (sowohl insgesamt als auch pro Kopf) lagen in diesen Jahren bei über 3 % pro Jahr und waren damit deutlich höher als im 19. Jahrhundert. Zwischen 1860 und 1910 lagen die Wachstumsraten für den Gesamtumsatz bei 1,3 % und für den Pro-KopfUmsatz nur bei 0,4 %. Ein wesentlicher Unterschied zum Transformationsprozeß im 19. Jahrhundert war, daß der Energieumsatz nicht nur in absoluten Zahlen anstieg, sondern daß es auch pro Kopf zu fast einer Verdoppelung des Verbrauchsniveaus von 90 GJ/Kopf im Jahr 1950 auf 170 GJ/Kopf im Jahr 1970 kam. Im Gegensatz zur Entwicklung im 19. Jahrhundert war die Steigerung des Energieumsatzes nicht auf das Wachstum einiger weniger industrieller und urbaner Konsumzentren beschränkt, sondern wurde zu einem flächendeckenden Massenphänomen, das in nur 20 bis 30 Jahren sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, insbesondere den individuellen Konsum und den Transport, durchdrang. Der technische Energiekonsum privater Haushalte und anderer Kleinabnehmer hat sich zwischen 1955 und 1970 fast verdoppelt und der des Verkehrs stieg um den Faktor 2,2, während der industrielle Verbrauch nur um 40 % zugenommen hat. 173 In den 1970er Jahren kam es, ausgelöst durch die politischen Krisen im Nahen Osten und die damit einhergehenden Steigerungen des Olpreises, zu einer Stagnation des Energiekonsums auf sehr hohem Niveau. Durch Maßnahmen zur Energieeinsparung und die konsequente Effizienzsteigerungen 174 in der Umwandlung und Nutzung von Energie pendelte sich der Energieverbrauch pro Kopf zwischen 170-200 GJ/Kopf und Jahr ein und wuchs seit den 1970er Jahren nur mehr mäßig. 175 Insgesamt wurden in Osterreich Ende der 1990er Jahre knapp 1.600 PJ Primärenergie umgesetzt. Davon entfielen ca. 60 % auf fossile Energie-
173 Technischer Energiekonsum hier im Sinne der Energiestatistik, d. h. diese Zahlen berücksichtigen außer Brennholz keine Biomasse. Quelle: B M W A 1990. 174 Die Effizienz der thermischen Stromerzeugung etwa stieg von 20 % um 1930 auf über 45 % im Jahr 2000. Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Zahlen zum Brennstoffeinsatz in der Stromerzeugung und der Stromproduktion nach B M W A 1990; Weber 1957. Siehe dazu auch Smil 1991. 175 Der Energiekonsum insgesamt wuchs zwischen 1970 und 2000 um durchschnittlich 0,95 % und pro Kopf um 0,65 % im Jahr.
225
20. Jahrhundert
träger und 10 % auf Wasserkraft, aber ca. ein Drittel des Primärenergieumsatzes war immer noch Biomasse (Abb. 6.4). Die allgemeine Entwicklung in Osterreich spiegelt sich auch in der Veränderung des Energieumsatzes der Stadt Wien wieder (Abb. 6.5): In den Nachkriegsjahren stieg der Energieumsatz mit hohen Wachstumsraten und erreichte 1930 einen Spitzenwert von knapp 100 PJ. Nach dem Einbruch durch die Wirtschaftkrise und den Zweiten Weltkrieg kam es zwischen 1950 und 1980 bei einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 2,6 % zu mehr als einer Verdoppelung des Energiekonsums auf etwa 150 PJ. Da die Einwohnerzahl in diesem Zeitraum bei 1,6 Mio. Menschen stagnierte, verdoppelte sich auch der Energiekonsum pro Kopf von 45 GJ im Jahr 1950 auf 100 GJ im Jahr 1970 (Abb. 6.10d). Ab den 1980er Jahre kam es auch in Wien zu einer deutlichen Verlangsamung des Anstiegs des Energiekonsums. 176 Die Substitution von Kohle durch Erdölprodukte und andere Energieträger zeigt sich in Wien besonders deutlich: Der Anteil der Kohle fiel von fast 85 % in der Zwischenkriegszeit auf unter 10 % in den 1980er Jahren (Abb. 6.2 (bis 1900) und 6.10c).
Abb. 6.4: Primärenergieumsatz in Österreich nach Energieträgern, 1830-2000
1.200
• Biomasse 0 Kohle ED Erdöl S Erdgas H Wasserkraft
Quelle: nach Krausmann et al. 2003b
176 Zwischen 1980 und 2000 stieg der Energieumsatz insgesamt um 9 % und pro Kopf um 4 % , was einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate 0,5 bzw. 0,2 % entspricht.
226
Landnutzung und Energie in Österreich
Abb. 6.5: Energieumsatz der Stadt Wien nach Energieträgern, 1800-2000 200
160
Ξ sonstige Primärenergie H Wasserkraft und Fremdstrom ffl Treibstoffe SS Erdgas Ei Heizöl
40
Quelle: nach Krausmann 2005b
6.4.2. Biomasse und die Flächenabhängigkeit des Energiesystems Trotz der Transformation des Energiesystems nahm die Nutzung von Biomasse im 20. Jahrhundert interessanterweise nicht ab, sondern stieg zwischen 1950 und 1990 in absoluten Zahlen von 300 PJ auf über 500 PJ und pro Kopf von 40 auf über 60 G J an (Abb. 6.4). Was sich allerdings grundlegend verändert hat, ist der Stellenwert der Biomasse im Energiesystem. Brennholz wurde in allen Verwendungsbereichen durch fossile Brennstoffe ersetzt und bis in die 1960er Jahre ist der Verbrauch von Brennholz auf weniger als 30 PJ/Jahr zurückgegangen. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten nahm die energetische Bedeutung von Brennholz bzw. Holzabfällen wieder deutlich zu, und im Jahr 2000 wurden knapp 90 PJ zur Energiegewinnung verwendet. Die Verwendung von Fossilenergie anstelle von Brennholz führte nicht zu einer Reduktion des Holzverbrauches insgesamt, der Holzeinschlag hat sich im Gegenteil seit 1920 ungefähr verdoppelt. Vor allem die papier- und holzverarbeitende Industrie hat einen enormen Holzbedarf entwickelt (Tab. 6.13).
227
20. Jahrhundert
Tab. 6.13. Holzverbrauch in Österreich nach verschiedenen Verwendungsbereichen, 1920 bis 2000 1830
1870
1910
1930
1950
1970
1995
[PJ]*
150
150
103
80
82
95
185
Brennholz*"'
[PJ]
110
118
42
51
49
28
88
Roheisen
[Pj]
7
16
5
0
0
0
0
Papierindustrie
[PJ]
k.D.
k.D.
9
14
17
36
55
Sägewerke
[Pj]
k. D .
k.D.
k.D.
43
56
72
101
Holzverbrauch
3
*Ein m Holz entspricht durchschnittlich 9,84 GJ. "Brennholz inkludiert auch die energetische Nutzung sämtlicher Holzabfälle. Der Brennholzverbrauch und der Holzbedarf der Papierindustrie und der Sägewerke können daher nicht doppelzählungsfrei addiert werden. Der Anstieg des Brennholzverbrauchs zwischen 1970 und 1995 ist zum Teil auf veränderte Erhebungsmethoden zurückzuführen (statistisches Artefakt). Tendenziell wurde der Brennholzverbrauch in früheren Jahren unterschätzt. Quelle: Bundesholzwirtschaftsrat 1980; Gerhold 1992; Krausmann 2001b
Auch die Bedeutung von landwirtschaftlicher Biomasse als Primärenergieträger trat in den Hintergrund: Tierische Arbeit wurde vollständig durch Maschinen ersetzt, und menschliche Arbeitskraft wurde mengenmäßig marginalisiert und trägt heute weniger als 0,1 % zur insgesamt aufgewandten Nutzenergie bei. Trotzdem stieg auch der Verbrauch landwirtschaftlicher Biomasse zwischen 1910 und 1990 um über 70 % auf 300 PJ/Jahr und damit schneller als die Bevölkerung, die in diesem Zeitraum nur um knapp 18 % zunahm. Im Zusammenhang mit der Steigerung des Verbrauches landwirtschaftlicher Biomasse ist auch die Zunahme der aus energetischer Hinsicht aufwendigen „Veredelung" hochwertiger pflanzlicher Agrarprodukte durch Viehhaltung von Bedeutung. Am Höhepunkt dieser Entwicklung in den 1980er Jahren wurden etwa zwei Drittel der gesamten Getreideproduktion verfüttert. Erst in den letzten 15 Jahren hat sich die Landwirtschaft wieder vermehrt der Erzeugung von Rohstoffen und auch Energieträgern (pflanzliche Treibstoffe, Zucker und Stärke für industrielle Verwendung) zugewandt, und durch Maßnahmen der Extensivierung der Agrarproduktion wurde der Biomasseumsatz deutlich reduziert. Trotz der Reduktion des Anteils der Biomasse am gesamten Energieumsatz durch den Anstieges des Verbrauches von fossilen Energieträgern wurden 1995 noch mehr als die Hälfte der Gesamtfläche Österreichs zur Produktion von Biomasse als Primärenergieträger genutzt, wenn auch unter völlig anderen Rahmenbedingungen als im 19. Jahrhundert (siehe Kap. 6.4.3). Die Umstrukturierung des Energiesystems und auch der Agrarproduktion spiegelt sich unter anderem in der Veränderung der Flächennutzung wieder (Tab. 6.14): Nur noch 6 % der Fläche wurden 1995 zur Produktion pflanzlicher Nahrung benötigt, aber fast ein Drittel
228
Landnutzung und Energie in Österreich
zur Erzeugung von tierischen Nahrungsmitteln. Insgesamt wurde damit 1995 nur geringfügig weniger Fläche zur Nahrungsproduktion beansprucht als 1830, die pro Kopf genutzte Nahrungsfläche sank allerdings von knapp 1 ha auf 0,4 ha. Mit dem Verschwinden des Zugviehs wurde auch die Fläche zur Erzeugung des Futters (1830 immerhin 15% der Gesamtfläche) für andere Nutzungen frei. Knapp ein Fünftel der Fläche wurden 1995 noch immer zur Erzeugung von Brennholz genutzt. 177 Gestiegen ist vor allem der Anteil der Flächen, die zur Produktion von Biomasse für nicht-energetische Nutzung (vor allem Holz) verwendet werden und auch der Flächen, die mit Siedlungs- und Verkehrsinfrastruktur belegt sind. Durch die Steigerungen der Flächenproduktivität in der Landwirtschaft ist auch der Flächenbedarf zur Versorgung der Stadt Wien mit Biomasse seit 1910 deutlich gesunken. In den 1990er Jahren war zur Nahrungsversorgung von Wien nur mehr eine Fläche von 200.000 bis 300.000 ha erforderlich, also nur mehr etwa ein Viertel der Fläche von 1910. Anders als der reale hat der virtuelle Flächenbedarf des Energiesystems mit dem Anstieg des Verbrauches fossiler Energieträger zugenommen und verdeutTab. 6.14. Flächennutzung aus energetischer Perspektive, Österreich 1995 Anteil an der Gesamtfläche
Flächenbedarf [ha/Kopf]
83.858
1,04
6%
0,07
-55%
32%
0,33
+20%
Gesamtfläche Pflanzliche Nahrung Tierische Nahrung Zugkraft
0%
-
Veränderung der Anteile zw. 1830-1995
-100%
Prozeßwärme
19%
0,19
-39%
Nicht energetisch genutzte Biomasse
28%
0,29
+265%
Siedlungs- und ungenutzte Flächen
15%
0,15
+70%
Quelle: Krausmann und Haberl 2002
177 Für diese Berechnung wurde angenommen, dass der Energieverbrauch von 90 PJ im Jahr 1995 vollständig aus Brennholz gedeckt wurde, allerdings stammt ein großer Teil dieser Energiemenge aus der Verbrennung von Abfällen aus der holzverarbeitenden Industrie und der Papierindustrie. Die tatsächlich zur Brennholzerzeugung genutzte Fläche ist daher deutlich geringer als in Tab. 6.14 angegeben.
229
20. Jahrhundert
Abb. 6.6: Virtuelle Energiefläche (fossile Energie) in Österreich im Verhältnis zur Landesfläche, 1830-2000, in tausend km 2
• Landesfläche iffi Virtuelle Fläche Fossilenergie
Quelle: nach Krausmann 2 0 0 5 b
licht das Ausmaß, in dem das auf fossilen Energieträgern basierende Energiesystem die Limitierungen des Solarenergiesystems aufhebt: W i e A b b . 6.6 zeigt, lag das Flächenäquivalent der in Osterreich verbrauchten fossilen Energieträger schon vor dem Ersten Weltkrieg in der Größenordnung der Landesfläche, aber erst 1951 überstieg es 83.000 km 2 und kletterte dann innerhalb von nur zwei J a h r zehnten bis 1980 auf über 200.000 k m 2 . Bezogen auf die Gesamtfläche wurden Ende der 1990er Jahren in Osterreich etwa 200 G J Primärenergie pro H e k t a r umgesetzt. Damit liegt der gesellschaftliche Energieumsatz bereits über den potentiellen natürlichen Energieflüssen und weit über den Wachstumsgrenzen des Solarenergiesystems: W ä r e Österreich vollständig mit Wald bedeckt, würden von der Vegetation maximal 1 5 0 - 2 0 0 G J Biomasse je ha und J a h r produziert. D i e tatsächliche Entnahmerate von Biomasse lag zwar mit ca. 60 G J / h a im Landesdurchschnitt deutlich unter diesem theoretischen Wert, sie liegt aber vermutlich nahe an der G r e n z e der tatsächlichen Nutzungsmöglichkeiten. 1 7 8
178 Siehe auch Kapitel 8; vergleiche Haberl et al. 2001; Krausmann 2001a.
230
Landnutzung und Energie in Österreich
6.4.3. Industrialisierung der Landwirtschaft Die Transformation des Energiesystems bewirkte eine grundlegende und strukturelle Veränderung sowohl der Funktionsweise agrarischer Produktionssysteme wie auch der Rolle der Landbewirtschaftung im gesellschaftlichen Energiesystem insgesamt. Die österreichische Landwirtschaft hatte sich von 1910 bis unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht grundlegend verändert. Die Arbeit wurde immer noch fast ausschließlich von Menschen und Zugtieren verrichtet, es wurden kaum industriell gefertigte bzw. marktgängige Düngemittel verwendet, und die Marktintegration der Landwirtschaft war in vielen Bereichen vergleichsweise gering ausgeprägt. Die Erträge und die Flächenproduktivität lagen um 1950 etwa auf dem Niveau von 1910. Dieses Bild veränderte sich nach 1950 innerhalb sehr kurzer Zeit. Wie die Transformation des Energiesystems insgesamt war auch die Industrialisierung der Landwirtschaft ein rasantes und umfassendes Phänomen und veränderte zwischen 1950 und 1980 die Funktionsweise der gesamten österreichischen Landwirtschaft radikal. Drei Aspekte, die eng mit der Nutzung fossiler Energieträger verbunden sind, können aus einer biophysischen bzw. energetischen Perspektive als treibende Kräfte in diesem Prozeß hervorgehoben werden (siehe Tab. 6.15): Die Substitution menschlicher und tierischer Arbeit durch Maschinen: Die Landwirtschaft war einer der letzten Wirtschaftssektoren, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg fast ausschließlich mit menschlicher und tierischer Arbeitskraft betrieben wurden. Während um 1950 noch etwa 600.000 Stück Zugvieh und nur 30.000 Traktoren im Einsatz waren, sind Zugochsen und Pferde bereits um 1970 völlig aus der Landwirtschaft verschwunden, und die Anzahl der Traktoren ist auf 270.000 Stück mit einer Leistung von 5,5 Mio. kW angestiegen. Die installierte Leistung je Flächeneinheit wurde durch den Einsatz von Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Maschinen von im österreichischen Durchschnitt 0,2 kW/ha auf 5,6 kW/ha, also um den Faktor 30 erhöht (Tab. 6.15).179 Die Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft in der Landwirtschaft wurde marginalisiert, die Anzahl der Berufstätigen in der Landwirtschaft ist von 1,1 Mio. im Jahr 1950 auf 0,3 Mio. im Jahr 1980 gesunken, und menschliche Arbeitskraft trägt heute nur noch zwischen 0,2 und 0,5 % zur installierten Leistung bei. Die Aufhebung der Nährstofflimitierung: Das bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Haber-Bosch Verfahren ermöglichte die kostengünstige technische Fixierung von Luftstickstoff, was zwischen 1950 und 1980 zu einer Steigerung der Stickstoffinputs aus Kunstdünger von 0,5 t/km 2 auf 4,3 t/km 2 führte. Dadurch wurde die Stickstoffixierung durch die Futterleguminosen weit
179 In den untersuchten Dörfern hat sich die installierte Leistung (siehe Fußnote 148) um den Faktor 45 bis 55 auf 4 - 1 0 kW/ha erhöht..
231
20. Jahrhundert
übertroffen und schließlich obsolet (Abb. 6.7b). In der Folge verschwanden die Kleearten zugunsten von ertragreicheren Futterpflanzen (vor allem Körner- und Silomais) wieder aus der Fruchtfolge (Tab. 6.15). Auch die Verfügbarkeit anderer essentieller Pflanzennährstoffe in Form von Handelsdüngern wurde durch entsprechende Syntheseverfahren (Phosphor) oder den industriellen Abbau mineralischer Lagerstätten (Kalium) erhöht. Tab. 6.15: Die Industrialisierung der österreichischen Landwirtschaft 1950-2000 1950
1960
1970
1980
1990
2000
432
290
214
150
Berufstätige
[1000]
1092
776
Zugtiere
[1000]
580
280
25
0
0
0
Traktoren
[1000]
30
147
268
335
339
336
[1000 k W ]
504
1880
5583
8872
12075
17060
[1000 t R N ]
54
209
438
402
310
230
Installierte Leistung* Kunstdünger Leguminosenanbau Getreideertrag
[1000 ha]
280
220
120
73
54
70
2,51
3,20
4,54
5,61
5,46
[t/ha]
1,55
Flächenproduktivität
[GJNw/haLp]
5,7
8,7
11,3
12,0
16,4
16,1
Arbeitsproduktivität
[GJNVLWAHJ
22
45
100
151
266
354
* Als installierte Leistung wird die Leistung der vorhandenen Zugtiere (0,7 kW pro Pferd, 0,5 kW pro Ochse), Arbeitskräfte (0,1 kW pro Person) und des landwirtschaftlichen Maschinenparks (Traktoren, Erntemaschinen etc.) verstanden. Quellen: Butschek at al. 1998; Krausmann et al 2003a; ÖSTAT 1995; WIFO 1962; eigene Berechnungen.
Flächendeckende
Erschließung
durch Transportinfrastruktur·.
Wesentlich für
die Industrialisierung der dezentral organisierten Landwirtschaft war aber auch die flächendeckende und engmaschige Erschließung durch das Straßennetz und den Individualverkehr. Die Dichte des Straßennetzes ist mit 1,25 km/km 2 etwa 10 mal so hoch wie die des Schienennetzes (0,1 km/km 2 ). Die kostengünstigen Möglichkeiten zum KFZ-gebundenen Ferntransport von landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und Agrarprodukten waren eine wichtige Voraussetzung für die völlige Marktintegration der Landwirtschaft und für die räumliche Ausdifferenzierung und Spezialisierung des Agrarsystems (siehe weiter unten). Im Jahr 2000 wurden 43 Mio. t Nahrungs- und Futtermittel auf Österreichs Straßen transportiert und 3,7 Mrd. Tonnenkilometer zurückgelegt. 180 Zum Vergleich: Die in die-
180 Der Transport auf dem Schienennetz betrug etwa 5,3 Mio. t und 1 Mrd. tkm. Für frühere Zeitpunkte stehen keine vergleichbaren Daten zur Verfügung. Quelle: Herry 2003; Statistik Austria 2001.
232
L a n d n u t z u n g u n d Energie in Österreich
sem Jahr geerntete Menge an Biomasse betrug inklusive der Ernte vom Grünland und Stroh knapp 20 Mio. t. Jede geerntete Tonne legte also im Durchschnitt eine Strecke von fast 200 km zurück. 181 All diese Aspekte, die gemeinsam die Industrialisierung der Landwirtschaft charakterisieren, bewirkten eine weitestgehende Aufhebung der Limitierungen, denen die Landwirtschaft unter den Bedingungen des Solarenergiesystems ausgesetzt war (siehe Kap. 6.2.4). Dadurch konnte sowohl die Flächen- wie auch die Arbeitsproduktivität gesteigert und die Entnahme landwirtschaftlicher Biomasse insgesamt erhöht werden. Der mittlere Ertrag der wichtigsten Getreidesorten wuchs zwischen 1950 und 1990 einem linearen Trend folgend von 1,5 t/ha auf 5,6 t/ha, also mit einer mittleren Rate von fast 3 % jährlich, und ähnliches gilt für alle anderen Feldfrüchte und den Biomasseertrag insgesamt (Tab. 6.15). Wie Abb. 6.7a zeigt, wuchs die Nahrungsproduktion der Landwirtschaft im Gegensatz zur Entwicklung im 19. Jahrhundert überproportional zur Bevölkerung. Noch 1950 konnte die österreichische Landwirtschaft nur 85 % des Nahrungsbedarfes der Bevölkerung decken, 30 Jahre später produzierte sie pflanzliche Produkte, die zur ausreichenden Versorgung von fast 19 Mio. Menschen, also dem 2,5fachen der tatsächlichen Bevölkerung gereicht hätten. Allerdings wurde ein großer Teil dieser Ackerbauprodukte in der Tierhaltung zur Fleisch- und Milchproduktion verbraucht, so daß die tatsächliche Endproduktion der Landwirtschaft im Jahr 1980 etwa dem Nahrungsbedarf von 12 Mio. Menschen entsprach. 1995 wurden pro Kopf in Osterreich 530 kg Getreide (inkl. des verfütterten Getreides), 100 kg Fleisch und 370 1 Milch produziert, und der Nahrungsbedarf eines Menschen konnte auf einer Fläche von 0,25 ha erzeugt werden. Noch eindrucksvoller war die Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Sie wurde zwischen 1950 und 1990 um den Faktor 18 gesteigert. In den 1990er Jahren produzierte eine in der Landwirtschaft tätige Person bereits Nahrung für 60 Personen. Den Technologien, auf denen die flächendeckende Industrialisierung der Landwirtschaft und die damit im Zusammenhang stehenden Produktivitätssteigerungen basierten, liegt die kostengünstige Verfügbarkeit von Fossilenergie zu Grunde, und dementsprechend nahm auch der direkte und indirekte Energieeinsatz in der landwirtschaftliche Produktion zu. Insgesamt stieg der Energieaufwand für Treibstoffe, Strom, Erzeugung von Kunstdüngern und Pflanzenschutzmitteln etc. vor allem in den 1950er und 1960er Jahren viel schneller an als der in energetischen Einheiten gemessene Nettooutput der Landwirtschaft. Die Produktivitätssteigerungen der Landwirtschaft wurden daher durch eine sinkende Energieeffizienz der Agrarproduktion erkauft. Während das Verhältnis zwischen Energieaufwand und Energieertrag der Agrarproduktion im Laufe des 19. Jahrhundert von 1:5 auf 1:10 gesteigert werden konnte, wurde bereits 1965 mehr En-
181
Ohne innerbetrieblichen Transport. Quelle: Herry 2003; Statistik Austria 2001
20. Jahrhundert
233
ergie in die Agrarproduktion investiert als in Form von Nahrung gewonnen werden konnte: Zwischen 1965 und 1980 betrug das Verhältnis von Input zu Output nur etwa 1:0,86.182 Die Landwirtschaft hat sich demnach mit der Transformation des Energiesystems von einem zentralen Element des gesellschaftlichen Energiesystems tendenziell in eine Senke gesellschaftlich nutzbarer Energie verwandelte. Die Verteuerung fossiler Energieträger mit den Ölkrisen der 1970er Jahre wirkte sich aber auch auf die Energieeffizienz der Landwirtschaft aus. Die Nahrungsproduktion stieg durch effizientere Bewirtschaftungsmaßnahmen schneller als der direkte und indirekte Energieeinsatz, und in den 1990er Jahren war die Energiebilanz der Landwirtschaft in etwa ausgeglichen. 183 Eine weitere Folge der Industrialisierung der Landwirtschaft war eine völlige Desintegration der dörflich organisierten Agrarsysteme des 19. Jahrhunderts und die Ausbildung eines auf nationaler und globaler Ebene integrierten Produktionssystems. Mit diesen technischen Innovationen entfiel der funktionale Zwang einer betrieblichen bzw. lokalen Koppelung von Viehhaltung und Ackerbau, und eine räumliche Ausdifferenzierung der österreichischen Landwirtschaft als Basis für den weiteren Industrialisierungsprozeß wurde möglich. 184 Die integrative Rolle des Nutzviehs (siehe Kap. 6.2.4) wurde obsolet, und innerhalb kürzester Zeit wurde die Viehhaltung auf die Produktion von Milch und vor allem von Fleisch reduziert. 185 Sie konzentrierte sich räumlich zunehmend in den Maisanbauregionen im Süden Österreichs (Schweine- und Geflügelzucht) und in den Futterbauregionen im Alpenvorland (Rindermast), während sie in den Anbaugebieten für Brotgetreide in Ostösterreich völlig aufgegeben wurde. Umgekehrt verschwand der Akkerbau aus den alpinen Regionen, wo sich die Landwirtschaft auf grünlandbasierte Rinderhaltung und Milchproduktion spezialisierte. In Grenzertragsregionen wurde die Landwirtschaft mit der Steigerung der Flächenproduktivität vielfach gänzlich aufgegeben. Während die Agrarproduktion zwischen 1950 und 1995 verdoppelt wurde, ist die landwirtschaftlich genutzte Fläche um über 20 % zurückgegangen (Abb. 6.8). Im Gegenzug ist die bewaldete Fläche um rund 13 % gewachsen, und viele Regionen sind mit ausgeprägter Wiederbewaldung konfrontiert.
182 Siehe Krausmann et al. 2003a. 183 Die Steigerung der Energieeffizienz der Landwirtschaft steht im Zusammenhang mit dem Anstieg der Energiepreise seit den 1970er Jahren und politischen Maßnahmen zum effizienteren Einsatz von Agrartechnologien, z. B. Dünge- und Pflanzenschutzmitteleinsatz (Krausmann et al. 2003a). 184 Räumliche Ausdifferenzierung und betriebliche Spezialisierung sind wichtige Voraussetzungen für die Industrialisierung der Agrarproduktion und die Steigerung der Flächenund Arbeitsproduktivität. 185 Zwischen 1930 und 2000 wurde die Fleischproduktion verdreifacht, während die Milcherzeugung nur um den Faktor 1,5 stieg (eigene Berechnungen).
Landnutzung und Energie in Österreich
234
Abb. 6.7: Bevölkerung, Nahrungsproduktion und Stickstoffhaushalt der Landwirtschaft, Österreich 1830-2000 Abb. 6.7a: Nahrungsproduktion in Personenäquivalenten
20.000 - Bevölkerung - Versorgbare Bevölkerung brutto ~V
16.000
- Versorgbare Bevölkerung netto
η >
CT
:(D c«
=•
12.000
4.000
Anmerkung zu Abb. 6.7a: Die Nahrungsproduktion in Personenäquivalenten wurde unter der Annahme eine durchschnittlichen Nahrungsbedarfes von 4,5 GJ pro Person und Jahr errechnet. „Versorgbare Bevölkerung netto" bezieht sich auf die tatsächliche Endproduktion an tierischen und pflanzlichen Nahrungsmitteln, während „versorgbare Bevölkerung brutto" sämtliche pflanzlichen und zur menschlichen Ernährung geeigneten Agrarprodukte (also auch das verfütterte Getreide) beinhaltet.
20. Jahrhundert
235
Abb. 6.7: Bevölkerung, Nahrungsproduktion und Stickstoffhaushait der Landwirtschaft, Österreich 1830-2000 Abb. 6.7b: Stickstoffhaushalt der Landwirtschaft: Stickstofffixierung durch Ackerleguminosen im Vergleich zum Stickstoff-Input durch Kunstdünger, in Tausend Tonnen
Quelle: Krausmann 2004
236
Landnutzung und Energie in Österreich
Abb. 6.8: Landwirtschaftlich genutzte Fläche und Wald in Österreich 1830-2000
o 00 τ—
CO
LT)
t 00 τ-
Ο
(O 00 *—
in roo τ-
Ο
τ-
Ο
in
σ> τ—
m (Ο σι 1—
Ο 00 σ> τ—
LO σ> σ> τ—
Landwirtschaftlich genutzt —»—Wald
Quelle: Krausmann 2001a
Tab. 6.16: Räumliche Ausdifferenzierung der Flächennutzung: Das Verhältnis von Ackerland zu G r ü n l a n d in den landwirtschaftlichen Hauptproduktionsgebieten Österreichs, 1949 bis 1995 1949
1969
1995
Veränderung 1949/1995
Hochalpen
0,11
0,09
0,02
4,6
Voralpen
0,25
0,16
0,08
3,1
Alpenostrand
0,58
0,53
0,33
1,7
Wald- und Mühlviertel
1,58
1,33
1,34
1,2
0,7
0,8
0,9
0,8 0,6
Kärntner Becken Alpenvorland
1,0
1,1
1,6
Südöstliches Flach- und Hügelland
1,2
1,2
2,4
0,5
Nordöstliches Flach- und Hügelland
7,8
10,0
20,6
0,4
Österreich
0,7
0,7
0,7
1,0
Quelle: Statistik Austria (Bodennutzungserhebung), Krausmann et al. 2003a
20. Jahrhundert
237
Tab. 6.16 demonstriert die großräumige Ausdifferenzierung der Landwirtschaft am Beispiel der Veränderungen des Verhältnisses von Ackerland zu Grünland in den österreichischen Agrarregionen. Während das Verhältnis von Ackerland zu Grünland zwischen 1949 und 1995 in Osterreich insgesamt stabil bei 0,7 blieb (d.h. auf 1 ha Ackerland kommen im Mittel 1,4 ha Grünland), verschob sich im alpinen Raum das Verhältnis deutlich zugunsten des Grünlandes (ζ. B. in den H o c h - und Voralpen). V o r allem in den Beckenlagen im Süden und Osten hingegen verschwanden die Wiesen- und Weideflächen mit der Rinder- und Pferdehaltung, und das Verhältnis verschob sich klar in Richtung Ackerland. Kamen im nordöstlichen Flach- und Hügelland im Jahr 1949 noch 0,1 ha Grünland auf 1 ha Ackerland, waren es 1995 nur mehr 0,05. Die räumliche und betriebliche Spezialisierung der landwirtschaftlichen Produktion und ihre vollständige Integration in überregionale Märkte gingen Hand in Hand mit einer Zunahme des Transfers großer Mengen von Biomasse und landwirtschaftlichen Betriebsmitteln über weite Strecken. 1 8 6 Biomasse und die darin enthaltenen Pflanzennährstoffe werden in großen Mengen im Tierfutter und in Nahrungsmitteln zwischen weit auseinanderliegenden Regionen verschoben, und die dadurch in den Produktionsregionen verlorenen Nährstoffe müssen durch die Anwendung synthetischer Düngemittel ersetzt werden. In den intensiven Viehhaltungsregionen und in Großstädten fallen im Gegenzug organische Materialien und Nährstoffe in tierischem Mist und Fäkalien im Uberschuß an und müssen entsorgt werden. Auf lokaler Ebene bedeutete diese Entwicklung eine Öffnung ehemals regional weitgehend geschlossener 1 8 7 landwirtschaftlicher Produktionssysteme. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Biomasse vor allem innerhalb des Betriebs bzw. des lokalen Produktionssystems umgesetzt. Futter und Düngemittel wurden nur in geringem Ausmaß zugekauft, und nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Produktion verließ das System über den Markt (vgl. Tab. 6.6). Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft haben sich auf betrieblicher Ebene sowohl die Importe von Biomasse und anderen Betriebsmitteln wie auch die Exporte von Endprodukten enorm erhöht. Tab. 6.17 zeigt, daß Ende der 1990er Jahre in den Dörfern Theyern und Voitsau der Anteil der landwirtschaftlichen Endproduktion zwischen 20 und 40 % des gesamten Umsatzes an Biomasse ausmachte und praktisch vollständig exportiert wurde. Damit verringerte sich zwischen 1830
186 Einer groben Schätzung zufolge hat sich zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und 2000 die Transportintensität von landwirtschaftlicher Biomasse von weniger als 10 auf über 1000 tkm/Kopf und Jahr erhöht (eigene Berechnungen auf Basis von Fischer-Kowalski et al. 2004 und Herry 2003). 187 Geschlossen ist hier nur im Sinne von sozioökonomischen Material- und Energieflüssen zu verstehen.
238
Landnutzung und Energie in Österreich
und 1995 das Verhältnis von Biomasseumsatz zu Export bei einem deutlich gestiegenen Umsatz von Biomasse von 30:1 auf 5:1. Parallel zu den Exporten stiegen auch die Importe von Biomasse (vor allem von Futtermitteln) gegenüber 1830 an. Besonders deutlich zeigt sich die Öffnung der lokalen Produktionssysteme und der Anstieg der insgesamt umgesetzten Mengen in der Entwicklung der sozioökonomischen Stickstoffflüsse. Abb. 6.9 zeigt die wichtigsten Stickstoffflüsse in der Landwirtschaft der Gemeinde Theyern im Jahr 1830 und 1999: Mit dem Anstieg des Imports von Stickstoff in Form von Düngemitteln (und Futter) von 0 auf 70 kg/ha hat sich auch die Entnahme von Stickstoff in Form von Ernteprodukten etwa verdreifacht (auf ca. 77 kg/ha). Uber den Verkauf von Agrarprodukten (Export) gingen dem lokalen Produktionssystem 1999 etwa 39 kg/ha verloren, verglichen mit etwa 2 kg/ha im Jahr 1830. Zugenommen haben aber auch der Stickstoffeintrag durch natürliche Prozesse 188 sowie der Anfall von Stickstoff in tierischem Mist.
Abb. 6.9: Stickstoffflüsse im Agrarökosystem von Theyern 1830 (6.9a) und 1995 (6.9b): Abb. 6.9a: Theyern 1830 Naturi. Eintrag
[kgN/ha]
Agrarükosystem
Biophysische Strukturen
Inputs
24
Outputs
26
12
-2 (N-Defizit)
14 (Verluste)
Bilanz
26
188 Unter natürlichen Prozessen werden hier feuchte und trockene Deposition aus der Luft und pflanzliche Fixierung verstanden.
20. Jahrhundert
239
Abb. 6.9: Stickstoffflüsse im Agrarökosystem v o n Theyern 1830 (6.9a) u n d 1995 (6.9b): A b b . 6.9b: Theyern 1995
|kgN/ha) Agrarekosystem Inputs Outputs Bl]»m
¡23 77 46 (Verluste)
Biophyslsche Strukturen ¡44 124 20 (Verluste)
Anmerkung zu Abb. 6.9a und 6.9b: N-Entzug durch landwirtschaftliche Ernte, Import von Agrarprodukten und Düngemitteln, Eintrag durch natürliche Faktoren (feuchte und trockene Deposition, leguminose N-Fixierung), N-Eintrag durch Mineraldünger und Anwendung von tierischem Mist sowie N-Export durch Marktverkauf von Agrarprodukten. N-Austrag durch Auswaschung und Ausgasung sind nicht dargestellt! Alle Angaben in kg Stickstoff pro ha Agrarfläche. Quelle: Krausmann 2004
Tab. 6.17: Biomasseumsatz in Theyern u n d Voitsau 1995: Importe, Entnahme, Endproduktion und Export v o n landwirtschaftlicher Biomasse bzw. Agrarprodukten sowie Veränderungen seit 1830 (vgl. Tab. 6.6) Theyern % des Veränderung Voitsau % des [GJ/Kopf] Umsatz [GJ/Kopf] Umsatzes 1830-1995 [Faktor]
Veränderung 1830-1995 [Faktor]
Biomasseumsatz (DE+Im)*
46
2,9
Import
5
11%
DE (Ernte)
41
Endprodukte** Export***
0,8
221
100%
8
4%
89%
0,7
213
96%
2,8
19
41%
3,0
38
17%
6,7
19
41%
7,4
38
17%
17,3
100%
•"'Biomasseumsatz ergibt sich aus Import plus DE. '"'""Gemeint sind alle pflanzlichen und tierischen Endprodukte des landwirtschaftlichen Produktionssystems. Im System verfüttertes Getreide wird beispielsweise nicht als Endprodukte verstanden. ***Export bezeichnet alle Endprodukte, die verkauft werden. Quelle: Krausmann 2004; eigene Berechnungen
240
Landnutzung und Energie in Österreich
Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft kam es also zu einer Vernetzung von spezialisierten landwirtschaftlichen Produktionssystemen und den damit zusammenhängenden Material- und Energieflüssen auf überregionaler und zunehmend auch auf globaler Ebene. Schweine in Osterreich werden mit Sojabohnen aus Brasilien gemästet, und Getreide und Fleisch aus der österreichischen Landwirtschaft ernähren Menschen in Rußland oder Afrika. Biomasse und Pflanzennährstoffe werden dadurch in großen Mengen und über große Entfernungen verschoben. Der Transport von Massenrohstoffen ermöglichte eine globale Entkoppelung von Rohstoffbereitstellung, Rohstoffverarbeitung und Endverbrauch, was sich auch am Beispiel des Biomasse-Metabolismus in Osterreich zeigen läßt (Tab. 6.18): Am Beginn des 20. Jahrhunderts war Holz eines der wichtigsten Exportprodukte der österreichischen Wirtschaft, während die eklatante Unterversorgung mit Agrarprodukten durch umfangreiche Nahrungsimporte ausgeglichen werden mußte. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft und der Vervielfachung der Agrarproduktion entwickelte sich Osterreich in den 1970er Jahren zu einem Exporteur von Brotgetreide und Fleisch. Parallel dazu entkoppelte sich die wachsende österreichische holzverarbeitende Industrie durch Importe von Rohholz zunehmend von den lokal verfügbaren Ressourcen. 189 Während die Entnahme von Biomasse in den letzten Jahrzehnten stagnierte, stiegen die Importe und Exporte sowohl von landwirtschaftlicher Biomasse als auch von Holz und Holzprodukten mit exponentiellen Raten an. Die physische Handelsbilanz von Biomasse ist dabei ausgeglichen, Importe und Exporte von Biomasse halten sich mengenmäßig die Waage. Das bedeutet natürlich auch, daß die österreichische Ökonomie zusehends die Flächennutzung auf globaler Ebene indirekt beeinflußt. Die Importe von Biomasse entsprechen mittlerweile einer Produktionsfläche von 80.000 km 2 . Mit dem internationalen Handel stieg auch die Transportintensität von land- und forstwirtschaftlichen Produkten. Die Transportintensität der Importe von Biomasse stieg zwischen 1950 und 1995 von 6 auf 17 Mrd. tkm jährlich.
189 In den 1990er Jahren erreichten die Importe von Nutzholz etwa die Hälfte der in Österreich eingeschlagenen Holzmenge (Gerhold 1992).
241
Zusammenfassung
Tab. 6.18: Entwicklung des österreichischen Außenhandels mit Biomasse: Tab. 6.18a: Importe, Exporte und Handelsbilanz für Agrarprodukte sowie Holz und Holzprodukte 1920-2000 [1000 t]
1920
1930
1950
1960
1970
1980
1990
2000
Agrarprodukte
1361
2224
1309
1764
1659
2368
3101
5166
Holz(produkte)
186
146
81
406
1902
4407
6519
13280
Agrarprodukte
-162
-317
-505
-259
-592
-1060
-2515
-4987
Holz(produkte)
-473
-2010
-1593
-2797
-3181
-5380
-7552 -11379
Agrarprodukte
1200
1906
805
1506
1067
1308
585
178
Holz(produkte)
-287
-1864
-1512
-2391
-1279
-972
-1034
1901
Importe
Exporte
Handelsbilanz
Tab. 6.18b: Tatsächlicher globaler Flächenbedarf der österreichischen Importe von Biomasse [1000 ha]
1920
1930
1950
1960
1970
1980
1990
2000
Gesamt
k.D.
3010
1110
1660
3420
4120
5890
7630
Europa
k.D.
2570
280
840
1400
2230
2680
6140
Rest der Welt
k.D.
440
830
820
2020
1890
3210
1490
Quelle: Erb 2002; Erb 2004
6.5. Zusammenfassung: Die Transformation des Energiesystems 1830-1995 Das Beispiel Osterreich zeigt, wie das Solarenergiesystem im Zeitraum 1850 bis 1970, also innerhalb von ungefähr 120 Jahren von den natürlichen Limitationen, die sich aus der Abhängigkeit von flächengebundenen und dezentral verfügbaren Ressourcen und der Produktivität der Land- und Forstwirtschaft ergeben, befreit wurde und ein ausgereiftes Fossilenergiesystem entstand. Für Osterreich lassen sich zwischen 1800 und 2000 im Zusammenhang mit dem Transformationsprozeß des Energiesystems vier Entwicklungsphasen mit charakteristischen Eigenschaften hinsichtlich des Niveaus der strukturellen Zusammensetzung des Energieumsatzes unterscheiden: Phase /, das solarenergiebasierte Energiesystem, dauerte in Osterreich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Biomasse hatte einen Anteil von über 95 % am gesamten Primärenergieumsatz von 270 PJ/a. Pro Kopf wurden durchschnittlich ca. 70 GJ Primärenergie bzw. 45 GJ Endenergie konsumiert. Der Endenergie-
242
Landnutzung und Energie in Österreich
konsum setzte sich aus Nahrung für Menschen, Futter für Zugtiere und Brennholz und Holzkohle zur Nahrungszubereitung sowie zur Erzeugung von Raumwärme und gewerblich-industrieller Prozeßenergie zusammen. Kennzeichnend für dieses Energiesystem war seine Abhängigkeit von der Fläche, und damit vom „Energiegewinn" der Landbewirtschaftung, die das zentrale funktionale Element des Energiesystems darstellte. In Phase II nahm ab etwa 1860 die Verwendung von Kohle zu, und der Anteil der Biomasse am gesamten Energieumsatz sank in wenigen Jahrzehnten auf unter 50 % . Durch die Verwendung von Kohle stieg der Energiekonsum bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts um über 120 % auf etwa 600 PJ an. Mit dem Energiekonsum wuchs allerdings auch die Bevölkerung, und pro Kopf kam es nur zu einer deutlich geringeren Zunahme (auf etwa 90 GJ/Kopf). Die Eisenbahn als eine der Schlüsseltechnologien in Phase II gewährleistete eine Vernetzung zwischen der räumlich konzentrierten Energiequelle Kohle und wachsenden Urbanen und industriell/gewerblichen Zentren des Verbrauches. In vielen Bereichen, vor allem in der Landwirtschaft und in ländlichen Haushalten, kam es aber nicht zu einer Substitution von Biomasse durch Kohle. Damit blieben die Landbewirtschaftung und Brennholz sowie menschliche und tierische Arbeit wichtige Elemente des Energiesystems. In Phase II haben wir es mit einem partiellen Transformationsprozeß zu tun, der einerseits ein Wachstum des sozioökonomischen Systems über die Grenzen des Solarenergiesystems ermöglichte, aber andererseits weite gesellschaftliche Bereiche kaum berührte. Die Landwirtschaft erfuhr in Phase II einen Optimierungsprozeß, der zwischen 1830 und 1910 zu einer Verdoppelung sowohl der produzierten Nahrungsmenge als auch des Energiegewinns je Einheit aufgewendeter Energie führte, aber dennoch innerhalb der Rahmenbedingungen der Solarenergiesystems blieb. Von der Verwendung fossiler Energieträger profitierte die Landwirtschaft, abgesehen von der kostengünstigeren und damit höheren Verfügbarkeit von Metallen nur wenig. Wann das Ende von Phase II anzusetzen ist, bzw. ob es zu einer Stabilisierung eines ausgereiften kohlebasierten Energiesystems gekommen wäre, ist für Osterreich aufgrund der turbulenten Situation zwischen 1914 und 1950 nicht eindeutig zu sagen. Phase III ist durch die Substitution von Kohle durch Erdöl und Erdgas bzw. den Bedeutungsgewinn von elektrischem Strom sowie von Verbrennungsmotoren in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und der damit verbundenen vollständigen Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche gekennzeichnet. Zwischen 1950 und 1975 kam es zu einer radikalen und alle Bereiche des sozioökonomischen Systems umfassenden Transformation des Energiesystems mit einer Verdoppelung des gesamten Energieumsatzes. Im Unterschied zu Phase II war dieser Transformationsprozeß ein Phänomen, das alle Haushalte und industriell-gewerblichen Prozesse gleichermaßen erfaßte und zu einer signifikanten Erhöhung auch des individuellen Energiekonsums führte. In Phase III kam es zu einer Verdoppelung des durchschnittlichen Energiekonsums pro Kopf von 90
Zusammenfassung
243
auf über 180 GJ/Jahr. Wesentliches Element dieses Transformationsprozesses war die Industrialisierung der Landwirtschaft auf Basis fossiler Energieträger, was einerseits eine Vervielfachung der Flächen- und Arbeitsproduktivität ermöglichte, aber andererseits die Rolle der Landwirtschaft im Energiesystem und ihre Funktionsweise strukturell veränderte. Aufgrund von Technologien, die auf fossiler Energie basieren, kann die österreichische Landwirtschaft heute fast viermal mehr Menschen ernähren als 1830. Parallel dazu ist allerdings der Energieertrag gesunken. Innerhalb des Fossilenergiesystems wandelte sich die Landbewirtschaftung zu einer Senke gesellschaftlich nutzbarere Energie. Biomasse verlor damit weitgehend ihre Bedeutung im Energiesystem, was aber nicht zu einer Verringerung des Verbrauches von Biomasse führte. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft wurde die Lösung vom flächengebundenen Solarenergiesystem abgeschlossen. Die Veränderungen in Phase III ermöglichten so eine weitgehende Entkoppelung der physischen Ö k o n o m i e bzw. der H ö h e und Struktur des Material- und Energieverbrauchs von der regionalen und nationalen Ressourcenverfügbarkeit und führten zu einer weitreichenden Integration von Material- und Energieflüssen auf globaler Ebene. Mit dem Anstieg des Olpreises durch die Ölkrisen in den 1970er Jahren kam es in Phase IV zu einer Verlangsamung des Wachstums des Energieumsatzes bzw. zu einer Stabilisierung des Systems. O b diese Stabilisierung auf einer dauerhaften Entkoppelung von ökonomischem Wachstum und Energiekonsum beruht oder nur ein vorrübergehendes Phänomen ist, bleibt eine offene Frage. Fest steht jedenfalls, daß das hohe derzeitige Verbrauchsniveau fossiler Energieträger auch ohne eine weitere Zunahme langfristig nicht stabil sein kann. Kohle, Ö l und Erdgas sind endliche Ressourcen, deren Erschöpfung mittelfristig absehbar ist. 190 Uber den gesamten Untersuchungszeitraum betrachtet, war die Transformation des Energiesystems in Österreich mit deutlichem sozioökonomischem und physischem Wachstum verbunden (Abb. 6.11). Zwischen 1830 und 2000 stieg der Energieumsatz insgesamt um 510 % und damit schneller als die Bevölkerung, die sich in diesem Zeitraum etwas mehr als verdoppelte. Dementsprechend stieg der Energiekonsum pro Kopf u m 270 % von ca. 70 auf fast 200 GJ. Der Anteil von Biomasse am Energieumsatz verringerte sich im selben Zeitraum von fast 100 % um 1850 auf weniger als 30 % im Jahr 2000. Allerdings lag der Verbrauch von Biomasse pro Kopf mit 60 GJ/Jahr nur um 15 % unter dem Wert von 1830 und insgesamt wurde fast doppelt soviel Biomasse verbraucht wie 1830.
190 Charpentier 2002; Duncan 2001.
Landnutzung und Energie in Österreich
244
Abb. 6.10: Die Transformation des Energiesystems in Österreich (6.10a und 6.10b) und in Wien (6.10 c und 6.10d) Abb. 6.10a: Der Anteil von Biomasse, Kohle und sonstigen Energieträgern (Öl, Erdgas und Wasserkraft) am Gesamtenergieumsatz in Österreich, 1830-1998 1,2
—*— Biomasse Kohle
55 .E 0,9
— E r d ö l , Erdgas, Strom
30> ö> ^ 0,6 o c III E CS ΐ 0,3 c «t, 0
Abb. 6.10b: Der Energieumsatz in Österreich (insgesamt und pro Kopf), 1830-1998
Quelle: eigenen Berechnungen auf Basis von Krausmann et al. 2003b und Krausmann 2005b
Zusammenfassung
245
Abb. 6.10c: Der Anteils von Biomasse, Kohle und sonstigen Energieträgern (Öl, Erdgas und Wasserkraft) am Gesamtenergieumsatz von Wien, 1800-2000
Biomasse —·— Kohle —
Erdöl, Gas und Strom
Abb. 6.1 Od: Der Energieumsatzes in Wien (insgesamt und pro Kopf), 1800-2000
Quelle: eigenen Berechnungen auf Basis von Krausmann et al. 2003b und Krausmann 2005b
246
Landnutzung und Energie in Österreich
Abb. 6.11: Energieumsatz, Bevölkerung, BIP und Energieintensität in Österreich 1830 bis 2000, indexierte Darstellung (1830 = 1)
Quelle: Krausmann et al. 2003b
Noch stärker als der Primärenergieumsatz ist das Aufkommen von Endenergie und die daraus erzeugte Nutzenergie zwischen 1830 und 1995 gestiegen (Tab. 6.2 und 6.19). Das bedeutet, daß mit dem Energiekonsum auch die Effizienz der Umwandlung und Nutzung von Energie gesteigert wurde. Im Jahr 1830 waren zur Erzeugung einer Einheit Nutzenergie 5 Einheiten Endenergie bzw. 12 Einheiten Primärenergie erforderlich, im Jahr 2000 nur mehr zwei Einheiten End- und drei Einheiten Primärenergie. Die Umwandlungseffizienz von Primärin Nutzenergie ist also um den Faktor 4 gestiegen, und die insgesamt erzeugte Nutzenergie nahm um den Faktor 16 zu. Während die durch menschliche und tierische Arbeit erzeugte Nutzenergie deutlich gesunken ist, zeigt vor allem die von Motoren erzeugte Nutzenergie eine überproportional hohe Zunahme seit 1830 und verdeutlicht die Rolle der Maschinisierung und Motorisierung für die Transformation des Energiesystems. Die von feststehenden Motoren bereitgestellte Nutzenergie hat um den Faktor 30 und die von Bewegungsmotoren um den Faktor 170 zugenommen. Auch in Bezug auf die monetäre Ökonomie hat die Effizienz des Energieumsatzes zugenommen. Das Volkseinkommen ist zwischen 1830 und 1995 um den Faktor 30 und damit wesentlich stärker als der Energieverbrauch gestiegen. Die Energieintensität der Gesamtwirtschaft ist dementsprechend gesunken:
Zusammenfassung
247
Tab. 6.19: End- und Nutzenergieumsatz in Österreich 1995 (vgl. Tab. 6.3) Österreich Pro Kopf [GJ/Kopf] gesamt [PJ] Primärenergieverbrauch
1995
1995
1571
195
37
4,6
Anteil
Endenergieverbrauch Menschliche Ernährung Futter für Zugtiere
4%
0
0,0
0%
Endenergie für Bewegungsmotoren
245
30,5
25%
Endenergie für Zug und Transport
245
30,5
25%
90
11,1
9%
Industrielle Prozeßwärme
211
26,2
21%
Raum und Wassererhitzung
375
46,5
38%
Licht und Datenverarbeitung
27
3,4
3%
985
122,2
100%
Endenergie für feststehende Maschinen
Summe Erzeugte Nutzenergie
0,3
0,0
0%
Tierische Arbeit (vor allem Zugkraft)
0
0,0
0%
Nutzenergie von Bewegungsmotoren
35
4,3
7%
Nutzenergie aus Zug und Transport
35
4,3
7%
Menschliche Arbeit
69
8,6
14%
Genutzte industrielle Prozeßwärme
147
18,2
29%
Genutzte Energie für Raum- und Wassererhitzung
252
31,3
50%
1
0,1
0%
503
62,6
100%
Arbeit feststehender Maschinen
Licht Summe k. D.: Keine Daten Quelle: Krausmann und Haberl 2002
Wurden um 1830 pro 1000$ BIP etwa 53 G J Primärenergie umgesetzt, waren es 1995 nur mehr 10 G J (Abb. 6.11). Die beträchtlichen Effizienzgewinne in der Umwandlung und Verwendung von Energie, die in den letzten 200Jahren erzielt wurden, führten dennoch im gesamten Untersuchungszeitraum nie zu einem längerfristigen Rückgang des Energieumsatzes. Diese Tatsache läßt berechtigte Zweifel an der Annahme aufkommen, daß eine spürbare Reduktion des gesellschaftlichen Energieumsatzes durch die Realisierung von Effizienzsteigerungen erreicht werden könnte.
7. Die energetische Transformation im Vereinigten Königreich und in Österreich 7.1. Einleitung In diesem Kapitel vergleichen wir die sozialmetabolische Transformation zweier Volkswirtschaften, nämlich der des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland mit der Österreichs über einen langen Zeitraum hinweg. 191 Ausgangspunkt unserer vergleichenden empirischen Untersuchung ist das frühe 19. Jahrhundert (um 1830), und sie wird bis zur Gegenwart fortgesetzt. Die Wahl dieser Untersuchungsgegenstände hat exemplarische Bedeutung, denn die beiden Länder bilden gewissermaßen Extrempunkte des Spektrums, innerhalb dessen sich die Transformation in ganz Europa vollzog. Das Vereinigte Königreich war der Vorreiter der industriellen Entwicklung, also die erste Volkswirtschaft, der es gelungen ist, längerfristig sowohl die Bevölkerung als auch die landwirtschaftliche und industrielle Produktion wachsen zu lassen und damit die engen Grenzen des agrarischen sozialmetabolischen Regimes zu überwinden. Diese Transformation wurde von einer Umgestaltung der Landwirtschaft vorbereitet, einer grundlegenden Veränderung der Nutzungsstrukturen agrarischer Flächen und der Durchsetzung neuer Betriebsformen in der Landwirtschaft, dem Ubergang von der überkommenen Dreifelderwirtschaft zur Fruchtwechselwirtschaft mit alternativen Zwischenfrüchten, einer Veränderung der Rolle des Nutzviehs und einer deutlich höheren Flächen- und Arbeitsproduktivität. Diese Entwicklung, die die Systemgrenzen des solarenergetischen
191
Im Laufe des Untersuchungszeitraumes kommt es in beiden Volkswirtschaften zu einer Reihe mehr oder weniger bedeutender Veränderungen im Gebietsstand. Die Daten für das Vereinigte Königreich beziehen sich für den Zeitraum 1830 bis 1921 auf das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland, ab 1922 Großbritannien und Nordirland (Details zum Gebietsstand siehe Kapitel 5). W i r halten uns also jeweils an die politischen Grenzen, was einige Indikatoren an der Grenze 1921/22 stark beeinflußt, andere jedoch kaum. So ändern sich zum Beispiel die Weideflächen drastisch, die Bevölkerung und die Ackerflächen aber nur geringfügig. Die Orientierung an der politischen Grenze ist insofern sinnvoll, als das politische System bestimmte ökonomische Funktionen steuert. Das Datenmaterial f ü r Osterreich bezieht sich im allgemeinen auf Österreich in seinen heutigen Grenzen. In manchen, jeweils gesondert gekennzeichneten Fällen, werden auch Daten und Entwicklungen für Cisleithanien (d. h. die österreichische Reichshälfte) bzw. Österreich-Ungarn insgesamt diskutiert (siehe dazu auch Kapitel 6). Ein durchgehender Vergleich der Entwicklung im Vereinigten Königreichs mit der in Österreich-Ungarn (vergleichbare Bevölkerungsgröße) oder Cisleithanien (vergleichbare Landesfläche) kann derzeit aufgrund der Datenlage leider nicht geboten werden.
249
Einleitung
Regimes ausreizte, aber nicht überschritt, war Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen, woraufhin die britische Agrarproduktion auf einem hohen Niveau stagnierte, bis sie schließlich Mitte des 20. Jahrhunderts von der fossilenergetischen Transformation ergriffen wurde. Österreich-Ungarn war in dieser Entwicklung ein Nachzügler. Die Systembedingungen des kontrollierten Solarenergiesytems wurden hier viel später verlassen, und zudem war die industrielle Entwicklung bereits durch das Vorhandensein anderer industrieller Zentren in Europa geprägt. Während das Vereinigte Königreich im frühen 19. Jahrhundert schon auf eine längere Geschichte der Industrialisierung zurückblicken konnte - um 1750 setzt die Literatur gemeinhin den Beginn dieses Ubergangs an - war Österreich-Ungarn zu dieser Zeit noch deutlich agrarisch geprägt, und seine Industrialisierung blieb weit ins 19. Jahrhundert hinter jener des Vereinigten Königreiches und anderer europäischer Staaten zurück. Das gilt auch für das Gebiet des heutigen Österreich, obwohl diese Region, insbesondere Niederösterreich und die Steiermark, im frühen 19. Jahrhundert zu den industriellen Zentren der Monarchie gehörten (siehe auch Kapitel 6). Die Roheisenproduktion in Österreich lag um 1820 mit 14 kg/Kopf zwar weit über dem Durchschnitt in Cisleithanien (3 kg/Kopf), blieb aber dennoch deutlich hinter jener im Vereinigten Königreich (22 kg/ Kopf) zurück und fiel im Laufe des 19. Jahrhunderts schnell weiter ab (Tab. 7.1). In Bezug auf die Förderung von Kohle (Tab. 7.2) zeigt sich der Unterschied noch deutlicher: Auch hier zählt das heutige Österreich mit 10 kg/ Kopf am Beginn des 19. Jahrhunderts innerhalb Cisleithaniens (7 kg/Kopf) noch zu den fortschrittlicheren Regionen. Die Kohleförderung im Vereinigten Königreich liegt mit über 900 kg/Kopf zu dieser Zeit aber um zwei Größenordnungen darüber.
Tab. 7.1: Roheisenproduktion in Österreich, Cisleithanien und im Vereinigten Königreich (kg/Kopf) Österreich
Cisleithanien
VK
1823
14
3
22
1855
31
7
133
1880
39
9
224
Quellen: Hwaletz 2001; Mitchell 1995
250
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Tab. 7.2: Kohleförderung in Österreich, Cisleithanien und im Vereinigten Königreich (kg/Kopf) Cisleithanien
Österreich
VK
1825
10
7
919
1855
72
98
2353
1870
236
646
3590
Quellen: Gross 1971; Hain 1852; Komlos 1986; Mitchell 1995
Tab. 7.3: Pro-Kopf Wertschöpfung in Österreich und im Vereinigten Königreich (in 1990 Gregory Khamis Dollars) Österreich
Vereinigtes Königreich
AUT:VK
1820
1295
1756
74%
1850
1661
2362
70%
1870
1875
3263
57%
Quelle: Maddison 1995
Die Vorreiterrolle des Vereinigten Königreiches spiegelt sich auch in ökonomischen Indikatoren wieder: Nach den Berechnungen von Maddison (1995) lag die Pro-Kopf Wertschöpfung in Osterreich um 1820 um rund ein Viertel unter jener des Vereinigten Königreiches und fiel im Laufe des 19. Jahrhunderts noch weiter zurück (siehe Tab. 7.3). Bis 1870 vergrößerte sich dieser Abstand deutlich, so daß Osterreich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gerade 60 % der ProKopf Wertschöpfung des Vereinigte Königreiches erreichte. Der jährliche Produktivitätszuwachs lag im Vereinigten Königreich in der Periode 1820-1870 bei 1,2 % , in Osterreich bei 0,7 % . 1 9 2 Und auch im internationalen Handel, der bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert von britischen Schiffen dominiert wurde, zeigte sich die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung: U m 1860 hatte Großbritannien einen Anteil am Europahandel von 33,4 % , während ÖsterreichUngarn im Vergleich zu seiner Größe mit einem Anteil von nur 5,4 % stark unterrepräsentiert war (Gross 1973). 1 9 3 Unser Vergleich ignoriert weitgehend ökonomische oder institutionelle Charakteristika der industriellen Transformation und konzentriert sich auf den sozi-
192 Zum Vergleich: In den USA lagen die jährlichen Produktivitätszuwächse in diesem Zeitraum bei 1,3 % und in Deutschland bei 1,1 % (Maddison 1995). 193 Uber den Anteil des heutigen Österreich am internationalen Handel können keine Angaben gemacht werden.
Vorreiter und Nachzügler
251
almetabolischen Kern der beiden Volkswirtschaften, das heißt auf Veränderungen im Zusammenspiel zwischen Bevölkerung, Flächennutzung und landwirtschaftlicher Produktion sowie auf Veränderungen im Energiesystem (siehe dazu Kapitel 4). Die Grundthese lautet, daß beide Volkswirtschaften (wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten) die Beschränkungen des agrarischen Kontextes sprengten und einen neuen materiellen Wachstumspfad einschlugen. Dies gelang durch die Verfügbarmachung einer neuen energetischen Ressource, der Kohle, begleitet von Innovationen im agrarischen Sektor (neue Formen des Fruchtwechsels, neue Feldfrüchte und neue Techniken) die allerdings - abgesehen vom Eindringen von Kokseisen in die Landwirtschaft - alle im Rahmen des agrarischen Regimes blieben (Wrigley 1988). Eine vergleichende Betrachtung unseres empirischen Materials belegt, daß sich das Vereinigte Königreich bereits im frühen 19. Jahrhundert auf diesem Ubergangspfad befunden hat, während Osterreich trotz sichtbarer Industrialisierungstendenzen noch klar im solar-energetischen Regime verhaftet blieb. Wir beobachten zunächst die Zeitphase von 1830 bis 1910, in welcher das Vereinigte Königreich ein neues Niveau der Energieverfügung erreichte. Dabei gehen wir für beide Volkswirtschaften davon aus, daß sich das neue energetische Regime parallel zum traditionellen Energieregime des kontrollierten Solarenergiesystems entwickelt hat, und daß insbesondere die Landwirtschaft in dieser Phase vom Transformationsprozeß marginal erfaßt, aber noch nicht transformiert wurde. Erst ab 1930 bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine vollständige Transformation des energetischen Regimes ein, wobei nun auch die Landwirtschaft selbst industrialisiert wurde. Dies führte schließlich zu einer Synchronisation in der Entwicklung des Energiesystems und zu einer Angleichung des Energieverbrauchsniveaus im Vereinigten Königreich und in Osterreich. Am Schluß fragen wir, ob seit den 1970er Jahren von einem Ende der Wachstumsund Ubergangsphase ausgegangen werden kann, welche Mitte des Jahrhunderts begonnen hat.
7.2. Vorreiter und Nachzügler Wenn wir Österreich und das Vereinigte Königreich vergleichen, so fällt zuerst die unterschiedliche Größe auf. Das Vereinigte Königreich ist fast viermal so groß wie Österreich in den heutigen Grenzen und verfügte 1830 über nahezu siebenmal so viele Einwohner. Die Bevölkerungsdichte im Vereinigten Königreich lag 1830 bei 76 Personen pro km 2 , wobei die Bevölkerung vor allem in England konzentriert und Schottland im Vergleich dazu nur dünn besiedelt war. Österreich war mit 42 Personen pro km 2 nur etwas mehr als halb so dicht besiedelt (siehe Tab. 7.4).
252
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Tab. 7.4: Bevölkerung, Fläche und Bevölkerungsdichte in Österreich (7.4a) und dem Vereinigten Königreich (7.4b) um 1830 Tab. 7.4a: Fläche [km 2 ]
Bevölkerung [Millionen]
Bevölkerungsdichte [Personen/km 2 ]
Österreich-Ungarn
622.000
29,6
47,6
Cisleithanien
300.000
15,6
52,3
322.000
13,9
Transleithanien Österreich (heutige Grenzen)
83.858
3,592
43,3 41,8
Quellen: Hain 1852; Helczmanovszki 1979
Tab. 7.4b: Fläche [km 2 ]
Bevölkerung [Millionen]
Bevölkerungsdichte [Personen/km 2 ]
Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Irland
313.183
23,814
76,0
England und Wales
151.201
13,805
91,3
Schottland
78.133
2,344
30,0
Irland
83.849
7,655
91,4
Quellen: Mitchell 1988; Mitchell 1995
D i e beiden Volkswirtschaften unterscheiden sich stark in ihrer naturräumlichen Ausstattung. Osterreich war und ist ein sehr waldreiches Land 1 9 4 und geographisch von den Alpen geprägt, die etwa zwei Drittel der Landesfläche einnehmen. Die Landnutzung wird in den dünn besiedelten alpinen Regionen (heute ca. 2 0 - 3 0 Personen/km 2 ) von grünlandgebundener Viehwirtschaft und in den klimatisch und geländemorphologisch begünstigten Beckenlagen, 1 9 5 in denen auch die größten Urbanen Zentren liegen, von Ackerbau, vor allem dem Anbau v o n Getreide, bestimmt.
194 Die pro Kopf verfügbare Waldfläche war in Österreich um 1830 etwa 20 mal so groß wie im Vereinigten Königreich. 195 Diese Beckenlagen befinden sich überwiegend in den heutigen Bundesländern Oberösterreich, Niederösterreich, Burgenland und in der südl. Steiermark und Kärnten.
Vorreiter und Nachzügler
253
Die Insel Großbritannien gliedert sich in eine Hochland- und eine Tieflandzone. Das Hochland ist geprägt von nährstoffarmen, steinigen Böden und Moorflächen, die vorwiegend extensiv und pastoral genutzt werden. Sie umfassen etwa ein Drittel der Fläche Großbritanniens, davon große Teile Schottlands, aber auch Teile von Wales. Hinsichtlich der Landnutzung in England verläuft ein Gradient von intensiver Weidewirtschaft im Westen zu intensivem Ackerbau im Osten des Landes. In England finden sich auch die für die Industrialisierung zentralen Rohstoffe, insbesondere Kohle und Eisen, in hoher Dichte und guter Zugänglichkeit. Die klimatischen Voraussetzungen sind im Vereinigten Königreich aufgrund des stärker ozeanisch geprägten Klimas und der damit verbundenen längeren Vegetationsperiode (bis zu 300 Tage im Jahr) sowie hoher Niederschläge günstiger als im stärker kontinental geprägten Klima Österreichs mit langen und kalten Wintern und im Durchschnitt geringeren Niederschlägen. Bevölkerung Um 1750 entsprach die Bevölkerung des Vereinigten Königreich mit 10 bis 11 Mio. etwa der Bevölkerung Cisleithaniens und dem Vierfachen der Bevölkerung Österreichs (Tab. 7.4). Die Bevölkerungsdichte war um diese Zeit sowohl in Cisleithanien als auch im heutigen Österreich, dem Vereinigten Königreich und Großbritannien praktisch gleich hoch und lag zwischen 32 und 34 Personen/km2. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung im Vereinigten Königreich mit 1,06 % p. a. deutlich schneller als in Österreich (0,36 % p. a.), was bis 1830 die Bevölkerungsdichte im VK (76 Personen/km2) gegenüber jener Österreichs (47 Personen/km2) und Cisleithaniens (52 Personen/km2) deutlich erhöhte (Tab. 7.4). Im Vereinigten Königreich beobachten wir parallel zu dieser Zunahme der Gesamtbevölkerung schon sehr früh eine signifikante Abnahme der relativen Bedeutung der landwirtschaftlichen Bevölkerung sowie auch der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte. Um 1700 hatte die agrarische Bevölkerung einen Anteil von 70 %, bereits 1759 nur mehr rund 52 % und im Jahre 1801, dem Zeitpunkt der ersten Volkszählung, gerade noch 42 % der Gesamtbevölkerung. Bis zum Jahr 1831, dem Ausgangspunkt unseres Vergleichs, machte der Anteil der landwirtschaftlichen Familien an der Gesamtbevölkerung lediglich 28 % aus. Dies bedeutet einen historisch einmaligen, sehr frühen Rückgang jener Bevölkerungsteile, die direkt in die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln involviert waren. Dies ist vor allem auf den institutionellen Wandel im Agrarsektor des Vereinigten Königreichs zurückzuführen, wo die Aufgabe des kollektiven ,Open Field Systems' mit der Herausbildung eines lohnabhängigen agrarischen Proletariats Hand in Hand ging. Im Vergleich dazu betrug der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung in Cisleithanien um 1800 noch über 75 % und auch um 1850 noch immer etwa 67 %. In Transleithanien war dieses Bild noch stärker ausgeprägt, was Österreich-Ungarn insgesamt bis weit ins 19. Jahrhundert den Charakter eines ausgeprägten Agrarstaates eintrug (Hoffmann 1978; Matis 1987).
254
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Das Zurückbleiben hinter dem Vereinigten Königreich zeigt sich auch am wesentlich geringeren Grad der Urbanisierung in Osterreich: Bereits um 1800 lebte mehr als ein Viertel der Bevölkerung von England und Wales in Städten, 196 und bis 1831 erreichte die städtische Bevölkerung bereits einen Anteil von 44 % der Gesamtbevölkerung (Grigg 1980). Demgegenüber lebten in Osterreich in seinen heutigen Grenzen im Jahr 1847 gerade 19 % der Bevölkerung in Städten. Erst um 1910 erreichte der Anteil städtischer Bevölkerung in Österreich mit 43 % jenes Niveau, das England um 1830 innehatte. Transport Eine wichtige Rolle für die Ausbildung urban-industrieller Zentren spielten die Möglichkeiten zum Ferntransport von Massenrohstoffen wie Getreide, Holz und Kohle. Leistungsfähige Transportnetzwerke waren eine Grundvoraussetzung für räumliche Ausdifferenzierung und Urbanisierung und zur Vernetzung von Orten der Rohstoffentnahme, Verarbeitung und des Endverbrauchs. Das Vereinigte Königreich zeichnete sich - begünstigt durch seine geographische Lage und eine vorteilhafte Geländemorphologie - schon im 17. Jahrhundert durch ein entwickeltes und leistungsfähiges Transportsystem für den Gütertransport im Landesinneren aus: Das Netz an schiffbaren Wasserstraßen und Kanalbauten betrug um 1800 bereits etwa 4.000 km (16 m/km 2 ), das Netz an Überlandstraßen (Turnpike Roads) über 30.000 km (125 m/km 2 ). Dazu kamen die von der Insellage begünstigte Küstenschiffahrt auf dem „river around Britain" sowie die Chancen zur Hochseeschiffahrt. Österreich war in dieser Hinsicht durch seine geographische Situation benachteiligt: Österreich-Ungarn verfügte mit Triest nur über einen einzigen leistungsfähigen Hafen, und Österreich in seinen heutigen Grenzen ist ein Binnenland. Die Entwicklung der Transportsysteme im Landesinnern wurde durch die Alpen und den Mangel an günstig gelegenen Wasserwegen behindert. 197 Daher war in Österreich das Transportsystem um 1830 deutlich weniger leistungsfähig als im Vereinigten Königreich: In Österreich kamen auf einen km 2 knapp 50 m Transportwege (Flüsse, Kanäle, Überlandstraßen); im Vereinigten Königreich war die Dichte mit 141 m/km 2 fast dreimal so hoch. 198 In den 1830er Jahren begann in beiden Ökonomien der Ausbau des Eisenbahnnetzes, dessen Flächen-
196 Die Schätzungen des Anteils der städtischen Bevölkerung in England und Wales f ü r das Jahr 1801 liegen zwischen 27,5 % (davon allein 11 % in London) (Wrigley 1987) und 34 % (Grigg 1980). 197 Schiffbare Wasserstraßen und vor allem künstlich angelegte Kanalsysteme waren die einzigen Transportwege, die einen vergleichsweise kostengünstigen Transport von Massenrohstoffen zwischen urban/industriellen Zentren im Landesinneren erlaubten (Moyes 1978). 198 Quellen: Bagwell 1974; Moyes 1978.
255
Vorreiter und Nachzügler
dichte innerhalb weniger Jahrzehnte jene von schiffbaren Wasserstraßen und Kanälen um ein Vielfaches übertraf. Auch hier zeigt sich aber deutlich das Nachhinken Österreichs gegenüber dem Vereinigten Königreich: Um 1850 waren in Osterreich 7,4 m Schienen pro km 2 verlegt, im Vereinigten Königreich dagegen bereits 33,7 m/km 2 (siehe Abb. 7.1). Bis 1910 erreichte die Durchdringung des Landes mit Schienen eine Flächendichte von 75 m/km 2 in Osterreich und fast 140 m/km 2 im Vereinigten Königreich.
A b b . 7.1: E n t w i c k l u n g des Schienennetzes in Ö s t e r r e i c h u n d i m V e r e i n i g t e n K ö n i g reich
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Quellen: Mitchell 1995; Krausmann 2001b
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256
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Abb. 7.2: Landnutzung (Anteil an der Gesamtfläche) Abb. 7.2a: Vereinigtes Königreich
o i n o m o i o o m o t o o i o C O ^ C O r ^ C T O C M O i n t O C O O ) C O C O C O O O C O G ) G ) ( 7 ) C T O ) ( 7 > ( J ) • Ackerland 52 Grünland E3 Extensives Grasland (Hutweiden) IS Wald Π Sonstige Flächen
Abb. 7.2b: Österreich
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• Ackerland Κ Grünland Ξ Extensives Grasland (Almen) 81 Wald E Sonstige Flächen
257
Vorreiter und Nachzügler
Landnutzung Die Struktur der Landnutzung und ihre Intensität sind wesentliche Merkmale der spezifischen Ausprägung des sozial-metabolischen Regimes unter den Bedingungen des kontrollierten Solarenergiesystems. Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich das Vereinigte Königreich und Osterreich deutlich voneinander (siehe Tab. 7.5 und Abb. 7.2). Während im Vereinigten Königreich um 1830 etwa 75 % der gesamten Fläche landwirtschaftlich genutzt wurden, betrug deren A n teil in Osterreich nur etwas über 5 0 % . Demgegenüber war die Waldfläche im Vereinigten Königreich auf rund 4 % des gesamten Territoriums reduziert worden, während Österreich, unter anderem bedingt durch den alpinen Charakter, mit einem Waldanteil von 37 % eines der waldreichsten Länder Mitteleuropas geblieben war. Landwirtschaftlich war das Vereinigte Königreich von Grünland im Zusammenhang mit intensiver Viehwirtschaft dominiert (Schafzucht zur Wollproduktion, Rinderzucht), aber auch der Anteil des Ackerlandes war mit 28 % der Gesamtfläche etwas höher als in Osterreich (25 %). Aufgrund der höheren Bevölkerungsdichte standen u m 1830 im Vereinigten Königreich pro Einwohner trotzdem deutlich weniger landwirtschaftlich genutzte Flächen (0,65 ha landw.
Tab. 7.5: Flächennutzung in Österreich und im Vereinigten Königreich 1830 Österreich
Vereinigtes Königreich
Ackerland
24%
28%
Getreide
62%
59%
Kartoffeln und Futterrüben
2%
17%
Klee und Wechselgrünland
12%*
15%
8%
0%
15%
9%
1%
0%
29%
47%
Dauergrünland
66%
45%
Extensive Weideflächen
34%
55%
37%
4%
Andere Kulturen Brache Dauerkulturen Grünland
Wald
Siedlungsflächen, Infrastruktur u n d unpro-• 9% duktive Flächen:i""i'
21%
"'Schließt in Österreich die im alpinen Raum üblichen Egärten (Wechselgrünland) ein. Der Anteil von Klee als Indikator für fortschrittliche Anbausysteme lag weit unter diesem Wert. " D e r im Vergleich mit Österreich sehr hohe Wert für das VK beruht einerseits auf dem größeren Flächenbedarf für Siedlungen und Infrastruktur im dichter besiedelten VK, aber auch auf dem hohen Anteil von als unproduktiv klassifiziertem Hochland und Moorflächen. In Österreich fallen in diese Klasse vor allem hochalpine Flächen. Quelle: Krausmann et al. 2003b
258
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Flächen und 0,36 ha Ackerland) zur Verfügung als in Österreich (1,05 ha landw. Flächen und 0,6 ha Ackerland). 199 Ein zentraler Faktor sowohl für Bevölkerungswachstum als auch für die Möglichkeit eines steigenden Anteils städtischer Bevölkerung ist die Frage der Intensität und der Produktivität der Landnutzung. Das Vereinigte Königreich präsentierte sich in diesem Zusammenhang als Vorreiter im Hinblick auf die Einführung agrarischer Innovationen. Die ursprüngliche Dreifelderwirtschaft mit Brache gehörte bereits am Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend der Vergangenheit an. Um 1830 machten .moderne' Feldfrüchte wie Kartoffeln, Futterrüben und Klee, besonders zur Viehfütterung, rund ein Drittel der Ackerflächen aus, die jährlich brach liegende Fläche betrug nicht mehr als 9 %. In Osterreich weisen die Daten auf eine Mischung moderner Anbausysteme mit der traditionellen Dreifelderwirtschaft hin. Die Dreifelderwirtschaft war noch wesentlich weiter verbreitet als im Vereinigten Königreich: Etwa 14 % der Flächen wurden jedes Jahr brach liegen gelassen, und Futterrüben und Klee nahmen einen deutlich geringeren Anteil ein als im VK. In Osterreich dauerte es bis ungefähr 1910, bis die Brache auf ein vergleichbar niedriges Niveau wie im Vereinigten Königreich um 1830 reduziert wurde und sich die Fruchtwechselwirtschaft flächendeckend durchsetzte. Betrachtet man die Flächenerträge der wichtigsten Getreidesorten im Vereinigten Königreich, so lagen diese um 1830 relativ stabil bei rund 2 t pro ha. Dies bedeutete eine signifikante Steigerung gegenüber 1800, als die Erträge noch bei rund 1,5 t pro ha lagen, was mit der Intensivierung im Agrarsystem zu erklären ist. So wurde der Anteil von Hackfrüchten und Klee auf Kosten der Getreideflächen gesteigert, was eine Zunahme des Viehbestandes und damit größere Mengen an Dünger und größere Verfügbarkeit von Zugkraft ermöglichte. Dies schlug sich wiederum in höheren Erträgen bei Getreide nieder. Zu bedenken ist aber, daß die Umstellung von der Dreifelderwirtschaft auf eine Fruchtwechselwirtschaft mit tendenziell höheren Erträgen im Vereinigten Königreich schon relativ früh begann. Um 1700 hatte die Brache in England und Wales noch einen Anteil von fast 20 % an der gesamten Ackerfläche, 1800 nur mehr knapp 12 % und 1830 weniger als 9 %. Die Durchsetzung des neuen Systems der Norfolk Four Crop Rotation ging ab 1850 weiter rasant vonstatten, so daß der Anteil der Brachflä-
199 Betrachtet man England und Wales allein, so lag der Anteil der Ackerflächen im Jahr 1830 bei 38 % der Gesamtfläche, also deutlich höher als im Vereinigten Königreich (28 % ) und auch in Osterreich (24 %). Dies bedeutet 0,43 ha Ackerfläche pro Kopf in England und Wales. England und Wales waren also deutlich stärker auf ackerbauliche Produktion ausgerichtet als Schottland und Irland, w o ausgedehnte Grünlandflächen die Landschaft prägten und Viehhaltung mit Weidewirtschaft die Landwirtschaft dominierte. Darüber hinaus waren größere Anteile der Gesamtfläche auch gar nicht landwirtschaftlich nutzbar (zum Beispiel das schottische Hochland).
Vorreiter und Nachzügler
259
c h e n bis 1 8 7 0 auf 4 % r e d u z i e r t w u r d e . I m V e r g l e i c h z u Ö s t e r r e i c h lag das E r tragsniveau i m V e r e i n i g t e n K ö n i g r e i c h u m 1 8 3 0 deutlich h ö h e r . In O s t e r r e i c h e r r e i c h t e n die G e t r e i d e e r t r ä g e u m 1 8 3 0 n u r k n a p p die H ä l f t e des N i v e a u s i m V e r e i n i g t e n K ö n i g r e i c h (siehe A b b . 7 . 3 ) . D a s lag einerseits an günstigeren klimatischen B e d i n g u n g e n auf der britischen Insel ( h ö h e r e N i e d e r s c h l ä g e , längere V e getationsperiode, h ö h e r e M i t t e l t e m p e r a t u r ) u n d andererseits a m f o r t s c h r i t t l i c h e ren Agrarsystem im Vereinigten Königreich. D e r z w e i t e w i c h t i g e F a k t o r n e b e n der F l ä c h e n p r o d u k t i v i t ä t w a r die Steiger u n g d e r landwirtschaftlichen A r b e i t s p r o d u k t i v i t ä t : 2 0 0 B e r e i t s u m 1 7 0 0 e r n ä h r t e
Abb. 7.3: Durchschnittlicher Getreideertrag (gewichtetes Mittel über die Hauptgetreidearten inkl. Körnermais)
200 Diese Zahlen für die landwirtschaftliche Arbeitsproduktivität basieren auf einem Vergleich der landwirtschaftlichen Bevölkerung mit der gesamten Bevölkerung. Zieht man den selben Vergleich auf der Ebene der Arbeitskräfte, so erscheint der Produktivitätszuwachs weniger ausgeprägt. 1830 war das Verhältnis agrarischer zu nicht agrarischer Arbeitskraft 1:2,2,1871 lag es bei 1:5,6. Zu bedenken ist aber, daß gerade für die landwirtschaftlich Beschäftigten die Statistik im frühen 19. Jahrhundert nicht besonders aussagekräftig ist, da mithelfende Familienangehörige zumeist nur unvollständig erfaßt wurden. In absoluten Zahlen nennt Mitchell ( 1994) für 1831 1,24 Mio. landwirtschaftliche Arbeitskräfte, für 1871 1,77 Mio. landwirtschaftliche Arbeitskräfte. Das hier gebrachte Argument in bezug auf die Unterschiede in der landwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität im V K und in Osterreich hält aber auch, wenn man berücksichtigt, daß möglicherweise die landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in der englischen Statistik aufgrund der Vernachlässigung mithelfender Arbeitskräfte etwas unterschätzt werden. Die Zahlen für Osterreich sind aus Angaben in Butschek et al. 1998; Hain 1852; Sandgruber 1978a abgeleitet.
260
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
in England eine Person in der Landwirtschaft weitere 1,8 Personen außerhalb des agrarischen Sektors. Hundert Jahre später kamen 2,8 Personen auf eine Person agrarische Bevölkerung. 1830 lag das Verhältnis bei 1:4 und 1871 bei 1:6,4 (Overton und Campbell 1999). Damit hatte sich die Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft zwischen 1700 und 1800 um 50 % gesteigert und in den nächsten 70 Jahren (bis 1870) noch einmal verdoppelt. Bis 1870 konnten also 6,8 Personen in anderen Wirtschaftssektoren von einer Person in der Landwirtschaft mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Das bedeutete einen Wandel dahingehend, daß das generelle Bevölkerungswachstum nicht von einem entsprechenden Anstieg der Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten begleitet wurde, sondern daß eine Entkoppelung zwischen Bevölkerungsdynamik und landwirtschaftlicher Arbeitskraft noch vor der Öffnung des englischen Getreidemarktes und nennenswerten Importmengen landwirtschaftlicher Produkte stattfand. In Osterreich lagen die Verhältnisse deutlich anders. N o c h Ende des 18. Jahrhunderts machte die landwirtschaftliche Bevölkerung über 75 % der Gesamtbevölkerung aus. Man kann davon ausgehen, daß um 1830 auf eine landwirtschaftliche Arbeitskraft nur 0,3 Beschäftigte in allen anderen Wirtschaftssektoren kamen. T r o t z deutlicher Steigerung der Arbeitsproduktivität verschob sich dieses Verhältnis bis in die 1860er Jahren nur auf 0,86 zu 1. Damit waren die österreichischen landwirtschaftlichen Arbeitskräfte Mitte des 19. Jahrhunderts etwa halb so produktiv wie die englischen am Beginn des 18. Jahrhunderts. Der Unterschied in der Arbeitsproduktivität der Landwirtschaft der beiden Länder zeigte sich auch daran, daß im Vereinigten Königreich um 1830 auf einen Beschäftigten in der Landwirtschaft 9,6 ha landwirtschaftlich genutzte Flächen kamen, während in Osterreich ein Beschäftigter nur 2,2 ha bewirtschaftete. Der Biomasseumsatz pro landwirtschaftlicher Arbeitskraft war im Vereinigten Königreich mit über 50 t pro Jahr 5 mal so hoch wie in Osterreich, wo ein Beschäftigter jährlich nur rund 1 1 t Biomasse umsetzte. 2 0 1 Dieser auffallende Unterschied in der landwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität ist vor allem vor dem Hintergrund der institutionellen Strukturen verständlich. Während die Landwirtschaft im heutigen Österreich bis weit ins 19. Jahrhundert stark subsistenzwirtschaftlich geprägt war und große gutsherrschaftliche Betriebe selten waren, war die Marktintegration der englischen Landwirtschaft schon sehr früh entwickelt: In England kam es in viel stärkerem Ausmaß zur Herausbildung von Großgrundbesitz mit landwirtschaftlicher Lohnarbeit, großen Betriebseinheiten und zur Kommassierung landwirtschaftlicher Flächen. Diese Strukturen erwiesen sich als wesentlich innovationsfreudiger, was eine Reihe von landwirtschaftlichen Erneuerungen zu einem früheren Zeitpunkt ermöglichte: modernere Geräte und Maschinen, mehr
201
Diese Zahlen beziehen sich auf die inländische Entnahme von land- und forstwirtschaftlicher Biomasse, d. h. sie inkludieren auch die von Nutztieren geweidete Biomasse.
Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche
261
Zugtiere, Naturdünger aufgrund neuer Zwischenfrüchte und verbesserte Arbeitsabläufe bedingt durch die Größeneffekte (economies of scale). Das bedingte einen effizienteren Einsatz von menschlicher und tierischer Arbeitsenergie und die im Vergleich zu Österreich sehr hohe landwirtschaftliche Arbeitsproduktivität.
7.3. Die schrittweise Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche Trotz des unterschiedlichen Grades der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung lag der Energieumsatz in beiden Ökonomien zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf einem ähnlichen Niveau, nämlich bei etwas über 70 G J / K o p f in Österreich bzw. bei knapp unter 70 G J / K o p f im Vereinigten Königreich (Abb. 7.4). Der unterschiedliche Entwicklungsgrad im Energiesystem wird allerdings deutlich, wenn man den Energieumsatz auf die Fläche bezieht: J e Hektar Landesfläche wurden im Vereinigten Königreich mit über 50 G J fast 70 % mehr Energie umgesetzt als im nur halb so dicht besiedelten Österreich (31 GJ/ha). In England und Wales, wo ja ein Großteil der Energie verwandt wurde, waren es über 70 GJ/ha, also mehr als doppelt so viel wie in Österreich. In Schottland und Irland wurden dagegen nur rund 30 GJ/ha umgesetzt. Wir können davon ausgehen, daß sich die Entwicklung der Energienutzung in Österreich von jener in Schottland und Irland nicht grundlegend unterschieden hat, während England und Wales tatsächlich sehr früh auf den Pfad eines neuen Energieregimes gelangt sind. In dieser Entwicklung funktionierten Schottland und Irland als interne Peripherie für die englische Ökonomie.
262
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
A b b . 7.4: P r i m ä r e n e r g i e u m s a t z A b b . 7.4a: Vereinigtes K ö n i g r e i c h 250
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@ Landw. Biomasse • Holz 0 Kohle Ξ Erdöl Β Erdgas • Kernkraft/Stromimport
ES Landw. Biomasse • Holz 0 Kohle EU Erdöl Β Erdgas Β Wasserkraft/Stromimport Quelle: Krausmann et al. 2003b
Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche Abb. 7.5: Inländische Entnahme v o n Primärenergie Abb. 7.5a: Vereinigtes Königreich 250
Q. 5
150
B3 landw. Biomasse • Biomasse 0 Kohle [01 Erdöl δ Erdgas D Kernenergie
S landw. Biomasse B H o l z ¡2 Kohle ES Erdöl S Erdgas Β Wasserkraft Quelle: Krausmann et al. 2003b
263
264
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
A b b . 7.6: Physische H a n d e l s b i l a n z m i t E n e r g i e t r ä g e r n / E n e r g i e A b b . 7.6a: Vereinigtes K ö n i g r e i c h 80
BLandw. Biomasse BHolz H Kohle • Erdöl 0 Erdgas • Elektr. Strom • Produkte
A b b . 7.6b: Ö s t e r r e i c h 80
S *o
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Slandw. Biomasse BHolz S Kohle vi öl S Erdgas • Elektr. Strom • Produkte Anmerkung zu Abb. 7.6: Physische Handelsbilanz - Export - Importe, negative Werte stehen für Nettoimporte, positive für Nettoexporte. Quelle: Krausmann et al. 2003b
Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche
265
Der Energieumsatz in Österreich und England unterscheidet sich bereits am Beginn des 19. Jahrhunderts auch in seiner Struktur. Osterreich kann um 1830 trotz einer durchaus beträchtlichen Industrialisierung noch als reine Solarenergiegesellschaft bezeichnet werden. Wie Abb. 7.6 zeigt, basierte das Energiesystem in Osterreich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich auf der Nutzung von Biomasse, Kohle begann erst nach 1850 zu einem mengenmäßig relevanten Energieträger zu werden. 202 Im Vereinigten Königreich hingegen lag der Anteil der Kohle um 1830 bei 32 % und erreichte bereits 1852 über 50 % des Primärenergieeinsatzes, eine Marke, die in Osterreich erst im 20. Jahrhundert erreicht wurde. Erstaunlicherweise lag um 1830 der (Brenn-) Holzverbrauch in Osterreich trotz des deutlich geringeren Industrialisierungsgrades bei etwa 30 GJ/Kopf und damit in der gleichen Größenordnung wie der Kohleverbrauch im Vereinigten Königreich. 203 Vergleichsweise ungünstige Klimabedingungen im Alpenraum, gepaart mit guter Verfügbarkeit von Brennholz sowie einem sehr hohen Anteil an bäuerlichen Haushalten mit ineffizienten Feuerstellen, großem Holzbedarf und festgeschriebenen Holzbezugsrechten führten in Österreich vermutlich zu einem deutlich höheren Brennstoffverbrauch in privaten Haushalten als im Vereinigten Königreich. 204 Auch der Umsatz von landwirtschaftlicher Biomasse (ohne Holz) lag in beiden Ländern um 1830 in einem erstaunlich ähnlichen Bereich, nämlich bei knapp 35 GJ/Kopf. Das erscheint durchaus plausibel, wenn man bedenkt, daß der Umsatz landwirtschaftlicher Biomasse vor allem von der Bedeutung der Viehwirtschaft bestimmt wird und pro Kopf um 1830 in Österreich und dem Vereinigten Königreich etwa gleich viel Vieh gehalten wurde: 205 Im europäischen Trocken-
202 Dies gilt auch für Cisleithanien und die österreichisch-ungarische Monarchie insgesamt. In beiden Systemen erreichte der Verbrauch von Kohle erst in den 1840er Jahren einen W e r t von über einem GJ/Kopf. 203 Während die Daten f ü r den Kohleverbrauch recht zuverlässig erschienen, sind die Angaben und Schätzungen zum Holzverbrauch mit beträchtlichen Unsicherheiten behaftet (siehe Krausmann 2001b). Nimmt man an, daß der Holz- und Torfverbrauch für das V K hier unterschätzt bzw. der österreichische Brennholzverbrauch überschätzt wird, dann vergrößert sich zwar der Unterschied im Energieumsatz - dennoch bleibt das pro Kopf Niveau des Energieumsatzes in beiden Systemen erstaunlich ähnlich. 204 Die Anzahl der Heizgradtage (ein Indikator f ü r den klimabedingten Raumwärmebedarf) wird f ü r Osterreich mit etwa 3500 angegeben, während sie für das Vereinigte Königreich bei 2800 liegt (Baumert und Selman 2003). Verstärkend könnte auch eine - zumindest im 20. Jahrhundert feststellbare - höhere Toleranz der Briten für kühlere Raumtemperaturen gewirkt haben (Smil 1991). 205 U m 1830 wurden in Osterreich je ha 0,3 G V E und pro Kopf 0,7 GVE, vorwiegend Rinder, gehalten. Im V K lagen die entsprechenden Werte bei 0,5 G V E pro ha und 0,6 G V E pro Kopf.
266
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
feldbau mit Viehwirtschaft wurden im Viehsegment 80-90 % der landwirtschaftlichen Biomasse umgesetzt (Krausmann 2004). Je höher der Viehbestand pro Kopf, um so höher war auch der Umsatz an landwirtschaftlicher Biomasse pro Kopf. Ein Wert von 35 GJ/Kopf kann für den Umsatz an landwirtschaftlicher Biomasse vermutlich als charakteristisch für vorindustrielle europäische Agrarsysteme, die sich durch eine Kombination von Ackerbau und Viehhaltung auszeichnen, betrachtet werden. Einen wichtigen Einfluß auf die unterschiedliche Entwicklung der Struktur des Energieumsatzes im 19. Jahrhundert hatte die regionale Ressourcenverfügbarkeit in den beiden Ökonomien. Im Unterschied zum Vereinigten Königreich zeichnete sich das heutige Osterreich ebenso wie Cisleithanien insgesamt durch einen im europäischen Vergleich hohen Waldanteil und damit eine hohe Verfügbarkeit des Energieträgers Holz aus. Mit 0,89 ha Wald stand in Österreich pro Kopf mehr als 20 mal soviel Wald zur Verfügung wie im Vereinigten Königreich. Demgegenüber war Kohle nur auf wenige und geographisch bzw. transporttechnisch ungünstig gelegene Lagerstätten im (vor)alpinen Raum begrenzt. Außerdem kam in Österreich kaum Steinkohle, sondern fast ausschließlich Braunkohle vor, die sich in ihrem Heizwert (sowie im Preis pro Joule) nur geringfügig von Holz unterschied, so daß wenig Anreiz für die Verwendung von Kohle anstelle von Holz bestand. Sowohl der Energieverbrauch in den Haushalten als auch die energieintensiven Industriezweige waren auf die Verwendung von Holz optimiert, was eine Umstellung auf Kohle zusätzlich verzögerte. Dementsprechend blieb die Kohleförderung auf dem Gebiet des heutigen Österreich immer sehr gering. Die jährliche Fördermenge erreichte im gesamten 19. Jahrhundert kaum 5 GJ/Kopf - eine Menge, die in England schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts jährlich gefördert wurde (Abb. 7.5). Mit der Extraktion von Biomasse und insbesondere Holz verhielt es sich umgekehrt: Die Holzentnahme betrug im 19. Jahrhundert in Österreich bis zu 40 GJ/Kopf und Jahr, im Vereinigten Königreich dagegen nur 1-3 GJ/Kopf und Jahr. Die ausgesprochen hohe Entwaldungsrate in England (nur mehr 4 % Wald am Beginn des 19. Jahrhunderts, Tab. 7.5) und die günstige Verfügbarkeit von Kohle standen in engem Zusammenhang mit dem schon früh außerordentlich großen Anteil von Kohle am gesamten Energieumsatz. Abb. 7.5 zeigt die Entwicklung der inländische Entnahme der verschiedenen Energieträger in den beiden Ländern und verdeutlicht die unterschiedliche Ressourcenverfügbarkeit in den beiden Ökonomien: Die Kohleförderung kletterte im Vereinigten Königreich einem linearen Trend folgend während des 19. Jahrhunderts von 25 GJ/ Kopf im Jahr 1830 auf 160 GJ/Kopf vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mit steigender Förderung nahm nicht nur der inländische Kohleverbrauch zu, sondern auch die Exporte stiegen von 10 auf 60 GJ/Kopf, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden 30 % der Förderung exportiert (Abb. 7.6). Demgegenüber reichte die österreichische Kohleförderung bei weitem nicht zur Deckung des ab
267
Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche
1860 stark steigenden Bedarfs, und mit dem Ausbau der Eisenbahn erfolgte die Bedarfsdeckung in zunehmendem Ausmaß aus anderen Provinzen ÖsterreichUngarns bzw. dem Ausland. Die Kohleimporte stiegen auf über 40 GJ/Kopf und Jahr, und am Beginn des 20. Jahrhunderts wurden knapp 90 % des gesamten Kohleverbrauchs „importiert" . 2 0 6 Insgesamt stieg der Energieumsatz in beiden Ländern während des 19. Jahrhunderts stark und mit größeren Wachstumsraten als die Bevölkerung. In den 70 Jahren zwischen 1830 und 1900 wuchs der Energieumsatz im Vereinigten Königreich um 2 8 0 % und in Osterreich um 100% (Abb. 7.7). Bei einem ähnlichen Ausgangsniveau um 1830 erreichte der Pro-Kopf-Energieumsatz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Osterreich dementsprechend nur mehr etwa 60 % des Niveaus im Vereinigten Königreich. Obwohl auch in Österreich der Anteil der Biomasse am gesamten Energieumsatz rückläufig war, war der Stellenwert der Biomasse am Beginn des 20. Jahrhunderts mit fast 50 % deutlich höher als im Vereinigten Königreich, wo Biomasse um 1910 nur mehr ein Fünftel des gesamten Energieumsatzes ausmachte.
Abb. 7.7: Energieumsatz insgesamt [PJ], indexiert (1830 = 1)
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206 „Importiert" bedeutet für das Gebiet des heutigen Österreich in bezug auf Kohle vor allem einen „Import" aus anderen Provinzen Österreich-Ungarns, allen voran Böhmen, und erst sekundär einen Import aus anderen Staaten.
268
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Das deutlich niedrigere Pro-Kopf-Niveau der Energieverwendung in Österreich begründet sich vor allem im geringeren Grad der Industrialisierung: In Osterreich gab es weniger Schwerindustrie als im Vereinigten Königreich, die Roheisenerzeugung lag mit 76 kg/Kopf um 1910 nur bei einem Drittel des Outputs des Vereinigten Königreichs (223 kg/Kopf). Der Anteil der Beschäftigten in der Industrie lag in Österreich um 1910 erst bei 31 % und im VK bei 45 %, und das österreichische BIP lag mit 3.300 $/Kopf nur bei ca. 75 % des Wertes im Vereinigten Königreich (siehe auch Tab. 7.1 bis 7.3). 207 Trotz der deutlichen Unterschiede, die sich sowohl im Niveau wie auch in der Struktur des Energieumsatzes von England und Österreich im 19. Jahrhundert feststellen lassen, können wir in beiden Ökonomien eine fortschreitende Entkoppelung des Energiesystems von der (im Inland verfügbaren) Fläche beobachten. Diese Entkoppelung ist gleichbedeutend mit einer schrittweisen Uberwindung der Wachstumsbeschränkung des dezentralen und flächenabhängigen Solarenergiesystems. In beiden Ländern bildeten sich industrielle und urbane Zentren mit einem ausgeprägten Fossilenergiesystem heraus. Für die Nutzung der dezentral und punktförmig verfügbaren Ressourcen der Industrialisierung (Kohle und Eisen) sowie für die Entwicklung räumlich konzentrierter industrieller/urbaner Zentren war die Entwicklung kostengünstiger und für den Massentransport geeigneter Transportmittel eine Voraussetzung. Für die räumliche Durchsetzung des Fossilenergiesystems war daher die flächendeckende Ausbreitung der Eisenbahn seit den 1830er Jahren von entscheidender Bedeutung (siehe Abb. 7.1). Abb. 7.8 zeigt, in welchem Maße die Nutzung von fossilen Energieträgern (im 19. Jahrhundert war dies ausschließlich Kohle) zur Uberwindung der Flächenlimitation des Solarenergiesystems beitrug: Die virtuelle Flächensubstitution durch Kohle brachte in Großbritannien bereits in den 1840ern einen „Flächengewinn", der das Ausmaß der gesamten Landesfläche überstieg. In Österreich war diese Emanzipation deutlich weniger ausgeprägt, der virtuelle Flächengewinn durch Fossilenergie erreichte erst 100 Jahr später das Ausmaß der Landesfläche. Dieses „Nachhinken" Österreichs hatte unterschiedliche Ursachen und kann nur zum Teil auf den geringeren Industrialisierungs- und Urbanisierungsgrad bzw. die höhere sozioökonomische Bedeutung der Landwirtschaft und der Brennholznutzung (im ländlichen und städtischen Raum) zurückgeführt werden. Nicht übersehen werden darf in diesem Zusammenhang die 2-3 mal so große Bevölkerungsdichte im Vereinigten Königreich und der dadurch höhere Gesamtenergieumsatz. Trotz der Zunahme der Nutzung fossiler Energieträger erfolgte im 19. Jahrhundert weder in Österreich noch im Vereinigten Königreich eine vollständige Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche: Wichtige Bereiche des sozio-
207 Quellen: Butschek et al. 1998; Maddison 1995; Mitchell 1988; S C C 1910.
E n t k o p p e l u n g des Energiesystems von der Fläche
269
ökonomischen Systems, insbesondere das Agrarsystem, wurden von der Transformation des Energiesystems nicht vollständig erfaßt. D i e Landwirtschaft als zentrales Element des Solarenergiesystems wurde durch die Verwendung von Kohle nur indirekt berührt: Zwar stieg der Nahrungsbedarf durch das Wachstum der Urbanen Zentren und damit die Marktintegration und die Anforderungen an die Landwirtschaft, doch mußte die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit weiterhin fast vollständig innerhalb der Rahmenbedingungen des Solarenergiesystems (Fruchtfolge, Viehwirtschaft) bewerkstelligt werden. Eine exogene Zufuhr von Düngemitteln etwa spielte (abgesehen v o m Import von G u a n o ) vor dem 20. Jahrhundert noch keine Rolle. D e r dezentrale Charakter der Landwirtschaft beschränkte während des 19. Jahrhunderts aber auch den effizienten Einsatz von mit Kohle betriebenen Maschinen in der Landwirtschaft (Dampfpflüge, Dreschmaschinen) auf wenige Großbetriebe. Zur Verrichtung landwirtschaftlicher Arbeiten wurde bis ins 20. Jahrhundert fast ausschließlich menschliche und tierische Arbeitskraft herangezogen, und die Steigerung der Arbeitsproduktivität war deutlich geringer ausgeprägt als in der Industrie. Fossilenergie wurde nur indirekt durch die Verwendung industriell gefertigter Geräte in der Landwirtschaft eingesetzt.
Abb. 7.8: Virtuelle Energiefläche (fossile Energie) im Verhältnis zur Landesfläche in Osterreich und im Vereinigten Königreich 1000% - Österreich - Vereinigtes Königreich 750%
500%
250%
o > 3
r
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Q u e l l e : K r a u s m a n n et al. 2003b
270
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Die Steigerung der Flächenproduktivität in der Landwirtschaft beider Länder (Abb. 7.3) spiegelt demnach in dieser Phase vor allem einen Optimierungsprozeß des solarenergiebasierten Agrarsystems wider: Verbesserungen der Fruchtfolge, eine Steigerung des Feldfutterbaues und der Viehwirtschaft, sowie effizienteres Management von Pflanzennährstoffen trugen wesentlich dazu bei, daß die Getreideerträge in Österreich zwischen 1830 und 1914 um fast 60 % gesteigert werden konnten. In England, das diesen Optimierungsprozeß bereits Ende des 18. Jahrhunderts vollzogen hatte und um 1830 fast doppelt so hohe Flächenerträge aufweisen konnte wie Osterreich, kann für die Periode von 1850 bis 1914 nicht mehr von einer nennenswerten Ertragssteigerung bei Getreide gesprochen werden. Die Erträge bewegten sich während der ganzen Periode relativ stabil um rund 2 t pro ha. Das bedeutet, daß das Innovationspotential im Rahmen der solarenergiebasierten Landwirtschaft um 1830 bereits mehr oder weniger ausgeschöpft und eine Leistungssteigerung der Agrarproduktion innerhalb der Grenzen des solaren Energiesystems kaum mehr möglich war. Die Bereitstellung von Nahrung und biogenen Rohstoffen war weiterhin flächenabhängig und den Beschränkungen des Solarenergiesystems unterworfen. Eine Möglichkeit, die aus der Flächenabhängigkeit der Landwirtschaft resultierenden Wachstumsbeschränkungen zu umgehen, lag im Import von Biomasse. Im Vereinigten Königreich, und in weit geringerem Ausmaß auch in Osterreich, ermöglichte dies, wie die Nutzung von Kohle, einen virtuellen Zugewinn an Fläche und trug so zur Entkoppelung des Energiesystems von der Flächenverfügbarkeit bzw. zur Emanzipation des Energiesystems von der Fläche bei (siehe Abb. 7.9b). Die (Netto)Einfuhr landwirtschaftlicher Biomasse ins Vereinigte Königreich, v. a. von Getreide, Zucker und insbesondere auch Baumwolle aus der Neuen Welt und anderen Regionen stieg im 19. Jahrhundert rasch an: Um 1830 wurden pro Kopf Agrarprodukte mit einem Energiegehalt von etwa 1 GJ importiert, 1850 waren es bereits 2,2 GJ und 1910 über 9 GJ (Abb. 7.9b). 208 Parallel zur Zunahme der Importe sank die Relevanz der englischen Landwirtschaft für die Nahrungsversorgung (siehe Abb. 7.9b): Entsprach die Produktion pflanzlicher Nahrung 1830 noch dem physiologischen Nahrungsbedarf von mehr als 150 % der Bevölkerung des Königreiches, sank sie bis Ende des 19. Jahrhunderts auf
208 Angesichts der Entnahme landwirtschaftlicher Biomasse im Ausmaß von 2 5 - 3 5 GJ/Kopf erscheinen importierte Mengen im Ausmaß von einigen G J relativ gering. Allerdings ist zu bedenken, daß es sich bei den Importen um agrarische Endprodukte handelt, deren Erzeugung mit hohen Vorleistungen (Faktor 2 bis 10) im Ursprungsland verbunden ist und dort den Biomasseumsatz pro Kopf erhöht.
Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche
271
Abb. 7.9a: Inländische Produktion pflanzlicher Nahrung in Österreich und im Vereinigten Königreich (potentiell zur Ernährung geeignete Biomasse in Nährwert) 12 - Österreich - Vereinigtes Königreich
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Quelle: nach Krausmann et al. 2003b Abb. 7.9b: Physische Handelsbilanz für Biomasse im Vereinigten Königreich
Β tierische Nahmngs- und Futtermittel • Pflanzliche Nahrungs- und Futtermittel Π Holz Η Produkte
Quelle: Krausmann et al. 2003b Anmerkung zu Abb. 7.9: Physische Handelsbilanz = Export - Importe, negative Werte stehen für Nettoimporte, positive für Nettoexporte.
272
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
etwa 50 % . 2 0 9 Die sinkende Selbstversorgung mit Nahrung war aber nur zum Teil ein Effekt des Bevölkerungswachstums, sondern vor allem Ausdruck einer bereits früh einsetzenden ökonomischen Marginalisierung des Agrarsektors. Nach Aufhebung der Kornzölle 1846 und mit sinkenden Transportkosten konkurrierten britische mit amerikanischen (und osteuropäischen) Ackerflächen (O'Rourke und Williamson 1999). Der Anstieg der Nahrungsimporte führte dazu, daß im Vereinigten Königreich weniger ertragreiche Böden aus der Produktion genommen wurden und die Ackerflächen zurückgingen (Abb. 7.2). Im Gegensatz zu Osterreich, wo der Anteil der Ackerflächen an der Gesamtfläche während des 19. Jahrhunderts konstant bei 25 % blieb, gingen sie im Vereinigten Königreich im Zusammenhang mit der Markintegration des Nahrungssektors schon im Laufe des 19. Jahrhundert von 32 % auf 22 % der Gesamtfläche, also um fast 30 % zurück. Besonders stark waren vom Strukturwandel in der Landwirtschaft die Getreideanbauflächen betroffen. Sie nahmen in diesem Zeitraum um 35 % ab. Da es sich hierbei um Grenzertragsböden handelte, führte dies zu einer Zunahme der Durchschnittsproduktivität. Voraussetzung für diesen Emanzipationsschritt war der Zugriff auf die Agrarproduktion in Gebieten mit hoher Arbeits- bzw. Flächenproduktivität (vor allem in Nordamerika und Rußland) und die „Fossilisierung" des Transportsystems durch Kokseisen und Dampfmaschine. Die ausgeprägte Abhängigkeit der Nahrungsversorgung der englischen Bevölkerung von externer Flächennutzung drückte sich umgekehrt im Ersten und Zweiten Weltkrieg (und den damit verbundenen Importeinschränkungen) in einer plötzlichen Ausweitung der Ackerflächen und einer deutlichen Steigerung der heimischen Agrarproduktion aus („Ploughing-up Campaign"). Im Ersten Weltkrieg wurden die Getreideanbauflächen innerhalb von nur wenigen Jahren um 34 % und im Zweiten Weltkrieg um fast 50 % ausgeweitet (siehe Abb. 7.2). Für Osterreich in seinen heutigen Grenzen liegen für das 19. Jahrhundert keine genauen Zahlen zum Außenhandel, d. h. zum Güterverkehr mit anderen Provinzen der Monarchie bzw. dem Ausland vor. Dennoch lassen sich Vergleiche mit dem Vereinigten Königreich ziehen. Die Zahlen zur Nahrungsproduktion in Österreich zeigen, daß eine Verlagerung der Nahrungsversorgung von der lokalen Produktion zum „Import" nicht in diesem Ausmaß stattgefunden hat. Trotz der deutlich niedrigeren Flächen- und Arbeitsproduktivität der österreichischen Landwirtschaft deckte die Produktion pflanzlicher und tierischer Nahrungsmit-
2 0 9 Vergleich aller potentiell zur menschlichen Ernährung geeigneten pflanzlichen Produkte mit dem berechneten Nahrungsbedarf der Bevölkerung (Annahme von 4,5 GJ/Kopf). Es sind daher auch verfütterte Getreideanteile enthalten, aber keine tierischen Produkte. Die Maßzahl reflektiert somit nur annäherungsweise die Ernährungssituation und stellt keine vollständige Ernährungsbilanz dar, tatsächlich dürfte der Anteil der Importe an der N a h rungsversorgung der Bevölkerung noch höher gewesen sein, als diese Schätzung andeutet.
Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche
273
tel während des 19. Jahrhunderts etwa 80-90 % des physiologischen Bedarfs der Bevölkerung. Nur ein mehr oder weniger großer Anteil der Urbanen Bevölkerung, vor allem in Wien, wurde durch Importe aus zum Teil weit entfernten Regionen der Monarchie versorgt. Nimmt man an, daß zwei Drittel des Nahrungsbedarfes der Wiener Bevölkerung durch Importe aus Ungarn, Mähren und Böhmen gedeckt wurden, entsprach das, auf die Gesamtbevölkerung Österreichs gerechnet, einem Nahrungsimport von 0,3 GJ/Kopf im Jahr 1830 und knapp 1 GJ/Kopf im Jahr 1910 und damit nur etwa einem Neuntel der Pro-Kopf-Importe ins Vereinigte Königreich. 210 Es zeigt sich also, daß in beiden Ländern zwar ein unterschiedlich weitreichender, aber in beiden Fällen nicht vollständiger Entkoppelungsprozeß des Energiesystems von der Fläche erfolgt war. Trotz der enormen Zunahme der Nutzung von Kohle machte Biomasse sowohl in Osterreich (50 %) wie auch im Vereinigten Königreich (25 %) am Beginn des 20. Jahrhunderts immer noch einen beträchtlichen Teil des Energieumsatzes aus (Abb. 7.4). Wichtige Teile des gesellschaftlichen Systems blieben also im 19. Jahrhundert noch weitgehend von dem neuen energetischen Regime unberührt. Vor allem die Landwirtschaft in ihrer Funktion als Primärenergiequelle für die Bereitstellung menschlicher und tierischer Arbeit sowie insbesondere in Osterreich auch ein bedeutender Teil der (ländlichen) Haushalte 211 blieben strukturell im Solarenergiesystem verhaftet. In dieser Phase führte die Nutzung der Fossilenergie noch nicht zu einer Entkoppelung von Energieumsatz bzw. Produktion und menschlicher (und tierischer) Arbeit. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts war über weite Strek ken an menschliche Arbeitskraft gebunden, und so stieg mit dem (industriellen) Energieverbrauch trotz Steigerung der Arbeitsproduktivität auch der Bedarf an Arbeitskraft durch Biokonversion. Deren energetische Basis, die Nahrungs- und Futterproduktion, blieb mit der Landwirtschaft an das solare Energiesystem gebunden. Die Nutzung fossiler Energie bewirkte daher in manchen Bereichen eine Ausweitung der Nutzung von Biomasse: Die Zunahme des Eisenbahntransports führte in der Regel wegen der Grobmaschigkeit des Eisenbahnnetzes zu einer entsprechenden Zunahme des Straßentransports, so daß die Eisenbahn nicht etwa die Pferde ersetzte, sondern deren Zahl sogar wachsen ließ. Auf dem Transportsektor verdrängte also die fossile Energie nicht die organische Konversion, son-
2 1 0 Das gilt im übrigen auch für Österreich-Ungarn insgesamt, das lange eine ausgesprochene Autarkie-Politik betrieb und im Welthandel unterrepräsentiert war. Die Importe und Exporte von landwirtschaftlicher Biomasse lagen noch 1880 nur bei jeweils etwa 1 GJ/ Kopf und machten damit weniger als 5 % der Entnahme landwirtschaftlicher Biomasse aus. 211
Kohle ersetzte Brennholz in den ländlichen Haushalten vor allem in den waldreichen Regionen Österreichs erst im 20. Jahrhundert. Fossilenergie spielte nur indirekt durch die zunehmende Verbreitung industriell gefertigter Produkte in Haushalten eine Rolle.
274
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
dem es handelte sich um ein komplementäres Wachstum, das erst seit den 1920er Jahren durch Verbrennungsmotoren abgelöst wurde. Wie Abb. 7.4 zeigt, ist der Pro-Kopf-Umsatz von Primärenergie insgesamt in beiden Ländern gestiegen und erreichte in England in den 1890er Jahren ein Niveau von ca. 150 GJ/Kopf mit einem Kohleanteil von rund 80 % und blieb im wesentlichen bis zum Zweiten Weltkrieg stabil. In Osterreich stieg der Energieumsatz langsamer und erreichte etwa 90 GJ/Kopf um 1900 bei einem Kohleanteil von etwa 50 %, was deutlich unter dem Niveau im VK blieb. Die Turbulenzen, die die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise im Energieumsatz in Osterreich verursachten, lassen keine Beschreibung eines eindeutigen Trends zu, dennoch scheint auch die Wachstumsdynamik des österreichischen Energieumsatzes gegen Ende dieser Periode nachzulassen. Der Energieumsatz stieg erst nach dem Zweiten Weltkrieg über das Niveau vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Diese Zahlen verdeutlichen, daß sich im Vereinigten Königreich im 19. Jahrhundert das Fossilenergiesystem in einem höheren Grad durchgesetzt hat als in Österreich. Englands Energiesystem basierte auf der Nutzung von lokal verfügbarer Kohle und der Nutzung externer Flächen zur Nahrungsversorgung für die urban-industrielle Bevölkerung. In Osterreich hat das Solarenergiesystem u. a. aufgrund der hohen Verfügbarkeit von Biomasse und der wesentlich geringeren Urbanisierung und Industrialisierung bis ins 20. Jahrhundert eine wichtige Bedeutung. Die Kohle mußte aus anderen Provinzen der Monarchie importiert werden.
7.4. Die vollständige Transformation In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen begann sich nach einer Phase relativer Stagnation des Energieumsatzes ein neuerlicher Transformationsprozeß im Energiesystem vorzubereiten. In den 1920er und 1930er Jahren gewannen sowohl im Vereinigten Königreich wie auch in Osterreich Erdöl und elektrische Energie als neue Energieformen langsam an Bedeutung: Der Erdölverbrauch (Abb. 7.4) erreichte im Vereinigten Königreich bereits um 1930 eine Menge von 10 GJ/Kopf, in Osterreich kletterte er in den 1940er Jahren auf über 5 GJ/Kopf. Die Produktion von elektrischer Energie (Abb. 7.10) verdoppelte sich in beiden Ländern zwischen 1920 und 1940 und stieg auf etwa 2 GJ/Kopf. 212 Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich diese neue Wachstumsdynamik in bei-
2 1 2 In Österreich wurde Elektrizität v o r allem mit Wasserkraft gewonnen, im Vereinigten Königreich bis zum Ausbau der Kernkraft überwiegend in Kohlekraftwerken. In Abb. 7.4 und 7.5, in denen Primärenergie dargestellt ist, ist die Produktion bzw. der Konsum elek-
Die vollständige Transformation
275
den Ökonomien vollständig durch und führte sowohl in Österreich als auch im Vereinigten Königreich innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums von nur 20 Jahren zu einem dramatischen Anstieg und zu weitreichenden strukturellen Veränderungen des Energieumsatzes. In Österreich setzte auch dieser Wachstumsprozeß erst mit einer gewissen Verzögerung ein, schließlich führte der Transformationsprozeß in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber zu einer weitgehenden Synchronisation des Primärenergieverbrauches in beiden Ländern. Der Kohleverbrauch erreichte Ende der 1950er Jahren sowohl im Vereinigten Königreich (113 GJ/Kopf) wie in Österreich (38 GJ/Kopf) einen letzten Höhepunkt, bevor Erdöl die Kohle in ihrer Bedeutung für das gesellschaftliche Energiesystem ablöste und eine neue Phase in der Entwicklung des Energiesystems einläutete. In der Folge ging der Kohleverbrauch in beiden Ländern kontinuierlich auf ein Niveau von 20 bis 30 GJ/Kopf seit den 1970er Jahren zurück. Erdöl verdrängte nicht nur fast vollständig die Kohle als Energieträger, sondern es löste auch einen neuen, schnellen Wachstumsprozeß im Energieumsatz aus, der unter anderem wesentlich mit der Massenmotorisierung in Verbindung stand. In beiden Ländern verlief dieser Wachstumsprozeß zunächst weitgehend unabhängig von der regionalen bzw. nationalen Verfügbarkeit von Ressourcen und Energieträgern, sondern er wurde von importiertem Erdöl und später auch Erdgas angetrieben. Im Vereinigten Königreich stiegen die Erdöl- und Gasimporte zwischen 1950 und 1970 von 16 auf 100 GJ/Kopf, in Österreich von 1 auf 50 GJ/ Kopf (siehe Abb. 7.6). 213 Parallel dazu wurde ein immer größerer Anteil der fossilen Primärenergie nicht mehr direkt vom Endverbraucher genutzt, sondern in thermischen Kraftwerken in Strom umgewandelt. Zusätzlich leisteten in Österreich bereits sehr früh Wasserkraftwerke und im Vereinigten Königreich seit den 1960er Jahren die Kernkraft einen wesentlichen Beitrag zur primären Stromversorgung. Der Stromverbrauch pro Kopf stieg sowohl in Österreich als auch im Vereinigten Königreich seit 1955 kontinuierlich von 5-6 auf 18-20 GJ/Kopf im Jahr 2000, der Anteil am Endenergieumsatz kletterte von 8 % auf knapp 20 %. Insgesamt nahm der Energieumsatz in beiden Ländern in diesen beiden Jahrzehnten beträchtlich zu. In Österreich, wo nach dem Zweiten Weltkrieg das Ausgangsniveau deutlich niedriger war, stieg der Energieumsatz zwischen den 1950er und 1960er Jahren mit durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten von über 3 %; im Vereinigten Königreich war das Wachstum langsamer, betrug aber immerhin noch 1 bis 2 %. Auf diese Weise erreichte der Energieverbrauch in den 1970er Jahre in beiden Ländern ein ähnliches Niveau: Sowohl in Österreich als
trischer Energie nicht direkt ersichtlich, sondern in der für die Stromerzeugung verwendeten Primärenergie (Wasserkraft, Kernkraft, Kohle) enthalten. 213 Die Importabhängigkeit (Anteil der Importe am Gesamtaufkommen D E I ) des Energiesystems stieg zwischen 1950 und 1970 von ca. 27 % in Osterreich und 14 % im Vereinigten Königreich auf etwa 50 % in beiden Ökonomien.
276
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Abb. 7.10: Entwicklung Stromerzeugung in Österreich und im Vereinigten Königreich
Quelle: Mitchell 1995
auch im Vereinigten Königreich wurden Anfang der 1970er Jahre etwa 200 G J / K o p f umgesetzt (Abb. 7.4). Mit der Zunahme des Energieumsatzes wurde der Anteil von Biomasse am Energieumsatz zwar weiter verringert, er war jedoch auch am Ende der Wachstumsphase im ausgereiften Fossilenergiesystem immer noch bedeutend. In Osterreich wurden auch in den 1970er Jahren 50 bis 60 G J Biomasse pro K o p f und Jahr umgesetzt, im Vereinigten Königreich immerhin 25 bis 30 G J / K o p f . Dennoch führte dieser Prozeß der stetig steigenden Bedeutung fossiler Energieträger in den 1950er und 1960er Jahren zur vollständigen Transformation des gesellschaftlichen Energiesystems und brachte dessen Emanzipation von der Fläche zu einem (vorläufigen) Abschluß. Ein Schlüsselelement für die völlige Entkoppelung des Energiesystems von der Fläche war die Industrialisierung der Landwirtschaft. Dabei war weniger das tatsächliche Ausmaß des stetig steigenden direkten und indirekten Energieeinsatzes im Agrarsektors das ausschlaggebende Moment, sondern der damit zusammenhängende grundlegende Funktionswandel der Landwirtschaft innerhalb des Energiesystems. Bis weit ins 20. Jahrhundert basierte die landwirtschaftliche Produktion auf den Grundlagen des Solarenergiesystems. Durch den Einsatz menschlicher und tierischer Arbeit wurde vermittelt über den natürlichen Prozeß der Photosynthèse gesellschaftlich nutzbare Biomasse erzeugt und dabei ein „Netto-Energiegewinn" erzielt. Mit der zunehmenden Substitution von menschlicher und tierischer Arbeitskraft und anderen Betriebsmitteln auf Basis von F o s -
Die vollständige Transformation
277
silenergie (allen voran Zugkraft und Kunstdünger) wandelte sich die Landwirtschaft zu einer gesellschaftlichen Senke von Energie. Durch diese Industrialisierung der Landwirtschaft konnte die Agrarproduktion stark gesteigert werden, doch stieg der dafür erforderliche Aufwand an exogenen Energieinputs durch fossile Energieträger weit überproportional an (Leache 1976; Pimentel und Pimentel 1996). Die Industrialisierung der Landwirtschaft zeigte sich in einer präzedenzlosen Steigerung sowohl der Flächenproduktivität als auch der Arbeitsproduktivität: Im Vereinigten Königreich kam es zwischen 1950 und 1980 zu einer Verdoppelung der Getreideerträge, in Osterreich, aufgrund des geringeren Ausgangsniveaus, fast zu einer Verdreifachung (siehe Abb. 7.3). Gleichzeitig sank in beiden Ländern der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten, 214 und die Arbeitsproduktivität, gemessen in erzeugter Nahrungsenergie pro Beschäftigtem, stieg in den drei Jahrzehnten zwischen 1950 und 1980 in beiden Ländern etwa um den Faktor 7 auf 300 GJ im Vereinigten Königreich und 150 GJ in Osterreich. 215 Ermöglicht wurde dies u. a. durch die vollständige Mechanisierung und den Einsatz von fossilenergiebasierten Agrartechnologien. Die enge Koppelung von Ackerbau und Viehhaltung und die Verzahnung von Ackerland, Grünland und Wald auf lokaler Ebene, Grundvoraussetzungen für eine nachhaltige Landbewirtschaftung unter den Bedingungen des solaren Energiesystems, wurden durch den Einsatz fossiler Energieträger obsolet. Traktoren, künstliche Dünge- und Pflanzenschutzmittel und Transporttechnologien ermöglichten eine neue Form der räumlich spezialisierten und effizienten industriellen Agrarproduktion, in der
214 Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten sank zwischen 1950 und 1980 in Osterreich von 33 auf 9 % und im Vereinigten Königreich von 6 auf 2 % . 2 1 5 Auch die Industrialisierung der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert führte offensichtlich nicht zu einer Angleichung der landwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität in Osterreich und dem V K . Die Gründe dafür sind im unterschiedlichen Modernisierungsgrad, naturräumlichen Bedingungen und der Betriebsstruktur zu suchen. Der Industrialisierungsgrad der österreichischen Landwirtschaft hinkt auch heute noch dem der englischen hinterher, was sich in einer Reihe von Strukturindikatoren zeigt: Ein österreichischer Betrieb bewirtschaftete 1998 im Durchschnitt 16 ha landwirtschaftliche Fläche, im V K knapp 70 ha. In Österreich wurden 1998 je Betrieb im Mittel 20 Rinder und 40 Schweine gehalten, im V K dagegen 90 Rinder und 570 Schweine (Präsidentenkonferenz 2000). Verantwortlich für diese Unterschiede sind einerseits der sehr frühe Strukturbereinigungsprozeß im V K , der bereits im 19. Jahrhundert zu einer sehr hohen landwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität geführt hat und im 20 Jahrhundert konsequent weitergeführt wurde, andererseits eine sehr strukturkonservative Agrarpolitik in Österreich mit dem Ziel, eine flächendeckende Landbewirtschaftung auch in Grenzertragsregionen und mit familienbetrieblichen Strukturen aufrechtzuerhalten.
278
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Tab. 7.6: Die Industrialisierung der Landwirtschaft. Entwicklung ausgewählter Agrarstrukturparameter im Vereinigten Königreich (7.6a) und Österreich (7.6b) Tab. 7.6a: Vereinigtes Königreich Traktoren Zugpferde Dünger* [1000] [1000] [kg/ha] 1940
117
642
1950
332
1960
512
1970
Arbeits- Ertrag** kräfte [kg/ha] [1000]
Landw. %BIP*** Ernte [Mio. t]
k.D.
925
2123
74,5
k.D.
347
56,3
1164
2348
87,5
6,0
103
112,6
597
3066
87,1
4,0
511
0
158,6
372
3678
87,4
2,8
1980
519
0
176,2
375
4959
98,0
2,2
1990
509
0
197,7
304
6229
96,2
1,8
2000
500
0
146,9
306
6847
94,6
1,1
Tab. 7.6b: Österreich Traktoren Zugpferde Dünger* [1000] [1000] [kg/ha] 1935
1
261
1950
30
1960
147
1970
Arbeits- Ertrag** kräfte [kg/ha] [1000]
8,3
1269
283
16,5
150
66,9
268
47
1980
335
1990 2000
Landw. %BIP*** Ernte [Mio. t]
1630
20,8
13,6
1092
1574
20,3
16,4
776
2357
27,5
11,1
146,2
432
3446
29,3
6,9
0
140,2
290
4339
31,3
4,4
339
0
119,6
214
5443
29,2
3,0
336
0
85,0
150
5721
28,0
1,9
"•Gesamter Kunstdünger (Stickstoff, Phosphor, Kalium in Reinnährstoffen) pro ha Ackerland und Dauergrünland (ohne extensive Weideflächen). :: ' :: 'Mischertrag für Getreide (Weizen, Gerste, Roggen und Hafer), fünfjährige Mittelwerte. "'"Anteil der Landwirtschaft an der Bruttowertschöpfung (BIP). Quellen: Krausmann et al. 2003a (Ernte, Erträge); Mitchell 1988; ONS 1999 (BIP, Arbeitskräfte, Zugpferde, Traktoren VK); Butschek et al. 1998 (Arbeitskräfte, Traktoren, Zugpferde); Krausmann 2001b; FAO 2004 (Düngemittelverbrauch).
Agrarprodukte, Futter und Pflanzennährstoffe über große Distanzen verschoben werden. W i e Tab. 7.6 zeigt, stieg in beiden Ländern die Anzahl der Traktoren in der Landwirtschaft stark an, während Zugtiere in nur wenigen Jahrzehnten aus der Landwirtschaft verschwanden und auch die Anzahl der Arbeitskräfte in der
Die vollständige Transformation
279
Landwirtschaft drastisch zurückgegangen ist. Eine ähnlich starke Steigerung wie für den Einsatz von Traktoren zeigt sich in der Verwendung von Handelsdünger. Die Industrialisierung der Landwirtschaft war Anfang der 1980er Jahre im wesentlichen abgeschlossen und führte vor allem in Osterreich, aber auch im Vereinigten Königreich zu einer deutlichen Steigerung der Produktion landwirtschaftlicher Biomasse, 216 während gleichzeitig der Agrarsektor eine ökonomische Marginalisierung erfuhr (Tab. 7.6) und die landwirtschaftlich genutzten Flächen zurückgingen (Abb. 7.2). Die Industrialisierung der Landwirtschaft ist aus einer grundsätzlichen Perspektive für die vollständige Transformation des Energiesystems von Bedeutung, jedoch trug dieser Prozeß in quantitativer Hinsicht zum Anstieg des Energieumsatzes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur wenig bei. 217 Für den in Abb. 7.4 dargestellten Anstieg des Energieumsatzes pro Kopf zeichnet eine Reihe von Technologien und Innovationsprozessen verantwortlich, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte: a) Die flächendeckende Elektrifizierung und die damit verbundenen technischen Möglichkeiten leisteten einen signifikanten Beitrag zur Erhöhung des Energieumsatzes quer durch alle Haushalte. In Osterreich etwa waren Anfang der 1950er Jahre bereits 90 % aller Wohnungen an das Elektrizitätsnetz angeschlossen. Die Ausstattung der Haushalte mit energieverbrauchenden Haushaltsgeräten erfolgte aber erst nach 1950 (siehe Tab. 7.7): Der Anteil der Haushalte mit Waschmaschine stieg im Zeitraum 1955 bis 1974 von 0,14 % auf 80 %, die Ausstattung mit Kühlschränken von 0,96 % auf 96 %. Fernsehgeräte, Elektroherde oder elektrische Heißwasserspeicher verbreiteten sich ähnlich rasant (KAAW 1970, Karazman-Morawetz 1995). Insgesamt stieg damit zwischen 1950 und 1980 der Stromverbrauch der österreichischen Haushalte von 2 PJ auf 33 PJ und der Anteil der privaten Haushalte am Stromverbrauch wuchs von 9 % auf 23 %. 218
2 1 6 Die Steigerung der Agrarproduktion führte im Zusammenhang mit protektionistischer Agrarpolitik in Österreich - wie auch in anderen Teilen Europas - in den 1980er Jahren zu einer ungewollten und kostenintensiven landwirtschaftlicher Überproduktion in vielen Bereichen (Pelz und Millendorfer 1988). 2 1 7 Der direkte Anteil des Sektors Landwirtschaft am Endenergieverbrauch betrug im Jahr 2000 nach IEA 2004 in Österreich 2,8 % und im Vereinigten Königreich 0,7 % . W ü r d e man auch die indirekten Energievorleistungen von landwirtschaftlichen Betriebsmitteln (ζ. B. Kunstdünger) und den Energieverbrauch in den nachgelagerten Sektoren der Nahrungsmittelproduktion berücksichtigen, würde sich der Energieeinsatz zwar mehr als verdoppeln, wäre aber immer noch vergleichsweise gering. Vergleiche auch Untersuchungen von Leach 1976 und Piemntel und Pimentel 1996. 218 Quelle: IEA 2004; K A A W 1970.
280
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Tab. 7.7: Ausstattung von privaten Haushalten mit Elektrogeräten (Stück je 100 Haushalte) Fernsehapparat
Waschmaschine
Kühlschrank
1955
0,1
1,7
3,4
1965
29,9
20,6
40,5
1974
68,7
64,0
87,0
1981
81,2
80,0
96,0
1989
88,0
83,0
97,0
Quelle: Karazman-Morawetz 1995
b) In den privaten Haushalten leistete neben der Elektrifizierung die Durchsetzung der Zentralheizung einen großen Beitrag zum Anstieg des Pro-KopfVerbrauchs. Noch Anfang der 1960er Jahre waren weniger als 10 % der österreichischen Wohnungen mit Zentralheizung ausgestattet, im Jahr 1981 waren es bereits über 50 %, 1990 62 % und 2002 78 %. c) Ein weiterer wichtiger Aspekt war die allgemeine Motorisierung 219 und die damit in Zusammenhang stehende enorme Zunahme des individuellen Personenverkehrs und des Gütertransports, was zu einer drastischen Steigerung des Energieverbrauchs für Transportzwecke führte (vgl. Tab. 7.8). In Österreich etwa stieg der Verbrauch von Erdölprodukten für den Straßenverkehr von knapp 30 PJ Mitte der 1950er Jahre auf 150 PJ im Jahr 1975 an. d) Entkoppelung des Energie- und Produktionssystems von menschlicher Arbeit: Die Dampfmaschine bewirkte zwar eine deutliche Steigerung der Arbeitsproduktivität, sie konnte aber nur für bestimmte industrielle Schlüsselprozesse eingesetzt werden. Die Endfertigung in vielen Industrien mußte weiterhin von Hand erfolgen und erforderte eine große Anzahl von Arbeitskräften. Auch für die Verrichtung dezentraler Arbeitsprozesse, wie etwa in der Landwirtschaft, konnte die Dampfmaschine nur bedingt verwendet werden. Erst der Verbrennungs- und vor allem der Elektromotor erlaubten die weitgehende Mechanisierung fast aller industriellen Prozesse. Das führte in vielen gewerblichen und industriellen Bereichen zu einer Substitution von
2 1 9 Zwischen 1950 und 1975 stieg die Anzahl der Kraftfahrzeuge ( P K W und L K W ) in Österreich von 92.000 auf fast zwei Millionen im Vereinigten Königreich von 3,3 Millionen auf 15,5 Millionen (Mitchell 1981).
Ende der Wachstumsperiode?
281
menschlicher und tierischer Arbeit durch Maschinen, die von Fossilenergie bzw. mit elektrischer Energie betrieben werden. e) Parallel zur Erhöhung des Energieumsatzes durch die von Öl, Strom und Erdgas geschaffenen neuen Verbrauchsmöglichkeiten wurden in vielen Bereichen durch den Einsatz neuer Technologien enorme Effizienzsteigerungen in der Energieverwendung erreicht, was aber im allgemeinen nicht zu einer Verringerung, sondern wegen der damit verbundenen Kostensenkungen zu einer weiteren Steigerung des Verbrauchs von Energieträgern führte. 220 7.5. Ende der Wachstumspenode seit den Ölkrisen? Ab 1973 beobachten wir eine Veränderung in der Entwicklung des Energieumsatzes beider Länder (Abb. 7.4). Mit den beiden politisch motivierten Ölkrisen, die in den 1970er Jahren221 zu einem dramatischen Anstieg des Ölpreises führten und den Industrieländern ihre ökonomische Abhängigkeit vom Zugang zur Ressource Erdöl vor Augen führte, erreichte der steile Anstieg im Energieumsatz in beiden Ländern seinen Höhepunkt. In der Folge kam es zu einer neuerlichen Umstrukturierung des Energiesystems, die sich, wie Abb. 7.4 zeigt, in einem Rückgang des Ölverbrauchs und einem deutlichen Wachstum anderer Energieformen niederschlug. Öl wurde dabei einerseits von Erdgas sowie durch Stromerzeugung aus Kernkraft und Wasserkraft verdrängt.222 Zusätzlich zum Ausbau der Kernenergie wurde im Vereinigten Königreich mit der Erschließung von Ölvorkommen in der Nordsee begonnen und so die Importabhängigkeit223 der Energieversorgung deutlich verringert (von über 50 % im Jahr 1973 auf etwa 20 % im Jahr 1998). In Österreich kam es mangels heimischer Energieressourcen zwar nicht zu einer Verringerung der Importabhängigkeit, aber immerhin zu einer deutlichen Verlangsamung der Zunahme.224
220 Dieser Effekt wird in der Diskussion um Energiesparpotentiale als Reboundeffekt bezeichnet (siehe Herring 2004; Schipper 2000). 221 Erste Ölkrise 1973 (Yom Kippur Krieg), zweite Ölkrise 1979 (Revolution im Iran), dritte Ölkrise (Golf Krieg) 1991. Zwischen 1973 und 1980 stieg der Rohölpreis um mehr als den Faktor 10 von unter 5 US$/Barrel auf über 55 US$/Barrel. 222 Der Ölverbrauch ging ab 1974 in nur zehn Jahren in Österreich um 40 und im Vereinigten Königreich um 30 % zurück. In Österreich nahm dagegen im gleichen Zeitraum die Stromerzeugung aus Wasserkraft um 70 % zu. Die Stromerzeugung aus Kernenergie erfuhr im Vereinigten Königreich ab 1975 einen massiven Ausbau: 1960 stammten 2 % der Stromerzeugung (oder 2 7 PJ) aus Kernkraft. Bis 1970 verzehnfachte sich die aus Kernkraft bereitgestellte Elektrizität auf 293 PJ und wuchs bis 1998, wenn auch mit geringeren Wachstumsraten, auf 975 PJ an, was einem Drittel der erzeugten Elektrizität entspricht. 223 Importabhängigkeit hier gemessen als Anteil Importe am Gesamtaufkommen (DEI = DE + Im). 224 Zwischen 1955 und 1974 nahm die Importabhängigkeit der Energieversorgung in Österreich jährlich um 4,2 % pro Jahr zu, zwischen 1974 und 1998 nur um 0,96 % pro Jahr.
282
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
Als Folge der Energiekrisen pendelte sich der Pro-Kopf-Umsatz von Primärenenergie in beiden Ländern auf einem Niveau von knapp 200 GJ ein (Abb. 7.4). Der Energieumsatz insgesamt ist seit den frühen 1970er Jahren in beiden Ländern trotzdem weiter angestiegen, wenn auch in einem langsameren Tempo (siehe Abb. 7.7). In Osterreich erfolgte zwischen 1973 und 1998 eine recht kontinuierliche Steigerung des Energieumsatzes um etwa 16 % . Im Vereinigten Königreich sank der Primärenergieumsatz zunächst bis 1984 um 1 2 % . Erst seit Mitte der 1980er Jahre kann wieder ein deutlicher Wachstumstrend beobachtet werden. Der Einbruch im Energieumsatz bis Mitte der 1980er Jahre ist aber auch im Zusammenhang mit der ausgeprägten De-Industrialisierung im Zuge der Wirtschaftspolitik der Thatcher-Regierung ab 1979 zu sehen: Wie Tab. 7.8a zeigt, ging im Vereinigten Königreich der Endenergieverbrauch der Industrie zwischen 1970 und 1980 um über ein Viertel zurück, während er in Osterreich (Tab. 7.8b) im gleichen Zeitraum weiter anstieg. Der Anteil der Industrie am energetischen Endverbrauch nahm im Vereinigten Königreich um 23 % und in Österreich um 1 1 % ab. Hier stellt sich die Frage, ob diese Stagnation als Einpendeln auf einem bestimmten industriellen Niveau verstanden werden kann, oder ob es sich um eine vorübergehende Erscheinung handelt. In diesem Zusammenhang muß auch bedacht werden, daß im ausgehenden 20. Jahrhundert zunehmend material- und energieintensive bzw. stark umweltbeanspruchende Industrieproduktionen (Düngemittel, Stahl, Kali etc.) in Länder der Dritten Welt verlagert wurden, während zugleich in Europa der Anteil der Industrieproduktion am BIP deutlich zurückging. Diese Entwicklung schlägt sich vermutlich auch in einer Entlastung des Energiesystems in den Industrieländern nieder, das heißt der „industrielle Energieverbrauch" wäre paradoxerweise auch Ausdruck der De-Industrialisierung in Europa unter dem Vorzeichen industrieller Globalisierung. Mit der zunehmenden Industrialisierung der Landwirtschaft erfuhr dieser Sektor sowohl im Vereinigten Königreich als auch in Österreich in ökonomischer Hinsicht eine weitgehende Marginalisierung, die auch nach 1980 zügig weiter voranschritt (vgl. Tab. 7.6): Im Vereinigten Königreich waren im Jahr 2000 nur etwas über 1 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, und der Anteil der Land- und Forstwirtschaft an der nationalen Wertschöpfung lag ebenfalls bei 1 % . In Österreich ist dieser Marginalisierungsprozeß etwas weniger stark ausgeprägt: Der Anteil der Beschäftigten betrug im Jahr 2000 knapp 5 % und der Anteil am BIP etwa 2 % . Der ökonomische Bedeutungsverlust der Landwirtschaft zeigt sich in biophysischer Hinsicht allerdings nur relativ am sinkenden bzw. stagnierenden Anteil der Biomasse am Primärenergieumsatz: 1980 stammten im Vereinigten Königreich lediglich 13 % der inländisch eingesetzten Primärenergie aus pflanzlicher Biomasse (nur mehr 1 % Holz). Auf diesem Anteilsniveau stagniert die Landwirtschaft als gesellschaftlicher Energielieferant bis heute. Auch in Öster-
Ende der Wachstumsperiode?
283
Tab. 7.8: Technischer Endenergieumsatz (ohne land. Biomasse) nach Sektoren in GJ/Kopf im Vereinigten Königreich (7.8a) und Österreich (7.8b)
Tab. 7.8a: Vereinigtes Königreich 1960
1970
1980
1990
2000
Industrie
34
46
34
30
30
Transport
17
22
27
36
40
Haushalte
34
27
28
29
32
9
16
17
17
18
andere Nutzer*"''
Tab. 7.8b: Österreich 1960
1970
1980
1990
2000
Industrie
23
28
32
35
39
Transport
11
19
25
27
35
Haushalte
18
31
30
34
36
3
8
23
20
23
andere Nutzer*
*Die Kategorie .andere Nutzer' inkludiert den öffentlichen Sektor, Landwirtschaft, Handel, sowie andere Dienstleistungssektoren). Quelle: IEA 2004
reich ist der Stellenwert von Biomasse im Energiesystem gesunken, allerdings in einem weniger deutlichen Ausmaß. Aufgrund der relativ höheren Pro-Kopf-Verfügbarkeit von Biomasse bzw. der relativ höheren Bedeutung des Sektors Landund Forstwirtschaft bewegt sich der Anteil von Biomasse am gesamten Energieumsatz bei 30-35 % seit den 1970er Jahren (30 % im Jahr 1980), etwa ein Drittel davon ist Holz. 225 Der Anteil der Biomasse am Primärenergieumsatz stagniert seither auf durchaus bedeutendem, in Osterreich und dem Vereinigten Königreich allerdings sehr unterschiedlichem Niveau, 226 was die unterschiedliche Ressourcenverfügbarkeit (Flächenverfügbarkeit pro Kopf) bzw. Bevölkerungsdichte widerspiegelt. Insgesamt produzierte die Land- und Forstwirtschaft in beiden Ländern bis in die 1980er Jahre zunehmend größere Mengen an Biomasse. Die Biomasseernte wurde im Vereinigten Königreich zwischen 1970 und 1980 von 89
225 Seit 1973 stieg allerdings der Anteil von Biomasse zur Gewinnung technischer Energie von 3 % auf 12 % in Osterreich (IEA 2002), was unter anderem auch deutliche politische Bemühungen zur Erhöhung der Nutzung erneuerbarer Ressourcen widerspiegelt. 226 Am Ende des 20. Jahrhunderts betrug der Biomasseanteil in Osterreich 30 % und im Vereinigten Königreich 15 %.
284
Energetische Transformation in Großbritannien und Österreich
auf über 100 Mio. t gesteigert. Dieses Niveau blieb bis heute konstant hoch. Auch in Österreich stieg die Biomasseentnahme bis Ende der 1980er Jahre an. Ab Mitte der 1980er Jahre setzten in Österreich im Zusammenhang mit der zunehmenden Liberalisierung der Agrarmärkte allerdings massive politische Bemühungen ein, die teuren Produktionsüberschüsse der hochsubventionierten Landwirtschaft zu verringern. Die Auswirkungen dieser Bemühungen zeigen sich auch in biophysischer Hinsicht. Flächenstillegungsprogramme, Extensivierung und die Subventionierung von Öl- und Eiweißpflanzen führten Anfang der 1990er Jahre innerhalb weniger Jahre zu einem deutlichen Rückgang der landwirtschaftlichen Ernte: 227 Die Getreideernte ging zwischen 1985 und 1995 um 20 % und die Erntemenge von Futterpflanzen um 38 % zurück. Die Holzernte zeigt allerdings ein anderes Muster und stieg zwischen 1970 und 1997 von 8 auf 14 Mio. t an. Der Anteil von Holz an der Biomasseernte erhöhte sich dadurch von 20 % auf etwa ein Drittel. Betrachtet man die zeitliche Entwicklung des Primärenergieumsatzes in Österreich und im Vereinigten Königreich über die letzten 170 Jahre im Vergleich, so verblüfft vor allem seine Konvergenz im späten 20. Jahrhundert. Es scheint, als hätten sich beide Länder auf einem Niveau des .industriellen Energieverbrauchs' eingependelt, das für Europa typisch ist. 228 Tab. 7.9: Primärenergieverbrauch nach Energieträgern, Vereinigtes Königreich und Österreich 1830 und 2000 1830
Landwirtschaftliche Biomasse
2000
Österreich
Vereinigtes Königreich
Österreich Vereinigtes Königreich
46%
49%
17%
14%
Holz
52%
4%
13%
1%
Kohle
*σ->c σ\ ΐiσcι oσ *>j cσo>oσ>> oο
waren und ihre Energie durch ein Netzwerk von elektrischem Strom bezogen, das wesentlich enger gewirkt sein konnte als das auf Dampfkraft beruhende System. Wichtiger war aber, daß zahlreiche Arbeitsprozesse, die nur schwer über die einfache Rotationsbewegung, wie die Dampfkraft sie lieferte, betrieben werden konnten, nun einer gezielten Mechanisierung zugänglich wurden. Menschliche Arbeit konnte dadurch tendenziell die Bedeutung der Energiekonversion verlieren, und ihr Schwerpunkt verlagerte sich auf eine Kombination von Informationsverarbeitung und deren Umsetzung in physische Wirkungen. Damit stiegen die Ansprüche an die Qualifikation der Arbeiter, die nun in immer geringerem Maße als bloße Biokonverter eingesetzt wurden, sondern deren Tätigkeit immer mehr Elemente intelligenter Steuerung enthielt. Ein wichtiger Effekt dessen war, daß gering qualifizierte Arbeitskräfte, die lediglich mechanische Kraftanwendung mit wenig intellektuellem Potential anzubieten hatten, zunehmend von Maschinen verdrängt werden konnten. Dieser Prozeß hatte zu Folge, daß das fossilenergetische Netzwerk enger und enger werden konnte. Am logischen Ende war das Netzwerk so eng gewoben, daß der animalische Konverter Mensch keinen Platz mehr in ihm fand, sondern vom Industrieroboter ersetzt wurde. Abb. 8.5 zeigt, daß die physische Arbeit im Vereinigten Königreich an der Wende zum 21. Jahrhundert wieder unter das Ni-
255 In diesem Diagramm wird die Zahl der Arbeitskräfte in den Sektoren extraktives Gewerbe, Industrie, Baugewerbe und Transport mit 100 W als der Leistung pro Person multipliziert, was die „installierte Leistung" der physischen Arbeit außerhalb der Landwirtschaft ergibt. Multipliziert mit den jährlichen durchschnittlichen Arbeitsstunden ergibt dies die Menge der physischen Arbeit in k W h bzw. in PJ.
326
Transformation des sozialmetabolischen Regimes
veau von 1840 gesunken ist. Menschliche Arbeit verlagerte sich zunehmend auf dispositive und kreative Tätigkeiten, die erst auf der Basis neuer Informationstechniken verdrängt werden konnten, die sich seit dem späten 20. Jahrhundert allmählich durchsetzen. Einen analogen Vorgang können wir auf dem Transport- und Verkehrssektor beobachten. Das dampfbetriebene Eisenbahnnetz konnte nicht beliebig eng angelegt werden, da es mit hohen Fixkosten verbunden war. Es bot sich im Personenverkehr nicht einmal an, die Haltepunkte einer Dampfeisenbahn zu dicht aufeinander folgen zu lassen, da durch häufiges Bremsen und Beschleunigen hohe Energieverluste auftraten. Für den Transport von Personen bedeutete dies zunächst, daß die Eisenbahn immer von der Kutsche (oder vom Fahrrad) ergänzt werden mußte. Eine erste Lösung dieses Problems brachte die elektrische Lokomotive, die beim Bremsen Energie in das Netz zurückfließen lassen konnte, so daß sich die elektrische Straßenbahn als innerstädtisches Verkehrsmittel anbot. Einen fundamentalen Durchbruch brachte dann aber der motorisierte Individualverkehr, der flächendeckend in die Lücken zwischen den weiten Maschen des Eisenbahnverkehrs treten konnte, um diesen schließlich weitgehend zu verdrängen. Das Pferd als energetischer Konverter verschwand in der Mitte des 20. Jahrhunderts vollständig aus dem Transportsektor. Einem ähnlichen Vorgang sind wir bereits in der Landwirtschaft begegnet. Ihre Mechanisierung, die in Europa nach 1950 massiv einsetzte, reduzierte, wie in Abb. 8.6 erkennbar wird, gleichzeitig die Bedeutung der Zugtiere wie auch der menschlichen Arbeit. Das Zugvieh verschwand praktisch vollständig aus der landwirtschaftlichen Produktion, während die Bedeutung menschlicher Arbeit stark marginalisiert wurde, wenn sie auch nicht vollkommen eliminiert werden konnte. Wie diese Relationen sich verschoben, kann an einem Beispiel illustriert werden. Ein Pfluggespann mit zwei Pferden hatte eine installierte Leistung von etwa 1500 W (zwei Pferde à 700 W und der Bauer mit 100 W). Der Anteil der menschlichen Arbeit lag also bei knapp 7 % , und dabei handelte es sich nicht nur um die Steuerung des Gespanns, sondern um schwere physische Arbeit. Ein Traktor mit einer Leistung von 100 kW wird noch immer von einem Menschen gefahren, der aber selbst nur eine Leistung von weniger als 100 W, also von einem Tausendstel stellt, und der vor allem als Steuerungszentrum fungiert. Am logischen Ende dieses Prozesses steht die völlige Verdrängung menschlicher Arbeit aus der physischen Produktion. Das klingt heute noch utopisch, aber ebenso utopisch hätte im 19. Jahrhundert die Prognose gewirkt, daß im 21. Jahrhundert nur mehr etwa 1 % der Arbeitsbevölkerung in der Lage sein werde, nicht nur ausreichend Nahrung für die restlichen 99 % zu erzeugen, sondern darüber hinaus auch Überschüsse zu erwirtschaften. Vielleicht bildet der Industriearbeiter in hundert Jahren ein ähnlich schützenwertes Relikt einer verschwundenen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung wie heute der Bauer.
327
Die Ära der Industriegesellschaft
Abb. 8.6: Mechanisierung der Landwirtschaft in Österreich
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Im Rahmen der Entwicklung der „Industriegesellschaft" lassen sich in mancherlei Hinsicht unterschiedliche Phasen unterscheiden, die auch von stofflichen Diskontinuitäten gekennzeichnet sind und in der Debatte um eine umweltgeschichtliche Periodisierung eine Rolle spielen. Christian Pfister hat das Modell des „1950er Syndroms" in die Diskussion eingeführt, in dem gezeigt werden soll, daß das „ancien régime écologique" erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu Ende ging, d. h. daß seit den 1950er Jahren eine neue Epoche der Energieumsätze und Stoffdurchsätze begonnen hat, die auf der Ausbreitung einer neuen Mineralölbasis der Ökonomie beruht. Auch unsere Rekonstruktion der Transformation des sozialmetabolischen Regimes zeigt, daß erst in dieser Zeit eine wirkungsvolle Entkoppelung auch der Landwirtschaft vom solarenergetischen Prinzip der Flächenabhängigkeit begonnen hat. Aber auch in anderen Wirtschaftsbereichen hat eine Änderung stattgefunden. Was dies bedeuten kann, soll anhand eines stofflichen Beispiels gezeigt werden. Aus Abb. 8.7 wird erkennbar, daß die globale Eisenproduktion seit dem frühen 19. Jahrhundert ein kontinuierliches exponentielles Wachstum erfahren hat, das etwa hundert Jahre andauerte und sich im frühen 20. Jahrhundert einem Ende zuneigte. Einen ähnlichen Verlauf nahm auch die Entwicklung der Kohleförderung. Zwischen 1914 und 1950 nahm die Welteisenproduktion dann einen unein-
328
Transformation des sozialmetabolischen Regimes
Abb. 8.7: Globale Produktion von Roheisen
Quellen: Poth 1971; United Nations, Statistical Yearbooks; I I S ! 2004
heitlichen Verlauf mit starken Schwankungen, wie sie weder im 19. Jahrhundert noch danach zu beobachten sind. A b 1950 kam es dann zu einer zweiten kontinuierlichen Wachstumsphase, die sich seit Beginn der 1980er Jahre wieder abflachte und seitdem keine vergleichbar hohe Rate mehr zeigt. E i n ähnlicher V e r lauf läßt sich für andere Metalle (und mit Modifikationen auch für Energieträger) demonstrieren. Es bieten sich zwei unterschiedliche Erklärungen für diesen V e r lauf an: 1. Es handelt sich um einen langanhaltenden Wachstumstrend, der im frühen 19. Jahrhundert einsetzte und erst im späten 20. Jahrhundert Anzeichen für eine Abflachung zeigt. D i e Schwankungen zwischen 1914 und 1950 können dann als Ergebnis einer exogenen Störung durch die beiden Weltkriege und die dazwischen liegende Zeit politischer U n r u h e n interpretiert werden. N a c h Abschluß dieser Störphase setzte sich dann das Wachstum mit einer Rate fort, die wieder an den T r e n d des 19. Jahrhunderts anschloß. W i r hätten es also mit einem sehr starken autodynamischen Prozeß zu tun, der selbst von so massiven Ereignissen wie dem „Weltbürgerkrieg" des 20. Jahrhunderts zwar gestört, nicht aber wirklich gebrochen werden konnte. Allerdings könnte dann die Abflachung während der letzten 25 Jahre, die ja keinesfalls von exogenen Störungen bewirkt wurde, als
Die Ä r a der Industriegesellschaft
329
Ausdruck des Beginns einer endogenen Einmündung auf ein stabiles Niveau verstanden werden. 256 2. Es handelt sich um die Uberlagerung zweier Industrialisierungsphasen: Die erste von der Steinkohle getriebene Phase begann sich zu Beginn des 20. Jahrhundert abzuflachen und war vielleicht auf dem Pfad zur Stabilisierung auf einem „industriegesellschaftlichen" Niveau, das Züge der Stabilisierung hervorbrachte. 257 Aus dieser Perspektive könnte der „Weltbürgerkrieg" als politischer Ausdruck eines anstehenden Ubergangs zum stationären Zustand interpretiert werden, der sozialpolitisch von der Dominanz des „Arbeiters" (in Kombination mit dem „Bauern") geprägt worden wäre und der sich ideologisch in verschiedenen Programmen des Sozialismus ausdrückte. Die Schwankungen zwischen 1914 und 1950 wären dann nicht so sehr Ergebnisse einer exogenen Störung, sondern es zeigten sich in ihnen die Anpassungsschmerzen einer Ökonomie, die sich anschickte, den „progressive state" zu verlassen. Diese „Industriegesellschaft" hätte dann in der Tat noch immer in starkem Maße auf Biokonversion beruht, und die weitgehend ausgereizte solarenergetische Landwirtschaft hätte diesem Konversionsmuster eine Obergrenze gesetzt. Die Wachstumsphase nach 1950 könnte dann tatsächlich im Sinne von Pfisters „1950er Syndrom" als Beginn einer neuen Ära verstanden werden, die in energetischer Hinsicht auf der Nutzung neuer Energieträger (Erdöl, Erdgas, Kernenergie) beruhte, die Landwirtschaft transformierte und die Biokonversion endgültig marginalisierte. Wir hätten es also nicht mit einem einzigen langanhaltenden Wachstumstrend zu tun, der lediglich exogen gestört wurde, sondern mit der Uberlagerung zweier Wachstumstrends, wobei die Schwankungszone eben Ausdruck einer Unsicherheit zwischen der Einmündung in einen stationären Zustand und dem Start einer neuen Wachstumsphase gewesen wäre. Aus dieser Perspektive könnte dann die Abflachung seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert als Beginn des Abschlusses einer langandauernden Phase interpretiert werden, also als Beginn des Endes der Transformation, wobei offen bleibt, ob sich ihr eine dritte Wachstumsphase anschließen könnte.
256 Allerdings gibt es in den letzten Jahren wieder Ansätze zu einem stärkeren Wachstum im Zuge der Industrialisierung von Schwellenländern, so daß hier das letzte W o r t noch nicht gesprochen ist. 257 Nach Rüfenacht 2004 gibt es Indizien dafür, daß sich der Wachstumstrend der britischen Kohleindustrie bereits um 1890 abflachte, was als Beginn einer Trendumkehr interpretiert werden kann.
330
Transformation des sozialmetabolischen Regimes
8.5. Das Ende der Transformation Es steht außer Frage, daß das Wirtschaftswachstum des 19. und 20. Jahrhunderts von der Nutzung fossiler Energieträger alimentiert wurde. Allerdings konnten zahlreiche technisch-industrielle Innovationen des frühen 19. Jahrhunderts ein Stück weit auch ohne energetischen Systemwechsel stattfinden. Ohne die energetische Transformation hätte man sich eine „gewerbliche Evolution" vorstellen können, die dem Innovationsmuster der Agrargesellschaften gefolgt wäre, also eine „Smith'sche", auf differenzierter Arbeitsteilung beruhende Industrialisierung auf solarenergetischer Basis. Man kann darüber spekulieren, wo die Grenzen eines solchen Prozesses lagen, ob es etwa stoffliche Engpässe gab, die auf solarenergetischer Basis nicht zu überwinden waren. Kandidaten für solche Engpässe sind die Versorgung mit mechanischem Antrieb, der Ferntransport und die Metallurgie. Interessant wären aber auch kontrafaktische Spekulationen darüber, ob eine Entwicklung der Elektrotechnik oder gar der Elektronik auf Basis von Solarenergie möglich gewesen wäre, oder ob nicht der Vorlauf von WärmeKraft-Maschinen sowie das metallurgische Potential der Kokseisenproduktion Voraussetzungen dafür bildeten. Die reale „Industrielle Revolution" entstand jedenfalls durch die Koinzidenz beider Prozesse. Ohne Kohle hätte es bestenfalls rasch in einen stationären Zustand einmündende Wachstumskaskaden im Sinne der klassischen Politischen Ökonomie gegeben, nicht aber den stetigen Wachstumsprozeß, der die beiden letzten Jahrhunderte gekennzeichnet hat. Das neue fossile Energiesystem schuf Rahmenbedingungen, die eine gründliche Umwälzung aller wesentlichen physischen Parameter gestattete. Es kam zu einem globalen Bevölkerungswachstum um das Zehn- bis Fünfzehnfache derjenigen Menschenzahl, die im Rahmen der Agrarsystems ernährt werden konnte. Zugleich stieg der Durchfluß von Stoffen durch das soziale System, was zur Steigerung des materiellen Lebensstandards führte. Buchstäblich alles wurde mobil gemacht. Die Menschen, die Materialien, schließlich auch die Ökosysteme und damit Tier- und Pflanzenarten gerieten in Bewegung. Da mit Steinkohle, Erdöl und Erdgas ein beschränkter Bestand von Ressourcen verbraucht wird, kann dieses System (im Gegensatz zur solarenergiebasierten Landwirtschaft) nicht auf dem jeweils erreichten Niveau auf Dauer gestellt werden, sondern es ist zu einer permanenten „Flucht nach vorn" genötigt, zu einer Spirale von Erschöpfung, Substitution und Innovation. Dies führt zu einer nie dagewesenen Dynamik, zwingt es aber auch dazu, diese Dynamik nicht abbrechen zu lassen. In universalgeschichtlicher Sicht bedeutet dies, daß wir inmitten einer Singularität leben, deren Abschluß in nicht allzu großer Ferne liegen dürfte, also vielleicht in hundert Jahren erreicht sein wird. Von Grenzen des Wachstums ist schon seit langem die Rede, doch wird in einer sozialmetabolischen Perspektive deutlich, daß es sich hierbei tatsächlich um eine unvermeidliche Entwicklungs-
331
Das Ende der Transformation
perspektive handelt, sofern „Wachstum" mit physischen Prozessen verbunden ist. Dies wird plausibel, wenn wir betrachten, zu welchen Wachstumsfaktoren auch recht moderate jährliche Wachstumsraten längerfristig führen müssen.
Tab. 8.2: Wachstumsfaktoren bei jährlichen Wachstumsraten258 Jahre
1%
1,5%
2%
3%
100
2,7
4,4
7,2
19
200
7,3
19,6
52
369
300
19
87
380
7.098
500
144
1.710
20.000
2,6 Mio.
21.000
2,9 Mio.
4 χ 108
6,8 χ 1 0 1 2
1000
Eine Wachstumsrate von weniger als 1,5 % gilt heute als krisenträchtige Stagnation, d. h. nur Zuwachsraten der Wirtschaft, die deutlich über einem Prozent liegen, können als Steuerungsgrößen gelten, die eine mit Wirtschaftswachstum verbundene wohlfahrtssteigernde und sozial harmonisierende Funktion ausüben. Auf der anderen Seite kann nicht übersehen werden, daß eine Wachstumsrate von über 3 % innerhalb recht kurzer Zeiträume zu astronomisch hohen Zuwachsfaktoren führen muß, so daß ein solcher Prozeß in einer endlichen physischen Welt nicht längerfristig möglich ist. Wachstum mit einer realistischen Marge, das mit einem realen, physischen Zuwachs der Produktion verbunden ist (wie dies während der letzten 180 Jahre der Fall war), kann daher nur innerhalb eines recht kleinen Zeitfensters stattfinden. Die Periode eines kontinuierlichen exponentiellen (und nicht-konventionellen, also mit physischen Materialumsätzen verbundenen) Wirtschaftswachstums kann bei maximal 300 Jahren liegen. 259 Wenn sie vor etwa 200 Jahren begonnen hat, bedeutet dies, daß sie im Verlauf des nächsten Jahrhunderts zu Ende gehen wird. Es handelt sich somit bei Wirtschaftswachstum um eine historische Singularität bzw. um den Ausdruck einer Transformationsphase, nicht aber um die Ei-
258 Angenommen wird diskretes jährliches Wachstum nach der Formel F = (l+p/lOO) 1 . Bei kontinuierlichem Wachstum errechnet sich der Faktor nach F = e P t / 1 0 °. Die Ergebnisse liegen jedoch eng beieinander 259 Wirtschaftswachstum in einem konventionellen Sinn, also Wachstum von wirtschaftlichem Nutzen, das nicht mit Energieumsätzen und Stoffverbrauch einhergeht, kann natürlich beliebig lange stattfinden. Man sollte bei solchen Visionen einer Entmaterialisierung des Wachstums aber nicht aus dem Auge verlieren, daß das reale Wachstum der Industrialisierungsperiode tatsächlich mit einem Zuwachs physischer Umsätze verbunden war, die in der gleichen Größenordnung lagen wie das nominelle Wachstum.
332
Transformation des sozialmetabolischen Regimes
genschaft eines stabil strukturierten sozialmetabolischen Regimes, das in physischer Hinsicht nicht dauerhaft wachsen kann, sondern stationär sein muß. Dies bedeutet ironischerweise, daß die klassischen Ökonomen Adam Smith, David Ricardo, Thomas Malthus und John Stuart Mill prinzipiell recht hatten, nur eben die Dauer des „progressive state" unterschätzt haben. Retrospektiv hat dies einige Konsequenzen. Phasen des Wachstums hat es in der Vergangenheit vermutlich immer wieder gegeben, d. h. es ist zu beobachten, daß Menschen wiederholt in Situationen gerieten, in denen es ihnen möglich wurde, nicht nur ihre Bevölkerungszahl, sondern auch den Pro-Kopf-Durchfluß von Materialien und Energie zu vermehren. Dies ist prinzipiell unter zwei Bedingungen möglich: 1. In einer Pioniersituation kann eine bislang ungenutzte Ressource erschlossen werden, die zunächst im Uberfluß zur Verfügung steht und deren Verbrauch das Wachstum alimentiert. Dies war zum Beispiel die Situation der Maori, als sie vor tausend Jahren nach Neuseeland kamen. Dort stießen sie auf eine Fauna von großen Laufvögeln, die noch nie ein Säugetier, geschweige denn einen Primaten gesehen hatten. Die Maori waren auf ein Jägerparadies gestoßen: Ungeheure Mengen an Wild ohne Fluchtinstinkte, das man ohne großen Aufwand erbeuten konnte. Diese Bonanza dauerte allerdings nicht sehr lange aber wohl doch einige Generationen. Wenn es Ökonomen unter den Maori gegeben hätten, so wären von diesen sicherlich Wachstumstheorien entwikkelt worden. Irgendwann war diese Phase aber zu Ende, die Vögel waren ausgerottet, und die Maori mußten zu nachhaltigeren Methoden der Wirtschaft übergehen, also den Pfad des ressourcenverbrauchenden Wachstums wieder verlassen. 2. Durch technischen Fortschritt ist es möglich, nicht etwa Bestände rasch zu verbrauchen, sondern sich effizienter in Flüsse einzuschalten. Dies war eine wichtige Strategie der agrargesellschaftlichen Innovation. Wenn es gelang, neue Pflanzen zu kultivieren, neue Methoden des Fruchtwechsels zu entwikkeln oder den vom Menschen nutzbaren Anteil der Biomassenproduktion zu erhöhen, dann konnte es „Wachstum" geben. Dieses technologiegestützte Wachstum stand allerdings grundsätzlich vor dem Problem abnehmender Grenzerträge, d.h. ein kontinuierlicher Wachstumspfad wäre darauf angewiesen gewesen, daß es gelang, den technischen Fortschritt schneller stattfinden zu lassen, als die Grenzerträge sinken. Hier läge also ein theoretischer Ausweg aus der agrargesellschaftlichen Wachstumsfalle, doch ist historisch kein Fall bekannt, wo dies über längere Zeiträume hinweg der Fall gewesen wäre. Uber kürzerer Perioden von einigen Jahrzehnten oder vielleicht auch über zwei bis drei Generationen hinweg war ein solches innovationsgestütztes Wachstum aber auch in der Vergangenheit möglich.
Das Ende der Transformation
333
Die industriegesellschaftliche Wachstumsperiode der letzten 200 Jahre, inmitten deren wir heute noch stecken, beruht auf einer Kombination der beiden Wachstumsmöglichkeiten. Die Nutzung fossiler Energieträger hat eine klassische Pioniersituation eingeleitet, in der man auf einen sehr großen Bestand gestoßen ist, der konsumiert wird. Insofern unterscheidet sich die Industriegesellschaft zunächst nicht von der Strategie der Maori. Es kommt jedoch ein zweites Element hinzu: Die fossilen Energieträger können nur genutzt werden, weil Techniken zur Verfügung stehen, die dies gestatten. Ohne die Wärme-Kraft-Maschine und ohne geeignete Verhüttungstechniken für Eisen und eine Vielzahl anderer technischer Geräte und Verfahren hätte sich der sporadische Gebrauch von fossilen Energieträgern nicht zu einem fossilen Energiesystem formiert. Das Geheimnis der Industrialisierungsepoche liegt in der Kombination dieser beiden Faktoren, die sich wechselseitig verstärkten und aus denen sich das neue Wachstumsmuster formierte. Es wurde nicht nur nach dem Maorimuster ein Bestand verzehrt, sondern im Zuge des Verzehrs von Beständen wurden Techniken entwickelt, die ihrerseits in positive Rückkoppelungsschlaufen gerieten. Die industrielle Transformation ist daher nicht nur ein einmaliger kurzer Rausch des Konsums von Naturgütern, sie ist zugleich eine Epoche rapider, sich beschleunigender technischer Innovation. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß die Materialisierung technischer Innovationen ihrerseits auf der Mobilisierung von Materialien beruht, die von der energetischen Seite alimentiert wird. Viele der technischen Innovationen, deren Zukunft in großer Energieeffizienz liegen könnte, wären unter den Bedingungen der Energieknappheit, wie sie Agrargesellschaften inhärent sind, nicht möglich gewesen. Dies ist andererseits der Grund, weshalb die industrielle Transformation nicht nur eine kurze Blase sein muß, die nach dem Verbrauch der fossilen Energieträger platzen wird (so die Vision von Jevons 1865) mit der Folge, daß man zur Armut und Immobilität der Agrargesellschaft zurückkehren muß, in ein zweites Solarenergiesystem, das wieder von den Grausamkeiten der prädatorischen Rentensuche geprägt sein wird. Das fossile Intermezzo wird als Erbschaft nicht nur leere Rohstofflagerstätten hinterlassen, sondern auch viel know how, das anders als auf diesem historischen Umweg nicht hätte gewonnen werden können. Entscheidend wird aber vermutlich sein, daß im Zuge der fossilenergetischen Transformation Verfahren zur Erzeugung von wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Innovationen entstanden sind, deren Existenz nicht an das fossile System gebunden ist. Die rapide industrielle Transformation der letzten 200 Jahre hat zahlreiche neue Pioniersituationen geschaffen, die nicht von Dauer sind und es auch nicht sein können. In vielerlei Hinsicht konnten die Menschen in der Frühphase der Industrialisierung von singulären Innovationseffekten profitieren, die sie als Ubergang in ein neues Stadium totaler Naturbeherrschung und eines dauerhaft wachsenden Lebensstandards interpretierten. Zu diesen Pioniereffekten gehört nicht
334
Transformation des sozialmetabolischen Regimes
nur die leichte und billige Verfügbarkeit erschöpflicher ökonomischer Ressourcen (Kohle, Erdöl, Erdgas, Erze etc.), sondern vieles mehr: 260 -
-
-
-
Vorkommen fossiler Wasservorräte, die in Zeiträumen verbraucht werden, die um Größenordnungen kürzer sind, als für ihre Bildung erforderlich war; eine hohe Biodiversität als Erbe differenzierter Ökosysteme, die mit deren anthropogener Nivellierung rapide abnimmt; große Bestände an fruchtbaren Böden, die durch die mechanisierte Landwirtschaft einer beschleunigten Erosion ausgesetzt werden und dadurch drastisch zurückgehen; rasche Erfolge gegen die herkömmlichen Infektionskrankheiten der Menschen durch Chemotherapie und Antibiotika, auf die die Erreger mit einer evolutionären Verzögerung von mehreren Jahrzehnten reagierten; massive Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft, unter anderem verursacht durch neuartige Methoden des „Pflanzenschutzes", also der Monopolisierung der Erträge für den Menschen, worauf die parasitären Konkurrenten mit einer vergleichbaren evolutionären Zeitverzögerung reagierten; Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre für anthropogene Gasimmissionen, deren Auswirkungen erst ab einer bestimmten Konzentrationsgrad spürbar werden und sich heute als „Ozonloch" oder „Klimaänderung" geltend machen.
In vieler Hinsicht befand sich die Menschheit in den letzten hundert bis zweihundert Jahren in einer Phase höchsten Wachstums (nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der technisch-ökologischen Kompetenz), wie sie Pioniersituationen eigen ist. Seit einiger Zeit mehren sich im Zeichen der „Umweltkrise" die Anzeichen dafür, daß limitierende Faktoren ins Spiel kommen: Die Ressourcendichte nimmt ab, die Deponien füllen sich, es entstehen neuartige Komplexitätsprobleme in den Wissenssystemen, die den wissenschaftlich-technischen Fortschritt verlangsamen, und zunehmend treten unerwartete Reaktionen kolonisierter Funktionsbereiche auf. Dies bedeutet, daß der Aufwand zur Erhaltung der bereits kolonisierten Zonen immer weiter wächst, ohne daß damit ein positiver Nutzenzuwachs verbunden wäre. Es ist ohne weiteres denkbar, daß man nach Abschluß der Pionierphase in eine Situation gerät, in der der physische Lebensstandard wieder sinkt. In universalhistorischer Perspektive war das Zeitfenster der Pionierphase der Industrialisierung sehr klein, und für nicht wenige Bewohner der Erde bedeutet dies, daß sie erst zu einem Zeitpunkt mit dem neuen Regime in Berührung kommen, da dessen glückliche Periode sich bereits dem Ende nähert.
260 Zahlreiche Beispiele für solche Effekte finden sich bei McNeill 2000.
9
Anhang
9.1. Gesellschaftlicher Stoffwechsel und Materialund Energieflußanalyse (MEFA) Diese Arbeit, und insbesondere die in den Kapitel 5 bis 7 vorgestellten empirischen Fallstudien, folgen einer in der modernen Umweltforschung (etwa im Forschungsfeld der „Industrial Ecology") weit verbreiteten Konzeption von gesellschaftlichem Metabolismus und dem dazugehörigen Methodeninventar der Material- und Energieflußrechnung (MEFA). Die Grundannahme des Konzepts gesellschaftlicher Stoffwechsel lautet, daß Gesellschaften zur Produktion und Reproduktion ihrer biophysischen Strukturen (ζ. B. Bevölkerung, Artefakte) auf einen dauerhaften Durchsatz von Material und Energie angewiesen sind. Die Entnahme von Material und Energie aus der Umwelt, deren innergesellschaftliche Bearbeitung und Umwandlung, der materielle und energetische Austausch mit anderen sozioökonomischen Systemen und die Entsorgung von Abfällen und Emissionen an die Umwelt werden als gesellschaftlicher Metabolismus beschrieben. Untersucht werden diese physischen Eigenschaften sozioökonomischer Systeme mit dem Methodeninventar der Material und Energieflußanalyse 261 , das allerdings für die historische Analyse entsprechend adaptiert wurde. Die Material und Energieflußanalyse (MEFA) bildet ein Methodenbündel, das im Rahmen der Umweltberichterstattung als physisches Pendant der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in den 1990er Jahren entwickelt wurde. 262 Die Material- und Energieflußrechnung liefert einerseits hochaggregierte Indikatoren, zum Beispiel den „Inländischen Materialverbrauch". In Analogie zu den monetären Informationen des BIP gibt dieser Indikator Auskunft über die physischen Dimensionen eines Wirtschaftssystems. In der Umweltdebatte wird anhand des Inländischen Materialverbrauchs diskutiert, ob in einer Volkswirtschaft eine relative bzw. absolute Entkoppelung von Wirtschaftwachstum und Materialdurchsatz (also Dematerialisierung, vgl. Hinterberger und SchmidtBleek 1999) stattfindet. Andererseits stellt die Material- und Energieflußrechnung eine umfangreiche und systematische Datenbasis auf niedriger bis mittlerer Aggregationsebene zur Verfügung, die die Bearbeitung unterschiedlicher Frage-
261 Zu den Methoden der Material- und Energieflußanalyse siehe etwa A y r e s und A y r e s 1998; Daniels und Moore 2001; Haberl 2001; Schandl et al. 2002. 262 Die Methodik der Energieflußrechnung hat bereits eine längere Geschichte und gehört mit den sogenannten nationalen Energiebilanzen bereits seit mehreren Jahrzehnten zum Standardinventar der amtlichen Statistik.
336
Anhang
Stellungen zu den biophysischen Aspekten gesellschaftlicher Entwicklung und zur Interaktionen von Gesellschaft und Natur erlaubt. Mittlerweile ist die MEFA ein etabliertes Instrument in der Nachhaltigkeitsforschung und in der amtlichen Berichterstattung. Material- und Energieflußrechungen werden in standardisierter Form von nationalen statistischen Amtern und internationalen Organisationen durchgeführt, und für eine Vielzahl von Ländern und anderen regionalen Einheiten (Regionen, Städten, Gemeinden) liegen bereits MEFA Daten vor. 263 Lange historische Reihen, wie sie in diesem Band präsentiert werden, sind allerdings neu und erfordern auch eine entsprechende Anpassung der Methodik. Das betrifft insbesondere Material- und Energieflüsse, die in modernen Industriegesellschaften von untergeordneter Bedeutung sind, wie tierische Arbeit oder subsistenzwirtschaftliche, nicht marktförmig geregelte Flüsse, die in vergangenen Gesellschaften von beträchtlicher quantitativer Bedeutung sein können. Darüber hinaus sind langfristige Veränderungen im gesellschaftlichen Metabolismus in engem Zusammenhang mit Veränderungen der Landnutzung zu sehen, was sich in historischen Anwendungen der MEFA-Methodik widerspiegelt. Die hier präsentierten Daten folgen im wesentlichen der international standardisierten MEFA-Methodik, die in manchen Teilbereichen allerdings an die Erfordernisse einer langen historischen Perspektive angepaßt und erweitert werden mußte (vgl. Haberl 2001; Krausmann 2001b; Schandl und Schulz 2001). Die MEFA-Methodik ist im Hinblick auf die gesetzten Systemgrenzen so konzipiert, daß die physischen Parameter und Indikatoren konsistent mit anderen sozioökonomischen Parametern verknüpft werden können, insbesondere solchen aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Abbildung 9.1 zeigt in verallgemeinerter Form die grundlegenden Systemgrenzen, Parameter und Indikatoren der Material- und Energieflußrechnung. Grundsätzlich sind folgende physische Austauschbeziehungen zu unterscheiden: •
Austauschbeziehungen zwischen sozioökonomischen Systemen und der ihnen zugeordneten Umwelt: Inländische Entnahme von Material bzw. Energie und Abgabe von Emissionen und Abfällen an die inländische Natur. Die natürliche Umwelt eines sozioökonomischen Systems ist in der MEFA territorial definiert, d. h. die Grenzziehung folgt politischen bzw. administrativen
263 Zur Material- und Energieflußrechnung in der amtlichen Statistik siehe etwa Eurostat 2002; D E T R / O N S / W I 2001; Schandl et al. 2000; IEA 2004.
Gesellschaftlicher Stoffwechsel
337
Abb. 9.1: Schematische Darstellung des Bilanzierungsrahmens der Material- und Energieflußrechnung Nationale Grenze
Bilanzierungsgrößen
Bilanzierungsgrößen
Ökonomische Aktivität
Bestandsveränderung Inländische rie\ Material- u. \ EnergieJ entnähme /
Importe
>
MaterialBestände (Gebäude, Straßen, Produktionsmittel, Gebrauchsgüter, Menschen, Nutztiere)
Abfälle, Emissionen, Abwärme Exporte
>
Grenzen bzw. entsprechenden Nutzungsrechten. Alles, was von einer Gesellschaft an Material und Energie auf dem ihr zugerechneten Territorium extrahiert wird, zählt als Naturentnahme. Z u m Bereich der Gesellschaft werden neben der menschlichen Population und sämtlichen Artefakten auch die Nutztiere gerechnet. Daher werden zur inländischen Entnahme nicht nur die von der Bevölkerung unter Einsatz von Arbeit und Technologie angeeigneten Materialien und Energie gerechnet, sondern auch die von den Nutztieren etwa über die Weide aufgenommene Biomasse. Wasser (Trinkwasser, K ü h l wasser, Bewässerung) und Luft (ζ. B. Atemluft, Luft die in industriellen P r o zessen durchgesetzt wird) sind definitionsgemäß zwar Teil des gesellschaftlichen Metabolismus, werden aber aufgrund der G r ö ß e dieser Materialströme i. a. nicht explizit ausgewiesen. Als Abgabe an die N a t u r gelten alle Arten von Abfall, Abwasser und Emissionen die innerhalb der territorialen Grenzen des sozioökonomischen Systems an die natürliche U m w e l t abgegeben werden. Zu den Abgaben an die Natur zählen aber auch die gezielte Ausbringung von
338
Anhang
Material (wie ζ. B. von Düngemitteln und Pestiziden). Abgaben an die Natur wurden in dieser Arbeit nur in einigen wenigen Fällen untersucht. •
•
Austauschbeziehungen zwischen sozioökonomischen Systemen: Importe und Exporte von Material und Energie. Die Abgrenzung zwischen sozioökonomischen Systemen folgt der Definition der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Die Erfassung erfolgt beim Uberschreiten der politisch-administrativen Systemgrenze, im Unterschied zur VGR werden Importe und Exporte allerdings in physischen Einheiten (ζ. B. Tonnen, Joule) und nicht in Geldeinheiten gemessen. Austauschbeziehungen innerhalb eines sozioökonomischer Systems: Interne Flüsse von Material und Energie. Dazu gehören sämtliche physischen Austauschprozesse im Rahmen ökonomischer oder biologischer Prozesse, wie sektorale Flüsse oder die menschliche Nahrungsaufnahme, sowie der Aufund Abbau physischer Bestände (Gebäude, langlebige Gebrauschsgüter). In dieser Arbeit haben wir uns vorwiegend auf Umwandlungsprozesse von Energie, also die Unwandlung von Primär in End- und Nutzenergie konzentriert.
Aus den MEFA Datensätzen lassen sich verschiedene Indikatoren zur Beschreibung der physischen Seite von Wirtschaftsprozessen ableiten. Zu den wichtigsten, auch in dieser Arbeit verwendeten Indikatoren, gehören: 264 • • •
Direkter Material bzw. Energieeinsatz: die Summe aus inländischer Entnahme und den importierten Mengen an Material bzw. Energie. Inländischer Material- bzw. Energieverbrauch: Inländische Entnahme zuzüglich Importe abzüglich Exporte von Material bzw. Energie. Physische Handelsbilanz: Importierte minus exportierte Material bzw. Energiemengen.
Darstellung von MEFA Ergebnissen
Auf der höchsten Aggregationsebene werden vier Materialkategorien getrennt ausgewiesen: Biomasse (Nahrung, Futter, Holz, sonstige Biomasse), fossile Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas, Torf), Industriemineralien (Erze, nichtmetallische Mineralien) und Baumaterialien (Sande und Gesteine). Die Materialflußrechnung wird grundsätzlich in Masseneinheiten (Tonnen) und die Energieflußrechnung in Energieeinheiten (Joule) dargestellt. Die Darstellung kann in absoluten Größen, also Tonnen oder Joule erfolgen, oder in relativen Größen, das
264 Einen Überblick über M F A Indikatoren liefern Weisz et al. 2005; Schandl et al. 2002.
Gesellschaftlicher Stoffwechsel
339
heißt bezogen auf die Bevölkerung (t/Person; GJ/Person), bezogen auf die Landesfläche (t/ha; GJ/ha) oder das BIP (t/US$; GJ/US$). Grundsätzlich sind Material- und Energieflußrechnung über den spezifischen Energiegehalt der Materialien ineinander überführbar. Sie weisen einen großen Uberschneidungsbereich auf, bilden aber jeweils auch spezifische Flüsse exklusiv ab, d. h. es gibt Materialien, die nicht in eine Energieflußrechnung aufgenommen werden (wie ζ. B. die meisten Industrie- und Baumineralien) bzw. es gibt Energieflüsse, die nicht in Masse bewertet werden können (ζ. B. Elektrizität). Darüber hinaus erzeugt die Abbildung als Material- bzw. Energieflüsse über den materialspezifischen Brennwert eine unterschiedliche Gewichtung der Flüsse in den beiden Berechnungen (ζ. B. eine Tonne Holz entspricht 15 GJ, eine Tonne Erdöl 44 GJ). Die Primärdaten aus der amtlichen Statistik liegen üblicherweise in Tonnen Frischgewicht (Gewicht zum Zeitpunkt der Ernte, bzw. zum Zeitpunkt des Grenzübertritts im Fall von Importen und Exporten), bzw. Volumens- oder Energieeinheiten (Raummeter, Festmeter, Liter, GWh) vor. In der Materialflußrechnung werden die Materialien in Tonnen (mit standardisiertem Wassergehalt, meist Frischgewicht) dargestellt. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf einer Betrachtung der Entwicklung des Energiesystems, daher erfolgt die Darstellung der Daten zumeist in Joule. 265 Im Unterschied zur Energiebilanz in der amtlichen Statistik, die üblicherweise in „Heizwert" oder dazu äquivalenten Einheiten (Rohöläquivalent, Steinkohlenäquivalent) berichtet, wird in der MEFA der Brennwert zur Darstellung des Energiegehaltes verwendet. 266 Dieser liefert ein realistischeres Bild des Energiegehaltes und wird auch in der Ökosystemforschung als Maßeinheit verwendet. Die Brennwerte liegen um 5 - 1 0 % über den entsprechenden Heizwerten (Haberl 2001). Tabelle 9.1 gibt einen Uberblick über die Brennwerte wichtiger Materialien. Der Inländische Primärenergieumsatz entspricht dem in der Energiestatistik 267 verwendeten Begriff Total Primary Energy Supply (TPES), der Endenergieumsatz (DEC E n d ) der Final Energy Consumption (FEC). Grundsätzlich können MEFA Daten in sehr unterschiedlicher Form genutzt und aggregiert werden, so zum Beispiel auch in Tonnen Kohlenstoff oder in Ton-
265 Joule ist eine sehr kleine Einheit, daher wird meist mit G J (10 9 Joules) bzw. PJ (10 1 5 Joules) gearbeitet. 266 Der Brennwert (früher auch oberer Heizwert genannt) eines Brennstoffes gibt die W ä r memenge an, die bei Verbrennung und anschließender Abkühlung der Verbrennungsgase auf 25 °C erzeugt wird. Er berücksichtigt sowohl die notwendige Energie zum Aufheizen der Verbrennungsluft und der Abgase, als auch die Verdampfungs- bzw. Kondensationswärme von Flüssigkeiten, insbesondere Wasser. Im Gegensatz dazu bezeichnet der (untere) Heizwert die nutzbare Wärmemenge bei Freisetzung heißer Abgase. Der Heizwert ist deshalb etwas geringer als der Brennwert. 267 Vgl. IEA 2004.
340
Anhang
Tab. 9.1: Wassergehalt und Brennwerte von verschiedenen biogenen und fossilen Materialien Wassergehalt
Brennwert bezogen auf Frischgewicht [MJ/kg]
Brennwert bezogen auf Trockenmasse [MJ/kg]
Weizen
14%
15,7
18,3
Roggen
14%
15,4
17,9
Gerste
14%
15,7
18,2
Hafer
14%
16,2
18,8
Körnermais
14%
15,9
18,5
Kartoffeln
78%
3,7
16,8
Zuckerrüben
77%
5,3
16,0
80-95%
1-3,7
18,5
Heu
14%
15,4
17,9
Stroh
14%
15,4
17,9
Holz
25%
14,6
19,5
Gemüse, Obst
Braunkohle
13,0
Steinkohle
29,1
Erdöl
44,7
Erdgas
35,2
Quelle: Haberl 1995; Schandl et al. 2002
nen Stickstoff, in einer Gewichtungen nach bestimmten Nutzungen (etwa in Nährwert für den Menschen) oder bezüglich ihrer Umweltwirkungen (Giftigkeit). Auch in dieser Arbeit greifen wir auf solche Unterscheidungen zurück.
9.2. Definitionen In der MEFA ist der Energiebegriff weiter gefaßt als in der klassischen nationalen Energiebilanz der statistischen Amter und der Energieagenturen. In herkömmlichen Energiebilanzen 268 wird i. a. nur technische Energie, also fossile Energieträger, Brennholz, Wasser- und Windkraft berücksichtigt. Landwirtschaftliche Biomasse, die Primärenergie zur Erzeugung menschlicher und tierischer Arbeit -
268 Vgl. IEA 2004; UN 2002; Statistik Austria 2005.
Definitionen
341
und damit eine der wichtigsten Energieformen in vorindustriellen Energiesystemen - werden üblicherweise nicht mit einbezogen. In der M E F A hingegen werden grundsätzlich alle potentiellen Energieträger ungeachtet ihrer letztendlichen Verwendung berücksichtigt, also auch die gesamte land- und forstwirtschaftliche Biomasse. Abgesehen davon ist die M E F A mit den Konzepten technischer Energiebilanzen voll kompatibel. Primärenergie: Als Primärenergie bezeichnet man Energieformen, die von der Gesellschaft keiner beabsichtigten Umwandlung unterzogen wurden. Primärenergie inkludiert alle potentiell energetisch nutzbaren Materialien - ungeachtet ihrer letztendlichen energetischen oder stofflichen Verwendung. Unter Primärenergie wird, entsprechend den M E F A Systemgrenzen, in dieser Arbeit die gesamte landwirtschaftliche Biomasse (Haupternteprodukte, genutzte Erntenebenprodukte, geweidete Biomasse), Holz (Brennholz, Werkholz), fossile Energieträger (Torf, Braunkohle, Steinkohle, Erdöl, Erdgas), sowie das Primärenergieäquivalent 2 6 9 von Strom aus Wasserkraft und Kernkraft, Solarenergie und Windkraft verstanden. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß in die Berechnung des inländischen Primärenergieumsatzes Importe und Exporte in der jeweils gehandelten Form eingehen und damit allfällige energetische Vorleistungen nicht in die Berechnung des Inländischen Primärenergieumsatzes mit einbezogen werden. Das bedeutet, daß importierter Strom oder importierte Nahrung mit dem tatsächlichen energetischen Wert zum Zeitpunkt des Grenzübertrittes berücksichtigt werden und nicht in Primärenergieäquivalente zurückgerechnet werden. Das ist konsistent mit der amtlichen Energiestatistik, kann aber zu gewissen Verzerrungen führen: Eine Stadt, die praktisch die gesamte Energie in weitgehend für die Endnutzung aufbereiteter Form importiert, wird daher einen geringeren Energieumsatz pro Kopf aufweisen, als das übergeordnete System des Nationalstaates. Die Relevanz des Parameters Primärenergie liegt vor allem in der Untersuchung von Energieflüssen zwischen Gesellschaften und ihrer natürlichen Umwelt, im Gegensatz dazu sind die Parameter End- und Nutzenergie (siehe unten) aussagekräftig, wenn es um die Untersuchung innergesellschaftlicher Energieflüsse geht. Als Endenergie bezeichnet man den Teil der Primärenergie, welcher dem Verbraucher nach Abzug von Transport- und Umwandlungsverlusten zur Verfügung steht. Die Primärenergieträger werden durch Prozesse wie Verbrennung, Spaltung oder Veredelung in Sekundärenergieträger umgewandelt. Diese U m wandlungsprozesse sind mit Verlusten behaftet. Sekundärenergieträger sind zum
269 Das Primärenergieäquivalent von Strom aus Wasser- und Kernkraft entspricht der Strommenge durch die Umwandlungseffizienz des Wasser- bzw. Kernkraftwerkes.
342
Anhang
Beispiel menschliche Nahrung, Futter für Arbeitstiere, elektrische Energie aus fossilen Energieträgern, Benzin oder Fernwärme. Durch den Transport der Sekundärenergie zum Verbraucher kommt es zu weiteren Verlusten. Die beim Verbraucher ankommende Energie bezeichnet man als Endenergie. Während in der Primärenergie sämtliche potentiellen Energieträger inkludiert sind, sind in der Endenergie nur mehr die energetisch genutzten Energieträger enthalten. Nicht energetisch genutzte Energieträger (Bau- und Industrieholz, Kunststoffe aus Erdöl, Baumwolle etc.) sind nicht enthalten oder werden getrennt ausgewiesen. Die Nutzenergie ist diejenige Energie, die dem Endnutzer für die gewünschte Energiedienstleistung zur Verfügung steht. Durch die Anwendung oder eventuell auch die Umwandlung von Endenergie gewinnt der Verbraucher Nutzenergie zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Mögliche Formen der Nutzenergie sind Wärme, Kälte, Licht, mechanische Arbeit von Maschinen, Motoren, Menschen und Nutztieren oder auch Schallwellen. Die Nutzenergie ist in den meisten Fällen kleiner als die Endenergie, da bei der Energieumwandlung weitere Verluste auftreten. Beispielsweise erzeugt eine Glühbirne nicht nur Licht, sondern strahlt den größten Teil der eingesetzten Energie in Form von Wärme ab. Die Nutzenergie kann über den Wirkungsgrad bestimmter Technologien und die dabei eingesetzte Endenergiemenge berechnet werden (Treibstoffverbrauch mal Wirkungsgrad des Verbrennungsmotors oder eingesetzte Strommenge mal Wirkungsgrad der Glühbirne oder des Elektromotors). Biomasse: Darunter wird sämtliche gesellschaftlich genutzte Biomasse aus Landund Forstwirtschaft verstanden. Das inkludiert die üblichen Haupternteprodukte (Getreide, Hackfrüchte, etc.) aber auch genutzte Erntenebenprodukte (Stroh für Streu, Futter oder energetische Nutzung), das von Nutztieren aufgenommene Futter inkl. geweideter Biomasse, alle Formen von genutztem Holz. Nicht berücksichtigt ist ungenutzte Biomasse - also Stroh das abgebrannt wird, Aste und Rinde, die nach der Holzernte im Wald verbleiben.
9.3. Quellen für die historische MEFA Österreich Wir haben für die Rekonstruktion historischer Material- und Energieflüsse versucht, weitgehend auf Primärdaten aus der amtlichen Statistik zurückzugreifen. In Osterreich beginnt eine regelmäßige Berichterstattung im frühen 19. Jahrhundert mit den sogenannten Tafeln zur Statistik der Osterreichischen Monarchie, in
Quellen f ü r die historische M E F A
343
denen ab 1828 in jährlicher Form verschiedene statistische Informationen 270 für die Habsburgermonarchie und ihre Kronländer publiziert wurden. Ab den 1860er Jahren wurden die Erhebungsverfahren für statistische Informationen in allen Bereichen standardisiert und verbessert, und die statistischen Tafeln wurden vom Statistischen Jahrbuch der österreichischen Monarchie 271 abgelöst, das ab 1868 in jährlicher Form die in Spezialserien 272 gesammelten Daten im Uberblick präsentierte. Diese Form der Erhebung und Publikation von Daten wurde in ihren wesentlichen Grundzügen nach dem Zusammenbruch der Monarchie auch von der Republik Osterreich bis heute beibehalten und auch heute von der Statistik Austria weitergeführt 273 . Weitere wichtige Quellen für die Rekonstruktion historischer Material- und Energieflüsse sind Grundsteuerkataster, landeskundliche Schriften, Topographien und andere Schriften, in denen verschiedene Zusammenstellungen von Daten und Schätzungen enthalten sind. Dazu zählen unter anderem Hain 1852; Fillunger 1868; Hain 1852; K.K. Finanzministerium 1858 u. a. Neben historischen Primärdaten konnten wir auf eine Reihe von edierten Datensammlungen zurückgreifen, wie zum Beispiel Bolognese-Leuchtenmüller 1978; Butschek et al. 1998; Turetschek 1979; Sandgruber 1978 u. a.
Vereinigtes Königreich
Auch für das Vereinigte Königreich wurden die Datensätze basierend auf Primärdaten der amtlichen Statistik zusammengestellt, die im Statistical Abstract for the United Kingdom (später Annual Abstract of Statistics) seit 1854 bereitgestellt werden. Die Statistical Abstracts berichten anfänglich Daten zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und Außenhandelsdaten und enthalten ab 1867 auch eine detaillierte Agrarerhebung. Eine wichtige Grundlage dieser Arbeit bildet auch das Kompendium von Mitchell (1994), in welchem Daten zur Bevölkerungsentwicklung, zur Agrarentwicklung und zum Energiesektor zusammengestellt sind. Für die sehr frühen Daten um 1700 bildet die Arbeit von GregoryKing (King in Laslett 1973), einem Pionier der Bruttosozialproduktrechnung, eine zentrale Grundlage, wie auch die Arbeit von Colquhoun 1815, sowie die seit
270 Dazu gehören Daten zur Entwicklung von Bevölkerung, Gebietsstand, Flächennutzung, Ernte, Industrieproduktion, Bergbau, Außenhandel usw. 271 Später: Österreichisches Handbuch für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder 272 Dazu gehören etwa das Statistische Jahrbuch des k.k. Ackerbauministeriums (inkl. Bergbau), die Statistik des Außenhandels, die Ergebnisse der Volkszählungen usw. 273 A b 1920 unter dem Titel Statistisches Handbuch für die Republik Osterreich, später Statistisches Jahrbuch für die Republik Osterreich
344
Anhang
1801 verfügbaren Volkszählungsdaten, welche ab 1831 auch eine umfassende Arbeitskräfteerhebung enthalten. Frühe Außenhandelsdaten ab 1697 basieren auf einer Uberblicksarbeit von Schumpeter (1960). Agrargeschichtliche Daten wurden zusätzlich aus der ,Agrarian History of England and Wales' (Thirsk 1985, Mingay 1989 und Collins 2000) entnommen. Neben den Primärstatistiken und deren Aufarbeitung in Datenkompendien ist die quantitative Erfassung der industriellen Entwicklung im Vereinigten Königreich im Rahmen von Aufsätzen und Monographien nahezu unüberschaubar. Einige wichtige zusätzliche Quellen für die Arbeit seien hier genannt: Deane und Cole 1967, Nef 1966, Turner et al. 2001, Overton 1996, Mac Gregor 1953, Wrigley und Schofield 1989, Riden 1977, Hammersley 1973.
Internationale Daten Neben den landesbezogenen Daten für Osterreich und das Vereinigte Königreich stützte sich diese Arbeit auch auf eine Reihe von internationalen Datenquellen: Für Wirtschaftsdaten auf die Arbeiten von Maddison (2001), für Energiedaten ab 1960 auf die Datenbank der I E A (2004), für Agrardaten ab 1961 auf die F A O Datenbank ( F A O 2004), für den Außenhandel auf die United Nations Datenbank (United Nations Statistical Division 2004), sowie auf die vergleichende historische Statistik von Mitchell (1995).
Modellierung und Validierung von Daten Eine wesentliche Grundeigenschaft der M E F A ist ihr systemischer Ansatz und der Bilanzansatz, d. h. es werden grundsätzlich alle für eine Bilanzierung nach den gewählten Systemgrenzen erforderlichen Material- und Energieflüsse identifiziert und nach Möglichkeit quantifiziert. Die Bilanz muß zumindest konzeptuell schließbar sein. Für eine Reihe von Flüssen, die nicht oder nur unzureichend von der amtlichen Statistik erfaßt werden, mußten daher Modellrechnungen und Schätzverfahren entwickelt werden. Das gilt beispielsweise für Biomasse, die von Weidetieren aufgenommen wird, landwirtschaftliche Erntenebenprodukte oder Nutzenergie. Zur Quantifizierung dieser Flüsse können simple Modelle auf der Basis von Sekundärdaten und technischen Koeffizienten verwendet werden: Die Biomasseaufnahme von Tieren während der Alpungsperiode kann man etwa über die Anzahl der aufgetriebenen Tiere, die Alpungsdauer in Tagen und den spezifischen täglichen Futterbedarf abschätzen. Die so ermittelten Schätzergebnisse müssen wiederum mit den auf den entsprechenden Flächen potentiell zu erwartenden Biomasseerträgen übereinstimmen. Solche Verfahren können auch zur Validierung von Angaben aus der Statistik verwendet werden: So muß zum
Quellengrundlagen für die Agrarökosysteme
345
Beispiel die angegebene Produktion von menschlicher Nahrung mit dem aus den demographischen Daten ableitbaren Ertrag übereinstimmen.
9.4. Quellengrundlagen für die Modellierung der drei Agrarökosysteme Die ältesten verfügbaren flächentreuen Daten liegen für den Zeitraum um 1820/ 30 vor. Als Hauptquelle dient hier der Franziszeische Kataster. In einem G r o ß unternehmen wurde 1817 damit begonnen, alle Gemeinden („Katastralgemeinden") auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie zum Zwecke der Festlegung von Steuern zu vermessen. Im Zuge dieses Verfahrens wurden auch solche Landschaftselemente in die Karten eingetragen, die in der Größe von Stufenrainen liegen, also etwa 1 m breit sind. Die Katasterblätter liegen im Maßstab 1:2880 vor. Damit haben wir eine sehr gute Grundlage zur Beschreibung von Nutzung und feinstruktureller Ausstattung von Gemeindeflächen. Der Kataster liegt für alle Gemeinden in gutem Erhaltungszustand vor. Salzburg kam erst 1816 im Gefolge des Wiener Kongresses, um etwa die Hälfte seines Besitzes vermindert, als Kronland zu Osterreich. Für die grundherrschaftlichen Strukturen im Land hatte dies jedoch wenig Bedeutung. Die von uns untersuchte Gemeinde Großarl war in der Zeit der geistlichen Landesherrschaft vor allem durch landesfürstlichen Besitz geprägt und blieb das auch bis zur Aufhebung der Grundherrschaft in Osterreich 1848. Wie können von einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit des Materials und der Strukturen in den drei Untersuchungsorten ausgehen. Nach der Katastralvermessung erfolgte eine Ertragsschätzung entsprechend der im Jahre 1825 nach den Erfahrungen von Niederösterreich herausgebrachten Instruktionen. Schätzungskommissäre führten die Arbeiten zusammen mit Vertretern der lokalen Behörden durch. Zusätzlich zum Kartenmaterial existieren daher verschiedene in schriftlicher F o r m verfaßte Materialien, welche zu ausführlichen Steuerschätzungsoperaten zusammengefaßt sind: Neben einem parallel zur Vermessung erstellten Besitzer-, Bau- und Grundparzellenprotokoll mit Angaben zu Inhaber, Herrschaftszugehörigkeit, Flurbezeichnung, Kulturart und Flächengröße enthalten die Operate im Idealfall zusätzlich umfassende Verhandlungsprotokolle zur Bonitätseinstufung und Ertragsschätzung der einzelnen Kulturgattungen, inklusive Preisfestlegung der Kulturarten. Es gibt zusätzlich Reklamations- und Einspruchsdokumente zu strittigen Parzellenausweisungen sowie ausführliche Frage- und Antwortblätter zur Wirtschaftsweise und zum Zustand der Betriebseinheiten. Gezeichnet sind die Dokumente jeweils von Vertretern der Gemeinde sowie von Beamten der Schätzungskommission. Die Endresultate dieser in manchen Fällen über Jahrzehnte laufenden Verhandlungen sind schließlich in folgenden Materialien niedergelegt:
346 • • •
Anhang
„Catastral Schätzungs Elaborat" „Zusammenstellung des gesamten Cultur Aufwandes beim Acker-, Wies-, und Wein-Lande" „Veranschlagung des Cultur Aufwandes und Darstellung des Rein Ertrages".
Erstere liefern detaillierte Daten zu Topographie, Grenzen, Bevölkerung, Häusern, Gewerbe, Viehstand, Gewässern, Wegen, Grunderzeugnissen und Kulturflächen sowie zu Bodenbeschaffenheit, Bewirtschaftungsweise und Rohertrag (in Natural- und Geldangaben) der einzelnen Bonitätsklassen einer Kulturgattung. Die weiteren oben erwähnten Dokumente geben Auskunft über Arbeits- und Ressourcenaufwand sowie den daraus berechneten als auch letztendlich nach Instruktion festgelegten Kulturaufwand der wichtigsten Kulturflächen. Durch Abzug der Kulturkosten vom Rohertrag ergibt sich der ebenfalls dokumentierte Reinertrag, aufgrund dessen die Steuerhöhe festgesetzt wurde. Darüber hinaus existieren überarbeitete Grundparzellenprotokolle mit Angaben zu Bonitätseinstufung und Geldertrag jeder einzelnen Fläche sowie diverse Summarien der Natural· und Guldenerträge. Die Materialien zu den dem untersuchten O r t Theyern benachbarten Weinbauorten enthalten außerdem eine detaillierte Neuauflage der „Catastral Schätzung des Weinlandes" aus den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Bestandteile der Operate der einzelnen Gemeinden sind in unterschiedlichem Ausmaß erhalten. Als eine der Grundvoraussetzungen im Auswahlverfahren der Untersuchungsorte ist zumindest die Existenz des „Catastral Schätzungs Elaborats" für alle Untersuchungsgemeinden gewährleistet. Im Gegensatz zu Voitsau und Großarl fehlen für Theyern jedoch Dokumente mit Angaben zum Kulturaufwand und Reinertrag der Flächen. Einige der Gemeinden weisen wie Theyern Lücken im Materialienbestand der Operate auf, allerdings ist zumindest eines der beiden Ertragsmaße, Rohertrag oder festgelegter Reinertrag, immer angegeben. Eine Gesamtaufstellung der vorhandenen Angaben aller untersuchten Gemeinden zum Rohertrag, dem berechnetem und im Vergleich dazu dem nach Instruktion festgelegten Kulturaufwand (differenziert nach Arbeitszeit und Materialaufwand) und Reinertrag zeigt die Tabelle 2 in Winiwarter und Sonnlechner 2001. Dort finden sich auch weitere Ausführungen zur Methodik und zu den Quellengrundlagen.
Abkürzungen und Dimensionen
9.5. Abkürzungen und Dimensionen Energie J kj MJ GJ TJ PJ GJ/P.a
Joule (1 J = 0,239 cal) Kilojoule; 103 Joule Megajoule; IO6 Joule Gigajoule; 109 Joule Terajoule; 1012 Joule Petajoule; 1015 Joule Gigajoule pro Person und Jahr
kW kWh
Gigajoule (Nährwert) Gigajoule (Gross Calorific Value) Kilowatt Kilowattstunden
Zeit s h d a Jh.
Sekunde Stunde Tag Jahr Jahrhundert
Fläche km2 ha haLWF
Hektar (=10.000 m2) nur in agrarischem Zusammenhang Hektar (landwirtschaftliche Nutzfläche)
Gewicht kg kgfM kgjvj kgp^ t tRN 1000 t Mio. t
Kilogramm Kilogramm (Trockenmasse) Kilogramm (Stickstoff) Kilogramm (Frischgewicht) metrische Tonne (1000 kg) Tonnen (Reinnährstoff), für Düngemittel 103 Tonnen 106 Tonnen
Q J N W G J G C V
MEFA Parameter DE Inländische Entnahme (Domestic Extraction) DEC Inländischer Energieumsatz (Domestic Energy Consumption) DEI Direkter Energieeinsatz (Direct Energy Input) PTB Physische Handelsbilanz (Physical Trade Balance)
347
348
Anhang
Sonstige Abkürzungen US Dollar in konstanten Preisen (1995), bei Angaben zum $ BIP AUT Osterreich BIP Brutto Inland Produkt EW Einwohner GVE/km 2 Viehdichte in Großvieheinheiten pro km 2 GVE 500 Großvieheinheit; standardisiert auf 500 kg Lebendgewicht k.D. keine Daten kg/ha Kilogramm pro Hektar LWArb landwirtschaftliche Arbeitskräfte m3 Festmeter (Holz) Stickstoff Ν Ρ Person Personen pro km 2 P/km 2 StE Stärke Einheit, bezogen auf den Futterwert VGR Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung VK Vereinigtes Königreich
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