Das demokratische Reich: Reichsidee und Volksherrschaft in Geschichte und Recht [2 ed.] 9783428514540, 9783428114542

Reich - das bedeutet gerade heute eine staatsrechtliche Antwort auf eine drängende Wirklichkeit, die zur Herausforderung

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Das demokratische Reich: Reichsidee und Volksherrschaft in Geschichte und Recht [2 ed.]
 9783428514540, 9783428114542

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WALTER LEISNER

Das demokratische Reich

Das demokratische Reich Reichsidee und Volksherrschaft in Geschichte und Recht Von Walter Leisner

Zweite, überarbeitete und zusammengeordnete Auflage von Der Triumph (1985) Staatsrenaissance (1987) Der Monumentalstaat (1989) Staatseinung (1991)

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-11454-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort zur zweiten, überarbeiteten Auflage von „Triumph", „Staatsrenaissance", „Monumentalstaat44, „Staatseinung44 Das Reich - das bedeutet gerade heute eine staatsrechtliche Antwort auf eine drängende Wirklichkeit, in Europa und in der Welt. Die Gegenwart lebt in einer eigentümlichen Spannung: Aller Triumphalismus wird verdrängt, Staatsgewalt laufend zurückgedrängt, das Wort „Reich" in die Historie verbannt - und zugleich entfaltet sich allenthalben Imperialität, ja Imperialismus in alten und neuen Formen. Die Vereinigten Staaten werden zum militärgestützten, wirtschaftlichen Weltreich; das „Reich der Mitte" gewinnt alte Mächtigkeit durch Macht und Waffen in seinen Massen zurück; das Indian Empire entfaltet sich wieder in Südasien; das kontinentübergreifende Russland ist ein Reich geblieben, über Anarchien und marginale Landverluste hinweg. Vor allem aber hat die alte karolingische Reichsidee wieder Europa erfasst: der große Vielvölkerstaat, imperiale Organisation übergreifender Staatsvielfalt. Dieses Vereinte Europa vor allem ist eine Renaissance der alten Reichsidee, die lange Zeit Deutschen anvertraut war und von ihnen verloren wurde, in Wien und Berlin. Nun soll eine überhöhende Ordnung entstehen in einer völlig veränderten Konstellation, aus neuen Kräften: nicht wie früher aus Schlachten und Dynastien, sondern aus volkslegitimierter Staatsgewalt, letztlich aus Volkswillen - ein „demokratisches Reich". Geschehen soll dies auf einem Kontinent vieler, alter Traditionen. Gegen sie lässt sich keine Ordnung schaffen, sie müssen aufgenommen, fortgedacht, überhöht werden. Zuallererst ist hier imperiales Denken gefordert, und dies darf nicht an Ängsten vor negativer Begriffsbesetzung scheitern. Reich - das ist ein guter Begriff, der von jeher ein Ideal ansprach: die größere Einheit über der großen Vielheit. Er ist auf immer geadelt durch große Augenblicke der Freiheit: als revolutionäre Bürger von Strassburg auf der Rheinbrücke verkündeten, hier beginne das Reich der Freiheit; als ein deutscher Offizier, ein Hochverräter für die Freiheit, starb mit dem Bekenntnis zum Reich der Deutschen auf den Lippen. Dieses Wort darf sich, in Frankreich wie in Deutschland, niemand nehmen lassen, der für Freiheit steht.

Vorwort

6

Entwicklungen und Erkenntnisse aus den beiden vergangenen Jahrzehnten machten eine Überarbeitung dieser früheren Betrachtungen nötig. Sie kreisten bereits um die Idee des Reiches, in dessen Namen sie nun zusammengeordnet werden; es geht um das imperiale Denken. „Reich" - das wird verstanden als die größere, dauernde Ordnung, welche, in einer Überhöhung von „Staat", übergreifend staatliche Gestaltungen zusammenhält. Die menschlichen Erkenntniskategorien im Kantischen Sinn finden hier Gegenstände: der Raum in der Staatsgröße (Monumentalstaat), die Zeit in der Staatsgeschichte (Staatsrenaissance), die Kausalität in der Staatsgrundlegung (Triumph) - zusammengefügt durch die Kraft der Staatseinung. Deshalb soll dies das „demokratische Reich" genannt werden: Es wächst aus einem Gemeinschaftswillen von Menschen als Bürgern, nicht aus einer transzendenten, „von oben" kommenden oder gar aufgezwungenen Idee. Dies ist ein großes Missverständnis unserer Tage: dass „Reich" stets Gewaltgigantik sein müsse, nur weil es für einige verhängnisvolle Jahre so verstanden wurde, dass „Demokratie" dem gegenüber die glückhaft-schwache, stets hinterfragte, am Ende prekäre - die möglichst kleine heutige Staatlichkeit fordere. Damit tritt das Schreckgespenst des Imperialismus vor das große Wort vom Imperium. Hier wird dem eine entschiedene Antithese gegenübergestellt: Gerade Demokratie kann allein aus imperialem Denken wachsen, nur aus ihm zu übergreifendem Ordnen finden, in Offenheit. Das Reich ist wesentlich und war immer eine gegliederte, gestufte Ordnung, aus der Integration vieler Willenskräfte. Heutiges Fundament und Rahmen dafür ist die Demokratie. Sie baut von unten, vom Menschen aus, was einst von oben gehalten schien. Warum sollte gerade sie nicht höher hinaufreichen können, weiter hinaus mit ihren Kräften? Haben nicht in ihrem Namen in der Gegenwart bisher unbekannte Ordnungserweiterungen begonnen, Ansätze zu gleichordnenden Imperien, nicht zu ausbeutenden Imperialismen? Der Verfasser will sein dreifaches Vorverständnis offen legen: Ihm bedeutet Freiheit unendlich viel mehr als glückseliges Wohlleben; er glaubt an die Historia magistra; für ihn ist der Einzelmensch, nicht das Kollektiv, die große Kraft im Staat. Ansätze und Gedanken wird der Leser im Folgenden finden, oft in der dem Autor liebgewordenen antithetischen Form gegenübergestellt, aus ihnen mag er auswählen, sie anders bewerten, als es hier geschieht. Nur dass eines bleibe ist wichtig: eine Vision von Bögen, in denen es zu bauen gilt - aus dem Volk das Reich. München, den 18. Januar 2004

Walter Leisner

Inhaltsübersicht Buchi Der Triumph - Erfolgsdenken als Staatsgrundlage A. Vom Staat zum Reich I. Von der Kritik der Demokratie zur Lehre vom Reich II. Die Lehre vom Reich: Von der Demorkratiekritik der Staatslehre zum „positiven Staatsrecht" III. Neue Methoden der Suche nach einem Reichs-Staatsrecht B. Triumph - Reichsgrund und Reichsanfang I. Der Triumphzug - vom Staat zum Reich II. Was ist Triumph?

13 25 25 33 37 52 53 57

III. Die Erweiterung des Triumphbegriffs: vom Sieg zum Erfolg - der demokratische Triumph

75

IV. Was ist Staats-Wahrheit? - Im Reichsdenken: der Triumph

83

V. Der Weg der Staatserhöhung zum Reich - eine Via triumphalis

92

C. Erscheinungsformen des Triumphes

112

I. Der militärische Triumph

112

II. Die triumphierende Revolution

123

III. Tradition als Triumph?

133

IV. Der ökonomische Triumph

137

V. „Triumphe des Geistes" VI. Der „soziale Triumph" - Frieden als Sieg

152 172

VII. Der „reine Triumph" - Triumph als Triumphgegenstand - vom „barocken Triumph" zum „dionysischen Reich" 186 D. Triumphale Formen der Staatsorganisation - Triumphfeiern im Staat

215

I. Die institutionelle Staatsfeier

215

II. Das feierliche Staatshandeln

223

8

Inhaltsübersicht III. Staatsgewalten feiern Staatstriumph

233

IV. Bildungstriumph

252

E. Der Bürgertriumph I. Reichsvielfalt aus Bürgertriumph - staatsgefördert, nicht staatsbefohlen Π. Das Leistungsprinzip - Ausdruck egalitärer Triumphalität

268 268 270

III. Familie - der fortgesetzte Bürger-Triumph

274

IV. Bürgertriumph als Staatstriumph - der „Reichsbürger"

280

F. Ausblick - Vom Triumph zur Ordnung

Buch 2 Staatsrenaissance - Die Wiederkehr der „guten Staatsformen"

285

287

A. Das Wesen der Staatsrenaissance: Wiedergeburt, nicht Tradition der „guten" Staatsformen 299 I. Von der Überzeitlichkeit des Befehls zur Wiederkehr des Volkssouveräns II. Staatsrenaissance - eine Form des imperialen Denkens

299 305

III. Gute Staatsformen, „klassisches Staatsrecht" - Voraussetzung aller Staatsrenaissance 308 IV. Wiedergeburt aus Diskontinuität - Staatsrenaissance und Tradition

326

V. Die „horizontale Staatsrenaissance" - Übernahme aus „entfernten Ordnungen" 340 VI. Die „freie Wiederkehr" - unsystematische Staatsrenaissance VII. Wiedergeburt isolierbarer Formen VIII. Wiedergeburtslehre gegen „Überbauthese"

350 360 365

IX. Staatsrenaissance als „Denkkategorie Zeit" im Staatsrecht - rechtsphilosophische Bemerkungen 374 B. Die Macht der Staatsrenaissancen I. „Inhaltliche Mächtigkeit der Normen" - eine Frage des Staatsrechts II. Staatsrenaissance - Kraft des „Ursprünglichen"

383 383 385

III. Die Naturrechtskraft der Staatsrenaissance

392

IV. „Konsens" - in Wiederkehr erreicht

398

Inhaltsübersicht V. Wiederkehrende Rechtsinhalte - Chancen für ein „technisches Recht der größeren Ordnung" 407 VI. Staatsrenaissance als Aufruf - Anstoß zu Neuem VII. „Renaissance an sich" - das Übernommene als Wahrheit C. Formen der Staatsrenaissance I. Die Bedeutung der „Wege" für die Wiedergeburt der Staatlichkeit II. Revolution - „Rückwälzung" in Staatsrenaissance

412 419 426 426 429

III. Der demokratische Machtwechsel - ständige Wiederkehr

434

IV. Die Verfassunggebung als Staatsrenaissance

439

V. Der Gesetzesstaat und die Staatsrenaissancen VI. Staatsrenaissance durch Verwalten VII. Renaissance-Wissenschaft - Wissenschafts-Renaissance D. Wiederkehrende Staatsinhalte I. Die Rückkehr der Staatsgewalten II. Organisationsformen

451 464 474 479 480 511

III. Handlungsformen

527

IV. Wiedergeburt der Freiheit

537

Ausblick

546

Buch 3 Der Monumentalstaat: „Große Lösung" - Wesen der Staatlichkeit

549

A. Einführung: Staatsgröße - Frage und Versuchung der Gegenwart

563

I. Staatlichkeit - die „größere" oder „die große Lösung"?

563

II. Die „große Staatlichkeit" - eine historische Versuchung

565

III. Staatsgröße - Wesenselement entwickelter Demokratien

574

B. Was ist Staats-Größe? I. „Größe" als Staatslegitimation - Fragestellungen - Allgemeines II. „Größe" als „räumliche Ausdehnung" der Herrschaft III. „Zeitliche Größe"

581 581 585 588

10

Inhaltsübersicht IV. Machtgröße aus Herrschaftsintensität - der Vorrang der inneren Souveränität

593

V. Zusammenfassung: Die Frage nach der „Staatsgröße" - ein vielschichtiges, kombiniertes Problem 596 C. Die Antithese der Gegenwart: Wider alle staatliche Größe I. 1945 - Ende aller Monumentalität? II. Antiimperialismus gegen Monumentalstaatlichkeit

600 600 607

ΠΙ. „Machtminimierung aus Freiheit" - Verlust der „inneren Größe"?

613

IV. „Technik" - „Rechtstechnisierung" - Absage an alle Staatsgröße?

619

V. Gleichheit und Verteilungsstaat - „immer kleinere Lösungen" VI. Demokratie - Staatsform der „kleinen Lösungen"? VII. Zusammenfassung: Die demokratischen Wege in die kleine Staatlichkeit D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

626 644 651 657

I. Bedeutende Staatsdimension - eine gegenwärtige Notwendigkeit für die Staatsgewalt an sich 657 Π. „Größe" - notwendige Kategorie des historischen und romantischen Staatsdenkens 670 ΠΙ. Demokratie braucht Größe

682

IV. Gleichheit - Zwang zur „großen Lösung" im Gesetz

701

V. Der egalitär-demokratische Zwang zu den „großen Finanzen" als „großer Lösung" der Staatlichkeit 716 VI. Staatsgröße aus Staatsöffentlichkeit E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen" I. Die Verfassung als große normative Dimension II. Der Präsident - der lebende große Staat

733 749 750 757

III. Parlament - große Lösung in Versammlung

760

IV. Föderalismus - Staatsverkleinerung oder Staatserweiterung

763

V. Verwalten als große Lösung F. Monumentalstaatlichkeit - staatsrechtliche Kraft I. Staatsgröße als Kraft

770 782 782

Inhaltsübersicht II. Das große Erstaunen vor der Staatsgröße

783

ΙΠ. Unzerstörbare Größe - der Pyramidenstaat

790

IV. Die Monumentalität des Unvollendeten

801

V. Integrationskraft der Staatlichkeit aus der „großen Lösung" VI. Die Kraft der transpersonalen Monumentalstaatlichkeit VII. Die Transzendenz der Großlösung - der „göttliche Staat" Ausblick: Der Monumentalstaat - eine Statue der Freiheit

Buch 4 Staatseinung - Ordnungskraft demokratischer Zusammenschlüsse A. Staatswende: Vom Institutionenstaat zum Bürgerreich I. Der Staat der Institutionen - traditionelle Grundidee des Staatsrechts

809 827 839 847

849 861 862

II. Die kopernikanische Wende: Von den objektiven Herrschaftsinstitutionen zur Einung der Herrschaftssubjekte 867 III. Staatseinende Demokratie - das neue Bürgerreich B. Das Wesen der Staatseinung I. Staatseinung und Einheitsstaat Π. Staatseinung - mehr als Dezentralisierung und Subsidiarität ΙΠ. Zentrale Voraussetzungen der Staatseinung C. Einung-Kraft zum Staat I. Einungsstreben - Wille zur Ordnung, nicht Wille zur Macht II. Einung - Der Staat der Kernfusionen

876 880 880 889 900 920 920 952

ΠΙ. Von Herrschaftsobjekten zu Einungssubjekten

973

IV. Das neue divide et impera: Herrschen mit der Kraft geeinter Subjekte

989

D. Das Recht der Demokratie - Räume der Staatseinung I. Die Mehrheitsdemokratie als Einung

993 993

II. Staatseinung durch Einung der Staatsorganisationen: Verwaltungs-Einung ... 1016 ΙΠ. Föderalismus: Grundmodell der Staatseinung

1041

12

Inhaltsübersicht

E. Europa - eine neue Staatseinung

1080

I. Der europäische Zusammenschluss - das große Neue II. Europäische Einung als Super-Föderalismus F. Die Wiedervereinigung Deutschlands: Einung der Deutschen

1080 1083 1098

*

Epilog: Das Reich - Einung und über sie hinaus

1103

Sachregister der Rechtsbegriffe

1107

Buch 1 Der Triumph Erfolgsdenken als Staatsgrundlage

Vorwort zu Buch 1: „Der Triumph" Erfolgsdenken als Staatsgrundlage Vor Jahren hat der Verfasser im Verlag Duncker & Humblot eine Monographiereihe über die „Demokratie - Betrachtungen zur Entwicklung einer gefährdeten Staatsform" veröffentlicht. „Demokratie - Selbstzerstörung einer Staatsform" sollte die inneren Widersprüche der Volksherrschaft aufzeigen, an denen sie auf Dauer zu zerbrechen droht. „Der Gleichheitsstaat - Macht durch Nivellierung" versuchte den Nachweis, dass der fast notwendig erscheinende Weg der Demokratie zu immer stärkerer Egalisierung nicht mehr Freiheit, sondern mehr Herrschaft bedeutet. „Die Demokratische Anarchie - Verlust der Ordnung als Staatsprinzip" war der Darlegung gewidmet, dass dieselbe Demokratie, durch ihre Ideologie der Ungebundenheit und der Ansprüche, zu immer neuen Ausbruchsversuchen aus ihrer Gleichheitsordnung führt, bis hin zur Leugnung des Ordnungsgedankens. „Der Führer: Persönliche Gewalt - Staatsrettung oder Staatsdämmerung?" sollte den fatalen Kreislauf zeigen, der immer wieder von der Demokratie zur Persönlichen Gewalt treibt und zurück - eine Warnung vor den Gefahren einer übersteigerten Freiheit, die dann nach der „Führung" ruft. Dies war ein Wagnis, denn die Kritik ging tief, sie machte vor keinem Tabu halt. Doch es hat sich gelohnt; Zustimmung wie Kritik haben gezeigt, dass dies in einem entscheidenden Punkt verstanden worden ist: Es ging um Denkanstöße zur Bewahrung einer Freiheit, die heute, wie zu aller Zeit, nicht nur von der Herrschaft der Gewalt bedroht wird, sondern ebenso, vielleicht noch mehr, von ihren eigenen Schwächen, von dem Mangel an Mut, sich gegen einen Pseudokonsens aufzulehnen, der Diskussion und Nachdenken verdrängen will. Dies aber ist heute die größte Gefahr für die staatstragende Meinungsfreiheit. Am Ende dieser früheren Betrachtungen blieb allerdings ein Fragezeichen: Sollte dies nun das letzte Wort sein, die so oft bedrückende Vision einer solchen „Spätdemokratie"? Führt kein Weg hinaus über all diese Grundsatzkritik, aufwärts mit der Kraft einer Begeisterung, aus der doch alle großen Staatsformen, vor allem die Demokratie, gewachsen sind? Musste nicht dieser „Kritik der Demokratie" der Versuch einer Lehre von den Grundlagen der staatlichen Ordnung folgen, auf denen aufgebaut werden kann? Dies begann mit Untersuchungen, welche die positive Grundstimmung zeigen sollten, aus denen größere Staatlichkeit entsteht und überdauert. Nach fast zwei Jahrzehnten werden diese Betrachtungen in einer überarbeiteten Form wieder vorgelegt. Ihre Grundlinien haben sich bestätigt, gerade auch in so manchen zwi-

16

Buch 1: Der Triumph

schenzeitlichen Entwicklungen, die es zu berücksichtigen galt, und kleinere Korrekturen zeigen hier oft große Veränderungen an. Wieder beginnt es mit dem „Triumph". Er ist heute meist kein Schlachtensieg mehr, doch das große römische Vorbild bleibt: Erfolgsgefühl, Erfolgsdenken muss sein, gerade heute, damit Aufschwung" nicht nur ein ökonomischer Begriff sei, sondern weitere Dimension für Gemeinschaft gewinne. Dabei soll all das analysiert werden, was bisher diese größere, im wahren Sinne staatstragende Grundstimmung hervorgebracht hat, damit sich daraus die geeigneten Formen für die Gegenwart entwickeln. Dies bleibt eine Suche nach Idee und Wirklichkeit einer „großen dauernden Ordnung"; pragmatische Organisation eines gegenwärtigen Miteinander kann nicht genügen. Diese Ordnungsvorstellung soll schon in den ersten Kapiteln, gewissermaßen als Untersuchungs-Programm, näher verdeutlicht werden mit einem Wort: Das Reich. Für Deutsche ist dies ein Begriff belastet mit Schuld, Trauer, Verhängnis. Über ein Jahrtausend war es zu allererst ein deutsches Wort, die Mitte des ganzen Staatsrechts - in wenigen Jahren ist es zerstört worden. Die beiden letzten Reiche sind für immer Vergangenheit; doch die Idee des Reiches als großer, dauernder Ordnung muss weiter begleiten, so wie alle Staatlichkeit sie stets gesucht hat. Hier liegt eine Verantwortung gerade deutscher Geschichte und Staatslehre, aus ihren Erkenntnissen und Verirrungen heraus: Die Deutschen müssen das Reich finden jenseits von Blut und Gewalt. Wenn sie es noch so verdrängen - in all ihrem politischen und staatsrechtlichen Bemühen suchen sie immer etwas von ihm. Dies ist schon Gegenstand der folgenden Kapitel über den „Triumph". Allzu leicht verwirft heute gängige Kritik alle Formen eines „Triumphalismus". Dabei darf es nicht bleiben, es gilt wieder zu den Kräften finden, aus denen große, dauernde Ordnung entsteht, vor allem zu jener Staatsgrundlage des Erfolges, der überzeugt gefeiert werden darf, im Leben des Staates wie der Bürger. Das Reich, das nicht von dieser Welt ist, sollte im Triumph über den Tod geöffnet werden. Wird nicht auch das Reich dieser Welt nur - im Triumphzug erreicht?

Inhaltsverzeichnis Α. Vom Staat zum Reich I. Von der Kritik der Demokratie zur Lehre vom Reich

25 25

1. Besinnung auf die Reichsidee - Chance der Staats-Spätzeit

25

2. Die Reichsidee - Sehnsucht des Staatsrechts

26

a) Die zwei Quellen der Reichssehnsucht

27

b) Das Reich - Sehnsucht aller Macht, mehr noch: aller Ordnung

28

c) Die Einheitshoffnung - gerade aus Demokratie

30

d) Imperiale Demokratie - drängende Bewegung und ruhende Ordnung zugleich

32

II. Die Lehre vom Reich: Von der Demokratiekritik der Staatslehre zum „positiven Staatsrecht"

33

a) Kassandrarufe - das Schicksal des kritischen Staatsrechts der Demokratie

33

b) Kompromiss- und Mittellösung - Resignation der Kritik

34

c) Das Imperiale als Kriterium des positiven Staatsrechts

35

III. Neue Methoden der Suche nach einem Reichs-Staatsrecht 1. Vom Organisationsrecht der Herrschaft zum Primat des Ordnungsziels ...

37

a) Wiederentdeckung des Ziels über den Befugnissen

37

b) Kein Reich aus Freiheit allein

39

c) „Recht auf das Reich" - Bürger-Reich aus gesteigertem Status activus

40

2. „Das Reich" - mehr als „der Staat"

42

a) Staat - die „gerade-noch-Herrschaft"

42

b) Die Reichsidee - Steigerung der drei kantischen Kategorien der Staatlichkeit

44

c) Relativitätstheorie des Reichsgedankens

45

3. Das Reich in seinen Trümmern entdecken

2 Leisner

37

46

a) System um jeden Preis-ein staatsrechtlicher Irrtum

46

b) Der Verlust der Klassik-Reich ohne Vielfalt?

49

c) Reichstrümmer als Reich - staatsrechtliche Archäologie

50

18

B u c h : Der Triumph

Β. Triumph - Reichsgrund und Reichsanfang I. Der Triumphzug - vom Staat zum Reich 1. „Triumph vor Reich" - der „Durchbruch" als Reichsproklamation

52 53 53

a) Ein Reich - aus triumphalen Ereignissen, nicht aus Normen

54

b) Triumph - etwas wie Gnade

55

c) Und etwas Einmaliges

55

2. Die Reichsidee - Staat und Triumph II. Was ist Triumph?

56 57

1. Der „ganz große" Erfolg

57

2. Der triumphale Erfolg - ein Ereignis jenseits von jeder Gleichheit

60

3. Das reichsgründende Ereignis - eindeutig und einheitlich

61

4. Sieg und Siegesfolgen - eine Einheit im Triumph

64

a) Fortsetzungstriumph

64

b) Triumphbegleitende Feiern

65

5. Tradition als Triumph

66

a) Triumph als Tradition von Siegen

66

b) Tradition des Sieges als dauernder Triumph

69

c) Tradition ohne Großerfolg - Gegenteil des Triumphs

71

d) Die größte gefeierte Tradition - das katholische Rom

72

6. Triumph als rettender Sieg - die Notstandslegitimation des Reiches ΠΙ. Die Erweiterung des Triumphbegriffs: vom Sieg zum Erfolg - der demokratische Triumph

73 75

1. Überwindung des Triumphalismus durch Pazifismus?

75

2. Erfolg - der neue Kernbegriff des Triumphalismus

77

3. Der Großerfolg als demokratischer Triumph

78

4. Jeder Erfolg - ein reichsgründender Triumph?

80

IV. Was ist Staats-Wahrheit? - Im Reichsdenken: der Triumph 1. Triumph als politische Wahrheit

83 83

a) Die „niedergeschlagene Wahrheit" - Vae victis

83

b) Triumph - Wahrheit durch Feier

84

2. Vom unmöglichen „Wahrheitsstaat" - zur Triumph-Wahrheit des Reiches

85

a) Der „Wahrheitsstaat" - eine demokratische Illusion

85

b) Die größere triumphale Reichs-Wahrheit

86

3. Der Großerfolg - überzeugende Wahrscheinlichkeit als Wahrheit

88

Inhaltsverzeichnis 4. Die Reichsidee - Wille, nicht Erkenntnis

19 90

a) Der Triumph - Reichswille, nicht Reichssystem

90

b) Der imperiale Triumph und die Grenzen der wissenschaftlichen Erfassbarkeit des Staates

91

V. Der Weg der Staatserhöhung zum Reich - eine Via triumphalis 1. Das Reich als „höhere Integrationsform der Staatlichkeit"

92 92

a) Das Reich als „Staat an sich"

92

b) Triumph - ein „Generationenvertrag zum Reich"

93

c) Reich - „mehr als Mehrheit im Triumph"

94

d) Das Reich - Staat der Begeisterungen

94

e) Triumphalismus - Grundnorm einer „Anreiz-Verfassung"

95

f) Reichsdenken - nicht einig sein in Werten, einig werden im Triumph

96

2. Was verlangt das Reich vom Triumph - Beweise, Ziele, Instrumente a) Triumph - Existenzbeweis des Reiches b) Exkurs: Der Triumph - Existenzbeweis als Orakel c) Staatsziele aus Großerfolgen - der triumphale Teleologismus

97 97 98 100

d) Instrumentalismus - Triumph als Lehrbuch größerer Reichs-Staatlichkeit 101 3. Souveränität aus Triumph

102

4. Das Himmel-Reich auf Erden - im Triumph

105

a) Das heilige Reich

105

b) Der heilige Triumph

105

5. Reich als Geheimnis

106

a) Großerfolg - Verdämmerung der Einzelheiten

106

b) Die „geheime Reichs-Sache" - imperiales Geheimnis aus Triumph ..

107

6. Die Reichsidee - unsterblich im Triumph

108

a) Das Reich - ohne Ende, daher ohne Anfang

108

b) Ewigkeit aus Triumph

109

C. Erscheinungsformen des Triumphes

112

I. Der militärische Triumph

112

2*

1. Der Endsieg - das triumphale Wesen alles Militärischen

112

a) Waffen - stets auf den „großen Erfolg" gerichtet

112

b) Verteidigungsideologie - Ende eines Denkens in militärischen Triumphen?

113

20

Buch 1 : Der Triumph 2. Militärischer Sieg - der große, eindeutige Triumph

115

3. Die staatsgründenden Kräfte des militärischen Sieges

116

4. Militärische Niederlage als staatsgründender Triumph?

119

5. Der demokratische Militärtriumph - Bürgerwehr, Levée en masse

121

II. Die triumphierende Revolution

123

1. Die „große Revolution" - Aufbruch zu neuer, größerer Staatlichkeit

123

2. Die Revolution - militärischer und ziviler Triumph verbündet

125

a) Revolution - immer ein militärischer Sieg

125

b) Imperiale Endgültigkeit in demokratischer „Revolution zur Ordnung"

125

3. Die „große Verfassungsstunde" - ein demokratischer Triumph?

127

a) Revolution durch Normen

127

b) Das „unmilitärische Verfassungsrecht - Triumph ohne Sieg"?

127

4. Die große Freiheit - ein Triumph der Demokratie

129

a) Freiheit an sich - Sieg oder Genuss?

129

b) „Freiheit durch Sieg" - ein Weg zum Reich

131

5. Der imperiale Triumph der revolutionären großen Gleichheit III. Tradition als Triumph?

132 133

1. „Reine Tradition" - das wesentlich Untriumphale

134

2. Wahre Tradition - „alles in einen Großerfolg integriert"

135

3. Größte Triumphalität aus der größten der Traditionen - das Zweite Rom

136

IV. Der ökonomische Triumph

137

1. Das Wirtschaftwunder - ein staatsgründender Sieg?

137

2. Vom Sieg zum Gewinn: ein pazifistischer Triumph

139

3. Wirtschaftlicher Großerfolg - immer ein liberaler Triumph

140

4. Der Markt - ein Schlachtfeld großer Siege?

142

5. Plutokratischer Triumphalismus - Reichtum als Sieg?

144

6. Privater Reichtum als Reichstriumph

146

7. Reichtum gegen Reich?

147

8. Das Ende des Triumphalismus im Eudämonismus

149

9. Ökonomischer Triumphalismus gegen „Überbau" - das Reich als „Dritter Weg" 150

Inhaltsverzeichnis V. „Triumphe des Geistes"

21 152

1. Triumph in geistiger Spitzenleistung - oder in „Bildungszuständen"?

153

2. Kunst als Sieg

155

a) Kunst - der ewige Triumphalismus

155

b) Kunst - ein internationaler Triumph

156

c) Kunsterbe oder Kunst-Auftrag zum Reich?

157

d) Von der Staatskunst zur Reichskunst

158

e) Staatsfreie Kunst - ein staatsfreier Triumph?

159

f) Renaissance-Triumph

162

3. „Klassiker der Literatur" - Künder eines Reichs-Triumphs

163

4. Staatsliteratur?

164

5. Wissenschaft als Triumph

165

a) Forschung und Lehre - notwendige Einheit in einer wahrhaft „politischen" Universität 165 b) Universität - ein Imperium aus geistigen Triumphen

166

c) Wissenschafts-Lehre - Reichsvermittlung

168

d) Deutscher Professoren-Triumphalismus - ein vergangenes Jahrhundert? 169 e) Wissenschaftsfortschritt gegen Wissenschaftstriumph? VI. Der „soziale Triumph" - Frieden als Sieg 1. Ein neuer Triumphalismus: Die kommunistische Siegesidee

170 172 172

a) Der Klassensieg

172

b) Entmilitarisierung, Entökonomisierung des Triumphalismus

174

2. Triumphieren durch Verteilen? a) Vom militanten Kommunismus zum triumphalen Sozialismus

175 175

b) Verteilung ohne Sieg und Gegner

177

c) Internationale Sozialverbrüderung - Desintegration der Triumphe

178

d) Triumph - mehr als „Gerechtigkeit"

179

e) Verteilung - Auflösung des Triumphzugs in kleine Glückseligkeiten

180

3. Soziale Befriedung als großes Gelingen

181

a) Von der Verteilung zum Triumph des Gebenden

181

b) Von der Befriedigung zur Befriedung

182

c) Ausgleich als Triumph - Sozialvertrag als Reichsgründung

183

4. Exkurs: Frieden als Triumph

184

22

Buch 1 : Der Triumph VII. Der „reine Triumph" - Triumph als Triumphgegenstand - vom „barocken Triumph" zum „dionysischen Reich"

186

1. „Reiner Triumph" - ein demokratischer Weg zum Reich

186

2. Der „reine Triumph" - eine überwirkliche Idee

187

a) Triumphieren - im Überschwang vieler Erfolge

187

b) Triumph in Feiern - der imaginäre „reine Triumph"

189

c) Vom historischen Triumph zum dogmatischen Triumphalismus

190

d) Der „Triumph an sich" - Staatsgrundlage außerhalb jeder Zeit

192

e) „Reiner Triumph" - Erfolg als platonische Idee

193

3. Barock als Triumphalismus an sich

195

a) Der geistige Ausgangspunkt: allgemeines Triumphgefühl

195

b) Der kirchliche Barocktriumphalismus

196

c) Die triumphale Reichs-Kunst des Barock

197

d) Vom barocken Triumphalismus der Freiheit zur Demokratie

202

4. Die reichsschaffende Kraft des reinen Barocktriumphs

204

a) Absolutismus - eine bleibende staatliche Kraftquelle

204

b) Über „viele kleine Reiche" im meinen Triumph" zum Imperium

205

c) Christliches Reichsdenken im Barocktriumph

206

d) Barockwiederkehr - Triumphrenaissance

207

5. Die absolute Staatsgewalt - ein Geschenk des Absolutismus, der reinen Triumphalität 208 6. Der „reine Triumph" am Ende in Europa?

209

a) Sieghafter Überschwang - Vergangenheit?

209

b) Europäische Chancen zu einem,/einen Triumphalismus"

210

7. Der „reine Triumph" - das Dionysische der Politik D. Triumphale Formen der Staatsorganisation - Triumphfeiern im Staat I. Die institutionelle Staatsfeier 1. Das Staatstheater

213 215 215 215

a) Staatsfeiertage

215

b) Nationalhymnen

216

c) Fahnen

217

d) Orden

218

e) Staatsfeiern

220

2. Staatstragende Gesellschaftsfeiern - Prozessionen und Maifeiern

221

Inhaltsverzeichnis II. Das feierliche Staatshandeln 1. Formen des allgemeinen Staatshandelns

23 223 224

a) Staatshandlungsformen als Ausdruck des Erfolges

224

b) Prozessrecht als Ausdruck des Gelingens

225

2. Staatskunst a) Staatskunst als Staatshandeln

226 226

b) Staatsbauten - über-private Würde oder „normative Maschinenhallen"? 227 c) Staatskunst - Ausdruck des „Großerfolges Staat" 3. Das Medientheater - triumphale Verbreitung des Staatshandelns ΙΠ. Staatsgewalten feiern Staatstriumph

228 229 233

1. Das Staatsoberhaupt - personifizierter Staatstriumph

233

2. Exekutive - Gestaltung zum großen Erfolg

235

a) Legalität - Verwaltung ohne „Erfolg"?

235

b) Normvollzug als Erfolg

236

c) Ermessen - Erfolgsgestaltung

237

d) Triumph in normfreier Exekutivgestaltung

238

e) Politisierung der Exekutive - ein Versuch großer Erfolghaftigkeit

240

3. Parlamentstriumph

241

a) Das Parlament - ein antitriumphales Staatsorgan?

241

b) „Versammlung als Triumph"

241

c) Abstimmung als Sieg

243

d) Parlamentsrede - Siegespathos

243

e) Volksvertretung - triumphales Forum, nicht Normenfließband

245

4. Der Rechtstriumph - Gerichtsbarkeit als Forum der Siege

245

a) Gerichtsbarkeit - „Staatlichkeit ohne Erfolg"

246

b) Entscheidung - ein,»kleiner Triumph"

246

c) Corpus Iuris - ein dauernder Reichstriumph

247

d) Strafe - Sieg der Gemeinschaft

248

e) Gnade - Triumph der Stärke

249

f) Verfassungsgerichtsbarkeit - „große Staatlichkeit in Urteilsform"

251

IV. Bildungstriumph 1. Der Bildungsstaat - Überwindung des kulturellen Wahrheitsliberalismus

252 252

24

Buch 1: Der Triumph 2. Erfolgsdenken als Bildungsinhalt

255

3. Erfolgsdenken im Unterricht

256

a) „Primat der Geschichte"

256

b) Naturwissenschaften - Erfolgsmaterien

257

c) „Methode aus Erfolg" - und: Begeisterung

258

d) Schule: der „kleine Wächterstaat"

259

4. Volks-Schule - die breite Begegnung mit dem Erfolg

259

5. Hochschulen - Hohe Schulen des Erfolges

261

a) Studentischer Triumphalismus?

261

b) Die Hochschule und ihr Ideal des Gelingens

262

c) „Wieder Ideale" - wieder triumphales Denken

264

6. Erfolgsdenken - Zentrum politischer Bildung

265

7. Bildungseinheit aus Erfolgsdenken

266

E. Der Bürgertriumph I. Reichsvielfalt aus Bürgertriumph - staatsgefördert, nicht staatsbefohlen

268 268

II. Das Leistungsprinzip - Ausdruck egalitärer Triumphalität

270

1. Verdiente Selbstdurchsetzung, nicht Prüfungsstaat

270

2. Triumphieren im Arbeitsleben

271

3. Alter - Erfolg eines Lebens

273

4. Jugendtriumph - ein Omen

274

III. Familie - der fortgesetzte Bürger-Triumph

274

1. Die Geschichtswerdung des Bürger-Erfolgs

274

2. Die Erfolgsgemeinschaft

275

3. Erbrecht - Weitergabe von Bürgertriumphen

276

4. Triumphale Familienlegenden

277

5. Dekadenz - Verlust der Familien-Triumphalität

278

IV. Bürgertriumph als Staatstriumph - der „Reichsbürger"

280

1. Bürgererfolge als Formen öffentlicher Triumphalität

280

2. Die triumphale Erhöhung des Bürgerlebens - der Reichsbürger

282

F. Ausblick - Vom Triumph zur Ordnung

285

Α. Vom Staat zum Reich I. Von der Kritik der Demokratie zur Lehre vom Reich 1. Besinnung auf die Reichsidee - Chance der Staats-Spätzeit Das Jahrtausendende war für viele Staatsende. Vergangenheit ist die Feudalherrschaft vieler Jahrhunderte und ihre aristokratische Kirche, Geschichte wird das Bürgertum mit seiner liberalen Demokratie. So vergehen Begriffe und Ziele, die staatsrechtliche Sprache waren und politische Hoffnung. Herauf kommen die vielen Gleichen mit ihren gewählten oder gerufenen Führern; in grauer, glanzloser Machttechnik arbeitet die Großorganisation Staat für panem et circenses, Wohlfahrt und Unterhaltung, nur für eines nicht: ad maiorem gloriam ... Dies ist mehr als Spätzeit - Spätdemokratie. Zwar werden uns die vertrauten Staatsideen noch lange mit sich fortschleppen, mit „Gewaltenteilung und Freiheitsrechten", „Volksvertretung und Sozialstaat", immer weiter verästelt und postglossierend, können wir Probleme wenn nicht lösen, so doch - lassen; als neue Kräfte erscheinen uns die alten Beruhigungen. Doch es brechen heute nicht nur immer weitere, immer spätere Stunden früherer Staatlichkeit an. Die Idee der Herrschaft selbst wandelt sich zutiefst: Mächtige und Unterworfene werden zu Partnern, Mitverantwortungen verdichten sich - und zugleich doch eine neue Freude an der kleinen Privacy unabsehbar vielfältiger Bürger. Am Ende des Macht-Staates ein neues Zusammenleben in natürlich-technischen Zwängen? Dies wird ein Neues sein, heute schon gegenwärtig, täglich mehr. Möge es sich ohne vernichtenden Bruch herausentwickeln aus der nervösen, ängstlichen Geistigkeit unseres überunterscheidenden Staatsdenkens. Wir lieben den Gedanken, daß diese Vita Nuova aus den Ruinen wachsen wird. Nicht das Vergangene soll wiederkehren, das Verschüttete ist zu entdecken, in staatsgrundsätzlichem Denken, politischer Theorie, in einem Graben nach den Ruinen dessen, was die Seelen suchen nicht die Macht: das Reich. Die Chance der Staats-Spätzeit gilt es zu nutzen. Am Niedergang mag man sich berauschen, an der Gewaltsamkeit der Befreiungen oder an Kassandrarufen ohne Kosten und Folgen. Mehr bedeutet die große Freiheit des Suchens nach Aufstiegen aus den Niederungen einer sich selbst gefährdenden Demokratie, aus der Staatsschmiede bürokratischer Gleichheitsherrschaft, aus den Vulkankratern der demokratischen Anarchie, aus den Befehlen der Führer: Was kommt jenseits all dieser

26

Buch 1: Der Triumph

Spätzeit - es ist etwas, das man nur von ihren Ufern aus sehen kann, zu dem man allein aus einer Spätzeit aufbrechen darf: die größere Dimension eines Staates als Zustand, als allgemeine, ruhige, gemeinsame Kraft, eine politische Welt, die wahrhaft cosa nostra ist, weil es außerhalb von ihr nichts mehr gibt - das Reich. Dies ist das politische Glück einer Spätzeit: Die Ängste des Untergangs schärfen den Blick für das Unvergängliche, welches er neu entdecken darf; die zerfallende Kleinheit der Lösungen weckt Sehnsucht nach der großen Gestaltung; die ermüdende Richtigkeitssuche will zum Erfolg werden, zum ruhig dauernden Triumph; Pluralität ist nicht das letzte Wort, sie lebt nur aus höherer Einheit. All dies liegt in einem Wort, das Geschichte ist und Programm, Vergangenheit als Zukunft - Reich. Nichts scheint heutigem Staatsdenken ferner zu sein, in seinen wahren oder falschen Bescheidenheiten eines rechtstechnischen Spezialistentums, als die größere Reichsidee. Nichts steht so gegen den Antitriumphalismus der Gegenwart, der über jede politische Freude mit kritischem Lächeln hinweggeht. Kaum etwas ist weniger im Gespräch als jene großen Ordnungsversuche der Vergangenheit, welche sich stolz diesen Namen gegeben haben. Und doch, gerade deshalb ist dies das erste Thema der Staatstheorie heute: Die Reichsidee kann Antithese sein zu einer Verwaltungs-Mikrogeometrie, die man Staatsrecht nennt - und zugleich die einzig mögliche Synthese über der dauernden krampfhaften Bewegung zwischen Antithesen: von Volksherrschaft zu Persönlicher Gewalt und zurück. Dann wird sie zu dem, was staatsgrundsätzlichem Denken Bewegung gibt - und zum ruhenden Pol, aus dem sich immer raschere politische Bewegungen verstetigen. Unbewusst sucht dies eine Spätzeit, in Rechtsbereinigungen und Kodifikationen, in Theorien von einer „Regierung" und bei Obersten Gerichten, im Führer und im Volk - hier wird es einmal offen gesucht. Alles Folgende mag Irrtum sein, eines nicht: dass dieses Wort zum Thema werden muss. Eine Begeisterung sollte hier stets begleiten, wie sie das Recht so selten kennt: dass wir immer suchen dürfen, ohne je unseren Gegenstand voll zu erfassen. Denn vieles vorwegnehmend lässt sich ein Wort wohl eingangs schon abwandeln: „das Reich" - es ist nicht von dieser Welt. Gerade deshalb - suchet!

2. Die Reichsidee - Sehnsucht des Staatsrechts Die Betrachtungen über die Demokratie haben Bestehendes kritisiert, eine Staatslehre des Reiches ist Suche nach Verlorenem. Sie kommt aus einer Kritik, die Geltendes herabsetzt, damit hinter ihm das Neue, bereits sich Entfaltende sichtbar werde. So ist die Lehre vom Reich in ihrem Wesen nicht mehr Kritik, sondern deren Gegenteil: Ausdruck staatsrechtlicher Sehnsucht. Im Innersten der Reichsidee liegt der Traum vom Paradies - aber nicht im Sinne eines glückhaften Naturzustandes, der ersten Stunde nach der Schöpfung. Reich das bedeutet ein politisches Paradies hochentwickelter Geistigkeit. Hier will der

Α. Vom Staat zum Reich

27

Garten Eden seinen Gott wiederfinden, in der glücklichen einen und allgemeinen Herrschaft. Im imperialen Streben liegt nicht die Suche nach der heilen politischen Welt vor dem Sündenfall, das Reich ist ein Paradies politischer Erlösung.

a) Die zwei Quellen der Reichssehnsucht Keine Staatslehre hat historische Grundlagen wie eine Theorie vom Reich. Hier sollen Gedanken Wirklichkeit werden, weil sie schon einmal mächtige Realität waren. Geschichte entfaltet darin ihre volle staatsgrundsätzliche Kraft: Sie ist zugleich Lehrbuch des Möglichen und verdämmernder Gegenstand stets erneuten Suchens, unbegrenzter Sehnsüchte, sie zeigt Erreichtes und Verlorenes zugleich. Die beiden Quellen des Reiches als staatsrechtlicher Sehnsucht, zugleich seiner Geschichte gewordenen Dogmatik, sind das Erste und das Zweite Rom, die caesarische Herrschaft und die allgemeine Kirche. Beide sind geschichtliche Annäherungen an einen Zustand politischer Erlösung, zuzeiten fast Gelungenes, das sich immer wieder von den Menschen entfernt, sie stets von neuem in Sehnsucht an sich zieht. - Die Reichsidee ist immer zuerst eine gewesen: die römische. Dass die tiefen Prägungen des Abendlandes durch römisches Recht, lateinische Geschichtsschreibung und Literatur nur Einzelaspekte des Weiterwirkens der einen Reichsidee sind, ist Gemeingut. Doch die neuere Geschichtsschreibung, vornehmlich die deutsche, hat eine Verengung gebracht: die verbreitete Personalisierung der Reichsidee zur Kaiseridee. So wie vor allem protestantisch erfasste Historie die allgemeine römische Kirche auf den Papst konzentrierte, so entsprach es dem Geschichtsverständnis des 19. Jahrhunderts, in den Sehnsüchten und Kämpfen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit den Kaiser vor das Reich zu stellen. Eine wichtige historische Wirkkraft der Reichsidee lag darin sicher - das Imperium als höchste Steigerung der germanisch-feudalen Führergewalt. Doch damit rückte staatsrechtlich Entscheidendes aus dem Blickfeld, gerade das, was in allgemeinerer Sehnsucht auch heute noch staatsrechtlich begeistern kann: das Reich nicht als Gewalt, sondern als Zustand. Wäre die Erinnerung an das alte Rom nicht mehr gewesen als ein Wiederholungsstreben von Caesarenbefehlen, nie hätte ein Jahrtausend davon geträumt und darum gekämpft. Führer mochten an den Kaiser denken, die Menschen haben immer an das Reich der Römer gedacht. Und dies waren stets die großen staatsgrundsätzlichen Sehnsüchte - sie sind es noch heute: die unbedingte, unbestrittene Macht jenseits aller Kritik, die wahre Souveränität - Senat und Volk von Rom als der erste Name der Geschichte; eine Ordnung, die alles umgreift, was bekannt, besser: was wichtig ist auf dieser Welt das römische Weltreich der zivilisierten Ökumene; die dauernde Herrschaft, ein perpetuum immobile, das sich zur Überzeitlichkeit steigert, das nicht sterben wird, weil schon seine Anfänge in Legenden verdämmern; eine höchste Ordnung, wel-

28

Buch 1 : Der Triumph

che in der Vielfalt zur Einheit findet, die sich über Sklaven und Freien, Bundesgenossen und Provinzen wölbt, unterschiedlich in ihrem Gewicht, stets gleich in der einen Wirkung; die Glückhaftigkeit schließlich des Dauererfolgs, der sich Staat nennt. All diese staatsrechtlichen Träume von der goldenen Zeit des Augustus haben Jahrtausende überdauert, in ihrem Namen waren nicht Führer einig, sondern Menschen. Romantik hat sie stets wieder belebt, doch im Letzten sind sie mehr: Staats-Klassik. - Die Kirche, das Zweite Rom, ist immer im Letzten Reich gewesen, nicht Führer, Papst, Herrscher-Gott. Gerade darin hebt sie sich ab von der reinen Transzendenz eines fernen Gottesdenkens anderer semitischer Religionen, dass ihr Reich zwar nicht von dieser Welt ist, immer jedoch in sie hineinwirken, sie höher heben will, in einer Form von Imperium. Da ist die Idee der Gemeinschaft, in welcher der Herr mitten unter den Seinen ist, vor allem aber die ursprüngliche Grundidee: ut omnes unum sint, in analogia entis, wie im Himmel, also auch auf Erden. Diese Einheitssehnsucht ist es, in welcher die allgemeine Kirche die römische Reichsidee weiterträgt, in der sie sich erhebt über immer stärkere, selbständigere Provinzen, die ihrerseits zu kleinen Reichen werden wollen. Ihre Souveränität ist nicht mehr überall, in allen Tiefen des Politischen, doch sie bleibt noch immer absolut, weil zu allerhöchst. Ihre Internationalität erfasst alles, extra muros gibt es kein Heil, nur Barbarei. Da die Kirche aus dem ewigen Gott kommt, kennt ihr Reich keinen Anfang, also auch kein Ende. Über der menschlichen Vielfalt wölbt sich ihr Dom in Reichshierarchie. Und schließlich ist sie ewige Auferstehung, dauernder Triumph - soweit es ihn gibt auf Erden. Diese Kirche bedeutet nicht nur eine Vergeistigung der römischen Militär-Herrschaft, sie hat die Vergeistigung der Reichsidee selbst gebracht, in ihr ist das Reich, wenigen nur bewusst, vom Zwang ganz zur Idee geworden. Und eine immer noch größere religiös-politische Sehnsucht: Nun entzieht sich dieses Imperium stets von neuem und wie mit Notwendigkeit den Blicken, es bleibt ein Abglanz des höheren Himmelreichs. Diese beiden Rom sind es, die immer wieder den Ruf haben ertönen lassen nach einem neuen Reich; und wenn dies noch so sehr von dieser Welt sein sollte, stets lag in ihm etwas von der letzten Hoffnung eines Dritten Rom, noch jenseits des Zweiten.

b) Das Reich - Sehnsucht aller Macht, mehr noch: aller Ordnung Geschichte, die Größe erreichte, war immer und allein Variation über das Reichs-Thema. Auf hoher Machtstufe verdichtete sich stets die Reichs-Sehnsucht zur Restaurationshoffnung der römischen Universalherrschaft, doch ihre Kraft

Α. Vom Staat zum Reich

29

blieb auch dort wirksam, wo der ganz große Strom in bescheidenere Arme zerfloss: Dieser staatlichen Sehnsucht mochten selbst Teil-Reiche genügen, und die Kraft dieser Idee ist immer gewesen, dass sie auch in Teilung noch ordnend wirkte. Divide et impera wandelt hier seinen Sinn: Auch das geteilte Reich ist noch ein Imperium. Restaurationskraft kam immer aus Reichsdenken, vom Wiedervereinigungsstreben der römischen Reichshälften über die Beendigung des Schisma bis zum Letzten Versuch des napoleonischen Empire; dessen Einmaligkeit liegt gerade darin, das noch einmal eine alte Sehnsucht sich voll zu erfüllen schien. Und schließlich ist eine - ganz kleine - Reichssehnsucht in der deutschen Wiedervereinigung erfüllt worden. Nicht nur die physische Machtrestauration des Reiches ist immer wieder versucht worden, die Idee war stark genug, sich über jeder realen Macht in geistigen Höhen voll in Einheit zu erhalten, als Ideal und als politische Reservegewalt aus diesen Höhen immer wieder auf die Wirklichkeit von Jahrhunderten einzuwirken - nichts anderes bedeutet das Weiterleben der Reichsidee von Karl dem Großen über tausend Jahre bis zum Ende des Alten Reichs, das Weiterleben sogar des Zweiten Deutschen Reiches nach dem Ende des Dritten, im Rechtsdenken von Verfassungsrichtern. Dies war eine ständige virtuelle Restauration, das Reich bestand ja, es musste nur entdeckt, appropriiert werden. Wenn nicht die größte, so doch die höchste Form politischer Ordnung hat so Jahrhunderte überdauert - das unsichtbare Reich, gerade so konnten Sehnsüchte immer weiter, immer höher wachsen. Doch nicht minder wichtig als die Restaurationskraft ist die Teilungsfähigkeit des Reiches, einer „Idee in beweglichen Grenzen", gerade im Teil-Reich weckt eine politische Idee Sehnsüchte zum größeren Reich. Ob man nun das römische Imperium noch über sich hängen ließ oder nicht - über Jahrhunderte ist die politische Geschichte geprägt durch den großen Herrschaftsanspruch „Rex Imperator in regno suo". Das französische Königtum wollte in seinem Territorium das ganze Reich darstellen, nicht nur der König sollte wie ein Kaiser handeln dürfen. Die deutschen Territorialfürsten schufen sich Reiche im Reich, auch wenn ihre Herrschaften andere Namen trugen; und nach dem Ende des römisch-deutschen Reiches nannte selbst Bayern sich ein Reich und kannte Reichsräte. In all dem lag Machtanspruch, vor allem aber die Behauptung perfekter Ordnung. Irgendwie war jedes dieser größeren oder kleineren Reiche „unmittelbar zum großen Imperium der Römer" geworden, in einem vervielfältigten römischen Staatsrecht. Gerade darin aber hat die Reichsidee Sehnsuchtskräfte freigesetzt, denn nun galt es doch, dem Anspruch die politische Wirklichkeit folgen zu lassen, der Ordnung die Macht - eigentümlich, wo doch in der Reichsidee Ordnung nach Macht kommt und diese gewissermaßen überhöht. Wo immer ein Stück ruhiger, zeitlos scheinender Ordnung entstand, trieb sogleich die große Reichssehnsucht zu höherer Macht hinauf. Und so haben denn selbst die kleinen italienischen Stadtrepubliken des Mittelalters

30

Buch 1: Der Triumph

Reichshoffnungen in ihren Namen gelegt, in dem sie an das frühe Rom erinnerten, als wenn sie ein größeres Reich werden wollten - Senatus Populusque ... Doch neben der Restaurationskraft eines Universalreiches und dem Steigerungsstreben der Teil-Reiche hat die Reichs-Sehnsucht ihren Ausdruck immer noch und vor allem in einem Dritten gefunden: Man sehnte sich nicht nur nach dem Imperium, man suchte alles, was imperial erschien, und dies vor allem gilt, unbewusst weithin, auch für die Gegenwart. Je ferner das große Machtreich unerreichbar verdämmert, desto mehr ist es, als trage alles, was auch den letzten Saum seines Purpurs berühren konnte, in sich noch etwas von seiner Weihe, als ein Reichsphänomen. Dies war, um nur das größte Beispiel zu nennen, die Geburt des heutigen Rechts: In allem Reichs-Recht lebte das Reich weiter. Die Romanistik hat uns gezeigt, dass die Rezeptionswellen des römischen Rechts stets vor allem Legitimationsversuche einer Staatlichkeit waren, welche sich zum Reich hinaufpflanzen wollte. Doch dessen Idee war noch stärker: Nicht nur in den staatsrechtlichen Übernahmen von Kaiserrechten sah man Imperiales, selbst das Zivilrecht noch, die machtferne Austauschordnung zwischen gleichen Bürgern, erschien als etwas Reichsähnliches, als ein Reichsphänomen, in ihrer zeitlosen Beständigkeit, in der souveränen Vernünftigkeit der ratio scripta. Die letzte der großen Rezeptionen, die deutsche Pandektistik, schuf gerade in ihrer Beschränkung auf das bürgerliche Recht noch einmal Rechtseinheit als einen ersten Schritt zur Reichseinheit, etwas wahrhaft Imperiales im Geiste. Hier gerade, in dieser Begegnung mit dem Reich jenseits von Staatsrecht und Macht, wird die letzte Größe der Idee offenbar, die einer stets neu zu entdeckenden, einer, unwandelbaren Ordnung über aller Vielfalt. In neuerer Zeit hat man alles Reich nennen wollen, was riesige Macht konzentrierte. Reichssehnsucht war eben immer auch und zuallererst Machtsehnsucht; vom Petersburger Zaren, der sich nunmehr Imperator nannte, bis zum englischen Empire, jener Mischung von Staatsromantik und englischer Altertumsliebe - alles war römische Machtsehnsucht. Doch das Reich ist mehr noch als Macht, sein machtloser Abglanz im Zivilrecht zeigt es: Wenn es als Macht sich entfernt, bleibt seine Ordnung zurück. Den Deutschen mag dies ein Trost sein; das Reich, das ihnen einst anvertraut war, sie haben es immer wieder, immer mehr verloren, gerade deshalb müssen sie sich imperiales Denken bewahren, das Reich nicht in seiner Macht, sondern in den Elementen seiner Ordnung suchen. Dies ist eine alte und große Aufgabe gerade deutscher Rechtswissenschaft.

c) Die Einheitshoffnung

- gerade aus Demokratie

Alle erwähnten Formen der Reichssehnsucht, - der große Restaurationsversuch, das Imperium im Teilreich, die imperialen Phänomene als Reichsabglanz - alle Wirkungen dieser politischen Idee sind auf eines gerichtet: auf die Integration zur größeren Einheit. Je mehr das Macht-Reich verdämmert, unerreichbar bleibt in der

Α. Vom Staat zum Reich

31

Vielheit der Staaten, desto stärker wirkt das geistige Zentrum des Zweiten Rom, die Hoffnung, dass „alle eins werden". Einheit - in diesem Begriff liegt, so paradox es scheint, eine unvergleichliche Wandelbarkeit und Vielfalt, „Einheit" kann erstrebt werden aus jedem Zustand heraus, auf jeder Stufe politischer Integration, nie stößt sie an die Schallmauer eines staatsrechtlichen Endzustandes wie etwa die totale Gleichheit, bedeutet sie doch stets auch Einheit über einer Vielfalt, die bleiben muss, damit jene gefühlt werde. Dem Staat ist der Begriff der Einheit nicht wesentlich, selten nur spricht man von Staatseinheit. Reichseinheit ist eine Grundsehnsucht, seit es das Imperium gibt, nur eine Gefahr bedroht es wirklich: die Spaltung. Das Einheitsstreben ist in der Demokratie der neuesten Zeit immer weiter zurückgetreten, kaum haben wir noch ein Organ für die hohe Bedeutung jenes Wortes, das an ihrem Anfang stand: La République une et indivisible. Den Revolutionären war es bewusst, was die Aufhebung der einenden Monarchie bedeutete, die Revolution war der ganz große Versuch eines Reiches ohne Kaiser. In der Volkseinheit sollte er wiederkehren, „das eine Volk als Reich"; dies ist noch immer das Grunddogma der Demokratie von heute, doch kaum jemand spricht mehr von ihm, und nicht etwa, weil es selbstverständlich geworden wäre, sondern weil die Demokratie solches aus ihrer Kraft allein nicht schaffen, sondern nur postulieren kann. Immer aber wenn sie das eine Volk nicht bereitzustellen vermag, ruft sie den einen Führer, der mit Gewalt das eine Volk schafft - und damit wieder das Reich. Die Demokratie muss sich verstehen, will sie eine große Staatsform sein, als eine größere „Einheit der Herrschaft". Sie braucht daher die Einheit des Herrschaftssubstrats, des Volkes, nur zu oft aber auch noch die Einheit des Herrscherorgans, die Führung. Gerade wenn ihr das Erste nicht gelingt, wenn sie das Zweite nicht will - eben dann muss sie doch nach der großen geistigen Herrschaftseinheit streben, alle imperialen Formen vergangener Ordnungen restaurieren, potenzieren, integrieren zu einer großen Reichsannäherung. So ist denn imperiale Sehnsucht nicht nur deshalb ein Schicksal der Volksherrschaft, weil sie hier nach ihrem Gegenbild, nach dem Glanz und der Macht strebt, welche sie sich immer wieder versagen muss. Nachdenken über das Reich ist in der Demokratie nicht so sehr romantische Sehnsucht als harter dogmatischer Zwang: Demokratisches Staatsrecht kann nur wachsen in den integrativen Kategorien der Reichsidee. Das Volk und seine Souveränität werden und müssen zur Pluralität unrettbar zerfallen oder sich gewaltsam durch den Führer zur Einheit zwingen lassen, wenn nicht imperiales Denken die Rettung bringt: die Einheit der Staatsorgane und ihrer Kompetenzen aus der Einheit der großen Herrschaftsordnung, und über ihr die Einheit des Volkssouveräns - und mag sie auch verdämmern. Seit der Französischen Revolution hat die Demokratie den großen Strom eingeleitet vom Volk über den Führer zum Reich, politisch fließt er ohne Umkehr noch heute. Doch geistig gilt es, die Strömung zurückzutreiben, und dies ist die Aufgabe

32

Buch 1: Der Triumph

des Staatsrechts unserer Zeit: Beginnen muss es wieder beim Reich, nicht beim Volk, nicht beim Führer. Aus der Reichsidee allein kann alles aufgeladen werden in neuer Kraft, die Bürgerschaft und ihre führende Staatsgewalt, so wie nicht eine blutige neue Gleichheitsordnung im Inneren die einstige französische Republik gerettet hat, sondern die alte neue Reichsidee mit ihren Tribunaten und Konsulaten, der Aufbruch zuerst zum Universalreich der Menschenrechte, sodann zum neuen römischen Imperium Napoleons. Dieser Reichsidee verdankt die Demokratie ihre Volkseinheit in Frankreich und in Europa, auf ihr sollte in Weimar noch einmal die Einheit der deutschen Demokratie errichtet werden. Es gelang nicht mehr, als imperiales Denken an hartem Dezisionismus des Einzelbefehls zerbrach. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer"? Nein, am Anfang steht das Reich, es schafft sich sein Volk, ruft sich dessen Führung - die seine. Die Chance der nächsten Zeit liegt in dieser Synthese, imperiale Demokratie gilt es zu entfalten.

d) Imperiale Demokratie - drängende Bewegung und ruhende Ordnung zugleich Die politisch gestaltende Kraft der Reichssehnsucht liegt darin, dass sie Bewegung auslöst, weil sie auf etwas Großes, vielleicht Unerreichbares gerichtet ist, dass nur dieses ihr letztes Ziel sein kann, nicht immer größere Dynamik, immer härtere Befehle, stets noch raschere Machtbewegung. Dieser tragische Weg, wie ihn Adolf Hitler gegangen ist, führt nicht zum Reich. Die ruhende Ordnung ist es, eine letzte Bewegungslosigkeit in Raum und Zeit, die sich auch von ihrer causa entfernt, dies allein wird zum Reich. Viel kleines Streben nach großer Ruhe - welcher Staatsform wäre es mehr aufgegeben als heutiger Demokratie? Da ist die Freude an der wogenden Pluralität der Ideen und Bestrebungen, an einem Fortschritt um des Laufens willen, dafür sind alle die geschmeidigen Institutionen der Volksherrschaft geschaffen, von der Wahl bis zur parlamentarischen Verantwortlichkeit, von der „offenen" Grundrechtlichkeit bis zu den gesellschaftsreflektierenden Entwicklungen der Rechtsprechung. Für Bewegung ist hier wahrhaft Raum, doch er muss genutzt werden zu einem Drängen auf ihr Gegenbild hin, zur imperialen ruhenden Ordnung. Nicht als ob dies je ein erreichbarer Zustand wäre, in dem bewegendes Meinen und Wählen aufhören könnte, Regieren und Gegenlenken; doch in jeder dieser Bewegungen muss der imperiale Zug liegen, der Versuch zu einem größeren, übergreifenden Ordnen. Nur dann lebt eine Demokratie mit Zukunft, wenn jede ihrer politischen Quellen zum einen Reich der Meere, zum großen ruhigen Ozean tragen will. Deshalb müssen seine Tiefen immer von neuem auf die imperialen Urgründe hin ausgelotet werden, aus ihnen muss die Ruhe heraufkommen, welche die schwersten Stürme an der Oberfläche hält, sie alsbald in neuer Reichsordnung glättet. Auch dies noch mag als Paradox hingehen: Keine Staatsform vielleicht hat so große unbewusste Chancen zum Reich wie die unruhige Volksherrschaft; sie bringt

Α. Vom Staat zum Reich

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die Bewegung, welche in Ruhe fließen kann, aus ihr kann ein geschärfter Blick die ruhigen Weiten des Reiches leichter erreichen. Wie schon gesagt - das Reich wird dieser Demokratie zur Synthese ihrer Nöte, zugleich aber zur belebenden Antithese, in deren Sehnsucht sie sich verjüngt.

II. Die Lehre vom Reich: Von der Demokratiekritik der Staatslehre zum „positiven Staatsrecht" a) Kassandrarufe - das Schicksal des kritischen Staatsrechts der Demokratie Staatsgrundsätzliche Kritik ist heute unüberhörbar. Kritische Geister, welche diese Staatsform gerufen hat, wenden sich mit zerstörerischer Kraft gegen sie selbst, immer mehr, je weniger es noch Vergangenes zu bewältigen, abzubauen gibt. Die Gefahr dieser staatsrechtlichen Zerstörungskritik wird erst dann voll sichtbar werden, wenn auch der letzte die Unergiebigkeit von Obrigkeits- und Faschismuskritik erkannt hat. Schwer wird man auch zur Tagesordnung übergehen können, über alle diese Unregierbarkeitssorgen unserer Tage hinweg, denn wenn etwas kaum zu makulieren ist, dann staatsgrundsätzliche Kritik in einer Demokratie. Kassandrarufe werden nicht weniger wahr, wenn sie sich häufen, es gilt, sie zu begreifen als notwendigen Entwicklungszustand des kritischen demokratischen Staatsrechts. In ihm ist nichts der Kritik axiomatisch entzogen, ganz breit und von unten setzt sie überall an, und was wäre natürlicher, als dass sie sich aus vielfacher Verwaltungskritik in das Staatsrecht hinein nach oben fortsetzte, wo sie aber dann vom technischen Vorschlag zur Grundsatzkritik werden muss - wer wollte solche staatsrechtliche Hochrechnungs-Kritik aufhalten? Mehr noch: Diese Demokratie ist Institution der Kritik, ihr ganzes Staatsrecht ein Instrument zu ihrem Ausdruck. Wie könnten da ihre Grundlagen von grenzenloser Kritik freigestellt werden? Vor allem aber führt noch ein Weiteres von der Einzelkritik zum großen Kassandraruf über diese Staatsform: Die Demokratie versteht sich als die rationale Staatsform, in allem und jedem rechenbar. Doch wenn sie sich so offen der Kritik stellt, werden sehr bald ihre irrationalen Grundlagen offenbar, die Widersprüchlichkeit ihrer Grundannahmen, die ins Irrationale drängende Bewegungskraft ihrer anarchischen Freiheiten. Selbst in ihrer Gleichheitsgeometrie kann sie keine Mauern errichten, wo immer man weiterdenkt - eigentlich muss stets alles zusammenbrechen, und gerade Demokraten müssen sich täglich wundern, dass es nicht geschieht. Wie könnte es auch anders ein, wo doch die Demokratie sich so weit öffnen will zu einer außerrechtlichen Wirklichkeit, die immer wieder geprägt ist durch Passionen und Aggressionen, durch das unvorhersehbar Vulkanische des po3 Leisner

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Buch 1 : Der Triumph

litischen Temperaments? Das ökonomische Zivilrecht mag sich am Außerrechtlichen orientieren und korrigieren, weil dieses stets im Letzten durch Tauschvernunft und Marktrationalität gehalten wird. Für das Staatsrecht ist die Öffnung der Mauern ein ungeheures Wagnis, und nur zu oft zieht man durch sie das Trojanische Pferd der Vernichtung auf die Burg. Ergebnis einer Demokratiekritik dürfen aber nicht nur Unregierbarkeitstheorien sein, darin würde jeder geistig konstruktive Anspruch aufgegeben, die tägliche Wirklichkeit selbst wäre verfehlt. Die Kritik der Demokratietheorie mag die Gefahren aufzeigen, in Hochrechnungen Widersprüchlichkeiten nachweisen. Doch dann muss der größere Schritt folgen: Über die Kritik des demokratischen Staatsrechts hinweg zu einem „positiven Staatsrecht", das sich als solches aber nicht in dem vorwiegend auf Kritik gestellten System der liberalen Demokratie erschöpfen darf. Gerade auf vertiefte Demokratiekritik muss der Umschlag in eine positive Lehre vom Reich folgen. Die Kassandrarufe werden wahr, wenn das Ziel nur eines ist: dass immer noch mehr Freiheit sei zu noch mehr Kritik.

b) Kompromiss- und Mittellösung - Resignation der Kritik Die späte Volksherrschaft findet ihre Lösungen nicht im Kompromiss, sondern in tausend Kompromissen. Die Vervielfältigung der Beratungs- und Entscheidungsgremien und die unzähligen Formen der Mitbestimmung, die Zersplitterungen in Wahlen und die Unsicherheiten politischer Verantwortungen können nur solches hervorbringen. Dogma der Volksherrschaft ist, dass darin etwas wie göttliche Vernunft liegt, die alles Seiende berücksichtigt. In der Tat wird damit eine Realitätsnähe erreicht, in welcher die Demokratie bisher den allzu schweren Sturz aus ideologischen Höhen auf den harten Boden der Tatsachen vermeiden konnte. Doch immer mehr wird aus dem Kompromiss die Mittellösung, aus dem Zwang zum integrierenden Friedensschluss die Notwendigkeit einer halben Entscheidung. Auch in ihr noch liegt viel von der großen antiken Mäßigung, der höchsten Staatsweisheit. Doch wenn sie das erste Wort bleibt und das letzte, so öffnet sich hier der Weg in den halben, den verunsicherten, den unglaubwürdigen - schlimmer noch: in den kleinen Staat. Wieder ist es das kritische demokratische Denken, das hier in seinem Extrem zur Gefahr wird, sich selbst aufhebt: Kritik ist gut als Wahrheitssuche, darum soll jeder sprechen; doch jedes Wort wird zur Realität, die ihr Recht verlangt im Kompromiss, und vor diesem Recht beugt sich die Richtigkeit, auch die der Kritik. Je mehr die späte Demokratie vor der harten Kampfabstimmung zurückweicht - und wo würde sie noch geliebt - je stärker der Zwang wird zu Kompromiss und Mittellösung, in der Verschleierung der Vorbereitungen wie der Ausführungen von Abstimmungen, desto häufiger resigniert eine Kritik, auf welche das Staatsrecht dieses politischen Regimes aber gegründet ist. Die große Gefahr dieses kleinen Staates ist es, dass er den Blick verliert für die Weite der größeren Ordnung, aus der allein heraus auch das kleine Gebilde den

Α. Vom Staat zum Reich

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Namen der Staatlichkeit zu Recht trägt; kaum in etwas anderem geht mehr vom Imperialen verloren als in Kompromiss und Mittellösung, erhebt man sie zur alleinigen Staatsmaxime. Umgekehrt wird die Größe des Reiches gerade darin erst deutlich, dass es die große, weite Lösung verlangt, stets noch etwas mehr als Kompromiss. Er ist nicht Quelle eines positiven Staatsrechts für die Demokratie, er bedeutet nichts als den resignierenden Ruhezustand ihrer kritischen Bewegung. Was es im Folgenden zu entfalten und in diese demokratische Welt hineinzutragen gilt, sind imperiale Elemente, welche die Mittellösungen transzendieren, etwas also, dem stets das virtuell Unendliche eigen ist. Wenn positives Staatsrecht einen Sinn hat, dann liegt er in seinem Wort: Es muss etwas „setzen", nicht nur koordinieren.

c) Das Imperiale als Kriterium

des positiven Staatsrechts

Die Staatslehre der liberalen Demokratie kommt nicht nur notwendig zu dem Ergebnis, sie geht letztlich schon davon aus, dass etwas wie ein „positives Staatsrecht", Elemente erfolgreicher „guter" Ordnung gar nicht erkannt werden können. Axiom des kritischen Geistes dieser Staatstheorie ist es ja, dass sie nur Gefahren aufzeigen, Fehlentwicklungen durch immer feinere Gewichte und Gegengewichte ausschalten soll. Was „läuft" an Staatlichkeit, wenn alle diese Hemmnisse beseitigt sind, dies eben ist dann „gut", politisch „gerecht". Gerade noch, dass man, höchst vorsichtig bereits, etwas „Bewährtes" anerkennen will - aber stets nur bis zum jederzeit möglichen Beweis des Gegenteils, und „gut" sind eben eine Staatsform und ihre Elemente schon dann, wenn sich gegen sie gegenwärtig nichts Wesentliches einwenden lässt, nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen ist. Dies ist der tiefere Sinn des Wortes von der Demokratie als der besten der schlechten Staatsformen: das „Gute", „Gerechte" im Staate, das „Positive" - all das wird aus dem Fehlen des „Negativen", aus ihm allein heraus definiert. Kritik anerkennt als gut eben all das, was ihr irgendwie noch standhält, ob es einen Wert in sich trägt, lässt sie stets offen. Deswegen hat auch nie ein demokratisches Verfassungsgericht versucht, „demokratische Herrschaft" an sich oder auch nur in ihren Elementen zu definieren. Dies kann nicht das letzte Wort der Staatstheorie sein. Sie muss versuchen, positive Kriterien, wenn nicht für ein ganzes System, so doch für Elemente eines solchen aufzustellen, Staatsbausteine zu finden, die als solche mit einiger Sicherheit tragen. Ein „bis zum Beweis des Gegenteils" darf sie nicht sogleich neben jedes positive Urteil stellen, positiv kann nur sein, was kaum, vielleicht nurmehr theoretisch zu bezweifeln ist. Die Demokratie selbst liefert täglich den Beweis, dass sie ohne solchen Aufbruch zu Elementen eines positiven Staatsrechts nicht lebensfähig ist. Wenn sie etwa „Gerechtigkeit" als solche nicht definieren zu können vorgibt, so füllt sie doch diese Lücke mit immer neuen Annahmen - etwa der von der „sozialen Gerechtigkeit" - bleibt hierfür allerdings dann jeden kritischen Beweis schuldig. Dies zeigt nur eines: Gesucht wird nach positiven Elementen einer staatlichen Ordnung, jenseits aller Kritik, selbst wenn man es in kritischer 3*

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Verfangenheit nicht wahrhaben will. Ist es da nicht besser, sich offen zur Notwendigkeit eines materiellen, positiven Staatsrechts zu bekennen und dies nun zu suchen, durchaus mit kritischen Augen? Entscheidend ist dabei das Kriterium: Aus dem riesigen staatsrechtlichen Steinbruch der Verfassungsgeschichte und aus dem Fluss von Regimeelementen der Gegenwart gilt es, in beständiger Arbeit, an einzelnen Punkten ansetzend, positive Elemente größerer Staatlichkeit herauszufinden, es ist eine Suche nach Goldadern. Da können mächtige geschichtliche Phänomene als Ausgangspunkt dienen, oder es muss, umgekehrt, eine massive dogmatische Konstruktion als Arbeitshypothese an wechselnden politischen Realitäten gemessen werden. Eines aber ist stets notwendig: Oberste, materielle Kriterien muss es geben für diese Suche nach den positiven Elementen eines Staatsrechts, einen wenn auch weiten Blickpunkt, von dem aus sie erkannt und von anderem, Vorübergehendem, Negativem isoliert werden können. Als ein solches, vielleicht das oberste Kriterium soll hier und im Folgenden das Imperiale stehen, alle Elemente des Staatsrechts eines „Reiches", das diesen Namen verdient, sind uns positiv. Was dies im Einzelnen bedeuten kann, wurde bereits vorstehend angedeutet, in der Suche nach positiven Staatselementen wird es sich weiter verdeutlichen lassen. Doch eines sei noch einmal in die Erinnerung gerufen, was ja bereits eine Vorgabe selbst der liberalen Volksherrschaft ist: Zum Reich steigert sich der Staat dann, wenn seine Ordnung eine gewisse Größe im Raum, eine gewisse Dauer in der Zeit, eine letzte Übermenschlichkeit in Transzendenz erreicht. Nicht anders kann ja auch die Demokratie das Gute erkennen als darin, dass es von vielen, auf lange Zeit und über die Kausalität ihres kontingenten Willens hinaus gebilligt wird. In diesem Sinne ist das positive Staatsrecht des Reichs nichts anderes als jener gesteigerte Dauerkonsens, aus dem allein die Volksherrschaft Gerechtigkeit ableitet. Ein positives Staatsrecht, ausgerichtet an den Elementen des Reichsbegriffs, kann nie „von außen herein" den heutigen staatsrechtlichen Entwicklungen und Erfahrungen aufgeprägt, es muss aus ihnen heraus behutsam entwickelt werden. Hier gilt es zu fragen, was an den Wahlen und am Staatstheater, an aufschäumender Meinungsfreiheit und an strengem Staatssicherheitsstreben jeweils „imperial" sein kann, wenn täglicher Missbrauch und heutige Zufälligkeit von ihm abfallen. In diesem Sinne sind dies dann Elemente eines „Allgemeinen Staatsrechts" - allgemein auch in dem Sinne einer größeren zeitlichen Kontinuität; denn dies gilt es ebenfalls zu beachten: Was sich nicht immer wieder findet, wenn möglich in bruchloser Kontinuität, wird uns kaum Elemente eines imperialen Staatsrechts zeigen. Wenn „das Reich" hinter gegenwärtiger Verfassungserscheinungen Flucht stets unsichtbar gegenwärtig geblieben ist, so muss es auch heute fassbar sein, und sei es auch nur - um ein großes Wort zu wiederholen - im letzten Saum seines Kleides. Imperiales Staatsrecht ist bisher immer versucht, jedenfalls aber gesehen worden als eine mächtige, lastende Ordnung, welche sich von oben auf Zerfallendes herab-

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senke. Wo aber die Fundamente brüchig waren, mussten auch diese Hallen rasch zu Ruinen werden. Diese Betrachtungen bekennen sich zum Vorverständnis eines induktiven imperialen Staatsrechts, sehen seine Elemente nur sichtbar werden im Kleineren, gerade in der täglichen realitätsnahen Demokratie. Methode ist nicht die Vergoldung von Fassaden, weit mehr die Goldsuche in Ruinen. Gesucht wird nach Elementen eines positiven Staatsrechts, weiterreichenden, in ihrer Geistigkeit übermenschlichen Gedanken politischer Ordnung. Die sozial denkende Welt der Gegenwart strebt nach „Errungenschaften" und will sie bewahren. In diesen positiven Aufbruch muss sich der Staatsrechtssuchende einreihen, denn weit mehr an Errungenschaften waren einmal schon geistig erreicht, es gilt nicht nur sie zu schaffen, es gilt, sie wiederzufinden - über Gewalt, Widerspruch, Anarchie ein freudiges Staatsrecht.

ΠΙ. Neue Methoden der Suche nach einem Reichs-Staatsrecht 1. Vom Organisationsrecht der Herrschaft zum Primat des Ordnungsziels a) Wiederentdeckung

des Ziels über den Befugnissen

Das moderne Staatsrecht ist, bereits seit dem Beginn der Neuzeit, konzentriert auf eine Frage: nach Inhalt und Grenzen der Befugnisse von Staatsorganen. Im Mittelpunkt aller Bemühungen stand und steht ja stets die Freiheit des Bürgers, für die Demokratie der Gegenwart ist sie das Kernproblem schlechthin. Dann aber ist es selbstverständlich, dass das Fragen nicht beim Staat, seinen Zielen, seiner Ordnung und deren Qualität beginnt, sondern bei dem, was er zu achten hat, bei der Bürgerfreiheit. Alles Bemühen läuft also bisher darauf hinaus, Staatsgewalt in Befugnisse aufzulösen und diesen dann Schranken zu setzen. Doch dabei gleitet der Blick ab von der großen Zielhaftigkeit der Freiheit und verliert sich in der Geometrie der Befugnisse. Für das Staatsrecht und seine Fortsetzung, das Verwaltungsrecht, gibt es daher letztlich nur die Frage nach der Herrschaftsorganisation. Das gesamte neuere öffentliche Recht ist Organisationsrecht, nicht materielles Ordnungsrecht. Dieses Organisationsrecht wiederum teilt sich dann rasch in zwei Ströme: in das Recht der Organe des Staates im engeren Sinn, ihrer Bestellung und ihrer Kompetenzen, und in das Recht der Herrschaftsformen, der Verfahren der Machtäußerung. Demokratisches Zentrum des ersteren Bereichs ist das Wahlrecht, für den letzteren steht das Gesetzgebungsverfahren. Das gesamte öffentliche Recht ist damit etwas wesentlich Formales geworden, eliminiert ist das Ziel, die Qualität der herzustellenden Ordnung. Das Parlament als solches, mit dem sich das heutige Staatsrecht beschäf-

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tigt, kann ja unterschiedliche Ordnungen schaffen; aus dem Gesetzgebungsverfahren mögen nahezu beliebige Entscheidungen hervorgehen, der Verwaltungsakt kann, in äußersten formalen Grenzen, weithin variable Inhalte dem Bürger befehlen. Im 19. Jahrhundert, auf der Höhe der liberalen Staatsform, traten die materiellen Inhalte immer weiter zurück, im Verwaltungsrecht verdämmerten sie zum Allerweltsbegriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Der neueren Rechtsund Staatstechnik entspricht es, Befugnisverästelungen, Kompetenzüberschneidungen, Formfehlern nachzugehen, nur so erreichen ihre Gegenstände die logische Festigkeit zivilrechtlicher Tatbestände. Nur nach einem wird immer weniger gefragt: nach dem Ziel des Herrschens, nach dem Inhalt einer Ordnung, hinter welche der Wille des Ordnenden zurücktritt, nach dem Selbstgewicht des geordneten Zustands. Es ist, als seien die Akteure das Theaterstück, als variierten sie das Herrschaftsspiel frei, auf den sorgsam eingegrenzten Bühnen der Macht, als sei es nicht ein großes Schauspiel-Thema, dem sie sich interpretierend unterzuordnen hätten; und man mag hier Parallelen zu den Variationsbemühungen des modernen Theaters ziehen. Aus der Freiheit zuerst ist all dies gekommen, aber auch aus dem Zusammenbruch dessen, was vor ihr war: der großen christlich-kirchlichen Teleologie, aus dem Ende des materiellen Staatsrechts des Mittelalters. Seine politische Theologie fragte ja nicht in erster Linie nach den Befugnissen von Kaisern und Königen, Völkern und Führern, sondern nach dem Ziel, dem Heilsauftrag, der zu schaffenden Civitas Dei. Bis in die letzten Details war diese Teleologie theologisch begründet, darin liegt die größte politische Leistung der Scholastik. Verfehlten die Herrschenden diese Ziele, so verfielen sie der Sündenstrafe und Hölle, dem Widerstand und der Exkommunikation, die materiellen Fehler wurden zur Schranke ihrer Befugnisse. Allzu rasch hat sich kritisches Denken seit dem 19. Jahrhundert daran gewöhnt, dass all dies unwiederbringlich verloren sei, vergangen mit der geistigen Einheit der abendländischen Kirche, aufgelöst in unabsehbare Pluralität. Vieles daran mag wahr sein. Es gilt aber, das große Ziel wieder zu entdecken, und sei es auch nur in Bruchstücken, in Umrissen, aus der Qualität der herzustellenden Ordnung erst Organisation und Befugnisse der Staatsorgane zu definieren. So ganz ist eben dieses Hoch- und Spätmittelalter nicht vergangen, gerade in seiner Reichsidee findet sich etwas von der großen staatsrechtlichen Zielhaftigkeit wieder: Gut ist alles, „positives Staatsrecht", was zum Reich formt, dem Reich näher bringt, im Kleinen wie im Großen. Dies bedeutet: Das Staatsrecht muss methodisch wieder lernen, von materiellen Staatszielen her zu denken, nicht nur Befugnisgeometrie zu betreiben. Begonnen worden ist damit bereits in den Staatszieltheorien, deren Notwendigkeit in neuester Zeit wiederentdeckt wurde. Doch einen Fehler gilt es jetzt zu vermeiden: als Staatsziele, als Ideal der Ordnung wieder nur etwas rein Formales vorzustellen, nur Verfahren und Berechenbarkeiten, formale Legalität. Nicht als ob nicht auch

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daraus Wege in materielle Ziel Vorstellungen sich öffneten; Reichs-Elemente sind aber mehr als Verfahrensoffenheiten, in denen letztlich wieder nur die Träger und die Formen des Herrschens von Bedeutung bleiben. Doch bereits wenn nach Größe, Dauer, Übermenschlichkeit einer Herrschaft gefragt wird, nach ihrer idealen Kraft, ist das Telos in seiner Macht wirksam, kreist alles erneut um Sonnen. Die Philosophie des vergangenen Jahrhunderts hat versucht, die formale Kategorik der Vergangenheit zu überhöhen in den Zielen einer materialen Ethik; dazu sind auch Politik und Staatsrecht aufgerufen. Ihr Problem wird es sein, dass sich dies nicht in einem neuen Ordre moral erschöpfe, sondern sich in der Allgemeinheit der Reichsidee vollende. Das verlangt eine radikale Methodenumkehr: Nicht mehr das klassische Schema des Polizeirechts: der Blick auf das Organ zuerst und seine Befugnisse - Aufgaben und Ziele nurmehr als theoretische Legitimation und Begrenzung, sondern seine Umkehr - aus der Aufgabe die Befugnis, aus der Befugnis das Organ bestimmen.

b) Kein Reich aus Freiheit allein „Hier beginnt das Reich der Freiheit!" - mit diesem Spruch über der Straßburger Rheinbrücke wandte sich das Elsaß ab von den Deutschen und ihrem Alten Reich, im Namen jenes neuen Reiches, welches Revolution versprach und Demokratie. Bis auf den heutigen Tag suchen wir nach diesem Règne de la Liberté, nach der Freiheit als der neuen Teleologie unserer Ordnung, nach dem Staatsziel der Bürgerfreiheit, dem Freiheits-Reich. Gerade in Deutschland ist mit jedem demokratischen Stoß der Gedanke der Libertät als Staatsgrundlage, als Reichsbasis wiedergekehrt: In der Weimarer Zeit sollte das Reich als solches auf eine Freiheits-Charta gegründet werden, auf eine Freiheit, in welcher alle Lebensbeziehungen kodifiziert erschienen - wirklich ein Versuch der Reichs-Rettung aus Freiheit. Nach 1945 konnte nicht mehr vom politischen Reich die Rede sein, die Deutschen mussten es in überpolitisch erscheinenden Werten suchen, den geistigen Resten ihrer Reichs-Vergangenheit. Und so begann auch hier wieder die Suche nach dem Staatsrecht der Werte, sie schien in der Wertordnung des Grundgesetzes fündig zu werden, wieder einmal fand der Deutsche sein Reich im System, in dem der Freiheit. In all dem, in der viel bewunderten Freiheitskodifikation von Weimar wie in der Wertlehre des Grundgesetzes, liegt deutsches systematisches Staatsdenken Reichsdenken. Dies sind große Leistungen, die zeigen, dass das Reich im deutschen Staatsrecht nicht verloren ist, wurde doch nirgends im Ausland vergleichbar an ein „Reich in Freiheit" gedacht, nimmt man Amerika aus. Doch zu weit gegangen wird dies zum Holzweg. Freiheit bedeutet ja, wie immer man sie verstehen will, stets eines im Kern Rückzug der Staatlichkeit vor dem Bürger. Noch soviel mag man denken in „realen Freiheiten", Staatsgeschenken, der eigentliche Kern des Freiheitsgedankens bleibt der Status negativus, die Abwehrfreiheit gegen öffentliche Fremdbestim-

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mung. Ein Staat aber, der letztlich weithin absterben soll - und darin waren sich ja stets weithin „bürgerliche" wie kommunistische Demokratie einig - kann kein materiales Ziel seiner Ordnung finden, er ist letztlich nichts als politischer Selbstmord. Wer allein nach Freiheit fragt, kann das Reich nicht erkennen, weil er nur fortfährt, es immer noch weiter spätmittelalterlich zu zerstören. Es wird schwer sein, ideelle Gewohnheiten und Begeisterungen der Freiheit von Jahrhunderten in gegenwärtigem Denken zurückzudrängen, dabei aber die Freiheit nicht zu verlieren, ohne die es kein Reich geben kann mit seiner Vielheiten überwölbenden Einheit - und doch den imperialen Ordnungswert als solchen wieder zu entdecken, ihn nicht nur in der größten Freiheit der größten Zahl zu sehen. Wie immer man das Reich definieren mag - in ihm muss Freiheit sein, aber es darf nicht nur aus Freiheit bestehen, zu ihr ziehen, und man darf in seinem Namen auch nicht nur von Individualfreiheiten zu Kollektivfreiheit fortschreiten. Denn das Reichs-Denken verlangt eine Betrachtung des Ordnungszustands als solchen, der Ordnungskräfte auch unabhängig von ihren freiheitsgewährenden Wirkungen. Das Reich ist zu groß, als dass es nur Freiheit sein könnte.

c) „Recht auf das Reich" Bürger-Reich aus gesteigertem Status activus Dass ein Denken in Abwehr, dass der Status negativus nicht genügen kann, ist heute Gemeingut: Hinter ihm kommt immer mächtiger das Forderungsrecht des Bürgers gegen den Sozialstaat herauf, im Status positivus verdrängt die Forderung die Freiheit. Darin liegt bereits eine neue Erkenntnis der Notwendigkeit von Staats-Zielen: Staat - das ist nicht eine Maschine mit beliebiger Produktion, es ist ein Service mit bestimmten Leistungen. Im Materiellen der Leistung, aus der „Staats-AG" definiert wird, liegt bereits das Materielle des Staats-Ziels, in einer ersten Annäherung. Ein Staat, dessen Herrschaft nicht Brot gibt und Spiele, verdient diesen Namen nicht, sekundär sind hier Befugnisse und Handlungsformen, entscheidend ist der Handlungserfolg, die materielle Ordnung von Wohlfahrt und Vergnügen. Dies ist ein neues „Reich" - aber auf der Stufe wahrhaft elementarer, materieller Glückseligkeiten. Der Weg ist gut, doch er endet zu rasch im Schlaraffenland. Die Paradiesvorstellung vom Reich ist wieder ganz gegenwärtig in den Bedürfnissen, die es befriedigt - doch seine Bürger schauen nur einen Garten ohne Gott, ohne die höhere Idee, die ihn zum Paradies macht, letztlich sehen sie den Garten vor Fruchtbäumen nicht mehr. Die so viel kritisierten Forderungsrechte sind eine tödliche Gefahr des niedrigsten Eudämonismus, zugleich aber auch ein Aufbruch zur alten, größeren Reichsidee des Staates, der irdische Glückseligkeit bringt für seine Bürger. Das öffentliche Recht ist verwirrt angesichts solcher Ordnungsprobleme, mit der Organisationsgeometrie des Sicherheitsrechts lassen sie sich nicht lösen, in verwaltungs-

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gerichtlich durchsetzbare Ansprüche kaum fassen, eben weil hier neuartige Ordnungsdimensionen sichtbar werden - Reichs-Dimensionen. Doch gerade die Gegenwart erkennt auch die Notwendigkeit zum nächsten Schritt: zur Teilhabe, zur Mitbestimmung, zum Status activus. In der Forderung des Status positivus ist die Dogmatik der Freiheit erhöht worden, das klassische öffentliche Recht. Mit der Teilhabeidee, der die nächste Zukunft gehören wird, gilt es, selbst die Forderungsrechte noch zu überhöhen, in Verantwortlichkeit einzubinden ins Reich. Auch hier bietet sich zunächst kaum mehr als ein unklares, ja anarchisch wirkendes Bild. Bürger, die ausziehen für einen besseren Staat zu streiten, private Verbände, die für öffentliche Interessen vor den Kadi gehen wollen - in all dem kann das liberale öffentliche Recht nichts anderes sehen als eine Auflösung des staatlichen Befugnismonopols, Organmonopols, im Letzten: Gewaltmonopols. In Wahrheit wird darin aber weit mehr sichtbar: Der Forderungsstaat ist Wirklichkeit; aber der Bürger erkennt, dass er hier nicht stehen bleiben kann, weil sonst der Forderungsgegner, der Staat, zum Kadaver wird, den nurmehr Bürgeregoismus zerreißt. Eine neue Seele muss er ihm geben, er selbst muss in ihn hineintreten, auf dass er, seine und anderer Forderungen befriedigend, wieder aus ihm heraus wirken könne. Damit aber verlangt der Bürger etwas gänzlich Neues: Er macht einen Anspruch auf eine bestimmte Art staatlicher Herrschaft geltend. Entscheidend ist ihm nicht, in welchen Formen im Einzelnen diese realisiert werden kann, daher erklärt sich ja auch das Chaotische vieler derartiger Teilhabeversuche. Entscheidend ist für den Bürger, dass bestimmte Inhalte staatlicher Ordnung durchgesetzt werden, nicht so sehr, dass gerade er es ist, der dies vermag. Die Betroffenen-Demokratie ist ein Schlagwort, ein Instrument vielleicht; wichtiger ist die Sorge des Bürgers um die Ordnung selbst, um gesicherte Umwelt, sicheren Arbeitsplatz. Das viel kritisierte Teilhaberecht ist also nur Ausdruck von einem: Gesucht werden nicht mehr nur Befugnisse und Organe, gesucht sind bestimmte Ordnungen, Sicherheiten. Man mag dies Lebensqualität nennen oder Sicherheitsdenken - dahinter steht doch nur das Streben nach dem, was eben diese Werte stets optimal gebracht hat: ein Reich. Reich - das bedeutet heute Sicherheit, in einer Herrschaft, die fern, und doch den Bürgern ganz nah ist. Das besondere Erbe, das die Demokratie diesem Reichsdenken hinterlassen wird, ist die Bürgernähe, in welcher alle Ordnungen zu suchen sind. Welche Primitivität, das Reich nur im Militärstaat sehen zu wollen, im Kaiser auf weißen Rossen! Pas Reich ist heute in den Bürgern, in ihren sozialen und geistigen Ordnungsängsten, aber auch in ihrer Bereitschaft, nicht nur zu fordern, sondern in teilhabend-verantwortungsvollem, gesteigertem Status activus diese Ordnung selbst mitzutragen. Methodisch bleibt das völlige Umdenken Aufgabe: Forderungsstaatlichkeit und Teilhabestaatlichkeit nicht als Degeneration der liberalen Abwehrfreiheit, sondern als ihre Steigerung und Vollendung; ein Denken nicht nur in Ausgrenzungen, Or-

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ganen und Befugnissen, sondern in Ordnungsqualitäten als Lebensqualitäten, aus denen sich dann erst Befugnisse und Organe technisch ableiten lassen; ein Blick, der sich immer zuerst auf Art und Qualität der Ordnung richtet, nicht auf Person und Begrenzung der Herrschenden. Der gesteigerte Status activus mag nicht leicht in die herkömmlichen Formen unseres Rechtswegesystems einzufügen sein, der Kampf um Verbandsklagen zeigt es. Doch ein Nachdenken über das Reich muss zu einer Rechtsfigur führen, ohne die es eine solche größere Ordnung nicht geben kann; etwas wie ein „Recht des Bürgers auf sein Reich", auf eine bestimmte Qualität der Ordnung, nicht allein auf Organbestimmung durch Wahl. Nur ein Staat, welcher seine Bürger durch Ansprüche an sich zieht, die er ihnen auf sein „besseres Herrschen" verleiht, ist letztlich voll legitim - als ein wahres „BürgerReich".

2. „Das Reich" - mehr als „der Staat" a) Staat - die „gerade-noch-Herrschaft" Das ganze moderne Staatsrecht ist auf Beschränkung, ja Minimierung der Macht angelegt, nicht zuletzt im Staatsbegriff selbst kommt dies zum Ausdruck. In ihm liegt an sich nichts von Machtkonzentration, von Steigerung der Gewalt, von Ballung der Herrschaft - im Gegenteil: Staat, das ist eigentlich nichts als ein Machtminimum, welches gerade noch Ordnung aufrechterhalten kann, der Staat ist nur die „gerade-noch-Herrschaft"; so haben ihn die Liberalen hinterlassen. Deutlich zeigt dies die allgemeine Staatslehre, von ihr befruchtet, oder in ihrem Gefolge, die völkerrechtliche Lehre von den Staatselementen. Hier wird nicht etwa das Ideal einer Staatlichkeit aufgestellt, der sich ein solches Ordnungsgebilde immer mehr annähern müsste, um diesen hohen Namen zu verdienen, der Begriff Staat hat all seine attraktive Idealität verloren. Es geht nur um eines: Welches Gebilde lässt sich gerade noch als Staat ansprechen, so dass man sich der Einmischung in seine inneren Angelegenheiten enthalten und es als Mitglied der Staatenfamilie anerkennen muss? Dazu eben bedarf es nur der Mindestvoraussetzungen einer Mehrzahl von Staatsbürgern, eines abgegrenzten Gebietes und einer Herrschaft, die beides zusammenhält. Diese drei Elemente tragen jedoch in sich schon wieder einen Zug zum Minimalen, nicht zur machtmäßigen Steigerung. Schwer lässt sich ja im Völkerrecht bestimmen, wie groß das Staatsvolk denn sein müsse, als Staatsgebiet genügt das „Eckchen Erde" des Vatikanstaates? sicher, und an Herrschaft reicht erst recht ein Minimum aus, das im Einzelnen sogar der Beurteilung „von außen" entzogen ist: Es muss eben nur soviel sein, dass die übrigen Elemente nicht zerfallen. Nicht einmal ein „rechtlich geordnetes Regieren" im Sinne der entwickelten Staaten kann heute noch gefordert werden; ein Gebiet, das von Militärpatrouillen umkreist, dessen Sender, Häfen und Flugplätze von ihnen kontrolliert werden, ist ein Staat, im Sinne einer „minimalen Dauergewalt".

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Nicht hinreichend wurde bisher darüber nachgedacht, dass diese völkerrechtliche Minimalsicht des Staates im Grunde auch die Vorstellungen des internen Staatsrechts prägt; der Staat ist eben einer, ob er „von außen" oder „von innen" gesehen wird, so wie die allgemeine Staatslehre ja auch völkerrechtliche Betrachtungsweise sogleich und ganz natürlich ins interne Staatsrecht transformiert. Daraus aber ergibt sich nun, dass der Begriff der Ordnung der Staatlichkeit im herkömmlichen Verständnis nur in einer recht elementaren Weise eigen ist - es genügt, dass jeder auf die Dauer niedergeschlagen werden kann, der sich gegen Machthaber auflehnt, welche einige strategische Punkte besetzt haben. Nicht notwendig ist eine ausgebildete Rechtsordnung, noch weniger eine entwickelte Verfassungsordnung und schon gar nicht die Steigerung beider zu einer gestuften intensivierten Gesamtordnung. Hier nun liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem Reich und dem Staat: Mit den Kategorien des letzteren lässt sich das Reich nie voll erfassen, weil dort eine Minimal-Ordnung genügt, welche diese letztere Bezeichnung schon kaum mehr verdient. Eine Staatslehre des Reiches muss also Abschied nehmen von der „Betrachtung des Staates von außen", sie darf sich nicht begnügen mit der herkömmlichen Lehre von den Staatselementen, mit der Feststellung des „geradenoch-Herrschens". „Von innen" muss sie auf den Staat sehen, die Ordnungs-Kategorie als Kriterium seiner Reichs-Qualität entwickeln, eine gewisse Höhe, Allgemeinheit, Intensivierung dieser Ordnung verlangen und, vor allem, ein Ordnungs-Ideal entfalten, dem sich die Herrschaft zu nähern hat, damit sie, immer mehr, den Namen eines „Reiches" verdiene. Nach Annäherung oder Entfernung von diesem Idealzustand sind dann Güte oder Untauglichkeit staatsrechtlicher Gestaltungen zu beurteilen - für den Bau des Reiches. Vom Staat als Minimal-Herrschaft zum Reich als Optimal-Ordnung - dies ist in erster Linie ein methodisches Problem: Es muss der Standort gewechselt werden, von „außen" nach „innen", und auch der Orientierungspunkt für die Beurteilung der Güte von Staatsformen und Staatsorganisationen - er liegt nun in der Intensivierung gestufter Ordnungen, nicht mehr in einer Macht, die sich gerade noch über den Wassern der Anarchie zu halten vermag. Der moderne Staat ist für viele heute nur ein Wort für Machtabbau, immer mehr wird er geradezu ordnungsneutral. Das Reich mag machtneutral sein, es bleibt aber auf Ordnungen gerichtet. Das Ideal der neueren „Staatlichkeit" ist ein Zustand von eigenartiger Liberalität - die Militärpatrouille, die im besetzten Gebiet ausspäht, ob sich irgendwo Widerstand zeigt, alles andere „in Freiheit" belassend, allenfalls noch Herbeieilenden aus Feldküchen Essen verteilend. Das Reich dagegen will in Ordnung wenn nicht überall sein, so doch alles überprüfen; daher muss es, die Geschichte hat das immer wieder bewiesen, im Letzten „von unten" kommen, von den Bürgern selbst, eben als - Bürger-Reich.

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b) Die Reichsidee - Steigerung der drei kantischen Kategorien der Staatlichkeit Die Ordnungsidee ist ein entscheidendes Kriterium für die Erkenntnis, dass das Reich der Idee nach mehr ist und ein anderes als der Staat. Doch hinzu muss noch ein weiteres treten: Das Bewusstsein, dass eine Staatslehre des Reiches sich in „ganz anderen" Dimensionen zu bewegen hat als ein Herrschen, das sich in Staatlichkeit - gerade noch dahinschleppt. Kants zentrale Erkenntnisse gilt es hier abwandelnd einzusetzen: Macht und Herrschaft mögen „Dinge an sich" in der Realität sein, wir vermögen sie nicht wirklich zu erkennen, aus unseren Denkkategorien heraus legen wir in sie, was uns politische Ordnung bringt. Bisher haben wir diese unsere kantischen Kategorien in einer Art von „Staatsdenken" auf die Politik angewandt, es gilt jedoch, dies in „Reichsdenken" zu überhöhen. Zwar stehen uns immer nur die gleichen Kategorien der Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Kausalität, im Sinne der Wirksamkeit, zur Verfügung. Doch wir können und müssen sie steigern, um eine neue Größenordnung zu gewinnen. Konkret bedeutet dies: Die Reichslösung muss größere Dimensionen im Raum erreichen, das Reich fordert die „große Lösung", den Monumentalstaat. Die kleine Entscheidung bleibt Baustein, im Letzten zählt allein das Gewölbe. Das Reich verlangt einen ganz anderen Zeitbegriff als die Staatlichkeit mit ihren Anfängen und Enden, ihrer ängstlichen Kontinuitätssuche in Legalität. Das Reich kann verdämmern und wiederkehren, es bleibt stets gegenwärtig in jedem einzelnen seiner Elemente, sein Gütezeichen ist die Wiederauferstehung von Ordnungsformen, die staatsrechtliche Renaissance. Das Reich entsteht schließlich aus Wirkkräften, in einer Kausalkette, die unvergleichlich ist mit den Ursprüngen liberaler Staatlichkeit. Diese wird hervorgebracht und gehalten durch etwas wie eine „Grenz-Gewalt", die eben noch genügende Macht. Die intensiven, tief gestuften Ordnungen eines Reiches könnten nur herauswachsen aus der mächtigen Kausalität eines großen Anfangserfolgs, der sich in der Erfolgsgemeinschaft fortsetzt, in ihr immer weitere Reichs-Kräfte hervorbringend. Dies ist es, was im Folgenden, in diesem Hauptteil, „Triumph" genannt wird, im Grunde nichts als ein strahlend gesteigertes Erfolgserlebnis, als große fortwirkende Ordnungskausalität. Außerhalb der Denkbahnen der deutschen idealistischen Philosophie lässt sich hier nichts entwickeln. Doch längst sind noch nicht in der politischen Theorie ihre Tiefen ausgelotet. Hegel hat den Weg gewiesen mit seinem „Geist als Staat" in den ersten Anfängen des deutschen Liberalismus. Noch ganz, wenn auch vielleicht unbewusst, aus der alten großen Reichsidee schöpfend hat er die Herrschaft als das Reich des übermenschlichen Geistes erkannt. Aufgabe ist es nun, seinen Spuren zu folgen, belastet mit dem Gepäck von eineinhalb Jahrhunderten Liberalismus, Herrschaftsminimierung durch Staat, bereichert aber auch durch vielfache Erkennt-

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nisse, die zu einer Sicht zusammenführen: wieder zurück zu finden zu einem Reich, in dem der Staat die Ordnung der größeren Dimension ist, in den gesteigerten kantischen Kategorien.

c) Relativitätstheorie

des Reichsgedankens

Nicht die gebotene Ausweitung, sondern eine Verengung des Blickes wäre es aber, wollte man nun das Reich nur im Riesenstaat sehen, in der Gewaltanhäufung, so wie es der liberalen Staatsromantik der kolonialen Empires im vergangenen Jahrhundert entsprach. Immer wieder muss ja betont werden, dass außenpolitisch wirksame Machtkonzentration allein ein Reich nicht schaffen kann, für diesen Begriff vielleicht überhaupt unbehilflich ist. Es gilt eben auch hier, den außenpolitischen, völkerrechtlichen Blickpunkt aufzugeben: Das Reich definiert sich nicht aus der Unterwerfungschance anderer Nationen, und dies gilt auch nicht erst seit der Entdeckung der totalen Vernichtungswaffen. Reichsdenken blickt auf die eigene Ordnung zuerst, stets wesentlich nach innen. Reichsstaatsrecht, wie es hier verstanden wird, kann nur Primat der Innenpolitik bedeuten. Dann aber ist etwas die notwendige Folge, was in diesem methodischen Kapitel, eine „Relativitätstheorie des Reichs-Denkens" genannt werden soll, die gerade sichtbar wird in Ordnungs-Kausalität, im staatsgründenden Erfolg: Es kommt nicht darauf an, was er im Ergebnis an Machtballung, in absoluten Zahlen der Ausführung bewirkt, entscheidend bleibt das Verhältnis des Triumphes zu der Ordnung, die aus ihm erwächst. Um ein Beispiel zu nennen: Wilhelm Teil und die Schweizer Bauernsiege haben einen imperialen Anfang gesetzt, im engen, vorgegebenen Raum der Kantone haben sie den Ausgangspunkt einer unvergleichlich gestuften und intensiven Ordnung bedeutet, in diese immer wieder legitimierend hineingewirkt; die Relation war optimal, die Schweiz ist ein Reich par excellence, deshalb konnte sie sich als erste vom größeren Reich lossagen. Wichtig sind also, im Sinne solcher Relativitätstheorie, nicht die absoluten Zahlen, sondern das Verhältnis von Erfolg und Ordnung, die Ordnungsintensität, nicht der Ordnungsraum. Doch noch in einem weiteren Sinne mag von einer Relativitätstheorie des Reichs-Denkens gesprochen werden, gerade bei der Betrachtung der ErfolgsGrundlage des Reiches tritt er ins Blickfeld: Entscheidend für die Reichsqualität der geschaffenen Ordnung, für die Wirkkräfte, die solche Ordnungen als ein Reich auf Dauer erhalten können, ist das Verhältnis zwischen der Größe des Ausgangserfolgs und dem Ergebnis der End-Ordnung. Je kleiner der Anfangs-Triumph war, je größer aber die Ordnung ist, welche daraus eines Tages entsteht, nach ihrer Intensität wie nach ihrer räumlichen Ausdehnung, um so mehr wirken hier Kräfte wahrer Reichlichkeit, der Triumph steigert sich zur Staatslegende. In den Vereinigten Staaten ist dies der große Aufbruch in die Freiheit des Westens, das riesige Reich der Freiheit als Ergebnis der namenlosen, armseligen Auswanderer-Trecks darin liegt „Reich", darin bewährt sich die Relativitätstheorie des Imperialen. Die

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Eroberung Russlands und Sibiriens aus den Moskovitischen Zentren heraus, des Französischen Reichs aus der Ile de France waren ebenfalls imperiale Explosionen, wenn auch lang dauernd in der Zeit. Und ist nicht das größte aller Reiche aus dem kleinsten aller Anfänge gewachsen, aus den Hügeln am Tiber? Diese Relativitätstheorie als Prüfstein des wahrhaft Imperialen bedeutet die notwendige Verstetigung langsam aufbauender Ordnungen, der Tempel des Reichs wird nicht in drei Tagen wieder aufgebaut; wer dies versucht, wie Napoleon, der wird ihn an einem Tage stürzen sehen. Die Relativitätstheorie des Reiches bedeutet aber noch mehr: das Reich als „politisches Wunder", als politische Legende, aus so kleinen Anfängen so hoch hinaufwachsend. Es ist, als gälten auch hier die physikalischen Gesetze von Düsen und engen Explosionsräumen: Aus ihnen heraus werden die größten Wirkungen frei, und der Lehre vom Reich wird eine schwere Aufgabe gesetzt, sie muss versuchen, diese wahrhaft atomaren politischen Abläufe zu beherrschen, zu verstetigen, friedlich zu nutzen, sonst können sie nur in Explosionen zerstören; Deutschland hat es erlebt. So ist denn eine recht verstandene Relativitätstheorie des Imperialen nicht eine Relativierung der vorhergehenden These vom Reich als Steigerung kantischer Kategorien, sie ist nur deren Verfeinerung. Man muss lernen, dieses Wissen der kantischen Kategorien auch im vergleichsweise kleinen politischen Raum zu erfassen, im Imperium der Schweiz. „Das Reich" ist nie in absoluten Zahlen messbar, sondern immer in der Beziehung von Ausgangskraft und endgültigem Ordnungsergebnis. Wer dies nicht sieht, wird mit seinem „Reich" nur dem Götzen der Macht ein Denkmal setzen, wo es doch gilt, den Geist der Ordnung in Politik zu verehren. So mag denn ein Satz am Anfang einer Lehre vom Reich stehen: Das Reich ist Kraft und Herrlichkeit, doch ein anderes kommt vor all dem: Reich - das ist eine Form des politischen Denkens.

3. Das Reich in seinen Trümmern entdecken a) System um jeden Preis - ein staatsrechtlicher

Irrtum

Eine Staatslehre des Reiches muss eine zugleich inhaltliche und methodische Grundannahme aufgeben, von welcher aber ein Denken in Reichs-Kategorien bisher meist ausgegangen ist: Das Reich als ein großes, umfassendes Herrschaftssystem, das Imperiale als Systemsuche par excellence. Die Gewölbe der größeren Ordnungen mögen sich wohl letztlich zur Kuppel schließen, stets dahin weisen, das Reich kann nicht von oben, aus der Laterne der Kuppel heraus, deduktiv gebaut werden. Der zu rasche Umschlag aus der geduldigen Suche imperialer Staatselemente zum Reichs-System schafft vielleicht systematische Herrschaft, nicht aber Ordnungselemente des Imperialen.

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Das Staatsrecht der neuesten Zeit ist von seinen aufklärerischen Anfängen an stets zuerst auf der Suche nach dem System gewesen, nicht selten hat es gerade deshalb das Reich verfehlt - aus drei Gründen vor allem: - Ein Missverständnis der aristotelischen Staatsformenlehre mag der geistige Ausgangspunkt gewesen sein. Die kategorisierende Ordnung der Herrschaftselemente, wie sie die antike Staatsphilosophie versucht hatte, wie sie im Mittelalter und zum Beginn der Neuzeit fortgesetzt worden ist, erschien allzu leicht als ein primäres Systemstreben. So setzte man denn diese Versuche fort, nicht um immer neue, heterogene Elemente zu erfassen und vorsichtig zusammenzuordnen, sondern sogleich in dem anspruchsvollen Unterfangen, aus ihnen ein in sich schlüssiges System zu gewinnen, das sich in Selbstgesetzlichkeit reproduzieren könne. Das Ergebnis war dann der Staat als Herrschaftssystem, die Staatsform als systematischer Kern, der Heterogenes zu assimilieren vermochte. So war dann früher im Grunde „alles Monarchie", in unseren Tagen wird „die Demokratie überall" gesehen, bis in alle Einzelordnungen von Staat und Gesellschaft hinein soll sie deduktiv durchgesetzt werden. Methodisch war dies, wenn nicht ein Irrweg, so doch ein bedenklicher Kurzschluss. Der aristotelischen Staatsformenlehre geht es ja, wenn auch mit einiger Vereinfachung, gerade nicht darum, ein in sich geschlossenes, sich selbstgesetzlich reproduzierendes Herrschaftssystem zu entwickeln; sie will vielmehr Heterogenes zusammenordnen, indem sie die Verschiedenheit der Elemente durchaus anerkennt, sie gerade fruchtbar macht. Deshalb ist ihr Ideal ja auch nicht der rocher de bronze der in sich völlig einheitlichen Staatlichkeit, sondern Verbindung und gegenseitige Durchdringung unterschiedlicher, ja gegenläufiger Staatselemente, ihr Ideal ist die gute, d. h. aber die „gemischte" Staatsform. Diese aristotelische Staatslehre ist ein methodisches System, sie will kein einheitliches normatives System schaffen. - Die monotheistische Gottesidee war es vor allem, welche dieses systematische aristotelische Denken zur Systemsuche der Staatlichkeit wandelte. In der scholastischen Staatslehre mit ihrer Theozentrik hat sie die Staatselemente zum Staatssystem zusammengeschweißt, dem ganzen neueren Staatsdenken eine Richtung fast ohne Wiederkehr gegeben. Das säkularisierte, kritische Denken der Aufklärung hat in seinen staatsrechtlichen Systembemühungen, von Bodin bis Rousseau, immer nur dieses eine fortgesetzt: das Staatssystem als Gottessystem auf Erden, in monotheistischer, absoluter Einheit. Mit der systematischen Gottesidee kam in das staatsrechtliche Denken die systematische Schöpfungsidee, jene Vorstellung von creatio continua, in der ein Systemzentrum, der sich in sich drehende Schöpfergott - der Monarch, das Volk ununterbrochen Herrschaft hervorbringt, sie konzentrisch um sich legt, in Schöpfungstagen immer weiter entfaltet. Der Einheit des missverstandenen aristotelischen Staatsrechtssystems fügte das monotheistische Religionsdenken noch die systematische Konzentrik hinzu.

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Das Reich konnte einem solchen Denken nur erscheinen als der „wesentliche Mittelpunkt", um den sich Herrschaftskreise bilden, in denen sich die zentrale Machtäußerung abschwächt, ja verliert, bis sie in der Reichsferne der Barbaren endet, so wie das Himmelreich sich im Fegefeuer abschwächt, an den Pforten der Hölle aufhört. Dieses Reich soll also nicht nur Einheit sein, in einem „System", sondern noch Konzentrik - damit aber wird ein Doppeltes verschüttet, ohne das die große antike Reichsidee nicht nachvollziehbar ist: zum einen die bereits erwähnte Vielfalt der Elemente, aus denen sich eine solche Ordnung zusammensetzt, die vielleicht gerade durch zentripetale und zentrifugale Kräfte gemeinsam erhalten wird; zum anderen und vor allem der großflächige Ordnungsgedanke, das Wesen einer Ordnung selbst, die überall auf dem Reichsgebiet gleich gegenwärtig, gleich intensiv, wenn auch vielleicht in Stufung nach oben führend gedacht wird. Das Reich - das ist ein Ganzes, nicht ein sich in Randzonen ordnungsmäßig Verlierendes. Einheit und Ausschließlichkeit mag sein Ideal sein, seine Größe liegt darin, dass es selbst in einzelnen, verloren scheinenden Elementen erkannt werden kann, dass in allem Imperialen bereits das Reich liegt. - Das Reich ist immer gekommen mit seinem Recht, doch dieses ist für juristisches Denken seit einem Jahrtausend eine systematische Einheit, die römische Kodifikation der späten Reichszeit. Anders als in Systemen konnte schon deshalb das neuere Staatsrecht nicht denken, weil die römische Herrschaftsform ihm wesentlich als das System des Corpus iuris begegnete. So einheitlich, geschlossen, sich selbst systematisch fortbildend wie das römische Recht - so nur konnte das Reich gedacht werden. Auch hier wieder wurde geschichtlich bereits zu kurz gedacht. Als „das Reich" nahm man jene Kompilations-Anstrengung, in der eine bereits müde werdende Imperialität noch einmal mit Gewalt die Reichsidee restaurieren wollte. Justinian das bedeutet Rechts-Abend wie Reichs-Abend. Erst die Philologie der letzten hundert Jahre hat all die vielen Schichten wieder ans Licht gehoben, in denen sich das römische Recht entfaltet hat, als das Recht eines großen Reiches; so ist der Panzer aufgebrochen, in den späteres Systemdenken diese Vielfalt gepresst hatte, ein Staatsdenken, welches das Reich in seinem System geistig erhalten wollte, weil es politisch und in der Wirklichkeit verloren schien. Diese Aufgabe vertiefter Pandektistik, welche das Zivilrecht mit philologischer Hilfe lösen konnte, die Wiederentfaltung des großen antiken Reichtums der imperialen Rechtsformen - dies alles steht dem öffentlichen Recht noch bevor. Nur wenn es sich von allzu einfachem, kurzatmigem Systemdenken befreit, wenn es zuerst nach den Bausteinen fragt, nicht nach dem Bauwerk, nur dann hat das staatsrechtliche Reichsdenken eine Chance. Das System steht am Ende des Reichs, nicht an seinem Anfang, es ist eine dauernde Aufgabe, nicht ein glücklicher Ausgangspunkt. Das Reich ist keine rationale Machtgeometrie, kein auszubauendes Stützpunktsystem der Herrschaft, in welcher diese sich von oben nach unten herabsenkend verfeinern könnte. So verstanden

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hätte es heute keine Chance, so begriffen wird es nach einer langen Phase der Demokratie stets abgelehnt werden. Vielleicht musste erst einmal die Volksherrschaft mit ihrer Anarchie die monarchische, monotheistisch-monolithische Systematik zerbrechen, damit der Blick wieder geöffnet werde für die scheinbare Anarchie so vieler Herrschaftselemente, bei der aber in jedem doch „etwas liegt vom Reich". So mag man denn auch einmal das Reich und seine Größe vergessen über einem einzelnen, bemerkenswerten Ordnungs-Fund - auch und zuerst darin begegnet das Imperiale. b) Der Verlust der Klassik - Reich ohne Vielfalt? Modernes Staatsdenken ist mit der Französischen Revolution in seine entscheidende Phase getreten in einem Augenblick, in welchem künstlerisches und geistiges Bemühen im Neo-Klassizismus verarmte, zu erstarren begann. Was an Reichsgedanken damals, in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, einfloss in staatsrechtliche Versuche und Konstruktionen, trug bereits die uniformierende Maske immer gleicher antik-schöner Gesichter, lebte aus dem Versuch extrem vereinfachender Reichs-Konstruktion. Das Imperiale als das Größte und zugleich Einfachste - das Reich als die höchste Abstraktion der Macht, als die einfachste Form des Herrschens, dies wurde als klassisch gefühlt und antik, und so konnte es keine Kraft bilden gegen die neuen, mächtigen Bewegungen der heraufkommenden Volksmacht. Wenn die brodelnde Demokratie über diese Reichsgeometrie Napoleons und der Restauration hinweggegangen ist, wenn der Fortschritt immer wieder über ein „Konservatives" hinwegzuschäumen versucht, in dem er lediglich erstarrte Reichs-Geometrie erkennen zu können glaubt, bewegungsarmen Law and Order, so hat all dies einen schweren Verlust an Reichsdenken gebracht, weil es im Grunde nur eines ist: der Verlust der großen staatsrechtlichen Klassik. Die Antike ist verlorengegangen mit ihrem Reichsdenken, als die neoklassischen Götter alle dieselben Gesichter zu tragen begannen, sie kann nur wiederentdeckt werden in einer Rückkehr zum politischen Polytheismus, der den Reichtum vielartiger politischer Mächte zusammenzuordnen unternimmt. So ist der Pluralismus der Demokratie nicht ein Hindernis, sondern eine Chance auf dem Weg zum Reich, wenn er sich versteht als ein Zurück zum klassischen Polytheismus der Herrschaftsinstanzen und Herrschaftsformen, die im Reich sich zusammenfinden. Die Reichidee ist zurückgetreten in den allzu raschen Kodifikationsversuchen auf höchster Ebene, den immer neuen, vorschnellen Verfassungsschöpfungen, in der die imperiale Vielfalt der Gesetze sich verloren hat. Die großen Reiche sind gewachsen, von Rom bis Britannien, im tastenden Vörwärtsbauen der Gesetze, nicht in den abschließenden Tridentinen mit ihren verfassungsschützenden Exkommunikationen. Das Klassische - das ist nicht die eine Lösung, die eine, konzentrierte Herrschaft, das eine machtzentrierte Reich, es ist die Vielheit, die bewahrt und zur Ein4 Leisner

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heit geordnet wird. Das Reich ist die Suche nach der Harmonie des Verschiedenartigen, das sich nicht gewaltsam vereinheitlichen lässt, das nur in Freiheit zur Ordnung zusammenfinden kann. Klassisches Reichsrecht - das ist wie ein Bemühen um klassische große Staats-Architektur, aber in einer Beschäftigung mit den tragenden Bau- und Gestaltungselementen, mit Säulen, Friesen und Architraven, zuerst in der Nachzeichnung all ihrer bewährten Einzelheiten, sodann in der Suche nach der Harmonie einer Zusammenschau, welche doch jedem Element einen imperialen politischen Selbststand belässt. Da sind dann die Kommunen unmittelbar zum Reich wie die Gliedstaaten, in ihrer Idee gerade, im Föderalismus liegt imperiales Denken; da finden sich die einzelnen Gewalten von Ökonomie und Kultur in der gleichmäßigen Berücksichtigung menschlicher Grundbedürfnisse. Immer wurde die Harmonie gesucht vor den Teilen im Namen des Reichs - es gilt zuerst geduldig zu suchen nach den Elementen eines Imperiums, bevor sie sich zu seiner Größe in Harmonie zusammenschließen können. Diese Suche ist vorgegeben zu allererst, nicht sogleich der glückliche Einzug in die Hallen der größeren Ordnung. Immer wieder wurden Integrationslehren entwickelt, um, nicht ohne Gewaltsamkeit, auseinanderstrebende Willensmächte zusammenzuzwingen, und viele schöne Worte sollten dabei helfen, Konsens ist nur das letzte, demokratische unter ihnen. Doch entscheidend ist nicht der Konsens, sondern zuallererst die Vielheit, aus der er entsteht und die Ordnungsformen, die ihn dann erleichtern. Klassik ist seit Generationen Ausdruck olympischer Ruhe, bis zur Bewegungslosigkeit erstarrter Herrschaftskolossalität. Doch dies ist nicht klassisch, es ist staatsrechtlich kein Aufweg zum Reich. Läge nur darin imperiales Denken, es wären die letzten Erinnerungen an das Reich zu begraben, in der flutenden Volkswelt. Wenn aber harmonisierende Ordnungssuche aus Vielfalt imperial ist, wenn das Reich Reichtum sein muss aus geordneter, bewahrter Vielheit, dann steht man, so paradox es scheinen mag, am Anfang einer neuen demokratischen Klassik, so wie die einzige stets lebendige Klassik, die griechische, sich aus den Wogen der Volksbewegung herausheben konnte. Suchet also zuerst alles Imperiale und seine Gerechtigkeit - das Reich wird euch dazugegeben werden.

c) Reichstrümmer als Reich - staatsrechtliche Archäologie Das Reich ist nicht potenzierte Herrschaft, sondern pazifizierte Vielheit, entscheidend ist die Harmonie der ordnenden Befriedung, von der Pax Romana bis zur Pax Britannica. Wenn dort die Spannungen nachlassen, dann hört die Domination auf, der Staat stirbt wirklich - im Reich. Doch all dies muss Endhoffnung bleiben. Heute begegnet das Reich nicht in der einen, schimmernden konstantinopolitanischen Kaiseridee, es liegt in der Vielfalt

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klassischer Ordnungsstücke, die - noch immer - sich zusammenfügen lassen, sind sie erst gefunden. Das Reich - heute sei es zuallererst eine Ruinenbetrachtung, ein Verwundern vielleicht, warum dies oder jenes noch trägt, was so lange schon politisch hätte einstürzen müssen, warum eine politische Säule noch steht, ein Beamtentum etwa, warum ein Staatstheater noch gespielt wird, und sei es unter zerfallenden Bögen. Immer neues Erstaunen weckt ja in der Gegenwart gerade die Langlebigkeit von Regimen, die nach allen historischen Erfahrungen, allen staatsrechtlichen Logizismen, bereits zerfallen sein sollten - wie die parlamentarische Demokratie. Dies lässt sich weder aus tagtäglichem Pragmatismus heraus begreifen, noch aus einer übergeordneten Ideologie verstehen. Begreiflich wird es allein dann, wenn erkannt wird, dass darin noch Reichskräfte wirksam sind, nicht das Reich im Sinne einer voll-rationalen, einheitlichen Machtmechanik, sondern etwas wie Ordnungsprovinzen, die sich immer wieder, da oder dort, neu zusammenfügen. Diese Elemente und Wirkkräfte gilt es zu erkennen, mehr noch: zu entdecken. Das Klassische in der Kunst ist stets vor allem der Torso gewesen, das Fragment. Warum sollte es anders sein in einem Staatsrecht, das sein Reich sucht? Die vielen Fragmente allein fügen sich zum Mosaik, aus dem etwas wie die römische Kaiseridee schimmert. Es gilt, der großen und vor allem deutschen Archäologie eine staatsrechtliche Archäologie folgen zu lassen, eine Suche nach den schönen Trümmern des Reiches. Sie kann gerade in einem Lande beginnen, dessen Reich zerbrochen ist, in dem wie in keinem anderen systematisch gedacht und geirrt worden ist. Die Ausgrabung des Reiches in seinen Teilen, aus täglicher politischer und rechtlicher Wirklichkeit, die Suche in dem Boden, über den täglich zu gehen ist, das ist staatliche Reichs-Archäologie. Sie muss aufhören, nurmehr systematische Kreisläufe aufzuzeigen, globale Dekadenzurteile abzugeben, Bewegungen zu suchen auf Untergänge hin. Man nehme an, all dies habe bereits stattgefunden - bleibt da nicht eines nur: das Zerstörte, Verlorene wiederzufmden? Und wenn es sich finden lässt, nicht das Reich, sondern auch nur etwas Imperiales, in großer Bescheidenheit, so wird doch jedes Stück etwas nehmen von der Hast und der Unruhe der Gegenwart. Denn was gefunden werden kann im Namen des Reichs, das ist etwas Bleibendes und Ruhiges in seiner ordnenden Größe, etwas, das immer wiederkehrt, eine Vergangenheit des Triumphs, die zur Zukunft wird. Da ist vielleicht etwas wirklich Göttliches an Ordnung: in jedem seiner Bruchstücke - das ganze Reich.

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Β. Triumph - Reichsgrund und Reichsanfang Das Reich ist der Überstaat der großen, dauernden Ordnung. In ihm gewinnen die drei kantischen Kategorien größere politische Dimensionen. In den folgenden Blättern geht es um die erste und größte von ihnen, um den Grund, um die causa des Reiches. Der Triumph steht am Anfang des Reiches, im Rausch der siegreichen Barrikaden, in der Weite des eroberten Schlachtfelds, die der Pulverdampf freigibt, in der Krönung, im feierlichen Schwur auf die Verfassung. Doch wie das Reich mehr ist als eine historische Phase, weil es nicht primär abläuft, sondern in Ordnung „ist", so bedeutet Triumph als sein Anfang nicht nur ein zeitliches Phänomen: Zugleich liegt in ihm der legitimierende Grund, die weiterwirkende Kraft in dieser größeren Ordnung. Deshalb vielleicht muss gerade der Anfang des Reiches so hoch sein, bis hinauf in den Triumphbogen, damit der zeitliche Beginn zur wirkenden Dauerkraft werde. Mächtige Wirkungen kleiner Ursachen - auch sie können ein solcher Reichstriumph sein, Rom hat es bewiesen. Doch dann liegt die Größe in der Dauer der Erfolge, und auch dort muss stets der Orchesterschlag des größeren Ereignisses unterbrechen, den Staat auf die nächste Stufe heben: „Näher mein Reich, zu dir!" Ein Anfang, der sogleich Geschichte wird, ist nie mehr als der Beginn eines verlorenen Reiches. So ist also der Anfang des Reiches zu betrachten, der Triumph als ein wirklicher Grund zu Großem. Das triumphale Ereignis ist Grund des Reiches nicht in dem Sinne, dass hier Energien der Begeisterung, der politischen Kraft, freigesetzt an einem großen Tag, „in Organisation verwandelt" weiterwirken, getrennt von ihren Wurzeln, jenen historischen Vorgängen, die zu Siegesbildern verblassen. Im tiefsten Sinne „Grund" ist der Triumph vor allem in einer dreifachen Wirkung auf seine Schöpfung, das Reich: - Dauernde Ursache ist er, causa continua der großen Ordnung, die er jeden Tag prägt, immer neu, doch in stets gleicher Siegesstimmung. - Gegenwärtigen Grund bedeutet der Triumph für das Reich, solange hält er das Reich, wie die damalige Siegesfeier heute noch wiederholt wird, so wie einst in der Weihe des ersten Augenblicks. „Tut dies zu meinem Andenken" - das kann hier nicht genügen, immer wieder muss sich im Reich die wahre Wandlung vollziehen, wie in der katholischen Messe oder im lutherischen Glauben. - Triumph ist schließlich nicht nur ein Grund, der die Bögen des Reiches aufrecht erhält, aus dem heraus sie restauriert werden, er bedeutet die „erhöhende causa",

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die stets von neuem und immer mehr den Staat in die höhere Ebene des Reiches hinauf führt. Wo immer ein Triumph in Restauration zelebriert wird, verliert er all seine Kraft, und bald ist er mehr Anklage der Enkel als Recht der Erben. In einem solchen Sinne nun sind in diesem Kapitel die allgemeinen Züge eines jeden Triumphzugs zum Reich zu betrachten, in den folgenden dann die einzelnen Erscheinungsformen - Siege, Feiern, Erfolge.

I. Der Triumphzug - vom Staat zum Reich In der Vision eines Zuges, der - in welchem Verständnis immer - das Wesen des Triumphalen ausmachte, liegt ein Doppeltes: - Der Triumph steht vor dem Reich, sein Bogen muss durchschritten werden, bevor das Kapitol erreicht wird. Der Triumph ist nicht Folge des Imperiums, er ist die entscheidende Stufe zu ihm. Es gilt nicht nur - die große Geschichte der wahren Großreiche hat es immer wieder bewiesen - „Einigkeit macht stark", noch mehr Wirklichkeit ist die Umkehrung: „Stärke macht einig". - Nicht das Ziel des Triumphzugs, sein Ausgangspunkt gibt ihm den größeren Schwung: Er formiert sich aus dem Staat heraus, aus einer „Lage gewöhnlicher Gewalt", im Triumph wird dann dieser Staat zum Reich.

1. „Triumph vor Reich" der „Durchbruch" als Reichsproklamation Ein Reich wird nicht ausgerufen - es ist da. Versailles 1871 war eine Stunde, vielleicht ein Fehler; Sedan war ein Triumph, dort wurde ein Reich zerstört, ein anderes gegründet. Feierstunden haben ein Gewicht der Weihe; Beurkundungsvorgänge, Notarstunden sind nicht Triumphe. Ereignis kann auch die Proklamation sein; doch ein Reich, das nur aus ihr lebt, trägt von Anfang an seinen schlimmsten Todeskeim - es ist zuerst Pathos, es wird am Ende in ihm zerfallen. Nein - der Triumph ist da, noch bevor er proklamiert wird, in der Proklamation wird er nur voll bewusst, darin zur Reichs-Ordnung. Reich - das ist mehr als ein Willensakt, wie mächtig er auch sein mag, es entsteht nicht mit der pompösen Unterschrift. Es kommt aus dem Triumph als einem „Ereignis" - und das Wort lässt die größere Deutung zu: Hier geht etwas vor mit besonderem, mit wahrhaft „eigenem" Gewicht. Dieses Ereignis mag sogar nach dem Triumphzug kommen, der es vorwegnimmt - erst am Tage von Austerlitz wurde das Empire. Die Menschen prophezeien und hoffen, die Geschichte setzt im Triumph Anfang und Grund des Reiches; seine Bürger mögen dann zurückdatieren. Der „gesehene" Triumph hat seine Bedeutung, wie der gespielte; doch immer bleibt die Frage nach dem wahren Ereignis gestellt. Der Wille bewegt, doch das

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Reich ereignet sich. Da ist das große befehlende Wort, doch die Historie muss das größere äußere Zeichen hinzusetzen, erst darin vollendet sich das Reich im Triumph wie ein politisches Sakrament.

a) Ein Reich - aus triumphalen Ereignissen, nicht aus Normen Das Reich wird zum Halt ganz großer normativer Ordnungen, aus ihm wachsen Rechtsbegriffe und Gesetzbücher für Jahrhunderte. Doch es kommt selbst nicht aus einer Norm, seine Wurzeln liegen nicht im Reiche des Sollens, hier endet kelsenianisches Denken: Das Reich ist keine „Grundnorm" - der Triumph als sein Grund beweist es. Seine Basis liegt nicht in einem Befohlenen, sondern in einem Gewesenen, das heute noch ist und weiterwirkt. Und stünde da am Anfang nur Proklamation, das Reich würde sich in reinem Sollen erschöpfen, in Befehlen an seine Bürger; es wäre ein Staat der mehr oder minder geordneten Gewalt, nicht jene höhere Ordnung, die über aller Gewalt frei schweben kann, als welche das Reich erkannt werden soll. Hier wird das alte Wort in größter Dimension Wirklichkeit: Ex facto oritur ius - aus dem großen triumphalen Ereignis wird das große imperiale Recht. Deshalb muss am Anfang des Reichs triumphiert werden, damit da mehr sei als die dünnblütige Norm, welche Juristen biegen und wenden. Der triumphale Erfolg ist auch ihnen vorgegeben, er ist der Fels, auf dem sie dann Kirchen und Kirchlein erbauen mögen, in Selbstgebrannten Ziegeln. An den Dekreten des heißen Sommers von 1789 deutelt man seit Jahrhunderten - die Begeisterung dieser Tage ist in ihrer Grundstimmung zum Triumph geworden, an diesem Triumphzug kommt kein Interpret vorbei, in ihn muss er sich immer wieder einreihen, will er Gesetze des größeren, geistigen Reiches dieser Revolution anwenden auf seine kleinen Fälle von heute. Über die Normen reicht das Reich in einem vor allem hinaus: in seinem triumphalen Anfang. Triumphale Ereignisse sind mehr als nur Wirklichkeit, sie bedeuten die „gute Realität", sie bringen das Reich als das Ziel der Wünsche. Reich - das ist nicht der „Gerade-noch-Sieg", das harte Niederwerfen des Gegners, der gedemütigt wird und auf Rache sinnt. Der Anfang des Imperiums ist der Sieg des „allgemeineren Guten", der in tausend Geschehnissen vorbereitet ist, im großen Ereignis nurmehr bestätigt. Auch darin ist also das Reich mehr als ein „Sollen", das ganz wesentlich die Kategorien von Gut und Böse nicht kennt. Sein Anfang, der Triumph, ist zuerst etwas politisch Schönes - und diese Kategorie gibt es eben, was auch das Staatsrecht dazu an Kritik erfinden mag - sodann wird die Schönheit des großen Erfolges immer mehr als ein Gutes bewusst, das in ihm von Anfang an angelegt war. Das Wertneutrale, welches aller Gewalt eigen ist, wie auch ihrem juristischen Ausdruck, der Norm, wird gerade im Triumph überhöht durch den „Wert des Erfolges". Mit seinem Anruf an alle später Regierenden wird das Reich zur dauernden Wertordnung; der Triumph liegt hinter ihnen, als Staatsziel steht er ihnen immer vor Augen. Der Triumph wird damit zum Ausgangspunkt des Reiches als einer

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„Ordnung des materiellen Verfassungsrechts", hoch über den gängigen, formalen Staatsbegriffen des Liberalismus.

b) Triumph - etwas wie Gnade Wenn das Reich so durch seinen triumphalen Anfang etwas „Gutes" trägt in seinem innersten Wesen, wenn es mehr ist als die politisch erfolgsneutrale Erscheinung, so hat es, gerade aus seinen großen Erfolgsanfängen, etwas an sich von jenem Guten, das letztlich nicht getan, sondern geschenkt wird. Nicht umsonst zieht der Triumph zu den hohen Tempeln, ganz kann er nie verdient sein, so wie das Reich nicht allein von Menschenhand gebaut, sondern von höherer Hand geschenkt wird - und verloren ward durch Schuld, aber auch durch etwas wie den Zorn der politischen Götter. Im Begriff des Ereignisses, in welchem triumphiert wird und welches im Triumph gefeiert werden darf, liegt zugleich dieses Übermenschliche, Unverdiente, Zugefallene. Triumph ist immer Durchbruch; doch wenn die „Victory" die Linie der feindlichen Linienschiffe durchbricht und das Trafalgar eintritt, wenn der soziale Friedensschluss die Plebs als Bürger vom Aventin zurückholt - all das ist mehr als Verdienst und menschliche Tat, es ist etwas wie Gnade. Eine höhere Ordnung wie die des Reiches, die sich auch selbst tragen kann, die nicht ruhen will auf den Spitzen der Bajonette, sie muss Geschenktes bewahren wollen, verwalten, sich daraus legitimieren. Ihre Herrschenden sind die längst Toten, welche Siege errungen, Revolutionen gewonnen, Frieden geschlossen haben und noch jemand: jenes Schicksal, dem damals im Triumphzug gedankt wurde, dem das Reich in seiner Ordnung täglich dankbar ist. Die metaphysischen Hintergründe des Reiches werden noch beschäftigen, hier nur dies: Gerade in der Grandeur des Triumphs setzt das Reich höher an, beginnt es auf einer anderen Ebene, in einer Größenordnung, die nicht mehr verdient sein kann, gerade deshalb auch nicht so leicht durch menschliche Schwächen verloren wird.

c) Und etwas Einmaliges Alles Imperiale ist stets einmalig, auch in der Zeit. Wie es nicht außerhalb seiner Grenzen kopiert werden kann, so können seine Anfänge nicht wiederholt, sondern nur lebendig weitergetragen werden. Menschliche Willensakte lassen sich repetieren, niemand kann ein Ereignis restaurieren. Aus der einmaligen causa wächst das einmalige Reich. Was wäre das für ein Triumph, welcher der Bestätigung bedürfte; und spätere Siege sind eben auch oft nur einzelne Gruppen in einem längeren, kontinuierlichen, aber einheitlich-unwiederholbaren Triumphzug. Der Begriff des Einmaligen wird politisch den Menschen nur in einem Augenblick ganz klar: wenn sie triumphieren dürfen.

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Und wenn schon ein Reich proklamiert werden muss - dies gerade geschieht im triumphalen Erfolg, ist er doch mehr denn ein Durchbruch als Kraftakt. Er wäre nicht gelungen, hätte es ihn nicht schon vorher als Hoffnung in den Herzen vieler Menschen gegeben. So wird das Reich im großen Ereignis Wirklichkeit; der Triumph kann nicht wiederholt werden, weil er im Grunde schon war; seine Einmaligkeit wird in der Ordnung des Reiches verewigt.

2. Die Reichsidee - Staat und Triumph Im triumphalen Ereignis wird das Reich zuerst wahrhaft proklamiert, im Triumph bleibt es sichtbar. Ob es in ihm dann noch weitere Erfolge gibt, ist ohne Belang, solange sich alles einordnet in den großen Triumphzug, der einmal bedeutend begonnen hat. Vor dem Triumph mag Staatlichkeit gewesen sein, Herrschaft, Gewalt, Gehorsam; erst der größere Erfolg gibt dieser Macht die weiteren Flügel, mit der sie sich selbst halten kann, als eine Ordnung. Der Staat als solcher kennt keinen Triumph, er braucht ihn nicht, seinem Begriff ist er nicht wesentlich. Er kann sich eben dahinschleppen, vom Untergang bedroht sein und sterben; er muss immer nach vorne blicken und sich ängstlich befestigen, weil hinter ihm der Triumph von einst nicht steht, der ihn weitertreibt. Weimar war eine neue Staatlichkeit, ein Staat ohne Triumph, Staatlichkeit aus reiner Niederlage, daher war diese Republik unmöglich. Bonn begann ganz mit leeren Händen, mit den Trümmern seiner Städte räumte es auch die Niederlage weg, sein Triumph begann mit der eigenen Leistung des Wiederaufbaus. In Weimar waren Werte, aus ihnen allein wollte man den Staat halten, nicht einmal dies ist gelungen, weil dazu die Herrschaftskraft nicht reichte. Diese Werte kamen eben nicht aus einem glückhaften Erfolg, nicht er wies sie den Bürgern, das Reichsgericht proklamierte, sie sollten in ihrem Namen einig sein, sie als Heiligtümer verehren - sie sollten, aber sie wollten nicht, nicht ohne das große glückhafte Ereignis; sie haben es gesucht und ganz andere Ereignisse gefunden ... Staat - das ist etwas wie eine Zwangsordnung ohne Triumph, ein abgesteckter Platz immerhin, auf dem sich der Triumphzug formieren kann. Nur jener Staat, der so zum Reich werden will, wird sich auf Dauer als Staatlichkeit behaupten - wenn er in den Triumph hinein- und über ihn zum Reich hinaufwachsen kann. Dies ist, und es wird sich immer wieder zeigen, das Grundproblem der „friedlichen Staatlichkeit": Zu nichts bedarf es größerer Kraft als zu einer politischen Ordnung des Friedens - woher aber soll sie kommen, wenn da immer die Angst steht vor allem Triumphalismus - wo es doch gilt, den Triumphalismus des Friedens zu entdecken. So ist denn der Triumph, das große Ereignis und seine dauernde Feier im Reich, weit mehr als ein geschichtlicher Vorfall, als ein Anfang des Imperiums. Er ist eine

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kausale Kategorie des Staatsrechts, ein dogmatischer Begriff dieser Materie. Tritt seine Kraft zur organisierten Staatlichkeit hinzu, ist er wirksam als die erste Reichs-Staats-Kategorie, so erhöht er die Herrschaft zum Segen, er drückt ihr das unauslöschliche Zeichen des Erfolges auf, er bedeutet den Bürgern, dass diese Macht mehr ist als ein Mittel, das man zu beliebigen Zielen gebrauchen kann, dass in ihm bereits Ziel und Hoffnung liegt. Mit dem sacramentum, dem Fahneneid, wurde der Römer ganz nah an seinen Militärstaat gezogen, auf ihn verpflichtet, er war nun Teil von ihm; und dies war eine wirkliche Weihe, ein Sakrament, denn es bedeutete die Verpflichtung auf den großen Erfolg, den ersten Schritt im Triumphzug, einen weiteren Meilenstein zum Imperium Romanum. Und ein Sakrament ist der Triumph mit seiner verpflichtenden Kraft für alle Bürger noch heute: Er allein gibt dem Staat die höheren Weihen, durchbrechend prägt er alles an ihm - in Richtung auf das höhere Reich, nicht hinab in die langsame Auflösung des anarchischen Nebeneinander. Staaten werden Bürger immer über sich haben - das Reich müssen sie suchen, im Triumph; und es hört auf, wenn sie nicht mehr triumphieren können.

II. Was ist Triumph? Dies ist nicht eine historische Frage, sondern eine staatsgrundsätzliche, nach den Ursprüngen des Reiches, nach seinen Wesenszügen, die ihm sein Anfang mitgibt. In diesen Stunden wird es am hellsten beleuchtet.

1. Der „ganz große" Erfolg Triumphal - das sind nur Ereignisse, denen etwas Endgültiges eigen ist, welche die Geschichte in ihrem Auf und Ab stille stehen lassen - im Reich. Anlass zum Triumph ist nicht jeder Vorgang, nie das Mittelmäßige, überall Nachzuahmende, nicht das, was jedem widerfährt oder doch geschenkt werden kann. Die Endgültigkeit verlangt Einmaligkeit, so wie sich auch der Staat im Grunde dem Reich nur dann nähert, wenn er nicht mehr abgelöst werden kann durch andere Staatlichkeit, weil seine Ordnung zu groß geworden ist. Das tägliche Leben als triumphales Ereignis - eine unvollziehbare Vorstellung! Durchschnittsmenschen säumen die Straßen des Triumphzuges, sie gehen nicht in ihm. Zwar ist dort Platz für alle, für große und kleine, Legionäre und Imperatoren. Doch sie müssen Diener des Außergewöhnlichen sein - keine Akteure oder Statisten - aus ihrem täglichen Leben heraustreten. Diese Jedermann-Existenz ist sicher der Anfang, weil aus ihr jeder Bürger kommt, damit auch der Triumph seines Reiches. Doch es ist wie im Gebet: Es mag beginnen mit der Bitte, dass heute das täglich Brot geschenkt werde, doch dann kommen die dramatischen Akzente: die Schuld und ihre

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Vergebung, der Triumph in der Erlösung vom Übel. Triumph wird der nie erlangen, nicht einmal begreifen, der in täglichem Wirtschaften sich erschöpft, sondern nur wem die Gnade des außerordentlichen Ereignisses irgendwann geschenkt wird, hier hat das Gleichnis von Martha und Maria einen politischen Sinn. Und dies gilt für den Bürger wie für seinen Staat: Wenn dieser sich nur darin erschöpfen will, dass er wirtschaftet wie alle seine Angehörigen, von früh bis spät, von Krise bis Aufstieg und wieder zurück, dann bleibt ihm der Triumph versagt, und das Reich. Imperium - das ist kein Wort für jedermann, für alle in etwa gleich entwickelten Gemeinschaften. Den Grundsatz gibt es nicht, es müsse „jedem Volk sein Reich" werden. Diese größere Ordnung ist virtuell exklusiv, gerade weil sie nur aus dem ganzen Erfolg kommen kann. So sehr man auch den Begriff des Erfolges wird differenzieren müssen, mit ihm den des Triumphes - und dies ist auch die Aufgabe dieser Betrachtungen - überall ist er nicht, und der große Triumph lässt sich nicht in unzählige kleine und gleichzeitige Fronleichnamsprozessionen auflösen. Deshalb war auch die Geschichte nach Rom ein dauernder Kampf nicht nur um das Reich, sondern um den ganz großen Erfolg, aus dem es werden sollte, und der letztlich - nie ein ganz großer gewesen ist. Doch so viel war immer den größeren Führenden bewusst: Man wollte triumphieren, denn stets war dies „Ein Kampf um Rom", um das Reich. Im Triumph kann ein Ereignis nur gefeiert werden, wenn es „endgültig ordnet", sich damit heraushebt aus der politischen Erscheinungen Flucht. Für die reine Historie ist dies allen größeren Erfolgen eigen, doch reichsgrundlegend sind sie nur dann, wenn sie den Umschwung ausschließen, Triumph ist der point of no return. Da mag es dann zwar noch einzelne Niederlagen geben können, schwere vielleicht, doch Cannae ändert nichts an Rom, und die Reichsidee von Austerlitz hat sogar ein Waterloo überdauert, im Geiste der Grenadiere von Heinrich Heine und der Grande Nation. Darin eben wird das triumphale Ereignis als solches erkannt, dass es der Ausgangspunkt einer unzerstörbaren größeren, einer geistigen Ordnung werden konnte. Dies ist denn auch das eigentliche Kriterium wirklich triumphaler Vorgänge: Sie können legendär werden, sie sind zugleich Gegenstand des Wissens und des Glaubens künftiger Generationen. Dies relativiert denn auch den Begriff der Größe, sie ragt über das Quantitative hinaus. Die Zahl der Leichen auf Schlachtfeldern bedeutet hier ebenso wenig wie das gewonnene Gold, die Zahl der glückseligen Bürger. Das Beispielhafte an diesem Ereignis ist eines, wichtiger aber noch bleibt, dass es so groß ist im Sinne des Außergewöhnlichen, dass es sich weitererzählen lässt wie eine Legende, dass es unbegrenzten Variationen zugänglich ist, Arabesken, Umrankungen, Dichtungen. Triumph ist etwas, was nicht erdichtet, was aber gedichtet werden kann. Darin liegt, dass dieser Vorgang einen festen Kern und variationsfähige Randbereiche haben muss, dass er die Bewunderung anregt und die Phantasie, damit gerade Größe erreicht. So ist denn das „triumphale Ereignis" ein ganz und gar qualitativer Begriff, quantitative Größe fügt später das Reich hinzu, das

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aus ihm wird; und all dies muss nicht über Kontinente gehen: Wilhelm Teil, die Schweizer Freiheit, die Schweizer Banken beweisen es. So groß immerhin muss der Erfolg als Reichsgrundlage sein, dass er letztlich nicht einem Menschen allein zugerechnet werden kann, einer Generation ganz unwiederholbar, gewissen Umständen, die es nie mehr geben wird. Dies ist die schwerste Balance, welche dieses geschichtliche Ereignis zu politischer ReichsWirkmächtigkeit halten muss: dass es zugleich einmalig und doch nicht eigentlich zurechenbar sei, denn durch das Letztere würde es verkleinert, relativiert, seiner Dauerkraft auf das Reich beraubt. Hier liegt das Exemplarische des Triumphalen: Unbezweifelbar muss der große Erfolg sein, nur dann kann er das Reich schaffen, das seinem Wesen nach jenseits steht von aller Kritik. Jede Generation klassischer Philologie hat ein neues Römer-Bild beschert, doch wer wollte am Römischen Reich zweifeln - weil er ja damit seinen eigenen Staat aufgäbe. An Einzelkritik wird man gerade bei großen Vorgängen nicht sparen, Schlachten werden anders nachgezeichnet, Konferenzen aus Archiven nach Jahrhunderten noch verändert. Die Erklärungen also wechseln, und hier mag sich der kritische Geist versuchen, interessant und wenig umwälzend wie immer. Doch die Fakten bleiben, vor allem in ihren Wirkungen, in ihren imperialen Folgen. Die Größe des triumphalen Ereignisses beginnt mit seiner geschichtlichen Dimension, doch darin erschöpft sie sich nicht, sie wird laufend reproduziert und häufig erst zur wahren Größe gesteigert im Nachvollzug, in der Nachempfindung durch unzählige Spätere. Groß ist der Erfolg dann, wenn er sich feiern lässt, immer wieder, immer mehr, und es wird sich noch im Einzelnen zeigen lassen, wie sich gerade in diesen Staatsfeiern der Triumphzug vergrößert, das Reich mächtiger wird. Es ist, als holten spätere Triumphzüge den alten großen Triumph ein, als verlängerte sich der einstige Marsch in immer neuen Formationen. Dies ist ja auch das Demokratische an der triumphalen Reichsgrundlage: Sie kann nicht eigentlich wirken ohne die Teilnahme; so groß ist der Triumph wie das Fest, das ihm geweiht werden kann, in dem die Bürgerschaft noch nach Generationen, Jahrhunderten vielleicht, zur Reichs-Einheit integriert wird. In dieser imperialen Sicht findet etwas statt, das der normativen Betrachtungsweise entspricht: Sie suchte die volonté de tous, damit aus ihr dann die endgültige, allgemein verbindliche volonté générale werde, die dauern könne, im Prinzip sogar zeitlos sein soll. Ähnlich das triumphale Ereignis als Staatsgrundlage: Hier ist es etwas wie der succès général, der nun gefeiert wird, als sei er wirklich der Erfolg aller, der succès de tous. „Allgemeiner Wille" wird immer ein demokratisches Mirakel bleiben, die Minderheit ist nicht die Mehrheit, sie hat das Gesetz nicht gewollt. Doch wer den großen Erfolg nicht mitfeiern will, der „bleibt eben zu Hause", damit aber überlässt er das Feld seinen feiernden Mitbürgern, denn gegen Triumphzüge kann man nicht stimmen, seine Gegner verlieren sich in der

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Schwächlichkeit der Enthaltung. Und was bedeutet schon bei wirklich großen Feiern das Fehlen von Kritikern, in den Triumphzügen ziehen die endlosen Reihen der Toten und Lebendigen mit. Hier wie im Folgenden werden manchmal Beispiele genannt, doch nicht immer; jedem sind sie zur Hand, jeder wird anderes kennen, sein Reich anders legitimieren, aber immer mit etwas, das sich in Kategorien einfügt, wie sie hier entwickelt werden, in diesem „allgemeinen Teil des Triumphalismus".

2. Der triumphale Erfolg ein Ereignis jenseits von jeder Gleichheit Der große Triumph bleibt so einmalig wie das große Reich, welches er einläutet. Triumphalismus ist insoweit Absage an die Vergleichbarkeit, damit aber auch - an die Gleichheit. Er kann nicht überall wachsen, in jeder Nation, nicht täglich wiederholt werden, als habe er noch nie stattgefunden. Seine geschichtliche Dimension, welche noch beschäftigen wird, steht schon deshalb notwendig gegen alle Egalität, weil es hier gilt zu bewundern und zu feiern, das Einmalige zu reproduzieren, nicht zu vergleichen. Diese Grundstimmung der Einmaligkeit, ist sie nicht fremd geworden in einer Welt der Vergleiche, will diese nicht mit ihrem „alles allen" letzthin nur den überall gleichen Verkaufsstand der Konsumgüter, nicht den triumphalen Großerfolg, der immer etwas vom Luxus an sich haben wird? Es gibt heute etwas wie einen ganz grundsätzlichen Antitriumphalismus, gerade deshalb muss die Rede sein von Triumph und Reich. Hebt die Einmaligkeit reichsgründender Ereignisse nicht jene Egalität in den internationalen Beziehungen auf, welche als Garant des Friedens erscheint, könnte sich nicht in ihrem Namen wieder ein Volk über das andere erheben, in blutigen Kriegen? Und wendet man nun die Einmaligkeit nach innen, bedeutet sie dann nicht erst recht die Überlegenheit der einen Generation über die andere, der Väter des Triumphes über jene, welche nur Enkel sein dürfen? Schafft sie nicht, ganz allgemein, jenes Gefühl der Überlegenheit über den anderen, der doch vor allem als Mitbürger, als Nächster zu sehen ist? Es ist wahr - im Triumph liegt immer etwas von Sieg, und in ihm gibt es eben auch Besiegte. Selbst der wirtschaftliche Großerfolg, das triumphale Wirtschaftswunder, wird irgendwie auf Kosten anderer gewonnen, das schlechte Gewissen des Entwicklungsbewusstseins in den großen Industrienationen gibt davon Zeugnis, dass auch dieser Triumph die Gleichheit verletzt. Was als großer Erfolg gefeiert werden kann, ist eben nicht ein „Allgemein-Menschliches", sondern das EinmaligÜbermenschliche, und es kommt nicht zu allererst aus menschlichen Sorgen, aus menschlichem Verdienst, seine letzte Größe erwächst aus dem transpersonalen Ereignis.

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Darin liegt gewiss eine Spannung zu allem Egalitär-Demokratischen, zwischen den Völkern wie zwischen den Bürgern. Die Demokratie will das Rechenbare, das Nachvollziehbare, deshalb kann sie auch eine Staatsform der technischen Welt sein. Sie predigt das Leistungsprinzip und sollte eigentlich ein Staat der Prüfungen sein - kann sie da große, unzurechenbare Erfolge verehren? Steht in ihr von den drei Staatselementen nicht das Volk im Vordergrund, während jener Triumph, welcher das Reich beginnen lässt und hält, sich eben zuallererst auf dem Staatsgebiet ereignet, sodann als eine Erscheinung der dort errichteten Herrschaft? Etwas Antiegalitäres liegt sicher in jedem Triumph, doch nicht mehr an Spannung zur Bürgergleichheit als auch jede gesunde Demokratie ertragen kann, vielleicht gar suchen muss. Hier und ganz allgemein dazu nur so viel: Die große Staatsfeier hat immer auch etwas von Gleichheit, wie ihre Freude, ihre Bewunderung dieselbe ist in allen: hier werden eben Bürger wahrhaft integriert. Das große Ereignis aber kann auch die Demokratie nicht missen, man wird ihre Triumphe noch bewundern. Mit ihren rechtlichen und politischen Kategorien lässt sich der große Erfolg durchaus erfassen, er ist aber eben als ein Verfassungsvorgang zu sehen, nicht als ein Verwaltungsphänomen. Im Gegensatz steht der Triumph nicht so sehr zur Demokratie, die das Aufschäumen der Siegesstunden kennt und aus ihm lebt, mehr vielleicht als andere Staatsformen, sondern vielmehr zu bürokratisierter Verwaltung: Er ist die Antithese zu all dem, was in Italien „ordinaria amministrazione" genannt wird, mit jenem Kernwort, das politische Ruhe sucht, Kleinheit in Kauf nimmt. Dieser Administration muss es, wie jeder Verwaltung, nur darum gehen, möglichst auch das Außergewöhnliche gewöhnlich werden zu lassen, im Reich wird das Gewöhnliche erstaunlich. Indem die doch wesentlich verwaltungsfeindliche dynamische Demokratie ihren Frieden gemacht hat mit jener Verwaltung, welche ihre Gleichheit in alle Verästelungen der Gemeinschaft trägt, hat sie sich in der Tat weit entfernt von der Stimmung der großen Stunden, welche diese Augenblicke auch überdauern kann. Doch der Triumph bedeutet letztlich nur die Absage an ein Egalitätsinstrument, nicht an die Gleichheit als solche und an ihre Demokratie: Der „gleiche Reichsbürger" ist kein Widerspruch in sich, andere will er vielmehr auf die Höhe des Imperialen heben. Nach außen wird das wahre Imperium immer noch mehr angliedern, in sich aufnehmen wollen, und die Pax Romana drängt zum allgemeinen römischen Bürgerrecht, zum „Privileg für alle" - und wenn das Reich daran sterben sollte. Auch das Reich ist ein Weg zur Gleichheit, gerade im Triumph - ein anderer freilich als die Vergewöhnlichung kleiner Verwaltungsvorgänge.

3. Das reichsgründende Ereignis - eindeutig und einheitlich Triumph verlangt Eindeutigkeit, er will Kritik nicht bekämpfen und überwinden, er zieht über sie hinweg, ganz selbstverständlich; doch diese Eindeutigkeit verlangt eine gewisse Einheit, welche im Ereignis selbst, in seinem Ablauf liegen muss.

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- Indiskutabel ist stets der triumphale Vorgang, das Ereignis selbst wie auch seine Feier. Am Erfolg darf es hier nichts zu deuteln geben, spätestens muss die große Feier in der Einheit der Deutung Eindeutigkeit bringen. Der Triumph braucht nicht nur den staatszentralen, den Kernerfolg, er verlangt auch den Erfolgskern, der in seiner Härte biegender Interpretation widersteht. Idealtypisch wird hier immer die Entscheidungsschlacht sein, der große Durchbruch in ihr. Die Indiskutabilität des geräumten Schlachtfelds lässt sich nicht leicht ersetzen. Doch die Gegenwart kennt sie auch in der scheinbar reinen Quantität der ganz großen Wahlsiege, auch über ihnen liegt ein Abglanz reichsgründender Demokratizität. - Unteilbar ist der triumphale Erfolgskern, seine Spaltung würde alles am Reich zerstören. Die heroische Attacke und der eroberte Wahlkreis - all dies sind Geschichten und Geschichte, Triumph gilt dem gewonnenen Krieg, der siegreich umbrechenden Wahl. In ihrer Unteilbarkeit ist die große Reichseinheit vorgezeichnet, jenes „ut omnes unum sint", mit dem alles Imperiale steht und fällt, und wieder vor allem deshalb, weil diese Einheit Eindeutigkeit bringt. Und wenn überhaupt etwas eindeutig ist durch Einheit, so der Triumphzug, der immer zuerst Heiligtümer aufsucht, bevor er sich in Kneipen verliert. - Der Triumph gilt stets einem „Spitzenereignis", das nach Bedeutung und Auswirkungen anderen, kleineren Vorgängen historisch wie politisch übergeordnet erscheint. Auch darin ist Imperiales bereits vorgezeichnet, ist doch das Reich vor allem ein hierarchisches Ordnungsprinzip. Imperial ist ganz wesentlich „die Einheit über der Vielheit", das triumphale Ereignis stellt die „ganze Eindeutigkeit" her durch die Einheit des Erfolges an der Spitze: Es ist die Schlacht zwischen Kaisern, der große Wahlsieg von mehr als legislativer, von im Grunde konstitutioneller Bedeutung. Wie es eine Hierarchie der Normen und der Ordnungen gibt, so auch eine solche der Erfolge: Das Triumphale bewegt sich „ganz oben", es ist die faktische Grundnorm des kommenden Reiches, in seinem Namen gilt „pacta sunt servanda". - Nur das einheitliche, eindeutige Ereignis ist Anlass zur Freude, in der ganzen politischen Intensität dieses Wortes. Ketten von Vorgängen fallen leicht auseinander, lassen sich in Teilen uminterpretieren. Das große Ereignis, die glückhafte Stunde, sie sind eine Einheit wie die Freude, deren Funken aus ihnen kommt. Nicht umsonst verwendet man dieses Wort in der Mehrzahl nur für die „kleinen Freuden"; die Freude ist ebenso eine, wie es nur einen Durchbruch gibt. - Triumph - das hat etwas von Theater, es ist die höchste theatralisierte Form der Politik. Seit Aristoteles steht das große Theater unter der Lehre von den „drei Einheiten" von Zeit, Ort und Handlung, über die sich nur wenige, ganz Große ungestraft hinwegsetzen konnten - die Einheit der Handlung allerdings mussten sie immer wahren. Darum aber geht es gerade beim triumphalen Ereignis: Es muss eine Einheit bilden, wenn möglich in Raum und Zeit, sicher in der Handlung, im Voranschreiten des Vorganges. Darin kulminiert eine Bewegung, eine

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Tendenz, politische Moden mit einem Mal, in dieser Brennspiegelwirkung des Ereignisses. Eine ganze Geschichte wird zur überschaubaren Handlung, wenn ihr letztlich der große Erfolg beschieden ist, dann rücken die Jahre einander näher, 1789 war es, als seien die Gedanken von Montesquieu und Rousseau gerade in jenen Julitagen erst gedacht worden. Die theatralische Wirkung des Triumphes auf das Reich ist entscheidend: In all seiner Ruhe, seiner hohen Ordnung bedarf es des Kontrapunkts der Theaterspannung, welche ihm sein triumphaler Anfang verleiht. Ruhig werden die Bürger in diesen großen Hallen wandeln, die Gesetze lesen und befolgen, wenn sie dort noch immer begleitet werden von den lebendigen Erinnerungen größerer Tage. Die Langeweile des Bestehenden und der Änderungsdrang aus ihm können nur gehalten werden in der Dynamik der Erinnerung an den großen Anfang - und da ist eben weit mehr als Gedächtnis. Dem Theater ist so vieles angedichtet worden - Schule soll es sein, moralische Anstalt. Eine weitere Theorie könnte man dem hinzufügen: das Theater als Herrschaftsform in der Wirkung vor allem seines dramatischen Höhepunkts im reichsgründenden Triumph. - Spannung hält zusammen, sie ist der Kern der einheitlichen Handlung, damit der Eindeutigkeit des Ereignisses. So wirkt denn auch das ordnend, was man den politischen Suspens des triumphalen Ereignisses nennen könnte: Er integriert die Bürger auf den einheitlichen Höhepunkt des großen Sieges hin; ist er erreicht, löst sich die Spannung, so bleibt doch die Ordnung, welche in diesen Momenten geworden ist. In der Auflösung der politischen Spannung ist jedes politische Ding für einige Zeit „an seinen Platz gestellt" worden - und dort bleibt es. Wer die Rückkehr General de Gaulles an die Macht miterlebt hat, den Triumph von 1958, der konnte verstehen, warum über Jahrzehnte hinweg Parteien und politische Kräfte auf ihre Plätze verwiesen wurden - und im dynamischen Frankreich haben Jahrzehnte schon etwas Imperiales. Es war die gewaltige Spannung, welche sich im Triumph auflöste, doch sie bereits hatte diese Ordnung heraufgeführt. Eine Geschichte ohne Berge gibt es nicht, die Historie braucht Blickpunkte. Die Spitzen des Triumphs, der Feldherrnhügel der Entscheidungsschlacht, sie allein öffnen den Blick in die Weiten des Reichs, weil er aus einer einheitlichen, eindeutigen Höhe herabschaut. Wenn man sich lösen könnte von der materialistischen Gewalt-Betrachtung der politischen Phänomene, so würde erkannt, dass größere politische Ordnungen „ganz Blickpunkt sind", ganz aus einer Sicht gesehen. Gerade weil das Reich größere, dauernde Ordnung sein will, braucht es den hohen Berg, von dem der Triumphzug hinabführt in seine Weiten - denn Triumphzüge steigen verbreiternd ab, nachdem sie das Kapitol erreicht haben. Vielleicht wird sich noch zeigen, dass dieses Reich im Letzten - nichts ist als ein besonderer Aspekt der Macht, eben aus dem Blickpunkt eines ganz großen Triumphes. In ihm wenigstens muss alles klar sein und eindeutig; das Reich steht immer in der Gefahr der Verdämmerung, in seiner Größe eben. Ein Punkt muss beleuchtet sein, wie weit zu-

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rück er auch liege, damit alle auf ihn schauen, ohne Zeit und Ort - Triumph heißt der Leuchtturm des Reiches.

4. Sieg und Siegesfolgen - eine Einheit im Triumph Eindeutigkeit war hier gefordert worden, eine gewisse Einheit, damit von einem triumphalen Ereignis gesprochen werden könne. Doch darf der Blick nicht zu eng werden: Gerade wenn ein Ereignis gewaltige Dimensionen erreicht, wird es auch mächtige Folgen haben, in ihnen eben sichtbar werden. Diese Konsequenzen zeigen den Durchbruch, im Ausklang erst wird oft der Höhepunkt wirklich klar. So bedarf eine Theorie des Triumphs auch einer „Triumphfolgenbetrachtung", nicht nur in der zeitlichen Dimension, als eine Verstetigung der Wirkungen des großen Erfolges, sondern auch in einer gewissermaßen „räumlichen", indem die Wasser überall hingetragen werden, nachdem die Dämme gebrochen sind. Diese Verendgültigung und Vergrößerung des Triumphs bringt erst ganz das Reich - in zwei Stufen:

a) Fortsetzungstriumph Es genügt nicht, das Schlachtfeld zu behaupten, der Feind muss vernichtet werden. Immer wieder verdeutlicht Caesar im „Gallischen Krieg" den militärischen Zweitakt: Der Feind wird geworfen, sodann werden seine Scharen durch die Reiterei ausgelöscht. Dass das triumphale Ereignis stets den Endsieg bedeuten muss, ist nur eine Seite, selbstverständlich, soll der Sieg eindeutig ausfallen. Doch eben diese Klarheit wird nicht nur in Verfolgungskämpfen bewiesen, sie zeigt sich in neuen Entwicklungen, die aus dem Ereignis unmittelbar hervorgehen. Nicht Actium allein war der Triumph des Augustus: Die Befriedung nach der Schlacht, die beginnende goldene Zeit und ihr erstes moralisches und kulturelles Leuchten - das alles steht in jenem Fortsetzungstriumph, dem eine ganz große, reichsgründende Macht eigen ist. Sicher liegt im Fortsetzungstriumph etwas von einem Beweis der Größe des erreichten Durchbruchs. Wichtiger noch ist, dass erst in der Vielfalt der Folgen sich die ganze Mächtigkeit des triumphalen Vorgangs erweist. Und wieder wird damit der politische Reichtum sichtbar, über welchem allein sich dann das Reich wölben kann; seine Bibel kann doch nicht nur die Militärgeschichte einer gewonnenen Schlacht sein, oder soziologische Lehren aus dem ganz großen Wahlerfolg. In diesen Fortsetzungen, welche der Einheit des großen Ereignisses nichts nehmen, ihm eher noch Gewichte hinzufügen, werden schon die „Königreiche" sichtbar, welche sich unter dem Imperium formieren, ohne welche ein Reich nie bestehen kann. In ihnen wird der Sieg gewissermaßen abgewickelt, seine Folgen organisiert. Wieder wird eine Parallele deutlich zwischen der Struktur des triumphalen

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Ereignisses und des Reiches, das aus ihm wird: Beides ist eine Art von primus motor, aus dem großen Reich kommen die Teilreiche, nicht umgekehrt, wie aus dem großen Sieg die Folgesiege erwachsen. Gerade die Betrachtung des Triumphes als Ausgangspunkt des Reiches lehrt also, dass Imperialität nicht nur Statik bedeutet, dass sie vielmehr ein Anstoß ist zur ordnenden Reichsorganisation in vielen Teilen. Doch vor einem sei gewarnt: Die Königreiche dürfen nicht mit dem Reich verwechselt werden, wie die einzelnen Akte der Fortsetzung des großen Erfolges nie an dessen Stelle treten können. Wer so nämlich den Triumph verkleinert, wer in einzelnen wirtschaftlichen Aufschwungbewegungen oder kulturellen Blüteerscheinungen allein etwas vom Reich zu sehen glaubt, der hat allenfalls Staatlichkeit im Blick, die Fortsetzungen für sich genommen bringen Legitimationen der Staatlichkeit, nicht das höhere Reich. Sie sind nur Ausstrahlungen einer größeren Sonne, des entscheidenden Durchbruchs, sie können ihn fortsetzen, nie ersetzen, sowenig wie der Staat das Reich. Erneut wird so in der Struktur des triumphalen Ereignisses die Struktur des Reiches sichtbar.

b) Triumphbegleitende

Feiern

Eine Doppelbedeutung liegt in dem Themenwort, sie wird hier immer wieder beschäftigen: Triumph ist der große Erfolg - und seine große Feier, oft beides zugleich, das eine im anderen. Die ersten geistigen Auswirkungen eines ganz großen Erfolges sind die Feiern, welche ihn nun begleiten und fortsetzen, in ihnen wird er neu erlebt, gewinnt er erst seine ganze Dimension, in der reinen Feier der Sedans-Tage, im feiernden Monument, das an Trafalgar erinnert. Ohne solche Siegesbegleitung wäre der Erfolg nichts, wie der Triumph nichts ist ohne seinen Zug. In ihm wird der Sieg dem staunenden Bürger vorgespielt, vielleicht stets von neuem. Diese Begleitung aber würde nicht voll in ihrer Bedeutung erfasst, wollte man sie nur als Verdeutlichung, als Unterstreichung verstehen: In der Staatsfeier des großen, alten Erfolgs, der heute noch lebendig ist, öffnen sich zugleich die Tore für die oben erwähnten Fortsetzungen des Triumphs, für die Schaffung und Befestigung der vielen Teilreiche, über denen sich das Reich wölbt. Sie kommen aus dem großen Erfolg, aber meist über die erfolgsbegleitende „Triumph-Feier". Besonders deutlich wird dies in der kulturellen Verherrlichung politischer Größe oder einfach nur in ihrem Genuss in Kultur. Auch die wirtschaftliche Blüte ist ein triumphbegleitendes Phänomen, vergoldet werden in emsiger Anstrengung die Fassaden, an denen der vergegenwärtigende Triumphzug vorübergeht. Der ökonomische Aufschwung nach dem politischen ist sowohl ein Phänomen der Triumphfortsetzung als auch ein triumphbegleitendes Ereignis. 5 Leisner

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Feier des Großerfolgs und seine Folgen - beides lässt sich logisch trennen, und ist doch verbunden: Feier ist selbst eine Triumphfortsetzung, in aller Fortsetzung wird er im Grunde weiter gefeiert. Die offene Vielfalt der Siegeskonsequenzen ist nichts anderes als ein Abbild des Überganges vom festen Herrschaftsstaat zum offenen, weiteren Reich, in dem immer neue Folgen des ersten Durchbruchs gefeiert werden können. Zahllos sind die Metamorphosen, deren der wirklich große Erfolg fähig ist, der den Namen des Triumphes verdient - vom Militärischen zum Wirtschaftlichen, ins Kulturelle hinein, bis in die höchsten Höhen des Geistes, Napoleon hat all dies in wenigen Jahren gezeigt. Und wer wollte Entscheidungsschlachten verachten, wenn aus ihnen so viel werden kann an wahrem Reich? Der wirkliche Triumph schlägt immer weitere Wellen, er treibt den Staat auf die hohe See einer wahrhaft goldenen Zeit hinaus, in der flexiblen Ordnung des Reiches in Vielfalt und übergreifender Einheit.

5. Tradition als Triumph Das triumphale Ereignis ist seinem Wesen nach, dies zeigte sich schon, eine eindeutige, eine einmalige Einheit. Bedeutet dies die Absage an alle Tradition, soll daraus geschlossen werden, dass jenes Reich, das aus Triumph wächst, Tradition nicht kennen darf? Dafür könnte die Zeitlosigkeit sprechen, in welcher sich die große Ordnung über allem ausbreitet. Doch auch dies wäre eine verhängnisvolle Blickverengung, sie würde von den Erfahrungen einer Geschichte trennen, für welche stets Reich und Tradition eine Einheit gewesen sind. Diese enge und notwendige Verbindung aber lässt sich auch und gerade in der Betrachtung des Triumphes als Reichsurgrund erweisen: In der Tradition wird der große Erfolg in die Zeit hinein ausgedehnt, damit entscheidend vergrößert und intensiviert, so wird er erstmals voll zum Ordnungsfaktor. Der Triumph trennt nicht das Reich von der Tradition, im Gegenteil - in seiner Einmaligkeit kann er ordnend nur wirken durch eine gewisse „Folge in der Zeit"; sie hebt die Einmaligkeit des Ausgangsereignisses, des ersten Durchbruchs nicht auf, steigert ihn aber noch in die Zeit hinein, lässt ihn gerade darin endgültig und indiskutabel sogar zur Legende werden. Triumphalismus müsste sich in der Oberflächlichkeit der Schlachtenverherrlichung erschöpfen und verlieren, würde diese Dimension nicht mehr gesehen. In doppeltem Sinne wirkt Tradition triumphverstärkend und damit reichsbefestigend: In der Tradition von Siegen und in Tradition des Sieges.

a) Triumph als Tradition

von Siegen

Bei aller Einmaligkeit des großen, triumphalen Ereignisses - eine Serie von Erfolgen, die als Einheit empfunden wird, legt den festesten Grund eines Reiches. Jene beiden politischen Gebilde, welche der Reichsidee am nächsten gekommen

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sind, Rom und England, haben auf einzelnen Großerfolgen aufgebaut, mehr aber noch auf einer Kontinuität von solchen, welche wie ein großer, notwendiger, schicksalhafter Sieg empfunden wurde. Vom Untergang der Armada über Trafalgar zur meerbeherrschenden Vernichtungsblockade gegen die Mittelmächte - der englische Triumph war die Unbesiegbarkeit der Flotte. Viele römische Siege sind weniger bekannt als manche Niederlagen des Tiber-Staates - doch die letzte Schlacht wurde immer von Rom gewonnen, immer. Zusammengesehen wurde all dies bald im Triumphgefühl der unbesieglichen virtus Romana, legendär vorgezeichnet schon in der Gründungsgeschichte, welche der Stadt das Schicksal des Sieges mitgab. Für römische und griechische Historiker waren die Siege Roms ein großer Sieg, für die imperialen Engländer konnte es gar nichts anderes geben als Englands einen Dauererfolg. Die Unbestreitbarkeit des Großerfolges wird ja vor allem durch seine Dauer bewiesen. Ist er einer im Ergebnis, vielgestaltig aber in der Zeit, so zeichnet er gerade darin bereits die Reichsgestalt vor: die des Dauererfolgs in vielen Provinzen. Die Tradition der Siege bringt jene Unumkehrbarkeit, in welcher der Triumph seine Spitze erreicht: Er mag Gnade im Letzten bleiben, doch er wird zur Notwendigkeit. Und weiß nicht jeder Demokrat, welches Triumphgefühl der treue „Genösse Trend" gibt? Hier wird der Triumph aus der Kontingenz zum Schicksal. Mit dem glückhaften Roulette-Ereignis mag er beginnen, zur Notwendigkeit des Reiches findet er in der Dauer, in der Kontinuität. In ihr allein erreicht er die volle Allseitigkeit des alles durchdringenden Reichsprinzips. Wie könnte man auch das Reich schon jetzt, am Anfang, besser charakterisieren als darin, dass es sich aus nichts Menschlichem zurückzieht, dass es sein Siegesgefühl trägt in Kultur, Wirtschaft, Politik? Es kann sogar die These gewagt werden: Nicht ganz, aber bis zu einem gewissen Grade kann Siegesserie Siegesgröße ersetzen - wenn sie einmalig ist wie diese. Dann allerdings ist viel an Kontinuität gefordert; zu einem solchen Thermiten-Triumph der Geduld bedarf es römischer Größe. Da zeigen sich auch die Grenzen des Triumphtheaters und des Erfolgsspektakels - die größten Triumphe werden in langem Marsch erreicht. Hier stellt sich die Frage „Rückschlag, Triumph und Reich" - was bedeutet der Negativerfolg für das Imperiale, wie viel an Rückschlägen erträgt ein Reich? Die Antwort kann nur aus dem Begriff der Triumph-Tradition heraus gegeben werden: Wenn das Reich die große, dauernde Herrschaft bedeutet, so kann es Rückschläge hinnehmen, doch sie dürfen nie die Reichs-Kontinuität brechen - darunter hat die französische Reichsidee seit Napoleon entscheidend gelitten, die deutsche seit Ende des Alten Reiches. Es ist, wie wenn ein goldenes Verhältnis gewahrt werden müsste zwischen Rückschlag und Triumph, im Ganzen wie in den einzelnen historischen Phasen. Rückschläge müssen Parenthese bleiben, nie dürfen sie größer werden als die Erfolge, welche sie immer wieder ausgleichen und dann noch etwas höher bauen müssen. Kraft seines großen und weiterwirkenden Ausgangserlebnis*

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ses, seiner Kontinuität vielleicht, ist sicher das Reich jene politische Organisationsform, die mehr an Rückschlägen erträgt als jede andere Staatlichkeit, und je mehr sich ein Staat von neuem oder zum ersten Mal der Reichsidee nähert, desto mehr wird er immun gegen Krankheiten kleinerer Niederlagen. Wie mächtig der Anruf an die Reichsidee wirken kann, hat sich selbst in der deutschen Tragödie gezeigt: Weil viele Bürger 1933 - zu Recht oder zu Unrecht - ein Reichserlebnis hatten, das ihnen ganz groß erschien, wirkte der Tag der Machtergreifung mit seiner begeisternden Kraft selbst noch über Stalingrad hinaus. Je größer das Reichserlebnis im Triumph war und ist, desto stärkere Bewältigungskraft auch für größere Rückschläge verleiht er dem Reich. Die Überwindung der Niederlage durch triumphale Kräfte zeigt die Stärke der Reichsidee; und wohl könnte man das Reich als jene Staatsform bezeichnen, welche die meisten Niederlagen ohne Kontinuitätsverlust überwinden kann, als eine höchst stabile Ordnung in der Zeit. Über Jahrhunderte, ja über Jahrtausende hinweg kann der große Reichstriumph Niederlagen ertragen lassen, vielleicht ignorieren; keinen größeren Beweis dafür gibt es als das alte Deutsche Reich, das nur rationalistische Unintelligenz belächeln konnte: Es war wirklich ein Römisches Reich noch immer, denn geschlagen und zerrissen lebte es stets noch weiter aus der Mächtigkeit altrömischer Triumphe. Seine Lehrer und Priester lasen bei Livius, was sie selbst nicht mehr erleben durften; für lange Zeit hat es genügt. Das Reich wird immer wieder begegnen als Ordnung der Einheit über der Vielfalt der Teilreiche, Länder, Kantone, über der geistigen und kulturellen Pluralität und dem Auf und Ab ökonomischen Geschehens. Als eine solche „Ordnung der Vielfalt" zeigt sich auch der „Triumph in der Zeit", die Tradition von Siegen, die stärker ist als die Rückschläge, welche in sie eingeflochten sind: Die Niederlagen erweisen sich als Unordnungen, doch sie werden eingebunden in die Triumph-Tradition, in ihr verstärken sie sogar dynamisch das politische Leben der Reichseinheit. Und so mag selbst im Rückschlag eine integrierende Kraft des Triumphs sich bewähren - im größeren Rahmen des Reichs. Ein weiterer Schritt nun wäre es zu einer „Theorie des negativen Triumphs". Die ganz große Niederlage hat ihre wahrhaft triumphale Bedeutung, wenn sie nicht umwirft, sondern stärker macht. Die römische Geschichte blickt auf das caudinische Joch, die Revanche dafür ist kaum jemandem bekannt; Cannae ist ein Begriff - wer denkt schon an Zama. Die schicksalhafte Tradition der Siege war eben so groß, dass sie als notwendiges Ende erschienen, die schwere Niederlage dagegen als Probe auf die Stärke des alten Triumphgefühls, die Stärke des Reiches. Die große Niederlage ist Triumph in der Kraft, die auch sie noch übersteht, in Kolin und Kunersdorf ist Preußen größer gewesen noch als am Tag von Leuthen. Dort allerdings, im Bereich der negativen Triumphe, tritt doch wieder das große Ausgangsereignis, die Erinnerung an einen oder einzelne Höhepunkte mächtiger hervor als Serien von kleineren Erfolgen, hier verliert auch die Tradition etwas von

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ihrer Kraft; denn in einer schweren Stunde muss man sich an eine andere, große erinnern können, in der Politik der Staaten wie im Einzelnen Leben. Gerade jene Tradition der Siege, welche einzelne Niederlagen überwinden lässt, zeigt auch, dass politische Tradition nicht plätscherndes Wasser ist, sondern in Großereignissen gestaute Kraft.

b) Tradition

des Sieges als dauernder Triumph

Triumph-Tradition gibt es nicht nur in der Folge der Siege und Erfolge. Das eine, große Ausgangsereignis kann seine eigene Tradition schaffen. In der Erinnerung gepflegt, mehr nachempfunden als nachgeahmt, gibt dieser fortgetragene Triumph der Reichsordnung besondere Kraft. Der einst so große Erfolg ist dann nie Vergangenheit geworden, die Trafalgar-Idee hat England Mächtigkeit gegeben, seine Fleet in being zu halten. Die Wirkungen einer solchen Tradition großer Erfolge sind vielgestaltig, dauernde Metamorphosen finden auch hier statt. Jede Generation, jeder Bürger erlebt ja diesen seinen großen Staatserfolg schon in der Erzählung der Älteren und in der Schule anders, auf seine besondere Weise wird er ihn politisch in der Gemeinschaft weitertragen. Darin wird die reine Erfolgshistorie überwunden, eine solche Siegestradition ist mehr als die Gegenwart von Daten. Der Triumph erwächst so zum lebendigen Großerfolg, das Reich, welches er trägt, wird damit zur besonders lebendigen, vielfältigen Staatsform. Zugleich findet darin, und vor allem über die Schulen, eine mächtige Erfolgsverbreiterung statt - es ist, als habe jeder, der dies empfindet, die Schlacht selbst gewonnen, die goldenen Gedichte geschrieben oder zuerst hören dürfen. Das internationalisierte westliche Denken mag vor allem kulturelle Großerfolge nicht mehr in nationalistischer Weise zurechnen - gehört Beethoven „uns" oder „euch"? Doch gerade vertiefte intellektuelle Beschäftigung und sie leitet eben doch weithin das Bewusstsein der Gemeinschaften - wird immer von neuem den historischen und nationalen Nährboden suchen und bestimmen, aus dem dies alles kam, damit aber wird auch die kulturelle Tat wieder zum nationalen Großerfolg. Gerade sie ist jener Tradition mächtig, welche das ursprüngliche Ereignis nahezu unbegrenzt im gegenwärtigen Bewusstsein reproduziert, interpretiert, variiert. So teilt jedes wahrhaft triumphale Ereignis das Schicksal der großen musikalischen Tat: Es wird gesetzt, doch dann ist alles Interpretation im weitesten, vollen Sinn. Alles darf der Interpret, solange er nicht Schwächen hineinträgt oder fortschleppt. Mit jedem Nachfühlen wird die Musik perfekter - wie das Reich mit dem Fortdenken und Fortleben seiner Triumphe. Die Tradition des einen Triumphes, mehr noch als seine serienweise Wiederholung, macht das Reich ruhiger, es ruht auf dem festesten Grund, den es gibt, dem historischen. So hatte immer das englische Empire viel Zeit, mehr Zeit schon nach der Armada, noch weit mehr nach Waterloo. Da es von der Siegesgöttin begleitet wurde, konnte es den Sieg erwarten. Das unendliche russische Reich, das Dritte

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Rom, ist sich im Denken an Poltawa und den Brand von Moskau erst ganz seiner Tiefe bewusst geworden, nicht nur in seinen räumlichen Weiten, sondern auch in der Dimension seiner legendären Erfolge. Seine unruhigsten Dichter wirken gelassen, da sie von 1812 aus blicken. Und so eben das Reich: Das wahre Reich hat Zeit, denn es ist tief, es kann in der Tradition seiner großen Erfolge nur immer noch tiefer wachsen, wenn schon nicht höher. Das Deutsche Reich ging verloren, als seine Ruhe hin war im Wilhelminismus, als es mehr neue Erfolge wollte, als dass es an einstige gedacht hätte. Aus der Sicherheit früherer schicksalhafter Erfolge heraus kommt auch jenes glückhafte Zögern, mit dem ein Cunctator ein Reich gerettet, ermöglicht hat. Rom war damals schon groß genug, um warten zu können. Abwarten muss das Reich können vor allem in jenen Unruhen, in die es jedenfalls geworfen wird, außen und innen: Nie wird es den imperialen Namen verdienen, wenn es nicht der ruhigen Außenpolitik fähig ist, nur sie ist Reichspolitik. Ein wahres Reich kann man nicht herausfordern, weil es seine Proben bereits bestanden hat. Und nicht anders in der inneren Unruhe: Ein Reich darf liberal sein, eigentlich ist jedes wahre politische Gebilde dieser Art notwendig ein Empire libéral. Die ökonomisch-gesellschaftliche Unruhe nimmt es in Gelassenheit hin, es lässt sie unter den größeren Strukturen verschäumen. Ob alle diese Bewegungen zum Erfolg führen - der Liberalismus weiß es nicht, und das Reich berührt es nicht, denn es hat seine Erfolge. Aus dem großen Triumph kommt dem Reich etwas Glückhaftes: ein Reichsoptimismus der Selbstverständlichkeit in fortdauernder Siegesstimmung. Nurmehr Augenblicke sind gegenwärtig, auch wenn sie von den Heutigen nie erlebt wurden; doch sie sind sicher: Diese große Ordnung kann nicht zusammenbrechen. Wenn es einst zum guten Ende kommen konnte, im Triumph, trotzdem so viel erlebt und erlitten werden musste, so ist auch heute der Erfolg gewiss - erst recht. Der frühere Triumph wird in seiner Tradition zur Triumpherwartung. Das Reich ist eine Ordnung „im Zweifel für den Erfolg", zum Bestehen verurteilt. Freilich bedarf es dann des wirklich großen triumphalen Ereignisses, Teilerfolge helfen nicht, Begleiterscheinungen nie allein. Tradiert werden kann immer nur das ganz Große, aber auch die „große Zeit". Reichsgründend in diesem Sinne waren die Fortwirkungen des siglo de oro, des grand siècle; was später in jenen Landen als Reich verteidigt wurde, war immer auch eine Fortsetzung dieser großen, triumphalen Stimmungen. Das große Ereignis ist viel, seine Tradition ist mehr. Sie ordnet, sie wird zum Reich. In der Triumphserie liegt etwas wie die Beweiskraft höherer politischer Mathematik: „Die Reihen werden unwiderleglich", sie allein, nicht die punktuelle Berechnung oder Konstruktion. Quod erat demonstrandum - hier kann weitergerechnet werden, bis in immer neue Stellen hinter dem Komma, in der untrüglichen Sicherheit, dass das große Ergebnis sich nicht mehr ändern wird - das Reich. In

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diesen Siegesserien werden die politischen Fehlerquellen immer kleiner, zugleich wird der Hintergrund nur noch größer, das verdämmernde Ausgangsereignis, Roms Gründung, der Kopf von Karl Marx, sein geistiger Triumph hinter den Schlachtensiegen der Roten Armee. Die Formen der Feiern wandeln sich, doch von der Apotheose der siegreichen Barrikaden bis zum Eiffelturm von 1889 und immer weiter feiert sich die triumphale République française ständig selbst, in der Triumphalität einer Tradition républicaine et révolutionnaire, aus der heraus sie das Empire colonial geschaffen hat, mehr als all ihre Könige und Kaiser. In einer solchen Tradition können alle Erfolge zusammengefasst werden, zivile und militärische, ökonomische und kulturelle. Die Tradition wird zum integrierten Triumph, nicht des Volkes der Nation.

c) Tradition

ohne Großerfolg - Gegenteil des Triumphs

Der Antitriumphalismus der Gegenwart ist weithin vor allem eines: Antitraditionalismus, in einem erstaunlichen Missverständnis. Tradition wird hier ja nicht bekämpft als der fortgelebte Erfolg, den man nur allzu gern mitfeiert, das Verständnis solcher Kräfte für die Russische Revolution beweist es. Auch die Tradition der Triumphserie wird immer beeindrucken - Russland ist zum unüberwindlichen Reich geworden durch die Vernichtung seiner drei größten Gegner. Was heute abgelehnt wird, was auch den Antitriumphalismus begründen soll, ist die Sklerose nicht „der Tradition", sondern gewisser Traditionen, vornehmlich im sozialen Bereich, in den Verkrustungen bourgeoiser Üblichkeiten. Dies ist eine Kampfansage an die „Tradition an sich", an das einfache Weiterwirken, das rasch zum Fortschleppen wird. Doch könnte es einen größeren Abstand zwischen dem allem geben und jenem Triumph, der hier in seiner Geistigkeit beschrieben wird, im Namen des Reichs? Diese Traditionen sind doch nichts anderes als „reine Vergangenheit", die auf die Gegenwart wirken will, nur weil sie „irgendwie" einmal war, ohne dass sie den Beweis auch nur anzutreten versuchte, dass sie ganz groß gewesen ist. Solche bürgerlichen Traditionen werden nicht besungen, sie werden vielleicht in leiser Nostalgie zu Ende geträumt. Angefangen haben sie doch gerade nie mit dem großen Schlag des Triumphes, sie können ihn nicht einmal erfinden. Sie wollen nur dem Fortschritt die Beweislast zuschieben, er soll zeigen, dass Neues besser ist, doch hier fehlt die „Kraft der Wahrscheinlichkeit des Triumphes", zur großen Beweislastumkehr, von der noch die Rede sein wird. Kraft eben mangelt vor allem, es sind ewige Krankheiten, die sich fortschleppen und schwächen. Oder hätten diese sozialen Traditionen etwas „Ereignishaftes", das sich feiern ließe? Da werden die Uniformen der Gardes du Corps noch leichter hingenommen, bis zur Friedlichkeit der Schweizergarde, steht hinter ihnen doch die triumphale Größe von Siegen und die Grandeur der Geschützten. Der Frack aber hat nichts Triumphales, selbst wenn er noch mit weißer Weste getragen werden kann.

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Buch 1: Der Triumph

Die Betrachtung von Traditionen als Triumph zeigt die Bedeutung des Ereignisses für das Reich. Das Bürgertum, die ereignislose Klasse, kann ein Reich genießen, nie schaffen. Ereignistradition steigert den Triumph zuhöchst, ereignislose Tradition ist sein Ende.

d) Die größte gefeierte Tradition

- das katholische Rom

Wenn etwas möglich ist wie eine Reichs-Dogmatik der Tradition, deren Linien gezeichnet wurden, mit Blick auf das Triumphale, so bleibt eine Frage vor allem noch gestellt, an der sich erweisen muss, ob wirklich nur Ereignis-Tradition zum Reich führen kann. Wenn es etwas Imperiales gibt in der Gegenwart, trotz all ihrer Öffnungen und Flexibilitäten, vielleicht gerade in ihnen, so ist es das Zweite Rom der katholischen Kirche. Ist dies nicht der lebendige Beweis für die politische Macht der reinen Tradition, in der Überleben allein schon zum Triumph wird? Im Gegenteil - hier ist Kontinuität und Ablauf nur das Äußere, im Kern bleibt alles Ereignis. Die Tradition der Kirche ist so groß, dass ihre Einzelheiten in der Tat immer mehr verdämmern, ihre Ereignisse sich in die Archive des Vatikan zurückzuziehen scheinen. Dies ist das Schicksal einer jeden Groß-Tradition in der Zeit, und auch eine gewisse Schwäche. Immer wieder, in der Reformation wie heute, hat man darin den verhängnisvollen Weg in reine Tradition gesehen, ein Abfallen von den großen biblischen Ereignissen des christlichen Anfangs. Stark ist in der Tat die Versuchung sich auszuruhen, nicht mehr auf Lorbeeren, sondern auf reiner Vergangenheit; eine antitriumphalistische Jugend hält es seit dem Ende des Jahrtausends der tausendjährigen Kirche vor. Doch immer wieder zeigt diese Kirche, dass da Verdämmerung der Triumphe sein mag, nicht aber ein Abfall von ihnen. Die Tradition des Zweiten Roms bedeutet eine Zusammenfassung aller Großerfolge unter einer Kuppel, in einem Namen: dem militärischen - in hoc signo vinces; dem zivilen - in der zweiten Pax Romana; dem geistigen - tu sola omnes haereses interemisti; dem ökonomischen - unter dem Krummstab ist gut leben. All dies wölbt sich zusammen zu einem einzigen großen Triumph, der so mächtig ist, dass seine einzelnen Elemente gar nicht mehr diskutiert werden können, dass sie kaum noch in der Ferne der Wölbung erkennbar sind, in der sie sich gegenseitig sicher halten. Und schließlich bleibt da immer, unwandelbar, der riesige Ausgangstriumph das größte Ereignis der Geschichte, die Erlösung in Tod und Auferstehung, der Fels, auf den ein für allemal die Kirche gegründet ist, aus dem ihre Tradition sich wie ein lebendiges Wasser in die Geschichte ergießt. Der Triumphator ist der „ganz Andere", er hat das Ereignis gesetzt, er wiederholt es täglich, allgegenwärtig wendet er alles zum Guten, darin kommt zu uns sein Reich.

Β. Triumph - Reichsgrund und Reichsanfang

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Die ganz große Reichsidee ist aus dem Ersten Rom gedacht, aus seinen legendären Anfängen, die sich in Siegesserien bewiesen - aber auch aus dem Zweiten, in dem der Anfang alles ist, der sich in einem ewigen Triumphzug nicht abschwächt, sondern beweist und vollendet. Wenn es imperiale Tradition nur aus dem fortwirkenden Ereignistriumph gibt, so ist dies wahrhaft ein römisches Erbe.

6. Triumph als rettender Sieg die Notstandslegitimation des Reiches Triumph ist der Sieg der ganz großen Überlegenheit - aber auch stets die Rettung aus großer Not. Hinter dem Reich steht der Notstand, den es im großen Erfolg überwindet, diese große Ordnung versteht, wer die „Reichs-Vertiefung zur ständigen latenten Notstandsbewältigung" begreift. Die Grundidee dieses Kriteriums für den triumphalen Charakter eines Ereignisses ist: Es muss ganz wesentlich „Sieg" sein - eine schwere Gefahr wird überwunden. Das Reich wird ersehnt und geschaffen, wenn die politischen Gefahren „Existenz bedrohen", in welcher Form immer, die der staatlichen Organisation, wie auch, vor allem, das Weiterleben des einzelnen Bürgers in seinem individuellen Lebensraum. Die Auflösung der dramatischen Spannung im Triumph bedeutet etwas wie die Transformation persönlicher Todesängste in Reichsordnungen. Da mögen lange Perioden der Unsicherheit vorangegangen sein; am Ende des permanenten Bürgerkriegs oder merovingischer Fehden stand mehr als einmal das Reich - im alten Rom, zu Beginn des Mittelalters - oder doch ein Aufbruch zu ihm, in der Überwindung der deutschen inneren Kämpfe des vergangenen Jahrhunderts. Es ist, als werde die Dauer und Schwere des Leidens, der Gefahren von vielleicht mehreren Generationen, wieder gut gemacht an einer glücklicheren, der ein Reich geschenkt wird - große Ordnung aus viel Unordnung. Doch auch eine große Not allein mag ein Reich schaffen oder neu befestigen, in der Türkennot, im Triumph von Wien wurde es erlebt. Immer muss da etwas mehr sein als „Staats-Not", das Reich wächst aus überwundener, besiegter Bürgernot, denn seine vielfältigen, späteren Ordnungen werden auf den Schicksalen und Bedürfnissen aller aufruhen, rahmenmäßig einem jeden gerecht werden, soll da ein Reich sein; und so muss schon an seinem Ausgangspunkt ein jeder seinen Triumph mitfeiern dürfen, ihn im Sieg der Gemeinschaft erkennen. Überwindung ist der Triumph, ein wirklicher Sieg. Das Freund-Feind-Verhältnis als Wesen des Politischen findet hier seine höchste Steigerung, im Triumph läuft Hochpolitisches ab, nicht Eitelkeitsbefriedigung, ein Theater von Helmbüschen, der Kaiser auf weißem Rosse. Ohne Sieger und Besiegte gibt es keinen Reichsbeginn, doch der Besiegte selbst wird im großen Erfolg wieder aufgehoben, auch

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Buch 1: Der Triumph

er geht im Triumphzug, und an seinem Ende werden ihm die Fesseln abgenommen - oder er wird in die siegreichen Formationen integriert. Wohl ist Triumph auch der totale Vernichtungssieg, das endgültige, dauernde Blutbad, die Russische Revolution. Dies ist dann der Triumph ohne Rückkehr, ein Reichsbeginn, der nie mehr die Restauration fürchten soll. In ihm wird der Wille der geschlagenen Minderheit zu dem der Mehrheit, weil es eine andere politische Dimension überhaupt nicht mehr gibt; aber auch dort muss irgendwann das Töten und Niederwerfen aufhören, die Minderheit wird nicht mehr besiegt, sondern in die Mehrheit integriert. Und so ist es in jedem überzeugenden demokratischen Wahl-Großerfolg, der ein Regime verändert, neue demokratische Imperialität schafft: War es wirklich die große Wandlung, der „Erdrutsch", so wird die hoffnungslose Minderheit geradezu im Rousseau'sehen Wunder Teil der Mehrheit, weil sie in deren Triumphzug einschwenkt, unter ihren Fahnen weitergeht. Wem nicht im Triumph die Welt gehört hat - und sei es auch nur einen Augenblick - der kann sich nicht die eigene, notwendig kleinere Welt im Versuch eines Reiches aufbauen. Eine Vertiefung des Ordnungsdenkens findet hier statt, hin zum Reich, zu einer Struktur, die sich stets bedroht fühlen muss - dann aber doch siegen wird, weil sie einst gesiegt hat. Das Reich - es ist der permanente Notstand - und seine erfolgreiche Auflösung im Triumph. Für den „einfachen Staat" ist Notstand eigentlich nicht vorstellbar, zum einen, weil man ihn ohne Bedauern sterben lässt, vor allem aber, weil er im wirklichen Notstand bereits sein Ende erreicht hat. Anders das Reich: Aus seinem großen Erfolg heraus triumphiert es gerade über den Notstand, die Notstandsdimension erst gibt seiner Ordnung die letzte Imperialität. Steht hinter ihr nicht die große Bedrohung, aus der die Ordnung errettet wurde, wieder werden wird, so kann die letzte Reichsgröße nicht erreicht werden. Die dauernde und geradezu gepflegte Angst vor der Konterrevolution im russischen Reich des Kommunismus war lange Zeit wirksam als eine politische Selbstverständlichkeit, vor allem aber eine Folge der wahren Triumphalität der großen Revolution: Das Reich schafft sich ständig seinen Notstand, um immer neu triumphieren zu können. Und selbst in den kleineren Räumen der Bonner Republik war die Notstandsdebatte der Fünfziger Jahre auch Aufbruch nicht nur zur Souveränität, sondern zu einer reichsähnlichen Ordnungsbefestigung. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" - zum Reich wird, was ihn überwindet.

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III. Die Erweiterung des Triumphbegriffs: vom Sieg zum Erfolg - der demokratische Triumph 1. Überwindung des Triumphalismus durch Pazifismus? Triumphalismus ist aus der Mode, in all seinen Formen, aus einem Grunde vor allem: Man verbindet ihn mit dem militärischen Sieg, ihn aber soll es erst recht nicht mehr geben in einer Welt, die schon keinen Kampf kennen darf. Ausgangspunkt dieses Pazifismus ist die Ablehnung des militärischen Erfolges, in seinen extremen Formen verwirft er alles als Staatsgrundlage, was unfriedlich, kämpferisch erscheint. So ist denn der Sinn für Triumphalismus weithin verloren gegangen, selbst die große Kirche entfernt ihn von ihren Fassaden, die Demokratie wird gefeiert als die Staatsform des Antitriumphalismus, nur eines darf sich überall frei zeigen - politische Bescheidenheit, die weiche Hand, die hilft, deren Finger nicht das Siegeszeichen geben. Sind damit alle diese Betrachtungen von Anfang an durch eine politisch-geistige Großentwicklung überholt, enden in der Friedlichkeit der Gegenwart Triumph und Reich? So ist es nicht, all dies verlagert sich nur. Schwerer wird es, Zeitgenossen den Sinn für das Imperiale wieder zu geben, die sich in Realitäten oder Illusionen des Pazifismus bewegen. Doch gerade sie gilt es zu überzeugen: Es ist nicht Beruf dieser Zeit, säkulare Kräfte wie Triumph und Ordnungsformen des Imperialen durch die reine Negation von Spannungen zu ersetzen, Triumphe werden anders gefeiert, Worte wechseln. Der Triumph wird zum Erfolg, das Reich erscheint als die große Ordnung der Erfolgsgemeinschaft. Dies ist der Gegenstand der folgenden Blätter. Hier ist nicht zu entscheiden, wo die tieferen Gründe des gegenwärtigen Pazifismus liegen: in den vergangenen Kriegen, in den Massenvernichtungswaffen, der steigenden Angst vor inneren Spannungen und Bürgerkriegen - oder ganz einfach in einem politischen allgemeineren Energieverlust der hochentwickelten Länder, in der Erschlaffung politischen Gestaltungswillens. Sicher ist, dass eine zutiefst untriumphalistische Generation alle Manifestationen größerer Erfolge, damit aber vielleicht diese selbst, abzulehnen scheint, bis hin zu Titeln, Prüfungen, Hierarchien, bis hinein in den Luxus als äußeres Zeichen des größeren Bürgererfolgs. Verworfen wird so alles, was irgendwie an einen „Bürgertriumph" erinnern könnte, und wie sollte da ein Verständnis für den Staatstriumph geweckt werden können, welcher die politische Ordnung zum Reich steigert? Doch gerade deshalb muss ein geistiger Kontrapunkt gesetzt werden: Wer Siege nicht sehen will, muss um so mehr über Erfolge nachdenken. Zunächst schon aus einem banalen Grund: Das Militärische ist nicht verdrängt, selbst nicht in seinen großen Formen, weiterhin wird es lediglich vom Einsatz in die Drohung verlagert, und selten war die ganz große Rüstung so mächtig, damit aber steht doch am Horizont die Vision vom ganz großen Sieg. „Triumph" bedeutet

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heute bereits Rüstungsüberlegenheit. Manche Waffensysteme sind so fürchterlich, dass ihre Bereitstellung allein schon triumphale Größe erreicht und gerade das schützen soll, was man ein Reich nun wirklich nennen kann - die „Supermacht". Doch ebenso wichtig ist eine andere Verlagerung - vom äußeren militärischen Kampf in den inneren Bürgerkrieg, und sie erschüttert viele politische Gemeinschaften. Im Siegeserlebnis einer Befreiungsbewegung der Dritten Welt soll stets der Anfang eines neuen Imperiums gefeiert werden, eines kleinen vielleicht, aber doch einer Ordnung, die nun groß sein, sich nicht mehr ändern wird - was wäre das Reich anderes, ist da nicht Triumphalismus? Dies alles zusammen müsste schon genügen, um die Frage nach dem Triumph als Reichsgrundlage gerade heute zu stellen, mehr vielleicht als je zuvor. Nie haben wohl so viele politische Hände nach dem „Reich" gegriffen wie in unseren Tagen, nach etwas wie großer, dauernder Mächtigkeit. Doch es gibt noch einen anderen Grund, der heute zum Triumphalismus hin-, vielleicht auch zurückführt: Gerade wenn der Pazifismus gegen alles Militärische erfolgreich ist, findet eine weitere, eine dritte Verlagerung von Spannungen und Auseinandersetzungen statt: vom militärischen Triumph zum zivilen Großerfolg. Wer jenen nicht will, muss gerade diesen erstreben, seinen Ordnungen zugrunde legen, damit aber, in einer neuen Weise, doch triumphieren. Pazifismus als Antitriumphalismus - das ist nichts als eine primitive Blickverengung. Im Militärischen mag vieles und für jeden Triumph Wesentliches sich zeigen, doch dies ist eben wandlungs-, übertragungsfähig in den unblutigen Bereich, und so war es im Grunde von jeher. Stets musste sich der militärische Triumph im zivilen Erfolg fortsetzen, der Sieger zum Friedensfürsten werden. Wer nicht mit brutaler Gewalt siegen kann, vom Duell bis zur Atombombe, der muss seine Auseinandersetzungen in anderen Formen austragen und gewinnen, vom politischen Boykott über protektionistische Wirtschaftspolitik, wahre Formen des Wirtschaftskriegs, bis hin zum ganz einfach offenen Wettbewerb zwischen Staaten und Bürgern, in dem ja auch täglich gesiegt, verloren - triumphiert wird. Die Verlagerung der Aggressionen in den zivilen Bereich, ihre Verschleierung dort, hebt den Triumphalismus nicht auf, sie wandelt nur seine Formen; und gerade die Deutschen sollten nicht vergessen, mit welchem triumphalistischen Unterton sie das Wort „Wirtschaftswunder" ausgesprochen haben, darin klang etwas mit von der Sehnsucht nach dem verlorenen Reich. Niemand muss mehr über Triumphalismus nachdenken als der Pazifist, welcher Gewalt in Grenzen halten will. Hinter ihr steht immer Triumphdrang; wer ihn schlechthin leugnet, eliminieren will, bewirkt nur eines: die Abdrängung der Gewalt in Kryptoformen einer heimlichen, verschlagenen Brutalität, die ihren Triumph einfach nurmehr in der Gewaltanwendung selbst erblickt, nicht in der Ordnung, die aus ihr erwachsen soll, die sich im Niedertreten erfüllt, nicht im Aufrichten des Reiches. Darin ginge allenfalls das Imperiale unter, die Ordnungskraft

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der gelösten Spannung, die Frucht des Triumphes, nicht er selbst, er würde nicht zivilisiert, sondern brutalisiert. Daher sei man auf der Hut: In solchem Anti-Triumphalismus darf nicht etwa noch die Gewalt - Krypto-Triumphe feiern. „Kampf der Gewalt" ist gut, Zivilisierung ihrer Formen ist Aufgabe der Zukunft; doch Ablehnung der Gewalt darf nicht um die Idee des Triumphes bringen, um die Ordnung, um das Reich. Deshalb gerade muss der Blick erweitert werden, vom Sieg zum Großerfolg.

2. Erfolg - der neue Kernbegriff des Triumphalismus Eines wird der Pazifismus der Gegenwart sicher bringen: Den Weg vom Schlachtfeld zum zivilen Erfolgserlebnis, doch in beidem wurde auch triumphiert, in beidem ist etwas Imperiales - das Reich als Erfolgsgemeinschaft. Diese Begriffe sind erst recht nötig in einer Welt geistiger Gewaltlosigkeit, um das Wesentliche des Triumphes verständlich zu machen: nicht das Niederschlagen, sondern das eindeutige politische Ordnen. Damit ist auch etwas an sprachlicher Wahrheit zurückgewonnen, war doch von jeher der Erfolg Kern des triumphalen Ereignisses; wer dies nicht erkennt, kann immer nur eine Seite, etwa am päpstlichen Triumphalismus, sehen. Heutige Großerfolge, wie der ökonomische Triumph, würden in ihrer reichsgründenden Kraft gar nicht erfasst, der Triumphalismus, der auf vielfältig gemischte Entwicklungen zurückführt, wäre verkannt, wollte man alles auf den Schlachtensieg beschränken. Die legendären Triumphe in der Eroberung des goldenen Westens und des fernen Sibirien, welche den heutigen Großimperien erst ihren geistigen Hintergrund geben, sie würden in ihrer imperialen Mächtigkeit gar nicht gewürdigt. Und selbst das Römische Reich - war es denn wirklich nur ein rein militärisches Phänomen? Wer vom „Erfolg" spricht anstatt vom „Sieg", der gibt dem triumphalen Ereignis seine „rein positive" Bedeutung zurück, unbelastet von den Revanchegelüsten der Unterlegenen, ohne die Verführung zum Sieger-Übermut. In diesem Sinne ist der „Erfolg" als reichsgründendes Ereignis ganz überzeugend, er wird auch, aber nicht allein, bestimmt vom wankelmütigen Bataillenglück. Sicher kann Triumph nicht nur aus Verdienst kommen, doch eine Reichsgründung allein aus Schlachtenwunder, lediglich aus dem „Zeichen von Oben", ist in einer rationalisierten Welt nicht mehr überzeugend. Wäre das triumphale Ereignis nur ein Geschenk des „Herrn der Armeen", eine Art von „Gottesurteil", seine Kraft würde sich wohl rasch erschöpfen. Was also nottut, will man die Reichschancen von heute und morgen ermessen, ist ein zivilisierter, in gewissem Sinne ein säkularisierter Siegesbegriff. Ein so verstandener Erfolg bezieht alle großen, glückhaften Vorgänge ein, Triumphfolgen und Triumphbegleitungen, es findet eine räumliche und zeitliche Öffnung des Erfolgserlebnisses statt. In dem weiteren Erfolgsbegriff öffnet sich der Triumph

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zur Tradition - damit hinein in die Zeit - welche die Früchte des Großerfolges einbezieht und diesem zurechnet; die Kurzatmigkeit des militärischen Siegens fällt ab vom Triumph und vom Reich - eine temporale Erweiterung des Triumph-Begriffs wird vollzogen. Vor allem darin wird die reichsschaffend-kausale Kraft des Triumphes erst voll erkannt, in all ihren ordnungssteigernden Formen: Im Begriff des „Erfolges" liegt es - ganz anders als in dem des „Sieges" - dass nicht nur an ein historisches Faktum angeknüpft, dass dieses vielmehr auch als solches, als Reichsbeginn gefühlt wird, reflektiert von allen. Sämtliche kausalen Wirkungen des Triumphes „hin zum Reich" werden auf diese Weise lokal, temporal, kausal zu einer großen Einheit integriert. Der wirkliche Großerfolg hat, über alle Siege hinaus, entscheidende, echte „Reichs-Qualitäten", als Triumph: Anders als der Schlachtensieg ist er nicht mehr rückgängig zu machen, der größten gewonnenen Schlacht können ja viele verlorene folgen, und Napoleons Triumph war eben doch nur zum Teil Erfolg, im Rest lediglich Sieg. Das Reich aber muss die Zusammenarbeit aller bringen, auch mit den Besiegten, das Römische Imperium ist das erste Vorbild. Darin ist das Imperium ganz wesentlich krönender Schlusserfolg. Das Reich ist überhaupt immer integrativ, mehr noch als exklusiv - wie jeder große, wahre Erfolg. Der Triumph kommt von den Schlachten her - aber er zieht über ihre Felder hinweg, als Erfolg.

3. Der Großerfolg als demokratischer Triumph Die Volksherrschaft gibt sich antitriumphalistisch, und in der Tat - Triumph als Reichsgrundlage kann ihr nur als Großerfolg vermittelt werden. In dieser Idee liegt dann aber wesentlich Demokratisches: - In dieser Reichsgrundlage liegt zunächst beschlossen, dass der Triumph nicht wenigen nur gehört, sondern allen. Siege erringen Kaiser und Heere, doch auch der Umstand gehört zum Triumphzug, für ihn ist es eben der Großerfolg, der zählt, nicht die getöteten Feinde; und die modernen militärischen Siege in Guerilla-Kampf und Revolution erringen die Vielen, das Volk - alle. Wer den Triumph zu allen Bürgern bringen will, darf ihn nicht nur als Sieg, er muss ihn, dann und vor allem, als Erfolg begreifen. - Triumph als causa des Reiches - das meint in erster Linie das Ordnende des triumphalen Imperiums, nicht die unterjochende Kraft. Die Bürger ordnen sich in den Triumphzug ein, in ihrem Mitziehen wird die Ordnung Realität - im gemeinsamen Erfolgserlebnis. Wer ein Reich aus Revolutionstriumph bauen will, wie nach der russischen Erhebung, der kann nicht immer nur die Zahl der erschlagenen Gegner im Munde führen, er muss den Erfolg einer Idee betonen, welche sogleich jeden an seinen Platz stellt.

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- Damit wird das Siegeserlebnis zum Erfolgserlebnis generalisiert und zugleich reichsschaffend demokratisiert: Alle Bürger waren gewissermaßen auf dem Schlachtfeld, immer noch bewegen sie sich dort, wenn sie die Früchte des Sieges ordnen, im Sichten der Erfolge. Der Sieg als solcher bringt nur einer Seite Glück, aus dem Erfolg entsteht Ordnung - für alle. In solchem Erfolgsdenken wird der Sieg auch von den Geschlagenen akzeptiert, in seiner triumphalen Wirkung über Jahrzehnte auch von ihnen weitergetragen; so war es etwa nach dem Ende des Spanischen Bürgerkrieges, weil alle erkannten, dass einem geliebten oder gehassten Sieger eines jedenfalls gelungen war: die Wiederbefestigung eines Reiches in einem Großerfolg. - Auch die Demokratie kennt den „Sieg" - vor allem im Wahlsieg, doch im Grunde ist er stets ein Wahlerfolg: Der Unterlegene wird nicht ausgeschlossen, sondern in neuer Gewichtung einbezogen in die Willensbildung der Gemeinschaft, deren Machtakzente nur werden anders verteilt. Primärer Effekt des Wahlsieges soll es nicht sein, die unterlegene Partei mit einem Triumph auszulöschen, mit einem Zug völlig zu überrollen, ihre Führer werden in ihm nicht als Gefangene mitgeführt. Bescheinigt wird der siegreichen Partei, dass sie die Erfolgreichere sei, in der Erwartung der Bürger, der eigentliche demokratische Triumph ist nicht Sieg, sondern Ausbruch einer großen Erfolgserwartung. In einer Bürgergemeinschaft, wie sie die Volksherrschaft anstrebt, kann es den vernichtenden Großtriumph über andere Bürger nicht geben, wohl aber den Großerfolg, der zur Führung aller legitimiert. - Erfolg - das ist vor allem ein Wort der Ökonomie, die heute immer mehr entscheidet. Successful - das ist gerade in einer Markt- und Wettbewerbswirtschaft ein Wort für dauernden, sich steigernden Triumph. Auch hier geht es nicht um völlige Verdrängung und Zerstörung, sondern um eine Integration des Gegenüber in die eigene größere Kraft, die aber den Wettbewerb, und damit die Erfolgsquelle, unangetastet lässt. Wiederum ist dieser Erfolgs-Triumph nicht etwas primär Zerstörendes, es werden nur Strukturen umgestellt, der gemeinsame Raum bleibt erhalten, in dem das Imperiale entstehen soll. Dies aber ist das demokratische Reichs Verständnis: dass nicht auf einer tabula rasa gebaut werde, dass das Imperium nicht in neu entdeckten Kontinenten zu befestigen sei, sondern nichts anderes stattfindet als eine große Ordnungsveränderung in bekannten, vorgegebenen Grenzen. Und wenn Demokratie eine Staatsform des wirtschaftlichen Wettbewerbs sein will, dann ist sie erst recht eine solche des „Erfolges". - In all dem erscheint eine Grundidee des demokratischen Triumphalismus: Der Erfolg steht im Vordergrund - nicht der Sieg - weil er zur Erfolgsgemeinschaft führen muss, damit aber zu etwas zutiefst Demokratischem. Bei Siegen wird immer diskutiert werden, ob sie von Soldaten errungen wurden oder vom Feldherrn, die Siegesgemeinschaft daher stets ein problematischer Begriff bleiben. Solche Erörterungen über die Zurechnung des Großerfolges finden in der Demo-

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kratie von Anfang an nicht statt. Das allgemeine, gleiche Wahlrecht sichert jedem Bürger die Teilnahme am triumphalen Erfolg zu. Das Wahlgeheimnis verdeckt, zumindest innerhalb der Bürgerschaft, wer Sieger war und Besiegter; da mag es eine siegreiche Richtung geben, doch die Solidarität der Demokratie will mit einem Minimum von Besiegten auskommen, wenn nur ein Maximum an Erfolg erzielt werden kann. Allein im gemeinsamen Zusammentreffen aller kann überhaupt der Großerfolg errungen werden, wie immer er ausfallen mag; ein jeder hat diesen „status activus zum Sieg" - eben als Bürger. Primär ist er also von Anfang an Angehöriger einer Erfolgsgemeinschaft, nicht einer siegreichen Truppe; es siegen Richtungen, nicht Menschen. Die Bürger dagegen haben sogleich wieder alle teil an der Verteilungsgemeinschaft, welche sich nach dem Erfolg wie von selbst konstituiert. Sie alle begleiten nun, wie immer sie gestimmt haben, die gemeinsame Beute im Triumphzug - die dann allerdings nicht in Tempel geführt, sondern sogleich in der Demokratie des Verteilungsstaates zugewiesen wird. Politische Meinungsänderung nach einem wahren Wahltriumph mag moralisch anrüchig bleiben; politisch ist sie aus der Sicht der Demokratie nichts als ein rasches Sich-einordnen in den großen Triumphzug, zu dem jeder Bürger gleichen Zugang hat, eben in der Erfolgsgemeinschaft der Volksherrschaft. So hat denn die Demokratie vielleicht ihre eigene Triumph-Struktur, so wie auch ihr Imperium sich von dem der Caesaren in manchem unterscheidet, vor allem darin, dass hier Erfolg größer geschrieben wird als Sieg, dass Gemeinschaft und Gemeinsamkeit des Staatsvolkes natürliche Grundlagen des Reiches sind und bleiben. Doch in einem ist auch der Großerfolg der Demokratie ganz Triumph: als ein Ereignis, das gefeiert werden muss, und wo stünde denn geschrieben, über den triumphalen Bögen, die zum Reiche führen, dass sie nur von wenigen, von Siegern, durchschritten werden dürften, nicht von allen gemeinsam? Dies aber gerade bedeutet: Triumph als Erfolg, zu allen Bürgern geöffnet.

4. Jeder Erfolg - ein reichsgründender Triumph? Die Wandlung des Triumphalen von der Siegesfeier zur Triumph-, zur Erfolgsgemeinschaft ist eine notwendige in einer Zeit des technisierten, schlachtenlosen Zusammenlebens, diese Erweiterung des Triumphbegriffs ist vielleicht die einzige Chance, die belebenden Kräfte des „großen Erfolges als Staatsgrundlage" überhaupt noch zu verstehen. Besteht aber nicht die Gefahr einer Abwertung des Triumphs zum Erfolg, geht damit nicht gerade das Besondere des Imperialen verloren, bleibt im Erfolg nicht nur der Staat, während das Reich ohne den größeren Siegestriumph nicht denkbar ist? Sicher - das Triumphale darf nicht in kleine Münze gewechselt werden, und der Begriff des „Erfolges" ist nicht nur unklar, irgendwie ist er „nach unten geöffnet", wie könnte hier nach oben eine „Schwelle zum Reich" bestimmt werden? Wer aber

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das Reich als Erfolgsgemeinschaft halten will, für den muss auch der Erfolg als „zivilisierter Sieg" alle Kriterien des Triumphes erfüllen: in seiner Größe, seiner Dauer, seiner staatskausalen Kraft. Gefahr liegt darin, dass der Erfolg nurmehr als ein eudämonisierendes Erlebnis erscheint, dass er zum Konsumgut wird, wo er doch eine große Investitionsanstrengung bringen muss. Im Einzelnen bedeutet diese Warnung vor einem „Verlust des Triumphes in reinem Erfolgsdenken" vor allem: Nicht jeder kleine Teilerfolg trägt in sich schon imperiale Kräfte. Das Abflauen einer terroristischen Bewegung etwa, wie gefährlich sie, vor allem den Regierenden, erschienen sein mag, ist ein polizeilicher Staatserfolg, nie eine triumphale Reichsgrundlegung - gleich ob hier eine Bewegung besiegt worden ist, oder ob sie sich nur verlaufen hat. Der Sinn für das „ganz große Ereignis" darf eben nicht verloren gehen, sonst wird der Nur-Erfolg, der bequeme Sieg, nicht zur Reichsgrundlegung, sondern zum Reichsverlust. „Reines Erfolgsdenken" verführt dazu, ein großes Ereignis allzu sehr „in seine Zeit zu verlegen", es damit aber aufzulösen, ihm seine Intensität der Wirkung auf den Geist der Bürger zu nehmen. Es ist eben nichts Triumphales daran, dass es nur „zeitweise einmal ganz gut gegangen ist", die Anbetung eines „Wirtschaftswunders" läuft diese Gefahr: Der Sinn für „das Ereignis als solches" geht verloren, das Reich verliert damit die legitimierende Kraft dessen, was zur Legende werden kann. Der Erfolg als solcher hat nichts „notwendig Ordnendes" an sich; über ihn freut man sich, alle mögen glücklich sein, nicht jeder aber wird darin „an einen Platz gestellt", dort gehalten. Was „sogleich gut ist für alle" hat keine größere regulierende Zukunftskraft mehr; tritt die Siegesidee völlig zurück, so ist der Verlust der Reichs-Ordnung nicht weit. Das triumphale Ereignis bringt zwar „für jeden etwas", entscheidend aber ist die notwendige Stufung in dieser Zuteilung: der einen Gruppe mehr an Macht und Verantwortung, der anderen eine bestimmte, umschriebene Kompetenz. Der ökonomische Erfolg in einer Gemeinschaft insbesondere leidet immer unter der Schwäche, dass solche Zuteilungen nicht klar, eindeutig, damit aber zukunftsordnend erfolgen. Ein größeres Los ziehen - das allein ist noch kein Triumph. In jedem Triumph liegt auch etwas von Verdienst, doch der Erfolg wird leicht zu reinem Verdienst verkleinert; da ist dann zu wenig Gnade, zu viel Tüchtigkeit. Selbst eine echte und zuzeiten geradezu triumphale Reichsgrundlage, wie volle Stabilität von Wirtschaft und Währung, wird allzu leicht als Folge von Leistung empfunden und dann noch kurzerhand einer Gruppe zugerechnet - „den Unternehmern", „den Arbeitnehmern", „der Beamtenschaft" und anderen staatstragenden Gruppen. Und es setzt sogar noch der Kampf um die Erfolgszurechnung ein, ein vielleicht notwendiges, aus imperialer Sicht aber stets höchst gefährliches Phänomen. Eines leidet mit Sicherheit darunter: die transzendente Qualität des Imperialen in einer Ordnung. 6 Leisner

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Vor allem aber wird das Erfolgserlebnis nur zu rasch zur reinen Verteilungsmasse, es ist nicht mehr ein Vermächtnis, welches bewahrt werden muss, in Tempeln im Triumph aufgestellt. Dann bleibt nichts mehr als Beuteverteilung, das schale Auslaufen des Triumphzugs. Wer etwas vom Reich will, der darf nicht um die Kleider des Herrn würfeln, nach oben muss er, müsste er sehen, auf das Kreuz, auf die Stunde des Triumphes über den Tod. Auch Geld ist Macht, und doch liegt eine Welt zwischen ihm und den eigentlichen Zentren der politischen Herrschaft; triumphiert wird in neuen Provinzen, nicht nur in höheren Juliustürmen. In ihnen wird im Letzten eben doch nur das Empire de tous errichtet, nicht das Empire général, und dann wird in der Demokratie nicht einmal mehr die volonté générale bleiben. Im Grunde wurde in all dem nur eines angesprochen, was aber gerade heute bedroht: dass man das Imperiale allein im ökonomischen Erfolg sucht, damit aber, über die zu verteilenden Erfolge nicht zum Reich findet, sondern allenfalls noch zum Verteilungsstaat. Sicher gilt es sich zu lösen vom rein militarisierten Triumpherlebnis der Siegesstaatlichkeit, vor allem, weil in ihrer Kurzatmigkeit das Reich nicht wachsen kann, allenfalls sich zu Tode siegen wird, die Deutschen haben es zweimal erlebt. Doch die Heilung von solchen Verblendungen darf nicht zu einer neuen Kurzatmigkeit führen, der wirtschaftlichen, in der kurzfristigen ständigen Beuteverteilung laufender oder nicht einmal kontinuierlicher Erfolge. Es stellt sich schließlich, will man vom „Sieg" zum allgemeineren „Erfolg" übergehen im Namen des Reiches, in besonderer Weise die Beweisfrage: Das Reich ist etwas, das sich im Triumph ganz selbstverständlich demonstriert, und zwar als eine einheitliche Ordnung, nicht nur, unendlich gebrochen, im Geiste derjenigen, die ein Erfolgserlebnis haben dürfen. Die reine Subjektivierung von Erfolgserlebnissen trägt allein ein Reich nicht, irgendwo muss da ein großer, objektiver Erfolgskern sein, zu dem alle aufschauen, der keinem ganz gehört, nicht verteilt werden kann. Dies ist das Wesen des militärischen Triumphes, und deswegen ist er auch hier noch näher zu betrachten, und dann in zivilem Erfolgsdenken letztlich zu überwinden, zu überhöhen. Der „reine Siegesstaat" gehört der Vergangenheit an, dies ist nur eine Folge der rationalen, zivilisierenden Entwicklung der Gegenwart, vielleicht ist es das Beste an ihr. Doch ein Erfolgs-Reich darf nicht zum Zufallsstaat der wechselnden politischen Glücksstunden werden. Aus den alten Siegesfundamenten des Imperialen müssen immer noch entscheidende Kategorien für den neuen Erfolgsbegriff gewonnen werden, auf dem Imperialität aufzubauen ist. Irgend ein Erfolg - das ist zu schwach für das Reich, vielleicht gibt es noch gar kein Wort für das, was für das Imperium gebraucht wird; was kann es schon bedeuten, das Reich als den „verewigten Großerfolg" zu bezeichnen. Die Richtung ist angedeutet, doch die große geistige Aufgabe bleibt: Die Vergangenheit der militärischen Triumphe muss in zivile, demokratische Zeit übersetzt werden, nur dann lassen sich Grundlagen eines imperialen Staatsrechts legen, lässt sich der Herausforderung der großen Anarchie die große Ordnung entgegensetzen. Eine solche Anstrengung darf nicht mit Verwerfungen beginnen, sie muss alles einbeziehen, auf allem, aus allem aufbauen. Nur dann kann etwas auf Dauer gelingen, was in Weimar belächelt und verloren worden ist: die Reichsdemokratie.

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IV. Was ist Staats-Wahrheit? Im Reichsdenken: Der Triumph 1. Triumph als politische Wahrheit Am Anfang mag hier stehen: Triumph macht These zur Tat; in Feiern werden Fakten zu Wahrheit. Dies ist eine Zeit des immer öfter enttäuschten, aber immer nur noch drängenderen politischen Wahrheitsstrebens. Weil die Demokratie keinen aristokratischen Politik-Ehrenkodex entwickeln kann, sucht sie die subjektive Wahrhaftigkeit, welche ohne eine Hypothese der objektiven Wahrheit nicht vorstellbar ist. Dann aber stellt sich ihr erst recht die Frage: Was ist wahr am Erfolg, am Triumph, so sehr Wahrheit, dass es die größeren Strukturen des Reiches zu tragen vermag? Hier lautet die Antwort: Gerade das, was im großen Triumph gefeiert, darin erkannt werden kann. Doch zu beginnen ist mit der negativen Seite, in der Vertiefung einer früheren These: dass das wahrhaft Triumphale über Kritik erhaben ist - weil es jede Kritik besiegt.

a) Die „ niedergeschlagene Wahrheit " - Vae victis Der Triumph, der ganz große Erfolg, ist in seiner Evidenz über Kritik erhaben, damit steht er nicht nur für das Gute, er wird zur realen Wahrheit. Die Kritik sieht sich verbannt in die Details des historischen Nachrechnens, wenige mögen es interessant finden, die große Bürgerschaft berührt es nicht. Die historische Kritik selbst wird in ihrer Besserwisserei der Einzelheiten von Anfang an so kleinlich, wie es die Wahrheit eben oft ist; dann aber sterben die Kritiker, der große Erfolg bleibt. Wer wollte die Größe napoleonischer Siege erschüttern im Namen der Wahrheit, den Sieg der Alliierten über den Faschismus? Was nicht politisch eine Lehre sein kann, wird auch historisch bald uninteressant. Nicht oft überlebt eine Niederlage im Namen des Ethos das Vergessen, und dies verlangt schon recht allgemeine Empörung, wie im Falle des englischen Angriffs auf Kopenhagen. Dann wird auch noch nach der Wahrheit gefragt; in den meisten Fällen geht sie mit der Moral unter. Historiker mögen dies beklagen und Verteidiger einer wie immer sich verstehenden Sittlichkeit. Doch es ist etwas politisch Notwendiges darin, weil man hier im Letzten vor triumphalen Erscheinungen steht, die zu einer größeren Ordnung führen, die „etwas vom Reich" hat; sie aber ist jedenfalls „gut", ihr moralisches Gewicht überwiegt immer den Wahrheitsverlust. Noch deutlicher als der Sieg zeigt es die Niederlage. *

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Vae victis ist nicht nur eine Befugnisnorm für den wahrhaft triumphierenden Sieger, es liegt darin auch eine Kategorie der Wahrheit. Der große Erfolg spricht eben für sich, er gibt alle Rechte, vor allem das Monopol der Wahrheit - aber nur dann, wenn er total ist. In diesem Sinne konnten die Siege von 1871 und 1918 nicht größere politische Wahrheit schaffen, trotz aller politischen Überzeugungskraft, in einem Lager blieben sie insgesamt bestritten, nicht nur in den Ergebnissen, sondern in ihrer ganzen Geschichte, erst 1945 hat, rückblickend, 1918 zum „wahren" Sieg gemacht. Das Verlangen der bedingungslosen Kapitulation war weit mehr als ein Nachspiel wider die Dolchstoßlegende. Zum Triumph sollte es endlich kommen, der große Geschichte macht, damit aber Staatswahrheit. Dass sich alle dem totalen Erfolg beugen, dass eine „andere Wahrheit" nurmehr im stillen Kämmerlein nutzlos überlebt, das ist nicht allein eine Folge des Opportunismus der Menschen, der alles Politische begleitet, es bedeutet Reichsgrundlage in der Überzeugungskraft des ganz großen Erfolgs. Dann hat die Wahrheit auch nicht mehr das letzte Privileg - dass sie „auf Dauer" ans Licht kommt; wenn gegen sie wirklich triumphiert wird, wenn sich daraus ein Reichsdenken befestigt oder entfaltet, wird der Triumph zur endgültigen Wahrheit, wie im Siege des Christentums über das Gedächtnis eines Nero, oder in der Entfaltung der amerikanischen und russischen Macht nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Willenskraft des Triumphs reißt die Schwäche intellektueller Analyse mit sich.

b) Triumph - Wahrheit durch Feier In der Feier erst wird der Erfolg wirklich zur Wahrheit - unzweifelhaft, weil sich die Wahrheitsfrage an ihn nicht mehr stellt. Hier wirkt die schon erwähnte Einheit von triumphalem Ereignis und Triumphzug zusammen, bis hin zu einer „ÜberWahrheits-Stimmung". Die Demokratie vor allem zieht hier aus ihrer Grundlage, dem Volk, der atomisierten Vielzahl, sogar starke Integrationskräfte: Das Volk will nicht Wahrheiten, sondern Feiern - dies ist nicht ein abwertender Erfahrungssatz, sondern eine politische Notwendigkeit: In den Triumphzügen findet es sich als Einheit, die Wahrheit lässt es in Gruppen zerfallen. Wo immer ein Triumphzug sich bewegt, bis hinein in die Reihen der mächtigen Demonstration, wo die Stimmung wahrer Feier emporwächst, da sind die Akten der Wahrheit geschlossen; Feier ist sich Wahrheit genug. Und dieses Letzte entscheidet: Der Triumph stellt sich nicht gegen die Wahrheit, er unterwirft sie nicht, er nimmt sie auf, er wird selbst zu ihr. Hier bewährt sich die platonische Grundidee der Einheit des Guten und Wahren: Der Großerfolg als das politisch Gute ist „zugleich auch geistige Wahrheit". Darin hat gerade die Volksherrschaft eine große imperiale Chance. In einem ist die Demokratie durch die „gefeierte Wahrheit" besonders stark: im Spektakel der Medien, ihrer sich als Wahrheit feiernden Berichterstattung. Die ständigen Angriffe gegen die veröffentlichte Meinung im Namen der Wahrheit

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bleiben darin immer schwächlich, dass sie den Erfolgscharakter und den Triumphgehalt von Presseäußerungen in der Demokratie unterschätzen. Durch die Vielfalt wird all dies nicht gebrochen, eher noch gesteigert, wenn es campagnenhaft zusammenfließt, und wie rasch bildet sich nicht diese einheitlich-,»triumphierende" Meinung. Im einzelnen Artikel, in der Einzelsendung erringt übrigens der wahre Journalist stets einen Großerfolg, und auch diese - sicher subjektive - Kraft darf in ihrer Triumphalität nicht unterschätzt werden. Die Medien feiern im Spektakel den Erfolg der anderen, dadurch setzen sie „Feier als Wahrheit", sie zelebrieren aber auch ihren eigenen Erfolg, damit stellen sie sich voll und ganz „in die Wahrheit". „Triumphfeier als Wahrheit" ist so stark, dass es gleich bleibt, ob der eigene Erfolg mit einem Glorienschein umgeben wird oder der des Nächsten, des Gegners sogar. Die Gegenwart hat eine eigenartige Form des Triumphalismus besonders entwickelt, die es immer, vor allem in Deutschland, gegeben hat: den Fremdtriumph als Eigenerfolg. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf die verständliche Freude darüber, dass eigene Interessen durch fremde Erfolge auf Dauer gewahrt werden, etwa die der antifaschistischen Kräfte im Triumph der Alliierten. Wenn ein Sieg groß ist, weckt er in jedem Betrachter imperiale Verehrung, selbst im geschlagenen Feind. In den vielen künstlerischen Darstellungen bedingungsloser Kapitulationen, in der Verneigung vor dem Sieger, wird oft auch fremder Triumph gefeiert, auf eigene Wahrheit zugleich verzichtet. Man mag den Triumph die „politische Wahrheit des als ob" nennen - „er ist nicht nur, er wird erkannt" in der größeren Feier, mit ihr spätestens erwächst er zur intellektuellen Kategorie. Der Antitriumphalismus der Gegenwart will sich all dem nicht beugen, den Kampf gegen Erfolg und Feier führt er gerade im Namen auch der historischen Wahrheit, des Wahren überhaupt. Doch er ist schon gescheitert, dieser Aufstand der Nachdenklichkeit. Seine Kräfte können sich nicht eigentlich entfalten, sind sie doch eingeklemmt zwischen die große Masse, welche den Triumph als Spektakel liebt und deshalb als Wahrheit verehrt, und eine geistige Oberschicht, die sich immer wieder, gerade im Namen ihres Intellektualismus, zu Romantismen hinreißen lässt, nicht zuletzt aber den politischen Opportunismus der Geschickten, welche verwundert fragen, warum man im Triumph nicht auch noch die Wahrheit sehen dürfe. Gegen die Vielen, Gescheiten, Geschickten - was bleibt da der Wahrheitskritik an Chancen gegen die Triumphwahrheit? Feiern kann man stören, nicht negieren.

2. Vom unmöglichen „Wahrheitsstaat" zur Triumph-Wahrheit des Reiches a) Der „ Wahrheitsstaat " - eine demokratische Illusion Es gibt keine Staatsform der rationalen Wahrheit, nicht einmal die Annäherung an sie wirkt staatsverstärkend; dies gilt schon für die „einfache Herrschaft", für „Macht ohne jedes Reichsgelüste".

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Das Politische ist nicht primär auf Wahrheit gebaut, nicht von ihr aus strebt es die Macht an. Wie weit sich die Herrschenden von der Wahrheit entfernen - sie dürfen es nie sagen, doch es ist im Grunde gleichgültig, solange sie noch überzeugen. Der Staat ist nichts als das organisierte „stat pro ratione voluntas". Dies folgt schon aus dem Gewaltmonopol der Staatlichkeit, es ist immer, auch in hochentwickelter Staatlichkeit, als Machtmonopol in erster Linie auch ein Wahrheitsmonopol. Weil diese zivilisierte Staatlichkeit nicht mehr leben will aus dem Niederdrücken der Bürger, weil ihr Gewaltmonopol sich verfeinert hat, deshalb wird sie nicht etwa das Wahrheitsmonopol aufgeben, sondern sich dem öffnen, was sie politische Wahrheit nennt - und sie wird eben deshalb immer mehr „Staats-Wahrheit" brauchen, Wirklichkeit zu ihrer „Wahrheit" manipulieren. Es ist eine Gefahr gerade der „milden Staatsgewalt", dass sie zur Staatslüge drängt. Doch Klagen darüber sind müßig. Angelegt ist diese Entwicklung im Staatsbegriff überhaupt, Gewaltrückzug kann er nur durch Wahrheit kompensieren, und sei es die falsche. Und ist sie nicht doch besser als der Polizeiknüppel? Auch die Demokratie, gerade sie, kann all dem nicht entgehen, mag es auch in ihr besonders schmerzlich gefühlt werden. In der Abstraktion ihrer Mechanismen ist sie die „rationale Staatsform par excellence", in ihrem Staat der geistigen Freiheit bleibt die „wirkliche Wahrheit" auch politisches Staatsziel. Blind will die Volksherrschaft sein für einen Sieges-Erfolg, der zur triumphalistischen Wahrheitsgefahr werden könnte. Sieger und Besiegte möchte sie nicht kennen, ihre großen Erfolge möglichst feiern in der Einbindung aller, selbst den Unterlegenen öffnet sie am Tage des großen Wahlerfolges die Türen der Reue oder des Opportunismus. Doch so vermag sie das Problem der „Staats-Wahrheit" nicht zu eliminieren: Entweder die Volksherrschaft schwächt sich ab, verliert in anarchischen Erdstößen die Attribute der Staatlichkeit, weil sie ein Wahrheits-Tabu nicht kennen will - oder sie lebt, gerade umgekehrt, in ständiger Ideologiegefahr: Sie öffnet sich Faschismen und Sozialismen, die „ihre Wahrheit mitbringen", oder einem Liberalismus, der das Ideologiebedürfnis nur verstärkt, in der Suche nach „irgendeiner Wahrheit". Für die Demokratie ist dieses Dilemma der Staatswahrheit höchst gefährlich, leicht findet gerade in ihr der Umschlag statt in deren Gegenteil: die Ideologisierung befohlener Wahrheit; und befehlen können ja viele, auch die Träger politischer Moden und Medien. Staatlichkeit - das bedeutet also Suche nach der „eigenen" politischen Wahrheit, nicht nach „der Wahrheit" schlechthin; und wo dies letztere doch versucht wird, da ist nicht nur das Reich, es ist jede Staatlichkeit, die Herrschaft als solche, in Gefahr.

b) Die größere triumphale Reichs- Wahrheit Diese politischen Wahrheitsgefahren überwindet völlig nur eine Form der Macht: das Reich in seiner „größeren Wahrheit" des Triumphes, der wirklichen oder zur Wirklichkeit hochgefeierten Fakten.

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Wo ein Imperium im Raum steht, ist die Wahrheit gleichgültig, es geht um Wirklichkeit, um Wirksamkeit, in ihnen liegt sie allein. In ihren intellektualistischen Wahrheitsversuchen seit der Aufklärung hat die Demokratie dies weithin verschüttet, aber auch sie braucht nichts anderes, und der Triumph ist, gerade in seiner größeren Dimension, ein wahrhaft „schlagender" Beweis dieser einfachen politischen Wahrheit. Dem Vertreter eines wirklichen Reiches geht eben die Pilatus-Frage ganz einfach über die Lippen: „Was ist Wahrheit?" Was geht sie ihn an, die intellektuelle Wahrheit oder auch nur die ideale, ideologisierbare - wenn er nur triumphieren kann, solange er steht im großen Erfolg seines Reiches? Da ist nicht allein Skepsis, da ist Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, und nicht nur in einer Form des oderint dum metuant, weil die politische Kraft etwa stärker wäre als die Wahrheit, sondern vielmehr weil diese Kraft sich als Wahrheit schon fühlt, mit dem jedenfalls zufrieden ist, was sie sich selbst an Wahrheit bedeutet. In der ordnenden Kraft des Großerfolges wird zugleich die politische Wahrheit sichtbar, all das an ihr, was überhaupt erkenntnisfähig ist. Wer andere sich völlig unterwerfen, sie in seine Mächtigkeit aufnehmen kann, der gewinnt eben zugleich etwas von der Wahrheit, die an ihren politischen Früchten erkannt wird. Wo so vieles gelungen ist, da kann nichts „Falsches" sein, in jenem Sinn wenigstens nicht, der hier zentral ist: Wahrheit als Widerspruchslosigkeit. Der Triumphator hat eines doch sicher bewiesen, auch nach allen Kategorien intellektueller Wahrheitssuche: dass er ein Kraftzentrum hat schaffen und erhalten können, dies aber beweist innere Widerspruchslosigkeit. Dann ist jedoch der Schritt zur Wahrheitserkenntnis nicht mehr schwer, wird er doch in wahrhaft kantischer intellektueller Bescheidenheit vollzogen: Was können wir mehr erkennen, wissen von politischer Wahrheit, als was unsere Denkkategorien eben zulassen, vor allem unsere Logik der Widerspruchsfreiheit? Wenn etwas gelungen ist aus großer politischer Kraft, von der bedingungslosen Kapitulation bis zu einem wahren Wunder der Wirtschaft - ist dies nicht ein Beweis für widerspruchsfreie Organisation, wird dieses Faktum nicht zur Legitimation, mehr noch, weil alles politisch Erkennbare sich in sich schließt, zur Wahrheit? Ist dies nicht politische Wahrheit, dass nichts Widersprüchliches sei bei dem, welchem der große Erfolg geschenkt wird? Will man sie wirklich ergründen, die beiden politischen Wahrheiten - „wie es wirklich war" und „ob unsere Herrschenden es uns gesagt haben" - genügt es nicht, dass sie den großen Erfolg hatten, dass sie triumphieren dürfen, ist dies nicht der Beweis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit zugleich? Kommt es im Triumph nicht auch zu einer Renaissance des strengsten Wahrheitsbegriffs, den wir kennen: der kantischen Wahrheitserkenntnis? Die Reichs-Wahrheit, welche zugleich die Wahrhaftigkeit der imperial Herrschenden bestätigt, liegt schließlich in der besonderen Höhe des Triumphs, der über alle Wahrheit hinwegzieht, sie ganz einfach mitnimmt und verwandelt. So groß und tief ist das wahre Reich, dass es nicht nur an der Wahrheit nicht scheitert,

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dass es vielmehr in seiner großen Ordnung der Wahrheit erst einen Raum für ihre Entwicklung schafft. Roms Reich war vor seiner Geschichte, die antike Historiographie hat Wahrheiten a posteriori gefunden, geschaffen, hat sie dem Reich unterlegt, sie in seine großen Räume geschoben, wo Platz war für diese Wahrheiten wie für andere. Und wiederholt sich dies nicht immer wieder, steckt nicht Livius in jedem Historiker, der eben von allen Seiten „die Reichs-Wahrheiten" seiner Zeit hört, welche schon Triumph-Feiern geworden sind, hat nicht die größere deutsche Geschichtsschreibung aus dem erwarteten oder gegenwärtigen Reich heraus die Wahrheit der Vergangenheit gesucht, weniger oder mehr, in Ranke oder Treitschke? Der wahre Triumph ist so groß, dass es gleichgültig ist, ob die Wahrheit erst an seinem Ende mitzieht. Jedenfalls von ihm an findet Geschichtsschreibung als Reichs-Rationalisierung statt. Im Triumph wird vor allem über eines gesiegt: über die bohrende Frage nach der „wirklichen Wahrheit", verdrängt wird die Frage nach der politischen Wahrhaftigkeit außerhalb der Ordnungen des Reiches, dort eben gibt es sie nicht mehr. Der Staat ist nicht Wahrheit, er benutzt und schafft sie. Im Reich findet er erst ganz zu seiner Staatlichkeit, im Triumph. Reich der Wahrheit? Das gibt es nicht, das Reich als Wahrheit lässt sich finden. So exklusiv wie es den Erdkreis umfasst, jedenfalls „alles politisch Erfassbare", so ist es auch exklusiv auf dieser geistigen Ebene: Die politische Wahrheitssuche muss zu den Skythen abwandern.

3. Der Großerfolg - überzeugende Wahrscheinlichkeit als Wahrheit Der ganz große Triumph „ist" als solcher schon politische Wahrheit, er schiebt die kritische Wahrheitsfrage beiseite. Doch dies ist nicht die einzige Form, in welcher der Großerfolg die Wahrheitsfrage auf seine Weise beantwortet, in einer „Reichs-Wahrheit". Noch einen Weg gibt es, auf dem der Erfolg zur Wahrheit wird, die Kritik überwindet: indem alles andere ihm gegenüber unwahrscheinlich wird, während er die Überzeugungskraft der Wahrscheinlichkeit gewinnt - und nicht selten ist sie, gerade kritischem Denken gegenüber, stärker als die feststellbare Wahrheit. In der Größe seines Triumphes darf, ja muss das Reich stets unglaublich sein, unglaubhaft darf es nie werden. Die unglaubliche Größe seines Ausgangserfolgs, des Triumphs, den es selbst darstellt, verleiht ihm eine geradezu religiöse Dimension - davon wird noch die Rede sein. Dann aber mag die Wahrheit verdämmern. Was so groß ist, dass man daran glauben kann, ist deshalb eben wahr, in einem höheren Sinne vielleicht, die Gottesidee zeigt es. Die Größe des Triumphs ersetzt seine Wahrheit, durch eine Wahrscheinlichkeit, welche den Glauben nahe legt. Spätere Generationen, welche die Russische Revolution nur aus unzähligen Büchern kannten, wurden mit zahllosen kleinen Geschichten gewonnen, vom heroischen Proletariat, von den Taten roter Kosaken. Die eigentlichen Wahrheits-

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fragen, nach Gründen und Verlauf, nach Kerensky und Trotzky, hatten keine Bedeutung mehr, der große Triumph gab der Partei Recht. Und nicht nur die objektive Größe des Geschehens, seine Wirkung als „politische Gnade" wirkt reichsgründend, seine Größe verleiht auch dem subjektiven Verdienst der Akteure die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit, damit aber moralische Kraft: Die Leistung der siegreichen Revolutionäre muss doch eine unglaubliche gewesen sein, damit aber wahr - der Triumph als moralische Kategorie überwindet auch darin die Wahrheit. Wie in der kantischen Moralphilosophie wird der Staat als Reich in seinem Triumph zum „gestirnten Himmel", unter dem die metaphysische Wahrheit, im Dunkel der Niederungen dieser Erde, bedeutungslos verblasst. Selbstverständlich ist es also, dass der „Großerfolg", bis zu einem gewissen Grade, von seinen politischen Erben in der Reichsgewalt als Wahrheit manipuliert werden kann, ja verändert werden muss, bis hin zu Feiern, die ihn erst schaffen; der Unbekannte Soldat hat nie triumphiert - er ist zur täglichen triumphalen Wahrheit geworden. Der Grund ist einfach und wahr: Vom gigantischen Erfolg bleibt stets ein Kern, Manipulation „zur Unwahrheit" wird nur in kleinen Dingen vermutet - in den täglichen Erfolgslügen der politischen Parteien, in Hoffnungen auf einen Aufschwung, der noch immer nicht da ist. Am Großen aber ist nicht nur etwas, an ihm muss etwas sein, und selbst Goebbels' Rat zur Propaganda der ganz großen Unwahrheit hat zwar das Reich nicht zu halten vermocht, weil irgendwann sogar der Erfolgskern verloren ging, im Übrigen aber war es eine imperiale Intuition. Je größer der Triumph ist, desto leichter genügt die Möglichkeit seiner Wahrheit zur Wahrhaftigkeit. Für den großen Erfolg reicht es ja aus, dass der Abstand zur Unwahrscheinlichkeit gewahrt ist, und der Triumph ist eben, wenn er noch irgendwie diesen Namen verdient, nie unwahrscheinlich. Was sich so feiern lässt, bleibt darin „angesiedelt zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit"; die politische Wirkung will ja auch nicht die der befriedigten Wahrheitssuche sein, sondern der Überzeugung der Bürger, zum Handeln und Ertragen. Im Letzten genügt sogar ein gewisser Abstand zur offensichtlichen Unwahrheit - ihn aber hält der Triumph immer; warum sollte denn etwas unwahr sein, was legendär hat werden können? Darin zeigt sich die große Wahrscheinlichkeitskraft des Triumphes: Er kehrt die politische Beweislast um, selbst noch in der Legende. Diese Kraft gibt er dem Reich mit: Es bedeutet die Umkehr der Legitimations-Beweislast durch den Großerfolg, in ihm gerade kommt es zum Umschlag. Da mag einer über Austerlitz reden und jener, etwas Ungeheures war da doch jedenfalls. Der Überschwang des Triumphzugs ist vorüber, in der Niederlage, der Triumph bleibt, er bleibt imperiale Wahrheit. „Was ist Wahrheit?" - der Triumph weiß es nicht, aber er ist es.

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4. Die Reichsidee - Wille, nicht Erkenntnis a) Der Triumph - Reichswille, nicht Reichssystem Wer das Reich zu erfassen versucht, wie es hier geschieht, als eine große Ordnung, nicht nur als eine große Macht, der kann einer Versuchung erliegen: dass er das Imperium sieht als ein „geistiges System", als eine intellektuelle Welt, die sich „herabsenkt auf alle Politik", und es ist nicht leicht, der geistigen Faszination zu widerstehen, welche in allem Imperialen den Übergang sieht von dem „niederen Willen", den politischen Passionen, in geistige Sphären. Der deutsche philosophische Staats-Idealismus war darin bereits ein Vorläufer der Romantik, dass er den politischen Willen sah, ihn aber aufheben wollte in der größeren Ruhe der imperialen Geistigkeit, in Ordnung. In der vorliegenden Betrachtung des Triumphes als causa des Reiches wird aber die weiterwirkende Kraft des Willens gesehen, mag er auch in der Ruhe der Ordnungen gebrochen, überhöht erscheinen. Das Reich ist sicher ein Übergang vom intensiven Ordnungswillen, von seinen Leistungen auf Schlachtfeldern, Barrikaden, säkularen Gesetzgebungen, in noch größere Ordnung; der Großerfolg hat etwas an sich von der historischen Grundnorm dieser politischen Ordnung. Doch da ist alles und immer noch Wille, nicht primär Wahrheit, Erkenntnis. Der deutsche philosophische Idealismus bietet auch hierfür den Lösungsrahmen: Der politische Wille wird gerade in seiner triumphalen Größe objektiviert zur Ordnung. Romantisierungen des Reiches, das „wie vom Himmel gefallen" erscheint, können daran nichts ändern. Der Antitriumphalismus von heute lehnt das Imperiale nicht zuletzt deshalb ab, weil er in ihm eine pseudointellektuelle Kategorie sieht, die nicht angewendet werden darf, wo doch alles Dynamik ist und Fortschritt, Wille und Kraft des Politischen. Solange man den großen Erfolg hinter dem Reich sieht, bleibt es „ganz Wille und Kraft", die in Ordnung gegossen sind. Der Triumph ist gerade die Ordnungwerdung des Willens, in ihm und seinem Weiterspiel im Reich bewegt er sich noch immer. Die „permanente Revolution", die dauernde Wiederkunft großer Vergangenheit, hat noch immer das Reich legitimiert und getragen, von der Renaissance bis in Kulturrevolutionen und Basisbewegungen von Sozialismus und Kommunismus. Die Angst vor der politischen Sklerose treibt gerade heute in eine Dynamisierungshektik von Betroffenheitsdemokratien und Basisbewegungen, welche den Triumphalismus belächeln, weil sie allein den gegenwärtigen Willen als lebendige Kraft suchen. Finden können sie nur die Anarchie, wenn sie ihre heutige Basis nicht auf größere Triumphe der Vergangenheit bauen, und instinktiv fühlen dies jene sozialistischen Bewegungen, denen es immer um eines geht - dass sie nicht von den großen Triumphen der alten Arbeiterbewegung getrennt werden und letztlich auch von deren russischen triumphalen Erfolgen. Nein - im Reich verliert sich nicht Wille in reiner Erkenntnis, er wird erkennbar in der Größe seiner Anstrengungen und Siege.

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b) Der imperiale Triumph und die Grenzen der wissenschaftlichen Erfassbarkeit des Staates Wenn das Reich auch wesentlich Wille ist, nicht nur geistiges System, wenn sich dies gerade im Ereignis des Triumphs als seinem Ausgangspunkt zeigt - der gerade dort näher „beim Willen" steht als „beim Geist", wo er wesentlich „Ereignis" ist so stellt sich die Frage nach der Erfassbarkeit der größeren Staatlichkeit in einem völlig neuen Sinne, gerade in der Betrachtung des Triumphs: Sind diese Phänomene überhaupt rechtswissenschaftlich voll erfassbar, bleiben sie nicht einer Historie vorbehalten, welche eben die Geschichte des Willens und der Ereignisse schreibt? Hier stellt sich die kelsenianische Frage wirklich: Ist der Staat wesentlich Recht und daher nur in den Kategorien der Rechtswissenschaft erfassbar - oder gilt dies gerade nicht an seiner Spitze, im Reich? Jurisprudenz ist zur Wissenschaft geworden durch die Beschäftigung mit den Pandekten, einem „Abglanz des Reiches"; nur deshalb studierte man - ein einzigartiges Phänomen - dieses „nicht geltende Recht", weil es Reichs-Renaissance war, wieder zu entdeckendes Imperium. Dies könnte zu der vorschnellen Folgerung führen, dass auch das Reich selbst, seine Organisation, seine Ordnung, in ähnlicher Weise rechts wissenschaftlich erfassbar, rationalisierbar sei. Wie steht es aber dann mit dem Triumph, jenem Erfolg, den man in einem solchen Falle doch mit Kelsen in das Reich der Fakten verbannen müsste, welche „das Recht nicht kennen darf?" Doch die Geburt der modernen Rechtswissenschaft aus dem Römischen Recht war nicht eine geistige Wahrheitssuche, welche von vorneherein staatsrechtliche Beschäftigung mit dem Triumph als Grundlage des Reichs ausschließen müsste. Die Pandektistik war im Grunde nichts anderes als eine fortgesetzte Anbetung jenes großen Ordnungsgedankens, des Reiches, das ihr vorgegeben erschien; die größten Vertreter des Römischen Rechts aber, ein Mommsen etwa, sind zur triumphalen Historie emporgestiegen, haben die Pandektistik einem geistigen Systemdenken überlassen, das sich nur auf einem anderen Niveau entfalten konnte, unter der Reichskuppel. Die große Pandektistik war in diesem Sinn eine privatrechtliche „Hilfswissenschaft der Reichs-Erkenntnis". Und anderes kann auch das öffentliche Recht nicht leisten, solange es „reine Rechtswissenschaft" bleibt: Hier wird eine Hilfs-Systematisierung vollzogen, das Reichs-Phänomen wird in seinem Ordnungscharakter in wissenschaftlicher Widerspruchslosigkeit fortkonstruiert. Auch dabei, wie im Falle der Pandektistik, muss ein großes Axiom der Ausgangspunkt sein: die Idee des Reiches selbst als das Postulat der größeren Ordnung, das sich dann in der geistigen Suche der Wissenschaft verwirklicht. In diesem Sinne aber ist und bleibt das Reich aller Rechtswissenschaft vorgegeben, es „ist" bereits, noch bevor es die Juristen des öffentlichen Rechtes systematisieren können. Rein normativ können sie das ,»richtige Reich" nicht suchen, aus den historischen Reichsphänomenen mögen sie ihre Ordnungs-

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kräfte und Ordnungspostulate gewinnen. Doch für das staatsrechts-wissenschaftliche Observatorium bleibt die Spitze des Reiches stets in Wolken: Das Imperiale ist auch ein Triumph der Ordnung über die wissenschaftliche Erfassbarkeit, gerade in seinen Anfängen - im Triumph. Aus ihm entsteht nicht nur das Staatsrecht, in ihm ist es schon ganz angelegt, dies ist die normative Reichs-Kraft des Faktischen. Methodologisch bedeutet dies: In seinen Grundlagen ist das Imperiale, gerade im Triumph, historisch erfassbar, rechtswissenschaftlich auf Widerspruchslosigkeit hin erkennbar, weiterkonstruierbar. Mehr an „Wahrheit" kann das Staatsrecht vom größeren Staat nicht erkennen. Das Pilatuswort, die Frage nach der Wahrheit, zieht auch Grenzen des wissenschaftlichen Staatsrechts. Im Letzten muss es sich begreifen als eine Hilfswissenschaft der historischen Staatsphilosophie vom Reich, den eigenen dogmatischen Selbstzweck sollte es nicht überschätzen. Auch hier kann wieder das öffentliche Recht vom privaten lernen, vor allem in mehr Bescheidenheit: Die großen Juristen der Pandektistik schrieben „Institutionen" des Rechts nicht nur in Nachahmung klassischer Vorbilder; sie wussten, dass sie nur Bruchstücke besaßen, weil die große Systematik eben verdämmert war, das Reich. Und sie versuchten nicht, es „von unten" wieder aufzubauen, dies hätte ihre wissenschaftliche Kraft überfordert. Wer wahr bleiben will, muss sich auch im öffentlichen Recht der Reichs-Wahrheit beugen; ein „Reichs-Staatsrecht" lässt sich nicht schreiben - wenn es nur „Institutionen" werden. Diese geistige Bescheidenheit ist ein Tribut an die Größe des Imperialen, das auch über geistige Herrschaftsgelüste des Staatsrechts hinweggeht - gerade in seinem Triumph.

V. Der Weg der Staatserhöhung zum Reich eine Via triumphalis 1. Das Reich als „höhere Integrationsform der Staatlichkeit" a) Das Reich als „ Staat an sich " Über das Reich muss heute gesprochen werden, weil mehr denn je ein Irrtum sich ausbreitet: dass die politische Gemeinschaft nichts anderes sei als ein „möglichst reines", möglichst wenig strukturiertes Zusammenleben von Individuen. Hier folgt ein Missverständnis des Demokratischen dem anderen: Aus der Gleichheit wird das Postulat der Herrschaftslosigkeit abgeleitet, sie soll Entstaatlichung bedeuten, und dann teilen sich die Wege - die einen marschieren in Richtung auf den absterbenden Staat des Kommunismus, die anderen wollen die ökonomische Staats-Aktiengesellschaft, den „Betrieb Staat". Ob aber nun „Staatsbetrieb" oder „Betrieb Staat", stets wird nur eines gesucht: das möglichst unpathetische, untriumphalistische Nebeneinander, in welchem der Bürgertitel dem Menschsein nichts mehr hinzufügt. Die Ergebnisse sind dann ganz konkret: Die Staaten können sich beliebig öffnen, ausländische Menschen sind sogleich ausländische Bürger - die

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seit Jahrtausenden immer wieder erstrebte und umkämpfte Reichsbürgerschaft was könnte sie noch bedeuten? Das Wort „Staat" ist all diesen Versuchen gegenüber letztlich neutral; das „Reich" aber setzt ihnen ein großes Nein, eine wahre Herausforderung entgegen: Es gibt den Selbstand der Ordnung, das originäre Eigenleben der Gemeinschaft als solcher, nicht nur auf der Ebene der Gemeinden, sondern erst recht und stärker an der Reichsspitze. Der Staat erschöpft sich nicht in der Gemeinschaft, er hat seine eigene Geschichte, seine besonderen Gesetze des Lebens, er reicht hinaus über die heutige Generation. Und um dieses Reich geht es hier, in dem der Staatsbegriff überhöht, gesteigert wird, als seine höchste Integrationsform. Man könnte auch ein anderes Wort gebrauchen; aber in einer Zeit, in welcher Staatlichkeit so oft missverstanden wird, degradiert zu einer Organisation, welche in Härte als Kompression der grundsätzlich freien Individuen zur Gemeinschaft wirkt, in dieser Zeit braucht man ein höheres Wort für „den Staat an sich"; die Geschichte gibt nur eines - das Reich. Und der Triumph ist nichts als eine Geschichte dieses „Staates an sich", mehr noch: bereits Ausgangspunkt seiner ganzen Dogmatik. Wenn die „Gemeinschaft als Idee" einen Sinn hat, von Piaton bis Hegel, so kann er nur im Reich gefunden werden; und wie eigenartig spielt der historische Zufall, oder die tiefere Weisheit des Geschehens: Diese beiden größten Vertreter der Reichsidee haben gedacht kurz bevor sie zweimal, wenn auch nur in einem Ausbruch, Wirklichkeit wurde, im alexandrinischen und wilhelminischen Reich.

b) Triumph - ein „ Generationenvertrag

zum Reich "

Der Triumph scheint als Großereignis keine zeitliche Dimension zu haben, steht er nicht außerhalb des zeitlichen Ablaufs, liegt seine imperiale Kraft nicht gerade darin, dass er das Reich aus den Monaten und Jahren heraushebt in der Einmaligkeit eines Sieges? Doch auch dies wäre verkürzt, die höhere Integrationsstufe der Staatlichkeit, die doch ganz wesentlich auch „abläuft", liegt gerade im Triumphalen. Im Großerfolg wird etwas geschlossen wie ein Generationen vertrag: Die siegreiche Generation formt ihren Erfolg zum Vermächtnis für die kommenden Generationen, diese wiederum werden durch den triumphalen Reichsanfang in die generationen-vertragliche Pflicht genommen, diesen Reichsbeginn weiterzuleben. Für Generationen von russischen Kommunisten ist der Sturm auf das Winterpalais der erste Akt eines wahrhaft imperialen Sozialvertrags geworden, den sie auf immer neuen Schlachtfeldern erfüllen mussten. Der Generationenvertrag soll vor allem Sicherheit bieten, so will es ein Begriff, der aus der Sozialversicherung kommt. Das Reich ist die größte politische Sicherheit, die es geben kann, im Triumph versichert nicht nur der Staat seine Bürger in

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seiner Gegenwart, er sichert in seiner bleibenden Ordnung - „künftige Generationen". So stellt der Triumph die politische Einheit des Staates in der Zeit her, über Generationen hinweg, in ihm wird die Staatlichkeit gelöste Zeitfrage, die höhere Integration der Staatlichkeit ist auch temporal gelungen.

c) Reich - „ mehr als Mehrheit im Triumph " Vor allem der Intensivierung bedarf die Staatslegitimation, sie wird im Triumphieren geschaffen, und dies darf gerade die Demokratie nicht vergessen. Sie steht ja ständig in der Gefahr, Legitimationen und Integrationen nur aus Mehrheitsbildungen beziehen zu wollen, in denen manches, aber doch nicht alles zusammengefasst wird, teilweise, aber „doch nicht ganz". Gerade wenn dieses Mehrheitsprinzip seine Bedeutung behalten soll, im Auffangen und Ordnen der Vielfalt, eben dann muss irgendwo, irgendwann eine größere Kraft eingesetzt werden, welche dieses Volk schafft und als solches erhält. Die Geburt der Abstimmungskörper ist immer ein ungelöstes demokratisches Problem geblieben; die Volksherrschaft kann sie organisieren und herrschen lassen, im Letzten wird sie sie immer nur vorfinden. Schaffen aber kann sie das Zusammentreten im großen Sieg, die Reichsproklamation, das Erfolgserlebnis. Wer „dazugehören" soll, das mag das Wahlrecht zwar näher ausgestalten, wirklich entschieden werden wird es immer durch etwas wie ein reichsgründendes, triumphales Ereignis. Dies ist die Nabelschnur, über welche selbst die Demokratie ein Kind des Reiches sein und bleiben kann. Triumph und Mehrheit haben vieles gemeinsam, Majorität bedeutet Sieg; aber im Triumph wird stärker integriert als in der Mehrheitsbildung, hinter ihm verschwinden seine Träger, er wird nur als einer gesehen. Die Mehrheit mag zum Staat integrieren, der Triumph integriert zum Reich. Aus ihm kommt dauernde Ordnung, nicht „ein bestimmter Zustand", wie im Falle der Mehrheit; dem Wandel ist beides geöffnet, dem Wechsel weit mehr die Mehrheit. Doch beides schließt sich nicht aus, steht vielmehr in pyramidaler Beziehung: Wann wäre je Mehrheitsordnung leichter gewesen als nach einem großen, gemeinsamen Sieg? Der Triumphalismus von Salamis hat die attische Demokratie über Generationen gehalten; Schiffsschnäbel haben nicht nur Rostra geschmückt, sie haben Freiheit geschenkt.

d) Das Reich - Staat der Begeisterungen Integration muss in jedem Sinne wirken können, in der Einbeziehung aller Kräfte der Menschen. Politische Gemeinschaft ohne Gefühl mag Staat sein; wo das Politische zum Ernst wird, wo es die politischen Passionen in sich aufnimmt, die Gefühle der Bürger, da allein kann es emporschäumen zu imperialer Höhe.

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Verdienst und Chance der Demokratie ist es, dass sie diese mächtigen Passionen nicht unterdrückt, sie vielmehr weckt und stärkt. Das so oft unwürdige Schauspiel ihrer leidenschaftlichen Kämpfe kann eigentlich nur in einem Gnade finden vor den Augen ruhigerer geistiger Betrachtung: wenn all dies „zum Reiche drängt", sein Ausdruck bereits ist. Dann werden die politischen Leidenschaften des demokratischen Kampfes Vorspiele imperialer Triumphe, vorweggenommene Großerfolge; und selbst wenn diese ihnen nicht folgen sollten, so ist doch der triumphalistische Wille zu loben oder, um es sportlich zu sagen: Es genügt, dabei gewesen zu sein bei Märschen und Kämpfen, ein wenig sind sie sich selbst Triumphbogen, auch wenn der größere Arc de Triomphe nie erreicht wird. In dieser Integration wird demokratischer Rationalismus überhöht; all das, was ihm „nicht so ganz groß" erscheint - und was könnte er so groß auch finden - wird doch zur Macht im Triumph, der die Leidenschaften mit erfasst. Keine Staatsform der neueren Zeit hat sich rationaler gegeben, mehr rationalistisch als die Französische Republik; doch ohne die Gefühlskräfte der Revolution und des Kaisers - wie hätte sie sich behaupten können, in Verdun und anderswo? In dieser Integrationskraft des Triumphes zum Reich wird übrigens eine andere eigenartige Erscheinung sichtbar: Die Stufentheorie des Staatsrechts muss als eine solche der „Sprünge" verstanden werden: Triumph bedeutet ja „Kontinuitätsbruch als Anfang", das Reich beginnt als Stufenpyramide, als solche setzt es sich fort. Wäre der Triumph eine rein rationale Integrationsform - dies alles ließe sich nie erklären, diskursives Staatsdenken mag sich allenfalls langsam hinaufschieben, es kann nicht in Sprüngen aufsteigen. Im Triumph aber, der Gefühle und Passionen einbezieht, wird immer die wahrhaft „neue Ebene" erreicht, damit die höhere Integrationskraft. So steht es ja auch um die Begabungen der Menschen, welche in der Gemeinschaft integrativ nur wirken können, weil sie stufenförmig geschenkt sind, sich in Sprüngen entfalten. Wenn der Staat nicht im Triumph voranschreiten kann zum Reich, bleibt er Basis, er wird immer wieder von den Dünen des Treibsandes der Anarchie bedeckt. Passionen aber, in Wahrheit die „Gemeinschaft aus Begeisterung", das wächst in Sprüngen empor zur höheren Ordnung, und hier wird auch die kelsenianische Intuition der Normstufen erst politische Wirklichkeit. Sie hat Erfolg und Triumph eliminieren wollen, alles „Materiale" im „Formellen", doch auf ihren Stufen kehren sie zu ihrem Staat zurück.

e) Triumphalismus - Grundnorm einer „Anreiz-Verfassung" Der „normalen Staatlichkeit" kann es genügen, dass ihre politische Mechanik ständig juristisch gewartet wird. Bis zu einem gewissen Grade wird hier sogar aus der Illusion gelebt, dass Richtigkeit mehr bedeute als Kraft. Doch dies alles ist nichts als eine Tagtäglichkeit, die ständig Kräfte verbraucht, nicht freisetzt. Das Staatsrecht der Demokratie gefällt sich in Machtbeschränkungen und beschränkt sich auf sie, in der Sicherheit, dass doch stets „der Wille zur Macht" vorhanden

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sein werde; woher er kommt - es interessiert sie nicht. Was die Volksherrschaft aber immer mehr braucht, was sie durchaus hervorbringen kann, ist ein „Verfassungsrecht der Anreize", eine stärkere Ausformung der integrativen Kräfte. Der Sinn der Prämie ist weithin verloren, sie wird der Gleichheit geopfert. Sollte nicht wieder erkannt werden, dass sie Triumph bedeutet, den Erfolg des Bürgers, von dem noch die Rede sein wird, müsste man sie nicht in Verfassungen schreiben, dort ausformen so wie die Prüfungen, welche zu ihr führen? Dem Triumph ist die Integrationskraft des Anreizes in höchstem Maße eigen, zur Wiederholung, als Beispiel. Ein Reich, das mit ihm einsetzt, hat eine AnreizVerfassung als seine Grundnorm gesetzt.

f) Reichsdenken - nicht einig sein in Werten, einig werden im Triumph Nach dem Verlust des II. Reiches hat Rudolf Smend einen geistigen Versuch gemacht, welchen die Zeit verlangte: In seiner Integrationslehre wollte er den „Reichsbürgern ohne Reich" die Werte aufweisen, welche sie wieder zu ihrem Imperium führen sollten, die Mechanismen sogar, in denen das Reich der Deutschen eine geistige, wenn schon nicht mehr eine militärische größere Wirklichkeit bleiben könnte. Es war die Lehre von den „Heiligtümern des deutschen Volkes", von jenen Werten, „in deren Namen die Bürger einig sein" wollten oder sollten. Wissenschaftliche Zurückhaltung und die Strömungen einer Zeit bewusst beginnender Soziologie ließen mehr nicht zu; vor allem war es ein Aufruf zur Tatsachenforschung, zur Feststellung der einenden Werte, welche sodann im Recht des Reiches aufgenommen und verfestigt werden sollten. Von diesen Theorien ist auch heute auszugehen, es geschieht gerade in der Lehre vom Triumph, doch sie sind weiterzudenken: Heute weiß man, mehr noch als damals, um die Zerbrechlichkeit gemeinsamer Wertvorstellungen, um die begrenzte Integrationskraft von Normen, welche sie festschreiben sollen, in verfassunggebenden Stunden oder später. Deshalb ist nicht mehr nur zu fragen, „in wessen Namen" die Bürger einig sind, sondern nach Triumphen zu suchen, die sie einig machen. Beginnender Demokratismus im Weimarer Deutschland mochte noch hoffen, dass wirklich „alles aus dem Bürger komme", althergebrachter normativer Legalismus verbot zu denken, dass unter einer demokratischen Grundnorm Integration anders entstehen könne. Darüber ist heute hin wegzudenken: Demokratie schließt den Triumph nicht aus, als ein Ereignis, das dann vom Bürger aufgenommen wird, nicht aber aus ihm allein hervorwächst. Nicht nur der Wille der Bürger bringt Integration, auch der der Geschichte. Die Lehre von einst wollte die Integration vor allem in den Willen der Bürger verlegen, heute ist ein Aspekt stärker zu betonen, der auch damals schon erkannt war: dass den Bürgern der Gegenstand des Einigseins weithin auch vorgegeben wird, dass sie ihn in ihrem „Einigsein im Namen von etwas" nur noch weiter integrativ verdichten.

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Damit wird die Integrationslehre zum Ausgangspunkt einer demokratischen Theorie des Triumphes, die zugleich ein Bekenntnis zum Personalismus des Bürgerwillens ablegt und zum Transpersonalismus des historischen Ereignisses. Die Stärke der Ereignisse gilt es wieder zu erkennen, und dass die Menschen stark werden gerade in ihnen und durch sie. Ob da der Vorgang stärker ist als der Mensch - wen muss es noch kümmern, wenn nur beide zusammen sie schaffen, die triumphalen Heiligtümer des deutschen Volkes.

2. Was verlangt das Reich vom Triumph Beweise, Ziele, Instrumente Eine dreifache Integrationskraft verleiht der Triumph dem Reich: Er führt seinen Existenzbeweis, dem Heute als Historie, dem Morgen als Orakel; er führt den Gütebeweis, heute in der Legitimation, morgen in Zielen, die er weist, als die beste Wahl; er führt den Praktikabilitätsbeweis, indem er Methoden an die Hand gibt, Instrumente. In diesem Zusammenklang von Existentialismus, Teleologismus und Instrumentalismus hebt er den Staat zum Reich.

a) Triumph - Existenzbeweis des Reiches Der Großerfolg beweist nicht nur, dass das Reich kommt, in ihm ist es bereits Wirklichkeit. Nur mit seinen Kräften, mit der Macht einer „größeren Ordnung in fieri" kann sich ja Imperialität wirklich durchsetzen. Dies gilt für den „langsamen Triumph" des unaufhaltsamen wirtschaftlich-politischen Aufstiegs ebenso wie etwa für die siegreiche Revolution: Im Zusammentreten des „Volkes", in seinem Sieg über den Tyrannen liegt bereits das Imperiale, später mag noch fester organisiert werden, was aber bereits in diesen Momenten werdende Ordnung war. Mit ihren Primärversammlungen haben die französischen Revolutionäre von 1789, mit ihren Parteizellen die kommunistischen Insurgenten Russlands nur als Staatsorganisation entfaltet, was den Triumph gebracht hatte, was in ihm bereits geworden war. In Milizen und Revolutionsheeren, in der Idee der revolutionären Roten Armee liegt die Vorstellung, dass im Triumph bereits das Reich gekommen war, dass selbst seine organisatorische Existenz in nuce durch ihn vorweggenommen, bewiesen worden ist. Später mag man das Reich kritisieren, in Zweifel ziehen - sein bester Existenzbeweis wird immer die Erinnerung an den großen Moment sein, aus dem seine heutigen Strukturen kommen. Doch dies bedeutet mehr - eine grundsätzliche juristische Umwertung: die Hineinnahme des Sollens in das Sein, seine Vorwegnahme in diesem, damit aber die Aufhebung einer immanenten Schwäche des Rechts und seiner Normen. Sie liegt ja darin, dass die Norm eben doch nur einen Befehl für die Zukunft bedeutet, dessen Notwendigkeit nicht beweisbar ist, ebenso wenig wie seine existenzielle 7 Leisner

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Verbindung zu etwas mächtig Existierendem. Im Letzten bleibt dem Befehl des Rechts immer etwas von einer schwächlichen Behauptung, politisch ist er nicht mehr als Hoffnung auf Befolgung, seine Kraft kommt allein aus der psychologischen Wirkung im Bereich der Bürger, aber auch da ist alles Erwartung, nichts wirkliches politisches Sein. Im Triumph wird dieser Abgrund zwischen Norm und Politik übersprungen: Die Ordnung des Reichs soll sein, weil sie in ihm schon ist. Der Triumph transzendiert die Schwächlichkeit des Befehles - er ist zu befolgen, weil er bereits in Größe befolgt ist. Das Zukünftige, der Gegenstand der Normordnung, „soll sein", weil es im Triumph vorweggenommen worden ist. Das Reich ist nichts anderes als der Triumph - in seiner Ordnung eine lange, glückliche Stunde. Wer in früheren Zeiten an echten oder vermeintlichen staatsgründenden Triumphen teilgenommen hat, der wird in den späteren Jahren des Reichs immer nur die einstigen Stunden des Triumphs erleben wollen, so wie jene italienischen Präsidenten, denen ihr Staatsamt die Feier des früheren Widerstands gegen den Faschismus bedeutete. In der Ordnung des Reiches soll also gar nicht primär ein Verhalten erzwungen werden, es werden Stunden zeitlos verlängert, und entscheidend ist nicht die Dauer verleihende Ordnungskraft, sondern die Zeit, welche im Triumph bereits gewesen ist, in jenem Existenzbeweis der zum Reich gesteigerten Staatlichkeit. Den Staat hat niemand je gesehen, er beweist sich in dauernden Kraftakten. Das Reich ist Fleisch geworden - und Blut so oft - in seiner triumphalen Existenz; so hat es unter uns gewohnt.

b) Exkurs: Der Triumph - Existenzbeweis als Orakel Nicht allein darin wirkt der Großerfolg voraus, dass die Zukunft des Reiches in ihm bereits existentiell begonnen hat - er verkündet auch dessen künftige Stunden, wie die Orakel der Alten. Die außerordentliche Bedeutung der orakelhaften Zukunftsergründung in der alten Welt kam ja nicht nur aus den Ängsten einer sich von höheren Mächten bedroht fühlenden kleinen menschlichen Existenz. Dahinter stand auch die Überzeugung, dass Vergangenheit und Gegenwart eine geistige Einheit bilden, die im Orakel ausgesprochen, vorbewiesen wird, bestätigt sodann in seiner Erfüllung. Von zahllosen Orakelsprüchen ist so das Römische Reich umgeben, wenn sie nicht waren - sie mussten erfunden werden. Und ein solches Orakel, ein ganz großes und sicheres, ist der Triumph für das Reich. Entweder in ihm ist das Imperium schon voll und ganz, wie oben gezeigt, oder er verkündet es für eine Zukunft, deren Abstand von der Gegenwart keine Bedeutung hat; darin gerade liegt der orakelhafte Beweis.

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Dieses Erfolgsorakel deutet immer auf ein Großes, weil es selbst Großerfolg ist. Dem Reich wird es gegeben, nicht dem „kleineren politischen Schicksal", die großen Orakel haben stets imperiale Vorgänge nicht nur angekündigt: bedeutet. Im Triumph als Orakel ist jene imperiale Zukunft, die sonst ja nur über ein normatives Sollen erreichbar ist, bereits gegenwärtig, weil „die Würfel schon gefallen sind", in ihm wird das Reich sub specie aeternitatis gesehen, als eines der großen Dinge dieser Welt „ist es schon bei Gott", bevor es zu den Menschen kommt. Damit wird der Triumph zum Existenzbeweis des Zukünftigen in Gegenwart, Zukunft kann hier nurmehr - ein schönes Wortbild - Erfüllung bringen, der triumphale Reichsrahmen steht. Nirgends ist die Orakelidee größer gewesen als in jenem „Vorausblick von Reich zu Reich", welcher die Einheit der Rom-Idee bedeutet: Im Triumph der Caesaren war schon das geistige Reich der Kirche geboren, zur selben Zeit wie ihr Gründer - es war, als sollte sich die Bitte in Erfüllung umkehren: „Wie auf Erden, also auch im Himmel". In diesem Augenblick der römischen Triumph-Erfüllung sang der größte Dichter dieses römischen Triumphes in seiner Ekloge dem kleinen Kind, dem größeren Triumphator, das Reichsorakel, so will es eine Tradition, in deren Namen das Mittelalter mit Dante seinen höchsten geistigen Triumph hat feiern können - als die triumphale römisch-deutsche Kaiseridee zerbrach. Doch im Triumph als Orakel liegt nicht nur politische Metaphysik, mit ihm lässt sich die politische Wirklichkeit jüngster Gegenwart erklären. Der gescheiterte Aufstand ist das Orakel der später gelungenen Revolution, und das revolutionäre Imperium der russischen Kommunisten wäre keine so mächtige geistige Wirklichkeit geworden, hätten es nicht schon frühere Aufstände geweissagt - 1905 als Orakel. Doch zum Orakel gehört das Geheimnis, es liegt auch im Triumph. Wird er geschenkt, so mag ein großes Reich gegründet - oder zerstört werden. Er zeigt die teuflische Fata Morgana ebenso wie den Anblick der glücklichen politischen Oase. Wirklichkeitsbeweis oder große Täuschung - der Triumph kann beides zugleich sein, nie vielleicht deutlicher als in der Zeit Napoleons. Seine Siege mögen ihm in manch bitteren Stunden auf St. Helena als Reichs-Täuschung erschienen sein, während sie den Siegern ein Orakel bedeutete für ein Zweites Kaiserreich, den Deutschen für ein neues, größeres Imperium; und auch sie wurden alle enttäuscht, nein: getäuscht, gerade durch den Erfolg. Triumph als Täuschungsorakel haben die Deutschen dann nochmals erleben müssen, am Sedans-Tag wurde ihnen das Reich all zu sehr auf Zeit nur geschenkt. Deshalb bedarf der Triumph, wie jedes Orakel, des Auslegers, der ihn geistig erst als Reich erkennt, das Imperium an ihn heranführt, aus ihm entwickelt. Er muss der politischen Priesterschaft mächtig sein, der Erkenntnis größerer Zusammenhänge, aus denen er die glückliche Gegenwarts-Zukunft entfaltet. Dies war stets der deutsche Kanzlertraum, das Bismarck-Phänomen, jenes Mannes Werk, der Königgrätz und Sedan zum Reiche auszulegen vermochte. Und darin liegt unbewusst vielleicht - der letzte Grund des Adenauer-Mythos, dass er den unge7*

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heuren „negativen Triumph" von 1945 wie kein anderer als Orakel verstand für ein Reich des deutschen goldenen Westens. Triumph als Reichsorakel - wer es deuten kann, dem ist mehr gegeben als ein Auftrag, er hat imperiale Gewissheit, als Prophet erbringt er den Existenzbeweis des Reiches.

c) Staatsziele aus Großerfolgen der triumphale Teleologismus Der Triumph beweist das Reich - zugleich weist er ihm sein Ziel; er enthüllt die Statik der großen politischen Existenz, zugleich setzt er sie in mächtige dynamische Bewegung, darin liegt seine einmalige Bedeutung. Das Römische Reich als Auftrag wurde gerade in der Zeit am deutlichsten gesehen, als im Triumph seine Größe erkannt war. Dieser triumphalen und imperialen Zeit des Augustus wurde die Virtus Romana zur Aufgabe, der Sieg der Ordnung zum Staatsziel. Und Preußen wird man nur so verstehen, in seinen imperialen Augenblicken, in dieser Tüchtigkeit als Staatsziel, hinter der der Sieg als Staatszweck steht. Triumph als Existenzbeweis des Reiches ist leichter verständlich, ist man doch allzu sehr geneigt, das Imperium stets als den politischen rocher de bronze zu begreifen. Der Triumph als dynamisch wirkendes Ziel - kann das noch wirken, wo alles gelungen scheint? Und doch wird gerade hier seine doppelköpfige Kraft deutlich: Erbe als Erfüllung und Auftrag zugleich. Wenn er dem Staat nur den größeren Existenzbeweis des Reiches lieferte, würde diese Ordnung rasch in der Zufriedenheit des Seins verkümmern, niedergehen in der Ruhe des Erreichten. „Es ist erreicht" - das steht über dem Eingang zum Reich, doch er ist ein Triumphbogen, und wenn er als solcher nicht erkannt, nicht immer wieder durchschritten wird, damit dieses Wort stets von neuem gelesen und Überzeugung werde, dann wandelt es sich zum „Lasciate ogni esperanza" - so stand es am Ende des Reiches der Deutschen. Doch Ziel allein darf der Großerfolg auch nicht sein, sonst ist in ihm allzu viel doch nur Hoffnung. Wiedervereinigung der Deutschen als Staatsziel mochte vorläufige Staatlichkeit legitimieren, zum Reich war sie zu schwach. Und so ist denn auch daraus kein Reich der Deutschen geworden, sondern ihr Geschenk an Europa. Die Größe des Triumphes ist es, dass er beides bringt: existenzialistische Statik und Teleologie der Dynamik, im Auftrag der Wiederholung der Großerfolge aus denselben politischen Quellen heraus, von einem Punischen Krieg zum anderen; im ceterum censeo lag imperialer Triumph-Teleologismus. Nicht nur in heilsame Bewegung aber gerät das Reich im Namen seiner Triumphe, sie treten auch seinen Gütebeweis an. Die Größe des Erfolges beweist, dass das Reich machtvoll erstrebenswert war, dass es in vielem Siegreichen als etwas

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wahrhaft Gutes erscheint, so beweist die Historie Qualität, nicht nur die Demokratie. Indem dann dem Triumphzug gefolgt werden muss, im Namen des Reichs, zu neuen Triumphen, „steht nur Gutes bevor", das Reich als Staatsziel ist das politisch Gute, weil es so groß war im Triumph, aus ihm heraus zu so großem Gleichen unterwegs ist. Im großen Erfolg ist, dies zeigt sich schon, die Wahrheit überhöht worden, aber nicht aufgehoben. Im Triumph als Staatsziel wirkt sie nach wie vor mächtig, weil die große Existenz zugleich zum Beweis der guten Wahl wird, der politische Gütebeweis. Siege als Staatsziele haben sich die Deutschen des Zweiten und des Dritten Reiches gesteckt; das Schicksal hat sie ihnen versagt, und sie sich selbst. Doch niemand wird sagen, dass da nicht wahrhaft imperiale Chancen verspielt wurden, als man den Fahnen früherer Siege folgen wollte.

d) Instrumentalismus - Triumph als Lehrbuch größerer Reichs-Staatlichkeit Triumph als Existenzbeweis des Reiches mag etwas an sich haben von der Problematik der Gottesbeweise. Der Großerfolg als Staatsziel, als Auftrag zu seiner Wiederholung und Fortsetzung, begegnet bald dem Einwand der Unwiederholbarkeit historischer Situationen. In einem aber ist, gerade heute, der Triumph gegenwärtig, als eine staatsverstärkende Kraft mit imperialen Zügen: Er weist nicht nur die große Linie, sondern die einzelnen Instrumente ihrer Verfolgung, Schritt für Schritt die Meilensteine ihrer Vollendung. Das kommunistische Imperium war nicht vom Himmel gefallen, es war die Frucht vielfacher Verbindungen proletarischer Kraft und intellektueller Herrschaftsgedanken - und bestimmter historischer Zustände, welche der revolutionären Generation vorgegeben waren. All dies galt es nun, um moderne Worte zu gebrauchen, zuerst zu instrumentalisieren, sodann im Einzelnen das Gefundene zu operationalisieren. Geschichte als Lehrstück bedeutete für den imperialen Kommunisten: Triumph seiner Sache als Lehrbuch, im Großen wie im Kleinen. Gegenwärtige Politik kümmert sich wenig um Bestehendes und Anzustrebendes, entscheidend ist ihr die „technische Machbarkeit", darin nennt sie sich pragmatisch. Das Imperiale hat keine Chance, die normale Staatlichkeit zu erhöhen, gelingt ihm nicht - in einem ganz neuen Sinn - eine Reichs-Pragmatik, und wo sollte es sie finden, wenn nicht im großen Erfolg? Jener Triumph, den die Gegenwart so klein schreibt, sie sucht und findet ihn doch täglich, eben im Kleinen, vor allem in einem ihrer Kernworte, im Experiment und seinem Gelingen. Die Notwendigkeit des politischen Triumphes mag sie bestreiten, sein Gelingen wird sie bewundern, eben als ein gelungenes Groß-Experiment. Gerade wenn sie die Gründe, in vorsichtig wissenschaftlicher Zurückhaltung, nicht alle zu kennen vorgibt, die Instrumente wird sie durchsuchen - mit naturwissenschaftlich-technischer Emsigkeit - welche im Einzelnen zu solchen

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Wundern geführt haben. Und des Wunderglaubens ist sie doch durchaus mächtig, diese Zeit, der jeder technische Großerfolg zunächst ein Mirakel ist, ein wahrer Triumph. Die politischen Triumphkategorien sind heute nicht mehr auf blutbefleckten Schlachtfeldern zu suchen, sondern in den Laboratorien, aus denen heraus jene vielleicht einmal in einem furchtbaren Verglühen sogar „sauber" sein werden. Die politischen Wissenschaften wollen den Polit-Ingenieur formen, was sucht er anderes als seinen technischen Triumph, und wo könnte er ihn denn finden, wenn nicht in den Großerfolgen der Vergangenheit, welche eine immer mehr historisch orientierte Politische Wissenschaft ihm als Lehrbuch mitgibt? Man verenge nicht diesen Instrumentalismus der Entwicklung eines moralischpolitischen Verhaltens-Kodex! Hier spricht Machiavelli mit, er vor allem: Gegenwärtig muss „der Triumph rechenbar werden", bis hin zur amoralischen Geschicklichkeit der Ausnützung vorgegebener Umstände. Alle Wege führen eben nach Rom in diesem Sinne des Instrumentalismus, und es müssen viele sein, den Marsch auf Rom gilt es zu rationalisieren, aufzulösen in seine Triumph-Elemente; dies wird im nächsten Hauptteil behandelt. Triumphe sind nicht Standbilder, die man betrachtet, aus ihrem Erz müssen Schwerter geschmiedet werden - oder Pflugscharen, viele Instrumente, zum Reich. Wenn es Zeichen des Imperiums ist, dass es stets kommt „auf breiter Front", so gilt es, alle seine Abschnitte zu überblicken, die kulturellen Kräfte wie die militärische Stärke, moralische Überzeugung wie ökonomische Findigkeit. Der Staat ist ein Mechanismus; das Reich braucht Instrumente zu größerem Einsatz, es findet sie dort, wo sie schon einmal eingesetzt wurden, es gräbt sie unter seinen Bögen aus. Da ist nichts zu klein - Riesenstatuen werden aus Trümmern zusammengesetzt.

3. Souveränität aus Triumph Wenn es überhaupt etwas gibt, was souverän ist, dann ist es das Reich. Souveränitätstheorie ist stets Reichstheorie gewesen, von Bodins Begründung für seinen König, der „Imperator in regno suo" sein wollte, bis zum Streben der heutigen Supermächte in der atomaren Souveränität, dem gegenwärtigen Kriterium für „ein Reich". Hat in diesem Reich der Triumph noch einen Raum, bedeutet Souveränität nicht das Erreichte, ohne Blick auf den Weg? Doch auch hier hat der Triumph seinen Platz, er gerade ist souverän. Was dem Großerfolg zu fehlen scheint für die Souveränität, ist in erster Linie die ruhige Systematik, in welcher allein jene sich entfalten soll. Juristisches Denken hat sich daran gewöhnt, die Lückenlosigkeit vor alles zu setzen, Souveränität dort zu sehen, wo der Staat auf jede Frage eine Antwort findet, und doch war Souveränität im Ausgang etwas ganz anderes: Es ging darum, dass die letzte Antwort

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auf die höchsten Fragen gegeben werden konnte. Man hat die „innere Souveränität" der Französischen Revolution dem Souveränitätsbegriff unterschoben, die republikanische Systematik der Bürgerordnung höher geschätzt als die äußere Souveränität der unbedingten Behauptung. Diese Wandlung des Souveränitätsbegriffs war ein Fehler, sie entfernt vom Reich, schneidet ab von seinen Triumphen, denn in der Systematik der Allgegenwart der Ordnung kommt ja der Triumphzug zum Stehen, die totale, gleichmäßige Durchdringung, bis zum Auslöschen der Vielfalt, ist bereits ein Reichs-Endzustand. Es gilt sich zu wehren gegen die politisch krafttötende Übertragung der Kodifikationsidee auf das Staatsrecht des Reiches, sie ist gerade eine deutsche Versuchung, welche die große Pandektistik missverstanden hat. Wo die Reichsidee noch lebendig ist, da mag man zur Systematik, zur Kodifikation unterwegs sein, doch in ihr liegt nicht Souveränität, eher ihre Sklerose. Als ein Unbekannter über den Beruf seiner Zeit zur Gesetzgebung schrieb und ihn verneinte, da war das Reich näher als in dem Jahr, in dem „es erreicht" schien, auch im Erlass des Bürgerlichen Gesetzbuches. Der Blick auf den Triumph bewahrt vor solcher SouveränitätsVerkrustung; solange er lebendig ist, verliert sich das Reich nicht im System. Nicht darin zeigt der Triumph die Souveränität des Reiches an, dass er systematisch in normativer Allgegenwärtigkeit wirken könnte, im Gegenteil: Der Ausgangserfolg ist ein Thema mit nahezu unbegrenzten Variationsmöglichkeiten. Die gelungene Großrevolution etwa wird jede spätere Generation anders sehen und sich doch, wie im republikanischen Frankreich, stets zur „Souveraineté révolutionnaire" bekennen. Darin ist die „Volkssouveränität" selbst Ausdruck der Souveränität, dass sie einmal, meist in revolutionären Ausbrüchen, triumphiert hat; ob es wirklich ein Großerfolg war, wie mächtig er heutiger historischer Betrachtung erscheint - all dies ist dann im Grunde gleichgültig, in ihrer Souveränität ist die Volksherrschaft sich selbst bereits ein Triumph. Das Souveräne erfasst sie eben darin, dass sie etwas „ganz hoch" setzt, absolut im wahren Sinne des Wortes, gelöst von gegenwärtigen Weitungen: den großen revolutionären Erfolg, der in der Volkssouveränität bereits normativiert wird. Deshalb ist dies auch eine so eigenartige Norm, welche mit monarchischer Imperialität kaum erfassbar ist, weil vielleicht kein anderer Triumph so unmittelbar normative Staatsgrundlegung geworden ist. Gerade die Demokratie braucht also, zur Grundlegung ihrer Souveränität, den Triumph. In ihrer Volks-Triumphalität kann sie etwas vom Reich erreichen, zugleich aber dessen größter Gefahr entgehen: dem zerfasernden, zerstörenden Neid der Vielen. Nicht nur darin gelingt es ihr, dass im Letzten der Bürger zum Triumphator wird, dass sich jemand geradezu außerhalb der Bürgerschaft, der Gemeinschaft stellen müsste, um dieses Reich zu bekämpfen. Im Triumph wird überhaupt ein neidüberwindendes Prinzip der Reichsgründung eingesetzt: Neid richtet sich ja immer auf die Gegenwart, gegen die befürchtete Zukunft; was in der Vergangenheit war, mag abgelehnt, es wird nicht neidig angegriffen werden. So ist es denn eine List der demokratischen Vernunft, wenn sie nicht nur ihren Ausgangserfolg in

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die revolutionäre Vergangenheit verlegt, sondern daraus noch unmittelbar ihr Souveränitätsprinzip gewinnt. Für die Demokratie schließlich ist es besonders wichtig, dass sie mit ihrer besonderen Triumphalität ihr Reich aus der Statik der beharrenden Systematik hebt, wird doch gerade dieser Staatsform stets die verkrustende Normativität auch wieder gefährlich, nach der sie im Namen der Gleichheit strebt. Der belebende Basiskontakt, der heute beschworen wird, ist im Letzten nichts als ein Zurück zu den lebendigen Quellen, die im revolutionären Triumph zuerst geflossen sind, die in jeder Wahl, als seiner Wiederholung, erneut aufbrechen. Die freie Volksherrschaft schließlich hat ihre Chance gerade in dieser „Souveränität aus Triumph", wie übrigens jede größere Ordnung: Die tiefere Wortbedeutung bereits zeigt es. „Souverän" bedeutet ja eine Überlegenheit, die auf Kleinigkeiten nicht sehen muss, die sich nicht in der Einzelheit zerreibt. Jede größere Ordnung steht in dieser Versuchung, dass sie ihre Höhe suchen will in der perfekten, einzelregelnden Allgegenwart; und gerade in der Demokratie wird dies zur Gefahr, für die ja der „kleine Bürger" eben doch nicht nur eine Kleinigkeit ist. Aus all dem hebt der stete Blick auf den großen Erfolg, der souverän macht, weil er souverän gewesen ist. Wer ganz groß gesiegt hat, braucht die Besiegten nicht in Lager zu sperren, er lässt sie im Triumphzug mitlaufen; sind die Rechte des Volkes auf den Barrikaden errungen, so mögen entmachtete Aristokraten sogar in ihren Schlössern weiterleben. Souveränität in diesem Sinne des Triumphes bedeutet eine Reichs-Liberalität, ohne welche es diese große Ordnung über der Vielfalt nicht geben kann. Generationen lang wurden Souveränität und Freiheit als Gegensatz gesehen - hier wird er erstmals aufgelöst, nur in der großen Ordnung des Reiches kann dies gelingen. In der Souveränität liegt schließlich immer etwas vom höchsten, unbedingten Befehl, einer Anordnung, die schon Wirklichkeit ist, weil sie so mächtig ergeht. Und auch eine solche Souveränitätskraft verleiht im Letzten nur der Triumph. Er setzt einen „Stein des Anstoßes", mit ihm muss man sich auseinandersetzen, die große Zahl der Toten, Freund oder Feind, verlangt es, die mit ihm veränderte Welt; schon Terreur und Lubianka forderten, dass man sich mit dem beschäftigte, was von den Triumphen ihrer Führer geblieben war. Himmelhoch jauchzend reißt der Triumph jedermann aus seiner Gleichgültigkeit, auch wenn er ihn zu Tode betrübt; darin führt er zum Reich. Der Staat kann so leicht gleichgültig werden, der demokratische zumal, in seiner öden Gleichheit. Findet er den Aufschwung zu seinem einstigen Triumph, so erreicht er wieder Souveränität, welche ihn interessant macht, geliebt oder gehasst, jedenfalls aber groß. In welchem Sinne auch immer man das Wort „Souveränität" nimmt - ohne Triumph gibt es sie nicht auf Dauer.

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4. Das Himmel-Reich auf Erden - im Triumph a) Das heilige Reich Wer glaubt, wird nicht lieben in der Politik, was er nicht heilig nennen darf; diesseitige Heiligkeit braucht gerade, wer das Jenseits nicht findet - in dieser Welt tritt beiden das Heilige entgegen im Reich, in ihrer Sehnsucht zu ihm, von der schon die Rede war. Die Reichsidee war immer von Heiligkeiten umgeben. In diesem Begriff wird ja Herrschaftsgewalt und Herrschaft zusammengefasst, in ihrer Unteilbarkeit liegt gerade das Verehrungswürdige. Vom Himmelsstaat sprechen wir nicht, zu uns soll das Himmelreich kommen; und des Heiligen Augustinus Civitas Dei konnte zwar, im zerfallenden römischen Imperium, als eine „Bürgerschaft zu Gott" gedacht werden, doch zur Heiligkeit integriert ist sie im Letzten „Reich, nicht Staat". Für den Staat stirbt man nicht, für das heilige Reich ist nicht nur der Attentäter gestorben, der ein unheilig werdendes Reich aus dem Untergang retten wollte. Das Reich wird von Göttern regiert, von einem Gott im Himmel, also auch auf Erden; die Divinisierung der römischen Caesaren war Ausdruck der heiligen Reichsidee, das Imperium konnte so groß nur sein, wenn es von einem Gott geführt wurde, in wahrhaft göttlichen Triumphen. Die Ausschließlichkeit, welche allem Imperialen eigen ist, ragt bis in die Metaphysik hinein, die Größe des Reichs findet ihre Vollendung in der Größe eines Gottes. Ein Paradies auf Erden will das Reich sein; wo immer in ihm gelebt oder gesündigt wird, das Heilige kann nicht weit sein.

b) Der heilige Triumph Nur über die Reichsidee wird Religion in großem Stil appropriiert im Diesseits. Diese Aneignung der Heiligkeit durch eine doch so unheilige Politik aber geschieht, zuerst und vor allem, im Triumph. Alle wahren Triumphzüge enden in Tempeln, die Beute wird auf Altäre gelegt, damit die Gewalt heilig werde. Die aufgehängten Trophäen sind bereits Gesetzestafeln des neuen Imperiums. Ob sie in Blut geschrieben sind oder nicht, aus Triumph müssen sie kommen. Der Triumph hat als solcher eine Dimension zum Heiligen, er erst verleiht sie dem Reich. Da ist mehr als das allgemeine menschliche Bedürfnis, sich vor Größerem zu verneigen, der Triumph ist Sieg und zugleich Danksagung für Verdientes und Unverdientes, etwas von einem Gesang von Leuthen, von einem „Helm ab zum Gebet!" Die höchste Dimension erreicht der Erfolg dann, wenn er so groß wird, dass er aus dem Jenseits hereinzuragen scheint in die Diesseitigkeit. Heilig wird selbst der atheistische Triumph, er divinisiert sich selbst. Im LeninMausoleum lag der kommunistische Triumph begraben, in der Verehrung seiner

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Heiligkeit wirkte er aus ihm heraus. Die Heiligkeit des Reiches wird erst ganz in seinem Triumph wirklich erkannt. Was sonst gar nicht heilig sein könnte, Ordnungen und Normen, sie werden es als Ausstrahlungen des Großerfolgs. Denn nun ist das Reich nichts anderes als das Vermächtnis des Triumphalen, sein innerstes Wesen wird geprägt durch die Testamentsidee. Heilig wird dann das Reich durch vergangene Verheißung, welche im Ausgangstriumph lag - in der gottgewollten Gründung von Rom, im Triumph des Herrn über den Tod. Politik will sich immer selbst überwinden, höher hinaufwachsen. Wenn es ihr irgendwo gelingen kann, dann in jenem Triumph, in welchem sie ihre hässliche Macht heilig macht.

5. Reich als Geheimnis Die ganz große politische Macht wird immer etwas Geheimnisvolles, Unerklärliches haben, so wie die Ordnung, welche sie schafft und erhält. Gemeinsam ist dem Imperium dies mit dem Triumph, er gerade gibt noch mehr Geheimnis.

a) Großerfolg - Verdämmerung der Einzelheiten Wo immer etwas politisch Großes gelingt, müssen seine Einzelheiten ringsum verdämmern, der Blick bleibt auf den Erfolg gerichtet, nicht auf die siegreichen Truppen. Welcher Abteilung der Durchbruch gelungen ist, bleibt gleich, Militärgeschichte. Das Große des Gesamtsieges wird Reichsgeschichte. Immer ist sie auch Staatslegende gewesen, von Rom bis Russland. Das Wesen des Legendären, damit aber auch des Triumphes, liegt vor allem in der Beliebigkeit seiner Einzelheiten, die bald nurmehr als Ausschmückung erscheinen, doch hinter den legendären Einzelheiten der Ilias bleibt die ganze Größe des Trojanischen Krieges. Zunächst mag es scheinen, als falle gerade das Groß-Ereignis in die Dämmerung zurück, als könne nur die Einzelheit überdauern, der Tod des Hektor, seine Rückkehr mit dem Vater. Doch die eigenartige Wirkung des imperialen Triumphs liegt gerade in einer Umkehr: Es verschwindet die Einzelheit, der Schlusserfolg allein bleibt. Er nur kann ja weiter gesteigert werden im Lobpreis der Triumphzüge, verdichtet werden damit zur Reichsgrundlage, nicht die Einzelheit, das Verdienst, die Heldentat. Sie bleibt Vorbild, darin aber auch begrenzt. Die zahllosen Heldengeschichten des alten Rom, aus denen seine Geschichtsschreiber die Reichslegende gewoben haben, sind immer Beispiele geblieben, ihre Wahrheit war nie entscheidend. Im Schlusserfolg der Entscheidungsschlacht, der Reichsbefestigung, ja der Reichsexistenz selbst haben sie erst ihre triumphale Bedeutung erlangt. Gerade wer in tagtäglicher Politik sich auf große Triumphe berufen, sie reichsbefestigend einsetzen will, findet gar nicht Gehör für die Einzelheit, er verweist auf das Ganze, das Große. Die unzähligen Helden der Sowjetunion marschierten im Hades; der

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Triumph des Proletariats war so groß, dass er sichtbar blieb, aber, von seinen einzelnen Wurzeln getrennt, zum Geheimnis wurde. Im Triumphalen liegt etwas von einem sichtbaren Geheimnis, in seinen Einzelheiten unerklärlich und vielleicht schon vergessen, in seiner Größe deutlich, aber gerade deshalb so geheimnisvoll, weil seine begleitenden Einzelheiten verdämmern.

b) Die „geheime Reichs-Sache " - imperiales Geheimnis aus Triumph Der Staat ist dem Staatsrecht stets ein Geheimnis geblieben, als solches nimmt es ihn hin, in seiner letzten Unerklärlichkeit, in einer Unausschöpflichkeit. Selbst der rechtsstaatliche Jurist ist immer emsig bemüht, wie jener Engel am Strande des heiligen Augustinus, will er doch die Unendlichkeit des politischen Volkswillens in die kleinen Grübchen seiner Paragraphen und Artikel gießen. Dieses politische Geheimnis der unausschöpflichen Staatlichkeit lässt die Bürger nicht los, mit ihm müssen sie sich beschäftigen, in dieses „Geheimnis Staat" können sie ihre Wünsche legen, in der Hoffnung, dass sie aus ihm erfüllt heraustreten als politische Wirklichkeit. Am Staat ist immer, an sich schon, so vieles Geheimnis, trotz aller demokratischen Rationalität und Publizität. Selbst alle Medien-Öffentlichkeit tastet sich immer nur hin am Rande dieses Staats-Geheimnisses, vielleicht wird es durch allzu viel veröffentlichte Wahrheit nur immer noch größer. Und eines zeigt gerade die geheimnisvoll-überklare Staats-Welt der Medien-Landschaft: In hoher Politik wird das Geheimnis größer, nicht nur, weil die Verschleierung zunimmt, sondern weil den Akteuren selbst immer weniger bewusst ist. Dann aber muss die ganz große Staatlichkeit, das Reich, zum politischen Geheimnis par excellence werden. Vom Staats-Geheimnis zur „geheimen Reichssache" - das ist ein Weg steigender Unerklärlichkeiten. Und gerade er wird im Triumphzug durchschritten. Das triumphale Ereignis treibt den Staat in die Höhe des Reichs, weil man ihm „sonst nie begegnet". Der Bürger dreht sich in privaten Kreisen, in ihnen ist wenig Geheimnis. Hier, im Triumph, schreitet sein Staat völlig über sie hinweg, er stört sie nicht, „total unprivat" hält er über alle bürgerliche Erklärlichkeit die geheime Reichssache. Geheimnisvoll und unerklärlich überschreitet er mit der Wirkung dieses seines Triumphs die Lebenszeit des Bürgers, der etwa als treuer Kommunist sein einmaliges Leben in der Jenseitshoffnung einzusetzen hat, nicht für künftige Generationen so sehr, als vielmehr für das höhere Reich. Gerade wenn das ganz große Erfolgsereignis herauswächst aus „kleinen Anfängen" wie im Ersten Rom, wenn der Triumph zunächst geradezu aus Zufälligkeit zu entstehen schien - dann kann er doch nur, das Paradox mag gestattet sein, seine Erklärung finden im geheimnisvollen Reich, das mit ihm einsetzt. Der Triumph - das ist das wesentlich extrovertierte Geheimnis, dessen wahre Gründe keine geschichtliche Forschung freilegen kann. Im Triumph „wird das Reich aus Geschichte", und doch wird zugleich die Historie bewusst überwunden: Sie beschreibt, allein kann sie nichts erklären. So ist

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Buch 1: Der Triumph

der Triumph der unerklärliche Anfang des unerklärlichen Reichs, das im Großerfolg kaum verständlich erhöht wird. Deswegen lässt sich hier auch nichts definieren und dogmatisieren, weil das Triumphale Gegenstand ist, man wird es immer nur umkreisen können, damit Lichter von allen Seiten auf dieses Geheimnis fallen. In seiner triumphalen Grundlage transzendiert das Reich beides zugleich, Dogmatik und Historie: jene, weil das Glück der Schlachten, Revolutionen in Normen fortsetzbar, aber selbst nicht voll durch sie erfassbar ist; Historie, weil glücklicherweise so viel verdämmert und Geheimnis bleibt am Großerfolg, obwohl er menschlich war - oft allzu menschlich. Der Triumphator ist nicht Geheimnis, der Triumph ist es, deshalb gibt es ein Reich.

6. Die Reichsidee - unsterblich im Triumph a) Das Reich - ohne Ende, daher ohne Anfang Wer imperial denkt, denkt etwas Unendliches. Das Imperium als optimale Staatsform darf schon deshalb nicht sterben, weil es das beste bedeutet, was politisch vorstellbar ist, als Idee bleibt es dem Ende entrückt. Die Staatslegende, welche seine Ursprünge beschreibt, umrankend verdeckt, kann als solche nicht sterben; wie könnte etwas, was auf der römischen Siegesidee oder auf der Erlösung am Kreuz aufbaut, verlorengehen? Legenden sind unendliche Geschichten, immer, auch wenn sie das so Vergängliche, das Politische beschreiben. Dieser erzählte, nicht nur der „gewusste Großerfolg", treibt das Reich weiter und weiter, von einer Ära in die andere. Einzelheiten bedeuten nur wenig, denn über ihnen steht die Unendlichkeit des ewigen Reiches. Das Imperium macht den Triumph, auf dem es aufbaut, durch seine große Ordnung zu einem ewigen Ereignis, im Reich ist ihm sein Monument gesetzt. Denn nur in der ordnunggewordenen Ewigkeit des Triumphes wächst dieser über die Tagtäglichkeit einer glückhaften Entscheidungsschlacht hinaus, er nimmt teil an der Beharrungskraft der Ordnung, in der er sich auf Dauer beruhigt. In der EmpireIdee hat die Austerlitz-Stunde Ewigkeit erlangt, sie ist nicht in der Völkerschlacht endgültig abgelaufen. Im Grund hat das Reich nie begonnen. Eine Herrschaft, die ihm nahe kommt, beginnt an der Unendlichkeit teilzuhaben, welche dieser Ordnungs-Idee eigen ist. Sicher wird dieses Endlose Wirklichkeit vor allem in den Wiedergeburten, in der renaissancehaften Wiederkehr der klassischen Staatsformen. Doch in der Vorstellung vom „ewigen Reich" liegt weit mehr - eine kontinuierliche Weiterwirkung von Ordnungen sogar, die längst gedacht waren, bevor sie Wirklichkeit wurden. Deshalb hat jedes Reich, das diesen Namen verdient, ja auch seine Vorläufer - so wie der Erlöser - in denen es sozusagen schon begonnen hat, bevor seine Ordnung wirklich einsetzt. Darum auch kann es nur aus einem ganz großen Triumph kom-

Β. Triumph - Reichsgrund und Reichsanfang

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men, einem Ereignis, das ein Denken in imperialen Kategorien eigentlich schon voraussetzt, aus einer Entscheidungsschlacht, die bereits von einem Kaiser geschlagen wurde; und in diesem Sinne allerdings war es selbstverständlich, dass Napoleon vor Austerlitz schon gekrönt wurde. Im Reich wird etwas gedacht, was gewissermaßen „vor sich selbst schon da war", eine Ordnung, die zwar immer größer wird, sich aber stets um sich selbst dreht, wie der Schöpfergott des Michelangelo, „nur in sich selbst begonnen haben kann". Das Reich ist allenfalls eine Ordnung der Kreisläufe, nicht der Abläufe. Seine Staatslegende der ersten, großen, glückhaften Erfolge kann und darf schon deshalb nicht historisch festgelegt werden, das Gründungsdatum von Rom ist gleichgültig, weil hinter ihm ein Reich steht. Und dieses Imperiale kann nicht sterben, mögen auch seine Trümmer auf Jahrhunderte begraben werden. In der Idee ist es wahrhaft unendlich, darin hebt es sich ab von der Staatsidee der zufällig auf- und absteigenden Herrschaft, dass es auf einer anderen Ebene angesiedelt ist, der des nicht enden Wollenden. Staatliche Herrschaft - das ist eine Dogmatisierung der Reichsidee, damit aber, dem Wesen des Dogmatischen entsprechend, eine Ablösung eben sowohl von der Idealität des Reiches wie von dessen höchst konkreter Grundlage, dem Triumph. Der Staat hat keine Unendlichkeit, er ruht auf Gesetzen, weil er den großen Triumph nicht braucht und nicht kennt, das Fundament der unendlichen Reichs-Ordnung.

b) Ewigkeit aus Triumph Gerade aus dem Triumph zieht das Imperium die Kraft zur Ewigkeit. Zunächst mag dies als ein Widerspruch erscheinen: Wenn das Reich nicht enden wird, weil es nie begonnen hat - wo soll dann sein Triumph stehen, welches ist seine Kraft, wenn nicht die des Beginnes? Doch hier muss unterschieden werden, zwischen der historischen und der staatsgrundsätzlich-ideellen Ebene: Historisch setzt das Reich ein mit dem Triumph, weitere Großerfolge bringen ihm immer neue historische Stunden. In der Idee aber war das Reich längst vorher da, „vor sich selbst" - und nicht anders der Triumph. Er bedeutet nicht nur eine historische Stunde, er ist Erfüllung der Zeiten, das Reich setzt mit einem Ereignis ein, das „kommen musste", das „verdient war", von wem auch immer, vielleicht ganz einfach von einer Epoche im ganzen. So wird der Triumph angekündigt, wie das Reich, durch Orakel, seine eigentlichen Gründe sucht die historische Forschung eines Tages in weit zurückliegenden Entwicklungen, der Großerfolg als Ereignis war dann eigentlich nurmehr eine Frage der Zeit. Wo aber der Triumph wirklich „so ganz Ereignis ist", im Untergang der Armada, in der Rettung von Wien aus der Türkennot, da ist er eben doch auch selbst etwas wahrhaft Zeitloses, er ist „vom Himmel gefallen"; als eine Gnade, die den Reichsbürgern zuteil wird, war er „so von Ewigkeit an bei ihrem Gott wie ihr Reich".

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Buch 1: Der Triumph

Nicht nur, dass das Imperium im Triumph „unsterblich begonnen hat" - in ihm gerade stirbt es nie. Der Großerfolg führt zur Feier, ihre Idee aber ist, dass sie nie enden kann. Zum „ganz großen Erfolg" gehört es, dass er ständig gefeiert wird, zelebriert werden muss, in jeder Schulstunde, in unzähligen Medienmoden, im Selbstbewusstsein eines Staatstheaters. Gefeiert wird der Triumph als Staatsgrundlage ja auch dann, gerade dann, wenn von ihm nicht mehr gesprochen werden muss; wäre der erste Waffenstillstand von Compiègne wirklich ein reichsgründender Triumph gewesen, so hätte die Französische Republik diesen Tag leichter vergessen können, sie hätte ihn in Selbstverständlichkeit gefeiert, tagtäglich. Aus seiner Zeitlosigkeit allein kann der Triumph über alle Niederlagen hinwegführen, wir sahen es schon, etwas von der Reichsidee hat selbst die Reichskanzlei 1945 überlebt. Im Wort „Staat" liegt etwas von der abnutzbaren Maschine, die irgendwann einmal auch wirklich abgeschrieben ist. Im Reich begegnen sich Träume von der totalen Unzerstörbarkeit des Politischen. Und deshalb mag man diesen Begriff verneinen und begraben, er wird immer begleiten, denn etwas Imperiales, wenn auch mit echter oder falscher Bescheidenheit verbrämt, liegt in allem politischen Handeln. So wie die Idee der ewigen Vereinigung hinter jedem Augenblick der Liebes-Passion steht, ihm erst seine Größe gibt, so verleiht allein das Streben zum ewigen Reich politischen Taten Größe. Die Kraft des Symbolischen ist in der Politik der Gegenwart neu entdeckt worden. Nach „Bildern" strebt die Herrschaft, in ihnen will sie sich dem immer primitiver werdenden Geist des Volkssouveräns verständlich machen, Bilder und Zeichen setzen und besetzen, den Frieden etwa und die politische „Mitte". All dies sind eben mehr als Worte, hier entstehen schon Symbole für die politisch gute, große, beruhigende Ordnung. Doch nichts ist im Letzten so symbolträchtig wie der Triumph - ein Bild, „das so erscheint" von der Heiligen Jungfrau, welche über den Wellen von Lepanto ihre Flotte zum Sieg führt, bis hin zur Kaiserproklamation in Versailles. Und es können ja auch Serien von Bildern werden, die dann zum triumphalen Film sich finden, die immer gleichen römischen Triumphzüge, die nahezu identischen römischen Feldherrngesichter, einheitlich nicht nur in der späthellenistischen Typisierung, sondern in dem, was ihren Triumph bedeutet: in der Härte der römischen Tugend. Eben dieser Triumph aber als Symbol, er ist wahrhaft unsterblich. In ihm ist ja ein Reich gegründet, das über seine Grenzen, wie fern sie auch sein mögen, immer so weit hinausreicht, dass jedem künftigen Reich noch ein Saum seines großen Reichspurpurs zur Berührung bleibt. So finden denn in einem einzigen, wahrhaft reichsgründenden Triumph irgendwie alle Reiche in der Idee des Imperialen zusammen, es werden immer nur neue Akte gespielt - und dies ist ein Aufruf nicht nur zum Stolz, sondern zuerst zur Bescheidenheit aller Akteure. Der Triumph sagt ihnen, dass sie dienen, dass sie allenfalls Ähnliches, kaum je Größeres werden darstellen dürfen.

Β. Triumph - Reichsgrund und Reichsanfang

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All diese Worte und Beleuchtungen der politischen Szene sollten etwas sichtbar machen, was täglich gefühlt wird, aus dem heraus allein Menschen in allem und jedem „politisch größer" handeln, was sie im Letzten aber nicht bestimmen können, jedenfalls nie sagen dürfen - gerade wenn sie dabei sind, wirklich imperial zu handeln; der Neid der Götter gönnt den herausgesagten Triumph nicht. Das Reich trägt nur, was seine Legionen und Bürger im Herzen tragen. Im gefeierten Großereignis überwinden Menschen, zum Reich aufgebrochen, die temporalen Kategorien ihres Denkens, mehr noch: alle ihre kantischen Kategorien. Oben hieß es, das Reich sei ihre Erweiterung, Überhöhung, es schaffe neue kantische Denkräume. Vielleicht trägt der Triumph noch höher - bis zur Überwindung aller kantischen Kategorien. Dann wäre das Reich in seinem Triumph, mit ihm und durch ihn, wahrhaft die politische Transzendenz der Ordnung. Wenn etwas auf Menschen triumphal wirkt, so ist es der gestirnte Himmel. Er ist das Reich, in den Sternen der Erfolge.

C. Erscheinungsformen des Triumphes Der Triumphalismus ist so stark, und mit ihm die Reichsidee, wie der Begriff des Triumphes erweitert werden kann - solange er sich nicht in einem Erfolgsgenuss verliert. Wenn das Reich verdämmert, wenn Triumphe zu Beutezügen werden, vollzieht sich auch eine Brutalisierung des Begriffs: Er ist nicht mehr ein Beginn größerer Ordnung, sondern ein Zustand augenblicklicher Überlegenheit. Der ganz große, Ordnung ausstrahlende Erfolg ist etwas anderes als die geglückte Unternehmung. In einer Welt steigender Zivilisation - mit all ihren zivilisatorischen Schwächen und Erschlaffungen - verliert der Triumph Chancen im Bewusstsein der Bürger, und mit ihm die Reichsidee, weil er nur eines zu sein scheint: Verherrlichung militärischer Siege, eine Schlachtengeschichte, von der sich heute die Historie entfernt. Der Triumphbegriff muss weiter sein, will man das Reich wieder in seinen Grundzügen entdecken: Triumph ist jeder ganz große Erfolg. Doch das Militär und seine Siege haben hier ihren festen Platz, aus historischen wie aus staatsgrundsätzlichen Gründen: Das Triumphale ist den Menschen zuerst bewusst geworden im Sieg der Waffen, was nachher kam an wirtschaftlichen und kulturellen Erfolgen, war oft nur ihre sieghafte Ausstrahlung. Nichts trägt in der Tat die Zeichen des Triumphes so deutlich auf der Stirn wie der militärische Sieg. Wer den Triumph zivilisieren, im Frieden erreichen will, muss sein Wesen zuerst im Kriege erkennen.

I. Der militärische Triumph 1. Der Endsieg - das triumphale Wesen alles Militärischen a) Waffen

- stets auf den „ großen Erfolg " gerichtet

Seit es Waffen gibt, sind sie auf Tötung gerichtet, jedenfalls aber auf den großen Erfolg über den Gegner, der sich nicht mehr erheben wird. Die Atombombe hat dem die Sicherheit des Selbstmords hinzugefügt, damit aber der Waffenidee eine neue Dimension gegeben: Nunmehr ist sie in der Tat nicht mehr die Verkörperung des Willens zum „großen Erfolg", der mit Gefahren für die eigene Existenz erkauft sein mag, nicht aber notwendig in ihnen selbst untergehen muss.

C. Erscheinungsformen des Triumphes

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Der Pazifismus des Jahrtausendendes hat es wohl gefühlt, dass hier der Waffenbegriff sich wandelt, weil die ganz große Bewaffnung nicht mehr den ganz großen Erfolg bringt, sondern den Erfolgsbegriff schlechthin eliminiert. Nur wenn es gelingt, Atomwaffen zu neutralisieren, der konventionellen Rüstung selbständige Bedeutung zu erhalten, wird der Triumphalismus der Waffen überleben können, mit ihm eine wichtige Voraussetzung für ein triumphales Bewusstsein, das zum Reich führt, ohne Selbstmord. So ist denn der Pazifismus weit mehr als eine Angstreaktion, er ist eine Herausforderung für eine neue Militärphilosophie, ohne die es ein Reich nicht geben kann: Die große konventionelle Bewaffnung ist eine Grundlage größerer Ordnung, mit der Atombewaffnung aber würde mehr untergehen als nur diverse Staatlichkeiten - sie ist eine Gefahr für die Reichsidee selbst. Anbrechen muss vielmehr eine Zeit der Schlachtschiffe, dann ist das Reich nicht weit; sie haben nicht nur imperiale Worte, sie haben die Reichsidee über die Meere getragen. Wenn die Ächtung des kollektiven Atomselbstmordes auch zur militärischen Selbstverständlichkeit geworden ist, dann wird von neuem klar sein, dass der Sinn der Waffen nicht in der großen Vernichtung liegt, sondern im ganz großen Erfolg. Blutvergießen war nie der Sinn des militärischen Sieges, töten können stets. Die Waffen sind auf jene Wehrlosigkeit gerichtet, in welcher Gefangene gemacht und sodann im Triumphzug mitgeführt werden. Die ganz großen Siegesschlachten waren oft unblutig, Gemetzel ist ein Zeichen zweifelhafter Überlegenheit. Bevor man zum Triumphalismus findet, gilt es erst wieder zu lernen, was eigentlich Bewaffnung bedeutet. Der Pazifismus mag Atombomben in Kraftwerke verwandeln, Pflugscharen muss er in Waffen umschmieden, die diesen Namen zu Recht tragen. Die Atombombe sollte den ganz großen Triumph bringen - sie hat das Triumphale verraten, und das Imperiale, aus dem heraus ein wahres Weltreich sie 1945 in Verblendung eingesetzt hat, militärisch ebenso sinnlos wie staatsgrundsätzlich.

b) Verteidigungsideologie Ende eines Denkens in militärischen Triumphen? Was ist von den großen militärischen Triumphen des Zweiten Weltkriegs geblieben, welche zwei Reiche befestigt, wenn nicht geradezu gegründet haben, das amerikanische und das sowjetische - nichts als eine vage Verteidigungsideologie, hinter der sich der Imperialismus verstecken will, diese Degeneration des imperialen Denkens. Viel Kritisches und Ironisches könnte man sagen über jene Friedenshelden der Gegenwart, die in trauriger Nachfolge ihrer trojanischen Vorgänger nicht Krieg führen mit Waffen, sondern mit Worten, die selbst den Krieg aufheben wollen, den sie nunmehr Verteidigung nennen. Nie haben solche Worte den Erstschlag verhindern können, weder in den Nahostkriegen noch im Falklandkonflikt. Und eine schlimme Folge hat das Gerede von der Verteidigung gebracht, das gewiss keine ordensgepanzerte Marschallbrust hat durchdringen können: Auch dieser 8 Leisner

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Buch 1 : Der Triumph

schöne und tiefe Begriff ist verlorengegangen, politisch und moralisch; denn folgerichtig erfasst nun die Ablehnung des aggressiven Tötens auch noch jene kollektive Selbstverteidigung, deren moralische Berechtigung doch letztlich in der selbstverständlich akzeptierten Notwehridee liegt. Wenn der Krieg einfach in Verteidigung umgetauft wird, dann darf es eben auch diese nicht mehr geben. „Reine Verteidigungsideologie" ist als solche vollständig gescheitert, in ihr liegt nur der Zwang zur unehrlichen List der Worte: Die Staaten und ihre Führer werden durch sie zu einem gezwungen, was der moderne Medienkrieg ohnehin seit dem Ersten Weltbrand in unseliger Weise verbreitet hat: zur systematischen Lüge, zur Schuldzuweisung an den Gegner mit allen Mitteln, jener Folge der pervertierten Moralisierungsversuche des militärischen Konflikts. Doch die geistigen Defekte der „Verteidigungsideologie" liegen tiefer: Das einzige, was dem Militärischen Sinn und tiefere Bedeutung verleihen mag, ein Endsiegstreben, welches den Triumph will und hinter ihm das Reich, dies gerade verliert sich in dem „Kampf mit Schildern", mit denen oft leichter erschlagen wird als mit Schwertern. Wenn sich Verteidigung überhaupt definieren lässt, gegenüber dem „Krieg", so darin: Sie ist militärische Anstrengung ohne Triumphsuche; dann aber gerät die Rüstung in der Tat in die Nähe der Vorbereitung des Kriegs-Verbrechens - sie wird durch nichts mehr geheiligt, wenn ihr die Weihe eines Triumphes fehlt, den sie nicht mehr erstreben darf. Gerechtfertigt wird zwar die Anwendung tödlicher Gewalt immer dort, wo sie in eindeutiger Selbstverteidigung geschieht doch wann ist dies schon klar nachweisbar in einer hoch technisierten, von Kriegslügen beherrschten Welt? Damit aber schwächt sich notwendig die ethische Rechtfertigung ab. Und im Grunde hat sie allein nie zur Legitimation des kriegerischen Handelns ausgereicht, hinzutreten musste immer die zweite große Legitimation: das Endsiegstreben, die Triumphsuche, im Namen einer größeren Ordnung; sie hat letztlich den noblen Krieg unterschieden von der blutigen Schlägerei. Wenn die militärische Gewalt nicht zu einem Akt des größeren Reichs-Theaters wird, wenn sie immer nur ängstlich abwehren will, so muss sich bald die Frage nach den Werten stellen, in deren Namen solches Töten legitim sein soll - doch nicht allein in der Aufrechterhaltung eines status quo, der in sich selbst stets kritikabel sein wird, kaum je Lebensopfer legitimiert. An dem fatalen Dilemma „Rot oder tot" kam westliche Verteidigungsideologie nicht vorbei, solange sie dem „roten" Imperium kein anderes entgegenzusetzen hatte. Als der „Westen" seine geistig und wirtschaftlich freie Welt ausbreiten wollte, dachte er imperial, er suchte den Sieg und errang ihn. Allein die Verbindung von imperialem Triumph und ethischem Selbstschutz kann höher stehen als das menschliche Einzelleben; was die moralische Rechtfertigung nicht leistet, wegen mangelnder Eindeutigkeit - das Streben nach großer politischer Durchsetzung kompensiert es reichlich. Erst wer wieder triumphales Denken lernt, aus der Sicherheit eines Reiches, welches verteidigt werden soll, gibt der Verteidigung ihren tieferen Sinn zurück. Denn die Waffen müssen zuerst siegen, das Schwert kommt vor dem Schild. Und

C. Erscheinungsformen des Triumphes

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wie nur der Triumph die Rüstung heiligt, so kann nur sie wirklich zeigen, was Triumph bedeutet.

2. Militärischer Sieg - der große, eindeutige Triumph Beginnt das Reich wirklich mit Waffen, gehören sie in sein Wappen? Wenn eine Ordnung zu imperialer Größe emporwächst, so scheint sie doch alle Zufälligkeiten militärischer Siege abzustreifen. Verdient eine Machtlage nicht erst dann den Namen des Imperiums, wenn sie die engen, oft gedankenlosen Stirnen des militärischen Räsonierens hinter sich lässt, wenn sie dessen gegebene und befolgte Befehle in einer Ordnung überhöht? In der Tat - militärischer Sieg und imperiale Größe sind keineswegs eine notwendige geistige Identität; und Soldatenkaiser mögen eher als ein Abfall von der Reichsidee erscheinen. Die punktuelle Härte des militärischen Vorgehens, die immer etwas vom „Schlag" in sich tragen wird, ist allzu sehr noch behaftet mit der Unruhe des sich Durchsetzenmüssens, wo doch das Reich das Gelungene bedeutet. Die Legionen mögen auf dem Marsch dahin sein, sind sie aber bereits angekommen? Dennoch - nirgends ist der Triumph so ganz Gegenwart wie im großen militärischen Sieg, er zuerst hat die Größe, Eindeutigkeit, Dauerhaftigkeit erreicht, welche den Erfolg zum Triumph werden lassen. Eindeutigkeit vor allem: Alle anderen Erfolge mögen diskutabel sein, später erst in ihrer Größe ganz hervortreten, von Wertungen mag ihre Höhe abhängig sein, von geistigen Betrachtungsweisen, welche nur eine spätere Zeit einmal unangreifbar macht. Dies sind die Schwächen aller „zivilen Triumphe"; der militärische ist ihnen überlegen, weil die untergegangene feindliche Flotte keinen Kanonenschuss mehr löst, weil der gefangene Kaiser dem Sieger den Degen übergibt. Die siegreiche Entscheidungsschlacht fragt überhaupt nicht mehr nach Verdienst, nach ihren tausend Helden, sie setzt all dies voraus, in ihr breitet sich das Reich aus über das behauptete Schlachtfeld, über die eroberte Festung. Endsiegstimmung aber muss da sein, damit Eindeutigkeit bestehe; und nichts ist für die Reichsidee gefährlicher als zweideutige Siege eines Imperiums, die Französische Republik hat es nach 1918 erleben müssen. Churchills Streben nach der bedingungslosen Kapitulation war ein gefährlicher Racheakt, zugleich aber eine triumphale Weisheit. Die militärische Entscheidungsschlacht mag so engstirnig sein wie die Offiziere, welche die letzten Bastionen des Gegners stürmen, sie hat für sich die Eindeutigkeit der geistlosen Gewalt, aus ihr wächst ihre Antithese: das Reich in seiner hohen geistigen Ordnung. Gerade als solches wird es immer von der Kritik angegriffen werden, irgendwo muss der blanke Stahl ihrer Säure widerstehen, der schneidende Endsieg. Größe erreicht der militärische Sieg mehr als jedes andere Ereignis; imperiale Kraft liegt in ihm, und wenn er später noch so schwächlich auseinanderläuft, in der 8*

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Gerusalemme liberata hat Italien etwas von politischer Renaissance erlebt, die Reichsidee ist zurückgekehrt; Salamis hat das geistige Reich der Griechen begründet, längst vor Alexander dem Großen, kein Peloponnesischer Krieg hat es zerstören können. Reichsgründung - Reichszerstörung, im militärischen Triumph hegt beides ganz, in jenem „einen Schlag", mit dem der Bote des Aischylos das Ende seines Reiches ankündigte, den Beginn des Reiches der griechischen geistigen Freiheit. Dauerhaft schließlich kann der militärische Sieg sein, nur als Endsieg führt er zum Reich, von der Zerstörung von Karthago bis zur Kapitulation von Georgetown. Wenige Augenblicke in der Geschichte sind es, in denen jene Endgültigkeit sogleich erreicht wird, in welcher der militärische Sieg zugleich zum politischen Faktum, zum Triumph emporwächst. Nur Mächte mit ganz großem imperialen Atem, Rom oder England, können solche Augenblicke auf die Geschichte verteilen, militärische Siegesserien orakelhaft mit einer Schlacht beginnen lassen. Die Stunden von Cannae und Austerlitz bringen imperiale Augenblicke, in denen sich der Himmel zu öffnen scheint zum Reich. Wenn sie an frühere Imperialität anschließen, wie in den Siegen des großen Kaisers, so werden sie, gehalten von ihr, mit reichsgründender Kraft begabt; wollen sie ein Imperium erst hervorbringen, so bleiben sie militärische Fata Morgana. Der militärische Sieg als solcher lässt sich besingen - nur wenn er zum Triumph wird, kann man ihn feiern, auf Dauer. So ist denn militärische Gewalt eine Chance zum Triumph, keine sichere Via triumphalis. Reine Gewalt errichtet nur ein militärisches Gerüst; ob hinter ihm dann die Mauern des hohen Rom emporwachsen, ist eine transmilitärische Schicksalsfrage. Eines aber bietet der siegreiche General: das Gerüst eines Reiches.

3. Die staatsgründenden Kräfte des militärischen Sieges Die Entscheidungsschlacht ist eine Stunde, sie bringt einen Zustand; führt sie empor in die Ordnung des Imperiums? Viel spricht dafür, dass dies ihr wesentlich sein kann, dass sie dafür alle Kräfte dazu in sich trägt, dass gerade hier das Wesen des Triumphalismus erkannt werden kann, deshalb beginnt hier die Betrachtung mit ihr. - Unbestreitbarkeit ist wohl die staatsgründende Kraft des militärischen Sieges. Mit ihm werden die Fundamente des Staates selbst aller Kritik entzogen - und doch schließt der militärische Triumph jene belebende Kritik nicht aus, ohne welche eine höher entwickelte Staatsordnung nicht denkbar ist. Der militärische Sieg schlägt ja nur die physische Gegen-Gewalt nieder, er sichert lediglich die tiefsten Grundlagen, auf denen sich dann bewegliche Geistigkeit entfalten kann. Der militärische Triumph ist nicht primär selbst Gewalt, vor allem bringt er das Ende aller Gewaltanwendung, damit schafft er jenes Gewaltmonopol der Staatlichkeit, in welcher gerade heute deren Wesen gesehen wird. Selbst die „kleine

C. Erscheinungsformen des Triumphes

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Staatlichkeit" der Normen und Gesetze braucht Unbestreitbarkeit, sie sucht sie in einseitigen Willenserklärungen. Der große militärische Triumph schafft ihnen den Raum der höheren imperialen Wirklichkeit. - Es ist durchaus nicht der Geist einer totalen Besatzungsordnung, der hier über das Reich ausgegossen wird, im Gegenteil: Der militärische Großerfolg verleiht eine letzte Sicherheit, welche erst wahren und dauernden Liberalismus ermöglicht, das eben, was dem Bürger Freiheit gibt und Autonomie und damit die Ordnung konstituiert; denn darin unterscheidet sich diese ja vor allem in imperialer Größe von der Staatlichkeit, dass nicht alles befohlen, wohl aber alles eingebunden werden kann. Wenn also Freiheit und Autonomie zum Begriff Ordnung gehören, damit zu dem des Reiches, dann führt, so paradox es scheinen mag, die gewonnene Entscheidungsschlacht geradewegs zur Liberalität einer alles übergreifenden Ordnung. Die englische imperiale Libertät war erst nach Trafalgar möglich, die Entscheidungsschlacht hat diesem Reich jene Sicherheit gebracht, aus der heraus so vieles, im Grunde alles erlaubt sein konnte. Im Hydepark mochte diskutiert werden, weil es auf den Meeren nur eine Flotte gab. - Die Entscheidungsschlacht definiert sich daraus, dass ihr Ergebnis nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Was sie an Fundamenten des Reiches gelegt hat, bleibt unverrückbar im Boden, und wenn noch so vieles wechselt, was darauf errichtet wird. Vom Begriff des Fundaments ist viel die Rede in der Staatslehre, und doch ist gerade die Normativität des Verfassungsrechts kaum geeignet, den Begriff mit Sinn zu erfüllen. Wenn fundamental nur die Normen genannt werden, zu deren Abänderung man einer etwas größeren Mehrheit bedarf, so ist die Unverrückbarkeit aufgegeben, die aber im triumphalen Ereignis liegt, nirgends stärker als im militärischen Endsieg; die Historie wird dann fortgesponnen, nicht neu verankert. Abbau der Staatsgrundlagen - das ist ein Widerspruch in sich, eine normative Spielerei der liberalen „kleineren" Staatlichkeit. Im Reich hat er nicht Platz, weil die Fundamente tief im Boden bleiben - tief in den Herzen der Bürger als Erinnerung an eine glorreiche Stunde. Kasernen lassen sich schwerer abschaffen als Grundrechte, militärische Traditionen, von großen Siegen geprägt, sind schwerer zu verändern als Staatsgrundsatznormen. Deshalb bedarf auch eine demokratische Imperialität keiner Verankerung ihrer „Verteidigung" in der Verfassung: Das Grundgesetz ihrer Armee ist der militärische Triumph, wenn es ihn nicht gibt, so muss er erfunden werden; er trägt in sich sein Ziel, besser formuliert in der Geschichte, als es je ein Normgeber vermöchte. - Einmaligkeit ist dem militärischen Sieg eigen wie keinem anderen Groß-Ereignis, die Konzentration auf einen Tag, auf eine entscheidende Stunde. In der siegreichen Schlacht kulminiert etwas, sie ist ganz Spitze, in ihr ballt sich das Staatstheater in imperialer Mächtigkeit zusammen. Und wie sich das Imperium aus der politischen Erscheinungen Flucht heraushebt, aus der Serie der Staatlichkeiten und Befehlsordnungen, so fallt der Schlachtentag vom Himmel. Gefeiert

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wird „ein großer Tag, ein Freudentag". Will man gemeinsame Bürgerfeiern verstehen, so wird da häufig etwas mitschwingen vom militärischen Sieg; etwas von diesem Victoria reicht hinein bis in den Wahlsieg, den großen sportlichen oder wirtschaftlichen Erfolg. Die Faszination, welche das Militärische sogar auf die friedlichste Intelligenz ausübt, liegt wohl in diesem Staatstheater, das hier als Reichstheater ganz groß gespielt wird. - Es bedeutet etwas, wenn ein Großerfolg des Abbildes fähig wird - die Entscheidungsschlacht ist es. Ein Augenblick kann hier zum Bild werden, zum Symbol, welches über den Säulenhallen des Reiches aufgestellt wird. Wer könnte einen Wahlsieg darstellen - er müsste allzu viele kleine, gleiche Menschen zeichnen; und der wirtschaftliche Erfolg als Bild - wie weit ist dies noch entfernt vom Kitsch der Belle Epoque? Der wahre militärische Triumph ist immer abbildbar gewesen, wo er es nicht mehr ist, fehlt ihm vielleicht schon letzte Überzeugungskraft. Dieser militärische Sieg kann besungen werden, er ist ein Gegenstand des Epos immer gewesen, mehr noch: Er wird in allem „lehrbar". - Das Groß-Ereignis als laufende Lehre - das ist ein Vorrecht des militärischen Sieges zuerst. In ihm tritt ja alles ins Rampenlicht, was auch die Demokratie braucht, will sie Größe beweisen, sie wohl mehr als jede andere Staatsform: den Mut ihrer Bürger und ihre Bereitschaft zum Widerstand, nicht nur gegen ihresgleichen. Denn wer den militärischen Triumphalismus verlernt hat, soll nicht von Widerstand gegen die Macht reden, von Zivilcourage; auch sie verlangt jene Tapferkeit, die auf Schlachtfeldern gelernt wird und im militärischen Dienst, die Schweizer Volksmiliz ist ein wahrhaft imperiales Beispiel. Vor allem aber ist es der Opferwille, der in der siegreichen Entscheidungsschlacht seinen Triumph feiert, ihn seinem Reiche und dessen Bürgern weitergibt. Wenn eine Gemeinschaft soviel wert ist, wie ihre Bürger für sie einzusetzen bereit sind, so hat ihnen gegenüber die Demokratie mehr Rechte als jede andere Staatsform, sie bietet eine Freiheit, für die es sich lohnt zu sterben - aber nur, wenn frühere Triumphe zeigen, dass dies schon Wirklichkeit war; die Legitimation des heutigen Lebenseinsatzes liegt allein im erfolgreichen Lebensopfer der Vergangenheit. - Im militärischen Erfolg ist mehr Glück als in allem anderen, was sonst Menschen gelingt. Das Reich und sein Triumph weisen diese Legitimation nicht zurück, sie brauchen sie, ist doch ihr Staat nicht eine wohlkonstruierte Maschine, sondern ein Gebäude, über dem wirklich stehen kann: Feliciter - mit Glück beendet. Die Demokratie der Prüfungen und Verdienste, der Konkurrenzen und rechenbaren Durchsetzungen braucht gerade dies, eben weil sie ganz offen die Schwäche der Freiheit predigt, sonst in sich nichts tragen will. In der Bildhaftigkeit und Lehrbarkeit wird die einmalige Schöpfertat des militärischen Triumphs zur creatio continua des Imperiums, die staatsgrundlegenden Kräfte werden verewigt. In dem Glück, das im gewonnenen Spiel der Schlacht liegt, wächst der militärische Triumph in die Höhe des Heiligen hinauf, vergossenes Blut erhebt ihn über das Staats-Roulette. Darin ist wahrhaft ständige Gründung des Reiches.

C. Erscheinungsformen des Triumphes

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„Blut der Märtyrer - Samen der Christen", so stand es einst über einer Kirche, als sie noch ganz groß war, ganz Zweites Rom. Etwas vom militärischen Triumph liegt auch darin, in den Armis Christi, jenen Leidenswerkzeugen, mit denen der Herr seine Gegner bezwingt und den Tod. Auch dies ist ein Sinn der Entscheidungsschlacht - leiden können bis zum guten Ende, auch dies ist eine staatsgründende Triumphstraße zum Reich.

4. Militärische Niederlage als staatsgründender Triumph? Die Lage Deutschlands und seine Geschichte seit dem Ende des Reichs stellen eine Frage: Lässt sich ein Reich gründen, oder auch nur ein Staat mit größerem, dauerndem Ordnungsanspruch, auf die totale militärische Niederlage? Macht der militärische Einsatz so stark, dass er „an sich wirkt", selbst wenn er erfolglos bleibt? Drei Aspekte gilt es hier zu unterscheiden: Heldentum, Revanche, Teilhabe am gegnerischen Triumph. - Heldentum in der Niederlage bedeutet moralische Kraft, imperiale Dimension erreicht es nicht, gerade dies aber ist ein sicherer Beweis für die reichsgründende Kraft des Triumphes - dem Heldentum der Niederlage fehlt sie; es überzeugt viel, es überzeugt nicht die Vielen. Das Reich bedarf des Erfolges, nicht nur der großen Menschlichkeit. Helden mögen im Triumph mitziehen - er ist mehr als ihr Opfer; einzelne große Taten mögen ihn einleiten, Wilhelm Teil ist ein Zeugnis, doch erst der Sieg der Erhebung konnte das Schweizer Imperium der hohen Berge begründen. - Die heldenhafte Niederlage hat etwas Erschütterndes, doch der Geist des Reiches ist in ihr nicht; die Alte Garde hat bei Waterloo kein Reich zu retten vermocht. Wären die Thermopylen nicht in ein Marathon verwandelt worden, es würden vielleicht Wanderer stehen bleiben, dann aber vorübergehen; denn sie müssen nach Sparta gehen können. Heldentum und Niederlage gehören sicher zusammen, nirgends ist das Heroische so stark wie im Untergang; und die legendären römischen Reichs-Helden mussten die Kraft haben, in Abgründe zu springen. Doch all dies waren vielleicht Zeichen zum Reich, Wegsäulen - erst der Triumph bringt die große Ordnung hervor, ein Pour le mérite nach verlorenem Weltkrieg bedeutet nichts. Für die Demokratie gilt dies mehr als für jede andere Ordnung: Ihre Bürger brauchen ihre Helden, doch überzeugt hat die Vielen immer nur der große Erfolg. Das Reich muss aus Nachahmung, aus Solidarität, aus gleichem Tun der Bürger kommen, soll es demokratisch wachsen, die Bürger wollen wohl gleiche Erfolge erzielen wie ihr Staat, dazu halten sie sich nicht für unfähig in neuem, demokratischem Selbstbewusstsein; doch Helden sein wie die wenigen Untergehenden - das ist ihnen nicht gegeben. Die Selbstverständlichkeit demokratischer Imperialität kann aus dem Heldentum einzelner nicht wachsen.

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- In einem allerdings mag die militärische Niederlage, gerade die bitter verlorene Schlacht, der Beginn eines Triumphes sein: in der Revanche-Idee. Nirgends ist diese wohl so stark wie im Versuch des militärischen corriger la fortune. Was eindeutig verloren wurde, kann doch mit gleicher Eindeutigkeit wieder gewonnen werden, der eine Schlag wird ausgelöscht durch den einen Gegenschlag. In diesem möglichen Revanche-Denken liegt auch die Schwäche des rein militärischen Triumphalismus, der durch diese mächtige und moralische Idee wieder umgekehrt werden kann - in eine Niederlage, so wie kaum ein anderer geschichtlicher Großerfolg. Die Niederlage als Siegesstachel hat die französische III. Republik in die Nähe der alten imperialen Größe geführt, ein Abglanz davon lag sogar noch über jenem Gaullismus, der den Französinnen und Franzosen an seinem Beginn versprach, Frankreich habe nur eine Schlacht verloren, nicht den Krieg. So mächtige moralische Kraft verleiht die Niederlage, dass sie erfunden werden musste, um die größten Reichsanstrengungen der Geschichte zu erklären - das römische Imperium als Rache für Troja, die Aeneis als imperiale Überwindung der List des Odysseus. Doch gegen den „großen Erfolg als Reichsprinzip" bedeutet all dies nichts - im Gegenteil: Der Triumphzug wird nur um so glänzender, wenn er aus den Tiefen der Niederlage aufsteigt, aber er muss vom Erfolg gekrönt sein, soll die Revanche nicht in Revanchismus verflachen, gar zum Verbrechen werden gegen inzwischen etablierte andere Imperien. Die deutsche Revanche für Compiègne hatte eine große Stunde - das zweite Compiègne, es war eine Reichsstunde, die ungenutzt blieb, die letzte der Deutschen. Von da an blieb ihnen nur eines mehr: - Teilhabe am Triumph der anderen - darauf haben viele in Deutschland geglaubt, einen neuen Staat errichten zu können, von nahezu früherer Bedeutung. Sicher im ganz großen Triumph ziehen auch die Geschlagenen mit, und im Laufe der Feiern mag man ihnen die Fesseln abnehmen, so dass sie sich fühlen dürfen wie Bürger der Großreiche - aber nur Augenblicke lang, nie zu einem eigenen Imperium hin. Der Triumph des äußeren Feindes über den eigenen inneren Gegner ist stets von der geretteten Partei als ihr eigener gefeiert worden, und oft war er es wirklich, in einem größeren Sinne - die Partei des Philipp von Mazedonien in Athen hat in der Tat auf den gesetzt, der allein leisten konnte, was an Griechischem noch zu tun war. Und so mag auch der deutsche Antifaschismus legitime Triumphgefühle empfinden, wenn schon die Vernichtung des Reiches das Beste war, was den Deutschen noch widerfahren konnte. Da mag vieles wünschbar sein und erfreulich, nur eines ist Teilhabe an fremdem Triumph nie, die Freude an den siegreichen Fahnen des „größeren Bruders", vor dem die eigenen gestrichen wurden: Da sind nie die Adler auf dem Flug vom Triumph zum Reich. Nur aus einem könnten sie sich erheben, selbst mit dem Wind fremder Erfolge - aus einer ganz mächtigen und eindeutigen Befreiungsideologie heraus, wenn wirklich die fremden Armeen nur die eigenen Kräfte beflügelt hätten. Die

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Deutschen werden das von sich nicht sagen dürfen, dankbar dürfen sie sein für wiedererlangte Freiheit, ihren Reichs-Triumphalismus haben sie vielleicht zu Recht und endgültig verloren, ihre Gegner haben ihre eigenen Imperien über ihnen errichtet, diese Adler dürfen sie so wenig berühren wie die Atombomben, mit welchen ihre früheren Feinde sie heute schützen. In solchen militärischen Niederlagen, wie sie Deutschland erlitten hat, bricht die militärische Siegestradition einfach und endgültig zusammen. Was das bedeutet, haben die Deutschen vielleicht gefühlt, mit anderen kleinen Triumphen überspielen wollen, nie aber wirklich erkannt. Es ist der Verlust der Triumphalität und des Reiches, selten vielleicht hat die Geschichte so deutlich gezeigt, wie stark der militärische Sieg ist, in einer Zeit, die nicht mehr von ihm reden will - und doch noch heute jeden Militärschlag der großen transatlantischen Allierten mitfeiert, als wär's ein eigener Sieg...

5. Der demokratische Militärtriumph - Bürgerwehr, Levée en masse Nur die Verfallsdemokratie rüstet ab. Imperiale Volksherrschaft, der vielleicht die politische Zukunft gehört, hat ihre militärischen Groß-Siege in der Geschichte gefeiert, mit eigenen Mitteln, sie hat ihre Triumphe bereits wahrhaft imperial institutionalisiert. Es ist Zeit, Demokraten daran zu erinnern: Begonnen hat die Demokratie nicht mit Urkunden und applaudierten Normen, sondern mit Bürgerheeren. Darin vor allem ist die freie Schweiz stets imperial geblieben, dass sie so viele Tapfere zählte in ihren Gebirgstälern, dass sie Europa seine Söldner geben und zugleich ihre Alpenfestung stets hat bewahren können. In den Schweizergarden hat ein kleines Volk etwas wie eine militärische imperiale Triumphalität über die europäischen Höfe ausgebreitet, eine große Bürgerwehr, bezahlt im Ausland, ohne Sold in der Heimat. Die Schweiz ist ohne Milizidee staatsrechtlich kaum vorstellbar, Imperialität hat sie in diesen Formen der Militärorganisation darin erreicht, dass diese eine perfekte, vielfältige Ordnung in Einheit schützen, und in Frieden, im Zeichen des wirklichen Reiches. Die Schweizer Armee bedarf keiner Schlachten, denn niemand hat je ihre Stärke bezweifelt, die großen, demokratischen Anfangstriumphe begleiten sie, auch heute traut jedermann dieser Miliz zu, dass sie ein Sempach wiederholen könne. Und dies ist eine demokratische „Triumphalität in Organisation": Alle Bürger tragen das Heer, Verteidigung ist selbstverständlich, weil es außerhalb der Schweiz nichts Erobernswertes gibt - dies eben ist ein Zeichen des Reiches. Für Freiheit und Vielfalt werden Waffen verteilt und bewahrt, der Demokratie ist hier das Größte gelungen, was ein Heer erreichen kann: Nicht nur jeder an seinem Platz - an jedem Platz einer. Die Demokratie hat die Chance zu den größten und stärksten Armeen, Amerika hat es gezeigt: Hier steht jeder in Freiheit zum Staat, jeder zahlt seinen Zoll in jeder Weise, in Einheit über der Vielfalt wird eine gewaltige Militärmaschine

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bewegt. Wenn sich der Bürgerstaat auch als Militärstaat fühlt, ist er unschlagbar und wenn er die Milizidee wirklich versteht und in seine ungeschriebene, unveränderliche Verfassung aufnimmt - dann liegt der Triumph bereits in dem Augenblick, in welchem das Volk aufsteht, der Sturm losbricht, denn wer könnte ein Volk erschlagen? Die Demokratie schämt sich der militärischen Imperialität, und doch ist diese keiner Staatsform so gegeben wie dem Bürgerstaat. Diesen triumphalistischen militärischen Stolz gilt es, in demokratischen Armeen stets wach zu halten. Noch ein anderes Beispiel bietet die Geschichte für den großen militärischen Triumph der Demokratie, den größten vielleicht, den es, rein militärisch, überhaupt gab: der spektakuläre Sieg der Levée en masse in der Französischen Revolution. In verzweifelter Lage, militärisch umzingelt und politisch geächtet, sind in demokratischem Aufbruch beispiellose militärische Erfolge errungen worden, die Grundlagen für ein späteres Empire, mit dem Napoleon auch nie die revolutionären triumphalen Grundlagen verleugnet hat. Die Idee der Levée en masse, des Volkes, das zu den Waffen greift im Namen der Freiheit, ist vielleicht bisher nie in ihrer militärischen Furchtbarkeit erkannt worden, und doch hat sie sich immer wieder darin bewährt, bis hin zu den Partisanenarmeen in den Weiten des Ostens. Die militärischen Kräfte der Gleichheit haben hier wahrhaft atomare Kettenreaktionen ausgelöst, zu etwas wie den „Siegen der unbegrenzten Möglichkeiten" geführt. Die allgemeine Wehrpflicht, wahre Demokratisierung innerhalb der Armee, eine Bürgerfreiheit in Uniform, die streng bleibt und tapfer - „einen besseren findst du nicht". Und noch etwas vermag diese militärisch-triumphalistische Demokratie: Einen wahrhaft „imperialen Aufbruch von unten", ein Solidaritätsdenken, das von der Basis kommt, aber in die „Grande Nation" hinaufreicht. Es kommt da etwas wie ein „militärisches Empire von unten". Da ist der Schwung des Einfachen, Un-Intellektuellen, die Brüderlichkeit von Menschen, die nichts sind als das. Sie aber können vielleicht geschlagen, sie können nie erschlagen werden, ein nostris ex ossibus ultor ist hier nicht Wunsch, sondern Sicherheit. Der militärische Großerfolg der Levée en masse hat in Frankreich eine Militärtradition des Sieges mit den Revolutionsheeren begründet, welche die französischen Streitkräfte lange begleitet hat, mehr noch: welche immer zugleich auch die Imperialität Frankreichs tragen konnte. Mit der Niederlage von Sedan brach eine neue, eine Gegen-Imperialität in Gambettas Levée en masse auf, nur deshalb ist die Reichsidee in Frankreich damals nicht verloren worden. Und in furchtbarer Konsequenz trug sie zu einem weiteren wahrhaft imperialen Ereignis: zum Widerstand bei Verdun, wo ein ganzes Volk bereit schien, in Millionen zu sterben für seine Freiheit, mehr noch: für sein Reich. Dass eine Demokratie dies vermocht hat, zeugt von einer Kraft der Volks-Triumphalität, die nie verstehen wird, wer da nur Gefallene zählt. Die Demokratie hat ihre Chance zum Imperium, wenn sie zu all dem bereit ist zum Aufbruch aller, zu aller Opfer.

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Militärischer Triumphalismus bedeutet nur allzu oft allein den weißen Helmbusch - dann wird er nicht verstanden. Die ganz große, gemeinsame Anstrengung, der gemeinsame Erfolg ist es, was hier gekrönt wird; und diesen Lorbeer trägt am besten noch immer der republikanische Imperator, für alle, für aller Reich. Für alle Staatsformen, vor allem aber für die Volksherrschaft, kann also der militärische Triumph zur Grundlage ihrer Ordnung werden. Wenn die Gegenwart oft versucht, die Aktionen der uniformierten Staatsgewalt auf die Aufgabenerfüllung von Bestattungsunternehmen herabzustufen, so ist dies nicht nur Abfall von jeder Imperialität, sondern ein Missverständnis aller Staatlichkeit. Der Demokratie bleibt es aufgegeben, nicht in falscher Friedlichkeit den Triumphalismus zu verleugnen, sondern den Bürgertriumph an die Stelle des blutigen Sieges zu setzen. Dabei muss ihr jedoch stets der militärische Großerfolg als Vorbild dienen: Nur wenn in ihren Leistungen etwas ist von der hohen Nacht nach siegreicher Schlacht, nur dann wird der Bürger-General beiden befehlen können - dem Marschall der Gewalt wie dem Obristen des Putsches.

II. Die triumphierende Revolution I . Die „große Revolution44 Aufbruch zu neuer, größerer Staatlichkeit Siege der Gewalt will die gewaltlose Demokratie nicht mehr kennen, doch ihre Friedfertigkeit schreitet keineswegs über alle Gewalt hinweg, auf einer steht diese Demokratie, fest und gerade auf sie gegründet: auf der siegreichen Volkserhebung. Sie ist in ganz anderer Weise ständig gegenwärtig als der größte Schlachtenerfolg, ein lebendiges Lehrbuch des Bürgers; Stalingrad war für die Sowjetbürger nurmehr eine Episode der Russischen Revolution. Die beiden großen Erhebungen der neueren Zeit, die eigentlich allein den Namen der Revolution verdienen, 1789 und 1917, sind Volkstriumphe gewesen und zugleich Gründungen demokratischer Imperialität, wie immer man den Begriff der Volksherrschaft verstehen mochte. Fürsten und Feldherrn mag es gegeben sein zu siegen - zeigt nicht die Geschichte, dass im Letzten nur das Volk reichsgründend zu triumphieren vermag? Grundlegung neuer Staatlichkeit im Großerfolg - das schafft heute eigentlich nur die Volksmacht. Fürsten und Feldherrn mögen Siege erringen, ihre Erfolge haben etwas von der restaurativen Schwächlichkeit einer Reichs-Befestigung, die berstende Bögen halten will; das Volk baut sein Reich ganz neu, über den Trümmern zerbrochener Staatsgewalt. Den russischen und den französischen Revolutionären war eines gemeinsam: Beide haben nicht fortsetzen wollen, sondern erneuern, von den früheren Ordnungen blieb nur das Volk übrig, und dieses selbst war ein anderes geworden, im Be-

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wusstsein einer neuen Mächtigkeit. Alle umliegenden Staaten haben es damals gefühlt, deshalb die Revolutionen bekämpft und geächtet, weil sie nicht irgend etwas Neues brachten, sondern einen „ganz anderen" Staat. Diese neue Bürgergemeinschaft trat auch international mit dem Willen der großen Novation auf: Die Schulden des früheren Regimes wollte sie nicht bezahlen, neue völkerrechtliche Normen suchte sie zu setzen, im Namen der Befreiung. Die Brücken zur alten Staatlichkeit wurden so völlig abgebrochen, wie es nur eine Anstrengung vermag - wenn zum Reich aufgebrochen wird. Die revolutionäre Imperialität ist deshalb die stärkste und überzeugendste, weil sie nicht verändern will, sondern verwandeln, weil sie allein spüren lässt, dass mit ihrer großen Bürger-Ordnung etwas ganz Neues kommt, das in keiner Tradition stehen kann, da außer ihm nichts ist, weder im Raum noch in der Zeit - eben das Reich. Revolutionäre Demokratie ist kein Fortsetzungsgebilde der Herrschaft, in ihrem Anspruch der Herrschaftslosigkeit gerade bekennt sie sich zur Ordnung, dem neuen imperialen Organisationsprinzip, jenseits von allen Befehlen. Mit der überschießenden Kraft eines neuen Imperiums setzt die revolutionäre Demokratie auch an einem anderen Punkt an: Sie öffnet sich geistig, in ihren ersten Phasen vor allem, anderen Bürgern und Staaten. Die Sowjetmacht wurde errichtet mit dem Vereinigungswillen aller Proletarier, der junge Sowjetstaat öffnete sich allen anschlusswilligen Räterepubliken. Die I. Französische Republik erstrebte etwas wie eine imperiale Weltherrschaft der Freiheit, alle freiheitlichen Gemeinschaften erschienen ihr als natürliche Verbündete, ja als Teile dieses größeren Reiches. In diesem Bewusstsein allein, mit erstaunlicher Leichtigkeit, konnte Napoleon das französische Empire mit einem Strahlenkranz kleinerer Staaten umgeben, sein Licht erlosch, als das Feuer der Revolutionen in ihnen von den Parvenu-Fürsten seiner Familie und ihrer neuen Feudalität erstickt wurde. Etwas aber von wahrer Imperialität ist der freiheitlichen Demokratie immer geblieben, eine Leichtigkeit des Zusammenschlusses mit anderen freien Staaten, als Heimstatt für alle, die um der Freiheit willen verfolgt werden. So liegt in der Bereitschaft, auf Souveränität zugunsten überstaatlicher Zusammenschlüsse zu verzichten, etwas von demokratischem, föderalem Staatsdenken, die Vielheit will aus sich die Einheit hervorbringen. Auch wenn es nicht gelingt - der Aufbruch hat etwas Imperiales. Und im politischen Asyl, in der Bereitschaft, nicht nur fremde Bürger aufzunehmen, sondern fremde Gemeinschaften, liegt etwas von der „Öffnung des Reiches", welche auch die politischen letzten Grenzen des „geschlossenen Handelsstaates" sprengt, im Namen der größeren Ordnung. In jeder Asylgewährung will ja die Demokratie „triumphieren im Kleinen", als Reich, über die Un-Gewalt der Fluchtregime.

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2. Die Revolution - militärischer und ziviler Triumph verbündet a) Revolution - immer ein militärischer

Sieg

Die Revolution braucht die Gewalt. In ihr erst wird sie ganz legitim. Darin liegt eine tiefe Rechtfertigung der militärischen Triumphalität durch ihr angebliches Gegenbild, den demokratischen Pazifismus: den friedlichen Kindern und Enkeln der Revolution kann nicht immer nur erzählt werden von neuen Gesetzestafeln und größerer, genüsslicher Freiheit. Die Opfer ihrer Gewinnung müssen in den Tempeln aufgehängt sein, zur Verehrung für alle Bürger. Mag dann übertrieben werden und gelogen, wie in allen Triumphen - etwas Wahres, Unbestreitbares ist für die Revolution nur der große militärische Sieg, will sie nicht im Blut der Terreur untergehen, der „rein internen" Abrechnung zwischen den Klassen. Alles Demokratische ist stets wesentlich illegal, weil es mit früherer Staatlichkeit radikal brechen muss. Deshalb gerade braucht es den großen militärischen Sieg, und wenn er zum Blutbad würde. Nicht nur, damit aufgerichtete Freiheit, die als solche ja etwas durchaus Unbegeisterndes hat, von Barrikadenrauch und zerfetzten Fahnen verhüllt, zum Heiligenbild werde, sondern vor allem, damit die ganz große Gesetzwidrigkeit des demokratischen Aufstandes aufgehoben erscheine im übergesetzlichen Notstand des Volkes, das in Waffen siegt. Ein Misstrauen verdient stets die „unblutige Revolution": dass sie eben doch „alles beim Alten" lassen, dann aber auch rasch in dieses Alte zurückfallen könnte. Selbst wenn „die Zeit reif 4 sein sollte und als Frucht den Bürgern in den Schoß fällt - was sie nicht mit Blut und Tränen, im Schweiße ihres Angesichts erworben haben, wie sollen sie es auf Dauer genießen? Hier unterscheidet sich die müde Staats-Demokratie, welche nur die Abdankung ihrer noch müderen Könige entgegengenommen hat, von der jungen, kraftvollen Volksherrschaft, die nichts kennt außer den Bürgern und ihrem Reich, die länger dauern wird, weil sie imperial begonnen hat, stark genug ist, von dieser ihrer Imperialität vielen kleinen Volksherrschaften noch etwas zu lassen, welche nur in der Sonne militärischer Erfolge der Größeren haben entstehen und bestehen können. Ein Beispiel ist die Amerikanische Revolution, die selten so genannt wird, weil sie von der Frankreichs überschattet worden ist: Sie hat ein größeres Reich gegründet, nicht nur in ihren weiteren Räumen, sondern auch in ihrem größeren, militärisch endgültigen Sieg.

b) Imperiale Endgültigkeit in demokratischer „Revolution zur Ordnung " Der staatsgründende Erfolg beginnt militärisch, er endet zivil - das hat keine Staatsform voller bewiesen als die Völksherrschaft. In ihren Waffen liegt schon das Bürgerhafte, in diesem Sinn ist ihre blutigste Gewalt selbst irgendwie eine „bürgerliche", weitab von der „reinen Militarität" herrschaftsgründender Condottieri. Und

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so, wie sie begonnen hat, setzt sie sich alsbald in zivilen Siegen fort: Den militärischen Sieg verwandelt sie in bürgerlichen Ordnungsbeginn, ihr eigentliches Werk fängt an mit dem Schweigen der Waffen, wenn auch in ähnlichen, oft brutal-militärischen Formen. Das große Problem der imperialen Staatsgründung aus dem Triumph der Gewalt löst heute wohl nur mehr die Volksherrschaft, vielleicht ist dies immer ihr größtes Vorrecht gewesen: die Kontinuität des militärischen Triumphes in den zivilen hinein, das Imperium als Verlängerung der Siege. Was „verlängerter Sieg" bedeuten kann, weiß allein die Volksherrschaft wirklich. Vielleicht ist sie auch darin heute die stärkste aller Staatsformen. In der siegreichen Revolution werden zwei Sehnsüchte Wirklichkeit, deren Erfüllung die Vergebung der Sünden von Blut und Gewalt bringt: Friede und Ordnung. Das Schwert darf ziehen, wer es in die Scheide stecken wird, wer den Frieden auf dem beendeten Bürgerkrieg errichten kann, dem werden dessen Greuel vergeben. Der autoritäre Führertriumph ist oft nur ein militärischer Sieg zu immer neuen Schlachten - bis zum Fall. Die Geschichte hat ihm etwas wie das napoleonische Verhängnis mitgegeben. Die Revolution mordet auf Frieden hin, auf jene Ruhe, in der allein ein Imperium wachsen kann. Darin ist sie Triumph, mehr als nur Schlacht, weil der Triumphzug ganz wesentlich eines ist: ein Schwert in die Scheide gesteckt. Und etwas vom Ziehen, vom Weiterschreiten, hat die siegreiche Revolution an sich, sie „ist" heute zwar ganz und voll, in ihrem Siegestaumel, doch sie weiß, dass nach ihr graue Tage anbrechen, an denen es nicht nur gilt, Beute zu verteilen, an denen politische Beute erst noch gemacht werden muss. Alle Revolution versteht sich als „Fort-Schritt", fort von der Staatsgewalt zur Reichsordnung, in einem Schreiten, das von den Waffen in die Ordnung übergeht. Ordnung liegt in einer Erhebung, die nicht nur angetreten ist mit Bomben und Kanonen, deren Programm nicht nur der Ehrgeiz ihrer Führer ist, die vielmehr ganz und gar Ordnungsstreben war, von ihren ersten Gedanken an. Zu Unrecht hat man ihre Utopismen kritisiert - sie sind ihre Kraft, in ihnen unterscheidet sie sich imperial von den Offizieren, welche nur ihre blanken Degen kennen und Schlachten. Utopie - das ist die reine Ordnung, unbefleckt von der Wirklichkeit; und wenn sie vom Blut befleckt ist, so wird aus dem glatten Weiß der Lilienfahne die farbige Fülle der Reichstrikolore. In der Utopie demokratischer Revolutionäre ist viel an politischem Glück verspielt worden, begonnen hat in ihr immer eines: ein Reichsdenken, in „Ordnung an sich". So schafft die Demokratie ihre großen Reiche - welches Paradox! - in höchster Steigerung gerade dessen, was sie so völlig verwirft: Ihre Utopien sind stärker als die Rationalität ihrer Staatsform; ihre Gewalt blutiger als ihr Pazifismus, in der Verbindung beider aber triumphiert sie. Und weil alles, was Triumph bringt, zum Reich führt, ist der Volksherrschaft all dies verziehen, solange es im Großen geschieht.

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3. Die „große Verfassungsstunde" - ein demokratischer Triumph? a) Revolution durch Normen Eigentlich müsste der große Verfassungstag, der Neubeginn in Volksherrschaft, etwas Triumphales haben in der Demokratie, etwas wahrhaft Imperiales. Würdige Verfassungsväter, mit oder ohne Perücken, verkörpern doch etwas Sénatoriales, worin die Revolution zur Ordnung findet. Warum also nicht sie feiern une} ihr Abstimmungs- und Unterschriftenwerk, warum militärische Volkssiege verlangen, Köpfe auf Piken? i Sicher - den Tag der zivilen Machtergreifung als Großerfolg gibt es auch ohne Gewalt und Blut; der Marsch auf Rom, der Tag von Potsdam und die Rückkehr de Gaulles an die Macht im Jahre 1958 - all das waren Aufbrüche auch zu einer Imperialität. Diesen drei Bewegungen, so unterschiedlich sie waren, ist eines gemeinsam: das Paramilitärische, der unblutige Schlachtensieg. Der Umbruch von 1933 hätte ohne die SA und ihre Uniformen nicht zu einem III. Reich geführt, die Treue der französischen Generäle und ihre Truppenbewegungen um die Hauptstadt haben dem General etwas von revolutionärer Triumphweihe verliehen. Der rein parlamentarische Triumph, wie groß er auch sei - hätte er solche imperiale Siegesstimmung verbreiten können? Hier lag auch die Berechtigung der Kritik des orthodoxen bolschewistischen Kommunismus an allen eurokommunistischen Illusionen von parlamentarischen Machtergreifungen des Proletariats: Eines konnten sie nie bringen, wären sie überhaupt möglich gewesen: die totale Vernichtung der Gegenmächte, den endgültigen, unbedingten Großerfolg, den aber die Wahrheit des Kommunismus brauchte, der allein sie beweisen sollte. Rein zivilen Verfassungsrevolutionen fehlt die Bluttaufe, sie sind neue Ordnung, nicht Revolution. Hier zeigt sich, wie sehr auch gegenwärtiges Denken von einem Triumphalismus geprägt ist, der sich vergeblich zu verbergen sucht: Der große Verfassungsneubeginn ist Ordnung ohne Sieg, und wenn das kein Triumph ist, wird daraus ein Reich?

b) Das „unmilitärische

Verfassungsrecht"

- Triumph ohne Sieg?

Der tiefere Grund für die Schwäche des größten Verfassungsschlages ist sein völlig unmilitärisches Triumphstreben. Es ist, als solle hier aus dem Reich der Triumph eliminiert werden, oder als werde er bereits in dem Beginn der Ordnung gesehen, in ihr allein. Doch gerade dies ist der große Irrtum: Ordnung aus Erfolg das führt zum Reich; Ordnung als Erfolg ist zu schwach, sie bleibt Postulat, ein Körper, der nie eine Blutswallung gekannt hat, nie ein großes, glückhaftes Fieber.

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Was bringt dieser konstitutionelle Neubeginn anderes als die sofortige Gefahr der Sklerose alles Politischen in Normen, muss nicht gerade hinter der großen Verfassungsnorm die größere Vergangenheit stehen, welche sie rechtfertigt? „Alle Gewalt geht vom Volke aus" - diesen Satz hat normative Kurzsichtigkeit bespöttelt; sie konnte nicht begreifen, dass in ihm demokratische Staatsgründung liegt. Die Gewalt geht vom Volke nur deshalb aus, immer weiter, stets von neuem, weil sie an einem großen Tag siegreich von ihm ausgegangen ist. Je größer die Verfassung, desto mächtiger müssen die Groß-Erfolge sein, welche hinter ihr stehen, das Bild einer revolutionären Verfassunggebung ist nichts als ein Dokument langweiligen Staatsnotariats, wenn nicht zu den Toren die siegreichen Revolutionsgarden hereindrängen. Nun mag man einwenden, die demokratische Volksbegeisterung stehe doch hinter den Verfassungsvätern, durch sie spreche das wogende Volk, in ihren Worten liege daher der einzig mögliche Volkstriumph: der universelle Konsens. Soll das wirklich genügen, darin demokratische Triumphalität sich ausdrücken? Dieser „Erfolg" ist doch wieder nur durch eine andere Norm dekretiert, nicht durch einen Sieg konstituiert. Triumphalismus aber bedeutet, dass im Politischen der Glaube allein nicht selig macht, dass sie an ihren Erfolgen erkannt werden, die Triumphatoren und ihr Reich. Die Verfassungsväter mögen etwas haben von Propheten - wie oft allerdings sind sie nicht die Mittelmäßigsten aller - doch auch die Propheten des Alten Bundes bedurften der Zeichen und Wunder, Jahwe musste ihnen Sieg geben, Erfolg, Heimführung, den großen Triumphzug der Bundeslade. Soll man ohne Triumph an die Normen erlassenden Konsensträger verfassunggebender Versammlungen wirklich glauben? Oder muss man sich begnügen mit dem „Triumph der Worte", mit den wuchtigen staatsrechtlichen Formeln, in welche die neue Ordnung gegossen erscheint, was nützen sie als solche dem Volk und seiner Herrschaft? Merkwürdig - wo das Volk wirklich triumphiert hat, bedurfte es kaum der Proklamation der Volkssouveränität, ihre späte Nachholung in der III. Französischen Republik im Jahre 1884 beweist es, und der normative Gehalt solcher Deklamationen ist stets bezweifelt worden. Das Staatsrecht steht, in allen Ländern, immer in der Gefahr des rein verbalen Triumphalismus, doch hier muss es sich mit der größeren militärischen Erfolgs-Elle messen lassen. Da ist nur eine Chance: dass den großen Worten große Taten folgen werden - Triumphalismus ist das Gegenteil, große Taten in großen Worten gefeiert. Was aber gibt es hier zu feiern, wo nur Papiere ausgefertigt werden, Wechsel auf eine unsichere demokratische Zukunft? Verfassungsfeiern haben immer etwas Schales; da ist doch noch besser die ewige Kranzniederlegung am Grab des immer unbekannteren Soldaten, die Verfassungstage sind ein an Langeweile kaum zu überbietendes Staatstheater. Der militärische Maßstab weist dem normativen Erfolg der Verfassunggebung seine Bedeutung, sie ist kleiner als die der zivilen Großerfolge, welche der siegreichen, blutigen Revolution folgen. Wer das Reich will, braucht mehr als formale

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Erfolge; wenn der Triumphalismus einen Beweis antreten kann, so den, dass ohne seine siegreiche Mächtigkeit - nichts als Staatsrecht bleibt. Seine Vertreter haben sich immer den Triumphen rasch und vollständig gebeugt, es war ihnen nie gegeben, sie zu bringen oder auch nur triumphal weiterzudenken. Gerade weil diese emsigen Ordnungstechniker der Macht stets am Werke sein müssen, soll ein Reich ausgebaut werden, deshalb muss es aufgebaut werden von Menschen, die triumphieren können - in Siegen. Wenn Verfassungen etwas bedeuten sollen, so vergesse man nicht, dass es Siegesgöttinnen sind, aus deren Händen sie herabgleiten, wie eine selbstverständliche Beurkundung des Triumphs!

4. Die große Freiheit - ein Triumph der Demokratie In demokratischen Verfassunggebungen und ihrer nachfolgenden Ordnung sollte eigentlich so gar nichts Triumphales liegen, wenn sie nicht geschrieben sind mit dem Blut der Revolutionäre. Und doch - etwas von imperialer Mächtigkeit haben sie in sich getragen, selbst in der notariellen Bescheidenheit ihrer Ordnungsbeurkundungen. Offenbar liegt in ihnen etwas, wie Tore zum Reich, auch ohne Blut und Gewalt; heute gerade öffnen sie sich, ihr Angelpunkt ist einer: die große demokratische Freiheit. Nur wo sie ganz mächtig aufbricht, erreicht sie Triumphalität. Dass die „kleine Freiheit" nichts ist als eine Phase vergänglicher Staatsgewalt, dass über der großen aber stehen kann: „Hier beginnt das Reich der Freiheit", das sei nun Gegenstand der Betrachtung.

a) Freiheit an sich - Sieg oder Genuss? Ein großer Verfassungsneubeginn, der die Revolution in Normen hinter sich lässt, trägt in sich nicht genug von der Kraft des Triumphes - zumindest im formalen Sinne. Kommt ihm solche Mächtigkeit aber nicht allein schon aus den Inhalten der siegreichen Revolution, die sich fast immer in ein Wort fassen lassen: große Freiheit? Die Frage muss hier lauten: Ist diese Bürgerfreiheit nicht an sich schon siegreiche Revolution, bedarf sie des spektakulären Erfolges der Barrikaden und gestürzten Festungen? Ist Freiheitsgewinn nicht so groß als politischer Erfolg, dass er den Triumph in Aufstand und Blutvergießen nicht nötig hat, ist sich die Freiheit nicht selbst Triumph genug? Hier kommen wiederum aus der Fragestellung des Triumphes tiefere Einsichten, in das Wesen der Freiheit. Wird sie revolutionär errungen, so ist es die ganze, die große Freiheit, die nun gelten soll, sie wird proklamiert, nicht normiert, erst später mag sie sich, in Grundrechtskatalogen kanalisiert, im Kleinen über alles verbreiten und verteilen. Das Staatsrecht hat die Freiheit nie als Einheit zu erfassen vermocht, im Triumph der Revolution ist sie immer ganz eine. Die Größe des Ereignisses hat 9 Leisner

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sie in diesen Stunden wie sie der Triumph braucht, und das Feiern: Kaum ein Schlachtenerlebnis war so zündend wie der Fall Jahrhunderte alter Privilegien in der Pariser Nacht zum 4. August 1789. In Schulstunden und Sonntagsreden kommt immer wieder etwas von dem alten Pathos der Freiheit zurück; mag sie auch zur Alltäglichkeit geworden sein, klein, vielfältig, nutzlos - die alte Virtualität ist stets noch in allem, was diesen Namen tragen darf, hinter jedem Grundrecht steht das größere Mutterrecht, wie es das Staatsrecht schön und treffend genannt hat. Selbst begrabene Freiheitshoffnungen stehen dann wieder auf, in dem einen, großen früheren Ereignis waren sie Wirklichkeit, doch immer bleiben sie lebendige Hoffnung. Wäre da nichts Triumphales? In der Feier bleibt etwas davon, im Staatsstolz auf dieses Wort, und mag es noch so sehr zur müden Staatsselbstverständlichkeit geworden sein. Liegt denn nicht in der Liberias etwas wahrhaft Sieghaftes, wirft mit ihr nicht der Bürger die Staatsgewalt, den großen Feind, aus seiner Burg hinaus in die Außenbezirke der Macht? Oft mag er sich zwar selbst fühlen wie in einer dauernd belagerten Festung, von immer neuen Anschlägen der Obrigkeit heimgesucht; weiß er aber nicht, dass der letzte Mauerkranz halten wird, der Wesenskern einer Freiheit, von der eben „etwas bleiben muss", ist der Angriff darauf nicht endgültig abgeschlagen - und wäre dies kein Triumph? In all dem liegt ein ganz großer Erfolg, und er wäre sicher ein Sieg zum Triumph, käme nicht mit der Freiheit immer zugleich das ganz andere, das völlig Untriumphale: der Rückzug in den bewegungslosen Genuss. Freiheit ist ein Erlebnis, aber liegt dies nicht nur im siegreichen Augenblick ihrer Gewinnung, in der Hoffnung auf die unbegrenzten künftigen Möglichkeiten ihrer Nutzung, ist sie in diesem Erfolg selbst endgültig - oder nichts als ein großer Blankoscheck, den der Bürger nun täglich auszufüllen hat? Triumph als Auftrag - das ist sicher ein Wort, aber nicht das ganze Triumphieren. Das Abgeschlossene, Endgültige allein bringt die Staatsgrundlage, das, was als solches bleibt, nicht etwas, das täglich nicht nur neu zu erringen, sondern überhaupt erst zu realisieren ist - nur zu oft im Genuss. Denn dies ist eben, gerade aus triumphaler Sicht, das Grundproblem der Freiheit: dass sie zum Genuss drängt, zum Alleinsein, zu einem Privaten, dem die Macht des öffentlichen Großerfolges fehlen muss. Die eroberte Bürgerfreiheit nach siegreicher Revolution verwandelt für Augenblicke diese Privacy in eine öffentliche Mächtigkeit, doch dann fällt sie wieder zu den Bürgern zurück, in ihre tausend kleinen Häuser, dort wird sie genossen - verbraucht. Nicht nur ihr Fehlgebrauch verkleinert sie, hebt sie auf; dass sie überhaupt so ganz individuell genossen werden kann - und darin liegt doch ihr höchstes Ethos - ist etwas zutiefst Untriumphales, Siege finden eben nicht in Wohnküchen statt. Gefühlt hat dies jener Kommunismus, der nur eine Freiheit kennen wollte, die kollektive. In seinen befohlenen oder hervorgerufenen Aufmärschen und anderen „Demonstrationen politischer Freiheit" wurde diese politische Libertät nicht nur „größer" durch die Masse ihrer Träger, sie blieb triumphal als eine „öffentliche Freiheit".

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Wenn also die Demokratie meint, in der Freiheit als solcher bereits den unblutigen Sieg ihrer Revolution auf Dauer feiern zu können, so darf sie nicht vergessen, dass sie all dies immer wieder zum öffentlichen Freiheitserlebnis steigern muss. Staatsgründende Großerfolge lassen sich eben nicht nur vor Richtertischen feiern, wenn dort der große Staat vom kleinen Bürger besiegt wird im Namen der Freiheit, und auch nicht nur in genüsslichen Ferienerlebnissen, welche der Freiheits-Staat zulässt oder gar bezahlt. Selbst wenn das Freiheitsbürgertum nicht im Sozialbürgertum untergeht - genossene Freiheit ist kein Triumph; Ungebundenheit, die nur groß war in großer Genusshoffung, gründet keinen Staat.

b) „ Freiheit durch Sieg " - ein Weg zum Reich Dennoch gibt es etwas wie das „Reich der Freiheit" - und vielleicht wird sich am Ende zeigen, dass das Wesen des Imperiums in der großen Freiheit liegt, in welcher seine Vielfalt durch eine Ordnung gehalten wird, die sich eben nur über Freiheit wölben kann. Fragt man aber nach dem Ausgangspunkt, nach dem dynamischen, weiterwirkenden Triumph, so mag auch dort Freiheit stets begegnen; doch die Demokratie muss wissen, dass es eine streitbare bleiben muss, weil nur sie einst hat triumphieren können, weiter staatsgrundlegend wirken kann, reichsgründend. Demokraten müssen sich daher zur revolutionären Freiheit bekennen, mit all ihren anarchischen Schwächen und Gefahren. Reichsgründend, weil triumphal, kann eine solche Freiheit nur sein im Sieg über den Tyrannen, in einer militärgleichen Niederlage der Unfreiheit, welche die Libertät zur Errungenschaft macht. Der Bastille-Sturm war politisch unnötig, aber er bedeutete das notwendige triumphale Ereignis, den militärischen Sieg der Freiheit, und mochte es im Grunde ein Marionettenerfolg sein. Denn der verfassungsmäßig fundierten Freiheit ist eben stets der Auftrag zu ihrer Weiterentwicklung eigen, sie bedarf des plébiscite de tous les jours, sie ist selbst ein solches. Dies aber ist schon untriumphale Demokratie, das „Errungene" wird in Frage gestellt, es muss sich täglich dem Wort der Liberalen stellen: „Wenn wir nicht diskutabel sind, sind wir nicht wahr" (Léon Bourgeois). Ihm fehlt die Wahrheit der siegreichen Legionen, mehr noch: die Endgültigkeit. Wohl haben die Demokraten gefühlt, dass hier Gefahr lauert, und so beschwören sie ständig die Ewigkeit, die Alternativlosigkeit ihrer Staatsform, jene Freiheit, nach der „nichts kommen kann als wieder Freiheit". Doch die Historie zeigt es eben anders, im Begriff der Freiheit als solcher liegt noch nichts Endgültiges, es sei denn, sie steige vom hohen Berge eines gewaltigen Sieges herab, mit einem Schwung, den kleine Caudillos nicht aufzuhalten vermögen. Dies ist die unaufhebbare Schwäche der südamerikanischen, einer echten Freiheit: dass sie politisch nie auf Dauer wirken kann, weil sie immer nur ein Abschiedsgeschenk übermüdeter Militärdiktaturen war - oder selbst eine solche. Man mag also für die Freiheit wünschen, dass sie der Demokratie in großen Augenblicken geschenkt werde, und dass man sie in Triumphserien weitertrage, 9*

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von Kraftprobe zu Kraftprobe, gerade sie hat diese ständige Neubestätigung nötig. Wenn es das große, freiheitsstiftende Ereignis nicht gegeben haben sollte, so ist es zu erfinden. Dies ist ein Weg zum Reich, über gestürzte Götzenbilder der Macht, doch sie müssen in Scherben fallen, nicht nur in immer tiefere Kammern verdrängt werden. Die Aufgabe eines neuen Triumphalismus liegt vielleicht gerade darin, dass er der Demokratie das Reich retten muss, indem er ihr eines bewusst werden lässt: dass die Freiheit ein großer Sieg sein muss, und bleiben.

5. Der imperiale Triumph der revolutionären großen Gleichheit Gleichheit, der tiefste Wesenszug aller Demokratie, macht und hält klein; und doch - führt nicht auch hier ein Weg zum Reich? Gibt es triumphale Egalität? Die äußeren Zeichen sprechen wohl dagegen: Was wäre denn endgültig an einer Gleichheit, die sich immer wieder von der Hydra der tausend Unterscheidungskünste bedroht sieht, mit welcher unausrottbare menschliche Verschiedenheit auch in die politische Macht drängt? Hat denn selbst der radikalste aller Gleichheitsschläge, die Russische Revolution, die endgültige, totale Egalität bringen können? Und war sie denn ein Ereignis, nicht etwas, das immer neu gewonnen, immer weiter verfeinert werden musste, in Blutbädern und ständigen Säuberungen? Denn diese Egalität hat, so hoch sie auch gepriesen werden mag, Feinde wie keine andere Staatsgrundlage: Wie sollte sie auf Altäre gestellt werden, wo doch ihre Befestigung täglich neue Diskussionen auslöst? Was ist begeisternd an ihr, wenn sie nur die vertreiben kann, welche ungleich sein wollen, in die Verbannung nach außen oder nach innen? Wäre dies nicht ein Triumphzug, der ununterbrochen über die Leiber anderer Bürger hinweggeht, ein permanenter Bürgerkriegs-Triumph, wo doch ein solches Ereignis im Inneren einen soll, im Namen äußerer Erfolge, ja geradezu den inneren Sieg zu einem äußeren verwandelnd? Und schließlich - wo wäre da „der feste Endzustand", die Frucht des triumphalen Ereignisses, wo doch immer alles neu zu erringen bleibt, was ist vom militärischen Sieg in den Schlägen der Gleichheit, worin gleicht sie der Entscheidungsschlacht, welche vom Gegner nichts mehr übrig lässt? Und doch gibt es etwas wie eine triumphale Egalität, die Geschichte hat es immer wieder gezeigt. Gleichheit bedeutet einen ganz großen, einen geradezu imperialen Befehl, einen Ordnungsrahmen, den nicht erst der Bürger in seiner Privatheit zu schaffen hat, der ihm vielmehr vorgegeben wird durch das große Ereignis des Sieges der Egalität. Denn da ist durchaus etwas vom Ereignis. Nicht die Staatsgewalt wird zurückgedrängt, eine imaginäre Organisation - die Besiegten sind greifbar, jene anderen, die sich über die Gleichen haben erheben wollen. Die großen Revolutionen in Frankreich und Russland, welche begonnen haben im Namen der Freiheit, sie beide haben erst in der Proklamation der Gleichheit ihre wahrhaft triumphalen Stun-

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den erlebt. Mit einem ganz großen Schlag kam eine Endgültigkeit der Errungenschaft, ein Prinzip, das nie mehr rückgängig gemacht werden konnte, das mit politischer Mächtigkeit Unterscheidungsversuche auch noch später in die intellektuelle Unterwelt verbannt hat. In der Gleichheit liegt weder Begründungszwang noch Zukunftshoffnung, sie ist einfach ganz da, ganz ein triumphaler Augenblick, so wie wenn nach siegreicher Entscheidungsschlacht zum Sammeln geblasen wird. Mit der Gleichheit ist etwas geschehen, in der Freiheit wird nur vieles möglich. Die Gleichheit ist ein Sieg, dessen Entscheidung auch anders hätte fallen können, Freiheit ist irgendwie überall, mehr oder weniger. Vor allem: Was lässt sich mehr und glückhafter feiern als die errungene Gleichheit? Sie trägt in sich die Solidarität der Genossen, die Brüderlichkeit der kleinen Leute, welche heiterer ist als der angestrengte Wettbewerb der freien Führungskräfte, auf dem Markt wie in der Politik. Mag noch soviel einzuebnen bleiben nach dem großen Gleichheitsschlag kommt ein Triumphtor in Sicht, über dem stehen darf: „Es ist erreicht". Wo aber stünde geschrieben, dass der Triumphzug Ungleiche eint? An seinem Bild ist Gleichheit: Der Triumphator steht zwar inmitten der vielen Dahinziehenden, hoch erhoben, auf weißem Ross, doch der Triumphzug ist in allem anderen egalisierend, in ihm laufen Freunde und Feinde mit, Wächter und Gefangene, Helden und Feiglinge. Und der Triumphator selbst - er ist eben nicht die Verkörperung des Ungleichen, ihm ist nicht wesentlich, dass er von Feudalherrn umgeben sei. In ihm führt schon eine Idee diese Menge - „der Triumphator ist bereits das Reich", nicht die große Ungleichheit. Denn nun triumphiert der Jedermann - alle. Langsame Nivellierung allein nützt nichts, sie zerreibt. Doch wenn die Gleichheit mit einem Schlag ganz da ist, in der revolutionären Proklamation, oder wenn der Fuß auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten gesetzt wird, dann wird Gleichheit zum Ereignis, nicht nur zum Vorgang, zum großen Atem, nicht zur Atemlosigkeit der immer kleineren Schritte, mit welchen der Achilleus die Schildkröte des Reichtums verfolgt. Es gibt etwas wie eine dionysische Trunkenheit der Gleichheit, sie tanzt mit jedem, sie ist das allgemeine Fest. Demokratie ist groß, wenn ihre Bürger sich zurufen: „Lasst uns in unserem Gleichheitstriumph hineintanzen ins Reich!" Dann ist wahrhaft siegreiche Revolution.

I I I . Tradition als Triumph? Große Erfolge entwickeln ihre eigene Tradition, sie werden darin stärker, dass die Nachwelt sie feiert, besingt, in immer weitere Höhen hinauf - lebt. Siegesserien werden dadurch zum Großerfolg, dass sie in ihrer Zusammenfassung den kleinen Erfolg zum Triumph steigern, dass sie in Beständigkeit zum Reich emporwachsen. Von all dem war schon die Rede, hier aber stellt sich noch eine andere

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Frage: Ist Tradition als solche eine Erscheinungsform des Triumphes, kann der Großerfolg in reiner Fortsetzung wachsen, aus dem Nichts oder doch aus ganz Kleinem, Bescheidenem? Wer nicht siegen kann - hat er die Chance, zu triumphieren „nur in Dauer"?

1. „Reine Tradition" - das wesentlich Untriumphale Wer von seiner Ordnung nur sagen kann, sie habe lange bestanden, nie aber gesiegt, wer den großen Anfang nicht zeigen darf, der vermag nie etwas Imperiales zu legitimieren - das sei eine These dieses Kapitels. In der Tradition allein, und sei es die längste und stärkste, ist nichts mehr von einem Ereignis fühlbar, ihr Wesen liegt darin, dass alles Ereignishafte aus ihr verschwindet. Zweihundert Jahre Demokratie in Amerika - das bedeutet eine imposante, ununterbrochene Tradition, für das Staatsrecht etwas wie eine technische Legitimation kontinuierlicher Machbarkeit. Doch politisch begründet es so wenig wie die langen Traditionen parlamentarischer Unregierbarkeit, von der III. Französischen Republik bis zu der schier ewig scheinenden Agonie des italienischen Parlamentarismus. Ob effizient oder nicht - hinter all diesen „reinen Traditionen" steht nur eine Überzeugung: dass man eben „immer wieder mit allem fertig werden konnte", sie hat die Legitimationskraft der feudalen Ahnenbilderreihen; mag noch so viel vergehen, das Reich besteht ja - aber eben auch nicht mehr. Dabei wird dann kaum mehr bemerkt, dass auch dieses Bestehen immer um ein Weniges schwächer wird, weil das große Ausgangsereignis nicht mehr hinter der Ordnung steht, an dem aber die Tradition gemessen werden muss, aus dem allein heraus sie wachsen kann. Gegenwart verwirft die Tradition ebenso leichthin wie den Triumphalismus, Tradition kann ihr nichts mehr bedeuten, wenn sie den Triumphalismus verlernt. Denn jene „hergebrachten Grundsätze", welche dann so rasch zu hergeholten werden, tragen alle Schwächen der unverdienten, nutzlos werdenden, belastenden Erbschaft vor allem deshalb in sich, weil vor ihnen nicht immer das triumphale Maß des Großereignisses steht, an dem sie wachsen könnten. Mitgeschleppt wird eine Tradition deshalb, weil sie untriumphalistisch geworden ist, weil ihre Verkrustungen kein Brot mehr sind für triumphale Gelage. Die „reine Tradition" hat Kraft nur noch darin, dass sie die öde Frage nach dem stellt, wer es besser machen kann. Doch eine solche „Herrschaft des in dubio" reicht auf Dauer nicht einmal zur Staatlichkeit, vom Reich ist sie weit entfernt. Rückschrittlich wird sie gerade deshalb, weil sie sich an keinem Ereignis mehr im Rückblick zu orientieren vermag. Eine gefährliche Reichs-Lektion haben die Deutschen mit ihrem sterbenden Römischen Reich gegeben, mit jenen Ordnungen der reinen Tradition, mit ihren Verzunftungen der römischen Siege. Und darin kann der Feudalismus so leicht der Anfang vom Ende des Reiches sein, dass er reine Tradition installiert, wo doch nur Siege helfen können; das Verhängnis Napoleons war es, dass er ein Reich der Kö-

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nigsbrüder schaffen wollte, wo doch nur Austerlitz-Stunden Kraft gaben; allzu gut hatte er die schlimme deutsche Reichslektion gelernt. Reine Traditionen sind ansteckende politische Krankheiten, der Aufbruch zum Triumph ist ihre Überwindung. Fortsetzungsgeschichten - das ist kein Reichsepos. Lebendig bleibt und wird Tradition nur auf dem Hintergrund eines großen Sieges.

2. Wahre Tradition - „alles in einen Großerfolg integriert" So gilt es denn, wieder die wahrhaft triumphale Tradition zu erlernen, denn eine solche gibt es. Sie liegt im Fortleben des Großereignisses ebenso wie in den Siegesserien, doch ein Drittes sei hier noch besonders betont: die integrative Kraft des Triumphalen in der Tradition. In saecula saeculorum, das ist eine gewaltige triumphalistische Formel, aber nicht nur in zeitlichem Geltungsanspruch, sondern vor allem in ihrer zusammenfassenden Kraft. Das Großereignis war ein Anfang, aber es hat so viel hervorgebracht, dass eine neue politische Lebensstimmung entsteht, in welche viele Bäche wie in einen großen Strom einfließen können: ökonomische Erfolge und kulturelle Glücksstunden, und die Staatskunst, welche Schlachten besingt und wirtschaftliche Expansionen nachbildet - all das schafft eine wahre Staatsgrundstimmung im Namen des triumphalen Ereignisses, aber mit einer sich verselbständigenden Pracht großer Tradition. Da können dann alle Erfolge zusammengefasst werden, militärische und zivile, der eine festigt den anderen, das vergossene Blut wird vergeben und überwunden im friedlichen gemeinsamen Glück. Die Tradition ist „alles in allem", kein Begriff ist unklarer, aber von größerer virtueller Kraft. Dem Staatsrecht ein Ärgernis, weil unfassbar für seine normativen Mechanismen, erscheint sie doch wie ein Deus ex machina, immer dann, wenn kein einzelner politischer Wille mehr weiterhilft, oder wenn er nicht mehr fassbar ist. Und ein Gott ist diese Tradition wirklich, solange die Erinnerung eines großen Sieges sie still begleitet, mag man auch in ihrem Namen nie von ihm sprechen. In dieser Verselbständigung der Tradition wird der Triumph selbstverständlich, das war die Größe des imperialen England. Da wurden nicht Siegesserien mühsam aneinandergereiht, alles war nur Fortsetzung einer Tradition, aber eben dessen, was die Wappen bezeugten: des einstigen großen Sieges. Und dies ist auch die Bedeutung der Wappen-Idee im Reich, deshalb ist immer so viel Imperium wie da Wappen sind: Weil das Symbol der triumphalen Tradition allem und jedem aufgeprägt werden kann, so wie es in England war, weil die große Integrationskraft des Triumphs sich in jenem Herkommen zeigt, das auch „zu allem kommt", alles in Imperialität erreicht. Eine solche integrative Tradition aus Großereignissen heraus lässt sich dann feiern - als solche, und man kann das Ereignis vergessen. Was ist denn wahre Traditi-

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on anderes, als dass Vergessenes gefeiert wird, als dass sich die Feier um sich selbst dreht? Doch Demokraten sollten eines wissen: Ihre Macht mag noch so lange vom Volke ausgegangen sein - sie ist so schwach wie ein vergehender Tag, wenn nicht die Sonne eines Triumphs bis in ihre späteren Nächte hineinleuchtet.

3. Größte Triumphalität aus der größten der Traditionen - das Zweite Rom Eine Tradition nur gibt es, die sich im dauernden Triumph um sich selbst dreht, wie ihr schaffender Gott: die Weltkirche, das Zweite Rom. In ihr ist nicht nur Triumph Tradition geworden, Tradition steigert sich selbst zum Triumph. Die Katholische Kirche hat stets mehr gebraucht, um ihre riesigen Bögen zu halten, als Glauben und Werke, als Buchstaben und Geist. In einer riesigen Tradition hat sie all ihre Großerfolge über Jahrtausende hinweg hinaufgewölbt, immer an einem Maß: dem der Menschwerdung des Herrn, der fortdauernden Erlösung in seiner auf Erden gegründeten Unfehlbarkeit. Da waren die militärischen Erfolge, von Attilas Rückzug vor Rom bis nach Lepanto, nur eine einzige Tradition, eine große Milvische Brücke. „In hoc signo vinces", ohne diese militärische Siegesgewissheit, die bis in die Palmen des Märtyrertums hineinreicht, in denen die sterbenden Legionäre ihren wahren Triumph feiern - keine kirchliche Größe wäre denkbar; in Selbstverständlichkeit hat all dies eine geistliche Macht übernommen, die „nicht nach Blut dürstet". Zivile Triumphe konnten da gefeiert werden, wenn die Pax Romana in der geistlichen Herrschaft fortgesetzt wurde, bis hinein ins genüssliche Lebenlassen unter dem Krummstab. Die Kirche hat in Rom auch und von jeher die dolce vita unzähliger Prozessionen, Feiern und Gelage hineingenommen in ihre Triumphalität, so wie ganz natürlich das Allerheiligste von den Hellebarden der Schweizer Garde begleitet wurde. Wirtschaftliche Triumphe, ein glückliches, reiches Leben in den geistlichen Fürstentümern Deutschlands, war all dies nicht eine ganz natürliche Triumphalität im Namen dessen, der an die Lilien des Feldes erinnert hatte und der nur um das Tägliche Brot gebeten wird? Warum sollte es nicht genügen, wo doch Sein Triumph heute gefeiert wird, jeden Tag von neuem, im Sakrament? So lange ist diese Tradition, dass alle Einzelheiten, welche sie so zusammenfasst, vollends in ihr verdämmern, dass keines der einzelnen Elemente mehr diskutiert zu werden braucht. Da bleibt es gleich, wer die Türken besiegt hat, wo doch dies alles nur einer der vielen Triumphe der Madonna war, der Königin der Kirche; jene Frau hat gesiegt, von der gesagt werden konnte, dass sie alle Irrlehren getötet habe, geistige und militärische Triumphe zugleich feiernd, in allem stets immer nur einen: den des Großereignisses, ihres Sohnes auf Erden. In dieser Tradition wird alles eindeutig, gerade durch sie. Die vielen einzelnen Siege, mit Schwert oder Griffel errungen, wachsen aneinander hinauf, umfassen

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sich gegenseitig, alle geistig überhöht von dem einen Großereignis der Erlösung; und warum wollte man es einer solchen Kirche verdenken, dass sie Kanonen gesegnet hat? In solcher „Tradition als Triumph" erst wird eines wirklich verständlich, in dem man immer das Symbol dieser Kirche gesehen hat: die Kuppel. Nicht aus einem einzigen Ereignis heraus kann sie sich hinaufwölben, zu einem einzigen Triumph wölbt sie sich hin, dem des Kreuzes. In ihr wird alles von allem gehalten, in der höchsten Integration einer Tradition, die nie einstürzen kann, diese Todesängste des Michelangelo sind mit ihm gestorben. Über den Nationalstolz ist viel Gutes gesagt worden und Schlechtes; sicher ist, dass auch in ihm „reine Tradition" lebt, eine triumphalistische Begeisterung, die eigentlich nicht mehr weiß, worauf sie stolz ist. Die große Kirche aber weiß es, und darin unterscheidet sich ihre Traditionalität von allem Nationalstolz dieser Erde. Ihre Tradition hat sich verselbständigen können zum immerwährenden Triumphzug, zur Feier als Triumph in der Wiederholung der erlösenden Tat - weil über ihr, nicht hinter ihr, stets der Eine bleibt, der einst auf Golgotha triumphiert hat, der alles kleine Menschliche hineingenommen hat in den großen Triumph seiner Gottheit, seines Reiches. Solange davon noch etwas bleibt auf Erden, ist Tradition Triumph, bleibt ein Triumphbogen stehen, zur Reichsidee.

IV. Der ökonomische Triumph 1. Das Wirtschaftswunder - ein staatsgründender Sieg? Der Triumph unserer Tage ist der wirtschaftliche Großerfolg - in diese These könnte man wohl eine heute nahezu allgemeine Meinung zusammenfassen. Wenn überhaupt noch etwas wie ein Triumphalismus gegenwärtig anerkannt wird, so ist es die ökonomische Begeisterung. Sie mag nicht immer den Wegen gelten, auf welchen der große wirtschaftliche Sprung nach vorne gelang, sie verneigt sich um so tiefer vor dessen materiellen Ergebnissen, welche sie im Aufschwung eines modernen ökonomischen Neo-Humanismus sogar in geistige Münze wechseln will. Deutsche haben einen besonderen Anlass, über diesen Triumphalismus nachzudenken, und viele haben in diesem Land über ihn versucht, etwas von ihrem verlorenen politischen Reich wieder zu beleben. Die Deutsche Republik von Weimar war dem Untergang geweiht, weil sie aus dem militärischen Misserfolg erwuchs, und weil ihr der ökonomische Triumph versagt blieb. Erst in der Inflation ging der Erste Weltkrieg endgültig und greifbar

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verloren. Die neue Republik suchte nach jedem Triumph, der sich ihr zu bieten schien, sie hat ihn gefunden ... Dass der ökonomische Großerfolg den militärischen Sieg ersetzen kann, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, weil eben auch er ein mächtiges politisches Faktum bedeutet, das hoffte man damals schon, und nach der zweiten militärischen Katastrophe schien es sich erneut und diesmal im Großen zu erweisen. Noch so eifrig mochte die Bonner Republik ihre Staatsgrundlagen in antifaschistischer Vergangenheitsbewältigung suchen - ihre eigentliche Basis lag im ökonomischen Erfolg, mit dem Worte „Wirtschaftswunder" hat sie ihn in die Höhe des Triumphalismus zu heben versucht. Viel Missbehagen war stets um diesen Begriff, antitriumphale Bescheidenheit der Geschlagenen; doch schließlich wurde und wird er noch immer angenommen aus einem wohl nur gefühlsmäßig bewussten Grund: Hier ist das einzige Feld, auf dem Deutschland noch zu triumphieren vermag; wenn es nach dem totalen Verlust des Reiches wenigstens wieder zum Staat werden wollte, so bedurfte es eines mächtigen Hebels, der sonst vielleicht ein Reich hätte entstehen lassen. In diesem „Wirtschaftwunder" wird vieles, ganz unmilitärisch, deutlich, das aber jeden Triumph ausmacht: das Spannungsverhältnis zwischen Ausgangspunkt und Erreichtem, zwischen der wirtschaftlichen Vernichtung und einem hohen Wohlstand; die absolute Größenordnung der wirtschaftlichen Fortschritte, der gewonnenen Reichtümer; nicht zuletzt aber ein Drittes, das all diesen Fakten erst den politischen Schwung, den triumphalen Wert gibt: das Bewusstsein, dass hier etwas wie ein später Sieg errungen worden ist, dass sich jene Virtus, welche immer Imperien gegründet hat, auf Schlachtfeldern hat niederbomben lassen müssen, dass sie aber ihre Auferstehung in der deutschen Tüchtigkeit des Wirtschaftswunders hat feiern können. In diesem Wort liegt eben etwas von dem alten „Und ihr habt doch gesiegt". Nicht nur die Kriegsteilnehmer mögen so gedacht haben, auf welche dieses Wirtschaftswunder zurückführt, auch eine junge Generation hat es ganz selbstverständlich geglaubt, gerade weil sie von Triumphen und Niederlagen der Vergangenheit nichts mehr wissen wollte. Hier wurde mehr gesucht und auch gefunden als die Identität einer geschlagenen, geteilten Nation, mehr auch als die Rechtfertigung für irgendeinen staatlichen Mechanismus, der als Herrschaftsform immer geschaffen worden wäre - hier war imperialer Triumphalismus lebendig, die Überzeugung, dass das „deutsche Wesen" großräumig Vorbilder setzt und, wenn es schon nicht beherrschen kann, so doch seine Kräfte nahezu ungemessen zu exportieren vermag: Die zuzeiten wahrhaft imperiale Begeisterung deutscher Entwicklungshilfe zeigt es wohl. Ob hier eine Art von Fortwirkung des früheren politischen Reichsdenkens ins Wirtschaftliche hinein lebendig war, oder Hoffnungen einer wahren Neugründung auf wirtschaftlicher Grundlage - was macht es schon aus? So mächtig war dieses Erfolgserlebnis, so zutiefst triumphalistisch, dass ein Teilgebilde, wenige Jahre nach der totalen militärischen Niederlage, seinen „Gegen-

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Triumph" gar noch auf Europa ausdehnen zu können glaubte, indem sich gerade dieses Land als ein wahrhaft imperialer Motor europäischer Einigung fühlte - und diese wurde nicht zuletzt deshalb von den anderen Partnern immer wieder mit Misstrauen beantwortet, weil auch sie in diesem ökonomischen Wunder doch wieder etwas sahen wie ein - Reichs-Wunder. Auch darin schließlich zeigt sich die wahrhaft reichsgründende Gewalt ökonomischer Phänomene an diesem deutschen Beispiel, dass dieses „Wirtschaftswunder" heute bereits Legende geworden ist. So mag es sich denn auch abschwächen, vielleicht verlieren; als großes Beispiel lebt es fort, und längst nicht nur in der deutschen Nationalökonomie, welche aus dieser Vergangenheit Lehren, oft allzu sehr vielleicht Rezepte für neuen Aufschwung gewinnen wollte. Am stärksten ist seine Wirkung in dem, was zutiefst triumphal ist: Das alles hat es geben können, diese epische Zeit ist Wirklichkeit gewesen, warum sollte sie nicht zurückkehren, noch immer gegenwärtig sein? Man hat die Bürger des Wirtschaftswunders belächelt - zu Unrecht: Etwas von dieser neuen, triumphalen, wahrhaft imperialen Sicherheit liegt in allen Deutschen, sonst hätte es Bonn nicht gegeben.

2. Vom Sieg zum Gewinn: ein pazifistischer Triumph Die „Friedensbewegungen" seit den frühen achtziger Jahre haben nur etwas klar ins Bewusstsein gehoben, was sich seit langem vorbereitet, seit Generationen vielleicht: Das Ende der militärischen Triumphe durch die Vernichtungswaffen, von den Schlachtfeldern zu den Feldern der Schlächter. Das kaiserliche Entsetzen auf der leichenübersäten Walstatt, von Solferino bis zum Wilhelminischen „das hab' ich nicht gewollt" - unsere Zeit hat dem nur noch die Atombombe hinzugefügt. Doch gerade dann gibt es nur eine Lösung, außer der sinnlosen Flucht in Paradies-Utopien: Die Verlagerung der Siege in die Gewinne, die Verwandlung der physischen Aggressionen in ökonomischen Wettbewerb. Die ökonomische Friedensbewegung der Konkurrenz, die einzig wirksame, welche es je gegeben hat, ist Jahrhunderte alt und übertrifft heutigen Pazifismus vor allem in einem: Sie hat nie den Sieg eliminieren wollen, sie hat ihn nur verlagert, die reichsgründende Kraft des Triumphs hat hier politische Mächtigkeit behalten, mit welcher allein sie Schlachten zu verhindern vermag, zu ersetzen vielleicht. Pazifismus wird immer daran gemessen werden, ob er sich einen Sinn für Triumph hat bewahren können, und da genügt es nicht, Waffen in Pflugscharen umzuschmieden, welche man sodann in schwungloser Bedürfnisbefriedigung parallel über endlose Felder zieht: In Hämmer müssen sie heute verwandelt werden, mit denen der eine besser schmiedet als der andere, denn die Menschen wird es immer wieder hinziehen zu etwas wie einem Reich, doch dieses hat nicht begonnen auf den Äckern von Rom, sondern auf jenem Forum, dem Marktplatz des Wettbewerbs.

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Und die Verlagerung von den Waffen zum Wettbewerb ist ja kein „alles oder nichts" - imperiale Völker suchen ihren Triumph, ihr Reich in beidem, im militärischen Erfolg und in seinen ökonomischen Fortsetzungen oder Ersetzungen, von der Eroberung sibirischer Weiten durch russische Kaufleute bis zum Konkurrenztriumph im weiten amerikanischen Westen, vom großen Handel Englands bis zum Wirtschaftsimperialismus der Vereinigten Staaten. Sombarts „Helden gegen Krämer" war als Ausdruck des Patriotismus enger deutscher Professoralität verzeihlich, unverzeihlich in der Verkennung der wahrhaft imperialen Größe einer Wirtschaft, welche Husarenattacken überspielen kann. Nur bleibt freilich die schwere Frage an den Pazifismus, ob Ökonomie allein zu triumphieren vermag - dann hätten die Deutschen nach 1945 in ihrer Geschichte ein Beispiel gesetzt; oder ob Merkur eben doch nicht im freien Flug seine Anbeter erreicht, sondern früher in den Segeln englischer Kriegsschiffe, heute mit den Flügeln von Bombern und Düsenjägern. Eines aber ist schon jetzt Sicherheit: Das schlechte Waffengewissen unserer Zeit hat den Triumphalismus der alten Handelsvölker neu belebt, darin liegt seine politische und moralische Chance.

3. Wirtschaftlicher Großerfolg - immer ein liberaler Triumph Schätze sind kein Triumph, Juliustürme sind Staatssicherheiten, nicht Reichsgrundlagen. Dem ökonomischen Gewinn allein fehlt die politische Stoßkraft, wird er nicht als Ausdruck eines Sieges bewusst und in bewusster Triumphalität politisch eingesetzt. Nur dieses ganz wesentlich politische Triumpherlebnis lenkt die „Kraft durch Freude am Reichtum". Dies aber führt zu einer Erkenntnis, welche allzu lange wohl verschüttet war. Wiederzuentdecken gilt es „Liberalismus als Triumphalismus". Heute entspricht es vordergründiger Überzeugung, dass Liberale nicht wissen, was ein Sieg bedeutet, dass da nichts anderes ist als ein ständiges „Geschehen-lassen", während der Triumph doch entscheidend im Tun liegt, im Angriff, im Einsatz. Nichts daran ist wahr, kaum eine Zeit ist so zutiefst triumphalistisch gewesen wie der große Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Das beweist nicht nur seine fast phrenetische Monumentensuche, mit der er alles in Bronze und Stein zu fassen versuchte, was sich auch nur wenig über das Mittelmaß erhob; er triumphierte nicht nur in Standbildern, er triumphierte in Reichtümern, weil er die Siege nicht in ihnen als solchen sah, sondern in dem, woraus sie erwuchsen: in seiner großen Freiheit, zuallererst der der Wirtschaft. Sicher - Schätze gewannen so für diese Liberalen weit größere triumphalistische Bedeutung als für die Könige früherer Zeiten, denen sie nichts anderes waren als Beweise der Macht oder Mittel zu ihr. Herrscher haben Reichtümer und können sie wohl gebrauchen, doch ihre Macht überlebt sie noch, Ludwig XIV. ist ein Beispiel. Und sie suchen im Grunde immer nur eines: den Ersatz des Reichtums durch poli-

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tische Macht, letztlich haben sie kaum ein Organ für „Reichtum als Triumph" man denke nur an jene Diktatoren, denen man alles vorwerfen kann, nur eines nicht: dass sie an eigenen Reichtum viel Zeit verschwendet hätten. Für die Liberalen liest sich dies alles ganz anders, weil ein großes Prinzip zwischen ihre Reichtümer tritt und die Macht: die Freiheit. An sich ist diese Liberalität ein Nichts, nur eine Erlaubnis zum Guten wie zum Schlechten. Als solche kann sie den Staat nur zerstören, ein Reich nie gründen. Doch alles ändert sich dann, wenn da Beweise der Freiheit erbracht werden, Reichtum und wirtschaftliches Glück. Dann wird die Freiheit zur unblutigen Staatsgrundlage, dann zieht der Triumph händlerischer Intelligenz herauf, der Sieg des so ganz Unmilitärischen - der Geschicklichkeit. Und all dies wird als Triumph gefühlt und gefeiert: Die wirtschaftliche Kraft überlebt die militärische und ersetzt sie, Athen hat es gezeigt. Militärmacht mag sich in endlosen peloponnesischen Kriegen verlieren, doch es bleibt „griechischer Triumph", nicht römischer, ein ganz wirtschaftlicher, und zugleich doch so stark auch politischer - Kolonien gründen, über sie Handelsnetze erweitern, gemeinsame Zivilisationen auswerfen über barbarische Gebiete, Handel treiben ohne Macht und Willkür, in einem ökonomischen Polytheismus so wirtschaftlich glücklich sein wie menschlich in den Hainen und Tempeln der zahllosen Gottheiten. Darin hat der große Liberalismus des 19. Jahrhunderts griechisches Denken nachvollzogen, deshalb ist in dieser Zeit die neue Entdeckung des griechischen Geistes gelungen, weil die Freiheit wieder in ihrer ganzen Virtualität erkannt wurde, vor allem aber in dem, was sie den Liberalen geschenkt hat: Wettbewerb, Reichtum, ökonomisches Glück, das sie in geistige Freiheit haben umsetzen können, mit einer auch politischen Mächtigkeit, welche über Jahrzehnte vernichtende Kriege vermieden hat. Ökonomischer Triumph - das ist und bleibt immer zugleich ein Triumph des Liberalismus, weil die politische Verbindung in einer Freiheit gefunden wird, welche über das Ökonomische hinaus wirkt, damit staatsgrundlegend, reichsbegründend wird, in einer Grenzenlosigkeit, wie sie nur der freie Handel erreichen kann. Ob dann der Druck des Militär-Politischen stark genug ist, um auch politisch ein Reich zu schaffen, das mag eine andere Frage sein; im 19. Jahrhundert war er notwendig, in Italien, Deutschland und anderswo, aus reinen Freihandelszonen wäre kein Deutsches Reich entstanden, und europäischer Freihandel allein kann auch heute kein größeres Europa schaffen. Doch dass da etwas ist wie triumphale Anfänge, dass sich da triumphierende Gruppen formieren, die es dann nur gilt, in einen großen Triumphzug zusammenzuschließen - das haben die Liberalen immer wieder bewiesen. Triumph ist mehr als Ökonomie - von diesem Ausgangspunkt sind im Folgenden die ökonomischen Erfolge zu betrachten, doch Triumphalismus macht auch die Wirtschaft zur Reichsgrundlage. Viel wird vom Römischen Reich gesprochen, auch von einem griechischen Reich müsste die Rede sein: Wenn es etwas gegeben hat wie ein solches, wenn es

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im Geiste noch heute begleitet, so hat daran sicher auch der griechische Händlergeist seinen verdienstvollen Anteil, jenes Denken in Geld und Handel, in dem die Griechen das Morden der Ilias überwunden haben, ihr ägäisches Reich schaffen konnten, bis es die mazedonische Phalanx über die Welt trug, und bis hin zu jenem freien, wahrhaft liberalen Händlertum, mit welchem griechische Spätzeit die römische Militär-Imperialität unterlaufen, vielleicht zerstört hat; immerhin, ein zweites, ein griechisches, ökonomisches Reich hat das Reich der Legionen länger dauern lassen. So hat denn ökonomische Imperialität nicht nur heute eine Chance, als ein Weg zu ganz neuem Reichsdenken, sie hat auch eine lange Geschichte, die ihre Kräfte zeigt - und ihre Grenzen.

4. Der Markt - ein Schlachtfeld großer Siege? Die großen ökonomischen Triumphe werden, wenn sich in ihnen nicht nur politische Überlegenheit auszahlt, gegenwärtig stets auf „dem Markt" errungen. Ist dies aber ein Raum größeren, reichsgründenden Staatserfolges, ist hier ein Schlachtfeld für ökonomische Triumphe, welche in übergreifende politische Ordnungen hinüberwirken? Als solcher hat dieser ökonomische Aktionsraum sicher kaum etwas Begeisterndes, Glückhaftes, er ist kein Ort der Feier. Und seine Erfolge - gibt er ihnen nicht immer so viel Unvollkommenes mit, in der Unsicherheit geteilter Freuden, welche nicht ausreicht für die große Endgültigkeit des reichsschaffenden Triumphs? Ist nicht auch den Resultaten des Marktes jene Vorläufigkeit eigen, welche begeistern mag, nicht aber begründen kann? Die politischen Schwächen des Marktes sind zugleich die der ökonomischen Großerfolge, und sie werden immer wieder sichtbar, sie relativieren den ökonomischen Triumph. Auf dem Markt wirkt in vielem jenes Glück, welches auch den Triumph im Letzten schenkt, doch ist es hier nicht übermächtig? Das moralisierende Element des „verdienten Sieges" tritt dort doch zurück, wo man sich ganz bewusst in Abhängigkeit begibt von unzähligen, auch nicht annähernd beherrschbaren Faktoren, wo nicht nur persönlicher Einsatz ist, wo nur eingesetzt wird. Auch der politische Triumph mag eine Gnade sein, doch sie baut eben ganz wesentlich auf den Werken auf, der Markterfolg kann auch mit Glück allein beginnen, wenn er nur mit Glück schließt. Der verdiente Sieg - kennt ihn der Markt überhaupt, ist es nicht nur eine nachträgliche Moralisierung einer Wirtschaftsphilosophie, welche alles Unerklärliche im ökonomischen Erfolg in die geheimnisvolle „Unternehmerpersönlichkeit" verlagert? Erst wenn es gelingt, Verdienst und Verdienen auf dem Markt noch enger, überzeugender zu verbinden, wird der ökonomische Triumph wirklich zum politischen Sieg.

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Der Markt der großen wirtschaftlichen Erfolge ist letztlich immer international geöffnet, nur daraus kann er auch die größere geistige Dimension wahrer Triumphalität gewinnen, Globalisierung bestätigt es. Wenn schon nicht Macht exportiert wird - Gewinn muss auch importiert werden, er gewinnt dort erst herrscherliche Legitimation, wo er mit seinen Wirkungen über die Grenzen reicht. Der Triumph aber, so wie ihn die politische Geschichte zeigt, ist immer zu allererst ein nationaler gewesen, in einer Erweiterung nationaler Ordnungen vielleicht, immer aber in einem großen Vorgang der „Grenzüberschreitung als Grenzerweiterung". Kann aber der Marktökonomie eine derartige „Nationalisierung der Außenhandelserfolge" wirklich gelingen, liegt ihr Triumph nicht gerade in der Grenzüberschreitung, in der Überwindung von Dirigismen und Zollschranken? Sicher - ein Reichstriumph kann nicht nur im geschlossenen Handelsstaat gefeiert werden, wenn aber da nicht ein Siegeswille als Herrschaftsanstrengung lebendig ist, ein Hauch von ökonomischem Imperialismus - wie sollte aus dem unendlichen Markt das kleine Schlachtfeld werden, das doch immer beherrschbar bleiben muss, wahrhaft zu besetzen? Doch gerade dies will ja die Marktwirtschaft nicht mit ihren ökonomischen Erfolgen. Auf das Internationale kann sie setzen, weil sie ganz und gar fluktuiert, aber aus diesem wesentlichen Floating, aus den dauernden Ebben und Ruten der Marktbewegung, führt da ein Weg zu jenen Ordnungen, in denen sich schon der Triumphzug formiert, welche sodann in der Ruhe eines Reiches befestigt werden? Muss nicht das Reich zuerst sein, rund um das Mittelmeer, damit des Meeres und des Marktes Wellen sicher den großen Reichtum bringen? Reich aus Markt - oder Markt nur im größeren Reich, das ist eine Schicksalsfrage des ökonomischen Triumphierens. Der Markt ist nicht das einmalige Schlachtfeld, auf dem der Turm von Solferino entsteht, Heldengräber in Zypressenhainen verehrt werden. Er ist das ständige Schlachtfeld der Erfolge - und der schweren, vielleicht vernichtenden Niederlagen, als solcher wird er bejaht, sonst wären da nur Zünfte, Ökonomie in Politik verkrustet. Im Triumph liegt die Endgültigkeit, wie im Reich, der Markt ist das wesentlich Reversible, das Un-Endgültige par excellence. War darin nicht das Wirtschaftswunder von Anfang an ein Problem-Triumph, dass es eben den ständigen Markterfolg bedeutet hätte, eine Ewigkeit von Gewinnen, ist es damit nicht ein Widerspruch in sich gewesen, ein im Grunde politisches Erfolgspostulat - nur ökonomisch gewendet? „Wie gewonnen, so zerronnen" - das Reich kennt solches nicht, ist es nicht deshalb unzerrinnbar, weil es eben im Letzten kein Markterfolg ist? Und noch ein Problem des Markt-Triumphs: Der Markt ist ein Aktionsraum, eine Institution vielleicht, er ist als solcher nie ein Ereignis, Ereignisse finden allenfalls auf ihm statt. Wenn aber das Ereignis das Zentrum des triumphalen Vorgangs ist, so bleibt die Frage, ob die wesentliche Ereignisferne des Marktes als Aktionsraum nicht doch auch den großen Ereignischarakter all dem nimmt, was

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dort vorgeht. Praktisch gewendet: Liegt im großen Spekulationserfolg - und alles am Markte ist doch Spekulation - auch nur irgend etwas Triumphales von der Art, wie es zu suchen ist auf dem Wege zum Reich? Die neoliberale Ökonomie hat im Markt eine Institution gefeiert, von den Marktereignissen hat sie stets in vornehmer Makroökonomie - regelrecht abgesehen. Doch in diesen Ereignissen liegen, wenn überhaupt, die Triumphe, in Rothschilds Spekulation um Waterloo. All dies ist natürlich auch ein Kapitel der Grundsatzkritik an der reichsgründenden Kraft des Liberalismus, hat er nicht doch immer mehr auf den Markt gesehen und seine Gewinne, als auf eine politische Freiheit, die er nicht zuletzt verloren hat, weil er allzu viel verdienen wollte? Bedeuten diese Markterfolge nicht doch nur einen Entwicklungszustand, der erreicht, nicht aber einen Sieg, der errungen wird? Wohl führt dies auch zurück zur Kernfrage des Triumphes: ob da eben doch vielleicht etwas Militärisches sein muss in seinen Erfolgen, ein Abglanz von Sieg ... ? Verhindert der Markt nicht doch jede politische Wendung ökonomischer Großerfolge, kann ein Weg zum Reich über ihn führen?

5. Plutokratischer Triumphalismus - Reichtum als Sieg? Verlässt man aber einmal den Markt, blickt wirklich nur auf seine Ergebnisse: Liegt in ihnen, in der politischen Kraft des Reichtums allein, etwas wie Triumphalität zum Reich? Die Antwort kann nicht von den Kanonenbaronen kommen, die alle politische Macht sich kaufen, nicht von den immer stärkeren wirtschaftlichen Mafien, welche sich die politische Macht aufteilen. Abgesehen davon, dass hier nur allzu oft nicht ein Reich gekauft wird, sondern eher seine Auflösung - in solchem politischen Einsatz des Kapitals ist die Wende vom Reichtum zur Macht schon vollzogen, das hier entscheidende Problem stellt sich gar nicht: ob bereits im gewonnenen Reichtum der Triumph liegt, in ihm selbst, in seiner notwendigen Verwendung. Vieles lässt sich sicher dafür sagen: Reichtum hat noch immer Auslagen gesucht, im individuellen Luxus ebenso wie, politisch hoch transformiert, in einer Eitelkeit nationalen Besitzes. Reichtum ist klar nachweisbar, unbestreitbar bis zur Indiskutabilität, die triumphale Eindeutigkeit ist ihm sicher eigen, trotz seiner unendlichen Verwertbarkeit; sie gibt ihm nur größere Kraft. Feiern lässt sich der Reichtum wie kaum ein anderer Erfolg, in Geist und Kunst hat er sich triumphal verewigt. Darin liegt die Bildhaftigkeit, die Darstellbarkeit, die äußere Seite der Goldmedaillen in den Panzerschränken, eine Form totaler Personalisierung des anonymen Kapitals. Reichtum bedeutet reale Gewalt, in der Gegenwart mehr denn je, er ist stärker als die Kanonen, die er sich nebenbei kauft. Ist da nicht etwas wie ein impliziter Triumph, eine Unendlichkeit von Siegen, klein und groß, die nurmehr von einem

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abhängen: vom Willen des Reichen - und drängt er so nicht geradezu in die größere politische Macht? Öffentlich nun gewendet: Ist dies nicht die einzige wahre Staatsgrundlage unserer Zeit - die öffentlichen Finanzen als Folgen des privaten Reichtums, oder der unendliche öffentliche Steuerreichtum der Gemeinschaft? Der Marxismus hat die Herrschaft des Kapitals gepredigt, ist sie nicht der Triumph der Gegenwart, der große Sieg im Kalten Krieg? Wenn dieses Kapital schon zum Imperialismus führt, geht sein Triumphzug nicht über die Schwelle des Reichs? Entscheidendes zur Relativierung solcher Thesen hat bereits die Marxismuskritik beigetragen, hier gilt es, noch zu vertiefen aus dem Blickpunkt des Triumphes. Die Schwäche eines Triumphes der Plutokratie liegt schon in einem, was der Marxismus nie überzeugend hat dartun können: die Irreversibilität in der Entwicklung, die säkulare Dauerentwicklung aus gewonnenem Reichtum ins Politische hinein. Reich und arm kommen und gehen, der Staat schon braucht beständige Grundlage, das Reich dauernde. Von einer Endgültigkeit des Kapitaltriumphs kann keine Rede sein in Gewerkschaftsstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie. Wenn ein Triumph prekär ist, so der des heutigen Geldes. Doch es fehlt noch mehr - vor allem die Größenordnung, in der triumphiert werden muss. Privater Reichtum ist stets relativ, kann er denn überall jenes Triumphgefühl als Grundstimmung schaffen, welches sodann, politisch potenziert, im Reichstriumph erstarkt? Und selbst wenn man alles zum nationalen Reichtum zusammenzieht - auch er ist doch immer relativ im internationalen Vergleich, selbst der dauernde Dollar-Triumph hat schwerste Einbrüche mit politischen Folgen hinnehmen müssen, die Goldkeller von Fort Knox waren allein noch nicht amerikanische Triumphalität, werden es nie sein, solange internationale Finanzmärkte in größtem Umfang ökonomische Stärken und Schwächen der Macht zuteilen und nehmen. Und wird heute denn Reichtum wirklich noch so laut gefeiert, wie in früheren Zeiten, in denen aber eben nicht er den Triumph bedeutete, sondern nur eine seiner Folgen war? Gerade in jener hochliberalen Zeit, die oft nichts mehr anderes an Triumph anerkennen wollte als die stärkeren Konten, hat doch das Kapital bald anfangen müssen, sich von der Straße zurückzuziehen, sich zu verbergen vor den immer stärkeren Angriffen gegen den luxe insolent. Ist da nicht so viel zum „diskreten Charme der Bourgeoisie" herabgesunken, der im Verborgenen genießt und sündigt - das gerade Gegenteil eines wahren Triumphs? Dieser ist doch gezeigte Stärke, ein Erfolg, der den Mut zu sich selbst hat, aus ihm heraus politische Wirkungskraft entfaltet. Eigentum, das sich versteckt, triumphiert nicht nur nicht mehr im Reich, es dankt im Staat schon ab; Geschäfte werden immer diskreter gemacht, immer leiser gefeiert. Plutokraten haben im zwanzigsten Jahrhundert imperial gewirkt, sie hatten noch den Mut zum Reichtum; wer auf den Spuren eines Roosevelt wandeln kann, für den wird das Kapital zur Grundlage eines Imperiums. Er muss versuchen, Kapital 10 Leisner

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in das zu verwandeln, was es im Grunde nicht ist: in einen Sieg, in welchem Reichtum einen Gegner niederschlägt, nicht nur ihm die Taschen leert. Reichtum wird im Triumphzug mitgetragen, doch es führt ihn der Imperator; wer ihn durch Reichtum ersetzen will, tanzt nur um das goldene Kalb - in einer politischen Todsünde.

6. Privater Reichtum als Reichstriumph Triumphal kann Reichtum überhaupt nur wirken als private Wirtschaftskraft. Reinem Staatsreichtum fehlt die triumphale Macht, weil er nur Ansprüche der Bürger bringt an die Gemeinschaft mit ihren Riesenfonds, und aus Anspruchsdenken allein ist noch nie Siegesstimmung gekommen, in welcher Form immer. Dies war die entscheidende Schwierigkeit des kommunistischen Staatskapitalismus, dass er triumphales Gefühl nicht unter seinen Bürgern verbreiten konnte in ökonomischen Erfolgen, dass es ihm allenfalls noch gelang, ihre Zufriedenheit zu erhalten - doch welchen größeren Gegensatz gäbe es als den zwischen dem zufriedenen und dem triumphierenden Bürger? So musste denn dieses große Reich seine Triumphalität, damit aber seine eigentlichen Grundlagen, aus ganz anderen Quellen ständig befestigen, aus der Martialität der militärischen Erfolge in vaterländischen Kriegen und aus der Ideologie ökonomieferner Überzeugungen. Hat man einmal vertiefend darüber nachgedacht, welcher innere Widerspruch darin liegt, dass ein Reich, welches sich auf ökonomischen Doktrinen aufbauen will, seine Triumphalität aus den ökonomischen Erfolgen nicht zu gewinnen vermag, und würde es noch so reich, würden seine Bürger noch so konsum-zufrieden? Privater Reichtum hat in Plutokratien zu allgemeinen Triumphstimmungen geführt, im deutschen Wirtschaftwunder alte Triumphalität in neuem Gewände unter den geschlagenen Bürgern verbreitet. Aus einem „wir sind ja alle reich geworden" wird dann ja auch schnell etwas wie nationale Triumphalität, vermittelt gerade durch die Staatsform der Volkssouveränität in der Demokratie. Bürgerreichtum als Reichstriumph - wäre dies nicht eine Grundlage echter Bürger-Imperialität, der einzigen Form des Reiches vielleicht, welche heute noch erreichbar ist? Doch dagegen wird nun der Zweifel laut, je reicher der Bürger, desto ärmer sein Staat, zum Schlagwort ist die staatsauflösende Kraft des privaten Reichtums geworden. Sicher - in ihm liegen auch diese zentrifugalen Kräfte, vor allem dann, wenn sich Reichtum nicht mehr feudal zusammenballt, damit aber sicher in die staatliche Macht drängt, wenn er vielmehr verteilt wird unter die Unzähligen, dann aber im Kleinen Peripheriehäuschen das imperiale Paris erstickt. Im Grunde ist dies nicht mehr so sehr ein Problem der Triumphalität des Reichtums, als vielmehr eine Frage an die Demokratie: Kann, will sie sich noch den ökonomisch stärkeren Bürger des politikbewussten Reichtums leisten, der darin aber in den Triumph drängt, der reichsbewusst wird? Die liberale Demokratie des vergangenen Jahrhun-

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derts hat es noch wagen wollen, der fraktionierende Egalitarismus der Gegenwart bedeutet sicher eine Tendenz hin zum Ende allen triumphierenden Bürgerreichtums. Im Triumph muss ja der Reichtum, will er überhaupt reichsgründend wirken, sich verströmen, sich selbst aufgeben und verschenken an die Politik, wenn auch vielleicht in der Hoffnung, sich dort in noch mehr Geld und Gut wiederzufinden. Wenn dieser Kreislauf unterbrochen ist, wenn Bürgerreichtum nurmehr vorweggenommene Rentenabfindung bedeutet, dann ist der Rückzug angetreten, vom Reich zum Staat, vom Staat zum Schalter, an welchem Pensionen ausbezahlt werden. Ökonomische Triumphalität kann herauswachsen aus privatem Reichtum, zu großem wirtschaftlichen Siegesdenken emporsteigen, welches dem Kaiser gibt, was da an überschießender Kraft ist am eigenen, privaten Triumph, mehr noch: in einem Denken, das offen ist für den großen Staatserfolg, weil im kleineren Leben der große Bürgererfolg gewesen ist. Eine Gemeinschaft ist ganz triumphal oder nicht; die totale Triumphstimmung aber, aus der Reiche kommen - und „Reiche" braucht auch die unzähligen Triumphe der wirtschaftlichen Erfolge, welche in einer politischen Grundstimmung öffentlicher Triumphalität emporwachsen, nicht nur über einen staatlichen Haushalt. Im kleinen Bürgergeld wird der Staat kleiner, aus ihm kann kein Reich kommen; in dem Gefühl, auch Größeres erreichen zu können, nähert es sich, und noch immer ist das Ökonomische gerade hier über die Ränder seiner Goldstücke hinausgewachsen.

7. Reichtum gegen Reich? Reichtum ist noch nicht Reich - kann er aber nicht wenigstens dessen Ausdruck sein, ein Instrument zu ihm? Gerade in der Triumphalität liegt das Problem: Fehlt sie dem Ergebnis des ökonomischen Erfolges, damit diesem selbst, in solchem Maße, dass allzu groß der Abstand wird zwischen wirtschaftlichem Erfolg und einer größeren Ordnung auf Dauer - oder liegt hier sogar ein Gegensatz, Reichtum gegen Reich? Ist der ökonomische Erfolg, in all seiner wirtschaftlichen Realität, doch nur politisch eine Fata Morgana von Triumphalismus, oder wohnt in ihm vielleicht sogar die Kraft zur Zerstörung dessen, was er nicht schaffen kann? Ernst muss dies bedacht werden, soweit etwas daran ist, bedeutet das Wirtschaftswunder nicht ein Stück Reich, sondern eine Reichsillusion. Sicher - ohne wirtschaftlichen Erfolg gibt es keine politische Feier, keine reichsfeiernde Kultur. Ohne Reichtum kann es nie zu einem glückhaften Dauerzustand kommen, in welchem ein großer Sieg staatsgrundlegend wirken könnte. Wenn der Triumph Reichsgrundlage nicht ist im Glück eines Augenblicks, sondern im Dauerzustand der Sieghaftigkeit, so ist Armut eben doch ein Beginn von Staatszerstörung, auf einer verarmten Elite kann sich kein Imperium aufbauen, Don Quijote ist ein Anfang vom Reichsende - und dies alles gilt für das Bürgerreich nicht minder. 10*

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Der verarmte Adel - das ist immer ein Reichsproblem gewesen, gerade aus der Sicht eines Triumphalismus wird es ganz deutlich. Dies sind doch dann Träger einer Imperialität, welche nichts mehr anderes besitzen als vielleicht noch etwas von früherer Tugend, von der Kraft, auch ohne wirtschaftlichen Erfolg triumphierend Reiche zu schaffen. Doch es ist etwas anderes, ob man die Güter zum Triumph nicht braucht, sie jederzeit in ihm gewinnen kann - oder ob sie verloren sind und verkauft, so dass nichts anderes bleibt als verarmte Triumphalität. Dies ist dann wirklich ein Endzustand, nicht der Beginn eines Reiches, und spricht nicht all dies für die reichsschöpfende triumphierende Kraft des ökonomischen Erfolges? Doch es bleibt eine tiefe Antinomie zwischen Reichtum und Reich. Der eigentliche Triumph, gerade dieses Kapitel hat es immer wieder, auch zwischen den Zeilen, gezeigt, ist stets etwas „ganz anderes als mehr Geld und Gut". Sie folgen dem Triumph, wenn er errungen ist, sie mögen irgendwann vor ihm kommen, doch im Augenblick seines großen Ausbruchs, wenn er die Grundlagen des Reiches setzen will, da vermag er dies wohl nie aus einer Triumphalität des Ökonomischen, eher wendet sich diese Macht noch gegen ihn. Sie will ja im Reiche des Möglichen bleiben, der ökonomische Erfolg behält sich immer seine Verwendung, seinen Einsatz vor, der Triumph dringt nach außen, er will seine Kräfte sehen lassen. Ökonomische Siege bleiben, selbst wenn sie diesen Namen verdienen, in den Fesseln des Materiellen, etwas vom Fluch des Materialismus haftet ihnen stets an, der Triumph ist in seinem Wesen ganz Vergeistigung der Erfolge, Spiritualisierung der Güter in Ordnung. Der Reichs-Triumph ist stolz, weil er um das Verdienst weiß, aus dem er kommt, nur im Letzten beugt er sich vor der Gnade, die in ihm geschenkt ist; der ökonomische Erfolg kennt andere Abläufe: Er kommt auch aus dem Roulette des Handels oder aus der Passivität des Friedens, nur zu oft fernab von feststellbarer Leistung, sie will er sich dann später zuschreiben als verdienstliche, aber stets bestreitbare Rechtfertigung, seinem Verdienstdenken haftet stets etwas an von der Schwächlichkeit nachträglicher Legitimation. Das „Kapital" steht immer - seit Marx wird es niemand leugnen - ganz wesentlich in der sozialen Auseinandersetzung zwischen den Schichten und Klassen, wann eint schon der ökonomische Großerfolg die Menschen, muss er sie nicht immer, laufend entzweien? Läuft er nicht darin stets gegen alle Triumphalität, dass diese eben der große Augenblick der Integration ist, bis hin zu den Besiegten, die vom Sieger aufgenommen werden, weil sie so ganz verloren haben? Triumph hat stets etwas Neidloses, so groß muss er sein, so einend und überzeugend, dass heutiger und späterer Neid vor ihm verblasst. Doch die Schätze rufen den Neid, es gibt einen Ring des Nibelung, kein Reich der Nibelungen, und vielleicht ist dies die Tragödie Deutschlands gewesen, dass seine Siege nie ein Glück jenseits des großen politischen Neides haben erreichen können. Beneidetes Reich - das ist ein Widerspruch in sich; beneidete Schätze, Neid auf ein Wirtschaftswunder - das ist tägliche, ewige Realität.

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Schätze werden mitgeführt im Triumphzug, Beute ist eines seiner Zeichen, aber sie bleibt unter den Adlern. Eine Schlacht, in der nur Beute gemacht wird, ist kein Sieg, sondern Plünderung. Die Verteilung kann erst beginnen, wenn das Epos beendet ist, in einer heiligen Handlung auf einem Capitol. Wer in Gütern triumphieren will, löst vorher den Triumphzug auf. Wirtschaftliche Großerfolge - das sind die Folgen politischer Triumphalität, und sie kommen mit solcher Selbstverständlichkeit, dass sie oft selbst als Triumph erscheinen mögen, und doch ist hier die Phasenverschiebung entscheidend. Wird man eines Tages vielleicht nicht doch sagen, dass das deutsche Wirtschaftswunder nach 1945 nur Nach-Triumph einer Virtus germanica war, welcher der Sieg auf den Schlachtfeldern versagt geblieben ist? Und dann spricht eben doch vieles dafür, dass mit dem ökonomischen Großerfolg der Triumph nicht beginnt, sondern endet.

8. Das Ende des Triumphalismus im Eudämonismus Der Idealismus der großen deutschen Philosophie hat alles Vernichtende über den Eudämonismus gesagt - ganz natürlich, war dies doch die Zeit eines selbstverständlichen, eines geistigen und materiellen Triumphalismus in seinen Landen. Napoleonische Siege stellten die Kulisse, sie wurden wie eigene gefeiert; die Zerstörung des Alten Reiches begründete die neue große Reichshoffnung der Deutschen, der heraufkommende Liberalismus ließ unendliche Kräfte ahnen. Vor allem aber steigerte sich der protestantische Pietismus zu einer Neuentdeckung der Virtus Romana, es kam etwas herauf wie das Ende allen Genusses im Geiste. Kaum sechs Generationen später - könnte der Abstand größer sein, und muss man nicht, gerade in Deutschland, allen Triumphalismus begraben, auch die letzten Trümmer des Reiches noch tiefer im Boden versenken, wenn die Freude an ökonomischen Erfolgen am Maß des Genießens gemessen wird? Dabei lag im deutschen Wirtschaftswunder durchaus ein Anfang von Triumphalität, gerade deshalb, weil dies weithin genusslose wirtschaftliche Erfolge waren. Man nenne es getrost einen großen Sieg des Investitionismus über den eudämonistischen Konsumismus, und vielleicht war es sogar, ein wahres Paradox, ein Triumph der „Investition aus Konsum", weil eben in der Philosophie eines Erhard noch mehr in den Boden gegraben als geerntet wurde. Das Maul wurde nicht verbunden, vor allem aber wurde gedroschen, in diesem Triumph der zähen Ochsen. Und dann kam, gerade in Deutschland ganz sichtbar, der Umschlag in Verteilung und Genuss, und es war nichts anderes als das Ende der letzten Reste des deutschen Triumphalismus, im schlimmsten aller Eudämonismen, jenem, der sich „soziale Gerechtigkeit" nennt. Hier werden geistige Worte eingesetzt gegen die reichsgründende Virtus, welche die Wirtschaft im Reich überhöht, ein Gegenreich wird aufgebaut wider das Imperium der Triumphe, im Namen jener „Gerechtigkeit",

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hinter welcher doch stets imperiales Denken stehen sollte, nun aber nurmehr die Sattheit befriedigter Bedürfnisse steht. Zwei Reichsbegriffe treten hier gegeneinander: das Reich der Verteilung zum Genuss und das Imperium aus Triumph, kaum irgendwo wird deutlicher, dass nur aus Triumphalismus der wahre Reichsbegriff gewonnen werden kann. Denn „Ordnung" ist ja auch die laufende Verteilung und Umschichtung, zu immer mehr „Glück" der immer größeren Zahl, worin ein Liberalismus den Anschluss an den Sozialismus findet, der sich eben nurmehr als ein „leben Lassen" versteht. „Erhalten müssen" als „schaffen müssen" - wenn das noch als Auftrag gefühlt wird, dann kann es noch etwas wie eine - zugleich - ökonomische Triumphalität geben; die reine Ökonomie verliert sich im Pseudotriumph des Verbrauchs, und in diesem Wort liegt alles, was auch nur irgendwie antitriumphalistisch sein kann. Da fehlt das Bleibende und das Weiterwirkende, das übermenschlich zu Feiernde und der Dank für die Gnade des Triumphs; denn gefordert wird das tägliche Brot, gedankt wird dem großen Gott für seine unendliche Triumphalität, für den Saum dieses Mantels, den wir berühren dürfen - gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam, nicht mehr adveniat regnum tuum. Keinen größeren Gegensatz gibt es als den zwischen materiellem Genuss und einem „Triumph zum Reich". Nicht nur, weil von jenem nichts bleibt, sondern weil Genuss eben doch nur Abschwung ist, wo Aufschwung gefordert ist, weil er im Letzten - nichts besiegt und über niemanden sich stellt, sich allenfalls noch in sich selbst versenkt. Dass dem ökonomischen Großerfolg stets der Genuss folgen musste, dass sich in ihm alle Kräfte verlieren, welche siegen können - dies ist nichts als eine historische Banalität; darin gehen sicher nicht Staaten unter in ihrer unbezeichnenden Technizität, daran sind immer die großen Reiche gestorben. Einen Gegensatz von Reichtum und Staatlichkeit gibt es wohl nicht, doch darin unterscheidet sich das größere Imperium von der kleineren Ordnung, dass es den großen Reichtum auf Dauer nicht ertragen kann, weil er seine Triumphalität auslöscht, alle Kräfte mit diesem mächtigen Zug nach oben. Der große wirtschaftliche Erfolg - das ist kein Reich, Reich kann aus ihm werden, wenn er als Tempelschatz bewahrt, wenn seine Kraft ganz außerökonomisch eingesetzt wird, in jenem Umschlag ins Politische, in dem der Triumph die Beute trägt, nicht ist.

9. Ökonomischer Triumphalismus gegen „Überbau" das Reich als „Dritter Weg44 Wäre der marxistischen Überbaulehre zu folgen, so müsste der große wirtschaftliche Erfolg stets auch den politischen Triumph bedeuten, nur in ganz großem Reichtum läge der große Sieg, nichts anderes gäbe es als das ökonomische Reich, keine kleinere oder größere Chance zum Reich wäre denkbar als der Gewinn des

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Kapitals, stets müsste es sich international zum Wirtschaftsimperialismus steigern. Und selbst das End-Reich des Kommunismus wäre nur vorstellbar gewesen im ruhigen Zustand der totalen ökonomischen Verteilung, des großen Endsiegs aller Proletarier im total verteilten wirtschaftlichen Glück. Dies war die Reichslehre des ökonomischen Kommunismus, nicht aber die Reichspraxis der kommunistischen Staaten. Imperiale Triumphalität lag allerdings auch in dieser ökonomischen Theorie - ein Beweis, dass es keine große politische Ordnung geben kann ohne die triumphale Dimension. Doch nirgends sind auch die Überzeichnungen dieser Ideologie deutlicher geworden als gerade in diesen letzten Konsequenzen ihrer Überbaulehre, welche sie zum triumphalen Kuppelbau des Endkommunismus empor führen wollte. Das Politische ist eben mehr als ein ökonomischer Zustand, der Kommunismus selbst hat es schlagend bewiesen, indem er zuerst seine Gegner politisch und militärisch schlagen musste, hier seinen politischen Triumph zu feiern hatte, bevor er einen neuen politischen Überbau über den veränderten ökonomischen Strukturen zu errichten unternahm. Der tiefere Grund liegt im Wesen des Triumphs, in seiner Notwendigkeit für die Schaffung des politisch Bleibenden und Großen: Entscheidend ist eben die Kraft, nicht der erreichte Zustand, nicht die Größe des Kapitals, sondern der politische Schwung, mit dem es herrscherlich eingesetzt wird oder genossen. Und eine Prämisse in der Überbaulehre hat sich nie erweisen lassen: dass das Kapital, immer größer werdend, auch immer herrscherlicher sich einsetzen will, dass das wachsende Geld in den Triumph notwendig hineinwächst. Im Gegenteil: Es bleibt triumphlos liegen, es wird nicht mehr getragen von Höhe zu Höhe, es will genießen, nicht siegen. Dieser erste Weg, der des Kapitalismus, führt in der Tat politisch nur zur Auflösung, wenn sich das Kapital nicht vom kapitalistischen Denken freimachen kann, wenn es nicht wirken will, sondern sich in der Sicherheit der ökonomischen Gesetzmäßigkeit wiegt, welche ihm der Marxismus verheißt. Dann verlieren sich Riesenvermögen wie in diesen Tagen, dann geht selbst die politische Kraft des „Kapitals an sich" in Verteilung und Genuss vollends verloren. „Das Kapital" mag stärker werden, doch nie hat der Marxismus vertieft untersucht, was es bedeutet, wenn es damit zugleich auch immer nur noch anonymer wird - inappropriiert wächst es dann aus der Macht hinaus, wie jene Walküre, deren Schönheit dem Ersten gehört, der sie findet, der siegt. Doch auch „der zweite Weg" führt ins politische Nichts, der Massenreichtum der totalen Verteilung. Mit großen Worten werden hier Siege gefeiert, Triumphalismen beschworen, von Errungenschaften ist die Rede, und keine politische Richtung hat je so oft die Worte „Kampf 4 und „Sieg" gebraucht wie der ewig triumphierende Sozialismus. Und all diese Siegesstimmung soll dann einen völlig herrschaftsfreien Verteilungszustand bringen, aus dem politischen Triumph in die ökonomische Antitriumphalität der totalen Verteilung? Da ist sicher etwas von einem großen Ordnungsdenken, doch wenn es ökonomischer Triumphalismus sein sollte,

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so kann daraus ein Reich nicht kommen. Seine Kräfte werden ja gerade aufgehoben in der Verteilung, der kommunistische Endzustand ist kein Triumph, und was ihn gebracht hat, ist nicht ökonomisch. In Ökonomie Siege genießen - dies ist immer möglich gewesen, und es bedarf nicht des Kommunismus, um es zu beweisen; aus ökonomischen Großerfolgen Reiche entstehen zu lassen, das hat mit sozialistischer Verteilung nicht zu tun, sie macht es unmöglich. Aus der Siegesstimmung mordender und plündernder Massen mag ein Reich werden, doch es ist kein Imperium aus ökonomischem Erfolg. Hier gerade zeigt sich klar das Verhältnis ökonomischer Erfolge zum politischen Triumphalismus: Sie geben dem Triumphzug den Glanz und folgen ihm nach, sein Weg sind sie nicht. Immer wird man vergeblich suchen nach einem „Dritten Weg" zwischen Sozialismus und Kapitalismus - wohin übrigens? Zu einem größeren Reich, natürlich. Er kann nicht gefunden werden, wenn er stets von jenen ökonomischen Orten aus nur gesucht wird, von denen die beiden anderen Wege kommen. Diese Suche verschleiert auch nur eine Angst: dass die beiden anderen Wege gar keine Straßen seien, oder dass auf ihnen nichts anderes voranschreite als laufende Auflösung. So ist es, denn verloren wurden Bewusstsein und Gefühl für den Triumphalismus, für den Großerfolg, der ökonomisch gefeiert, nicht aber allein wirtschaftlich errungen werden kann. Erst wenn die Beute eingesetzt wird zu immer neuen Siegen, erst dann kommt das Reich näher. Bittere Worte sind dies für kleine Staaten, wie auch den Staat der Deutschen. Wenn sie das Reich schon in der Größenordnung der politischen Möglichkeiten verloren haben, es geht ihnen nun noch weiter verloren in der Genusssucht der wirtschaftlichen Erfolge. Es gibt ja etwas wie einen Mehrwert der Imperialität: Die großen politischen Ordnungen, Amerika und Russland, wurden durch ihre alten Triumphe in immer neuen politischen Konsumverzicht des ökonomisch Erreichten gezwungen, ihre politische Verantwortung treibt sie von Triumph zu Triumph. Die kleineren Weggenossen wollen stets nur ruhiger genießen, ihr immer reichsferneres Verhängnis ist die Versuchung zu immer reinerem ökonomischen Triumphalismus. Sie sollten erkennen, dass der einzige Dritte Weg, der politische, der des Triumphes, auch ihnen offen steht, dass sie die ökonomischen Wege zusammenfassen und verbreitern müssen, soll darauf einmal wieder etwas dahinziehen wie Legionen.

V· „Triumphe des Geistes" Geistiges Triumphieren mochte einst eine selbstverständliche Folge der Imperialität sein, die große Kunst im großen Reich. Die Frage, ob dies Ordnungskraft oder nur Ordnungszeichen sei, wurde sicher auch schon früher gestellt, in den römischen Versuchen, dem beginnenden Imperium eine ebenso mächtige Geistigkeit zu verleihen, in einer Renaissance, welche gewonnene Schlachten durch geschaffene

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Kunstwerke ersetzte. Heute stellt sich die Frage nach der imperialen Triumphkraft des Geistigen in besonderer Weise in diesem letzteren Sinn: Kann der Kulturstaat den Militärstaat überholen, gibt es etwas wie geistige Siege, auf denen das Reich sicherer ruht als auf den Bajonetten seiner Garde? Dass die Frage nach dem „Kulturstaat" immer häufiger, drängender gestellt wird - das ist bereits ein Zeichen für Triumph-Verluste, welche vor allem die kleiner gewordenen europäischen Staaten hinnehmen mussten, in denen aber doch noch etwas wie Reichserinnerung lebendig ist. Von der Kulturnostalgie zum Kulturimperialismus - gegen beides mag sich friedliche Demokratie heute verteidigen, auf dem Wege zu gemäßigten Formen des Letzteren ist sie sicher. So soll denn hier die Frage stehen: Was ist triumphal am geistigen Großerfolg, vermag er politisch zu wirken, militärische Schwäche, machtpolitischen Niedergang auszugleichen?

1. Triumph in geistiger Spitzenleistung oder in „Bildungszuständen"? Einem demokratischen Denken, das nach dem größten Glück der größten Zahl strebt, dies über die Anspruchsbefriedigung der Bedürfnisse zu verwirklichen trachtet, mag auch die Demokratisierung des Geistigen vorgegebenes Ziel sein. So gehört es denn zu den Ritualen gegenwärtiger Verfassungspolitik, Kunst, Wissenschaft und Forschung vom staatlichen Zugriff zu befreien, die Erziehung andererseits in die Hände dieser selben Macht immer mehr zu legen. Dahinter steht zunächst eine als demokratisch empfundene Grundentscheidung, die als solche vielleicht gar nicht bewusst ist: Das Geistige wird erweitert, zum großen, beinahe allumfassenden gesellschaftlichen Raum, und in ihm wieder werden dann Großbereiche angesiedelt, die ihrerseits auch noch in ständiger Ausdehnung begriffen sind, man denke nur an den Verfassungsbegriff der „Lehre", der nunmehr vom elitären Universitätsunterricht zur allgemeinen Unterrichtung verbreitert erscheint. In all dem liegt bereits etwas wie eine „Horizontalisierung des Geistigen"; gegen den Vorwurf der Einebnung würden sich ihre Vertreter gewiss wehren, doch niemand kann bestreiten, dass hier der frühere Raum großer geistiger Vorgänge sich zum allgemeineren Lebensbereich wandelt, damit nun von den Rastern des ordnenden Staates überdeckt wird, dass vielleicht noch Freiheit belassen, diese aber allseitig von Herrschaftsmechanismen eingegrenzt wird. Kunst und Literatur gegenüber funktioniert dieser Mechanismus mehr nachtwächterlich, bei der Umsetzung der „Kultur in Erziehung" wird wohlfahrtsstaatliches Bemühen schon aktiver. Eines aber hat diese Entwicklung sicher bereits weithin in gegenwärtiges Bewusstsein gehoben: große Kulturebenen vielleicht - kein Bemühen um Kulturspitzen im Geistigen. Nicht, als ob dies nun die Spitzenleistung ausschlösse. Ein Problem aber kommt damit herauf, gerade aus der Sicht der Triumphalität: Die politische Bedeutung des Geistigen ist wohl noch nie so deutlich erkannt worden wie

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gegenwärtig, zahllose Versuche werden unternommen, Kunst, Literatur, ja Forschung und Lehre „politisch" zu wenden, wirken zu lassen. Doch geschieht dies alles nicht gerade in Formen, welche jede geistige Triumphalität von vornherein ausschließen wollen - indem „das Geistige" der Gesellschaft überlassen wird, oder indem diese und ihr Staat im Pluralismus, bis hin zur Indifferenz, nur einen riesigen Garten fördernd bewässern? Über diese Kulturfreiheit, über das „Gießkannenprinzip" mag man weiter streiten, darüber vor allem, ob es überhaupt eine „Entscheidung bedeutet". In einem Sinne aber ist dies sicher zu bejahen, in dem, welcher hier zentral ist: Triumphalität kann aus solcher Horizontalisierung des Geistigen vielleicht noch entstehen, bewusst aber wird sie hier nicht mehr gepflegt, eher zurückgedrängt. Eines mag als Ausgangsthese über diesem Kapitel stehen: Wenn es „Triumphe des Geistes" gibt, so werden sie in Spitzenleistungen sichtbar, in der Bewunderung für sie gefeiert. Eine Vertikalisierung des Verständnisses von Kunst und Literatur, von Forschung und ihrer Lehre ist Voraussetzung für ein triumphalisierendes Wirken des Geistigen in der politischen Gemeinschaft, eine Rezeption dieser Erfolge in die politische Landschaft, in welcher dort dann Reichsbauten entstehen können. Großentwicklungen nur und Spitzenleistungen lassen sich feiern, sie allein sind Fakten, welche über die tausend Kanäle der Bildung in die Zukunft fließen, als Epos immer einmalig, in demselben triumphalen Gefühl stets appropriiert von späteren Generationen, aus dem sie einst geschaffen wurden. Derartiges wird es immer geben; doch der demokratische Staat lässt es allenfalls noch geschehen - „sein Triumph" ist es nicht. Bildungszustände dagegen sind nie Triumphe, und wollte man noch soviel Anstrengung auf sie verwenden und ihre Hebung. „Bildung" mag Staatsgrundlage sein, Verständigungschance gemäßigter Herrschaftsformen; Alphabetisierung einer Gemeinschaft wird man wohl kaum als einen „Sieg" empfinden können, allenfalls noch als eine weit entfernte Chance, ihn zu erringen. Wer in Bildungszuständen denkt, hat den geistigen Triumphalismus begraben. Wer sie als Vorbereitungen zu geistigen Entscheidungsschlachten versteht, muss sich den Sinn für die geistigen Großerfolge bewahren, die dann folgen sollen, aus denen er nicht nur die über-materielle Identität seines Volkes gewinnen, sondern dessen weit größere, wahrhaft imperiale Ordnung bauen will. In Schulen wird nicht triumphiert, dort werden Offiziere ausgebildet und Generäle, vielleicht auch nur Sergeanten, welche dann die geistigen Entscheidungsschlachten schlagen. Schulen geben ihnen gute Noten, sie bieten ihnen Siegesgeschichten, aber Napoleons Caesar-Lektüre war noch nicht Toulon oder Wagram. Und „Schulen des Imperialen" - ob es das überhaupt geben kann? Eines jedenfalls ist wohl sicher: Schulpolitik ist wahrhaft Sache eines Staates, ein Einteilen der Bewahrung und Förderung, aus ihr allein wächst kein Reich. So wichtig sie ist als ein Ausgangspunkt für die Zusammenfassung der Vielheit in größerer Einheit, welche das Imperium ausmacht - die letzten Höhen kann sie nicht erklimmen, den

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großen Anstoß des Triumphalen nicht geben, der die „Verwaltung" zur „ReichsRegierung" macht. Wo immer Verschulung sich durchsetzt, da verkümmern die Organe für einen Triumphalismus, der aus der mechanischen staatlichen Ordnung heraustritt, um die weit größere, die des Reiches, zu schaffen. So mag einst in Akademien der Niedergang des Reichsdenkens eingesetzt haben, die Universität als Schule verliert eine weitere Chance zum Reich. Und doch: Wie das Geistige in immer neue Formen des Sieges hinaufwächst, aus allem Verwalten heraus, so ist jederzeit diese eine und große Chance des Triumphalismus gegeben - wenn jemand sie nutzt in einem Bewusstsein, das noch verstehen kann, was ein Sieg ist.

2. Kunst als Sieg a) Kunst - der ewige Triumphalismus Nirgends sind wohl die Chancen des Geistigen größer, triumphale Höhe zu erreichen, als in der Kunst. Aus ihrer überpolitischen Wirkungskraft kommt eine Integration, welche, gerade in der Demokratie, alle Parteiungen entscheidend überwindet, in der alle sich in den Triumphzug einreihen. Ihr ist die Grenzenlosigkeit des Imperialen ebenso eigen wie der Ausschließlichkeitsanspruch des ganz großen Werkes, in ihr triumphiert der Künstler über die Materie und sein eigenes Leben. Nirgends vielleicht wird dieses Wort Triumph noch so selbstverständlich, so ohne jede Kritik gebraucht wie hier. Weil die Form ganz eins wird mit ihrem Gegenstand, fallen Siegesfeier und Sieg zusammen, der Triumph wird schon in der großen Attacke gefeiert. Durchbruch - ein Kernwort des Triumphalismus - gelingt nie vielleicht so entscheidend und auf Dauer wie in der künstlerischen Tat, nie setzt er sich so unmittelbar, als gäbe es keine Zeit, fort in den Herzen derer, die betrachten, nachempfinden, genießen. Wenn ein Triumphalismus unausrottbar ist, so der einer Begeisterung für die künstlerische Spitzenleistung - und der Begeisterung, aus der allein heraus sie hat entstehen können. Ob in Kunst immer wieder triumphiert werden wird, ob die alten Triumphe sich abschwächen oder immer noch mächtiger weiterwirken - diese Frage ist in einer Gegenwart nicht zu stellen, deren gehobener „Bildungszustand" sich vor allem in einem beweisen will: in der immer weiteren Öffnung zur Triumphalität früherer und heutiger Tage. Was Pazifismus von den Schlachtfeldern verdrängt, was Demokratie internationalisierend aus dem politischen Egoismus wirft - all dies findet sich wieder in immer weiteren Besuchen von Museen und Konzerten, als müsse der demokratische Bürger dort verströmen, was er in der herben Landschaft der politischen Kritik nicht mehr zeigen darf: Bewunderung für Triumphe der Vergangenheit und seiner Mitbürger.

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Die Frage ist nun eigentlich nur eine: Was von alledem lässt sich politisch wenden, welcher Weg führt von den Museen und Instrumenten zum Reich? Ist diese Kunst göttlich in ihrer Triumphalität, damit aber unberührbar für die, welche aus ihr politisches Kapital schlagen oder auch nur ihre Kapitole vergolden wollten? Hier kommen große Probleme herauf, die heute mit kleineren Worten erörtert werden - Staatskunst und Kunstfreiheit, dahinter aber steht die Frage nach der politischen Macht aller Kunst.

b) Kunst - ein internationaler

Triumph

Schließt nicht die grenzübergreifende Wirkung künstlerischer Großleistungen von vorneherein eine imperiale Wirkung aus, welche doch, wenn auch in weiten Grenzen, in etwas wie einer nationalen Ordnung erfolgen sollte? Die Frage nach der ordnenden Kraft eines künstlerischen Triumphes ist hier nicht die erste, denn einem solchen Groß-Ereignis ist es ja wesentlich, dass es in erster Linie Belebung und Anstoß bedeutet zu imperialen Konstruktionen, nicht diese als solche bereits schaffen will. Im Übrigen könnte über die menschlich ordnende Kraft des Künstlerischen wohl vieles gesagt werden. Doch die Frage der National-Kunst bleibt gestellt, wenn nur in ihr Reichs-Triumphe gefeiert werden können, so wird gerade das ganz Große niemals imperial wirken. Über die Sinnlosigkeit aller Versuche, künstlerische Erfolge ganz und gar national zurechnen zu wollen, braucht hier kein Wort verloren zu werden; Schablonierungen wie die einer „Ecole française, allemande" usw., die Kategorisierung von Künstlern nach Pässen - all dies ist nichts als barer Unsinn. Doch gerade wenn eine National-Kunst die großen, wahrhaft triumphalen Momente nicht zu erklären vermag, weil sie über alle Staatlichkeit hinauswachsen, muss nicht gerade dann das Fragen nach der Reichs-Triumphalität solcher Phänomene einsetzen? Eine staatsübergreifende Kraft der Kunst zeigt sich schon darin, dass sie vielleicht „einem Volk gehören" kann, nie aber auf einen Staat beschränkt ist. Hier begegnet man zuerst einer Wirkkraft der Kunst, welche über Grenzen hinausgreift, und dennoch auch darin noch eine politische Wendung behält - eben in jener Zurechnung zu einem größeren Volk, einer Nation, wie sie gerade den Deutschen lange während der Teilung gepredigt wurde. Dann folgt ganz natürlich die Frage, ob darin bereits ein Anfang von Imperialität liegt, ob in dieser Grenzüberschreitung des Künstlerischen nicht der Anspruch einer geistigen Einbeziehung fremder Zivilisation liegt, in die eigenen geistigen Ordnungen. Natürlich ist das Reich etwas wesentlich Grenzüberschreitendes, vielleicht sogar Internationales, und der Triumph ist es auch, der hier in Kunst gefeiert wird. Man müsste schon vollends in militärische Denkweisen des 19. Jahrhunderts zurückfallen, wollte man die geistige Imperialität nicht sehen, jene wahre groß-ordnende Beherrschung der Geister, welche vom künstlerischen Großerfolg stets ausgegangen ist; und gerade das 19. Jahrhundert war sich noch darüber im Klaren - in Liberalismus seine natio-

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nalistische Enge überwindend - dass es etwas wie ein geistiges Reich geben kann, welches eine Nation weit über ihre politischen Grenzen hinweg erweitern, darin vielleicht politische Ordnung vorbereiten kann. So hat Italien künstlerisch gewirkt auf die Träger der politischen Reichsidee, auf Deutschland, Frankreich und England von dem Boden aus, von dem einst das Imperium ausgegangen war. Und in seiner Kunst ist dieses Land seinerseits ein imperiales Zentrum geblieben, ein Reich des Schönen, in dem immer, wenn auch vergeblich, die Sehnsucht wach blieb nach den Legionen, die es einst auch in seinen äußeren Mauern wieder errichten könnten. In der italienischen Kunst der Renaissance und ihren Fortplanzungen hat sich „nicht etwas wie ein vager Internationalismus" entfaltet, sondern eine ganz bewusste „Reichsidee ohne Militär", eine Fortsetzung vielleicht einer künstlerischen griechischen Reichsidee mit anderen Mitteln. Der künstlerische Triumph, wenn er auf einen Raum konzentriert auftritt, ist ja nicht etwas wie eine grenzenlos sich verströmende geistige Entwicklungshilfe, er will nicht schenken, sondern vielmehr an sich ziehen, einbeziehen, in eigenen geistigen, gestaltenden Kategorien integrieren. In der Begeisterung seiner Überlegenheit, seines Sieges über die Konkurrenz, über Leben und Materie, steht er irgendwo ganz fest, gehört er einem Volk und einer Epoche, und gliedert sich dann doch so viele andere Provinzen an; in größerem Sinne hat dies Europa erlebt in jener Zeit, in welcher seine Länder Provinzen italienischer Kunst waren; in diesem geistigen Sinne hat es für mehr als ein Jahrhundert ein Imperium deutscher Musik gegeben. Wenn es die Grundstimmung des Triumphalismus ist, dass alles möglich wird, weil eines gelingen konnte - wo wäre er stärker wirksam, bis ins Politische hinein, als in der gestaltenden Kunst? Und wenn sie den Staat sogar zu ersetzen vermag hebt sie ihn letztlich nicht hinauf in die Höhen eines Reiches, in denen sie sich wiederfindet, und andere größere Ordnungen?

c) Kunsterbe oder Kunst-Auftrag

zum Reich?

Ein gerader Weg zur politischen Ordnung eines Imperiums ist Kunst allerdings nicht. Eine flügelhafte Freiheit trägt sie hinweg über alle Unvollkommenheiten heutiger Ordnungen und künftiger. Sie steht, selbst wenn um sie das politische Chaos ausbricht, erscheint dann noch verehrungswürdiger, ein letzter Halt früherer Werte, vielleicht muss sie auch wieder in einem Boden versinken, aus dem sie erst Glücklichere in einer neuen Ordnung ausgraben. Ist sie es denn wirklich, die in ihrer Triumphalität Wege weist zum Reich - oder ist sie nicht vielmehr umgekehrt vor allem ein Erbe glücklicherer Zeiten? In ihr haben frühere Reiche wiederentdeckt, wiedererlebt werden können, sie war ein Vermächtnis antiker Imperialität und deren Renaissance zu Beginn der Neuzeit. Lag denn auf ihr nicht nur eine Sonne der Vergangenheit, ohne den großen Schwung zu einer Reichs-Zukunft? Dies ist sicher die ewige Doppelgesichtigkeit des Künstlerischen, dass in ihm etwas ist von unwiederholbarer Feierlichkeit wie auch der Aufruf zu neuem Feiern.

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Buch 1: Der Triumph

Darin liegt die Versuchung eines ästhetischen Triumphalismus, dass man Kunst nicht mehr empfindet als ein weiterwirkendes Omen, dass sie vielmehr geliebt wird in einer Einmaligkeit, in welcher tempi passati nur schmerzlicher werden, unerreichbar. Kunst - das ist eben auch ein Hauptgegenstand eines wahrhaft romantischen Triumphalismus, wenn er sich nicht mehr zu erneuern vermag, in weiteren Schöpfungen seine siegende Kraft abbricht. Die Diskussion um die moderne Kunst ist auch Teil jener Gespräche über den verlorenen Triumphalismus, die heute überall schweigend geführt werden. „Weh dir, wenn du nur Erbe bist" - dieses Wort wendet sich an den Betrachter von Bildern, aus denen ihn frühere Triumphe, vergangene Imperialität anblicken, ohne dass er Antwort geben könnte, indem er sie fortlebt. Die eisern kanonisierte, für den raschen Betrachter kaum sich bewegende antike Kunst ist kein rocher de bronze von Einfallslosigkeit. Hier wurde der griechische Kunst-Triumph ganz groß und bleibend erkannt, in unendlichen Repliken ständig anerkannt. Das Römische Reich hat seine Kunst-Triumphalität erst später gefunden, doch es hat sich auch diesen Sieg voll zu eigen gemacht, ihn in seine StaatsLegende eingebaut wie die Flucht des Aeneas von Troja. Und dann war da ein Reich, das gar nicht anders konnte, weil ihm ein Gott half - es hat sein Kunsterbe nie erreicht, doch es immer als imperialen Auftrag empfunden.

d) Von der Staatskunst zur Reichskunst Staatskunst, Architektur etwa als Ausdruck eines politischen Zustandes, ist immer noch der vernichtenden Kritik eines freieren, größeren Kunstverständnisses erlegen. Und doch ist diese zu leicht, wenn sie sich nur die brutale Massigkeit moderner Regime-Kunst zum Ziel nimmt. In ihr sollte allerdings Kunst ganz bewusst als Triumph eingesetzt werden, weit mehr aber als ein Zeichen gegenwärtiger Macht denn als ein Weg zu größerer Ordnung. Kunst, welche sich dergestalt „parallel zum Staat" entwickelt, hat keine imperiale Chance, weil sie selbst so gewaltsam ist wie die Macht, die sie verherrlicht. Doch allzu schnell wird hier auch der Stab über eine Reichskunst gebrochen, die weit über alle Regime-Kunst hinausgeht. Sicher ist, dass Staatskunst, Staatsarchitektur im Besonderen, nur von jenen völlig verdammt werden kann, denen Kunst nichts anderes bedeutet als Freiheit, obwohl sie doch so viel mehr noch ist als diese. Man sollte also alle Staatskunst mit mehr Sinn für ihre triumphalistischen Kräfte betrachten. Entscheidend ist nicht, wie eng die Kunst beim Staate steht und seinem Regime, sondern ob dieses groß genug ist, um durch sie wirklich gefeiert zu werden. Wenn das zutrifft, dann hebt die Kunst auch den mächtigen Staat noch über seine Grenzen hinaus, sie schafft Monumente seiner Triumphe, in welchen sie von der Staatskunst zur Reichskunst wird. Wo die Kunst selbst schon nicht, in sich, ein großer Sieg ist, wo sie sich anschließt an politischen Siegeswillen, da bedarf sie

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der Sieghaftigkeit seiner Ergebnisse; wenn sie fehlt, kann gerade eine „politische", eine Staatskunst, ein Reich nicht retten, das in Schlachten zerbricht. In diesem Sinne ist die Kritik an der Staatskunst sinnlos: Triumphalismus kann von der Kunst nicht erwartet werden, wo es nichts zu triumphieren gibt. Man sollte aber an das Größere denken, an die Reichskunst.

e) Staatsfreie

Kunst - ein staatsfreier

Triumph?

Dem liberalen Staat steht keine Freiheit höher als die der Kunst, einst war sie ihm so selbstverständlich, dass sie in seinen Verfassungen gar nicht erwähnt zu werden brauchte. So ungebunden will er sie lassen, dass er sogar die Definition des Kunstbegriffes freigibt, bis zur Unfassbarkeit: Verwaltungsbeamte und Richter lässt er allein mit der Frage, was denn nun Kunst sei, und nie wird mehr gelingen als ein Skandal, will ein Gericht die einzig mögliche Grenze dieser schon vorbehaltlosen Freiheit noch verdeutlichen, die eben doch nur da liegen kann, wo etwas wie eine „höhere Kunst" verlassen wird. Demokratische Kritik wird immer wieder alle Versuche, Gelegenheits- oder Geschäftskunst diesen Namen abzusprechen, der Lächerlichkeit preisgeben. In der Tat - was ist leichter, als mit Lexikonzitaten Kunstfreiheit ad absurdum zu führen. Was damit aber verloren wird, ist weit mehr: Die triumphale, die reichsschaffende Kraft des Künstlerischen. Was sich so in sich selbst drehen soll, ziellos, weil grenzenlos, bewegt sich dann aus der Wertwelt der Gemeinschaft heraus, doch mit dem Anschluss an die Politik verliert es auch die Verbindung zur allgemeinen Geistigkeit, welche eine Gesellschaft prägt. Wie ein wundersames Monstrum erscheint heute diese Kunst in ihrer vollen Freiheit, der alles erlaubt sein soll, was sonst mit Gefängnis und Sozialzwang geahndet wird, der dafür aber eines genommen wird: politische Bedeutung, triumphale Kraft. In ihrer Kunstfreiheit hat sich die liberale Demokratie im Letzten schon von der Kunst überhaupt abgewendet, und der Radikaldemokratismus sozialer Verteilungsfreuden hat nichts voller übernommen als diese Grundentscheidung: Freiheit muss doch auch er zu bewahren suchen, welches Alibi wäre besser als das der Kunstfreiheit, um im Übrigen, in allem Materiellen und politisch Bedeutsamen, verkleinernden Sozialzwang kritikfrei einsetzen zu dürfen? Die Antitriumphalität jener Kunstfreiheit der Beliebigkeit muss ein Glück sein für ein solches Staatsverständnis, lässt sich hier doch etwas feiern, was nichts bringen wird, nichts bewegen zu größeren Ordnungen einer vielleicht nicht mehr nur nehmenden, sondern auch wieder gestaltenden Freiheit. So ist denn die Tradition bruchlos vom liberalen zum sozialen Staat, in dieser Kunstferne von Politik und Staatlichkeit, Demokraten sehen darin auch heute noch eine der großen Kontinuitäten ihrer Staatsform. Doch es ist nichts anderes als eine Kontinuität des Irrtums, und zutiefst antidemokratisch zumal. Der politischen Erfahrung von der stets „politischen", von der triumphalen, reichsschöpfenden Kraft des Künstlerischen, seiner reichsweisenden

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Buch 1: Der Triumph

Kraft zumindest, wird hier nur ein politisches Axiom stillschweigend entgegensetzt: dass Kunst allenfalls noch als kritischer Sturmbock wirken könne, dass hier der Guernica-Effekt alles sei. Wenn dann die „volle Demokratie" erreicht ist, so mag die Kunst zu ihrer Freiheit versammelt werden, ein Freizeitvergnügen allenfalls noch für den Verteilungsbürger. Doch dort wird Kunst nie stehen bleiben, solange sie noch diesen Namen verdient. Eine Wesensbestimmung gibt es für sie sicher: dass sie immer triumphal hervorbringen will, sich aus dem Triumphzug einer Gemeinschaft nicht ausschließen lässt, ihn mit ihren Zeichen verschönt, wenn nicht anführt. Die große Kunst ist stets an der Spitze der Triumphe einhergeschritten, die liberal-soziale Kunstfreiheit will ihre Träger verarmen, indem sie sie aus der Gemeinschaft und ihrer Politik zuerst verdrängt, um sie dann mit ihren guten Werken der Sozialversicherung in diese wieder aufzunehmen. Künstler als Sozialrentner ist das größte Ärgernis für wahre Kunst, weil es der tiefste Abfall ist von der Triumphalität des Künstlertums. Das Problem einer Staatsförderung der Kunst kann eine liberale Verfassungsdogmatik nicht lösen. Sie fällt von den Ängsten der wirtschaftlichen Beherrschung der Kunst in die ihrer Politisierung, und sie weiß darauf nur eine Antwort: die des staatlichen Finanzrückzugs oder der Förderungsverteilung über eine Jury. Doch der Fehler liegt schon am Anfang dieses Denkens: Staats-, machtferne Kunst ist ein Unding, sie verliert ihr triumphales Wesen, wenn ihr immer nur „geholfen" werden soll - sie selbst will helfen, gestalten, beherrschen. Der arme Künstler, von reichen Kaufleuten belächelt - welch trauriger liberaler Unsinn, welcher Abfall vom Malerfürstentum der Vergangenheit! Nirgends ist ja der Schritt kürzer von der Zwecklosigkeit zur Sinnlosigkeit menschlichen Tuns, und welche Kunst wäre größer gewesen als jene, der Liberalismus nur Schmeichelei für die Mächtigen vorhalten kann, triumphierendes Nachempfinden von geistigem Schlachtenglück? Gewiss kann es größerer Kunst nicht genügen, dass ihr aus dem Staatssäckel quotenmäßig Geld verteilt wird, als seien ihre Träger Parteivertreter. In dieser Kunstförderung liegt, wenn überhaupt noch, nur eine pervertierte Politisierung, Künstler werden damit kleiner gemacht, es wird ihnen das Recht zum Triumph entzogen, so wie ja auch, in solchem Verständnis, eine Partei nie wirklich soll über die andere triumphieren dürfen. Der wahre, große Künstler aber wird nie den Konkurrenten anerkennen oder auch nur kennen, weil sein Werk unvergleichlichen Triumph bedeutet, weil er diese Macht in den Staat hineintragen, ihn dadurch zum Reich erhöhen will. Administrativförderung ist in der Tat das Schlimmste, was der Kunst widerfahren kann, hier wird sie verstaatlicht, wo es doch gilt, sie zu verreichlichen. Wer mit der Staatsförderung der Kunst antritt, wird eines Tages auch diese noch in demokratischer Konsequenz versagen müssen, er wird dann hier nichts weiter de facto abschaffen als eine „liberté inutile", die Freiheit einer enttriumphalisierten Kunst. Noch größer fast ist die Gefahr einer Kunstförderung über die Jury, welche die Kunstfreiheit durch künstlerische Selbststeuerung aufrechterhalten will. Wett-

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bewerbsbedenken mag man verdrängen, obwohl doch gerade härtester Wettbewerb immer zum Wesen des Künstlerischen gehört hat, Förderungsgremien aber so leicht zu heimlichen Kartellen sich entwickeln. Weit gefährlicher ist Verzunftung und Notablierung, Schulverfestigung und Gegengeschäfte, welche nur zu oft Sklerose durch solche Kunstförderung bringen, in eigentümlichen Vorstufen einer Akademisierung. Und wieder zeigt die Blickrichtung des Triumphalismus: Genommen wird so dem Künstler die Kraft des begeisternd Durchbrechenden, eines grenzenlosen Hinaufstürmens, die epische Dimension einer Anstrengung. In der Zunft ist alles Ordnung und Staat, bis hin zur Mechanik. Kaum etwas steht dem Triumph so fern wie die Zunft. Sie ist müde und bewahrt, sie verwaltet. Ein Reich mag auch Zünfte unter sich haben, aus ihnen wird es nicht, und die Kunst-Zunft der Jury, die noch nicht einmal die Wohltaten der Handwerks-Zunft und ihrer bewahrten Regeln weiterträgt, sondern weithin nichts als eine Form der Finanz-Verzunftung bedeutet, sie ist doch nur eine Verrentung des Künstlerischen im Großen, zu Gunsten derjenigen, die so sicher von Preis zu Preis schreiten, wie später von Rentenanspruch zu Rentenanspruch. Die Jury sollte für den Preis da sein, aus ihm sich definieren, doch nur zu oft ist es, als diene der Preis nur der Jury, der Bestätigung der in ihr verkörperten untriumphalistischen Mächte eines selbst sich bewahrenden Ordnens. Wie soll eine Kunst triumphal wirken, wenn sie durch etwas ermöglicht wird, was wie eine Gerichtsverhandlung wirkt! Verliert vor Gerichtsschranken nicht auch der größte Sieg noch an Triumphalität? Zutiefst undemokratisch schließlich ist die Vorstellung von der staatsfreien Kunst. In der Volksherrschaft ist der Staat das Volk, und sollte denn die Kunst nicht vom Volkssouverän hervorgebracht werden? Wenn aber nicht nur in seinem Namen alles geschieht im Staat, sondern wenn es von ihm selbst sogar ausgeht, warum sollte er dann eine eigenartige Zurückhaltung mit einem Male dort üben, wo es gilt, den Staat als Einheit zu befestigen und zu verherrlichen? Demokratie verlangt weit mehr als Kunstförderung, sie fordert die Kunstschöpfung durch die Gemeinschaft, die volle Hineinnahme künstlerischer Schaffenskraft in die politischen Ordnungen. Demokratie als Mäzen - die Formen müssen hier wohl noch entwickelt werden, die Aufgabe bleibt; dies aber nützt wenig, wenn sodann alles relativiert wird in einer Neutralität, welche die Kunstrichtungen wie Parteien behandeln will. Überwunden werden kann all dies nur in der Erkenntnis der Triumphalität des künstlerischen Schaffens, im mutigen Bekennen zu einer Kunst, die nicht nur Staatskunst sein will, sondern größer werden. Volkskunst ist heute dafür noch kein Wort, doch es wird nötig sein, dies einmal mit neuem Sinn zu erfüllen, mit dem einer wahrhaft triumphierenden Bürgerschaft, die in ihrer Kunst sich selbst verherrlicht und ihre Triumphe. Mag sie dann nach Athen schauen! Kunstfreiheit - wer auf das Parthenon blickt, erkennt sie als Kunst-Triumph.

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f) Renaissance-Triumph Eine Zeit hat es gegeben, in welcher Kunst sicher in ihre höchsten Rechte getreten ist, mit der Macht des Triumphes: die Renaissance, hier hat die Kunst die Dimension des reichsgrundlegenden Großerfolgs erreicht. Ausdruck und Feier von Siegen war sie, doch in ihrer eigenen Größe, in ihrem künstlerischen Gelingen setzte sie selbst darüber noch etwas wie einen weiteren, noch höheren Triumph, nicht nur sichtbarer, größer wurden in ihr die gefeierten Siege. So ist denn der Petersdom selbst Triumph in sich, geistig wohl herauswachsend aus der Einheit der Erlösung, doch mit dem Anspruch der alternativlosen Lösung von Schönheit und Größe. Versailles ist in sich dauernder Triumph geworden, nicht nur, weil es so groß war wie sein König, sondern weil es, zutiefst in Renaissancedenken noch wurzelnd, seinen Triumph verewigen konnte, und in diesem Palast waren auch die verlorenen Schlachten gewonnen. Die große Renaissance mit ihrer „Kunst aus Ruinen" war ganz staatsgrundlegende Triumphalität. Es fehlten die Legionen, doch die Köpfe der Imperatoren waren in Stein geblieben und wurden neu. Mehr war da als einfach Fortsetzung des großen Reichs, im Geist seiner Künstler und ihrer politischen Auftraggeber, die nie wieder in gleicher Weise mit ihnen zur Einheit sich verbanden, wurde die Kunst das ganz große Staats-Ereignis, ein Reichs-Phänomen. Renaissance bedeutet „Reich durch Kunst", darin war damals viel Romantik, die ihre Sehnsüchte zu Monumenten werden ließ, später, bei den Deutschen zumal, Fortsetzungshoffnung, Neo-Renaissance im 19. Jahrhundert als Vorläufer des Neuen Reiches. Viel mehr als Gesçhichts-Kunst wollte man ja in der immer erneuten Hinwendung zu den Großtaten der Renaissance, das Rom-Ereignis sollte sich künstlerisch wiederholen, vom Triumph zum Reich. In dieser Renaissance werden zwei Bande sichtbar, welche Kunst in der Höhe des Triumphalen halten: die gigantische Dimension, die auch in der Einmaligkeit der Qualität erreichbar wird, und die bewusste Siegessuche, die in der Wiederentdeckung das alte neue Großereignis feiert. Im Barock ist dies nicht verloren gegangen, es hat sich zu anderen Formen der Kunst-Triumphalität gewandelt, über die noch zu sprechen ist, die Kunst ist auch Ausdruck des „Triumphs an sich" geworden. Verloren aber geht aller Kunst die reichsgründende Kraft sicher dann, wenn etwas eintritt, was man in ihr den „Verlust der Renaissance" nennen könnte, jener Grundstimmung, mehr noch: Grundüberzeugung, in der sie und die Künstler sich fühlen als überstaatliche Macht. In der besonderen geschichtlichen Lage der Renaissance, mit ihren zerbrechenden politischen Ordnungen und ihrem einmaligen künstlerischen Aufbruch, hat Italien der Welt gezeigt, wie einmal Kunst kommt vor Reich, wie im Kunsttriumphalismus das Imperium vorweggenommen wird - und wenn es dann nie kommen sollte. Kunst wird zum Reich im ganz großen Gelingen der Kuppel, nicht nur zum Staat in begrenzten Herrschaftsmomenten. Klassische Kunst ist dies im Sinne eines

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tiefen, auch politischen, eines wahrhaft zum Reich führenden Ernstes. Und zugleich steigt etwas Göttlich-Triumphales auf diese Tempel herab, denn in der Renaissancekunst trägt alles diesen Namen. Monumental ist das Große wie das Kleine, triumphal ist alle Kunst. Italienische Reise - hieß das nicht auch, am Ende des Reiches der Deutschen, das Reich der Römer mit der Seele suchen?

3. „Klassiker der Literatur" - Künder eines Reichs-Triumphs Das geschriebene Wort hat eine einmalige Chance in der Grundlegung größerer Staatlichkeit in triumphalen Formen: Ausdrücklich und bewusst kann es verherrlichen und feiern, es bedeutet einen Aufruf zum Mit-Triumphieren, in welchem die große Literatur ganz anders anspricht als das bedeutendste Werk der bildenden Kunst. Kurz ist der Weg vom politischen Wort, in dem bereits triumphiert werden kann, zur großen literarischen Form, die über den Anlass hinausreicht und zum Triumph der Worte wird. Gerade eine Demokratie muss den Literatur-Triumph anerkennen, sie, die Staatsform des Wortes, weil darin doch nichts anderes liegt als ein „Sieg der höheren Worte". Und ein Sieg, der zum dauernden, Grundlage schaffenden Triumph werden kann, über die Weitergabe, die nicht nur Lesbarkeit bedeutet, sondern Lehrbarkeit in unzähligen Schulen. In literarischen Monumenten wird der besungene Großerfolg zum imperialen Epos, und diese reichsschöpfende Kraft scheint sich auch noch in vielen anderen Worten mitzuteilen, welche eine Höhe erreicht haben, die nur imperial definiert werden kann: die der „Klassiker". Wie immer dieses Wort entstanden sein mag für die Schriftsteller der Alten, in ihm liegt etwas vom Abgeschlossenen, vom endgültig Triumphierenden. Sie sind so ewig wie ihr römisch-griechisches Reich, mochten sie es nun besingen oder nur ganz einfach aus ihm kommen, seine goldenen Lorbeeren um die Stirnen tragen. Über diese alten Schriftsteller ist der Begriff der „Klassiker" zum Ausdruck der allgemeinen Triumphalität hoher Literatur geworden, ohne Rücksicht auf ihren „politischen Inhalt". Für viele Jahrhunderte waren ihre Worte ein Beweis dafür, dass das Reich einst gelungen war, dass sich etwas von ihm auch in späteren Geistern fortsetzen durfte, in diesen Klassikern haben Griechenland und Rom nicht nur herrschaftslegitimierend, sondern in ständiger geistiger Reichsgründung überlebt. Wenn Braque einmal das Wesen der großen Malerei im „fait pictural" gesehen hat - die Klassiker bedeuten ein literarisches Faktum für jeden Kulturkreis, weil sich in ihnen eine Reichs-Triumphalität, ein Beginn der größeren, übergreifenden Ordnung nicht nur fortsetzt, weil sie all das sind.

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4. Staatsliteratur? Mehr noch als die bildende Kunst hat sich stets die Literatur fernhalten können von den Niederungen der politischen Herrschaftsverherrlichung, des täglichen Staats-Lobes. Über Staatskunst mag noch gesprochen werden, Staatsliteratur ist, zum Glück, nie ein Wort geworden. Die Klassiker gerade, im Grunde jeder Literatur, definieren sich geradezu aus einer eigentümlichen Distanz zu gegenwärtigen, wechselnden Machtverhältnissen, mögen die Autoren diesen auch persönlich noch so sehr verhaftet gewesen sein. Aus der weiten Politikferne der großen Literatur fallen immer wieder mächtige Worte in die politische Arena herab, seit dem homerischen Lob der Monarchie, doch im Letzten stehen ihre Autoren darüber, keine Staatlichkeit hat je Klassiker besetzen können. Für Deutsche verständlich mag man dies den „Goethe-Effekt" der großen Klassik nennen, ein eigentümlich überstaatlich erscheinendes Schweben, mit großen Worten für dieses und jenes, die man auch über Machtgebäude schreiben mochte. Ein eigentümlich internationalisierendes Schweifen ist, bei aller sprachlichen Verwurzelung und ursprünglichen Kraft, dieser Goethe-Klassizität eigen, es sind Wanderungen zwischen geistigen Welten. Und dies ist keineswegs eine Besonderheit deutscher Klassik, auf anderen Spitzen der Literatur findet sich dieselbe Erscheinung, von Homer bis Shakespeare. Doch diese übernational erscheinende literarische Weite bedeutet in keiner Weise Verlust an reichsgründender Kraft, im Gegenteil. Hier wird eine eigentümliche ausgreifende Triumphalität sichtbar, in welcher diese Klassik sich als wahrhaft imperial erweist. Das große Gelingen ist zwar ein solches der nationalen Sprache, es strahlt auf alle aus, welche sie herrscherlich oder gar in größerer Ordnung gebrauchen, wird zu ihrem nationalen Triumph, in seinem Namen können sie eigene geistige Ordnungskraft auf Fremdes ausdehnen. Darin aber liegt gerade das Imperiale des großen Literaturtriumphs: Nicht in den primitivierenden Versuchen, die eigenen Klassiker über die fremden zu stellen, sondern in der großen Chance, in ihren Worten eigene Gedanken über die Grenzen zu tragen, auch politische Inhalte, und damit vielfache Strömungen in wenigen großen Worten zu einen. Wer die Triumphkraft der großen sprachlichen Klassik leugnet, hat nichts von der ordnenden Kraft der Worte verstanden, mit denen ein Reich sich immer neue Provinzen nicht unterwirft, sondern angliedert. In der Bewunderung für seine Klassik, in der Triumphalität ihrer selbst völlig unpolitischen glücklichen Worte, dehnt sich ein geistiges Reich aus, in Gedichten wird vorgesungen, was dann in imperialen Befehlen geordnet wird, in derselben Sprache, mit demselben ausgreifenden Anspruch. Dass es ein Reich der Sprache gibt, dass es die großen Klassiker schaffen und beherrschen, wird niemand bestreiten, auch nicht, dass es politische Kräfte ersetzen kann und überleben. Die Klassiker sind sicher nicht Staatsliteratur, nur Geschriebenes zum Herrschergebrauch. Fraglich kann allenfalls eines sein: Liegen in ihren Werken triumphale Kräfte auch einer größeren politischen Reichsidee? Im Epos ist es selbstverständ-

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lieh, wird es doch in seinem großen erzählenden Ausgriff Reich gewordene Dichtung. Jedes Werk, das diesen Namen verdient, ist nicht nur triumphale Geschichte, was immer es beschreiben mag, es ist selbst ein triumphales Faktum, welches das Beschriebene als ein mächtiges Monument in die eigene geistige Welt stellt. Ein Epos ist immer Reichsdenken, der Triumph einer großen Begebenheit. Auch die Tragödie, alles größere Schauspiel einer klassischen Literatur erreicht die Dimension epischer Triumphalität. Auch hier ereignet sich Größtes, in der Kraft der Literatur. In der Triumphalität der shakespeareschen Königsdramen ist schon das englische Empire aus dem germanischen Dunkel getreten. Aristoteles hat uns gelehrt, dass dort Könige auftreten müssen - weil Reich gespielt wird. Der große Sieg liegt in der Einmaligkeit des Vorgangs, vor dem sich auf Dauer alle Zuschauer neigen. In der Triumphalität einer Reichsdichtung bilden Epos und Drama eine Einheit, doch Triumph ist auch im großen lyrischen Wort: Es ist der Sieg des Augenblicks, die Einmaligkeit eines Gefühls ohne Grenzen, die göttliche Freiheit eines Wortes mit neu geschaffenem Inhalt. In solchen Worten erkennt sich eine Nation, eine Epoche, ein Reich. In dieser ausgreifenden Kraft des so ganz Einzelmenschlichen liegt etwas von der Virtualität einer Reichsidee, das große lyrische Ereignis öffnet die Augen auch für eine so ganz gefühllos erscheinende politische Triumphalität, in der doch soviel ist von großer geschichtlicher Lyrik. Nicht immer bleibt einem allein gegeben, einen literarischen Ausgangstriumph für das geschriebene Reich mit einer Zunge zu setzen. Öfter noch traten in einer Periode literarischer Klassik mehrere zusammen, in Deutschland, Frankreich und anderswo. Viele literarische Großtaten werden zu einem Triumph der Klassiker, als solcher sind sie, unbewusst, Generationen von Schülern und Bürgern immer gegenwärtig. Da ist etwas, das weit mehr zusammenhält als ein Nationalgefühl, eine sprachliche Selbstverständlichkeit; in den vielen Worten der Zahlreichen, in dem einheitlichen ausgreifenden Schwung ihrer Periode wird der Ausgangspunkt gesetzt für ein Reich des Geistes. So ist es denn, als hätte alles Spätere schon auf einer ihrer Seiten gestanden, so wie die ganze große Reichsordnung in der Stunde des säkulären Sieges ganz schon da war. Kunst und Literatur - ob sie triumphieren wollten oder nicht, wir spätere Erben fühlen diese ihre imperiale Macht, vielleicht legen auch nur wir sie in die Ausgangskraft eines Imperiums, in diese Reichs-Dichtung. 5. Wissenschaft als Triumph a) Forschung und Lehre - notwendige Einheit in einer wahrhaft „politischen " Universität Wie der große Liberalismus in seiner Kunstfreiheit, unbewusst vielleicht, etwas wie einen Raum triumphaler Selbstentfaltung zu bewahren suchte, so war ihm die

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Forschung und ihre Lehre heilig - vielleicht wollte er dort Siegesstimmungen schaffen, welche seinen ökonomischen Erfolgen reichsgründende Höhe und Tiefe sichern sollten. Aus ähnlichen Gründen wie die Kunstfreiheit sind auch Wissenschaft und Forschung von der Krise des Triumphalismus erfasst worden. Wenn das Wort vom geistigen Triumph hier überhaupt einen Sinn haben soll, so kann dieser nur in Forschung errungen werden, nie allein in einer Lehre, die ihn allenfalls noch weitergibt. Die Schule als solche triumphiert nicht, doch sie bedeutet die Feier der triumphierenden Lehrer, und es liegt sicher ein tieferer Sinn darin, wenn eine Verfassung „die Forschung und ihre Lehre" in Freiheit halten will: Aus der Sicht des Triumphalismus, der Gründung größerer Ordnungen aus geistigen Erfolgen, ist diese Einheit eine unbedingte Notwendigkeit, denn der „stille Sieg" des Forschungserfolgs allein kann ebenso wenig politisch wirken, wie seine Popularisierung je mehr bedeuten wird als eine Staatsveranstaltung ohne Triumph. Tritt aber die Forschung in Lehre aus ihren engeren Kreisen, so hat sie in diesem Vorgang selbst eine Chance zum geistigen Triumph. Etwas Triumphales liegt ja schon im Namen der Hochschule selbst, das einzige, was sie mit dem Begriff der Universitas gemeinsam hat, ist eben diese Triumphalität, im Bewusstsein, in einsamer Höhe über allem zu stehen und zugleich derart auszugreifen, dass es außerhalb nichts mehr geben kann - jenseits von diesem „Reich des Geistes". Wenn die Reichsidee je hat voll vergeistigt werden können, dann in dieser Vorstellung von der grenzenlos großen und darin notwendig freien Universität. Darin ist auch durchaus etwas Politisches, und jene unglücklichen Reformer, welche die Politisierung der Hochschulen predigten, mögen dies wohl gespürt haben, nur setzten ihre Angriffe eben dort an, wo sie die politische Kraft der Universität gerade tödlich treffen mussten, anstatt sie zu steigern: Sie wollten ihr, in Verschulung und Massenausrichtung, den triumphalistischen Schwung nehmen, in dem sie aber allein politisch wirken kann, und mehr als das - darin allein wird sie zu einem Reich.

b) Universität - ein Imperium aus geistigen Triumphen Das Verhängnis des Liberalismus war, dass er überall nur Freiheiten sichern wollte, nicht Institutionen, welche sie zwar begrenzen, doch ihre politische Wirkung auch sichern. So wird immer weiter die typisch liberale Diskussion geführt, wie weit Freiheit von Forschung und ihrer Lehre in hohen Schulen monopolisiert sein könne, ob sie nicht jeder Wissenschaft vorzubehalten sei. Liberalem Denken entspricht es sicher, den Wissenschaftsbegriff ebenso unfassbar werden zu lassen wie den der Kunst, Gelegenheiten, Liebhabereien, vor allem Geschäft mit denselben politischen Privilegien beglücken zu wollen wie Rektoren und Professoren. Blickt man nur auf forschende Tätigkeit als solche, so ist dies unangreifbar. Doch wer geistige Triumphalität hier bewahren, neu wecken will, für den muss im Vor-

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dergrund jene Institution stehen, in welcher der Forschung und ihrer Lehre allein ein imperialer Raum des Triumphierens geschaffen wurde, in dem aus Triumphen geradezu ein Reich des Geistes schon über Jahrhunderte errichtet worden ist - die Zusammenfassung der Wissenschaft in der Universität. Hier berühren sich in der Tat Imperialität und Triumphalität, wird die eine aus der anderen geboren und laufend gesteigert. Von einem Reich her gedacht bedeutet eine Zusammenfassung der verschiedenen Fakultäten die eine Einheit eines höchsten, gottähnlichen Geistes, welche sich über dieser größten Vielfalt wölbt, die es geben kann; und bereits die Zusammenfassung verschieden spezialisierter Lehrstühle in Fakultäten bedeutet ja eine imperiale Organisation, in der Einheit über der Vielheit, wie auch in der Kraft einer sich selbst tragenden Ordnungsidee, welche auf Zwang und Gewalt verzichten kann. Triumphalität aber hat dieses Reich des Geistes hervorgebracht, sie allein kann es laufend halten, mit ihrem Niedergang zerfällt es: Da sind die geistigen Großleistungen und Entdeckungen, welche Lehrstühlen und Instituten, ganzen Universitäten ihren Namen gaben und ihren dauernden Glanz; da ist der ständige Einsatz im Kampf um den geistigen Sieg, nicht so sehr über das Unwissen als über den noch so schöpferischen Zweifel. Wer je etwas von Forschung erleben durfte und ihren Ergebnissen, der weiß, wie hier Triumphe gefeiert werden, und vielleicht ist alles Tun an einer wahren Hochschule nur darauf gerichtet, zu finden, sodann aber in der Verbreitung der Erkenntnisse erst recht zu triumphieren. Jeder verdiente Aufstieg zu einem Lehrstuhl kommt aus solchen geistigen Triumphen, welche auch persönliche sind im Leben des universitär gekrönten Forschers, und selbst wem dies versagt bleibt, auf den wird doch immer die Institution wirken, in der etwas gegenwärtig ist wie ein unsichtbarer Sieg. Die unbegrenzten Möglichkeiten der Erkenntnis, die heutige Sicherheit bereits noch völlig unabsehbarer Erfolge - all dies schafft einen „Triumphalismus in die Zukunft hinein", der letztlich aber aus den früheren Großerfolgen kommt. Der futuristische Triumphalismus heutiger Naturwissenschaft ist nichts als die Projektion vergangener Erfolge, da wäre nur Maulwurfsarbeit, wiese nicht die Bewunderung vergangener Triumphe den Weg zu immer Neuem; und so löst sich das Paradox auf, dass kaum irgendwo so geschichtsüberzeugt gedacht wird, so historienbegeistert wie in jenen so nüchtern erscheinenden Fakultäten. Doch da ist nicht nur eine Triumphalität mit imperialem Schwung und dem Anspruch der größeren Institution - ein Reich ist das Ganze bereits, und es wirkt imperial. Nie wird es Wissenschaft geben, wenn ihre Träger sich nicht als Senatoren einer gelehrten Republik fühlen, Bürgername ist hier zuwenig, und vielleicht definiert sich ein Reich darin auch, dass es in ihm Senatoren gibt. Dies ist der Wissensstaat, mit einer Öffnung zum Reich der Weisheit. Seine Stützen wollen nicht etwa Freiheitsspiele veranstalten, ihnen geht es immer um einen Tempelbau. Deshalb auch wird Freiheit in all dem letztlich so klein geschrieben - weil sie einerseits selbst-

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verständlich ist, zum anderen aber niemals Selbstzweck sein kann, ist sie doch nur eine Stufenleiter zur Höhe der geistigen Triumphalität.

c) Wissenschafts-Lehre

- Reichsvermittlung

Diesen triumphalen und imperialen Institutionen sind seit Jahrhunderten die besten Jahre geistiger Eliten anvertraut. Was sie im Einzelnen dort lernen, ist noch immer, von höherer politischer Warte aus, völlig gleichgültig gewesen. Oft recht hilfloser Widerstand gegen Verschulungsstöße fragt immer wieder, warum man denn nicht erkenne, wie wichtig es sei, Universitas zu erleben. Was eigentlich damit gemeint ist, kann nur ein anderer Satz ausdrücken: Universität bedeutet das Erlebnis geistiger Triumphalität, den Beginn eines politischen Bürgerlebens im geistigen Triumph, der dann in den folgenden Jahren in den Staat getragen wird und ihn immer wieder zum Reich steigern will. Akademikerdünkel anprangern das ist so billig wie die schalen Angriffe auf die große Bourgeoisie: Was politisch zählt und so lange Zeit groß gewesen ist, das war der Stolz von Menschen, denen in ihrer Jugend, zu einer Zeit, welche allein vielleicht zu triumphieren vermag, die Begegnung mit der Grenzenlosigkeit geistiger Erfolge geschenkt war, welche sich aufhalten durften in der Nähe des reinen Suchens und Findens, welche von dort nicht nur ein Gefühl der Freiheit, sondern etwas von einem triumphierenden Reich mitgenommen haben in die Niederungen ihres späteren Lebens, ihrer kleineren Staatlichkeit. Universitäten waren Schulen des Reichs, nicht nur in ihren Anfängen von Bologna, Padua und den anderen theologischen und juristischen Reichs-Schulen. Wiederbegonnen hat das zerstörte römische Imperium in der universitären Triumphalität dieser machtlosen Institutionen, welche etwas zutiefst Imperiales bewiesen haben: dass nämlich ein wahres Reich, wo immer es steht, keine Waffen mehr braucht, weil es auf unendlichen Triumphen gegründet ist. In ihren ersten Anfängen ist die europäische Universitätsgeschichte voll und ganz triumphal gewesen: Das Reich ist wiederentdeckt worden in seinem größten Triumph, in dem seines Rechts. Weil diese Pandekten, welche nichts anderes mehr waren als eine letzte Restauration, nunmehr als triumphaler Aufbruch, vielleicht in historischer Verkennung, verstanden wurden - aus diesem geschichtlichen Missverständnis, das aber ein imperiales Verständnis war, sind geistige Reiche gewachsen. Erkenntnis und Weitergabe war hier eine Einheit, und erst heute ist zu besorgen, dass diese säkulare Reichs-Vermittlung zur Wissensvermittlung verflacht. Ängstlich rechtfertigen heute die Universitäten ihre gesellschaftliche Nützlichkeit mit Berufsvorbereitung und dem kleinen Glück von zehntausend späteren Ingenieuren. Damit allein werden sie sich nie beweisen können, ebenso wenig wie mit dem Hinweis auf Denkmethoden, welche sie berufen seien weiterzugeben; geistige Turnlehrer braucht eine Gemeinschaft nicht so hoch zu bezahlen. Dann aber findet die Universität zu ihrem höheren Sinn, einem wahrhaft politischen,

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wenn sie Triumphalität vermittelt, Triumphoffenheit und Triumphkraft über die Elite in eine ganze, größere Gemeinschaft bringt. Eine solche Universität hat nie einen engen Staat gekannt, immer war sie einem Reich verpflichtet. Die nationale Internationalität, welche in dieser Lehre Wirklichkeit wird, gründet täglich ferne und nahe, bekannte und noch ganz unbekannte Provinzen, die sich zusammenschließen und wieder trennen, immer aber unter einer riesigen Kuppel, der Gemeinsamkeit einer Erkenntnisbemühung, die im Letzten ebenfalls - konvergiert. Nicht umsonst hat es universitären Provinzialismus nie gegeben, soweit die Hochschule diesen Namen noch verdiente, ihre Lehre wirkte immer für ein Reich, so wie ihre Triumphe groß genug waren, ein Imperium wahrhaft zu erfüllen.

d) Deutscher Professoren-Triumphalismus ein vergangenes Jahrhundert?

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Unerreichte Höhe hat der universitäre Triumphalismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts erreicht. Die heutige Kritik und Verteidigung der Humboldtschen Universitätsidee ist allzu oft an einem Zentrum dieser Vorstellungswelt vorübergegangen: Sie sah ein neues Reich kommen, sie wollte ihm einen geistigen Triumph voranstellen. Vertiefte Betrachtung aber vermag leicht zu erkennen, dass die heutige Ablehnung Humboldtscher Ideale vom Antitriumphalismus und vom antiimperialen Grundgefühl getragen ist, welches sich in der Gegenwart verbreitet. Organisation und Zielen dieser Hochschulreform in ihrer Fortsetzung in den Wilhelminismus hinein wird ja nicht gerecht, wer da nur Konservatives sieht oder gar eine reine Rückwendung zu Werten einer fernen Vergangenheit. Elitarismus und Historismus verbinden sich dort in ganz anderer Weise: Jene wesentliche Geschichtlichkeit, welche, aus antikem Denken heraus, über diese ganze Hochschullandschaft ausgebreitet ist, versteht sich keineswegs als ein Fortdenken früherer Ideen; im großen deutschen Idealismus und Historismus scheint so die ganze Zeit still zu stehen, worin? In einem ganz großen Triumph des endlichen Verstehens der Vergangenheit, welche nunmehr definitiv geistig geordnet wird. Der Triumph dieser humboldtschen Wissenschaftlichkeit liegt darin, dass die Forschung und ihre Lehre, nun endlich von allen Fesseln befreit, in eine elitäre institutionelle Form gegossen und auf das Ziel der Elitebildung gerichtet, sich ihrer ganzen Kraft mit einem Mal bewusst werden: Über der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts steht, schon längst bevor ein Kaiser es aussprach, das imperiale Wort „Es ist erreicht" - nicht als ob alles Wissen gewonnen wäre, wohl aber in dem Sinne, dass alle spätere Erkenntnis schon vorweggenommen erscheint in einer Organisation und einer universitären Grundhaltung aller Bürger dieser Gelehrtenrepublik, welche sich in ihrer imperialen Weite durchaus schon als ein Vorläufer des kommenden Imperiums der Deutschen versteht. Nie vielleicht ist der innere Zusammenhang von geistigem Triumphalismus und Reichsschöpfung deutlicher geworden als in diesem Professorentriumph, in welchem die Talare einem Reich vorausschritten.

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Buch 1: Der Triumph

Wer mit einem politischen Bewusstsein durch die Hallen deutscher Universitäten aus dem 19. Jahrhundert geht, der fühlt die ganze Distanz dieser Welt zu jenen geistigen Mehrzwecke-Laboratorien, welche auf Industriegeländen errichtet sein können. Sie scheinen Bezug nur in die Zukunft hinein zu haben, sie sind abschreibbare Güter. Die alte Universität wohnte in Gebäuden, in denen, bei aller Strenge und Bescheidenheit, etwas wie eine schweigende Triumphalität herrscht: Die Wissenschaft ist entdeckt, in einem großen geistigen Sieg, es gilt nur mehr, ihn immer weiter zu entfalten.

e) Wissenschaftsfortschritt

gegen Wissenschaftstriumph?

Heutige Kritik ist hier rasch zur Stelle: Was kann mehr Vergangenheit sein als ein solches Denken, sind diese geistigen Sicherheiten nicht mit einem Imperium zerbrochen, an das sie sich oberflächlich banden? Doch die Kritik geht tiefer, sie richtet sich gegen den universitären Triumphalismus als solchen, gerade aus einer Wissenschaftlichkeit heraus, welche doch einen „Sieg im Sinne reichsschaffender Triumphe" nicht zu kennen scheint. Wissenschaft ist nicht politisch festgelegt, gerade die Vertreter früher dominanter Werte wollen sie mit aller Kraft stets offen halten ohne jede Identifizierung mit Staatsformen, noch weniger also doch mit Ordnungen imperialer Größe. Wo noch die Idee einer Gelehrtenrepublik lebendig ist, da wird sie zur Gruppe im pluralen Staat, führt etwas wie eine eigene Außenpolitik ihm gegenüber, grenzt sich ab, nicht nur von seiner Polizei, sondern selbst von seiner Fördergewalt. Wie aber soll ihre Organisation da staatsgrundlegend, triumphierend hinausgreifen in die Ordnung der Gemeinschaft? Sie kann es doch auch gar nicht, denn wo echte Wissenschaft ist, muss Bescheidenheit herrschen, eine Selbstkritik, die keinen ihrer Erfolge mit jener Endgültigkeit umgibt, welche allein den Triumph anführt. Dies zumindest hat die moderne Naturwissenschaft gebracht, alle übrige Forschung und ihre Lehre ist ihr gefolgt, darin liegt doch die gewandelte Grundstimmung des heutigen Forschens und Erkennens, dass alles schon wieder falsifiziert ist, was Siege hätte bedeuten können oder bleibenden Triumph. Werden nicht Wissenschaftstriumphe mit ihrer Veröffentlichung sogleich zu Wissenschaftsgeschichte, ist nicht alles nurmehr wissenschaftlicher Fortschritt, eine Entwicklung, die als solche nie triumphal sein, nie ein Reich bauen, immer nur geistige Illusionen zerstören kann? Viele wollen daher heute Wissenschaft so ganz anders sehen als noch nicht lange zuvor: Der Geist mag in ihr große Staatsereignisse begleiten, doch er ist nicht mehr als eine der vielen Staffagen für Staatsglück, nicht ein Träger von Triumphen für ein größeres Reich. Und die Wissenschaftsangst schließlich, aus Atombomben geboren und ständigen Irrtümern käuflicher Experten - löscht sie nicht alle Feuer der Triumphalität? Was mit unwiderstehlicher Kraft mitreißt in eine unbekannte Zu-

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kunft voller Sorgen, soll dies wirklich noch einen Triumph bedeuten, wo ist da jenes Reich, in dessen Hallen der Fortschritt zur Ruhe kommt? All dies sind antitriumphalistische Herausforderungen größter Dimension, auf sie geben die futuristischen Begeisterungen um eine Mondlandschaft sicher noch keine überzeugende Antwort. Dennoch - diese Fortschrittshast ist nicht das Wesen der Wissenschaft, Nobelpreisfeiern lassen immer von neuem die Atemlosigkeit zur Ruhe kommen in einer Stimmung des Erreichten. Doch dies allein, alle Universitätsfeiern und Auszeichnungen - das könnten im Grunde vielleicht doch nur medienkonforme Ausdrucksversuche eines Bereichs sein, der zwischen Sport, Politik und so vielem anderen eben auch noch „interessant" bleiben will. Das Problem liegt tiefer: Wenn nicht etwas wie ein Reich in der geistigen Luft liegt, wenn sich nicht ein imperiales Denken in größeren Dimensionen verbreitert, so fallen auch Wissenschaft und Geist in reine Fortschrittlichkeit, gehen darin unter. Sie allein können eine Triumphalität nicht retten, die überall verloren geht. So ist denn wohl der Weg ein umgekehrter bereits gewesen: Nicht die Forschung und ihre Lehre haben triumphales Denken aufgegeben, eine enttriumphalisierte Umwelt hat sie daraus verdrängt. Es gilt, in Geduld und in einer Ruhe, welche nicht nur auf Möglichkeiten und Ängste blickt, sondern auch Erreichtes sieht, in der Wissenschaft und an den Hochschulen die Grundlagen, vielleicht nurmehr Ruinen, früherer Triumphbögen freizulegen, sie in jener Grundstimmung vor allem neu hochzubauen, in welcher der Geist noch immer Organe für persönliches und überpersönliches Triumphieren entwickeln konnte, und für seine Feiern. Dort wird ja stets eine Bereitschaft sein, Zauberlehrlinge nicht nur zu entbinden, sondern auch wieder zu beherrschen, und bis in die Tiefen der professoralen Eitelkeit hinunter liegen überall heute vielleicht verschüttete persönliche und noch größere Triumphe. Nur eine neue Generation, die wieder etwas von all dem entdecken darf, auch für sich selbst, kann den wahren Fortschritt des Geistes erneut aufnehmen: nicht von Sorge zu Angst, sondern von Triumph zu Triumph. Um es zusammenzufassen: Geistige Triumphalität liegt nicht auf den Heerstraßen der politischen Geschichte wie Schlachtfelder und Siegesfeiern. Nur selten kann der Geist wahrhaft große Siege feiern, epochale Erfolge erringen. Schwächer ist seine Wirkung auf die heute entscheidenden Massen, unbestreitbar nur selten, enthält und verlangt er doch allzu viel an Verständnis und Wertung. In der Renaissancehaftigkeit erreichen Kunst und zuzeiten auch Literatur große Siegeskräfte, in ihnen wird schon ein „großes Gelingen" sichtbar, das zum reichsgrundlegenden Triumph hinaufwächst. Entscheidend ist dann die Größe solcher Werke, ihr Siegescharakter über geistige Widerstände, der auch in endgültigen Formen liegen kann, nicht zuletzt aber eine politische Wendung, und sei es auch nur in der Wiedererweckung früherer imperialer Größe. Triumphal wirkt also der klassisch-geistige Erfolg, seine geistige Renaissance.

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Buch 1: Der Triumph

Jenseits von diesem „inneren Triumph des Geistes", den dieser selbst hervorzubringen vermag, stellt er immer wieder Triumphformen auf, er wird zum Begleiter der großen Triumphzüge. Der geistige Sieg vergrößert den politischen nicht nur, er kann ihn, das wird sich noch zeigen, erfinden. Und indem er sich als TriumphBegleiter anlehnt an politische Siege, wird er ihr Beweis für spätere Zeiten und erscheint dann geradezu als Teil politischer Großerfolge. Politische Siege - wie oft sind sie nicht furchtbar und banal. Doch wenn es ihnen gelingt, sich ihre Sänger und Künstler, ihre Historiker und Ingenieure zu rufen, sich in ihren geistigen Siegen fortzusetzen, so wird bald eine spätere Generation nurmehr goldene Zeiten des Sieges sehen. Und ist dies nicht auch geschehen in den blutigen Zeiten des amerikanischen goldenen Westens, setzt es sich dort nicht noch heute täglich fort, in Film und Gesang? Um ein größeres Bild zu gebrauchen: Die geistigen Triumphe sind wie die Seraphim, welche den Thron des politischen Glücks umschweben - den Menschen erscheinen sie später vor allem, ihre Worte und Zeichen werden daher verehrt als das Göttliche in der Politik, das sich Reich nennt. Triumphatoren haben stets Engel gerufen oder formen lassen; wenn der Geist wieder unsichtbar, doch unüberhörbar triumphieren kann, in der Gestaltung und im Wort und im Wissen, dann ist auch das Reich wieder nah.

V I . Der „soziale Triumph" - Frieden als Sieg 1. Ein neuer Triumphalismus: Die kommunistische Siegesidee a) Der Klassensieg Es ist, als könne keine Epoche ohne Triumphalismus leben; wandeln mögen sich die Inhalte der großen Ordnung, welche er grundlegen will, gleich bleibt die begeisternde Kraft, ja oft selbst die äußeren Formen. Kaum schwächte sich die barocke Siegesstimmung ab, da begann schon der demokratisch-liberale Triumphalismus, noch hatte er nicht die Skepsis der Restauration erreicht, da erhoben sich neue Rufe zu Kampf und Sieg in der marxistischen Revolution. Und alle diese Triumphalismen haben sich immer bald auch auf Schlachtfeldern beweisen wollen. Der Kommunismus war die große triumphalistische Bewegung des vergangenen Jahrhunderts, mit allen Zeichen einer solchen, in ihm lag der Schwung zu einem Universalreich, ein großes Imperium hatte er schon geschaffen. Neue Reichsformen, vom „sozialistischen Lager" zur „internationalen Solidarität", waren Ergebnisse eines erneuerten Triumphdenkens, doch Reich und Triumph gehörten wieder untrennbar zusammen, am sozialistischen Neo-Triumphalismus waren alle Zeichen der reichsgründenden Kraft.

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- Etwas ganz Großes soll kommen, eine Neue Ära, in der alles frühere Staats-Unglück erlöst, alle Spannungen in einer großen Ordnung gelöst werden soll. Die großen Gesellschaftsphasen der Geschichtstheorie des Kommunismus, Sklavenhaltergesellschaft und Feudalregime, zeigen deutlich, dass er zu einem neuen Reich führen will: Alles Bisherige war finsteres Mittelalter, eine Periode vielleicht nicht „zwischen den Reichen", wohl aber „vor dem einen End-Reich". - Als das Ergebnis von Kampf und Sieg wird dieses Imperium kommen, dies ist kommunistisches Credo. Seine ganze Geschichte wird militarisiert, vor allem das an sich doch so Friedliche, die Arbeit. Im Klassenkampf beginnt der Weg, doch für den Kommunisten liegt in diesem Wort des Kampfes schon „Klassentriumph". Der Endzustand kann nicht errungen werden, wenn der Triumphzug nicht führt über die Leichen der erschlagenen Klassenfeinde oder Abweichler, und stärker als romantisierender Blutrausch ist das kalte Kalkül der Triumphalität im vernichtenden Sieg des Proletariats. Klassenkampf - das war kein Wort, das sich streichen ließ; in ihm lag die Reichskraft des Kommunismus. - Der große Sieg war dann nicht etwas Fern-Gewünschtes, er war schon da, sein Reich hatte er bereits gegründet. Die Verbindung mit der Russischen Revolution musste gehalten werden, in ebenso triumphalistischen Formen der Oktoberparaden am Roten Platz, wie diese Revolution als triumphale Zuversicht ausstrahlte in die Herzen aller, die am großen Reich weiterbauen. Wann auch immer dieses Imperium vollendet sein würde, sein Epos hatte es bereits gefunden. - Für Kommunisten gilt: Der revolutionäre Triumph der Massen war und ist nicht nur eindeutig, er wird als endgültig verstanden, im marxistischen Determinismus hängt die große triumphale Sicherheit der Kontinuität des Sieges. Dieses Reich hat nichts mehr Zufälliges an sich, es muss kommen, weil der große Sieg schon war. - Weiter wirkt dieser Endsieg, er ist Kraftquelle, nicht nur immer fernerer Hintergrund, er ist Evangelium, nicht nur Gesetzbuch des Reiches. - Und in Begeisterung schließlich wurde dieser Triumph des Klassenkampfes gefeiert, in Heroisierungsformen, welche Betrachtern heute primitiv erscheinen mögen, so wie wohl auch späte Griechen die Formen barbarischer Siegesfreude nicht verstanden. Doch darin lag nur das Bekenntnis zum eigenen Sieg, mit aller Kraft, deren sein Träger, das einfache Volk, nur fähig sein kann, und es bedurfte eben auch großer äußerer Formen, der Reichsarchitekturen, damit es sich wiederfinde in seinem ganzen Triumphalismus des Klassensieges. Wenn er über die Grenzen reichte, in der Vereinigung des Proletariats aller Länder, so lag auch darin etwas wie eine größere Reichs-Hoffnung; von den Anfangserfolgen der Revolution aus betrachtet mag sie immer weiter zurückgenommen worden sein, etwas von der Überzeugung einer Einheit aus gemeinsamem Sieg blieb erhalten, und wenn sie noch so weit verdämmerte.

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Buch 1: Der Triumph

b) Entmilitarisierung,

Entökonomisierung des Triumphalismus

Ein sozialer Triumph sollte dies sein, darin die einzige große triumphalistische Alternative zu früheren Großerfolgen. Nicht eines der früheren Imperien sollte hier entstehen, in militärischer Beherrschung oder in ökonomischer Ausbeutung, das Reich des Kommunismus würde ein anderes sein, wie auch sein Triumphalismus sich gewandelt hat, in Entmilitarisierung und Entökonomisierung. Das Gefühl für solches Denken ist bald verlorengegangen, weil dieses Wort zu einfach gleichgesetzt wurde mit äußeren Formen vergangener Erfolge. Der zivile Triumph der Arbeit über das Kapital, wie ihn der Kommunismus will, ist ganz Sieg, und auch auf Barrikaden errungen, doch sein Wesen ist schon Gesellschaftsordnung, nicht Kraftprobe. Dass da noch viel zu tun, in Gleichheit immer mehr ausgestaltend fortzusetzen ist, nimmt dem Ausgangsereignis nicht sein Gewicht, aber auch nicht seinen „gesellschaftlichen" Charakter: Hier wird im Sieg schon geordnet, nicht nur geschlagen, Militarisierung ist nur äußere Form, unter der Uniform wird der Arbeitsanzug immer noch getragen. Mit wirtschaftlichen Forderungen triumphiert eine solche Revolution, doch in gewissem Sinne ist sie bereits in ihrem Ausgangspunkt entökonomisiert. Denn Sieg bedeutet ja nicht das errungene Gold, Plünderungen sind zweitrangig und übrigens verboten. Der Triumphzug erschöpft sich nicht im Genuss des Geraubten, und wenn da nichts wäre, er würde nur noch größer gefeiert. Der Triumphalismus gilt dem Ende der Ausbeutung, nicht ihrer Verlagerung, die Diktatur des Proletariats konnte nie einen wirtschaftlichen Sinn haben. Dies war wirklich ein Neues, in der Geschichte der Reiche und ihrer triumphalen Anfänge: Triumphzüge - das waren früher Waffen und Beute, Zeichen militärischer und wirtschaftlicher Gewalt. Die triumphierenden Massen des Kommunismus führen keine Gewehre mehr mit sich, sie brauchen sie nicht, da sie so zahlreich sind; sie schleppen kein Gold zu Göttern, an die sie nicht glauben, denn ohnehin gehört ihnen alles, ihnen allen zusammen. Ein Reich sind sie allein deshalb, weil außer ihnen nichts ist, die wenigen früheren Herrn sind erschlagen. Und auch zwischen ihnen ist nichts, keine Waffen, mit denen sie sich gegeneinander wenden könnten, keine Beute, um welche sie sich streiten dürften. Da ist nichts als der totale Triumph der zivilen Einheit in Gleichheit. Ein erstaunliches Schauspiel - all dies sollte doch im Grunde nichts sein als ein Zustand ohne Spannung und Kraft, als eine Masse, welche Triumphalismus nicht kennt - und doch ist nie etwas so begeistert gefeiert worden. Sollte nicht doch die Idee des Triumphalismus noch größer sein als Waffen und Beute? Ist nicht überall dort ein Reich, wo eine große Vielheit endgültig verbunden erscheint, ist dies nicht ein Sieg, nicht über Menschen, wohl aber über das, was sie immer getrennt hat? Alles, was sich an sozialer Begeisterung heute findet, stellt diese Fragen noch immer, welche der Kommunismus nur gesteigert hat - wahrhaft triumphal.

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2. Triumphieren durch Verteilen? Der soziale Triumph lebt aus Verteilung in Gleichheit. Wenn das Ausgeteilte genossen wird, verlieren sich seine politisch gestaltenden Kräfte, im Eudämonismus als Gegenpol zum Triumphalismus. Und Gleichheit - ist sie nicht weit mehr ein Endzustand als ein Ausgangstriumph? Lässt sich wirklich in sozialen Errungenschaften triumphieren, gibt es ein Reich der sozialen Errungenschaften? Zweifel drängen sich auf.

a) Vom militanten Kommunismus zum triumphalen Sozialismus Der Kommunismus hat noch immer zu faszinieren vermocht, nicht nur wegen seiner politischen Leistungen, sondern, im Letzten Grunde, aus seinen militärischen Großerfolgen heraus, welche dann sozialer Überzeugungskraft zugeschrieben werden konnten. Die Militarisierung des Sozialismus im Kommunismus war in den Anfängen der sozialen Bewegung angelegt, sie hat die tiefe Zäsur gebracht zwischen Sozialdemokratismus und kommunisierendem Sozialismus. Der erbarmungslose Kampf gegen Abweichlertum, seinerseits bereits ein Ausdruck fortgeschrittener Militarisierung des Kommunismus, erklärt sich aber vor allem aus der Tiefe des Gegensatzes zwischen einem im Letzten triumphalistischen, reichsorientierten, Sozialrevolutionären Denken und, auf der anderen Seite, dem evolutionistischen Errungenschaftsstreben der Sozialdemokratie. Die Gewaltsamkeit des Kommunismus ist kein Akzidens dieser Weltanschauung, sie bedeutet deren triumphierenden Kern. Er kann gar nicht entmilitarisiert werden, ohne seinen Triumph-Gegenstand zu verlieren, damit seine eigentliche Legitimation: den endgültigen, säkularen Sieg über einen ganz großen, furchtbaren Gegner. Der Kommunismus entmilitarisiert nicht etwa alles zu einem zivilen Triumph sozialer Verteilung, er militarisiert sogar diese wesentlich gesellschaftlichen, unmilitärischen Vorgänge, er treibt sie wenn nicht aufs Schlachtfeld, so doch in den Kampf, über soziale Unruhen und Revolution. Dies ist, aus der Sicht einer Theorie des Triumphalismus, die tiefere Bedeutung des Streites um die „größere oder geringere Radikalität" auch der sozialistischen Bewegung. Im Grunde sollte sich daran doch ein Bruderkrieg nicht entzünden können, kann wirklich eine Methodenfrage derart entzweien, wo doch, ganz ersichtlich, dieselben Ergebnisse auch auf den leiseren Sohlen des" Sozialdemokratismus immer errungen werden konnten, oder gar noch Besseres? Wäre das Ziel der materiellen Glückseligkeit all ihren Richtungen so vollständig gemeinsam gewesen, so könnten sich in den Methodenunterschieden zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten nicht zwei Welten trennen, schon lange hätte es zu viel weitergehender Konvergenz kommen müssen. Die eigentlichen Unterschiede liegen aber eben nicht in einer ökonomischen Doktrin, sie finden sich im Staatsverständnis: Sozialdemokratismus will letztlich einen enttriumphalisierten Sozialsieg oder besser: Er-

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Buch 1 : Der Triumph

rungenschaften ohne Sieg, wie sie eben aus dem Halbrund eines Parlaments herauskommen können, wo von Gesetz zu Gesetz, von Zusatzantrag zu Änderungsvorschlag millimeterweise Verteilung gesteigert, die soziale Landschaft verändert wird. Unterschiedlich waren stets nicht nur die Kräfte, welche hinter den linken Gruppierungen stehen, es unterscheiden sich ganz wesentlich auch die Ziele, die sie anstreben, Triumph und Imperium sind auch hier, in einer so ganz ihnen fern scheinenden Welt, Begriffe von entscheidender Erklärungskraft. Kommunismus fühlt hinter sich die Stärke der Revolution als Triumph, Sozialdemokraten dürfen allenfalls die Triumphalität eines Wahlsiegs kennen, jenen abgeschwächten Erfolg unter Vorbehalt, der so leicht zur schönen Vergangenheit wird. Die Grundstimmung kann nicht dieselbe sein, wenn die einen aus einem Gelingen heraus antreten, die anderen immer nur erreichen wollen. Im revolutionären Denken der Kommunisten ist schon etwas von einem Reich gegenwärtig, es muss nur entfaltet, durchgesetzt, verbessert werden; dies ist auch der Sinn ihrer unbedingten Wahrheit, ohne welche ihre Ordnung sich nie zu legitimieren vermöchte, wird sie doch aus einem geistigen Imperium bereits deduziert, während Sozialdemokraten sie in geduldiger Arbeit, induzierend, langsam enthüllen wollen - wenn es sie gibt. Kommunismus ist ganz Staatskonzept, politisch-triumphalistisch von seinen Anfängen her gedacht, sozialdemokratischer Evolutionismus ist reichsfern, triumphblind - oder hätte man sich je langsam zu einem Triumph entwickeln können? Sozialdemokraten haben, in der bisherigen Geschichte ihrer Bewegung, ihr Ziel noch nie „im Großen erreichen können", und mochten sie auch ein halbes Jahrhundert lang an der Macht sein, wie in Schweden. Kommunisten werden ihnen antworten, sie hätten eben keines, sie könnten sich auf diesen Endzustand ja nur zubewegen, wenn sie etwas von ihm schon in einem Anfang gesetzt hätten - eben in einem triumphalen Schlag. Für diese radikalere Richtung ist das Ziel einmal zum Greifen nahe, es ist gegenwärtig gewesen, und sei es auch im Blutbad, in der Zerstörung, oder in der Endgültigkeit eines Kaisermordes, der keinen Rückweg mehr offen ließ. Sozialdemokratismus dagegen bedeutet den stets vorläufigen sozialen Fortschritt - wie kann er eine Endgültigkeit erreichen, welche dem triumphalen Ereignis innewohnt? Muss aber hingenommen werden, dass immer wieder konservative Phasen dazwischentreten, die es sodann in neuen Anstrengungen zu kompensieren gilt? Dieser Sozialismus schaukelt sich zum Erfolg hoch, wirksam vielleicht, aber eben ohne triumphalistischen Schwung und daher ohne imperiales Ziel. Stets bleibt er unter dem Vorbehalt einer glücklichen wirtschaftlichen Entwicklung, welche er nur zu oft mit seinen Experimenten auch noch gefährdet, und er ist ehrlich genug, dann seine eigenen Errungenschaften zurückzunehmen. Es fehlt ihm der Utopismus der Kommunisten, der auf den vergangenen Triumph blickt und daher selbst die Gegenwart zu ignorieren wagt. Zur zähen parlamentarischen Kleinarbeit ist Sozialdemokratismus bereit, in einer Grundstimmung, welche dem tödlich erscheint, der jemals die Begeisterung

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eines großen Sieges erlebt hat. Der Sozialdemokratismus bewegt sich schließlich mit der großen Kraft der kleinen Schritte in die Macht, hier aber werden sie ihm zum Verhängnis, wenn er nicht mehr weiß, wohin er sie richtet, weil er nicht von einem großen Triumph mitgerissen wird. Die „kleinen Schritte" des Sozialismus sind der Alptraum jener Bourgeoisie, welche mit ihnen an den Rand ihrer Macht gedrängt wird, und doch sind sie selbst so bourgeois - untriumphalistisch eben: So wie das Bürgertum sich langsam und zäh in das Kapital und vom Kapital in die Macht gearbeitet hat, ohne je recht zu wissen, was es damit eigentlich schaffen wollte (denn ein Reich, das hat es nie gewollt) - ebenso seine Totengräber: Auch sie haben nichts Größeres vor mit ihren Errungenschaften; sollten sie also nicht doch nur Kleinbürger sein? Wenn dieses Wort der Gegenbegriff ist zum Triumphalismus einer Reichsschöpfung, so trifft es wahrhaft den Kommunismus nicht, wohl aber so vieles, was sich heute abspielt. Wenn Ordnungsängste sich ausbreiten, sind sie nicht Ausdruck eines triumphlos verteilenden Sozialismus, dem jeder Sieg fehlt, am Ende auch noch der Gegner, und der nichts verstanden hat von der großen Transpersonalität einer imperialen Staatsfreude?

b) Verteilung ohne Sieg und Gegner Hier helfen Proklamationen und Utopien nicht weiter, hier beginnt eine tiefere Problematik aller sozialen Verteilungsbewegungen, bis in das Reich des Kommunismus hinein: Die „soziale Errungenschaft" ist letztlich ein erwünschter Zustand, der aus einem anderen, gegenwärtigen heraus erreicht werden soll, sie ist als solche kein Sieg, denn der Feind ist schon geschlagen. Wie aber soll im gegnerlosen Sozialismus triumphiert, wie soll so zu einer größeren Ordnung fortgeschritten werden? Konservative und christlich-soziale Verteilungsversuche hatten deshalb nie eine Chance der Reichsgründung, ja nicht einmal staatsbefestigend auf Dauer konnten sie wirken, waren sie doch nichts als „reine Verteilung", die sich vorher schon darauf festgelegt hatte, dass niemand ihr Gegner sei. Von Anfang an ist der Sozialismus hier konsequenter gewesen, er wollte den Feind personalisieren, von Kampf nicht nur sprechen, und wenn es auch gar nichts mehr zu kämpfen gab. Dann mussten eben Abstraktionen genügen wie der Klassenfeind und Karikaturen aus einer Vergangenheit der Zigarren und Zylinder, die keiner der sozialen Kombattanten je gekannt hat. Doch sozialistische Richtungen, die nicht mehr Klassenkampf predigen und Revolution, können letztlich nur Zustände verändern, nicht Feinde schlagen. Und wenn eine solche Entwicklung gar mit ökonomischer Gesetzlichkeit kommen soll, wo ist der Gegner, über den sich triumphieren lässt? Verlangt Triumph nicht die Gefahr der Niederlage? Der Kapitalismus zerfasert in tausend Formen, der Kapitalist entschwindet aus dem Blickfeld der Arbeiterschaft, die immer mehr zum Kampf gegen anonyme Mächte aufgerufen wird, am Ende gegen die „Politik" und damit, in der Demokratie, auch noch gegen sich selbst. 12 Leisner

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Buch 1 : Der Triumph

Nicht ohne Gewaltsamkeit suchen sozialistische Führer jenen Feind festzuhalten, ohne den es keinen Triumph gibt, und sei es auch nur in ständigem Hinweis auf die große Vergangenheit der Arbeiterbewegung. Das ist ganz und gar triumphalistisch gedacht - die heutige Forderung aus Zuständen vor hundert Jahren legitimiert, der jetzige Kampf als Fortsetzung damaliger Siege. Doch die Realität ist eine andere. Die Arbeiterbewegung hat sich in eine geschichtliche Einbahn begeben, weil sie nicht insgesamt von einem großen Gelingen aus aufgebrochen ist. Das Reich der „sozialen Errungenschaften" muss sie nun ängstlich suchen von Erfolg zu Erfolg, damit aber nicht zurückblickend auf Triumphe, welche ihr Sicherheit geben könnten, sondern immer nur nach vorne. Dies verwickelt sie jedoch in eine Fortschrittshast, die weit weniger den Gewinn spürt als vielmehr schmerzlich auch den kleinsten Verlust. Bei all den doch wirklich großen, ja epochalen Fortschritten der Gewerkschaftsbewegung, des Sozialismus überhaupt - es ist, als seien sie ständig in eine Abwehrschlacht verwickelt, und nicht nur taktische Berechnung ist es, wenn sie alles in Gefahr sehen, nur weil weniges verloren zu gehen droht. Es fehlt eben die triumphalistische Sicherheit, weil es keinen Gegner mehr zu schlagen, sondern nurmehr Zustände zu verändern gibt, und deshalb geraten die Versuche, in Verteilung zu triumphieren, immer mehr in die Gefahr ganz untriumphaler „rein ökonomischer Erfolge", von deren desintegrierender Kraft schon die Rede war. Der soziale Endsieg sinkt dann zu einem „Klein-Kapitalismus" herab, und er hat noch weit weniger Siegeskraft als der große wirtschaftliche Erfolg. Wer verteilen kann, hat doch keinen Gegner mehr, was soll ihm ein Reich nützen, wovor ihn beschützen?

c) Internationale Sozialverbrüderung

- Desintegration der Triumphe

„Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" - das ist sicher ein triumphaler Schlachtruf. Unter ihm stand damals der Wille zu einer Weltrevolution, in der sich alle Unterdrückten in einem Reich sozialer Gerechtigkeit zusammenfinden sollten; und der erste Staat, der im Namen dieses Programmes als Reich triumphieren konnte, öffnete denn auch seine Grenzen diesen neuen Provinzen. Doch dann hat sich die Sozialistische Internationale rasch wieder von dieser Vision entfernt, nach der sie im Grunde nie gestrebt hatte. Ihr Internationalismus war ja von Anfang an etwas anderes: wie zu Hause, so auch über die Grenzen hinaus eine Solidarität mit anderen Ausgebeuteten, in einer Frontstellung gegen die Staatlichkeit, den Bedrücker, nicht auf das Ziel gerichtet, größere Ordnungen hervorzubringen. Die Begeisterung, welche in diesen Worten lag, war im Grunde eben doch eine staatsauflösende, nicht eine staatsgründende, und wenn überhaupt Siegeswillen daraus sprach, so war es eine spätliberale, damit aber letztlich doch eine Anti-StaatsTriumphalität. Viel näher stand sie der Anarchie als einem imperialen Denken, und deshalb ist die Staatlichkeit am Ende stärker gewesen als der internationalisierende

C. Erscheinungsformen des Triumphes

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Sozialismus, der es nicht vermocht hat, sie durch ein größeres Imperium zu überhöhen. Auch darin steht Sozialdemokratismus dem Kommunismus unversöhnlich gegenüber, dass dieser letztere die untrennbare Verbindung von Reichsidee und internationaler Triumphalität der Arbeiterklasse stets erkannt und hochgehalten hat, während die Internationalität des Sozialismus sich letztlich in grenzüberschreitenden guten Werken, wenn nicht in romantisierenden Beteuerungen verlieren sollte. Diese Gefahr einer wahren Anti-Triumphalität läuft jede internationalisierende Sozial-, ja Wirtschaftsbewegung, bis hin zu einem christlich-sozialen Solidarismus, der sich immer schwerer vom Sozialdemokratismus unterscheiden lässt. Weil hinter solchen Bewegungen, und seien sie auch europäisch geprägt, nur irgendetwas wie ein „Zusammensein" steht, weil hinter ihnen keine Reichsidee sichtbar wird, sind sie nicht Ausdruck triumphaler Integration zu höherer Staatlichkeit, sondern nur eines, was soziale Verteilungswünsche ohnehin nur allzu leicht anstreben: Verteilung der Siege, Desintegration der Triumphe.

d) Triumph - mehr als „ Gerechtigkeit " Der Sozialtriumph der Verteilung, wenn es denn einen solchen geben sollte, gründet letztlich in Gerechtigkeitskategorien, und von allem, was den Anspruch eines größeren Sieges erhebt, ist wohl nur ihm dies eigen. Das Gleichheitsdenken will sich ja hier nicht etwa über einen Besiegten stellen, auch der Kapitalist wird aufgenommen, wenn er zum Proletarier wird. In diesem Nebeneinanderstellen einstiger Gegner kann kaum ein Sieg liegen; ein Ereignis mag es sein, ein sieghaftes Glück kaum und warum auch, wo es doch darum geht, Ungerechtigkeiten rückgängig zu machen im Namen einer einheitlichen neuen iustitia distributiva. Von den Schwierigkeiten, in Gleichheit zu triumphieren, war schon die Rede. Hier wird nun ein tieferer Grund sichtbar: Die soziale Verteilungstriumphalität kommt, wenn es sie überhaupt gibt, aus dem Bewusstsein eines Sieges der Gerechtigkeit - doch eben dies ist dem Endsieg zuwenig. Er bedeutet immer weit mehr als einen gewonnenen Prozess, in der sozialen Verteilung dagegen liegt ein tief verwurzeltes Prozessdenken, eben in dem Drang, Forderungen durchzusetzen, wobei es dann gleich bleibt, ob die Instanz, vor der der Schwächere Recht bekommt, noch ein Richter ist oder bereits nurmehr die Gewalt der solidarischen Vielen. Gerechtigkeits- und Prozessdenken aber liegt eben in all dieser sozialen Verteilung, gerade darin ist sie zutiefst untriumphalistisch, denn der Triumphzug führt auch über alle heutige Gerechtigkeit hinweg, im Namen einer größeren, neuen Ordnung. „Gerechtigkeit" - das ist sicher einmal das Ergebnis des größeren Reiches, mit ihr kann dieses nicht beginnen. Prozessen, in denen man sich durchsetzt, ist immer etwas von der Abwehrschlacht eigen, in der „das schon seit langem Geschuldete" endlich gewonnen wird, und nichts anderes beinhalten auch die Forderungen der Sozialverteiler - deshalb kann sie ja auch ein Richterspruch, ein politischer Erfolg nie befriedigen, weil sie darin „immer nur ein Minimum" erhalten. 12*

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Buch 1: Der Triumph

Die politische Gerechtigkeit als ein Ausdruck des ethischen Minimums ist die Grundlage des Verteilungs-Sozialismus, Triumphalismus dagegen ist immer ein Wort für das Überschießende, ein Schwung zum Maximalen, das nach seiner Berechtigung nicht mehr fragt, weil es sie im Sieg herstellt. Ob Verteilungs-Moral überhaupt nur politische Müdigkeit ausdrückt, mag hier offen bleiben; sicher ist, dass der Triumph, und damit die Imperialität, in ihren Anfängen durch und durch moral-neutral sein müssen, sonst werden sie nie etwas umstürzen können, daraus aber ziehen sie ihre größere Kraft. Es mag ein schweres Wort sein: Das Reich kommt vor der Gerechtigkeit, der Triumph trägt seine eigene Gerechtigkeit in sich.

e) Verteilung - Auflösung des Triumphzugs in kleine Glückseligkeiten Wirtschaftliche Erfolge zerstören triumphale Kräfte im Eudämonismus - davon war allgemein schon die Rede, vor allem aber gilt dies für große Gewinne aus der Verteilung. Hier wird der Sieg verbraucht, die Askese, die allein zur Überwindung führen kann, hört auf, in der Gemütlichkeit der kleinen Zuteilung, es leuchten nicht die Augen des Triumphators - es wird nur noch gegessen. Etwas von Glückseligkeiten mag sein in all diesen solidaristischen Feiern, aber es ist nicht mehr das große Herausforderungs-Glück des Triumphalismus, sondern die Befriedigung, mit welcher kleine, geschuldete Geschenke genossen werden. Bald bleibt nurmehr das Gefühl eines kleinen Stückes von einem „zugeteilten Triumph", der große, einheitliche Sieg ist ausgemünzt - verteilt. Nichts mehr wird errungen, es wird nur - kassiert. Die große Gefahr aller Triumphe lag immer darin, dass sich der Triumphzug auflöst, dass der Sieger unfassbar wird und mit ihm der große Erfolg. Deshalb muss das große Gelingen auch ein großes geschichtliches Faktum sein und bleiben können, das über die Auflösung seines Zuges hinausreicht und seiner Kräfte. Das Verhängnis der Verteilungs-Triumphalität liegt darin, dass sie sich in ihrem Hauptereignis selbst bereits auflöst, dass ihr Sieg gerade die Auflösung der Machteinheit bringt, welche ihn errungen hat. Und weil dies seine Schatten vorauswirft, kann ein solcher Sieg von Anfang an nie als solcher ganz groß gefeiert werden, da er sich sozusagen in Auflösung selbst verbraucht. Und da verdämmert nicht etwa eine Große Armee in der Erinnerung der Historie, ganz fassbar und tagtäglich läuft ein Triumphzug in verteilender Glückseligkeit auseinander. Wenn schon der große ökonomische Erfolg nicht selbst Triumph sein kann, wie sollte da ein Mechanismus der zahllosen kleinen Glückseligkeiten Sieghaftes bewirken?

C. Erscheinungsformen des Triumphes

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In aller Verteilungstriumphalität ist etwas von der Freude am Mannah, das vom Himmel fällt, die Verteilung kümmert sich nicht um seine Herkunft, überhaupt nicht um das, was nach ihr bleiben oder wieder kommen könnte. Reichsdenken ist am Gegenpol angesiedelt: Das Schaffen der Schätze ist ihm entscheidend, nicht ihr Verbrauch, das Imperium umfasst all das, was bleiben wird, jenseits von Konsum und Verteilung, und deshalb vielleicht ist es immer im Bilde der großen Hallen beschrieben worden. Lager sind dies sicher für Reichtum und Glück, die emsige Verteilung und ihre irdische Gerechtigkeit wird in ihnen ohnehin stattfinden, doch das Imperium ist mehr: eine Sicherheit, dass Schiffe von allen Seiten kommen, geordnet und beladen, heute und morgen. Und deshalb ist schon der Beginn des Reiches, der Triumph, nicht wesentlich ein Verteilen, sondern ein Zusammenwerfen der vielen Beutestücke zu einem Schatz, der als solcher einem Gott geweiht wird, in dem dieser das Reich hält, in einem Reichs-Fonds, auf seinem Kapitol.

3. Soziale Befriedung als großes Gelingen a) Von der Verteilung zum Triumph der Gebenden Seit über hundert Jahren ertönen die Triumphrufe der Verteilung. Hat man sich nicht bereits daran gewöhnt, dass dies schon ein Großerfolg sei - Zugeteiltes zu genießen? Mehr und mehr verliert sich dabei der Sinn für wahre Triumphalität, die sich durchaus auch im unmilitärisch-gesellschaftlichen Bereich vollziehen kann. Das ist dann eben nicht der Sieg derjenigen, welche ihn sich „von unten" erkämpfen und ihn sogleich unwiederbringlich verbrauchen, der Triumph liegt bereits in der Reichsgründung durch die Kraft jener politischen Mächtigkeit, welche eine neue übergreifende Ordnung gesellschaftlicher Zufriedenheit hat schaffen können. Im Verteilungsvorgang selbst werden immer die einen glauben, allzu viel gehe ihnen verloren, andere sind dennoch nicht befriedigt. Nie kann in ihm und seiner kleinen Glückseligkeit der Triumph liegen, sondern nur, ins Große gewendet, im Gesamtzustand einer neuen sozialen Ruhe. So wie nicht die einzelne Kanonenkugel den Sieg bedeutet, sondern die ganze Schlacht, ebenso muss auch im sozialen Bereich die unendliche Zahl der kleinen, konsumierenden Glückseligkeiten erst emporgerechnet, integriert werden zu einer epochalen sozialen Ordnung. Und in ihr ist es dann gleichgültig, wer was im Einzelnen erhält und zu genießen vermag, entscheidend ist der Sieg über die früheren Ordnungen. Und vor allem der Sieger: Denn nun muss die Personalisierung der Triumphalität gefunden werden, es genügt nicht, Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten die Verdienste zuzuschreiben. Der soziale Triumphator ist ebenso untrennbar von Sieg und Reich wie die Räder des militärischen Glücks. Einer der größten Triumphalisten der Geschichte hat dies erkannt und sozial gewendet: Lenin ist zum Sozial-Imperator für eine Welt geworden, er triumphierte lange aus den Tiefen des Mausoleums, auf denen ein Reich stand. Das ist nicht allein mit Personalismus zu erfas-

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Buch 1 : Der Triumph

sen, hier wurde der Transpersonalismus des Triumphalen beerdigt; denn die Gebenden sind wahrhaft selig, nicht die Nehmenden, den großen Befriedigern gehört der Triumph, nicht den ständig Befriedigten.

b) Von der Befriedigung

zur Befriedung

Triumph ist Bewegung, und dies gilt sicher auch für die soziale Güterverteilung. Doch wer sie in ewiger Unruhe halten will, der verspielt in Ziellosigkeit soziale Erfolgskräfte. Wo ein Endzustand postuliert oder gar sichtbar wird, da mag auch etwas nahe sein wie ein sozialer Triumph. Soziale Befriedigung muss hier zur sozialen Befriedung emporwachsen, zum allgemeineren, größeren Glückszustand, der nun als historisch einmalig empfunden, damals wie auch später als Triumph gefeiert werden kann. Der Fortschrittsglaube weckt im Sozialen sicher triumphalistische Kräfte: Weil früher so viel erreicht wurde, kann morgen noch mehr gelingen. Doch darin gerade liegen die großen Gefahren der Selbstzerstörung, des Abfalls vom eigentlichen Triumphalismus: Das früher Erreichte wird vom Erfolg zur Armseligkeit aus der Sicht der Gegenwart, Befriedung ist das Letzte, was man will, Endzustände darf es nicht geben, würden sie doch die Dynamik brechen. Hier muss eine Wende gelingen, wenn jemals wieder etwas wie eine größere soziale Befriedung kommen soll. Frühere Zeiten konnten Triumphe genießen, weil sie ein großes soziales Glück auch schon in einer fernen Vergangenheit erreicht sahen, in den goldenen Jahrhunderten des römischen Reiches, weil sie sich ihm wieder nähern wollten. Wer immer an reiche, glückliche Vergangenheiten sich erinnern kann, der hält soziale Befriedung für möglich und mag sie erstreben; wem alles Vergangene nur Ausbeutung und Irrtum war, der läuft hinter möglichen Triumphzügen her. Allzu sehr hat sich die glückhafte Triumphalität der Vergangenheit aufgelöst in ein Doppeltes: zum einen in die dauernde, schwächliche Sehnsucht nach der „guten alten Zeit", zum anderen in die reine Hoffnung auf die bessere Zukunft. Dass die Vergangenheit triumphal schon war und daher groß wieder werden wird - diese Verbindung ist gerissen. Der Fehler liegt darin, dass man stets nur Genusszustände vergleicht, damit den Weg zu einer Vorstellung triumphaler sozialer Vergangenheit versperrt. Erst wer wieder lernt, in Kategorien der Befriedung zu denken, nicht an Befriedigung, dem wird die Vergangenheit mehr geben als Nostalgie oder Abscheu. Das Revolutionsbürgertum Frankreichs lebte bereits viel besser als die Bürgerschaft unter dem guten Heinrich IV. Doch die Idee vom guten, auch sozial befriedenden König wirkte weiter, hier war ein Sozialtriumph gelungen. Vielleicht ist doch vor allem eines dazu gefordert: Ein nicht immer nur mikroökonomisches, individualbezogen-wirtschaftliches Denken - eine Hinwendung zu jener Makroökonomie, in welcher politische Gewalten auch wirtschaftlich trium-

C. Erscheinungsformen des Triumphes

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phieren können und sozial. Gesamtgesellschaftliche Sozialität, nicht ein Glück von Gruppen, Schichten und Klassen - darin allein kann etwas wie soziale Triumphalität sich aufbauen. Sozialistische Triumphalität mag schwer sein - sollte es aber wirklich keinen sozialen Triumph geben?

c) Ausgleich als Triumph - Sozialvertrag

als Reichsgründung

Rom hat viele Bürgerkriegstriumphe gefeiert - sie haben das Reich nicht befestigt, sondern es an den Rand des Abgrunds geführt. Klassenkämpfe mögen nötig sein und nützlich, doch wenn sie sich nicht erfüllen im ganz großen Erfolg eines neuen Reiches, wie in der Russischen Revolution, dann bleibt ihnen nur eine Triumphchance: Sie müssen enden im Ausgleich, alle inneren Kämpfe sind im Letzten sinnvoll allein als Wege zu einem großen sozialen Frieden. Sozialer Friede als Waffenstillstand, der jederzeit, fast nach Belieben schon, gebrochen werden kann - das ist kein größeres, reichsgründendes Faktum, nichts, woran man sich in triumphaler Sicherheit erinnern, nichts, worauf man sich bei neuen Bünden beziehen könnte. Wenn Errungenschaft immer nur die Hälfte von dem ist, was heute gefordert, morgen erreicht wird, nicht aber Ausdruck eines Ausgleichs, in dem etwas zur Ruhe kommt, so ist alles verfehlt, was es an sozialer Triumphalität geben kann und so oft schon Wirklichkeit war. Es sind schon zwei geistige Welten, welche sich hier gegenüberstehen: In der einen wird das Wegnehmen als Triumph gefeiert, nein: als eine kleine Stufe auf dem Weg zu einem unendlich hohen Siegesaltar; auf der anderen Seite steht der Ausgleich als Ziel, etwas von einem „staatsgründenden Bund", der gehalten und immer neu befestigt werden soll. Hier steht das Imperium, und deshalb stand auf dieser Seite auch der Kommunismus; wie viel er auch genommen haben mochte, er hatte gewissermaßen mit einer Endlösung schon triumphal begonnen. Dass es solche goldenen Zeiten des sozialen Ausgleichs geben kann, haben die Deutschen in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts erlebt, eine Sozialpolitik des größeren Atems wird sich immer an dem orientieren, was damals gelungen ist, kaum erkannt als das, was es nun wirklich war: ein sozialer Ausgleichs-Triumph im Frieden der Geschlagenen. Die Demokratie hat begonnen mit dem Postulat des Contrat social, gleich ob es ihn je gegeben hat - er war ihr ein „Triumph des als ob". Nur in Freiheitskategorien sollte er gefeiert werden, nicht in sozialer Befriedung, doch allein schon die Idee vom Sozialvertrag zeigt, dass sie eine triumphalistische Sehnsucht gerade der Demokraten immer gewesen ist. Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Stunde kommen wird für den ganz großen befriedenden Sozialgesetzgeber, eine wahre Solon-Zeit, in welcher die sozialen Errungenschaften zurücktreten hinter dem sozialen Frieden, der das Reich hält. Wenn dies gelingt, ein Verzicht auf frühere Genüsse und künftige Genusshoffnungen, wenn einmal ein sozialer Zustand gegenwärtigen wahren Ausgleichs erreicht wird, so mag sich später noch so viel verändern, an diesen sozialen

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Buch 1: Der Triumph

Sieg wird man sich erinnern, ihn wiedergewinnen und fortsetzen wollen, dann kann das wahre Soziale endlich entdeckt werden - in einem ruhigen Triumphalismus.

4. Exkurs: Frieden als Triumph Die Größe der Idee des Triumphs zeigt sich gerade darin, dass ihn die Menschen nie auf Schlachtfelder begrenzt haben, auf Blut und Tränen. Stets ist ihnen Friede - Sieg gewesen, nichts vielleicht ist mehr verherrlicht worden in der großen Reichskunst, im geistigen Erfolg der Gedanken vom „Ewigen Frieden". Ist die Gegenwart, die um nichts anderes so viele Worte macht, in ihrem Friedenslobpreis der Triumphalität entscheidend näher gekommen, zieht etwas herauf wie ein großes neues Reich des Friedens? Wer das Reich vom Triumph trennt, mag jenes in Gewaltlosigkeits-Hoffnungen sich nähern sehen. Doch gerade weil alles bisher gezeigt hat, dass es kein Reich gibt, wenn nicht aus Triumph, fallen viele und große pazifistische Hoffnungen heute in Utopie zurück. Müdigkeiten und Ängste haben stets zum Frieden getrieben, doch dieser Weg führt eben nicht zu bleibenden, auch nur irgendwie reichsähnlichen Zuständen, zu einem wie immer verstandenen ewigen Frieden. Der Westfälische Friede hat das Reich zum monstro simile pervertiert; Frieden als Triumphverzicht ist nichts als ein Waffenstillstand, eine Spannung, die für kurze Zeit gelockert wird. Die Triumphalität früherer Zeit kann auch hier lehren: Der eigentliche Frieden ist die Frucht des Sieges, nur so groß wie er errungen wurde, so dauernd kann es Frieden geben. Wie weit man auch in der Geschichte zurückblickt - immer noch hat die Größe der Triumphe dem entsprochen, was dann als Frieden kam; in seinem halben Sieg war der Erste Weltkrieg der Beginn des Zweiten. Nicht umsonst sind es auf den alten Bildern dieselben Triumphengel, welche den siegreichen König und den Friedensfürsten krönen. Friede - das ist ein Triumph, in der Verewigung errungener Siege. In diesem Frieden liegt dann in der Tat die Kraft, den triumphalen Zustand zu halten, in diesem Sinn nur kann das folgende Reich eine Frucht des Friedens sein. Wenn es ohne weiteren Sieg gelingt, das Erreichte zu verewigen, welcher Erfolg könnte größer sein, ist in diesem Sinne nicht Frieden ein Triumphbeweis ohnegleichen, ein Triumphzug ohne Ende? Doch dies gerade ist nicht jener Frieden, den heute so viele meinen, der Friede um jeden Preis vor allem, wie ihn von jeher der Pazifismus predigt. Dieser Frieden kann nur zweierlei bedeuten: Entweder Konfliktlosigkeit als solche wird zum Wert erhoben, oder es ist eine Form der Gewaltlosigkeit, in der dann sogar triumphiert werden soll. Friede als solcher ist nie Triumph, weil er eben immer nur seine Folge sein kann, in sich selbst trägt er eher das Gegenteil der reichsgründenden Kraft des Sieges.

C. Erscheinungsformen des Triumphes

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Da fehlen die Ereignisse und ihre Begeisterung, da ist nicht eine große Staatsfestigkeit aus großem Erfolg, sondern im Grunde immer nur der schwächliche Versuch fortzusetzen, was im Grunde schon zerbrochen ist, weil sich die Kräfte erschöpft haben. Konfliktsformen mögen sich ändern, an der Spannung ändern sie doch nichts. Wie oft verlagert sie der Pazifismus von heute nur in die Katastrophen von morgen. Frieden um jeden Preis - das ist extreme Staatsschwäche, nie ist man weiter entfernt vom Reich als in solchem Denken. Denn im Grunde ist es ja bereits begonnener Krieg, Maginot-Linien, die vom Angriff abhalten sollen, wo keine tiefere Front mehr ist. Triumphalismus ist eine absolute Gegenposition zu dieser Art des Pazifismus: Sie ist sicher, und sieht sich in allen historischen Erfahrungen bestätigt, dass der große Friede nur über den großen Erfolg kommen kann, weil der Frieden als solcher nichts ist - was wäre er überhaupt anderes als fortgesetzter Triumph ohne Gegner - oder aber eben ein großes Gleichgewicht der Erfolge. Denn neben der Verewigung des Sieges ist die einzige Form eines Triumphalismus nicht die des Friedens, sondern im Frieden: nicht nur, dass es keinen Gegner mehr gibt, sondern auch, dass die eigene Stärke genug ist, dass sie sich sicher fühlen darf, dass in ihr ein so großer - aufs Ganze betrachtet - Teilerfolg liegt, dass dieser dauern kann. Im Triumphalismus im Frieden ziehen sich beide Seiten auf ihre stärkeren Positionen zurück, welche sie ihren Siegen verdanken, und diese mögen ihnen nun genügen. Triumph garantiert gerade diesen dauerhaften Frieden der Starken, können sie doch auf weitere Vernichtungsschlachten verzichten, im Vollgefühl dessen, was ihnen schon ein Reich garantiert - des erreichten Triumphs. Gewaltlosigkeit schließlich als Triumph? Ewig wird man sich wohl streiten um den Begriff der Gewalt, und wie vielfältig er sich wandeln kann, welche Gewalten bis hin zum Triumph führen können - in diesen Kapiteln ist es immer wieder begegnet. Vor der Weite der Triumphe verliert die Diskussion um die Gewaltlosigkeit ihren Sinn. Sie mag ja eine Form des Kampfes sein, Gandhi hat in ihr wahrhaft triumphiert. Generalstreiks sind stärker als Bajonette, wenn Bürger zu Hause bleiben, brechen Staaten zusammen. Doch was soll dies alles? Die Mittel allein bedeuten noch keinen Triumph, und wer weiß schon, ob allein vergossenes Blut von Übel ist; der Befehl, ein Schwert in die Scheide zu stecken, blieb ganz am Rande des großen Erlösungsgeschehens. Das Gewaltmonopol des Staates ist eine Frage des Staatsmechanismus, nicht der Reichsgründung, sie kann aus vielen Gewalten kommen, längst nicht nur aus öffentlichen, staatlichen. Frieden - das ist ein großes Kapitel für jeden Triumphalismus, für alles Reichsdenken. Entscheidend ist das, was sich in die schönen Worte kleiden lässt: „Frieden halten". In der Tat ist es etwas, das große Kraft verlangt, eine Triumphmacht in potentia. Dies allein wollte und kann das sinnlos kritisierte Wort „para bellum" ausdrücken: der starke Frieden, die Paix armée als Kriegsersatz, weil sich in ihnen bereits so viel an Triumphalismus befestigen kann, dass es ausreicht für das große-

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Buch 1: Der Triumph

re Empire. Und was wäre die dauernde, große Ordnung des Reiches mehr als ruhender Triumph im Frieden?

V I I . Der „reine Triumph" - Triumph als Triumphgegenstand vom „barocken Triumph" zum „dionysischen Reich" 1. „Reiner Triumph" - ein demokratischer Weg zum Reich Triumph als großes sieghaftes Ereignis - so kennt ihn jeder, so kommt er aus der Historie ins Staatsrecht. Etwas muss da doch vorgegangen sein, ein Faktum wurde gesetzt, aus ihm entsteht das Recht des Reiches, in ihm bereits liegt es. Doch dies ist nicht die einzige Dimension des Triumphes. So wie er sich im Feiern fortsetzt, in ihm erkannt wird, geradezu „wird", so zeigt dies bereits eine „ganz andere Dimension" des Triumphes: Es muss vielleicht gar nichts erfolgt sein, er „folgt aus sich selbst". Wenn das große Erfolgsereignis nicht „ganz wahr sein muss" - dies zeigte sich schon - muss es überhaupt ein solches geben? Gibt es nicht etwas wie den „Triumph an sich", Triumph einfach - „aus Triumphieren"? Dies ist der Gegenstand des folgenden Kapitels, man mag das den „reinen Triumph" nennen. Im „Staats-Barock" vor allem wird man ihm begegnen, dort, wo es wenig zu triumphieren gab und wo doch am meisten triumphiert worden ist. Dort lassen sich Lehren suchen für eine Gegenwart, in der das Gegenteil eingetreten ist: Es gibt so viel zu triumphieren, es will nicht mehr triumphiert werden. Was kann zwei solchen Gegensätzen gemeinsam sein, dem ganz großen Pomp und der allseitigen Bescheidenheit? Sehr vieles: Zuerst schon jene Gegensätze, die sich eben berühren. Die heutige Antithese zum Barock ist größer denn je, deshalb besteht gerade jetzt die Chance, dies durch eine Synthese zu überwinden, eben jenen „reinen Triumph", der kein sieghaftes Ereignis mehr braucht, der sich selbst genug ist. Aus ihm heraus kann gerade die Demokratie und ihre sieglose, gewinnträchtige Wirtschaft in einer neuen Triumphalität erstarken, weil sie dann eben den Großerfolg nicht nachweisen muss, weil ihr dann ihr eigener, ungebrochener Optimismus genug ist für reichsgründendes Verhalten - und keine Staatsform hat mehr davon als die gegenwärtige. Gleich bleibt es ja, ob man, in Atomwaffen gerüstet, zu stark geworden ist zum Triumphieren, oder ob man im Barock zu schwach war in den kleinen Mächtigkeiten der Duodez-Fürsten und der nurmehr feiernden, nichts mehr hinzugewinnenden Kirche. Beidem ist eines gemeinsam: Wo aus Ereignissen nichts mehr gewonnen werden kann, da muss der Triumph aus dem eigenen Herzen kommen, aus der Grundstimmung, aus einem „subjektiven Faktum". Die so unbarock erscheinende Gegenwart ist in diesem Sinn höchst triumphalistisch-barock, dass sie ihren Triumph, ihre Reichsgrundlage, ohne die sie so wenig leben kann wie irgendeine Periode vorher, in sich selbst suchen muss, dass ihr das

C. Erscheinungsformen des Triumphes

nicht mehr geschenkt wird, von vielen Göttern oder einem Allmächtigen. Dies ist eine Periode der Arbeit, die sich nichts schenken lassen will, der daher auch nichts vom Schicksal geschenkt wird, auch nicht ihr Reich. Ihre Tragik liegt darin, dass sie mehr auf ihr Arbeiten blickt als auf ihre Erfolge, dass sie diese Letzteren stets sogleich entweder verteilt oder ignoriert. Dann aber bleibt ihr nur eines: der Triumph an sich, die optimistische Grundstimmung, ein Beginnen ohne den Beweis früherer Erfolge, aus einer Grundhaltung heraus, die „einfach zum Erfolg greift", ihn liebt, ob es ihn gibt oder nicht. Besonders wichtig ist all dies für die Demokratie und ihre erfolgsverdünnte politische Welt, für eine Marktökonomie, die allenfalls in ihrem Begriff zu triumphieren wagt, nicht in ihren einzelnen Gewinnen. Wen heute eine Welt zu trennen scheint von den Schlachtensiegern einer noch nahen Vergangenheit, gerade er muss eine neue Triumphalität entdecken, und auch sie war schon da, in einer gar nicht fernen Vergangenheit, im Grunde vielleicht immer. Die Demokratie mag den militärischen Erfolg verabscheuen, den wirtschaftlichen und sozialen beargwöhnen; in jenem Ewigkeitsanspruch, mit dem gerade sie auftritt, weil sie nichts anderes an Zusammenleben mehr hinter sich fühlt als die Anarchie, braucht sie mehr Triumph und Reich vielleicht noch als viele ihrer Vorgängerinnen, und diese Straße führt nicht zuletzt, vor allem vielleicht, über das, was nun als der „reine Triumph" beschrieben werden soll. Hier wird auch der Weg an einem Beispiel deutlich, der vom Triumph zum Reich führt: von der Einmaligkeit des Sieges zur vielfach-umfassenden Reichsordnung - über „die Grundstimmung des Triumphalen"; soll aus dem Sieg die Ordnung werden, so muss die Stoßrichtung, welche den Durchbruch gebracht hat, in einem „In-sich-Drehen" enden, einer „In-sich-Bewegung" des Erfolgs, in der runden, zeitlosen Feier; und schließlich braucht das Reich eine Dogmatik, nicht nur Fakten, der „reine Erfolg" gerade lässt die Tatsachen weg und wächst darin zur staatsgründenden Norm hinauf.

2. Der „reine Triumph" - eine überwirkliche Idee a) Triumphieren

- im Überschwang vieler Erfolge

Welchem Menschen ist schon der „große Erfolg" beschieden in seinem Leben, welchem Volk in einer vielhundertjährigen Geschichte? Bleibt dann wirklich nichts als ein kalkulierendes Nebeneinanderleben, das sich nur ausrechnet, dies sei eben doch besser als der Krieg aller gegen alle? So ist Staatlichkeit nie geworden, und wenn sie das Reich nicht erreicht hat - zu ihm war sie immer unterwegs. Wo der eine große Erfolg fehlt, lassen sich doch viele und allseitige Erfolge registrieren, wenn nötig erfinden. Denn nur der „mittlere Sieg" kann nicht einfach behauptet werden, der ganz große kommt nur zu oft aus Legenden, die vielen kleinen aus Erfindungen. Und darin sind sie sich auch gleich, diese beiden Formen des Triumphierens: Die vielen kleinen Erfolge brin-

Buch 1 : Der Triumph

gen eine „Grunderfolgsstimmung", aus ihr wächst die Grundstimmung des „Feierns an sich", weil sich der Staat, seine Macht, doch überall ausbreitet, sich wahrhaft gefestigt hat. Und wenn es nicht mehr ganz große Wunder gibt - wie ja auch nicht mehr im Barock - so sind sie doch überall, so wie damals die Marienerscheinungen ohne Zahl. Die vielen kleinen Erfolgsdosen rufen erst recht den Rausch hervor, den Überschwang, das triumphale Denken, und darin liegt ein Ausgangspunkt des „reinen Triumphes" - im Überschwang der Triumphstimmung, die als Grundlage der Reichsgründung nicht mehr Fakten braucht, sondern vor allem das Herz, mehr noch als den Verstand, der Reichsgründer. Und „rein" darf dieses Triumphieren genannt werden, weil da nicht mehr viel anderes ist als - am Ende triumphieren um des Triumphierens Willen. Deutschland hat solche Stimmungen mehr als einmal erlebt, im Zweiten Reich und im Dritten. Das jugendstilhafte „Es ist erreicht" war nicht aus Sedan geboren und Königgrätz allein, damit verbanden sich Fortschritte ohne Zahl, in Bahnen und Industrie, in Kolonien und an der Front der Wissenschaft und der Künste. Da war weit mehr Reichstriumphstimmung als schon Imperium. Und diese Stimmung hat gedauert bis hinein in den Ersten Großen Krieg mit seinen „zahllosen deutschen Siegen", in jene eingebildete Siegesstimmung, welche den großen Durchbruchssieg ersetzen sollte und ihn lange ersetzt hat. Das deutsche III. Reich hat etwas wie den reinen „Überschwang-Triumph" nachgespielt, aus den Jahren des Ersten Weltkrieges, und seine zuzeiten doch imperiale Mächtigkeit war kaum auf etwas anderes geistig gegründet. In all dem war mehr als eine triumphale Grundstimmung der Siegesserien, von denen schon die Rede war, hier begegnet man dem erfolgsgelösten Siegesüberschwang. Und gerade England, das, wie kaum ein anderes Reich, aus Siegesserien leben durfte, hat seine Imperialität auch aus Siegesüberschwang noch befestigen können, als die wahren, großen Siege schon Vergangenheit waren. Wo die Kraft allein längst nicht mehr zum Erfolg ausreichte, war noch immer etwas von jener Siegessicherheit geblieben, in welcher sogar das Einziehen der eigenen Fahne in unzähligen Kolonien noch als Reichstriumph erschien. Rom schließlich hat weiter zu triumphieren vermocht, als es längst nichts mehr zu triumphieren gab, über Jahrhunderte hinweg, unter dem steingewordenen Triumph der früheren Bögen, nicht nur im Feiern allein, sondern als wenn es etwas gäbe wie eine „Notwendigkeit des römischen Triumphes als Institution". Denn dies ist es eigentlich: Der Triumph gewinnt ein Eigenleben, er wird zur Institution, damit zur Grundlage des Reiches. Der Demokratie aber und ihrem Wirtschaften mag dies eine Lehre sein und ein Trost: Wenn sie den ganz großen Sieg nicht feiern kann - fast täglich werden ihr kleine Erfolge an vielen Fronten geschenkt, eine unendliche Reihe, in welcher sogar ihre Misserfolge verdämmern. Und wenn sie sich in allem feiern darf, in

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Siegen wie in Niederlagen von Wahlen, weil ja immer ihr Denken triumphiert hat, ihre Mehrheit, so ist da eben doch viel Grundstimmung, viel Überschwang, viel realitätsgelöste Sicherheit, so viel Erfolg an sich. Tagtäglich triumphieren so die wahrhaft großen Demokratien.

b) Triumph in Feiern - der imaginäre „ reine Triumph " Feiern sollten Erfolgsbegleitung sein, dem Siege nachfolgen, doch wie oft gehen sie ihm nicht in der Geschichte voraus, so weit, dass sie der Erfolg nicht mehr einzuholen vermag. Es ist dann, als werde in der Feier der ganz große Triumphgegenstand entdeckt, dann wird überall zugleich - um des Triumphes willen triumphiert. Dieser „reine Triumphalismus" schenkt sich seine Erfolge selbst, wo sie nicht oder noch nicht sind, bringt er sie hervor, nimmt sie in Feiern vorweg, und vielleicht ist jedes Reich so stark, wie es auch dies in sich trägt. Da ist etwas vom Siegesgeschrei vor dem Angriff, vom Abschreckungstriumph, obwohl doch niemand auch nur angreifen wollte. Mit den Kategorien des Normativismus lässt sich all dies kaum erklären, wie ja auch von ihnen kein Weg führt zum Reich, wachsen doch die Normen dann erst aus dieser Ordnung hervor. Deshalb kann es dem Normativismus auch nie gelingen, den „Triumph an sich" zu erfassen, weil es nicht etwas gibt wie ein „optimistisches Staatsrecht". Ein favor Legis, eine Vermutung für den Bestand des Gesetzes mag anzunehmen sein, schon ein favor Constitutionis hat kaum mehr Sinn, wo die Norm der „ganz anderen Wirklichkeit" gegenübergestellt wird. Weit eher könnte man von einem „Vorbehalt des Faktischen" sprechen, und darin ist das rechtsstaatliche Staatsrecht eher pessimistisch gestimmt. Die Triumphalität des Reichsrechts muss diesen Kreis durchbrechen, zum Optimismus finden, und dies gelingt vor allem im reinen Triumphalismus. Da ist eben alles gut und erfolgreich, es wird gefeiert trotz aller Niederlagen und über sie hinweg, nach dem Vorbild der barocken Kirche, welche die Häresien nicht mehr überwinden konnte und doch ganz groß sich ihre Siege über sie herbeigefeiert hat, in Stein und Gold. Die Demokratie lebt aus der Idee der Unabänderlichkeit ihrer Staatsform, im amerikanischen Optimismus der Alternativlosigkeit dieser Ordnung, und was ist dies im Grunde anderes als imaginärer, reiner Triumph, so unbeweisbar, so sehr Postulat wie die Idee von Freiheit und Gleichheit, aus der heraus diese Demokratie entstanden ist? Triumphieren in genießenden Feiern allein kann es nicht geben, so nahe gerade dem, wieder in barocker Wohlgefälligkeit, die Demokratie auch sein mag, in ihrem wirtschaftlichen Konsumismus. Der „reine Triumph" liegt aber letztlich nicht im Gelage. Herbeigefeiert wird der Sieg nicht allein in einer eudämonistischen Grund-

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haltung, sondern aus einer geistigen Überzeugung heraus: Es scheint eben, als genüge die Sieghaftigkeit eines Gedankens, weil der den Sieg gar nicht braucht, der die siegreiche Idee für sich hat. Wenn es einer politischen Idee gelingt, mit ihrer Überzeugungskraft sozusagen „die grundsätzliche Sieghaftigkeit zu besetzen", so findet in ihr der Triumph statt, in der Wirklichkeit muss es ihn nicht mehr geben. Und wie anders könnte man den staatsrechtlichen Optimismus erklären als in der Überzeugung von der Sieghaftigkeit der Verfassungsidee, der Menschenrechte? Dass dies „richtig" ist, bedeutet nur einen Teil und könnte nie genügen, solange Menschen nicht nur die Wahrheit suchen, sondern auch den Erfolg. Erst dort, wo der Erfolg im Zelebrieren der Staatsgrundlagen herbeigefeiert wird, wie in jedem größeren demokratischen Spektakel - da muss es den Sieg, ja den Erfolg eigentlich gar nicht geben; er ist zwar imaginär, weil er nur in der demokratischen Idee liegt, aber er ist wirklich im Geist der Bürger, deren Optimismus in ihm eben doch das Optimum der schlechten Staatsformen sieht. So triumphiert die Demokratie, und gerade sie, wirklichkeitsentrückt; und wären denn Siege über Windmühlen keine Erfolge, wenn sie nur im Namen von Freiheit errungen werden und Menschenrechten?

c) Vom historischen Triumph zum dogmatischen Triumphalismus Der „reine Triumph" kehrt der Wirklichkeit den Rücken, damit aber lässt er auch die Tradition hinter sich, so wichtig sie auch für das imperiale Denken sein mag. Es kommt zum „abstrakten Triumphieren", und dieses kann besonders überzeugend werden, weil es sich dem historischen Kritizismus entzieht, weil nun ja jedes Regime irgendeine Chance hat, mittriumphieren zu können. Hier liegt etwas von imperialen Chancen auch für junge Staaten, die nichts hinter sich haben als einen mehr oder weniger rühmlichen Befreiungskrieg und sonst nur zu oft lediglich übernommene fremde Technik, geborgte Geschichte. Ohne triumphales Großereignis kann ja übergehen in die Reichsgrundlage des abstrakten Triumphalismus, wer sich nicht mehr fragen lässt, woraus er seinen Staatsoptimismus gewinnt. So ist denn gerade in den „jungen Völkern" oft mehr Reichsbereitschaft - wenn auch so wenig Reichsvermögen - als in der müden Skepsis europäischer Nationen, die unzählige Male mit ihren Reichsträumen gescheitert sind. Vielleicht wird das Erbe des Reiches dort vor allem aufgenommen werden, wo es mit abstraktem „reinen" Triumphalismus beginnt, die Geschichte von Anfang an überspringt. Dann setzt etwas ein, was man die „Dogmatisierung des Triumphalismus" nennen könnte. Der klassische Triumph des römischen Reiches braucht keine Dogmen, weil der historische Großerfolg - oder die Staatslegende - gerade sein Dogma ist. Doch wo Staat und vielleicht Reich ohne Großerfolge gegründet werden müssen - und wie schwer dies ist, wird täglich in der Dritten Welt erlebt - da muss in reinem Triumphalismus" der „Sieg dekretiert werden", der Erfolg wird befohlen. Wo ein Volk die reichsgründenden Siege nicht aufzuweisen hat, da ist es

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„zum Sieg verurteilt", oder es verurteilt sich selbst, in einer Triumph-Fiktion, die es reichsgründend durchhält - wenn es daran nicht zerbricht. Triumphieren ohne Sieg - das wird für Staaten, die Reiche werden wollen, ein Problem naher Zukunft sein; und die rein geographische Größe so vieler Länder der Dritten Welt verlangt von ihnen einfach das imperiale Denken, wie sollte ein Brasilien etwa mit rein staatlichen Kategorien gebaut werden können? Im Worte „Dogma" selbst liegt bereits jene Doppeldeutigkeit, welche aber begreiflich macht, was „reiner Triumph", „befohlener Sieg" bedeuten kann: Einerseits ist dies ja die absolute Wahrheit - zum anderen aber die befohlene Mächtigkeit; eigentlich sollte ihr geglaubt werden, weil sie „so absolut evident" ist, doch es wird dieser Evidenz auch noch der Befehl hinzugefügt, in ihm wird sie in die entscheidende Höhe gehoben. Wo Triumphalismus in reiner Form auftritt, wird der Erfolg dogmatisiert, seine Evidenz kommt ihm nun wieder aus dem Befehl, doch dieser muss eben so mächtig sein, wie er den Bürgern „den Erfolg befehlen will", und so zwingt dieser befohlene Triumphalismus die Staatsgewalt zum großen Befehl; in ihm aber liegt reichsgründende Anordnung. Von ihm bleibt dann immer „auch noch etwas mehr als Befehl", etwas von der Evidenz des Erfolgsereignisses, und wenn auch alle wissen, dass es nicht ganz so war, es findet im großen ReichsBefehl triumphierend statt. Das große Problem gerade der rechtsstaatlichen Befehle ist ihre Begründung, bis hin zur Staatsbegründung als solcher. In aller Dogmatik liegt immer der Versuch, sich dieser Begründungspflicht zu entziehen. Dem dogmatisierten Triumphalismus gelingt dies, wie es scheint, mühelos: Wie der Großerfolg sich selbst Begründung ist, so bleibt etwas davon auch dem „reinen, ja dem postulierten, dem befohlenen Triumph". Was Großerfolg ist und daher als Reichsgrundlage zu gelten hat, das wird aus dem allgemeinen „Triumphgefühl" heraus frei nach dem Willen der Herrschenden dekretiert, in der moralisierenden Zeit des Augustus erreichte hier etwa die Virtus Romana mit ihren persönlichen Sittlichkeits- und Tapferkeitserfolgen eine besondere Bedeutung, zurückgedrängt wurden die früheren legendären, von unsichtbaren Gewalten verliehenen Siege. Letztlich aber braucht es eben solche Triumphe nicht zu geben, ihre Feier ist sich Triumphgegenstand genug; wo Staatsfeier möglich ist und zu Staatstheater emporwächst, da „muss doch" ein triumphwürdiges Ereignis vorhergegangen sein, und gerade in der Demokratie - wer von den unzähligen Bürgern wird hier schon historische Untersuchungen anstellen? Die Idee des Triumphes selbst ist groß und schön genug, dass man an sie glauben kann, im reinen Erfolgsdenken als Staatsgrundlage entwickelt sich etwas wie ein favor triumphi - im Zweifel hat es all das gegeben. Keine Staatsform wiederum kann Größeres bewirken im Namen dieses „reinen Triumphes" als die Demokratie: nicht nur, weil ihre Befehlsmacht, im Namen aller ausgeübt, seit der Französischen Revolution zuhöchst gesteigert worden ist, viel

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weiter noch als an den Spitzen des Absolutismus, weil sie daher ihre fehlende Triumphalität sich selbst bescheinigen, im Namen aller dekretieren kann. Weit wichtiger noch ist, dass der Bürger von ihr vor allem Normen verlangt, eine Dogmatik dieser Verhaltensregeln, abstrakte Notwendigkeiten, denen er sich unterwirft, während er Befehle und Fakten stets bestreiten wird. Hier aber, im „reinen Triumph", wird diese Reichsgrundlage dogmatisierbar, letztlich doch normativierbar. So stellt denn die Demokratie, darin konsequent, die Frage nach ihren eigenen Erfolgen nicht mehr, sie könnte es letztlich nicht, lebt sie doch vom Bestreiten all dessen, was ihre Vertreter anordnen. Doch im „reinen Triumphalismus" findet sie zu ihren Reichsgrundlagen zurück, im optimistischen Staatsgrundgefühl, und indem sie sich ständig selbst feiert und bestätigt. Zu ihr gehört die Sonntagsrede, und selbst in deren größten Banalitäten liegt noch ein Aufschwung zur Reichsgrundlegung, in den Erfolgsmeldungen von Triumphen, die es als solche nie gegeben hat, die aber normativiert worden sind - man denke nur an die zahllosen „guten Worte", welche gerade der demokratische Gesetzgeber über seine Normwerke schreibt, vom „Sicherungsgesetz" zum „Förderungsgesetz" und wieder zurück.

d) Der „ Triumph an sich " - Staatsgrundlage außerhalb jeder Zeit Der „reine Triumph" ist über die Historie hinausgewachsen, damit aber hat er jede Zeitdimension eliminiert. Siegesfeiern über Faschismus und Nationalsozialismus mag es nach einem halben Jahrhundert noch geben, nach einem ganzen würde sie niemand mehr verstehen. Was aber bleiben kann, ist die Feier des reinen Triumphgefühls der Demokratie, die sich in ihrer Freiheitsidee irgendwie und irgendwann einmal in der Geschichte durchgesetzt hat. Jahrtausende lang hat die Kirche über Nero triumphiert; in der Auferstehung des Herrn hatte sie bereits die Dimension des reinen Triumphes erreicht, der in der Hochscholastik dogmatisiert wurde. Das Verdämmern der Zeitdimension und ihrer Beschränkungen gibt dieser reinen Triumphalität eine besondere Wirkmacht. Nun ist der große Sieg ja „unmittelbar zu jeder Generation", er ist ganz „in die Gegenwart versetzt", man lebt diese Geschichte selbst in den Feiern, braucht sie nicht etwa nachzulesen. Der BastilleSturm bleibt wenigen nur als geschichtliches Ereignis bewusst, und ihnen wohl nur in seiner historischen Sinnlosigkeit. Doch in jeder republikanischen, Sozialrevolutionären Großdemonstration, welche sich auf den Platz der Bastille zubewegt, ist etwas von der reinen Triumphalität des populistischen Staatsoptimismus lebendig, in der Demonstration wird ein Sieg gefeiert, der noch gar nicht da ist, vielleicht nie kommen wird. Der Triumphalismus der Ereignisse mag sich abschwächen, mit der zeitlichen Distanz von ihnen, und gerade die fortschrittsgläubige Demokratie verbrennt diese ihre Schiffe hinter sich. Der „reine Triumph", hinter dem nichts steht als ein optimistisches Reichsgefühl und große, immer wiederholte Staatsfeiern - er kann „immer weiter laufen", weil er sich sozusagen „außerhalb aller Zeit um sich selbst

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dreht", weil er „zeitlos an sich" geworden ist. So mag er dann beliebig lang dauern, sich eher in der Zeit noch verstärken, durch historisierende Wiederholungen wird er nicht abgeschmackt, er ist kein mittelalterliches Ritterspiel, sondern immer wieder eine neue Überraschung, liturgische Phantasien werden in stets neuen Feiern geweckt, die Katholische Kirche bietet ein modernes Beispiel. In seinen beiden Gesichtern, dem Optimismus einer Grundstimmung wie der in sich ihren Triumph findenden Feier - und beides sind im Grunde nur zwei Seiten einer Medaille - erlangt der „reine Triumphalismus" noch weitere Mächtigkeit: Er kann unterbrochen, dann wieder aufgenommen werden. Die Kontinuität ist für jene Erfolgsgrundlage entscheidend, die auf Ereignisse zurückgeht: Auch sie können zwar vergessen, wiederentdeckt werden, doch dem sind eben engere zeitliche Grenzen gesetzt, und selbst die antike Renaissance hätte nicht wirken können, wäre nicht weit mehr an Kontinuität vorhanden gewesen, als man lange angenommen hat. Die „reine Triumphalität" der Stimmungen und Feiern aber kann enden und wiederkehren, sie übersteht mit Leichtigkeit ein Exil von Avignon. Lange muss die Triumph-Unterbrechung dauern, bis endlich der „Vorhang des Charmes" zerreißt, bis die Realität mit ihrer ganzen Alltäglichkeit zurückkehrt. Etwas von diesem „Triumphalismus an sich" ist jeder staatlichen Erfolgsgrundlegung eigen, den reinen Ereignis-Triumphalismus kann es nicht geben. In optimistischen Reichsgrundstimmungen und in Reichsfeiern wird der Ereignis-Triumph nicht nur verbreitert, er wird auch qualitativ umgeformt, erhält eine andere Dimension, er will sich um sich selbst drehen, sich selbst feiern, damit über die Ereignisse hinweg in die Wolken wachsen, aus der horizontalen Befestigung und rationalen Erklärung heraus, hinauf in die Gefühle - und die Befehle, welche sie ersetzen. Die Demokratie geht gerade hier ihren Weg zum Reich, fühlt sie sich doch als die zeitlose Staatsform par excellence, gegründet auf ein Volk, das stets da war und immer da sein wird, immer das gleiche. In seiner Existenz triumphiert sie, in diesem Optimismus, und in den Feiern seiner tagtäglichen Versammlung. Alle konkreten Ereignisse mag sie wegwerfen, was Führer und Monarchen nie dürfen, denn ihr bleibt stets ihr großes Ereignis: das Volk, die triumphale Masse.

e) „ Reiner Triumph " - Erfolg als platonische Idee Der große Triumph der platonischen Geistigkeit lag in ihrer Typenbildung, darin, dass sie die unvollkommene Realität an den Ideen maß, sie durch sie ordnete und erkannte. Diese geistige Sehnsucht nach dem „Pferd an sich", dem „Menschen an sich" hat nie mehr geendet, der Begriff des Wesens und seiner Züge ist damit deutlich geworden. Doch solche platonische Ideen kann es nicht nur geben zur Erfassung von greifbaren Erscheinungen, von Bildhaftem überhaupt; dasselbe „ . . . an sich" muss sich auch Entwicklungen, Abläufen, ja Wirkungen hinzufügen lassen. Wenn viele von 13 Leisner

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ihnen analysiert sind, so wird, über die gemeinsamen Wesenszüge, auch bei politisch-geschichtlichen Wirkmächtigkeiten deutlich werden, was ihr geistiges Zentrum, ihr Wesen ausmacht. Und hier nun ist die Betrachtung des Triumphs als Reichsgrundlage beim „reinen Triumph" angelangt: Er, der ohne Ereignis auskommen will und ohne Sieg, dem es im Grunde nurmehr um die Erfolgswirkung, die Reichsgrundlegung geht - sollte er nicht über allem existieren können, über allen Schlachtfeldern, wirkmächtig allein in dem Gefühl eines ganz großen Erfolges und seiner Feier, gleich ob es jenen je gegeben hat, ob diese also berechtigt ist? Dies vielleicht ist der tiefste Sinn einer Reichsgrundlegung aus Triumph: dass es das triumphale Ereignis als solches gar nicht geben muss, dass der „Triumph des als ob" genügt, dass das Feiern, das innere in der Überschwangstimmung und das äußere im großen Reichstheater, den Triumph anzeigt - und damit selbst der große Sieg bereits ist. Dann aber sind es drei Elemente vor allem, welche aus diesem „reinen Triumph" als einer platonischen Idee des Triumphierens die Ausgangspunkte des Reiches markieren: - „Positiv" muss diese Ordnung angelegt sein, auf Erfolg hin und Glück, die große Niederlage am Ende darf sie nicht einmal als eine Möglichkeit kennen, ödes Auf und Ab von prekärer Staatlichkeit ist ebenso unimperial wie ein Leben auf die Tragödie zu, wie es die Deutschen erfahren mussten. Reich - das ist Erwartung und Hoffnung, weil es aus Triumph kommt. - Gefeiert muss werden aus diesem Staatsoptimismus heraus, es darf nicht nur Befehle geben. Darin geht das Reich über den Staat der Normen hinaus, selbst wenn es seine eigene Triumphalität noch zu normativieren versucht: Es erschöpft sich nicht in der feier-neutralen Sollensordnung der Normwerke, das Reich zelebriert seine eigene Gesetzgebung, es wendet nicht nur Paragraphen an. Denn seine Gesetze sind ihm Erfolge, so wie sein Gesetz der Erfolg ist. Normen bleiben neutral in allem und jedem, nicht nur den Werten gegenüber, auch und vor allem gegenüber dem Erfolg. Eine Stufe höher beginnt das Reich: da, wo im „Triumph an sich" nicht Normanwendung stattfindet, sondern Feier. - Groß muss schließlich das Erfolgsdenken sein, selbst und gerade wenn es die Ereignis-Erfolge nicht sind, wenn es sie nicht gibt. Denn das behält auch der „reine Triumph", der Kern aller Triumphalität: So wie der Ereignis-Triumph den großen Sieg verlangt, so kann reiner Triumph nur werden aus einem mächtigen Reichs-Optimismus, der sich in Feiern entlädt, welche Größe zeigen. Triumph - das ist eben immer auch eine Frage der quantitativen Dimension, aus kleinen Geschichten und Gefühlen wird nichts, was über Gemeindegrenzen hinausreicht. Dies schließlich ist ein Trost für eine untriumphalistische Gegenwart: Des großen Ereignisses mag sie nicht mehr fähig sein - der große Erfolgsoptimismus ist jeder Generation als Möglichkeit mitgegeben, jede hat die Phantasiechance, ihn

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groß zu feiern. Wie oft lächelt man, belächelt man die Fiktionen der Volksherrschaft. Sie sind gut, wenn sie nicht nur in Normen gegossen werden, wenn in ihnen noch etwas von der kindlichen Erfolgshoffnung des unentwickelten, geistig bescheidenen Volkes lebt. Die Führenden mögen lachen, solange es ihr Volk noch glaubt; erst wenn sich die Gesichter verfinstern und das Volk die Feiern verlässt erst dann ist der Triumphalismus wirklich am Ende, in seiner „reinen Idee". Wie er im Großen gespielt werden mag, wenn nicht erlebt, auch ohne den Riesenerfolg, der ein Imperium gründen kann, das sei jetzt im barocken Triumphalismus betrachtet.

3. Barock als Triumphalismus an sich a) Der geistige Ausgangspunkt: allgemeines Triumphgefühl Im 17. Jahrhundert beginnt die Barockzeit mit einer großen Intellektualisierung, ja Spiritualisierung: Vorüber ist die Periode der individuellen geistigen Großtaten, jene intellektuelle Feudalzeit des geistigen Fürstentums der Renaissance. Erstmals wird die Allgegenwart des allmächtigen Gottes wirklich bewusst und bis hinein in die Staatlichkeit wahrhaft erfühlt. Das religiöse Denken verbreitert sich zum Deismus, bis hin in die Anfänge des philosophischen Pantheismus, mag es darin auch verflachen. Vergangen ist die Zeit des punktuellen Thaumazein, systematischer Geist entdeckt und bewundert überall - überall beginnt er im Geistigen zu triumphieren. Dieser barocke Beginn ist ein großer Aufschwung zur Systematik, von den philosophischen Systemen eines Descartes und Spinoza bis hin zur Weltrechtssystematik des grotianischen Völkerrechts. Hier werden die Grundlagen gelegt für jenen späteren Enzyklopädismus, der in seinen Spitzen im 18. Jahrhundert, mit dem Rationalismus eines Diderot, bereits wieder klassizistisch erstarrt. In der großen Barockzeit aber, im 17. Jahrhundert, da ist noch die Begeisterung des Systems, dort triumphiert der systematische Geist - überall, und nunmehr in breiter Front hinein in Politik und Staatlichkeit. Dieser Barocktriumph ist wohl in der bekannten Geschichte der soeben entwickelten Idee des „reinen Triumphs" am nächsten gekommen, geradezu als ein „systematischer Triumph" in Systemen, die noch nicht veröden und sich sklerosierend abschließen. Diese Zeit ist geprägt vom Imperialismus Ludwigs XIV, der geistig das große deutsch-spanische Römische Reich zerstört hat, längst bevor es unter Napoleon notariell beendet wurde. Und doch - welch ein Paradox! - ist niemals so viel Triumphalität in Europa gewesen seit den Zeiten der Römer, ein so breites reines Triumphdenken, so viel „Reich in der Idee" wie in jener Periode, in welcher das Imperium real verdämmerte. Es ist, als habe das römische Imperium in der Wirklichkeit vollends sterben müssen, damit seine Erben es in einer glückhaft-trium1*

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phalen Periode neu erwerben und, auf Zeit wenigstens, besitzen durften - in verfeinerter Geistigkeit. So ist dies denn ein Beweis dafür, dass jede Epoche ihre Berufung hat zum Triumph, darin aber ihren Auftrag zum Reich, und in „reinem Triumph" hat der Barock ihn erfüllt. Der Klassizismus hat die Mauern des alten Imperiums ausgegraben, doch noch in der Sonne der reinen Triumphalität des Barock. Weil sie überall Begeisterung weckte, entsprechend dem großen Aufbruch zur Systematik in dieser Zeit, konnte sie die Geistigkeit dieses systematischen Triumphs über Jahrhunderte tragen.

b) Der kirchliche Barocktriumphalismus Es war das letzte Mal, dass die Katholische Kirche in der Geschichte geistig führen konnte, ganz allgemein. Sie hat Ausgangspunkte gesetzt, in ihrer Religiosität, in ihrer Kunst zuerst und ganz groß, ganz „rein" triumphiert. Dieser ihr heute so verachteter Triumphalismus ist die schönste Form des bekannten Siegesdenkens gewesen, hier hat das Zweite Rom noch einmal etwas vom Ersten in die Welt gebracht, in die Staatlichkeit - bis hin zum Reich. Begonnen hat es schon mit dem Tridentinum, jener Verbindung von religiösem Renaissance-Intellektualismus und beginnendem systematischen Schwung des Barock. Der ins System gegossene Glaube hat die Scholastik, Jahrhunderte systematischen Denkens, nach den individuellen geistigen Durchbrüchen der Renaissancezeit, wieder aufgenommen und fast bruchlos übergeleitet in die neue Systematik, der er jedoch die Begeisterung der Triumphalität hinzugefügt, die er durch ein neues Siegesdenken verstärkt hat. Im Tridentinum wird ja erstmals voll der eine, allmächtige Gott systematisch bewusst, der große Pantokrator, der in der Schöpfung triumphiert, neben ihm der Triumph Christi über das Böse und den Tod, ebenso systematisch und weltbewegend, und schließlich die Spiritualisierung des Heiligen Geistes, der Triumph der Geistigkeit. Macht, Liebe und Geistigkeit - alles was jemals in Europa triumphale Kräfte waren, schließt sich nun zu der tridentinischen Dreifaltigkeit zusammen, wird von ihr über Europa und seine Staatlichkeit verbreitet. Dieser Triumph ist, wie stets im kirchlichen Denken, zunächst ein erkannter, der von Ewigkeit da ist, ein einziger riesiger Ereignis-Triumph, in der Schöpfung, im Oster- und Pfingsterlebnis. Doch nun kommt hinzu die zweite Seite des „reinen Triumphs": der dekretierte Sieg, das Dogma vom Großerfolg, der sein muss, gleich ob er ist oder nicht. Im Tridentinum als Dogmengeflecht hat man meist nur Erstarrung sehen wollen - es war zugleich ein ganz großer geistiger Aufbruch, und nur so hat es vier Jahrhunderte überdauern und geistig eine Welt beherrschen können. Dies war die wahrhaft imperiale Verfassung der katholischen Welt, nie ist ein geis-

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tiges Reich so sehr auf Triumph gegründet worden, auf ihn allein, auf seine reinste, ideelle Form. Nicht als ob hier nur eine Geistigkeit gewirkt hätte, so kraftvoll konnte nur durchbrechen, was einem Kometenschweif von triumphalen Ereignissen folgte oder ihm voranzog: Da war eine neue, zweite Welt, dem alten Glauben gewonnen; da waren die Siege der Gegenreformation in allen Ländern des alten römischen Reiches; und da war vor allem der neue große geistige und politisch-realistische Aufbruch der Gesellschaft Jesu, die in der Gesellschaft des Herrn die geistigen Sturmtruppen zu entscheidenden, triumphalen Durchbrüchen formierte. Diese Militarisierung des Geistes - denn was war es anderes? - hat den ganzen Reichtum des kriegerischen Triumphierens in die Höhe der beginnenden Spiritualisierung gehoben. Dies ist der gewaltige Beitrag eines bewusst triumphalen Ideenreichtums, eines Denkens, das in Disziplin durchbricht, nicht etwa zu einer müden, ja traurigen Laboratoriums-Wissenschaftlichkeit, sondern zu einem politischen Sieg des Geistes, dem letzten, den dieser in Europa rein hat feiern dürfen. Jesuitenbarock - das war kein Zufall, es war die damals notwendige Ausdrucksform der reinen Triumphalität. Und dieser Jesuitismus mochte als Abfall von evangelischen Prinzipien aus rein religiöser Sicht verurteilt werden - dass er durch und durch politisch sein musste, das war seine imperiale Größe. Mit Studien und in Intrigen, auf allen Wegen eben des großen Geistes, hat er den Menschen damals und noch heute die reine Triumphalität des zerstörten Reiches weitergegeben.

c) Die triumphale Reichs-Kunst des Barock Die goldschimmernde Kunst des kirchlichen Barocktriumphalismus hat immer gesiegt, sie triumphiert sogar heute noch über Skepsis und Müdigkeit einer Zeit, die sich kaum noch ihre Erfolge einzugestehen wagt: Der Schwung der Kirchen, Klöster und Schlösser reißt im Letzten jeden mit sich, in seiner hellen Sieghaftigkeit. Dass all dies durch und durch Staatskunst war, von den Reichsabteien der Donaulande bis nach Versailles, ist nur Banalität. Wie aber all diese Goldtriumphe ins Politische hinein gewirkt haben - diese Staatslehre des Barock liegt noch heute in den Bibliotheken der Klöster verschüttet, wer weiß, ob hier die Nachwelt jemals mehr als die unzähligen goldenen Rücken bewundern wird. Das Interesse der geistesgeschichtlichen Wissenschaften gehört nicht diesen Traktaten eines triumphalistischen Barockstaatsrechts, sondern den rationalisierenden philosophischen Vorläufern des 19. Jahrhunderts. Auch in ihnen liegt viel großer,. systematischer und „reiner" geistiger Triumphalismus, von Leibniz bis Pufendorff, die Sieghaftigkeit des systematischen Denkens überwältigt den Leser von Seite zu Seite. Sahen doch diese Autoren kleine Reiche überall um sich herum aufwachsen, in kleinen Triumphen, welche sie ins Geistige hoben und damit ins Unendliche vergrößerten.

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Doch hier noch einige Worte über die politische Symbolik, welche die triumphalistische Staatskunst des Barock in noch reinerer Form der damaligen Zeit und der Gegenwart geboten hat; denn wohin der pietistische Geist nicht drang, dort wirkte erst recht triumphal die katholische Barockkunst. Sie zeigt noch heute Elemente, die bis ins Geistige und ins Fürstlich-Politische hinübergewirkt haben, in denen, gerade in der künstlerischen Abstraktion, „reiner Triumph" geworden ist: - Diese wahrhaft „politische Kunst" des Barock ist aus dem Erbe der Renaissance-Klassik heraus gewachsen, nie hat sie es verloren. Jene Renaissance aber wollte doch ein Imperium restaurieren, einen wahren Triumph-Gegenstand. Hier, im Barock, konnte all dies aufgenommen und noch wuchtiger emporgebaut werden, im wahrsten Sinne des Wortes, der Petersdom ist das steinerne Beispiel. Es ist, als sei damals am römischen Imperium noch hochgebaut worden, bis in eine Kuppel hinein, wie es sie noch nie gegeben hatte. Barockkunst als nicht nur Erhöhung, sondern wahrhaft Überhöhung der Renaissance - es ist wie eine Überhöhung der Ereignis-Triumphalität des römischen Imperiums in der geistigen Triumphalität des Zweiten Rom. - Die Barockkunst hat eine neue Dimension des „Rahmen-Denkens" in die Welt gebracht, ihre Umfassungen werden mächtiger, sie erhalten Bewegung, sie dienen nicht mehr nur dem Bild, sie erreichen Selbstgesetzlichkeit, dynamisieren den Bilder-Inhalt. Es ist, als fänden große Triumph-Umzüge statt um die bildhaften Inhalte, bis die Umrahmungen sich verselbständigen, in einer immer größeren Variationskraft selbst zu Bildern werden. In solchem Rahmen findet eine große Triumph-Feier des Bilderinhalts statt, bis die Umfassung ins Bild übergeht, bis überall zelebriert wird. In dieser Dynamisierung des Rahmens liegt etwas Bacchantisches, in dessen rankender Bewegung dauernd und überall gefeiert wird, in welcher die früher so strenge, ja oft traurige Renaissance unendlich barock triumphiert. Überall hin wirft sie ihre Girlanden und Blumen, alles wird zum glückhaften Sieg, die begrenzenden Rahmen zerbrechen in Feiern. Darüber müsste vertiefend nachgedacht werden, was all dies für die geistige, politische, ja juristische Rahmenidee bedeutet, ohne die doch heute Verfassung und Gesetz nicht mehr denkbar sind: In der Steigerung der Bedeutung der Rahmen allein wird man der Verfassungsidee gerecht, in jenem Übergreifen der Rahmen in die Bildinhalte wird verständlich, dass Verfassung stets mehr sein muss als etwas, was nur die politische Dynamik in starren Leisten hält. „Offene Verfassung" schließlich, das Kennwort einer Welt, die sich politisch „entbinden" will - all das ist in der bewegten Rahmenidee der Barockkunst triumphierend vorgedacht worden, denn auch dies ist ja eine Idee, die siegen will, weil sie sich bewegt. - Barockkunst ist aber ganz, und nicht allein in ihrer Entbindung der Rahmen, Dynamik. Da ist eine schier unendliche Variationskraft, alles gerät in Bewegung, und nicht nur in irgendwelche Richtungen, sondern immer weiter rankend, immer empor.

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Diese „gerichtete Dynamisierung", der nach oben wachsende Reichtum, darin liegt etwas vom ,/einen Triumphalismus", so wie triumphaler Reichtum in dem gefühlt wird, woraus diese Macht des Barock kommt: in der Urwaldidee und einer unendlich hinaus- und hinüberwachsenden Kraft. Da ist nicht nur die unbegrenzt formschaffende Mächtigkeit der tropischen Flora, die an Altäre und Decken gezaubert wird, nicht nur unendliche Vielfalt - da ist Unendlichkeit, eine Kraft, die alles überwuchert, alles züdeckt. Und wenn semitischer Religiosität die Unendlichkeit der leeren Wüste ein Beweis für die Kraft der triumphierenden Gottesidee war, so gilt dasselbe für die Unendlichkeit der zahllosen lebendigen Triumphe des Urwalds. Irgendwo ist dies eben doch auch ein Reich, in seiner Jungfräulichkeit unmittelbar zu Gott, und etwas von diesem Paradies wird in Kirchen und Paläste gezaubert, ein Wunder, ein Reich an sich. - Kunst als Wunder hat die Barockzeit gewollt, und nicht nur in der Bewunderung des einzelnen Werkes, im renaissancehaften Kunsterlebnis, sondern in einer „wundergewordenen Wirklichkeit". Nicht umsonst ist dieser Welt des beginnenden Rationalismus noch einmal eine Flut von Wundern geschenkt und von ihr verehrt worden, in Wallfahrtsorten und ihren Kirchen; sie hat diese Mirakelwelt fortgesetzt, in den Wundern ihrer Räume triumphiert sie noch heute. Sie soll der Mensch, der Bürger, der Gewaltunterworfene bewundern in einem tieferen Sinn: Vor ihnen muss er sich neigen, sie sind Siege Gottes und des Geistes über die verwandelte und vergoldete Materie, vor diesen Statuen beugen sich die Knie, weil sie in ihrer Schönheit - triumphieren. Und gäbe es reinere Triumphalität? Vielleicht hat Kunst immer in etwas siegen wollen wie einem Wunder, dieser Augenblick der offenen Augen mag ihre höchste Kraft sein. Doch das Mirakel, welches damals in den goldenen Sälen des Barock geschaffen wurde, es sollte auch politisch weiter wirken - Staatskunst als Staatswunder. Und so wenig ein Wunder zerstört werden kann im Geist der Menschen, so sicher wollten sich die Herrschenden fühlen in einer neuen, zeitlosen, goldenen Sieghaftigkeit - was aber wäre ein Reich anderes? In einem Saal, in einem Raum einen ganzen Triumph, ein ganzes Imperium schaffen - das ist der Barockkunst gelungen wie keiner anderen. - Der Einheit von Himmel und Erde gilt im Grunde alle Darstellungskunst des Barock. Waren in der Renaissance noch die beiden Reiche zwar sichtbar, aber doch klar geschieden, wie im Grunde auch stets vorher, so vereint nun ein mächtiger Schwung Diesseits und Jenseits, die Wolken und ihre Engel steigen herab, die Heiligen hinauf in die Ewigkeit. Ein wahrhaft dithyrambischer Zug bewegt sich durch die gesamten Darstellungen, und es ist, sichtbar oder unsichtbar, in Falten und Gesten vielleicht nur angedeutet, stets nicht nur großes Theater - so hat man es verkleinern wollen - sondern immer großer Triumph. In dieser Einheit aber wird, ganz natürlich, eben doch das Diesseits erhöht, hinaufgehoben, die gesamte Barockkunst ist nicht eine absteigende, sondern eine aufsteigende Bewegung - wie ein Triumphzug, der sich dem Kapitol nähert.

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Zwar steigen Gott und die Heiligen scheinbar zur Erde hernieder, in Wahrheit aber heben sie diese triumphal nach oben, diese Darstellung der Transzendenz verherrlicht überall den reinen Triumph. Und im Grunde steigt ja die Erde zum Himmelreich hinauf - oder dieses senkt sich über seine vielen Provinzen. So liegt denn in solchem Triumphalismus tiefe Reichsidee, die Einheit des Himmels über der Vielfalt der Menschen und Völker, die sich aber doch in sich wahrhaft zusammenschließt und zeitlos erhöht. Wenn in der Triumphidee etwas ist vom Endsieg, den ein Ereignis gebracht hat, so wird hier der „reine Triumph" zum „allgemeinen Sieg", damit aber bleibt außerhalb von ihm so wenig etwas, wie außerhalb der Grenzen des Reiches. - Die personifizierende Kraft des Barock ist unerreicht. Ideen nehmen in seiner Kunst menschliche Gestalt an, schimmern nicht nur durch diese hindurch. Deshalb auch kann die antike Mythologie in ihrer ganzen Breite zurückkehren, mit den vielen Göttern und ihren zahllosen Gefährten, weil alles Person wird, auch das immer allgemeiner Gedachte, das immer weiter Umspannende, Systematische. In dieser barocken Personifizierung der Ideen hat auch der Staat seinen Platz, seine Mächtigkeit, und nicht nur in der Gestalt des Mars. Staat und Reich, schon als solche bewusst, nehmen eben Fürstengestalt an, und der Fürst wiederum wächst in die antike Götterfigur hinein. Der tiefere Sinn aber dieser ganzen Personifizierung ist nicht nur ihre Greifbarkeit, eine Indiskutabilität, welche an sich schon etwas Triumphales in sich trägt - hier wird der Triumphator dargestellt, der Triumphzug in seinen Teilnehmern, vor allem aber in dem, der ihm vorangeht. Denn siegen können eben im Letzten nicht Ideen, sondern nur Menschen, und wer den,/einen Triumph" des Geistigen darstellen will und den „Triumph als Idee", der wird immer personifizieren müssen, wo es ihm gelingt, hat er zum ,/einen Triumph" gefunden. Und zum Reich: Denn demjenigen, der zuerst seinen Staat zum Reich steigern konnte, Ludwig XIV., durfte eben das Wort in den Mund gelegt werden, dass er der Staat sei - so wie dies auf zahllosen Gemälden, von unzähligen Sockeln herab verkündet wurde: die Personifizierung der Reichsidee im Sonnenkönig. Und ist denn diese Sonne in ihrem täglichen Aufgang nicht zugleich ein Ereignistriumph und der Sieg einer unfassbaren Idee? Das Menschenreich auf Erden ist noch nicht in den Himmeln, aber es ruht nicht nur auf Erden, in seiner Idee erhebt es sich so über den Boden, wie jeder Triumphzug im Grunde schon hoch über dem Grund sich abspielt. Und in diesem Zwischenbereich, wo Himmel und Erde sich berühren, wie es gerade als für die Barockkunst typisch erkannt wurde, da wird der „reine politische Triumph" gefeiert. - Die barocke Personifizierungskraft steigert sich noch höher, viel vergangenen Symbolismus in sich aufnehmend, bis hin zu einer ebenfalls nie wieder erreichten Macht der Allegorie. Hier werden Ideen dargestellt in Bildern, und wieder in Menschen, nicht indem sie mit dem Triumphator großer Ereignisse identifiziert werden, sondern „an sich", als persongewordene Ideen - und Triumphe. Denn

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die erste aller Allegorien war noch immer die des Sieges, und jene Siegesgöttin, welche in der ursprünglichen Mythologie noch keinen Ehrenplatz hat, wird zur Abstraktion des Triumphes, dies schwebt in unzähligen Abbildungen hinter den beiden großen Triumphatoren dieses beginnenden Barock - Heinrich IV. und Ludwig XIV., den beiden Königen, welche den Namen des Großen damit verdienten, dass sie ihr Königreich zum Reich steigerten. Staats-Kunst ist vielleicht nie wieder so eindeutig gewesen wie in dieser Personifizierung von Organen, Prozeduren, Kräften der Staatlichkeit selbst. Sie aber war immer ein Zeichen wahrer Imperialität, im römischen Imperium vorgedacht, im napoleonischen später noch nachgelebt. Allegorien jedoch - sie können nur triumphieren, in einer gelassenen Untätigkeit, welche mit dem Blick des Reiches über Epochen hinwegschaut und die Menschen nicht sichert, sondern ihnen nur - schenkt: den Triumph. - Mythologie und Glauben, Antike und Christentum sind in dieser Barockkunst in untrennbarer Einheit verwoben - weil sie beide nur Ausdruck eines einzigen Triumphalismus sind. Er erfasst ja alles, will alles darstellen, wo in irgendeiner Weise im Großen triumphiert wird, und so ist es selbstverständlich, dass die Antike als Vorläuferin des Christentums feiert und gefeiert wird, das Christentum als ihre Erfüllung. Und all dies muss glaubensdogmatisch gar nicht mehr unterschieden werden, der große abendländische Triumph ist einer, in seiner Jahrhunderte übergreifenden Kontinuität wird er zugleich zeitlos, so wie das Reich, dessen Abbildung er ist. Christliche und heidnische Mythologie haben ja eines gemeinsam: Sie versinnbildlichen frühere imperiale Triumphe, und im Grunde nicht einmal mehr das Frühere, sondern vielmehr das Höhere, in welchem auch die Gegenwart sieghaft zum Reich gehoben wird. Was immer in der Pose des Sieges und der Erfüllung auftreten kann, in einem groß besetzten Staatstheater, das zeigt jenen reinen Triumph, der sich allein in der Idee, ereignislos, auf riesigen Deckengemälden abspielt; und am Ende wird diese Verbindung von antiker und christlicher Imperialität noch über den Triumph hinaus gesteigert - zur Apotheose. - In der ewigen, unendlichen Feier ihrer vergöttlichenden Triumphe lebt diese Barockkunst ihren „reinen Sieg". Ein Großerfolg wird nicht mehr durch Leistung geschaffen, in einem riesigen renaissancehaften Kuppelbau ins Werk gesetzt; da die Siegesidee allgemein ist und überall, ist das alles einfach da, es wird vorausgesetzt, entscheidend ist die Feier unter der Kuppel, sie wird zum Selbstzweck. Diese Siegeskunst wird zur immer reineren „Feier an sich", darin entbinden, entgegenständlichen sich ihre Formen, stets noch freier werdend, der grenzenlosen Variation mächtig. L'art pour l'art wird vielleicht das erste Mal in dieser Zeit wenn nicht erreicht, so doch als Möglichkeit bewusst, in einer Überwindung der klassischen Canones, welche zu einer Kunst gehören, in der sie helfen sollten, das große künstlerische Ereignis erst zu schaffen. Nunmehr aber, im Kunsttriumphalismus

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des Barock, entbindet sich die Gestaltung von all diesen irdischen Regeln, sie erreicht einen freischwebenden Zustand, eben im Namen jener emporreißenden Triumphalität, welche über allem liegt, „Kunst um der Kunst willen" ist nur ein Symbol für das höhere „Triumph um des Triumphes willen", das in der Reinheit der Siegesidee eine ganze Epoche prägt und über sie hinauswirkt. In der Barockkunst ist schon die große Wagnersche Idee mächtig geworden, dass die Spitzen des Künstlerischen nur im gewaltigen Theater erreicht werden, weil dort allein das Ereignis ganz groß, beliebig hoch gesetzt werden kann, und weil es nicht erwartet zu werden braucht, weil es geschaffen, hervorgebracht werden kann, in einer Theater-Triumphalität des „als ob", welche die Siegesidee als solche feiert, den Triumph im ganz großen, gespielten Vorgang auf die Erde herabführt. Dieses künstlerische Staatstheater ist dem „reinen Triumph" wohl am nächsten gekommen, einem Reich ohne Macht, das in Feiern erkannt und genossen wird. d) Vom barocken Triumphalismus der Freiheit zur Demokratie Der Gegensatz von Barock und Demokratie scheint unüberbrückbar, kann da eine Via triumphalis führen von der theatralischen Staatskunst des absolutistischen Denkens zur Volksherrschaft von heute? Die Demokratie ist angetreten im Namen eines Rationalismus, dessen Kritik das schimmernde Gold der barocken Siegesfeiern matt hat werden lassen. In ihr wird gespart, gezählt und kalkuliert, nicht triumphiert; sie will den Bürger schützen, nicht seine Führer verherrlichen. In all dem droht sie das Siegesgefühl überhaupt zu verlieren. Ist da noch irgendeine Gemeinsamkeit mit dem vielberufenen barocken Lebensgefühl, zeigt sich nicht gerade in der Betrachtung des Barock, dass alles Triumphalistische unwiederbringlich untergegangen ist? Manch heutige Zeichen zeigen es anders, die Demokratie geht wieder barocke Wege des Staates, vielleicht bald bis zu einem wahren Reichsdenken. Ihr Zentralbegriff nämlich, dies wird immer mehr bewusst, ist gerade jener, aus dem heraus auch barocke Erfolgskraft in reiner Triumphalität gewirkt hat: die Freiheit. Die Triumphalität der Kirche und der Fürsten war an sich kein Gegensatz zur Idee der Freiheit des einzelnen, auch der letzte Soldat triumphiert noch mit auf den großen Schlachtengemälden, Allegorien und Apotheosen stellen Unzählige dar, in ihnen triumphiert virtuell jeder. Dass sich dann sklerosierte Siegessicherheit gegen individuelle Freiheit wandte, war im Letzten schon ein Erlahmen barocker Kraft, nicht mehr ihr machtvolles Wesen. Oder könnte man Verzunftungen des Geistes, erstarrende Privilegiensystematik, den ganzen spätbarocken Niedergang auch der Staatlichkeit im 18. Jahrhundert noch als einen Ausdruck des großen Barock oder gar seines Triumphalismus werten? Gegen das „Volk", gegen die Bürgerfreiheit wendet sich all dies, gerade weil es hier nurmehr zu konservieren, nicht mehr zu triumphieren gilt, weil nicht mehr jedermann eingebunden werden kann in das Glücksgefühl des allgemeinen Sieges.

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Viel näher ist die große, die frühe Barockzeit noch der Freiheit: Sie hat doch jene Erneuerung und Verbreiterung der Aristokratie gebracht, welche so viel neues Verdienst mit in die Herrschaft hineinnehmen konnte, tapfere Soldaten, die neuen Bildungsschichten - Richter, Beamte, Gelehrte. Damit hat sich sicher auch eine Abflachung des Feudalismus vollzogen, viel von der Tiefe des renaissancehaften Elitedenkens ist verlorengegangen, doch das Erfolgsdenken wurde, in vielfacher Brechung, bis ins Volk getragen, in eigenen kleineren und größeren Triumphen konnte nun fast schon jedermann bis in die Macht vordringen. Das Volk wurde als der Jedermann bewusst, nicht mehr nur als Gefolgschaft von Kriegsleuten, so sieht es jener fürstliche Absolutismus, der es in Versailles dem Erwachen eines Königs zusehen lässt, dem Aufgehen einer Sonne zu neuen Triumphen. Vor allem aber ist es die Vielfalt der Formen, bis in die Unendlichkeit eines ganz neuen Kunstreichtums, worin nun eine Vielfalt sich triumphierend auslebt, welche im Grunde nichts bedeutet als höchste Freiheit der Kunst - eben wieder und immer noch mehr Freiheit. Als der Triumphalismus die Barockkunst verließ, als sie sich in kleine Kabinette, Chinoiseriespiele und Boudoirs zurückzog, da entfernte sich die Staatlichkeit auch vom Volk, der Triumph kehrte erst wieder in die Schlösser zurück mit den Gabeln und Piken der triumphierenden Republik. Wie rasch hat diese dann aber die Größe der Schlösser gefühlt, welche sie mit ihren Siegen erfüllen konnte! Der Weg vom großen, triumphalen Absolutismus, mit seiner eigenartigen und doch ganz sicheren Volksnähe, über die zerbrechliche, volksferne Porzellanwelt des 18. Jahrhunderts bis zur Rückkehr der mächtigen Volkstriumphalität der Französischen Revolution - ist all dies nicht ein Beweis für Volksnähe jenes Barock, die dort ja nie gebrochen wurde, wo eine lebendige barocke Kirche, in Bayern, Österreich und anderswo, ihr Volk vor goldschimmernden Altären in der Anbetung des religiösen Triumphs vereinte? Die Demokratie braucht die große Freiheit des Hochbarock, die Freiheitsspiele des Rokoko sind ihr nicht genug, in dem die Feinheit geblieben, aus dem der große Sieg verschwunden ist. Denn die Freiheit ist eben nicht fein und elegant, zuallererst ist sie mächtig und sieghaft. Der „reine Triumph" des Barock ist für die Volksherrschaft eine auch politische Welt, eine geistige Dimension, denn dort braucht man nicht jene Schlachten und Erfolge, in denen Völker sich nur gegenseitig abschlachtend verbluten können, wie zwei Weltkriege es gezeigt haben. Und ist es denn ein Zufall, dass kaum je die Friedensgöttin so mächtig triumphieren konnte wie auf barocken Gemälden? Der Schwung der Freiheit kann auch heute noch die Demokratie zu imperialen Ufern tragen, so wie in jener barocken Großzeit, und die Ordnung des Friedens wird ihr nur geschenkt werden, wenn sie wieder erkennt, dass es diesen Zustand nur dann gibt, wenn er vergöttlicht, ganz groß werden kann, in einer Imperialität des reinen Triumphes.

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Nur wenn die Demokratie das lernt, wenn ihr die Freude und etwas von der Naivität des früheren Volkes zurückgegeben wird, kann sie groß in die Zukunft wirken, und auf Dauer.

4. Die reichsschaffende Kraft des reinen Barocktriumphs a) Absolutismus - eine bleibende staatliche Kraftquelle Die Barockzeit hat der Gegenwart Staatlichkeit geschenkt, in all dem, was sie groß gemacht hat, heute noch groß erhält: Es ist das Erbe des Absolutismus in Spanien, Frankreich und Deutschland vor allem. In diesen Ländern gäbe es keinen Staat, wären damals Kirche und Fürsten nicht aufgebrochen in reinem Triumph auf der Suche nach der Idee des Reiches. In Deutschland hat dies Sturm und Drang und mehr noch später ein Historismus verdunkelt, dem die barocke Duodez-Zeit nur ein Gegenstand des Spottes war, eine verachtenswerte Kleinheit, welcher er im 19. Jahrhundert die neue Großidee des Deutschen Reiches entgegensetzte. Vieles daran ist richtig, vor allem die Erkenntnis, dass in Deutschland der Aufbruch eine Phase zu spät stattgefunden hat, sieht man von Österreichs türken-triumphaler Grandeur ab. Die in Deutschland verspäteten, geistig eigentlich schon überholten Religionskriege des 17. Jahrhunderts haben dieses Land um die große Barockzeit gebracht, wie sie in Frankreich stattfinden konnte, weithin auch um den triumphalen Absolutismus, der sich nurmehr in Preußen spät zu entfalten vermochte. So hat sich denn in Deutschland viel von einem bereits enttriumphalisierten Barock entwickelt, es fehlt die große reine Sieghaftigkeit, die zum Reich führt. Doch eine allseitige Betrachtung darf auch, selbst wenn sie in imperiale Weiten blicken will, die kleinen Erscheinungen nicht übersehen, aus denen sich ein Reich aufbauen kann. Es gibt eben auch etwas wie einen „Duodez-Triumph", „rein" ist er gerade darin, dass er die großen Schlachtenerfolge nicht blutig erringen, dass er sie sich in seinen Kunstwerken phantasieren kann. Die kleine Welt der deutschen Fürstenhöfe war nach außen politisch ohne Gewicht, nach innen aber fand doch etwas wie der goldene Triumph der neuen Souveränität statt. Das alte Reich deutscher Nation konnte so gewiss nicht mehr restauriert werden, in den neuen Herrschaften zerfiel es vollends. Doch auch in dieser Klein-Triumphalität einer neuen Territorialherrschaft liegen Reichs-Elemente: Nicht nur, weil die Idee des Großerfolgs auch dort noch wirkt, wo er in kleinen Territorien gefeiert wird, sondern vor allem, weil seit dem römischen Vorbild der Aufbau der ganz großen Ordnung sich über Provinzen vollzieht, mit all ihrer Vielfalt, ihrer begrenzten Selbständigkeit. Als dann ein Jahrhundert später der Weg zu einem größeren Reich der Deutschen beschritten werden sollte, da waren solche Duodez-Herrschaften, mit dem Selbstbewusstsein ihrer kleinen Triumphe, ihrem Klein-Absolutismus, im Grunde alles, und wenig hätte doch gefehlt, so wäre ein mächtiges Reich von unten nach

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oben gebaut worden. Dass es verspielt wurde, beweist nichts gegen die Größe seiner vielen einstigen barocken Chancen.

b) Über „ viele kleine Reiche " im „ reinen Triumph " zum Imperium Im territorial zersplitterten Deutschland und, mehr als es heute wohl bewusst ist, auch im vielfach feudalisierten Frankreich, ist die eine, große Herrschaft aufgelöst worden in viele kleine Imperia, gerade in diesem Vorgang hat „reine Triumphalität" wirken können, wie sie hier beschrieben wird. Das große Erfolgsereignis, die mächtige Staatsgründung konnte dort nicht stattfinden, mochte auch jede Herrschaft ihre kleinen Siege im barocken Überschwang hochloben. Doch auch diese Sieges-, Erfolgs-, im Grunde nur Glücks-Vielfalt zahlreicher Staatlichkeiten, welche das große alte Reich auflöste, war insgesamt eine triumphale Chance zur Imperialität: Das alte Reich hätte die Kraft dazu nicht aufbringen können, es kam, sah und siegte nicht mehr, es war nurmehr vorhanden. Von seinen romanischen Größen war nur Dunkelheit geblieben, etwas von einer Tristesse, welche sich im 19. Jahrhundert noch einmal in historisierender Langeweile selbst gespielt hat. Dass Renaissance und vor allem Barock dies als eine finstere Barbarei empfanden, war sicher keine ästhetische Leistung, wohl aber Ausdruck eines sicheren politischen Gefühls: Man wollte neue Helligkeit, mehr Licht, fassbare Triumphalität, und so mochten denn die gotischen Bögen brechen oder mit Gold verkleidet werden, das Reich wurde klein, aber vielfältig, und es lernte wieder zu triumphieren. Diese Reichsauflösung in kleine Triumphe hat sich in Deutschland in der Barockwelt vollzogen, im Namen eines neuen Erfolgsstrebens, im Aufbruch zu einem neuen großen Triumph durch die vielen kleinen. Dieser reine Triumphalismus, welcher oberflächlicher historischer Betrachtung nur als Auflösung des Größeren erscheint, hat politisch eine mächtige Dynamik entfaltet, und sie trägt, in Deutschland jedenfalls, gerade die Demokratie heute, das, was an ihr gesund und kräftig ist: die kleineren politischen Zellen der Kommunen, den Föderalismus mit seiner funktionierenden Verwaltung, welche die Barockzeit entfaltet hat. Dieser Absolutismus hat immer befestigt, selbst dort, wo er auflösen musste, er hat die Macht auch näher an jenes Volk getragen, welches in den kleineren Zellen zur Bürgerschaft zusammenwachsen konnte. Wenn die Demokratie sich immer, wo sie imperiale Höhen erreichte, als ein ungekröntes Reich verstehen konnte, in der Einheit ihrer Bürgerschaft, die nicht der schimmernden Überhöhung bedarf und doch imperiale Größe zeigt, so ist dies in der barocken Bürgerschaftlichkeit vorgedacht worden, die ja im Grunde auch das neue Bürgertum hervorgebracht hat, ohne das es den demokratischen Bürger nicht geben könnte. Die Atomisierung bis hinunter zu ihm, zu den vielen einzelnen, hat eben auch die große Chance des neuen Aufbaus in der Festigkeit der atomaren politischen Kerne gebracht. Und

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wenn sie sich zusammenschließen, so finden sie um so rascher zur Festigkeit und Größe gemeinsamer Erfolge.

c) Christliches Reichsdenken im Barocktriumph Das Christentum hat die Reichsidee aufgenommen, gefestigt und weitergetragen, von Konstantin bis in das Spätmittelalter. Doch es war immer im Grunde der große Ereignis-Triumphalismus der römischen Tradition, angereichert mit dem Siegesgefühl von Schöpfung und Erlösung. Im Barock aber, mit dem Zerbrechen der kirchlichen Einheit und dem endgültigen Niedergang des römischen Reiches, musste auch die Kirche eine neue imperiale Dimension erfinden, sie hat sie mit einem eigenen Optimismus gefunden, in einer Form des reinen, weithin erfolgsgelösten Triumphalismus. Dies ist der wichtige Beitrag des Christentums zum Staatsdenken der Neuzeit, dass die Kirche nicht nur in Riesenreichen triumphieren will, oder, wenn dies nicht mehr gelingt, sich in den Triumph des Jenseits zurückzieht, sondern dass sie sich einem diesseitigen Triumphalismus öffnet, dass sie in neuer Weise eins wird mit dem Staat, den sie nun nicht mehr bekämpft und besetzen will, den sie von innen und oft von unten durchdringt. Die Kirchen, und nicht mehr nur die alte Kirche, haben sich in den großen barocken Triumphzug eingereiht, auf diese Weise hat das Christentum eine neue Staatsdimension gewonnen. In den evangelischen Landeskirchen ist dies nahezu bruchlos gelungen, ebenso in den geistlichen Territorien der katholischen Welt, und selbst in den katholischen Großreichen hat der Jenseitstriumph der Kirche mit dem Diesseitstriumph des Kaiser-Königs doch endlich Frieden geschlossen. Die Kirchen haben darauf verzichtet, im Namen eines großen religiösen oder politischen Erfolges ihren Sieg der weltlichen Macht aufzuerlegen, sie haben sich eingeordnet in jene reine Triumphalität, welche aus vielen Elementen besteht, aus ihnen allen ihre optimistische, reichsgründende Grundstimmung aufbaut. Die Verweltlichung der barocken Kirchen ist ein Schlagwort, politisch hatte sie ihren tiefen Sinn: In dieser verweltlichten Jenseitsdimension hat das Christentum endlich aufgehört, einen geistigen oder gar politischen „Gegentriumph" feiern zu wollen, es hat mit seiner Geistigkeit und seiner religiösen Vertiefung wichtige triumphale Elemente in die optimistische barocke Staatlichkeit eingebracht und auf diese Weise deren fehlendes Schlachtenglück, ihre inexistenten Großtaten selbst in den kleinen deutschen Territorien aufgefüllt. Dies ist der tiefere Sinn jener Glückhaftigkeit des kirchlich-politischen Herrschaftslebens, welches seinerzeit unter dem Krummstab so vielen ein Leben in genießender reiner Triumphalität beschert hat. Das Christentum als solches aber hat eine neue Mission erfüllt - nicht mehr nur die Engelserscheinung an der Milvischen Brücke, den göttlichen Segen für die große Entscheidungsschlacht, sondern den christlichen Beitrag zu einer Gesamtordnung in Erfolgsvielfalt. Diesen Platz hat seither das Christentum in allen Ordnungen ge-

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halten, welche zu größerer Imperialität sich entwickeln konnten - vom Kreuzzug zum Kuppelkreuz in barockem Triumph.

d) Barockwiederkehr

- Triumphrenaissance

Die Größe staatsgrundsätzlicher Ideen zeigt sich darin, dass sie der Renaissance fähig sind, am deutlichsten ist es bei der wirkmächtigsten unter ihnen, der Reichsidee. Doch auch alles, was zum Reich führt, hat Teil an dieser Renaissancehaftigkeit, vor allem die Sehnsucht nach dem Großerfolg, der Triumphalismus als solcher. In seiner reinen Form der barocken Sieghaftigkeit hat dies die Geschichte eindrucksvoll bewiesen, und gerade wieder die Kunst macht es deutlich, bis in jene Moden hinein, welche in liberaleren Gemeinwesen Staatskunst ersetzen. Der „Zweite Barock" des 19. Jahrhunderts, von Frankreich bis Dresden, mochte, politisch gesehen, restaurative Wurzeln haben, ein Ausdruck politischer Größe war er schon deshalb nicht, weil er sich allzu sehr an der Verfeinerung des Rokoko, nicht an den mächtigen Formen des Hochbarock orientierte. Immerhin hat diese Barockrenaissance in immer neuen Wellen das 19. Jahrhundert getragen, nach der imperialen Renaissance des Zweiten Empire in den Blumen und Girlanden des Napoleon III., mächtiger schon und mit deutlich imperialen Zügen in jener Belle Epoque, in welcher sich das reiche Frankreich aus der Niederlage erhob und zur neuen Imperialität des Empire colonial aufbrach. Bis in den Jugendstil hinein hat diese barocke Siegesstimmung angehalten, und sei es auch nur in der selbst künstlerisch bewussten Überzeugung, dass nunmehr alles möglich, alles „erreicht" sei. Künstlerisch mag dies alles wie eine Art von „Nachtriumphalismus" wirken, und vielleicht war es auch politisch nichts anderes. Dem Begriff einer „Barockrenaissance" werden viele skeptisch begegnen; berechtigt ist dies insoweit, als dahinter, im Sinne eines größeren Lebensgefühls, nicht so sehr die Wiedergeburt barocker Formen, ihres Reichtums und ihrer Feinheit steht, als vielmehr das Nachempfinden - im wahrsten Sinne des Wortes - einer Triumphalität, welche zuerst die mächtigen Ranken und Voluten emporgetrieben hat. Für die Staatlichkeit aber hat auch diese Nach-Triumphalität immer wieder etwas bedeuten können: In ihr wurde das Erreichte sichtbar, in ihr erschien es als konserviert im wahrsten Sinne, als der Ausdruck langer glückhafter Friedenszustände, in welchen sich Großerfolge in Genüssen und Feiern fortsetzten. Im Grunde ist auch diese „Barockrenaissance" stets Ausdruck des „reinen Triumphalismus" gewesen, lediglich sublimiert und von allen früheren Ereignissen abstrahiert, vielleicht nurmehr Ausdruck eines Staatsglücks, welches über einer Herrschaft lag und sie dem Reiche ähnlich machte, mochten auch die großen welterschütternden Siege fehlen. Nach einer Russischen Revolution kann man sich Barockrenaissance nicht vorstellen, solche neue Imperialität bedarf ihrer auch nicht, hinter ihr stehen große Ereignisse. Napoleon III., der Bürgerkaiser der Franzosen, der bayerische Märchenkönig, Wilhelm II. - sie fügen sich schon weit besser ein

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in diese nachempfundene reine Triumphalität, eben weil ihnen der wahre Triumph versagt geblieben ist. Die Idee des absolutistischen Triumphs allein war, wenigstens eine Zeit lang noch, stark genug, fehlende Ereignistriumphe zu überspielen die historische Wahrheit zu ignorieren.

5. Die absolute Staatsgewalt - ein Geschenk des Absolutismus, der reinen Triumphalität Die moderne Staatsgewalt ist in ihrer Absolutheit ein Kind des fürstlichen Absolutismus, zuallererst eine demokratische Herrschaftsmacht, welche sich namens der Vielen selbst absolut gesetzt hat wie keine andere. Dies alles ist seit langem erkannt, der Übergang hat sich in jener Französischen Revolution vollzogen, in welcher die Souveränität der Nation, später des Volkes, an die Stelle der monarchischen Gewalt trat, all ihre Vorrechte übernahm. Das bedeutendste dieser Privilegien aber war das Monopol des großen,,/einen" Triumphs, welches die barocke Staatslehre dem Monarchen vorbehalten hatte. Unbedingt kann daher auch heute die Staatsgewalt nur sein, mit ihrem Durchsetzungsund Gewaltmonopol gegen jedermann, wenn ihr noch ein Abglanz bleibt von jenem Triumphalismus, aus dem sich einst dieses höchste Fürstenmonopol des „Immer-triumphieren-Dürfens" legitimiert hat. Die moderne Staatsgewalt kann dann die langen Begründungsketten aus früheren Großerfolgen, welche die Monarchen noch knüpfen mussten, mit einem Mal abbrechen, sie kehrt zu dem ganz harten „sie volo - si iubeo" zurück, im Namen eben jener reinen Triumphalität, die sich um sich selbst dreht und aus sich selbst rechtfertigt, die ihre Macht im eigenen Befehl allein findet, die keine Wahrheit mehr braucht, weil der Sieg über der Wahrheit steht. So lenkt im ,/einen Triumph" die Entwicklung den Staat zu seinem innersten Wesen zurück, zum harten Befehl, doch er trägt in sich noch unzählige mehr oder weniger bewusste Elemente, frühere Glückseligkeiten, Siege, Erfolge, glückhafte Befehle und einen Optimismus, der sie gerne entgegennimmt und befolgt. Anders wäre die Mächtigkeit des Befehles in den demokratischen Spätzeiten früherer Zivilisation nicht möglich, alles würde in Anarchie sich auflösen; und so stark ist die moderne, demokratische Staatlichkeit, wie sie in ihren Befehlsstrukturen noch sehr viel integrierte Teile, die ganze Vielfalt früherer Triumphalität weiterträgt, und sei es auch nur darin, dass sie - „sich feiern will" Der Absolutismus war darin das große Geschenk an die moderne Staatlichkeit, dass er den politischen Willen bewusst machte, ihn zu allerhöchst setzte, darin die machiavellistische Machtmathematik weit hinter sich lassend. Vielleicht kann dies ein letztes Wort zu der Idee des,/einen Triumphes" sein, die ja doch im Grunde stets ein Geheimnis bleiben wird: dass der politische Wille allein schon in sich etwas von einem großen Triumphalismus trägt, je allseitig-systematischer, je härter er sich

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zeigt und darin sich als Befehl - feiert. Die Demokratie mag die Erfolge vernachlässigen oder vergessen; solange sie noch Willen hat, etwas von der volonté générale, triumphiert sie gerade darin, ganz rein. In diesem Sinne hat Rousseau nicht ein demokratisches Mysterium angesprochen, sondern das demokratische Wesen.

6. Der „reine Triumph" - am Ende in Europa? a) Sieghafter Überschwang - Vergangenheit ? Große Ereignisse können auch der Gegenwart noch beschieden sein, bis hin zum militärischen Sieg, das unendlich gefeierte 1945 beweist es. Gerade die Demokratie sucht solche Erfolge, mehr als jede andere Staatsform, weil sich nurmehr die ganz großen Siege ihrer rationalistischen Kritik entziehen. Doch gerade wenn dies seltener wird, dann muss „reine Triumphalität" eintreten, soll noch etwas wie eine reichsähnliche Großordnung gehalten werden können. Für Europa ist dies wahrhaft eine Schicksalsfrage: Was gäbe es hier schon zu triumphieren - und doch soll eine neue, größere, eine Ordnung entstehen, die ihrem Wesen nach imperial sein müsste. Was ist diesem Europa geblieben an „reiner Triumphalität"? Doch gerade dieser „reine Triumphalismus" wird zum politischen Zentralproblem, weil eine leidvolle Vergangenheit und eine Gegenwart, die nicht erfolgreich genug scheint, Triebfedern bedrohen, aus denen allein er kommen könnte. Die vergangenen europäischen Kriege haben wohl ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl nicht geschaffen, doch sie haben jene „staatliche Lebensfreude" militärisch gebrochen, in allzu großem Leiden, ohne welche Triumphe in der Vergangenheit nur selten haben gefeiert werden können. Wirtschaftliche Erfolge werden errungen, größer denn je zuvor, doch in rationalistischer Kritik und sozialen Verteilungskämpfen verkleinert, häufig durch ökonomische Schwierigkeiten unterbrochen. Etwas wie ein „politischer Charme" ist aber wichtig für jene optimistische Stimmung der reinen Triumphalität, welche Schlachten und Siege ersetzen kann, und oft mag es scheinen, als gehe in dem laufenden Auf und Ab der ökonomischen Erfolge und Schwierigkeiten gerade dieser Zauber verloren, der eben eine gewisse Kontinuität braucht, ohne welche es wahre Triumphalität nicht geben kann. Ob nun die Wirtschaft ein Triumphgegenstand ist oder nicht - ihre Erfolge sind zumindest stets gute Vorzeichen gewesen, sie schaffen den Grundoptimismus, der größere Ordnung hält, den Rahmen, in dem der Triumph bildhaft dargestellt und Wirklichkeit werden kann, um es barock auszudrücken. Und Bilder ohne Rahmen haben etwas so gänzlich Untriumphalistisches... Sozialistische Strömungen schließlich, welche die Politik in Europa seit langem weithin bestimmen, haben in der Tat eine antitriumphalistische Grundstimmung 14 Leisner

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geschaffen, welche gerade den Optimismus einer „reinen Siegesstimmung" immer wieder zurückwirft. Wer sich ständig ausgenützt fühlt, wer immer auf dem Wege ist zu einer neuen Gesellschaftsordnung und doch stets von neuem an wirtschaftlichen Zwängen scheitert, er tritt zwar an mit etwas wie einem Triumphdenken, doch wer dauernd kämpft, kann eben nicht siegen. Der Sozialismus, eine wahrhaft triumphale Grundidee, hatte sich als solcher im Sowjetstaat durchsetzen können, weil er rasch an die Macht gelangte. Noch so viel mochte ihm gelingen, er blieb stets unterwegs und so mühsam. Ein „langer Marsch" durch die Institutionen kann in einem wahren Triumph enden, Mao hat es bewiesen; doch in Europa haben sozialistische Ideen immer wieder alles aufzulösen vermocht, was sich an Elementen zu einer Grundstimmung der „reinen Triumphalität" hätte zusammenfinden können, es ist fast, als sei hier etwas wie ein „negativer reiner Triumphalismus" am Werke. Stehen also die Zeichen ungünstig für ein Europa ohne Reich, weil ohne Triumph? Ist diese Staatlichkeit wirklich zu Beginn schon krank, weil sie nicht sieghaft hinaufwachsen kann zum Reich? Viele Zweifel mögen den beschleichen, welcher den heutigen untriumphalen Zustand Europas sieht, wenn er feststellen muss, wie die großen Triumphe nach Osten und Westen abgewandert sind. Es bedarf schon eines politischen Optimismus - den doch gerade die Siegesstimmung geben sollte - will man in einer Zeit, welche den Europäern Erfolgstriumphalismus wohl nicht bringen kann, von ihnen ein Gespür für die reine Triumphalität verlangen, der eben immer wieder allzu viele frühere und gegenwärtige Niederlagen, allzu zahlreiche verlorene Erfolgstriumphe entgegenstehen. Vielleicht drängt alles auf die Frage zu, ob es gelingen kann, „auf Möglichkeiten allein Großerfolge zu bauen", oder doch eine Stimmung zu schaffen, als gäbe es sie; bisher musste es sie allerdings immer schon vorher gegeben haben. Solange jedenfalls die Europäer ihre triumphale Geschichte wegwerfen, sich nicht an ihr bereichern, so wie es die Römer auch im Anblick ihrer Niederlagen vermochten, solange wird ein neuer „reiner Triumphalismus" in Europa keine Sicherheit haben, mögen ihm auch einige Chancen gegeben sein; und von diesen soll nun die Rede sein.

b) Europäische Chancen zu einem „ reinen Triumphalismus " Der geographische Umfang Europas, seine beschränkte politische Bedeutung schließen imperiale Siegesstimmungen keineswegs aus. Anläufe zu ihnen hat es immer wieder gegeben, von Großkonferenzen, unablässigem Eurooptimismus, bis zu neuem Geld. Zwar endeten rasch die Feiern, Ernüchterung folgte - aber ein Grundgefühl ist geblieben: dass hier etwas Großes, Epochales auf dem Weg ist. Sollte dies kein „Triumph im Werden" sein - und wenn auch (nur) in reiner, unbegründeter Form?

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Chancen zum Triumph liegen heute, und auch durchaus in Europa, noch immer in der vergleichsweise hohen Begeisterungsfähigkeit für neue Bewegungen und Moden, die allenthalben festzustellen ist. Solange ein Enthusiasmus für politische Ideen - welche immer - sich noch entwickeln kann, ist jener radikale Optimismus nicht untergegangen, in welchem der Triumphalismus geistig beginnt. Dass dabei vieles negiert wird, manches fallen muss, mag aus traditionalistischer Sicht bedauerlich sein, etwas Zerstörerisches ist aber eben auch dem Großerfolg, jedem Sieg eigen. Alles was politisch begeistern konnte in diesen letzten Jahrzehnten, ist zwar immer wieder rasch abgelaufen - Faschismen, radikale Kommunismen, grüne Bewegungen - und an ihren Straßen haben diese Strömungen viele Ruinen hinterlassen. Die vielfachen Begeisterungen aber, aus denen solche Bewegungen entstanden sind, durch welche sie getragen wurden, haben auch Energien in die politische Welt des Jahrhunderts gebracht, vielfache Triumphansätze, die sich aber nicht notwendig verlieren, sondern sich auch, wie ein zersplittertes Energiepotential, zu neuen, größeren Spannungen zusammenfassen lassen. Solange es in Europa noch derartige Bewegungen gibt, wenn sie größeres Ausmaß erreichen, ist die Triumphfähigkeit erhalten, sie muss nur neue Ausdrucksformen finden. Die industrielle Welt und ihre sozialisierenden Auswirkungen haben eine Egalisierung von riesigem Ausmaß gebracht. Unübersehbar vieles an Feinheit und Zivilisation vergangener Jahrhunderte ist in einer Generation verlorengegangen, einfach vergessen worden. Doch gerade in dieser Vereinfachung des Denkens und Lebens, die jeder Gebildete im Grunde als eine Barbarisierung beklagen wird, wächst auch eine neue politische Einfachheit des Denkens empor; und so wie man einst von den „guten Wilden" der frühen Kolonialzeit erwartete, dass sie in glückhaftem Optimismus zusammenlebten, wie man ihnen all jene vereinfachenden Freiheitsformeln in den Mund legte, welche dann Europa triumphal erschüttern konnten, so mag manch einer auch heute hoffen, dass aus Barbarisierung neuer Optimismus, daraus erneut eine Renaissance des Triumphgefühls und schließlich eine Wiedergeburt des großen Triumphalismus kommen kann. Und bedarf es denn nicht für den Triumphalismus der barbarischen Einfachheit? Haben die Griechen ihre römischen Herren anders gesehen? Und gerade diese Halbbarbaren haben triumphiert und ein Reich geschaffen, wie es dem höheren Geist nie geschenkt worden war. Genusssehnsucht ist die große Grundtendenz der Gegenwart, sie ist beherrscht vom Kampf um die genießerische Teilhabe an den Geschenken der Maschinen. Nichts bedroht die Demokratie stärker als der Neo-Eudämonismus, der Freizeit und Lebensfreude in einer säkularisierten Welt über alles stellt. Da mag sicher vieles Erschlaffung sein, damit aber eine tödliche Gefahr für triumphale Aufschwünge; und doch bleibt etwas von der Siegesstimmung in den unzähligen Feiern, in welchen auch der moderne Kleinbürger sein ganzes Leben in einen einzigen großen Feierabend verwandeln will. In all diesem Feiern und Genießen, wenn es nicht gänzlich entnervt, liegt aber auch ein gewisses dynamisches Glücksgefühl, das irgendwann nicht mehr nur genießen, sondern auch triumphieren will. 14*

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Am deutlichsten wird es im unstillbaren Bedürfnis des Bürgers unserer Tage nach den modernen Circenses, vor allem in den audiovisuellen Medien. Hier ist doch alles beherrscht von dem Bedürfnis nach „Action", vom Kriminellen bis zum Sentimentalen wird letztlich überall und immer wieder der Erfolg dargeboten oder großer Misserfolg, jedenfalls etwas von einem ganz außergewöhnlichen, das kleine Bürgerleben überschreitenden Triumph. So wie in allem Schauspiel etwas Triumphales liegt und zwar gerade im Sinne der „reinen Triumphalität", welche ja das reale Ereignis nicht mehr braucht, so wird hier von den Medien unter die Menge eine unabsehbare Zahl kleiner Triumphe geworfen; dies wird zu einer eigenartigen „Schule der Nation", hin zur Triumphalität, deren Organ ständig, wenn auch immer in kleinen Freuden, geweckt bleibt. Und warum sollte es dann nicht zu einer größeren Triumphfähigkeit kommen können? Schon heute zeigt es sich ja an einem Punkt sehr deutlich: in jener Sportbegeisterung, welche in den weitaus meisten Fällen nicht selbst triumphieren kann, auch gar nicht siegen will, auch nicht nur „dabei zu sein wünscht", welche sich vielmehr am Triumph der anderen erfreut, ihn als den eigenen mitfeiert. Und welche Triumphalität wäre denn eindeutiger, klarer nach allen mathematischen Kriterien der Gegenwart, als die des sportlichen Erfolgs, in welchem eine ganze Welt heute tagtäglich ihre Siegesbedürfnisse auslebt? Hier ist ja auch ein Phänomen des „reinen Triumphs" festzustellen: Die Zuschauer und die Leistenden selbst wissen, dass diese so groß gefeierten Siege „im Grunde nicht allzuviel bedeuten", dennoch werden sie überproportional begangen, in einer Minute wird das Triumphbedürfnis von Wochen und Monaten zusammengefasst. In zahllosen kleineren und größeren sportlichen Erfolgen schließlich wird die eigene Nation gefeiert, die eigene Fahne, der eigene Staat. Die politische Dimension dieser sportlichen Ereignisse, ihre wahrhaft staatsintegrative Kraft - und wie viele Bürger kennen ihre Fahne nur aus Stadien - ist seit langem erkannt und wird von vielen gefürchtet; in ihr liegt aber auch ein Gutes: Triumphfähigkeit wird erhalten und entwickelt, und es wird im Grunde nicht nur Staatlichkeit zusammengehalten, irgendwo wird damit auch an imperialen Grundlagen gebaut - die imperialen Kämpfe um Olympische Spiele zeigen es. Ist all dies wirklich nur ein Abfall von einer wie immer verstandenen „olympischen Idee"? War es nicht immer der tiefere Sinn von Olympia, dass dort das Triumphgefühl gepflegt werden sollte, der ganz große Aufschwung, und kann er dann jemals unpolitisch bleiben? Die Liste der Chancen zu einer triumphaleren Zukunft ließe sich wohl noch verlängern. Hier nur noch eines: Vermassung und Kleinheit, welche heute die egalitären Demokratien aus dem Triumphalismus zu werfen drohen, können das Triumphdenken, können insbesondere die „reine Triumphalität" nicht töten, welche auch ohne Großereignisse sich groß fühlt. Vielleicht gibt es etwas wie eine „Triumphalität des kleinen Mannes", wie sie sich schon in der Russischen Revolution eindrucksvoll bewährt hatte, in einem Zusammenstehen und Nebeneinander-Gehen, in großen Menschenketten einer Gemeinsamkeit, welche dann aus den Vielen eben doch mehr schafft als die Summe ihrer Körper. Man sollte dies nicht als ein „Tri-

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umpherlebnis kleiner Leute" gering achten, diese Siegesstimmung ist ein Geist, der weht, wo er will. Entscheidend ist nur, dass nie Windstille herrscht.

7. Der „reine Triumph" - das Dionysische der Politik Der Triumphalismus ist die dionysische Seite der Politik, nur wenn er zu ihr kommt, entfaltet sie ihre vollen, schöpferischen Kräfte, wächst sie hinauf zum Reich. Dieses Dionysische ist immer besungen worden, im Grunde gilt die Historie ihm allein, oder sie verliert sich in Archiven. Der Triumph trägt alle Elemente des Dionysischen in sich: die große Bewegung, das allgemein-Erfassende, das jedermann im Triumphzug mit sich fortreißt, die grenzenlos optimistische Freude. Staatsrecht und Politik hätten keine wahrhaft geistige Dimension, wenn sie eines solchen dionysischen Triumphzugs nicht fähig wären. Hier ist Irrationales - doch dies bedeutet nicht, dass ein rationales Staats- und Reichsrecht daran vorübergehen dürfte. Vom normativen Rationalismus der Aufklärung ist es seit Jahrhunderten verschüttet worden, er hat daher ein Reich nicht zu schaffen vermocht, weil er sich immer vergeblich um Begeisterung bemühte. In seinen dionysischen Triumphmomenten, auf der ersten Höhe etwa der Französischen Revolution, ist er ebenso in Irrationalismus umgeschlagen, wie sich dieser an allen anderen Sieges-Höhepunkten der Geschichte durchgesetzt hat. So ist denn es die große Hoffung für eine neue imperiale Zeit, dass es gelingen wird, die Überrationalisierung der beiden letzten Jahrhunderte zu überwinden, die grenzziehende Kraft der Normen im Staat zu bewahren, ohne dass die dionysische Kraft des vollen, glückhaft gefühlten Erfolgserlebnisses verloren ginge. Es ist, als müsste man in einer normierten Staatswelt einen neuen „Ermessensraum für dionysische Begeisterungen" schaffen. Und in der Tat - in jedem, im kleinsten staatlichen Ermessen ist etwas von Freiheits-Macht, von unwiderstehlicher Durchsetzungskraft, welche dem Gestaltenden ein Siegesgefühl gibt. Wenn schon wieder einmal normativ gesprochen werden soll: Wo immer man aus dem Geflecht der Gesetze in die Räume des Ermessens vorstößt, ist ein Schritt auf einer triumphalen Straße getan. Den Staatstriumph gilt es wieder zu feiern, und so viele Formen - sie werden sich noch zeigen - stellt gegenwärtige Staatlichkeit zur Verfügung; wo immer es Erfolge gibt, muss man sie sehen, sie dann in reinem Triumphalismus noch höher steigern. Das Dionysische baut sich aus den Glückserlebnissen derer auf, die im großen Zuge folgen, es wird nicht nur von oben über sie ausgegossen. Die vielen „kleinen Triumphe" der Bürger - nicht die Genusskapitalien des Bürgertums - müssen wieder in die öffentlichen Dinge hineingetragen werden. Und da ist doch so unendlich

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viel an kleinem und größerem Erfolg, aus diesen Bürgertriumphen muss sich der größere Staatstriumph aufladen. Das Dionysische steht unter einem eigenartigen Gesetz der Relativität: Seine begeisternden Bewegungen kommen aus kleinsten Anlässen, sein Lachen aus Nichtigkeiten - entscheidend ist immer das Spannungsverhältnis zum unmittelbar Vorangegangenen, nicht einfach nur der objektiv betrachtete Ergebnis-Erfolg. Und hier liegt eine besondere dionysische Chance der Gegenwart: Soweit hat sie sich ja von früherem Ordnungsdenken entfernt, dass die geringste Straffung als eine „neue Ordnung" gefühlt, begrüßt und gefeiert werden kann, dass halbierte Anarchie geradezu als Reichsbeginn erscheinen mag. Der Weg am Rande des Abgrundes hat etwas Triumphales, die Möglichkeit des tiefen Falls zeigt gegenwärtige Höhe, sie wird als solche freudig bewusst und gefeiert - getanzt. Finden sich nicht hier heute manche der früheren dionysischen Momente des Triumphalismus? Und immer wieder führt dies zurück zum Zentralbegriff der Feiern, so wie eben das Reich der gefeierte, der gekrönte Staat ist. Bei aller Bedeutung des Erfolgstriumphalismus - das reine Dionysische liegt im reinen Triumphieren-Können, in jenem „Denken in Feier", das schon so viel bedeutet, dem dann wie mit geschichtlicher Notwendigkeit auch die Erfolge noch folgen. Zwei Dinge müssen hier zusammenkommen: Die triumphale Bereitschaft des Mitziehens, der Teilnahme an Größerem - gerade die heutige Demokratie hat an ihm mehr als genug, und sollte sie auch nur Herdenmenschen entwickelt haben, gerade sie sehnen sich nach dem Augenblick, der heraushebt. Und dann muss alles beginnen mit einem Choregos, mit ihm, der die Feier anführt, in demokratischer Autorität oder persönlicher Gewalt. Das Wesen der großen Triumphfeier aber ist, dass er nicht immer vorangeht, dass er irgendwann zurückfällt in die Gesamtstimmung, denn solange es wahre Triumphe gibt, kann ein Reich sein auch ohne Kaiser. Hier wurde versucht, die Erscheinungsformen des Triumphalismus zu beschreiben, von seinen klaren, fassbar-militärischen Phänomenen bis hin zu einer fast verdämmernden reinen Triumphalität, einem überschwänglich optimistisch feiernden Staatsgefühl. Nun lenkt noch einmal der Weg zurück in die tieferen Bereiche organisierter Staatlichkeit, in ihnen wird sich zeigen, dass auch heute schon, in aller normativen Einfachheit, triumphiert werden kann und sollte, damit irgendwo und irgendwie etwas wachse wie ein Reich.

D. Triumphale Formen der Staatsorganisation Triumphfeiern im Staat I. Die institutionelle Staatsfeier Die moderne demokratische Staatlichkeit hat weit mehr an Triumphalismus aus der Vergangenheit bewahrt, als gemeinhin bewusst ist. Nicht nur im Formalismus ihres Handelns will sie eine Würde zeigen, hinter der etwas wie ein deutlich triumphaler Anspruch steht. Im engeren Sinne institutionalisiert hat sie die Staatsfeier in älteren und sogar in ganz neuen Formen. Einem prosaischen Radikaldemokratismus mag dies alles lächerlich erscheinen oder doch nur als ein Zugeständnis an genussgierige Moden. Solcher Bescheidenheits-Puritanismus ist fehl am Platz: Ein Staat, der seine Triumphe, wie groß sie auch sein mögen, nicht mehr institutionell feiert, gibt sich als Institution selbst auf. In jeder solchen Feier aber liegt eine Erinnerung, die zum imperialen Element werden kann.

1. Das Staatstheater In diesem Worte soll hier nicht, wie so oft, eine Abwertung liegen. So wie Feiertage fest in Kalendern verankert sind, damit die Erinnerung den Menschen zwingt, so ist das Staatstheater eine Art von normativem Zwang, frühere Triumphe weiterzutragen. Darin sollten dann nicht nur, wie es die Integrationslehre wollte, die Bürger heute einig sein, sie sollen sich darin erheben, über sich selbst und sogar über die tagtäglichen Formen ihrer Staatlichkeit hinaus, mit Blick eben auf etwas, das man imperial nennen darf. a) Staatsfeiertage Staatsfeiertage sind Siegeserinnerungen, so viel Berechtigung haben sie und integrative Kraft, wie sie an frühere Triumphe erinnern. Dem Tag der deutschen Einheit ist die sieghafte Bestätigung zuteil geworden; erst dann konnte er zum Nationalfeiertag werden. An diesem Tag muss ja etwas geboren worden sein, was sich mit imperialen Hoffnungen entwickeln konnte, mochte auch kein Reich aus ihm werden. Die zeitlose Kraft des Triumphs und der Imperialität wird hier in einem doppelten Sinne feiernd vergegenwärtigt: indem der heutige Feiertag dem früheren Ereignistag, weit übergreifend, gleichgesetzt wird, und indem das ganze nationale Leben in Zeitlosigkeit stillsteht. Denn eines Gedenkens mit gesenkten Häuptern

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sind die Menschen weder allgemein fähig, noch könnte dies genügen, es wäre nur rationalistisch-historisierende Verengung: Der vergangene Triumph wird - einfach gefeiert, und dann spielt er nicht mehr die entscheidende Rolle, es übernimmt sie die Feier an sich. Staatsfeiertage muss auch die Demokratie kennen, jeder Anlass sollte ihr gut genug sein, wenn er nur triumphal ist. Geschichtslektionen sollte sie hier nicht erteilen, entzweiende Polemik nicht fortsetzen wollen, nur totale, unbestreitbare Triumphe können so gefeiert werden; selbst der 14. Juli hat erst nach vielen Jahrzehnten in Frankreich die Höhe des Nationalfeiertags langsam erreichen können. Die Demokratie sollte auch nicht um jeden Preis nur Volkstriumphe feiern wollen. Größe kann sie vielmehr darin beweisen, dass sie die Macht einer Triumphalität anerkennt, welche Staatsformen übergreift. Es ist ein Missverständnis, die Erfolge anderer Staatsformen nicht feiern, sondern vergessen zu wollen, darin innenpolitische Polemik historisierend fortzusetzen. Was immer wahre nationale Größe hatte, kann und muss auch gerade von jener Demokratie gefeiert werden, in der doch das Volk herrscht, das Volk von einst und jetzt. Und welchen Erfolg immer die Demokratie feiert - sie macht ihn ja damit zu ihrem eigenen. So wenig eignen sich Staatsfeiertage und Staatsfeiern für ideologisierende Verengung. In ihnen liegt eben immer etwas von imperialer Weite. Nicht umsonst hat Rom so viele Tage gefeiert - immer mehr.

b) Nationalhymnen Nationalhymnen haben ihren eigentlichen Sinn im Triumphalismus, der in ihnen zum Ausdruck kommt. Als Kampflieder, nach Art der Marseillaise, feiern sie den militärischen Sieg und als Grenzumschreibungen nach Art des alten Deutschlandliedes zeigen sie die Größe des Reiches, als Königshymnen die Personifizierung des Imperialen. Immer sind sie Erinnerungen an große Ereignisse, die in ihnen beschrieben werden, und an glückhafte Zustände, welche fortdauern sollen. Triumphiert aber wird in ihnen gerade in jenem Augenblick, in welchem sie erklingen: Das Wichtige an der Hymne ist nicht sie selbst, sondern der Augenblick, den sie heiligen soll. Er ist der große, kleine Triumphmoment, an dem man sich an größere Siege erinnert. Er ist der Feier würdig, weil auf ihm ein Abglanz der großen Vergangenheit liegt, einer größeren Idee. Für viele bedeutet die Nationalhymne heute nurmehr ein Erkennungszeichen für solche, welche den gleichen Pass mit sich tragen - leicht könnte man dann auf sie verzichten. Sie rechtfertigt sich nur als Ausdruck eines nationalen Triumphalismus, mehr noch: als Symbol der Transzendenz des Staatlichen über alles Einzelbürgerliche hinaus. In diesem Augenblick „ertönt die Ordnung an sich", in diesen Klängen ist sie immer grenzenlos, jede Nationalhymne könnte eine Reichshymne sein, sie ist es für diejenigen, welche sie singen, in diesem Augenblick bekennen sie sich zu einer Imperialität.

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Als Ausdruck des reinen Triumphalismus schließlich braucht die Nationalhymne auch den Wahrheitsbeweis ihres Textes nicht anzutreten, ihre Wahrheit trägt sie in sich, im früheren Triumph, den sie weiterverkündet. So können denn die revolutionären Bataillone noch immer marschieren, und wenn es längst keine Tyrannen mehr gibt, niemals vielleicht wirklich solche gegeben hat; und Engländer mögen ihre heimliche Nationalhymne immer weiter singen, jenes „Rule Britannia", auch wenn die Wogen von anderen Schlachtschiffen beherrscht werden. Deutschland schließlich hätte man wohl sein Lied lassen können, und sei es auch nur als ein Monument im wahren Sinne des Wortes, als ein Mahnmal, wie man ein Imperium gewinnen und verlieren kann.

c) Fahnen Fahnen und ähnliche Staatssymbole sind nicht irgendwelche Gütezeichen, noch Firmenschilder staatlicher Organisationsstellen. In der Fahne liegt das Triumphale, sie flattert den siegreichen Heeren voran, etwas Bewegendes liegt symbolisch in ihr wie in den römischen Adlern, die an ihrer Stelle flogen, die dionysische Begeisterung zum Sieg. Fahnen, die nicht gesiegt haben, dürfen im Grunde nicht gezeigt werden; wer sollte sie küssen, der nicht bereit ist, für sie zu sterben, für den Durchbruch, an dessen Punkt sie wehen. Wenn die Fahne vom Siegeszeichen zum Staatstheater wird, bleibt ihr noch immer etwas vom ursprünglichen triumphalen Anspruch. Sie weht über der Staatsfeier und verschönt sie mit ihren Farben, sie erinnert das friedliche Fest an den Sieg. Durch die Fahne wird die große Einheit aller Staatsfeier bis hin zu den früheren Großerfolgen und den vielen kleinen Siegen hergestellt, in diesem Sinne ist sie wahrhaft und zutiefst Symbol. Als Triumphabbild ist die Fahne ein imperiales Zeichen, das Ausschließlichkeit verlangt, sich vor niemandem beugt, vor keiner anderen Fahne. So ist es denn nichts als eine gedankenlose Abwertung, wenn die Fahne zum touristischen Zeichen verflacht, wenn Fähnchenreihen die große Triumphalität zum Volksfest degradieren. Eine wahre Fahne ist nur das, wovor jeder sich beugt, das Symbol eines Reiches, und liege es noch so im Kleinen. Die Reverenz aber wird nicht einer Idee erwiesen, einer brutalen Macht, die hier gar nicht wirken kann, man grüßt und bewundert den Sieg, über dem sie geflattert hat, den sie in die Gegenwart hineinträgt. Es ist noch immer der Wind des Triumphs, der sie bewegt. Republikanische und demokratische Fahnen haben einen besonderen Sinn, diese Staatsform braucht sie mehr als jede andere. Hier sind sie nicht mehr das Zeichen, dass an dieser Stelle etwas von der Würde der personifizierten Staatlichkeit des Monarchen gegenwärtig ist, von der Republik werden sie aufgepflanzt als reines Zeichen des Sieges, als Farben, um die sich die Bürger scharen zum Durchbruch. Die monarchische Statik der Turnierschilder ist aus ihnen verschwunden, die republikanische Fahne ist voller, dionysischer Triumph. Sie gehört jedem Bürger, so wie

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der Sieg von jedem ganz gleich errungen ist. Demokratische Fahnen sind ein imperialer Ausdruck des Bürgertriumphs. Welche Staatsform sollte sie höher halten?

d) Orden Uniformen, Orden und Ehrenzeichen sind in mehrfacher Hinsicht Formen institutioneller Staatsfeier, in ihnen kommt der Triumph der organisierten Gemeinschaft ebenso zum Ausdruck wie der Erfolg ihrer einzelnen Glieder, der sie trägt. Die Uniform symbolisiert jenes Militärische, welches stets, wie bereits dargelegt, auf Sieg und Großerfolg angelegt ist. Wo die Uniform zum Gewände der Feiern wird, ist sie Symbolträgerin jenes großen Staatserfolges, der sich dort zelebriert. Im Übrigen aber hat auch sie den Ordenscharakter, der bei solchen Formen des institutionalisierten Staatstheaters im Vordergrund steht. Ein Theater sind alle diese Uniformen, Orden und Ehrenzeichen, als solche werden sie heute belächelt und bekämpft, wenn nicht als Formen sinnloser Machtdemonstration verworfen. Auch hier wird wieder das Entscheidende verkannt; jene Festschreibung des Triumphes, welche in allen Ordensverleihungen zum Ausdruck kommt. Befriedigung menschlicher Eitelkeiten ist da sicher, doch der Staat muss nicht nur mit ihnen rechnen, er zieht aus ihnen die Kraft der Ambition, welche zu größerer politischer Gestaltung führt. Im Siegesstreben ist ja auch stets so viel an Eitelkeit, und was besagt dieses Wort im Politischen schon anderes als Erfolgswillen und das Streben, Erfolge zu zeigen? Diese politische Eitelkeit mag in der Demokratie verdrängt werden in die Formen eines einfacheren Staatstheaters, aufgehoben wird sie nie; und für den Staat bedeutet es eher eine Gefahr, wenn sie in Kryptoaktionen unter Wasser wirkt, wenn sie „wahre Macht" anstrebt in teuflischer Bescheidenheit, nicht mehr die offene der Orden und Ehren. Zwischen der reinen, sklerosierten Notablierung und jakobinischem Puritanismus muss eben jener Mittelweg gegangen werden, welcher die triumphalen Kräfte der Ordensidee aufnimmt und in sinnvolle Kanäle lenkt, in denen sie zu etwas Imperialem zusammenfließen. Denn hier feiert ja der Staat wie der Bürger seine Triumphe: Für den Staat ist Ordensgründung und jeder Akt der Ordensverleihung eine Form der Feier eigener Erfolge, seiner Souveränität, in welcher er den einen über den anderen auszeichnend erhebt, aber auch der Erinnerung an Ereignisse oder glückhafte Zeiten, oder einfach nur an die Kontinuität seiner Existenz, aus der heraus der Orden entstanden ist; und es gehört eben zum Wesen der Orden, dass sie unvordenklich alt sind. So ist denn jede Ordensverleihung ein Staatsfeiertag en miniature, und in der Auszeichnung ihrer mehr oder weniger verdienten Bürger feiert die Staatlichkeit auch sich selbst. In den Orden wird aber vor allem der Bürger aufgenommen, vom Gewaltunterworfenen wird er zum Träger, mehr noch: zum Symbol der Staatlichkeit selbst. Für die Demokratie ist dies besonders wichtig, kennt sie doch Teilhabe an der Macht

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grundsätzlich nur in normativierten, abgegrenzten Kompetenzen, als etwas, das zur Bürgerexistenz hinzukommt, was in der Freizeit wieder abgelegt werden kann, nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen ausgeübt wird. Ganz anders der Orden: Aus der vordemokratischen Welt bringt er in die Volksherrschaft hinein die kaum abgrenzbaren Kompetenzen, die es im Grunde als solche auch gar nicht gibt, weil er ja nicht sie verleiht, sondern nur eine allgemeinere Würde. Darin liegt eine Virtualität des Triumphes, der nicht in einzelne Befugnisse gepresst wird, in ihrer Ausübung sich nie erschöpft. Überwunden ist hier auch die scharfe Antithese zwischen dem befehlsempfangenden und Befehle gebenden Bürger, hier wird der Bürger zum Staatssymbol, zum integrierenden Teil der geistigen Staatlichkeit, in ihrem triumphalen Wesen. Und in dieses Zentrum der Staatlichkeit, das bereits etwas wie einen ReichsKern darstellt, stößt er vor im Erlebnis und in der Feier eines eigenen Triumphes, welchen die Ordensverleihung für ihn bringt, und aufgrund von Erfolgen eines Bürgerlebens, welche hier in einem Großerfolg zusammengefasst und in ihm gewürdigt werden. Was an Verdienst ist im Triumphalismus, das zeigt sich klar in der institutionalisierten Staatsfeier des Ordenstriumphs, und da auf ihn, auch in der normativen Anspruchsdemokratie, ein Anspruch nicht gewährt wird, liegt darin auch immer etwas von der Gnade, einem weiteren zentralen Triumphelement. Anerkennung des Bürgererfolgs, des Gesamterfolges eines Lebens aber ist der Orden immer, und damit eine Ausstrahlung eines imperialen Triumphalismus. So sollte denn die Demokratie die Orden nicht verwerfen, sondern aufnehmen und in neuen Formen fortentwickeln. Darin nämlich kann sie in echter Staatsfeier sich selbst Kronen aufsetzen, indem sie das Leben verdienter Bürger krönt; und ob dies alles nun ganz so verdient ist oder nicht, bleibt ebenso gleich, wie ja der Triumphalismus sich nicht in der Suche nach historischen Wahrheiten erschöpft. Auch hier übrigens liegt in der Ordensidee, aus ihrem Triumphalismus heraus, ein imperialer Zug: Sie darf ja nicht nur gesehen werden als Schmuck und Auszeichnung, hier werden Gemeinschaften geschaffen, vielleicht sogar hierarchisch gestuft, unter dem größeren Dach einer Staatlichkeit, welche sich gerade darin zur Imperialität erhebt, dass sie „viele Ordnungen als Orden unter sich hat", sich so wahrhaft mit ihnen zu schmücken vermag. Nicht umsonst führen die Worte Ordnung und Orden auf dieselbe sprachliche Wurzel zurück. Wer die größere Reichsordnung über der Vielfalt der politischen Gebilde und Zusammenschlüsse schaffen will, der sollte auch die Kraft aufbringen, dies in Orden hierarchisch und durchaus auch elitär zu gliedern, horizontal wie vertikal eine Vielfalt zu schaffen, über der sich ein Reich wölbt.

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e) Staatsfeiern Staatsfeiern - das ist heute ein Begriff in der Krise. In Kompetenzen geklemmt haben die Staatsorgane es verlernt, ihren Staat zu feiern, darin geht laufend Imperialität verloren, weitere, größere, liberale Ordnungskraft. Die Kunst früherer Zeiten zeigt uns, welchen Raum solche Feste einnehmen, nimmt man hinzu noch den Pomp von Prozessionen der Staatskirche. Jahrhundertelanger Rationalismus hat die politische Kraft der Feier erfolgreich bekämpft und geistlos verkannt. Triumphe waren dies doch immer, Siege, welche der blutigen Schlacht nicht bedurften und dennoch in der Erinnerung der Bürger blieben. Diese Augenblicke sind ja auch der Wiederholung fähig, beliebig, wie das Theater, eine Geschichte zur Disposition der Menschen. Der säkularisierte Staat hat ihnen die Feierkraft der Kirche genommen, welche doch so endlos und imperial-römisch zu zelebrieren vermochte, die Angst vor Kanonen und Raketen verdrängt die Freude an den Paraden, und bald wird, so mag es scheinen, nichts mehr bleiben als - das Staatsbegräbnis, vielleicht auch in dem Sinn, dass dort immer weitere Reste von Staatlichkeit begraben werden; denn nur zu oft ist dies die wahre Trauer solcher Stunden, dass Persönlichkeiten verschwinden, die noch etwas Triumphales, ja Imperiales in einer Welt bedeutet haben, welche nun dessen nicht mehr fähig ist. Es ist eine große Aufgabe, die sich einer wie immer gearteten, vor allem aber einer demokratischen Staatlichkeit in nächster Zukunft stellt, dass sie die echte, die formierte und institutionalisierte Staatsfeier neu entdeckt und in neuen Formen entfaltet. Kommunistische Imperialität hat dies verstanden und zelebriert, sie entfaltet über Volksfeste und Freizeitparks hinaus, nicht nur an Oktobertagen. In die wertneutrale Tristesse der normanwendenden Staatlichkeit muss etwas einfließen von einer normierten Feierlichkeit, welche Erinnerung an vergangene Erfolgserlebnisse ist, zugleich aber auch etwas von der reinen Triumphalität der ereignisgelösten, höchst optimistischen Feierstimmung in sich trägt. Und wichtig ist, dass der Staat als solcher offiziell feiert, nicht nur in würdigen Formen auftritt, einer anderen, noch zu besprechenden Form formaler Staatstriumphalität. Klar muss darin werden, dass Staatlichkeit nicht lediglich eine Veranstaltung ist im Schutz einer sich selbst abschirmenden Würde - der „Staat als freudiges Ereignis", das gilt es dem Bürger im großen Staatstheater vorzuspielen, denn dahinter steht doch die Idee vom „Staat als Glück" - wer dies aber aufgibt, wird nie mehr haben als den brutalen Befehl. Sicher liegt in solcher Staatsfeier auch immer etwas Apotropäisches: Die Feiern halten die bösen Geister von Krise und Niederlage fern, in ihnen werden die schwarzen Tage beschworen. Etwas vom vorbereiteten und dekretierten Triumph liegt in ihnen, bis hin zu den Kranzniederlegungen, den Staatsbanketten und jenen Schlössern, in welchen sich gerade die Demokratien so gerne feiern. Und sie sollen, sie müssen es, den Vorwurf des Parvenuhaften sollten sie ruhig in Kauf nehmen. Im Grunde ist doch auch der Spiegelsaal von Versailles nichts anderes als Sonne und imperialer Triumph, und welche Staatsform hätte dieses Licht nötiger

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als die Volksherrschaft, in einer Zeit, in welcher es ihre Medien in tausend Spiegeln reflektieren können? Neuentdeckte Universitätsfeiern zeigen es. Erinnerungen bedeuten sehr viel für die Staatlichkeit, doch solche Feiern sind mehr als Gedächtnis, sie sind normativierte positive Staatlichkeit. Deshalb ist es müßig, darüber zu streiten, ob all diese Erscheinungen des Staatstheaters der normativen Form bedürfen, ob sie „den Bürgern Rechte und Pflichten" bringen: In einem tieferen Sinne ist dies jedenfalls zu bejahen; was könnte bedeutender für den Bürger sein, ihm größere imperiale Rechte verleihen, als die Sicherheit, in einer erfolgreichen, triumphalen Gemeinschaft leben zu dürfen? Und wenn die Demokratie nur die Form ihrer Normen hat, um Staatsentscheidendes auszudrücken, so möge man doch Staatsfeiern in erzene Normen gießen!

2. Staatsgetragene Gesellschaftsfeiern - Prozessionen und Maifeiern Der Begriff der Staatsfeier darf nun allerdings nicht allzu sehr verengt, nur auf die offiziellen Formen des Staatstheaters beschränkt werden. Immer mehr entwickeln sich daneben Formen dessen, was man „gesellschaftliche Feiern" nennen könnte, sie werden vom Staat aufgenommen, unterstützt, getragen, bald verfließen staatliche und gesellschaftliche Selbstdarstellung ineinander. Die vielfachen Annäherungen und Verschlingungen von Staat und Gesellschaft, gerade in der Demokratie, finden darin einen Ausdruck, dem aber nicht nur der Charakter der Feier wesentlich bleibt, in dem auch viel von öffentlicher Triumphalität, wenn auch in ganz neuen Formen, bis hin zum Eudämonismus, liegt. Im Grunde hat es Derartiges stets gegeben. Wenn nicht spontane Volksfeste, Bürgererinnerungen an glückhafte Ereignisse, Anlass dazu boten, dass der Staat hier mitfeierte, ja sich in die Feiern drängte, so waren es jedenfalls die zahllosen kirchlichen Feierlichkeiten, in denen öffentliche und private Freude in einem einzigen Triumpherlebnis sich verbanden. Dies war und ist ja der staatskirchenhafte tiefere Sinn der Staatsteilnahme an kirchlichen Feiern, der gezückten Degen hinter dem Sakrament, dass der Triumph Gottes in Auferstehung und Erlösung, durch die Waffen verstärkt, zugleich aber auch umgekehrt zum höheren Triumph der geweihten Waffen wird. Selbst wo nunmehr diese militärische Sieghaftigkeit zurücktritt noch immer bleibt in der Gemeinsamkeit kirchlicher und ziviler Autoritäten, in so vielen kirchlichen Feiern und Prozessionen, etwas vom Gesamttriumph der Gemeinschaft, vom Staatstheater, bis hinunter in die Städte und Dörfer, welche sich hier, in ihrer staatlichen Einheit, unmittelbar sehen zu ihrem triumphalen Gott. Doch auch die „andere Seite", die religionsneutrale, wenn nicht -feindliche sozialistische Welt, hat ähnliche Entwicklungen zu bieten: Der große Maifeiertag ist aus einem gesellschaftlichen Ereignis, aus einem Triumphtag der Arbeiterklasse, zu einem Staatsfeiertag geworden, ohne dass hier doch staatliche Triumphe gefeiert werden könnten - gesellschaftliche Triumphalität wird zelebriert.

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Jene „arbeitende Klasse", welche ihr Triumphgefühl nicht mehr finden konnte in den feudalistischen Reminiszenzen dessen, was sie nur als Unterdrückung empfand - sie hat sich ihren eigenen Klassentriumph geschaffen, der bald zum Sieg des Volkes, darüber hinaus zum Staatstriumph emporwachsen sollte. Die Riesendimensionen der Maifeiern, überall gleiche einheitlich rote Kampf- und Siegesfahnen - wo wäre heute mehr an Triumphgefühl, an Kampf- und Siegesstimmung zugleich vereint als in diesen Augenblicken, welche dann in wahre Volksfeste auslaufen? Vergangene Siege werden hier gefeiert, gegenwärtige Errungenschaften, künftige Erfolge sind vorweggenommen - alles in einer Stunde vereint, in einem erstaunlichen und höchst virtuellen Synkretismus der zeitlichen Phasen wie der Bürger, Klassen und Staatsgewalten. Da treten dann Regierungsmitglieder als Volksführer auf die Tribünen, dort finden sie zu einem Triumphgefühl zurück, das sie in der eisigen Kälte der Ministerien und Parlamente kaum zeigen dürften. Triumphal lädt in diesen Feiern die Gesellschaft den Staat auf, und hier kann der heute so problematische Ereignistriumph zurücktreten in der reinen Sieghaftigkeit der Feiern, hier wird das ganze eudämonistische Genusspotential zur Kraftquelle für wahre Reichsfeiern, in deren Internationalität ja auch etwas von sozialistischer Imperialität liegt. Nicht umsonst sind diese Feiertage aus Streiks entstanden, warum sollte auch die Arbeitsniederlegung nicht gefeiert werden, bringt sie doch das Wesentliche des großen Erfolges wie der großen Feier: Alle Räder stehen still im Klassensieg, still steht auch der Staat mit seinen Verwaltungen und Posten, und nun wäre es vielleicht gar Zeit für eine staatsromantische Gedankenverbindung: Wird nicht darin gerade die Gemeinschaft zum Reich, im Stillstehen aller Staatlichkeit, wie die römische Ordnung, die am Ende fast nurmehr Träume von Feiern schuf und sich selbst feierte? Solche Gedanken sollte gerade die Demokratie aufnehmen, denn hier ist jene Bürgernähe der Feiern, um welche sie bemüht sein muss, eine Spontaneität des gemeinsamen Erlebnisses, das nicht befohlen wird, eine Genusshaftigkeit, welche schon früher einmal über Jahrhunderte hinweg Zirkusspiele zum Staatsereignis gemacht hat. Und dies alles muss ja keineswegs reine Genuss-Dekadenz bleiben; immer wieder können solche „Gesellschaftsfeiern" großen Stils, bis hin zu Messen und Volksfesten, auch politisch aufgeladen werden, und dies geschieht schon heute, in unzähligen Rahmenprogrammen, bis hinein in Kirchen- und Katholikentage. Was hier wieder hinaufdrängt ins Öffentliche, ist doch letztlich nichts anderes als jenes Zelebrieren der Tragödien und Komödien, in welchen die attische Demokratie gesellschaftliches Staatstheater feierte, und es dann nahezu bruchlos in ihren Volksversammlungen fortsetzte. So wie damals das Triumphale erlebt werden konnte - Aristoteles hat es uns interpretiert - in den Geschichten von Göttern und Königen, als ein großes Rahmenprogramm der prosaischen athenischen Volkspolitik, so muss die triumphale Volksfeier in der heutigen Demokratie, mit öffentlichen Geldern finanziert, auf öffentlichen Straßen und Plätzen, unter den öffentlichen Augen der volksgewählten Autoritäten, geschützt durch öffentliche Bedienstete, den positiven, freudigen, triumphalen Aspekt demokratischer Politik fortsetzen, die hier endlich

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einmal auch genossen werden kann. Wo immer das Volk so zusammentritt, da ist außerhalb von ihm nichts mehr, da wird der Umstand zum Reich, das Reich selbst zu Folklore.

II. Das feierliche Staatshandeln Dem Staat kann es nicht genug sein, vor allem nicht in der Volksherrschaft, Triumphalismus nur in eigenen, institutionalisierten Feiern zu finden oder sich an den Feiern seiner Bürger-Gesellschaft zu beteiligen. Sein Staatstheater muss breiter werden, denn Triumphe lassen sich nicht so einfach institutionell oder gar normativ verengen. Die große These muss sein: Staatshandeln als Staatsfeiern, in den besonderen Formen, deren feierliches und feierndes Monopol dem Staate vorbehalten ist. Hier erreicht die Theorie des Triumphalen die Lehre von den Formen des Staatshandelns - wenn es eine solche überhaupt noch gibt. Denn ein Unglück der Demokratie war es, dass sie mit den Kronen und monarchischen Orden auch so viele Formen des Staatshandelns zerbrochen hat, in denen jener Triumphalismus weiterlebte, dessen doch sie eben bedarf. Demokratische Staatlichkeit verhält sich nur zu oft, als gehe es ihr allein darum, materielles Staatshandeln zu regeln, als gebe es ein Selbstgewicht staatlicher Handlungsformen nicht mehr - welch ein Irrtum! Wenn früher der Monarch auftrat, in den Kleidern, mit den Insignien seiner Macht, wenn er im Thronsaal Staatshandlungen setzte, so war diese Einheit von Staatshandlung und Staatsfeier noch ganz gegenwärtig, „ordinaria amministrazione" geradezu wurde zum Staatstheater. Welche Verarmung liegt nicht darin, dass der demokratische Staat oft nur dort feiern zu können glaubt, wo er nicht mehr handelt, dass er das Staatstheater zum Faschingszug degradiert! Wenn schon alles an der Demokratie Institution und Norm sein muss, so sollte sie doch auch in ihrem normativen Handeln, und bis in die Alltäglichkeit hinein, etwas von Feierlichkeit legen, damit ihr die Triumphalität nicht gänzlich verloren gehe. Wenn es gelingt, eine Lehre der staatlichen Handlungsformen neu zu entwickeln, wenn nicht in ödem Funktionalismus jede äußere Form nur als Annex materieller Entscheidungsbefugnisse abgehandelt wird, dann wird man wieder eine alte, neue Chance zum Triumphalismus entdecken. Und vielleicht erzwingt dies übrigens gerade die Notwendigkeit erhöhter Formalisierung in einer Massengesellschaft, welche ihre unzähligen Erscheinungen besser ordnen muss. Aufgegeben ist hier der modernen Bürgergesellschaft eine ganz große Modernisierung, ältere Formen können nicht Beispiel, sondern allenfalls Ausgangspunkt sein. Als solche aber sollten sie bewusst bleiben. Wenn die Staatsgewalt „näher ans Volk gebracht" werden soll, wie könnte dies besser geschehen als darin, dass sich irgendetwas von glückhafter Triumphalität auch noch in ihren einzelnen, tagtäglichen Handlungen zeigt?

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Buch 1 : Der Triumph

1. Formen des allgemeinen Staatshandelns a) Staatshandlungsformen

als Ausdruck des Erfolges

Die Vergangenheit hat einen großen Reichtum von staatlichen Handlungsformen entwickelt, nicht nur in der Form ihrer Akte und von deren Erlass, sondern auch in der Charakterisierung der Befugnisse ihrer Organe. Beides ist ja letztlich als Einheit zu sehen, die Richterrobe und die feierliche Urteilsverkündung und -formel. „Staatsroben" werden heute oft als Verkleidungen verpönt, als Staatstheater der Lächerlichkeit preisgegeben. Eines Tages werden sie zurückkehren, in anderen Formen vielleicht, in den Ländern, welche heute noch imperiale Größe haben, ist ihre Bedeutung durchaus bewusst geblieben. An Universitäten und Gerichten getragen hatten sie ja, und hätten sie auch heute noch einen hohen Symbolgehalt, der nur dem entgeht, der nicht triumphalistisch zu denken vermag. Denn hier tritt ja die Person, welche so verkleidet ist, zurück, sie zählt nicht, ist sie doch nur der verlängerte Arm einer triumphierenden Göttlichkeit: der Gerechtigkeit, welche über den Bürgern steht, der einzigen Göttin, die sie doch stets annehmen müssen, und wenn sie alle anderen Standbilder stürzen; der Wahrheit, die Gott ähnlich ist, welche sie immer brauchen, heute schon ganz besonders, zu ihrem größeren künftigen Nutzen und Genuss. Klarwerden soll so dem Bürger, dass etwas über ihm ist, dass er unter einer ganz großen, übergreifenden, im wahrsten Sinne des Wortes imperialen Ordnung steht - denn was wäre weiter und allgemeiner als Recht und Wahrheit - die aber gegliedert ist in vielfacher Weise, bis herunter zu seinem Fall, in der Anwendung auf seine kleinen Interessen. In der Entdeckung der Wahrheit, im Fassen eines auch nur wahrheitsnahen Gedankens, wird ebenso triumphiert wie wenn es wieder einmal heißen kann: „Justice est faite." Das Unwiderstehliche, das Undiskutable verkörpern die Staatsroben, in all ihrer Einfachheit, gerade in ihr sind sie in höchstem Sinne triumphalistisch. Staatsdokumente und Staatsformeln, bis hin zum „Namen des Volkes", haben nicht nur den ja schwer fassbaren symbolischen Gehalt der Darstellung einer unendlichen Vielfalt von Bürgern, hier wird gezeigt, was sich endgültig durchsetzen soll: das im höchsten Sinne des Wortes „Notarielle", eine Dokumentation, die niemand zerreißen kann. Darin ist etwas vom besiegelten Sieg, bis hin zu Zeugnissen, welche den Prüfungstriumph vertiefen. Doch auf solche Herkömmlichkeiten sollte sich der Formenreichtum eines triumphsymbolisierenden Staatshandelns nicht beschränken. Staatliche Hoheitszeichen auf öffentlichen Dokumenten, Entscheidungsform und Entscheidungsformeln sogar im Handeln der Verwaltung, sind nicht nur auf Volksnähe und Verständlichkeit auszurichten, in ihrer traditionellen Formelsprache lebt auch etwas von einer Hoheit, die eben nicht aller Tage ist, es gibt etwas wie eine „Staatsliturgik", die ebenso wenig ungestraft vergessen werden darf, wie ihre Aufgabe der Kirche Glück gebracht hat. Wenn früher die Staatsurkunden mit den zahllosen Titeln des Monarchen begannen, am Ende abgekürzt mit einem „usw.", das die Unendlichkeit

D. Triumphale Formen der Staatsorganisation

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der Macht versinnbildlichte, wenn die Entscheidung abschloss mit einem „Von Rechts wegen", so waren all dies nicht nur formalistische Bekräftigungen, in ihnen wurde die Entscheidung in Staatshoheit gehoben, sie selbst war ein, vielleicht ganz kleiner, Ausdruck der triumphalen Mächtigkeit, der sich jedermann zu beugen hatte. Gesetzeszitate, die Angabe der Legalitätsgrundlage, diese neuen Mechanismen sollen zwar die Weihe des Volkswillens andeuten, doch sie vermögen kaum die sieghafte Kraft der Staatlichkeit hinreichend zu symbolisieren. Neue Formeln nicht Floskeln - neue Dokumente müssen entworfen werden, die nicht nur einfach eine Aufwertung sinnentleerter Hoheit bringen, welche nichts anderes wäre als Obrigkeit; Endgültigkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Staates muss in ihnen durchscheinen, in einer Erfolghaftigkeit, die unvergleichlich größer ist als die so mancher Aktiengesellschaften, welche ihre wirtschaftliche Konkursunfähigkeit in eindrucksvollen Geschäftsberichten und Korrespondenzformen zeigen wollen.

b) Prozessrecht als Ausdruck des Gelingens Staatsformalismus - das ist aber noch weit mehr, es reicht hinein bis ins Verfahren, seine äußeren Formen und Abschnitte. Im weitesten Sinn ist hier das Prozessrecht angesprochen, nicht nur vor den Gerichten, vor allem auch in jener Verwaltung, in die es mit Recht neuerdings wieder als Begriff eingeführt worden ist, nachdem rechtsstaatliche Blickverengung den Prozessbegriff auf die unabhängigen Gerichte hatte beschränken wollen, während früher seine Weite durchaus bewusst gewesen war. Einer Staatlichkeit, welche größeren Reichs-Atem hat, muss bewusst bleiben, dass der Begriff des Prozesses, des Verfahrensablaufs in ihr stets etwas Besonderes behalten muss, was über die Formen von Entscheidungsfindung und Entscheidungsverkündung weit hinausreicht. Das Selbstgewicht des Prozessrechtes ist, im Letzten, Ausdruck eines triumphalistischen Grundgefühles, weil hier den beiden unentrinnbaren Gottheiten gleichzeitig gehuldigt wird: der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Ein Prozessrecht, welches lediglich Annex der Durchsetzung materieller Ansprüche wäre, bedürfte nicht eines Richters in Robe oder gar unter Perücke. Im Grunde ist dies auch heute noch bewusst, in der entzauberten demokratischen Prozesswelt. Man weiß und genießt es letztlich, dass Gerichtsverfahren „zelebriert werden", und in diesem Sinne geschieht dies sogar in den Verwaltungen, wenn Kommissionssitzungen abgehalten werden, formalisierte Entscheidungsvorgänge ablaufen. Diese „Anhörungen" haben etwas Hoheitsvolles gerade darin, dass sie den Erfolg der staatlichen Entscheidung vorbereiten, dass sie die Überlegenheit der triumphierenden Staatsgewalt zeigen, die im Letzten eben doch nicht mit dem Bürger handelt, sondern ihn hört, so wie der Vertreter des ewigen Gottes im Beichtstuhl. Der Theatercharakter schließlich, in welchem die Akte des Gerichtsverfahrens ohne Zweifel stets ablaufen werden, selbst noch in jenem Zivilprozess, in welchem 15 Leisner

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Buch 1 : Der Triumph

so vieles hinter den Kulissen geschieht, findet immer wieder den Anschluss an das größere Staatstheater, in welchem eben doch stets Sieg gespielt wird - wie auch hier der Sieg der Gerechtigkeit. Prozessrecht ist immer und auch in der Pandektistik in Deutschland der Ausgangspunkt großer Jurisprudenz gewesen, irgendwo kam der Prozess eben vor dem Recht. Und auch dies ist ein Symbol: Denn im Prozess zieht ein Triumphzug dem Reich voraus, seiner materiellen Ordnung, welche er durchsetzt. Reichtum prozessualer Formen - das ist ein Weg über den Triumph zum Reich.

2. Staatskunst a) Staatskunst als Staatshandeln Staatskunst ist als Phänomen der Staatslehre, der Staatstheorie wohl erst bewusst geworden, nachdem der Liberalismus hier wie auch sonst versucht hatte, die Staatlichkeit möglichst weitgehend zu „privatisieren", nachdem neuerdings ein zur Verwaltung gewordener Staat sich in seiner Baukunst kaum mehr von Wirtschaftsbüros unterscheiden will, seine Rolle im Kunstbereich lediglich als Mäzenatentum mit Steuermitteln ansieht oder als Alterssicherung erfolgsschwächerer Künstler. Nun musste sich natürlich die Frage stellen, ob es nicht doch etwas geben sollte wie politische Regimekunst, und gerade Ordnungsgewalten mit imperialen, triumphalistischen Ansprüchen, der Faschismus wohl zuerst, sodann Nationalsozialismus und Kommunismus, haben ganz bewusst der liberalen Privatisierung eine Art von triumphalistischer Staatskunst entgegengesetzt. Gegen solche imperiale Ansprüche musste sich naturgemäß, vor allem in Deutschland, jener Neoliberalismus wenden, der in einer Berliner Stalinallee leicht und politischer Gefolgschaft sicher gigantomanischen Triumphalismus kritisieren konnte. Doch in all dem ist nicht mehr Geistigkeit als in der liberalen Polemik des 19. Jahrhunderts gegen verspätete Fürstenbauten, die wirkliche Bedeutung des Staatsbauens, der Staatskunst überhaupt, bleibt verschüttet. Sie lag in früheren, staatsschaffenden Perioden und sie liegt auch heute noch darin: Dies sind letztlich Formen des Staatshandelns, das sich ja nicht auf prozessuale Abläufe beschränken lässt, auf Siegel und Entscheidungsformeln. Wenn zu ihm die Robe des Richters und des Professors gehört, so erst recht der größere Raum, in welchem entschieden wird, die symbolhaften Gemälde, unter denen dies geschieht. Deshalb auch soll davon in diesem Kapitel die Rede sein, damit wieder deutlich werde, wie weit der Begriff des Staatshandelns dann zu fassen ist, wenn man aus normativen Befugniskassetten ausbrechen will in die Weite größere Ordnung schaffender Dynamik. Früherer Staatskunst, vor allem der Staatsbaukunst, war dies durchaus bewusst, sie wollte überall, noch heute wird es gefühlt, im Staat mehr und vor allem anderes an Kunst hervorbringen, „ganz andere staatliche Handlungsräume" schaffen, als wenn es sich um die Wohnungen der Privaten handelte. Darin liegt zuerst das

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sichere Gespür dafür, dass der steinerne Rahmen die Tätigkeit prägt, dass derjenige anders entscheidet, auf welchen Traditionen früherer Hoheiten herabschauen. Ein ganz großer Triumphator hat einst einen seiner Siege mit dieser anfeuernden Erkenntnis eingeleitet, vor einer steinernen Kulisse von Jahrtausenden. Bis hinein in die kleinen Entscheidungen von Gerichten oder Verwaltungen prägt die Würde einer Staatskunst als Form des Staatshandelns die Entscheidung, verleiht sie ihr die Absolutheit triumphierender Durchsetzung. Steingewordene Tradition - das ist nur ein Aspekt, Größe und Höhe von Säulen und Architraven ist eine weitere Kraft, der Ernst, welcher aus den viel belächelten Staatsgesichtern spricht, die weiterführende Symbolik der Allegorien der Macht - all dies fließt zusammen zu jener typischen Staatskunst, die heute dem privaten Sammler oft negativ bewusst werden mag, wenn Gemälde und Skulpturen in seine hoheitslosen Räume eine Geschichte tragen, die größer ist als sein Leben. Darin liegt übrigens dann auch die Berechtigung musealer Kaufaktivitäten, weil hier nicht dem Markt, dem privaten Erfolg, die verdiente künstlerische Freude entzogen wird, weil nur dem Staat und seiner Geschichte zurückgegeben wird, was auch des Kaisers war und ist.

b) Staatsbauten - über-private Würde oder „ normative Maschinenhallen "? Was ist nun das innerste Wesen solcher Staatskunst - lässt es sich mit dem Begriff der „Würde" umschreiben, einer „Hoheit", welche Tradition, Größe und ernste Symbolik zusammenfassen will? Etwas ist sicher daran, wenn hier ein Selbstbewusstsein der Staatlichkeit gemeint ist, welche sich eben über alle anderen erheben darf. Doch der Begriff der Würde bleibt zu allgemein, zu statisch, in ihm liegen immer schon Verkrustungen, Sklerosen, welche dann dem Freiheitsstreben allzu rasch zum Opfer fallen, bis hin zur Ironie „fortschrittlicher" Betrachter. Gerade wer Staatskunst wirklich begreifen, ihr ihren Stellenwert in einer künftigen ReichsWelt wieder zuweisen will, der darf nicht alles auf den Begriff jener Würde bauen, welche allzu leicht als legitimationsloses Selbstbewusstsein missverstanden wird. Das Entscheidende liegt hier vielmehr in der Unterscheidung zu allem Privaten, welches ja einem Reiche der Freiheit stets Ausgangspunkt sein muss: Staatskunst war immer und ist auch heute noch jene vor allem architektonische Gestaltung, welche „etwas ganz anderes" besitzt und ausstrahlt, einen gänzlich veränderten Raum schafft, verglichen mit den Dimensionen privater Beliebigkeit, privaten Genießens. Dies ist wohl auch jenen modernen Staatsarchitekten bewusst, welche nun daraus aber die ganz abwegige Folgerung eines missverstandenen Normativismus ziehen: dass der Staat nämlich das Allereinfachste sein und daher auch baulich nur bieten dürfe, dass jeder kleine Steuerobolus nicht nur als eine „Staatsanleihe" im weitesten Sinne in höchster Sparsamkeit eingesetzt werden müsse, sondern dass 15*

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diese Staats-Einfachheit geradezu zum Begriffe moderner Staatlichkeit gehöre. Dies verbindet sich dann mit einer radikalen Funktionalität, welche die wenig geistreiche Frage stellt, was denn zum Erlass eines ,»richtigen" Steuerbescheides, eines „gerechten" Urteils baulich erforderlich sei - natürlich nichts als ein Dach über dem Kopf! Hier zeigt sich das Missverständnis einer Legalität, welche alles Staatshandeln auf Normanwendung zurückführen will, dann natürlich lassen sich die normativen Maschinen am besten in kahlen Mehrzweckräumen aufstellen, bis hin zu jenen Beamten und Richtern, welche auch nichts mehr sind als die viel berufenen Subsumtionsautomaten. Vielleicht wird der Weg zu solchen Staats-Maschinenhallen noch weiter gegangen werden, eine Zeitlang, wenn dort die modernen Rechenmaschinen die Hoheit der menschlichen Entscheidung ersetzen sollen. Doch all dies wird vorübergehen, zurückkommen muss und wird neu eine Staatsarchitektur, eine Staatskunst, welche das „ganz andere" nicht in verödender Einfachheit sieht, sondern zuerst wünscht, dass der Staat ein Beispiel gebe, dann aber, in einer zweiten Stufe, zum Selbstbewusstsein einer Staatskunst vordringt, deren Anderssein durch etwas vor allem geprägt ist: durch die Triumphalität eines imperialen staatlichen Kunstbewusstseins.

c) Staatskunst - Ausdruck des „Großerfolges

Staat"

Wie die Kunst schon das Wesen des Triumphes und der auf ihn gegründeten Staatlichkeit in der Betrachtung des Barock nahegebracht hat, so lässt sich dies nun, verallgemeinernd und konkretisierend zugleich, staatstheoretisch fortdenken: Das Wesen der Staatskunst ist der greifbare Siegesausdruck in künstlerischer Form. Alle seine Elemente laufen dahin zusammen, vor allem in der Staatsarchitektur: Die große Traditionalität, welche in einer möglichst gleichen, geradezu antikisierenden oder restaurativen Kunstform zum Ausdruck kommen soll, bedeutet die Bildhaftigkeit früherer Erfolge, die nun sichtbar hineingestellt werden in die Gegenwart, aus denen eine ebenso triumphale Zukunft hervorgehen soll. Hier ist die Staatstheaterkulisse das Ziel, jene Aufbauten der antiken Tragödie, in denen die sagenhaften minoischen Paläste immer von neuem beschworen werden, damit sich vor ihnen Sieg und Untergang abspielen - jedenfalls etwas ganz Großes. Denn auch diese Größe, das zweite Element der Staatskunst, erwächst aus dem Grundgefühl der Triumphalität. Das Staatsbauwerk ist ja das Symbol des großen Erfolges, der mächtigen Durchsetzung, und dies haben sogar noch die Liberalen des 19. Jahrhunderts gefühlt, jedenfalls dort, wo sie in den seltenen Beispielen ihrer Staatskunst wuchtige Größe versinnbildlicht haben - in den riesigen Justizpalästen ebenso wie in den Museen, in den Tempeln der Kunst; denn dies waren ja, wie schon erwähnt, die beiden großen Gottheiten, welchen sie triumphale Würde beließen, in Formen und Roben: Wahrheit und Gerechtigkeit. Und könnte übrigens

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auch ein Staatsstandbild en miniature vorgestellt werden, ein Staatsgemälde im Kleinformat entstehen? Die Triumphalität der Staatskunst liegt schließlich darin, dass hier wahre Symbole des Sieges, der Überwindung, der Durchsetzung geschaffen werden, der unvergleichlichen, hoheitsvollen Befehlshöhe. Deshalb war die Staatskunst so groß in jenem späteren Feudalismus der Barockzeit, weil dort die Fürsten ihren Sieg über die Fronde ihrer Adeligen feierten, weil diesen Letzteren sogar in ihren Schlössern nichts anderes blieb, als an dieser Verherrlichung ihrer Niederlage im Namen abgeleiteter Hoheit noch teilzuhaben, in einer Staatskunst des Abglanzes. Sieg wird also gefeiert in allem, was den Namen der Staatskunst verdient, bis hinein in jene Staatsliteratur, die sich in ihrer dithyrambischen Dichtung nur zu oft in schmeichlerischer Machtanbetung verflachen ließ, die aber doch immer wieder ein Carmen saeculare hervorgebracht hat. Und man sollte darin nicht nur das Negative sehen, die Kunst braucht wenig Mannesmut vor Königsthronen, sie will sie vergolden. Die Demokratie aber sollte auch diese Mahnungen einer langen triumphalen und darin gerade hier imperialen Vergangenheit beherzigen. Über die Trümmer noch der römischen Staatskunst hat moderne Geistigkeit wieder zur Staatsidee gefunden, sie sich bewahren können. Demokraten sollten versuchen, etwas hervorzubringen, was auch in Bruchstücken noch von der Größe ihrer Freiheit später einmal Zeugnis ablegt, in einem Augenblick, in dem deren Reich längst vergangen ist. Wer da glaubt, die moderne Staatlichkeit der Freiheit nur in die Unfassbarkeit spiritualisierender Konstruktionen verlegen zu können, der wird sie bald in Geistesspielereien verlieren, er wird mit späteren Generationen nicht mehr kommunizieren können, denen er nicht nur eine reine Umwelt hinterlassen muss - hier ist ja erstmals wieder Verantwortung gegenüber künftigen Generationen beschworen worden - denen er auch imperiale Monumente hinterlassen sollte. Welche Staatsform aber wäre dazu mehr aufgerufen, gerade darin sichtbar zu triumphieren, als eine Volksherrschaft, welche doch in ihren ganz großen Häusern das ganz große Volk versammeln sollte, ganz weit mit ihrer Staatskunst jedermann den Weg der triumphierenden Schönheit weisen müsste.

3. Das Medientheater - triumphale Verbreitung des Staatshandelns Die Massenmedien, jene größte Gefahr für die moderne Staatlichkeit und ihre größte Chance zugleich, haben, so scheint es doch, etwas zutiefst Untriumphalistisches an sich. Sie nehmen alles auf, groß oder klein, elitär sind sie ebenso wenig wie bewusst selektiv. Zum Genuss wollen sie den Bürger führen, nicht die Staatsmacht zum Sieg - im Gegenteil: Sie sind die Foren jener Kritik, auf denen auch der größte Sieg noch klein wird, Triumphgelüste in Ironie sich auflösen. Und gibt es schließlich im äußeren Erscheinungsbild etwas weniger Triumphierendes als je-

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ne journalistische Nonchalance, welche „in der Fortschrittlichkeit" von Kleidung und Benehmen auf dem Weg weg von der Majestät immer noch einen Schritt voraus war? Es ist wahr, dies sind die vielen und untriumphalistischen Seiten jenes Medienjournalismus, der wohl am meisten dafür getan hat, dass ein Gefühl für Sieg und reichsgründenden Großerfolg heute kaum mehr lebendig ist. Und doch tragen gerade diese Medien viel triumphales Denken und Fühlen weiter, ganz unbewusst oft, bis hinein aber in die Staatlichkeit, geradezu reichsgründend. Davon - und es ist keineswegs ein Paradox - sei nun kurz die Rede. - Die Medien halten schon darin ständig ein Erfolgs-, ein Siegesgefühl lebendig, dass sie das unendliche Theater bieten, in dem ja immer auch gewonnen und verloren werden soll, von den Lotterien bis zu den Erfolgen der Kriminalpolizei, vom Triumph des Liebesgefühls bis hin zu den eindeutigsten Siegen der Akrobatik und des Sportes und vor allem zur Werbung, einem angepriesenen, vorgespielten Kauferfolg - um nicht zu vergessen die triumphalen Kunstgefühle in zahllosen Variationen. Hier gerade wird dem Volk tagtäglich der Erfolg in all seinen Spielarten gezeigt, in seiner unendlichen Steigerungsfähigkeit. Das Organ für die triumphalen Erfolge anderer wird ebenso geübt, wie es erhalten wird in dem Bewusstsein, dass derartige Erfolge, und seien sie noch so klein, auch im eigenen Leben irgendwie noch möglich bleiben. Über all dem aber liegt jene große Genüsslichkeit des Feierns, ohne welche es nie Triumph, sondern immer nur Befehl und Zerstörung hat geben können. In der Pressekampagne ebenso wie, noch mehr vielleicht, in den Einzelheiten des Cinematographischen findet sich jene besondere und viel kritisierte Überdimensionierung im Grunde gewöhnlicher, ja tagtäglicher Vorkommnisse, welche letztlich aus jeder Begebenheit ein Ereignis, aus jedem Ereignis einen Erfolg, aus jedem Erfolg einen Triumph macht - und umgekehrt, denn auch eine negative Triumphalität ist ja solcher Medienpotenzierung durchaus eigen. Schließlich fließt all dies zusammen, oder besser: Es bleibt all diese Vielheit geordnet in der übergreifenden Konstruktion der Programme und ihrer Höhepunkte, hier entsteht etwas wie ein imperialer Kuppelbau, in jener Welt der Medien, der unzähligen Triumphe und Optimismen, die sie tagtäglich bieten, in einer Wiederholung, welche etwas wie Zeitlosigkeit hervorbringt. Dies alles aber hat nicht nur viele und so oft beschriebene direkte und indirekte politische Wirkungen im Allgemeinen; dieses ganze, vielfach gebrochene große Gelingen nimmt gerade mit Blick auf die Staatlichkeit einen triumphalistischen Charakter an, der heute noch kaum bewusst ist. Von ihm soll nun noch gesprochen werden, er rechtfertigt es auch, dieses Medienkapitel in den größeren Zusammenhang des feierlichen Staatshandelns zu stellen: Wenn etwas Wahres ist an der „öffentlichen Aufgabe der Medien", wenn sie die Vierte oder Fünfte Staatsgewalt, nur zu oft die eigentliche darstellen sollen, so hat es wenig Sinn, diese wahrhaft moderne Form eines „Staatshandelns im weiteren Sinne" anderswo zu behandeln, sie in einen „gesellschaftlichen Bereich" zu verbannen: Dann würde ja wieder die Reichsidee verfehlt,

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wenn nicht deutlich würde, dass sie gerade im größeren Begriff einer Öffentlichkeit triumphal Wirklichkeit wird. - In den Medien wird der Staat tagtäglich gefeiert, er, der doch so einfach erscheinen soll, der sich so untriumphalistisch gibt, sucht hier das Rampenlicht, den größten triumphalen Rahmen der Gegenwart. Hier wird überhaupt erst jene Größe erreicht, welche in dem gewöhnlichen Staatshandeln triumphale Bezüge entdecken lässt. Größe - das bedeutet in der Demokratie Verbreiterung, das Hineintragen der Staatsaktivität in die letzte Hütte, zur bescheidensten Intelligenz. Darin eben werden der Staatsbesuch, die Parlamentsabstimmung, die Kabinettsentscheidung zum Großereignis, dass sie in solcher Weise verbreitet werden, dass sich jedermann ihnen, wenn auch nur für einige Minuten, hörend und sehend hingeben muss, dass sie seine Diskussionen und sein Denken für Minuten oder Stunden dann gefangen nehmen, seine geistige Tätigkeit bestimmen, den Raum seines Handelns. Dass darin moderne Staatsgewalt ausgeübt wird, ist seit langem bewusst. Doch entscheidend wird die Form, welche hier die spezifische Kraft gibt: Nicht der direkte Befehl ist es, sondern jene indirekte Mächtigkeit, welche aus der medialen Bedeutungserhöhung kommt, wie sie jedes kleinere staatliche Ereignis erfährt. Jene Größe, welche der Ereignistriumph braucht, wird hier wahrhaft erreicht, und in einer Vielfältigkeit, welche auch das allgemeine Triumphgefühl, die „reine Triumphalität" hinzufügt. - Auf diese Weise werden selbst kleine Gemeinschaften groß, kleine Staaten größer in ihren Medien, wobei es für das Ereignis nicht entscheidend ist, wie viele Millionen es am Schirm verfolgen, es genügt die „wahrhaft große Zahl". Die Größe des triumphalen Ereignisses ist vielleicht auch in der Vergangenheit nie so sehr in seiner objektiven Geschichtlichkeit gefunden worden als vielmehr in der großen Zahl derjenigen, welche es aufnahmen, glaubten und verehrten. Wo könnte dies deutlicher bewirkt werden als im Medientriumph? - Die Wahrheitsfrage, die große Crux aller Medien, kann hier ganz einfach umgangen werden - eben aus der Triumphalität der medialen Wirkung heraus. Es hatte sich ja schon gezeigt, wie wenig hier Wirklichkeit und Richtigkeit bedeuten, wie sehr das geglaubte factum, bis hin zum befohlenen Triumph, sieghaft wirken kann. Mit dieser Begründung darf, muss vielleicht auch der Journalist Wahrheiten überspringen, hinzufügen, erdichten, weil er unter dem Gesetz des Großereignisses steht, in jener Triumphalität, aus der er sogar noch das Interesse des Lesers für kommunale Kleinvorgänge gewinnen muss. - Der Triumph setzt sich durch, und gerade dies gelingt den Medien par excellence, dies ist ihr höchstes Gesetz. Das Verdrängende des Großerfolges legen sie in alle kleinsten Vorkommnisse, wem immer sie die Ehre der ersten Seiten und der Spitzenkommentare gewähren, er hat darin gesiegt, in der täglichen Konkurrenz über seinen politischen Gegner, seinen wirtschaftlichen Mitwettbewerber. Und hier steht die Staatlichkeit, trotz aller liberalen Kritik, immer noch ganz oben an. Das Staatshandeln erreicht triumphale Durchsetzung, weil es von den Me-

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dien umlagert wird, und der heutige Triumphzug des Kanzlers, des Oppositionsführers als Repräsentanten der demokratischen Staatlichkeit, findet in jenen Momenten immer wieder statt, in welchen er die Belagerung der Reporter genießt, sich einem von ihnen dann, wie aus göttlichen Höhen niedersteigend, in sieghaftem Optimismus erschließt. Längst wartet nicht mehr der Bürger vor den Schlosstoren, für ihn warten die Journalisten, sie müssen sich behandeln lassen wie früher kaum Leibeigene, über sie gehen fast sichtbar die triumphalen Rosse der Triumphlimousinen hinweg; und so langweilig die ewigen An- und Abfahrten gefilmt werden mögen, in ihnen liegt doch etwas vom Zug, der zum Großereignis aufbricht, hinter dem es dann irgendwann kommen muss. - Zur Größe und Verdrängungskraft des medien-triumphalen Vorgangs kommt schließlich der unzerstörbare Optimismus, den die Medien trotz allem und immer ausstrahlen, mit dem allein man vor sie treten darf. In Positur wirft sich in diesen Augenblicken sogar der Geschlagene, denn auch er ist ja Acteur, auch er nimmt hier eine Chance zu einem ersten Kleinst-Triumph wahr, dem der würdigen Hinnahme der Niederlage, aus der neue Sympathien zu späteren Triumphen erwachsen können. Doch all dies sind Randerscheinungen, und sie betreffen ja gar nicht den Staat, der als solcher immer nur triumphiert, weil er jedenfalls die Wahlen stets gewonnen hat. Darin also feiern die Medien doch stets von neuem und allein im Grunde den Staatstriumph, dass sie zwar den Kampf um die Staatlichkeit zeigen und den Sieg, der zu ihrer Besetzung führt, dass aber immer der Staat allein der Triumphator ist, der Sieg in ihm, auf seinen Höhen gefeiert wird. Staatlichkeit als permanentes Siegespodest - wäre das wenig, wäre dies nicht schon ein erster Sockel für ein imperiales Standbild? So zeigen sich hier denn ganz neue Formen nicht nur des Triumphierens als solchen, sondern gerade der Staatstriumphalität, des großen, sich voll durchsetzenden und ungebrochenen, stets optimistischen Staatserfolges. Er wird von den Medien berichtet und von ihnen erdichtet - und beides fließt zusammen zur großen Siegesstimmung. Imperialität aber muss vielleicht schon deshalb heute nicht mehr durch hohe Säulenhallen bewiesen werden und schimmernde Staatsgewänder, sie flimmert in unzähligen Bildern täglich vom Bildschirm, in den Geist der Bürger hinein, denen hier unablässig etwas Größeres präsentiert wird, das über sie hinausgeht; und deshalb hat ja auch der Staat seine große Chance, über allen Anarchismen und Terrorismen - auf diese unfassbare und doch so gegenwärtige Imperialität, auf sie will kein Bürger mehr verzichten. Wenn das Imperiale immer seine Wurzeln hatte in der großen Ordnung der Vielheit zur Einheit - lässt sich nicht dies alles heute erleben, in der Medienvielfalt und dem einen Staatsspektakel, das sie doch täglich bietet, gerade in ihrer falschen Greifbarkeit die unendliche Distanz zu einer wirklichen Staatsmacht nur noch unterstreichend? Wer das Reich sucht in seinen Triumphen, der sollte nicht immer nur weit in die Vergangenheit schweifen, vielleicht blickt es ihn täglich an, in ganz neuer Form.

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I I I . Staatsgewalten feiern Staatstriumph Großes, triumphales Staatstheater wurde in früheren Zeiten laufend auf dem gespielt, was wir heute „Verfassungshöhe" nennen würden, von den obersten Vertretern, Symbolen der Staatlichkeit. In allen institutionellen und außerinstitutionellen Handlungen der Fürsten und ihrer Minister, all derjenigen, welche von ihnen mit Macht belehnt waren, aber auch in frühdemokratischen, jedenfalls oligarchischen Regierungsformen der Kommunen, feierten die Verfassungsorgane in permanentem Triumph ihren Staat, der ihnen stets etwas Imperiales bedeutete. Nichts ist ja auch natürlicher, als dass dort den großen früheren Staatserfolgen entsprechend gehandelt und aus ihrer Stimmung heraus Siege in neuen Staatshandlungen gefeiert werden, wo sie einst gesetzt worden sind, in einer Höhe, von welcher die „Staatsstimmung" ausgeht. In diesem Sinne war der Begriff des „Staatsaktes" stets mehr als eine Staatshandlung, es war einer von vielen Akten des Staatstheaters. Die Demokratie hat dies, darauf wurde schon hingewiesen, in ihrer Normativität und Kompetenzordnung zu verdrängen versucht und weithin verschüttet. In den unteren Rängen der Staatlichkeit ist ihr dies rascher gelungen als „ganz oben", wo die Verfeinerung des Verfassungsstaates alle „rechtsfreien Räume" aufhob, aus denen heraus so wesentlich triumphiert werden kann. So scheint denn der Verfassungsstaat eine letzte und höchste Absage auch noch an jenen institutionellen Triumphalismus zu sein, der „wenigstens oben" noch frei und sieghaft handeln und feiern will, wenn es schon „unten", in den vielen kleinen Rechtsanwendungen durch Verwaltungen und Gerichte, nurmehr Normen gibt. Der gerichtsfreie Regierungsakt, von der Diplomatie bis hin zur Gnade, war das Letzte, was den Verfassungsorganen an freiem Expansionsraum geblieben war, worin sie auch immer wieder etwas wie kleine, normbefreite Erfolgsanstrengungen unternommen hatten. Nun ist auch dies der Legalität zum Opfer gefallen. Dennoch bleibt gerade heute, in der egalitären Demokratie, den obersten Verfassungsorganen das aufgegeben, was sie immer legitimierte, was nun die Macht der Medien auch noch von ihnen verlangt: dass sie ihren Staatstriumph feiern, Akte ihres Staatstheaters ablaufen lassen, wie die Norm es gestattet, wie das Gesetz es befiehlt. Denn dies ist nun die moderne Form dieser „Organtriumphalität", dass jedes Verfassungsorgan speziell aus seinem Kompetenzraum heraus triumphieren, d. h. staatliche Großerfolge setzen und zugleich feiern soll. Dies wird immer geschehen, solange es eine Erbschaft früherer Imperialität gibt, es gilt nur, die Formen solcher Erfolghaftigkeit als solche wieder bewusst werden zu lassen.

1. Das Staatsoberhaupt - personifizierter Staatstriumph Das Staatsoberhaupt - das war immer in der Geschichte derjenige, der für eine organisierte Gemeinschaft triumphierte, triumphieren durfte, vielleicht lässt sich der Begriff anders überhaupt nicht erklären. Was bedeutet denn auch „Repräsen-

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tanz" des Reiches, des Staates? Zur sichtbaren Vertretung all dessen, was man Staatsgewalt nennt, ist das Staatshaupt nicht fähig, im Grunde schon seit langem nicht mehr, und gerade dies sollte ja gar nicht geschehen, als seine moderne Begrifflichkeit geschaffen wurde, unter jener liberalen Monarchie, deren König regieren, aber nicht dirigieren sollte. Die Erfolge wurden und werden von anderen errungen, von Parlamenten, Regierungen, Generälen, doch gekrönt wird damit der Staat, in seinem Staatshaupt, und darin liegt eine tiefe, vor allem demokratische Gesetzlichkeit: Ein in seinen Befugnissen beschränktes Staatsorgan darf ja gar nicht wirklich triumphieren, wie könnte ihm jene absolute Gewalt zukommen, welche das ganze Volk zum Kapitol hinaufführt, in diesem Augenblick nochmals, wie schon auf dem Schlachtfeld, in wirklicher, totaler Macht? So wenig die Demokratie den Diktator kennen kann, so wenig auch seine siegreiche Fortsetzungserscheinung, den Triumphator als Machtzentrum. Weil aber der Triumph gefeiert werden muss, von wem immer er errungen wurde, weil dies nicht einem Regierungschef überlassen werden kann, der zwar einige Macht besitzt, nicht aber eine solche Fülle von Ehren, deshalb muss eine „Ehrenfigur" erfunden werden, welche Erfolge ohne Macht feiern darf, sie genießt, nicht aber mit ihnen herrscht. Der demokratische Regierungschef wird nur zu oft mit der Konsequenz des Neides der Volksherrschaft aus der Macht in dem Augenblick geworfen, in dem er seinen großen Triumph feiern sollte, so ist es Winston Churchill ergangen, das demokratische Staatsoberhaupt des Parlamentarismus dagegen steht außerhalb der Macht, deshalb mitten im Erfolg. Im Protokollpräsidenten ist etwas wie ein Feierorgan nationaler Triumphe erdacht worden. Dass ihm noch einige andere Kompetenzen belassen wurden aus der königlichen Vielfalt, in denen er würdige Notarfunktionen versieht, kann nicht das Zentrum seiner Legitimation verdecken, wenn es überhaupt eine für ihn gibt: dass er nicht „vertreten" soll - sondern dass er der Hohepriester des Gedächtnisses an große Triumphe ist, permanente Feiergestalt, der Vertreter des triumphalen Staatsoptimismus, das Symbol der institutionellen Kuppel, die frei und machtlos über allen gegenläufigen Kräften schwebt und von ihnen gehalten wird. Im Protokollpräsidenten tritt diese personifizierte Triumphfeier der Staatlichkeit in reiner Form auf, doch auch im präsidentiellen Regime krönt diese „feierliche Institution" erst wirklich die Macht, welche der Präsident dort zugleich ausüben kann. So ist es ja auch aus der Monarchie heraus gewachsen: dass die Macht bruchlos in die Feier übergehen sollte, dass die Exekutivgewalt ihre Siege, vom Schlachtfeld bis zur Steuererhebung, auch ganz groß sollte feiern dürfen - in Schlössern. Etwas von einem triumphalen Machtpathos zeigt gerade die Figur jenes ungekrönten Kaisers des westlichen Großimperiums, in deren stets sentimental geladenen Auftritten die Macht der größten Demokratie gezeigt und zugleich Vergangenheit und Gegenwart des Landes der unbeschränkten Möglichkeiten gefeiert wird. Was diese Triumphkraft, vielleicht nur die triumphale Geste eines Präsidenten für

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ein Land bedeutet, zu welcher weltumfassenden Imperialität sie empor führen kann, hat ein Ronald Reagan gezeigt, der dafür eben in einer geschichtlichen Stunde einen Sinn hatte. Wo immer aber das Staatshaupt auftritt - es handelt aus einem wesentlich schrankenfreien Auftrag heraus, der in der Demokratie nur einer sein kann: Triumphe weniger zu erringen als zu feiern, darin den Nationaltriumph der Einheit zu repräsentieren - denn dies allein vertritt im Letzten ein Präsident. Seine Aufgabe ist es auch, Entscheidungen, die man ohne Weiteres dem gewöhnlichen Geschäftsgang der Exekutive überlassen könnte, in die Höhe des Staatsaktes zu heben, in der Auswärtigen Gewalt wie in der Beamtenernennung etwas von der Triumphalität der Ordensverleihung, der siegreichen Behauptung dem Feind gegenüber zurückzuholen in eine friedfertigere Welt. Dies sollte sich die Demokratie nicht nehmen lassen, denn darin kann sie, ohne ihre Grundprinzipien aufzugeben, fassbar und laufend triumphieren, und sie sollte die Attribute dieser Figur nicht auf Genussfeiern und Routineanlässe beschränken. Je mehr sie ihm an Freiheiten lässt, dass er etwas aus dem Parteienkampf hinaushebe in die staatliche Triumphalität, desto leichter wird sie jenes Gleichgewicht halten können zwischen dem Wechsel der Mehrheiten und dem bleibenden permanenten Staatserfolg, der nach ihren Dogmen nur aus solchem Streite erwächst. Einen Stuhl wird die Volksherrschaft stets bei sich frei lassen müssen, den des Imperators, doch Staatsweisheit gebietet ihr, ihn immer wieder auf Zeit einnehmen zu lassen von einer Figur, die nicht nur in müden Ehren sich erschöpfen, nicht allein in ihnen gewürdigt werden sollte, welche vielmehr die große Dynamik einer gemeinsamen Freude in den Staat hineintragen kann, als erster in einem Triumphzug der Gleichen, in dem gerade die Demokratie zur Einheit finden muss. Sie, die Staatsform der Kritik und des Kampfes, welche die Triumphalität des gemeinsamen Erlebens nötiger hat als jede andere Staatlichkeit, sollte damit an ihrem Haupte beginnen.

2. Exekutive - Gestaltung zum großen Erfolg a) Legalität - Verwaltung ohne „Erfolg"? Der Exekutive im Volksstaat ist Entscheidendes an früherer Mächtigkeit genommen worden, und gerade dies war ja gewollt: Sie soll nicht mehr triumphieren können. Wie sollte auch eine „vollziehende Gewalt" dessen mächtig sein, jene reine Vollstreckerin des Allgemeinen Willens des Volkssouveräns? Hier ist dem Triumphalismus wirklich in der Demokratie ganz institutionell der Kampf angesagt worden, man wollte weder den siegreichen Fürsten, noch den inneren Polizeitriumph, Außenpolitik selbst soll in immer bescheideneren Formen innerer Verwaltung vollzogen werden. Man mag es wenden, wie man will - Normtreue hat nichts Trium-

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phales, jene Genauigkeit staatlicher Geschäftsbesorgung, welche man vom Beamtenstaat der Exekutive erwartet, gibt keinen Anlass zu triumphieren, noch weniger zu feiern - sie arbeitet. Und wenn Beamte „feiern", so ist dies vielleicht das einzige Mal, dass in diesem Wort gar nichts Triumphales mehr liegt, dieses wahrhaft einfache Staatsdienertum hat allzu sehr den Triumph verlernen müssen. Und doch muss es etwas von Sieghaftigkeit auch hier geben, im eigentlichen Zentrum der kontinuierlichen Staatlichkeit, es darf dies nicht alles hinaufgeworfen werden in die abstrakte Feierruhe des Staatsoberhaupts und seiner Auftritte. Die Aufgabe moderner Staatlichkeit liegt, soll sie größer und wieder imperial werden, gerade darin, dass jene so hoch perfektionierte, so wahrhaft mächtige Exekutive wieder eine Gestaltungskraft zurückgewinnt, aus der heraus die Staatlichkeit triumphalen Atem schöpfen kann. Nähere Betrachtung zeigt bereits Anlässe dazu.

b) Normvollzug als Erfolg Der Zentralbegriff einer modernen Erfolghaftigkeit, welche die Exekutivfunktionen nicht mehr von der Sieghaftigkeit der militärischen Führung oder einer polizeilich durchgesetzten Friedhofsruhe her sieht, ist die „Gestaltung". In dieses Wort haben Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre der Legalitätsdemokratie all das hineinschieben wollen, was normativ nicht völlig fassbar war, staatliche Kraftäußerungen, welche aber doch als das eigentliche Zentrum der vollziehenden Gewalt angesehen wurden - eben im „nicht ganz reinen Vollzug". Diese „Gestaltung" bleibt jedoch eine Leerformel, wird in sie nicht das gelegt, was eine Art von staatskonstitutivem Zentrum einer Exekutivtätigkeit bedeutet, ohne die es eben keine Ordnung geben kann: eine Durchsetzungsfähigkeit, welche tagtäglich einen Staatserfolg bringt, der dann zum Großerfolg, zur triumphalen Staatsgestaltung hinaufwachsen kann. Unrichtig wäre es nun sicher, diese exekutivische Großaufgabe einfach in einen Gegensatz bringen zu wollen zu den Normen und ihrer Anwendung. Wenn der Normgeber baurechtliche Großgestaltungen befiehlt, wenn er die Denkmale einer triumphalen Tradition normativ schützt, wenn er mit seiner Wehrgesetzgebung die Grundlagen imperialer Präsenz im eigenen Land und darüber hinaus schafft - der „Vollzug" all dieser Entscheidungen ist nicht etwa untergeordnete, pedantische Normanwendung, in ihm läuft - das Wort symbolisiert es geradezu - ein „voller Zug von Staatlichkeit" ab. Die Administrativentscheidung, wie streng sie auch an die Normen gebunden sein mag, bleibt eben Dezision, darin ist sie Durchsetzung Normerfolg. Die demokratische Ideologie mag zur Illusion verführen, der Normerlass als solcher schaffe etwas, im Grunde ist er aber politisch ein Nichts, zum „Erfolg" wird die Norm erst dort, wo eine Verwaltung sie aufnimmt und durchsetzt. Diese Erkenntnis ist staatsgrundsätzlicher Beachtung wert, erst durch sie lässt sich das tägliche Phänomen der „toten Normen" erklären, jene Obsoletheitsproblematik erfassen, aus welcher heraus erkannt werden muss, dass immer nur ein Teil der

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gesetzgeberischen Entscheidungen auch zum „Gesetzeserfolg" werden kann, eben jene, welche auf eine wahre Erfolghaftigkeit exekutivischer Entscheidung zugeschnitten sind. So ist denn der Normenvollzug als solcher schon Erfolg, je höher die verwirklichte Norm steht, desto mehr nähert sich darin die Exekutive einer eigenartigen Vollzugs-Triumphalität: Gelingt es ihr etwa, die Verfassung zu wahren, die Existenz des Rechtsstaats, gegenüber organisierten Angriffen des Terrorismus, ist dies allein sicher noch nicht ein Triumph, doch etwas Sieghaftes liegt auch in diesem Aspekt von Sicherheitsverwaltung. Die Normenpyramide der demokratischen Legalität sperrt die Exekutive weithin vom „unmittelbaren Verfassungsvollzug" aus, unterwirft sie „immer tiefer stehenden Normen"; in vielen Bereichen, man denke nur an das Steuerrecht, wird Verwaltung zur Anwendung technischen Vorschriftenrechts, und darin allerdings verliert sich ihre größere Gestaltungskraft. Es ist nicht nur ein Anliegen von Dezentralisierung und Mitbestimmung, der Verwaltung mehr unmittelbare Verfassungsanwendung zu gestatten, darin könnte ihr auch ein Gestaltungsraum größerer Freiheit zurückgegeben werden, der ihr bei aller Normanwendung doch bleiben muss.

c) Ermessen - Erfolgsgestaltung Bereits in der Anwendung der Gesetze ließen sich schon Elemente eines „Staatserfolgs" entdecken, doch darin eben erschöpft sich die Bedeutung der Zweiten Gewalt nicht. Ihr Kernbegriff ist und bleibt jenes Ermessen, das ihr zumindest in der Sachverhaltsbeurteilung immer zusteht, im Subsumtionsvorgang selbst nie ganz durch Normenmathematik ausgeschlossen werden kann. Hier nun mag die These stehen: So viel an Erfolghaftigkeit trägt und hält die Zweite Gewalt im Staat, wie es ihr immer wieder gelingt, Gestaltung in normfortsetzendem, normübergreifendem Ermessen zu gewinnen - denn solches Ermessen will erkämpft und gegen verengendes Normenverständnis gehalten werden. Die moderne Ermessenslehre hat dies wohl erkannt, in ihrer Dogmatik der „inneren Ermessensbindung", der Ausrichtung vor allem auf Sinn und Zweck des Gesetzes. Zwar wollte sie darin immer noch mehr Bindung der Verwaltung verwirklichen, doch zugleich hat sie, andererseits, auch das Wesen des Ermessens verdeutlicht, den Gegensatz zwischen Gesetz und Diskretionalität überhöht, in einem ,fortdenken des Gesetzes in der freieren Gestaltung des Ermessens". Nicht „Gesetz oder Ermessen" kann die Alternative lauten, aus der heraus die „Gestaltungsaufgabe der Verwaltung begriffen werden kann", vielmehr muss es heißen: „Mehr Legalität durch mehr Ermessen", weil die Verwaltung eben auch das zum Tragen bringen muss, was keine Norm zu definieren vermag: den „Geist der Gesetze."

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d) Triumph in normfreier

Exekutivgestaltung

Damit aber wird nun der Gesetzesvollzug in einem höheren Sinn zum Normerfolg: nicht nur in der Befriedigung der Anwendung des einzelnen Paragraphen, der „endlich seinen Fall gefunden hat" - mag auch eine solche Normanwendungsfreude den Handwerker-Juristen stets erfassen, wenn er irgendwo „sein Verwaltungsgesetz hat brauchen können", wenn er der Wirklichkeit entgegenhalten kann, dass sie in ihrer angeblichen unerfassbaren Vielfalt doch in seinen Buchstaben schon vorgedacht worden ist. Doch darüber hinaus wächst nun eben der größere Gesetzeserfolg, der Sieg der Demokratie in ihren dezisionistisch vorgedachten Normen; denn dass eine erfolgsträchtige Verwaltung, bis hin zu wahrer ExekutivTriumphalität, vor allem aus der Staatslehre des Dezisionismus heraus zu verstehen ist, soll gar nicht geleugnet werden, hier hat er auch in der Demokratie seinen legitimen Platz. Gerade in der neueren Zeit sind die Grenzen der Gesetze erkannt worden, die Exekutive findet zu immer weiterer Normfreiheit zurück, die Versuche müssen aufgegeben werden, auch noch die letzten Räume des alten domaine réservé zu vergesetzlichen. Normüberhöhendes, ja normfreies Handeln tritt wieder in seine alten Rechte - und hier kann die Gestaltung nun zum größeren Erfolg werden, ja zum Triumph emporwachsen; dazu nur einige Beispiele: - Da ist jene Außenpolitik, in welcher noch immer große Stunden gefeiert werden können, vor allem in Befriedungen und Zusammenschlüssen, diesen Grundlagen künftiger wirtschaftlicher Erfolge, die manchmal, trotz aller Globalisierung, vielleicht gerade als Reaktion auf sie, zu chinesischen Mauern werden, hinter welchen sich für Generationen das Glück der Gemeinschaft in Sicherheit entfalten kann. Im europäischen Einigungsstreben ist es versucht worden. Wenn heute die Außenpolitik über zahllose Gipfel auf- und leider nur zu oft auch absteigt auch dies sind doch neue und durchaus zugleich auch alte Formen gemeinsamtriumphaler Stunden, in denen die Wirtschaft der Welt zum Erfolg geführt werden soll. Wenn da eine imperiale Vormacht auftritt, der ungekrönte Kaiser umgeben von ungekrönten Königen - wäre da nicht doch etwas von einem wahrhaft imperialen Aufschwung, dessen erster Ausdruck heute ja eine Weltwirtschaftsordnung sein muss, welche in einer Welt-Leitwährung bereits erste Grundlagen gefunden hat? Solche Zusammenkünfte, in den alten Schlössern und auf glücklichen Inseln, werden vielen Millionen durch die Medien vermittelt in Bildern, welche weit weniger gemeinsame Befürchtungen zeigen als vielmehr die Triumphalität beruhigter gemeinsamer Herrschaftsstunden, in denen selbst große Probleme vor dem größeren Optimismus gemeinsamen Kamera-Lächelns verblassen. All diese Formen sind gut und eine legitime Aufgabe für eine Exekutive, welche in Außenpolitik immer triumphieren wird, solange es eine solche noch gibt. - Im Inneren hat das Militärische seine Triumphalität verloren, seine Gesetze regeln Arbeitspflichten, es ist weder zu erwarten noch zu wünschen, dass diese Triumphalität eines Tages in Paraden zurückkehrt. Deutlich aber muss eines

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bleiben: Ein militärischer Neo-Triumphalismus steht dann ins Haus, wenn es nicht gelingt, der Exekutive andere Bereiche von Großerfolgen zu eröffnen, und dies sollten gerade die Gegner der Uniformen und Waffen beherzigen; Triumphalität können sie verlagern, nicht ausrotten. Eine militärische Sieghaftigkeit allerdings wird erhalten bleiben und sich in der technisierten Gemeinschaft nur noch verstärken: der hoch technisierte Militärapparat als letzte Einsatz-Rückversicherung in großen Katastrophen, Militär als Rettungsdienst. Wenn solche Einsätze befohlen werden, wird zwar nicht ein Feind geschlagen, aber es tritt dasselbe ein, was auch der alte militärische Großsieg gebracht hat: die Rettung aus höchster Not. Triumphale Elemente werden sich darin immer finden. Untergegangen ist mit der Militärtriumphalität auch der Polizeitriumph, der Ordnungstriumph über Demonstration und Streik, bis hin zur Friedhofsruhe. Früher lag hier wahre „innere Triumphalität", ein neues Bürgerbewusstsein sollte Derartiges nie mehr gestatten. Und auch im Kleinen sollten „Sicherheit und Ordnung" ein selbstverständlicher Zustand sein, nicht der Sieg einer Bürgergruppe über die andere, hier sollte das Reich schon geworden sein, nicht erst in inneren Triumphen wachsen. Gerade deshalb aber muss sich die Sieghaftigkeit der Exekutive im Inneren noch an anderen Stellen bewähren: - Die Planungsgewalt wird sich die Exekutive nie mehr nehmen lassen, in ihr verschränken sich die Gesetze mit ihrer Ermessensfreiheit zur größeren Gestaltung. Planung - von der territorialen Ordnung bis zur vorausschauenden Finanzierungsgestaltung der Gesamtgemeinschaft - darin liegt nicht nur ein Kernbegriff künftiger Staatlichkeit, mit dem allein eine technische Welt erfassbar erscheint, in ihm finden sich auch die wichtigsten Elemente der alten Triumphalität einer vollziehenden Gewalt im Innern: Hier ist die Größe und Vielseitigkeit eines Gestaltungsraums, der den Großerfolg verspricht; Planung ist zum Erfolg verurteilt und wird sich selbst stets als solcher verstehen und anpreisen, schon weil sie begrifflich auf einer Art von tabula rasa beginnt, „erst einmal etwas hervorbringt"; Planung bedeutet Durchsetzung im größeren Stile, Verdrängung anderer Gestaltungen oder doch ihre Einbindung in weitere Rahmenentscheidungen. Was auf der Grundlage eines solchen Planens hervorgebracht wird, kann immer für die Bürger der technisierten Welt etwas von einem großen Staats-Opus haben, und nicht zuletzt deshalb ist ja die Planung von jener Staatlichkeit im Großen erfunden und zuerst angewendet worden, welche imperial triumphieren wollte: Vier- und Fünfjahrespläne bedeuteten Siegesfanfaren in dem Augenblick ihrer Vorlage, Siegesmeldung sollte die Rechenschaft über ihren Vollzug sein. Imperialität trugen sie darin in sich, dass sie, wie kaum ein anderes Instrument moderner Staatsgewalt, jene Ordnung der Vielheit zur Einheit vollziehen wollten, welche in Flexibilität zur Entwicklung offen bleibt, darin zu überdauern vermag. Und nicht selten ist erlebt worden, dass einmal verplante Räume auf Dauer der gleichen imperialen Planungsgewalt unterworfen bleiben.

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- Im Inneren gibt es nicht nur zentrale Handlungsformen erfolgsträchtiger Exekutive, auf Ebenen kleinerer Zellen tritt dies in besonderer Weise in Erscheinung, etwa in den Gemeinden. Triumphale Exekutive - dies darf ja nicht etwa missverstehend beschränkt werden auf Kabinettssitzungen oder große Stunden des Innenministers, der in Masseneinsätzen seiner Polizei „triumphiert". Das wahre Erlebnis des Großerfolgs gewinnt heute die Exekutive vor allem dort, wo sie die „eigenen Aufgaben" einer überschaubaren Gemeinschaft erfolgreich zu lösen vermag, darin etwas von einem kollektiven Glücksgefühl verbreitet. Da ist das gemeindliche Bauwerk und seine Feier, das Siegeserlebnis der Mannschaft einer Stadt, da sind die historischen Feste, in denen die imperiale Kontinuität der Kommune gefeiert wird, jener politischen Einheit, die sich immer wieder in der Geschichte als „Senatus Populusque" präsentiert, ihre Macht in der Tat früher einmal „Urbi et Orbi" geschenkt hat, aus einer Stadt den ganzen Erdkreis imperial erfassend. Diese kommunale Triumphalität und Imperialität zeigen heute nicht nur die eindrucksvollen Denkmäler der oberitalienischen Städte, gerade in Deutschland ist sie lebendig in einer eigenartigen Exklusivität des Stadtgefühls, welche in den Erfolgen ihrer Kommunalverwaltung die laufende Bestätigung „im kleinen Großen" erreichen kann. Dort vor allem wirkt ja auch faktisch jener Denkmalschutz, heute eine zentrale Aufgabe der Exekutive, in welcher die Zeugnisse früherer Großtaten von einer heutigen Triumphgewalt nicht nur konserviert, sondern meistens ja auch reaktiviert werden.

e) Politisierung der Exekutive ein Versuch großer Erfolghaftigkeit Viel ist die Politisierung der Exekutive beklagt worden, aus der Sicht eines wohl verstandenen Triumphalismus vielleicht zu Unrecht. Die Vorstellung von einer „unpolitischen" vollziehenden Gewalt ist, in unsere heutige Welt übertragen, ein liberal-rechtsstaatliches Missverständnis. Sie möchte ja diese Staatstätigkeit auf die reine Normanwendung beschränken, in welcher es in der Tat „Politik" so wenig geben darf wie in der Rechtsprechung. Wenn aber das Wesen der Zweiten Gewalt wieder in ihren großen Gestaltungsaufgaben erkannt wird und in deren Erfüllung, so kann und darf sie nie „unpolitisch" sein, wie ja auch früher ihre Verwaltung es nur deshalb sein durfte, weil über ihr eine höhere Instanz regierte, in welcher das seinerzeit Politische sich zusammenballte: Monarchie oder obligarchische Senate. Die ganze Triumphalität, ohne welche es größere Politik nicht geben kann, lag damals bei diesen Herrschenden, die Unbedingtheit ihrer Erfolge erreichten sie dann allerdings mit einer entpolitisierten Beamtenschaft, einer apolitischen Armee, weil die großen Siege eben in der Unbedingtheit eines solchen Gehorsams allein errungen werden konnten. Heute fehlt diese Konzentration der Triumphalität in der Exekutivspitze, deshalb muss sie in alle Ränge der Zweiten Gewalt verlagert und verteilt werden, mit ihr aber jenes Politische, aus dem heraus allein triumphal gehandelt werden kann. In demokratische Sprache übersetzt: Der Verwaltung wird es

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immer an der erforderlichen Dynamik fehlen, aus der allein heraus sie ihre Gestaltungen vollbringen kann, wenn sie abgeschnitten ist von den demokratischen Kraftquellen der Volks-Politik, deshalb der Versuch, die Exekutive zu „politisieren", bis hin zur basis-demokratisierten Verwaltung. Darin mag manches Missverständnis liegen und massiver Effizienzverlust, wird solches utopistisch übersteigert; doch wichtig ist ein Ausgangspunkt: Die Exekutive muss im Mittelpunkt jener großen Dynamik der Staatstätigkeit stehen, in welcher auch die Demokratie, gerade sie, triumphale Kraft gewinnt und zu imperialer Größe emporwächst. So bleibt es denn dabei: Staat wird immer und zuerst dort sein, wo der große Erfolg der organisierten Anstrengung liegt, diese Triumphe werden stets zentral von jener Staatsgewalt gefeiert werden, die dort steht, wo früher ein Thron stand: von jener Zweiten Gewalt, die „den Staat vollzieht".

3. Parlamentstriumph a) Das Parlament - ein antitriumphales Staatsorgan? Das Parlament erscheint heute als das wesentlich untriumphalistische oberste Staatsorgan. Diese Versammlung, der noch dazu führende Persönlichkeiten durch die Regierungen in Bund und Ländern entzogen werden, bildet nicht nur im äußeren Erscheinungsbild einer „Arbeitsinstitution" eher einen Gegenpol zu triumphaler Größe und Feierlichkeit, als vielmehr in ihren ständigen Diskussionen, jener Kritik und Gegenkritik, aus denen sie sich legitimiert, die geradezu oft als ihr Wesen erscheinen. Radikal-demokratischer Ideologismus sieht in ihr überdies von jeher jenes „Volk im Kleinen", das dann auch in jedem seiner einzelnen Vertreter möglichst der großen Masse und ihrer Mittelmäßigkeit nahe kommen solle. Gezänk und Gerede schließlich, die äußeren Formen, in denen sich Parlamente heute dem Bürger zeigen - was könnte ferner sein jenem Kothurn der triumphalen großen Geschichte, welche sogar die attische Demokratie in ihren Theatern sich vorspielen musste, vielleicht weil sie zuwenig davon in ihren Volksversammlungen wiederfand. Man mag alles Parlamentarische drehen und wenden, wo lässt sich denn hier jene Größe entdecken, das Erfolgsstreben und der Optimismus, die Durchsetzungsfähigkeit und die Siegesstimmung, welche das Wesen des großen Triumphalismus ausmacht? Bedeutet dies dann aber nicht, dass parlamentskonzentrierte Ordnungen - und wo wären sie heute nicht im Westen - des Reiches schon deshalb nicht fähig sind, weil sie in ihrer Ersten Gewalt keine Triumphe zu feiern vermögen? b) „ Versammlung als Triumph " Doch schon die Geschichte der Volksvertretungen zeigt ein anderes Bild. Ihr ursprüngliches, jedenfalls ihr erstes Zusammentreten hatte stets etwas von trium16 Leisner

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phaler Geschlossenheit und Entschlossenheit. Vom Rütli-Schwur der Eidgenossen reicht dies bis zur Freiheitsbegeisterung der amerikanischen Siedler und, vor allem, bis hin zum politischen Delirium, in welchem der Enthusiasmus französischer Revolutionäre die erste große Demokratie in Europa hervorgebracht hat - in einem wahrhaft imperialen Aufschwung, in einem ebenso bewussten Triumph- wie Reichsstreben. Wer Triumphe sucht, darf ja auch nicht stets auf Schlachtfeldern dem einzelnen Soldaten nur folgen, der den Gegner erwürgt und blutbefleckt einem Sieg entgegentaumelt; Triumph - das bedeutet eine Gesamtstimmung, deren Größe die Kleinheit, ja oft Erbärmlichkeit der einzelnen Akteure verschwinden lässt. Im Zusammentreten einer großen parlamentarischen Versammlung liegt an sich schon etwas von einer großen Feierlichkeit, welche einen Triumph einläuten kann, so wie ja immer eine gewisse formalisierte, zur Feierlichkeit emporwachsende Stimmung gefühlt wird, wenn mehrere sich zur Erfüllung einer bedeutsamen gemeinsamen Aufgabe formiert zusammenfinden. Das ist eben, für jede Versammlung, der Sinn des Wortes Christi, dass er unter jenen sei, welche sich in seinem Namen versammeln: Die Weihe der höheren Aufgabe senkt sich im Zusammentreten auf die Mitglieder der Versammlung. Und so wird es ja auch in der Parlamentseröffnung gefühlt, jenem Akt, der nicht umsonst im imperialen England stets triumphal zelebriert worden ist. Gerade wer radikal demokratisch denkt, muss hier den Abschluss eines neuen Sozialvertrags empfinden, etwas wie eine wiederholte Staatsgründung, und was könnte es Triumphaleres geben als die Neugeburt des Volkssouveräns aus der verglühenden Asche der Wahlschlacht? Wenn sich die demokratischen Parlamente dieser Versammlungs-Weihe bewusst sind, wenn sie im „ganz großen Zusammentreten ganz groß zu triumphieren" vermögen, in jenem Augenblick, in welchem ja auch alle Parteiungen, wenigstens für eine Stunde, in der Gemeinsamkeit der einen Parlamentszugehörigkeit untergehen - dann kann die Demokratie in ihren Parlamenten triumphale Stunden erleben, dann wird der Anfang einer „Legislatur" - die eben doch viel mehr ist als eine „Periode": ein wahres Zentral wort für die vornehmste demokratische Aufgabe, die Gesetzgebung - hinüberwirken auf die ganze kommende Arbeit, dann mag ein Versammlungs-Optimismus den vielen Streit um gemeinsames Rechnen überstrahlen. Wie sehr könnten demokratische Volksvertretungen dies heute brauchen! Wenn die parlamentarische Chance darin liegt, nicht Versammlung im Kleinen zu schaffen, sondern eine große Versammlung für das Volk, dann muss auch in den Abgeordneten und ihrem Konvent etwas von jener imperialen Versammlung sein, die einst ihre gemeinsame Macht über die bekannte Welt getragen hat: Solche senatoriale Chancen hat noch heute jedes Parlament, auch wenn es nicht notabliert zusammengesetzt ist. In diesem Sinne jedenfalls gibt es einen grundlegenden parlamentarischen Triumphalismus.

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c) Abstimmung als Sieg Die Abstimmung wird in demokratischer Tagtäglichkeit aller Majestät entkleidet, vielleicht weil sie schon allzu oft stattfindet. Als früher noch wenige und daher stets grundlegende Gesetze die „Hohen Häuser" passierten, wuchsen deren Säulen schon darin immer noch höher, wurde triumphale Hoheit in einem solchen Sieg gefühlt. Unzählige und in Fraktionsdisziplin vorher abgesicherte Siege - diese Routinisierung des Parlamentarismus droht dort allen Triumphalismus zu töten. Solange Blöcke noch nicht so fest formiert waren, wo immer auch heute noch echte parlamentarische Entscheidungsschlachten mit ungewissem Ausgang begonnen werden, da liegt etwas von Sieg und Triumph in der Luft, in jener Mischung von Leistung und Glück, aus welcher der politische Großerfolg wird. Die Demokratie wollte ja ursprünglich diese Sieghaftigkeit nicht eliminieren, sondern eher intensivieren, vervielfältigen, jene wenigen und blutigen Siege der Fürsten tagtäglich in ziviler Weise stattfinden lassen, sie aus dem Staat verbannen. Geworden ist daraus die routinierte Üblichkeit des Stimmenzählens, in welcher das Bundesverfassungsgericht offenbar gerade das „Funktionieren" dieser Staatsform sieht - das einer Maschine! Diese Vision, wenn es denn eine solche ist, kann nur im uninteressanten Parlamentarismus enden; die Klagen über das Desinteresse der Bürgerschaft an der doch so alternativlos-wertvollen Demokratie verkennen, dass hier das Volk ein „gesundes Empfinden" zeigt: Es will mehr Triumphalität fühlen, der feierliche Urnengang soll sich doch nicht in Zahlenspielen auflösen. Natürlich ist jede gesetzgeberische Entscheidung ex definitione ein „demokratischer Erfolg", auch wenn die Diskussion vor leerem hohem Haus stattfindet und Volksvertreter dann nur zwischen zwei anderen wichtigeren Terminen schnell ihre Zettel hinterlassen. Doch dies ist eben das „Parlament als Farce", welches dem demokratischen Gedanken schwersten Schaden zufügt. Warum muss eigentlich ein Gesetzgeber „alles Wesentliche" - und was ist nicht wesentlich? - selbst tun, wenn er darin, in der Massengesetzgebung, sein triumphales, staatsgründendes Wesen verliert? Auch die Demokratie wird wieder dahin finden müssen, dass sie in ihrem Parlament „größere Schlachten schlägt", dass dort größere Siegesstimmung aufkommen kann in der erfolgreichen Abstimmung, dass im Parlament der Staatserfolg errungen und gefeiert wird; und im Applaus der siegreichen Mehrheit, die sich dann, vor vollem Haus, von ihren Sitzen erhebt, liegt die Triumphalität der Majorität, zugleich wird hier der Wahlsieg fortgesetzt und bestätigt. Das Parlament bedeutet so viel, wie es um triumphale Einsätze kämpft. d) Parlamentsrede - Siegespathos Die Parlamentsrede ist die Stunde des großen demokratischen Pathos. Man mag sie kritisieren und überhaupt relativieren - seit sie, „zum Fenster hinaus" auch die Vielen unmittelbar erreicht, wird sie erst recht pathetisch, immer mehr. 1*

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Darin liegt gewiss viel hohler Klang, aber auch eine Machtchance, eine Betrachtung aus der Sicht des Triumphalismus zeigt es. Das Pathos gehört zum tiefsten Wesen des Triumphierens, die äußere Form der großen Geste gibt ihm Macht, sie vervielfältigt seine Erfolge. Und Siege werden ja nicht nur mit Waffen errungen, sie können auch herbeigeredet werden. Dies ist auch das Wesen der Parlamentsrede, ihre tiefste Rechtfertigung: Der Abgeordnete als solcher, als Mensch, ist ja institutionell gleichgültig, gewählt wird der Parlamentsredner, im Grunde der „Abgeordnete als Parlamentsrede" - und im Übrigen ja nur als Zahlenträger. So ist die Parlamentsrede eine Form von objektivierter, entpersonalisierter Demokratie, ein Triumph des Geistes, und sei es auch in Demagogie. Ob sie nun zum Erfolg führt, ob sie umzustimmen vermag - all dies tritt zurück gegenüber der so institutionalisierten Bedeutung der demokratischen Diskussion. Die große Rede hört jeder, ob er ihr dann folgt oder nicht, sie schlingt ein geistiges Band der Einheit um den Äbstimmungskörper der Volksversammlung im Kleinen. Große Rhetorik ist immer als etwas Triumphales erlernt, empfunden und gefeiert worden, weil sie große Dinge verkündet mit großen Worten, sie durch Worte noch größer macht, in ihnen siegt. Heute droht dies zu verfallen, und dies ist eine Dekadenz der Demokratie; sie bräuchte jene geistigen Standbilder, welche die großen Parlamentsredner der Vergangenheit stets gewesen sind, aus denen sich die Volksherrschaft legitimieren konnte. Um solche Reden halten zu dürfen wichen die Abgeordneten nur der Macht der Bajonette, die Kraft dieser Reden war stärker als jene, sie hat triumphiert. Wo wäre je in der Literatur Triumphalismus größer gewesen, so rein aufgetreten wie in der politischen Rhetorik der Parlamentsrede, in der hohen demokratischen Literatur, von Demosthenes bis Robespierre? Die triumphale politische Rede mag als solche keinen Sieg bringen, sie „ist ein Sieg an sich", in der Feierlichkeit ihrer politischen Wucht, ein triumphaler Schatz, aus dem immer wieder zitiert werden kann, und der Rhetor siegt in ihr geistig, auch wenn er „materiell" in der Abstimmung dann unterliegt. Die Größe der politischen Rede ist im Parlament institutionalisiert, doch sie reicht weit darüber hinaus, vor allem in ihrer „parlamentsvorbereitenden Funktion". Was dann in der Volksversammlung, auf triumphaler Höhe, vor den Bürgern zelebriert wird, abläuft, ist ja vorgeformt und geübt in zahllosen politischen Reden, in denen sich der Parteiführer die Spitze erkämpft, den Einzug ins Parlament gesichert, die Regierungsfähigkeit errungen hat. Die politischen Parteien und ihre Veranstaltungen, die Wahlschlacht vor allem, sind „Vor-Institutionalisierungen" jenes Parlamentarismus, dessen Kampf- und Siegesstreben sich dort schon übt und bewährt. Die Parlamentsrede ist als Kulminationspunkt der ganzen Parteienarbeit, der Wahlkämpfe zu sehen, dann erst wird ihre triumphale Dimension deutlich. Ein Unglück des Parlamentarismus wäre es, wenn das, was so mächtig vor dem Zusammentritt des Parlaments in Parteienkampf und Wahlschlacht begonnen hat, sodann dort in Konvention und Diätengenuss verflachen sollte, im Parlament, wo es doch gilt, die eigentlichen Siege zu erringen.

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Solange die Demokratie groß zu reden versteht, nicht groß zu sprechen, bleibt in ihr der triumphale Geist, der des Reiches mächtig ist. e) Volksvertretung

- triumphales Forum, nicht Normenfließband

Den Parlamenten der heutigen Demokratien sind bedeutende Aufgaben gestellt, sie müssen, mehr vielleicht als alle anderen Staatsgewalten, wieder zum Triumphalismus zurückfinden, sie sollten dessen eigentlich mächtig sein, kommen ihre Mitglieder doch aus jenem parteipolitischen Kampf, der so viel an Begeisterung braucht, der im Grunde nur in Siegen und Niederlagen denken kann. Und in der Tat - etwas Überschäumendes im Denken, Reden und Handeln ist dem eigentlichen Parlamentarier stets wesentlich gewesen, er ist nicht der Verwaltungsbeamte, der kalkuliert, der Richter, der nur entscheidet, er ist der Politiker der großen Geste, welcher triumphiert. Mit diesem frischen Mut zum Triumph kommen die jungen Parlamentarier auch heute noch in die Versammlungen; nach Jahrzehnten begegnet man ihnen allerdings nicht selten wieder als den alten Routiniers der Gesetzgebungsarbeit, in welcher sie sich untriumphalistisch „profilieren" mussten. Denn dies ist eine Gefahr für die Legitimation des modernen Parlamentarismus: Er soll in erster Linie immer nur „technischer Gesetzgeber" sein, seine Abgeordneten leiden unter dem Dauerkomplex zu geringer fachlicher Kompetenz - und wie könnte es auch anders sein, angesichts jener unübersehbaren Aufgaben. Dass sie eine Kompetenz haben, aus ihr heraus gewählt worden sind, sie im Parlament zu entfalten: Triumphe schaffen, sie genießen und feiern zu können für das Gesamtvolk - das alles sollten sie nicht in Kommissionskämpfen um Punkt und Komma der Normredaktion vergessen. Schäumende Dynamik ist noch immer der Anfang des Triumphes gewesen - der demokratisch gewählte Abgeordnete ist an sich gerade dessen fähig, dies trägt ihn ja hoch. Nicht etwa deshalb ist das Parlament letztlich ein „schlechter Gesetzgeber", weil es zuwenig könnte und wüsste, sondern weil in ihm eigentlich nicht juristische Arbeit am Fließband geleistet, sondern triumphiert werden sollte. Die Demokratie ist groß geworden in triumphierenden Parlamenten. Wenn ihre Volksvertreter das wieder erreichen, wird sie nicht untergehen, weil sie das Reich nicht ersetzen, sondern triumphal durchsetzen will.

4. Der Rechtstriumph - Gerichtsbarkeit als Forum der Siege Die Gerichtsbarkeit als eine „besondere" Gewalt war kein Zufall demokratischer Staatlichkeit, sondern eine ihrer Notwendigkeiten. Die alles durchdringende Dynamik der Volkssouveränität bedarf dieses statischen Ausgleichs, der Normativismus findet in ihr erst die Verbindung zur Wirklichkeit der unzähligen Fälle. Wenn hier eine völlig untriumphalistische Enklave der Staatlichkeit bestünde, wäre dies wohl eine Hypothek für neue staatsschöpferische Mächtigkeit, jedenfalls für ein ReichsStaatsrecht.

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a) Gerichtsbarkeit

- „Staatlichkeit ohne Erfolg "

Wiederum zeigt ein erster Blick die Gerichte als das eigentlich, ja vielleicht sogar wesentlich Untriumphalistische in der Organisation heutiger Staatlichkeit. Da ist doch kaum Bewegung, nichts von einem Durchbruch, keine vorstoßende Politik, schon rein äußerlich fehlen Erscheinungsbilder und Handlungsformen, in denen gesiegt, triumphiert und all dies dann gefeiert zu werden pflegt. Der Richter, die Gestalt des ewig Genauen und Bedenklichen, des unendlich Abwägenden - wie sollte sie auf Barrikaden steigen, wo immer sie stehen, außen oder innen? Die Gerechtigkeit mit ihrer Waage symbolisiert den Ausgleich, hier wird nicht gesiegt und gebrochen, Verteilung und Ausgleich, die beiden Grundformen des richterlichen Entscheidens, sind sie nicht beide Gegenpole eines Durchbruchs, in dem der Triumph stattfindet? Könnte etwas wie „reine Triumphalität" dort entdeckt werden, wo doch so gar nichts ist von Überschwang und Optimismus, in der Unterkühlung der liebesfreien Gerechtigkeit? All dies ist unbestreitbar, doch auch hier muss vor einer Verengung des triumphalistischen Denkens gewarnt werden: Es findet sicher ein Zentrum in der politischen Dynamik, heute etwa im Parlament. Doch so wenig es dort monopolisiert ist, weil es sich ja auch in den Gestaltungen der Verwaltung zeigt, so wenig darf es in der Gerichtsbarkeit von vorneherein bestritten werden, nur weil sie weder in der planerischen Gestaltung der Zweiten Gewalt tätig wird, noch in der politischen Dynamik der Parlamente. Was sich bei ihr findet, ist eine andere Form des Triumphalismus, in ihr rundet sich dessen Bild in einem Reichtum, welchen die Theorie der demokratischen Gewaltenteilung erkennbar werden lässt, indem sie dazu zwingt, die Erfolgsträchtigkeit im Handeln aller drei Gewalten zu untersuchen.

b) Entscheidung - ein „kleiner Triumph" Gerichtstätigkeit ist in erster Linie und ganz wesentlich immer Entscheidung. In diesem Begriff aber liegt die Vorstellung vom Sieg des einen Rechtes über ein vermeintliches anderes, das unterliegt. All zu sehr ist man heute gewohnt, Gerichtsbarkeit undezisionistisch aufzufassen, als werde hier nur ausgeglichen, abgewogen, befriedet. In Wahrheit wird vor dem Richter der Rechtskampf ausgetragen, die Entscheidung bedeutet den Sieg der einen Seite mit der Autorität des Staates, der den virtuellen Krieg aller Bürger gegen alle laufend zu Gunsten des einen oder anderen beendet, während, grundsätzlich jedenfalls, der Vergleich doch Ausnahme bleibt. So wird denn auch mit Recht vom „Prozesserfolg" gesprochen, und der gewonnene Rechtsstreit bedeutet für den einzelnen Bürger - oder den Staat, der ihn zurückdrängen kann - einen wahren und oft auch politisch wirkenden Triumph. Triumphal ist jedenfalls an der schließlich rechtskräftigen Entscheidung ihre Unbedingtheit, die indiskutable Durchsetzung des absoluten Staatswillens. Wenn sich

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das Gericht erhebt, um das Urteil im Namen des Volkes zu sprechen, so ist dies nicht nur ein Augenblick der Würde, sondern wahrhaft der Feier. Die Vorstellung von der triumphlosen Gerichtsbarkeit bewegt sich in die Gegenrichtung dessen, was doch die Demokratie braucht und auch immer wieder versucht: Aufwertung der Dritten Gewalt; oft wird sie leider, in „enttriumphalisierter Form", zu einer Art von Verwaltung. Die ohnehin in gewissen Bereichen der freiwilligen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit schon nicht unbedenklichen Übergänge von Zweiter zu Dritter Gewalt werden damit noch im Grundsätzlichen verstärkt, und in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit sehen viele Bürger letztlich nurmehr eine Fortsetzung von Arbeitsplatzverwaltung mit anderen Mitteln; dies ist vielleicht ein Problem für alle öffentlichrechtlichen Jurisdiktionen. Demgegenüber muss das Besondere der Judikative in ihrem Urteilen betont werden, und nicht nur in der Sicherung der Unabhängigkeit der Richter und in ihrer besonderen Besoldung: Hervorzuheben ist stets der Endgültigkeitscharakter dieser Staatsgewalt; und nicht umsonst ist sie die einzige, die noch immer durch eine Göttin symbolisiert wird, welche den Triumph anzeigt. Und man verwechsle nicht Dynamik mit Erfolg, setze nicht das Richten gleich mit den Austeilungen der Sozialstaatlichkeit! Dann wird wieder klar werden, dass das Recht triumphiert - dies ist ja eine der wenigen Verbindungen, in welchen auch die Gegenwart noch dieses Wort zu gebrauchen wagt: Hier wird obsiegt - gesiegt.

c) Corpus Iuris - ein dauernder Reichstriumph Eine so verstandene Justiz-Triumphalität hat denn auch, gerade in dieser Endgültigkeit ihrer Durchsetzung, im „Erfolg des Rechtes" eine echte Reichsdimension, in der Majestät auch der kleinsten Rechtskraft. Daran schon lässt sie sich erkennen, dass all dies stets „nach oben", ins Staatsgrundsätzliche hinein geöffnet ist, durch den Bezug zur großen, einheitlichen Rechtsidee, welche in jeder Einzelentscheidung verwirklicht wird, triumphiert. Auch historisch war dies immer bewusst, vor allem in Deutschland. Recht und Gerechtigkeit - das war eben nicht nur eine tägliche, immer neu sich stellende Aufgabe, hier wurden wahrhaft triumphale Traditionen laufend bemüht. Darin liegt der tiefere Sinn jener säkularen Pandektistik, welche die Corpus-Iuris-Idee nicht nur in reinem Renaissance-Denken immer wieder aufnehmen wollte, als etwas, was sich eben bewährt hat, sondern als jene Ratio scripta, welche einst, in imperialen Zeiten formuliert, Ausdruck der Reichsordnung war, vor allem aber der noch einmal hervortretenden römischen Staatsmacht. In diesem Corpus Iuris hat das römische Reich zum letzten Mal sichtbar triumphiert. Nirgends ist wohl in vergleichbarer Weise ein geistiger Triumph so dauernd immer wieder aufgenommen, gefeiert und fortentwickelt worden. Jene Demokratie,

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die den Bürger und seine privaten Interessen zum ersten Staatsinteresse erhebt, findet in solchem Recht eine wahrhaft imperiale Bewährung, indem sie den laufenden kleinen und größeren Justiztriumph der Rechtsgenossen und ihre eigene staatliche Sieghaftigkeit im letzten Wort des Richters feiert. Iustitia fundamentum regnorum - Gerechtigkeit nicht nur: Justiz als Grundlage aller Staatlichkeit, das lässt sich, aus der Sicht des Triumphalismus, steigern zu dem Satz: Iustitia fundamentum Imperii, auf den Richtern ruht das Reich.

d) Strafe - Sieg der Gemeinschaft Die Strafgewalt des Staates ist jener Dritten Gewalt vorbehalten, deren Triumphalität hier betrachtet wird. Legitimiert wird dies im Rechtsstaat damit, dass kein Zugriff der organisierten Gemeinschaft auf Freiheit und Eigentum des Bürgers schwerer wiege, schmerzlicher und einschneidender empfunden werde, als der der strafenden Gerechtigkeit. Vieles lässt sich dem allerdings heute entgegensetzen: Kaum ein Rechtsgenosse - mit Ausnahme vielleicht des Beamten, der den Verlust seiner Lebensstellung befürchten muss - begegnet der Strafjustiz mit so viel Besorgnis wie etwa der Steuergewalt, und nicht nur deshalb, weil auch hinter dieser letzteren die Strafdrohung steht. Wirtschaftlich vernichtende zivil- oder verwaltungsgerichtliche Urteile wirken in aller Regel schwerer als das durchschnittliche Strafurteil, aus ihren Folgen hilft keine Rehabilitierung, über den so Geschlagenen beugt sich keine Gemeinschaft in resozialisierender Güte, hier gibt es keine Gnade. Was also die Besonderheit der richterlichen Strafgewalt ausmacht, ist nicht nur, nicht so sehr vielleicht die Fühlbarkeit ihres Zugriffs als vielmehr jenes Unwerturteil, das eben doch und immer das Strafurteil bringt, das in der Gemeinschaft, von vielen Rechtsgenossen wiederholt, fortlebt. Hinter ihm aber steht die Vorstellung vom Kampf des Guten, wie es hier Staat und Gemeinschaft repräsentieren, gegen das Böse des übersteigerten Individualismus. Das Strafverfahren ist in diesem Sinne die Fortsetzung der polizeilichen Unrechtsverfolgung mit anderen Mitteln, hier kommt der Kampf von Gut und Böse zu einem für das Staats-Gute siegreichen Abschluss, das aber heißt: Hier triumphiert der Staat mit seiner ganzen Verwerfungsmacht über das Böse. Darin liegt ein Ausdruck des Staatstriumphalismus, und er ist der Dritten Gewalt vorbehalten, welche damit die moralischen Standards in der Gemeinschaft setzen darf. Früher lag dieses Recht weithin bei einer anderen Macht, und auch sie war ganz wesentlich triumphalistisch legitimiert, nicht zuletzt deshalb auch zur Verhängung der Strafe berechtigt: die Kirche, bis hin zu den schwersten Formen der Inquisition. Der Staat kann zwar über seine Feinde in vielen Formen triumphieren, vom Schlachtfeld angefangen - über das Böse in seinen Bürgern und damit in sich selbst jedoch nur in der „inneren Triumphalität der Gerichtsbarkeit".

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Die Demokratie musste dies besonders betonen, einen großen Teil ihres Rechtes der Sicherheit und Ordnung in das Strafprozessrecht verlegen, weil sie nur in der Unabhängigkeit ihrer Gerichtsbarkeit die innere Ordnung feiern kann. Law and Order haben etwas Triumphalistisches, in ihrer höchsten Steigerung bedeuten sie ja das Imperium; ihre schärfste Bewehrung, ihr wahrhaft Triumphales, bringt die Gerichtsbarkeit des Strafrichters. Hier sind auch die alten Unterscheidungen von iustitia distributiva und iustitia commutativa überhöht - die Strafjustiz ist im Grunde weder dem einen noch dem anderen eindeutig zuzuordnen, hier lebt die iustitia triumphalis, die den Sieg über das Böse erringt, über deren Pforten, wie früher über denen zur Kirche, stets unsichtbar das „non praevalebunt" steht: Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden. Deshalb auch sollte der Streit um die Strafrechtfertigung nicht nur um die alten Begriffe der Abschreckung und der Sühne geführt werden, jene ist immer wieder so schwer beweisbar, dieser fehlen mehr und mehr die religiös-moralischen Grundlagen. Erweitert man all dies auf einen dritten Begriff, den des Staatstriumphs im Sieg über das Gemeinschafts-Übel, in der Festigung dieser Gemeinsamkeit, so wird die Legitimation indiskutabel, unanfechtbar, wie eben jener Triumph, den hier die richterliche Strenge feiert, oder Milde. Strafe muss wieder mehr mit der Staatlichkeit in Verbindung gebracht werden, darin liegt der richtige Grundansatz eines politisierenden Verständnisses, das heute von denen gefordert wird, welche die Strafen zurückdrängen, wenn nicht vollends abschaffen wollen - aber in einem erstaunlichen Missverständnis: Wenn Strafgewalt auch Politik bedeutet, deren triumphaler Ausdruck ist, so kann sie nicht zurückgeworfen werden, ohne dass ein entscheidender geistiger Energieverlust in der Gemeinschaft eintritt und ihrer Politik. Nicht grausam darf sie werden, denn eine solche Gewaltherrschaft hat nie Bestand, doch in der Flexibilität und Allseitigkeit der hier triumphierenden Staatshoheit muss sich das Reich entschieden und bewusst bewähren.

e) Gnade - Triumph der Stärke Gnade gehört untrennbar zur Strafe, sie ist ein wesentliches Attribut der strafenden Staatsgewalt, so wie der gnädige Gott das andere Gesicht des furchtbar strafenden Richters zeigt. In schöner Wortverbindung bringt dies die italienische Staatsorganisation zum Ausdruck, wenn dort vom Ministro di Grazia e Giustizia die Rede ist. Der Staat ist so groß in seiner Dritten Gewalt, so unwiderstehlich triumphierend, dass er auch darin noch seine Sieghaftigkeit zeigen darf, dass er auf Strafe zu verzichten vermag. Gnade im Einzelfall und Amnestie in der größeren, typisch demokratisch-normativen Form schalten die beiden anderen Gewalten des Staates ein in die triumphale Ausübung der Strafgerichtsbarkeit. Denn nichts anderes bedeutet ja dieses Vergessen und Verzeihen als eine Ausübung der Strafgewalt im umgekehrten Sinne, aus einer Größe heraus, die sich in diesen Augenblicken stets triumphal weiß.

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Die Praxis der Gnadenerweise, in welcher Form immer, hat dies ja stets deutlich gemacht: Der Staat weicht nicht vor dem Übel, vor dem Täter zurück, solange die Schlacht nicht endgültig geschlagen, sein Sieg über die inneren Widersacher nicht ein totaler ist. Die Gnade kommt aus der Endsiegstimmung, nur dann wirkt sie nicht staatszerstörend, sondern staatserhöhend, wenn sich in ihr die Sicherheit des Sieges zeigt in seiner Endgültigkeit. Dann, wenn dies erreicht ist, wird sie auch zur tiefen staatsgrundsätzlichen Notwendigkeit, und darin hat sogar die Demokratie mit ihrem „Recht auf Gnade" ein gutes politisches Gespür gezeigt, mag sie dies auch in die unangebrachten normativen Formen gekleidet haben - sie kann eben nicht anders als normativ denken: Wenn eine gewisse Quantität von Strafleiden zugefügt worden ist, so bleibt der Sieg über das Böse errungen, was dann noch käme, wäre nurmehr die sinnlose Qual jenes Rechtssubjekts, in dem letztlich ja nicht der Mensch, sondern das Staats-Übel getroffen werden soll. Dann wird die Gnade zur triumphalen Notwendigkeit, weil „der Strafzweck erfüllt ist", und er liegt eben längst nicht nur in Buße und Abschreckung, er ist dann erreicht, wenn sich der gebesserte Bürger voll wieder einreiht in den Triumphzug der Staatsgewalten - oder wenn er, weil „nicht mehr gefährlich", dort ohne Handschellen wieder mitlaufen darf. Gnade hat immer etwas Feierliches, das in Befriedung Triumphalität zeigt, nicht umsonst ist das Verzeihenkönnen immer und überall als Zeichen der Größe gewertet worden. Die großen Amnestien waren politische Friedensschlüsse, die kleine Gnade ist es auch, darin zeigt sich eben der Staat groß genug, dass er die Wiederaufnahme der Gefallenen, Geschlagenen, und nur zu oft auch wirklich der politisch, ja militärisch Besiegten feiern darf. Gnade als Sieg - das gäbe wohl künftiger Staatlichkeit weit klarere Kriterien an die Hand für die immer so schwere Entscheidung, ob der staatliche Strafanspruch der staatlichen Güte geopfert werden soll. Aus solcher Sicht könnte auch der odiose Gegensatz zwischen richterlicher Strafgewalt und ihrer Annullierung in der Gnade überhöht werden. Exekutive und Legislative stehen hier nicht auf gegen ihre Richter, wenn sie deren Triumph nur im Verzeihen fortsetzen; solange Richterproteste gegen überzogene Gnadenerweise denkbar sind, sollten diese nicht erfolgen. Denn Individuaignade und NormativAmnestie sind doch nur Fortsetzung des Straftriumphs mit anderen Mitteln, denen seiner Beendigung, und hier wird die Spitze tätig, die Vertreter einer Imperialität. Deshalb kann auch nur die souveräne Gewalt, das amnestierende Parlament oder die oberste Spitze der Staatlichkeit, den Sieg des Staats-Guten verkünden. Amnestie-Kraft hat noch immer Gemeinschaften erhöht, die Unfähigkeit des Verzeihens, die ewig fortgesetzte Rache sind ein Ausdruck der Unimperialität, und dies hätte der Gesetzgeber beherzigen sollen, anstatt Strafjustiz bis in die Sinnlosigkeit der fehlenden Erinnerung hinein fortzusetzen, damit hat er nur bewiesen, dass seine Staatlichkeit der großen Triumphalität nicht mächtig war, die auch höher noch aufsteigt als das schwerste Verbrechen. Wenn es einst im Namen eines Reiches begangen wurde, so muss erst recht im Selbstbewusstsein einer neuen Imperialität überwunden, vergeben werden können. Die geistigen Wunden, die diese

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politische Kleinheit hinterlässt, sind tiefer als das, was sie in menschlicher Verständnislosigkeit im Einzelfall angerichtet hat, sie, die nach der Präambel ihrer Verfassung im Namen eines Gottes handeln will, dessen Güte noch immer größer ist als die größte Schuld.

f) Verfassungsgerichtsbarkeit

- „ große Staatlichkeit in Urteilsform

Mit der Verfassungsgerichtsbarkeit hat die moderne Demokratie eine neue Institution geschaffen, einen bedeutenden Ausdruck neuartiger Triumphalität, hier hat sie bewiesen, dass jede Zeit ihren Beruf hat zur Sieghaftigkeit des Imperialen. In der Idee schon des „höchsten Gerichts", das hier nun diesen Namen wirklich verdient, liegt der Triumphalismus des letzten Wortes, das noch immer sieghafte Souveränität bedeutet hat. Solange dieser oberste Gerichtshof den Namen des Reiches in Deutschland trug, vor allem aber doch die kleinen großen Prozesse der Bürger um Mark und Pfennig entschied, war da mehr „reine Triumphalität" als greifbarer politischer Staatssieg, mehr die reine Würde der roten Roben als die Feier des politischen Großerfolges. Mit dem einen, obersten Verfassungsgericht ist die Idee der Triumphalität an der Spitze der Dritten Gewalt in das Zentrum der politischen Staatlichkeit hineinverlegt worden, durch ein Gericht als Verfassungsorgan, als wahrhaft oberstes Staatsorgan - in all dem, was eben Gerichtsbarkeit bedeuten kann. Hier ist nicht nur das große äußere Erscheinungsbild, der wahre Staats-Prozess, der von den Medien überall hin getragen wird, mit seiner Beendigung im „Urteil als Staatsakt". Da sind vor allem die großen Entscheidungen, in ihrer politischen Dezisionskraft oder in der höchsten Steigerung des Praecedens, bis hin zur negativen Gesetzgebung der kassierten Normen. Alles was in der Gesetzgebung triumphalistisch ist, in den großen Akten der Zweiten Gewalt staatsgrundsätzliche Höhe erreicht, wirkt auch in der Verfassungsgerichtsbarkeit als großes Ereignis, und noch in einer besonderen äußeren Form, in der wiederum greifbare Triumphalität zum Ausdruck kommt: Hier verbindet sich die Sieghaftigkeit des Prozesses mit dem Sieg der politischen Entscheidung. Gesetzgebung, ja Außenpolitik wird zelebriert im wahren Sinne des Wortes, Augenblicke, wie die des Erlasses des Grundvertragsurteils, haben es eindrucksvoll gezeigt. Entscheiden mag der Staat in vielen Formen Bedeutendes, kaum je erreicht er derart die Dimension der Feier, im Namen des größeren Verfassungstriumphes. Denn dies steht mit einer wahren Imperialität hinter der Sieghaftigkeit des Verfassungsurteils: Hier wird die Verfassung Realität, in der Durchsetzung ihrer Wertentscheidungen. Ins Bewusstsein der Bürger wird die Verfassung in ihrer ganzen Imperialität gehoben, als höchste Charta, welche ein Reich mit allgemeinsten Formeln ordnet, welche dann fortgedacht werden kann in den vielen Gesetzen, die die Pluralität unter der Kuppel ordnen. Verfassungstriumph als Gerichtstriumph - das

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sind wahrhaft neue, imperiale Formen der Staatlichkeit, als solche sind sie den Richtern bewusst, und es sollte von den berichtenden Medien in das Bewusstsein aller Bürger gehoben werden, dass unter dem Adler etwas wie eine Reichsfeier stattfindet, im Fortdenken der Triumphalität der Verfassunggebung in den Einzeltriumphen der Verfassungsurteile. Da ist etwas von der Idee der „Gerechtigkeit in Stufen", wenn deren oberste so eindrucksvoll deutlich wird; da wird auch etwas von der Unverbrüchlichkeit des normativen Siegeserlebnisses sichtbar, weil es ja nun nicht, wie einst vor dem Reichsgericht, hervortritt in der Anwendung jener einfachen Gesetze, welche jede Reichstagsmehrheit für die Zukunft verändern konnte. Hier, vor der Verfassungsgerichtsbarkeit, erreicht die Triumphalität der Dritten Gewalt eine andere Dimension, ist sie doch auch materiell gehalten von einer Verfassung, welche die anderen Staatsgewalten kaum ändern werden. Die Demokratie wollte ihre Gerichtsbarkeit höher setzen als frühere Ordnungen, in ihr sollte etwas von der Majestät des Reiches weiterleben. In der Verfassungsgerichtsbarkeit ist ihr dies gelungen. Hier triumphiert unwandelbares Recht, der Richterspruch der Menschen ist großer Rechts-Sieg und Reichs-Sieg in einem. „Unten" in der Gerichtsbarkeit mag „vor allem Recht" sein - ganz oben, vor den Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, ist „vor allem Reich".

IV. Bildungstriumph 1. Der Bildungsstaat Überwindung des kulturellen Wahrheitsliberalismus Die Wahrheit ist einem Staat, der triumphieren kann, gleichgültig - zumindest bis zu einem gewissen Grade setzt er sich in seinem Sieg auch über sie noch hinweg. Doch jene Bildung, deren vornehmste Aufgabe heute die Wahrheitsvermittlung ist, war nicht nur immer bedeutende staatliche Aufgabe, gerade ein triumphales Gemeinwesen hat sie stets ernst genommen, in ihr auch Triumphe gefeiert. Der Bildungsstaat der demokratischen Gegenwart und sicher noch mehr der Zukunft, in welchem heutige Gemeinwesen zuallererst ihre Legitimationen suchen und finden, muss daher, mehr noch als so mancher andere Aspekt der Staatlichkeit, untersucht werden auf Elemente der Triumphalität, aus welchen Staatsmächtigkeit entsteht. Wenn sie hier sich findet, ist sie ein sichereres Fundament großer Staatlichkeit als frühere militärische Triumphe, wenn hier das Erfolgsdenken verloren geht, ist viel an Imperialität vergangen. Der moderne Bildungsstaat muss vor allem die Krise überwinden, in welche ihn die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Wahrheits-Liberalismus geworfen hat. Bildung aus Wahrheitssuche und Wahrheitsvermittlung, durch Rationalismus und Aufklärung immer mehr zum Axiom gesteigert, hat die parastaatliche Macht der Kirche aus den organisierten Bildungsanstrengungen der Gemeinschaft verdrängt, doch der Staat konnte dort nicht voll ihren Platz einnehmen. Die Kirche hatte ja

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über viele Jahrhunderte hinweg Bildung mit dem Ganzheitsanspruch einer durch und durch triumphalistischen Institution vermittelt. Wahrheit und Methode wurden akzeptiert, aber letztlich doch nur als Wege zu immer vollständigerer Erkenntnis des einen großen Gottestriumphes in der Erlösung. Diese Gesamtdimension hat alle Bildungsanstrengungen durchgreifend geprägt, zuletzt noch in der schon intellektualisierten Geisteswelt der Jesuitenerziehung. Der neue republikanische und demokratische Staat, der, zuerst in Frankreich, ihr Bildungserbe antreten wollte, ist, nach einigen gescheiterten revolutionären Anläufen zu einer religionsähnlichen Bürger-Bildungs-Schule, bald dem vordringenden Bildungs- und Wissenschaftsliberalismus erlegen, welcher nun das Erbe von Rationalismus und Aufklärung immer höher steigerte, in einem Sinne vor allem: Die Staatlichkeit, wie triumphalistisch sie sich auch aus ihren revolutionären Ursprüngen heraus gebärden mag, verzichtet auf den Bildungstriumphalismus früherer Epochen, sie fällt zurück auf die liberale Bildungspolizei, auf die Überwachung geordneter Wahrheitssuche und -Vermittlung für jedermann. Rasch konnte sodann der Liberalismus gerade hier den Primat des Privaten begründen; in der „unpolitischen Staatsferne" wurde die beste Bildung gesehen, sei es nun wieder in privaten Unterrichtsanstalten, sei es aber auch dort, wo, wie in Deutschland, das staatliche Schulmonopol sich weithin durchsetzen konnte - auch hier wurde ja sehr bald alles Bildungsbemühen in „unpolitische" Staatsfernen verbannt. Ganz unpolitisch war diese rationalisierte Wahrheits-Bildung sicher nicht, und sie ist denn auch in ihren wilhelminischen Erscheinungsformen scharf kritisiert worden, in welchen sie in der Tat, in der Vermittlung klassischer Inhalte vor allem, die moderne Imperialität des II. Kaiserreichs der Jugend nahe brachte. Dann aber endete all dies bald in Krieg und Republik, und was hätte die staatliche Schule in Deutschland seit den zwanziger Jahren anderes bieten können als das Bild einer zerbrechenden geistigen Einheit, als einen Eklektizismus, dem an Substanz in der Tat nurmehr das liberale Wahrheitsstreben blieb? Wie viel dies auch bedeuten mochte, vor allem einer höher entwickelten Elite, insgesamt war dies eine geistige Katastrophe: Der große Bildungsschwung, der noch einen Humanismus getragen hatte, war nunmehr aus Schulen und Universitäten verschwunden, denn die Bildung hatte alles Strahlende, eben die Verbindung zum großen Triumphalismus früherer Staatlichkeit und Kirchlichkeit, verloren. Die gewaltsamen Versuche des Nationalsozialismus waren eine Reaktion dagegen, die geistig nichts mehr ändern konnte, zu hart und oft wahrheitswidrig sollte hier nun ein Triumphalismus aus dem Nichts geschaffen werden. Die Demokratie der Nachkriegszeit hat ihren Bildungsauftrag voll und sicher noch tiefer als die Weimarer Republik erkannt, doch staatsrechtlich ist auch sie nicht über die frühere liberale Bildungspolizei der überwachten Wahrheitssuche hinausgekommen. Allerdings findet sie zunehmend ihre eigene Wahrheit, und dies könnte in eine bedenkliche Staatswahrheit führen. Erkannte Wahrheit zu feiern aber, und darum geht es hier, das hat sie nicht wirklich gelernt.

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Der Demokratie der Gegenwart ist, ob sie nun „bescheiden" bleiben will oder imperiale Anstrengungen unternimmt, jedenfalls eine Aufgabe gestellt, die als solche auch erkannt ist: Sie muss den Bürger „zu sich erziehen", hinziehen zu staatsgrundlegenden Erkenntnissen, aber auch Kräften. So erklärt sich die ganz allgemeine Überzeugung, dass eine „Erkenntnissuche um ihrer selbst willen" nicht genügen könne, mag dies nun mit Nützlichkeitserwägungen der hochtechnisierten Gesellschaft begründet werden oder mit einer politischen Ideologie, welche der Bildung ein neues, para-religiöses Weltbild unterschieben will. Die richtige Erkenntnis liegt darin, dass der Schule und sogar der Hochschule, um mit Karl Marx zu sprechen, nicht nur die Aufgabe der Analyse unserer Welt gestellt ist, dass es vielmehr gilt, sie zu verändern. Dies verlangt die Begeisterung der Jugend, mehr noch aber fordern es die Bedürfnisse einer Staatlichkeit, die nur darin jenen begeisternden Fortschritt in die Gemeinschaft tragen kann - all das, was man eben früher Triumphalismus genannt hat. Der Wahrheitsliberalismus ist tot, nicht weil die Wahrheit es wäre, sondern weil es immer gilt, sie auch zu feiern, zuallererst, und weil sie erfunden werden muss, wenn sie nicht als eine feierbare erkannt werden kann. Der Wahrheitsliberalismus der bisherigen Erziehungsstaatlichkeit dichtet dem Staat zuviel an Selbstverständlichkeit an, zu wenig erkennt er, wie all dies immer wieder mit großen Anstrengungen geschaffen werden muss, was die Bürger zusammenhält. Das Siegeserlebnis hat er aus den Meditationen seiner antikisierenden humanistischen Säulenhallen verbannen wollen, dem Triumph wollte er nurmehr in der Geschichte begegnen, bei Salamis und Actium. Das alles aber kann nur Bildung sein, wenn, in der Tat, „es erreicht ist", wenn das Reich schon besteht, und wenn es nicht immer von neuem gewonnen werden muss. Eines jedenfalls war diese liberale Bildung nie: begeisternd für die große Zahl. Und wenn es „Begeisterung" anstatt „Triumph" heißen kann - dann wird sich leicht ein Konsens um die These bilden, dass es einer neuen, großen Bildungsanstrengung bedarf, damit in der Jugend jenes Siegesgefühl entstehe, aus dem allein heraus „die Zukunft gemeistert" werden kann, wie es so bildhaft ausgedrückt wird. Wenn die Demokratie aus allem und jedem den Triumphalismus ausmerzen kann - aus Bildung und Erziehung darf sie ihn nicht verbannen, sonst kommt er erst recht mit brutaler Gewalt und in der Unbildung der reinen Kraft zurück. Von zivilisiertem Verhalten ist heute so wenig die Rede, und doch bedeutet es gerade hier so viel: Der Bürgertriumph wird in Bildungserfolgen gefeiert, in einer Bildung, die zum Erfolg führt, weil sie vom Erfolg berichtet, geistige Organe für ihn entwickelt. Was auf Schlachtfeldern nicht mehr zum Imperium emporzuwachsen vermag, das kann in Schulen gelingen, Schulen der Nation zum triumphalen Denken.

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2. Erfolgsdenken als Bildungsinhalt Dass diese Aufgabe eines neuen Erfolgsdenkens durch Bildung heute erkannt ist, zeigt die Diskussion um die Aufgabe des Staates, Bildungsinhalte zu bestimmen. Allerdings wehrt sich hier mit Recht alles, was der Liberalismus der Gegenwart an Gutem hinterlassen hat, gegen ein materielles staatliches Bildungsdiktat, welches neue Staatswahrheiten den jungen Bürgern „zum Glauben vorstellen" wollte. Und doch wird gerade dies heute laufend versucht, nicht zuletzt in einer eigentümlichen Form von Krypto-Triumphalität, darin nämlich, dass neue, als sieghaft vorausgesetzte Axiome und Dogmen, oft weithin begründungslose Ideologien, in Lehrpläne und Studienordnungen geschoben werden sollen. Darin ist dann häufig sehr viel mehr Sieghaftigkeitsstreben, als es auf den ersten Blick und in den prosaischen Formen erscheinen mag. Denn hinter komplizierten soziologischen oder politologischen Begriffsbildungen stehen nur zu oft Inhalte einer marxistischen Weltanschauung, welche ganz wesentlich triumphalistisch in die Bildungsinhalte einbrechen will: Mit unverbrüchlicher Sicherheit wird ja die Wahrheit des sozialen Egalitätstriumphes noch immer verkündet, in den militärischen Erfolgen kommunistischer Staatlichkeit wurde hier vor kurzem ihre Bewährung, oft recht unverhohlen, gefeiert. Ihre große Kraft ziehen solche Bestrebungen in der Tat aus dem leeren Raum, in den sie hineinstoßen: Ihre Urheber haben erkannt, dass es um neuen Bildungstriumphalismus geht, und sie wollen der Jugend politisch sieghaftes Erfolgsdenken in ihren sozialistischen und materialistischen Kategorien darbieten. Wo immer dies gelingt, dort zieht ein neuer Triumphalismus in Schulen und Hochschulen ein, und dass von ihm der Weg dann direkt ins Reich führt, das haben das östliche Imperium und seine Rand-Königreiche lange Zeit eindrucksvoll bewiesen. In ökonomisierten Staaten geht man andere Wege zur Bestimmung von Bildungsinhalten: Das „Nützliche" für die Gemeinschaft soll das zentrale Kriterium abgeben, aus dem dann der „Lehrplan" der Nation in vielfacher Brechung, in unzähligen Einzelformen entwickelt wird. Diese Funktionalisierung der Bildung versteht sich in dem Sinne jedenfalls als Antwort auf die Krise des enttriumphalisierten Bildungsstaates, dass auch hier alle Unterrichtsanstrengungen wieder in einem, wenn auch recht weiten Sinn, „politisiert", jedenfalls auf die Gemeinschaft bezogen werden sollen; und dies ist ja immer der erste Schritt einer öffentlichen Erfolgsanstrengung, dass die Privatisierung der Bildung aufhört, diese wieder „in die Gemeinschaft zurückverlegt" wird. Doch solche Funktionalisierung, das zeigte sich bereits mehrfach, kann das Grundproblem, die Auffüllung des bildungsmäßigen Triumphdefizits, allein nicht lösen. Nicht nur, dass sie eine große und gefährliche Leerformel bietet, auf welche sich der Staat zur Errichtung eines nahezu vollständigen Diktats der Bildungsinhalte berufen kann - sie verleiht andererseits auch nicht die allgemein belebende Kraft, aus der heraus nun der Gemeinschaft wirksam genützt werden kann, und sie ist allzu tagtäglich-praxisbezogen, als dass sie noch jenen größeren Atem hätte, der

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im liberalen Privat-Kulturstaat verlorengegangen ist. Sie ist im Einzelnen auch zu leicht freiheitsvernichtend konkretisierbar, als dass noch etwas von der doch stets zu bewahrenden liberalen Freiheit erhalten bleiben könnte. Hier also muss die Entwicklung ansetzen, in der Erkenntnis wohl, dass alle Bildungsanstrengung auf den Nutzen des Staates, mit demokratischen Worten gesprochen: der organisierten Bürgergemeinschaft ausgerichtet sein muss, aber in jener freiheitsbewahrenden Allgemeinheit, welche mehr Grundgehalte und Grundstimmungen als Einzellösungen tagtäglicher Nützlichkeit schaffen will. Überhaupt kann es eben nicht ein schwer und in einer hochtechnisierten Welt immer schwerer vorauszuberechnender Nutzen sein, der hier alles bestimmen darf. Gerade angesichts der unübersehbaren künftigen Entwicklung muss ein mächtiger „Generalismus" der Bildung erhalten bleiben, dies aber bedeutet, dass weit mehr große Zusammenhänge und Kontinuitäten, Ideen, Entwicklungen vermittelt werden müssen als mehr oder weniger aktuelle Einzelergebnisse gefundener Wahrheit. Die Aufgabe lautet also: Nicht Funktionalisierung der Bildung - Finalisierung, Ausrichtung auf diejenigen Bildungswerte, durch welche sich ein größeres Erfolgsdenken entfalten kann, in denen nicht nur Wahrheit liegt, sondern in welchen Wahrheit triumphierend sich zeigen kann, Bildung schließlich als Verehrung und Feier dieser Wahrheit, die Kraft für die Zukunft gibt. Wiederentdeckt werden sollte eine Bildung zu Gemeinschaft und Staat, mehr noch: hinauf zum Reich. Die Weitergabe der Reichsidee kann mit ihren Bildungsinhalten zu Erfolgsdenken befähigen. Bildungszustände sind kein Triumph, doch Bildung - das muss zum Triumphieren ausbilden, alle Bildungsinhalte sind gut, die das näher bringen.

3. Erfolgsdenken im Unterricht a) „ Primat der Geschichte " Junge Menschen sind aufgeschlossen für die Größe der Reichsdimension und ihre Begeisterung, weil sie auch ihr Leben noch groß sehen, mit vielen möglichen Erfolgen. So muss denn eine Schule, in der sie zum ersten Mal ihrem Staat begegnen, jenes Erfolgsdenken in den Mittelpunkt stellen, in welchem der Anlauf zum Gelingen und die Überwindung des Misslingens zu Leitkategorien eines Bürgerlebens werden können. Die Schule als solche triumphiert nicht, in ihr können immer nur kleine Siege gefeiert werden, doch ihr allein ist es letztlich gegeben, ein Organ für jene Imperialität zu entwickeln, welche dann im Leben etwas aufnehmen und entfalten kann, das größer ist als alles Gelernte. Erfolgsdenken ist, das zeigt sich schon, wesentlich vermittelbar, Triumphalität kann, bis zu einem gewissen Grade, gelehrt und gelernt werden. Seit Jahrhunderten war dies, neben der Erziehung zu menschlichen Tugenden, ein Hauptbildungsziel.

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Unausgesprochen stand es hinter den vielen einzelnen Bildungszielen, mit dem Primat der Geschichte hat es, in vielen humanistischen Generationen, die Reichsidee erhalten, auch wo kein Imperium mehr war, nicht nur in der Erinnerung, sondern im Lernen alter neuer Erfolge. Geschichtsbewusstsein als erstes Bildungsziel - das kann sich nie allein aus Nützlichkeit rechtfertigen, auch nicht aus Klassenbewusstsein allein. Wer es nur versteht als müde Relativierung aller menschlichen Abläufe, die nichts Neues mehr findet unter der Sonne, oder sogar vor einer ewigen Wiederkehr des Vorgedachten resigniert, hat den tieferen, eminent politischen Sinn dieses Bildungsprimats nicht erkannt: Er liegt nicht in der Horizontale einer dahinfließenden Geschichtlichkeit, sondern in deren mächtigen Höhen und Tiefen, welche, den Wogen gleich, sich immer wieder emportürmen. Wie kaum ein anderer Unterricht kann dieser stets von neuem begeistern, wenn die Darstellung vordringt zum ganz großen Gelingen, zu einem tiefen Fall, der aber überwunden wird. Nicht Historie als Wissenschaft, wohl aber die in Schulen gelehrte Geschichte ist so im Letzten nichts anderes als vermittelte, wiedererlebte Triumphalität. Kernkategorie dieses Faches ist dort der „Höhepunkt", auf den sich etwas zubewegt, aber nicht nur in solcher Dynamik triumphiert das Erfolgsdenken; Geschichte ist in der Schule auch die erste Begegnung mit dem Begriff der längeren Dauer, der größeren, dauernden Ordnung. Reichskategorien sind es also, welche so geweckt und eingepflanzt werden, und der politische „Nutzen" des Faches war seit Jahrhunderten ebenso diskret wie sicher: Er lag in der Legitimation gegenwärtiger Staatlichkeit aus den Großerfolgen der Vergangenheit und ihrer Imperialität. Neuartige Politisierungsversuche der Schule haben dies wohl erkannt und, aus ihrer antitriumphalistischen Grundhaltung heraus, gerade dieses Fach verdrängen wollen, in welchem zum ersten Mal jungen Menschen von einem Reich erzählt wird.

b) Naturwissenschaften

- Erfolgsmaterien

Im Humanismus hat historisches Denken alle Geisteswissenschaften geprägt, aus einer Antike heraus, deren Imperialität auf diese Weise die gegenwärtige Generation erreichte. Da wurden die Großerfolge der Literatur gefeiert und der Kunst; der Unterricht begab sich auf die Via triumphalis des modernen Fortschritts aber auch und gerade in den Naturwissenschaften, welche in der Geschichte der Entdeckungen als Träger von Großerfolgen bewusst wurden. Im Grunde ist ja gerade aus der Sicht eines Erfolgsdenkens ein Gegensatz von „geschichtlichen" und „naturwissenschaftlichen" Bildungsinhalten absurd: Naturwissenschaft fasziniert gerade durch das beweisbare, eindeutige Erfolgserlebnis, gegenwärtig wird hier mehr triumphiert als je zuvor in der Geschichte. Doch zum anderen werden sich eben diese Wissenschaften ihrer Größe und Bedeutung für die Gemeinschaft und das menschliche Denken überhaupt erst in Geschichtlichkeit bewusst: indem ihre Erfolgsketten geknüpft werden, Entdeckungen, Erfindungen 17 Leisner

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sich aneinander reihen. Nirgendwo wird heute soviel an Triumphalität aufrechterhalten und tagtäglich gelehrt wie in jenen „Erfolgsmaterien", und der junge Mensch, der sich ihnen verschreibt, stellt hier sicher nicht in erster Linie Nützlichkeitsberechnungen an, weder für sein eigenes Leben noch für das der Gemeinschaft, er reiht sich ein in den großen Triumphzug eines menschlichen Geistes, der immer mehr rechenbare und darin dauernde Ordnungen geschaffen hat. Naturwissenschaften und Historie befruchten sich so gegenseitig, gerade auf der Ebene der Schule, wo der Fortsetzungszusammenhang stets im Mittelpunkt stehen muss, wo nur der fortschreitende Erfolg im Letzten lehrbar ist - das Große, welches gelingt. In solcher Sicht verflacht das Problem, ob es „nationale Bildungsinhalte" geben kann, ob sie verstärkt werden sollten. Wo immer Schule im Dienste des Erfolgsdenkens steht, ist diese Frage zweitrangig. Der Großerfolg, der eigentliche geistige Triumph mag nationale Ausgangspunkte haben, im Grunde ist er stets und rasch über die Grenzen hinausgewachsen. Seine Imperialität liegt ja darin, dass er sich viele Länder unterwirft, in allen zum großen Gelingen wird oder doch eine Chance hat. Dieses Erfolgsdenken hat Staaten als Grundlage, damit es ihre Grenzen überschreite, in ihm müssen sie sich fühlen als „Provinzen zum Reich" - und darin ist das Nationale im Unterricht auch wert, gepflegt zu werden, als etwas, das im Großerfolg überwunden werden kann.

c) „Methode aus Erfolg " - und: Begeisterung Erfolgsdenken in der Schule ist schließlich nicht nur eine Frage von Bildungsinhalten, es prägt auch die Erziehungsmethoden. Vereinfachung zuallererst ist geboten, soll Gelingen lehrbar werden. Was in allzu breiter Faktizität zerfasert, verliert die Geschlossenheit des imperialen Großerfolges, es wird bestreitbar, abgewertet. So sollte dies denn eine Schule, welche ihre imperiale Mission ernst nimmt, späterem wissenschaftlichem Bemühen überlassen, ihr bleibt im Grunde das Schönere: die Richtpunkte zu setzen, die begeisternden Höhen, welche immer orientieren, auch wenn sie später erklommen werden. Schule und Unterricht müssen das große Gelingen herausstellen, Götter und Halbgötter vorstellen, solange gibt es für sie kein Verbot der terrible simplification, wie sie an Großerfolgen zeigen können, was überhaupt Gelingen bedeutet und ein Sieg auf Dauer. Über allem aber steht ein anderes, mit dem wahres Erfolgsdenken vermittelt werden kann: eine Begeisterung, welche wohl allein die prosaische Schule vergessen lässt. Dass ohne diesen Funken Bildung und Schule sinnlos werden - jeder weiß es. Doch dies ist kein Göttergeschenk, welches dem einen Lehrenden unerklärlich gegeben, dem anderen versagt bleibt. In erster Linie müssen sie sich alle für etwas begeistern können, und der Großerfolg allein ist es, der den sprödesten

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Betrachter zur Bewunderung bringt. Denn hier schließt sich ja die begeisternde Feier wahrhaft imperial wirkender Erfolge an jenes Bewundern an, mit dem einst Philosophie und Paideia begonnen haben: Das Erstaunen wird geweckt, und damit geistige Anstrengung zur Bewältigung der Erscheinungen, in erster Linie aber gilt dies für jenen Großerfolg, der geistig begriffen und dann in menschlicher Tat nachvollzogen werden will. Begeistern werden immer Lehrer können, welche selbst das Organ des Erstaunens, der Bewunderung in sich entwickelt haben, es bei jungen Menschen zu entfalten vermögen, zuallererst aber in der Begegnung mit dem ganz großen vergangenen und damit zugleich noch gegenwärtigen Erfolg. Zu hohlem Pathos sinkt die Begeisterung ja nur dort ab, wo hinter ihrem Putz nichts steht, was über Jahrhunderte wirken oder auch nur dauern konnte. d) Schule: der „kleine Wächterstaat " „Wer bewacht die Wächter"? Dieser Frage musste sich eine der großen imperialen Staatskonstruktionen der Politik stellen und letztlich tritt sie auch hier auf: Wer lehrt die Lehrenden? Die Antwort ist immer dieselbe: Wächter werden bewacht durch das Reich, das sie schützen, ihre Sicherheit ist der Großerfolg, den sie bewahren und fortsetzen. Über diesen Wächtern kann nur eine größere politische Idee stehen, eine wahre Staatsgrundsatznorm, in deren Namen sie Macht über Bürger ausüben. Und ebenso die Schule, der „kleine Wächterstaat": Ihre Lehrenden können nicht wieder „nur ausgebildet" werden, „nur gebildet, damit sie andere bilden". In der Lehrerbildung spätestens stellt sich die Frage nach dem Bildungssinn unausweichlich, hier wird seine Entscheidung getroffen, und das ist stets, in den Kämpfen gerade um die Ausbildung, bewusst gewesen. Wer ein Erfolgsdenken in Bildungsinhalten und Bildungsmethoden erstrebt, darin den Weg zu einer größeren, dauernden Ordnung zu gehen versucht, der muss vor allem diese Kategorien des großen Gelingens und Misslingens, mit all ihrer Begeisterungskraft, einführen in die Bildung der Lehrer. Hier darf nicht der homo faber ausgebildet werden, der andere kleine und immer noch kleinere Menschen Tricks und Kunstfertigkeiten lehrt, damit sie sich durchs Leben winden können. Der größere Atem des Erfolges muss die Lehrenden schon in ihrer Jugend erfassen, damit sie ihn weitergeben können, und ihre Großerfolge feiern sie ja auch in den zahllosen Leben ihrer Schüler. Erfolgsdenken als Bildungsinhalt - eine Ordnung, in welcher dies möglich ist, hat aus der Vergangenheit schon für eine ferne Zukunft ihr Reich weitergebaut. 4. Volks-Schule - die breite Begegnung mit dem Erfolg „Schule des Volkes" - dies sollte, in einer Demokratie allzumal, ein Ehrentitel sein, doch gerade die Volksherrschaft will die Volks-Schule, aus Klassenängsten heraus, nicht mehr kennen. Fast scheint es heute schon ihr Ziel zu sein, in allzu 17*

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frühen Spezialisierungen und vorweggenommener Verwissenschaftlichung alles Unterrichten aus der Einfachheit des Anfangs in die Höhe der Komplikation zu heben. Darin ist, wieder einmal, auch viel Politik am Werk, bis hin zur Befriedigung von Gruppeninteressen. Doch was damit gefährdet wird, ist mehr als die geistige Entwicklung junger Menschen: Wo sich ein Abfall vollzieht von der Einfachheit des ersten Unterrichts, da droht sich jenes Erfolgsdenken zu verlieren, welches gerade in ihm erstmals gelehrt und aufgenommen werden kann. Volksschule - das bedeutet doch die große Chance zur Vereinfachung und zum Herausgreifen des Wesentlichen aus der Fülle des Stoffes, in einer Schwarz-WeißMalerei, die man nicht beargwöhnen und nie ganz verlernen sollte. In ihr wird ja das Wesentliche wenn nicht erkannt, so einfach gesetzt, und darin liegt die Möglichkeit, dem Erfolg in vereinfachter, fassbarer Form früh zu begegnen. Wenn Kinder von Königen hören wollen und von Feen, wenn der ganze erste Unterricht immer auch etwas Märchenhaftes haben muss, so ist dies nicht nur eine pädagogische, es ist zugleich eine tiefere politische Notwendigkeit, es soll eine größere, dauernde Ordnung befestigt werden: In diesem Unterricht werden ja die „Elemente" dessen vermittelt, woraus sich später das Staatsgefühl, das Reichsgefühl entwickeln kann. Da ist das ganz Große, welches weit über das eigene kleine Lehen hinausreicht - der König und sein Reich; da ist die märchenhafte Dauer des Glücks derjenigen, von denen angenommen werden darf, dass sie „noch heute leben"; da ist aber vor allem das immer ganz große Märchenereignis, in dem sich das Unglück in Gelingen verwandelt. In all dem ist Triumphalität, eine wahre Elementarschule muss sie in den ersten Jahren vermitteln - wie ein Märchen. Und wenn dann diese Stufe überschritten ist, so bleibt es doch, im Elementarbereich, bei der Aufgabe einer Richtpunkte setzenden Vereinfachung, in welcher wiederum der Großerfolg als solcher ganz deutlich hervortritt. Mit späterem differenzierenden Denken wird sich sicher manches relativieren, Volksschule - das ist und bleibt die Zeit der Leuchttürme, in denen das einfache, unbestreitbare Gelingen denen gezeigt wird, welche noch wirklich staunen können. Ein Unterricht, welcher dies unter Mitwirkung der Schüler erreicht, hat eines jedenfalls begriffen: das Erlebnisbedürfnis von Kindern, welche in ihrer Ungeschichtlichkeit noch ganz unmittelbar sind zum großen Erfolg, den sie im Kleinsten finden und feiern. Was später nurmehr in historischer Nunancierung zu vermitteln ist, aus Sieges- und Erfolgsserien mühsam aufgebaut werden muss - der geistig beginnende Mensch erlebt diese Triumphalität noch ganz unzeitlich, wenn ihm etwas gelingt, so ist ihm für diesen Tag ein Lebenstriumph geschenkt worden. Darin liegt viel von dem, was hier „reiner Triumphalismus" genannt wurde, und eine Volksschule, welche Kinderfreude kennt, wird diesen Optimismus in junge Gemüter legen. Damit aber hat sie politisch Entscheidendes bewirkt: Erfolg und Triumphalität sind nicht gelehrt, sie sind erfahren worden. Nicht deshalb war und ist Volksschule das Rückgrat des Bildungsstaates, weil den jüngsten Bürgern Beliebiges vermittelt werden kann, weil sie ausgeliefert sind

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wie später geistig nie wieder. Die große Aufgabe ist es, welche über die Volksschule den Staat trägt, vielleicht ein Reich: dass ein Erfolgsdenken mit Macht und für immer die Bürger erreiche, ihnen Sicherheit gebe in jener Einfachheit, in welcher sie dem großen Gelingen begegnen durften.

5. Hochschulen - Hohe Schulen des Erfolges a) Studentischer Triumphalismus? Wenn die Schule vom Erfolgsdenken geprägt sein, zu ihm hinführen soll, so darf dies in späteren Jahren nicht abbrechen, es müsste sich eigentlich noch dort steigern, wo die sogenannten Hohen Schulen erreicht werden. Von ihnen führt ja unmittelbar der Weg in jenes aktive Bürgerleben hinein, welches die größeren Ordnungen der Gemeinschaft halten soll. Ein Blick auf die Studenten-Welt der Gegenwart stimmt hier nachdenklich, und vielleicht ist dies schon seit langem ein Problem. Bei aller Unruhe, allem jugendlichen Aufschäumen - hat diese Studentengeneration noch irgendeine Beziehung zu dem, was hier als Triumphalität beschrieben wurde, oder auch nur zu einem, einfacher bezeichneten, Erfolgsdenken? Vieles spricht dagegen und wird noch von denjenigen zielstrebig gesteigert, welche Erfolgsdenken und Reichsordnung aus unserer Vorstellungswelt verbannen wollen. Kritisches Denken wird immer mehr zu einem Mittelpunkt studentischen Verhaltens. Früher - und auch heute noch - oft missbrauchte Begeisterung schlägt leicht um in eine geistige Grundstimmung, in welcher herabgesetzt, relativiert und verkleinert wird, weit entfernt vom triumphalen Bewundern. Unjugendlich mag es oft erscheinen, bis hin zu Formen einer geistigen Frühsklerose, denn darin liegt nicht die Suche eines Erfolges, den man selbst noch nicht errungen hat, sondern seine vorweggenommene Ablehnung. Oder will man sich vielleicht, selbst immer kleiner werdend, beruhigen an früherer Kleinheit? Die Zukunftswendung der studentischen Jugend ist so deutlich wie kaum je zuvor. Die vor allem technisch bedingte rasche Änderung äußerer Lebensformen hat ein Grundgefühl an Fortschrittlichkeit erzeugt, in welchem zu oft dem Studierenden von heute alles Vergangene klein und nutzlos erscheinen mag. Dass die Welt, auch und vor allem die politische, mit ihnen erst beginne, das war vielleicht schon immer ein typisches Denken von Studenten. Wie könnte ihnen dann aber eine Stimmung des großen Gelingens aus der Vergangenheit vermittelt werden, muss nicht auf den hohen Schulen auch noch das Organ für Triumphalität verkümmern, welches vielleicht lange Schuljahre haben bewahren können? Gerade in einer Demokratie stellt sich diese Frage, welche bereits ihre kritische Diskussions-Staatsform von jungen Menschen spielen lassen

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will. Verliert sich hier nicht, in Gegenwartsdiskussion und Zukunftserwartung, alles Gespür für das, was schon einmal ganz groß gelungen ist? All diese Vergangenheitsskepsis verbindet sich - und gerade deshalb ist sie auch notwendig - mit dem, was noch immer die hohen Schulen trägt: mit einer Wahrheitssuche, über alle Verschulung hinweg. Wenn nun aber der Triumph - dies zeigt sich schon - noch jenseits der Wahrheit steht, wenn er geradezu verdämmernde Wahrheiten vor allem predigt, wie könnte da der junge Mensch von ihm erfasst werden, ihn in seinem Leben und dem der Gemeinschaft wiederholen wollen, wo er doch nach dem Richtigen sucht, nicht nach dem, was gelingt? Sollte dann wirklich dieses Erfolgsdenken in einer studierenden Jugend auszubreiten sein, in das sich doch so leicht auch Berechnung und Arrivismus einschleichen, ist nicht die erfolgsblinde Wahrheitssuche das Schönere, das allein Jugendliche? In all dem stellen sich Schicksalsfragen künftiger Staatlichkeit. Wenn triumphales Denken an den Hochschulen notwendig aufhören muss, wird es im Staat nicht mehr sein, aus ihm kann kein Reich werden.

b) Die Hochschule und ihr Ideal des Gelingens Die Akten des Erfolges sind an den Hochschulen nicht geschlossen, es ist die große Aufgabe der Lehre, sie offenzuhalten für ein Erfolgsdenken, das hier gerade heute seine Chance hat. Von den triumphalen Kräften der Wissenschaftlichkeit und ihres Gelingens war bereits die Rede, sie gilt es nun, geordnet und überzeugend, zu vermitteln; und dazu gibt es viele Wege - nur einiges hier: - Die Axiomatik des Wissenschaftlichen muss wieder stärker betont werden. Dies mag als ein Paradox erscheinen, wird doch heute nichts mehr gewünscht und gepflegt als ein ständiges In-Frage-Stellen, als jener systematische Zweifel, mit dem in der Tat wissenschaftliches Bemühen steht und fällt. Doch in der Lehre gilt eben auch ein anderes, darin liegt sogar der berechtigte Kern so manchen Verschulungsverlangens, das ja vor allem auch von den Studierenden selbst kommt: Sie bedürfen vor allem der Sicherheit, des Schutzes ihrer noch nicht voll gefestigten geistigen Grundlagen. Nicht einfach in den Zweifel dürfen sie entlassen werden, bis sie sich selbst zurechtfinden - oder untergehen; festen Halt müssen sie finden in dem, was ihnen als Grundlagenwissen vorgestellt wird, zunächst einmal zum Glauben vielleicht, bis sie dann später erkennen und daraufhin auch zweifeln dürfen. - Dies aber verlangt Erfolgsdenken auch beim Lehrenden, er muss ja das bisher Gelungene überzeugt und selbstverständlich herausstellen, damit sich auf ihm dann das weitere Bemühen aufbaue. Doch diese Selbstverständlichkeit darf nicht bedeuten, dass hier etwas vom Himmel Gefallenes vermittelt würde, nur ein menschlicher Erfolg früherer Wahrheitssuche wird auch heute noch von Stu-

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dierenden angenommen werden, als Halt und Ausgangspunkt eigenen Strebens. Wo immer ihnen die Indiskutabilität des Großerfolges begegnet, wird der Wunsch auch in ihnen wachsen, an dem mitzuwirken, was doch das Wichtigste ist: an der Befestigung der Wahrheit bis hin zum Axiom. - Nützlichkeit kann auch im Bereich der Hochschulen nicht immer nur bekämpft, irgendwelchen „Idealen" entgegengesetzt werden. In einer technisierten Welt bedeutet sie den Erfolg einer praktischen Vernunft, nicht selten steigert diese sich hier zu wahrhaft triumphalem Gelingen. Es wird eine der Aufgaben künftiger Hochschullehre sein, den Gegensatz von Nützlichkeit und zweckfreier Wahrheitssuche zu überhöhen; dies aber kann nur geschehen in einem Erfolgsdenken, welches ebenso das „rein geistige" Gelingen feiert wie einen Sieg durch die Vorteile der Anwendung. Immer wieder kommt es ja nur auf die Größenordnung des Gelingens an, nicht auf seinen „Reinheitsgrad", in dessen Fragestellung sich ohnehin nicht selten pseudo-moralische Verengungen einschleichen. Und wenn nun heute die praktische Nützlichkeit das große Erfolgszeichen wäre - warum sollte dann nicht auch sie gesucht werden, zum Nutzen einer größeren, auch politischen Ordnung? - Die Zukunftswendung einer Wahrheit suchenden Jugend schließt Triumphalismus keineswegs aus, im Gegenteil: Ihr muss nun der Triumph bewusst werden als ein fernes Ziel, als das Unerfüllte, vielleicht Unerfüllbare, als etwas, das von früheren Generationen ihrem Denken heute aufgegeben bleibt. Gerade wenn das Große früher nicht gelang, deshalb könnte es heute gelingen, die Anstrengungen der Vergangenheit haben immerhin die Dimension oft schon gezeigt. - Und Wahrheitssuche kann ja auch in einem anderen Sinn noch bei früherem Misslingen ansetzen: Wenn die akademische Jugend zu einer „Archäologie im weitesten Sinne" angespornt, wenn ihr die Aufgabe gestellt wird, wiederzuentdecken, was vielleicht in früherer Größe verschüttet ist. Für die gesamten Geisteswissenschaften ist dies eine wahrhaft triumphale Aufgabe, die als solche den Studierenden bewusst gemacht werden muss, und auch im Bereich der Naturwissenschaften mag es viele Fragestellungen geben, die wiederentdeckt, neu aufgenommen werden müssen. Entscheidend ist ja nur, dass diese Jugend glaubt, es seien ihre Triumphe, auch wenn sie schon oft früher gefeiert wurden... - Das Grenzüberschreitende, welches sich die Universitäten hoffentlich werden bewahren können, findet seinen tieferen Grund in jener Jugend-Internationalität, welche noch weit mehr ist als nur ein Ausdruck der Wahrheitssuche, in der sich vielmehr die Grenzenlosigkeit jugendlicher Dynamik zeigt. Auch hier wieder ist ein Hochschulunterricht aus einer nun wirklich triumphalistischen Grundstimmung heraus gefordert: Es muss diesen jungen Bürgern bewusst gemacht werden, dass ein Reich, welches sie in Erfolgsstimmung schaffen wollen, weit über ihre Nationalstaatlichkeit hinausreicht. Darin liegt die große Dimension einerseits, zum anderen die Erfolgshoffnung einer grenzüberschreitenden Dynamik, der Triumph kennt keine Grenzen.

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- Triumphalismus wird bei der studentischen Jugend stets eine Chance haben, ob dieses Wort nun geliebt oder ein anderes gebraucht wird: Die Fähigkeit zu jener Begeisterung, welche dem Triumph am nächsten steht, vor ihm kommt, ist nirgends größer als in den Hörsälen. Keine Kritik wird dies ändern, in ihr erscheint nur zu oft die Begeisterung lediglich im negativen Gewand der Enttäuschung. Begeistert werden kann auch heute die Studentenschaft für alles, was eine gewisse größere Dimension erreicht, und dabei mag es dann gleich bleiben, ob dies Leistung allein, oder auch Gnade des Gelingens ist. Darin ist diese Jugend dem Triumphalismus ganz nahe, dass sie all dies zusammenklingen lässt in ihrer Begeisterung für den Erfolg, im vollen, auch geistigen Sinn; oder „zum Erfolg" denn auch darin wird hier ja ganz triumphal gedacht, dass es letztlich gleichgültig ist, ob das Gelingen schon stattgefunden hat oder gerade eintritt, eben im größeren Erfolgsdenken. Studenten brechen immer als erste auf, zu Triumphen der Freiheit, so wie ein Schweizer Maler sie verewigt hat in ihrer Aula von Jena - auf dem Weg zum Befreiungs-Sieg von Leipzig.

c) „ Wieder Ideale " - wieder triumphales Denken Nichts wird heute mehr beklagt als das „Fehlen der Ideale", gerade bei der studentischen Jugend, welche sie dann ja auch den anderen Bürgern vermitteln sollte. Dies sind Worte der Vergangenheit, doch sie treffen einen Kern von Problemen der heutigen Hochschulen wie der Staatlichkeit überhaupt. Es geht nicht darum, Unerreichbarkeiten zu suchen, für Unwirkliches sich zu begeistern - weil dazu eine Jugend nur zu oft missbraucht worden ist, mag sie sich von all dem abwenden, was Ältere „Ideale" nennen. Was aber bleibt und gerade heute zur großen Aufgabe wird, das ist die Vermittlung „fassbarer Ideale", „greifbarer Fernziele". Was schon einmal gelungen ist, das kann wieder erreicht werden, es verliert sich nicht in Fernen, die immer nur Streben verlangen. Die Faszination der letzten Erfolglosigkeit, des reinen Strebens, mag der Triumphalität fehlen, so wie sie hier gezeigt wurde, doch sie ersetzt dies leicht durch die großen Dimensionen ihres Gelingens, die immer noch unwirklich genug sind, um jugendliche Phantasie anzuregen. So ist denn der Triumph ein zugleich pragmatisches und höchst geistiges Ideal, er ist mehr als ein Ziel: eine ganz große Aufgabe, und das benötigt heute die Jugend, nicht ferne, blasse Ideale. An den Hochschulen wird das geistige Niveau erreicht, auf dem Triumphalität in all ihren Formen gelehrt und erfasst werden kann. Wenn es gelingt, dort Wissenschaftstriumph zu vermitteln und darüber hinaus noch breitere, geistige und praktische Triumphalität bewusst werden zu lassen, so wird dort wieder auch an ein Reich gedacht, dessen Lehre doch einst diese hohen Schulen vor allem dienen sollten - und darüber hinaus an das Reich des Geistes.

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6. Erfolgsdenken - Zentrum politischer Bildung Politische Bildung im weitesten Sinn ist eines der Grundanliegen der Demokratie, mit seiner Erfüllung wird sie letztlich stehen und fallen. Die bisherigen Betrachtungen zum Triumphalismus haben gezeigt: Erfolgsdenken gehört in das Zentrum der politischen Bildung, bis hin zu dem, was man „politische Bildung als Ausweitung von Triumphen" nennen könnte. Gerade jener Bereich, der heute geradezu antitriumphalistisch sich entwickelt, ist aufgerufen, und vielleicht schon auf dem Wege dazu, sich dem Erfolgsdenken in neuen Formen zu öffnen. Politische Bildung ist für die parlamentarische Demokratie eine Lebensnotwendigkeit, ihre komplizierte Staatlichkeit muss ständig gerechtfertigt werden, ihre scheinbar voraussetzungslose Wahrhaftigkeit bedarf der laufenden Begründung, ihr traditioneller Rationalismus drängt in Schule und Wissensvermittlung. Doch gerade dort beginnen die demokratischen Probleme: Politische Bildung droht in eine Faktendarstellung abzugleiten, in ihr zu veröden, nur damit nicht parteipolitische Einseitigkeiten gepredigt werden. Dafür kommt es zur ständigen Verkündung von „Diskussionswahrheiten", zu laufenden politischen Meinungsangeboten; in all dem mag viel Information sein, Bildung ist da nicht genug. Schließlich droht eine solche Bildungsanstrengung abzugleiten in völligen Formalismus, „politische Bildung als Rednerschule" - das muss es wohl in der Demokratie geben, doch allein kann es nicht genügen, heute so wenig wie zur Zeit der griechischen Sophisten. Der Zusammenklang von wertungsfreier Polit-Information und formaler Polit-Rhetorik allein „bildet" noch niemanden, das eigentliche Bildungserlebnis wird umgangen - oder den zu Bildenden selbst überlassen, in jenem erstaunlichen demokratischen Optimismus, der hier aber zu kurz denkt. Wenn eine größere, dauernde Ordnung entstehen soll, mag man sie nun Reich nennen oder nicht, ist die politische Bildung zu weit mehr herausgefordert als zu Tatsachenvermittlungen und geistigen Übungen. Derartige imperiale Ordnungen sind Verkörperungen einer geistigen Idee, sie ist lehrbar und dringt in die politische Bildung: diese kann sich nicht nur daraus anreichern, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt „besonders viel zu diskutieren gibt", ihre eigentliche Legitimation gewinnt sie aus der zu erklärenden, zu erfassenden größeren Ordnungsidee. Eine wie immer geartete weitere Ordnung der Imperialität muss Vielfalt zur Einheit führen, daher ist sie notwendigerweise höchst komplex. Sie bedarf, noch mehr als schon die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie, der Ausdeutung und Vertiefung in politischer Bildung. Dauernde Ordnung schließlich kann ihre Kontinuität nur in der Weitergabe des Erreichten und der Aufgaben bewähren wiederum öffnet sich ein weites Feld politischer Bildung im weitesten Sinn. Große Ordnungen mögen vieles zusammenfassen, doch sie stehen stets in der Gefahr, gerade deshalb zu verdämmern, in Unwissenheit und Langeweile ihrer Bürger, wenn sie nicht auf zahlreichen Ebenen, ständig dynamisiert, ihre höhere Nützlichkeit beweisen können. Soll eine politische Bildung dem gerecht werden

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und doch den Formalismus einer Diskussionsnachzeichnung überwinden, so wird sie sich stets in besonderer Weise am Erfolgsdenken zu orientieren haben, sie kann und muss Triumphalismus lehrbar gestalten. Die Konsenssuche steht am Anfang solcher Bildungsanstrengungen in der Demokratie. Nur was sich über parteiliche Grenzen erhebt, integrativ auf alle Bürger wirkt, darf „politisch" werden. Für die großen Triumphe trifft dies zu, im nationalen Sinne wie im übernational-geistigen, für das vor allem, was man „geistige Siege der Demokratie" nennen kann und ihrer Freiheit. Die Darstellung des großen Gelingens und der Lehren, welche aus ihm zu ziehen sind, geht auch über reine Faktizität hinaus. Hier kommt es zu Wertungen, den Bürgern wird „etwas Gemeinsames zum Glauben vorgestellt", dessen Wahrheiten zwar sicher stets in Diskussion bleiben werden - aber doch zunächst den entscheidenden Konsensgegenstand bilden. Wenn politische Bildung in der Demokratie überhaupt möglich ist, so in dieser Verbindung von politischer Nützlichkeit und politischer Dogmatik, historischer Tatsächlichkeit und reichsschaffender Ordnungskraft. Hier hat auch die politische Wissenschaft, wie immer man sie verstehen mag, ihren Platz, gerade wenn sie in der Verbindung mehrerer Disziplinen politische Erscheinungen zu erfassen versucht. Gefordert sind ja zugleich Geschichte und juristische Dogmatik, Soziologie und philosophische Vertiefung, der Triumphalismus kann nur in der Kombination all dieser Methoden fassbar, lehrbar werden, aus einer Tatsächlichkeit in politische Wirkmächtigkeit übergehen. Die Wissenschaft von der Politik findet in der Triumphalität schließlich auch gewisse - zugegebenermaßen stets im Letzten diskutable - Axiome ihrer Bemühungen, welche ihr sonst fehlen oder ein Wissenschaftsproblem für sie darstellen. Und in der Tat sind es ja heute schon die Großerfolge - und Misserfolge - der Vergangenheit und ihre Lehren für die Gegenwart, welche das axiomatische Geflecht der Politikwissenschaft darstellen, ihren Lehrgegenstand; die Versuche, Vergangenheit zu bewältigen, zeigen es deutlich. So wird denn politische Bildung, gerade in der Demokratie, auch und vor allem Lehre der Triumphalität sein - oder von geringer Bedeutung; in ihr gerade kann alles zusammenfließen, was sich mit Triumph beschäftigt und mit dem Reich.

7. Bildungseinheit aus Erfolgsdenken Wenn es je eine gewisse „Einheit der Bildung" gegeben hat, heute ist sie weithin aufgelöst, und bald wird als großes Problem bewusst werden, dass es gilt, eine neue Bildungseinheit zu schaffen, in welcher Form immer. Und diese Einheit wird stets - im weiteren Sinne des Wortes - eine politische sein, aus einer politischen Entscheidung erwachsen.

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Ideologie ist hier rasch zur Hand, sie stellt die Einheit der Bildung um ihre „Wahrheiten" her. Wer dem aber nicht folgen will, dem bleibt immerhin ein Weg: im Erfolgsdenken aus dem Gelingen der Vergangenheit zu lernen, aus ihm die Einheit der Bildung zu entfalten. Im Namen früherer Großerfolge kann die Bürgerschaft einig sein, wer solche Triumphalität lehrt, mag dies überall versuchen, selbst wenn nur eine Minimaleinheit der Lehrinhalte erreicht werden kann. Immerhin wird dann weit mehr geboten als Formalismus, und auch nicht nur eine Lehre systematischer Aufsässigkeit eher schon das gerade Gegenteil jener „Schule zur Anarchie", als welche heute so viele die politische und jede andere Bildung missverstehen. Sicher wird es nötig sein, in der Zukunft wesentliche Akzentveränderungen vorzunehmen, soll das Erfolgsdenken die Bildungseinheit bestimmen. Bestärkt, ja neu entwickelt muss wieder werden die Kategorie einer Bewunderung, welche über den nicht immer schöpferischen Neid hinwegschreitet, und Bewunderungsbedürfnisse sind überall festzustellen, gerade in dieser Welt ständiger Kritik. Zu überwinden gilt es eben auch die Auswüchse jenes Kritizismus, in dem viel geschaffen, aus dem aber auch viel selbstquälerische Zerstörung gekommen ist. Die geistige Freude muss im ganzen Bildungsbereich wiederentdeckt und ihre Ramme weitergegeben werden, in der Erkenntnis und Bewunderung früherer Großerfolge, in den Versuchen, sie zu wiederholen und zu vergrößern, oder doch das zu halten, was aus ihnen geworden ist - etwas vom Reich. Dann wird wieder bewusst werden, dass Lernen bedeutet geistige Triumphe nachzuvollziehen, darauf das gegenwärtige Leben zu gründen, wo immer ein Bürger steht. Vielleicht wird hier der Weg führen vom voraussetzungsfreien Fragen des Platonismus zur erfolgschaffenden Bewunderungskraft der einfacheren Römer. Sie haben, in ihrer stoischen Virtus-Philosophie, die Weiten des griechischen Denkens verengt, doch diese ihre triumphgeprägte Bildungseinheit ist für viele Jahrhunderte weitergegeben worden und erhalten geblieben, wohl gerade deshalb, weil sie nicht nur auf Denken beruhte, sondern auch und vor allem auf Erfolgen. Und übrigens: In einem Land, wo vielleicht „nicht mehr zu triumphieren ist", wie in Deutschland, oder gar in Europa, kann in der Einheit dieser erfolgsgeprägten Bildung immer noch etwas Größeres gelingen, über alle politischen Niederlagen hinweg, nicht, weil es einen Triumph von Schule und Bildung als solchen gäbe, sondern weil hier schon einmal war, und daher wieder sein kann, ein größeres Imperium: das Reich des Geistes.

E. Der Bürgertriumph Ι . Reichsvielfalt aus Bürgertriumph staatsgefördert, nicht staatsbefohlen Triumphalismus ist dann tot, und mit ihm das Reich, wenn die Bürger nicht mehr wissen, in ihrem eigenen Leben nicht mehr erfahren, was ein Triumph bedeutet, wenn sie dies nicht mehr mit dem ihrer Gemeinschaft in Verbindung bringen können. Offizielle Siegesfeiern werden leicht belächelt; wenn sie nicht ganz großen Ereignissen gelten, verliert sich hier das Erfolgsethos nur zu rasch im hohlen Pathos der befohlenen Freude. In dem Maße ist ja der Triumphalismus aus der Welt verschwunden, in welchem der Staat stärker, seine Bürger in atomisierender Gleichheit kleiner geworden sind. Nur die Gemeinschaft besitzt, so scheint es, noch jene Größe, welche wahre Triumphstimmung aufkommen lässt; der Bürger wird immer mehr Zaungast, allenfalls noch zum Akteur hochoffizieller Triumphspiele - totalitäre Beispiele belegen es. Deshalb stehen dann auch staatliche Mammutfeiern so nahe bei gänzlich untriumphalistischem Eudämonismus, weil der Bürger den Triumph resignierend seinem Staate überlässt, sich selbst in sein Häuschen zurückzieht, wenn es ihm noch gehört. Antitriumphalistische Radikaldemokratie nimmt solches eifrig auf, sie wird nicht müde, die bürgerlosen Staatsfeiern mit ihrer Ironie zu verfolgen, und dies im Namen des „kleinen Mannes", der seine gänzlich untriumphale Existenz staatsfern vor sich hinlebt, wenn er nicht in Formen einer „Negativ-Triumphalität" ausbricht, wie etwa in anarchischen Bewegungen. Und doch wird hier Demokratie nicht von ihrer Freudlosigkeit geheilt, ihre gefährliche Krankheit - der fehlende Höhepunkt - wird schlimmer. Wer mit der Volkssouveränität ernst machen will, darf nicht nur eine unfassbare Abstraktion, die Gemeinschaft, in die höchsten Rechte setzen, Bürgersouveränität muss entstehen; denn noch immer haben sich „Nation" und „Volk" rasch in ihre „natürlichen Teile" aufgelöst. Dann aber muss der Bürger zum Souverän werden, er muss, als einzelner und in seinen kleineren Gemeinschaften, Triumphe erleben dürfen. Dem ganz großen Feldherrn ist es gegeben, jeden seiner Grenadiere auf dem Schlachtfeld triumphieren zu lassen, als sei er selbst der Kaiser, dies war das Napoleonische Geheimnis. Die Demokratie muss auch hier vom Militärstaat lernen: Optimismus bis hin zur Sieghaftigkeit muss sie jedem einzelnen ihrer Bürger erlauben, auch wenn es ihrem nur all zu oft säuerlichen Kritizismus nicht leicht fällt. Der Bürger-

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Souverän darf nicht nur selbstbewusster werden, er muss in seiner Existenz, wie klein sie auch sei, Erfolge erleben, das reproduzieren, was in seinem Staat größer abläuft. Die legendäre Kraft der Triumphalität hat ihre Grenzen: Vom großen Gelingen mag erzählt, doch es muss auch geglaubt werden, und dies bedeutet, dass immer wieder etwas wie ein kleines politisches Wunder in das einzelne Leben komme, oder doch auch dort möglich sei. Ein „Staat des Reiches" darf aber nicht versuchen, dies alles zu schaffen, zu regeln. Der befohlene Bürgererfolg, das staatsgeschaffene kleine Lebenswunder für die Vielen - dies alles mag heute unausgesprochenes Fernziel so vieler demokratischer Regierender sein, welche darin die höchste Erfüllung des demokratischen Wunschtraums vom größten Glück der größten Zahl zu sehen glauben. Dafür setzen sie dann die ganze Macht hochtechnisierter Staatlichkeit ein, damit der staatsgeschaffene Genuss zum staatsgeschaffenen Triumph sich steigere - und der Bürger soll dieses sein kleineres Lebens-Gelingen dann auch sogleich unmittelbar als Form einer Staatstriumphalität erleben. Doch damit kann die Staatlichkeit nicht neue Kraft gewinnen, „von unten", aus der Basis ihrer Bürger verstärkt sie sich so nur in ihrer eigenen Befehlskraft, die darin sogleich überdehnt wird, dass es dem Staat nicht mehr genügt, eigene Siege zu erringen und zu feiern, dass er sie vielmehr in jedem der unzähligen Leben seiner Bürger hervorbringen möchte; und nur zu oft glaubt er, dadurch vom eigenen Misslingen ablenken zu können, oder doch einen größeren Triumph allzu rasch in der kleinen Münze des Bürgertriumphs auszahlen zu dürfen. All dies sind demokratische Verirrungen, Abfall von der Imperialität, deren gerade die Volksherrschaft fähig sein kann. Ein Bürger-Reich muss sich auf den privaten Existenzen seines Souveräns aufbauen, aus ihnen eine öffentliche Kraft ziehen, welche der Staat nicht in sie gelegt, welche er ihnen nicht schon vorher zugeteilt hat. Denn sonst in der Tat träfe die Kritik vernichtend zu von der „öffentlichen Armut aus privatem Wohlstand". Staatlichkeit, die sich in großem Gelingen entfaltet, darf daher weder Triumphkräfte unter die Bürger verteilen noch ihnen überall nur alles „gestatten". Wie unselig der Gestattungsstaat ist - fast ebenso wie der Verteilungsstaat - zeigt sich gerade aus der Sicht der Triumphalität: Einen gestatteten Bürgertriumph kann es eben nicht geben. Die Staatlichkeit darf dies alles nur fördern, die Erfolgsergebnisse sodann aufnehmen, auf die höhere Ebene ihrer Erfolge transformieren. So muss denn die Staatsgewalt einen dritten Weg finden zwischen der reinen Duldung eines privaten Verhaltens, das dann wohl nie zum Bürger-Triumph emporwachsen könnte, und einem Alles-Gestalten-Wollen, welches öffentliche Kraft überfordert, wo Bürgerkraft gefordert ist. Fördernde Staatlichkeit ist hier ein gutes Wort, bis hin zu Erfolg und Reich im Kleinen, weil private Leistung, privates Gelingen aufgenommen und zu privater Triumphalität gesteigert wird; und die Herrschenden in der Demokratie sollten nicht fürchten, dass ihnen daraus nicht Triumphalität mit Zins und Zinseszinsen zurückkommt in ihre größer werdende

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Staatlichkeit - viele Formen öffentlicher Leistungsförderung für Stärkere, nicht Schwächere, nach dem Zweiten Weltkrieg haben es in Deutschland sinnfällig bewiesen. Gefördert werden aber darf eben nicht - aus der Sicht der Triumphalität ist dies ganz eindeutig - der Bürgergenuss, um den Bürgererfolg geht es, nur er kann ja dann auch zur Staatstriumphalität emporwachsen, Staats-Genuss aus Bürgergenuss wäre das Ende der Gemeinschaft.

II. Das Leistungsprinzip Ausdruck egalitärer Triumphalität 1. Verdiente Selbstdurchsetzung, nicht Prüfungsstaat Die Volksherrschaft steht voll und ganz unter dem Leistungsprinzip, nur in ihm kann sie die Gleichheit praktisch halten und grundsätzlich legitimieren. Leistung ist Beurteilungs- und Zuteilungsgrundlage für alles, was der Staat gibt, und sie sollte es auch für alles sein, was Bürger sich untereinander gewähren - dies wäre eine große und glückhafte Demokratisierung. Vor allem aber setzt die Leistung den Ausgangspunkt jener Staatsförderung, über welche allein heute der Bürger Größeres in seinem Leben erreicht. Doch es wäre eine Verengung des Leistungsgedankens, wollte man in ihm nur einen Beurteilungsmaßstab, ein Zuteilungsmaß aus der Sicht des Staates sehen. Durch die Leistung wird viel mehr geschaffen: ein Triumphraum für den Bürger. In der Demokratie kann er ja nur unter Berufung auf dieses Wort sich und seinen Mitbürgern sagen, was Triumphalität bedeutet: dass er dies oder jenes verdient erreicht habe und sich nun mehr, noch mehr leisten könne; in diesem Sich-LeistenDürfen aus Leistung liegt, in ein und demselben Wort, der Übergang vom Erfolg in dessen Feier, die ja in der Triumphalität untrennbar verbunden sind. So wird denn der Leistungsgrundsatz, wo die Verfassung ihn ausdrücklich verankert, wie im öffentlichen Dienst, mit Recht nicht nur als ein Prinzip der Staatsorganisation verstanden, sondern zugleich als ein wichtiger Freiheitsraum des Bürgers: Hier soll er seine eigenen Triumphe feiern dürfen, gegründet zuallererst auf persönliches Verdienst, aber auch mit etwas darin, was eben jedem Triumph eigen ist - Gnade des Gelingens, in Prüfungen, Arbeits-, Markterfolgen und überall. Eine totale Moralisierung des Leistungsbegriffs müsste in die Traurigkeit des Prüfungsstaates münden, wiederum wären da nur Zuteilungsmaßstäbe, nicht Freiräume für Erreichen und Genuss vielfacher Bürgertriumphe. Leistungsprinzip als Weg zum Bürgertriumph - dies bedeutet also, dass auch Beurteilungen und Prüfungen jene Schranken finden, welche heute immer mehr gefühlt werden. Denn entweder man stößt so rasch an die Grenze menschlichen Beurteilungsvermögens, oder es wird gerade in der Prüfungspraxis immer weiter ent-triumphalisiert - überall gleiche

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Prüfungsergebnisse führen zu einer Nivellierung der Leistung, welche auch dort wiederum nur Gleichheit durchsetzt, nicht Räume des Bürgertriumphes schafft. Der Prüfungsstaat ist also kein Leistungsstaat, weil er notwendig auf Dauer das große Gelingen aus dem Bürgerleben vertreibt, weil er den Erfolg zum beurteilten Ereignis degradiert, damit aber im Letzten nur „fremdbestimmten Triumph" dem Bürger gestatten will, wo doch dessen eigentlicher persönlicher Sieg von ihm errungen werden muss, in einer „Selbstdurchsetzung von unten". Dort herrscht ein Gefühl für Bürgertriumphalität, wo die Staatlichkeit zwar in Prüfungen, in ihrer Beurteilungspraxis Elemente der Triumphalität aus dem Leistungsprinzip heraus schafft und in Strenge erhält, wo sie aber dann die Tore weit öffnet dem größeren „privaten Erfolg", den sie im Letzten weder schaffen kann noch beurteilen darf. „Selbstdurchsetzung" ist das Kennwort dieses Leistungsgedankens, welcher darin den Anschluss an die große Freiheit der Demokratie wiedergewinnt, den Staat hier im Namen eigener Erfolge immer wieder auch zurückdrängen, nicht nur von ihm günstig beurteilt werden will. Darin liegt die tiefe liberale Weisheit einer Grundrechtlichkeit, welche eben zuallererst - und vielleicht auch im Letzten wieder - nicht in Teilhabe an der Staatsgewalt sich auflösen möchte, sondern dieser den eigenen Klein-Triumph entgegensetzen, sie damit zurückdrängen will; und schließlich wächst gerade damit der originäre BürgerSieg, der eben kein abgeleiteter Staatserfolg ist, in die höhere öffentliche Triumphalität hinein, weil der Bürger ein Gefühl entwickelt für die stets originären Kräfte einer Triumphalität, die aus eigener Leistung erwächst. Der „unterstützte Bürger" - das ist nicht nur eine Schwächung der Demokratie, es bedeutet das Ende der Staatlichkeit, kann sich diese doch nur aufbauen aus triumphalen Kräften des kleineren Bürgerlebens, und wer von ihr die Riesenkräfte der dauernden totalen Hilfe und Verteilung verlangt, darf sie nicht von diesen Kraftquellen trennen.

2. Triumphieren im Arbeitsieben Neue Formen müssen sicher gefunden werden, um den Bürgertriumph überall möglich zu machen, damit die Bürger-Souveränität Wirklichkeit werde. Die Gefahr des Liberalismus war und ist es ja, dass sie diese Triumphalität in erster Linie dem Unternehmer gewährt, dem freiberuflich Tätigen, der gestalten, verlieren, aber auch groß gewinnen kann. Triumphalismus ist verlorengegangen dadurch, dass im Beamtenleben das große Gelingen kaum mehr fühlbar wurde, dass vor allem aber die Arbeitnehmerschaft der privaten und öffentlichen Wirtschaft nicht hinreichend zu triumphieren vermag - es sei denn in zerstörerischen Kämpfen mit anderen Gruppen, nicht aus eigener Leistung heraus. Solange es nicht gelingt, auch dort das persönliche Gelingen wie die Feier zu gestalten, wird weder Demokratie noch Reich Wirklichkeit sein. In der Konsumdemokratie konnte dies zeitweise über-

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spielt werden, weil Bürgererfolge sozusagen „aus dem Berufsleben heraus verlegt" wurden in die private Genusssphäre, weil der Bürger wenigstens im eigenen Heim den kleinen Triumph erleben durfte - und wer hat ihn nicht gefühlt? Am Arbeitsplatz blieb ihm dann nur der labor improbus, doch dass dieser „alles besiegt", das durfte er wenigstens in dem erfahren, was er sich privat leisten konnte, und darin lag doch etwas wie Bürgertriumph. Arbeitsordnender Staatlichkeit ist eine große Aufgabe gestellt, die sie bisher wohl noch nicht einmal in den Umrissen erfasst hat, gibt es doch kaum etwas weniger Triumphalistisches als Arbeitsverwaltung: Hier darf aber nicht immer nur gesichelt werden und verteilt; Erfolgsräume gilt es zu erweitern und neu zu eröffnen, in einem doppelten Sinn: zu allererst auf individueller Ebene, denn der Bürgertriumph kann nicht nur gesellschaftlich-kollektiv gefeiert werden. Der Freiheits- und Gestaltungsraum des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz muss erweitert werden, und nicht allein in einer „Humanisierung" der Arbeitswelt, in welcher schon wieder vor allem nur müdes Sicherungsdenken, nur zu oft weniger Arbeit, weniger Leistung mitgedacht sind. Human ist auch und vor allem etwas ganz anderes: das Recht zu mehr Verantwortung, weil zu mehr Leistung, nicht nur ein Recht auf mehr Genuss, sondern auf größeres Gelingen. Im Mittelpunkt solcher Reformen muss dann etwa die Stärkung der Rechte auf Arbeitnehmererfindungen stehen, ihre Integration in den Betrieb, aus dem sie herausgewachsen sind. Dort feiert ja der Arbeitnehmer-Erfinder wahre kleine und oft auch recht große Triumphe, darin wird er zum Arbeits-Unternehmer. Überhaupt muss alles gefördert werden, was am Arbeitsplatz den Sinn für das persönliche Gelingen verstärkt, dann erst erreicht der Bürgertriumph die erforderliche Breite. Kollektive Triumphe sind in der Gewerkschaftlichkeit Realität geworden, man wird diese Formen eines gemeinsamen größeren Gelingens nicht mehr aus der Arbeitswelt verbannen können, irgendwie hat es sie auch immer gegeben, wo gemeinsame Interessen verfolgt wurden. Dass diese Erfolge einmal gegen andere Bürger errungen werden, nimmt ihnen nichts von ihrer Sieghaftigkeit. Aufgabe des Staates ist es, diese Konflikte für die Gemeinschaft positiv zu wenden, an den Grenzen streng zu wachen, wo etwas wie ein sozialer Bürgerkrieg beginnen könnte. Alles andere dagegen sollte geordnet und auch für eine größere Staatlichkeit in Pflicht genommen werden: als Ausdruck eines Selbstbewusstseins, mit dem sich der Bürger in eigener gesellschaftlicher Kraft durchsetzt, in einer Siegesstimmung, welche interne soziale Triumphe feiert. Doch dem Staat ist hier eine viel größere Verantwortung gegeben, als es heute bewusst ist, er kann nicht all diese Auseinandersetzungen aus seiner Verantwortung bequem entlassen, sonst degeneriert möglicher Bürgertriumph zur Bürger-Anarchie. Schlichtungsformen wird man entwickeln müssen, vor allem aber ein Bewusstsein, das heute noch fehlt: dass die soziale Auseinandersetzung ja nicht immer nur in müder Kompromisshaftigkeit enden kann, dass hier vielmehr auch der Sieg etwas bedeutet und die Niederlage, dass am Ende nicht die Frustration beider Teile stehen darf, sonst ist umsonst gekämpft worden, dass es vielmehr zuzeiten auch den klaren Sieg geben muss, als

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Chance zur Bürger-Triumphalität. Der immer wieder „enttäuschte" Arbeitgeber, der Arbeitnehmer, welcher klagen gelernt hat - das sind keine Figuren, aus denen sich größere Gemeinschaften aufbauen könnten. Und ist nicht schon das Bewusstsein verbreitet, dass in diese Arbeitswelt mit ihren vielfachen Abwägungen und Verteilungen wieder mehr von jener Leistung zurückkommen muss, in deren Namen dann auch einmal gesiegt und verloren werden darf? Wenn die Wellen eines politischen Pazifismus sich gelegt haben, wird auch im Arbeitsleben die Einsicht wachsen, dass es keinen wichtigen Bereich der Gemeinschaft geben kann, in dem Sieghaftigkeit aus Leistung heraus nicht ihren Platz hätte.

3. Alter - Erfolg eines Lebens Bürger-Triumph ist stets noch etwas mehr als Verdienst und Leistung, in ihm liegt auch das Glück der Stunde, die Gnade des Sieges. Damit die Menschen dafür ein Organ in der Gemeinschaft entwickeln, dürfen nicht Verdienste immer nur rasch addiert und sogleich abgegolten werden, es muss auch etwas geben wie Lebens-Triumphe für den Bürger, so wie ja heute auch ein Arbeitsleben als erfüllte Einheit gesehen, versichert, entlohnt wird. Die Menschen leben nicht nur im Akkord, und seien es auch nur Zeit-Akkorde, ein Reich hat keine Tagelöhner. „Den Lebenstriumph" muss es dèm Bürger lassen und ihn noch fördern. Nur darin wird ja in den vielen kleinen Leben jene Kontinuität erreicht, welche in die private Existenz größere Ordnungen bringt, im Grunde von jedem angestrebt wird, weil er darin sein „eigenes kleines Reich" sich schaffen will - welch ein symbolträchtiges, schönes Wort! Diese Lebenstriumphalität verlangt auch, und dies in politischer Entscheidung, eine ganz andere Grundeinstellung zum Alter. Die späteren Jahre müssen gekrönt werden, nicht nur die ersten, die sich in der Schönheit der Jugend selbst schmücken. Darin liegt nicht nur etwas von einer ausgleichenden Lebens-Gerechtigkeit, es ist eine Notwendigkeit aus der Sicht des Bürger-Triumphs. Er kann ja nicht nur in jungen Jahren gefeiert werden, damit dann ein ganzes Leben auf der Strecke bleibe, von anderen, noch Rascheren, Jüngeren überholt werde. Alter - das bedeutet kein Recht auf Asyle, Wärmestuben, sichernde Sozialschalter. Alter gibt dem Bürger ein Recht auf die Krönung eines Lebenstriumphs, wie klein er auch sein möge. So wie das „Alte Reich" etwas Unsagbares von säkularer Geschichtstriumphalität in sich trug, so muss die Sieghaftigkeit einer Lebenskontinuität sich im Erfolg des Alters bewähren. Jugendüberschätzung bis hin zur Jugend-Demagogie macht nicht nur diese jungen Bürger vorzeitig unglücklich, mit all dem wird Staatlichkeit aufs Spiel gesetzt, der Bürgertriumph, der sie zum Reich erheben könnte. Oft wurde auf diesen Blättern das Bild vom Hinaufwachsen gebraucht, und hier gewinnt es erst recht einen Sinn: In einem erfolgreichen Altern muss das Bürgerleben hinaufwachsen zu einer Krönung durch Leistungstriumphalität. Darin aber 18 Leisner

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darf auch nicht immer nur tagtägliches Verdienst sein, das lebenslang sich summiert, etwas wie eine Triumphprämie für das sich erfüllende Bürgerleben steht einer großen Staatlichkeit wohl an. Mehrwert des Alters - vielleicht gibt es auch dies, und es ist ebenfalls ein politisches Wort.

4. Jugendtriumph - ein Omen Doch auch die Jugend hat ihre Prämien-Rechte, ihren eigenen Anspruch auf vorgezogene Triumphalität. Er verwirklicht sich in den Erfolgen der ersten Stunde, in jenen großen Prüfungen zumal, welche so oft Vorschußlorbeeren für ein ganzes Leben bedeuten, vom Meisterdiplom bis hin zu den legendären juristischen Einsern. Hier gibt die Gemeinschaft ganz bewusst Vorschußlorbeeren, in der Hoffnung, dass sie nicht welken; wenn in Triumphalität auch immer viel an Hoffnung ist, etwas von einem Großereignis, das sich fortsetzt, so ist auch diese Seite damit ins Bürgerleben getragen, zu Bürgertriumph aus Leistung gesteigert worden - Sicherheit künftiger Leistungserfolge aus gegenwärtiger Groß-Leistung. Hier muss ein Lob beginnen für jene elitäre Bildung und Erziehung, der heute nur die Steine geschichtsloser Unwissenheit nachgeworfen werden. Das demokratische Frankreich der Revolution hat gezeigt, wie wahre Imperialität gebaut werden kann auf jene großen Schulen, welche den frühen Jugendtriumph mit bewussten Vorschußlorbeeren krönen. Größer noch als Austerlitz und Wagram ist die Napoleonische Tat dieses Elitarismus, nicht nur, weil die französischen Artillerieoffiziere der Ecole Polytechnique den Ersten Weltkrieg für ihr Land mitentschieden haben, weil dieses Elite-Denken der Grande Nation eine Grande Diplomatie gegeben hat, sondern weil in all jenen, welche das Land führen durften, Bürgertriumphalität am Anfang ihres Lebens stand - der große Erfolg aus der großen Schule. Das hat Napoleon auch gewollt, dass jeder führende Franzose hier seine AusterlitzStunde erleben solle, aus eigenem Verdienst und aus der Gnade der Prüfung. Soviel Imperialität wird in demokratischer Staatlichkeit immer sein, wie es gelingt, Bürger etwas wie große Schulen durchlaufen zu lassen, damit sie dort Bürger-Triumphe erleben.

ΠΙ. Familie - der fortgesetzte Bürger-Triumph 1. Die Geschichtswerdung des Bürger-Erfolgs Triumphalismus hat immer und überall vor allem eine geschichtliche Dimension: nicht die Krönung des Ereignisses allein ist wichtig, entscheidend bleibt das Weiterglänzen der Krone, all die glückhaften Lehren und Folgerungen, welche spätere Zeit aus früheren Siegen gewinnen kann.

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Im Bürgerleben ist es nicht anders, sein Leistungstriumph erreicht in der Familie historische und damit erst in vollem Sinne bürger-triumphale Dimension. Was auch immer dem Bürger gelingt - es ist doch letztlich nicht nur sein Erfolg, für ihn gewonnen; „seiner Familie bringt er es nach Hause", und dies gilt erst recht dann, wenn Familien und Häuser ebenso kleiner werden wie der Bürger selbst. Dort beginnt dann die eigentliche Bedeutung des kleinen Bürgertriumphs zu wirken: Das Erreichte wird gemeinsam genossen, angeschafft wird für die Familie, was noch später an gute Zeiten oder ein einmaliges Gelingen erinnert, in Kindern und Verwandten setzt sich der Erfolg eines Bürgerlebens bruchlos fort, in Beziehungen und Möglichkeiten, welche so eröffnet und später aufgenommen werden, in Selbstbewusstsein, im Stolz auf ein besonders bedeutendes Glied in der Familie, den kleinen Triumphator dieser Gemeinschaft. Dieser Familientriumph trägt in sich auch alles, was sonst dem Triumphalismus eigen ist. Da werden durch Ereignisse Erwartungen gesetzt und oft erfüllt, Beispiele werden geboten und befolgt, die Historia Magistra wirkt im Kleinen - genauso wie im Großen des Staates. Familie als Keimzelle der Staatlichkeit - aus der Sicht des Triumphalismus lässt es sich noch fortdenken - dies ist wahrhaft eine Keimzelle der Imperialität. Denn hier findet der Umschlag statt von der Einmaligkeit des Sieges in die Dauer der größeren Ordnung, aus der zeitlichen Beschränkung des beruflichen Erfolgs in familiäre Ergebnisse, in denen sich dies generationenlang fortsetzen kann. Und deshalb, weil „der Sieg" überall gleich gefeiert wird, in der Familie wie in der Staatlichkeit, hat der Bürgertriumph gerade dann reichsschaffende Kraft, wenn der Staat als die ganz große öffentliche Familie verstanden wird, durch seine Triumphe gehalten und die seiner Bürger.

2. Die Ërfolgsgemeinschaft Im großen Liberalismus war der Bürgererfolg ein individuelles Phänomen, ein Erfolgsgemeinschaftsdenken verdrängte er auch aus der Familie, durch eine väterliche Gewalt, die sich allein die beruflichen Triumphe zurechnen durfte. Hier hat nun, vor allem im Namen der Gleichberechtigung, eine andere Entwicklung begonnen, und sie führt zur staatlichen Integration: die Familie wird zur wahren Erfolgsgemeinschaft, Siege und Misserfolge werden zusammengefügt, ausgeglichen, es entstehen Erfolgsserien verschiedener Leben, die sich in einem Enderfolg zusammenfassen lassen. In der Familie findet daher nicht nur die Fortsetzung von Bürgertriumphen statt, hier werden sie auch integriert, so wie der Staat der integrierten Triumphalität bedarf. Wie oft lässt sich eine Familie allein dadurch noch halten, dass die Erinnerung und im Grunde das Erlebnis gemeinsamer früherer Erfolge stärker bleibt als Interessengegensätze, menschliche Unvereinbarkeit. Hier zeigt sich in kleinen und 18*

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überschaubaren Verhältnissen, dass der Triumphalismus die große Integrationskraft der Gemeinschaft bedeutet, dass Menschen nicht nur einig sein können im Namen gemeinsamer Werte, sondern im Namen gemeinsamer Erfolge. Deshalb bleibt die Familie auch wichtig als Gemeinschaft, nicht nur als individuelle Verbindung zweier Menschen, und sie ist ebenso zum Erfolg verurteilt wie der Staat. Sie mag sich erschöpfen in der juristischen Abwicklung und im Ausgleich von verschiedenen Interessen - dann ist sie ebenso mechanistisch wie „gewöhnliche, niedere Staatlichkeit". Gelingt es ihr aber, ihre Leistungen in etwas wie einer „gemeinsamen Bürger-Triumphalität" zu integrieren, darauf ihr Selbstbewusstsein zu gründen und daraus ihre Zukunft zu gestalten, so ist sie damit die Zelle eines Reiches.

3. Erbrecht - Weitergabe von Bürgertriumphen Die Erbrechtsdiskussion über Verdientes und Unverdientes wird immer weiter moralisierend geführt werden. Doch auch hier müssen Imperialität und Triumphalismus sich zu Worte melden. Wenn die Familie in ihrer Integration und Kontinuität Bürgertriumphe erst zu dem macht, was das große Gelingen auch für die Staatlichkeit bedeutet, so muss dem auch die materielle Grundlage geboten sein. Gewiss kann ein Erbrecht bedenklich werden, das „den Staat im Staat" gestattet, auf dessen Grundlage sich ein Bürgertum in Staatsferne abzukapseln vermag, alle anderen vom Genuss seiner Güter ausschließend. Doch es ist eben nicht nur eine Frage der individuellen Gerechtigkeit, des Leistungsverdienstes, dass das Gewonnene auch soll weitergegeben werden können, liegt auch sein Sinn nur zu oft gerade darin. Aus der Sicht größerer Staatlichkeit ist das individuelle Erbrecht eine staatsgrundsätzliche Notwendigkeit, weil in ihm erst jene Übertragbarkeit der Triumphe ermöglicht wird, ohne welche es Familientradition ebensowenig geben kann wie das Weiterwirken großen individuellen Verdienstes. Darin findet dann auch das heutige Erbrecht der Familie und des Testaments seine Legitimation: Die Familie als natürliche Erfolgsgemeinschaft, als Fortsetzerin individueller Siege ihrer Mitglieder, ist die „im Zweifel nächste Form" bleibender Triumphalität im Bürgerleben. Selbst jener Erfolgreiche, der sich nicht für einen von ihm individuell bestimmten Einsatz seiner Erfolgsergebnisse entscheiden kann, wird damit praktisch gezwungen, sie in eine größere familiäre Erfolgstradition einmünden zu lassen. Wer aber dem individuellen Sieg die individuelle Fortsetzungsentscheidung folgen lassen will, der findet im Testament das Recht, seine Bürger-Siege den Menschen seiner Wahl zu vermachen, denn nichts anderes bedeutet eine solche Erbeinsetzung. Und nicht umsonst konnten römische Kaiser nicht nur ihre Güter, sondern vor allem ihre Triumphe in Testamenten vermachen. Dies alles hat das Bürgertum erkannt und es ist damit zu einem geradezu privaten Triumphalismus emporgestiegen. Das lebendige Triumphgefühl, welches Frankreich nie verlassen hat, über alle Niederlagen hinweg, ist getragen worden

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von einer Bourgeoisie, welche in der Weitergabe ihrer Privaterfolge generationenlang triumphiert hat, welche stark genug war, diese Grundstimmung ihrem bürgerlichen Staat geradezu - zu vererben. Da mochte viel an Übersteigerung sein, doch weil über solcher bürgerlicher Familientradition eine mächtige Empire-Tradition lag, welche sich ständig aus dem Bürgertum heraus auflud - und gerade Napoleon hat es gewusst und durch sein Erbrecht verstärkt - deshalb ist dort „Imperialität aus Bourgeoisie" über Jahrhunderte hinweg gehalten worden. Fortsetzen wird sich all dies nicht lassen, dieses Bürgertum ist Vergangenheit, doch aus seinen BürgerTriumphen sollten die Heutigen lernen: Auch aus vielem Kleinen, Vererbten wird ein Imperium gebaut.

4. Triumphale Familienlegenden Wenn es Familienerfolge nicht gibt, so werden sie erfunden, die Familiengeschichte wird noch leichter zur Familienlegende als die größere Historie, denn da ist kaum jemand, der sie kritisch und objektiv zu betrachten versucht. Hier verklärt die Vergangenheit das Mittelmäßige, in eine wahre Familiengeschichte mündet sehr rasch alles ein, was sich auch nur irgendwie triumphalisieren lässt. Rückschläge aber werden dann oft nur als Beweis ungebrochener Kraft, als ein neues Beginnen weitererzählt, oder als eine Warnung auf dem Weg des Erfolges. Frauen vor allem tragen diese legendäre Familienkraft, vermögen sie doch viel leichter und voller zu triumphieren als das starke Geschlecht. Sei es nun Eitelkeit oder ein ganz unmittelbares Verhältnis zu Vorgängen und Werten des Lebens - in ihren Erzählungen wird Chronik fast immer rasch zur Legende, es wird in sie jener triumphalistische Unterton gelegt, welcher die eigene Familie als das Besondere erscheinen lässt, und sei sie noch so bescheiden. Den Wahrheitsbeweis braucht die Familiengeschichte kaum je anzutreten, wo immer sie sich der Kritik stellen muss, geschieht dies in Anmerkungen, die irgendein Späterer zu früher erzählten Geschichten für sich selbst macht - und meist auch für sich behält, wenn er nicht der Familie den Rücken kehrt. Darin ist hier eben Triumphalismus ganz rein vertreten, dass Familiengeschichte erfunden werden muss, wo es sie nicht gibt; im Grunde gilt dies für die Familie überhaupt. Unter diesem Zwang stehen alle, die man als Parvenus bezeichnet, und unter ihnen sind wohl die größten Triumphatoren der Geschichte, Napoleon an ihrer Spitze. Sie sind ja „heraufgekommen", „haben es erreicht", mit eigener Leistung vielleicht, oder auch nur durch unverdientes Glück. Jedenfalls aber ist ihnen allen dieser Triumph ein Zwang, er selbst steht unter Legitimationszwang, seine Wurzeln müssen in die Vergangenheit zurückverlegt werden. Ob da dann alter Familienadel ausgegraben wird oder auch nur die Erinnerung an Goethesche Muttergestalten - der Lebenstriumph des Erfolgreichen ist sich eben selbst nicht genug, er sucht seine Wurzeln. Und sie müssen ja durchaus nicht gleiche Triumphalität zeigen wie die Gegenwart, der amerikanische Roots-Komplex beweist es; da muss nur etwas sein wie eine

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Familie und ihre Tradition, aus welcher dann eben das ganz große Erfolgserlebnis moralisch legitimiert hervorgeht - und sei man auch, wie in den Staaten, noch so stolz gerade darauf, dass es dafür keine eigentliche Vergangenheit gibt. Wer aber nun wirklich aus dem Nichts kommt, aus der Traditions- und Familienlosigkeit heraufsteigt zu einem wahren Bürgertriumph, der wird entweder die Vergangenheit seiner Familie sich erfinden, im Entwurf eines neuen Familienwappens oder in den heutigen bescheideneren Formen des Stolzes - oder aber es zwingt ihn gerade dies in etwas wie den „reinen Leistungstriumph". Der Self-made-Man kann ohne Familienlegende leben, aber nur, weil er sie durch noch größere, bewusstere eigene Leistungstriumphalität in seinem kurzen Leben ersetzt. Seine Kinder jedoch werden dann erst recht Familienlegende spinnen. Der Triumph ist sich eben nie selbst genug, weder im Staate noch im Bürgerleben der Familie; so wie er dort im gemeinsamen Erlebnis der Feiern und in institutioneller Fortsetzung geschichtlich sich verbreitert, so erfolgt dies auch in der Familiengeschichte, und gerade darin wird Familie wahrhaft „triumphalistisch denkbar".

5. Dekadenz - Verlust der Familien-Triumphalität Der Triumphalismus ist freudig und feiernd - in einem bleibt er stets unerbittlich: mit seinem Todesurteil über diejenigen, welche „nur Erben" sind. Er will ja das Paradox einer gewissermaßen zeitlosen Kontinuität des früheren Großerfolges schaffen, von einem Sieg zum anderen fortschreiten, den letzten schon in dem ersten sehen. Leichter kann er die Vergangenheit überspielen, vergessen, erfinden, als eine kleinere Gegenwart rechtfertigen. Sie muss sich an den früheren Begeisterungen messen lassen, und wenn diese zur reinen Historie werden, endet der Triumphalismus, es beginnt die Dekadenz. So ist denn der große Historismus stets und ganz notwendig ein geistiges Phänomen des beginnenden Niedergangs. Weit deutlicher noch wird dieser Verlust der Triumphalität in der kleineren Zelle, in den Familien sichtbar. Wo von Schlössern nurmehr Wappen bleiben, da werden frühere Triumphe durch spätere Kleinheit ausgelöscht, sie ist ja tödlicher als jeder Misserfolg, in dem auch noch etwas von einem triumphalen Untergang liegen kann. Dann wird die Familiengeschichte zum Familienarchiv, der Name wird historisiert und gehört der Nation, hier wird schließlich der Familientriumph vergeben, wenn die letzten Familiendokumente ins Staatsarchiv gebracht, die letzten Kunstwerke den Museen geschenkt sind. Triumphalismus entfaltet dann eine verhängnisvolle Gegenkraft: Der vergangene Großerfolg führt nicht mehr hinauf, er macht den Enkel kleiner, der ihn verwalten will und dabei alle Hoffnung fahren lässt, ihn je zu erneuern. Erst von den Gebirgen der Vergangenheit aus wird der Abfall sichtbar.

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Wenn es dies nur wäre, so hätten frühere Triumphe Eindeutigkeit gebracht, für alle sichtbar wäre ein Bürger-Theater eben zu Ende gespielt worden. Doch der frühere Großerfolg öffnet einen noch gefährlicheren Weg in die Dekadenz: Über längere Zeiten hinweg lässt sich im Namen des einmal Gelungenen späteres Misslingen rechtfertigen, überspielen, so wie auch der große Reichssieg über Jahrhunderte noch erfolglos gefeiert werden mag, dann aber kommt der Zusammenbruch erst recht unerbittlich. Und weil der Bürger stets begleitet wird von den wachen Augen seinesgleichen, in der Demokratie zumal, wird in Bürgerleben und Familie diese Dekadenz viel rascher sichtbar als in einer Staatlichkeit, welche über längere Perioden hinweg fehlende Triumphe „in reinem Triumphalismus" überdecken kann, kompensieren durch den „Befehl zum Triumphieren". So zeigt sich denn hier eine Besonderheit des Bürger-Triumphs, welche diesen erst recht als Grundlage des größeren Reichs-Triumphs ausweist: Wenn „oben", in den Höhen der großen Politik, lange, mächtige Wellenbewegungen ablaufen, über Jahrzehnte hinweg kaum veränderbar, jenes „langfristige Auf und Ab von Triumphen" - im Bürgerleben ist viel mehr Dynamik, kurzatmiger Erfolg, Tagestriumph. Gerade daraus aber zieht der überzeitliche Staats-Triumphalismus nach dem Gesetz der großen Zahl seine ständigen Kräfte, weil er das „Auf 4 des Bürgerlebens aufnimmt, das „Ab" im Namen früherer Siege verdrängen kann. Nur solange konnte Familientradition staatsähnlich Triumphalität zelebrieren, in Adel und Patriziat, wie Familiengeschichte sogleich aufgenommen wurde von Staatsgeschichte, Familientriumph im längeratmigen Staatstriumph vor dem Niedergang bewahrt wurde; und Staatsdekadenz kommt eben langsamer als Familiendekadenz, dafür aber dann unaufhaltsam, der Abfall von den Triumphen wirkt so vernichtend wie die frühere Grandeur. In der Dekadenz liegt etwas Feines, süßlich Berauschendens, oft ist es gefeiert worden und genossen. Über Generationen lässt sich ja von Familienvermögen leben, darin gerade entgeht man den mühevollen Triumphen. Was aber den Familien zu solcher Gefahr wird, und dort auch sogleich erkennbar, das spielt sich im Größeren auch in der Staatlichkeit ab, bis hinauf zum Reich: Es gibt einen Hedonismus der Antitriumphalität, man genießt es geradezu, wie man sich gemeinsam vom rohen vergossenen Blut der Vergangenheit entfernen, deren keuchende Anstrengungen in „gerechter Verteilung" einebnen kann. Dekadente Eleganz wird man einer solchen Periode nicht abstreiten, doch ein Reich beginnt anders und wird anders gehalten. Darin liegt eine große Chance heute: Ein Volk von Parvenüs steht näher beim Reich als dekadente Aristokratie oder Bourgeoisie, welche nichts zu gewinnen, nichts mehr zu triumphieren hat. Für das Leben unserer Bürger, ihre Familien und ihren Staat hinterlässt diese Vergangenheit große Lektionen - das Entscheidende, die Kraft zum neuen Triumph kann nur „von unten" kommen, wo noch Siegeswille ist, Durchbruchsstreben, so wie vor Jahrhunderten. Möge dabei jene Vergangenheit helfen, und sei es auch mit dem guten Omen früherer Triumphe!

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IV. Bürgertriumph als Staatstriumph der „Reichsbürger" Bürgerleben und Staatsexistenz entwickeln sich, aus der Sicht des Triumphalismus, in einem gewissen Gleichklang, Phasenverschiedenheiten sind hier nicht immer entscheidend. Dass dies aber keine Parallelen bleiben, dass die Bürger-Triumphe zum Staatstriumph konvergieren müssen, soll größere Imperialität sich entwickeln, hat sich immer wieder gezeigt. Hier noch ein Wort darüber, wie dieser Bürgertriumph aufgenommen wird in Staatlichkeit, transformiert in wahre ReichsTriumphalität - um von dort zum Bürger nur größer zurückzukommen. Dies ist eine Antwort des Reiches auf die Frage nach der Einheit von Staat und Gesellschaft: Wenn sie nicht geschaffen wird im Namen eines Triumphalismus, zerfasert der Staat in Gesellschaftlichkeit. Vom Bürger-Triumph muss eine analogia entis reichen bis hinauf zum Reichstriumph, die Demokratie kann ihr Imperium nur schaffen und halten, wenn „das Reich schon im Bürger ist" - im Reichs-Bürger.

1. Bürgererfolge als Formen öffentlicher Triumphalität Die Demokratie steht und fällt mit dem Gelingen der Überleitung des Bürgerlebens in die Staatlichkeit, in Formen der „Veröffentlichung" der Bürgerexistenz ebenso wie in „Privatisierungsbemühungen" allzu hoheitlichen staatlichen Wesens. Im status activus des Bürgers, seiner Teilnahme insbesondere an den Großentscheidungen der Wahl, wird geradezu ein institutioneller Übergang geschaffen aus der Bürgeraktivität in die Staatstätigkeit. Doch nicht allein im „Funktionieren" der Staatlichkeit darf sich dies bewähren, im Triumphalismus der Erfolge und Feiern muss es sich legitimieren, gekrönt werden. In all dem liegt also eine Chance zu größerer, dauernder Ordnung, zu einer wahren Imperialität, wo Bürgertriumph zugleich eine Form des Staatstriumphes wird. Einer vernichtenden Kritik hat der Liberalismus die Obrigkeitssucht unterzogen, die der Deutschen zumal. Kann groß nur sein, was mit staatlichen Weihen getauft ist, verleiht stets nur das öffentliche Dokument, die staatliche Schirmherrschaft privater Veranstaltung höhere Bedeutung - zeigen die Vereinigten Staaten nicht das Gegenteil, reine private Triumphalität? Doch gerade jene Länder, welche Imperialität sich bewahrt haben wie Frankreich, oder sie neu zu entwickeln vermochten wie die USA, beweisen auch heute, dass dem Liberalismus und seiner Privacy gegeben werden kann, was ihnen zusteht, ohne dass doch dem Kaiser vorenthalten wird, was des Reiches ist. Gerade wenn ein überzeugtes, freies Bürgerleben möglich ist, wenn seine „rein privaten Triumphe" geachtet werden, können von dort auch Brücken geschlagen werden zum gleichzeitigen „staatlichen Erfolg". Jedes Land hat hier seine Traditionen, sollte sie entwickeln zu größerer Reichs-Nähe.

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Da sind die Prüfungserfolge und öffentlichen Preisverleihungen, mit denen gerade das imperiale Frankreich das liberale Bürgertum in den imperialen Staat eingebunden hat; mehr Preise - das bedeutet eben auch mehr Lobpreis, mehr Ruhm für den Staat, hier ehrt er seine Bürger und damit sich selbst, ihr Erfolg wird zu seinem eigenen. Wer nur immer prüft, sucht Wahrheit und wird nie staatserhöhenden Triumph finden; wer zu prämieren versteht, bereitet den Schmuck für ein Reich vor. Beamtlichkeit mit ihren vielen Formalismen und Legitimationen, vor allem mit Buch und Siegel der endgültigen, lebenslang wirkenden Beförderung - all dies sind eigenartige Erfolgsverfestigungen und -beweise in einer Arbeitswelt, die sich eben nicht in Leistung und Gegenleistung auflösen lässt, die stets auf eines gerichtet ist: auf den großen Betriebs-Erfolg, einen Betriebstriumphalismus. Auf ihn verzichtet der Staat nicht, wenn er in Urkunden und Titeln etwas von seiner Macht und Herrlichkeit dem erfolgreichen Bürgerleben weitergibt - und darin zugleich dessen Erfolge anerkennt, feiert und zu seinen eigenen macht; und dass diese Siege nur im Kleinen und geduldig errungen werden, nimmt ihnen nichts von ihrer bescheidenen Triumphalität. So muss heute das Berufsbeamtentum verstanden werden, nicht als ein Privileg, in welchem ja nur Triumph-Sklerose läge, auch nicht nur als eine Form funktionaler Sicherung der Bürgerfreiheit, welche eben beim unabhängigen Beamten in den besten Händen sich findet - darüber noch liegt jener Hauch von Bürgertriumph als Staatstriumph, in welchem der „Beamte wirklich immer im Dienst" ist, sich auch in seinem privaten Leben des Ansehens würdig zu erweisen hat, welches seinem Amt entgegengebracht wird - ihm selbst, eben als einem Träger größerer Staatstriumphalität. Doch solche Formen der „Öffentlichkeit des Arbeitstriumphs" gibt es nicht nur im beamteten Staatsbereich, irgendwie drängt dazu das heutige Arbeitsleben überhaupt, in immer neuen Formen von Betriebsversammlungen, auf denen auch Erfolgsbilanzen gezogen, von Betriebsfeiern, in denen die gemeinsamen Produktionssiege gelobt werden. Der Inhalt ist stets derselbe, das Bedürfnis auch, dass arbeitende Menschen nicht nur ständig tätig sind und dafür bezahlt werden, denn der Roboter hat keinen Sinn für Triumphalismus. Betriebsversammlungen muss es geben, Betriebsprämien, Betriebsfeiern, nicht nur damit Integration erfolge, zu größerem wirtschaftlichen Erfolg des Arbeitgebers oder zur höheren Ehre eines „Betriebes an sich" - so nur wird die Arbeit in ihrem Ergebnis zum Siegeserlebnis, und sie erhält auch dort etwas Öffentliches, ja Staatsnahes, wo sie im Privatbereich abläuft; die Erfolgsbilanzen von Großunternehmen werden heute als Staatstriumphe gefeiert, und wo die Betriebsgröße dies nicht erlaubt, sind die Verbände aufgerufen, Branchenerfolg zu „veröffentlichen" im wahren Sinne des Wortes - triumphal in der Gemeinschaft vorzustellen und zu ihrem Gelingen werden zu lassen. In der Demokratie gibt es noch andere, besondere Chancen einer geradezu institutionalisierten Verbindung von Bürger- und Staatserfolgen: alle politischen Wahlämter in der Volksherrschaft, alles, was sich mit ihrer Innehabung, ihrer frü-

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heren Erinnerung an Bürgererfolg im einzelnen Leben verbindet, ist stets zugleich auch ein Gesellschafts- und ein größerer Staatserfolg, im „Funktionieren der laufenden Staatstätigkeit" bereits, vor allem aber dann, wenn aus diesem Amt heraus Größeres geleistet wird. Die Demokratie sollte diese Möglichkeiten voll ausschöpfen, so geschieht es etwa im republikanischen Frankreich, wo der MinisterTitel, weit über die Dauer der Funktion hinaus, einem Bürgerleben geradezu triumphales Prestige verleiht. Nicht nur im Beamtenrecht, auch bei den „politischen Ämtern" lässt sich eben jene strenge Trennung von Privat- und öffentlicher Sphäre gar nicht durchführen, welche mit Recht bei den „Persönlichkeiten der Zeitgeschichte" durchbrochen wird und in der Demokratie noch weiter relativiert werden sollte - damit auch der Privaterfolg zum öffentlichen werde, als solcher verkündet und in gemeinsamer Triumphalität geeint. Einen Verlust an Privacy aber muss der demokratische Politiker bringen, damit sein Bürger-Triumph, der mit demokratischen Mitteln erreicht wurde, zugleich auch stets als ein Sieg dieser Staatsform bewusst bleibe. Dass der große Bürgererfolg, vor allem im Wirtschaftlichen, in die Öffentlichkeit drängt, ist aus der Sicht des Triumphalismus eine Selbstverständlichkeit und sollte nicht immer von demokratischem Misstrauen begleitet werden. Was sich da alles entwickelt an Ehrenamtlichkeit, zwischen Wirtschaft und Staat vor allem, bedeutet nicht einfach und immer nur Korruptionsgefahr, die Volksherrschaft gerade sollte ein „Denken in Ehrenämtern" eher noch aufwerten und steigern. In ihm liegt zwar etwas vom „privat-kapitalistischen Mehrwert in Ehren", aber eben auch zur Stärkung des Öffentlichen: Der Mehrwert des Kapitals wird zur Prämie der Macht, als solche vom Staat bezogen. Nicht umsonst ist die Imperialität stets als die „Quelle der Ehren" gesehen worden, hat es nirgends soviel „Staatlichkeit als Ehrenamtlichkeit" gegeben wie in Reichs-Ordnungen, und der römische Ehrenämter-Staat war darin am größten. In dieser Idee findet sich ja ein Doppeltes, was Triumph und Reich verbindet: die Einheit von Bürgerleben und Staatsexistenz sowohl als auch die Herstellung eben dieser Einheit im Erfolg, den der Bürger erringt und der zum staatlichen Gelingen wird, in einer reinen Form, welche Bezahlung nicht erwartet. Und hier hat sogar die doch so untriumphalistische Notablierung noch eine Chance, wenn sie aus einem Erfolgszwang heraus sich befestigt, nicht nur Früheres fortschleppt, als sei es geschuldet. Überall wölbt sich so, gerade unter der Volksherrschaft, der eine Triumph über dem Bürger und seinem Staat.

2. Die triumphale Erhöhung des Bürgerlebens - der Reichsbürger Der Erfolg eines Bürgerlebens wird nicht nur, in all diesen und anderen Formen, zugleich zum Staatserfolg, aus den so befestigten Höhen des Öffentlichen kommt dem Einzelnen und seiner Familie eine Kraft zurück, welche seinem kleinen Leben etwas gibt vom Glanz der Imperialität.

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Jeder wird dies gefühlt haben, der etwas tragen durfte wie einen wahren Pour le mérite: Die Gemeinschaft ist stolz auf ihren Bürger, weil ihr dieser „etwas von ihrer Grundlage verdient hat", weil er seinem Staat etwas von seinem eigenen Triumph geliehen, ihn vergoldet hat. Durch seine Ehrung verstärkt der Staat den Bürgertriumph, und so findet etwas wie eine Wechselwirkung sich höhersteigernder, gegenseitig bedingender Triumphalität statt - Bürger leihen dem Staat ihre Erfolge, sie werden von ihm mit größerem Erfolgsglanz wieder beliehen. Darin spielt sich immer noch etwas ab wie eine große Feudalisierung, ist dies doch auch nichts anderes als eine gegenseitige, wechselwirksame Erhöhung in „privaten" und „öffentlichen" Großtaten. Weil aber Bürgertriumph und Staatstriumph so zu einer wahren Einheit werden, finden sich auch stets in den Bürger-Erfolgen Elemente dessen, was den Staat im Triumph zum Reich macht, nur dies kann ja dann aus der Bürgerebene hinaufwirken ins Öffentliche. Sicher wird der Bürger heute noch weniger als früher „private Schlachten schlagen", doch etwas wie den „militärischen Kern des Triumphalismus" gibt es auch in seinem Leben: In der Unbedingtheit der Disziplin und der Härte der Erfolgssuche entladen sich dieselben Kräfte, in der kleinen Existenz wie im großen Volksschicksal. Geistige Triumphe feiert der Bürger ebenso wie sein Staat, und am Anfang steht hier ja immer ein Bürger-Triumph, vielleicht ist diese Form von Sieghaftigkeit heute besonders nahe, weil Großerfolge zuallererst im Geistigen gesucht werden müssen. Das schließlich, was hier „reine Triumphalität" genannt wurde, jener sich um sich selbst drehende Siegesoptimismus - all dieses wahrhaft barocke Lebensgefühl muss vom Einzelnen kommen und seiner Bürger-Kraft, nur von dort aus kann es den Staat erreichen. So ist denn die Demokratie darin stark und geradezu zum Reich verurteilt, dass sie all ihre Triumphalität in dem findet, was sie souverän gesetzt hat: im Bürgerleben. Darin auch vermag die heutige Volksherrschaft einen wahren Triumphbogen zu spannen von der vielfältig triumphalen Welt der Antike über die gestufte Triumphalität der Feudalzeit in die Gegenwart, dass sie eine Figur neu entdeckt, ohne die es kein Imperium je geben konnte: den Reichs-Bürger. Der besondere Wert einer Reichs-Bürgerschaft war dem römischen Imperium wohl bewusst, er ist es überall dort noch, wo wahre Imperialität lebt, bis in die Höhen der Schweiz. Aktivbürgerschaft als Staatsfunktion, nein: als Reichsamt - all dies erschließt sich nur demjenigen, welcher Bürgerrechte und Bürgerverantwortung in den Gleichklang eines einheitlichen Bürgerrechts zusammenführt, das eben verliehen ist - zum Triumph, im eigenen Leben ebenso wie in dem der Gemeinschaft. Forderungsbürgertum ist vielleicht ein Meilenstein auf dem Wege dahin, immerhin wird so das Selbstbewusstsein des Einzelnen wieder geweckt; doch dort darf man nicht stehen bleiben, soll es zu neuer Imperialität kommen. Der Erfolgsbürger ist gefordert, diejenige Gestalt, die so viel schafft und verwirklicht im eigenen Leben, dass sie davon

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der Gemeinschaft abgeben kann, ja dass sie in ihrem eigenen Triumph bereits etwas ist wie Gemeinschaft, Staat, Reich. Friedrich Nietzsche hat den machtvollen Menschen gelehrt, der aber für sich nichts will, nichts behält als die Kraft des Sich-Verströmens. Enge Geister haben dies als elitären Egoismus verdeutet - als ob dieser Herrenmensch nur besitzen wollte. Gezeigt worden ist im Grunde nur jener Reichs-Bürger, der allein schon, in seiner Person, den ganzen Reichtum eines Imperiums trägt, der über sein kleines Leben hinaus - reicht, in einer Triumphalität, welche anderen die hellere Fackel weiterreicht. Nur im Reich, das von solchen Bürgern geschaffen und gehalten wird, gibt es keine Massen- und keine Herdenmenschen, all das nicht, was am Menschen überwunden werden muss. Nietzsches Werk ist der gewaltigste Anlauf zum Triumphalismus, vielleicht ist kein Reich dieser Welt groß genug, um ihn zu fassen, so wie es das Reich der Deutschen nicht war, über das er hinausgedacht hatte. Nichts fehlt heute mehr als dieser Schwung, jenseits von aller Wahrheit und Gerechtigkeit. Triumphalität - das ist kein Staatsproblem, keine Reichs-Frage als solche. Zuallererst ist es ein Aufruf an den Menschen, den Bürger der Demokratie; weil sie den Staat aus dem Bürger heraus sieht, öffnen sich ihr die Wege zum Reich, wenn Triumphalismus zur Aufgabe wird.

F. AusblickVom Triumph zur Ordnung Triumph ist der Anfang des Reiches, doch er ist nicht alles von ihm. Er bringt die Kraft und die Dynamik für eine größere, dauernde Ordnung, doch in sie muss er münden, in ihr zur Ruhe kommen. Triumph hat immer etwas Bewegtes, Ziehendes, doch dies kann nicht sein Ziel sein, dabei darf er sich nicht beruhigen. Ständiges Triumphieren allein wird angeordnet, notwendig entfernt es sich sogar von den Richtpunkten einstiger Großerfolge, es endet in Stagnation und Dekadenz. Der Triumphzug hat ein Ziel: das Kapitol, das Reich, die Ordnung. Dem Triumphzug geht der Sieg voraus, diesem die Schlacht, die große Unordnung. Mit ihr setzt die Triumphalität ein, etwas von diesem Tumult trägt sie immer an sich, daraus kommt ihre Kraft. Doch nun muss sie sich verwandeln, es muss zum „Umschlag in die Statik" kommen, der bereits im Geiste der Triumphalität begonnen hat, nun die Erfolge in einer gewissen Festigkeit zu ordnen unternimmt. Triumph - das ist etwas, worauf man bauen kann, auf dem etwas errichtet werden muss, er verliert sich sonst im Dahinziehen, in Geschichten und Legenden. Institutionalisieren lässt er sich in Grenzen, verfestigen, lehren und weitergeben; doch darin bereits hat das statische Bauen begonnen, und es muss aus der dynamischen Triumphalität seine Dimensionen gewinnen: die Größe zuallererst im gegebenen Augenblick und sodann in der Zeit, welche im Triumph, dem Großerfolg, vorgezeichnet ist. Nur die Größe der triumphalen Dynamik lässt sich in Statik verwandeln, kleine Siege zerbröckeln. So ist denn dieser Anfang des Reiches auch sein großes institutionelles Programm: Nun muss Bedeutendes hervorgebracht werden, der große Triumph verlangt die große bleibende Lösung. Nun gilt es, groß auch in die Zeit hineinzubauen, dies aber wiederum kann nur die Zeit selbst schenken, in der dauernden Wiederkehr der guten Staatselemente und Staatsformen finden sich Blöcke und Felsen, auf denen Festes errichtet werden wird. Vielleicht liegt darin eines der Geheimnisse der Trias der kantischen Kategorien: Je größer menschlicher Vorstellungsraum bei einer von ihnen wird, desto mehr erweitern sich auch die anderen Kategorien. Wenn man hier das Reich mit einem ganz großen Triumph beginnen sieht, so wird sich auch der Raum weiten, in welchem es zu bauen ist, die Zeit, in die hinein es gedacht werden kann. Diese Kategorien von Raum und Zeit werden so groß sein, wie die Bruchstücke es sind, welche Begeisterung in den alten und neuen Triumphen um sich hat versammeln können.

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Eines aber muss der Triumphalismus aller Reichskonstruktion stets mitgeben: den Zug „immer höher hinauf, vom Sieg zum noch größeren Erfolg. Denn dies ist ja die letzte Kraft des Triumphalismus, dass sie nicht abfallen will, sondern sich hinaufpflanzen. Und so gibt sie denn dem Reich nicht nur den Auftrag zur Größe mit, sondern den Befehl zum Größeren. Immer wieder sind diese Betrachtungen der Kuppel als dem Symbol des Reiches begegnet. Es gibt wohl nichts, was mehr für Statik stünde als diese höchste Lösung der statischen Probleme. Und doch hat nirgends gerade der Triumphalismus mit all seiner Unendlichkeitsdynamik einen höheren Ausdruck gefunden. Dies ist eben das Bild einer zur Ruhe sich schließenden Bewegung, einer Krone, welche ein Reich überwölbt, dreifach vielleicht, wie in der sich wölbenden päpstlichen Tiara. Dass es diesen Krönungsbau geben kann, ist der sichtbare Beweis für die Möglichkeit jener triumphalen Statik, die es im Reiche zu verwirklichen gilt: den ganz großen, dauernden Befehl aus dem ganz großen Erfolg. Von Ordnungen und Normen war wenig die Rede auf diesen Blättern, es galt, zunächst einmal die Kraft des Triumphes zu zeigen, welche über all das hinweggeht - aus der dann aber auch all diese Ordnung wiederkommt. An dieser Stelle angelangt kann man erkennen, wie sich die Triumphalität von der Spitze einer Kuppel ausgießt in alle Richtungen, alles erfassend, zusammenordnend und beschließend. Das erste und nächste Symbol des Triumphs ist der Triumphbogen, der durchschritten wird, in der Geschichte ist kaum ein Bauwerk so oft gebaut und niedergerissen worden. Doch Kraft ist auch in den Ruinen; aus den Trümmern der Triumphbogen gilt es zu bauen - die Mauern des hohen Rom.

Buch 2 Staatsrenaissance Die Wiederkehr der „guten Staatsformen"

Vorwort zu Buch 2: Staatsrenaissance - Die Wiederkehr der „guten Staatsformen 44 Betrachtungen zu einem Staatsrecht der großen, dauernden Ordnung müssen die Frage nach den „guten Staatsformen" stellen. Muss es sie nicht geben, wenn andere als „schlechte" verurteilt werden? Der Hinweis auf gemeinsam verehrte Werte bringt allein die Antwort nicht mehr, dieser Konsens ist zerbrochen, wenn es ihn je gegeben hat. Eine technisierte Gegenwart sucht, bescheidener geworden, die Bestätigung für die Güte ihres Staates nicht mehr in hohen Zielen, sondern im ruhigen, sicheren Funktionieren. Suche nach „guten Staatsformen" ist jeder Zeit aufgegeben. Soll sie sich heute darin erschöpfen, dass faktischen Machtzuständen ein staatsrechtliches Gütesiegel aufgedrückt wird, weil man sie nicht ändern kann - oder in der Selbstsicherheit der Demokratie als der besten der schlechten Staatsformen? Früheren Zeiten fiel oft das Urteil leichter: Da war das Bewährte, ruhig Entfaltete, eine lange Tradition, „gut" war es einfach, solche Staatlichkeit fortzusetzen. 1789 bedeutet auch hier eine Wende: „Gut" ist nun der Staat der wiedergeborenen Freiheit, Renaissancedenken ist - neu geboren worden. Deutschland hat all dies im Großen versucht und erlitten, von der Staatsromantik des vergangenen Jahrhunderts bis zur Wiederkehr der Germanen. Doch immer hielten auch hier noch ruhigere Traditionen, konnte man hoffen, in ihnen den „guten Staat" fortzusetzen, jenseits von raschen Begeisterungen und gefährlichen Wagnissen. 1945 war ein Ende. Kontinuität brach zusammen, Tradition an sich wurde fragwürdig. Doch solche Verluste bieten auch eine geistige Chance: Wenn „gute Staatsformen" nicht fortzusetzen sind - werden sie nicht wiedergeboren, hat dies nicht immer schon gegolten? Dieser Frage wird hier nachgegangen: ob gute Staatsformen und Staatselemente nicht stets „wiedergeboren" worden sind, aus fernen Zeiten, aus entfernten Ländern zurückgekehrt, in der lebendigen Neuheit der aufnehmenden Ordnungen. Das Problem ist nicht neu: In ewiger Wiederkehr hat das römische Staatsmodell in Europa „gute Staatsformen" zurückgebracht, immer neue Wiedergeburten der Freiheit werden erlebt, in der Dritten Welt wird europäische und amerikanische Staatlichkeit in Wehen neu geboren. Über „Staatsrenaissance" muss daher nachgedacht werden, gerade in jenem Deutschland, das so tief von der Wiedergeburt des römischen Rechts geprägt ist, 19 Leisner

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Buch 2: Staatsrenaissance

das aber „gute Staatlichkeit" nicht fortsetzen kann, sie in großem Ausgriff finden und neu hervorbringen muss. Darin spricht nicht einfach die Historia magistra; die Geschichte lehrt nicht nur - sie bringt Altes als Neues hervor, auch, ja vor allem in irrationaler Spontaneität, nicht nur in gelehrigen Übernahmen. Dies ist auch keine Front gegen den Fortschritt, er wird weiterhin vieles überrollen und verschütten - manches aber auch wieder ins Licht führen, unbewusst vielleicht, ungewollt. Und hat nicht immer wieder das ganz weit in die Zukunft gewiesen, was lange verschüttet erschien wie die Freiheit? Hier werden nicht Versuche staatsrechtlicher Archäologie unternommen, historisierender Staatslehre. Doch wie die alten Statuen heutige Schönheit bringen, so darf das Staatsrecht stets erneut in Staatsrenaissance zurückkehren. Keine geschichtliche Erscheinung hat wohl je so stark zu faszinieren vermocht wie die große Renaissance, weil hier der Menschheitstraum der Wiedergeburt in Erfüllung zu gehen schien. Kehrt dies aber nicht, oft klein und bescheiden, auch heute noch wieder, gerade in jener Staatlichkeit, die so weit von den Statuen entfernt scheint? In Rom ist diese Brücke geschlagen worden, die Statuen der Roma wurden wiederentdeckt. Vertraut man sich in Bescheidenheit der starken Strömung der Staatsrenaissancen an, so liegt darin Hoffnung auf die Rückkehr „guter Staatsformen", dessen, was schon einmal, in weiter Ferne, menschliche Leidenschaft in Frieden verwandelt hat. Staatsrenaissance - das sind politische Phänomene, doch hier liegt auch ein staatsrechtliches Geheimnis verborgen: in der Geistigkeit größerer Ordnungen etwas von - Auferstehung.

Inhaltsverzeichnis Das Wesen der Staatsrenaissance: Wiedergeburt, nicht Tradition der „guten" Staatsformen 299 I. Von der Überzeitlichkeit des Befehls zur Wiederkehr des Volkssouveräns 1. Die Zeitlosigkeit des Herrschens

299 299

a) Die Norm - „Befehl über der Zeit"

299

b) Zeitübergreifendes Staatsrecht

300

2. Formen der Wiederkehr größerer Staatlichkeit

301

3. Demokratische Staatsrenaissance

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II. Staatsrenaissance - eine Form des imperialen Denkens

305

1. Das Reich - unsterblich in Wiedergeburt

305

2. Imperiale Wiederkehr - nicht Überdauern der „guten Staatsformen"

306

III. Gute Staatsformen, „klassisches Staatsrecht" - Voraussetzung aller Staatsrenaissance 308 1. Machiavellismus - Machtkalkül als Gegenthese zu den „guten" Staatsformen? 308 2. Die Suche nach „guten Staatsformen" - eine alte Tradition

309

a) Die Platonische Staatsphilosophie: „Der Idee am nächsten"

309

b) Die aristotelischen „guten" Staatsformen

310

c) Insbesondere: „Gemischte" - gemäßigte Staatsformen

311

d) Das christliche Naturrecht und die „guten" Staatsformen

312

3. Notwendigkeit der „guten Staatsformen": staatliches perfektes Ordnen ... a) Die Überwindung des Eudämonismus - der Staat als Selbstwert

314 314

b) Die Freiheit - Grenze des „Funktionierens": Absage an die „guten Staatsformen"? 315 c) „Gute Staatlichkeit" - in der Wiederkehr perfekter Formen 4. Funktionale Kriterien „guter" Staatlichkeit - in Staatsrenaissance deutlich a) Effizienz

316 317 317

b) Einfachheit

318

c) Plurivalenz

319

292

Buch 2: Staatsrenaissance d) „Natürlichkeit"

321

e) Grundentscheidung

322

f) Isolierbarkeit

323

g) Allgemeinheit und Höhe

324

IV. Wiedergeburt aus Diskontinuität - Staatsrenaissance und Tradition 1. Die Grenzen der Tradition - Legitimität durch Überlieferung?

326 327

a) Legalität als Stütze der Legitimität

327

b) Formen des demokratischen Traditionalismus

329

c) Kritik der Tradition

331

2. Diskontinuität - die große Unterbrechung

332

a) Abbruch und Neubeginn

332

b) Und eine volle Unterbrechung

333

3. Der zeitliche Abstand

336

4. Aus großem Abstand gesehen: Geschichte als Dogmatik

338

V. Die „horizontale Staatsrenaissance" - Übernahme aus „entfernten Ordnungen" 340 1. Die notwendige Erweiterung des Renaissance-Begriffs

340

2. Renaissance - Oberbegriff über räumlichem und zeitlichem Abstand

342

a) „Staatsrenaissance aus den Staaten"

343

b) Übergänge von zeitlichen und räumlichen Distanzen - Staatsrenaissancen in die „Dritte Welt" 344 3. Die Gefahr: Nachahmung statt Wiedergeburt

345

a) Systemkopie

345

b) Rechtsvergleichung - Weg zur Staatsrenaissance?

346

4. Chancen der Staatsrenaissance aus fremder, gegenwärtiger Imperialität .. a) Eine europäische Schicksalsfrage

347 347

b) Bedingungen für die „Übernahme fremder Ordnungsgedanken" in Staatsrenaissance 348 VI. Die „freie Wiederkehr" - unsystematische Staatsrenaissance

350

1. Der Eklektizismus der großen Renaissance

350

2. Wiedergeburt der Bruchstücke - immer in bestehende Ordnungen hinein

352

3. „Renaissance der Teile" - der Machttechniken und Legitimationen

353

4. Die Unmöglichkeit eines „Reichs-Systems"

354

Inhaltsverzeichnis 5. Die Systematisierung - stets eine Gegenwartsaufgabe

293 355

a) System - Beitrag der Gegenwart zur Staatsrenaissance

355

b) ... und Gefahr in,/einer Systematisierung"

356

6. „Wiederkehr der Systeme" - rückprojizierte Gegenwart

357

a) Staatsrenaissance als Restauration

357

b) Wiedergeburt von „Gegenwart als Vergangenheit"

359

VII. Wiedergeburt isolierbarer Formen

360

1. Die Renaissancefähigkeit vom System gelöster Staatsformen

360

2. Beispiele isolierbarer Staatsformelemente

361

3. Die Aufgabe: Staatsgestaltung „auf Renaissancefähigkeit hin"

363

VIII. Wiedergeburtslehre gegen „Überbauthese" 1. Überbautheorie: Recht aus Fakten der Gegenwart a) Überbau als antihistorische Kategorie

365 365 365

b) Fortschrittsglaube, „kommunistischer Endzustand" - Antithese zu aller Renaissance 367 c) Antiautoritarismus wider Staatsrenaissance

368

2. Überhöhung des „Überbaus" in Staatsrenaissance

369

3. Imperiales Denken - gegen Überbaulehren in Staatsrenaissance befestigt

371

4. Der Selbstand der Rechtsidee in Staatsrenaissance - Die „Wiederkehr des Zivilrechts als Staatsrecht" 372 IX. Staatsrenaissance als „Denkkategorie Zeit" im Staatsrecht - rechtsphilosophische Bemerkungen 374 1. „Reich" - staatsrechtliche Potenzierung der kantischen Denkkategorien ..

374

2. Renaissance als Zeitkategorie der größeren Ordnung

375

a) „Normalzeit" - eine Gefahr für die Ordnung

375

b) „Renaissance" - eine besondere Zeitkategorie

377

c) Staatsrenaissance als konstruktive Denkkategorie

377

d) „Mit den Augen der Renaissance sehen" - nicht Begrenzung, sondern Erweiterung, Aufschwung 378 3. Renaissance - eine größere geistige Kategorie, aus dem Staatsrecht heraus 380 4. Staatsrenaissance - etwas von einer politischen Gottesidee B. Die Macht der Staatsrenaissancen I. „Inhaltliche Mächtigkeit der Normen" - eine Frage des Staatsrechts II. Staatsrenaissance - Kraft des „Ursprünglichen"

381 383 383 385

294

Buch 2: Staatsrenaissance 1. Die Legitimationskraft des „Originären"

385

a) Die Unableitbarkeit des Ursprünglichen - kommunale Selbstverwaltung als Staatsrenaissance 385 b) „Zurück zum ursprünglich Guten"

386

c) Die Umkehr der Fortschrittsidee - die Erlösung von der „politischen Erbsünde" 387 2. Überwindung der Dekadenz in wiedergeborener Staatlichkeit a) Die politischen Dekadenzängste

388 388

b) „Normative Dekadenz" - Notwendigkeit des Rückgriffs auf übernormative Staatsrenaissance 389 3. Staatsrenaissance - „im Sprung" das Ursprüngliche erreichen III. Die Naturrechtskraft der Staatsrenaissance

390 392

1. Wiedergeborene Staatlichkeit: historisches Naturrecht - „Natürlichkeit", Umwelt 392 2. Das Naturrecht - stets Staatsrenaissance

394

3. Staatsrenaissance - gerade ein demokratisches Naturrecht

396

IV. „Konsens" - in Wiederkehr erreicht

398

1. Konsens - ein problematischer Kernbegriff der Demokratie

399

2. Konsens und größere Ordnung

400

3. Die besondere Konsenskraft der Staatsrenaissance

402

4. Staatsrenaissance - ein „höherer Konsens"

405

V. Wiederkehrende Rechtsinhalte - Chancen für ein „technisches Recht der größeren Ordnung" 407 1. Der Zug zum „technischen Recht"

407

a) Rechtstechnizität - die Chance einer Selbstgesetzlichkeit in der pluralen Ordnung 407 b) „Werte als Rechtstechnik" - Abwägung 2. Die Wiedergeburt der Rechtstechniken

408 409

a) Renaissance technischen Funktionierens

409

b) Die Renaissanceträchtigkeit der formalen Rechtstechnik

410

VI. Staatsrenaissance als Aufruf - Anstoß zu Neuem

412

1. Staatsrenaissance - stets ein historischer Aufbruch

412

2. Staatsrenaissance - eine steigerungsfähige politische Herausforderung ...

413

3. Überstürzte Wiedergeburt, Anknüpfung an fremde Erfolge - eine tödliche Herausforderung 414

Inhaltsverzeichnis

295

4. Aufruf zur großen politischen Gestaltung

415

5. „Wider den Experimentierstaat"

416

6. Wiedergeborene Staatlichkeit - ein Recht des optimistischen Fortschritts

418

VII. „Renaissance an sich" - das Übernommene als Wahrheit

419

1. Die Bedeutung der Staatsrenaissance - vom Übernommenen zur postulierten Übernahme 419 2. Staatsrenaissance an sich - Steigerung gegenwärtiger politischer Gestaltungskräfte 421 3. Staatsrenaissance - eine „besondere staatsrechtliche Wahrheit"

422

4. Staatsrenaissance als politischer Selbstwert

424

C. Formen der Staatsrenaissance I. Die Bedeutung der „Wege" für die Wiedergeburt der Staatlichkeit

426 426

1. Die Inhalte des Wiederkehrenden - erkannt aus den Formen der Wiedergeburt 426 2. Wiedergeborene Staatlichkeit - schwer nur erkennbar

427

3. Die vielen Wege der Staatsrenaissancen

428

II. Revolution - „Rückwälzung" in Staatsrenaissance

429

1. Tabula rasa zur Wiederkehr von Staatlichkeit

429

2. „Rückwälzung" - historisierende Revolution

431

3. Wiedergeburt in Gewaltsamkeit

432

4. Revolution - der große Staatsversuch zum Guten

433

III. Der demokratische Machtwechsel - ständige Wiederkehr

434

1. Kontinuitätssuche im Machtwechsel - Grundproblem der Demokratie

434

2. Die politische Wiederanknüpfung - „Politik-Renaissance"

436

3. „Das Richtige" - aus trial and error in Politik-Renaissance

438

IV. Die Verfassunggebung als Staatsrenaissance

439

1. Verfassunggebung - der große Rückgriff

439

2. Demokratisches Verfassungsrecht - wiedererkannte, erlebte Freiheit

440

3. Der demokratische Verfassungsauftrag

442

4. Verfassungsgesetzgebung - kanalisierte Staatsrenaissance

443

5. Verfassungsinterpretation - Staatsrenaissance der kleinen Schritte

445

6. Typische Staatsrenaissance-Inhalte des Verfassungsrechts

447

296

Buch 2: Staatsrenaissance 7. Verfassungsrisiko: Verfassung als Renaissance-Sperre

449

a) Verfassungszementierung

449

b) Verfassungswandel als Öffnung zur Wiederkehr

450

V. Der Gesetzesstaat und die Staatsrenaissancen 1. Gesetz gegen Staatsrenaissance

451 451

a) Die Norm als geschlossener Befehl

451

b) Das „gleiche Gesetz" und die guten Staatsformen

452

2. Gesetzesflut - Gefahr und Chance der Staatsrenaissance

453

3. Staatswiederkehr in entideologisierender Gesetzgebung

455

a) Renaissance gegen Ideologie

455

b) Gesetzgebung als entideologisierende Öffnung zu Staatsrenaissancen

456

4. Verrechtlichende Gesetzgebung - weite Räume für Rezeptionen

457

5. Kodifikation als Rechts-Renaissance

460

a) Kodifikation als Renaissancevorgang

460

b) Von Kodifikation zu Kodifikation

462

c) Kodifikation - ein Reichsrecht in Wiedergeburt

463

VI. Staatsrenaissance durch Verwalten

464

1. „Renaissance der Verwaltung"?

464

2. „Verwalten ohne Renaissance"

466

3. Renaissance-Öffnungen im Bereich der Verwaltung

468

a) Wiedergeburt durch Rechtsanwendung

468

b) Ermessen - Freiheit des Rückgriffs

469

c) Verwaltung - in Organisation und Verfahren renaissance-geöffnet

471

4. Renaissance der Bürokratien

472

5. Verwaltung als „Raum von Gesellschaftsrenaissancen"

473

VII. Renaissance-Wissenschaft - Wissenschafts-Renaissance

474

1. Rechtswissenschaft - Motor der Staatsrenaissance

474

2. Kein „Ende in Kompilation"

475

3. Die große Veränderung - Chance der Rechtswissenschaft

477

D. Wiederkehrende Staatsinhalte I. Die Rückkehr der Staatsgewalten 1. Die Wiederkehr der Könige - das eine Amt an der Spitze a) Monokratie, nicht Monarchie

479 480 480 480

Inhaltsverzeichnis

297

b) Kollektive Staatsspitze? - Konsuln

482

c) ,»Macht als Person" an der Spitze

483

2. Die Ausnahmegewalt

484

a) Souveränität - Entscheidung über den Ausnahmezustand?

484

b) Militär als Ausnahmegewalt

485

c) Die Eingreifgewalt

487

3. Der Senat

488

a) Menschentyp als Institution

488

b) Vom Kollegium der Könige zur Reserve der Staatsmänner

489

c) Senat - Staatlichkeit über den Gesetzen

490

d) „Senatorialisierung der Staatsgewalt"

491

4. Kollegialität des Regierens

492

a) Kollegialität - das Wesen des Regierens

492

b) Das demokratische Kabinett als Ausdruck der Kollegialität

493

c) Reichs-Regierung

495

5. Die Richter - Einzelfallentscheidung als Staatsgewalt

495

a) Das Gesetz des Einzelfalles

495

b) Die richterliche Staatsgewalt und das Gesetz

497

c) Reichs-Richter

498

6. Die Tribunen - der Staat als Anwalt der Schwächeren

499

a) Die Idee des Bürger-Anwalts

499

b) „Anwalt des Volkes" - eine Institution?

501

c) Schwächerenschutz, nicht Schwächerenherrschaft

502

7. „Alle Gewalt geht vom Volke aus"

503

a) Das Volk - Machtursprung, Machtträger

503

b) Das „vergeistigte" und das „reale" Volk

503

c) „Direkte Demokratie und Staatsrenaissance"

505

8. Orientierungen aus der Wiederkehr der Machtträger: Ideen für die Staatlichkeit der Gegenwart 506 a) Staatslehre der Kompetenzträger

506

b) Abschied von der Verfassungssystematik

508

c) ... und von übersteigerter Normativität

508

d) Organisatorische Freiheitssicherung

509

II. Organisationsformen

511

1. Die Amtsidee

511

298

Buch 2: Staatsrenaissance 2. Die Allgegenwart der Staatsgewalt

514

3. Hierarchie

516

4. Der Statthalter

519

5. Die Provinzen

521

6. Selbstverwaltung

523

7. Ergebnis: Verwaltung als Reichsgewalt

526

ΠΙ. Handlungsformen 1. Staatsrenaissance des „vertraglichen Herrschens"

527 528

a) „Privatrecht im öffentlichen Recht"

528

b) Die Vertragsidee

528

2. Der Gesetzesstaat - eine Staatsrenaissance?

530

a) Gesetz als Grundlage allen Herrschens?

530

b) Gesetzestotalitarismus

531

c) Gesetz - als Verfassung

532

3. Geordnete „Freiheit staatlichen Handelns"

533

a) Generalklauseln des Herrschens

533

b) Ermessen - die Majestät der freien Entscheidung

535

IV. Wiedergeburt der Freiheit

537

1. Menschenrechte als totale Staatsrenaissance

537

2. Freiheit als Ordnung

538

3. Renaissance der Freiheit - Wiederkehr der vielen Freiheiten

539

4. Der Primat der persönlichen Freiheit

541

5. Kernbereich der Freiheit

543

6. Staatsrenaissance der Freiheit - in Grundrechtskatalogen und Freiheitsorganisation 544 Ausblick

546

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance: Wiedergeburt, nicht Tradition der „guten44 Staatsformen I. Von der Überzeitlichkeit des Befehls zur Wiederkehr des Volkssouveräns 1. Die Zeitlosigkeit des Herrschens a) Die Norm - „Befehl über der Zeit" Staatsrenaissance - hier wird die Ordnung in der Zeit gesehen, sie dauert, weil sie wiederkehrt. Und doch bedeutet es zugleich die Überwindung der Zeitlichkeit des Befehlens; denn was wiedergeboren wird, nicht nur wiederkehrt, das ist nie ganz vergangen, oder es wird doch gerade seine Zerstörung aufgehoben in einer glücklichen Rückkehr. Die Renaissance der Staatsformen - das ist sogar noch mehr: Gerade aus dem Niedergang der Ordnung, darin, dass sie in Stücke fällt, erwächst die Legitimation des Neuen, welches sie aufnimmt, als sei sie nie vergangen. Seitdem Auferstehung gefeiert worden ist, war dies immer eine stärkere Rückkehr, weit mehr als eine Fortsetzung. Dennoch - die Wiederkehr der Staatsformen ist Gegenstand einer Betrachtung von Normen aus historischer Sicht, ohne ein großes Auf und Ab in langen Entwicklungen kann es sie nicht geben. Im Grunde ist dies gar kein Widerspruch zur Überzeitlichkeit der Renaissance, wie sie sich gerade in deren großer Zeit gezeigt hat: Geschichte wird voll bewusst aufgenommen, dann jedoch in die Unbeweglichkeit des Überzeitlichen erhoben. Staatsrenaissance - das meint eine zeitliche Normbewegung, welche in der Überzeitlichkeit der Wiederkehr der „guten Staatsformen" zur Ruhe kommt. Kein Einwand gegen solche Betrachtungen ist also die Zeitlosigkeit der Normgeltung, des befehlenden Willens überhaupt. Wer immer politisch gestalten will, kämpft ja mit seinem Willen vor allem gegen die Zeit an: In seinem Befehl soll sie stillstehen, in ihm ist sie, wie in einem gedanklichen Augenblick, „ganz" in Erz gegossene Dauer. Wie die Anordnung im Augenblick gegeben wird, so liegt ihr Wesen gerade darin, dass es nach diesem Moment keinen anderen mehr gibt, in welchem nicht dasselbe gilt. Die Befehlskraft entfaltet ein Eigenleben; indem die Anordnung weitergegeben wird, löst sie sich von der Person des Urhebers, der Angriffsbefehl gilt, auch wenn der Führer fällt. In den Normen will Überzeitlichkeit des Befehls weichere Gefäße schaffen, welche die vielfachen, unvorhersehbaren Entwicklungen aufnehmen sollen. Doch

300

Buch 2: Staatsrenaissance

auch das Gesetz will die Zeit stillstehen lassen, darin zumindest ist es so hart wie seine steinernen Tafeln. Die Norm will gelten, hier und jetzt, das Wesen des Sollens liegt gerade in der Überhöhung des Zeitlichen. Das Zeitgesetz, die Überleitungsnorm - all das sind Randerscheinungen, und auch hier läuft die Zeit nicht weiter gegen den gesetzgeberischen Willen, dieser befiehlt nur und stellt darin fest, dass sie abläuft oder bereits zu Ende ist. Das Wesen des Normativen liegt gerade darin, dass hier der politische Wille versucht, das von ihm unabhängige Auf und Ab der Zeiten zu ignorieren.

b) Zeitübergreifendes

Staatsrecht

Zeitlos vor allem will das Normherrschen sein, das öffentliche, das Staatsrecht. Hier wird gestaltet und befohlen, nichts soll es geben außerhalb des Rechts, was sich in der Zeit wandeln könnte, auch gegen die Norm. In der Verfassung steht alles still, ausgelegt wird nicht aus einem Willen einstiger Gesetzgeber, sondern aus dem der Normanwender von heute, weil es eben nur eine Gegenwart gibt, im Grundsatz ist es immer dieselbe. Das öffentliche Recht bedarf der Legitimation seines Willens, es kann sie nicht finden in der Erfahrung immer neu bewährter Ausgewogenheit, wie das interessenausgleichende Zivilrecht. Sein Grund liegt darin, dass es heute so gewollt wird wie gestern, dass es nicht sterben darf, weil sein Anfang unbeachtlich ist, weil es ganz Gegenwart des Befehls bleibt. Auch wenn dieses Herrschen in die Form der Gesetze gegossen ist, so macht es doch nicht dadurch seinen Frieden mit der Zeit, dass es sich ihr öffnet. Denn die Normen des Staatsrechts sind nicht nur zivilrechtliche Kanäle, welche den Fluss der Geschäfte aufnehmen und die Fortsetzung der Familien regeln sollen, Gefäße, in welche der menschliche Wille die Zeit zu fassen versucht. Das Wesen des öffentlichen Rechts ist und bleibt punktueller Befehl, mag seine Form noch so nah den großen Kodifikationen des Zivilrechts kommen - dessen Ruhe, die ein politischer Wille nur am Rande erfasst, wird es nie erreichen, eben weil es die Zeit nicht aufnehmen, sondern anhalten will. Das Herrschen versucht hier den normativen Aufstau gegen die Zeit, daher werden seine Dämme immer wieder gebrochen. Das Gesetz des Staatsrechts kommt nach dem des Zivilrechts und es geht früher - aber in dieser kürzeren Zeit ist es zeitlos, steht es gegen alle Entwicklung. Wer hier „öffnen" will, den Verfassungswandel beschwört, der möchte nur den Befehl eliminieren, die Zeit zum Gesetzgeber ernennen, die unzähligen, unfassbaren kleinen Willen einer Entwicklung an die Stelle des einen großen Willens setzen. In Grenzen mag dies möglich sein, im Letzten ist es schon Verfall der politischen Kraft. Wie also sollte dieses Staatsrecht, das doch weit mehr noch zeitloser Befehl sein will als alle anderen Normen, eine Wiederkehr kennen, wenn es doch die Zeit ausklammert? Die Antwort rechtfertigt die folgenden Betrachtungen: Den zeitlichen Fluss kennt das politische Herrschen nicht, wohl aber die große Welle, denn es will

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

301

selbst stets eine solche sein, wie aus dem Nichts kehrt es mit einem Mal wieder, in Stücken oder im Ganzen. Die höhere Befehlsordnung mag zerbrechen wie das Römische Reich, sterben kann sie nicht, weil ihr Beginn eben doch nur ein Faktum war, das große Staatsrecht aber Geist bedeutet, über aller Zeit. So ist denn die Wiederkehr der Staatsformen, über welche hier gesprochen werden soll, nicht ein Gegensatz zur Zeitlosigkeit des herrscherlichen öffentlichen Rechts, sie ist seine „Über-Zeit", die Dimension, in der es sich bewegt, die Zeiten überspringt, die kleineren Abläufe unter sich lässt. Es bleibt schon dabei: Zeit steht immer gegen alles Herrschen, doch die größere staatsrechtliche Ordnung setzt diese selbe Zeit ein, für sich und zur Überwindung der dauernden Abläufe, im immer neuen Anlauf der Wiedergeburt. So lässt der politische Wille die Zeit wirken zu ihrer eigenen Überhöhung. Dass Zeit nicht mehr sein wird, war stets eine Endzeithoffnung der Menschen. Der mächtige politische Wille möchte dies schon jetzt eintreten lassen, die größeren staatlichen Ordnungen bewegen sich in Renaissancen, sie verebben nicht in Traditionen. Die tägliche kleinere Zeit wird aufgehoben in der gerafften höheren, in der politischen Wiedergeburt.

2. Formen der Wiederkehr größerer Staatlichkeit Es genügt nicht, dass Renaissance eine mögliche Denkform größerer staatlicher Ordnung ist - als solche muss sie erfahren werden, in geschichtlichen Vorgängen. Dies soll in den folgenden Kapiteln gezeigt und als Form der Staatsrenaissance bewusst werden. So ordnet sich dann Erfahrung und Praxis in eine Denkkategorie ein, welche Erklärungen gibt für Künftiges, und Anstöße. Staatsrenaissance wird fassbar vor allem - das sei schon hier gesagt - in größeren politischen Erscheinungen: - Probleme kennt das Staatsrecht, die immer wiederkehren, periodisch von neuem Lösungen verlangen, als wären sie eben entstanden. Und doch erkennt längere Erfahrung in ihnen jene „ewigen Fragen" der Ordnung oder einer bestimmten Grundform von ihr, in denen nicht eigentlich Fortschritt stattfindet, in denen selbst Revolutionen nur, in einer tieferen Bedeutung des Wortes, ein Rückwälzen bedeuten. Da sind die Formen der Vertretung des Staates „nach außen", seiner Verkörperung im Staatsoberhaupt, das nicht befiehlt und regiert; da erhebt sich die immer neue Frage nach dem Direktionsrecht des Chefs der Exekutive; da sind die stets gleichbleibenden Fragen der Ordnung großer politischer Versammlungen, der Parlamente zumal, und, vor allem, die der Bewahrung einer einmal gefundenen, immer wieder verlorenen Freiheit. All dies setzt eine längere, in gewissem Sinne eine imperiale Kontinuität der Ordnung voraus, doch diese hebt die Renaissancen nicht auf, verdrängt sie nur in andere Formen, verstärkt sie in diesen sogar, in der Lösung der „ewigen Probleme", die sich so in schein-

302

Buch 2: Staatsrenaissance

barem Gleichklang und doch immer neu stellen. Hier entsteht eine Art von „Diskontinuität aus Kontinuität"; dem in großen Abläufen kanalisierten Willen bleibt die Illusion, dass er neue Lösungen setze - und dabei kommt so oft nur das Alte wieder, fast mit Notwendigkeit. So hebt auch die stärkste scheinbare Kontinuität den Sprung nicht auf, der nach vorne führt, aber mit der Schubkraft, nur zu oft, des längst Vergangenen - Vergessenen. - Die Wiederkehr politischer Machtkonstellationen, in mehr oder weniger nur veränderter Form, ist eine Grunderscheinung der bekannten Staatlichkeit, heute aber versucht das Staatsrecht geradezu, diese „Wiederkehr der Politiken" zu ordnen, zu institutionalisieren. Dies ist der tiefere Sinn des demokratischen Machtwechsels, was hier geschieht wird ausgedrückt in dem bedeutungsreichen englischen „come back" - die Rückkehr an die Macht, nur zu oft als Renaissance früherer Politik verstanden und ausgestaltet. Hier zeigen sich eben auch die Grenzen des Normativismus in der gegenwärtigen Ordnung - mögen auch die Normen nicht wiederkehren; Politik, das Regime, welches sie einst trug, kehrt zurück und beginnt wieder neu, im Grunde „wie damals". Jeder Machtwechsel der entwickelten Demokratien hat dies immer gewollt: die geordnete Staatsrenaissance im Kleinen. - Der größere Ordnungswille ignoriert die Zwischenzeiten, in denen er nicht hat befehlen können. Immer hat es sie gegeben, im Großen wie im Kleinen, so hat die römische Spätzeit die Barbareneinfälle zu bewältigen versucht, so der Gaullismus die Zwischenzeit des Vichy-Regimes: immer „wie wenn nichts gewesen wäre", im Sprung zurück, und sei es über Jahrhunderte, wie es der Nationalsozialismus unternehmen wollte. So wird auch die Bewältigung des Ausnahmezustandes verstanden: Er schiebt sich ein, schafft Diskontinuität, dann aber soll alles wieder beginnen „wie früher". Traditionsfreudigkeit will „einfach anknüpfen", doch es hat eben die Zwischenzeiten gegeben, sie und ihre politischen Regime werden nur bewältigt aus der Kraft einer wahren Wiedergeburt des Früheren. England hat es über zwei Weltkriege hinweg versucht, ganz ist es nicht gelungen. Dies waren Erscheinungen einer kaum bewussten Renaissance, die sich nur als Tradition fühlt, als Fortsetzung der Kontinuität einhergeht. Doch es gibt andere Phänomene, die größere, bewusste Übernahme, die zur Wiedergeburt werden soll: - Die „gute, entfernte Lösung", gut vielleicht nur weil fern, wird immer wieder gesucht und gefunden, übernommen wird sie dann, als sei sie heute geboren, nicht zuletzt so oft mit jener Kraft des Unbewussten, welche sich schöpferisch der Tradition und Nachahmung entzieht - aber auch umgekehrt mit der ganzen Legitimationskraft einer neu entdeckten, wieder erlebten Vergangenheit, so wie es die große Renaissance ein für allemal in die Welt gebracht hat. Da ist die ständige Wiedergeburt der römischen Staatlichkeit, vom Mittelalter über das Empire bis zum Faschismus, da ist die deutsche Staatsromantik des 19. Jahrhunderts, die Wiederbelebung der Führeridee in naher Vergangenheit, und diese

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

303

„germanische Renaissance" läuft ja auch immer noch weiter, wo das Obereigentum der Gemeinschaft über das liberale Individualeigentum des Bürgers heute gesetzt wird. Und da sind schließlich jene zahllosen Renaissanceformen des Demokratischen, des Völkisch-Antiaristokratischen, welche sich heute allenthalben zeigen, bis hin zu Renaissance-Bewegungen früher Gemeinschaftsvorstellungen in den christlichen Kirchen. Tradition ist hier nicht Kontinuitätszwang, sondern eher ein großes Ruinenfeld, in dem immer wieder glückliche Ausgrabungen stattfinden, Experimente der Vergangenheit werden mit dem selben Schwung des Neuen wieder aufgenommen, in dem sie seinerzeit abgelaufen waren. - Eines wird stets wohl zu wenig bedacht: dass die größere Entfernung, aus der heraus allein es zur Wiedergeburt kommen kann, nicht nur als eine zeitliche vorstellbar ist, dass hier auch große räumliche Distanz eine quasi-zeitliche Bedeutung erreicht. Was aus Recht und Staatlichkeit der Vereinigten Staaten heute übernommen wird, im Osten früher aus russischer Imperialität kam, das sind im Grunde immer Renaissancen, das einst größer Gedachte und Gelungene wird, kleiner vielleicht, dafür aber neu entwickelt in einer anderen Welt. Darin muss mehr gesehen werden als Rechtsvergleichung oder als die Imitation durch Vasallen, mag auch vieles von all dem mitschwingen; was an Kraft darin liegt, verleiht die Staatsrenaissance. - Die „goldene Zeit" - das war stets mehr als eine historische Reminiszenz, immer wirkte darin zugleich eine Kategorie imperialer Dogmatik. Es hat eben immer wieder in der Geschichte etwas gegeben wie „glückliche", besonders bedeutsame, „klassische" Zeiten der Staatlichkeit und ihrer Ordnung. Und wo die Geschichte sie nicht zeigen kann, da werden sie erfunden, von der attischen Demokratie zur römischen Republik, bis hin zu den ersten begeisternden Jahren der Französischen Revolution. Dies sind nicht die goldenen Jahrhunderte der römischen Kaiserzeit, jene Perioden des Glücks im Genuss. Was Staatsrenaissance meint mit ihren goldenen Zeiten, das sind die erregten und gequälten Perioden des Schaffens, mehr glückhaft für Spätere als glücklich in sich. Hier findet Staatsromantisierung im größten Stile statt, und es liegt darin etwas von der Erkenntnis der unnachahmlichen, unwiederbringlichen Größe des ersten Augenblicks, der nicht nachgelebt, der nur wiedergeboren werden kann. Etwas davon haben die Demokraten stets in ihre oft so banalen, immer aber später hoch beschworenen verfassunggebenden Augenblicke gelegt. In der Wiederkehr, das ist entscheidend, wird diese Vergangenheit bis heute nur noch schöner und größer Renaissance vergoldet. Der staatsrechtliche Spät-Rationalismus, vielleicht das letzte Kind der politischen Aufklärung, hat nicht nur Gottesgnadentum und Romantik, er hat auch die Geschichte verdrängen wollen. Dies ist viel weniger gelungen als man es wahrhaben will. Diese Kapitel sollen zeigen, dass große Lehren der Renaissance verdrängt, nicht aber vergessen werden können, dass sie das Denken in größeren Ordnungen auch heute noch prägen. Es muss eben nur - auch dies wiedergeboren werden.

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Buch 2: Staatsrenaissance

3. Demokratische Staatsrenaissance Was nicht in die Welt der egalisierten Bürger sich fügt, ihren Verteilungswünschen entspricht, ist Vergangenheit, und sei es ein hoher Grundsatz, ein tiefes Erleben von gestern. Gerade deshalb gilt es, heute über Staatsrenaissance nachzudenken - sie ist weder untrennbar verbunden mit der monarchischen Gewaltenübertragung von Person zu Person, noch ist sie Frucht eines aristokratischen Denkens, welches die Vielen von der Macht fernhalten wollte. Wohl war es eine geistige Elite, der das große Renaissance-Erlebnis einst geschenkt worden ist, wohl zeigte es besonders die aristokratischen Seiten der römischen Reichs-Welt. Staatsrenaissance ist heute aber vor allem demokratisch zu denken, ein Erklärungs- und Legitimationsbegriff für die entwickelte Volksherrschaft, will sie sich neue, größere Ordnungen schaffen: - Der Volkssouverän ist nach dem Grund-Credo dieser Staatsform unsterblich, er konnte zuzeiten, für Jahrhunderte vielleicht, als organisierte Vielheit aus der Macht verdrängt werden, die natürlichen Rechte seiner Glieder mochten in Vergessenheit geraten. Doch kein Souverän ist so wie dieses Volk ein Herr der Wiederkehr, in ihr legitim, mächtig, dauernd. Nur das Volk kann in diesem Sinne Jahrhunderte überspringen, und wenn es am Anfang der universellen Menschenrechtserklärung von 1789 heißt, es gelte, die vergessenen Grundrechte wieder zu befestigen, so war dies, in einer Welt des so oft antigeschichtlichen Rationalismus, ein großer Augenblick der Staatsrenaissance. Wann immer das Volk in großen Revolutionen wiederkehrt, da ist wahre Wiedergeburt, die Erweckung einer schlafenden, tieferen Souveränität. - Die Wiederkehr der „guten Staatsformen" mag - dies wird noch näher zu verdeutlichen sein - in institutionellen Formen erfolgen, als Ausdruck sogar eines großen Befehlens. Stets vollzieht sie sich jedoch in der Breite der Gesamtbürgerschaft, welche nur die Demokratie mit ihrer Volkssouveränität geistig besetzt hat. In Institutionen und Moden, in Normen und ganz einfach in einem Verhalten hat Staatsrenaissance nur dann Raum, wenn sie von den Vielen, wenn sie von allen im Grunde getragen wird. Und nicht umsonst ist diese Wiedergeburt in ihrer klassischen Periode das Ergebnis einer großen Verbürgerlichung gewesen, hat sie neue religiöse Grundformen in einer Reformation gefunden, welche das allgemeine Priestertum proklamiert und damit geistige Demokratie über die Welt getragen hat. Historisierende, verfeinernde Übernahme wird stets ein Privileg der Elite sein; große Staatsrenaissance vollzieht sich dort, wo die Ordnung aus allen geboren wird. - Teilung und Umverteilung, die demokratischen Zentralworte der Gegenwart all ihre Inhalte hatten stets die große Chance der Staatsrenaissance, ihre Gegenbegriffe, die Privilegien, sind gewiss kein Begriff der Wiedergeburt. Ihre Legitimation hängt ja an der ununterbrochenen Kette des ständig Geübten, der selbstverständlich gewordenen, darin immer weiter lebenden Vergangenheit. Ganz

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anders die Grundforderung der Verteilung: Mit ihr soll korrigiert werden, was, über kurz oder lang, von der Gerechtigkeit abirren konnte, ein alter Kurs wird wieder hergestellt, Verteilungen wollen immer gewähren, was „eigentlich geschuldet" war oder ist. Wer sie nur als Fortschritt verstehen will, nimmt ihnen die letzte Legitimation, die mindestens ebenso stark in einer Ursprünglichkeit nicht Vergangenheit - liegt, welche in Staatsrenaissance wieder Gegenwart werden soll. Das große Geschichtsbedürfnis gerade der Arbeiterbewegung ist dafür ein Zeichen. Die Demokratie ist im 19. Jahrhundert neu angetreten gegen die alten Mächte der Geschichtlichkeit. Doch man würde sie nicht verstehen, ihr den geistigen Hintergrund nehmen, wollte man nicht erkennen, dass gerade die Volksherrschaft gegen den monarchisch-aristokratischen „Lauf der Zeit" ein anderes Grundprinzip setzt: etwas wie die Zeitlosigkeit des Volkes, im Grunde damit aber nur eine höhere Zeit, die sich in Renaissancen bewegt. Wenn es daher demokratische Ordnung geben soll, nicht nur demokratische Verteilungen, so darf das Recht des Volkes nicht tradiert, es muss immer von neuem geboren werden, so wie in jedem Augenblick in der Geburt eines neuen Bürgers die Volksherrschaft neu beginnt.

II. Staatsrenaissance eine Form des imperialen Denkens Das Reich, der Gedanke der großen, dauernden Ordnung, wächst heraus aus einer Überhöhung der Kategorien des menschlichen Denkens: Es wird nicht nur in Formen einfacher, geschichtlicher Kausalität angestoßen, es setzt mit der Macht des großen Triumphes ein, der es als causa continua begleitet. Und nichts anderes wird sich hier ergeben für die zeitliche Dimension der Imperialität: Sie wird in Staatsrenaissance erkannt.

1. Das Reich - unsterblich in Wiedergeburt Dauer bedeutet so viel für die Legitimation einer größeren Ordnung. Was noch so mächtig war in seiner Kausalität, noch so weit in einem beherrschten Raum sich hat entwickeln können - es mag ein Großreich des Augenblicks gewesen sein, ein Reich war es nicht. Damit hat sich das römische Imperium als Idee aus der Großreiche Flucht stets herausgehoben, dass hier die Dauer verehrt werden konnte, es ließ sich über den Untergang der Römer nachsinnen, weil sie in der Gegenwart schon wieder ganz groß geworden waren. Doch diese Zeitlichkeit des Reiches ist nicht die der geschichtlichen Staatlichkeit allein. Aus ihr hebt es der Triumph heraus, in dem es bereits unsterblich begonnen hat, die vielen Jahre, die es in der Wirklichkeit dauert, sind nur der Saum 20 Leisner

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seines Gewandes, der großen imperialen Überzeitlichkeit. So viel Zeit ist dieser Ordnung geschenkt, dass ihr Ablauf als solcher bedeutungslos zu werden scheint, dass die Zeit stillesteht in der imperialen Ruhe. Dies gerade aber bringt die Staatsrenaissance: Zum einen baut sie die Bögen der ganz weiten, langen Dauer, über die hinweg sich das Imperium befestigt, Wiedergeburt muss immer in vielen Generationen gedacht werden. Zum anderen können diese Zwischenzeiten so im wahren Sinne des Wortes überwunden werden, sie werden hineingenommen in größere Abläufe, deren Tage und Jahre der menschliche Wille setzt, nicht Aufstieg und Untergang natürlicher Sonnen. Nicht nur, dass das Reich unsterblich ist in seinem bleibenden Ordnungsgedanken, sein Tod wird überwunden in der Auferstehung seiner politischen Ideenwelt. Die Geschichte mag ein Imperium unterspülen, seine größeren Steine werden immer wieder aus den Wassern gezogen. Die Politik mit all ihren Wechselfällen, ihren Höhen und Tiefen, ist eine Herausforderung für das Reich, im Grunde ist es niemals in diesem Sinne „politisch gedacht" worden. Wenn es wiederkehren kann, das Vergessen selbst überwindend, dann ist ein Monument entdeckt worden, das nicht zu Früherem, sondern zu Größerem mahnt. Wenigstens in diesen Augenblicken seiner Wiederkehr ist das Römische Reich wahrhaft unsterblich, hier erfüllt das Imperium eine Menschheitshoffnung.

2. Imperiale Wiederkehr - nicht Überdauern der „guten Staatsformen" Die folgenden Betrachtungen werden sich nicht nur damit beschäftigen, dass irgendetwas aus der politischen Geschichte zurückkommt, als sei es nie vergangen. Nicht reine Historie soll hier untersucht, nicht allein ihre rechtliche Mächtigkeit dargestellt werden, dies sind nicht Kapitel einer historischen Staatsphilosophie. Sie wäre nur dann auch heute dogmatisch mächtig, wenn zur Zeit ein allgemeiner Historismus herrschte, der nichts als den Blick für das Vergangene kennt, dieses verehrt - kaum ist man von etwas heute weiter entfernt. Der Fortschrittsrationalismus stellt dem Staatsrecht seit Jahrhunderten eine andere Frage, die es sogar in der heutigen „technischen" Welt nicht verlässt: Wo sind - nicht die großen, wo sind die guten Staatsformen? Dies ist auch typisch demokratisch gefragt: Groß und unendlich mächtig ist der Volkssouverän ohnehin, was er sucht, ist nur eines: was (für ihn) am besten ist, das für ihn richtige Recht. Diese staatsrechtliche Qualitätsfrage an die Ordnung und ihre Elemente ist heute eine große Chance zum Reich, mag sie auch so oft in der Form kleinbürgerlicher Moralisierungsversuche auftreten. Die griechische Frage nach dem nicht mächtigen, sondern nach dem richtigen Staatsrecht wird wieder aufgenommen, welche in machiavellistischer Staatsmathematik so lange verdrängt wurde - auch einem Ausdruck der Renaissance. Hier bedarf es des staatsrechtlichen Prüfstandes, und wo könnte er anders gefunden werden als in den glücklichen Augenblicken einer Vergangenheit, welche das „Richtige", das dauernd Imperiale noch heute zeigt?

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Für die gegenwärtige Demokratie in ihrem politischen Entwicklungszustand bleibt dies eine notwendige Frage, eine unausweichliche Prüfung: Die Volksherrschaft ist ja eine politische Form, in welcher sich heute die Wahrheitsfrage täglich neu stellt, weil sie die Fortschrittsdimension zum immer noch Richtigeren entwickelt hat und daher die Gütefrage vor allem an ihre Staatlichkeit, an alle einzelnen Formen derselben, richten muss. Eine Staatsform, welche die Wahrheit nicht kennt, aber an sie glaubt, ihr überall in Freiheit Raum gewähren will, damit sie in trial and error gefunden werde - für sie ist eben nicht das Wahre mit dem Willen der Mehrheit identisch, und es gilt gewiss nicht das fatale Wort eines französischen Justizministers an seine politischen Gegner: „Ihr habt juristisch Unrecht, weil ihr politisch in der Minderheit seid". Wenn Mehrheit nicht mehr ein Verfahren, sondern eine Wahrheit ist, stirbt die Demokratie. Stark ist sie stets gewesen in ihrer Frage nach den guten Staatsformen. Mathematisch-naturwissenschaftliches Denken, welches die Politik erfasst hat, sucht diese Güte in einer Prüfung wesentlicher Zeitlosigkeit, in geradezu beliebigen Rückgriffen und Vorblicken, welche die Zeit nicht kennen, nur das Experiment, das in ihr stattfindet - zur Wahrheit. Solche wahre „Rückgriffe in Zeitlosigkeit", wie sie der rechnende Geist mit Selbstverständlichkeit vollzieht, verlangen geistige Dimensionen, die mit der traditionellen Historie allein nicht abzustecken sind. Dauer - das mag eine Art der politischen Materialprüfung sein wie eine andere, Richtigkeit beweist sie allein nicht, diese kann auch im genialen Augenblick liegen. Dieser mathematische Geist will im Grunde nur immer erkennen, auch in der Politik nur Erkennbares, Erkanntes in Wirkmächtigkeit umsetzen. Dahinter stehen Kategorien, welche geradewegs zu dem führen, was hier Staatsrenaissance genannt wird: Mögen die großen Augenblicke eines Reiches lange gedauert haben oder nur kurz wenn sie wiedergeboren werden können, als seien sie nie vergangen, so ist letztlich nur etwas geistig Seiendes erkannt worden, eine Formel, die einfach wahr ist, ein goldener Schnitt, der Vergangenheit und Gegenwart zusammenführt. Im Denken jener neueren Mathematik, welche die Welt erschlossen hat, sind geradezu Grundmodelle dieser Staatswiederkehr angesprochen, in der die Zeiten, ihre Höhepunkte zusammengefasst werden: Das Integral addiert nicht, es fasst zusammen, es schafft eine endliche Einheit über der unendlichen Vielheit immer kleinerer Größen. In einer solchen formalen Methode bewegt sich die Staatsrenaissance, welche nur den Gesamtraum des Imperiums absteckt, seine kleineren Momente vergisst, nein: einfach integrierend einbezieht. Und mit der ganzen Selbstverständlichkeit des mathematischen Geistes, in dem Güte und Richtigkeit zusammenfallen, sucht auch dieses demokratische Staatsrecht im Integral der Wiederkehr seiner größten Momente nur eines: die wahrhaft guten Staatsformen. Aus der Zeit heraus, aber über die Zeit hinaus - das ist nicht nur ein Weg des politisch Richtigen, es ist die Straße des politisch Guten, auf der sich das ewige Reich bewegt. Nur in seinen größeren Dimensionen kann nach Staatsrenaissance gefragt werden. 20*

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I I I . Gute Staatsformen, „klassisches Staatsrecht44 Voraussetzung aller Staatsrenaissance 1. Machiavellismus - Machtkalkül als Gegenthese zu den „guten" Staatsformen? Zum Begriff der Renaissance gehört es, dass Gutes wiederkehrt, Besseres jedenfalls als die Gegenwart es zu bieten vermag, mehr noch: das Beste überhaupt, Formen, welche den Namen des „Klassischen" verdienen, und ebensolche Inhalte. Der Machtrationalismus, welcher in eben der großen Renaissance mit Machiavelli seine höchste Form gefunden hat, ist seither meist als Leugnung dieser These von der Möglichkeit „guter" Staatsformen verstanden worden - zu Unrecht: Hier sollte ja nicht in Frage gestellt werden, dass eine Politik besser sein könne als die andere, dem Nachweis des „Klassischen" gerade ist das ganze Denken Machiavellis gewidmet; er findet es nur nicht in den moralisierenden spätscholastischen Vorstellungen vom „gerechten Krieg" oder ähnlichen inhaltlich bestimmten Staatsideen. Er lehrt vielmehr das voll formalisierte Staatsrecht, die geschickte Staatspraxis, aber gerade dazu will er ein Lehrbuch schreiben, des Kalküls, der Macht. Wo immer sich solcher Machiavellismus, im Grunde nur „formalisiertes klassisches Staatsrecht", fortsetzt, dort werden zwar die Staatsideen entmoralisiert, doch was bleibt, ein „formales Staatsrecht", wird erst recht als ein klassisches gedacht. Nicht umsonst wächst es ja heraus aus der großen Renaissance, welche hier in der Macht-, in der Gewaltpraxis griechischer Tyrannen und römischer Imperatoren zurückkehrt. Die Fortsetzer des Machiavelli, vor allem die Völkerrechtsleugner, haben so gedacht und gerade deshalb die antiken Autoren als Lehrmeister der klassischen Machttechnik in der Staatspraxis ihrer Tage wiederkehren lassen. Die Vorstellung von den „rein formalen guten Staatsformen", von der perfekten Machttechnik, setzt sich auch später immer dort fort, wo Vorstellungen vom „inhaltlichen Guten" in der Politik nicht mehr angenommen werden oder doch zurücktreten. Fast immer ist dies eine Art von „zweitem Takt" großer politischer Entwicklungen gewesen: Sie setzten ein mit dem Durchbruch naturrechtlicher oder doch ähnlicher Gedanken, wie etwa in der Frühzeit der Französischen Revolution, in den sozial-moralischen Überzeugungen der kommunistischen Arbeiterbewegung oder in den Freiheitsvorstellungen junger Völker im 20. Jahrhundert. Schnell aber flachen solche inhaltliche Ideen ab, sie treten zurück hinter die Beschäftigung mit den Mechanismen einer durch sie neu hervorgebrachten staatlichen Macht. Diese als solche, ihr jeweiliger Ausdruck, wird nunmehr zum wirklichen „StaatsGuten". Am deutlichsten zeigt sich dies in der Entwicklung der Französischen Revolution, in der oft beschriebenen Wendung von der inhaltlichen Bestimmung der „guten Staatsformen", die kommen sollen - in den Menschenrechten vor allem - zu einer Formalisierung, welche nur ein Gutes mehr anerkennt: den Volkswillen, die jeweilige Mehrheitsentscheidung, das Verfahren - die voll formalisierte „gute" Staatsform. Und auch dies sind Formen eines Machiavellismus, eben einer „rein

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formal" verstandenen „guten" Staatsform. Hatte übrigens nicht auch Machiavelli vor allem einen Herrschaftszynismus beschrieben und gefeiert, welcher spätere Entwicklungszustände staatlicher Gewalt herausstellte, in denen wertfreies Verfahren schon stärker ist als die Begeisterung für Gedanken, welche verwirklicht werden sollen? Vor einer Verengung der Betrachtung ist also zu warnen: Will man den Begriff der „guten Staatsformen" erfassen, so gehören dazu auch die Erscheinungsformen einer Machttechnik, welche die Bezeichnung des „Klassischen" verdienen, als solche auch in Staatsrenaissance zurückkehren. Dies gilt ebenso für den Primat des demokratischen Mehrheitswillens bei inhaltlich beliebigen Entscheidungen des Volkssouveräns, wie für die rein formal bestimmten diktatorialen Vollmachten der Notstandsgewalt. Eigentliche Antithese zu den „guten Staatsformen" - dies zeigt sich schon hier - mag dagegen etwa sein: willkürliche Beliebigkeit der Machtausübung, aber auch ein Experimentieren, welches die höhere Güte-Frage nicht stellt, vielmehr in reiner Macht-Gegenwart auf höheres Ordnungsdenken verzichtet.

2. Die Suche nach „guten Staatsformen" - eine alte Tradition a) Die Platonische Staatsphilosophie: „Der Idee am nächsten" Ein erkennbarer Ausgangspunkt der Vorstellung von „guten Staatsformen" liegt in der ersten größeren Erscheinung des griechischen Staatsdenkens, in der platonischen Ideenlehre. Ihr Zentrum ist die Antithese von „Gutem" und „Schlechtem" - verstanden nicht nur in einem moralischen, sondern in einem viel weiteren Sinn einer geradezu ontologischen Frage nach der „Qualität des Seins". Diese Kriterien legte Piaton nicht nur an das Verhalten des Einzelmenschen an, er übertrug sie sogleich und ganz natürlich auf die Organisation der Gemeinschaft, auf die einzige Form, in welcher es ein „Verhalten" derselben geben kann. Wie im Leben des Einzelnen, so muss auch für die Gemeinschaft ein Richtpunkt bestimmt werden, mit Blick auf welchen man dieses „Gute" erkennen kann. Immer ist es im platonischen Denken die „Idee", das Wesen einer perfekten Staatlichkeit, der man sich mit den „guten Staatsformen" nähert, welche mit den „schlechten" verfehlt wird. So wie der Mensch diese Formen in seiner Kunst und Dichtung zu suchen hat, so vermag er sie auch für das politische Zusammenleben zu finden - wiederzuentdecken, denn sie sind schon da, geistig vorgegeben, sie können nur reinkarniert - eben wiedergeboren werden. Nach platonischem Staatsdenken findet immer dort, wo „gute" Staatlichkeit auf Dauer errichtet wird, notwendig etwas wie Staatsrenaissance statt, denn jede Staatssuche ist „unmittelbar zur Idee" der guten Staatsformen, sie greift traditionslos zu jenen geistigen Sternen, in denen die Staatsideen aufgehängt sind. Hegels Idee vom Staat als Ausdruck der höchsten Geistigkeit ist nichts anderes als ein formalisiertes Fortdenken sol-

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cher platonischer Vorstellungen von einer organisierten Gemeinschaft, die „ihrer Idee am nächsten kommt". Man mag darin eine Abstraktion sehen - in der platonischen Philosophie ist sie nicht ausgeprägt in diesem Sinne. Der Idee des „guten Staates" kann sich die Gemeinschaft ebensowohl nähern im Konsens über inhaltliche Werte, etwa über die Ziele der Paideia, als auch in der Formalisierung der „besten Organisation". Wie ein geistiges Schicksal des Nachdenkens über die „guten Staatsformen" zeigt sich allerdings beim späteren Piaton jene Formalisierung, in welche die Suche nach dem „Guten" hier so rasch mündet: Die „beste" Staatsform ist am Ende die perfekte Organisation des Wächterstaates: Gut ist zuallererst das Verfahren - und diese Einsicht wird im Folgenden immer wieder begegnen. Zu bedenken bleibt aber, dass dies, seit Piaton bereits ein Ausdruck später Stufen des Denkens ist. In wahrhaft großer Staatsrenaissance werden auch, wenn nicht zuallererst, wertorientierte Inhalte wiedergeboren. b) Die aristotelischen

„guten " Staatsformen

Die Staatslehre des Aristoteles ist für Jahrtausende das Zentrum eines „Denkens in guten Staatsformen" gewesen, hier empfängt dieses „Denken in klassischen Kategorien seine klassische Form". Nun wird nicht mehr, wie noch so oft bei Piaton, konstruiert und postuliert, aus der Sicht der Ideen wird das Material der politischen Wirklichkeit überblickt und geordnet, vor allem aber stets auch gewertet. Aristoteles hat so die geschichtliche Dimension der „guten Staatsformen" erschlossen, damit aber erstmals ein wahres „Denken in Staatsrenaissancen" ermöglicht: Wenn neue, größere Organisationsversuche in einer politischen Gemeinschaft unternommen werden, so mochte es nach Piaton scheinen, als werde „unmittelbar in das Reich der Ideen gegriffen", als erfolge nichts als ein unzeitlicher dogmatischer „Griff nach oben". Das aristotelische Denken in geordneten Staatsformen ermöglicht die Übernahme, den Rückgriff auf geschichtlich existente Beispiele, mögen sie auch verwandelt wiedergeboren werden. Die Wiedergeburt bedeutet nicht mehr die Erscheinung einer „Idee des Guten", welche in die Niederungen der Wirklichkeit hinabtaucht, nun wird repliziert, und warum sollte dann nicht die Renaissance schöner sein als ihr Vorbild, so wie die Auferstehung erst das wahre, höhere Leben bringt? In einem anderen Sinne noch erschließt sich im aristotelischen StaatsformenDenken erst die ganze Dimension für Staatsrenaissancen: Bewusst werden nun nicht mehr nur Elemente, einzelne Lösungen eingeordnet und bewertet, es beginnt der Systemvergleich, damit aber können auch ganze Ordnungen, staatsrechtliche Welten wiedergeboren werden, politische Sehnsucht richtet sich von nun an vor allem auf dieses Größere. Bescheidener ist sicher diese aristotelische Staatsformenlehre des Realismus, das „Entweder-Oder" der platonischen Ideensuche ersetzt sie durch vorsichtige

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Stufungen. Doch auch dann noch, vielleicht gerade in einem solchen Denken, ist Suche und Wiederkehr „guter" Staatsformen möglich, nicht mehr in Begeisterung für Extreme oder in Nostalgie für Verdämmerndes, sondern in einem Realismus, der gerade heute besticht, der aber doch nicht den Sinn für ein Werden verliert, in welchem einstige Güte zurückkehrt.

c) Insbesondere: „ Gemischte " - gemäßigte Staatsformen Ein Denken in Kategorien der Wiederkehr „guter" Staatsformen, deren Vorstellung selbst, ist aber besonders deutlich geworden in der aristotelischen Lehre von den gemischten und damit gemäßigten Staatsformen als den besten, in denen ein Staat zu gestalten ist. Gerade in ihnen ist etwas wie Wiedergeburt möglich. Hier hat sich eine große Vermenschlichung vollzogen, eine Absage an jeden Absolutismus des allein Seligmachenden. Was ausgewogen funktioniert, sich so halten kann in größerer Ordnung, hat einen Gütebeweis erbracht, muss daher darauf untersucht werden, wo Ähnliches sich schon einmal fand, damit es heute wieder kommen darf. Nicht eine Grundidee, sondern nur die Kombination mehrerer, ihre gegenseitige Mäßigung, bringt dann die „gute" Staatsform, und dies gilt selbst für ihre einzelnen Elemente: „Gut" sind sie nur dann, wenn sie, ebenso wie der gesamte Körper, jene Mischung und Mäßigung in sich tragen, welche die Verbindung von Monarchie, Oligarchie und Demokratie kennzeichnen. Eine Grundform des Denkens in Staatsrenaissancen ist damit vorgegeben: Nur selten kann erwartet werden, dass sich hatte, absolute Richtigkeit aus der Vergangenheit ausgraben und übernehmen lässt, stets muss die Flexibilität des Suchens, der mäßigende Versuch, heute Vielfaches, Vielfältiges zusammenzusehen, dem entsprechen, was schon in der Vergangenheit als „Gutes" erkannt werden darf: die vielfaltige, und damit notwendig elastische Kombination von Grundelementen, in der allein sich die Vielfalt menschlichen Denkens, menschlicher Leidenschaften ausdrücken kann. Die absolute, kämpferische Staatsrenaissance ist zum Scheitern verurteilt, sie kann nie in die Ruhe eines Reiches führen, will sie nichts von kombinierter früherer Staatsweisheit wiedererleben lassen. Dies war eine Schwäche der Germanozentrik der national-sozialistischen Wiederkehr-Ideologie. In diesem Denken in Mischungen und Mäßigung der „guten Staatsformen" liegt zugleich eine Hinwendung zu einem „Allgemein-Menschlichen". Den Unterschieden in Temperament und Charakter kann und soll ja auf solche Weise entgegengekommen werden, aber immer innerhalb der Kategorien und Grenzen, welche eben doch letztlich das „Gute" bestimmen. Dann kann auch wiedergeboren werden, unter anderen Himmeln und in neuen Zeiten, weil der Gedanke der Mäßigung die Anpassung gestattet, ohne den Kern zu verlieren. In der Staatsrenaissance bleibt so das zutiefst Menschliche jeder Wiedergeburt erhalten: Zuerst muss eine Idee vermenschlicht sein, muss ein Gott Fleisch annehmen, bevor er sterben und dann auferstehen kann.

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So liegt denn in der Staatsrenaissance die ganze völkerübergreifende Kraft des Imperialen: die Überzeugung, dass nicht „jedes Volk seinen eigenen Weg gehen soll", ganz allein, ohne Gefühl für „gute Staatsformen", die ihm eine große Geschichte anderer zeigt. Es gibt etwas wie die völkerverbindende Kraft großer Staatsideen, die vielleicht für jede Nation neu geboren werden, sich in einem aber vor allem gleichen: in der Verbindung gewisser Grundelemente des Völkischen, Aristokratischen, Monarchischen, die nicht ungestraft gebrochen werden kann, jedenfalls eines Tages immer wieder zurückkommen wird, mit dem Willen der Mächtigen des Augenblicks oder gegen ihn. Die Idee der „guten" Staatsform als einer gemischten und gemäßigten bedeutet im Letzten, dass in Staatsrenaissance nicht etwa nur Ideen in späteren Gehirnen wiedergedacht werden, dass mehr zurückkommt: der Reichtum einer vielfältigen „guten", geistigen Lage.

d) Das christliche Naturrecht und die „guten" Staatsformen Im christlichen Staatsdenken, vor allem in seinen naturrechtlichen Ausprägungen, sind von Anfang an Chancen für den Gedanken „guter" Staatsformen angelegt - aber auch Gefahren für solche Vorstellungen und die Idee der Staatsrenaissance. Der eine, große Gott muss im Letzten stets auch der große Gesetzgeber sein, so wie er sich im mosaischen Gesetz gezeigt hat. Mit ihm ist die unbedingte, überzeitliche Richtigkeit gesetzt, sie kann in menschlicher Schuld verdunkelt werden, bis hin zur Unkenntlichkeit, der Idee nach besteht sie immer. Wird sie in glücklicheren, heiligeren Zeiten klar erkannt, so kommen ihre Staatsformen wieder von Gott her, immer die gleichen, so wie Er sich gleich bleibt. Wo dieses Denken sich mit antiken Staatsideen verband, konnte es auch neuen Schwung geben, die Staatsrenaissance wurde zur christlichen Wahrheitsrenaissance. Noch vor kurzem ist ein solcher Versuch unternommen worden, nach dem Ende der national-sozialistischen Staatlichkeit in Deutschland. In naturrechtlicher Unbedingtheit sollte hier das Frühere zurückkehren, sollten die Zwischenzeiten des Nationalsozialismus, vielleicht sogar die der Weimarer Zeit oder eines unchristlichen Liberalismus, alle zusammen übersprungen werden, in einer Rückkehr des christlichen Naturrechts, dessen klassische Zeit in den Höhen des Mittelalters erblickt wurde. Gerade diese neueste Geschichte zeigt die Gefahren, welche aus christlichem Naturrechtsdenken der letztlich doch auch historisch relativierten Vorstellung der Staatsrenaissance drohen: Hier bricht absolutes Denken in die Politik ein, mag auch vieles in Gnade und Nächstenliebe relativiert werden. Im Grunde kommt nicht zurück, was sich bewährt hat, was deshalb wieder sein soll, in einem wahren Superpiatonismus wird der große Rückgriff auf den einen gesetzgebenden Gott versucht - und damit nur zu oft die weit bescheidenere Staatsrenaissance verfehlt. In erster Linie wird hier ja nach der absoluten, materiellen Staats Wahrheit gesucht, lässt sie sich nicht finden, im Konsens sich nicht auf Dauer halten, so vergeht wie-

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der alles, es fällt in Sünde und Gottesferne zurück - oder es vertraut sich der Barmherzigkeit eines Gesetzgebers an, der die Übertretung vergibt. Eine Zeit, welche göttliches Naturrecht zu erkennen glaubt, fühlt sich eben „unmittelbar zu Gott" und seiner Wahrheit, nicht zu den großen Erlebnissen und Lösungen einer Geschichte hingezogen. Wenn dieses Naturrecht sich zu relativieren beginnt, ist es im Grunde schon aufgegeben, die Deutschen haben es bald nach 1945 erlebt. Die Auferstehung hat eben ein für allemal stattgefunden, Wiedergeburt als laufende Entwicklung - das kann für christliche Vorstellungen letztlich doch nur etwas sein von jenem glücklichen Heidentum, das man zuzeiten übernahm, dann aber immer wieder durch die größere, absolute Gottesidee überhöhte. Vor allem aber verläuft hier eine Grenze, zwischen Staatsrenaissancedenken und dem „klassischen", vor allem dem katholischen Naturrecht: Dieses letztere setzt stets und zuallererst auf materielle Werte, auf moralische Verhaltensforderungen an den Menschen und seine Gemeinschaften. Staatsrenaissance aber wird immer wieder begegnen als ein nicht allein, aber doch in erster Linie formelleres, wenn auch nicht ganz und gar formalisiertes Phänomen: Hier sind es Ordnungen und Abläufe, die wiederkehren, vieles ist eben doch vor allem - Verfahren. Und selbst dort, wo auch Inhalte zurückkommen, steht hinter ihnen nicht in einer dem Naturrecht vergleichbaren Weise die Intensität des Moralischen oder gar der Anspruch der größeren ethischen Systematik. Was von der Wiederkehr der „guten Staatsformen", von einem Begriff überhaupt erwartet werden darf, der in solcher Renaissance erkannt werden kann, das zeigt gerade eine Gegenüberstellung zu jenem christlichen Naturrecht, das, auch in seiner stärksten Relativierung, noch immer mit einem „ganz anderen" Absolutheitsanspruch auftritt. Oder anders gewendet: Man sollte schon zufrieden sein, wenn Staatsrenaissance etwas von einer „besseren Staatsform" zeigt, das unbedingte, unwandelbare Richtige ist nicht zu erhoffen - gerade deshalb aber muss man nicht allzu rasch relativieren, jeden seinen Weg doch wieder allein gehen lassen. Eines sollte dieses Kapitel zeigen: Die Vorstellung von der „guten Staatsform" ist nicht identisch mit dem, was heute nur zu oft in radikaldemokratischer Überheblichkeit gefordert wird; vielmehr bedeutet sie eine Kategorie, die im abendländischen Denken seit der Antike stets angelegt war, von ihren Ideen ist auszugehen. Der Relativismus naturrechtlicher Enttäuschungen und populistischer Lehren von einem eigenen, unverwechselbaren Weg darf nicht vergessen lassen, dass es dieses Größere geben muss, welches in der Wiederkehr der Staatsformen zurückkommen kann.

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3. Notwendigkeit der „guten Staatsformen": staatliches perfektes Ordnen a) Die Überwindung des Eudämonismus - der Staat als Selbstwert Die griechische Staatsphilosophie mit ihrer Lehre von den „guten Staatsformen" beruht auf einer Grundannahme, über welche heute nicht leicht Konsens herzustellen sein mag, deren Notwendigkeit für eine größere dauernde Ordnung aber zunehmend erkannt wird: auf der Überwindung des reinen Glückseligkeitsdenkens. Das größte Glück der größten Zahl muss natürlich stets erst näher definiert werden, und in dem Sinne, dass die „guten Staatsformen" in besonderer Weise menschengerecht sein müssen, gilt jenes Ziel immer als vorgegeben. Doch es bedeutet kaum etwas Fassbares in seiner Allgemeinheit und es kann sich in reinem Konsumismus verlieren. Der Akzent, den die antike Lehre von den „guten" Staatsformen gesetzt hat, der dann in der deutschen idealistischen Philosophie wieder aufgenommen wird, liegt nicht auf dem genießenden Wohlbehagen einer Masse von Einzelmenschen; hier wird der Staatsform ein gewisser Selbstand zuerkannt, sie gewinnt geistigen Eigenwert, gedacht wird nicht von mehr oder weniger „glücklich" dahinlebenden Menschen aus, sondern aus der Sicht einer Tugend, die sich als solche auch auf den Staat übertragen lässt. Diese ganze Vorstellungswelt ist nur erfassbar aus einer grundsätzlichen platonischen Absage an den genüsslichen Eudämonismus, die geistige Wesenheiten und Werte absolut setzen will. Es muss gesagt werden: Der Staat wird in der Suche nach der „guten Staatsform" eben doch in einem gewissen Sinne zum Selbstzweck, zu einem Gegenstand, der auf seine eigenen Qualitäten hin untersucht wird, nicht als etwas rein Instrumentales, das nur ein laufendes Maximum an Wohlleben organisiert. Allein die Grundentscheidung gegen den Eudämonismus - so schwer dies auch einer Zeit der Wohlstandsverbreiterung wie der heutigen verständlich zu machen ist - verdient den Namen des Staatsdenkens, nicht nur den einer Güter- und Menschenverwaltung. Dies allein vermag dann Formen eines Reichs-Staatsrechts hervorzubringen, denn das Imperium erschöpft sich nicht in der Glückseligkeit irgendwelcher Menschen und seien es „die meisten". Sein Axiom ist es allerdings, dass letztlich unter seiner großen, dauernden Herrschaft mehr einzelnes Glück entstehe, als im ständigen, kurzatmigen Bemühen, nur solches hervorzubringen. Hier wird die Grundaxiomatik der Marktwirtschaft ins Politische gewendet: Nicht die Güterproduktion auf gezielte Befriedigung hin bringt den großen Konsum, sondern die Öffnung zu den größeren Formen, Freiheiten, Imperien des frei güteraustauschenden Handels. Wenn nun aber die dauernde, große Herrschaft ein Selbstzweck ist, wenn die „guten Staatsformen" an ihm gemessen werden, so steht dahinter auch eine Grundentscheidung für einen gewissen Funktionalismus. Vom Organismus der Herrschaft als solcher, nicht von dem der einzelnen Menschen her wird gedacht, der Staat erscheint eben doch als eine Art von höherem Lebewesen, die wahrhaft „gute

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Staatsform" bedeutet ein Maximum von „staatlichem Lebensglück" - in einem optimalen Funktionieren. Staatsdenken überhaupt wird verlernen, zu jeder größeren Ordnungsanstrengung unfähig sein, wer nicht in diesem Sinne zu einem wahrhaft transpersonalen Funktionalismus zurückfindet, einen Herrschaftsfunktionalismus als solchen anerkennt und zu erfassen versucht. Nur dann bleibt er geschichtliche Anlaufstelle für die großen Staatsrenaissancen, in denen nicht etwa die Staatsglückseligkeit früherer lang und gut funktionierender Herrschaft zurückkehrt, sondern zuallererst deren ordnende Kraft. Dies ist eine Vergeistigung, wie alles Denken in Übernahmen und Wiederkehr, doch in jeder größeren politischen Umwälzung hat es die Menschen nicht nur begleitet, es ist in ihr, vielleicht unbewusst, entdeckt worden. „Gut" ist, was groß funktioniert hat und auf Dauer, darin mögen die Menschen dann ihre vielen kleinen Wohnungen bauen. Dass sie in ihren Kathedralen glücklicher werden als in sozialem Wohnungsbau, darin liegt ein letztes Credo des antiken nicht nur - eines jeden Staatsdenkens.

b) Die Freiheit - Grenze des „Funktionierens": Absage an die „guten Staatsformen"? Wenn die Frage nach der „guten Staatsform" mit der nach dem „optimalen Funktionieren" der Staatlichkeit notwendig verbunden ist, so erhebt sich heute sogleich ein Problem: Kann es dann in Ordnungen, welche vom Höchstwert der Freiheit des Einzelnen geprägt sind, überhaupt eine Suche nach den „besseren", den eben besser funktionierenden Staatsformen geben, damit aber eine Möglichkeit zu deren Rückkehr in Staatsrenaissance? Für die Dogmatik des liberalen Staatsrechts gilt seit über zweihundert Jahren ein Satz zuerst: Gut ist eine Staatsform, die frei macht. Im 18. Jahrhundert hatte die Wohlfahrtsstaatlichkeit noch etwas vom Selbstand der Staatlichkeit erhalten, wenn auch bereits mit Wendung hin auf das Bürgerglück. Doch mit dem großen Liberalismus kommt etwas anderes herauf: Nicht mehr die Herrschaft von Organisationsformen, ihr optimales Funktionieren ist entscheidend, sondern umgekehrt ihre Minimierung, ihr Rückzug vor dem Lebensraum und dem kleineren Glück der Einzelnen. Wie sollte da einem Funktionalismus gefolgt werden, der sich vielleicht am Ende in der Perfektion des Wächterstaates verliert? Wenn das Bundesverfassungsgericht es als einen Höchstwert bezeichnet, dass die parlamentarische Demokratie darin „funktioniere", wie Mehrheiten möglichst reibungslos und häufig hergestellt werden können, ist dies gewiss nicht liberal gedacht; gerade die Entscheidungsblockade kann ja Freiheit bedeuten, damit aber die Grundnorm der Staatlichkeit erst recht zum Tragen bringen. Ein rein organisatorischer Funktionalismus, an dessen Ende nichts mehr zu hören ist als der Stechschritt der Legionen oder die Friedhofsruhe die westliche Staatslehre hat ihn lange mit Furcht im Osten heraufkommen sehen. Sicher liegen hier die Grenzen eines Funktionalismus, der freiheitsvernichtend werden kann, und das antike Staatsdenken geht selbstverständlich davon aus, dass

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eine solche Perserherrschaft über Sklaven aus sich selbst heraus bald zerfallen muss. Eine Grundannahme ist es hier stets gewesen, dass sich das Funktionieren der Staatsform in maximaler Freiheit vollziehe, etwas anderes war für Griechen seit Salamis nicht mehr möglich. Die Staatslehre des Westens sah sich verunsichert durch die große Herausforderung des freiheitserdrückenden östlichen Funktionalismus. Doch in all ihren Formen konnte sie nur unbeirrt davon ausgehen, dass es sich hier um einen Übergang handelt, und sah es kommunistische Ideologie nicht selbst so, hin auf ihr Ende vom sterbenden Staat? Der Kern der liberalen Freiheit bleibt also eine große Vorgabe für allen Funktionalismus: Eine Staatsform ist nur dann „gut", wenn sie den unverlierbaren Kern dieser Freiheit nicht nur achtet, sondern stets fördert. Was aber dieses Zentrum sei, das lässt sich, immer wieder hat es sich gezeigt, nicht so sehr aus der Freiheit selbst heraus bestimmen, sondern vielmehr vom Staat her gesehen und seinem Funktionieren: Die „guten Staatsformen" haben eben lange und auf Dauer funktioniert in der Bewahrung und Befestigung eines gewissen Freiheitsraums der Bürger; wer sie auffindet, hat zugleich auch den Kern der Freiheit in Händen, nicht notwendig allerdings all das, was französisch-revolutionärer Überschwang einer Welt als solche bescheren wollte. Es bleibt also dabei, trotz aller Freiheit und gerade wegen ihr: Die Suche nach der „guten Staatsform" lenkt den Blick zuerst auf die Herrschaft selbst und ihre funktionalen Notwendigkeiten, zu diesen letzteren aber gehört auch, dass der Bürger in einer gewissen und durchaus auch größeren Freiheit belassen wird. Nur bleibt es aber auch bei der grundsätzlichen Fragestellung nach etwas, das „gut und lange funktioniert", nicht allein nach dem, was ein Maximum an Freiheit verbürgt. Dies nämlich wäre nicht besser als längst überwundenes Glückseligkeitsdenken, und es müsste mit Notwendigkeit in anarchische Formen führen; vielleicht kann das Reich mit seinen Renaissancen von „guten Staatsformen" gerade darin der Anarchie entgegentreten, dass es niemals den primären Blick auf die Staatlichkeit aufgibt, zugleich allerdings auch auf ihr optimales, auch freiheitsschützendes Funktionieren.

c) „ Gute Staatlichkeit " - in der Wiederkehr

perfekter

Formen

Für das antike Staatsdenken, das man hier als klassisch bezeichnen darf, gibt es nicht eigentlich den Gegensatz von Herrschaft und Beherrschten, er hätte schon der natürlichen griechischen Demokratizität nicht entsprochen. Weniger vom Staat als von der Gemeinschaft ist die Rede, sie wird als ein überpersönlicher, aber immer noch menschenähnlicher Organismus verstanden, der ebenso in allen seinen Gliedern funktionieren muss, wie die schönen griechischen Körper. Wie ihre Harmonie nicht durch einen Teil bestimmt oder dominiert ist, sondern sich im Zusammenhang aller Elemente ergibt, eben - funktioniert, so ist „gute Staatlichkeit" jene Ordnung, welche den „schönen Organismus Staat" konstituiert.

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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Doch er lässt sich nicht nur im Ganzen erfassen und später wiederentdecken, auch seine einzelnen Glieder, seine Institutionen müssen ebenso funktionell perfekt sein, wie jene Glieder der griechischen Statuen, die auch in ihren Einzelheiten die große Harmonie wiederspiegeln. Und hier öffnet sich der Weg nicht allein zur Übernahme der guten Staatsform, sondern der guten Staatsformen, jener Einzelelemente, in denen das optimale Funktionieren bereits abläuft, mag es auch noch nicht den ganzen Organismus erfasst haben. In Staatsrenaissance wird hier etwas wie eine Verpflanzung gesunder Teile vollzogen. Die Grundannahme des Renaissance-Denkens liegt nun darin, dass dieses optimale Funktionieren im Vergleich mit Früherem, mit Entferntem, erkannt wird. Es findet damit etwas statt wie ein großes Nachahmen: So wie der einzelne Mensch Bewährtes übernimmt, so beginnt die Staatsrenaissance mit dem Nachahmungstrieb. Doch es fügt sich dem, wie in einem historischen Geheimnis, ein weiteres hinzu: die Erfahrung, dass die wirklich „guten" Staatsformen nicht einfach übernommen oder tradiert werden, dass sie vielmehr mit einer eigenartigen Kraft wie von selbst zurückkehren, wiedergeboren im Geiste späterer Menschen. Wie von dem Makel der Zeitlichkeit gereinigt tritt dann eine staatliche Wahrheit hervor, die sich als etwas Gutes eben in dieser Wiederkehr beweist. Das kleine Gute mag das Bewährte sein, auf der Höhe der Staatlichkeit und ihrer großen Wellenbewegungen wird das Gute in Wiedergeburt erst voll sichtbar, in Organismen, welche in ihrer „Perfektion" etwas von Körpern haben, die (wieder-)geboren werden können.

4. Funktionale Kriterien „guter" Staatlichkeit in Staatsrenaissance deutlich a) Effizienz Entscheidend ist eines zum Verständnis der Staatsrenaissance: Herrschaftsformen kehren zurück in unterschiedliche, oft in „ganz andere" politische Herrschaften, sie wirken auch und gerade dort, gelöst von den Einzelheiten ihrer Ursprungszeit. Ihre Rückkehr ist nicht historischer Zufall, sondern ein Gütebeweis von imperialer Bedeutung. Die bekannten Staatsrenaissancen zeigen nicht nur einzelne „gute Elemente", oder Ideen perfekter Ordnungen der Vergangenheit, mindestens ebenso wichtig ist es, dass sie die Kategorien deutlich werden lassen, an denen die Qualität der Staatlichkeit gemessen werden kann: Es sind jene Merkmale, welche etwas wie die „Renaissancefähigkeit" einer Ordnung bestimmen. Wiederkehren kann so eben nur etwas, was gewisse Prägungen trägt, einiges davon soll hier bereits beispielhaft genannt werden und es gilt ebenso für Staatsformen im Ganzen wie für einzelne organisch erfassbare Elemente von solchen: Effizienz im Sinne eines möglichst reibungslosen Funktionierens des geordneten Teilbereichs ist das wohl wichtigste Merkmal der Übertragbarkeit auf andere, zeit-

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lieh oder örtlich entfernte Gemeinschaften. Von blockierenden Komplikationen geht keine geistige Faszination aus, das klassische demokratische Mehrheitsprinzip dagegen und die strenge römische Ämterhierarchie bringen Staatlichkeit zu klarem, bestimmbaren Wirken. Eine wirkungslose, in Anarchismen zurückgedrängte Staatlichkeit hingegen war weder in ihren Einzelheiten noch insgesamt je Gegenstand der Sehnsucht, noch weniger konnte sie in Staatsrenaissance wiederkehren. Das polnische Einstimmigkeitsregime oder das monstro simile des deutschen Spätreiches werden nie als solche bewusst wiedergeboren, Letzteres auch in keinem Föderalismus. Nur zu oft aber ist es, als suche man in Staatsrenaissancen geradezu die „Effizienz an sich" wieder zurückzuholen: Die an sich diffuse germanische Führeridee hat allein schon in ihrer massiven Durchsetzungsfähigkeit immer wieder begeistern können. Und hier zeigt sich auch etwas, was aller Staatsrenaissance wesentlich ist: Sie wird eingesetzt gegen das verkrustete, unübersichtliche und wirkungslos Gewordene einer in diesem Sinne späteren Staatlichkeit, sie bedeutet immer Erneuerung an den Gliedern oder auch am Haupte, damit aber kann wiedergeboren werden, was zu seiner Zeit in Effizienz hat erstaunen können.

b) Einfachheit Eng verbunden damit, und doch noch mehr als nur seine Folge, ist die notwendige Einfachheit der zu übernehmenden Inhalte, Einfachheit auch einer ganzen Ordnung in ihren Grundstrukturen. Immer hat daher das römische Staatsrecht, seine imperiale Organisation in Großräumen überzeugt, in der klaren Überschaubarkeit der kurzen zeitlichen Perioden seiner Ämter ebenso wie in seinen nahezu mathematischen Provinzial- und Stadtgeometrien. Überall dieselben Bauten - weil dieselbe Staatsorganisation: Das war ein Programm, welches im spanischen Kolonialreich ebenso wiedergeboren werden konnte, wie in der französischen DepartementEinteilung der Revolution. Die römische Republik ist in der Einfachheit ihrer Ämter stets lehrbar, nachahmbar geblieben, so wie alle Staatlichkeit, welche durch das Militärische tiefer geprägt ist. Dies reicht dann hinein bis in die Unbedingtheit eines geradezu paramilitärischen zivilen Befehlens, wie es die französische Verwaltung immer geübt hat. Übermäßiger Formalismus notarieller Floskeln wird zurückgedrängt, die Renaissance der großen, einfachen Idee des formlosen Vertrages ist auch im Staatsrecht stets eine wahre Wiedergeburt gewesen. Andererseits lagen hier die Grenzen der Renaissancefähigkeit des Feudalismus. In ihm sollte die germanische Idee von Führer und Gefolgschaft zum System werden, doch es geschah, nahezu von Anfang an, nur in einer institutionellen Komplikation, welche in späteren, andersartigen Gemeinschaften - um ein neues, bedeutungsstarkes Wort zu gebrauchen - einfach nicht nachvollziehbar war. Und in Staatsrenaissance kam also vielleicht noch die dynamische Grundidee des germanischen Führertums zurück, bis hinauf in die Spiritualisierungen der mittelalterlichen Kaiseridee, welche im 19. Jahrhundert ihre Wiedergeburt feierte. Ihre institu-

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tionellen Stützen aber waren nicht einfach genug, als dass sie hätten übertragen werden können, verzweigte Feudalpyramiden erschienen von Anfang an so stark in Kontingentem, allenfalls noch in Tradition verwurzelt, dass sie später bewundert werden, nicht aber einen Neubeginn tragen konnten. Dies war die tiefere Schwäche der Staatsromantik des 19. Jahrhunderts, in welcher eine Staatsidee ohne Staatsinstitutionen wiedergeboren werden sollte. Die Einfachheit der Befehlssprache der Römer, ihrer Architektur, ihrer Feldherrn-Kaisergesichter ist in der Politik ebenso über Jahrtausende lehrbar geblieben wie in den Schulen Europas; und vielleicht liegt hier eine Chance der oft belächelten amerikanischen Einfachheit, deren Lösungen so der Wiedergeburt fähig werden, in ganz anderen Gemeinschaften. Das englische Staatsrecht ist in seiner traditionshaften Vielschichtigkeit im Ganzen der Renaissance nicht mächtig, doch einige seiner zentralen Institutionen sind immer wieder und ganz natürlich reinkarniert worden - die Krone mit all den Zeremonien, die das Staatshaupt umgeben, ein Parlament, in welchem nicht das Volk im Kleinen zusammentritt, sondern die vielen Bürgergemeinschaften der Wahlkreise, eine Gewaltenteilung vor allem, die schon im Frankreich des 18. Jahrhunderts nicht nachgeahmt, sondern wahrhaft in neuer Form wiedergeboren worden ist. So sind es denn noch heute die einfachen Formen, welche der Staatsrationalismus der Aufklärung entwickelt hat, aus welchen bewusste und unbewusste Renaissancen immer wieder erwachsen. Im Gedanken der Wiedergeburt liegt auch für das Staatsrecht etwas von einem einfach-naiven Neuanfang, von einer wahren Kindheit und Jugend neugeborener Politik. Sie kann nur in der Einfachheit von Ordnungselementen und Grundstimmungen gelingen, die sich dann selbständig und in neue Räume hinein entwickeln lassen. Alle Renaissance steht und fällt mit einer Lehrbarkeit, in welcher sich auch die große Rückkehr der Antike einst durchsetzen konnte. Sie verlangt eine Einfachheit, welche sich in ihren Grundstrukturen vermitteln lässt, die nicht nur übersetzt, sondern als Eigenes empfunden wird.

c) Plurivalenz Was nach langer Zeit oder aus weiter Entfernung übernommen wird, muss sich veränderten Umständen anpassen lassen, wirtschaftlichen und sozialen Lagen, technischen Gegebenheiten, oft ohne jede Entsprechung zu ihrem Ursprung. Die immer neue Wiederkehr römischer Reichsideen beweist, dass Staatsrenaissance nicht einen analogen Entwicklungszustand voraussetzt. Hier heben sich die Ideen ab von ihrer wirtschaftlichen und sozialen Basis, sie gehen neue Verbindungen ein mit dem jeweils zu Ordnenden. Dies aber verlangt nicht nur einen hohen Grad flexibler Anpassungsfähigkeit, gefordert ist geradezu eine Plurivalenz, mit welcher wiederkommende Staatselemente oder -formen in ganz unterschiedlichen Lagen, zu kaum vergleichbaren Zwecken einsetzbar werden, ebenso wohl zur Festigung einer neuen Zentralgewalt,

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etwa im Frankreich der Renaissance, wie auch zum Ausbau der vielfach gestuften Imperialität, so im Alten Reich der Deutschen. Die republikanische Empireidee denn gerade sie ist im 19. Jahrhundert wiedergeboren worden - konnte ebenso das Soldatenkaisertum eines Napoleon geistig tragen, wie später das englische Empire, welches kaum übersehbare Vielfalt und verzweigte Stützpunktsysteme, im feudal geordneten Inneren wie über die Welt hin, zur Einheit verband. Die senatoriale Idee ist seit langem schon nicht mehr festgelegt auf Adelsversammlungen und Oberhäuser; immer wieder geboren wurde ihre Grundidee: die kleinere Versammlung von Persönlichkeiten, welche den Namen des Senators verdienen, in aktiver, machttragender Notablierung. Ob dies dann der napoleonische Rat eines Kaisers wird oder ein republikanischer Würde-Souverän wie in den Vereinigten Staaten, ob das Staatshaupt ernennt oder das Volk wählt, oder ob beides zusammen geschieht, wie im republikanischen Italien - und was immer die Funktionen solcher Gremien sein mögen: Eine große historische Vergangenheit wirkt hier in ihrer Grundidee über Staatsrenaissancen immer wieder, in einer erstaunlichen Plurivalenz. Und dasselbe gilt für andere römische Institutionen, bis hin zu jenem Tribunat, dessen Idee sich in der des Ombudsmanns wiederholt, des Staatsanwalts für gefährdete oder besonders belastete Bereiche der Bürgerschaft. Vor allem aber ist ein Beispiel dafür der große, alte Gesetzesbegriff, jene Form des höchsten Willens in normativer Form, die immer wieder mit nahezu magischer Herrschaftskraft durchbricht, zugleich aber plurivalent, ja geradezu allseitig einsetzbar erscheint. Renaissancen des Gesetzesbegriffes hat es immer wieder gegeben, nach kürzeren oder längeren Regimen persönlicher Gewalt oder feudalkorporativer Ordnungen. Und immer wieder ganz neu ist dieses Gesetz einsetzbar gewesen, von der Bewahrung liberaler Freiheit in der Französischen Revolution bis hin zu den Planungsgesetzen sozialistischer Ordnungen. Eines aber zeigt diese Notwendigkeit der Plurivalenz für die Wiederkunft der „guten Staatsformen" deutlich: einen gewissen organisationsrechtlichen Schwerpunkt, denn das Wesen aller größeren staatsorganisatorischen Gedanken ist eben ihre Plurivalenz, die Möglichkeit des Einsatzes zu ganz verschiedenen Zwecken vielleicht zu allen staatlichen Zielen überhaupt. Darin ist die römische StatthalterIdee mit ihrer allseitigen Kompetenz stets faszinierend geblieben, bis hin zu jenem Dogma der Zusammenfassung aller Zuständigkeiten auf der Mittelstufe der Verwaltungen, wie es in der Figur des französischen Präfekten und des deutschen Regierungspräsidenten verwirklicht worden ist. Hier zeigt sich der Selbstand der Organisation, die zu verschiedenen, im Grunde nahezu allen staatlichen Aufgaben geöffnet ist, gerade wegen dieser wesentlichen Plurivalenz in Staatsrenaissance wiederkehren kann.

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d) „ Natürlichkeit " Die „Natürlichkeit" einer Ordnung oder ihrer Elemente lässt sich als Voraussetzung der Wiederkehr „guter" Staatsformen kaum hinreichend definieren, bei der Erörterung der Naturrechts-Renaissancen hat sich dies bereits gezeigt. Wo lägen denn auch die „natürlichen" Aufgaben einer Gemeinschaft, die über Jahrhunderte hinweg mit stets gleicher Intensität erfüllt werden müssen? Der Anspruch der Vernünftigkeit war wohl immer ein Motor des Denkens in Renaissance-Kategorien, etwas wie der Ausdruck einer ratio scripta sollte eben zurückkehren. Doch der Begriff des Natürlichen als solcher ist stets unfassbar geblieben, auch in seiner Verengung zu einer „Rückkehr zur Natur" hat er Staatsrenaissance nie wirklich zu legitimieren vermocht. Eines allenfalls bleibt aus diesem Gedankenkreis als Merkmal der Renaissancefähigkeit von Staatselementen und -formen: Dann können sie wohl leichter zurückkehren, auch in sonst ganz unterschiedlichen Lagen, wenn sie auf Außerrechtliches bezogen sind, das sich in seiner Fundamentalität für die Gemeinschaft nur wenig verschiebt, wenn sie aus der Ordnung solcher Lebensbereiche ihre Kraft schöpfen. Obenan stehen hier familienbezogene Gestaltungen, welche immer wieder aufgenommen werden konnten. Wenn es etwas wie eine Renaissance des monarchischen Denkens stets von neuem hat geben können, nach Perioden republikanischer, allenfalls noch aristokratisch geprägter Staatsgrundstimmung, wie etwa am Ausgang des Mittelalters, so ist es hier der natürliche Familienbezug, der in die Politik hinüberwirkt und seine Kraft daraus zieht, dass derartiges Herrschen letztlich für jeden Bürger eine erfahrbare, nachvollziehbare Tatsache bleibt. Welche Staatselemente eine solche Grundlage von „Natürlichkeit" haben, ist wohl heute im Einzelnen noch gar nicht bewusst, kaum je vertiefend angesprochen worden, rationalisiertes Staatsrecht der Demokratie beschäftigt sich damit kaum. Und doch stünde es gerade dem Recht der Volksherrschaft wohl an, eben jene politischen Vorstellungen auf ihre Weise nachzuvollziehen, welche aus Bereichen kommen, die für jeden einzelnen Bürger erfahrbar, damit aber konsensfähig sind. Da ist nicht nur die Familie als mögliches politisches Machtzentrum, da ist vor allem das Eigentum, die irgendwie jedem doch „natürliche" Vorstellung einer Herrschaft über die Dinge. Entwickelte Gesellschaftsformen werden sich immer Staatsvorstellungen öffnen, in denen aus dem Eigentumsgedanken heraus Staatlichkeit entfaltet wird. Die Fiskustheorie ist im 18. Jahrhundert mit ihren Vorstellungen von der Privateigentumsstruktur der Staatlichkeit groß geworden, weil dies einem erstarkenden Besitzbürgertum als etwas ganz Natürliches erschien. In den heutigen Versuchen, dem Bürger einen „Staat als Großbetrieb" nahezubringen, den er analog dem zu verstehen vermag, was er an seinem betrieblichen Arbeitsplatz tagtäglich erlebt, feiern im Grunde nur ähnliche privat-analoge Herrschaftsvorstellungen ihre Wiederkehr: seinerzeit die Lehre vom Staatseigentum, von der Enteignung als Zwangskauf, vom Staat als Arbeitgeber, der seine Beamten entlohnt heute der Staat als Groß-Subjekt des Arbeits- und Wirtschaftslebens. Überall wird 21 Leisner

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der Bezug zu einer außerrechtlich-natürlichen Wirklichkeit deutlich, wiederkehren kann eben in Staatlichkeit leicht all das, was der Bürger im privaten Bereich entwickelt und erleben kann, in Familie, Eigentum und Arbeit. Ausdruck dieses „Natürlichen", welches Staatsrenaissancen zu tragen vermag, ist vor allem das große Zivilrecht mit seinem Kern der Vertraglichkeit, das sich auch hier wieder als wirklicher Ausdruck des überzeitlich von jedermann Erfahrbaren erweist. Und in der Betroffenheitsdemokratie unserer Tage, in den vielfachen Versuchen der Rückkehr zur Grundidee der im Einzelnen zweckgebundenen Abgaben, feiert das alte Steuerbewilligungsrecht der Städte und Stände ebenso seine Auferstehung wie die cahiers de doléances, welche die Französische Revolution ausgelöst haben. All diese ganz „natürliche", im Grunde privatrechtliche „Interessenstaatlichkeit" konnte zeitweise durch andere Staatsstrukturen verdrängt werden, immer wieder kommt diese „private Natürlichkeit" in Renaissancewellen in die Staatlichkeit zurück.

e) Grundentscheidung Das Wiederkehrende gilt es stets neu zu entwickeln. Doch als solches muss es mit seinen Inhalten auch etwas Abgeschlossenes darstellen, nicht nur eine fluktuierende „Ordnung in fieri". Dies ist eine Grundbedingung aller Rezeption, wie sie eben hier doch immer stattfindet: dass eine Kern-Festigkeit vorhanden sei, bei aller Anpassungsfähigkeit, die das im Grunde Neue zulässt, ja schafft. Was eine Renaissance bringt, muss sich irgendwie doch auch selbst genügen können, nicht immer nur mit den Motoren der aufnehmenden Realität oder neuer Ordnungen funktionieren. Als der Gaullismus die französische Verfassung von 1848 und die Weimarer Reichsverfassung mit seinem präsidentiellen Regime wieder aufleben ließ, im Grunde etwas wie eine Folge des napoleonischen Caesarismus in demokratischem Gewände, da waren die wirtschaftlichen, sozialen, aber auch die politischen und Verwaltungsstrukturen Frankreichs am Ende der 50er Jahre nicht vergleichbar mit den früheren „Ursprungslagen" dieses präsidentiellen Regimes. Doch es brachte eben Vorstellungen zurück, die sich „en bloc" übernehmen ließen: den Ausdruck einer in sich ruhenden Grundentscheidung, welche nunmehr die ganze Staatlichkeit anstoßen und prägen konnte, nicht deren zerfallende Strukturen zusammen mit einem eigenen, schwächlichen Motor einzusetzen versuchte. Renaissancefähig sind immer Ordnungselemente, welche den Charakter fester Ordnungszellen haben, von denen Kraft ausgeht, weil sie in sich ruhende Ordnungen bringen, die der Aufladung aus der Politik der Gegenwart nur in Grenzen bedürfen. Wiedergeburt von Staatsformen - das ist eben nicht nur ein Auffinden von Staatsinstrumenten, von Mechanismen, wirksamen Flaschenzügen der Macht. Einzelinstrumente schafft sich jede Zeit selbst, mit den Waffen der Römer sind später Schlachten nicht mehr geschlagen worden. Staatsrenaissance als geistiger Vorgang erfüllt sich nur dort, wo etwas mit der Mächtigkeit einer politischen Grundent-

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Scheidung hereinbricht. Nicht römische Machttechniken allein hat man in der Renaissance übernehmen wollen, griechische Staatsgeschicklichkeiten, sondern in all dem immer „etwas vom Reich", von jener ordnenden Mächtigkeit, die sich bereits in den einzelnen Institutionen zeigen konnte. Sie wurden übernommen, und sei es auch nur ihr Name, „Senatus Populusque Romanus", damit die Symbolkraft wirke, wo die politische Mächtigkeit noch nicht angekommen war, damit es eben „nicht mehr weit sei zum ganzen, großen Reich". Die Übernahme mag klein sein, unscheinbar wirken - Staatsrenaissance kommt stets dann in ihr zum Tragen, wenn sie den Zug hat zur größeren Ordnung, ein Stück von dieser bereits abgegrenzt, beispielhaft in sich realisiert. Grundentscheidungen bedeuten nicht immer das Ganze - ein Ganzes anstoßen wollen sie immer.

f) Isolierbarkeit Staatsrenaissance - das ist nicht eine Ausgrabung von Faustkeilen oder antikem Belagerungsgerät, es kommen nicht nur Instrumente zurück. Doch kaum je bedeutet sie auch die Wiedergeburt voller Systeme. Zu keinem Augenblick hat die Renaissance das römische Reich als solches, in seinen Grenzen oder auch nur in all seinen zentralen Strukturen wiedererstehen lassen wollen, nicht einmal im Weltkaisertum Karls V. Selbst die imperialen Begehrlichkeiten des modernen Italien, von der Brenner-Grenze bis zur Mittelmeerherrschaft des Faschismus, verstanden sich immer als Ausdruck eines imperial gesteuerten, aber doch deutlichen machtpolitischen Eklektizismus. Aus dem großen Trümmerfeld der Antike hat späteres Staatsrecht kaum je unversehrte Statuen ausgraben können, nie unberührte Tempel und Städte. Dieses Schicksal der Archäologie hat die Staatsrenaissance immer geteilt, und wie jene glücklich war, dass sie eigene Restaurationen hinzufügen durfte, so hat sich auch spätere Herrschaft immer damit begnügt, Isoliertes zu übernehmen, in sich Perfektes vielleicht, nie aber das ganze System - vielleicht auch, weil ein solches nie perfekt gewesen wäre. Isolierbarkeit ist also eine Grundvoraussetzung für Übernahmefähigkeit von Staatsformen und -elementen, aus ihr heraus wird stets der Schwerpunkt bei der Wiedergeburt einzelner, wenn auch zentraler Elemente liegen. Die Stärke früherer und wahrer Imperialität liegt gerade darin, dass sie ihre bewährten Formen stückweise als Erbe weitergeben kann, der einen Nation dies, der anderen jenes hinterlassend. So ist an einer Stelle römischer Militärzentralismus wiedererwacht, wie etwa im spanischen Weltreich, an anderer die vielfachen Stufungen der antiken Föderalsysteme, wie im deutschen und italienischen Raum der Staatlichkeit. An einer Stelle kam wieder die Vorstellung von der Mehrköpfigkeit eines Konsulats oder Triumvirats, bis hin zur fernen Staatsratlichkeit, andere Gemeinschaften schöpften ihre staatsbewahrenden Sicherheiten aus der Idee der Militärdiktatur und des Soldatenkaisertums. Und auch die moderneren Renaissancen, in denen etwas vom großen Liberalismus des vergangenen Jahrhunderts, wie 21*

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in die deutsche Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, ganz bewusst einfloss, ja dort wiedergeboren werden sollte, haben nie ein „ganzes System" übernehmen wollen, mögen sie dem auch in den Grundrechtsrenaissancen von der Paulskirche über Weimar nach Bonn noch am nächsten gekommen sein. Die großen Imperien der Geschichte, Rom etwa und England, die so vieles haben weitergeben können, mit langen Unterbrechungen oft, haben dies mit etwas wie einer eigenartigen List der Vernunft bewirkt: Hätten sie das volle staatsrechtliche System geboten, den rocher de bronze, in dem sich nichts institutionell hätte isolieren lassen, so wäre ihre renaissancehafte Kraft weit geringer geblieben, vielleicht wären sie allerdings auch nie wahre Imperien gewesen. Ihr System, damit aber etwas von wahrer Imperialität, liegt in der Kombination, oft auch nur in einem Nebeneinander von sich ergänzenden und balancierenden, stets im besten Sinne des Wortes pragmatisch entwickelten und bewahrten Grundentscheidungen. Zuzeiten mochte dies innere Spannungen erzeugen, die Staatlichkeit dieser Ordnungen selbst gefährden, wie es in der Auseinandersetzung zwischen der englischen Krone und dem Parlament deutlich wird, im Spannungsverhältnis bewahrter republikanischer Strukturen zum römischen Militärkaisertum. Gerade damit haben die großen Imperien isolierbare Grundentscheidungen zur Verfügung gestellt, welche später in ganz verschiedene Ordnungen und oft sogar gegenläufig übernommen werden konnten. So hat England dem Kontinent nach 1815 eine Renaissance seiner parlamentarischen Idee geschenkt, den Vereinigten Staaten schon früher die eigenartige Figur des zivilen Präsidenten-Königs und zugleich die der englischen föderalisierbaren Volksvertretung. Staatsrenaissance lässt sich also nur dann in etwa erfassen, wenn nicht das Ganze übernommen wird, wenn isolierte, aber zentrale Teile fremder Systeme in das eigene eingebettet werden, nur dann kann hier ja eine wahre Wiedergeburt, aus einem fremden politischen Schoß heraus, stattfinden. Dies ist eine Warnung an manche Länder jener Dritten Welt, die mit der Übernahme ganzer Systeme früherer Kolonialherren bald scheitern müssen.

g) Allgemeinheit und Höhe Das Staatselement mag wiedergeboren werden, das Verwaltungsdetail nie. Ihre kleinen Ordnungen baut sich jede Gemeinschaft selbst, nur für den Halt ihrer größeren bedarf sie der Anleihe aus dem zeitlich oder räumlich Entfernten. Der Gegensatz von „Grundsätzlichem" und „Technischem" hat auch hier, wie so oft in Recht und Politik, seine tiefere Bedeutung: Was an ,/einer Staatstechnik" übernommen wird, kommt kaum je aus einer früheren Vergangenheit, und wenn es aus ferneren Ordnungen rezipiert wird - auch darauf wird man ja den Begriff der Renaissance zu erweitern haben - so ist es etwas wie ein staatsrechtlicher Lizenzbau, wie eine Übernahme städtischer Verkehrsregelungen oder kommunaler Kanalisationstechnik, welche die vielfach reisenden Stadtväter heute nach Hause bringen.

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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Mit Recht kopiert oder nicht - es wird sogleich zum unausscheidbaren Eigenen, und es ist nicht übernommen mit Blick auf größere imperiale Zusammenhänge anderer Ordnungen, nicht als irgendeine Form von Grundentscheidung, sondern einfach als technische Erfindung; fremder Vorsprung soll nun zuhause eingeholt werden. Von diesen tagtäglichen und unzähligen Übernahmen ist der Begriff der Staatsrenaissance zu unterscheiden, soll er sich nicht in reiner Technizität verlieren. Was es hier zu untersuchen, zu beschreiben gilt, muss nicht nur Entscheidungsgehalt haben, erforderlich ist stets auch eine höhere Allgemeinheit dieser Dezision, oder doch der Blick auf ein Allgemeineres, aus dem allein heraus sie verständlich wird. Mit anderen Worten: Staatsrenaissance ist ganz wesentlich nicht eine Erscheinung des Verwaltungs-, sondern des Staatsrechts, mögen auch manche Wege über eine Administration laufen, welche hier als staatsrechtliche Institution erkannt werden kann. Stets aber muss das Allgemeinere der Ordnung im Blick bleiben, und dies bedeutet, vor allem aus der Sicht des heutigen normativierten Staatsrechts: Wesentlich ist die Höhe der Entscheidung, welche ja in der modernen Staatsrechtsdogmatik mit der Allgemeinheit der Normierung verbunden zu werden pflegt. Staatstheater findet überall dort statt, um mit Aristoteles zu sprechen, wo Könige und Helden die Bühne betreten, Staatsrenaissance wird erlebt, wenn königliche, imperiale Gedanken zurückkommen, sie allein sind ja auch der Wiedergeburt fähig, weil sie in die stets mächtige Bewegung der politischen Spitzendynamik einfließen, wo es niemals den Stillstand verwaltungsüblicher Verkrustung geben kann. Im Letzten waren stets alle Renaissancen auf nicht nur hohe Entscheidungen gerichtet, sondern schlechthin auf die höchste Ordnungsebene, auf die Imperialität selbst. Nur was bis dorthin wirken konnte, von dort her vielleicht wieder zurückkam in die niederen Bereiche, in die Provinzen der Staatlichkeit, hat die Höhe von Renaissancegedanken erreicht. In diesem Sinne war in der Tat die große Renaissance die geistige Welt des Imperialen schlechthin, mochten auch gerade in ihr die letzten Strukturen des alten Reiches, der früheren Machteinheit zwischen Geistlichem und Weltlichem und innerhalb dieses Letzteren, endgültig zerbrechen. Der Blick der Staatsrenaissance ist immer auf die Spitze der jeweiligen Staatlichkeit gerichtet, nur wenn dort ein neuer Stern sichtbar wird, ist etwas von „guten Staatsformen" zurückgekommen - von „guten" dann, wenn es sich wieder halten kann, so wie es einst schon ein Imperium gehalten hat. Doch man sollte auch jene heimliche Imperialität nicht vergessen oder auch nur geringschätzen, in der sich Höchstes aus Kleinerem aufbaut, wenn nur bewusst bleibt, dass in der kleinen Entscheidung bereits etwas wie ein Empire en miniature ins Licht tritt. Gerade aus der Sicht der Staatsrenaissance muss es notwendig etwas geben wie ein materielles Staatsrecht; Grundentscheidungsnormen können nicht nur in einer formellen Verfassung konzentriert werden, weil sich sonst allzu viel von laufender Virtualität in Formalismus verlöre. Alles aber, was dieser materiellen Verfassung

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Buch 2: Staatsrenaissance

zuzurechnen ist, bleibt möglicher Gegenstand von Staatsrenaissancen, all das, was irgendwie die Strukturen des „letzten Entscheidens" zu verändern vermag. Hier steht der normative Verfassungsstaat in der Gefahr der Sklerose, weil er sich abzuschirmen scheint gegen größere und grundsätzliche Einflüsse „von außen", durch die harten Formen seiner Constitution. Doch die weiten Formulierungen, die vielfältigen Entwicklungslinien des Verfassungsrechts, das immer mehr zu beobachtende Zurücktreten allzu bedeutungsarmer Worte - all dies zeigt doch auch wieder die Öffnung: Auch der Verfassungsstaat hat Häfen, in denen die Schiffe der Staatsrenaissance von fernen Gestaden landen können, und sie ankern dann fest in ruhigeren Wassern der verfassungsnormativ bestimmten Zentren der Staatlichkeit. „Gute Staatsformen" - das kann nicht an sich erkannt werden, es sei denn in einer politischen These, die sogleich die Antithese herausfordert. Die Synthese kann dann gefunden werden in einer „dritten Sicht", vom Blickpunkt anderer Ordnungen aus, in denen sich Derartiges bereits bewährt hat, so dass es eben deshalb zurückkehrt. Allgemeine Kriterien solcher Renaissancefähigkeit, an denen die Güte der Staatsform erkannt werden kann, haben sich bereits ergeben. Bevor solche Maßstäbe an Verfassungsdogmatik und Verfassungsrealität im Einzelnen angelegt werden können, gilt es jedoch, nun noch näher zu verdeutlichen, was denn „Renaissance" eigentlich bedeutet, warum Unterbrechungen eintreten, nicht Kontinuität herrschen soll, welche wahrhaft imperialen Kräfte sich gerade daraus entbinden. Erst wenn so das Wesen und die ganze Bedeutung der Wiederkehr der „guten Staatsformen" deutlich geworden sind, können ihre Erscheinungsformen im Einzelnen beurteilt werden. Von zentraler Bedeutung ist hier die Frage Kontinuität, vor allem Tradition - oder Diskontinuität, wie sie die große Staatsrenaissance verlangt.

IV. Wiedergeburt aus Diskontinuität Staatsrenaissance und Tradition Die große Renaissance ist zur Domäne der Historiker geworden. Nirgends vermögen sie besser die Lebendigkeit der Geschichte zu demonstrieren, jenes schier unendliche Auf und Ab, in welches, weithin wertungsfrei, die politischen Regime gestellt werden. Selbst das Großereignis dieser Wiedergeburt, in seiner Eigentümlichkeit das erstaunlichste, hat das große Gesetz der historischen Relativierung nicht zu brechen vermocht, welches am Ende doch alles wieder kleiner werden lässt, weil es alles in eine ewige Kontinuität stellt. Das Staatsrecht, seit Jahrhunderten der politischen Historie so eng verbunden, hat sich diesem Gesetz nicht entziehen können. Tradition sucht es in allem und jedem, von den Urkunden sammelnden Archivaren der frühen Renaissancezeit über Juristen des Spätabsolutismus, welche laufende Staatspraktiken zu versteinern glaubten, bis in neueste Zeiten, welche den zeitlichen horror vacui der »jungen

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Demokratie" durch traditionsanknüpfende Versuche, wenigstens bis ins 19. Jahrhundert zurück, überwinden wollen. Traditionssuche, Legitimation aus Überlieferung sind geradezu Wahl und Qual des modernen Staatsrechts geworden. Ist es damit auf die allein richtigen Kategorien gestoßen, wurde hier nicht der Blick verengend abgelenkt von einer Staatsrenaissance, welche in Diskontinuität Traditionen zerbricht oder überspringt? Gilt es nicht schon deshalb heute, diesen Aspekt zu überwinden, weil sonst nur ein Konservativismus im schlechten Sinne bleibt, der große Erscheinungen der Volksherrschaft, durchgreifenden Neubeginn etwa in der Revolution, nie verstehen kann?

1. Die Grenzen der Tradition - Legitimität durch Überlieferung? a) Legalität als Stütze der Legitimität Die moderne Verfassungsdogmatik hat ein Begriffspaar geprägt, in dem sich Kraft und Grenzen der Tradition erkennen lassen: Legalität und Legitimität. Legalität ist der Ausdruck der ununterbrochenen Tradition, betrachtet aus normativer Sicht: Der heutige Befehl ist berechtigt, weil er sich auf den vorhergehenden zurückführen lässt, weil er formal bereits in diesem enthalten war, als eine Delegation aus früherer Norm also zu erklären ist. Längst bevor die Wiener Schule perfekte dogmatische Legalitätskonstruktion geboten hat, Entwicklung des Sollens allein aus einem früheren Sollen, der niederen Norm allein aus der höheren Norm, war dies alles schon in zeitlichen Kategorien vorgedacht - eben in jener monarchischen Legalität, die aber im 19. Jahrhundert und zuvor stets noch ganz identisch war mit der Legitimität, der inneren, politischen und moralischen Berechtigung der Herrschaftsausübung, der Verbindlichkeit der Befehle für jedermann. Für die Monarchie war Legitimität und Legalität eine Einheit, weil sie zentral aufruhte auf der Tradition, weil hier die Herleitung aus der monarchischen Macht des Vaters oder Urahnen dann und allein genügen konnte, wenn sie in ununterbrochener Verkettung nachweisbar war. Diese monarchischen und im Grunde auch die aristokratischen Ordnungen kannten keine revolutionäre Legitimation, alles war Tradition, die Form bot die Legalität, der Inhalt war Legitimität. Die heraufkommende Volksmacht musste ihre Kategorien anders bestimmen. Aus Umwälzungen geboren, mit dem Anspruch des stets existenten Volkes antretend, welches seine Rechte aber nicht aus Urkundenreihen abzuleiten braucht, musste die Demokratie zunächst Legitimität und Legalität trennen, die Legitimität, die allein ihrer Herrschaftsform vorbehalten sein konnte, höher stellen als alle Verbindung zu früherer Herrschaft. Dies war gewiss zuallererst eine Absage an die totale Kraft der monarchisch-aristokratischen Tradition, an eine Auffassung, nach welcher „gute Staatsformen" nur aus unvordenklicher Kontinuität kommen konnten. Damit hatte die Demokratie Horizonte eröffnet, aus welchen nun auch Staatsrenaissancen wieder möglich erschienen - dies zeigte sich schon - im Übersprin-

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gen größerer Zeiträume, in denen das Volk siegreich aus ferner Vergangenheit zurückkommt. Doch die Entwicklung verlief bald wieder anders, weithin zurück in die Kanäle des monarchisch-aristokratischen Staatsrechts, welche bis auf den heutigen Tag nicht verlassen sind. So wie sich die Demokratie mit den äußeren Formen monarchischer Staatlichkeit alsbald zu schmücken begann, so wollte sie ihren tiefen Legitimitätskomplex überwinden durch die Verstärkung einer Kategorie, die im Grunde, aus demokratischer Sicht, sekundär, wenn nicht geradezu überflüssig erscheint: der Legalität. „Auch sie" soll eben gewahrt sein, wenn irgend möglich, dann wird der Volksmacht nicht der Vorwurf der permanenten Revolution entgegengehalten werden können, der ungeordneten Herrschaft der Straße. Und es war gewiss nicht so sehr ein aristokratisierender Legitimationsversuch, der die Nationalsozialisten bei ihrer Machtübernahme dazu getrieben hat, möglichst die äußeren Formen der Legalität zu beobachten - das Odium der „demokratischen Unordnung" sollte vermieden werden. Selbst als dann die Volksherrschaft größeres Selbstbewusstsein gewann, sich vor monarchischer Legitimität mit ihrer Legalität nicht mehr legitimieren musste, ist sie, erstaunlicherweise eigentlich, bis heute und eher noch in verstärktem Maße, bemüht geblieben, ihre Legalitätsstützen zu verstärken, sich eine demokratische Legalität aufzubauen. Die kommunistischen Regime sogar schoben unter die laufende Verherrlichung des blutigen, legalitätszerstörenden Aufstandes eine neue „sozialistische Legalität", mit der sie ihre Legitimität noch verstärken wollten. Denn dies ist der Kern des Bemühens: Die Legalität als Stütze einer Legitimität, die gerade in der Volksherrschaft doch immer wieder brüchig erscheint. Ihre Stärke liegt darin, dass sie traditionslos beginnt - und gerade dies treibt sie offensichtlich in ihren Gegenpol, auf die Suche nach Begründungen, die sie doch bei ihren monarchisch-aristokratischen Vorläufern nicht anerkannt hat. Wie immer diese verschlungenen geistigen Wege auch verlaufen sein mögen, noch immer gegangen werden, der Grundzug ist stets einer: Verstärkt werden soll, geschaffen werden muss sogar eine neue Tradition, und sei sie im Ganzen zu erfinden. Das Heraufkommen der Demokratien hat, so erstaunlich es erscheinen mag, eine bisher kaum gekannte, oft recht gewaltsame Traditionssuche eingeleitet, frühere Aristokraten würden hier das Parvenühafte der neuen Staatsform sich bestätigen sehen. Ganz entgegen der gängigen These von der Enthistorisierung des staatspolitischen Denkens ist daher festzustellen: Die Gegenwart erscheint als eine Periode der geradezu gewaltsamen Traditionssuche, einer Hochschätzung der Überlieferung in all ihren Formen, bis hin zu deren sozialistischen Ausprägungen in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Im Grunde ist also die alte monarchisch-aristokratische Einheit von Legitimität und Legalität nur für die vergleichsweise kurzen Perioden der Revolutionen unterbrochen worden, nun fällt beides wieder zusammen, und wie lange wird es noch dauern, bis die ersten demokratischen Dogmati-

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ker verkünden, dass legitim nur sei, was sich auf die demokratische ununterbrochene Legalität berufen könne, eben auf eine ganz selbstverständlich absolut gesetzte Tradition? Dann wird man wieder zur alten Grundnorm der Staatlichkeit zurückkehren. Kelsen hat verkündet, dies sei „Pacta sunt servanda"; früher galt, vielleicht wird es einmal wieder auch in der Demokratie gelten: „Pacta sunt servata" - legitim ist die Staatsform, weil sie sich aus stets eingehaltenen und in Tradition fortentwickelten Kompetenzen ableiten lässt.

b) Formen des demokratischen Traditionalismus Manches an der neueren demokratischen Traditionssuche und Überlieferungsfreundlichkeit geht wohl nicht weit über die Fortsetzung von herkömmlichen Verhaltensweisen hinaus, in welchen frühere monarchisch-aristokratische Staatlichkeit noch heute fortwirkt. Hierher gehört das typisch demokratische Streben nach einem besonders kontinuierlichen internationalen Verhalten, wie es immer wieder in der französischen Außenpolitik seit der Großen Revolution hervortritt: Aristokratische Strukturen bleiben in den Außenämtern erhalten, vor allem aber will die Volksherrschaft so beweisen, dass sie international vertrauenswürdig ist, über alle internen Umwälzungen hinweg. Dieser politische Komplex der demokratischen Frühzeit ist heute wohl kaum mehr bewusst, doch die Emanzipation der Auswärtigen Gewalt von der innenpolitischen Fluktuation hat sich eher noch verstärkt, mag dies auch häufig in Immobilismus enden. Hier wird große Herkömmlichkeit gepflegt, im Grunde nur die legitimierende monarchische Legalität fortgesetzt. In anderen Phänomenen der Traditionsbefestigung scheint sich die Technizität der modernen normativen Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen. Hierher gehört das geradezu herkömmliche Traditionsbewusstsein einer Gerichtsbarkeit, welche emsig ihre Rechtsprechungsketten weiterspinnt, daraus die Legitimation ihrer Entscheidungen gerade in der Demokratie und gegenüber ihrer „Politik" gewinnend. Nahezu alle Rechtsmaterien werden auf diese Weise mit einem Geflecht judikativer Traditionalität überzogen. Kaum anders verfährt eine Staats- und Verwaltungspraxis, welche im Rechtsstaat eng mit der Judikative verzahnt ist, deren Entwicklungen zu folgen hat. In all dem scheint nicht viel mehr abzulaufen als eine Entwicklung, welche sich auch in anderen Regimen ergeben könnte, und in der Tat ist die Verstärkung der Traditionalität in der Gegenwart nicht zuletzt das Ergebnis zunehmender rechtstechnischer Verfeinerung, der Normativierung überhaupt. Doch bemerkenswert ist, dass jene Demokratie, welche doch die Diskontinuität des Machtwechsels auf ihre Fahnen schreibt, dem allem im Grunde wenig entgegenwirkt, es eher noch durch ihre Strukturen verstärkt. In der Gesetzgebung sollte eigentlich der diskontinuierliche Volkswille fluktuieren - doch alsbald wird er in einer Machttechnik verstetigt, deren gerade Demokratie in ihrer „freien Politik" bedarf: Es dominieren faktisch die Gesetzgebungsabteilungen der Ministerien,

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weit über die Machtwechsel hinweg, es entstehen Gesetzgebungstraditionen, die Verfassungsentwicklung selbst wird dadurch in Kontinuität allenthalben eingebunden, dass in der Gesetzgebungstradition geprägte Begriffe der Verfassungsbegrifflichkeit unterschoben werden; dem Zwang zur „Verfassung nach Gesetz" hat sich die Demokratie, trotz einiger Versuche der Verfassungsgerichtsbarkeit, letztlich nicht entziehen können, er aber bedeutet „Verfassung nach Gesetzgebungskontinuität". Die Verfassungsgerichtsbarkeit, im Grunde als Hüterin des Selbstandes der höchsten Normstufe legitimiert, hat im Ergebnis auch diese in den großen Strom der hochtechnisierten staatlichen Normenkontinuität einbezogen. Der Favor legis wird gesteigert zu einem „im Zweifel für die Gesetzgebungskontinuität", immer häufiger werden auch in Urteilen der Verfassungsgerichtsbarkeit Traditionen aufgesucht und meist auch gefunden, in dubio schon wird häufig zu ihren Gunsten entschieden. Innerhalb des „Lebens einer Kodifikation" selbst wird Kontinuität maximal hergestellt, die objektive Interpretation bleibt dem Namen nach zwar Grundsatz, in Wahrheit aber wird sie durch den Rückgriff auf ständige Übungen und zwischenzeitliche Normentwicklungen überspielt. Der Begriff des „traditionsbildenden Zeitraums" ist heute längst nicht mehr nur auf den Bereich der „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums" beschränkt, im Grunde liegt er, unausgesprochen, auch vielen anderen Verfassungs- und Gesetzesinterpretationen zugrunde. Und vor allem: In Zitatketten schafft sich das Gericht seine eigene Tradition. In den Bereichen schließlich, in welchen die Formen einer „Basisdemokratisierung" Chancen zu kleineren Diskontinuitäten schaffen könnten, wirken sie oft erst recht nur als eine Befestigung großer Traditionalität im Kleinen: Der Verbändestaat hat kaum größere Fluktuation gebracht, er hat eher die „kleinen Wellen" der Bürgergruppen und ihrer partikularen Interessen noch verstetigt, in der langen, oft alternativlosen Dauer der innerverbandlichen Herrschaftsstrukturen, in der Technisierung wenn nicht Bürokratisierung der Verbandsgeschäftsführungen. Insgesamt hat gerade in der Demokratie eine groß angelegte Bürokratisierung die gesamte unmittelbare und abgeleitete Staatlichkeit ergriffen, gesteigert durch eine immer weiter getriebene Normativierung, in der sich letztlich demokratische Dynamik nicht nur gelegentlich verfängt, sondern sich sogar grundsätzlich vollenden will. Wird nicht der Machtwechsel, das Hin und Her gegenläufiger politischer Grundeinstellungen, überhaupt nur erträglich in solchen traditionellen Formen, muss nicht Kontinuität überall sein und aus Tradition legitimiert werden, damit Demokratie weiter getragen werde? Darüber besteht sicher heute ein verbreiteter, wenn auch unausgesprochener Konsens. Hat man sich nicht mit diesem Staat der demokratischen Machttechnik weit entfernt von den großen Wellenbewegungen jener Staatsrenaissancen, welche einst Kulturen bewegen konnten? Ist nicht nur eine Tradition, die der Könige, zerbrochen worden, um in eine andere, noch weit schwerer lastende zu fallen, die eines immer mehr hinter seine eigene Machttechnik zurücktretenden Volkes?

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c) Kritik der Tradition Eine Kritik solcher Tradition fällt schwer, hat sich doch nur im Namen dieser Verstetigung ein Grundkonsens über die Demokratie überhaupt bilden können. Für viele ist diese demokratische Tradition gerade jene „Rückkehr der Könige", deren Stühle sie im Grunde nur freilässt. Und doch muss hier, aus der höheren Sicht eines imperialen Denkens und seiner zeitlichen Dimension, der Staatsrenaissance, auch einmal gegen diese Traditionalisierung gesprochen werden: Mag sie als Technik optimal sein und dadurch die Volksherrschaft entscheidend mäßigen - tiefere Legitimationskraft darf nicht allein von ihr erwartet werden, oft schafft sie kein eigentliches Staatsfundament sondern nur schwer überwindbare Staatsträgheit: Hier wirkt eine faktische Macht, nicht etwas ideell Legitimierendes. Diese Formen technischer Machttraditionalität sind nichts als eine normative Kraft des Faktischen, die sich in der faktischen Kraft des Normativen fortsetzen, mit dieser sich zu einer ewig drehenden Spirale verbinden will. Der Fortschrittsglaube ist der modernen Demokratie mitgegeben, aus ihren liberalen Wurzeln heraus. Die Neo-Traditionalität nimmt ihn auf, bietet sich geradezu an als ein großes Fortschrittsversprechen: Ist nicht die technisch-naturwissenschaftliche Epoche an den Fortschritt der kleinen Schritte gewöhnt worden, kann er anders ablaufen als in verstetigter, langsam sich fortsetzender Überlieferung? Ist nicht die Zeit der explosiven Großerfindungen vergangen, der riesigen Erschütterungen und plötzlichen Einbrüche? Dies alles mag nahe liegen, doch man unterliegt einem fatalen Irrtum: dass Fortschritt überall da schon sei, wo weiterlaufende Tradition erkennbar werde. Die große Gefahr aller Tradition, vor allem aber der heutigen Traditionalität, liegt darin: In ihren falschen Sicherheiten degenerieren leise und unmerklich die „guten Formen" der Staatlichkeit, welche das immer weiter geschleppte Herkommen nicht mehr in wiedergeborener Reinheit zu zeigen vermag, sondern mit immer weiteren Verkrustungen überzieht. Dann bleiben nur mehr anarchisierende Aufstände, wie die Bewegung von 1968; da mag dann Bestehendes zerstört werden, doch die Tradition ist stärker, wie ein zäher Sumpf schließt sie sich über ihren erstickten Gegnern. Die langsam sich bewegende Massigkeit der Normen- und Verwaltungsvolumina verbiegt alles, nichts mehr wird neu geboren aus dem raschen lebendigen Wasser und einem Heiligen Geist. Die Frage nach der „Güte" der Staatsformen wird dann kaum mehr gestellt, sie wird überspielt im Evolutionismus des leicht verändert Andauernden, die Legalität verdrängt endgültig die Frage nach dem Legitimen. Mehr noch: Die geistige Konstruktionskraft der Dogmatik erlahmt, weil ja Wahrheits- und Richtigkeitsfragen isoliert nicht mehr gestellt werden dürfen, geistige Systematik nicht mehr gefragt ist, sondern nur mehr eine solche in der Zeit. Das vielberufene Postglossatorentum der Gegenwart ist letztlich nichts als Ausdruck dieses Endes der Dogmatik in selbstgewichtiger Traditionalität.

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Klarheit muss herrschen über die Kräfte dieser Bewegung, gegen welche sich die Frage nach den „guten Staatsformen" im Namen größerer Staatsrenaissancen wenden will: Hier gilt es anzutreten gegen die stärkste Kraft in einer technisierten Epoche, welche doch vorgibt, die Zeit nicht zu kennen: gegen die zähe Zeit selbst. Nicht als ob nun der Wert der Traditionen geleugnet werden dürfte, doch vor der Gütefrage können sie nur dann bestehen, wenn das Herkommen zum Beweis dafür wird, dass das früher Gute - gut geblieben, in der Dauer immer besser geworden ist. Es müssen diese Staatsformen, Staatselemente eben ursprünglich einmal „gut" gewesen sein, dies aber wird nicht in Tradition erkannt, sondern in Staatsrenaissance. Wo Herkommen und Überlieferung erwachsen aus einer Serie verlebendigender Staatsrenaissancen, da trägt die Tradition die große Kraft der Wiederkehr der „guten" Staatsformen, sonst aber kann sie sich leicht zu Tode schleppen. Und umgekehrt sollte Staatsrenaissance nichts anderes bedeuten als Traditionsfortsetzung in ihrer besten, lebenden, dynamischen Form.

2. Diskontinuität - die große Unterbrechung a) Abbruch und Neubeginn Eine Theorie der notwendigen Diskontinuität soll hier, in Umrissen wenigstens, entwickelt werden, als Gegenpol zur stillschweigend systematisierten Traditionalität der Gegenwart, als Grundlage einer Erkenntnis möglicher Staatsrenaissancen. Es darf nicht dahin kommen, dass belebende Wiedergeburt nur als ein kleiner Schritt auf den Pfaden der Tradition verstanden wird. Dies würde absperren von den lebendigen Strömen der Imperialität. Die Ausgangsthese lautet: Die größeren, die eigentlichen staatsrechtlichen Entwicklungen „schließen nicht an", hier kommt etwas Neues, vor allem kommt etwas neu wieder, und um dieses Letztere vor allem geht es hier. Renaissance bedeutet die Notwendigkeit des Sterbens, eines Untergangs, der das Frühere den Augen der traditionssuchenden Nachwelt zunächst entrückt, um es dann um so voller aufblühen zu lassen. Es ist die politische Wendung des Gleichnisses vom Samenkorn, das sterben muss; die notwendige Diskontinuität größerer staatsrechtlicher Entwicklungen ist damit nur Ausdruck einer allgemeineren Idee und zugleich einer menschlichen und übermenschlich-religiösen Erfahrung. Doch dies alles lässt sich auch rationalisieren, und es wird noch zu vertiefen sein: Die zeitlichen Träger der Herrschaft sterben, ihre Idee bleibt. Wer wollte noch die Römer, wer wollte nicht das Römische Reich? Selbstand einer Idee tritt erst dann hervor, wenn ihre reale Basis zerbrochen ist. Die Kritik entwickelt sich, auch an den größten Reichsgedanken, „von unten her", langsam und zerstörerisch. Sie beruft sich auf eine „Praxis", welche die Ideen nicht voll zu erfassen vermögen, auf Interessen, deren Ausgleich im Einzelnen

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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nicht gelungen ist. Doch diese Wucherpflanzen sterben rascher ab als der geschichtliche Nährboden, aus dem sie bald gerissen werden, es bleibt der mächtige Stamm, den sie herabziehen wollten, als ein Monument für Spätere. Die Kritik, fast immer mit Zufälligkeiten belastet, geht schneller unter als die massive Idee, deren Form kommt reiner zurück, von allen Einwendungen befreit. Der Überdruß der Tradition wird so gebrochen; denn es gibt eben auch ihn, er staut sich empor bis zu einem Punkt, an welchem den höchsten Institutionen des Staates, der Staatsidee selbst, die Schuld an allem kleinen Versagen gegeben wird - bis dann der Zar selbst erschlagen wird und die russische Reichsidee - und erst dann kann sie, nach einem Vaterländischen Krieg, Jahrzehnte später zurückkehren. Die alte Form ist irgendwann „einfach zum Sterben bestimmt", die römischen Fahnen, Trophäen und Institutionen bedeuten nichts mehr im zusammenbrechenden Reich, erst nach langem Todesschlaf kamen sie ungeschichtlich, überhistorisch zurück mit einem wahren Zauber, der nur neu Geschautes begleitet. Staatlichkeiten und Normen sind „in sich selbst betrachtet" sterblich, doch auch sie unterliegen dem Kreislauf des Lebens, wenn auch in größeren Zyklen. Ohne hier biologischen Fortpflanzungstheoremen huldigen zu wollen - das Ende eines Kreislaufs, die Erfüllung eines Machtwillens muss man erkennen, sich diesen Notwendigkeiten beugen, allzu viel wahrhaft Sterbliches nimmt auch die größte Staatsidee immer in sich auf. Doch wenn sie mit der Schwere all dieses Irdischen beladen hinabgezogen wird in ein Vergessen, so bleibt doch die große menschliche Chance, dass sie wiederentdeckt werden kann als ein ganz Neues, in einen Dialog eintritt mit anderen Menschen und Fakten und sich darin verjüngt. Unterbrechung muss also sein, soll das endgültige Zerbrechen verhindert werden. Überlieferungen werden im Ganzen beiseite geschafft, als solche sind sie dann wirklich nunmehr historisches Material. Einzelne, wahrhaft große Gedanken und Zusammenhänge dagegen überdauern, mag der historische Schutt noch so hoch sein, der sie bedeckt. Die Demokratie hat die monarchische Tradition als solche zerbrechen können, ihre konkret legitimierende Kraft ist Vergangenheit. Doch die Idee der gemäßigten monokratischen Herrschaft kann nicht sterben, in ihr gibt es eine Rückkehr der Könige. Bekennt man sich zur Notwendigkeit der größeren Unterbrechung, so kann mehr am Ende lebendig bleiben in Staatsrenaissance, als wenn alles in Tradition bewahrt werden soll.

b) Und eine volle Unterbrechung Auch Traditionen wandeln sich, doch die Unterbrechung, aus der allein eine Staatsrenaissance kommen kann, muss eine volle sein, fassbar in der Zeit, nicht unmerklich in Oberflächen-Kontinuität. Der große Einbruch der Barbareninvasion nur konnte Voraussetzungen für die Renaissance, ihre Vorläufer und Spätentwicklungen schaffen. Dies ist der tiefere Sinn jenes „il faut que cela change". Der Akzent liegt nicht auf der Änderung, sondern auf jenem „es", das sich verwandeln

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muss - Wichtiges eben, vielleicht alles. Die früheren großen Ordnungen müssen in einen Kyffhäuser-Schlaf fallen, sie dürfen nicht nur für eine absehbare Übergangszeit verdrängt werden. Wenn es dieselben Herrschenden sind, die gleiche Generation, welche Früheres wieder aufnehmen, so sind die Chancen einer wahren Staatsrenaissance gering, denn es wird im Grunde nur früheres Leben fortgesetzt, seine grundsätzliche Fragwürdigkeit wird gar nicht bewusst, sie fällt nicht ab in Wiederkehr, es soll eben an kurz unterbrochene Tradition angeknüpft werden. Als daher die französische IV. Republik nach Vichy zu Formen und Geist der geschlagenen III. Republik zurückkehren wollte, setzten sich in ihr nur die alten Schwächen fort, erst in der größeren Staatsrenaissance des Gaullismus gelang ein Neubeginn. Eine Gefahr für den Bonner Anfang waren seine - noch immer - Weimarer Verfassungsväter, von denen so mancher nur bruchlos fortsetzen wollte, als habe es die schwere Niederlage von 1933/45 nicht gegeben. Der Einbruch des Nationalsozialismus ist erst später wirklich bewusst geworden, zugleich mit einem wahrhaft renaissanceartigen Neubeginn - und dies war die Chance der Bonner Republik. Ideen können Zwischenzeiten überspringen, Menschen nur selten. Eine eigenartige aber immer wiederkehrende Erfahrung liegt darin, dass das frühere System gebrochen sein muss, damit Staatsrenaissance möglich werde, mit neuer Kraft. Jedenfalls muss jenes, wenn es weiterbesteht, ein „fernes" sein und bleiben. Entscheidend ist dabei nicht so sehr das Ende der alten Systematik als die Chance einer neuen, in der sich die Übernahme mit dem Aufnehmenden zusammenschließt. Das rezipierte römische Recht hat seine mächtige Renaissance-Chance gerade darin gefunden, dass es bruchstückweise entdeckt und übernommen wurde und, auch wo es in etwas wie einem System bekannt wurde, sich doch immer mit den Gegensystemen des germanischen Rechts und der feudalen Staatsordnung verbinden musste. Staatsrenaissance nimmt sogar den Verlust früherer Legitimationen in Kauf, mag sie diese dann am Ende doch auch noch mit einbringen. Formen und Grundstimmungen der römischen Republik sind nicht nur mit Begründung vergangener römischer Siege zurückgekehrt, die mittelalterliche Kaiseridee hat das 19. Jahrhundert in Deutschland nicht zuallererst mit ihren militärischen Erfolgen fasziniert, ja nicht einmal mehr allein durch ihre transzendent-religiöse Grundlage: Größe und Wirkmächtigkeit der Staatsgestaltungen als solche haben begeistert, sogar noch die von ihren zentralen Legitimationen getrennten Formen. Die Entfernung mag so groß, historischer Einbruch so tief sein, dass die frühere Dogmatik, die Rechts- und Machttechnik in ihren Einzelheiten nahezu verdämmert, die Erinnerung gar verloren ist. Auch wenn nicht ein ganzes Geflecht juristischer Einzelheiten wiederkehrt, sondern nur seine größeren Umrisse, so bleibt doch Staatsrenaissance möglich. Was wusste man schon, bei den ersten Renaissancen des römischen Rechts im frühen und hohen Mittelalter, von der technischen Perfektion des römischen Zivilrechts, was war von der Bedeutung des römischen

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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Staatsrechts für eine jahrtausendelange Geschichte wissenschaftlich ergründet, als die Französische Revolution und Napoleon sie im imperialen Frankreich neu erstehen ließen? Bonaparte war vor Mommsen. So wie das einzelne Bruchstück genügen kann zur glücklichen Wiederkehr, so auch die Kontur, es gibt etwas wie die Rückkehr der Stimmung, die Wiedergeburt nur der größeren Rahmen. Die vielen Einzelheiten verschwinden eben in der Geschichte, mit den unzähligen Menschen, die sie täglich praktizieren. Zurück bleiben die Grundrisse, sie werden von jenen Archäologen immer zuerst entdeckt, die aus ihnen dann mehr oder weniger glückliche Wiedergeburten versuchen. Ob es etwas wie eine Theorie des Fundamentalen im Staatsrecht gibt, mag durchaus zweifelhaft sein - eine Theorie der Grundrisse lässt sich vielleicht entwickeln, wenn Staatsrenaissancen vertiefend nachgegangen wird. Etwas vor allem aber ergibt sich aus der Notwendigkeit des tieferen Einbruchs als Voraussetzung der Wiederkehr von Staatsgedanken: Antithesen müssen aufgetreten sein, dazwischen liegen, damit sich etwas wie eine „neue These als Synthese" durchsetze, in der wiedergeborenen Ordnung. Es war die ganz große Chance der europäischen Staatskultur, dass ihr mächtiger Ausdruck, das Römische Reich, zerstört wurde durch die nahezu totale Antithese des germanischen Führer-Gefolgschaftsdenkens, gesteigert später zum entwickelten Feudalismus; auf diesem Hintergrund erst konnte die ganze Kraft höherer Staatsgedanken zurückkommen. Nicht anders sind die Renaissancen eines Liberalismus heute zu verstehen, der nach den Antithesen von Faschismen und Kommunismen zurückkehren konnte. Normatives Denken hat den Begriff der „obsolet gewordenen Norm" letztlich nie zu bewältigen vermocht, eines Befehls, der irgendwie existiert, aber nicht gilt. Er gehört eher zu den Erscheinungen einer zerbröckelnden Tradition, als dass er den Einbruch bedeutete, aus dem sich Staatsrenaissance erheben könnte. Hier sollte einmal streng normativ gedacht werden: Der Normbefehl ist mächtig - oder er ist nicht, ein Schlummern in Schwachheiten, ein gelegentliches Wiederentdecktwerden ist nicht das große Sterben, in welchem die Wiedergeburt ihre Chance findet. Die These vom Weiterschlummern des römischen Rechts im Mittelalter, von seiner steten, wirkungslosen Allgegenwart mag sich in manchen historischen Einzelheiten belegen lassen, die Renaissancen waren immer Ereignisse, sie wurden als Einbrüche erlebt, nicht als dilucida intervalla in einem institutionellen Dahindämmern des römischen Staatserbes. Etwas von einer Gewaltsamkeit ist der Wiedergeburt eigen, Fanfarenstöße begleiten die Auferstehung. Da ist Aufschwung nach Untergang. Es ist politisches Bedürfnis und Glück für viele Generationen immer wieder gewesen, dass sie so neues Leben selbst aus hoffnungslosen Ruinen sprießen sahen, in der Überwindung des Todes der Macht.

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Buch 2: Staatsrenaissance

3. Der zeitliche Abstand Die langdauernden Unterbrechungen, Zwischenzeiten, die als solche kaum mehr gemessen werden können, sind noch immer die stärksten Triebkräfte der Staatsrenaissancen gewesen, Perioden des Vergessens, die politischer Kurzlebigkeit geradezu als Unendlichkeiten erscheinen mögen. Je mehr sich das so aus zeitlicher Distanz Zurückkehrende außerhalb jeder Tradition stellt, umso ursprünglicher wirkt es, desto mehr lässt dieser zeitliche Abstand die Zeit stillestehen, er macht immun gegen die Erosionen der Geschichte, wirkt wie eine Garantie gegen künftige Veränderungen und Untergänge. Die treibende, relativierende Passionalität des Politischen fällt ab von den wiederkehrenden Institutionen, weil die einzelnen Interessen nicht mehr sichtbar sind, denen sie dienen sollten, weil die Herrschaft als etwas Reines, Schöneres, als eine geistige Konstruktion an sich erscheint, weil in ihr das öffentliche Interesse aus der zeitlichen Distanz auch Entfernung von den vielen Privatinteressen gewinnt, welche es tagtäglich herabziehen wollen. Wer eine römische Staatskonstruktion übernimmt, der braucht sich vom Bürger nicht fragen zu lassen, wie dies seinen Interessen diene; wem überzeitlich geltende Grundrechte mit einem Mal renaissancehaft zurückkehren, der wird sich nicht auf eine Diskussion über die privatwirtschaftlichen Folgen des Vorgangs einlassen. Was nach längerer und damit aus „größerer Zeit" zurückkehrt in die Gegenwart, ganz oder in Teilen, hat immer etwas an sich von der ratio scripta des römischen Rechts, ihm stellt sich nicht die Frage nach späteren Verbesserungen oder gar Revisionen, es ist unverbesserbar aus seinen geistigen Ursprüngen, aus seinem Wesen heraus. In diesem Sinne ist große Verfassunggebung immer zugleich ein Ausdruck von Staatsrenaissance, denn für sie könnte „Totalrevision" nur Verschleierung bedeuten: Was so mächtig gekommen ist, bedarf aus sich selbst heraus einer grundlegenden Wandlung nicht, ist ihr gar nicht zugänglich, und so erklärt es sich, dass Totalrevisionen stets ein unlösbares Verfassungsproblem geblieben sind. Die Wirkung des Zeitfaktors auf die zentralen Institutionen der Staatlichkeit sind immer gefühlt und gerade in letzter Zeit deutlich bewusst geworden, mit der längeren institutionellen Dauer der demokratischen Verfassungen. Wie immer man hier „öffnen" mag, dem Verfassungswandel Raum gewähren - das Phänomen der „Verfassungsverbiegung" in der Wirklichkeit und ihrer Zeit lässt sich nicht eliminieren, jene Wirkung der tausend Ursachen, auch der kleinen, schlechten. Hier wird der Optimismus der Demokratie nur zu oft Lügen gestraft, der alles gelten lassen, alles bejahen, alles einbauen will: Immer wieder braucht gerade sie die „große Wiederkehr", mag sie diese auch in revolutionären Bewegungen suchen. Was aus weiterem zeitlichen Abstand zurückkommt, daran erscheint nichts mehr „verbogen", denn die früheren Perioden und Wandlungen laufen aus der Perspektive der großen Entfernung zur Punktualität zusammen. Was „so weit her ist", bleibt deshalb schon rein, der Wandlung und Verbesserung nicht bedürftig. Von der großen Legitimation des Originären, Unvordenklichen wird noch die Rede sein. Jedenfalls aber liegt die Kraft der Staatsrenaissance darin, dass sie die

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Rationalität der überzeitlich erscheinenden Wahrheitserkenntnis verbinden kann mit jener Romantik, ohne die es nie Renaissancen gegeben hat. Die gefühlsmäßige Neigung zu dem längst Verstorbenen und doch Wiederkehrenden lässt sich leben, nicht dogmatisieren. Der Begeisterungsschwung der großen Staatserneuerungen kommt aus diesen Tiefen, gerade deutsche Politik ist dem immer wieder gefolgt oder erlegen. Etwas wie Ideologie wird häufig entbunden in dieser Wiederkehr aus ganz fernen Vergangenheiten. Mit der moralisierenden Kraft und der Unbedingtheit des Quasi-Religiösen treibt dann die Staatsrenaissance voran, Faschismus und Nationalsozialismus sind neuere Beispiele dafür. Wenn die katholische Soziallehre immer mehr von frühchristlichen, sozialisierenden Gemeinschaftsvorstellungen geprägt wird, so ist auch diese ideologisierte Kraft nur deshalb so stark, weil ihre Ursprünge, schon historisch schwer fassbar, politisch gänzlich verdämmern und doch gerade darin machtmäßige Realität werden. Ideologie, wie immer im Einzelnen verstanden, ist überhaupt in besonderer Weise der Renaissance fähig, aber auch bedürftig: Mühelos überwindet sie die Jahrhunderte, sie prägt die Staatlichkeit „von oben" mit großen Anstößen, will stets ganz „rein wirken", „unmittelbar zu ihrem ersten Tag", zu ihren Urhebern. Diese müssen immer wieder in großen Wellen zu ihr zurückkehren, die politischen NeoIslamismen sind dafür ständig wiederholte historische Beispiele. Der große zeitliche Abstand ist hier entscheidend, damit die bewegende causa prima in ihrer Wirkmächtigkeit voll anerkannt werde. Wann immer neu erscheinende Gedanken aufschlagen auf eine langsam sich bewegende Tradition, bringen sie oft aus fernen Urgründen geistige Staatsrenaissancen mit sich. Und in diesem Sinne ist die Kraft des Halbmonds noch lange nicht erschöpft, auch nicht die des Kreuzes. Die ganze Entwicklung der christlich-sozialen Staatsphilosophie, bis hin zu ihren ständestaatlichen Ausprägungen, im Grunde schon mit dem Kulturkampf beginnend, ist nichts als eine große Form der Staatsrenaissance aus längst vergangenen Zeiten heraus, Scholastik, Patristik, Frühchristentum. Wenn der größere zeitliche Abstand so entscheidend ist, so stellt sich der Staatsrenaissance wohl eine Frage: Wie klein darf die zeitliche Unterbrechung werden, damit Wiedergeburt noch möglich sei? Hier wird die Fragestellung umgekehrt, welche Neotraditionalismus der Demokratie zu stellen pflegt - wie viel an Unterbrechung, an institutionellem Sterben sie noch zu ertragen, zu überbrücken vermag. Hier ist eine andere Antwort wichtig: Wie lange muss der Tod dauern, damit Auferstehung gefeiert werden kann? Einst haben drei Tage genügt, eben weil sie schon Hoffnungslosigkeit schafften. Entscheidend wird wohl eines sein: Die Kraft des Vergessens in einer Gemeinschaft, was heute so gern und unglücklich ihre Schnelllebigkeit genannt wird. Frühere Zeiten mit ihrem stärkeren Sinn für ein Tradieren, den die Gegenwart verloren zu haben scheint, für eine Relativität politischer Entwicklungen, die eben über ein stets gleichbleibendes Menschenleben nur „oben hinwegschäumen" - sie haben 22 Leisner

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über weit längere Zeiträume hinweg sich erinnern können. Das große Vergessen vor der Renaissance hat deshalb nahezu ein Jahrtausend dauern können und müssen. Rechtstechnisch perfektionierte Volksherrschaft kennt viele Traditionen, doch nur immer noch kürzere Stücke derselben überschaut sie wirklich. Vermeintlicher oder realer Fortschritt lässt rascher Überlebtes vergessen, in diesem Sinn ist die Entgeschichtlichung der heutigen Zeit ein unaufhaltsamer Vorgang. Staatsrenaissancen aber hängen immer ab von der Mächtigkeit des Historischen in einer Zeit, und so hat heute wohl eine Periode begonnen, welche mehr an Staatsrenaissancen und in kürzeren Abständen erleben kann als dies früher möglich war, unbewusst vielleicht und sie als Stücke der Tradition empfindend. Deshalb vor allem, weil man so rasch vergisst, oder besser: alles für Neuschöpfungen hält, was politisch gestaltet wird, müssen sich die Sinne schärfen für vielfältige Vorgänge der Wiedergeburt, die gerade diese Epoche erreichen. Der Abstand der zeitlichen Unterbrechung kann kleiner werden, fühlt man sich nicht schon unendlich entfernt vom Liberalismus des vorvergangenen Jahrhunderts, weiter vielleicht als diese Zeit sich von der Antike wähnte? Es mag etwas kommen wie eine Epoche der kürzeren und doch tiefen Unterbrechungen, aus der Geschichtslosigkeit einer naiv gestaltenden Volksherrschaft heraus. Und auch die ideologischen Quellen der Wiederkehr raffen eher die Zeit: Als es im Marxismus nur mehr Kontinuität gab, da war er bereits verloren. Nicht nur einmal, in der großen Renaissance, hat der zeitliche Abstand fasziniert und legitimiert, noch immer bringt er vor allem das große Erstaunen vor einem Neuen, das mit einem Mal wiedergeboren wird, wie vom Himmel der Vergangenheit gefallen.

4. Aus großem Abstand gesehen: Geschichte als Dogmatik Der große zeitliche Abstand, aus welchem heraus Staatsrenaissancen wirken, verleiht einem Recht, das so wiedergeboren wird, von vorneherein eine wesentlich dogmatische Struktur, in der die „reine Geschichtlichkeit" überwunden werden kann. Die Problematik der Historia Magistra, der Lehrbarkeit geschichtlicher Erfahrungen in einer veränderten Gegenwart, hat Rechtsdenken in Traditionen stets auf besondere Weise zu lösen versucht: indem die Vergangenheit mit der Gegenwart so eng und bruchlos verknüpft wird, dass sie geradezu als ein Teil derselben erscheinen kann. Staatsrenaissance überwindet die gefährliche Distanz des Historischen in anderer Weise: Sie setzt immer ein mit einer wesentlichen Dogmatisierung der wiedergeborenen Staatsideen. Da ihr wirtschaftlich-soziologisches Umfeld als solches nicht wiederkehrt, meist nicht einmal im Einzelnen bekannt ist, bedeutet dies einen Aufruf zur dogmatischen Konstruktion, vor allem dann, wenn

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im Wesentlichen Bruchstückhaftes übernommen wird. So hat die Renaissance des römischen Rechts dogmatisches Denken grundgelegt, so die Renaissance der patristischen Staatsphilosophie im Staatsdenken der Scholastik zur Dogmatisierung geführt; so wird immer die große frühere, geistig wiedergeborene Praxis sogleich zum Lehrgebäude, von der Dogmatik des liberalen Staatsrechts, das frühere Freiheitspraktiken geistig konstruiert hat, bis hin zu einer katholischen Soziallehre, die aus Gedanken der Evangelien und Kirchenväter eine Doktrin entwickelt. Die erste Dogmatik, die bewusst diesen Namen angenommen hat, die der katholischen Theologie, ist letztlich nur die Frucht der scholastischen Renaissance gewesen, weil eben alles, was so weit herkommt aus der Geschichte, nicht mehr mit historischen, sondern nur mehr mit dogmatischen Kategorien erfassbar, auf solche Weise allein verwertbar wird. Diese Zeitlosigkeit, mit welcher die Inhalte einer Staatsrenaissance auf spätere Perioden einwirken, liegt eben auch an sich schon im Begriff des Dogmatischen, vor allem im Staatsrecht: Der Zeitfaktor, die Entwicklung, ist dort in erster Linie Gegenstand der Pädagogik, nicht ein Problem der praktischen Anwendung; werden die Normen an neue Entwicklungen angeglichen, so geschieht dies in einem Geist, der Neues in Dogmatik zeitlos hervorbringen will, nicht aber Geschichte auf ihre Flexibilität hin zu untersuchen unternimmt. In der Normidee selbst liegt dogmatische Zeitlosigkeit, und vielleicht wird die viel beklagte Normenflut deshalb immer wieder so erstaunlich leicht hingenommen, weil sie ja „stets etwas Neues" zu bringen, nicht so sehr historisch anzuhäufen scheint. Und dass schließlich die Demokratie, aus der Überzeitlichkeit des stets existierenden Volkssouveräns heraus wirkend, in ihrem Staatsrecht „ganz wesentlich Dogmatik" ist, das hat gerade die Entfaltung des modernen Staatsrechts gezeigt. So ist denn das Staatsrecht an sich schon, das der normativierten Demokratie im Besonderen, ein idealer Rezeptionsraum für Inhalte, welche aus ferner Geschichte kommen, gerade durch diesen „großen Sprung" über das Vergessen hinweg jedoch ihre geschichtliche Zufälligkeit in Dogmatik überwinden - nach der Historia Magistra muss sich eine Staatsrenaissance nie fragen lassen, mag sie auch am Rande noch darauf verweisen können. Diese wesentlich dogmatische Struktur wiedergeborener Staatsideen bietet auch eine eigenartige „systematische Chance" solcher Wiedergeburt: Nicht das ferne System wird übernommen, dies wird sich immer wieder erweisen, entscheidend ist die Freiheit einer selbst unsystematischen Anleihe über historische Weiten hinweg. Was dann mit dem Anspruch der Dogmatisierbarkeit einbricht, das treibt, aus sich selbst heraus, rasch zu einem System, in ganz neuartigen Verbindungen mit der gewandelten Umwelt. Das Wesen solcher Systematik liegt dann aber darin, dass sie sich nicht so sehr zeitlich-historisch entwickelt, dass sie vielmehr - wiederum dogmatisch „entfaltet" wird. Als Jean Bodin die Souveränitätsvorstellungen der römischen Kaiser-Imperialität seinem Souverän in Staatsrenaissance erschloss, da bedurfte es zur Systematisierung nicht längerer Perioden französischer Staatspra22*

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xis, die Souveränitätsvorstellung kam en bloc zurück, ihr System wurde vom Interpreten selbst sogleich entfaltet, der nur dogmatische Gehalte zu verdeutlichen hatte, welche überhistorisch-konstruktiv bereits in den wiedergeborenen Ideen lagen. In dieser Form der dogmatischen Systematik vollendet sich dann die Staatsrenaissance, die Überwindung der Geschichtlichkeit aus der großen Distanz heraus. Geschichtliche Forschungen müssen nicht angestellt werden, um das Übernommene allseitiger auszubauen, besser zu erkennen, es wird „aus sich selbst heraus" entfaltet, in einer dogmatischen Konstruktion fortgedacht, welche sich mit dem Übernahmeobjekt als solchem, nicht mit seiner Geschichte beschäftigt. Und so ist ja auch die erste Archäologie, die der Renaissance, in erster Linie eine ästhetische, rein dem gefundenen Objekt zugewandte Betrachtung gewesen, nicht ein Stück alter Kunstgeschichte. Systematisierte Staatsrenaissance - das ist die dogmatische Wiedergeburt im Geist des Interpreten, der nicht historische Stützen und Erklärungen sucht, vielmehr die Kraft einer Idee aus sich selbst heraus entfaltet, sie mit seiner heutigen Welt - wiederum dogmatisch - verbindet. So hat der weite zeitliche Abstand, aus dem heraus die Staatsrenaissance wirkt, auch eine entscheidende methodische Dimension, die der ,/einen Dogmatik", die dann zum ,/einen System" emporwächst. Damit fällt von ihr eine geschichtliche Zufälligkeit ab, von der die Traditionalität so vieles mit sich fortschleppen muss. Wenn es etwas wie eine „Kritik der reinen Vernunft" im Staatsrecht geben kann, so muss sie an Inhalte der Staatsrenaissance anschließen, weil zuallererst hier „historisch voraussetzungslos", „sozusagen in den eigenen - dogmatischen - Kategorien", gedacht wird, weil der Geist, zur logischen Konstruktion gezwungen, hier die Chancen und Grenzen seiner eigenen aufbauenden Kraft zu erkennen vermag. Die lange zeitliche Unterbrechung wird zur großen Chance des Neubeginns in geistiger Konstruktion. Sie kommt nicht aus einer „historischen Außenwelt", die der Mensch schwer zu erkennen vermag, sondern „aus ihm selbst", aus seinem dogmatischen Geist.

V. Die „horizontale Staatsrenaissance44 Übernahme aus „entfernten Ordnungen44 1. Die notwendige Erweiterung des Renaissance-Begriffs Mit einem Einwand muss die Lehre von den Staatsrenaissancen heute rechnen: dass sie sich mit Entwicklungen beschäftige, die „im Wesentlichen Geschichte" seien, „klassisch" geworden zwar, damit aber auch abgeschlossen. Hat die große Renaissance nicht ein für allemal stattgefunden, waren alle späteren Klassizismen nicht doch nur ihre Nachspiele? Und wenn man den Begriff der Renaissance noch so weit ausdehnt - bleibt er nicht historisch verhaftet, verbunden mit jener Wiederkehr der Antike, welche eben heute erschöpft scheint? Blickt man auch auf andere

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Inhalte, welche in der Vergangenheit wiedergeboren werden konnten - ist nicht überall der Schatz der weitentfernten Geschichte gehoben, die Staatsarchäologie beendet? Hier geht es nicht nur darum, ob eine mehr oder weniger interessante These haltbar oder endgültig überwunden ist; wenn diese Kritik zuträfe, so wäre auch ein Urteil über die Erneuerungskraft heutiger Staatlichkeit, gegenwärtiger Staatsrechtsdogmatik gesprochen. Die zahlreichen Beispiele, welche schon genannt wurden, die immer wieder begegnen werden, sprechen nicht für eine solche Erschöpfung der Kraft der Staatsrenaissance, im Gegenteil: In den beiden vergangenen Jahrhunderten haben sich solche Stöße vervielfältigt, mochten sie vielleicht auch nicht mehr die Kraft der beginnenden Neuzeit erreichen. In einem einzigen langen Leben konnten die Wiedergeburten der Staatsromantik des 19. Jahrhunderts, der faschistischen Romidee, des christlichen Naturrechts, des germanischen Führergedankens, des Neoliberalismus und des gaullistischen Caesarismus in Frankreich erlebt werden - ist dies nicht Beweis genug für eine eher steigende Mächtigkeit der Staatsrenaissancen, ganz zu schweigen von den zahlreichen isolierten, nur zu oft gar nicht bewussten Vorgängen geistig-politischer Wiedergeburt? Und doch - der Einwand gibt zu denken. Sicher waren ja die erwähnten und manche andere Staatsrenaissancen der neuesten Zeit Ausdruck eines sich verstärkenden Historismus europäischer Spätzeit, in welchem schwächer werdende politische Herrschaft Legitimation und geistige Gestaltungskraft aus ferner Vergangenheit zurückrufen wollte. Ist hier nicht eine Wende gekommen mit der Macht der neuen Großreiche, in Amerika und Russland, wo „einfach nur Neues geschaffen werden sollte", so dass nichts mehr wiedergeboren wird? Dies wäre wohl eine Verengung gegenüber Entwicklungen, die heute noch gar nicht absehbar sind. Und Renaissancen haben ja auch dort bereits sichtbar stattgefunden, gerade in letzter Zeit, man denke nur an die eigenartige Wiedergeburt gerade der deutschen Staatsrechtsdogmatik und Staatstheorie in den Vereinigten Staaten, im Gefolge der Emigration, oder an die Rückkehr des imperialen zaristischen Denkens im „Vaterländischen Krieg". Nicht leugnen lässt sich immerhin, dass es heute starke Strömungen gibt, welche Staatsrenaissancen entgegenwirken. Da ist die beispiellose technische Veränderung der gegenwärtigen Welt, welche Probleme schafft, die aus fernen Vergangenheiten heraus nicht mehr lösbar erscheinen. Da ist auch die starke historische Fixierung der Renaissanceidee auf eine bestimmte Vergangenheit, die eben als solche „klassisch" geworden, damit aber abgeschlossen erscheint. Von einer bewussten Reichsidee schließlich wenden sich die kleineren Mächte heute in Ängstlichkeit ab und selbst die größeren in politischer Vorsicht, der Vorwurf des Imperialismus ist unerträglich, solange Kolonialismus nicht Geschichte geworden ist. Allzu sehr ist vielleicht auch die Reichsidee mit der des römischen Imperiums verbunden worden ist so nicht das Reich als Römisches Reich mit seinem Latein am Ende?

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Keineswegs, auch nicht in der zeitlichen Dimension, denn sie bringt immer noch, immer wieder, viel an Wiedergeburt. Doch es gilt heute sicher, den Begriff der Renaissance zu erweitern, über das historische Vokabularium hinweg, nicht über seine geistigen Inhalte hinaus, die damit nur deutlicher werden. So wie die Triumphkategorie nicht mehr auf den Schlachtensieg zu beschränken ist, sollte dies je der Fall gewesen sein, sondern zum Erfolgsdenken verbreitert werden muss, wie im ersten Buch nachgewiesen wurde, so muss auch das Zentrum des Begriffs der Staatsrenaissance klarer erkannt und weiterentwickelt werden: Es liegt in der Vorstellung von der „Übernahme des weit Entfernten als Neues, Eigenes." Davon soll nun die Rede sein, von einer Wiedergeburt aus entfernten fremden Ordnungen heraus, mögen sie noch gelten oder nicht, und hier wird sich zugleich auch die Dimension der „klassischen", der historischen Renaissance noch näher verdeutlichen lassen.

2. Renaissance - Oberbegriff über räumlichem und zeitlichem Abstand Die „klassische" Staatsrenaissance wirkt aus der großen zeitlichen Entfernung in die Gegenwart hinein, doch die Zeitdimension als solche ist hier, das zeigte sich schon, nicht wesentlich. In der Übernahme aus weit Entferntem wird ja gerade die Zeitdimension gewissermaßen aufgehoben, die Zeit steht still - und so kann sie auch, grundsätzlich, durch örtliche Distanz ersetzt werden. Denn dies ist das eigentliche Wesen der Staatsrenaissance: Die Übernahme dessen, was hier und heute nicht (mehr) in Kraft ist, „in der Ferne", an irgendeinem entfernten Punkt, aber glücklich gegolten hat. Bei solcher Übernahme aus „entfernten Systemen" ist es, aus der Sicht der Renaissance, primär nicht von Bedeutung, ob und wie sie noch gelten, wenn diese Ordnungskraft nur in irgendeiner Weise „weit entfernt" wirkt, wenn nur die Inhalte im eigenen Bereich wahrhaft wiedergeboren werden. Und ist denn nicht auch die große, historische Wiederkehr der Antike so empfunden worden, als werde hier nur ein immer weiter bestehendes, aber „weit entrücktes" römisch-griechisches Reich des Geistes wiedergeboren, dessen historischer Tod - im Grunde gleichgültig war, nicht zur Kenntnis genommen wurde? Wenn dies zutrifft, so kann, in gewissen noch zu verdeutlichenden Grenzen, eine Gleichsetzung vollzogen werden von zeitlichem und örtlichem Abstand, beide begründen die Fähigkeit zur Staatsrenaissance. Gleich bleibt ja deren zentrale Kraft: die exemplarische Bedeutung der bewunderten, übernommenen und wiedergeborenen Ordnung, die Anleihe aus einem System, das als solches ganz groß und zugleich doch ein „ganz anderes" ist, der eigenen Ordnung gegenüber.

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a) „ Staatsrenaissance aus den Staaten " Ein großes Phänomen der Staatsrenaissance läuft ab seit Jahrzehnten gegeben, weithin in Europa, vor allem aber in Deutschland: Etwas wie eine „Staatsrenaissance aus den Vereinigten Staaten", die Übernahme und wirkliche Wiedergeburt über den Ozean hinweg. Institutionell hat dies gewirkt, aber auch und vor allem methodisch. Die Übernahmen aus dem Recht der Vereinigten Staaten sind Legion, sie überdecken in vielen Punkten das Zivil-, vor allem das Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht. In zentralen Räumen haben sie die Höhe wahrer Staatsrenaissance erreicht: Im Bereich der wirtschaftlichen Grundrechte ist heute das amerikanische Anti-Trust-Denken auch eine deutsche Grundentscheidung, ein Bestandteil des materiellen Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Und um nur das wichtigste Beispiel aus dem organisatorischen Staatsrecht zu erwähnen: Die ausgebaute, die individual- und föderal-schützende Verfassungsgerichtsbarkeit ist als amerikanische Staatsgrundidee wiedergeboren worden, als Übernahme aus der Ordnung einer Großmacht, welche auf diesen beiden Säulen ruht: auf der Freiheit des Einzelnen und der Autonomie der kleineren Einheit. Hier ist auch wirkliche Wiedergeburt, nicht einfache Übernahme. All dies trifft ja, gerade in Deutschland, auf eine alte und entwickelte Tradition, hat diese aber mit großen Anstößen verändert, neu geformt, sich mit ihr in eigenartigen Verbindungen zusammengeschlossen. Später wird man gewiss Parallelen ziehen zwischen dieser Art der Übernahme und den renaissancehaften Einbrüchen des römischen Rechts in die feudal-deutschrechtlich geprägten Ordnungen des Mittelalters. Hier wirkt auch die geistige Kraft der Staatsrenaissance noch in einem anderen Sinne: Nicht nur Rechtsideen kommen herüber, politische Grundvorstellungen, dies alles ist nur Teil der Wiedergeburt einer größeren Welt diesseits des Atlantik: des hier vielfach verschütteten Liberalismus, der sich nach 1945 mit dem Schwung der neuen Welt in Wiedergeburt auf sich selbst besinnen konnte. Dies war das Renaissance-Geschenk der Neuen Welt, die selbst aus einer Wiedergeburt der alten entstanden war. Was in diesen Jahrzehnten in Deutschland wahrhaft neu geboren worden ist, von allzu leichter Kritik oder Begeisterung oft verzeichnet, das sind wirklich Stücke einer „neuen alten Welt", und ähnlich hat man sich vielleicht die Begeisterungen vorzustellen, mit denen die Renaissancezeit die in Stein gegenwärtigen Leistungen der Antike wiederentdecken und nachempfinden konnte. Nicht nur inhaltliche Renaissance wird vollzogen, zugleich ist auch Methodik übernommen, wiedergeboren worden, was ja stets ein Wesen größerer Wiedergeburt ist. Wie die Studenten des späten Mittelalters die italienischen hohen Schulen der Renaissance aufsuchten, von dort nicht nur wiedergeborene Inhalte, sondern eine Wiedergeburt der Methoden zurückbrachten, so wirken die Universitäten der Vereinigten Staaten auf die geistige, vor allem auf die politische und wirtschaftliche Elite Europas namentlich der Bundesrepublik Deutschland. Ob man es nun

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Soziologismus nennen mag oder Pragmatismus, diese Grundstimmung des Experimentierens oder eigenartiger Formen „wirtschaftlicher Betrachtungsweise", ob das geschichtlich Unbelastete geistig genossen oder die Notwendigkeit der großen Lösung gefühlt wird, welche stets auf die Gestaltung eines Kontinents ausgerichtet sein muss - aus all dem ist eine neue geistige Dimension im europäischen, vor allem im deutschen Rechts- und Staatsdenken entstanden. Sie lässt sich heute nur punktuell beschreiben, nicht systematisch erfassen, denn diese methodische Wiedergeburt des Denkens der neuen Welt in den begrenzten staatlichen Räumen Europas ist noch in vollem Gange. Doch eine spätere Betrachtung wird hier Züge und Kraft einer großen Renaissance erkennen; Aufgabe einer Betrachtung aus der Sicht der Staatsrenaissance ist nur eines: diese Chance in Wiedergeburt zu nutzen, nicht in Nachahmung zu verspielen.

b) Übergänge von zeitlichen und räumlichen Distanzen Staatsrenaissancen in die „Dritte Welt " Übernommen aus fremden Ordnungen werden kaum je laufende Entwicklungen, die nicht zu einem gewissen Abschluss gelangt sind. Zur räumlichen Unterbrechung bei solcher Übernahme kommt immer auch eine gewisse zeitliche Phasenverschiebung, und nicht selten ist eben das fremde Regime bereits „in eine ganz andere Zeit eingetreten", oder es bewegt sich in ihr, mag dies auch denjenigen nicht bewusst sein, welche hieraus Staatsrenaissance erfahren. Übernahmen aus der Ordnung der Vereinigten Staaten werden stets im Grundsätzlichen damit legitimiert, dass hier aus einer „zeitlich lang bewährten Demokratie" heraus gestaltet werde, darin liegt nicht nur die Legitimation des gelungenen Experiments, des „lediglich zeitlich Bewährten". Dem Übernehmenden ist bewusst, dass sein Vorbild „in einer anderen demokratischen Zeit steht", entwicklungsmäßig jedenfalls eine völlig unterschiedliche geistige Stufe erreicht hat, und sei es auch nur in dem, was gerade zur Staatsrenaissance führt, etwa in einer wirtschaftlichen Großentwicklung. Der zeitliche Abstand ist also ebenso wichtig wie der räumliche, seine Größe spielt insoweit keine Rolle, als er gewissermaßen absolut gesetzt ist, indem eben etwas „ganz anderes" übernommen wird. In einem Bereich sind diese zeitlichen Phasenverschiebungen der Entwicklung von größter Tragweite, in welchem heute vor allem ständige Staatsrenaissancen stattfinden: von den entwickelten Staaten, vor allem den früheren Kolonialherren, in die Dritte Welt hinein. Was dorthin übernommen und nun wirklich ganz bewusst wiedergeboren wird, das sind nicht selten Zustände, Entwicklungsphasen, welche im Ausgangsland bereits längst überwundene Vergangenheit waren, im Übernahmeland aber als die große Neuheit gefeiert werden. Diese jungen Staaten nehmen Gedankeninhalte und Methoden in sich auf, die aus einer „ganz anderen", ebenso weit örtlich wie auch zeitlich entfernten Welt kamen, deren Entwicklungsstufen sie erst viel später werden erreichen können. Ob nun also ihr „Römisches Reich" in

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der Ferne noch irgendwie weiterbesteht, wie im heutigen England oder Frankreich, ist aus der Sicht der Staatsrenaissance ohne Belang, räumlich ist es weit und immer weiter entfernt, und auch zeitlich, denn die Entwicklungsphasen sind überhaupt nicht vergleichbar - diese Zeitdistanz aber wird, zugleich mit der räumlichen, in Staatsrenaissancen übersprungen. Wesentlich für die große Renaissance war zum Beginn der Neuzeit die Übernahme von Staatsgedanken einer höher entwickelten Vergangenheit. Nichts anderes findet tagtäglich statt in jüngerer Staatlichkeit, so wie sich auch aus solcher Wiedergeburt heraus die Staaten Europas nur entwickeln konnten - vielleicht ein Beweis dafür, dass nicht allein die Geburt eines Imperiums, sondern die einer jeden Staatlichkeit nur als Wiedergeburt gedacht werden kann. Nicht nur in der Dritten Welt aber, sondern auch an der europäischen Geistesgeschichte der Verfassungsentwicklungen lässt sich im Einzelnen zeigen, wie nahe räumliche und zeitliche Unterbrechungen beieinander liegen, sich gegenseitig ergänzen, ja ersetzen können. So hat etwa die Entfaltung des französischen Staatsdenkens im 19. Jahrhundert die deutsche Entwicklung laufend befruchtet, wobei die „kleineren Renaissancen", welche in dieser Zeit das Denken der Volkssouveränität immer wieder feiern konnte, 1830, 1848 und nach 1870, sich in ihren zeitlichen Unterbrechungen verbanden mit dem räumlichen und politischen Abstand der beiden Länder, der weitere Distanz geschaffen hat. Die zeitliche Phasenverschiebung und die räumlichnationale Distanz zusammen haben jenen Abstand entstehen lassen, aus dem heraus liberaldemokratisches Denken in etwas wie Staatsrenaissance immer wieder und in Stößen nach Deutschland getragen worden ist. Den Begriff des „Abstandes", jener Distanz, aus welcher Staatsrenaissance möglich ist, gilt es also vor allem zu erweitern, damit der ganze Reichtum staatlicher Entwicklungen zur Wiedergeburt deutlich werde, und dann erweist sich gerade die Gegenwart als eine Periode laufender, mächtiger Wiedergeburt.

3. Die Gefahr: Nachahmung statt Wiedergeburt a) Systemkopie Die große Renaissance war in einem vor allem glücklich: Sie stand nicht in der Gefahr der Systemkopie. Was sie auszugraben vermochte, das war klassisch geworden durch langen Tod, seine bestreitbaren Farben waren verblichen, und was nicht einbaubar erschien, wurde ohne Bedauern zur Vergangenheit geworfen. Was immer aber aus einer noch lebenden Hoffnung übernommen wird, mag sie auch nur mehr in Fortsetzungen existieren, das schleppt mit sich die Versuchung der „Übernahme des Ganzen", der Verdrängung von allem Heutigen, das aber doch den „Schoß der Wiedergeburt bilden sollte"; und selbst im oft gewaltsamen Einbruch des römischen Rechts zu Beginn der Neuzeit ist diese Gefahr nicht immer gebannt worden. Wenn dann die Herkunftsordnung der übernommenen Gedanken-

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welt nicht nur die Lehre, sondern auch noch die Lehrer bietet, welche das staunend Rezipierte weiter fortbilden sollen, dann ist die glatte Übernahme perfekt, die Kräfte der Staatsrenaissance erschlaffen. Nun wird ja versucht, nicht etwa die „schönen Trümmer", sondern das ganze System, mit all seinen zeitlichen Schwächen, einfach fortzusetzen, über Meere und Zeiten hinweg eine schwache, schlechte Tradition zu knüpfen. Dann bleibt für die Schaffenskraft der Späteren kaum noch Raum, sie können ihren eigenen, systematischen Geist nicht mehr hinzufügen. Mit gutem Instinkt für solche Gefahren, und nicht nur in primitiver Auflehnung gegen geistig Höheres, wendet sich die Dritte Welt heute gegen europäische und amerikanische Lehrmeister. In solchen Systemkopien wird die aufnehmende Ordnung nicht reicher, man segelt in fremdem Schlepptau, übernimmt letztlich immer nur abgelegte Staatskleider. Das Bewährte wird nicht neu, es bleibt eben - nur bewährt, damit ist es nur zu oft überholt. Alle Staaten, in die hinein Staatsrenaissance stattfindet, wollen damit einen Saum vom Purpur des größeren Reiches berühren, doch in Staatskopie entsteht kein Reich, nur Provinzen eines fremden geistigen Imperiums. Es ist das gute Recht starker politischer Imperialität, solches zu wünschen, zu octroyieren, das bessere Recht der Provinzen, dies abzulehnen, und letztlich sogar aus imperialer Sicht; denn so kann Imperialität sich auf Dauer nur erschöpfen, nicht neu entstehen. Provinzen, die sonst nichts sind, übernehmen ein Reich, sie schaffen es nicht. Wer so schwache Kopien anfertigt, kann sich fremden Geist nicht wirklich appropriieren, weil das Übernommene im Grunde „noch einem anderen gehört", in einer fremden geistigen Welt steht und von deren Entwicklungen beherrscht wird, so dass immer wieder nur Resultate einfach zu übernehmen sind. Ob Deutschland diesen Gefahren entgehen kann, wird davon abhängen, ob seine eigene geistige Dynamik stark genug sein wird zum Einbau des Übernommenen in wahrer Wiedergeburt, zu seiner Ablösung von amerikanischen oder anderen Ursprüngen. Für diejenigen, welche noch einen „eigenen Weg zum Sozialismus" versuchen, wird es zur Schicksalsfrage, ob sie Räteübernahmen zur Staatsrenaissance umgestalten können, oder ob dies alles immer nur Staatskopie bleibt.

b) Rechtsvergleichung - Weg zur Staatsrenaissance? Hier werden auch die staatsgrundsätzlichen Grenzen aller Rechtsvergleichung sichtbar. Als Instrument entwickelter Rechtsfortbildung unentbehrlich, bleibt sie doch ganz wesentlich in den Bahnen der Traditionsbefestigung, welche sie horizontal verbreitert; die legitimierende Entwicklung wird nun auch noch mit Blick auf fremde Gestaltungen abgestützt. Rechtsvergleichung kennt, grundsätzlich, nicht die Dimension der Staatsrenaissance, sie ist allenfalls ein instrumentaler Anfang derselben. Im Rechtsvergleich werden ja funktionierende Ordnungen nebeneinandergestellt, und gerade die Staatsrechtsvergleichung hat immer wieder gezeigt, dass sich viel leichter Einzel-

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heiten vergleichen und verbinden lassen als jene Grundentscheidungen, deren Höhe aber, irgendwann, zu einer Staatsrenaissance nötig ist. Darin wird auch zivilrechtliche Rechtsvergleichung stets der des öffentlichen Rechts überlegen bleiben, dass sie im Einzelnen fortbaut, die Höhe der Grundentscheidungsvergleiche gar nicht zu erklimmen versucht. Wenn aber Staatsrenaissance eine darin typisch staatsrechtliche Kategorie ist, dass sie „von oben her, aus der Spitze heraus" Anstöße zu geben, Gestaltungen durchzusetzen versucht, so wirkt eben hier, gegen alle Rechtsvergleichung, die Sperre der Unvergleichbarkeit gerade der größeren politischen Befehle. Vor allem aber ist es auch gar kein Anliegen der Rechtsvergleichung, eine Wiedergeburt des Früheren oder Fremden im eigenen Ordnungsraum zu fördern, hier soll wirklich und ganz übernommen, es soll kopiert werden, und auch dies hat ja seine laufende, gute Berechtigung. Renaissance will das weit entfernte Fremde als Eigenes erkennen, die Rechtsvergleichung das Naheliegende noch näher bringen. Die Schubkraft der Staatsrenaissance liegt in der Unterbrechung und dem Neubeginn, als sei es früher so nicht gewesen, für Rechtsvergleichung sind all dies keine Kategorien. Staatsrenaissance mag auch eine Chance zu einem „technischen Reichsrecht" bedeuten, davon wird noch zu sprechen sein; doch sie erschöpft sich nie allein in Rechtstechnik, wo aber Rechtsvergleichung stets ihr Zentrum haben wird. Staatsrenaissance kommt immer aus der naiven Überzeugung einer höheren Güte, die mit Rücksichtslosigkeit auch verdrängen kann, Rechtsvergleichung ist die vorsichtig-kritische Form eines Qualitätsvergleichs in Einzelheiten, der noch einen Bogen anbaut, keine hohen Gewölbe schafft. Die großen Leistungen der Rechtsvergleichung hat das Privatrecht vollbracht, und so wird es bleiben. Die verwaltungsrechtlichen Ergebnisse schon waren immer enttäuschend, die staatsrechtlichen sind selten der Rede wert - und wo sie politische Mächtigkeit erlangen konnten, da war es eine Wiedergeburt, welche sie überhaupt erst zum Tragen brachte. Die Früchte wurden nicht vorsichtig gepflückt, sie wurden abgerissen von fremden Bäumen, neu eingepflanzt in die eigene Ordnung. Und so mag man denn, nach vielem, was zu Unrecht oft als Enttäuschung empfunden worden ist, gerade aus der Geschichte der Staatsrenaissance eines lernen: Rechtsvergleichung ist ein Instrument des optimierenden Vergleichs, allenfalls noch des Fortbauens von Traditionen, kein Weg von Staatsrenaissancen.

4. Chancen der Staatsrenaissance aus fremder, gegenwärtiger Imperialität a) Eine europäische Schicksalsfrage Den Ländern Europas steht immer noch der geistige Weg offen in die Staatsrenaissance aus zeitlicher Unterbrechung, die Schätze der Antike, der liberalen Freiheit sind noch längst nicht gehoben. Doch sie stehen weiterhin jedenfalls ei-

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nem mächtigen Reich gegenüber. Wird es ihnen möglich sein, „horizontale Staatsrenaissance" in größerem Stile noch stattfinden zu lassen, in ihre eigenen kleineren Ordnungen hinein, ohne dass sie in geistige, nicht nur politische Vasallität herabsinken, oder wird die Gefahr der Staatskopie so stark werden, dass sie selbst den Rückweg zu den geistigen Quellen Europas versperrt? Wenn in Politik und Literatur das „Abendland" beschworen wird, mit seinen Traditionen, so sollte man dies nicht in leichter Kritik belächeln. Dahinter steht doch die Sorge, der Alptraum vielleicht, dass Staatlichkeiten in Europa der Staatsrenaissance überhaupt nicht mehr mächtig sein könnten, weil sie nur mehr aus horizontalen Übernahmen leben, damit aber zugleich auch die antike Renaissancekraft verlieren. Sollte dies der geistige Zustand Europas sein, so wäre in der Tat eine politische Zukunft nicht mehr eröffnet, denn der imperiale Gedanke müsste endgültig sterben, nachdem ihn keine Staatsrenaissance mehr beflügelt. Nicht immer nur von „abendländischen Traditionen" sollte aber gesprochen werden, die Schicksalsfrage stellt sich im Grunde doch anders: Bisheriges kann nicht immer nur emsig fortgeknüpft werden, zu viele Netze sind zerrissen, vor allem zu anderen Kontinenten und damit größerer Mächtigkeit. Entscheidend ist, ob sich eine „Tradition" fortsetzen lässt, die stets eine lebendige, weil völlig diskontinuierliche war: die der großen Staatsrenaissancen, welche neue Ordnungen schenken, die alten nach ihrem Tode wieder belebend. Das kolonial herrschende Europa ist gestorben. Seinerzeit hat es Herrschaftsgedanken entwickeln können, die heute missverstehende Kritik im Namen des Kampfes gegen den Imperialismus vollends vernichten will. Das Gegenteil müsste stattfinden: Nicht der Versuch neuer Herrschaft über die Meere hinweg, wohl aber eine Wiederbelebung jener Kräfte, welche diese Herrschaften einst ermöglicht haben, in einem nach innen gewendeten nicht imperialistischen, sondern imperialen Denken, das sich aus der Kraft von Staatsrenaissancen auflädt, welche seinerzeit die Flotten in die großen Eroberungen geschickt haben. Eine Schicksalsfrage Europas wird es sein, ob es solcher Staatsrenaissance noch fähig ist, in der Rückkehr seiner großen Vergangenheiten und in der im wahren Sinne selbstbewussten horizontalen Staatsrenaissance aus großen Imperien der Gegenwart. Und was zu diesem Letzteren, heute vor allem Aufgegebenen, nötig ist, dazu nun noch einige Worte, welche zugleich schon Angedeutetes zusammenfassen. b) Bedingungen für die „ Übernahme fremder Ordnungsgedanken " in Staatsrenaissance - Übernahmen in Distanz sind stets anzustreben, auch im politischen Sinne, aber aus einem bewussten Selbstand der eigenen Ordnung heraus, dem das fremde Staatsdenken als ein „anderes" gegenübertritt. Und in diesem Sinne mögen Gedanken des angelsächsischen Zivilrechts, welche ja auch von staatsgrundsätzlicher Bedeutung sein können, wie etwa im Wettbewerbs- und Gesellschaftsrecht, leichter aus größerer Distanz renaissancehaft wirken als das, was aus einer

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analog strukturierten Staatsordnung kommt, etwa aus einer parlamentarischen Demokratieprägung ähnlich der des Grundgesetzes in diese Ordnung einfließt. Denn hier wird rasch die Technizität der Rechtsvergleichung erreicht. - Abgeschlossene Entwicklungen bieten regelmäßig größere Chancen, neue Dynamik hervorzubringen als solche, deren Eigendynamik noch gar nicht erschöpft, vielleicht noch gar nicht einmal abzusehen ist; denn hier entsteht sonst die Gefahr eines Nachlaufens gegenüber fremder Entwicklung, das leicht zum dauernden Nachhinken werden kann. Deshalb sind auch Übernahmen aus „offenen Verfassungen" sicher nicht leicht, und eher wird man wohl eines Tages die reineren Formen der Gaullistischen Gewaltenteilung der frühen V. Republik übernehmen können als deren Auflösungszustände in den vollen Parlamentarismus. - „Horizontale Staatsrenaissance" sollte nicht nur mit Blick auf die gerade gegenwärtige Großmachtstellung des Ausgangsregimes versucht werden, auch die niedergegangenen Großmächte wie England und Frankreich, selbst eine vor kurzem zusammengebrochene wie Deutschland haben noch immer „gute" Staatsformen der Vergangenheit bewahrt, die sie in Wiedergeburt weitergeben können. Es gibt eine Machtversuchung der Hinwendung zu den Staatsformen von Supermächten; ein Monopol „guter Staatlichkeit" kann ihnen ihre glückliche Gegenwart nicht verleihen. - Staatsrenaissance aus renaissancegeprägten Ordnungen heraus liegt besonders nahe; gegenwärtige Imperialität vermag insbesondere das leicht weiterzugeben, was sie selbst aus weiterer Vergangenheit empfangen, bewahrt und neu entwickelt hat. In diesem Sinne war Frankreich für die Deutschen stets nicht so sehr ein Vorbild - als das es nicht selten missverstanden worden ist - als etwas wie eine Vermittlung, ja Durchgangsphase antiker Staatsrenaissance, mit seinen imperialen und caesarischen Vorstellungen. Und weil sich dort der radikal-liberale Demokratismus früh in größerer Systematik entwickelt hat und immer wieder in renaissancehaften Stößen im 19. und 20. Jahrhundert zurückkam, ist dies Land auch Ort einer Staatsrenaissance dieser fernen Staatsgedanken geworden. Was aus diesen Entwicklungen heraus übergreift, ist dann eine Verbindung zeitlicher und räumlicher Staatsrenaissance. - Nicht nur das „Entfernte" kann heute aus fremder Imperialität übernommen werden, befruchtend wirkt sogar in besonderem Maße das „ganz andere", ja „Gegensätzliche", löst es doch in der eigenen Ordnung den heilsamen Schock der immunisierenden Abgrenzung ebenso aus, wie es wahrhaft neue Ideen nicht zuletzt darin kreativ hervorbringt. - Renaissancechancen werden immer dann wachsen, wenn, im Gefolge größerer politischer Umwälzungen, staatszentrale fremde Ordnungsinhalte einfließen. Chance der Staatsrenaissance ist für Deutschland eines Tages vielleicht die Übernahme des präsidentiellen Regimes amerikanischer oder französischer Prägung. Im Verhältnis zwischen höher entwickelten Staatlichkeiten treffen solche

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Übernahmen ja stets auf ein so dichtes Netz von Staats-, ja insbesondere Verwaltungstraditionen, dass sie darin sogleich aufgefangen, in wahrer Wiedergeburt eingebettet werden können. Ein präsidentielles Regime in Deutschland wäre nie Staatskopie, sondern angesichts der monarchischen und Weimarer Tradition sogar zugleich eine deutliche deutsche Renaissance. — Viele Wege „horizontaler Staatsrenaissance" mag es geben, darunter auch den europäischer Zusammenschlüsse, in denen die Wiedergeburt „guter Staatsformen" durch staaten-vertragliche Vereinbarung vollzogen wird. Dass ein solcher Weg grundsätzlich gegangen werden kann, hat das II. Deutsche Kaiserreich gezeigt, welches darin etwa den Schwung der romantischen Staatsrenaissance nicht nur weitertragen, sondern erst wirklich erfüllen konnte. Gerade dieses Beispiel aber zeigt eine Voraussetzung: dass sich solche Renaissancebewegungen bereits in den Einzelstaaten entfalten konnten, so wie es in Staatsromantik und Liberalismus in den deutschen Einzelstaaten vor 1870 geschehen ist. Aus parallelen staatlichen Wiedergeburten kann dann die größere, gemeinsame Staatsrenaissance wachsen, und die Zukunft wird zeigen, ob dafür die Zeichen günstig stehen in Europa.

VI. Die „freie Wiederkehr" unsystematische Staatsrenaissance Staatlichkeit ist immer in gewissem Sinne Systematik der Macht, die Wiedergeburt „guter Staatsformen", bedeutet die Wiederkehr von Elementen einer Imperialität, welche die Chancen einer Systematisierbarkeit, ja des Systems selbst, in sich tragen. Dass dies sich bereits aus dem wesentlich dogmatischen Charakter einer Staatsrenaissance ergibt, wurde schon deutlich. Hier aber stellt sich noch eine andere, weitergehende Frage zum Wesen der Wiedergeburt von Staatsideen: Kommen sie zurück „voll im System", in den größeren Formen ihrer eigenen, entwickelten Systematik, oder erhalten sie eine solche erst in den Aufnahme-Ordnungen, welche sich „zum System mit ihnen verbinden"? Damit erhebt sich auch die Frage nach dem Selbstand des Befruchteten: Was bleibt ihm an eigener, systematischer Grundsätzlichkeit, wenn derartige Renaissancen einbrechen?

1. Der Eklektizismus der großen Renaissance Die historische Lehre der großen Staatsrenaissance zu Beginn der Neuzeit ist insgesamt eindeutig, über all ihre Vielfalt hinweg; mag sie auch das Ergebnis historischer Kontingenz sein - sie bleibt ein Modell für alles, was den Namen der Wiedergeburt von Staatsideen verdient.

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Die Antike, verkörpert in den Machtformen des Römischen Reichs, ist nicht en bloc zurückgekehrt, eine Wiedergeburt aus gewaltigen Trümmern hat damals begonnen. Nicht erst heute weiß man, dass damals das „Römische Staatsrecht" als solches noch gar nicht bekannt war, wie es erst die Forschungen der letzten beiden Jahrhunderte als System haben deutlicher werden lassen, wenn es je ein solches gegeben hat. Die Renaissance selbst hat dies auch gar nicht primär gesucht, so gezielt war ihr historisches Anliegen nicht; sie hat in diesem geistigen Bereich, wie auch sonst, vor allem punktuelle Archäologie betrieben. Die soziologischen Bedingungen, so vielfältig sie auch in der Renaissancezeit sich darstellen, weisen doch insgesamt kaum irgendwo größerflächige Vergleichbarkeiten zu einem „klassischen römischen Staatsrecht" auf: Weder gab es - von oberitalienischen Städten einmal abgesehen - überall jene mächtige Senats-Aristokratie, auf welcher das republikanische Staatsdenken der Römer aufruhte, noch war damals eine Militär-Imperialität Wirklichkeit, aus der dann das Kaiserrecht geworden ist. In Stadtrepubliken hinein fand damals die Rezeption statt, aber auch in Flächenstaaten, und in all dem war nur eines am Werke: ein breit gefächelter Eklektizismus, der aus dem römischen Erbe aufnahm, was in die eigene Welt jeweils passte, auf systematische Übernahme meist von vorneherein Verzichten musste. Zeitlich ganz Heterogenes wurde ja auch übernommen, dem Eklektizismus der Übernahme überlagert sich ein Synkretismus des Übernommenen: Römische Republik, frühes westliches Militärkaisertum und spater östlicher Imperial-Byzantinismus - all dies zeigt die großen Schichten des wiedergeborenen Staatsdenkens, welche sich noch in viele andere, feinere untergliedern lassen. Was späterer Historie oft als primitiver Fehler erscheinen mochte, für die Renaissance war es gerade eine Kraftquelle ihrer Staats Wiedergeburt: dass sie ganz unbekümmert schöpfen konnte aus all dieser Formenvielfalt, deren Einzelheiten doch immer eines zeigten, was sie vor allem suchte: eine wahrhaft monumentale Größe des Denkens. „Das ganze Rom erfassen", das mag immer wieder versucht worden sein, die Verpflanzung einer ganzen Tradition oder einer historisch kontingenten Systematik - übernommen werden konnten stets nur Stücke, für das Ganze war die Welt zu klein geworden. Der griechische geistige Grund blieb damals noch weithin unbekannt, übernommen wurden die Formen und das Denken des römischen Militärstaates, die Ergebnisse griechischer Staatsphilosophie mediatisiert stets durch entsprechende Vereinfachungen. Sie aber bedeuteten durchaus nicht immer gelungene Systematisierung, auch den Römern war ja so vieles nur im Eklektizismus einer Staatsrenaissance des griechischen Denkens zugekommen. Ein „Staatsdenken im System" hätte die Renaissance nur aufnehmen können, wären ihr die systematischen Grundlagen der römischen Staatlichkeit aus der griechischen Staatsphilosophie heraus bekannt gewesen - und hätten die Römer selbst sie voll gekannt. So wie viele Dichtungen nur in Bruchstück-Sammlungen aufgefunden werden konnten, so kam der Geist des

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griechischen Staatsdenkens zunächst nur „in römischen Fragmenten" zurück, er leuchtete durch die römischen Institutionen. Doch als geistiges System war er nicht erkennbar, konnte daher so auch nicht übernommen werden. Rückblickend betrachtet war es ein geistiges Glück, denn sonst wäre die naive Kreativität der Neuzeit durch die größere Geistigkeit eines im System wiederkehrenden antiken Denkens vielleicht erdrückt worden. Nicht zuletzt aber war die Kirche doch noch lebendig, mit ihren Ordnungen, die weithin aus einer eklektisch aufgenommenen Antike gebaut waren. Hier hatte Renaissance des Staatsdenkens ja schon früh begonnen, nie war sie ganz abgerissen. Eine Tradition geradezu der geistigen Wiedergeburt in Eklektizismus ist im christlichen Raum seit den Kirchenvätern begründet worden, denn das „große System", in das hinein man übernahm, blieb ja stets ein „ganz anderes", auch der Antike vorgegebenes: die Schöpfungs- und Erlösungsordnung der Civitas Dei. Bis hin zur Gewaltsamkeit, zur erdichteten, hinzugefügten Antike wurde die wiedergeborene Vergangenheit diesem System untergeordnet - gerade darin konnte sie dann ihre renaissancehaften Kräfte entfalten, das aufnehmende System selbst verändern. Geistig waren es wohl weniger germanische Rechtsvorstellungen, an denen sich die antike Rezeption immer wieder brach, mochten sie auch da und dort harte, traditionelle Wälle errichten. „Als System" konnte das antike Staatsdenken, die römische Imperialität schon deshalb nicht übernommen werden, weil das geistige Gegensystem der Kirche das stärkere war. In seinem großen Deckengemälde aber blieben weite Räume frei, in welchen sich glückhafte antike Wiedergeburt in genießender geistiger Freude vollziehen durfte. „Das eine Reich" konnte die Renaissance nicht mehr schaffen, es war umstritten, zerrissen, im Osten physisch, im Westen geistig im Untergang, als die große Wiedergeburt einsetzte - deshalb vielleicht gerade ist sie ja möglich geworden. Was aber hätte es dann bedeuten können, die riesigen Dimensionen einer Weltreichlichkeit in die kleinen Städte und Territorien in voller Systematik tragen zu wollen, musste hier nicht jede Nation - im damaligen Sinne des Wortes - sich mit einem Stück, mit einem Saum des Mantels begnügen? Und darum, nicht um das ganze Kleid einer größeren Vergangenheit, ist damals gewürfelt worden - und noch immer unter dem Kreuz.

2. Wiedergeburt der Bruchstücke immer in bestehende Ordnungen hinein Dieses Modell der Wiedergeburt der Bruchstücke, nicht der Systeme, ist immer wegweisend geblieben, in allem, was sich auch später noch, und bis auf den heutigen Tag, an Staatsrenaissance beobachten lässt. Einer solchen belebenden Übernahme sind ja nur Ordnungen fähig, welche bereits eine gewisse Entwicklungshöhe erreicht haben, damit aber eigene Systematik bieten, sie dem Übernommenen entgegensetzen.

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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Als sich die imperiale Staatsrenaissance unter dem Absolutismus eines Ludwig XIV. fortsetzte, da traf sie bereits auf eine fest formierte Territorialherrschaft, welche eigene Formen der Verwaltung entwickelte. Das System war schon da, welches geistig belebt wurde, ihm wurden Lichter aufgesetzt, neue Grundgedanken, vor allem die unbedingte Einheit der imperialen Staatsgewalt. Die Staatsrenaissancen der neuesten Zeit sind nicht mehr geprägt von dem Versuch der Übernahme ideal gesetzter Globalordnungen; es hat eine Spiritualisierung eingesetzt, welche aus geistigen Systemen übernehmen will - aber eben durchaus nicht diese selbst. Ein großes Beispiel ist hier die mehrfach erneuerte GrundrechtsRenaissance, die durchaus als eine Wiedergeburt der Freiheit in ihrem größten Augenblick, zu Beginn der Französischen Revolution, bewusst war. Ein Grundrechtssystem ist aber nie übernommen worden, vielleicht lässt es sich als solches gar nicht schaffen, ist sein Versuch doch nur Ausdruck eines Missverständnisses von Inhalten, welche eine Staatsrenaissance schenkt, die eben nicht im System zurückkehrt. Die Grundrechte bieten nicht die Kodifikation, sondern den Katalog, darin bereits auf durchgehende Systematik verzichtend. Einzelne Rechte sind aus ihm heraus übernehmbar, tiefe und schwere, geradezu systemprägende Gedanken, wie etwa die Meinungs- oder die Berufsfreiheit. Doch sie kommen „grundsätzlich als einzelne zurück", müssen ihren Platz im System finden, werden dann aus sich selbst heraus systematisiert, so wie dies etwa in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Berufs- und Gewerbefreiheit versucht worden ist. Wenn die Freiheitsrechte heute eine größere Chance haben, so darin, dass aus ihnen in Eklektizismus übernommen werden kann. Die ideologiegeprägten neueren Ordnungen schließlich, Faschismus, Nationalsozialismus, kommunistische Staatlichkeit, sind in dem Sinne geistig eng verwandt, dass sie zwar ihre Kraft aus fernen Übernahmen, ja wahren Wiedergeburten ziehen wollten, aus römischen, germanischen, russisch-populistischen Vergangenheiten. Doch im Grunde haben nicht diese die Ideologie hervorgebracht, sie war vor solchen Renaissancen da, nimmt deren Inhalte auf, zu ihrer maior gloria, zur höheren Legitimation; sie selbst, die Ideologie, bietet eben „das System", für eine renaissancehafte Übernahme eines solchen ist kein Raum mehr. Eine große Entwicklung zieht sich also von der Renaissance der Antike über die der liberalen Inhalte bis zu den demokratisch-populistischen Regimen der neuesten Zeit, immer in einer Gemeinsamkeit: Aus der Ferne kommen vielfache Inhalte, ihre Ordnung bleibt Aufgabe der Gegenwart.

3. „Renaissance der Teile" der Machttechniken und Legitimationen Deutlich wird die Unsystematik der Staatsrenaissancen darin, dass in ihnen einerseits Machttechniken übernommen werden, zum anderen einzelne Legitimationen größerer Ordnungen, nicht aber das, was sie zusammenschließt: das System. 23 Leisner

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In typischer Weise hat sich dies in der faschistischen Staatsrenaissance der römischen Imperialität gezeigt. Die Wiederkehr des Reichssystems wurde gepredigt, doch die Grundsystematik der vom französischen Rechtsdenken geprägten Gesetzlichkeit und Verwaltung lag im Wesentlichen unverrückbar fest. Dennoch hat hier etwas wie eine römische geistige Belebung stattgefunden, schon aus der Übernahme der bedeutungsträchtigen imperialen Worte, der Fasci und Legionen. Jenseits von aller Staatsorganisation, wiederum aber ganz unsystematisch, war es ein Legitimations- und Anspruchsdenken, das sich auf römische Vorbilder berufen wollte, auf die territoriale Imperialität des Mare Nostro oder der „natürlichen Grenzen". Dies war im Kern die Staatsrenaissance des Faschismus, nicht der Versuch das öffentliche Recht des geheiligten Risorgimento durch eine römische Systemrenaissance zu ersetzen. Eine ähnliche Vielfältigkeit der Aspekte zeigt sich auch in der Grundrechts-Renaissance: Da wird auf der einen Seite vor allem etwas „technisch" Erscheinendes übernommen, nicht kleine Rechtstechniken, sondern größere Staats-, Machttechniken - in der Formulierung der Freiheitsrechte, welche sich an französische oder amerikanische Vorbilder anschließt, oder in einem Rechtsschutz, der rechtstechnische Perfektion im Namen staatsgrundsätzlicher allseitiger Freiheitssicherung verspricht. Auf der anderen Seite aber und im Grunde unverbunden mit solchen Teil-Übernahmen, steht dahinter ein anderes, auch wiederum nur „ein Teil eines Gesamtsystems": die immer erneute Wiedergeburt der Grundvorstellung von einem „Reich der Freiheit", das nicht systematisch überall sein, aber geistigen Legitimationsprimat unbedingt besitzen soll. Wieder ist es also eine eigentümliche Verbindung von Machttechnik und Legitimationsbemühen, in dem die „guten Staatsformen" auf das Gegenwärtige einwirken, nicht ein Systemeinbruch.

4. Die Unmöglichkeit eines „Reichs-Systems" Doch die Gründe der wesentlichen Unsystematik staatsideeller Wiedergeburt liegen noch tiefer, in dem selbst, was hier als Reichs-Idee bezeichnet, wenn auch nicht voll erfasst werden kann: Deshalb können „gute Staatsformen" nicht „im System wiederkehren", weil Imperialität als solche, aus der sie ja kommen sollen, nicht voll „als System fassbar" ist. Zunächst scheint es paradox: Staatsrenaissance wurde hier doch begriffen als einer der großen Wege zum Reich, von einer Imperialität zur anderen. Muss dann aber nicht, wenn das Wort der Wiedergeburt in diesem hohen Sinne gebraucht werden soll, „das" Reich wiederkommen, das eine, immer dasselbe, das hoch entwickelte, das volle System? Doch allzu hoch ragen die Mauern der Zeit, der Geschichte: „Das Reich von einst" ist ja, gerade im Sinne einer wahren Staatsrenaissance, nicht Theorie, son-

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dem eine geistig weiterwirkende Wirklichkeit, eine Einheit über der Vielfalt, Zusammenfassung meist heterogener Stücke. Kein historischer Zufall ist es, dass es nie die „ganz großen Systematiker", die „ganz umfassende Theorie" eines echten Reichs-Rechts gegeben hat, weder in Rom noch in England oder Frankreich, sondern immer nur etwas wie machtbewusste Institutionen-Schreiber. Systematisiert worden ist dieses Recht fast immer erst später, im Gefolge bereits abgelaufener Wiedergeburten. Und dass auch das große Rom nicht mehr als einzelne Institutionen seines Staatsrechts hinterlassen hat, ist kein historischer Unfall. Eine letzte Einheit des Imperialen trägt sicher die Staatsrenaissance fort, doch sie liegt in der Idee, nicht im System, darin, dass etwas wie eine „ganz große Ordnung geschaffen, wieder gebaut werden soll, unsterblich und allumfassend." Wer nun aber alle ihre zentralen Erscheinungsformen auffinden und wieder kombinieren wollte, ein römisches Riesenreich in der vollen Dezentralisierung seiner Provinzen, durchgehende Gewaltenteilung in klassischer französischer oder englischer Form, der könnte nichts als nachempfinden und nachbauen, im Letzten eben doch nur - kopieren. Ein doppelköpfiges Konsulat kann übernommen werden, ein monarchischer Reichspräsident, nie ein ganzes monarchisches System, das mit seinem Sturz in Trümmer gefallen ist. Gerade wenn über Staatsrenaissancen etwas von einer Imperialität zurückkehrt, nicht nur eine etwas bessere rechtliche Gestaltung, dann darf man kein volles System in Wiedergeburt erwarten, sondern immer nur größere Bruchstücke. Eigene Aufgabe bleibt es, sie zusammenzufügen, zu etwas wie einem kleineren vielleicht, aber doch zu einem Reich.

5. Die Systematisierung - stets eine Gegenwartsaufgabe a) System - Beitrag der Gegenwart zur Staatsrenaissance Inhalte können in Staatsrenaissance wiederkehren und Denkmethoden, der systematische Zusammenbau, der sich an der Wirklichkeit erstmals muss messen lassen, ist Aufgabe der Gegenwart. Wäre dem nicht so, es würde nur eine Tradition fortgesetzt, in welcher stets das Gestern besser ist als das Heute. Die Behauptung, das Gegenteil treffe vom jeweils neuen System her gesehen zu, ist die tiefere Legitimation der Staatsrenaissance. Lückenloses übernehmen wollen wäre nichts als ein gestalterisches Armutszeugnis. Die Kraft der Staatsrenaissance wird sich, immer noch deutlicher, gerade darin zeigen, dass sie stets Chance und Aufruf ist, nie bereits ein Gelingen. Die Überlegenheit der Inhalte, welche aus der Ferne übernommen werden, wäre gar nicht beweisbar, wollte man sie einfach in alter Systematik fortsetzen, nicht in neuer Bewährung erleben. Eine volle Systemübernahme hat es schon deshalb nie geben können, weil dies sogar von unhistorischen Perioden als eine unmögliche einfache Wiederkehr der 23*

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Geschichte abgelehnt wurde. In gewissem Sinn überspringt Staatsrenaissance die Historie, sie vergewaltigt in ihrer immanenten Dogmatik nicht selten deren Gesetze, ihr Grundprinzip aber, das Wort vom point of no return, vermag auch sie nicht völlig aufzuheben. Staatsrenaissance ist letztlich ein ideeller Vorgang, eine immer neue Annäherung, aus der Zeit heraus, an etwas wie platonische Ideen, welche doch stets unnahbar in höheren Sphären bleiben, aus denen sie Licht spenden. Wer da volle Systeme übernehmen wollte, der würde das Diesseits überfordern, die Idee mit dessen Zufälligkeiten gleichsetzen wollen, und seien es auch die größten. Die harte Kritik, welche früher in der Ablehnung von Anglo- oder Gallo-Manien lag - heute müsste man ihr die der ebenso sinnlosen Americano-Manie hinzufügen - trafen den richtigen Kern: Nicht alles, vor allem aber nicht das System kann wiedergeboren werden, darin würde es, zu weit vergegenständlicht, als „höhere Idee" untergehen. Die Systematik ist also das, was die aufnehmende Ordnung hinzufügt, und hier lassen sich die philosophischen Kategorien der aristotelischen Scholastik übernehmen, von Materie und Form, von potentia und actus: Der actus, das - Aktuelle, in dem die Wiedergeburt zum System wird, erwächst aus der Dynamik der neuen Zeit, die Staatsrenaissance bringt das Potentielle hinzu, wieder in des Wortes tieferer Bedeutung: als etwas, das kommen kann, nicht muss, das wahrhaft gekommen ist erst dann, wenn es mit neuer systematischer Kraft von der heutigen Ordnung zum Leben wiedererweckt wird. Es ist wie ein Bild, das seit der Renaissance stets begleitet: Zurück kommen aus der fernen Vergangenheit Statuen. Sie wachzuküssen, ist das Glück mächtiger Gegenwart.

b)... und Gefahr in „ reiner Systematisierung " Hier steht die Gefahr des Systems: Systematisieren als ungeistiges Restaurieren mit Bruchstücken; gerade in Deutschland ist dies zuzeiten zum Verhängnis geworden. Wenn die Übernahmen übermächtig werden, wenn allzu viel mit einem Mal einbricht in die mäßig geordnete eigene Welt, wie es am Ende des Mittelalters den Deutschen widerfuhr mit der Rückkehr der Antike, so bleibt überall nur mehr systematisches Bemühen, dieses selbst verflacht im Enzyklopädismus der Wörterbücher. Die aufnehmende Ordnung fügt dann nicht einmal mehr das System hinzu, dieses sogar will sie noch übernehmen, dadurch aber wird ihre „technische" wie auch die tiefere, die geistige Kreationskraft schwer getroffen; sie kann „von unten" nichts mehr aufbauen, dem Übernommenen kaum etwas mehr einbauend hinzufügen. Diese geistige Gefährdung ist gerade an Deutschland nicht spurlos vorübergegangen, wo die Macht der vielfachen Renaissancen so stark gewirkt hat, dass eigenständige geistige Entwicklungen eines deutschen Rechts wie einer deutschen Staats-Imperialität über Jahrhunderte hinweg kaum mehr möglich waren. Und

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nicht anders wird es denjenigen ergehen, welche ohne Maß angelsächsische StaatsBeispiele übernehmen und sie nur mehr oberflächlich, bald nur mehr formal in deutsche Rechtsformen gießen wollen. Wird Staatsrenaissance nicht zugleich als Aufruf zu eigenem materiellen, gedanklichen Schaffen verstanden, so zerbricht selbst die Kraft des Systematischen bald, es fällt in postglossatorischem Kompilieren auseinander, weil eben die Macht der hereindrängenden Ideen größer wird als die geistige Aufnahmefähigkeit, und so ist das römische Recht nur zu oft stärker gewesen als seine Übernehmer. Für eine Ordnung, in welche hinein wahre Staatsrenaissance stattfinden soll, bedeutet dies: Sie muss schon vorher in sich die Berufung zu etwas von Imperialität fühlen, aus ihr heraus die Hände nach den früheren Imperien ausstrecken, kein Regen von Trümmern darf über sie hereinbrechen, die sie in einem Steinbruch emsig kittet. Der Vorgang des Ausgrabens selbst, aus Vergangenheit oder weiter entfernter Gegenwart, sollte in bewusster Renaissancestimmung ablaufen; in der großen Renaissance hätte man vielleicht sagen können: Jede gefundene Statue muss erst ihr Licht finden, bis die nächste heraufkommen kann. Jede Wiedergeburt muss als solche etwas wie einen „system-anregenden Schock bewirken", dann erst ist sie neu geworden in dem, was ihr die Gegenwart in Wiedergeburt hinzufügt. Das Gleichnis von den japanischen Scharlatanen, welches Rousseau zur Erklärung und Kritik der Gewaltenteilung erzählt, gewinnt auch hier tiefere Bedeutung: Wie der Körper des Kindes, der zerstückelt in die Luft geworfen wird und als Einheit lebendiger Staatsgewalt wieder aufgefangen werden soll - und das ist und bleibt gewaltenteilendes, demokratisches Dogma - so auch das Reich in seiner Wiederkehr: Es wird getötet, seine Glieder werden in die Winde geworfen; in Renaissance kommen sie von oben wieder, doch sie müssen aufgefangen werden in starken Armen, welche mit Zauberkraft die fehlenden Glieder hinzufügen, den ganzen Körper wiederbelebend. Renaissance hat stets etwas Zauberhaftes, wird als solches empfunden. Muss aber nicht der eigentliche Zauber einer Wiedergeburt der Gegenwart eigen sein, in der sie stattfindet?

6. „Wiederkehr der Systeme" - rückprojizierte Gegenwart a) Staatsrenaissance als Restauration Vor allem in der Frage, wie das Wiedergekehrte systematisiert wird, zeigt sich, ob ein Gleichgewicht zwischen den „fernen" und den „gegenwärtigen" Ordnungskräften hergestellt werden, ob damit von einer wahren Staatsrenaissance gesprochen werden kann. Wie es aber stets die Gefahr zu meiden gilt, dass die einbrechenden Staatsideen, übermächtig, ihr „eigenes System mitbringen", so ist leicht auch das Umgekehrte vorstellbar: Die gegenwärtigen Gestaltungskräfte sind so stark, dass sie das Übernommene nicht nur durchdringen und systematisieren, sondern von Anfang an oder doch bald auflösen. Auch dann findet wahre Staatsrenais-

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Buch 2: Staatsrenaissance

sance nicht statt, ihre Worte werden zum Vorwand einer Selbstlegitimation des Gegenwärtigen. Die Problematik zeigt sich vor allem bei einer immer wieder historisch zu beobachtenden Erscheinung: dem Rückprojizieren eigener systematischer Vorstellungen in eine Vergangenheit, welche wiedergeboren werden soll. An sich sind dies Grundphänomene jeder Renaissance, sie sollen nur die Aufnahme des weit Herkommenden erleichtern. In ihnen zeigt sich stets etwas von der naiven Gestaltungskraft einer selbstbewussten Zeit, welche der Aufnahme und Verwandlung fähig ist. Wenn in der großen künstlerischen Renaissance die antiken Gestalten Gewänder der Gegenwart tragen, sich in Palästen späterer Jahrhunderte bewegen, „systematisch" in die Räume der Gegenwart gestellt, so findet hier, unkritisch und gerade deshalb kraftvoll, jenes Rückprojizieren eigener Welt in eine wiederkommende Vergangenheit statt. Und nichts anderes war kirchliche Renaissance von Anfang an: Das alte Heilsgeschehen lief in den Räumen der Gegenwart ab. In den Staatsrenaissancen hat sich dies in vielleicht schwerer fassbaren Formen, aber eher noch gesteigert wiederholt. „Die Alten", deren Ideen man wiederkommen sieht - man formt sie sich eben nach Bild und Gleichnis der Gegenwart, und von den germanischen Vorfahren wusste man zuzeiten viel zu wenig, als dass sie etwas anderes hätten sein können als das blonde Glück gegenwärtiger Idealvorstellungen. Wenn der Historismus etwas wie ein „mittelalterliches Staatssystem" zu entdecken unternahm, so hatte er dieses bereits aus eigenen Bedürfnissen heraus in seiner Gegenwart gestaltet und sodann zurückprojiziert. Dies ist schließlich auch das Schicksal der Staatsrenaissancen in die Dritte Welt hinein: Die alten Kulturen und die politischen Formen sollen so wiederkehren, wie sie sich die Gegenwart gedacht - wie sie sich diese „restauriert" hat. Um mit Schiller zu sprechen: Die Universalgeschichte wird aus der jeweiligen Gegenwart heraus beleuchtet, mit Sinn erfüllt. Denn dies läuft im Grunde hier ab: in erster Linie eine Restauration, nicht eine Renaissance. Die Trümmer einer früheren Statuenwelt können nicht aus sich selbst heraus zur Einheit eines Systems zusammengefügt werden, ihre Körper werden in Köpfen und Armen fortgedacht, getragen vom Schönheitsideal der Gegenwart von deren systematischer Grundidee. Je kraftvoller diese Gegenwart noch ist, je dringender vor allem sie der Renaissance bedarf und diese erwartet, desto naiver tritt sie der Restauration näher, in der sie keineswegs nur ein Fortspinnen früherer Traditionen sehen will; und in diesem Sinne war die Periode nach 1815, welche nunmehr klassisch den Namen der staatsrechtlichen Restauration trägt, im Grunde keine solche. Das alte und immer neue Problem der künstlerischen Restaurationen bleibt aber unausweichlich bei jeder Staatsrenaissance gestellt: Soll sie sogleich ihr System rückprojizieren, die Staatsrenaissance so wirken lassen, als komme mit ihr auch eine ganze Figur zurück, ein ganzes früheres System - das aber letztlich nur das

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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der Gegenwart ist - oder bedeutet renaissancehaftes Denken die Verehrung des Torso, der, in vorsichtiger Isolation belassen, in Museen gestellt wird? Keines von beiden ist die alleinige Lösung, staatsrechtlicher Museen bedarf eine der Staatsrenaissance geöffnete Gegenwart ebenso wenig wie eine RenaissanceIllusion weiterführt, in welcher im Grunde nur eigene Gedanken zurückkehren, als fremde verehrt werden. Denn dies ist eben, um die Ausgangsfrage dieses Kapitels wieder aufzunehmen, die Gefahr des staatsrechtlichen Rückprojizierens: Es kommt nicht mehr Belebendes aus einer weiten Vergangenheit, sondern nur mehr eigene Gedanken, die als „klassische" getarnt, als solche aber noch längst nicht Klassik geworden sind. Nationalsozialismus und Faschismus sind weithin diesen Gefahren erlegen.

b) Wiedergeburt

von „ Gegenwart als Vergangenheit "

Staatsrenaissance bringt, wenn ihr sonst nichts gelingt, eines fast immer: größere, weiträumige Legitimation, die aus den geschichtlichen Dimensionen heraus der Kritik entzogen erscheint. Es hat deshalb auch stets etwas gegeben wie Erscheinungen gewaltsamer Staatsrenaissance, einer Wiedergeburt, welche kaum mehr etwas von der geistigen Selbstverständlichkeit hatte, welche in diesem Worte liegt. Immer wieder hat sich ja gezeigt, dass Renaissancen des Politischen getragen sein müssen von größeren Wiederkehr-Bewegungen, mögen sie diese dann auch verfestigen. Was aber wiederkehrt, nur weil seine Renaissance dekretiert ist - Staatsrenaissance als dezisionistische Grundentscheidung - das bringt nichts mehr als eine Wiedergeburt von „Gegenwart als Vergangenheit": Eigenes systematisches Bemühen wird in Mäntel - oder Felle - der Vergangenheit gekleidet, es setzt die „verkleidete Selbstrenaissance" des gegenwärtig politisch Gewünschten ein. Staatsrenaissancen sind oft, und kaum je zu Unrecht, von historischer Kritik als Formen „politischer Verkleidungen" belächelt worden. In der Germanomanie des Nationalsozialismus aber ist nicht viel mehr zum Ausdruck gekommen als ein Machtstreben unter dem Vorwand - vielleicht noch in der Illusion - einer Verbindung zu ferner Vergangenheit, die letztlich nichts als kurz dauernde Gegenwart war. Diesseits solcher Extreme sind derartige „Verfremdungen der Staatsrenaissance" allerdings auch ein immanentes Problem steigender staatsrechtlicher Entwicklung: Die gegenwärtigen Ordnungen werden immer dichter; wenn sie sich der Renaissance öffnen, wird den aufzunehmenden Gedanken stets noch weniger Entwicklungsraum geboten. Es gibt hier etwas wie ein Gesetz der zunehmenden Kraft der Eigensystematik, welche die Staatsrenaissance relativiert. Mehr noch: Da Staatsrenaissancen, vor allem in neuester Zeit, immer mehr in Wellenbewegungen kommen und wiederkehren, da es in diesem Sinne geradezu etwas wie „Renaissancen der Staatsrenaissance" gibt, kehren die „ursprünglichen", vor allem die antik-klassischen Inhalte in immer weiterer Brechung, immer mehr

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Buch 2: Staatsrenaissance

„in Durchgängen durch frühere Systematik bereits mediatisiert" wieder zurück: Der Staatsklassizismus des 19. Jahrhunderts hat nicht mehr nur wahres oder vermeintliches römisches Erbe aufgenommen, sondern zugleich auch die Ideenschichten der Renaissance, des Absolutismus, des Napoleonischen Caesarismus, welche sich jenem in früheren Renaissancen bereits überlagert hatten. Damit aber ist auch viel von „Gegenwartsnähe" im Gewände der fernen Vergangenheit zurückgekehrt, immer noch „größere Systemstücke" - im Grunde nicht der weit entfernten, sondern schon weithin der eigenen Welt; das zweite Kaiserreich in Frankreich hat es lebendig gezeigt. In all dem schwächen sich die Kräfte der Staatsrenaissance ab, sie wird zur Maske des gegenwärtigen Machtstrebens, bald nähert sie sich sogar gefährlich ihrem Gegenpol, der fortgesponnenen Tradition. Und doch entsteht auch hier oft noch etwas wie eine Krypto-Renaissance, in dem, was bald nur mehr ein Geflecht späterer Systematik zu sein scheint, werden eben doch noch klassische Stücke weitergetragen. Dann ist Staatsrenaissance darin noch stärker als gegenwärtige Machtsystematik, welche jene zu ihren Zielen verfremden möchte.

VII. Wiedergeburt isolierbarer Formen 1. Die Renaissancefähigkeit vom System gelöster Staatsformen Die Gegenwart bringt das, was in staatlicher Wiedergeburt übernommen wird, erst ins System; daher muss es etwas geben wie eine Theorie der Isolierbarkeit „guter", der Renaissance fähiger Staatsformen. Da sie „ihr System nicht mitbringen", es vielmehr in der aufnehmenden Ordnung erst finden, müssen sie aus dem eigenen herauszulösen sein, der Bruchstückhaftigkeit fähig. Die archäologische Renaissancetrauer, dass sich „ganze Statuen" nicht finden, bedeutet im Grunde gerade Renaissancemöglichkeit, im Politischen zumal. Künstlerische Ästhetik hat daraus eine Philosophie entwickelt - das Fortzudenkende sei besser als das perfekt Wiedergekehrte. Wahr ist dies sicher, solange noch eine gegenwärtige Gestaltungskraft wirkt, die in Renaissance beflügelt werden kann, wahr bleibt es stets im Bereich der Staatsrenaissance, die nur darin ihre Rechtfertigung hat. Die Renaissancekraft der Antike lag gerade in der aus heutiger Sicht vergleichsweise schwachen Entwicklung des Systemdenkens, vor allem im römischen Staatsrecht. Sie wurde bereits bei anderen Gestaltungen größerer Imperialität deutlich, etwa in den politischen Formen des Englischen Reiches. Darin gerade kann es etwas geben wie eine Wiedergeburt der zentralen Einzelheit. Einer solchen Isolierbarkeitstheorie muss überall dort gefolgt werden, wo eine Institution sich der anderen nähern soll, in diesem Sinne gibt es sie auch in der Rechtsvergleichung, welche nur das in Beziehung zueinander setzen darf, was aus ursprünglichem System heraus in neue Zusammenhänge hinein entbunden werden

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kann. Doch die Isolierbarkeitstheorie der Staatsrenaissance trägt noch einen besonderen Akzent: Sie will nicht einfach übernehmen, ausbauen oder hinzufügen, aus ihr heraus sollen inhaltliche Prägungen in der aufnehmenden Ordnung stattfinden, Anstöße. Das Ziel der Isolierbarkeit ist hier also nicht die Schaffung von „Zwischensystemen" zwischen bestehenden Ordnungen, was etwa Rechtsvergleichung, unausgesprochen, immer wieder anstrebt, sollen dort doch Institute entstehen, welche „dahin und dorthin passen", überall „eigene Systematik" sogleich entwickeln können. Im Falle der Staatsrenaissance dagegen ist die Isolierbarkeit Voraussetzung für eine sogleich dann eintretende enge Einbindung in ein neues, in Ansätzen wenigstens bereits bestehendes System, deshalb sind an die zeitüberschreitende Isolierbarkeit hier besonders weitgehende Anforderungen zu stellen.

2. Beispiele isolierbarer Staatsformelemente Die Geschichte zeigt Beispiele solcher Formen, die sich weitestgehend aus ihren Systemen isolieren lassen, daher immer wieder bevorzugter Gegenstand von Staatsrenaissancen geworden sind. Und hier erweist sich auch, dass aus der Sicht dieser Untersuchung die Unterscheidung zwischen „Staatsform" und „Staatselement" relativiert werden muss: In gewissem Sinne ist alles, was derart der Isolierung fähig ist, aus systematischer Sicht eben lediglich ein Element, mag es dann auch, wiedergeboren, eine Staatsform im systematischen Sinn entscheidend prägen, ja geradezu konstituieren. Im Folgenden sollen nur einige Beispiele genannt werden, zugleich Kriterien für die Erkenntnis dessen, was als „gute Staatsform" immer wiederkehrt. - Staatsetiketten in erster Linie sind hier zu nennen, nicht in ihren Einzelheiten, sondern in ihrer jeweiligen Grundidee: all das, was größere Staatlichkeit „bezeichnet", sie damit „greifbar macht", etwas von einer „dauernden Monumentalität sichtbar" werden lässt. Dies ist die geheimnisvolle Kraft von Hoheitszeichen und Wappen, aber auch die der Staatsfeier, in welcher das Politische an sich triumphiert. „Buch und Siegel" - das ist nicht nur archivarisch ein Ausdruck der Renaissance, in solchen Formen des höheren Protokolls überdauert Staatlichkeit der Idee nach, kommt aus Kellern zurück. Die Renaissance der römischen Namen und Adler schien zunächst nur Trümmer zu bringen, aber sie wurden mächtig. - Staatsbauten als Ausdruck der Staatlichkeit, als sichtbar werdende Imperialität, sind als solche kaum je Bestandteile eines Staatssystems oder gar einer Normenordnung. Und doch liegt darin, in der Idee des öffentlichen Prestigebaus, in besonderem Maße etwas von der Sichtbarkeit, von dem Überdauern einer über Einzelschwankungen hinweg nicht nur geltenden, sondern gültigen Ordnung. Alle größeren Formen der Staatsarchitektur, von den Trophäen und Triumphbögen bis zu den Empfangshallen und Paradeplätzen der Staatlichkeit, bringen also mit sich, in größeren Formen der Staatsrenaissance, die ganze Symbolik der

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Macht; und Symbolen ist es ja eigen, dass sie, aus ihrem System heraustretend, überleben, ja stärker werden. Etiketten, Staatsüberschriften, und auch die Bauwerke, auf denen sie sichtbar stehen - all dem ist eines besonders eigen: eine verbale oder künstlerische Mächtigkeit der „Bezeichnung", die so vieles mit sich trägt, vielleicht mitreißt, was sie unmittelbar gar nicht auszusprechen scheint. Diese Staatssymbolik in erster Linie ist vom jeweiligen System wahrhaft isolierbar. - Der Begriff der Zuständigkeit ist in besonderem Maße renaissancefähig, wird hier doch „etwas von Macht etikettiert", der Abgegrenztes, wenn auch nicht in allen Einzelheiten Bestimmtes zur Erledigung zugewiesen wird. Da sind die Militärkompetenzen und die auswärtige Gewalt, die zuständigkeitsmäßigen Abgrenzungen innerhalb einer Gewaltenteilung, wie immer sie verstanden werden mag, vor allem aber die gerichtlichen Zuständigkeiten in ihrer Trennung von anderer Staatlichkeit. Wie der Inhalt dieser Zuweisungen im Einzelnen bestimmt wird, ist meist erst eine Frage des systematischen Einbaus des Übernommenen. Wenn etwa die Vorstellungen des alten Tribunates wiederkehren in der Gestalt von Parlamentsbeauftragten für spezielle Gruppen, so ist wichtig diese Kompetenzfigur als solche, nicht die einzelnen Aufgaben, welche sie zu erledigen hat. Wesentlich ist überhaupt für einen dergestalt renaissancefähigen Kompetenzbegriff nicht die konkrete Aufgabe, sondern die Vorstellung einer rahmenmäßigen Abgrenzung, innerhalb deren sich der Zuständige zu halten hat. Im Übrigen gibt es gerade im Bereich der Kompetenzordnungen etwas wie eine „Topik der Zuständigkeiten": Diesem Begriff ist es keineswegs wesentlich, dass er flächendeckend einen Gesamtbereich erfasst, immer hat es vielmehr „Kompetenzzentren" gegeben, etwas, das dem jeweiligen Amtsträger in jedem Fall zustehen musste, deutlich etwa in der Endentscheidung der streitigen Gerichtsbarkeit, während sich anderes - Anklagen, Vollstreckungen und ähnliches - angliedern lässt, nicht wesensgemäß ist. Im Namen der Kompetenzen und in ihrer Form hat sich immer wieder Staatsrenaissance vollzogen, weil es diesen Gestaltungen eigen ist, dass sie sich aus ihrem jeweiligen System weithin herauslösen lassen, wie ja auch die Staatlichkeit in gewissem Sinn mehr als eine Addition denn als Integration von Zuständigkeiten dem Bürger gegenübertritt. - Verfahren - das ist nicht nur ein formaler, es ist auch ein aus dem jeweiligen System weitgehend isolierbarer, damit in Staatsrenaissance übertragbarer Begriff. Das hat von jeher vor allem für das gerichtliche Verfahren gegolten, über welches sogar Bruchstücke materiellen Rechts übernommen werden konnten, von der Pandektistik an hat dies die Wiederentdeckung des Aktionendenkens bewiesen. Die Übertragbarkeit kommt hier bereits aus der hohen Formalität: Was im Einzelnen in solchen Verfahren erledigt wird, ist sekundär, Selbstgewicht hat die Prozedur, in der „alles Mögliche ablaufen kann". Etwas von der Renaissance

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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der römischen Censor-Vorstellung liegt etwa in der Übertragung gerichtsähnlicher Verfahrensweisen auf die staatliche Rechnungsprüfung in den inzwischen klassisch gewordenen Formen des unabhängigen französischen Rechnungshofes. Heraufgekommen ist dies mit der Kraft der übergreifenden Idee des „Magistrats", an sich der Figur des Richters, die hier aber für ein unabhängiges, gerichtsförmiges Verfahren steht. Verfahrensabläufe, Rekurse und Hierarchien sind immer wieder übernommen und fortgedacht worden, weil hier Ideen wirken, nicht die tagtägliche Erledigung. - Die Einzelgrundrechte, bei denen die Renaissancefähigkeit als von jedem System gelöster Inhalte bereits erkennbar wurde, sind wohl das deutlichste Beispiel aus neuester Zeit für „isolierbare Staatselemente", welche einzeln wiedergeboren werden, und doch jeweils das aufnehmende System auf eine größere, übergreifende Freiheit hin prägen. Was die englischen Barone mit der Magna Charta ihrem Souverän an Einzelfreiheiten abtrotzten, war sicher etwas wie eine „germanische Staatsrenaissance", die zentralen punktuellen Freiheiten wurden befestigt, ohne jeden Anspruch der Systematik. Und als dies dann in den Habeas-Corpus-Rechten wiederkehrte, in einer neuen Staatsrenaissance, aus den Verschüttungen des englischen Frühabsolutismus heraus, da war es wieder nur ein Katalog, kein System. Wenn sich eine höhere Idee, die der allgemeinen Freiheit, nunmehr ausbreitete, so waren dies schon die ersten Systematisierungen der englischen spätabsolutistischen Gegenwart, eines Früh-Enzyklopädismus der Libertät.

3. Die Aufgabe: Staatsgestaltung „auf Renaissancefähigkeit hin" Die Gegenwart übernimmt, horizontal oder vertikal in der Zeit, die größeren Torsi der Staatselemente als „gute Staatsformen", bringt sie in ihr System und denkt sie fort. Dies ist ihr Schicksal, sie kann sie nicht in ihrer antiken Schönheit in Staatsmuseen bewundern, nur konservieren. Und damit stellt sich einer politischen Gestaltung, welcher die Kräfte von Staatsrenaissancen bewusst sind, hier eine wichtige, wahrhaft zukunftsweisende Aufgabe: In der Weise muss weiter geschaffen, weiter gedacht werden in den eigenen Staatskategorien, dass auch in ihnen etwas lebendig bleibt, das als solches „der Renaissance fähig ist". Denn wie in dieser die „guten Staatsformen" wiederkehren, aus ihrem fernen System isolierbar, so darf auch die Gegenwart nur dann annehmen, „Gutes", „Dauerndes" zu schaffen, wenn sie hervorbringt, was eines Tages eines ähnlichen Selbstandes fähig ist. Dies bedeutet eine Warnung vor renaissanceblinder Übersystematisierung der eigenen Ordnung, vor einem Streben nach einem gegenwärtigen „Ewigkeitssystem", das ja nur bedeuten könnte, dass eines Tages gar nichts bleibt, alles in ganz kleine Trümmer zerfällt. Nicht zuletzt aus solchen, meist unbewussten Sorgen heraus ist im vergangenen Jahrhundert und immer wieder vor Kodifikationen ge-

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warnt worden, in deren Übersteigerungen die großen einzelnen Elemente regelrecht kleingemahlen, in kleine Münze getauscht werden. Dies ist auch ein Grund, von der Illusion einer heutigen „Grundrechtssystematik" Abstand zu nehmen, einer Wirtschaftsverfassung, die nichts als Übersystematik bringen könnte, wo es doch genügt, einige hohe Säulen zu errichten, mit einem Kernschutz des Eigentums etwa oder im wettbewerblichen Anti-Konzentrationsdenken. Und so soll man schließlich nicht versuchen, eine volle Systematik des „Bereiches der Regierung" aufzubauen, hier wird immer etwas von jenem Nebeneinander von Kompetenzblöcken sein, die eben dann als solche auch in Staatsrenaissance weitergegeben werden können. Es mögen große Worte sein, aber die Staatsrenaissancen der fernen und näheren Vergangenheit haben der Gegenwart aufgegeben, nicht nur an Bauwerken zu arbeiten, sondern auch bewusst an einem Steinbruch, aus dem später Blöcke übernommen und behauen werden können. Ob es etwas wie ein „Staatsprogramm auf Staatsrenaissance-Inhalte hin" geben kann, mag zweifelhaft sein und entspricht sicher nicht einem demokratischen Gegenwartsdenken, welches die Verantwortung für weit entfernte Generationen noch immer kaum fühlt. Dass aber ein „Denken in Staatsrenaissancen" - zumindest methodisch - nicht nur vergangenheitsgewendet, sondern auch zukunftszugewandt sein muss, das ist ein Postulat aus der Idee der Wiedergeburt der Staatlichkeiten. Im Einzelnen bedeutet dies viel an Methode: den Vorrang des Induktiven vor aller systematischen Deduktion, einer politischen Gestaltung, die gerade in der heutigen Pragmatik ihre Chance hat, zuerst einmal etwas wie „neue Gestaltungen" herstellen will. Sodann die Bereitschaft, immer wieder auch etwas Systemsprengendes zu wagen, nicht nur Systeme fortzuentwickeln. Denn damit entstehen dann jene „isolierbaren Gestaltungen", welche auch einer fernen Zukunft oder entfernten Gemeinschaften weitergegeben werden können. So muss sich eben das heutige System schon biegen, nicht nur, damit es nicht in Trümmer geschlagen werde, sondern damit andere oder Spätere nicht, in Bewunderung, aber letztlich ohne Interesse, an seiner unübernehmbaren systematischen Geschlossenheit vorübergehen, in der es „in der Zeit bleibt und stirbt". Dies alles ist nicht nur eine Aufgabe für die Mächtigen, in Gesetzgebung und Staatspraxis. Aufgerufen ist hier die Wissenschaft vom Staatsrecht. Gerade wenn die heute Herrschenden ihre Gedanken nicht aufnehmen - Spätere können hier „wertvolle Handschriften entdecken". Stets muss nach etwas gefragt werden wie dem Selbstwert heute gedachter oder praktizierter politischer Gestaltungen, nicht nur nach ihrer Wertigkeit im System. Was leisten sie als solche, was vermögen sie nur mit Blick auf andere Institutionen, auf höhere, allgemeinere Ideen? „Gut" sind sie dann, wenn in ihnen, ganz isoliert schon, auch diese höheren Gedanken und höchste Werte eingeschlossen sind, mit diesen Einzel-„Institutionen" bereits übertragbar. So kann etwa die ganz große Freiheit als solche niemals in Renaissance wiedergeboren werden - was von ihr bereits in der wahrhaft,»klassischen Freiheit vor dem Richter" liegt, ist noch immer der Wiedergeburt fähig gewesen.

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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Von dort weitet sich der methodische Blick zu einer Institutionenbetrachtung, welche die einzelne Einrichtung als selbständiges Zentrum der Macht - oder der Freiheit - erkennt. Und vor allem in diesem Sinne ist Institutionendenken stets ein Denken in Staatsrenaissancen gewesen. Dies bedeutet aber nicht, dass der Blick von den jeweiligen Zentren der Macht abzulenken wäre, dass sich die vom System zu isolierende Einzelgestaltung in „macht-peripheren Lösungen" erschöpfen dürfte. Im Gegenteil: Etwas vom Kaiser muss auch in der Institution des Bürgermeisters durchscheinen. Alle Einzelgestaltung, und mag sie noch so sehr scheinbar „aus dem System fallen", muss mit den Punkten, an denen die großen Machtentscheidungen fallen, durch etwas verbunden sein wie eine große analogia entis. Da ist noch nicht System, aber sicheres, überall wirkendes Machtbewusstsein, Machtgegenwart. Denken in Staatsrenaissance, das führt also zur Frage: Was davon könnte morgen als „ausgegraben gelten", was kann daher heute schon so behandelt werden, als sei es wiedergeboren worden? Wäre Staatsrenaissance ganz erkannt, so brauchte man sie nicht mehr, man könnte sie selbst schaffen, heute und jetzt. Dies ist vielleicht ihre größte Kraft: dass sie auch, fern von allen Inhalten, ganz und nur Methode sein kann. Gäbe es dann eine höhere Historia Magistra?

VIII. Wiedergeburtslehre gegen „Überbauthese" 1. Überbautheorie: Recht aus Fakten der Gegenwart a) Überbau als antihistorische Kategorie Das Wesen der Überbaulehre, in welcher Form im Einzelnen immer sie vertreten werden mag, liegt darin: Eine bestimmte soziologisch-ökonomische Situation bedingt die Staatlichkeit und ihre konkrete Herrschaftsform. Derartige Zustände aber sind wesentlich einmalig, unwiederholbar, können daher auch nie als solche oder auch nur in Bruchstücken zurückkommen, die Gegenwart in Formen ferner Vergangenheit prägen, was aber das Wesen der Staatsrenaissance ausmacht. Soziologie und Nationalökonomie sind daher als solche zwar Wissenschaften mit historischem Hintergrund, nicht aber das, was man „Renaissancewissenschaften der Herrschaft" nennen könnte, weit weniger jedenfalls als das Recht und seine allgemeine Staatslehre. Dort nämlich werden zwar gegenwärtige Zustände aus früheren heraus erklärt, eine Historia Magistra mag es geben, jene eigentümlichen Formen der Staatsrenaissance aber, in denen die Geschichte geradezu zum Gesetzgeber der Gegenwart werden kann, lässt sich in diesen Bereichen nur schwer entwickeln, welche aber geistig die Überbaulehre tragen. Daraus erklärt sich auch der Primat des Ökonomischen und, später, des Soziologischen in der marxistischen Staatstheorie gegenüber der juristischen Betrach-

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Buch 2: Staatsrenaissance

tungsweise. Die „Richtigkeit der Staatsideologie" lässt sich zwar auch aus der Vergangenheit heraus begründen, aber weit mehr aus deren Verirrungen als in einer Wiederkehr ihrer Lösungen. Und früher wie heute ist die Herrschaftsform als Abglanz ökonomischer Machtverhältnisse in ihrem Wesen so unwiederholbar, wie es die früheren, im Wesentlichen ja zu verwerfenden ökonomischen Lagen sind. Trotz allem ideologischen Rigorismus der marxistischen Lehren - darin sind sie höchst flexibel, dass es für sie nicht etwas geben kann wie einen Numerus clausus wirtschaftlicher Zustände, welche allein wirken könnten über einen staatlich-rechtlichen Überbau; die wirtschaftliche Entwicklung kann in ihrer großen Breite und ständigen Neuartigkeit auch immer von neuem den Staat prägen, ohne durch irgendwelche Vergangenheiten als solche belastet oder auch nur orientiert zu werden. Ihrem Wesen nach ist diese Überbaulehre eine Absage an die Kategorien von „Gut" und „Schlecht" im Staatsrecht, mit denen aber die Lehre von der Staatsrenaissance und die klassische Staatstheorie überhaupt stehen und fallen. Wohl mag es mehr oder weniger wirtschaftliche Prosperität in dieser Vergangenheit geben, und nahe liegt es, daraus dann auch Lehren für eine Gegenwart abzuleiten, in der auf solche Weise nicht nur das ökonomische, sondern auch das staatliche System auf diese glücklicheren Zeiten der Vergangenheit ausgerichtet wird; ein Beispiel bieten die immer wiederholten Versuche, in Deutschland „neuen Aufschwung" aus den ökonomischen Rezepten der Nachkriegszeit heraus zu gewinnen. Hier und in anderen Versuchen marktwirtschaftlicher Ökonomisierung der Staatlichkeit nähert sich übrigens herkömmlich westliches Denken marxistischer Ökonomie und ihrem Überbaudenken. Derartige „Vergangenheits-Zustände" im Wirtschaftlich-Soziologischen lassen sich aber eben nicht so weitgehend aus ihrer geschichtlichen Einmaligkeit lösen und dogmatisch verselbständigen, dass sie auf die Gegenwart mit jener quasi-gesetzgeberischen Präzision wirken könnten, welche aber die Staatsrenaissance charakterisiert. Da kann nie sehr viel mehr sein als die Erinnerung an etwas wie allgemein-günstige Verhältnisse, allenfalls noch an eine „goldene Zeit", sie mag die Kulisse für Staatsrenaissance bilden, ihr legitimierende allgemeine Kraft gewähren, doch sie ist mit ihren Formen im Einzelnen nicht identisch. Denn wer in Wiedergeburts-Kategorien denkt, wie etwa die Französische Revolution oder die napoleonische Zeit, dem kann es gar nicht darum gehen, frühere Gesellschafts- oder Wirtschaftsverhältnisse restaurieren zu wollen, welche dort übrigens insgesamt ebenso abgelehnt wurden - oder gar nicht bekannt waren - wie die marxistische Theorie der Vergangenheit kritisch gegenübersteht. Doch jenseits all dieser weder gebilligten noch auch nur in Einzelheiten bekannten Antike waren es eben die großen Herrschaftsformen, welche faszinierten, nicht ökonomische Zustände, deren „Hinaufwirken" in das Staatsrecht man restaurieren wollte. So bleibt es dabei: Die Überbaulehre ist eine Antithese zum Denken in Kategorien der Staatsrenaissance.

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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b) Fortschrittsglaube, „kommunistischer Endzustand" Antithese zu aller Renaissance So flexibel die marxistische Staatstheorie in ihrer Lehre vom Recht als einem Überbau des Ökonomischen auch sein mag, eine große Richtung bleibt dort vorgezeichnet, hier findet sie als Ideologie ihre Orientierung und Härte: im ständigen, unaufhaltsamen Fortschritt, hin auf einen „kommunistischen Endzustand", in welchem der Staat „abstirbt", durch das Ende aller Herrschaft in „gesellschaftlichen Bezügen" - oder, gerade umgekehrt, darin, dass seine Totalität in der Absolutheit gesellschaftlicher Allgegenwart aufgeht. Dieses marxistische Denken in Fortschrittskategorien steht mit Notwendigkeit gegen jede Art von staatlichen Wiedergeburts-Lehren: Nichts kommt wieder, alles geht immer nur voran. Der Endzustand allein zählt, kein Anfangszustand, in welchem Staatsrenaissance so häufig glückhafte Anfänge wiederholen kann. Und es soll sich ja etwas am Staat und seiner Herrschaftsintensität ändern, sie soll abgebaut, jedenfalls wesentlich gewandelt werden, während es umgekehrt der Staatsrenaissance eigentümlich ist, dass ein, wenn auch in imperialer Flexibilität durchaus im Einzelnen verschiedenartiger, insgesamt meist aber doch in etwa gleichartiger Intensitätszustand staatlichen Herrschens stets erhalten bleibt. In diesem Sinne der Entwicklung des Überbau-Rechts, das auf den Wellen ökonomischer Zustände in eine Endphase getragen wird, unterschied sich auch das vielberufene „III. Rom" eines kommunistischen Weltimperiums grundlegend von seinen beiden geistigen Vorgängern: Es wollte nicht statisch ruhen oder in Kreisläufen wiederkehren in seiner Staatlichkeit, es war auf eine immer größere Zukunft hin in Bewegung. Darin fehlte ihm auch etwas von der letzten Selbstsicherheit einer „erreichten Imperialität", aus der heraus das antike und das kirchliche Rom stets gelebt haben. Immer ist diese dritte Weltreichsform auf dem Wege, sie kann eben auch stets wieder zurückgeworfen werden, weil sie nach vorne drängt, Kategorien, welche früherer Imperialität nicht bekannt waren. Irgendwie wurde dies gerade von der in ihrer Fortschrittsgläubigkeit so blockhaften marxistischen Ideologie durchaus gefühlt, und ein derartiges LegitimationsDefizit sollte aufgefüllt werden in eigenartigen Formen einer Staatsvergangenheits-Romantik, in der Erinnerung an die alten guten Revolutionen, an den ewig staatstragenden Muschik, der in diesem Jahrhundert zum ersten Mal siegreich zurückkehren durfte. Darin lag etwas wie eine „Wiederkehr des siegreichen Leidens des Volkes" und sicher auch verschüttete Formen von Staatsrenaissance-Denken. Doch es waren eben mehr Kräfte als Formen, erst die imperiale Gegenwart des siegreichen Kommunismus goss in imperiales Erz. Wer der Staatsromantik der „Vaterländischen Kriege" und der ewigen russischen Revolution nachgeht, ist einem Staatsrenaissance-Denken auf der Spur, das sich in Geschichtlichkeit sogar zuzeiten von der reinen Ökonomie der Überbaulehre entfernte, doch alsbald gewann diese wieder eine deutliche fortschrittsgeprägte Oberhand in Ideologie.

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Buch 2: Staatsrenaissance

Dies alles würde über den unmittelbaren Einflussbereich kommunistischer Staatlichkeit nicht hinausreichen, könnte also heute aus der Sicht der Staatslehre vernachlässigt werden, wenn sich nicht gerade in jenen Wirkungen der „ÜberbauLehre" als Antithese zum Staatsrenaissance-Denken geistige Strömungen zeigten, welche auch außerhalb kommunistischer Denkformen dem Verständnis der „Wiederkehr der guten Staatsformen" entgegenstehen. c) Antiautoritarismus

wider Staatsrenaissance

Müßig ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie stark marxistisches Überbau-Denken auf die liberale Staatstheorie der westlichen Demokratien hinübergewirkt hat, oder ob es nicht seinerseits eine Übernahme und Radikalisierung von eben deren ökonomisierten Fortschrittsvorstellungen bedeutete. Offenbleiben mag, inwieweit das eine durch das andere „unterwandert" werden kann - ein im Übrigen weit mehr politisches als staatsgrundsätzliches Problem - oder ob sich hier bereits eine weitgehende Konvergenz staatsgrundsätzlicher Strömungen ergibt. Aus der Sicht der für das westliche Staatsdenken stets bedeutsamen Staatsrenaissance-Kategorien ist eine Gemeinsamkeit jedenfalls unverkennbar: Überbau-Denken findet sich in fast allen neueren Formen jenes Antiautoritarismus wieder, denen es im Grunde stets darum gehen muss, das Recht auf Abbildung der Wirklichkeit und damit auch Registrierung gesellschaftlicher Machtzustände zurückzuführen. Die sicherste Waffe gegen frühere, immer weiter zu bekämpfende „Herrschaftszustände" scheint doch diesen Richtungen der Hinweis auf jene gesellschaftlich-ökonomische Evolution zu sein, in welcher unwiderstehlich frühere Herrschaftsmechanismen zerbrochen, jedenfalls abgebaut werden. Dann aber darf es gerade eines nicht geben: ein wie immer geartetes Repertoire von „klassischen", stets wiederkehrenden Herrschaftsformen, aus dem geschöpft werden könnte, wo immer ein ökonomisch-soziologisches Herrschaftsdefizit auftreten mag. Dies gerade ist aber umgekehrt Sinn und Chance eines Denkens in Kategorien der Staatsrenaissance: Mag auch in der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Wirklichkeit Anarchie immer mehr überhandnehmen, kaum mehr ein Instrument der Ordnung sichtbar werden - gerade dann setzt die Staatsrenaissance ein, in der Französischen Revolution hat sich dies, nach ihren anarchischen Anfängen, besonders deutlich bestätigt. Selbstverständlich ist es also, dass antiautoritäre Strömungen, welcher Herkunft immer, Front machen gegen die Wiederkehr von Formen früherer Herrschaft, welche gar noch von jener Ökonomie und Soziologie abgeschichtet werden könnten, in deren Namen gerade der Kampf gegen die Herrschaftsformen heute geführt werden soll. Darin liegt weit mehr als ein anti-absolutistischer Affekt, hier wird eine Parallelbewegung zu dem sichtbar, was sich bereits für den kommunistischen Bereich feststellen ließ: ein unbeirrbares Denken in Fortschrittskategorien, ein ökonomischer Optimismus, der sich, nicht selten geradezu primitivierend, vorstellt, nichts dürfe wiederkehren, weil alles immer nur noch besser werden müsse.

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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Auch die Grundeinstellung zur Historie haben solche Formen eines westlichen Antiautoritarismus mit dem Marxismus durchaus in vielem gemeinsam: Die Historie wird nicht etwa abgelehnt, sie ist wichtig und legitimitätsschaffend, aber nicht, weil sie zurückkehren sollte, sondern weil man sich von ihr entfernen will, getragen von den Wellen des liberalen Ökonomie-Primats. Das Recht und vor allem seine staatsgrundsätzliche Betrachtungsweise haben so vieles an Ökonomie und Soziologie, vielleicht unwiederbringlich, verloren, weil sich ihre Kraft als die einer Herrschaftslehre abgeschwächt hat in der ökonomischen Beschreibung von Herrschafts-Zustandslehren. Und außerhalb der Rechtswissenschaft wird es noch lange dauern, bis man wieder, aus ökonomischem Optimismus geworfen, einen Sinn für das zu entwickeln vermag, was hier als Staatsrenaissance beschrieben wird.

2. Überhöhung des „Überbaus" in Staatsrenaissance Staatsrenaissance-Betrachtungen sind schon darin dem ökonomisch-soziologischen Überbau-Denken überlegen, dass sie eine wenn nicht historische, so jedenfalls zeitliche Dimension hinzufügen. Damit wachsen sie über die Beschreibung hinaus, in der sich ja letztlich die Überbau-Lehre erschöpft, sie vermögen zu erklären und fortzudenken, sie können ordnen und systematisieren in einer anderen Größenordnung, als es bei einem stets auf einen Augenblick festgelegten Recht als „Ausdruck eines Überbaus" möglich ist. Eines vor allem haben Staatsrenaissance-Vorstellungen vor solchen des „Überbaus" gerade heute voraus: Sie bedürfen nicht einer quasi-totalen Feststellung eines tatsächlichen Ist-Zustandes, welche in hochtechnisierten Gemeinschaften immer schwieriger, praktisch stets nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung möglich ist. Darin gerade wird übrigens die Überbau-Lehre fragwürdig, dass sie eben das nicht zu leisten vermag, wozu sie aber eingesetzt werden soll: Die Erklärung und Vertiefung rechtlicher Regelungen in einem bestimmten Augenblick. Wird normiert aus dem ökonomisch-gesellschaftlichen Substrat heraus, so wird eher das Gestern übernommen, nicht das Heute, noch weniger eine Zukunft, in die hinein doch gerade gewirkt werden soll. Die Überbau-Lehre gerät daher in die Gefahr, jenen Prozess zu verlangsamen, dessen Ausdruck sie doch sein soll, ja sie muss immer mehr, mit steigender Komplikation der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Zusammenhänge, retardierend, wenn nicht reaktionär wirken. Über Staatsrenaissance gewonnene Vorstellungen der Vergangenheit dagegen weisen meist einen derartigen Abstraktionsgrad auf, dass sie als Raster der Überkomplikation der Gegenwart aufgelegt werden und gerade darin ordnend wirken können. Man denke nur an Renaissance-Schübe des Demokratismus in heutiger Zeit, mögen sie nun aus früheren französisch-revolutionären Vorstellungen oder aus amerikanischer Praxis kommen: Die Einfachheit solcher Ordnungselemente 24 Leisner

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lässt sich auf die gegenwärtige europäische Wirklichkeit übertragen; es wird von all deren unzähligen Neuheiten und Fortschritten abstrahiert, welche gerade aus jenen einfachen Gedanken heraus zusammengeordnet werden, etwa in der lokalen Selbstverwaltung. Hier zeigt sich auch das, was so schwer der plausiblen These vom Überbau gegenüber nachzuweisen ist: der Selbstand des Ordnungsdenkens, der staatsgrundsätzlichen Betrachtung. Aus der Vergangenheit kommen, in neuer systematischer Einkleidung, nicht Trümmer eines früheren Überbaus zurück, sondern in sich geschlossene Komplexe früherer Ordnungen, welche deren Wesen, nicht primär ökonomisch-Gesellschaftliches weiterführen. Dieser ganze Vorgang hat mit der „Überbaudogmatik" nichts gemein, der renaissancehafte Raster legt sich sozusagen „von oben über das Substrat". Was aus der Vergangenheit gewonnen worden ist, nunmehr aber in „neue Systematik" eingebaut werden muss, beweist auch ein Weiteres: Wenn schon von „Überbau" die Rede sein soll, so muss dieser Begriff jedenfalls erheblich differenzierter gesehen werden, es kommt nicht „einfach alles Recht aus den sozio-ökonomischen Fakten". Die gegenwärtigen Ordnungs- und Herrschaftsformen sind immer eine komplexe Kombination dieser zu ordnenden Daten und vielfacher Ordnungskräfte, welche „von oben", unter Umständen auch aus den „Höhen der Vergangenheit" kommen. Ex facto oritur ius trifft jedenfalls nicht in jener Unmittelbarkeit zu, welche die Überbaulehre versucht: Auch was schon längst früher oder in ganz anderen, weit entfernten Ordnungen aus „Tatsachen" zum „Recht" hinaufgewachsen ist, kann dann „als solches" wieder - neues Recht hervorbringen, zusammen mit dem, was es zu ordnen gilt. In der Sicht des Denkens in Kategorien der Staatsrenaissance zeigt sich die „Besonderheit der Ordnung" auch darin, dass hier eine primär andere Frage gestellt wird als die, von welcher die Überbaulehre ausgeht: Nach ihr kommt es in erster Linie darauf an, „was zu ordnen ist", eine Fragestellung, die doch im Wesentlichen darauf hinausläuft", „wie viel vorhanden", zu konsumieren, zu genießen ist. Die primäre Fragestellung der Staatsrenaissance ist dagegen die nach der „Qualität des Funktionierens" der Ordnung als solcher, in diesem Sinn wird die Frage des „gut" oder „schlecht" unmittelbar an die Ordnung, direkt aus Ordnungskategorien heraus gestellt. Wenn heute das Staatsrecht als eine Art von „Überbau" allein aus ökonomischen Gegebenheiten heraus erklärt und weitergedacht werden soll, so steht dahinter doch stets etwas von dem Optimismus eines Fortschritts, der hier „immer mehr zu verwalten" sieht, daher auch „stets neue Formen", aus dieser zu verwaltenden Fülle selbst heraus, entwickeln will. Mit der Problematik der „Verwaltung des Mangels", des „Rechts als Überbau einer Wirtschaftskrise" hat man sich bis heute noch kaum in Ansätzen beschäftigt. Es ist dies aber unumgänglich, denn erst in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs tritt jene primäre Ordnungsfunktion des Rechts wieder in ihre Rechte, welche sich eben leichter aus einer Vergangenheit in

Α. Das Wesen der Staatsrenaissance

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Staatsrenaissance entwickeln lässt, nur schwer aus wirtschaftlichen Gegebenheiten, welche in einer Krise stecken, in einer Unordnung, bei welcher das Recht nicht stehen bleiben darf. Geistige Formen, welche alles Ökonomische überdauern können, entfalten sich dort, aus ihnen heraus kann dann letztlich auch die Wirtschaftskrise überwunden werden. Nicht zuletzt aber verdeutlicht ein Denken in Staatsrenaissance eine Besonderheit des Staatlich-Ordnungschaffenden gegenüber aller Ökonomie: dass es ganz wesentlich „im Kreis" abläuft, in Kreisen - denen eben, welche sich dann in Wiedergeburten schließen. Ein gutes Recht der Wirtschaft ist es, dass sie sich weiter und höher hinaufpflanzen will, auch darin einen geistigen Auftrag erfüllend; das Politisch-Ordnungschaffende fügte dem eine Kreisbewegung hinzu, welche die Enttäuschungen des Fortschritts überwindet und diesen in festeren Bahnen verstetigt. Die Überbau-Lehren haben manches erklärt und vieles verunklart, zur Mitte der Ordnung kann gerade aus ihnen in Staatsrenaissance wieder zurückgelenkt werden.

3. Imperiales Denken - gegen Überbaulehren in Staatsrenaissance befestigt Immer dort, wo der Selbstand der Ordnung verdeutlicht werden kann, ist größeres Ordnungsdenken, sind imperiale Gedanken zu finden. Von Überbaulehren führt kein Weg zur Imperialität, weil hier ja auf den Begriff der „dauernden Ordnung", des überwölbend rechtlich Gestaltenden verzichtet wird, dies jedenfalls als sekundär und auch seinerseits wieder mit wirtschaftlichen Verschiebungen veränderbar erscheint. Deshalb konnte auch eigentliche Imperialität im „Dritten Rom" nur in der Sicht des kommunistischen Endzustands gewonnen werden, nie in jenen Überbau-Kategorien für sich betrachtet, welche ja dauernde Schwankungen zeigen und allenfalls eine Tendenz auf dieses Ziel erkennen lassen. In einer staatlichen Ordnung, welche den Namen des Reiches verdient, erreichen die Rechtsformen ein Selbstgewicht notwendig und selbstverständlich, sie inkarnieren diese Imperialität. Das Reich war eben stets und in erster Linie „Recht", das solange dauern konnte, dass es sogar in Wiedergeburt zurückkam, sich nicht in irgendwelchen Zuständen und deren Abfolge erschöpfte. Ein rein ökonomischer Imperialismus mag hierfür eine Vorstufe sein, die negativ mitklingende Bedeutung des Wortes ist gerade aus der Sicht der Imperialität nicht unberechtigt, denn hier geht es um Genussmöglichkeiten weit mehr als um jenes Ordnen, welches erstmals ein wahres Reich legitimiert. Vor allem aber ist es die Gütefrage an die Staatsformen, welche sich im Rahmen der Staatsrenaissance stellt und den Weg zur Imperialität weist. Auch an ökonomische Zustände mag sie sich richten, dort jedoch wird sie nie mit der gleichen 24*

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Eindeutigkeit beantwortet, sie erhebt sich nicht einmal primär. Was aber zur Imperialität, zu größerer, dauernder Ordnung emporwachsen will, muss mehr bieten können als einen Überbau irgendwelcher wirtschaftlicher Zustände, und seien sie noch so positiv zu bewerten. So ist denn auch, historisch gesehen, überall dort eine gewisse Relativierung der Reichsidee sogleich eingetreten, wo man begonnen hat, die Wirtschaftsgeschichte dieser Imperien zu schreiben, sei es die des römischen oder des englischen Weltreiches. Da mochten dann Erfolgsrezepte durchaus aufzufinden sein, doch die wirtschaftliche Fragestellung wurde meist sogleich durch eine soziologische wieder relativiert, welche auf die Ausbeutungsproblematik hinauslief. Und mit der These von der „größeren Ordnung als großer Ausbeutung" lässt sich in der Tat fast alles in der bekannten Geschichte relativieren, was die Höhe des Imperialen erreicht hat. Alle diese Fragen stellen sich aber dann nicht primär, vielleicht überhaupt nicht, wenn zuerst nach Ordnung gefragt und diese auch aus der Vergangenheit in Staatsrenaissance gewonnen wird. Staatsrenaissance geht ja aus von einer Art der Präexistenz des Staatlich-Ordnenden: Das Reich war früher bereits „gut" - deshalb ist es auch heute noch, in diesen selben Formen, als ein „gutes" weiter möglich. Die Omen-Idee, der man bei der Betrachtung des Triumphes als Reichselement begegnet, spielt auch hier eine entscheidende Rolle: Was „wiederkehren kann", trägt eben schon darin das gute Omen des Reichshaften in sich. Damit wird letztlich die Überbau-Idee geradezu auf den Kopf gestellt: Aus früheren, entfernten Zuständen heraus entfaltet sich die Rechtsidee, sie kommt mit einem zeitlichen und auch dogmatischen Primat aus ferner Vergangenheit zurück, ordnet und dominiert das Substrat, sie erwächst insoweit nicht aus ihm, sie gestaltet es.

4. Der Selbstand der Rechtsidee in Staatsrenaissance Die „Wiederkehr des Zivilrechts als Staatsrecht" Wenn die Wiedergeburt im Recht keine Rolle spielen sollte, so lässt sich eines kaum mehr halten, mit dem aber das Wesen dieser menschlichen Ordnungsformen untrennbar verbunden ist: der Selbstand des Rechtlichen. Bedroht ist er ja entscheidend gerade durch jene Überbaulehre, nach welcher das Recht mit den wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklungen jeweils fluktuieren soll. Wenn sich hier nicht etwas unabhängig von allem Substrat in Eigengesetzlichkeit fortentwickelt, sich entfalten lässt, so geht alle Jurisprudenz unter in einer reinen Rechtstechnik, die ebenso geist- wie geschichtslos ist, alles immer nur auf einen Augenblick zurückbezieht, bald nur mehr dessen Mächten ausgeliefert ist, ihre Entscheidungen ratifiziert. Bei aller soziologischen Öffnung des Rechts, aller Tendenz zur Rechtstatsachenforschung - hier hat noch immer die Rechtswissenschaft eine unüberschreitbare Sperre errichtet, im Selbstschutz ihrer Wissenschaft. Verfeinerung zur besseren Erkenntnis des zu ordnenden Substrates - ja, aber eben stets unter dem

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Primat der ordnenden geistigen Idee, wie sie, in reiner Form, in Staatsrenaissance zurückkommt. Denn dies ist ja der Sinn dieser Betrachtung: zu zeigen, dass es etwas geben kann, worin sich solche geistigen Ordnungswerte „rein überökonomisch" nachweisen lassen; bleibt dies auch nur an einem Punkte möglich, so ist der Selbstand des Staatsrechts, des Rechts überhaupt, gesichert. Dann ist auch die Möglichkeit einer höheren Rechtstechnik aus dem Selbstand dieser geistigen Ordnungsform heraus möglich. Weil aber nun das Recht seinen Selbstand als „solches", nicht nur als Staatsrecht, in Staatsrenaissance gewinnt, ist jede für größere Ordnung relevante Rechtsmaterie unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, der Renaissance fähig und bedürftig; dies gilt vor allem für das Zivilrecht, für jene Materie, in welcher es zur größten bekannten Rechtsrenaissance gekommen ist, zur Überhöhung, ja Überwindung der Überbaulehre. Nach den Grundvorstellungen der Überbaulehre sollte man annehmen, gerade der Zivilrechtsbereich werde durch sein wirtschaftliches Substrat getragen, das er in erster Linie ordnend ausgleichen will. Und doch hat sich eben hier die ordnende „Raster-Übernahme" des Rechtsdenkens der Vergangenheit durchgesetzt: Als sie übernommen wurde, waren „Zivilrechtstrümmer zum Reich" der politisch-gesellschaftsordnende Ausgangspunkt einer neuen, höheren Ordnungsform, und dies ist, in perfektionierender Zivilrechtstechnik, noch einmal im 19. Jahrhundert, in der Pandektistik, wiederholt worden. Der gesellschaftlich-ökonomische Unterbau der Antike war damals noch kaum erforscht, übernommen wurden nahezu völlig substrat-gelöste Gedanken. Die Goldadern zivilrechtlicher Ideen, welche so angeschlagen waren, brachten nicht nur Privatrecht hervor, hier sind auch staatsrechtliche Formen geschaffen worden, welche später, in den Ausprägungen der Fiskustheorie des 18. und 19. Jahrhunderts, staatsgrundlegend fruchtbar gemacht werden konnten: die Herrschaft als Eigentum, der Beamte als Staatsbeauftragter, die Enteignung als Zwangskauf usw. Noch wichtiger aber waren die Methoden des juristischen Denkens, welche auf diese Weise aus ferner Vergangenheit zurückkamen, und gerade mit ihnen wurde doch so vieles auch inhaltlich übernommen, was hier noch beschäftigen wird. Die staatsrechtlich-politische Bedeutung der Zivilrecht-Pandektistik ist heute längst erkannt, wiedergekommen ist damit eben „Zivilrecht als Staatsrecht", und wenn es eines Beweises bedürfte, wie wichtig „Staatsrenaissance auf Umwegen" werden kann, so ist er hier erbracht. Sogleich aber zeigt sich auch, wie gerade in einem Bereich, in dem eigentlich doch die Überbaulehre sich bewähren sollte, substratgelöste Staatsrenaissance stärker ist als die Dominanz des Wirtschaftlich-Gesellschaftlichen. Die heutigen Übernahmen amerikanischer Zivil- und Wirtschaftsrechtsformen, aus einer ganz aus ökonomisch-politischer Imperialität heraus gedachten Ordnung, ist ein moderner Akt dieses eindrucksvollen Schauspiels. Und noch ein Weiteres erweist sich damit: „Unmittelbar zum Reich" ist nicht nur das Staatsrecht, die Rechtsidee schlechthin ist es. Der Selbstand des Rechts

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stellt die „imperiale Grundnorm" dar, eine allgemeine Rechtsidee führt zum Reich, die Staatsrenaissance - nicht nur allgemeine Staatstheorien. An der Spitze der Normenpyramide steht eben nicht eine höchst verdünnte Staats-Kompetenz-Norm, wie sie Kelsen wollte, sondern der vom wirtschaftlich-soziologischen Substrat gelöste Selbstand einer Ordnungsidee, deren Elemente als solche, ohne „Blick nach unten", aus der Ferne zurückkehren können.

IX. Staatsrenaissance als „Denkkategorie Zeit44 im Staatsrecht - rechtsphilosophische Bemerkungen 1. „Reich" - staatsrechtliche Potenzierung der kantischen Denkkategorien In den Betrachtungen zum „Triumph" als einer kausalen Erkenntniskategorie des Imperialen hat sich bereits gezeigt, dass das „Reich", die größere, dauernde Ordnung, darin vor allem den „größeren Staat" darstellt, dass die Erkenntniskategorien von Raum, Zeit und Ursache hier in einem anderen, gesteigerten Sinne angewendet werden. Das imperiale Denken erschien als eine höchste Potenzierung staatsrechtlicher, im weiteren Sinne politischer Denkkategorien. Sie werden als solche über die Begrenztheit des „irgendwie-Staatlichen" hinaus gesteigert, und damit wird nicht nur die causa des Reiches mächtiger, der Raum, in dem es sich entfalten kann, notwendig ein größerer, auch die Zeit wächst über das hinaus, was sie sonst für Staatsrecht und Staatstheorie in der Tradition bedeutet. Für das Reich ist ja nicht nur wesentlich, was sich noch, „nach Menschengedenken", mit seinen Formen und Entwicklungen bruchlos verbinden lässt. Imperiale Gestaltung greift notwendig weit darüber hinaus, in eine räumliche Entfernung, welche der zeitlichen gleich ist, vor allem aber zurück in jene historisch oder „dogmatisch" weit entfernten Zeiten, aus denen belebende Kräfte in Staatsrenaissance zurückkommen. Damit wird die Zeitkategorie des Imperialen nicht nur weiter, über Traditions-Kontinuität hinaus gesteigert, sie wandelt sich zu etwas „anderem": Sie ist nicht allein ein temporärer Raum, in dem irgend etwas stattfinden kann, diese selbe „zeitliche Räumlichkeit" wird zur Kraft, zu einer weiteren causa des Reiches, zu einer wahren „Reichs-Kraft". Darin erst entfaltet sie ein Wirken, das im tieferen Sinne der Bedeutung der kantischen Kategorien entspricht: Sie sollten ja auch nicht nur Zellen und Zäune darstellen, über die nicht hinausgebaut, hinausgesehen werden kann; die tiefere Erkenntnis des kategorialen, transzendentalen Denkens liegt eben darin, dass sich der Mensch in dieser seiner Begrenzung zugleich auch „seine besondere Welt schafft". Im höchsten Sinne wird dieses kantische Denken damit zugleich auch Ausdruck eines seit der Antike nie mehr verlorenen Humanismus. Doch es bleibt eben auch von dem kantisch-Kategorialen, gerade diese Betrachtungen über die Staatsrenaissance zeigen es, jene letzte Begrenztheit des mensch-

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liehen Denkens, das über seine Grund-Formen nicht hinausführen, sie nicht einmal wirklich in Frage stellen kann: Staatlichkeit wurde das erste Mal im Großen in der Militärstaatlichkeit des römischen Reiches erlebt, über Jahrtausende immer erneut zu beleben versucht; mit dem Heraufkommen der „zivilen Staatlichkeit", dem Niedergang des militärisch geprägten Feudalismus, hat sich dann über Aufklärung, Verfassungsdenken und Demokratie etwas entwickelt wie ein „ganz neues Staatsrecht"; in der optimistischen Freude an seinem weithin gewaltlosen Ordnen sind allzu oft die Gemeinsamkeiten mit früherer Staatlichkeit vergessen worden. Doch es bleibt immer die „kategoriale Begrenzung" bestehen: Man kann Staatlichkeit nur in einer bestimmten Weise denken und konstruieren, entsprechend eben jenen Kategorien der räumlichen Größe, der kausalen Triumphalität und - einer Zeitlichkeit, welche in Renaissancen wirkt und sich immer wieder schließt. Dies sind die zeitlichen Kategorie-Grenzen auch der größten Staatlichkeit, des mächtigsten Imperiums; und sie haben Bedeutung nicht nur in solchen Größenordnungen, sie wirken in all dem, was überhaupt an politischer Ordnung geschaffen werden kann. Und darin gerade liegt auch die Bedeutung des imperialen Denkens: dass hier, vergrößert und verdeutlicht, die Kategorien allen herrschaftlichen Ordnens gezeigt werden können. Auch in seiner zeitlichen Dimension und den aus ihr fließenden Kräften der Staatsrenaissance ist das Imperium nicht Ausdruck einer Einmaligkeit, die ein Jahrtausend ein zweites Mal nicht erreicht, welche immer nur bewundert werden kann; etwas von dieser Kraft wirkt in allem, was sich auch nur kurze Zeit politisch zu halten vermag, und diese wahre Allgemeingültigkeit der Reichs-Kategorien macht sie zum Ausgangspunkt allgemeiner Staatslehre schlechthin.

2. Renaissance als Zeitkategorie der größeren Ordnung a) „Normalzeit" - eine Gefahr für die Ordnung „Ordnung" bedeutet stets etwas wie eine größere politische Anstrengung „gegen die Zeit". Je weiter sie ausgreift, desto mehr wird sie in Zeitlichkeit gefährdet: - Auch die größte Leistung politischer Gestaltung erscheint dann als bescheiden, wenn sie in das Auf und Ab der Zeitläufe gestellt wird; Imperiales zeigt seine ganze Größe nur in einer „Betrachtung aus der Sicht zeitlicher Einmaligkeit", die etwas verehrt wie einen theatralischen Höhepunkt. Wer zugleich die vielen kleinen, nur allzu oft banalen Schritte nachgeht, welche hinaufgeführt haben und herabführen werden, der kann und muss auch das Höchste an Ordnung relativieren - die Zeit selbst zwingt ihn dazu, wenn es „nur die Normalzeit ist", jener Ablauf-Raum, in dem alles und jedes gleichmäßig stattfindet. - Selbst machtvolle Gestaltungen, denen die Geschichte wirklich den Namen des Reiches geben durfte, sind immer nur für kurze Zeit, vielleicht für einen gedachten Augenblick allein, zu jener Perfektion emporgewachsen, in der Betrachter

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sie der Idee am nächsten finden, sie verehren und übernehmen. Der Druck der „Normalzeit" biegt sie schon in ihrem Entstehen, und immer rascher sodann, heraus aus ihrer bewundernswerten geistigen Selbstgesetzlichkeit, hinab in die Niederungen des Diadochenhaften, der vielen und immer schlechteren Nachfolgen. Der Tradition gerade ist sie eigen, diese Kraft zur Verschlechterung, dort mag sie am stärksten wirken, wo die größte Chance zu einem Epigonentum besteht, weil einst die Ordnung besonders hoch gestellt war. Wo diese „Normalzeit des Politischen" nicht relativiert, da richtet sie sogar Gegenwart im Namen der Vergangenheit, bis es heißen kann: abusus optimi pessimus. - Einer größeren staatlichen Ordnung gelingt, recht oder schlecht, zwar nicht selten eines, was ihr die Schubkraft des politischen Willens mitgegeben hat: Sie kann dauern, bis in schier unendliche byzantinische Spätzeiten hinein. Aber auch dem macht die „Normalzeit" der reinen Historie grundsätzlich ein Ende, da ist nichts Unsterbliches, und was wären es für Götter, die immer auf ihren Untergang hin leben müssten, auf eine Götterdämmerung zu? Allein schon die Vorstellung, dass eine Ordnung eines Tages nicht mehr sein könnte - nie mehr macht sie kleiner als alle Menschen, welche sie gewollt haben und die doch in einer wie immer gelebten Auferstehungshoffnung über ihr irdisches Sein hinaus noch denken mochten. Und dies sollten dann Ordnungen sein, die auf Generationen übergreifend wirken? Schon für all das, was man „normale Staatlichkeit" nennen mag, sind dies große Gefahren, hier wird das Geschöpf des menschlichen politischen Willens kleiner als der Mensch, welcher es geschaffen hat, der sich doch unter diese Ordnungen beugen soll. Um wie viel größer wird die Gefahr dort, wo in einem Imperium etwas wie eine „kleine Ewigkeit" politisch einbrechen soll in das Denken der Menschen, ihre kurze Existenz in einer Grenzenlosigkeit überhöhend! Die drei beschriebenen „Gefahren normaler Zeitlichkeit" bedeuten für die größere, dauernde Ordnung etwas wie ein vorweggenommenes Ende. So darf denn das Reich „die normale Zeit" nicht kennen, es muss ihm etwas eigen sein wie „seine eigene Zeit" - und hier wird wieder das kantische Denken erreicht: Ob es eine besondere Kategorie imperialer Zeitlichkeit gibt oder nicht sie muss postuliert werden, und dies geschieht hier in dem Worte der Staatsrenaissance. Aus ihr kommt der größeren Ordnung nicht nur eine besondere Legitimation zu, hier gewinnt sie einen „geistigen Selbstand" gegenüber sonstigem menschlichen Denken, mehr noch: gegenüber aller historischen Erfahrung vom Geborenwerden und Sterben. Der Staat hat an sich schon „seine eigene Zeit", ob man ihn besonders „geöffnet", mehr als anderes „im Fluss" sehen mag oder weniger - alles, was darüber gedacht worden ist, zeigt immer wieder die Besonderheit des Zeitlichen. Noch weit mehr muss sich daher eine größere, imperiale Ordnung herausheben aus der Normalzeit, hinein in eine „eigene Zeit".

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b) „Renaissance " - eine besondere Zeitkategorie Wo in Renaissancen gedacht wird, da steht die Zeit nicht bevor und sie geht nicht vorüber. Nicht etwas ist da wie „reiner Ablauf 4 , er wird immer in Trümmern aufgestaut, in großen Bruchstücken, welche neu entdeckt und wieder verwendet werden. Nicht im Ablauf also liegt dann das Wesen dieser Zeit, sondern in etwas wie einem Kreislauf der Ringe, welche sich wieder schließen, in sich eben doch das zeigte sich schon - die Zeit stillestehen lassen. Die zeitliche Bewegung wird hier nicht aufgehoben, denn alle Wiedergeburt setzt ja Ablauf und Bewegung voraus, aber sie beginnt immer wieder von neuem, sie kann wiederholt werden, mehr noch: Sie erscheint geradezu als „potenziert". Die Vorstellung von der Möglichkeit einer „ersten" und einer „zweiten" Zeit, von der Wiederholbarkeit, der Steigerungsfähigkeit des Temporären selbst, hat die Menschen immer fasziniert, in der Kunst zuallererst. Doch dies sind eben auch politisch wirkende Denkanstöße: Die „zweite Zeit", welche aus einer Renaissance hat geboren werden können, ist eine „andere", sie mag Zeitgenossen und Späteren höher oder niedriger erscheinen als ihr Ausgang, der Punkt, aus welchem sie sich in einer Art von Spirale in die Zukunft kreisförmig hineinbewegt. Zweites und Drittes Rom, Erstes und Zweites Empire - und die Reiche der Deutschen, die Republiken Frankreichs: All dies sind Bewegungen in einer höheren Zeitdimension, welche „die verlorene Zeit wiederfindet", mag dies alles auch späteren Betrachtern mehr wie eine Form von Altersringen der Ordnung erscheinen. Doch noch wichtiger ist ein anderes in diesem „Stillestehen der Zeiten aus der Zeit heraus": Zeitlichkeit und ihre Ergebnisse werden „verwendet", nutzbar für Späteres; Zeit ist nicht nur eine politische Chance, die wahrgenommen oder vertan werden kann, jedenfalls aber vorübergeht, sie bietet etwas wie eine bereichernde Dimension, einen Steinbruch von Ideen. Sie ist kein „wertneutraler" Verlauf in einer Einbahn, sie bedeutet Konstruktionskraft. c) Staatsrenaissance als konstruktive

Denkkategorie

Renaissancehaft gesehene Zeit - das ist eine eigenartige, eine konstruktive Kategorie. Da ist nicht nur ein „Raum, in dem irgendetwas wird", in welchem im Grunde Beliebiges geschehen kann. Dies ist vielmehr im wahren Sinne der kantischen Terminologie eine „Denkform", in ihr liegt zugleich und wesentlich etwas von einer „Methode", denn diese Zeit wird in einer ganz bestimmten Weise nutzbar. Sie bringt jedoch gewisse Wirkungen selbsttätig hervor, ohne dass diese mit einem bestimmten menschlichen Tun in Verbindung gebracht werden könnten - gleichsam als „treibe die Zeit aus sich selbst Renaissancen heraus." Und in der Tat hat ja gerade die Wiedergeburt immer etwas von einer Selbsttätigkeit, ja geradezu von einem Automatismus an sich: Hier wird nur entbunden, was schon in langer Zeit gereift ist, sozusagen ganz von selbst, unbewusst jedenfalls im Geiste jener Menschen, welche es dann mehr erkennen im platonischen Sinn als durch ihre Vorstellung neu schaffen.

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Wenn hier von der Renaissance als einer konstruktiven Methode die Rede ist, die nicht nur Ablauf bedeutet, sondern Schöpfung, so wird dabei ebensowohl die Kreativität derjenigen angesprochen, welche die Zeit in dieser besonderen, größeren Ordnungen schaffenden Form zu nutzen verstehen, indem sie Vergangenes wiederbeleben, als auch jener geheimnisvolle Mechanismus, dem Menschen glauben, auch wenn sie ihn nicht beweisen können: dass nämlich „die Zeit an sich" sich ihre Ordnungen und solche für die Menschen schafft. Und so ist denn etwas im wahren Sinne des Wortes „Transpersonales" in dieser Staatsrenaissance-Idee, sie ist konstruktiv aus der Sicht der anonym erscheinenden Zeit wie der Menschen, denen sie nicht zum Vergehenlassen geschenkt ist, sondern zur Wiedergeburt. Renaissance bedeutet, dass die Zeit irgendwie „schon ihre Ergebnisse in sich trägt" - damit aber auch die Begrenzungen der Ordnungen, welche aus ihr herauswachsen. Wiedergeboren kann nicht werden, was nicht schon in dieser selben, aber eben in dieser höheren Zeit „imperial vorgedacht worden ist", nur solches ist dann einer renaissancehaften Wiederentfaltung fähig. Es gibt nicht nur Renaissance als eine Kategorie von Zeit, in welcher wiedergeboren wird, diese selbe Kategorie bedeutet auch den Zeitraum, in welchem das erste Mal gesät, die erste Frucht getragen und der Samen dann für künftige Zeiten wieder verborgen worden ist. Renaissance bedeutet auch „Zeit als Raum imperial vorgedachter Ordnung." Darin gerade erreicht ein Denken in Staatsrenaissance den Anschluss an die kantische Kategorienlehre voll: Das Reich, die größere, dauernde Ordnung, ist eine Zusammenfassung jener Kategorien des Königsberger Denkers, welche ja nicht nur ein Raum sein sollten, den der Mensch allein zu überblicken vermag, auch nicht nur das Auge, aus dessen Leuchtkraft heraus die Welt erst erhellt wird. Zugleich bedeuten diese kantischen Kategorien ja etwas wie Konstruktionsmethoden einer dem Menschen eigenen, nach seinem Bilde und Gleichnisse geschaffenen Wirklichkeit. Und wenn Kant die Frage letztlich offen lassen konnte, ob es die menschliche Willenskraft oder die menschliche Erkenntnisfähigkeit ist, welche hier tätig wird - eines steht im Zentrum seines Denkens: dass Menschen auf solche Weise „ihre Welt hervorbringen", dass transzendentale Kategorien zugleich die Methoden der Konstruktion der Wirklichkeit sind. Staatsrenaissance - das ist also nicht nur, nicht einmal primär, eine Form des Erkennenkönnens, vor allem bedeutet es eine Konstruktionsform politischer Ordnungen.

d) „Mit den Augen der Renaissance sehen " nicht Begrenzung, sondern Erweiterung, Aufschwung So führen denn diese rechtsphilosophischen Gedankengänge zu einem Ergebnis, in welchem das Wesen, zugleich aber auch die Kraft eines Denkens in Staatsrenaissancen deutlich wird, worin sich dann auch bereits der Übergang in die Betrachtungen seiner politischen Wirkmächtigkeit findet: Nimmt man den Begriff der Wie-

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dergeburt als einer zeitlichen Denkkategorie des größeren Politischen ernst, so bedeutet er: Außerhalb von Staatsrenaissance, jenseits von ihr, kann nichts mehr politisch gedacht werden. Dieses Denken steckt gewissermaßen die äußersten Räume ab, in welche hinausgegriffen werden kann. Als Grenzen müssen sie nicht immer erreicht werden, überschreiten kann sie politische Gestaltung nicht. Das bedeutet keine unbedingten Schranken für den Neubeginn, für politische Gestaltungen, die es noch nie gegeben hat - und dies mag ja die Sorge deijenigen sein, welche ein Denken in Wiedergeburten zurückdrängen wollen: dass nichts mehr gelingen könne, was nicht schon einmal war. Doch so eng sind die Zäune nicht, Staatsrenaissance erwartet nur ein Dreifaches von einer Anstrengung der Erneuerung: Entweder es muss hier übernommen, wiedergeboren werden - dies ist die Vergangenheitsdimension; oder es soll „zu späterer Übernahme geschaffen werden", wie in einem Monument aus Erz, das verschüttet werden kann, aber doch einmal wieder bewundert wird - dies ist die Zukunftsdimension; oder es soll schließlich das Geschaffene „reine Gegenwart bleiben" - diese Gegenwartsdimension erreicht Renaissance nicht, sie ist enger, kleiner, dennoch aber legitim - wer weiß schon, ob dies nicht doch zu renaissancehafter Größe emporwachsen kann unbewusst, ungewollt. Letztlich liegt alles beschlossen in der Zeitkategorie der Renaissance, alles jedenfalls, was den Namen der größeren Ordnung verdient, was ist und wieder sein wird. Daraus folgt schließlich auch, dass es nicht nur „Rechtsinhalte zum Reich" gibt, sondern auch Methoden des imperialen Denkens, und dass alle Methodik, welche im staatsrechtlichen Bereich eingesetzt wird, stets darauf zu untersuchen ist, ob sie ein Denken fördert, das zur Wiedergeburt führen kann - zu jenem „Alten als einem Neuen". Staatsrenaissance als Kategorie - das bedeutet die Suche nach „Denkmodellen einer kreisförmigen Zeit" und diese Worte bezeichnen einen alten Traum der politischen Menschheit, nicht Schranken, sondern Erweiterungskräfte. Unverstand hat der kantischen Transzendentalphilosophie vorgeworfen, sie habe den Menschen kleiner gemacht, Unverstand sieht ihre Legitimation zuallererst in einer kritischen Bescheidenheit. In Wahrheit liegt darin - die kategoriale Betrachtung der Staatsrenaissance zeigt es ganz deutlich - gerade das Gegenteil: die Schöpferkraft des menschlichen Ordnungsdenkens in einer im Letzten begrenzten Welt wohl, deren Schranken aber gerade darin wahrhaft gewaltig erweitert worden sind, dass „nichts Menschliches", nichts der Renaissance Fähiges den heutigen Menschen fern ist. In ihrer Denkform der Staatsrenaissance können sie sicher nicht über das hinausgreifen, was ihnen als kategoriale Grenzen des menschlichen Erkennens gesetzt ist, wohl aber dürfen sie diesen Raum erfüllen, in seinem ganzen Reichtum immer von neuem besetzen, wiederaufbauend auf den Fundamenten großer Vergangenheiten. Und dass da nicht Resignation ist, sondern ein mächtiger Aufschwung, in solchem zeit-kategorialen Renaissancedenken, das zeigt seine Verbindung zu der großen Aufschwungs-Kategorie, welche sich gerade auf diesem Wege zu entfalten

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vermag: zu jenem Denken in Triumphen, welches ebenfalls als ein Wesen des Imperialen erkannt wurde. Der große Erfolg erreicht dann eben die Höhen eines Kapitals, wenn er zugleich renaissance-trächtig ist, so wie es jene Welt der vielen Siege war; und umgekehrt liegt dort die Möglichkeit der Wiedergeburt, wo es hoch hinaus, zum ganz großen Erfolg gekommen ist. Wenn es eines Beweises für die Kraft des Triumphalismus bedürfte, so lässt er sich hier erbringen, in größerer Breite: Triumph - das ist eben in Renaissance denkbar.

3. Renaissance - eine größere geistige Kategorie, aus dem Staatsrecht heraus Im Begriff der Staatsrenaissance ist einst versucht worden, eine besondere, konstruktive Kategorie des politischen Denkens zu entfalten. Hier sind diese Ideen der Wiedergeburt wirkmächtiger geworden als sonst irgendwo, mit dem Schwung einer Staatsrenaissance erst hat die Kunstrenaissance immer wieder ihre letzten Höhen ereichen können, weil sie im Letzten ja nicht nur Schönheit wiederbringen wollte, sondern die große Macht. Fast scheint es, als sei in jenem künstlerischen Bereich, welcher früher das Denken in Renaissancen am nächsten gebracht hat, heute dies alles aufgegeben, endgültig vielleicht verlassen: ein Denken in Klassik und Wiedergeburt, in Wiederanknüpfungen und Neubelebungen und Variationen früherer Formen - und doch wird vielleicht auch hier, angefangen mit der „klassischen Moderne", wieder in Kategorien von Renaissance gedacht, nur dass eben die Formen neu erscheinen; in den großen alten Bahnen aber bleibt die Methode, die Schöpfung in der Überzeugung, dass hier etwas geschieht, was eines Tages, in nochmals anderen Formen, doch wiederkommen wird, und was schon heute, oft erstaunlich, anknüpft an Altes. Und dies mag auch im politischen Bereich trösten. Ebenso wie in der Kunst zeigen sich ja auch hier Frontstellungen gegenüber einer Vergangenheit, welche zu Unrecht immer nur mit zerbröckelnder Traditionalität identifiziert, deren belebende, renaissancehafte Kraft nicht mehr erkannt wird. Vielleicht hat auch im Politischen ein Ausbruch in Gefilde einer „modernen politischen Kunst", in ganz neue Gestaltungsformen versucht werden müssen, bevor deren Wiedereinbindung in die größeren Kreisläufe von Renaissancen gelingen kann. Vielleicht wird aber auch hier, gerade in der Gegenwart, Staatsrecht und Verwaltungsrecht, Zivilrecht als politisches Recht und seine vielen politisch relevanten Teilmaterien - wird vielleicht all dies schon geschaffen mit Blick auf einen größeren Ordnungsrahmen, der so entstehen soll, dann auch eines Tages der Wiedergeburt fähig ist. Die Antike hat gezeigt, dass renaissanceträchtige Formen nicht immer von demselben Volk, von derselben Zeit ausgehen müssen, welche sie dann erstmals über die Welt trägt; vielleicht wird heute ein großer Steinbruch politischer Gestaltungen angelegt, den spätere Welten ausgraben und benützen können - und hat dies in der Dritten, Vierten und in folgenden Welten nicht bereits begonnen?

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Wie dem aber auch sein mag - Betrachtungen über Staatsrenaissance stecken immer etwas wie einen Gesamtraum zivilisatorischer Entwicklungsmöglichkeiten ab, in dem dann Renaissancen stattfinden und Möglichkeiten für neue Wiedergeburten geschaffen werden können. In diesem Sinn ist das „Reich" der denkbar weiteste Rahmen für weitere Kulturentwicklungen, die aus seinem Raum herausstrahlen; und nicht umsonst hat alles, was kulturell Größe hat schaffen wollen, sich immer mit dem Lorbeer eines „Reiches der Kunst, des Geistes", schmücken wollen. Wenn es gelingen sollte, einst diese Kategorien der Staatsrenaissance wahrhaft fruchtbar zu machen, so könnte auch der Grund gelegt sein für eine neue Erfassung der Bedeutung des Staatsrechts, dem dann wirklich in unserer Welt jener geistige Primat zukommt, den gerade die Demokratie fordert, aus dem heraus sie ihre Jugend „politisch formen will". Diese Versuche einer größeren, mit einer „politischen Kultur" beginnenden, ins Gesamtkulturelle ausgreifenden politischen Paideia werden immer das Lächeln eines verfeinerten historischen Geschmacks hervorrufen; doch gerade in ihrer gewollten, oft brutalen Primitivität, in den vielfachen Irrungen, welche hier in Kauf genommen werden, mag etwas entstehen wie eine „demokratische Welt auf Wiedergeburt hin", welche eben diese Volksherrschaft schon heute geistig „zu einem Reich im Letzten geschlossen" hat, kann sie sich doch nichts anderes mehr als ihre eigenen Herrschaftsformen vorstellen.

4. Staatsrenaissance - etwas von einer politischen Gottesidee Damit soll der erste Teil dieser Betrachtungen zur Staatsrenaissance schließen, der ihrem Wesen gewidmet war. Hier entsteht, politisch, etwas wie eine „neue Zeit", wie sie schon in allen religiösen Offenbarungen den Menschen immer wieder verheißen worden ist: „Diese Zeit wird nicht mehr sein" - der große SchöpferGott lässt sie in einem wunderbaren Augenblick stillestehen, besser: Er vermag sie in neuer, höherer, paradiesischer Dimension wieder beginnen zu lassen. Darin dann kommt es zum wirklichen Dritten Rom der Offenbarungsreligion: Das Erste lag in der renaissanceträchtigen Schöpfung des Menschen, im Römischen Reich hat es sein Paradies fast wiedergefunden; im Zweiten Rom kam die Erlösung - verwaltet durch das religiöse Reich unter der Kuppel - der Großen Renaissance; das Dritte Rom wird die Renaissance des Geistes bringen, nach dem Ewigen Gericht. Dies alles sind religiöse Bewegungen in Renaissancen, weil der Mensch gerade in dieser Kategorie politisch denken kann, und „politisch" ist eben auch sein religiöses Bemühen im Letzten. Was hier nur mit dürren Worten beschrieben wird, sind letztlich Attribute einer Gottesidee, welche sich in den Menschen durch ihre politische Gestaltung entfaltet. Sie erstehen in diesen großen, imperialen Bemühungen immer wieder von neuem, so wie der Schöpfer sich wieder zum Leben erweckte. Eine große Analogia entis verbindet gerade hier mit der höchsten Idee, welche gedacht werden kann: Die Menschen erfüllen gewissermaßen Seinen Auf-

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trag zur Wiedergeburt auch und vor allem in ihren größten politischen Gedanken; und die große Angst, in der sie ihr requiescat in pace über Gräber schreiben, dass sie nämlich nicht wiederkehren könnten - im Politischen nimmt sie den Menschen ein Denken in Staatsrenaissancen und geschichtlichen Erfahrungen: Hier jedenfalls kehren sie wieder, in ihren mächtigen Aufschwüngen und Anstößen, mögen sie noch solange geschlummert haben. Und gerade Gräber sind doch immer als erste neu entdeckt worden ... Im Renaissancedenken ist dem Menschen also etwas mitgegeben, was voll der christlichen Tradition entspricht: eine Denkkategorie der Begrenzung zum einen, aber mit einem Zug zum Unendlichen. Nicht als ob Menschen ihre gegenständlichen Formen verlassen könnten, ihre kantischen Schranken, doch in ihren Grenzen kehren sie immer wieder, zu stets neuem imperialen Denken. Und darin zeigt sich der größte Anschluss an die Königsberger Philosophie: In all ihrer transzendentalen Bescheidenheit, gerade in ihr, wächst sie in die Transzendenz hinein, in ihr bleibt sie „aufgehängt", auch wenn dieser Punkt unsichtbar bleibt. Wann immer politische Wiedergeburt gefeiert wird - ist darin etwas von einer politischen Gottesidee nahe; es ist nur Postulat, aber der Saum eines Mantels der unendlichen Mächtigkeit - das Reich des gestirnten Himmels.

Β. Die Macht der Staatsrenaissancen I. „Inhaltliche Mächtigkeit der Normen" eine Frage des Staatsrechts Die Frage nach der politischen Mächtigkeit gewisser normativer Entscheidungen wird im Staatsrecht der rechtsstaatlichen Demokratie zuallererst unter formalen Gesichtpunkten gestellt: Die Kraft der einzelnen Rechtssätze kommt in erster Linie aus der Kompetenz des Organs, welches sie setzt, daraus entwickelt sich die Stufenordnung der Gesetze, von der Verordnung bis hinauf zu Staatsgrundsatznormen und Völkerrecht. Die Frage nach der inhaltlichen Mächtigkeit von Normen, danach, ob sie nur deshalb grundlegend für die Gemeinschaft seien, weil etwa ein Verfassunggeber sie gesetzt habe, oder ob nicht vielmehr ihre rechtliche Bedeutung auch aus dem Inhalt selbst heraus wachse - dies führt zu dem vielerörterten Problemkreis der „materiellen Verfassung" eines Gemeinwesens, danach, ob es Grundentscheidungen gibt, die aus ihrem Inhalt heraus als solche wirken. Die Rechtsstaatlichkeit, mit ihrem Zug zur klaren Bestimmbarkeit nicht nur des Begriffsinhalts, sondern auch der Begriffsbedeutung von Rechtssätzen, kann dies nur schwer akzeptieren, scheint hier doch Tür und Tor offen der wertsetzenden Entscheidung, ja der Willkür der normanwendenden Organe. Eine Dogmatik, welche auf der inhaltlichen Bedeutung von Rechtssätzen beruht, ist ohne bestimmte Wertvorstellung nicht denkbar, gegen sie aber richtet sich vor allem das Misstrauen einer liberalen Legalität, welche lieber „reine Verfassungstechnik" in Kauf nimmt als ein Wertdiktat. Dennoch - rein formale Verfassungsstaatlichkeit hat es nie gegeben, das heutige Verfassungsrecht ist von Anfang an gewachsen aus einer Verbindung zwischen dem Formalismus der Normstufen und der Erkenntnis besonderer inhaltlicher Bedeutung bestimmter Rechtssätze. Ohne diese Letztere ist vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht denkbar, welche auf Schritt und Tritt ihre Begründungen findet in der „besonderen Werthaftigkeit" eines Grundrechtsinhalts, in der „Fundamentalität" einer Organisationsnorm für die Demokratie, usw. Sämtliche Abwägungslehren, auf welchen heute das Verfassungsrecht beruht, vielleicht das öffentliche Recht überhaupt, sind im Letzten Ausdruck nicht eines formalen, sondern eines durchaus materiellen, wertmäßig geprägten Rechtsdenkens. Dieses aber stellt vor allem eine Frage: Welches ist die inhaltliche Mächtigkeit einer Norm, ihre Bedeutung für das Ganze der Verfassungs- und Staatsord-

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nung - und damit lenkt eine solche Betrachtung ersichtlich zurück in die Denkformen eines Dezisionismus. In der Verbindung dieser Theorie mit dem NormstufenFormalismus Kelsens ist das heutige Staatsrecht geworden. Wenn in diesen Betrachtungen nach dem Reich gefragt wird, als einer größeren, dauernden Ordnung, so stellt dies die Frage nach einer besonderen, außergewöhnlichen Mächtigkeit politischer Gestaltung. Dies ist keine formalrechtliche Problemstellung, die Frage zielt nicht darauf, ob jene Formen, welche ein Imperium schaffen, nun in Verordnungs-, Gesetzes- oder Verfassungsformen entstehen. Nicht umsonst haben gerade die größten Imperien dieser formalen Frage nicht die entscheidende Bedeutung beigemessen: Weder das Römische noch das Englische Reich kannten einen Verfassungs-Formalismus, und auch das Russische ist davon - im westlichen Sinne - weit entfernt; selbst die Grundlagen eines „Great America" liegen noch jenseits geschriebener Verfassungsartikel. Diese historischen und gegenwärtigen Erfahrungen zeigen: Von zentraler Bedeutung für die Erkenntnis imperialer Mächtigkeit ist die materiellrechtliche Fragestellung, es geht nicht um das Problem, auf welcher „Normstufenhöhe" der betreffende Rechtssatz angesiedelt ist, sondern welche Fundamentalität an Wirkkraft er entfalten kann. Für imperiale Ordnungen ist dies die erste Fragestellung, denn sie leben aus dieser inhaltlichen Grundsätzlichkeit heraus, und rechtsstaatliche Dogmatik schließt sie, wie eben dargelegt, keineswegs aus, vernachlässigt sie allerdings in einem Maße, das es in der Betrachtung der „Mächtigkeit von Rechtsgrundsätzen" zu kompensieren gilt. Dies ist bereits versucht worden in der Betrachtung der „großen Erfolge", des Triumphes einer Staatlichkeit, bei denen sich die Frage einer „Höhe", einer Zugehörigkeit zur Stufe der Gesetze oder der Verfassung, nicht stellt. Hier setzt sich dies fort in einer Untersuchung der Mächtigkeit der Inhalte dessen, was in Staatsrenaissance in eine bestimmte Ordnung zurückkommt oder - herüber aus weiterer Ferne. Und wenn schon eine Anknüpfung an frühere Staatstheorien zu suchen ist, so verbindet sich hier der Dezisionismus mit einer Integrationslehre, die ja auch in erster Linie nach der Kraft der Einung fragt, welche eine bestimmte Norm in der Gemeinschaft entfaltet. In diesem Sinne nun sollen Kapitel über die Macht der Staatsrenaissance folgen. Sie lassen sich nicht immer dogmatisch scharf von Untersuchungen über deren Wesen trennen, doch ihr zentrales Anliegen ist es, einerseits die Fundamentalität solcher Rechtsinhalte aufzuzeigen, zum anderen die politische Kraft, mit welcher sie in der Gemeinschaft wirken, anderes Recht in sich einbinden oder es verdrängen. Darin liegen durchaus auch politologische Fragestellungen beschlossen, doch im Mittelpunkt bleibt immer die staatsgrundsätzliche Frage nach dem Grundentscheidungscharakter und der aus ihm folgenden Gestaltungskraft. Gerade für die Demokratie ist dies ein lebenswichtiges Kapitel von Staatlichkeit: Nicht umsonst sind Wertlehren, materielle Staatstheorien immer wieder in dieser Staatsform entwickelt worden. In dieser Ordnung muss zuerst gefragt wer-

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den, was die Menschen eint und überzeugt zu einer bestimmten größeren Ordnung - und dies bleibt nun von der Staatsrenaissance zu erfragen.

II. Staatsrenaissance - Kraft des „Ursprünglichen" 1. Die Legitimationskraft des „Originären 64 a) Die Unableitbarkeit des Ursprünglichen kommunale Selbstverwaltung als Staatsrenaissance Staatsrenaissance greift fast immer auf etwas zurück, in dem sie „ursprüngliche Grundentscheidungen" sieht. Die großen politischen Bewegungen, in denen sie sich vor allem vollzieht, Revolutionen im weitesten Sinne des Wortes, haben einen selbstverständlichen Bezug zum „Außerrechtlichen": Das geltende Recht mit seiner Tradition führt nicht mehr weiter, alte Grundvorstellungen brechen als neue ein - notwendig mit einer gewissen „Macht des Faktischen", welche das übernommene Recht trägt. „Außerrechtliches" wird oft als „Vorrechtliches" gedacht; in seiner Übernahme liegt dann, ganz selbstverständlich, etwas von der Überzeugung, dass damit Ursprüngliches wiederkehre. Ad fontes wird doch zurückgegangen, und wenn das Übernommene nicht das Originäre wäre - so müsste eben noch weiter zurückgegriffen werden. Nicht um historische Ursprünglichkeit aber geht es dabei, sondern um etwas wie die Suche nach dem „geistig-dogmatisch Originären", eben nach der „Idee der Grundentscheidung selbst", in jener Form, in der sie das erste Mal glückhaft und perfekt hervorgetreten ist; historische Betrachtungen als solche stellt, das zeigte sich schon mehrfach, die Staatsrenaissance kaum an. Das Wiedergeborene ist also immer, in diesem Sinne, etwas Originäres, begabt mit der ganzen, wesentlich aus dem Außerrechtlichen kommenden Kraft dieses Begriffes. Selbst die rechtsstaatliche Dogmatik kommt ohne ihn ja nicht aus, sie erweist ihm ihre Reverenz, indem sie ihn mit etwas wie einer dogmatischen Unaussprechlichkeit, Undefinierbarkeit umgibt. Nicht nur im Grundrechtsbereich zeigt sich dies, in den originären Freiheitsrechten der Bürger - die Staatlichkeit selbst nimmt derartige Ursprünglichkeit für sich in Anspruch und zieht daraus ihre Kraft: Da sind die Kommunen „ursprüngliche" Gebietskörperschaften, werden als solche geachtet, mag auch die Gemeinderechtslehre daraus nur selten Folgerungen im Einzelnen ableiten können; da ist die Staatsqualität der Länder, Grundlage der Theorie eines jeden echten Föderalismus, jene Staatlichkeit, die aus Ursprünglichkeit erklärt wird, weil diese Gebilde eben vor dem Bund da waren. In all dem geht es nicht darum, einzelne Norminhalte zu gewinnen, entscheidend ist das Originäre als „die große Legalitätsgrundlage", die keiner weiteren Begründung mehr bedarf. Das Ursprüngliche bedeutet eben zugleich das Unableitbare, es 25 Leisner

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ist das Schwert, mit dem sich der quälende gordische Knoten der dauernden Frage nach der Legalitätsbegründung mit einem Schlag auflösen lässt. Was solche ursprüngliche Kraft besitzt, bedarf keiner Erklärung und Begründung für seine staatsgrundsätzliche Wirkmächtigkeit, es ist ebenso selbstverständlich zu achten, wie es aus unvordenklichen, letztlich unerklärbaren Räumen in die heutige Staatlichkeit herüberreicht. Der Rechtsstaat nennt es „Kompetenzvermutung", doch es ist weit mehr. Alles, was echte Staatsrenaissance bringen kann, ist immer mit dieser staatsgrundsätzlichen Kraft des Originären begabt, und nicht zuletzt zeigen dies ja die Rechte einer kommunalen Selbstverwaltung, welche, in Deutschland jedenfalls, eine große und dauernde Erscheinung von Staatsrenaissance bedeuten. In diesen Kommunen ist machtvolle Stadtgeschichte in Staatsromantik und sogar in rechtsstaatlicher Staatsgeometrie wieder zurückgekommen, nach der langen Zwischenzeit der absoluten Territorialherrschaft. Auf diese Weise überwindet das materielle Staatsrecht die rechtsstaatlichen Kategorien der Ableitbarkeit, und dies geschieht auf breiter Front in der heutigen Ordnung, denn was bedeutet Selbstverwaltung denn anderes als jene Unableitbarkeit, die sich aus inhaltlicher, historisch begründeter Wirkmächtigkeit über alle Normpyramiden stellt?

b) „Zurück zum ursprünglich Guten " Aus ihrem Ursprünglichkeitscharakter ziehen die Inhalte der Staatsrenaissance nicht nur eine Wirkkraft, welche die formalen Sperren der rechtsstaatlichen Demokratie überwindet, hier wird auch, nach allgemeiner Überzeugung, das „inhaltlich Gute" aus der Ursprünglichkeit heraus erkannt. Man hat dies, fast immer abwertend, Staatsromantik genannt, und in der Tat ist es vor allem bewusst seit den frühen Anfängen dieses Denkens im 18. Jahrhundert, mit seinem „Zurück zur Natur", mit seiner Vorliebe für die „ursprünglichen Zivilisationen", für die „guten Wilden", welche die großen Kapitäne entdeckten. Ihre Reiseberichte sind ja frühe Lehrbücher des heutigen Staatsrechts, so sind sie verstanden, so mit den nordamerikanischen Erfahrungen der Revolutionskriege verbunden worden. Und etwas von dem Originären als einer Wiedergeburt des Guten ist jener nordamerikanischen Gestaltungskraft bis auf den heutigen Tag eigen, die darin gerade „auf Staatsrenaissance hin", d. h. aber eben: wesentlich imperial, schaffen kann, dass dort alles noch immer viel weitergehend in einem „großen Aufbruch", damit aber in einer originären Grundstimmung, geschieht als im kleineren Europa - und in der moralischen Begeisterung, dass dies „gut" sei. Doch auch in Europa hat die staatgestaltende Kraft des „originären Guten" in der Staatsrenaissance sich immer wieder entfaltet, ganz zentral in der Reichsidee selbst. In der stets erneuten Suche nach den größeren Ordnungen eines früheren Reichs lag nicht nur der Versuch, nun gerade das Römische wiederzuentdecken, es ging letztlich um die größere Imperialität als solche, und sie stand eben „am An-

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fang des Bekannten", weil Griechenland, Rom und Christentum hier als etwas wie eine „ursprüngliche Einheit" erschienen; und die Bewunderung der römischen Vorbilder galt in der Größe zugleich ihrer Güte. In Staatsrenaissance kommen, das war die Ausgangsthese, die „guten Staatsformen" zurück - was aber gut ist, war eben „am Anfang", dorthin drängt die Staatlichkeit immer wieder zurück, wo es nichts Früheres mehr, damit auch nichts Besseres geben kann.

c) Die Umkehr der Fortschrittsidee die Erlösung von der „politischen Erbsünde " Der Fortschritt ist nicht nur als Grundlage des Liberalismus, der das gegenwärtige Staatsrecht trägt, etwas wie eine heutige politische Grundentscheidung. Das Bekenntnis zum dauernden Progress zeigt die Kraft, den Willen zu immer neuer, ordnender Gestaltung, ohne ihn ist größere, dauernde Ordnung nicht denkbar. Doch dies darf keine Einbahn bleiben, und gerade die Staatsrenaissance ist der breite Weg in die andere Richtung, aus dem heraus allein sich dann letztlich die größeren Ordnungen in Kreisen schließen lassen. „Vorwärts in Fortschritt" - aber auch „zurück zu den Quellen" - in dieser Verbindung allein lässt sich das ganz große Neue schaffen. Nirgends ist es klarer hervorgetreten als in jener Französischen Revolution, welche die ursprünglichen, die so lange Zeit vergessenen Rechte wieder ausgraben wollte. Neuschöpfung mit der Kraft des Ursprünglichen - in dieser Urkraft sucht die politische Gestaltung etwas wie eine Erlösung von der politischen Erbsünde, von dem Komplex der Epigonen, der die Demokratie immer quält, den sie in ihrem Fortschrittsoptimismus nur mühsam überspielt. „Irgendwann" war da eben ein Abfall von großen und glücklichen Gestaltungsmöglichkeiten, von einem „natürlichen", in diesem Sinne geradezu paradiesischen Leben, die gegenwärtige Generation erlebt es, aus ihrer industriellen Perfektion heraus, gerade in der Umweltbewegung. In jeder Staatsrenaissance ist etwas wie ein Versuch der Rückkehr ins Paradies, die langen Irrungen der Zwischenzeiten, der Mittelalter, sollen übersprungen werden - in neuer Ursprünglichkeit, hier gewinnt das Wort seinen Sinn. Originär - das ist kein schlechter Begriff des Staatsrechts, des Rechts überhaupt, immer will in ihm das Recht über sich selbst hinauswachsen, der Jurist sich vielleicht - von seinem Recht erlösen. Und dieses große Wort der Erlösung von einer Folge post-originärer Irrungen verleiht zuallererst der Staatsrenaissance ihre Macht.

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2. Überwindung der Dekadenz in wiedergeborener Staatlichkeit a) Die politischen Dekadenzängste Dass Staatsrenaissance mit der Kraft des Originären auftreten kann, ist eine Seite - die andere bedeutet, dass hier die immer stärkeren Dekadenzängste entwickelter Staatlichkeit überwunden werden. Dies alles steht wohl in einem gesamtkulturellen Rahmen. Da wird der Untergang des Abendlandes beschworen, noch genereller der ständige und notwendige Energieverlust des Geistigen in allen älteren Gemeinschaften. Eine nähere Untersuchung der Dekadenztheorien, welche hier auch nicht ansatzweise geleistet werden kann, würde wohl zeigen, wie sehr dies alles mit der Verfeinerung der Kritik einhergeht, in welche jene Kräfte geworfen werden, die dann naiver Schöpfung nicht mehr fähig sind. Erstaunlich ist jedenfalls, dass im Grunde dieses Dekadenzproblem nicht nur in jenem 19. Jahrhundert auftritt, welches sich in ihm zerquälte; hat nicht schon die Antike sehr bald und deutlich den Abfall von den größeren Gestaltungen gefühlt, ist nicht etwas wie ein Homer-Komplex der ganzen Kulturentwicklung eigen? Doch hier beschäftigt nur die politische Seite, welche die Dekadenzangst seit einigen Generationen besonders hoch gesteigert hat. Es ist etwas eingetreten wie eine Kompensation des nationalistisch-demokratischen Staatsoptimismus durch niederdrückende Formen ständiger Dekadenzbeschwörungen, das eine steigert sich geradezu am anderen spiralförmig hinauf, und so ist es nur selbstverständlich, dass die Unregierbarkeitstheorien und die vielkritisierten Kassandrarufe unserer Zeit mit ihrer „Politikverdrossenheit" jenem immer stärkeren und naiveren Optimismus gegenüberstehen, in welchem eine mit einem Mal reich und mächtig gewordene breite Masse nicht etwa den Aufstand probt, sondern ihr Reich erreicht sieht. Doch das bekennerhafte Eintreten für die „Demokratie", in welcher Form immer, jene lautstarken Selbstverständlichkeitslehren, welche überall nur mehr Züge abfahren sehen, auf welche es noch möglichst rasch aufzuspringen gilt, die Formen demokratischer Radikalkritik an allem, was von der Volksherrschaft entfernen könnte, so wie man sie eben gerade versteht - auch dies ist nur Ausdruck der demokratisch-politischen Dekadenzängste, sonst wäre diese Apologetik bescheidener, nuancierter, oder sie würde doch das Risiko einer Auseinandersetzung mit Gegentheorien in der ruhigeren Vornehmheit der Formen des 19. Jahrhundert eingehen. Ausdruck dieser Sorgen ist im Staatsrecht vor allem die immer deutlichere Hinwendung zu formalisierenden Betrachtungsweisen, die „ausklammern", was sich an Fehlentwicklungen gerade in der verfeinerten demokratischen Verfassungsordnung so leicht feststellen lässt: Clanbildungen bis hin zu Mafien, welche die formalen Machtwechsel-Mechanismen unterlaufen, Privatisierungen und Personalisierungen, ja Appropriierungen der Macht.

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Auf einem Wege vor allem versucht nun die liberale Demokratie dieser ganzen Dekadenz-Problematik, der Erkenntnis der Abschwächung ihrer politischen Gestaltungskraft, mit einem Mal zu entgehen: indem sie überall Freiheit setzen will, Verlust der Ordnung, bis hin zu Institutionalisierungen rechtsfreier Räume, ja von Anarchien. Es bedarf keiner Ordnung, daher ist der Verlust der Ordnungskraft nicht nur unschädlich, er ist selbst das große Gute, welches endlich gekommen ist. Mit einem Salto mortale wird die eigene Schwäche zum großen Erfolg. Die Dekadenzängste aber bleiben, die Ordnungskräfte müssen zurückgeholt werden, der Staat besinnt sich auf echte Ursprünglichkeiten, nur so kann er Terror und Gewalt überwinden. Etwas wie viele kleine Staatsrenaissancen - Wiedergeburten einer natürlichen Staatsgewalt - vollzieht sich gerade in einer Gegenwart, welche den Becher der Anarchie da und dort schon fast bis zur Neige getrunken hat. Diese Zeiten werden dann übersprungen, in einem ganz „natürlichen", gar nicht näher begründeten Rückgriff auf die ordnenden Notwendigkeiten des Zusammenlebens, bis hin zu scharfen Formen der Polizei, wie sie liberal geprägten Perioden undenkbar erschienen wären. Die Dekadenzängste der Demokratie bringen also täglich Staatsrenaissancen in vielen Formen, in Rückgriff auf eine Ursprünglichkeit, welche sich nicht mehr erklären muss. Und nicht zuletzt waren es ja die großen Renaissanceversuche der Faschismen und Kommunismen, aus denen heraus die quälenden Dekadenzsorgen des 19. Jahrhunderts in Taten „überwunden" werden sollten, nachdem sie in Gedanken nicht zu besiegen waren.

b) „Normative Dekadenz " - Notwendigkeit des Rückgriffs auf übernormative Staatsrenaissance Im eigentlichen Zentrum, in der Normativität der Gesetze, gerät die heutige Volksherrschaft in ihre vielleicht größten Dekadenzängste. Hier wollte sie ein Recht des vergeistigten, systematisierten Willens errichten - und nun sieht sie gerade in diesem Mittelpunkt überall Krisen: Da ist die Überlastung des normschaffenden Parlaments, da werden die Sorgen einer immer weiter zementierten Verfassung laut, die dann „geöffnet" werden soll - und alsbald dem Interpreten zwischen den Händen zerrinnt; da ist vor allem die steigende Normflut, der mit keinem Dammbau entgegengetreten werden kann. Sind all dies nicht im Grunde Niedergangserscheinungen, ein Abfall von der großen Gestaltungskraft der Virtualität der Gesetzesformeln, welche nun immer weiter und bis zum Überdruß sich selbst verdeutlichen müssen? Und setzt sich all dies nicht im Abfall von der Kraft des Richterrechts fort, der auch die angelsächsischen Regime nicht mehr verschont? Die Pandektistik schon, eine doch so glücklich erscheinende Zeit der Rechtsrenaissance, hat diese Ängste gefühlt, sie gerade in Wiedergeburten überwinden wollen, in einem Rückgriff auf glücklichere Zeiten. In ihnen gab es, so meinte man, den Beruf zur wahren Gesetzgebung, nicht aber für die décadence des

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19. Jahrhunderts. In dieser Zeit bereits kamen Sorgen am politischen Horizont herauf, dass der naive Optimismus der Kodifikationsidee die zerfließende Weichheit des Niedergangs nicht in das Erz der Tafeln bannen könne, gerade daraus sollte ausgebrochen werden, in der Wiedergeburt des Ursprünglichen. Kein Zufall war es wohl auch, dass diese Renaissance sich vollzog in einem Rückgriff auf etwas im Letzten nicht-Normatives, auf das Richterrecht der Römer. Von dem in Inhalt und Form „ganz Anderen", weil eben Ursprünglichen, wurden die heilenden Kräfte einer neuen nicht nur Rechts-, sondern auch Staatsgrundlegung erwartet. Gerade die Renaissance des römischen Staatsrechts, in ihren verschiedenen Stufen oft fast parallel zur Entfaltung der demokratischen Staatlichkeit, brachte immer wieder neue Versuche eines Zurückgehens auf das „noch Ursprünglichere": „Grandeur et décadence des Romains" war eben ein wahres Programm dieser Staatsrenaissancen - man wollte zurück zu dem Ursprünglichen, das Rom mächtig gemacht hatte, und seit der großen Renaissance wurde dieses Zurückgehen auf die „frühere, die ursprüngliche Antike" das Bildungsprogramm unzähliger Gymnasien und Universitäten, geradezu der Bildungskonsens Europas - damit aber weithin ein Rückgriff auf etwas wie „vornormative Staatlichkeit". „Zurück zu altem Recht als dem besseren", Überwindung der Dekadenz in Ursprünglichkeit, des normativen Niedergangs in übernormativem Richterrecht oder in übernormativer Staatsgrundsätzlichkeit: Das sind seit Jahrhunderten die juristischen Programme und Rezepte gewesen, mit denen man sich aus der Misere gegenwärtiger Anarchie in eine angebliche oder bessere Welt zurückwenden wollte. Je stärker die heutige Volksherrschaft von solchen Dekadenzängsten gequält wird, um so mehr wird sie die Kraft des Rückgriffs und des Ausgriffs entwickeln.

3. Staatsrenaissance - „im Sprung" das Ursprüngliche erreichen Was wiedergeboren werden soll, hat also immer etwas Originäres an sich, und damit erweist sich wieder: es ist im Letzten etwas Postuliertes, nicht etwas Sicheres, Beweisbares. Heute muss es „neu geschaffen werden", rein historisch ist es nicht zu belegen, als solches könnte es auch von Dekadenzen nicht heilen. Eine schwächer werdende Gegenwart - und von welcher gilt das nicht? - kann immer nur in einem „großen Sprung zurück" das Ursprüngliche erreichen, dies gehört geradezu zu ihrem und zu seinem Wesen. Im Originären muss das Heute neue Schaffenskräfte finden, „reiner Rückgriff 1 kann nie genügen, in ihm würde sich die Gegenwart ja ihre eigene Schwäche eingestehen, auf Tatenlosigkeit hin. Ein Klassizismus, der nur zurückgreift, ist in wenigen Jahren erstarrt, künstlerisch ist es immer wieder erlebt worden. Das Ursprüngliche muss im Sprung erreicht werden, weil es, nicht zeitlich vielleicht, wohl aber immer geistig, „so weit doch entfernt ist", gerade aus dieser Dis-

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tanz heraus fasziniert. Wenn diese Entfernung nicht historisch nachweisbar ist, so muss sie erfunden werden. So mag es dann geschehen, dass die historische Anknüpfung fast völlig entfällt oder verdämmert, dass man modernen Anarchien gegenüber auf „eine Staatlichkeit" zurückgreift, die „doch irgendwie gewesen sein muss", auf Kompetenzen, welche „doch notwendig zu diesem Staat gehören" dahinter steht, unausgesprochen, das selbstverständliche Postulat einer ursprünglichen Ordnungskraft, die in Dekadenz nur vergessen worden ist. Das Ursprüngliche ist eben im Letzten keine rein zeitliche Kategorie, vielleicht ist in ihm überhaupt nichts Temporäres, sondern nur etwas Dogmatisch-Zeitloses: Entfernt ist es, vor allem aber herausgehoben, und „vor ihm ist keine Zeit" - also auch nach ihm nicht, es muss daher wirklich nicht in den kleinen Schritten der Zeit sondern im großen Sprung der Überzeitlichkeit erreicht werden. Hier findet sich erneut ein Zeichen für die besondere Zeitdimension aller Renaissancen. Vor allem aber hat die Politik des Heute, welche übernehmen oder ausgreifen will, niemals die große, lange Zeit einer wahren Re-Evolution, welche sich langsam wieder früheren Zuständen nähern könnte. Hier zeigen sich historische Illusionen: Sie möchten es ja wohl nahe legen, dass in der selben Kontinuität, in welcher man sich von „ursprünglichen", glücklicheren Zuständen entfernt hat, wieder die Rückbewegungen einsetzen, und dies war vor allem ein geistiger Grundfehler jener Restauration nach der Französischen Revolution, welche aus historischen Erkenntnissen ihrer Zeit heraus die langsame Rückbewegung aus der Gewaltsamkeit der Umwälzung wollte. Frei von diesen Illusionen ist auch die deutsche romantische Staatslehre nicht geblieben, als sie im Rückgriff auf die vielen Jahrhunderte mittelalterlicher Reichsentwicklung einen Gegenpol setzen wollte zu dem, was der revolutionäre Rationalismus in wenigen Jahren zerstört und gebaut hatte. All dies widerspricht der Unruhe und Ungeduld einer Politik, welche sich gerade in der demokratischen Dynamik zeigt. Sie „hat keine Zeit", langsam den Strom wieder hinaufzuschwimmen, der sie in Dekadenz heruntergespült hat, sie muss heute und jetzt agieren, in einer großen Modewelle nur kann sie sich zurück- oder in fernere Gefilde hinaustragen lassen. Nicht was wiedergeboren wird, muss notwendig Größe haben und zeitübergreifende Dimension, entscheidend ist der Vorgang einer Renaissance, die nie in einem kleinen Sprung das Ursprüngliche erreichen kann. So erklärt sich denn auch, dass so oft nicht das Ergebnis einer Staatsrenaissance zählt, sondern der große Aufschwung, der mächtige Sprung, in dem hier Ursprünglichkeit erreicht werden sollte. In ihm entbinden sich Kräfte, welche dann auch völlig Neues hervorbringen können, der zurück oder nach außen gerichtete Sprung trägt so oft dann wirklich nach vorne. Dass Inhalte weniger zählen als Formen im größer gestaltenden Staatsrecht, wird hier eindrucksvoll bewiesen; was lässt sich oft schon an einzelnen Übernahmen nachweisen, im Staatsrecht eines Napoleon oder des Faschismus? Was zählte, war der große Aufschwung zurück zu einem Ursprünglichen, das, als Kategorie erkannt, mit Macht in den Gesetzen der Gegen-

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wart wirkt; und so werden sie geradezu oft durch eine Staatsrenaissance wieder „formal verursprünglicht" - was dem Inhalt nach „nicht stattfinden konnte". War es übrigens nicht immer so, dass im Letzten die ursprünglichen Formen zählen, nicht die Inhalte, und macht hier nicht, um dieses Kapitel abzurunden, auch die inhaltliche Kraft der Staatsrenaissancen wieder ihren Frieden mit dem tieferen Formalismus allen Rechts - indem sie die Kategorie des Ursprünglichen entdeckt?

III. Die Naturrechtskraft der Staatsrenaissance 1. Wiedergeborene Staatlichkeit: historisches Naturrecht „Natürlichkeit", Umwelt Was hier als Staatsrenaissance beschrieben wird, stand vor einigen Jahrzehnten im Mittelpunkt des rechtsgrundsätzlichen Interesses, deckte sich weithin mit dem, was bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als „historisches Naturrecht" behandelt wurde. Die positiven Rechtsgrundlagen waren in Deutschland zusammengebrochen, in vielen anderen europäischen Ländern erschüttert. Zunächst suchte man Halt in dogmatischer, vor allem christlich-kirchlich begründeter Naturrechtlichkeit, um Neues aufzubauen, aber auch um das Frühere verurteilen zu können. Bald jedoch, mit den Anfängen eines neuen Positivismus, aus der Abschwächung einer durch Krieg, Leiden und Zusammenbruch neu bewusst gewordenen Religiosität, kam es, vor allem im Zuge einsetzender wissenschaftlicher Bemühungen, zu einer Wende, wie sie sich schon nach dem „systematischen Naturrecht", zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vollzogen hatte: Die Naturrechtsidee als solche wurde nicht aufgegeben, doch sie sollte nun historisiert werden, gelöst von der Wertdogmatik des Christentums. Weit hat diese Strömung nicht tragen können, sie verlor sich einerseits in dem steigenden Rechtspositivismus der neuen rechtstechnischen Ordnungen, zum anderen wurde sie bald überholt durch neoliberale, vor allem aber neosozialistische, ja marxistische Richtungen, welche eine neue Staatsdynamik brachten, dadurch den naturrechtlichen Historismus verdrängten. Manches von ihm ist jedoch auch heute noch lebendig, insbesondere in der Legitimationsgrundlage der Grundrechtlichkeit, der Rechtsstaatlichkeit, aber auch gewisser sozialstaatlicher Postulate. Sie alle glaubte man eben damals - und noch heute - immer wieder in der Geschichte entdecken zu können, in historisch gewandelten relativierten Formen sicher, aber doch in ihrem Kern stets und unwandelbar vorgegeben. Dies alles sind nur andere Worte für Staatsrenaissance. Sie zeigen aber, mit welch naturrechtlicher Kraft solche Bewegungen immer wirken: Was oben als die Kraft des Originären erkannt wurde, gewinnt hier einen weiteren, stets besonders überzeugenden Aspekt: den der Natürlichkeit. Was am Anfang war, unabgeleitet, ursprünglich bestehend, das kommt doch jener Natur am nächsten, in welcher auch Nicht-Gläubige noch etwas Göttliches anerkennen und in der Politik bejahen dür-

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fen. Seit Rousseau ist gerade in der demokratischen Staatsdogmatik diese Kraft des Ursprünglichen als eines Ausdrucks des Natürlichen ungebrochen, sie ist eine der Grundlagen der Volksherrschaft selbst. Sie verharrt nicht in einer unklar-historisierenden Suche nach „Originärem", der Anschluss an den wesentlichen dogmatischen Begriff des Natürlichen wird gewonnen - und eben des Naturrechts. Dahinter steht dann, auf einer zweiten Stufe sozusagen, die weitere These, dass das Erstgedachte stets das Richtige sei, damit aber das politisch Gute, oder diesem doch am nächsten komme: das erscheint dann als eine kulturelle und damit eben auch als eine politische Erfahrung. Die ungebrochene Natur - und hier wird ja die christliche Erbsünde ebenso geleugnet, wie sie in Staatsrenaissance stets überwunden werden sollte - bringt das Gute schlechthin hervor, und Überzeugungsströmungen dieser Art treten im Abstand von einer oder zwei Generationen immer wieder auf, in der Jugendbewegung und heute in der Umweltbewegung ist es erlebt worden. Die „Natur" ist das jedenfalls politisch Gute, und deshalb kommen die „natürlichen Staatsformen" immer wieder zurück - in Staatsrenaissance, und sie wirken mit der Kraft eines Naturrechts; wäre dem nicht so, es gäbe heute keine Demokratie mehr. Ein weiteres Axiom schließlich steht hinter diesem historischen Naturrecht: Was immer wieder gedacht werden, stets von neuem begeistern kann, wie es die Politik eben verlangt, muss das Richtige sein, so wie Aristoteles schon das Wesen des Erhabenen in dem immer wieder und unverändert Ergreifenden und Begeisternden gesehen hat. Darauf baut auch alle historische Naturrechtlichkeit auf: Unwandelbar und daher stets der Wiederkehr fähig ist das Ursprüngliche als das Natürliche, das Erstgedachte als das Richtige, das immer wieder zu Denkende als das wahrhaft Gute. So ist denn das „Natürliche" zur großen Kraft der Staatsrenaissance immer wieder und gerade in einer Gegenwart geworden, in welcher etwa mit solchen Kräften neue, internationale Grundrechtsrenaissance voranschreitet, getragen von der jungen amerikanischen Imperialität, vor allem aber das Umweltbewusstsein. Historie ist nur Ausdrucksform, im Grunde steht die Zeit still, wenn das historische Naturrecht zurückkommt; den Begriff der Renaissance mag man nicht kennen oder ignorieren wollen, eine volle Absage an dieses historisch relativierte Naturrecht wagt niemand. Nach wie vor ist es vor allem getragen von den christlichen Kirchen, welche hinter dieser Geschichte ihren Gott als den höchsten Gesetzgeber verbergen und dann doch immer wieder erscheinen lassen können. Doch weit darüber hinaus: Wo immer heute noch religiöse Kräfte politisch wirken können, da sind entscheidende Inhalte dieser historischen Naturrechtlichkeit lebendig, da kehren sie mit der Kraft nicht nur des Alten wieder, sondern mit der Sicherheit einer Nähe - im islamischen Bereich ist das Wirklichkeit geworden. So wird denn die Staatsrenaissance zur Kategorie des Einbruchs religiöser Naturrechtsvorstellungen auf breiter Front in gegenwärtige Politik, gerade in ihren säkularisierten Formen der Volkssouveränität sehnt sich diese geradezu nach solcher transzendenter Legitimation.

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Und es sind ja nicht nur religiöse Kräfte, welche so in Staatsrenaissance entbunden werden. Das historische Naturrecht schiebt sich mit der List einer bescheidenen Vernunft in die positiven Rechte neuerer Staatsformen und vor allem der Demokratie: Seine Inhalte und Grundstimmungen vermittelt es ihnen ganz so als ob da nichts „übernommen", nichts nachgeahmt werde, ungebrochen bleiben Selbstbewusstsein und eine Dynamik, der jede schaffensfrohe Staatlichkeit bedarf. Sie kann sich der Illusion hingeben, sich hier nicht aus eigener Schwäche anlehnen zu müssen, vielmehr im ganz großen Strom der Zeiten in Stärke zu stehen. In dieser Überpositivität des Naturrechts schreitet die Staatsrenaissance fast unbemerkt hinweg über die positivistischen Mechanismen von Verordnung-, Gesetzund Verfassunggebung - all dies hat keine Bedeutung mehr gegenüber ihren überpositiven, im Letzten sogar übernormativen Inhalten. Staatsrenaissance - dieses Wort will eigentlich nur eines fortsetzen, was nach 1945 in der Wende vom dogmatisch-systematischen zum historischen Naturrecht wieder vollzogen worden ist: eine Säkularisierung des Naturrechts, die seine eigentlichen Kräfte nicht in einer göttlichen Idee sieht, sondern in der Kraft der ewigen Wiederkehr; und wenn dann auch hier Religiöses mitgedacht werden sollte, wie in so mancher Umweltbegeisterung - um so besser, um so stärker für eine solche Politik!

2. Das Naturrecht - stets Staatsrenaissance In der Geschichte war stets Naturrecht zugleich Staatsrenaissance. Wo immer man bedeutender Naturrechtlichkeit begegnet, ist sie als eine Wiederkehr verstanden worden, als eine Wiedergeburt besseren Rechts. Die „ursprünglichen" Gedanken, in denen ein ius naturae auftritt, sind ja eng verbunden mit jenem ius gentium, in dem schon die Antike zwischen den Menschen Ordnungen durchsetzen wollte, welche auf göttliche Setzung zurückgingen - aber auch deshalb Geltung beanspruchten, weil sie eben überall, immer gegolten hatten. Das „von Natur Gute" konnte gerade in der platonischen Philosophie eingebettet werden in geradezu biologistische Naturvorstellungen, in der sokratischen Maieutik wurde es wieder ans Licht gebracht in einem echten und auch so bezeichneten Geburtsvorgang. Immer wieder erscheint in den Dialogen der Rückgriff auf jene göttliche Welt, in welcher solche Ordnungen erstmals gegründet worden seien, welche es nun gelte, in oft schmerzvollen Geburten in die Zeit der Menschen zu übertragen, eben als das „natürlich Gute" der Politik. Noch deutlicher und bereits voll bewusst wirkt die Scholastik des Mittelalters als ein mächtiger Renaissancesprung, zurück zu den Vätern, zur aristotelischen Philosophie, zu den biblischen Ursprüngen. Die Zwischenzeiten existieren nicht mehr, und diese Wiedergeburt wird voll in das System des Naturrechts gestellt und soll mit der Kraft seiner Legitimation wirken. Erstmals wird ja auch die große Wende gerade zur Staatsrenaissance vollzogen: Thomas von Aquin, die Scholasti-

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ker späterer Zeit und die bedeutsamen neoscholastischen Richtungen des 20. Jahrhunderts sind stets vom philosophisch-Kulturellen zur ganz klaren, ja harten Staatsrenaissance vorgedrungen. In dieser Tradition steht die große imperiale Dogmatik des Aquinaten, aus ihr schöpft die Theorie des Absolutismus, ohne sie ist keine Lehre vom Reich denkbar - und sie hat, aus katholischer Sicht, die soziale Demokratizität unserer Tage geprägt. Die katholische Soziallehre ist in diesem Sinne eine spätere Form der scholastischen Staatsrenaissance ebenso wie das ständestaatliche Denken der katholischen Staatstheorie, das noch immer wirksam ist. Dem Historiker mag das Urteil darüber bleiben, ob nicht im Grunde die große Staatsrenaissance längst vor der großen Kulturrenaissance stattgefunden hat, in den tausend Kanälen der Kirchlichkeit ständig wiederkehrend, immer als eine echte Renaissance: Von der Erde in die Unendlichkeit Gottes - von dort erst, vom Herrn des Lebens und der Wiedergeburt, kommt alles „ganz neu" zurück. Das klassische Naturrecht der Aufklärung bedeutete vor allem Wiedergeburt, Verfassunggebung erschien nur vorstellbar als eine Renaissance des Contrat social. Und die Staatsrenaissance als Naturrecht gewann eine neue, vor allem rechtlich bedeutsame Dimension: Es waren nunmehr nicht nur die Inhalte vor allem, wie in der scholastischen Philosophie, in denen größeres Staatsrecht wiedergeboren wurde, mächtig beginnt die „Wiedergeburt der Verfahren", des ursprünglichen Zusammentretens des Volkes - daraus ist heutige Demokratie geworden. Im Naturrecht wird die Staatsrenaissance voll dogmatisiert und darin erst ganz wirksam, weil sie sich von allen historischen Relativierungen und Schwächlichkeiten zu lösen glaubt. „Historisches Naturrecht" - dies ist ja ein Wort für die Wissenschaft, in der Praxis der Politik fällt das historische Beiwort rasch ab, es bleibt die harte, überpositive rechtliche Verbindlichkeit dessen, was immer war und deshalb eben auch heute gelten muss. Naturrechtlichkeit hat daher stets mit Staatsrenaissancen begonnen, sie bedeutet aber auch deren Weiterdenken, ihre Systematisierung; und nicht zuletzt deshalb konnte sich so leicht dieser mächtige Strom des aufklärerischen Naturrechts verbinden mit der historisierenden, antikisierenden Staatsrenaissance des Römischen in der Französischen Revolution: Zwei große Geleitzüge des Naturrechts folgten einander und holten sich ein, das systematische Naturrecht blieb mächtig, weil es im antiken Historismus wissenschaftliche Begründungen und Begeisterungen noch für Jahrzehnte fand. Wer hier soviel von Staatsrenaissance hört, möchte vielleicht dahinter zunächst nichts anderes sehen als Romantisierungen, Übersteigerungen gewisser längst vergangener Entwicklungen, von welchen die Gegenwart sich endgültig abgewandt hat. Die Verbindung zum Naturrecht vor allem zeigt aber die Lebendigkeit, gerade die demokratische Wesentlichkeit solcher Phänomene. Hier sollte ein - auch einmal entzaubernder - Beitrag zur Erkenntnis dessen geleistet werden, was im Grunde doch hinter den immer neuen Schüben des Naturrechts, der Natürlichkeit des Retour à la Nature steht: die Wiederkehr der guten Staatsformen - und ist sie nicht geheimnisvoll genug?

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Wenn das übrigens Wege zum Reich sind, so bedeuten die Ergebnisse dieses Kapitels auch eine Absage an ein rein historisierendes Reichsverständnis, wie es zuzeiten in der deutschen Wissenschaftlichkeit des 19. Jahrhunderts gepflegt worden ist: Nur wer naturrechtsbewusst politisch Ordnungen gestaltet, kann sie zu Größerem empor bauen, und da waren der politische Katholizismus und der Sozialismus letztlich stärker als historisierender Konservatismus der Wilhelminischen Periode - in ihnen waren Wiedergeburts-Kräfte der Scholastik lebendig und des begeisternden Sozialvertrags.

3. Staatsrenaissance - gerade ein demokratisches Naturrecht Betrachtet man Naturrechtlichkeit als Form der Staatsrenaissance, so gibt es wohl keine Staatsform, die sich besser darauf berufen könnte als die Volksherrschaft, welche sie zwangloser in ihre geistigen Räume aufnimmt; deshalb ist gerade heute die Zeit der Staatsrenaissancen, wieder einmal, gekommen. - In der Wiedergeburt des Fernen werden Normen nicht gesetzt von der Legislative der Gegenwart - und doch bleibt die Gesetzesvorstellung lebendig: Diese Gedanken kommen ja, wenn auch vielfach gebrochen, von einem früheren Gesetzgeber, irgendwie findet hier doch jenes Abschreiben solonischer Gesetze statt, welches mit den Zwölf Tafeln der römischen Imperialität in Verbindung gebracht wurde. Erreicht wird hier nicht der Bruch der Normativität, sondern eine Form der Übernormativität; die Entpersonalisierung, welche die Demokratie von den Normen erwartet, wird in der Staatsrenaissance nur noch gesteigert: Der frühere Gesetzgeber verdämmert vollends. Und doch bleibt das Entscheidende: Naturrecht als Ausdruck einer Gesetzgebung, anders können Demokraten nicht denken. - Die säkularisierte, laizistische Demokratie mit ihrer Religions- und Gewissensfreiheit darf ein christliches, religiös fundiertes, dogmatisches Naturrecht nicht übernehmen; frei ist sie jedoch in der Wiedergeburt eines Naturrechts, in dem „doch nur Historie zu wirken scheint" - mag es sich dann auch rasch in demokratische politische Transzendenz verwandeln. Gott und Erlösung sind hier politisch nicht denkbar - die gute Staatsform und ihre Wiederkehr sind dafür die säkularisierten Worte. - Rationales allein kann die Volksherrschaft anerkennen, Rationalisierbares; und dem widerspricht ja keineswegs eine Naturrechtlichkeit, welche mit dem Anspruch der reinen Vernünftigkeit einhergeht. Auch hier ist die Staatsrenaissance die beste demokratische Naturrechtsform, scheint sie doch nicht nur rationalistisch zu postulieren, bedarf sie doch nicht der Axiome einer Staatsmathematik. Sie greift auf fernes Bestehendes zurück, in dem sich Vernunft entfaltet hat, alle Vorgänge dieser Wiedergeburt sind letztlich - ein höchst vernünftiges Verfahren des historischen Experiments; so wird hier Dünnblütigkeit und Bestreitbarkeit

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der reinen Rationalität überwunden. Hätte man nur „reine Regeln" dem Volk von Frankreich präsentieren wollen, ohne die begeisternden Zeichen und Trophäen der Römerzeit - es hätte weder rationalistische Revolution noch napoleonische Staatsgeometrie geben können. - Die Demokratie ist die Staatsform der Unterbrechung, aus der sie, in Machtwechsel und fortwirkender Kontinuität, ihre dynamischen Kräfte zieht. Nur ein Naturrecht, das sterben und dennoch wiederkommen kann, ist ihr wahrhaft gemäß; was immer gelten will, unwandelbar in einen göttlichen Willen geschlossen, muss ihr so suspekt bleiben wie die ewige Herrschaft eines Sonnenkönigs. Die Staatsrenaissance hilft ihr, mit der Macht eines „intermittenten Naturrechts", das kommt und geht, das heute bekämpft werden mag und doch eines Tages zurückkehrt, begeistert verehrt von eben jenen, welche es geschlagen haben. Diese höheren Formen der Wandlungsfähigkeit, in denen die Demokratie sogar menschliche Charakterlosigkeit akzeptiert, zuzeiten zur Staatsgrundlage macht - dass nämlich trotz aller inneren Kämpfe die große Kontinuität aller Demokraten bleibt: das alles spiegelt sich wieder in Staatsrenaissance, welche auch das einst Bekämpfte, ja Verachtete wieder als etwas Wertvolles zurückkommen lässt; die Rückkehr des Caesarismus im republikanischen Frankreich, das in seinem präsidentiellen Regime mit ihm Frieden schließt, hat es bewiesen. - Flexibilität ist das Wesen eines demokratischen Regierens, das eben täglich „seinem Volk etwas zur Gestaltung präsentieren muss", damit es sich im plébiscite de tous les jours bestätige - und doch müssen die Rahmen fest sein, die höhere Verfassungsidee hält sie. Staatsrenaissancen sind all dessen mächtig, sie führen Naturrecht auf diesen beiden Ebenen in die Demokratie ein, ebenso wohl in den großen, verfassungsähnlichen Grundstimmungen als auch in der täglichen Dynamik einer Rückkehr zu früheren, besseren Naturzustände. Die Wiederkehr „guter Staatsformen" bricht zwar im Letzten blockhaft ein in eine gegebene Welt, doch aus diesem Felsen strömen viele Wasser, welche die Demokratie in täglichem Bemühen kanalisieren, unter das Volk verteilen kann. Demokratisierungsbewegungen sind in diesem Sinne selbstverständlich und nützlich, denn hier muss der rocher de bronze in kleine Münze gewechselt werden, die mächtige Verfassunggebung mit ihren naturrechtlichen Ansprüchen gilt es ständig neu zu beleben - und auch darin, in diesen Bewegungen, wie sie in Deutschland und Italien nach 1945 immer wieder gefordert und auch vollzogen worden sind, läuft etwas ab wie ein weiterer Akt einer naturrechtlichen demokratischen Staatsrenaissance. - Für die Demokratie kann nur gelten, allein natürlich sein, was „vom Volke ausgeht" - die Staatsrenaissance darf ihr auch dies schenken. Was in Wiedergeburt zurückkehrt, von anderen Völkern weither übernommen wird, kann doch leicht gedeutet werden - und so geschieht es in der Tat - als etwas auch dort schon vom Volk Ausgegangenes, als eine Ordnung, in der sich vielleicht nicht die Pro-

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letarier aller Länder, wohl aber die Völker aller Zeiten und Zonen vereinen. Nicht umsonst sind Rechtsinhalte, welche in Staatsrenaissance zurückkamen, wie etwa in der katholischen Naturrechts- und Soziallehre, geradezu typische Inhalte demokratischen Naturrechts geworden, eben weil hier Staatsrenaissance stattfand. Selbst in früherer „östlicher Demokratie" wurde der Anschluss an die Volksherrschaft in der Staatsrenaissance des „früher Volks-Russischen" erreicht. Und dies kann bis zum Staatskulturellen hin fortgesetzt werden: Versailles und die anderen Schlösser, eines Tages vielleicht auch noch Kirchen und Kathedralen, mögen dann ja, in ihrer Staatskunst, ein lebendiger Ausdruck der ständigen Wiederkehr dessen sein, was früher schon „das Volk" geschaffen hat: Räume, in denen deshalb das Volk von heute sich versammeln soll, dieselbe eine, wiedergekehrte Staatlichkeit - ist doch alles und von jeher vom Volk gekommen. - Das Naturrecht hat immer gewirkt mit der Kraft einer Doppeldeutigkeit, stets war es angesiedelt zwischen der Dogmatik der ohne weiteres einsichtigen Vernünftigkeit und dem Historismus des immer wieder Kommenden, zwischen der Güte eines göttlichen, die Geschichte durchwaltenden Befehls und einer stets neuen, unwandelbar identischen Erfahrung. Diese Doppeldeutigkeit, dieses geistige Schillern wirkt faszinierend gerade auf die Demokratie in der Wiederkehr der guten Staatsformen. Der Gott der größeren Ordnungen, einer Ewigkeit, in der sie grenzenlos dauern, der Gott des Reiches letztlich, kann von ihr nicht unverhüllt angebetet werden. Wo immer sie aber in der Vergangenheit gute Ordnungen erkennt, sie nicht etwa über die ihren stellt, sondern sie in ihren eigenen wiedergeboren werden lässt, da verliert sich ihr diabolischer Stolz. Sie muss dann nicht mehr unter den Bannstrahl der Kirche fallen, der noch den Frühdemokratismus eines Lamennais auslöschen wollte, in Staatsrenaissance hat sie ihren Frieden gemacht mit der rationalistischen wie mit der kirchlichen Dogmatik. Wenn heute die Beziehungen zwischen einer einst so kämpferischen demokratischen Staatsform und den großen geistigen Strömungen entspannt sind, welche in den Kirchen aus der Vergangenheit kommen, so ist es nicht zuletzt das Ergebnis einer Renaissance-Offenheit, in der auch die Volksherrschaft zu ihrer Naturrechtlichkeit gefunden hat.

IV. „Konsens" - in Wiederkehr erreicht Die politische Kraft der staatlichen Wiedergeburt liegt nicht nur in den geistigen Strömungen, welche man Naturrechtlichkeit nennt, die heute in den dynamischen Tagesströmungen der Demokratie weit entfernt scheinen, und doch im Untergrund dauernd wirken. Selbst an der Oberfläche des demokratischen Prozesses lassen sich die Integrationskräfte der Staatsrenaissance beobachten, es genügt die Erwähnung eines Modewortes, in welchem die laufende, dynamische Verwirklichung heutiger Staatlichkeit erfasst wird, über Begriffsgrenzen und feste dogmatische Schemata hinaus: Konsens. Und es soll hier gefragt werden, ob er nicht deutliche

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Nähe zu allem aufweist, was in Staatsrenaissance wiederkommt, ob sie nicht eine bedeutsame Form dieser geheimnisvollen Übereinstimmung darstellt oder doch einen Punkt, an dem sie sich am leichtesten bildet.

1. Konsens - ein problematischer Kernbegriff der Demokratie Über Konsens ist immer gesprochen worden, auch in jenen Herrschaftsordnungen, die auf „reinem Befehl" aufzuruhen schienen, in Monarchien, ja unter der Diktatur. Auch sie, sie vielleicht gerade, können ja nur gegründet sein auf der Übereinstimmung, welche sich um ihre Gewaltakte oder doch ihre Willensmächtigkeit bildet. Nicht mehr deutlich genug ist bewusst, dass gerade der große Befehl den großen Konsens braucht, aus ihm heraus nur wirken kann, dass also diese Übereinstimmung auch ein Grundbegriff gerade der persönlichen Gewalt stets gewesen ist, in ihr vor allem gesucht, vielleicht erkauft werden musste. Etwas von einer Passivität lag freilich darin, vom schweigenden Gehorsam, der dann nur allzu rasch vermutet wurde. Dagegen hat sich die ganze Stoßkraft der Demokratizität seit Jahrhunderten gerichtet, sie sucht den aktiven Konsens, will die passive Befehlsbereitschaft in aktive Mitwirkung verwandeln. Dies mag als eine historisch-dogmatische Selbstverständlichkeit erscheinen, doch es muss gerade heute auch zu denken geben. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein reiches Schrifttum der politischen Wissenschaften und auch schon des Staatsrechts mit den Formen des Konsenses, seiner Bildung und laufenden Bewahrung beschäftigt, hier gerade hat die demokratische Theorie ihre Verfeinerung gesucht und nicht selten auch gefunden. Sollte dies also Grund zur Besorgnis sein, wo doch hier die lebendigen Kräfte des Volkswillens untersucht und gepflegt werden, wo er doch eben hier aus der schematisch-rationalistischen Übervereinfachung des „Nur-Abstimmens" entbunden wird? Betroffenheits-Demokratizität mag man stets mit wachem demokratischen Misstrauen verfolgen, soll hier doch offensichtlich etwas anderes an die Stelle der klassischen und bewährten Formen der geordneten Abstimmung gestellt werden. Doch wie könnte ein „Konsens" sich gegen das wenden, was in den institutionellen Formen der Abstimmungen und Parlamente sich laufend bewährt, erfolgt hier nicht nur die so notwendige breite Abstützung nach unten, auf die „Basis"? Und doch ist Wachsamkeit hier demokratische Pflicht. Konsens ist eben eines der „guten Worte" der heutigen Demokratie geworden, aber auch ein verunklarendes, ein Begriff, der vieles nur verdeckt, das sich offenbar mit demokratischer Institutionalität nicht mehr bewältigen lässt. „Gut" ist er dann, wenn er neue Institutionen der Demokratie aus sich hervortreiben will, Vertraglichkeiten im Verwaltungsbereich, Verfeinerungen der Mehrheits- und Abstimmungsdemokratie, wenn in ihm neue Formen der Abstimmungskörper und der Abstimmungsgegenstände, der zu ordnenden Interessen entdeckt werden. Doch wenn er als solcher emporwachsen will zu einer Art von „demokratischer Grundnorm", die immer in ihrer

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ganzen Virtualität erhalten bleiben soll, sich geheimnisvoll über allen demokratischen Institutionen einrichtet - und sie dann in ihrer Legitimität etwa gar noch relativieren will, dann droht „Konsens als Formelkompromiss", dann wird schnell postuliert, was institutionell in der Demokratie nicht geschaffen werden kann. Dann droht die noch größere Gefahr: Die Formen der Mehrheitsdemokratie werden überspielt und unterspült durch eine Basisdemokratie, welche jene nicht mehr anerkennen, sondern in ihrer Legitimation ersetzen will. Es gerät jenes Mehrheitsprinzip in Gefahr, in dem stets die Demokratie einen glücklichen Anschluss an den Dezisionismus gefunden hat, der sich aus keiner Staatsform voll verdrängen lässt, an jenes Ja und Nein, in dem auch einmal gebrochen und gerade darin neu geordnet werden muss. So hat sich denn die notwendige demokratische Kritik stets auch auf die Inhalte jenes Konsenses zu richten, in dem nicht vorweggenommen werden darf, was noch nicht normative Realität ist, worin die Mehrheit noch nicht zu triumphieren vermocht hat; Konsens darf nicht sein, was nur kleine, agierende Gruppen postulieren. Schweigende Mehrheiten sind ein Alptraum der Demokratie, sie darf sie nicht in ihrer Konsens-Kategorie dem Willen der wenigen Aktiven stillschweigend opfern. Hier nun, angesichts einer möglichen Entartung, oder besser: einer falschen Befriedung der demokratischen Szene, die nicht mehr ordnen, sondern nur mehr letztlich unfassbaren Zuständen ihren demokratischen Segen geben würde, muss, gerade im Namen der Ordnung und der Institutionalisierung, welche die heutige demokratische Staatlichkeit braucht, die Frage nach der Wiederkehr von Staatsformen gestellt werden, danach, ob sich in ihr und um sie etwas vollziehen kann, was wirklichen demokratischen Konsens jenseits der herkömmlichen staatsrechtlichen Institutionen bringt - oder durch sie hindurch.

2. Konsens und größere Ordnung Konsens ist nicht nur ein Kernwort der Demokratie, es ist auch ein Zentralbegriff jeder größeren Ordnung, und insbesondere dessen, was in diesen Betrachtungen Imperialität genannt wird. Nicht zuletzt deshalb muss versucht werden, jene Via imperialis der Staatsrenaissance zu betreten, welche vielleicht gerade über Konsens zur größeren Ordnung führen kann. Die größere, imperiale Ordnung bedeutet die Einheit über einer Vielheit, welche als solche lebendig erhalten bleibt, im Kern deshalb stets etwas Föderales in sich trägt. Ein möglichst voller Konsens muss daher herrschen, denn etwas von der Einstimmigkeitsregel, jenseits aller institutionalisierten Mehrheiten, ist solchen Ordnungen stets eigen, so wie ja auch die Bundesstaatlichkeit im Letzten nicht durch Mehrheitsbildungen in der zweiten Kammer gehalten werden kann. Nicht nur, dass also in diesem Sinne Konsens mehr bedeutet als Mehrheiten, in ihm ist auch etwas

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von der dauernden Zustimmung angelegt, in welcher eine solche Ordnung in jedem Augenblick „ganz" wirkt, nicht nur von Wahl zu Wahl dauert. Die großen, übergreifenden Ordnungen, welche über Triumphe und Staatsrenaissancen in Imperialität hergestellt werden, können anders als aus einem ganz weiten, institutionell gar nicht voll fassbaren Konsens nicht entstehen; so etwa wurde die Einheit Deutschlands und Italiens im 19. Jahrhundert begründet. So steigert sich denn die Bedeutung der Konsens-Kategorie mit der Größe der Ordnung. Und dies ist keine Selbstverständlichkeit. Nahe liegt ja die Gegenthese: Je größer die erreichte Ordnung werde, desto weniger bedürfe sie der ständigen integrativen Dynamik, weil ihre eigenen, bleibenden Strukturen stark genug seien, um auch konsenslose Zeiten und Räume in Ordnung zu halten. Konnte nicht die größere, immer mehr ins Unfassbare verdämmernde Ordnung des Alten Deutschen Reiches Konsensverlust bis zur inneren Zerreißprobe, ja bis zum Bürgerkrieg überstehen? Waren nicht immer die eigentlich imperialen Ordnungen - Rom auf seinem Höhepunkt, Frankreich und Russland in ihren großen Revolutionen - stark genug, sogar den totalen Konsensverlust im Bürgerkrieg zu ertragen, eine Imperialität dennoch weiter zu führen? Ersetzt also nicht das Imperium tagtäglichen Konsens? Es wandelt ihn sicher und seine Bedeutung. Da muss nicht immer in jeder Einzelheit Gemeinsamkeit nachweisbar sein, hergestellt werden, kantonale Verfeinerung lässt sich zuzeiten entbehren. Aber Konsensformen sind gerade dann stets gefordert, wenn die größere Ordnung auch über Streit und Bürgerkrieg noch sich wölben soll. Hier eben zeigt sich, dass diese Integrationskraft der Übereinstimmung von Gewaltunterworfenen sich nicht in institutionellen Einungsmechanismen, in Mehrheiten und organisierten Gemeinsamkeiten erschöpft, dass hier vielmehr Konsens-Grundstimmungen in ihre Rechte treten. Sie aber bedeuten nicht weniger an Übereinstimmung, sondern einen ganz anderen, einen vielleicht viel schwerer noch herstellbaren Konsens. In den größeren, überdauernden und nicht nur dauernden Ordnungen entwickelt sich ja die konsensuale Einung mit weit weniger Dynamik, sie ist langsamer zu verwirklichen - einmal entstanden aber auch besonders dauerhaft, als gebe es hier etwas wie eine Gesetzmäßigkeit des actus contrarius, nach der sich ein Konsens ebenso langsam nur auflöst, wie er sich geformt hat. Die geistige Totalität, welche einer größeren Ordnung stets eigen ist, welche in der „politischen Unentrinnbarkeit" eines größeren Reiches sich besonders hoch steigern kann, bedarf nicht nur der Mehrheit, sondern des allseitigen, allgegenwärtigen Konsenses in einem vertieften Sinn: Außerhalb von Räumen politischer Einung darf es überhaupt nichts mehr Denkbares, politisch Gestaltbares geben, der Konsens muss hier nicht nur eine höhere Einigkeit herstellen, sondern geradezu eine geistig-rechtliche Alternativlosigkeit. So zeigt sich also, dass größere Ordnungen als solche Konsens nicht einfach durch ihre Strukturen ersetzen können, dass sie ihn vielmehr in einem höheren Sinn brauchen; und dass der Begriff differenziert gesehen werden muss, abgehoben 26 Leisner

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insbesondere von einzelnen institutionellen Mechanismen, aus denen heraus er wachsen kann. Gerade aus dieser Sicht ist also die Frage berechtigt, ob jene überinstitutionellen Vorgänge, in welchen meist Staatsrenaissance abläuft, nicht gerade hier gesteigerte Bedeutung erlangen - eben zu einer höheren Ordnung, zu einem wahren Imperium.

3. Die besondere Konsenskraft der Staatsrenaissance Erfasst man den Begriff des Konsens in dieser seiner vollen, überinstitutionellen und gerade in größeren Ordnungen unentbehrlichen Wirkmächtigkeit, so zeigt sich, dass eben auf den Wegen der Staatsrenaissance die Kraft des allgemeineren Konsenses in die Institutionen fließen kann, vor allem in die der entwickelten Volksherrschaft. - Konsens schafft im Allgemeinen seinen Gegenstand nicht, er bedeutet ein Ja oder Nein zu Vorgegebenem. Durch starken politischen Willen, Ereignisse oder deren Strömungen muss vorgegeben werden, was angenommen werden kann. Und mit der Dimension der Vorgabe wächst die Chance der Übereinstimmung, am höchsten wird sie in der Akklamation zu dem, was in selbstverständlicher Größe hervortritt. Wiedergeborene Staatlichkeiten, oder auch ihre glänzenden Bruchstücke, waren fast immer von einem Zauber umgeben, der ebenso spontan wie allgemein Konsens zu wecken vermochte, bis hin zum Zuruf. Hier wurden meist sogar die langen Zeiten der Konsensschaffung verkürzt, mit einem Mal war dann das große „übernommene Ereignis" ganz da - die beiden ersten Reiche der Deutschen sind so geworden, in Akten einer echten, großen, ja geradezu unerwarteten Konsensualität in Staatsrenaissance. Es ist, als ob zu solcher Wiedergeburt eben - nur mehr Ja gesagt werden könne. Wenn der Begriff der Vorgabe überhaupt einen Sinn hat, so hier. - Was an Staatlichkeit wiedergeboren wird, war offenbar schon früher einmal von großem und breitem Konsens getragen, sonst hätte es weder zu seiner Zeit halten noch auf Spätere geistig wirken können. Angekündigt wird ja eine solche Wiedergeburt durch den „rein geistigen", noch gar nicht politisch umgesetzten Konsens derjenigen, welche nun in ihrem Geist das Wiederkommen vorbereiten. Sie mögen zuzeiten auch fasziniert werden durch harte, mächtige Befehle; doch die Rücksichtslosigkeit von Herrschaften, die darauf vor allem ruhen, hat gerade zu Staatsrenaissancen kaum je begeistern können - orientalische Großreiche, Pascha-Gewalten sind ihrer nicht mächtig. Zuerst muss ja der „Geist", in einer Art von Vor-Konsens, gewonnen werden, welcher dann die Wiedergeburt vollzieht, und dies alles bedeutet, dass Staatsrenaissance stets nur die Wiederholung früheren Konsenses sein kann. Dies ist denn auch tröstlich: Ordnungen kommen zurück, nicht Befehle allein. - Staatliche Wiedergeburt vollzieht sich stets aus einer gewissen Ferne gegenüber den Menschen der Gegenwart, ihren wirtschaftlichen und politischen Interessen.

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Wohl mag es der List derer, welche auch diese größeren Instrumente zum eigenen Ruhm, zum persönlichen Interesse einsetzen, immer wieder gelingen, selbst die Langwellen-Vorgänge der Staatsrenaissance in Instrumente der Gegenwart zu verwandeln. Doch etwas vom größeren Humanismus, der jede Renaissance begleitet, bleibt erhalten, diese Rückkehren und Übernahmen vollziehen sich eben doch grundsätzlich als Formen eines rein geistigen Erkennens - so erscheint es wenigstens den Vielen; und deshalb schließen sie sich kaum einer Neuerung so rasch und total an wie einer solchen, mögen sie sie nun im Einzelnen erfassen oder nicht. Darin lagen die Chancen des römischen Renaissancetheaters in den begeisterungsfähigen Zeiten der Französischen Revolution, dieser Faszination erlagen Italiener und Deutsche gegenüber römischen und germanischen Staatsrenaissancen. Das Misstrauen der Masse gegenüber der Staatskunst geschickter Eliten verliert sich hier in den größeren historischen Weiten, in der Illusion, dass Staatsrenaissance doch immer nur ein wahres öffentliches Interesse zurückbringen kann, nie verdeckte Gegenwartsbelange einzelner. - Wiedergeburt von Staatlichkeit „ist weit her", ihrem ganzen Wesen nach. Mit den Mitteln der Kritik, durch welche gerade in der Volksherrschaft Konsens aufgelöst werden kann, lässt sich hier meist nur weniges verhindern. Was auf solchen Wegen einbricht in gegenwärtige Ordnungen, mit dem muss man sich zwar argumentativ auseinandersetzen - doch darin kommt es dann weit eher zur Verstärkung als zur Auflösung des Konsenses. Mehr noch: Die eigentliche, große Staatsrenaissance vollzieht sich jenseits von aller Kritik, welche die Vielen beeinflussen, misstrauisch machen könnte. So wie die großen Vorgänge der staatsrechtlichen Scholastik des Mittelalters, der antiken Rechtsrenaissancen und der Reichsrenaissancen der vergangenen Generationen hat dies alles stets einen wesentlich elitären Zug, darin zumindest, dass es über die Vielen hinwegflutet, ihren Konsens mitreißt, nicht im Kleinen empor züchtet. Oder hätte man je anders die Vielen von der Notwendigkeit einer größeren Reichseinheit überzeugen können, und was vermochte Kritik gegen eine Grundrechtlichkeit, in deren Namen schon einmal so viel Begeisterung gewesen war? Was wiedergeboren wird, das hat bereits seine Kritik hinter sich; daher kann der Konsens sogleich und vollständig einsetzen. - Ein demokratischer Prozess mag hier ablaufen, doch er bedeutet nicht mehr als Ratifikation. Die Demokratie findet darin etwas wie ihre geistige oligarchische Ergänzung: Staatsrenaissancen entfalten sich in gewissem Sinne „von oben her", „unten" werden sie dann aufgenommen, mit Konsens umgeben, und sie tragen soviel an politischen Basis-Grundstimmungen in sich, dass das Elitäre, aus dem sie so oft kommen, sich verstecken kann. Die Rückkehr des Caesarismus in der Französischen V. Republik, das Wiedererstehen der italienischen republikanischen Vielheit im Regionalismus - das waren sicher auch politische Basiserscheinungen, als solche diskutiert und konsensmäßig umworben. Der eigentliche Durchbruch aber erfolgte in etwas wie einer Staatsrenaissance „von oben", der gegenüber der demokratische Prozess geradezu als sekundär erschien, weil 26*

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ihm eine größere Übereinstimmung bereits vorausgegangen war. Und der dominante Wille einer kleinen Elite verliert sich ja auch, wenn nicht sogleich, so doch bald wieder, in etwas, was wie ein größerer Strom einherkommt. - Nicht Schwäche, sondern politische Kraft der Staatsrenaissance liegt darin, dass in ihr so vieles Illusion ist, gerade in demokratischen Ordnungen. Hier wollen die Vielen an allem beteiligt sein, nur dann kann mit Konsens gerechnet werden. Gerade weil wiedergeborene Staatlichkeit in einer überinstitutionellen Weise auftritt, in den Institutionen dann nur mehr ihre Bestätigung findet, waren stets die zahlreichen Bürger bereit, sich als Mitakteure auf dieser größeren Szene zu sehen, als ein weiterer Umstand, der Beifall spenden, nicht abstimmen wollte, der in diese Äußerungen eine personale Totalität legen konnte, welche der nationalen Abstimmungsentscheidung kaum eigen ist. Hier ist eben etwas von einer verfassunggebenden Stunde stets lebendig; selbst wenn nur irgendein alter Rechtsgrundsatz in neuem Gewände vorgestellt wird, so scheint es doch jedem Beteiligten, als werde er auch von ihm aus der Taufe gehoben. Darin wächst dann echter demokratischer Beteiligungs-Konsens. - Staatsrenaissance bringt nicht nur Ideen zurück, sondern, dem wird man immer wieder begegnen, auch Machttechniken, Elemente eines „technischen Rechts größerer Ordnungen". Die Staatsgeometrie der Kompetenzen und ihrer Zusammenfassungen, der Balancen und Kontrollen, die Rechtstechnik der Grundrechtlichkeit - all dies sind erst die Formen, in denen allgemeinere Grundstimmungen zur rechtlichen Mächtigkeit werden. Immer war es ein Problem der entwickelten, größeren Ordnungen, Konsens gerade um diese technischen Formen des Staatsrechts entstehen zu lassen, deshalb wurden sie eingehüllt in Staatstheater, schimmernde Gewänder, und sie wurden gekrönt. Demokratie kann auf solchen Wegen nur sehr begrenzt „Konsens um Technisches" hervorbringen, hier aber hilft ihr die große Übernahme aus Früherem oder Fernem, in ihr wird auch das Instrument, nicht nur ein geistiger Inhalt, der Bürgerschaft sozusagen, „zum Glauben vorgestellt", hier ist etwas „von Anfang an Konsensgetragenes", auch wenn es ein Staatsmechanismus wäre wie das präsidentielle Regime. Gerade diese Staatstechnik kommt ja als erste zurück, sie wird neu, damit „überhaupt einmal etwas funktioniere" - in den Ländern der Dritten Welt ist es erlebt worden - erst später entwickeln sich dann meist die materiellen, geistigen Inhalte. Demokratische Bürgergemeinschaften können nicht etwas anbeten, was sie allein hervorgebracht haben, die Vorstellung von einer solchen Unterwerfung unter eigenen, institutionalisierten Willen ist im Letzten unvollziehbar. Große übernommene Rechtstechnik dagegen ist immer konsensfähig gewesen, noch mehr vielleicht als Staatsphilosophie. - Was in Wiedergeburt zurückkehren kann, hat etwas für sich wie eine „Vermutung des unendlich langen Überdauerns", sie ist offenbar nicht nur von einem starken, sondern auch von einem Langzeit-Konsens getragen. Wie könnte man daher neue Überzeugung, welche sich um sie gebildet hat, leicht oder

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in kurzen Zeiten abschaffen? Um sie formt sich Konsens in einer wesentlichen Langfristigkeit, in der er vielleicht ausgehöhlt werden kann, im Zweifel aber immer weiter dauert. Der größten Gefahr also, welche allen demokratischen Konsens bedroht, ist die Staatsrenaissance als Konsensform nicht ausgesetzt: der kurzfristigen, atemlosen Fluktuation. Übereinstimmungen über senatoriale Prinzipien, über originäre Selbstverwaltungen vollziehen sich in so großen Wellenbewegungen, dass sie mindestens solange dauern wollen, wie ihre Vorbilder. Und im Grunde ist da etwas wie eine zeitliche Vermutung des dauernden Konsenses.

4. Staatsrenaissance - ein „höherer Konsens" Was die tägliche Zustimmung der Bürger finden muss, verliert sich notwendig im raschen Wechsel ihrer Interessen und Moden. Um Staatsrenaissance entwickelt sich ein „höherer Konsens", wie ihn gerade die größere Ordnung braucht. Etwas entfaltet sich hier wie ein „Konsens in geschichtlichen Dimensionen", über die heutige Generation, das Auf und Ab ihrer Meinungen geht er hinweg, ihren zerstörerischen Kräften ist er entzogen. In Frankreich ist in Wellenbewegungen immer wieder, seit der Französischen Revolution, die Vorstellung von der Souveraineté nationale zurückgekommen, über sie hat sich eine Staatsrenaissance der ursprünglichen Vorstellungen der großen Revolution vollzogen, in Generationenabständen. Wiedergekehrt ist damit übrigens wohl weit mehr als das, was die ersten Zeiten nach 1789 geistig hervorgebracht haben: die Grundvorstellung einer höchsten Mächtigkeit, welche nicht dem gegenwärtigen Volk, sondern seiner Vergeistigung zusteht, in deren Namen dann die Demokratie über die einzelnen Menschen und ihre Interessen hinaus Macht ausüben kann. Eine größere Staatstheorie hat sich geradezu um diesen Begriff der nationalen Souveränität in Frankreich entwickelt, von dort hat sie auf Deutschland, Italien und andere Länder ausgegriffen. Eines vor allem liegt ihr zugrunde: Der legitimierende Konsens der Bürger erschöpft sich nicht im Jetzt und Heute der Zustimmung zu den Institutionen, er geht aus von einer größeren, in Geschichtlichkeit sich entwickelnden Nation. Sie kommt immer wieder zurück, umgeben eben und getragen von all diesen größeren, in Geschichtlichkeit hinaufwachsenden Kräften. Dieser „höhere Konsens" umgibt also nicht nur die Staatsrenaissance, er wird - das französische Beispiel zeigt es geradezu zu ihrem Gegenstand, in der Demokratie kommt gerade er, dieser vergeistigte Konsens, in Wiedergeburt zurück. Er ist dem Befehl der Caesaren entzogen, die sich ihm am Ende stets unterordnen müssen, hier hat große demokratische Staatsrenaissance stattgefunden, in einer Geistigkeit, die das „Sterben in Staatsreichen" überwinden wollte. Konsens ist eine wesentlich politische Kategorie - und doch darf er sich in solcher Politik nicht erschöpfen. Aller Konsenssuche heutiger Zeit liegt ja stets eines zugrunde: der Versuch, jenseits politischer Mechanismen den höheren, den

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„überpolitischen" - den damit eben doch entpolitisierten Konsens zu erreichen. Mehr als jede andere Staatsform bedarf seiner jene Demokratie, welche die Totalität des Politischen verbal postuliert. Ein solcher entpolitisierter Konsens kann sich am leichtesten, wie natürlich, um Vorgänge der Staatsrenaissance bilden, denn hier scheint doch nicht Politik zu kommen, sondern Geschichte zurückzukehren, etwas stattzufinden wie „vergeistigte Abläufe", nicht gegenwärtige politische Wollungen. Die Politik der Demokratie wird zunehmend als „nur mehr nützlich" erkannt, das Vornehme fehlt ihr, und sie leidet darunter. Die République des Ducs kommt nicht wieder, nichts was ihr gleichen könnte. Wo immer aber irgendwelche Staatsformen wiedergeboren werden, vollzieht sich ein Vorgang von solcher geistiger Höhe, scheinbar so weit ab von den Niederungen des gegenwärtigen, parteipolitischen Willens, dass die Geschichte etwas von ihrer großen Vornehmheit dann sogar der demokratischen Politik leihen kann. Immer wieder wird Parteipolitik Gegenstand der Kritik gerade darin sein, dass ihr die noble Höhe des öffentlichen Interesses fehle; Staatsrenaissancen als Parteipolitik sind unvollziehbar, was in diesem Land je an Staatlichkeit wiedergeboren worden ist, das „kannte nur mehr Deutsche". Und die Demokratie kann über die Schwächlichkeit des politischen Willens mit der Kraft eines Erkennens hinweggehen, wenn Staatsrenaissance in ihr stattfindet, die doch immer „wesentlich Fernes erkennt", es damit, im schönen Sinn des alten Wortes, wieder zum Leben erweckt. In all dem entsteht dann etwas wie ein wahrhaft transpersonaler Konsens, und darin findet gerade die Demokratie erst die wirkliche Ergänzung ihrer Institutionen und Verfahren. Hier können und sollen nicht Zustimmungs-Mehrheiten ersetzt oder überspielt werden, um etwas „ganz anderes" geht es: um den wahren „Verfassungsrahmen"; im Grunde findet ja Verfassunggebung in jeder derartigen Staatsrenaissance statt, so wie umgekehrt der verfassunggebende Augenblick stets der einer demokratischen Wiedergeburt sein muss. Im weiteren Verlauf der Betrachtungen wird sich noch zeigen, wie eng diese Begriffe der Verfassunggebung und der Staatsrenaissance verbunden sind, und wie daher Verfassung eben nicht, im eigentlichen Sinn, die „höhere Norm" bedeutet, sondern wirklich das staatsrechtliche aliud gegenüber jedem Gesetz. Deshalb ist hier auch ein ganz anderer Konsens gefordert, und er wird, wie eben dargestellt, auch in der Wiedergeburt der Staatlichkeiten erreicht, welche sich über dem Auf und Ab der Gesetzgebungen vollzieht. Soweit die Volksherrschaft der Staatsrenaissance fähig ist - welche Staatsform wäre es mehr als sie, die aus dem immer wieder erwachenden Volk lebt? - hat sie in diesem höheren Konsens die Chance des Imperialen. Selbst die demokratische Ursprungs-Legende vom Sozialvertrag lässt sich so deuten, aus der Sicht dieses höheren Konsenses: Als solcher bleibt dieser Ausgangszustand aller Demokratizität im Dunkel. Doch die menschliche Vernunft, welche sich hier politisch zusammengefunden hat, kann nie von ihm zurück, und

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er kommt in glänzenden Bruchstücken wieder, dieser, wie die Worte es so schön sagen, wahrhaft „gefundene Konsens".

V. Wiederkehrende Rechtsinhalte - Chancen für ein „technisches Recht der größeren Ordnung" Staatsrenaissance erschöpft sich nicht in der Wiederkehr allgemeinster Grundsätze, im Heraufkommen früherer Grundstimmungen, welche die Gegenwart beleben, aber nicht gestalten. Ihr Wesen liegt gerade darin, dass sie auch Formen und Verfahren zurückbringt, diese vielleicht vor allem; damit aber wirkt sie besonders in einer Zeit, welche sich einem wie immer näher zu definierenden „technischen Recht" zuwendet. 1. Der Zug zum „technischen Recht" a) Rechtstechnizität - die Chance einer Selbstgesetzlichkeit in der pluralen Ordnung In einer Welt, welche alles von den Inhalten her sehen will, die „äußeren Formen" im Gesellschaftlichen, Künstlerischen, ja im Geistigen eher vernachlässigt, vollzieht sich doch im Recht eine erstaunliche Gegenbewegung: Die Inhalte lösen sich auf oder werden bestreitbar, es läuft etwas ab wie eine „Bucht in die Formen" - übrigens eine große Chance des Rechts. Die Gegenwart zahlt hier ihren Tribut an die liberale Pluralität, in welcher jede Meinungs- und Werteinheit zerbricht, aber auch an eine „Technik", der sie sich selbst in ihren politischen Gestaltungen nicht verschließen kann. So hat denn das Staatsrecht wieder seinen Hang für das „Verfahren" entdeckt, die Inhalte werden aufgebrochen in der „offenen Verfassung", das Verwaltungsrecht gewinnt seinen eigentlichen Halt im Verwaltungsverfahren zurück, die Demokratie selbst wird als das wesentliche Verfahren erkannt, das doch immer bleibt, wenn alle Inhalte sich in Relativismus auflösen. Die Pluralität der Volksherrschaft verlangt damit auch das „technische Recht", und sie wird, darin liegt ihre große Kraft, zur eigentlichen Staatsform der technisierten Gesellschaft. Um diese Technizität bildet sich etwas wie ein Konsens-Minimum: Wenn die Inhalte der Gestaltungen im Einzelnen, die großen Ziele, im Pluralismus nicht vorgegeben sein können, so bleibt doch, erst recht, ein Axiom: dass es „weitergehen muss" - im Funktionalismus eben einer gewissen Technizität. Wenn Pluralismus verlangt, dass nicht nur Vieles und Gegensätzliches an Werten gesetzt werden darf, sondern auch jeder von ihnen eine Chance zur Verwirklichung hat, so erfordert dies hohe „Technizität eines Verfahrens" und öffnet die Ordnungen zu ihm vor allem. Der rationale Bildungsstaat der Demokratie verlangt ein Maximum an Mechanismen und Technizitäten, denn sie sind lehrbar, nicht aber in gleicher Weise in-

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haltliche, weitbezogene Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Fortschritts-Staatlichkeit fordert daher eine möglichst wertfreie Rechtstechnik, denn nur so kann sie nach allen Richtungen hin „offen bleiben", hat der Fortschritt seine größten Chancen. Dass sich die Formen der Rechtstechnik „höher" entwickeln können mit der Zeit, und sei es auch nur in steigender Komplikation, ist kaum bestreitbar, eine inhaltliche oder gar wertmäßige Höherentwicklung wird immer diskutabel bleiben. Jedenfalls entfaltet sich in wertunabhängigen, verfahrensorientierten Technizitäten des Rechts das, wozu es immer strebt: eine Art von Selbstgesetzlichkeit, in der es sich sozusagen selbst weitertragen kann, unabhängig weithin von jenem politischen Gestaltungswillen, der sich gerade in höherentwickelten Gesellschaften so häufig abschwächt. In dieser Rechtstechnik überwindet also die vielgelobte „pluralistische Ordnung" Stagnationen und Selbstblockaden, die Eigengesetzlichkeit wird zum Motor, das Ideal der Maschine scheint auch hier erreicht.

b) „Werte als Rechtstechnik" -Abwägung „Rechtstechnik" wird gepflegt, weil die Werte verblassen oder sich gegenseitig neutralisieren. Doch sie tritt nicht nur an ihre Stelle, sie versucht sie in einer Weise in Ordnungen zu gießen, welche allein dem Pluralismus der Demokratie noch entsprechen kann: in der „Wert-Rechtstechnik" der Abwägung. Darin hatte sich ja bereits im 19. Jahrhundert das Zivilrecht bewusst dem neuen Interessenpluralismus des wirtschaftlichen Liberalismus geöffnet, in jenen magischen Formeln der Interessenjurisprudenz, welche auf das strengere Rechtsdiktat der Begriffsjurisprudenz verzichtete. Dass dahinter viel Resignation stand, Unklarheit eines Rechts, welches nicht mehr herrschen konnte, daher abzugleichen suchte - all dies wurde in Kauf genommen und sogar noch als ein Fortschritt empfunden, weil sich die Rechtstechnik eben anbot als Ordnungskraft des Interessenpluralismus, darin nicht nur überleben, sondern neue Ordnungskräfte entfalten konnte. Eine ähnliche Entwicklung vollzieht sich im Staatsrecht, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem. Eindeutige Wertbegriffe lösen sich auf, jedem von ihnen wird sogleich ein Gegenwert gegenübergestellt, der politische Machtwechsel wird zugleich zum Wechsel der gesellschaftlichen Werte. Ohne Wertkompromiss kann nicht regiert werden, sowenig wie der beständige politische Mittelweg verlassen werden darf. So flieht denn die Rechtsprechung, die der Verfassungsgerichte vor allem, in immer neue Abwägungs-Formeln, in Verhältnismäßigkeiten, welche dann noch durch „Wechselwirkungstheorien" verfeinert werden sollen, wie etwa im Bereiche der Meinungsfreiheit. Dass darin die Rechtssicherheit aufs Schwerste gefährdet wird, nimmt man seit langem in Kauf, denn einen anderen Weg gibt es nicht, dieser legitimiert sich gerade dadurch, dass auf ihm Rechtstechnik, wenn

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auch so oft nur scheinbar, eingesetzt wird zu einer „Kombination der Werte"; sie mag es dann doch noch erlauben, von einer wertgeprägten Ordnung zu sprechen, selbst wenn sie gerade das nicht mehr bringt, was doch die erste Bedeutung der Werte war: dass man sich soll auf sie verlassen können. Den Abwägungen wird nicht nur deshalb die Zukunft gehören, weil sie die Vorsicht einer späteren - oder höher entwickelten - Periode zum Ausdruck bringen, die sich vor allen Extremen zurückzieht, sondern vor allem weil hier die Rechtstechnik sich zu einer Werttechnik steigern will, die dem Vorwurf des Formalismus entgeht. Doch man lasse sich nicht täuschen: Abwägung ist nichts anderes als eine Form gerade jener Rechtstechnik, zu welcher diese Zeit der Volksherrschaft drängen muss - immer mehr.

2. Die Wiedergeburt der Rechtstechniken Wollte Staatsrenaissance nur inhaltliche Werte zurückbringen, oder gar Grundsätze allein, Staatsgrundstimmungen - sie hätte keine Chance mehr in der Zeit der Rechtstechnik. Doch das Gegenteil trifft zu, nicht Grundstimmungen und Maximen kehren als erste zurück, Einzellösungen sind es, welche, aus früheren Ordnungen isoliert, in eine andere Gegenwart eingepasst werden können. Oben war bereits von jener „Isolationstheorie" die Rede, in welcher renaissancefähige Inhalte erkannt werden können, von jener Unsystematik, in der sie aus der Ferne kommen, damit sie in das System der Gegenwart eingefügt werden können. Einzelinstitutionen kehren ja zuallererst wieder, oder doch Gedanken, welche in ihnen sich erschöpfen, auf weitergespannte Grundsätzlichkeit verzichten.

a) Renaissance technischen Funktionierens So haben denn Staatsrenaissance-Bewegungen fast immer zu einer Steigerung der „Technizität" des Staatsrechts geführt, vor allem darin, dass aus traditionell „rechtstechnischen" Bereichen Übernahmen stattfanden. Hier ist die Stelle, vor allem der „Zivilrechts-Renaissancen" in das Staatsrecht hinein wieder einmal zu gedenken. Otto von Gierke hat in seinem „Deutschen Genossenschaftsrecht" mehr vorgelegt als eine dogmatisierte Systematik der deutschen Rechtsgeschichte, er hat deutsches Staatsrecht geschrieben, aus spätromantischen Renaissancevorstellungen heraus. Der große Wechsel von genossenschaftlichen zu herrschaftlich geprägten Rechtszuständen - und zurück - die Grundthese dieses Werkes, zeigt eine ständige Abfolge von Renaissancen, immer derselben Grundideen, welche nach der Herrschaft ihres Gegenbildes nur noch stärker zurückkehren. Und es sind nicht in erster Linie Werte, die hier durchbrechen, neue Rechtstechniken werden entwickelt, vor allem in jenem Bereich, der auch heute noch zu den am stärksten „technisierten" der Rechtsordnung gehört: dem Gesellschaftsrecht. Aus ihm heraus wird „die größere

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Gesellschaft", der Staat, in eben jener zivilistischen Technizität dann gestaltet, welche ihrerseits vor allem der Wiederkehr fähig war. Eine Selbstverständlichkeit ist es daher, dass das Zivilrecht der Römer wiederkehren musste, ihre „Rechtstechnik". Systematisieren mag dies der größere Geist späterer Rechtsgeschichte, im Augenblick der Wiedergeburt sind es eben im Wesentlichen kleine, gerade darin „technische" Gestaltungen. Da finden sich dann monarchische Züge in aristokratisch geprägten Ordnungen und umgekehrt, bis in die Volksherrschaft hinein reichen sie, mit deren Credo, ihren Dogmen deshalb vereinbar, weil sie - eben „nur Technik" sind, oder gar nur - Staatstheater. Vor allem aber finden die großen Staatsrenaissancen doch immer aus Ordnungen statt, in denen viele politische Entscheidungen „im Gemenge" liegen, oder sich in längeren, imperialen Perioden überlagern konnten. Das gilt für das Römische Reich ebenso wie für das Britische Empire, dem man vor allem Unsystematik vorhält, wo doch Imperialität wirkte, viel Rechtstechnik nebeneinander, weil jede einzelne stark genug war um zu überdauern, nie in totaler Niederlage gebrochen wurde. Übernommen wird aus den großen Erfolgs-Ordnungen, sie tragen die Vermutung eines „Funktionierens" in sich, technisch perfekter Abläufe, eben dies will und kann man von ihnen lernen, auch wenn man im übrigen ihre Grundstimmungen nicht kennt oder gar ablehnt; und was hätte schon die aufschäumende Volksherrschaft der Französischen Revolution mit dem im Letzten immer noch aristokratischen Militärstaat der Römer gemeinsam gehabt - wenn nicht den Zug zur großen Rechtstechnik? Die rechtstechnischen Entwicklungszustände der Ordnungen, in welche hinein Staatsrenaissance stattfindet, sind durchaus unterschiedlich, doch es hat sich immer wieder gezeigt, dass jede von ihnen in der Vergangenheit oder in der Ferne diejenigen Entwicklungszustände findet, welche ihr entsprechen, aus ihnen dann übernimmt. Für die Übernahme großer Wertvorstellungen mag eine Zeit noch nicht reif sein, wie etwa das frühere Mittelalter für Inhalte des römischen Staatsrechts; dies aber schließt nicht aus, dass rechtstechnische Einzelformen, Kompetenzen, Privilegien, Vertraglichkeiten wiedergeboren werden können - und dass dann weitere „Renaissanceschübe" stattfinden, immer auf der Höhe der jeweils synchronisierbaren Rechtstechnik. Die vielfachen Staatsrenaissancen aus denselben Quellen, mit dann oft ganz anderen Ergebnissen, zeigen nicht nur die rechtstechnische Geschmeidigkeit dieser Übernahmen, sondern in ihnen geradezu einen Primat der Rechtstechnik.

b) Die Renaissanceträchtigkeit

der formalen Rechtstechnik

In diesem Abschnitt ist von „Rechtstechnik" die Rede, und doch gibt es einen gesicherten Abgrenzungsbegriff hier nicht, „Formales" und „Inhaltliches" liegen

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in vielfachem Gemenge, zunehmend wird die materielle Bedeutung formalrechtlicher Gestaltungen erkannt. Gerade die Betrachtung von Vorgängen der Staatsrenaissance eröffnet jedoch Perspektiven, in denen der besondere „rechtstechnische Gehalt" bestimmter staatsrechtlicher Gestaltungen deutlich wird, hier gelingt es dann, die höchst allgemeine Unterscheidung zwischen einem „materiellen Staatsrecht" - in der Regel mit der Grundrechtlichkeit identifiziert - und dem „organisatorischen Staatsrecht" noch zu verfeinern, gerade in diesem letzteren Bereich die Zonen des „Rechtstechnischen" näher abzustecken. In erster Linie hat in Staatsrenaissancen immer das gewirkt, was man ein „Kompetenzrecht" im weiteren Sinne nennen kann, Machtzuständigkeiten, ihre Differenzierung und Zusammenballung, und dies nicht nur in den „klassischen" Formen der Gewaltenteilung an der Spitze, sondern „bis hinunter" in Verwaltungszuständigkeiten. Auch „neue Staaten" werden hier ja in erster Linie übernehmen und lernen. Die einfache, überzeugende Kompetenzordnung ist das Wichtigste an jenen „guten Staatsformen", welche in der Ferne aufgefunden und übernommen werden. Doch ein Zweites kommt dem an Bedeutung fast gleich: das Verfahrensrecht im weiteren Sinne, die Garantie des „guten Ablaufs" in der Ausübung all dieser Kompetenzen, der sich nicht selbst, in sich, blockiert. „Rechtstechnisch" gilt es hier wieder, Überkomplikationen zu vermeiden, die Gestaltungsformen können nicht beliebig kombiniert werden, etwas wie klassische Canones gibt es selbst auf diesem weiten Felde. Man denke nur an die Formen der Vertraglichkeit, die immer wieder zurückkommen und auf etwas wie staatszentrale Rechtstechnik hindeuten; bis hinunter in die Ausprägungen der bürgernahen Verwaltungsvertraglichkeit hat hier, gerade in letzter Zeit, eine große Staatsrenaissance stattgefunden, welche zwei Jahrhunderte übersprungen hat. Unter dem Stichwort der Autonomie verbergen sich zwar auch Weitentscheidungen, in erster Linie aber sind es rechtstechnische Gestaltungsformen, wie sie das römische Recht mit seiner dezentralisierten Imperialität immer geboten hat, in neuerer Zeit besonders das englisch-imperiale Self-Government. In diesen Formen der vertikalen Gewaltenteilung liegt sicher schon etwas vom Übergang in die inhaltlich geprägten Bereiche des Freiheitlichen, doch es wird eben hier auf den Wegen einer immer mehr zu verfeinernden, vor allem aber einer der Wiedergeburt fähigen Rechtstechnik erreicht. Und da ist dann nicht zuletzt das Rechts-Symbolische, dessen rechtstechnischer Gehalt nicht verkannt werden darf. Staatswappen und Devisen, Fahnen und Trophäen werden allzu leicht nur als Abstraktionen inhaltlicher Werte gewürdigt, in Wahrheit entfalten sie eine selbständige rechtstechnische Kraft, die beliebig einsetzbar ist, in einer „reinen Instrumentalität", für gänzlich unterschiedliche Staatsgrundentscheidungen. Schließlich mag es etwas geben wie eine Form eigentlicher „Technik", die ganz sichtbar auch zur Machttechnik werden kann - die Staatsbau-

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ten; hier ist steingewordene Macht, ein Steinbruch der Instrumentalität auch zum Politischen; und es sind nicht nur Triumphbögen, die so Staatsbautechnik zur Rechtstechnik werden lassen. In all dem zeigt sich die Kraft einer Staatsrenaissance, welche jenseits aller Werte und ihrer Diskutabilität zu wirken vermag, in einer Zeit, welche in Pluralität und Meinungsgegensätzen ihre Balance aus Rechtstechnik halten muss. Sie gerade kann aus weiten Fernen befestigt werden.

VI. Staatsrenaissance als Aufruf - Anstoß zu Neuem 1. Staatsrenaissance - stets ein historischer Aufbruch Die Wiedergeburt der Staatlichkeit hat viele Gesichter, vielfache Kräfte wirken in ihr. Man ist versucht, sie als Wiederkehr romantischer Grundstimmungen zu deuten - und sie vollzieht sich gerade auch über harte Formen der Rechtstechnik. Geradezu als Antithese soll hier aber etwas anderes betrachtet werden: der große Anruf, welcher von jeder solchen Entwicklung ausgeht, der Aufbruch zu Neuem, der sich aus der Wiederkehr des Alten oder Fernen vollzieht. Wenn hier nur Kontinuität wäre, müsste es zu Verlangsamungen kommen; aus der großen Unterbrechung kommt die Schubkraft des Neubeginns. Dies ist zunächst schon eine immer wieder erneuerte historische Erfahrung. Die Renaissance, das Auffinden des Früheren, hätte eigentlich die entdeckende Gegenwart stets kleiner machen müssen, in der Bescheidenheit, dass nichts besser, kaum etwas ebenso gut gelingen könne. Das Gegenteil ist eingetreten, und nicht nur in Geistigkeit und Kunst: Die große Renaissance hat die unerreichbaren Trümmer nicht als Bedrückung empfunden, sie ist sofort aufgebrochen, sie schöner zu ergänzen und fortzudenken. Wenn es überhaupt einen historischen Beweis für die Kraft von Renaissancen gibt, so ist er damals erbracht worden - in allem und jedem. Denn auch das Römische Reich, dessen Umrisse plötzlich sichtbar wurden, hat ja nicht erdrückt, sondern politisch belebt. Die Formen schienen groß und gut, es galt, sie zusammenzufügen zu noch Größerem, „in den Pazifik hinaus", Renaissance ist als politischer Auftrag zu einem neuen Reich empfunden worden. Die Kraft der Rivalität hat die Könige dieser Zeit auf die Suche des Kaiserthrones getrieben, es gab etwas wie eine große staatsrechtliche, eine römische Herausforderung. In jenem Jahrhundert hat sie sich nicht erschöpft, sie ist immer wieder gekommen, in einer Romantik, welche noch höher hinaufwachsen wollte als in die Räume der Staufer, im Empire der Franzosen und Engländer, welche bewusst die Renaissance Karls V. in Wiedergeburt feiern wollten, in dessen Reich die Sonne nicht unterging. Faschismen und Kommunismen - was immer sie an Renaissance in sich trugen, es war nie niederdrückend, immer erhebend, im Kulturellen wie in Recht und Staat. Nie ist diese Staatsrenaissance als ein rein akademischer Vorgang verstanden worden, stets war er eine wahrhaft politische Kraftquelle, welche mit

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der ganzen unkritischen Unbekümmertheit wirken konnte, in der gerade hier Wissenschaftlichkeit überwunden werden muss. Es war immer, als sei diese Staatsrenaissance etwas wie ein Faden nach vorne.

2. Staatsrenaissance - eine steigerungsfahige politische Herausforderung Staatsrenaissance als eine belebende, nicht deklassierende Erfahrung ist kein historischer Zufall. In staatsgrundsätzlicher Betrachtung lässt sich gerade diese ihre notwendige Kraft erweisen. Da ist zuerst die politische Herausforderung der Erkenntnis des früheren oder fernen Großen. „Die Toten können übertroffen werden" - dies mag meist politische Romantik bleiben. Viel stärker ist das Hochgefühl eines Finders oder des Übernehmenden, der sich als Erbe größer fühlen darf, weil er solche Weiten überblickt und ihre Ergebnisse sich nutzbar machen kann. Jenes politische Hochgefühl, welches jede, gerade auch die unbewusste Wiedergeburt staatlicher Formen begleitet, hat etwas mit dieser Freude des freien Finders, des befreiten Erben zu tun, die es eben auch in der Politik gibt. Sie erfüllt das Studium des Staatsdenkers ebenso wie die Arbeit des Gesetzgebungstechnikers, der hier etwas gefunden hat, was er nahezu beliebig auch geistig zu verändern mag. Was immer Politik auffindet, sie will es nie archivieren, sie ist verurteilt dazu - manchmal verdammt - es mit ihren Passionen zu erfüllen und einzusetzen, es darin zu potenzieren. Eine Politik, welche auf Staatsrenaissance mehr stößt, als dass sie in ihr stattfindet, fühlt sich ja auch kaum je von solchen mächtigen, wiederkehrenden Inhalten gebunden, eben ihre größeren Dimensionen verwandelt sie zur Freiheit ihrer eigenen Gestaltung. Die Auffinder des Entfernten sind dessen geistige Eigentümer, beliebig hoch können sie diese Sprunglatten für die Zukunft stellen. Übernommene Formen der Staatlichkeit zwingen ja kaum je zu etwas ganz „Bestimmtem", die Schöpfer dieser Vergangenheit sind tot oder in weiten Fernen, es gibt keine Kontrolleure dessen, was mit der Wiedergeburt geschieht. Immer ist diese Renaissance ein größerer Vorgang, aus ihm heraus kann es nur abwärts oder aufwärts gehen, kaum je eben dahin, dies allein aber schon erzwingt den Zug nach oben. Die Herrschenden, die solche Formen finden und einsetzen, können sie, wenn es ihr Maß und ihre Staatsweisheit gestatten, nahezu beliebig variieren und potenzieren, „Kritik der Urheber" brauchen sie nicht zu fürchten, ein Copyright gibt es in Staatsrenaissance nicht. Zum politischen Glück wird eine solche Übernahme, wenn sie beherrschbar bleibt, wenn ihre Kräfte langsam nach oben tragen, hinein in eine wahre Imperialität; Frankreich hat sich diesen Atem im Ganzen, auf seinem Weg gegen das Deutsche Reich und in sein eigenes hinein, immer bewahrt.

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3. Überstürzte Wiedergeburt, Anknüpfung an fremde Erfolge eine tödliche Herausforderung Staatsrenaissance war stets ein Ausdruck aufgestauter politischer Kraft, immer hat sie selbst auch mächtig gewirkt. Doch aus der ruhigen Suche der „guten Staatsformen" ist oft, gerade in großen Momenten versuchter Wiedergeburt, die tödliche Herausforderung der Restauration des Unwiederholbaren geworden. Napoleon, Mussolini und Hitler waren Figuren der Staatsrenaissance, von solchen Kräften wurden sie getragen, aus unterschiedlichen Gründen sind sie selbst letztlich daran gescheitert, immer aber dort, wo sie dies nicht primär als Suche der „guten Staatsform" verstanden, sondern von der tödlichen Herausforderung übernommener und sich übernehmender Macht mitgerissen wurden. Die Gefahren kamen schon aus dem Versuch einer Totalrestauration früherer Systeme, gerade Napoleon hat hier die fatale Wendung von einer echten Staatsrenaissance, der Wiederbelebung der römischen imperialen Idee, vollzogen zu einem Rückgriff auf frühere deutsche Reichsvorstellungen, die auf den brüchigen Spitzen der alten Aristokratie wieder wirksam werden sollten. Hier aber war die imperiale Renaissancekraft der Antike bereits in Spätfeudalismus erschöpft, aus dem keine Wiedergeburt kommen konnte. Der eigentliche Grund aber, weshalb die großen Führer durch die Herausforderung der Staatsrenaissance in deren überstürzte und damit tödliche Formen getrieben wurden, lag in einem anderen: Die Wiedergeburt früherer Erfolge wurde versucht, der Faschismus wollte weit mehr anknüpfen an die Mittelmeer-Siege der Römer als an ihre Staatsformen. Der Nationalsozialismus fand in der germanischen Vergangenheit vor allem die unbändige Kraft, nicht die Klarheit der „guten Staatsformen". Machtrestaurationen wurden hier versucht, es wirkte gar nichts mehr von der kritisch-kühlen Geistigkeit der renaissancehaften Übernahme des Höheren. Wirkliche Staatsrenaissance empfindet immer zuerst etwas wie eine staats- und rechtstechnische Herausforderung, nicht nur die Faszination des früheren Erfolges, mag dieser auch die „guten Staatsformen" letztlich historisch legitimieren. Die Macht der Gegenwart muss aus den eigenen Möglichkeiten geboren, an ihnen gemessen werden, nie liegt sie bereits in der Aneignung fremder Formen beschlossen. Der feine Unterschied zwischen politischer Kraft und politischem Machtanspruch verläuft gerade hier - auf dem Letzteren liegt sicher nicht der Akzent der Wiedergeburt „guter Staatsformen". Die emotionale Begeisterungskraft des Triumphalismus, für frühere eigene und fremde Erfolge, soll gewiss nicht in Staatsrenaissance geschmälert werden, diese bietet ihm viele Instrumente und Chancen. Im Kern aber bleibt sie die bewusste Übernahme des Fremden, und vor allem wirkt sie mit einer kritischen Geistigkeit, welche Machtbrutalität eher mäßigen, nie noch weiter nach vorne treiben wird. In ihr liegt mehr die antike Formenruhe als die Explosionskraft einmaliger Imperialität.

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Heute ist dies alles vor allem eine Mahnung an die neuen Staatlichkeiten der Dritten Welt: Sie mögen die politischen Formen ihrer früheren Herren übernehmen, die Renaissancekraft sollten sie entfalten, welche wahre Wiedergeburt in neuen Formen bringen kann. Doch auf eines dürfen sie den Blick nicht richten: auf die einstigen politischen Erfolge der Kolonialherren, sie sind für sie kein Gegenstand der Staatsrenaissance, diese Mächtigkeit ist wirklich vergangen. Ordnungsinstrumente sind den jungen Völkern hinterlassen worden, eine Staatsrenaissance als Machtanspruch würde ihnen zum Verhängnis. Ein Beweis für die Größe der Staatsrenaissance ist es, dass sie in der Geschichte groß hat missverstanden werden können - zum Untergang hin.

4. Aufruf zur großen politischen Gestaltung Renaissance war immer ein Aufruf zu Größerem, und so wirkt sie auch in ihrer politischen Ordnungskraft. Der Finder der fernen Form, der sie zu seiner eigenen machen will, muss stets seine Leistung an dieser Qualität messen, in dem Vorgang der Staatsrenaissance selbst stellt er sich in eine Entwicklung politischer Unsterblichkeit. Eine gewisse Dimension der Lösung ist damit vorgezeichnet, in kleinen, kontingenten Details darf nichts übernommen werden. Stets wirkt hier eine Herausforderung der Rechtsgrundsätzlichkeit - wie sollte eine Grundrechtsrenaissance gedacht werden, bei aller Technizität, wenn sie sich nur mit der Frage der „bewaffneten Versammlung" beschäftigen wollte? Und die Größen-Dimension der Herausforderung zeigt sich gerade auch in der Zeit: Staatsrenaissance wirkt immer wie ein Aufruf zu potentiell ewiger Gestaltung. Menschenrechte können kein Ende finden, die Reichsidee ist als solche unvergänglich, senatoriale Politik sitzt immer auf kurulischen Stühlen, Selbstverwaltung lässt sich nicht durch Übergangsregelungen einführen. So wie die Zeit stillsteht im Vorgang der Staatsrenaissance, so bedeutet diese eine Herausforderung zur Ordnungsgestaltung ohne Rücksicht auf Zeitlichkeit; wo Übergangsregelungen wesentlich sind, Zeitgesetze, da wirkt keine Wiedergeburt. Die Kraft eines Aufschwungs zur unveränderlichen Gesetzgebung ist stets ein Beweis der Wiedergeburt von Staatsformen, gerade in dieser Ewigkeit finden sie auch ihre übernormative Güte. Als die Staatsform der Republik endgültig zurückkam, nach so manchen Renaissancen, die auch schon immer „eine Ewigkeit hatten dauern wollen", da wurde ihre Wiedergeburt erst wirklich bewusst, als sie mit Ewigkeit umgeben wurde, in der normativen Unveränderlichkeit der Staatsform, wie sie das Frankreich der Dritten Republik erstmals gegen viel positivistische Kritik durchgesetzt hat, mit dem sicheren Instinkt einer Ewigkeitsentscheidung. Sicher liegt darin keine Garantie gegen die Zeit und ihre wechselnden Mächte, wohl aber das Omen einer stets erneuten Wiedergeburt. In diesem Sinne sind dies

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dann wirklich Elemente einer Über-Verfassung, eine „größere Lösung" nicht nur in der horizontalen Beherrschung des Raums, sondern in die unendliche Zeit hinein. Dass hier im Letzten Unmögliches unternommen wird, ist ebenso unbestreitbar wie die Kraft, welche gerade daraus kommt, weil die Wiedergeburt von Staatsformen eben etwas wie eine grenzüberschreitende, darin aber grenzenlose Herausforderung bedeutet.

5. „Wider den Experimentierstaat" Ist die Gegenwart nicht eine Zeit der Staatsexperimente, laufen hier nicht, in ständiger, sich immer mehr überfordernder Gesetzgebung und Bürokratisierung, Reihen von politischen Großversuchen ab, an deren Güte niemand glaubt, die sich selbst beweisen sollen, und die, wenn dies nicht gelingt, ohne Bedauern eingestellt oder zurückgenommen werden, weil das alles „nichts gebracht" hat? Machtausübung als Experiment ist sicher eine große Versuchung, gerade für eine Demokratie, welche hier das Lastende des monumentalen Machteinsatzes vermeiden will, es in Experimentierklauseln in Kauf nimmt, dass sich die Staatsgewalt selbst laufend auf eine unsichere Zukunft einstellt. Dies ist dann die Absage an die große Lösung im Raum und, vor allem, in der Zeit; „der Staat als Versuch" entfernt sich von den Monumenten früherer Imperialität. Ist dies alles nicht eine Antithese zu Gedanken einer Staatsrenaissance, in der nicht experimentiert, ja nicht einmal variiert werden darf? Ein Spannungsverhältnis ist deutlich, doch es sollte nicht übersteigert werden. Staatsrenaissance bringt zwar etwas von „festen Staatselementen" wieder, doch sie sind immerhin, weithin beliebig, integrierbar in neue Systeme; der Senat der Amerikaner ist nicht die Adelsversammlung der Römer. Der Aufruf der Staatsrenaissance, von dem in diesem Kapitel die Rede ist, zeigt wohl eine gewisse Festigkeit des größeren Auftrages, zugleich aber auch eine Flexibilität, welche aus der Ferne der Übernahme kommt. Eines allerdings schließt Staatsrenaissance als Herausforderung aus: den „Experimentierstaat" als solchen, der nicht nur seine Grundthemen variiert, der seine Mechanismen „auf Entscheidungssuche" schickt, weil er selbst der Grundentscheidung überhaupt nicht mehr fähig ist. Eine Staatlichkeit des ständigen und schrankenlosen Gegensteuerns, eines Hin und Her, als habe es ein Gestern nie gegeben - in gewissen Bereichen der Kulturstaatlichkeit ist es bereits traurige Realität - bringt nicht nur eine Perversion des täglichen Plebiszites der Demokratie, sondern auch einen Abfall von allen imperialen Kräften einer möglichen Staatsrenaissance. Denn was übernommen worden ist als Form oder Element einer „guten", besseren Staatlichkeit, das bedeutet eine Orientierung, welche die Staatsvariationen in Grenzen hält, und in diesem Sinn hat auch die Wiedergeburt der Staatsformen immer etwas von größerer, weiterer Technizität. Immerhin ist doch deutlich geworden, dass hier et-

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was Größeres hereinkommt, das schon einmal funktioniert hat. Das Experiment hat im Grunde schon stattgefunden, nun gilt es, dies weiterzuführen, nicht dem Zufall zu überlassen. Das große Vor-Bild - im wahren Sinne des Wortes - gilt nicht nur im Zweifel, sondern mit einem Absolutheitsanspruch. Humboldtsche Universität, ihrerseits schon aus Gedanken der Staatsrenaissance entstanden, ist nicht unendlichen Experimenten geöffnet, sie steht nicht zur grenzenlosen Disposition heutiger Kulturgewalt. Wer sie als weiterwirkende Wiedergeburt der Antike bewahren will, schuldet einen Respekt vor bewährter Vergangenheit, er muss den Anruf hören, der von einer gewissen Festigkeit früherer Formen dieser „Republik des Geistes" ausgeht. Vorgaben sind da, im wahren Sinne des Wortes, Herausforderungen, etwas „bereits Gelöstes" - nicht nur Fragenkomplexe, die neuer Lösung harren. Diese Absage an den „Staat der Experimente" führt übrigens zu tieferen Problemen und Erkenntnissen, sie zwingt zu einer Besinnung auf die Beziehungen zwischen Sollen und Sein. Die experimentierende Staatlichkeit bewegt sich von einer kleineren Realität zur anderen, sie schafft immer neue Zustände, im Grunde erschöpft sie sich auf diese Weise im Tatsächlichen. Ein Sollen kann ja kaum sein, wo die Zukunft dergestalt offen ist, „Jahres-Gesetze" sind eben Tatsachen, wie der Schlussstrich unter den Haushalt; darin zeigt sich, dass die Zweiteilung von Recht und Faktum zu einfach ist, der Experimentierstaat hat eigenartige Zwischenstufen geschaffen, und er treibt das Recht immer mehr in die Nähe des Seins. Die umgekehrte Bewegung kommt aus den größeren Wellen der Staatsrenaissance. Hier wird nicht „Sachlage an Sachlage gereiht", „Recht kommt aus früherem Recht", die heutige normierende Kraft überlagert sich früherer Normativität, denn diese Inhalte haben ja bereits gegolten; nicht als „Fakten" - als früheres Recht, aber doch wesentlich als lus werden sie übernommen. Hier zeigt sich wirklich die Staatsrenaissance als Antithese zur Staatlichkeit der Experimente: Übernommen wird ja das Vorgegebene, bei aller Variationsmöglichkeit, etwas von einem ne varietur ist solchen Inhalten eigen, die eben aus einer gewissen Bewunderung heraus übernommen werden, nicht im Pragmatismus des reinen Versuches. Deshalb möge man nicht glauben, aus den Experimenten öffne sich ein Weg in die Wiedergeburt der Staatsformen, im Gegenteil, hier wird ihre Größe in allzu kleine Münze gewechselt, und etwas wie Majestät muss eben bleiben in aller Renaissance. Weil aber die großen Rechtsentwicklungen nie aus reinem Experimentieren gekommen sind, sondern immer mit der Kraft, welche die große Herausforderung der Übernahme früherer Normativität in sich trägt, findet sich im Gedanken der Staatsrenaissance letztlich auch eine Bestätigung der Selbständigkeit des Sollens gegenüber allem Sein, mag es sich ihm hier auch in Historizität und Rechtsvergleichung so weit öffnen: Ganz oben, dort, wo die Kraft des mächtigen, des imperialen Neuen ausgeht, ist nie das „reine Faktum", sondern stets ein uraltes oder fernes Recht, das als solches nicht im Experiment bewiesen wird, sondern sich in Wiedergeburt aufdrängt. 27 Leisner

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6. Wiedergeborene Staatlichkeit - ein Recht des optimistischen Fortschritts Der Staat der Experimente will sich dem Fortschritt öffnen, doch der größere Progress kommt im Grunde aus einer Geistigkeit, welche der Staatsrenaissance fähig ist. Für viele mag heute in der Fortschritts-Idee, der diese Zeit verhaftet ist, eine Absage liegen an jenen „großen Sprung", in dem allein Staatsrenaissance auftreten kann. In merkwürdigem Gegensatz aber zu Voraussetzungslosigkeit und Neuheitsbegeisterung, welche größere Vergangenheit hinter sich lassen will, lässt sich überall eine eigenartige Kontinuitätspflege feststellen, welche nur zu oft die ängstliche Sorge der kleinen Schritte zeigt, von den ständigen Gesetzesnovellen bis zu den Schildkröten-Bewegungen der Bürokratie. Im Grunde ist hier nichts als eine Perversion der großen Fortschritts-Idee, welche der Liberalismus gerade der demokratischen Verfassungsentwicklung mitgegeben hat. Aus der im „großen Sprung" zurückgewonnenen Freiheit heraus wollte sie doch gerade nicht das langsame sich Fortschleppen; wenn schon nur ein Schreiten, so soll es doch immerhin „fort" gehen, in weitere, glücklichere Entfernungen, vom heutigen Zustand aus betrachtet. Und wird nicht „Fortschritt" im Grunde auch heute nur in den größeren Schlägen der Verfassunggebung wirklich gesehen, oder in weiteren Schritten einer Gesetzgebung, nicht aber in der kleinen Kontinuierlichkeit des Verwaltens, in seinen exekutiven oder legislativen Formen? Dort kann der „Fortschritt" nur retrospektiv, geradezu historisierend erkannt werden, indem eben nach längerer Zeit festgestellt wird, da sei „doch etwas in dieser Richtung erfolgt". Der demokratischen Politik kann dies letztlich nie genügen. Wenn aber ein „größerer Sprung" auch immer wieder kommen muss - in die Zukunft hinein bleibt er stets risikobehaftet, ein Versuch ins Dunkel, wie ihn gerade heutige vorsichtige Staatlichkeit kaum mehr wagen will - die sich eben deshalb auf Experimente beschränkt. Der große Ausweg ist hier wieder - die Staatsrenaissance, der „große Sprung nach vorne als großer Sprung zurück". So bewegte sich die kommunistische Macht, so ist das II. Deutsche Reich entstanden, mitten im liberalen Fortschrittsoptimismus der Gründerzeit; aus dieser Kraft der Rückwendung zu den längst vergessenen Grundrechten hat die Französische Revolution den Fortschritt über die Welt getragen. Und dies alles ist immer erfolgt mit der Überzeugung, dass es rechtens sei, dass es gelte, wiederzubeleben iniuria temporum collapsa, was durch die „Ungerechtigkeit der Zeiten" zusammengebrochen ist, die seine Größe nicht mehr erkannten. Der Sprung zu „neuen Horizonten", den die Kraft der großen Herausforderung trägt, kann nur gelingen, wenn da „irgendwie schon einmal etwas war", sonst wird er nicht gewagt. Im Grunde liegt die Größe der Fortschrittsidee gerade darin, dass sie „in alle Richtungen hin verlaufen kann", gerade aus der Vergangenheit in die

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Zukunft hinein möglich ist; so hat sich der große Liberalismus des 19. Jahrhunderts in dieser Zeit des Historismus gerade entwickelt und mit diesem zu verbinden vermocht. Deshalb auch ist „das Reich der Zukunft" nur möglich als ein Reich der Vergangenheit, und für die französischen Revolutionäre war daher das „Règne de la Liberté" das ganz ursprüngliche Imperium der wiedergeborenen Freiheit. In der Idee der fortschrittlichen Politik lebt im Letzten auch etwas von der Zielhaftigkeit der Paradiesvorstellung. Wenn es gelingt, das ursprünglich Glückliche zurückzuholen, so schließt sich der Kreis des Fortschritts, in Kommunismus, fortschrittlichem Sozialvertrag oder wie immer. Die säkularisierte Paradies-Idee des Progress findet dann wiederum ihren letzten Anschluss an das heilige Reich, in dem „alle eins sind", und darin mag sie sogar Züge ihrer eudämonistischen Glückseligkeit sich bewahren. Etwas von dieser politischen Paradiesvorstellung und -Sicherheit lebt in jeder staatlichen Ordnung, größer wird es gefühlt in der Wiederkehr der guten Staatsformen, in welcher eben ein solcher Liberalismus nicht an die Gebrochenheit der Erbsünde glaubt. Am Ausgangspunkt dieser Betrachtungen über das Reich als die größere dauernde Ordnung stand die These gestellt, dass es wieder gelte, Staatsrecht als ein Reichsrecht zu erfassen, als das Recht einer größeren, nicht von Untergangsängsten gequälten Ordnung. Diese Kraft wohnt vor allem der Staatsrenaissance inne. Hier kommt die größere Rechts-Tat aus einer doppelten Sicherheit: dass sie in einer Entwicklung steht, die als solche so gut ist, dass sie nicht sterben kann, sondern als Erbe immer wiederkehrt; und dass ein „großer Sprung" sich nicht nur irgendwohin richtet, sondern auf die Ziele jenes Fortschritts zu, der auf einen „guten Endzustand" gerichtet ist. Er kann kommen, weil er bereits Wirklichkeit war, weil er im Grunde nur restauriert wird, in einem höheren Sinne als dem der Fortsetzung früherer Kontinuität. Gesetzgebung der Gegenwart steht dann glückhaft in dieser Entwicklung, wenn sie sich nicht in staatlichem Hochmut nur sieht als Verbesserungskraft, in der Verachtung des Früheren, wenn sie vielmehr aus diesem das Beste heraushebt, zu ihm zurückführt und darüber hinaus.

VII. „Renaissance an sich" - das Übernommene als Wahrheit 1. Die Bedeutung der Staatsrenaissance - vom Übernommenen zur postulierten Übernahme Die Bedeutung der Wiederkehr der Staatsformen darf nicht auf die Inhalte beschränkt werden, welche so aus ferner Zeit oder aus weiter Entfernung zurückkommen. Selbst dort, wo solche Übernahmen bewusst, fast lehrbuchmäßig vollzogen wurden, waren es nicht nur die Inhalte, welche zu größeren Ordnungen herausfor2*

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derten, die Kraft dazu vermittelten. Wer darin allein die Bedeutung solcher Entwicklungen sehen möchte, würde sie allzu sehr verengend auf einen Historismus festlegen, der in der Politik doch immer wieder dem Neuen, der Überzeugung eigener Gestaltungskraft weichen muss. Hier mag daher die These stehen: Nicht nur das Übernommene ist wichtig, die Übernahme selbst zählt als Kraft zur Gestaltung größerer Ordnungen. Selbst wenn es diese früheren, besseren Zustände nicht gegeben haben sollte, wenn die Formen historisch verkannt sind, welche wiedergeboren werden - in der Entscheidung zu solcher Rückwendung selbst liegt bereits eine Grundsatzorientierung gegenwärtiger Politik, ein Aufschwung zu etwas Höherem. Deshalb gibt es auch im Letzten keine historischen Einwendungen gegen Staatsrenaissance, nicht nur, weil Wissenschaft und Geschichte gegen den politischen Willen ohnmächtig sind, sondern weil dessen Kräfte sich auch dort entbinden, wo sie an „Postuliertes", ja wo sie an Inexistentes anschließen. Dies alles ist nicht ohne Gefahren, das zeigte sich schon, denn wenn der reale Bezug zur Vergangenheit verloren geht, wenn Gegenwartshoffnungen als Wiedergeburt größerer Staatlichkeit ausgegeben werden, ist damit im Grunde nichts anderes postuliert als eigene inexistente Macht. Doch in gewissen Grenzen ist auch dies stets eine politische Kraft der Erneuerung gewesen, als solche darf eine „Staatsrenaissance an sich" bei der Betrachtung dieser Phänomene nicht fehlen. Beispiele bieten die großen Erscheinungen und Versuche der staatlichen Wiedergeburt fast alle. Es muss nicht nur hingewiesen werden auf das Germanenbild der Nationalsozialisten, das es als solches, mit staatsrechtlicher Mächtigkeit, wohl nie gegeben hat, auf das Römerbild Mussolinis, der doch seinen Corporationsstaat auf solche imperiale Vorbilder gewiss nicht stützen konnte. Römische Staatsrenaissance hat die Französische Revolution in großem Stile vollzogen, obwohl ihr eigentlich zentraler geistiger Inhalt, die Wiedergeburt der Grundrechte, aus dieser Welt nicht zu vollziehen war. Mit ihrer Sozialstaats-Renaissance knüpft die Katholische Kirche bewusst an frühchristliche Zustände an, die doch in ihrem staatsrechtlichen Rahmen und ihren sozialen Problemlagen von der neuesten Zeit weit entfernt sind. Überall zeigt sich: An entscheidenden Punkten vollzieht sich ein geistiger Übergang von Gedanken der Übernahme in solche der Rückprojektion heutiger Vorstellungen, fließend geht das eine immer mehr in das andere über. Nicht so sehr die früheren großen Staatsbruchstücke sollen dann in ein „heutiges System" gebracht werden - eher könnte man sagen, es werde versucht, „das heutige System in die früheren Trümmer zu bringen", es in ebenso mächtige Blöcke zu teilen. Die Übernahme fremder Gestaltungen soll gegenwärtige Erfolgshoffnungen legitimieren. In immer neuen Schüben von Staatsromantik wird Früheres verwandelt, idealisiert oder herabgesetzt, damit man sich in positiver Staatsrenaissance ihm zuwende oder in negativer sich von ihm entferne - denn auch dies Letztere findet gerade heute laufend statt: Vergangenheit wird zum negativen Maßstab dessen, was von irgendwoher rezipiert werden könnte. Oder es werden schließlich nur mehr Hülsen für variable Inhalte übernommen, die dann doch aus eigener Traditi-

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on oder gegenwärtigen Bedürfnissen heraus zu erfüllen sind. So bleibt dann von dem früheren Rückgriff nur mehr eine Wiedergeburts-Stimmung, bis auch deren letzte Größe sich in rein gegenwärtiger Technizität verliert. Postulierte Staatsrenaissance ist vielleicht insgesamt ein ebenso wichtiges Phänomen wie die wahre Wiedergeburt der „guten Staatsformen" - und sie kann zu deren Perversion werden, zur Gefahr: dass nämlich nur Gütepostulate aufgestellt, durch raschen Hinweis auf eine Vergangenheit legitimiert werden, in welche im Grunde nichts als das eigene kleinere Wollen verlegt wird. Hier entsteht dann eine „falsche Sicherheit des großen Neuen", welche gerade in einer Periode illusionär wirken kann, in welcher der strenge Historismus seine Maßstab-Kraft zu verlieren droht. Wenn die Staatsrechtslehre ihre Verbindung zur Verfassungsgeschichte lockert, leistet sie dem in einer Dogmatik Vorschub, welche auf Staatsrenaissancen sicher nicht verzichten wird, ohne sie aber aus früherer, ferner Wirklichkeit zu vertiefen. Und doch - die „Staatsrenaissance als solche", gelöst selbst von ihrem realen Gegenstand, ist eine mächtige Kraft, gerade in der Demokratie.

2. Staatsrenaissance an sich - Steigerung gegenwärtiger politischer Gestaltungskräfte Renaissancestimmungen der Staatlichkeit waren nie Dekadenzen, in denen sich politische Gestaltungskraft abgeschwächt hätte, abgestützt auf vermeintliche oder wahre frühere Imperialität. Stets haben sie als Antriebskräfte gegenwärtigen Befehlens gewirkt, und zwar gerade auch dort, wo mehr Renaissanceüberzeugung als -Wirklichkeit war. Wo gegenwärtige Befehls- oder Normierungskraft aus sich selbst heraus nicht mehr ausreicht, kann sie als Testamentsvollstrecker einer fremden, kaum mehr bekannten Vergangenheit stärker werden, vor allem dann, wenn sie das Monopol dieser Vollstreckung beansprucht, wenn gegen sie nicht oder nur mehr in historisierender Schwächlichkeit argumentiert werden kann. So waren denn die Zeiten der großen Staatsrenaissancen stets Perioden beginnender Anarchie, eines Befehls, der keine Legitimation mehr in sich selbst finden konnte, am Ausgang des Mittelalters ebenso wie vor dem Einsetzen der Französischen Revolution oder der faschistischen Bewegungen. Mit einem Mal tritt hier etwas ein wie eine verselbständigte politische Testamentsvollstreckung, welche sich selbst den Willen eines Testators schafft - oder erfindet. Je weniger diese Gegenwart durch Einzelkenntnisse des Übernommenen behindert wird, desto stärker kann sich ihr Befehl in dessen Vermeintlichkeit regenerieren. Wo die bekannte Befehlstradition pervertiert erscheint, in Urteilen zur Unrechts-Staatlichkeit verworfen wird, wie nach dem Ende des Nationalsozialismus, muss sich der neue Befehl seine Staatsrenaissance-Grundlagen finden oder erfinden, will er überhaupt einsetzen können, mit einer Kraft der Neugestaltung, deren gerade er bedarf.

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Unabhängig von allen Inhalten der wiedergeborenen Staatlichkeit - sie zwingt schon als solche, als eine „besondere Dimension", die gegenwärtige Ordnungskraft zu einer bestimmten Höhe und Grundsätzlichkeit, zu einer weiten Schau in den Zeitdimensionen der „großen Wellen", an deren eine sich die andere anschließt. Heutige, kürzerfristige Interessenwahrnehmung muss in jedem Falle zurücktreten, sich in die größere Fernorientierung einfügen - diese aber ist als solche gar nicht verbunden mit dem oder jenem Inhalt des wiederkehrenden Rechts. Regenerationskraft der römischen Renaissancen lag nicht zuallererst in den wiedererrichteten Trophäen, den römischen Bezeichnungen oder Erfolgsansprüchen - sub specie aeternitatis wurden die gegenwärtigen Ordnungen „nicht gesehen, sondern neu gestaltet", sie sollten den früheren Bögen an Größe gleichen, auch wenn man diese nur in Umrissen erkannte. Daraus kam die Kraft, die kleinen heutigen Interessen zu - übersehen. Gleich was der Inhalt des Wiederkehrenden sein mag - seine Kategorie „richtet als solche die Gegenwart" in einem bestimmten Sinne aus, sie muss sich gewissermaßen verantworten vor einem höheren Gesetzgeber, gleich was dieser früher bestimmt haben mag. Darin liegt ein Zwang zur „Ordnung in Stufen", damit der Anschluss an die zurückgekehrte und notwendig in diesem Sinn „höhere Ordnung" erreicht werden kann. Der Stufenbau des Rechts ist daher letztlich eine Renaissancekategorie, und zwar selbst in seiner vollen, kelsenianischen Formalisierung, denn - die Inhalte zählen nicht, entscheidend sind die Richtungen, die Höhen, die Dimensionen. Kann das bedeuten, dass selbst „die Wahrheit" nicht mehr zählt, aus der doch, in „historisierender Dogmatik", gute Staatsformen aus der Ferne die Gegenwart erreichen sollen?

3. Staatsrenaissance - eine „besondere staatsrechtliche Wahrheit" Die Betrachtungen zur Triumphalität hatten gezeigt, dass es etwas gibt wie das „Erfolgsdenken an sich", welches die Wahrheit des großen Sieges im Letzten nicht mehr braucht, ihn sich zu erfinden vermag. Die Kategorien eines solchen Voluntarismus, der hier politische Emotionalität erreicht, lassen sich auf die ruhigere Staatsrenaissance nicht ohne weiteres übertragen, sie will ja etwas wie die rationale Güte der Staatsformen in deren Rückkehr, in ihrer Übernahme beweisen, aus ihrer Mitte kann sie also die Wahrheitsfrage, auch die der historischen Existenz des Wiedergeborenen, nicht völlig verdrängen, so stark auch die „Renaissancestimmung als solche" wirken mag. Doch ihre Eigentümlichkeit hat „die Wahrheit", wie in jedem geistigen Raum, auch hier, in den staatsrechtlichen Bezügen. Was „wiederkehrt", wird der Gegenwart ja nicht von einer Geschichte aufgezwungen, welche ihr mit einem Richtig-

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keitsdiktat begegnen will. Entscheidend ist in allem, was den Namen der Staatsrenaissance verdient, das „Finden", es setzt sicher eine Realität des Wiederkehrenden voraus, doch es zeigte sich bereits, wie wichtig das Bruchstückhafte hier ist, die Rückkehr gerade der „technischen Formen". Die „ganze historische Wahrheit" ist nicht der Staatsrenaissance fähig, je mehr sie erkannt wird, desto stärker verliert sich ihre dogmatisierende Kraft. Und sie bleibt eben ein „dogmatischer Vorgang", der hier und jetzt ganz ist, das Aufgefundene in seine eigenen Mauern bringt, es vielleicht ergänzen, aber nie in all seinen Einzelheiten kennen will. Irgend etwas von dem Schauder, es könnte auch Kleines, allzu Bescheidenes entdeckt werden, hat stets die Renaissancen begleitet, auch in ihren politischen Ausprägungen. So ist denn diese staatliche Wiedergeburt „Wahrheit" nur bis zu einem gewissen Grade, wenn sie größere Trümmer findet, ist ihr in diesen Wahrheit genug, die kleineren Wahrheiten werden verdrängt, die sozialen Schwierigkeiten der römischen Spätzeit, die großen politischen Korruptionen, in denen das Volk gewonnen werden konnte, zählen nicht, wenn der Purpur des Imperators den eigenen Thron bedeckt. „Wahrheit" ist im Staatsrecht zuallererst eine dogmatische Kategorie, Ausdruck des ordnenden Willens, und bei allem, was ihr in Staatsrenaissance „vorgegeben" wird, bleibt sie dies noch immer, auch die „gute Staatsform" ist nicht der „historisch richtige Inhalt". Die Kraft des Fundes, um es verkürzt auszudrücken, gibt auch das Recht zu einer gewissen politischen Manipulation, so ist denn die Staatsrenaissance mit „moralischen" Kategorien, der Lüge, der Verfälschung, kaum angreifbar, gegen sie hilft hier allein schon das Wort der Übernahme und ihrer Freiheit. Der Tradition mag man noch den Vorwurf der Lüge machen, die Renaissance ist dagegen immun. Allenfalls sind ihre politischen Funde nicht allzu viel wert dann wird man sie rasch in Antiquarien aufstellen und dort aus Distanz bewundern, bis man später wieder einmal erkennt, dass mehr Originale darunter sind als man gedacht hat. Mit historischen Wahrheitskategorien lässt sich die Staatsrenaissance nicht angreifen, ihre Legitimation kommt aus den größeren Erscheinungen der Vergangenheit, die als solche indiskutabel geworden sind. Für die Demokratie als „Staatsform der Rationalität" ist diese komplexe Beziehung der Staatsrenaissance zu den Kategorien der „Wahrheit" besonders günstig, ihrem Wesen entspricht sie geradezu optimal. Einerseits ist da doch etwas von einer „Rahmen-Rationalität" eines Erkannten, von dem aber häufig nicht mehr als die Umrisse sichtbar sind, die legitimieren. Auf eine solche größere, selbstverständliche Wahrheit kann sich die Volksherrschaft bei all ihren bedeutenden Rückgriffen stützen - und sich doch den kleineren, zerfasernden und unterminierenden Wahrheitssuchen entziehen. Denn die „Richtigkeit" im Einzelnen steht weithin zu ihrer, zur heutigen Disposition, sie mag in der Tagtäglichkeit des Volksplebiszites gefunden werden, eingebaut in die größeren Bögen einer aufgefundenen staatsrechtlichen Vergangenheit, in welcher die Demokratie ihren Frieden mit all dem

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machen kann, was früher einmal groß war, ohne doch ihre rationale Wahrheitsbegeisterung verleugnen zu müssen. So ist denn die Antwort auf die Wahrheitsfrage, welche der Demokratie gestellt bleibt, in Staatsrenaissance zu geben: Wahr ist für sie jene Imperialität, die so groß war, dass sie in ihr wiedergeboren wird, weiter zu denken ist in der tagtäglichen Wahrheit des Volkswillens.

4. Staatsrenaissance als politischer Selbstwert Renaissance bedeutet nicht nur eine Fülle alter und damit gerade neuer Inhalte, sie ist auch „Methode", darin ist etwas von „Staatsrenaissance an sich". Eine Definitionsfrage ist es, ob dies mehr bedeutet als jene „staatsrechtliche Grundstimmung", aus der heraus es immer wieder zu solchen Wiedergeburten gekommen ist. Entscheidend ist eine Grundstimmung des heutigen Ordnens, in dem man sich einem weit Entfernten verpflichtet weiß. Gerade die ganz großen Aufbruchsbegeisterungen zu neuen Horizonten haben hier ihren Halt und ihre letzte, antikisierende Bescheidenheit gefunden: Man fühlte sich „unter Größerem stehen", das zwar die eigene Anstrengung legitimierte, doch sie musste sich auch vor ihm legitimieren. Dies ist der Sinn der ägyptischen Renaissance, die längst vor Napoleon begonnen hat, aber erst dort zur politischen Macht wurde, wo Jahrtausende auf eine siegreiche Armee herabsahen. Ausgrabungen haben nicht immer Erfolg, das Graben selbst zählt bereits, und wenn es an einer Stelle erfolglos bleibt, so schafft es sich doch, in der Kraft des Zurückgreifen-Wollens als solchen, seine eigenen Wirklichkeiten, seine Fiktionen und Illusionen, die zuzeiten mächtig genug sind, um Realität zu werden. Nicht die historischen Ergebnisse zählen primär, sondern eine historisch-dogmatische Methode, welche hier eingesetzt wird, immer im großen Stil, eine geistige Offenheit, die finden will im Rückgriff; und da fehlte gerade dem Nationalsozialismus, der die große Renaissance versprach, der mächtige Atem einer Geschichtlichkeit, welche Dogmatik werden kann. Hier ist wirklich bereit sein alles - zur Übernahme aus jenen größeren Ordnungen, die als solche in ihrer Imperialität erkannt worden sind. Die französischen Revolutionäre ließen die Antike in ihren Gewändern und fremde Völker durch Schauspieler vor den Tribünen der neuen Republik auftreten; die Gegenwart sollten sie preisen als eine wiedergeborene, größere Vergangenheit. Zu Unrecht ist dies belächelt worden, denn darin lebte die naive Kraft einer neuen Ordnung, die sich in Staatsrenaissance entfaltete: Selbst wenn die Fiktion aus der früheren Imperialität hergeholt wird, ein Eigenes in fremdem Gewände sich präsentiert, so muss da doch etwas sein von einer Größe, die auch in der fernen Vergangenheit hätte wirken können. Heutiges Staatstheater, imperiales Verfahren läuft ab in einer Dimension, die ihre Legitimation darin findet, dass sie auch früher hätte

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sein können. Und auch diese Theater-Renaissance, etwas von einer „Staatsrenaissance des reinen Verfahrens" bringt Kraft, vor allem aber zeigt sie, dass die Gegenwart vieles besitzt, was gerichtet ist auf eine Imperialität, welche sie sich vorspielt. Staatsrenaissance an sich - rein kann es dies nicht geben, denn hier muss etwas von den realen guten Staatsformen wiederkehren, nicht nur ein Wille, der sich an sich selbst begeistert. Wenn aber auch nur Ruinen in der Ferne geschaut werden dürfen, so mag die Phantasie des Heute groß genug sein, um in der Überzeugung ihrer Gegenwart die größere und dauernde Ordnung zu suchen.

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I. Die Bedeutung der „Wege" für die Wiedergeburt der Staatlichkeit 1. Die Inhalte des Wiederkehrenden - erkannt aus den Formen der Wiedergeburt Staatsrenaissance ist in zahllosen Formen politische Wirklichkeit der Vergangenheit und der heutigen Zeit. Wäre es möglich, ihre Inhalte jeweils präzise zu erfassen, so müsste eine eindeutige Dogmatik der „guten Staatsformen" geschaffen werden können, die Historia magistra hätte das Lehrbuch des richtigen Staatsrechts geschrieben. In solcher Einfachheit ist die geistige Wiedergeburt weder der Kunst noch der Politik je geschenkt worden. Wann immer sie glaubten, ewig gültige Canones der Staatsarchitektur gefunden zu haben - schon waren die Säulen und Friese wieder verlassen im Geiste der neuen Gestalter. Das antike Staatsrecht hat viele Generationen von Humanisten begleitet - heute scheint es zu verdämmern wie jene Bauformen, welche man einst als Ausdruck der göttlichen, wiedergefundenen Harmonie gefeiert hat. Und doch - das Bemühen um die Staatsrenaissancen ist ebenso wenig vergeblich wie die immer neue Hinwendung zu den großen künstlerischen und geistigen Renaissancen der Vergangenheit, die jede Gegenwart wieder in sich vollziehen muss. Entscheidend ist hier eine Erkenntnis: Nicht auf den Inhalt allein kommt es an, der wiedergeboren wird, aus weiter Ferne kommt, die Formen vor allem sind wichtig, in welchen sich dies vollzieht. In ihnen wirkt der Geist der Renaissance, in jener Haltung, die wiederfinden will, sich unter größere Bögen stellt, in der Sicherheit, dass entfernte Imperialität auf solchen Wegen wieder zurückkommen kann. In diesem Sinne ist das eine methodische Untersuchung, die sich allerdings darin nicht erschöpft, denn am Ende der Betrachtungen wird sich zeigen, dass gewisse Inhalte in der Tat in besonderer Weise und immer wieder zurückkehren, dass hier also etwas ist auch von einem erkannten inhaltlichen Guten der Staatsformen. Der große und richtige Weg aber führt immer wieder über die Betrachtung des Wesens, der Kräfte und nicht zuletzt der Formen der Staatsrenaissance. Wo immer sie als solche versucht wird, größer oder im kleineren Rahmen, da wirkt eine politische Gestaltungskraft, die aus dem täglichen Experiment hinauf in größere Ordnungen steigt, welche auf Dauer wirken sollen. Staatsrenaissance - vielleicht ist

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dies auch nur die Beschreibung des immer neu begonnenen Aufbruchs zu größerer Politik, der ebenso dann auch mit Inhalten belohnt wird, wie die Begeisterung für die Antike deren Schätze wieder gehoben hat. In den folgenden Kapiteln soll den Bahnen der Staatsrenaissance nachgegangen werden, vor allem, wo sie aus der Demokratie heraus kommen. Eine Antwort wird sich dann jedenfalls geben lassen: Immer dort ist etwas von einer imperialen Chance, wo in Staatsrenaissance gedacht, wo ihre Wege gegangen werden. Und etwas von dem Ergebnis der Wiedergeburt liegt bereits in ihrem Vorgang selbst beschlossen.

2. Wiedergeborene Staatlichkeit - schwer nur erkennbar Staatsrenaissance ist primär ein Vorgang des politischen Willens, mag er auch von geistigem Erkennen gesteuert sein. Hier soll nicht ein „Staatsmuseum" entstehen, vergangene Größe nicht archiviert werden. Die Einzelheiten dessen, was in Scholastik, Großer Renaissance, Französischer Revolution oder in der Staatsromantik des 19. Jahrhunderts wiedergeboren worden ist, lassen sich nur in mühevoller Spezialuntersuchung herausarbeiten. Und selbst dann wird sich wohl immer wieder zeigen, dass das Detail hier kaum je als solches, als ein „wiedergeborenes" kultiviert oder auch nur längere Zeit bewusst gewesen ist. Der Einbau in die gegenwärtige Staatlichkeit vollzieht sich gerade in solchen starken Gestaltungsperioden rasch und mit einer erstaunlichen Naivität, welche das Gefundene als Eigenes in Anspruch nimmt. Nicht selten läuft all dies in den verschlungenen geistigen Vorgängen einer politischen Bildung ab, welche Inhalte in früherer Jugend vermittelt, die dann erst Jahrzehnte, vielleicht Generationen später in politische Gestaltung umgesetzt werden können; die dauernde römische Staatsrenaissance über die Jesuiten- und anderen humanistischen Gymnasien zeigen es. Nicht nur Einzelelemente werden so rasch „nostrifiziert", dasselbe gilt auch für die weiteren, legitimierenden Staatsgrundsatznormen. Gerade wo aus einem wachen historischen Bewusstsein heraus gehandelt wird, ist die Wiedergeburt ferner Staatlichkeit als etwas Heutiges erst recht eine Selbstverständlichkeit, gerade dann will man sich nicht nur als Fortsetzer ferner Imperialität sehen. „Als Renaissance" ist hier immer nur sehr weniges bewusst gewesen, eher noch etwas wie eine weiterbestehende Gegenwart, von welcher nur die Schleier des Vergessens gezogen werden mussten, wie etwa in der Rückkehr der Grundrechte. Und vielleicht verdrängt die Politik hier die volle Bewusstwerdung, denn sie verlangt, dass dies alles ihr heutiger Erfolg sei, nicht die Größe vergangener Ordnungen. Eine Theorie der „geistigen Verdrängung der Renaissance-Inhalte" als solcher kann man wohl für jede Epoche aufstellen, in der gestaltungsfreudigen Kunst wie für die Politik. Immer wieder wird versucht, diese frühere Größe zu instrumentalisieren oder sie zurückzudrängen auf etwas wie eine Sekundär-Legitimation des neu Geschaffenen. In den großen Momenten der Staatsrenaissance war es am deut-

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Buch 2: Staatsrenaissance

lichsten, Napoleons Krönung wollte eben die ganze Wiedergeburt, aber auch das ganz groß Neue bringen gegenüber dem karolingischen Reich. Der Vorgang der Wiedergeburt im Einzelnen, dem gerade die Betrachtungen dieser Kapitel gelten, ist in der politischen Wirklichkeit meist das Sekundäre, er wird oft in die Gleichgültigkeit abgedrängt, wenn entscheidend nicht der Geburtsvorgang ist, sondern der Beginn des Neuen. So muss denn eine Betrachtung der Staatsrenaissance mit diesen Problemen der erschwerten Erkennbarkeit, ja der bewussten Verschleierung nicht nur der Inhalte rechnen, die wiederkehren, sondern selbst der Vorgänge, welche sie bringen: Von den seltenen Momenten einer historisierenden Vergangenheitsbegeisterung abgesehen, auf welche dies alles sicher nicht beschränkt werden darf, muss im Folgenden herausgehoben werden, was in Wiedergeburt wirkt, obwohl es sich ihrer als solcher nicht bewusst ist, sie nicht versteht, ja nicht einmal will, diese tieferen Strömungen und Vorgänge heutiger und früherer Staatsrenaissance. In diesen Verdrängungs- und Verschleierungsversuchen der Gegenwart gegenüber den Übernahmen aus weiter Ferne werden sich aber auch Einblicke in das Wesen gegenwärtiger Rechtsentwicklung ergeben, in ihre Kräfte und ihre Chancen.

3. Die vielen Wege der Staatsrenaissancen Die große Renaissance ist für viele ein Vorgang der Einmaligkeit par excellence. Und doch ist bald erkannt worden, dass diese Jahrzehnte nur der Gipfelpunkt einer ständigen Wiedergeburt waren, welche sich vorher über viele Generationen erstreckt hat und bis in die heutige Zeit dauert. Selbst wenn nunmehr die Rückkehr des politischen geistigen Erbes der Antike sich dem Ende zuneigen sollte, Jahrtausende haben doch gezeigt, in welcher Langfristigkeit sich derartige Vorgänge vollziehen. Wenn über so lange Zeit hinweg jede Generation ihren eigenen Weg der Staatsrenaissance des griechisch-römischen Denkens vollzogen hat, so bedarf eine These keines Beleges mehr: Staatsrenaissance ist wenn nicht ein ständiger, so doch ein lang dauernder Vorgang, sie mag in unterirdische Kanäle zurückfallen, nie aber kann sie auf eine Aufbruchstimmung beschränkt, in eine riesige Welle zusammengefasst werden - eine tröstliche Erkenntnis für manche, welche immer mehr in staatlichen Dekadenzen denken. Staatsrenaissance ist weder ein einmaliges, noch notwendig ein Groß-Ereignis, sie vollzieht sich zugleich auf vielen Straßen. Die antiken Staatsinhalte kamen damals nicht nur zurück in der Betrachtung römischer Staatlichkeit und Geschichte, sondern zugleich in der ganzen Breite der Wiedergeburt der antiken Paideia, vor allem in ihren literarisch-philosophischen Wirkungen auf jüngere Generationen. Nicht zuletzt aber war es die Architektur der Alten, welche in ihren als imperial empfundenen Formen wiederkehrte wie ein „Staatsrecht aus Stein". Dies ist gerade eine der großen Lehren für alle Staatsrenaissance: dass sie sich vollzieht in einer Verbindung von politischer Bildung, künstlerischer Staats-Gestaltung im weiteren

C. Formen der Staatsrenaissance

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Sinne und Formen der Herrschaft, welche durch diese Dimensionen entscheidend geprägt werden. Heutige Renaissancevorgänge wird also in diesem Bereich nur erfassen, wer zumindest diese drei - insoweit wahrhaft klassischen - Renaissancewege zusammen sieht, zugleich nachschreitet. Diese Vielfalt der Wege zeigt auch: Schwerpunkte mag es geben für Renaissance-Rechtlichkeit, nicht aber einen numerus clausus ihrer Formen. Sie werden ja durch die vielfachen kulturellen Kanäle geprägt, auf welchen sich diese Entwicklung vollzieht. Diese Vielfalt der Wege der Staatsrenaissance und über sie zu neuer Imperialität zeigt sich auch im engeren Bereich der Entwicklung des Rechtlichen als solchen. Staatsrenaissance darf hier nicht begriffen werden als ein rein außerrechtlicher Vorgang, in welchem sich revolutionsartig eine Wiedergeburt vollzieht, über alle bestehenden Strukturen hinweg, mag dies auch eine ihrer Äußerungsformen sein können. Daneben entfaltet sie sich, gerade in der langen Dauer und der Vielfalt ihrer Ausdrucksformen, innerhalb bestehender Institutionen, durch sie, welche hier eine besondere Potenzierung ihrer Wirkkraft erfahren. Jede Staatsordnung bietet nicht nur spezifische Öffnungen zum Außerrechtlichen, sondern auch jene institutionellen Flexibilitäten, die besonders wichtig sind als institutionelle Kanäle größerer Erneuerung. Die Parallelität dieser außerinstitutionellen und institutionellen Wege soll auch im Folgenden beobachtet werden, indem zuerst Revolution und Machtwechsel betrachtet werden, sodann die Formen, in denen sich die Wiederkunft in den Institutionen selbst, oft in „ganz normal" erscheinenden Vorgängen, vollzieht. Eine solche Darstellung vermittelt auch Einsichten in die Bedeutung herkömmlicher Institutionen für das Wesen einer Staatsform, hier insbesondere der Demokratie: Je mehr sich über sie etwas wie eine Staatsrenaissance, im Größeren oder im Kleineren, vollziehen kann, desto größer ist ihre virtuelle Ordnungskraft, nicht nur für die politische Tagtäglichkeit, sondern in der Hervorbringung größerer Strukturen. So bedeutet denn dieser Blickpunkt auch ein Kriterium für institutionelle Betrachtung gegenwärtiger Staatsformen, wie sie hier nur punktuell und beispielhaft geleistet werden kann. Alles ist auf die These hin gerichtet: Je stärker sich Staatsrenaissance durch bestimmte Institutionen vollziehen kann, desto mehr ergibt sich daraus ein Gütebeweis für diese selbst, für ihre Kraft zur Errichtung einer wahrhaft imperialen Ordnung.

II. Revolution - „Rückwälzung" in Staatsrenaissance 1. Tabula rasa zur Wiederkehr von Staatlichkeit Renaissance hat immer etwas Revolutionäres an sich, in der Größe der Inhalte, welche wiederkommen sollen, vor allem aber in der Macht, mit der dies versucht wird. Hier öffnet sich vor allem der Weg alles Demokratischen zur Wiedergeburt der guten Staatsformen, hier liegt geradezu eine der Grundlegitimationen dieser

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Staatsform: Sie ist historisch meist, gedanklich immer aus einem großen Aufbruch heraus geschaffen worden, der das „ganz große Neue" bringen soll - dies sind Augenblicke möglicher, nicht immer verwirklichter Staatsrenaissance. Chancen werden hier aber geboten, wie sie kaum eine andere Staatsform mit solcher Wesensnotwendigkeit finden kann. Revolution mag zunächst als eine Absage erscheinen an alle Wiedergeburt, sieht sie sich doch als Stunde Null für eine neue Welt, vor der außerhalb deren nichts ist. Doch die Umwälzung wirkt von einer tabula rasa aus, damit ist die wichtigste Voraussetzung der Renaissance bereits erfüllt: der Bruch mit der Tradition, der große Sprung, die Schaffung einer Gesamtordnung in Diskontinuität. Dies ist ja das Wesen dieses „großen Schlages", dass er die Anbindung an das unmittelbar Vorhergehende nicht mehr sucht, dass die Legalität zusammenbricht und durch neue, höhere Legitimität ersetzt wird. Diese bringt aber zunächst nur eine andere Kompetenz - das siegreiche Volk der Barrikaden und seine Tribunen nicht Inhalte, auf welchen die neue Ordnung zu errichten ist. Dieses Inhaltsdefizit ist für die revolutionäre Bewegung das eigentliche Problem, rasch wird es ihr meist zum Komplex. Ihre Kraft kommt zuallererst aus dem Willen zur „absoluten, reinen Zerstörung" des Bestehenden, verbunden mit manchen, meist unklaren und recht allgemeinen Vorstellungen von einer nebulösen neuen Ordnung. Wo könnte diese besser gefunden werden als in etwas weit Entferntem, das in einem Rückgriff zu erreichen ist, oder einem Ausgreifen in fremde Ordnungen, die nichts mit dem unmittelbar Vorhergehenden verbindet? Im ersten Augenblick der Revolution wird es solches Denken in Staatsrenaissance kaum geben, die Dynamik ist hier zu stark, das Gefühl für die eigene Einmaligkeit, die Lösung von allem, was irgendwo war. Doch rasch und regelmäßig wird ein zweiter Zustand erreicht, in welchem das Ordnungsbedürfnis die Oberhand gewinnt, die Ausmaße der Zerstörung übersehbar werden und nur zu oft Ängste wecken. Nicht nur Legitimationssuche setzt nun ein, es muss „überhaupt wieder etwas funktionieren", es gilt zu bauen ohne die bisherigen Steine und Architekten. Wenn es keine Staatsrenaissance in der Geschichte gegeben hätte - mit jeder größeren Revolution wäre sie erfunden worden, denn nur in etwas wie einer solchen Wiedergeburt können die stärkeren Bewegungen zur Ruhe kommen, kann nach der „Revolution als dem reinen Verfahren" das beginnen, was sie doch sein will: die Geburt ganz neuer Inhalte - und was läge hier näher als ein „Denken in Wiedergeburt", in dem so vieles auch wiederkommen kann, was soeben gestürzt wurde? Die Französische Revolution hat - viele Untersuchungen haben es bewiesen im Staatsgrundsätzlichen den Absolutismus der Monarchie nicht nur fortgesetzt, sondern sogar noch gesteigert, weit über die Schwächlichkeiten und Niederlagen der beiden letzten Könige hinaus. In ihr hat sich eine echte Staatsrenaissance der Zeit von Ludwig XIV. vollzogen, auf einer wahren tabula rasa, wie es schien. Zurück kam dann aber so vieles vom Staat und seiner Majestät, was vorher auch

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gegolten hatte, an dem man im Grunde nur seine Dekadenz hatte zerschlagen wollen, wie wenn diese mit einer mächtigen Bewegung unter die Erde gekehrt werden sollte - damit man sie dann als etwas „ganz großes Neues" ausgraben könne, in Staatsrenaissance. Revolution als tabula rasa - auch dies hat einen tieferen, geradezu archäologischen Sinn: Die frühere Staatlichkeit kann ja nicht in ein Nichts aufgelöst werden, sie wird in Trümmer geschlagen und eingeebnet, damit in eine weitere Vergangenheit zurückgeworfen - aus der sie dann glücklich wiederkehren darf. Revolution als reine Zerstörung wäre unerträglich; als das absolut Neue könnte sie nichts bringen als Unbescheidenheit bis zur Unintelligenz. Nur in der „großen Übernahme", „von weit her" und gerade darin, ist sie etwas Neues, darf sie dann auch ihre eigene Neuheit mit den alten Stücken verbinden.

2. „Rückwälzung" - historisierende Revolution Je größer die revolutionäre Bewegung ist, desto deutlicher tritt, früher oder später, ihre „Rückwendung" in Erscheinung, bis hin zu einer geradezu historisierenden Grundstimmung. Es ist weder ein historischer noch ein kultureller Zufall, dass die römische Staatsrenaissance mit solcher Macht schon bald nach Beginn der Französischen Revolution einsetzte, welche doch mit ganz anderen, zukunftszugewandten, liberalisierenden Bestrebungen begonnen hatte. Nunmehr galt es, die mächtige historische Antithese der großen französischen Monarchie entgegenzustellen, der Republikanismus bedurfte seiner Legitimation in staatlicher Wiedergeburt. Die russische Revolution wendete sich zurück bis in die verdämmernden Fernen, in denen die russische Volksseele noch als eine kraftvolle politische Einheit - angeblich oder wirklich - hatte wirken können, die Mexikanische Revolution übersprang die spanischen Jahrhunderte, zurück zum Reich der Azteken. Nach dem Ende der Kolonisation wurde in vielen Ländern der Dritten Welt die große, auch politische Wiedergeburt aus einer fernen Vergangenheit versucht, der Sprung zurück über die kolonialen Jahrhunderte. Je stärker diese Kraft ist, um so weniger bedarf sie der Wahrheit als Anknüpfung, am Ende bleibt nichts mehr als eine ganz große Legitimation aus ganz ferner Vergangenheit. Die kleineren Revolutionen dagegen, Bewegungen, die kaum diesen Namen verdienen, haben in der Regel eine solche Kraft zum großen Rückgriff nicht, sie fehlt vor allem so manchen politischen Bewegungen der heutigen Zeit, welche völlig geschichts-, im Grunde dimensionslos „allein nach vorne blicken", deshalb gerade die größere Umwälzung nicht hervorbringen können. Vielleicht unterscheidet sich darin die „Bewegung" von der „Revolution", dass diese Letztere auf eine große Dimension zurückgeht - in ihr eben die größere Dimension nach vorne findet. Was sich in Deutschland nach 1918 abgespielt hat, dem fehlte die revolutionäre Größe gerade auch deshalb, mit Ausnahme vielleicht jener wenigen größeren libe-

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ralen Augenblicke, in denen Friedrich Naumann und Männer seiner Geistigkeit eine Staatsrenaissance dessen versuchten, was nach 1848 verschüttet schien. Wie so oft gewinnt ein Wort auch hier wieder einen tieferen Sinn, jenseits aller Bedeutungswandlungen: Revolution - das ist im eigentlichen Sinne eben doch nicht ein Weiterwälzen, sondern ein großes Zurückwälzen der ganzen Entwicklung: auf ursprünglichen, glücklicheren Bahnen ins Neue hinein. 3. Wiedergeburt in Gewaltsamkeit Eine Brücke ist nicht leicht zu schlagen: vom Blut und den Barrikaden der Revolution zur stillen Studierstube einer Renaissance, so wie sie nur zu oft die Kulturgeschichte vorstellt. Liegt nicht in diesem Stillestehen in Bewunderung vor den Ruinen der Vergangenheit eine ganz andere Grundstimmung als die der Gewaltsamkeit, mit welcher Früheres zertrümmert, innere Feinde erschlagen werden? Ist nicht die Staatsrenaissance, ihrem ganzen Wesen nach, ein geheimnisvoll-geistiger Vorgang der nahezu selbstgesetzlichen Wiederkehr von Früherem, außerhalb dessen größerer Formen sich eben höhere Ordnung nicht denken, damit auch nicht gestalten lässt? So darf die „Wiederkehr der Staatsformen" nicht verengt werden. Wie alle Geburt mag auch sie sich in Wehen, in Blut und Tränen vollziehen. Nicht ohne eine gewisse Gewaltsamkeit kann ja in die heutige Welt hineingetragen werden, was lange vergangen ist, aus fernen Räumen übernommen wird. Traditionell gewachsene Interessenstrukturen werden hier zerrissen durch Grundentscheidungen, welche mit einer geradezu interesselosen Blockhaftigkeit einherkommen. In der Staatslehre der französischen III. und IV. Republik ist die Rede von einer „revolutionären Tradition"; sie wurde nicht nur in den Inhalten der Volkssouveränität im Sinne Rousseaus gesehen, sondern auch in dem Verfahren der immer wiederkehrenden revolutionären Stöße, in denen die alte Legitimität des Volkes wieder in Erscheinung trat, im wahren Sinne des Wortes wiedergeboren. Gerade die Demokratie kennt Wiedergeburten in Gewaltsamkeit, denn anders kann sich jener Volkssouverän nicht erheben, der aber immer von neuem das eigentliche Zentrum dieser Wiedergeburt ist, in seiner absoluten, in den begeisternden Formen des Gouvernement d'Assemblée ausgeübten Machteinheit. Bis zu einem gewissen Grad ist sogar diese Volksgewalt der eigentliche „wiedergeborene Verfassungsinhalt", mit seiner nur in alleräußersten Grenzen durch Institutionen gehaltenen Beliebigkeit. Die Größe des Demokratischen mag sich darin zeigen, dass hier „Gewaltsamkeit als Ordnung", nicht nur als Ordnungskraft, immer wieder versucht und daher auch wiedergeboren werden kann. Wenn es eine Legitimation der Revolution gibt, welche weiterreicht als bis zur reinen faktischen Gewalt, so ist es diese immer wieder in Gewaltsamkeit geborene Volkssouveränität. Sie hat, und das ist auch ein geistiger Beweis, stets jene Geister der verfassunggebenden Stunden begeistern können, welche dann diese an sich ungerichteten Kräfte auf größere politische Konstruktionen hin lenkten. So hat es „Wiedergeburt der Gewalt" gegeben.

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Der horror vacui der Revolution wird von der Volksherrschaft in doppelter Weise überwunden: in dem Gefühl der eigenen, wiedergekommenen Gestaltungskraft und in den Richtungen, welche die von ihr begeistert angeregten Staatsgedanken weisen. Die große Diskontinuität, in der sich die Rückkehr der Staatsformen von ihrer traditionellen Fortsetzung unterscheidet, bedarf der großen Kraft, welche vielfache Ablagerungen aufbricht. Wer Renaissance von Gewaltsamkeit trennen will, hat nichts von ihr begriffen; und welche Zeit wäre wohl gewaltsamer gewesen als die ihres größten Ausbruchs?

4. Revolution - der große Staatsversuch zum Guten Wenn die Revolution nicht den Aufbruch zur besseren Staatsform bedeutete, sie wäre nur Verbrechen. Je länger politische Traditionen dauern, desto mehr gewinnen ihre Strukturen Selbstgewicht, desto stärker entfalten sie sich in formaler Selbstgesetzlichkeit, der Legitimität nicht mehr bedürftig, in ihrer Legalität sich selbst genug. Die Frage nach der „guten Staatsform" ist daher nicht eine solche der traditionsgestützten Regime - oder sie wird in ihnen allzu rasch mit Selbstgerechtigkeit beantwortet. Revolutionen dagegen stellen die Gütefrage immer an den Anfang, bis hin zur Härte einer Staatsmoral. Darin sind sie zuallererst offen für Antworten aus der Ferne, welche dieses Staats-Gute interessefrei zurückbringen. Dies sind nicht Wege distanzierter Staatsästhetik. Hinter der Wiedergeburt der Staatsformen steht immer die ethische Frage nach dem Guten. Ausgehen mag sie auch vom guten und besseren Funktionieren der Institutionen, doch darin erschöpft sie sich nicht. Nicht Staatsmaschinen sollen ja konstruiert werden, sondern Ordnungen, welche sich nach den Gesetzen geistiger Organismen entfalten, also auch stets des Guten mächtig bleiben. Revolution, als demokratische Form der Anarchie, findet aus der Sicht der Staatsrenaissance etwas wie eine höhere Legitimität, in einem politischen Sinn, der Historisches und Moralisches verbindet. Dann ist sie ein Weg zum Guten, wenn sie nicht in reiner Zukunftswendung eine ganz unbekannte Größe anstrebt, sondern sich, in einer wahrhaft humanistischen Rückwälzung, auch an früheren, größeren Strukturen orientiert, sie wieder neu zu bauen unternimmt, und sei es in glücklicher Gewalt. Deshalb wohl, und nicht nur im Streben nach einem „Neuen an sich", hat nie die Staatslehre Revolutionen verdammt: denn auch sie sind Wege zum Reich.

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III. Der demokratische Machtwechsel ständige Wiederkehr 1. Kontinuitätssuche im Machtwechsel Grundproblem der Demokratie Die große Revolution mag eine Chance der Staatsrenaissance sein, der kleinere Machtwechsel bringt eine Dynamik, welche sich auf anderer Ebene entfaltet und daher einer Wiedergeburt von Staatsformen eher entgegenwirken kann. Hier geht es ja nicht um größere Staatselemente, die dauern sollen, sondern um eine kleinere Politik, die ihrem Wesen nach zum Wechsel verdammt ist. Solche Augenblicke sind, gerade außerhalb demokratischer Institutionen, im Regierungswechsel der Monarchie etwa, nur zu oft wirkliche points of no return. Früheres, Entferntes, mag auch einmal wieder aufgenommen werden vom späteren Monarchen, wesentlich aber ist er Glied in einer Kette, die weiterläuft. Kontinuität wird hier gesucht in einer Tradition, welche den Nachfolger zu maximaler oder doch optimaler Fortsetzung verpflichten möchte und daher nur zu oft im Weiterlaufen der Institutionen und Politiken ermüdet, nicht durch eine große diskontinuative Wiedergeburt belebt wird. Eine große Staatschance der Demokratie liegt darin, dass sie Mechanismen des Machtwechsels einsetzt, welche sie nicht in die Kontinuität eines Traditionalismus zwingen - im Gegenteil. Hier wird ja die Unterbrechung bejaht, gesucht, der Machtwechsel kann sie nicht nur bringen, er ist sie, legitimiert sich nur aus ihr. Eine Voraussetzung der Staatsrenaissance ist daher in der Volksherrschaft von vorneherein gegeben: eine traditionsbrechende Diskontinuität, mag sie auch die Demokratie immer wieder - dies zeigte sich schon - in Formen eigenartiger Traditionssuche drängen. Und dies ist ein Urgesetz dieser Staatsform, beschränkt nicht auf kleinere Politiken, mag es auch vor allem und laufend in ihnen stattfinden. In dieser Regierungsform liegt ja das Bekenntnis zum kleinen wie zum großen Machtwechsel, gleitende Übergänge verbinden sie, institutionell kommen sie allenfalls in dem noch zu behandelnden besonderen Verfahren der Verfassunggebung zum Ausdruck. Doch wie oft findet der „große Machtwechsel" gerade in den Formen laufender Gesetzgebung und Verwaltung statt, notwendig dort, wo geschriebene Verfassungen fehlen, und eben die englische Demokratie ist ja eine Grundform der Volksherrschaft. Ob es dann zu etwas kommt wie einer Wiederkehr, ist eine weitere Frage; eine grundsätzlich institutionalisierte Möglichkeit dazu bietet nur eine Staatsform - die Demokratie. Kontinuitätssuche ist freilich auch hier eine Aufgabe von Ordnungskräften, welche etwas wie ein „staatliches Minimum" halten wollen. Das Problem der höheren Kontinuität ist, nach dem der Bewahrung demokratischer Dynamik, das größte und erste; in Verfassungen soll es gelöst werden, politisch unwiderruflichen Gesetzgebungsströmungen und, darüber und darunter, im ständigen großen Konsens der Bürgerschaft, in seinen zahllosen Formen. Bemerkenswert bleibt, dass institutio-

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nelle Formen für diese Kontinuitätsbewahrung in der Demokratie nur mit größter Zurückhaltung zur Verfügung gestellt werden können, fast nie im eigentlichen Sinne institutionalisiert; und gerade der Verfassungskonsens, der normative Versuch der Kontinuitätsherstellung, läuft mit etwas wie einer demokratischen Gesetzmäßigkeit immer mehr leer, als nähme ihm jeder demokratische Machtwechsel etwas von seiner Substanz. So ist es denn auch in der politischen Praxis weithin, denn jede größere parteipolitisch getragene Umwälzung reißt Gräben auf, von denen etwas bleibt, die am Ende nur mehr durch ein Geflecht von FormelkompromissBrücken im Namen der Verfassung überzogen, nicht wirklich mehr überschritten werden. Noch so laut mag der Verfassungskonsens beschworen werden, oder irgend ein anderer, im Namen von Werten, die man dann kaum mehr nennen kann - dahinter stehen meist, und immer häufiger, nur mehr Formeln, oder eine plötzliche gemeinsame Angst, in der die Bürger näher zusammenrücken, die aber keine kontinuitätsschaffende Kraft besitzt. Am Kontinuitätsproblem wäre wohl die Demokratie, in all ihren westlichen Formen, längst gescheitert, hätte der Machtwechsel in ihr nicht auch noch eine andere, paradoxerweise kontinuitätsschaffende Kraft. Waagschalen gehen ja auf und nieder, die Politik dreht sich im Kreis der Alternativen, die geschlagene Partei kommt wieder, in Wirklichkeit, oder sie steht doch wieder ante portas. Die demokratische Sprache drückt dies auch plastisch aus: „An die Macht kommt" der Diktator, er „ergreift" sie, im Grunde, um sie nie mehr loszulassen. Der demokratische Politiker dagegen „kehrt in die Macht zurück", das come back beschreibt das Zentrum des institutionalisierten Machtwechsels. Im Grunde kann auch immer nur Rückkehr nach Unterbrechung hier stattfinden, denn die politische Gewalt ist doch nur jenen vorbehalten, die an ihrem Ausgang, in Verfassunggebung, schon einmal mit anderen zusammen - „in ihr gestanden", sie geschaffen haben. Dann mögen sie aus ihr verdrängt worden sein, alternierend feiern sie ihre Rückkehr. Ob dies in der Realität stattgefunden hat, zählt wenig; seine Möglichkeit ist demokratisches Postulat aus der Ideologie des Sozialvertrags heraus. So ist denn der Machtwechsel weit mehr als simple Faktizität, er bedeutet einen höchst komplexen Mechanismus, in welchem zugleich Dynamik und Kontinuität bewahrt wird: Die Letztere wird gehalten in der alternierenden Wiederkehr früherer Politiken. Da ist etwas wie die Bewegung paralleler Strömungen, von denen immer die eine verschwindet, die andere oberirdisch dahinfließt - und umgekehrt doch sie kommen aus einer Quelle, dem Willen des Volkssouveräns, und in ihrer diskontinuierlich-intermittenten Parallelität bewegen sie sich in eine Richtung, auf ein Meer zu, welches sie beständig speisen, auf die größere Ordnung, auf etwas Imperiales hin. Die demokratischen Politiker sehen sich als kleine Besatzer der Staatsmacht auf Zeit, die höhere List demokratischer Vernunft hat aus ihnen immer wieder etwas werden lassen wie diskontinuative Statthalter, in deren Rückkehr auch Kräfte der Staatsrenaissance lebendig werden. 2*

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2. Die politische Wiederanknüpfung - „Politik-Renaissance" Weit scheint allerdings solcher Machtwechsel, wie er laufend erlebt wird, entfernt zu sein von den größeren Wellen der staatlichen Wiedergeburt. An die Hebel der politischen Macht kehren doch nicht Menschen zurück als Träger von Staatsgrundsatzstimmungen oder als Finder bedeutender Bruchstücke früherer Staatstechnik; kleine, tägliche Politik wird hier verwandelt, von der es scheint, als könne sie immer nur dahinfließen, hinunter vielleicht, nie aber sich in größeren Fällen entladen, oder gar in einer geheimnisvollen Bewegung den Berg hinauf - zurückfließen. Was mag schon Gemeinsames zu sehen sein in den alternierenden Regierungsverantwortlichkeiten parteipolitischer Gruppierungen, nach dem klassischen englischen Beispiel, und dem großen Erlebnis der Rückkehr römischer Staatlichkeit oder unvordenklicher Freiheiten? Gerade jene „Haupt- und Staatsaktion" findet doch im Machtwechsel kaum statt, in der sich immer wieder Staatsrenaissance erkennen ließ, und wenn sie einmal, nach langem politischen Aufstau, zu kommen scheint, so ist es die Kunst der Demokratie, sie rasch in ihrer Gewöhnlichkeit verebben zu lassen, die sozialistische Rückkehr an die Macht in Frankreich, nach Jahrzehnten, beweist sie es nicht? Doch auf ein Einzelphänomen darf hier die Sicht nicht verkürzt werden, Staatsrenaissance als Einmaligkeit wäre, wie schon gezeigt, eine Blickverengung. Entwickelter, länger institutionalisierter Staatlichkeit ist ein „technischer Ablauf 4 auch des Politischen eigen, in welchem, ganz bewusst und gewollt, größere Bewegungen in kleinere kanalisiert werden sollen - damit verlieren sie aber noch nicht ihre gesamtgestaltende Kraft. So ist es hier im tagtäglich erscheinenden Machtwechsel: Sein Wesen ist ja nicht nur, nicht einmal primär, dass er „Neues" bringen will; Früheres, Bewährtes aber Unterbrochenes soll fortgesetzt werden. Die Selbstkritik der geschlagenen, aus der Macht verdrängten Partei ist ja letztlich doch nie mehr als eine symbolische Verbeugung vor dem Willen des Wählers, dem man die Falschentscheidung nicht offen unterstellen mag. Wichtiger bleibt immer ein neues Sammeln der alten Kräfte, der Versuch eines come back, nicht aus der Verleugnung früherer eigener Politik, sondern in ihrer verbesserten - Renaissance. Im englischen Modell wie in seiner perfekt erscheinenden neueren deutschen Nachahmung war dies denn auch immer politische Wirklichkeit: Besser wollte man wiederkommen, anknüpfen in einer Wiedergeburt eigener Politik an frühere Leistungen. Die Herrschaft der „anderen Richtung" ist da nichts anderes als eine , jener Zwischenzeiten", welche größere Staatlichkeit überstehen kann. Sie muss sie nicht einmal gänzlich negieren oder auslöschen, in der Wiedergeburt der eigenen Politik hat auch die des geschlagenen Gegners noch ihren - untergeordneten - Platz. Nähere Betrachtung nicht des Machtwechsels als solchen, sondern der Wiederkehr an die Macht - denn darum geht es eigentlich - könnte wohl den politologischen, den historischen Beweis erbringen, dass sich hier laufende Staatsrenaissance im Kleineren, aber gerade im großen, demokratischen Stil vollzieht. Mehr noch, hier wird die Staatsrenaissance zur Kraft und zur sogleich anwendbaren Staats-

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gestaltungslehre: Nach der Niederlage muss zuerst die Besinnung auf die eigenen, ursprünglichen Kräfte kommen, in einem sogar noch weiterreichenden Rückgriff auf die „Klassiker" der eigenen Politik - und so ist es auch immer geschehen, nach den Niederlagen etwa christ-demokratischer Kräfte in der Erinnerung an Adenauer oder de Gasperi. Aus diesen großen Rückgriffen heraus muss dann eine „Wiedergeburt in der Opposition" schon sich vollziehen, in der Formierung einer SchattenRegierung, welche diesen Namen verdient, bis die Wiedergeburt im Licht neugewonnener Macht vollendet werden kann. Die große Lehre lautet: Hinwendung allein zum Neuen bedeutet nie ein Rezept des Wiedergewinnes der Macht, nur aus den Kräften weiter zurückgreifender Wiedergeburt führt der Weg zu ihr. Dies ist etwas wie eine späte Prämie früherer Macht, sie liegt bei jenen, welche sie schon einmal besessen haben, deren „staatstragende Kräfte" - denn hier hat das Wort einen guten Sinn - wiederkehren, wiedergeboren werden, nachdem sie im Untergrund weiterfließen mussten; die „ganz neue Bewegung" ist darin ein Stiefkind der Demokratie, dass in ihr eben „nichts wiederkehrt". Diese Sicht des Machtwechsels aus Staatsrenaissance bedeutet auch eine Aufwertung der Parteipolitik, sie darf nicht, in Missachtung des angeblich so Prekären, allzu klein gesehen werden, und es sollte der Machtwechsel auch nicht immer sogleich als ein Attentat auf größere tragende Bögen der Kontinuität verdammt, vielmehr als eine Kraft begriffen werden, welche diese selben Bögen lebendig trägt: Wenn sich die Rückkehr an die Macht mit ganz großen politischen Vorsätzen vollzieht, wenn hier etwas wie eine „kleine Verfassunggebung" ins Haus steht, oder wenn auch nur, nach längerem Aufstau, alles und jedes neu werden soll - in einer solchen Wende liegt nichts Antidemokratisches, allenfalls ein Versuch, Politik-Renaissance zu Staatsrenaissance zu steigern. Dieser letztere Begriff unterscheidet ja nicht von vorneherein zwischen Institutionellem und dem, was sich in laufender Politik außerhalb der Einrichtungen des Staates vollzieht, er umfasst die lebendige Wechselwirkung von Politik und Institution, von kleineren Gesetzen und größeren Staatsgrundsätzen. „Von unten nach oben" hat sich solche Staatsrenaissance immer wieder vollzogen, und „Politik-Renaissance" bedeutet eben den „Anfang unten", der dann vielleicht in neuem Machtwechsel wieder gebrochen wird, der etwas wie eine alternierende Staatsrenaissance fortsetzt. Und wer sagt denn, dass es immer nur eine, dass es nicht mehrere alternierende Staatsrenaissancen geben könnte? Für die politischen Kräfte aber bedeutet dies eine Mahnung: Staatstragend sind sie in der Demokratie nur, dann allein verdienen sie die Rückkehr, wenn sie diese bewusst als eine Wiedergeburt vollziehen können. Dann aber muss ihre Politik größeren Atem haben, immer etwas sein wie eine Ordnungskraft zum Reich. Parteien abwerten zu Teilungen - das ist dann verhängnisvoll, wenn sie noch die Kraft haben, in sich eine Wiedergeburt des Ganzen zu vollziehen, dies allein ist der tiefere Gedanke der Volksparteien. Wäre Staatsrenaissance nur Recht oder Gesetz-

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gebung, sie hätte nie wirken können; ihre allgemeinere Kraft findet sie als Wiedergeburt von Politik.

3. „Das Richtige" - aus trial and error in Politik-Renaissance Angelsächsische Demokratie-Überzeugung hat Wesen und Bedeutung des Machtwechsels von jeher darin gesehen, dass sich hier, in einem langsamen und oft schmerzvollen Vorgang von Wehen und Geburt, das „Richtige" entbinde; das ist der Sinn der Worte von dem Prozess des trial and error, in welchem allein politische Wahrheit gefunden werden könne. Sicher ist dies nicht zuletzt Ausdruck der Experimentierkraft und -freude angelsächsischen Denkens, die sich, über alle großen Theorien hinweg, gerade in solchen politischen Versuchsreihen bewährt. Doch die andere Seite sollte hier nicht vergessen werden, eine Staatsrenaissance, in welcher nicht immer nur das ganz Neue, Unbekannte gesehen werden darf. Der Experimentierstaat muss zwar hier, dies wurde schon deutlich, seine Grenzen finden, doch dies bedeutet keineswegs eine Antithese zu solchem angelsächsischen Staatsdenken. Keine Zeit hat wohl jenes England, aus welchem diese Begeisterung für den „politischen Prozess" letztlich kommt, stärker geprägt als die Renaissance, in ganz großer Dichtung und Politik war dies für Britannien wirklich das historische Erlebnis. Dass man englischer Traditionalität nicht gerecht würde, wollte man sie allein im Fortschleppen von Traditionen sehen, an dem das Alte Deutsche Reich gestorben ist, bedarf hier keines historischen Beleges. Die Lebendigkeit englischer Politik hat sich immer aus einem Renaissance-Denken aufgeladen, in der durchaus als Renaissance empfundenen Wiederkehr der Magna Charta im Habeas Corpus, bis hin zu jener Politik-Renaissance der Machtwechsel, in welchen dieses Land seine eigentliche Verfassung seit Jahrhunderten gefunden hat. Die große Staatswiederkehr ist ebenso etwas echt Englisches, wie die Begeisterung für den Staatsprozess, in dessen alten-neuen Formen sie sich gerade vollzieht. Nicht die ganz neue Erkenntnis kommt hier ja herauf, das Praecedens kehrt verwandelt wieder, der angelsächsische Richter vollzieht im Letzten immer eine Wiedergeburt, wenn er weit zurückgreift auf einen Fall, der einmal „vorangegangen ist". Die leading cases werden nicht imitiert, ihre Lösungen vielmehr heute wiedergeboren. Trial and error und Staatsrenaissance sind also, gerade im Geist jenes Rechtsdenkens, ohne das es demokratische Staatlichkeit nicht geben kann, nicht Gegensätze, sie müssen in untrennbarer Verknüpfung gesehen werden, und vielleicht liegt die Besonderheit der englischen Monarchie gerade darin, dass nicht so sehr bleiben soll was war, als dass vielmehr mit jedem Monarchen wieder etwas von den großen, goldenen Zeiten der englischen Krone wiedergeboren wird. Darin hat eine Monarchie, die unkonventionell sein konnte wie keine andere, einen Anschluss an politische Kraftquellen der Renaissance gefunden, wie sie kontinentaleuropäischer Traditionalität verschlossen geblieben sind.

C. Formen der Staatsrenaissance

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Die große, dauernde Ordnung eines Reiches kommt aus vielen Quellen, immer wieder hat es sich gezeigt, und die Wege der Staatsrenaissance sind vielfach und verschlungen, nicht zuletzt in den Labyrinthen der Demokratie, deren Kleinheit oft so unentrinnbar drückt. Doch wo immer etwas von dem Licht eines Willens zur Wiedergeburt sichtbar wird, da beleben sich auch diese Irrgärten, und mit einem Mal wachsen sie hinauf zu den höheren Zypressen der Klassik.

IV. Die Verfassunggebung als Staatsrenaissance 1. Verfassunggebung - der große Rückgriff Die kontinentalen Staaten sind geprägt durch die Imperialität des römischen Rechts, durch seine Kodifikationsidee, bis hinauf in ihre politische Grundordnung, die Verfassung. So wie römische Staatlichkeit das große Modell aller Staatsrenaissance immer war, so hat diese in der kontinentaleuropäischen und amerikanischen Verfassungsnormativität eine Form des ganz großen Rückgriffs, wahrer Staatsrenaissance hervorgebracht. In ihr vollziehen sich seit Jahrhunderten die größeren Staatsrenaissancen der Demokratie, hier ist der geistige Übergang aus der römischimperialen in die demokratische Welt auch für das Denken in Staatsrenaissance vollzogen worden. Der größere Verfassungs-Neubeginn, mag er sich nun revolutionär vollziehen oder in legalen Formen einer Totalrevision, bleibt immer etwas wie eine Staatsrenaissance in normativierter Form, und - das ist hier nun entscheidend - er hat seine Chance dann, wenn er sich bewusst als ein solcher Vorgang versteht; es gibt nicht nur den Beruf einer Zeit zur Gesetzgebung, ebenso muss nach dem Beruf zur Verfassunggebung gefragt werden, dann ist er sichtbar, wenn sich hier Wiedergeburt vollziehen kann und soll. Verfassungsschöpfung als großer Rückgriff ist eine historische Erfahrung, nicht nur dogmatische These. Hier greift der Volkssouverän auf ältere eigene Staatlichkeiten zurück, wie im italienischen Regionalismus, in deutscher Selbstverwaltung und Grundrechtlichkeit, im Caesarismus des französischen präsidentiellen Regimes. Kontinuität ist dabei ja nicht die eigentliche Aufgabe, um sie zu halten, bedürfte es der neuen, größeren Form der Verfassung nicht. Sie will sich ab- und hinaufheben zu einer Wiedergeburt auf höherer Ebene. Wo immer man die Grundstimmungen solcher demokratischer Verfassunggebung nachzufühlen versucht - es sind letztlich stets die gleichen: nicht Fortsetzung, sondern ein Übergreifen, ein eigentümlicher Aufbruch zu Größerem, ein Zusammenschauen von Vergangenheit und Zukunft in einer besonders konzentrierten, großen Gegenwart, Einmaligkeit, in welcher größere, dauernde Ordnung geschaffen werden soll - vor allem aber steht vor dem Blick der Verfassungsväter die ganze nationale, politische Geschichte, sind deren tausend Jahre wie ein Tag. Diese wirkliche Wiedergeburts-Stimmung ist als solche meist so stark, dass sie historische Naivitäten der Verfassungsschöp-

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fer überdeckt und nicht selten auch ein intellektuelles Mittelmaß, das später gerade von der Verfassung verlangt, dass sie klüger sei als ihre Gesetzgeber. Doch nicht nur in einem „vertikalen", zeitlichen Sinne vollzieht sich diese „Konzentration einer ganzen Verfassungsgeschichte" im Wiedergeburts-Vorgang der Verfassunggebung; zugleich ist dies auch, und neuerdings immer mehr, der Augenblick des großen Ausgreifens in ferne Verfassungsräume, einer wahren „Wiedergeburt in Verfassungsübernahme". Hier gerade zeigt sich, dass die zeitlichhistorische und die räumlich-verfassungsvergleichende Dimension eng verbunden sind: Übernommen werden ja nicht so sehr irgendwelche fremde Normen in der Zeitlosigkeit ihrer Geltung, sondern vielmehr größere Verfassungserfahrungen, in denen sich die „gute Staatsform" bewähren konnte, sie sind darin der Wiedergeburt fähig. Verfassunggebung ist dann ein wahres Wort, wenn der Bürgerschaft etwas übergeben werden kann, ein Vermächtnis, in dessen Namen die Zukunft sein soll wie der große gegenwärtige Augenblick - weil dieser so war wie schon Momente vor ihm. Vom „großen Griff' ist gerade hier mit Recht die Rede, er muss weit hinaus und irgendwie „hinüber reichen", aus der Vergangenheit das Gute bringen, in ihren Erfahrungen das Schlechte meiden, denn auch diese negative Staatsrenaissance fordert ja ihr Recht. In diesem Sinne war 1949 für die Deutschen eine wahre Verfassunggebung: Man wollte wiedergeboren werden, hinweg und zurück über die furchtbaren Leichen. In dem Blick auf 1848 und selbst auf Weimar war eine Bescheidenheit, der dann etwas von der Imperialität einer größeren Ordnung geschenkt worden ist.

2. Demokratisches Verfassungsrecht wiedererkannte, erlebte Freiheit Materielles Verfassungsrecht gibt es jedenfalls darin: Je länger eine Verfassung dauert, desto mehr wird sie vor allem in Verfassungsgerichtsbarkeit entfaltet, in jenen grundlegenden Wertungen, welche sich in der Grundordnung verfestigen, wenn sie schon nicht in ihrem Anfang beschlossen waren. Wenn etwas dem materiellen Wesen dieser Normstufe eigen ist, so ein zeitübergreifender Geltungswille, und deshalb muss jede neue Verfassunggebung wieder das in die Charta schreiben, was sie in Renaissance hat erkennen können, was sie selbst der Staatsrenaissance für fähig hält. Die französischen Republiken haben lange Zeit die Grundrechte nicht in ihre formellen Verfassungen übernommen, als materielle Verfassungen haben sie stets gegolten, denn hier war ja in einer Sternstunde seinerzeit wiedererkannt worden, was jahrhundertelang verschüttet schien, mit diesem Bekenntnis zur Verfassungsrenaissance hat die Verfassungsgeschichte Europas begonnen. Seither ist alles Verfassungsrecht der Demokratien - Renaissancerecht immer gewesen. In diesem großen Bekenntnis wird die Demokratie auch immer wieder „Verfassunggebung auf

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Dauer" einsetzen lassen mit einer Hinwendung zu dem, was nach einer Zeit der Ruinen zurückkehrt. Deshalb konnte die Verfassunggebung der Französischen III. Republik erst später demokratische Größe erreichen, weil sie zunächst nur Organisationsgesetze brachte, die Freiheiten draußen vor der Tür lassen wollte, weil sie anfangs noch mit Gedanken einer Traditionalität belastet war, in welcher sogar die Könige des Ancien Régime wiederkehren sollten. Dies ist wohl eine Lehre der demokratischen Staatsrenaissance: dass größere Verfassung nur möglich ist, wenn die Freiheit einmal wirklich verschüttet war, so tief unter der Erde, dass sie in Wiedergeburt erstehen kann. Deshalb hatten die Deutschen nach 1945 eine Verfassungschance, sie haben nicht erkannt, dass ihnen gerade in einem Augenblick etwas von einem Reich geschenkt wurde, in welchem sie glaubten, sich von allen Formen desselben abwenden zu müssen. Der demokratische Beruf zur Verfassunggebung ist immer dann ein großer und neuer, wenn verschüttete Freiheiten zurückzubringen sind, deshalb gibt es diese Chance stets von neuem, weil es ein Gesetz dieser Libertät ist, dass die Bürger sie nach einiger Zeit überall sehen wollen, sich in einem Pantheismus der Freiheit von den einfacheren Statuen abwenden, diese der Erde und dem Vergessen überantworten - bis sie in bescheidener Größe zurückkehren. In diesem Sinne ist die Volksherrschaft stärker renaissancegeneigt als die traditionsverhaftete Monarchie, als eine so oft traditions- und renaissanceblinde Persönliche Gewalt; daraus zieht sie ihre tiefe Kraft. Verfassungsrecht als wesentliches Renaissancerecht - und warum sollte es hier nicht heißen: Staatsrecht als Staatsrenaissancerecht? - ist aber gerade deshalb als ein Erbe der Freiheit zur Wiedergeburt fähig, weil darin sich auch das „Verfassungsrecht als etwas Erkanntes" zeigt, nicht (nur) Gewolltes. Das Große und Gute muss gewollt werden, aber seit der platonischen Philosophie ist unverlierbar, dass es zuallererst erkannt werden muss. Gewolltes Recht mag ein Aufschwung sein und damit politische Kraft, die letzte Höhe der „guten Staatsform" erreicht es erst dort, wo es zum Gegenstand des Erkennens wird, das jeder Willensentscheidung vorausgeht und staunend folgt. Echte Verfassunggebung ist immer als ein solches Erkanntes verstanden worden, gerade in der rationalen Demokratie, und hier schließt sich der Kreis zur Freiheit: Sie eben kann nie geschaffen, immer nur erkannt und anerkannt werden. Nur deshalb ist ja auch Verfassung der Gerichtsbarkeit fähig, weil sich in ihr Erkenntnisvorgänge abspielen, darin viele kleine Staatsrenaissancen, nicht neuer politischer Wille, der so nicht geduldet werden könnte. Hier eben wird wirklich etwas „in Renaissance erlebt", deshalb auch in die Verfassung geschrieben. Für Demokraten, welche sich von der Macht abwenden wollen, hin zur Freiheit, kann es in den Verfassungen kein eigentliches Macht-Erlebnis geben; Freiheit aber ward immer erlebt. So bedeutet denn Verfassungsrecht als Ausdruck der Staatsrenaissance für die Volksherrschaft die entscheidende und staatsgrundsätzliche Notwendigkeit der

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Priorität einer Freiheit, die immer zuerst wiedergeboren werden muss, bevor Stücke von Staatstechnik zurückkehren. Und so viel ist an Verfassung in einer Charta, wie sie Ausdruck einer Staatlichkeit - hier Freiheitlichkeit - ist, die groß wiedererlebt wird.

3. Der demokratische Verfassungsauftrag Eine Theorie des Verfassungsauftrags gibt es ebenso wenig wie eine solche des materiellen Verfassungsrechts. Doch einer Betrachtung aus der Sicht wiederkehrender Staatsformen erschließen sich hier, gerade für die demokratischen Staatsordnungen, Orientierungen dieser „Gesetzgebung des Außergewöhnlichen", dessen, was man einen „demokratischen Verfassungsauftrag" nennen könnte. Allgemein schon kann es nicht Ziel solcher Verfassunggebung sein, durchgehend ganz Neues zu schaffen und dies gar noch in ein neuartiges System zusammenzufügen. Die meist in politischer Zufälligkeit des Augenblicks berufenen „Verfassungsväter", häufig nicht diejenigen, deren revolutionäre Kraft die tabula rasa geschaffen hat, oft sogar Notabein früherer Regime, welche die „Verfassunggebung als das große Einlenken" nach der Revolution wieder zurückruft - sie alle sind dazu kaum fähig; und irgendwie gleichen sich auch diese Gremien, über die Jahrhunderte hinweg, so dass man etwas wie eine „vergleichende Theorie der Verfassunggeber" versuchen könnte: einzelne, die geschäftig mit immer neuen Denkanstößen wirken, wenige stets ausgleichende Formulierer, eine große Zahl, aus der nur gelegentlich eine konstruktive Frage kommt, ganz selten die große, beherrschende Persönlichkeit, die wenigstens ein Verfassungskapitel ganz schreibt. Gerade in dem, was späterer Betrachtung nicht selten als ein Konvent der Mittelmäßigkeiten erscheint, wird aber der demokratische Auftrag erfüllt, das Bewährte, das der Revolution aus früheren Ordnungen noch am nächsten Kommende zusammenzustellen, im Grunde stets das, was jener Umsturz wieder ans Licht gebracht hat, dem die Chance der Verfassunggebung verdankt wird. Dies alles aber sind kleinere und größere Renaissance-Aufträge. Demokratische Verfassunggebung ist stets auch die Erfüllung eines zentralen Anliegens: In einem großen Akt soll dem Volk etwas von seinem früheren, ursprünglichen Machteigentum zurückgegeben werden, die demokratische Verfassunggebung ist in diesem Sinn Rückenteignung appropriierter Staatsgewalt. Darin liegt grundsätzliches Renaissance-Denken, aus ihm legitimiert sich die neue Ordnung, materiell ebenso wie in der formellen Art des außergewöhnlichen, vom Volk getragenen Zustandekommens der neuen Charta. Das Volk selbst kann ja stets nur am Ende mitwirken, in Ratifikation, die Chance einer populären Verfassunggebung im vollen Sinn, die Ausarbeitung des Textes in der Volksversammlung, war stets auf Extremfälle beschränkt, wie zur Zeit der Französischen Revolution. In derartigen direkten Volksinterventionen mag kaum

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je ein Rückgriff erfolgen, die Bewusstseinslage der unmittelbar in die Staatsgewalt gerufenen Vielen lässt dies nicht zu; ihre wenigen Vertreter aber, welche den Gegenstand des Ratifikations-Konsenses schaffen sollen, ihnen bleibt, gerade damit ihr Werk Gnade finde und mit geistiger Legitimation auftrete, kaum je die Fortsetzung des eben Gestürzten, damit aber in aller Regel die Notwendigkeit des größeren Rückgriffs. Der „zurückleitende", geradezu konservative Charakter der demokratischen Verfassunggebungen, besonders nach revolutionären Umwälzungen, ist oft festgestellt worden, von 1789 bis Weimar und Bonn. Darin liegt sicher der Versuch, die allzu radikalen Einschnitte abzumildern, etwas an staatlicher Kontinuität zu retten. Dies alles ist aber auch Ausdruck der Sorge, dass die vorausgegangenen, revolutionärumstürzenden Ereignisse zwar viel an „Volkskraft", um so weniger aber an konstruktivem Inhalt in aller Regel gezeigt haben. Die Verfassungsväter dürfen ihren demokratischen Auftrag jedoch nicht so verstehen, dass sie sich diesen ungeordneten Kräften hingeben und sie können sie kaum je überzeugend interpretieren. Also bleibt ihnen, wiederum, nur der größere Rückgriff auf etwas, was auch diese Mächte überzeugt und zum Konsens führt, was das Volk bereits besessen haben kann, was ihm in demokratischer Verfassunggebung zurückkommt. Der Volkssouverän wird eben vom Fernen überzeugt, nicht vom Nächstliegenden, das er alles hat zerstören, umwerten wollen. So erklären sich die immer wieder festzustellenden Romantismen der Verfassunggebung, man denke nur an den Weimarer Text, als ein ganz weites Zurückgreifen, oder ein Ausgreifen auf weit Entferntes, das nicht durch die Fehler der eigenen Verfassungsentwicklung angesteckt sein kann. Und ein moralischer Unterton klingt immer an: Mit Erfolg können doch „nur gute Staatsformen dem Volk zurückgegeben" werden. So zeigt sich denn im demokratischen Verfassungsauftrag die Verfassunggebung fast immer durch Renaissance-Denken bestimmt. Was auf solche Weise übernommen wird, gilt in der Demokratie als ein „gutes Staatselement"; und wenn man in dieser Staatsform die von ihr geforderten „guten Staatselemente" entdecken wollte, so könnte dies in einer zusammenschauenden Analyse ihrer „ursprünglichen Verfassunggebungen" gelingen, welche in ihrer Unbefangenheit, ihren großen Anläufen dem Renaissance-Denken am nächsten stehen, und in jenem „gesunden Volksempfinden", das hier, wenn auch stillschweigend, immer postuliert wird und das „Gesunde" als eine Heilung der Gegenwart zurückbringt.

4. Verfassungsgesetzgebung - kanalisierte Staatsrenaissance Verfassunggebung ist für die demokratische Staatslehre kein Grundproblem, sondern eine Grundlage. Verfassungsgesetzgebung dagegen, die Revision des großen Anlaufes der Verfassung, ist im Grunde stets eine unbewältigte Frage geblieben; eingeklemmt zwischen die große Freiheit der ursprünglichen Schöpfung des

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Grundgesetzes und tagtägliche Gesetzgebung, Adaptierung des Großen in „ordentlicher Administration" - sie ist meist nur formal erfasst und legitimiert worden: in den verstärkten Mehrheiten, vielleicht der Notwendigkeit der Ratifikation durch das Volk, soll sie sich von der „einfachen" Gesetzgebung abheben. Wenn aber das Volk nicht gerufen wird, so lässt sich kaum überzeugend bestimmen, wo nun die verfassunggebende parlamentarische Mehrheit liegen soll, ob zwei Drittel genügen sollten oder drei Viertel; hier mag man allenfalls noch den Schutz der Minderheiten bemühen, der Opposition, und auch er legitimiert nicht immer. Die Grundproblematik der Verfassungsrevision ist die Kanalisierung des Originären in das Tagtägliche der Gesetzgebung, der Wandel der Schöpfung in die Adaptation. Was in Verfassungsrevision geschehen, sich ändern oder hinzugefügt werden soll, muss aber doch irgendwie inhaltlich bestimmt und von daher auch legitimiert sein, und daraus lassen sich dann eben auch die Erfordernisse des erschwerten Verfahrens begründen. Unterschiedlich sind solche Legitimationen: Einerseits ist es die kleine, technische Änderung, die Verfassungsrevision des Unproblematischen, für sie können gewisse Erschwernisse verlangt werden, denn hier ist ohne weiteres Konsens vorauszusetzen. Es gibt aber auch die ganz andere Verfassungsrevision, die Größeres hinzufügen will, bis hinauf zu neuen Staatszielbestimmungen der Kulturstaatlichkeit und des Umweltschutzes: Hier soll die mächtige neue Forderung aufgenommen werden, der sich eben „niemand entziehen kann", welche damit auch die größeren Mehrheiten zu gewinnen vermag. In beidem lebt nicht mehr der ganze Schwung, aber doch immer noch etwas von jener Staatsrenaissance, welche die Verfassunggebung einst getragen hat, und insoweit kann auch hier noch staatliche Wiedergeburt stattfinden. In der „technischen Verfassungsrevision" setzt sich die ursprüngliche Wiederkehr fort, in weithin unideologischen Entwicklungen, denen die Technizität der isolierten Mechanismen wiederkehrender Staatsrenaissance eigen ist. Da werden die Kompetenzen eines Organs klarer gezeichnet, föderale Zusammenordnungen präzisiert und etwa auf eine „Provinzialisierung" der Gliedstaaten hin leicht und doch merkbar verändert, welche schon ursprünglich Inhalt der Verfassunggebungs-Renaissance war. Die Großrevisionen einer Charta nehmen ihrerseits sicher zuallererst etwas auf, was als ein Neues einherzukommen scheint, als solches jedenfalls empfunden wird. Doch gerade die Beispiele des Kulturstaates und des Umweltschutzes zeigen, dass auch hier nur freigelegt werden soll, was, seit langer Zeit vielleicht, verschüttet, unterbewertet ist. Solche größere Verfassungsrevisionen sind immer auch Bewegungen eines „retour à la nature", eines Denkens in ganz großen Staatsrenaissance-Bögen. So trägt die Verfassungsgesetzgebung bereits in ihren Inhalten noch viel von Staatsrenaissance weiter, aber auch und gerade darin, dass sie Neues in Zusammenhänge einfügt, welche einst, in der Verfassunggebung, in Staatsrenaissance zurückgekommen waren. Alles, was an sie angeglichen, in ihre Räume eingeführt wird, erhält damit nur zu oft jenen typischen Renaissance-Charakter, selbst wenn

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es sich nicht, als solches, auf Früheres oder weit Entferntes zurückführen lässt. So können etwa Grundrechtskataloge im Einzelnen noch ausgestaltet, wenn auch vielleicht nicht wesentlich ausgeweitet werden, und die umstrittene Einfügung eines Widerstandsrechts in das Grundgesetz sollte sogar eindeutig einen neuen Stoß von Staatsrenaissance in diese Ordnung bringen, nicht adaptieren, sondern fortbauen. Die formalen Voraussetzungen der breiten Mehrheiten oder gar des ausdrücklichen Volkskonsenses sollen diese Inhalte auf die Höhe jener „ruhigen Größe" der Verfassung heben, auf der Neues nicht geschaffen werden, sondern nur wiederkehren kann. Die Gütefrage aber, die sich auch hier stellt, an die Inhalte der Verfassungsrevision, sucht nach einer Wiedergeburts-Legitimation meist ebenso wie bei der ursprünglichen Verfassungsschöpfung: Kommt hier etwas Altes, Verschüttetes wieder in neuen Formen, legitimiert aber von seinem eigenen Inhalt, oder erhält es diesen Charakter doch zumindest in der Einfügung in ein renaissancegeprägtes größeres Werk, dessen Geist auch das Neue zum Wiedergeborenen macht, weil „dieses Stück der Verfassung von Anfang an gefehlt hat"? Die äußere Form mag Verfassungsrevision als Gesetzgebung ausweisen, inhaltliche Betrachtung erkennt hier fortgesetzt Wiederkehr - wenn eine Verfassungsrevision diesen Namen wirklich verdient. Und übrigens ist das „wahrhaft Neue" in den meisten Fällen bezeichnenderweise nicht als Verfassungsänderung gekommen, sondern in „ganz einfachen Gesetzen", man denke nur an die Abgabenprogression. Es bleibt also dabei: Wo immer die Verfassung berührt wird, da ist etwas von Staatsrenaissance.

5. Verfassungsinterpretation Staatsrenaissance der kleinen Schritte Eine Theorie der Verfassungsinterpretation gibt es heute allenfalls in Ansätzen. Im Grunde wird auch die oberste Charta nach den bewährten Grundsätzen allgemeiner Normauslegung weiterentwickelt, ist doch rechtsstaatliche Dogmatik in erster Linie gerade dies - ein Normensystem. Hier aber können vielleicht weitere Schritte aus der Sicht eines Denkens in Staatsrenaissancen getan werden, welche zugleich auch diese Verfassungsinterpretation als Form der „kleineren Wiedergeburten guter Staatsformen" erkennen lassen. Renaissancedenken zeigt sich doch bereits bei einer Betrachtung täglicher Verfassungsauslegung: Zwar wird auch hier auf jene „Systematik des Einzelgesetzes" zurückgegriffen, welche sich auf der einfachen Normebene entwickelt hat und das Spezialgesetz von anderen Regelungen wie auch von seinen größeren Hintergründen nur zu oft absperrt. Doch die Verfassungsinterpretation überspringt häufig, vielleicht gar wesentlich, solche Schranken. Immer wieder und auch dort, wo es der Wortlaut nicht erzwingt, wird auf die ferne Verfassunggebung, ja auf die Vorverfassungsgrundstimmung zurückgegriffen, weit größer ist die Distanz der Auslegungsergebnisse zum Wortlaut, ja zur Systematik des Grundgesetzes.

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Die Verfassungsgerichtsbarkeit vollzieht, darüber hinaus, laufend viele kleine Staatsrenaissancen ihres eigenen Verfassungs-Richterrechts, wenn sie mit einem Mal auf weit frühere, fast schon vergessene Formeln zurückgreift, oft nach Jahrzehnten Wendungen vollzieht - im Namen eines dann meist noch Früheren, einer Verfassungs-Ursprünglichkeit. Dass das Verfassungsgericht zwar früher anders akzentuiert, so ganz in diese Richtung sich aber nicht habe bewegen, sondern „schon damals" das heute klar ans Licht Gehobene habe entscheiden wollen - dies sind nicht nur Floskeln zur Begründung verunsichernder Rechtsprechungsänderung, in ihnen zeigt sich eine Grundstimmung, welche immer wieder aus dem Ursprünglichen schöpfen, Zwischenzeiten der Judikatur überspringen will. Die Allgemeinheit der Verfassungsinhalte begünstigt dies und ist gerade darin in besonderer Weise renaissancegeneigt. Werden schon in dieser Renaissance-Prägung Besonderheiten gerade der Verfassungsauslegung deutlich, so noch mehr in den beiden Grundformen, in welchen diese herkömmlich betrieben wird, aus welchen heraus sie sich von anderer Interpretation doch deutlich abhebt: in der Interpretation aus Werten und einer im weiteren Sinn historischen Auslegung. Die „Interpretation aus Verfassungswerten" bedeutet Verständnis und Fortentwicklung des Einzelnen aus dem Allgemeinen, mehr noch: des „Kontingenten" aus dem Fundamentalen heraus. Was aber könnte nun an der Verfassung fundamental sein - es muss doch inhaltlich bestimmt werden - wenn nicht das Wiedergeborene, in Verfassunggebung Aufgenommene, die Inhalte der „demokratischen Restitution an den Volkssouverän", von der bereits die Rede war? Diese Werte können nicht als das bestimmt werden, was „immer verehrt worden" sei hier verfiele man in politische Fiktionen und müsste den revolutionären Gehalt gerade der Verfassunggebung leugnen. Als Wert besonders verehrt aber kann immer eines werden: das wiedergekehrte, das wiederentdeckte Götterbild, und der „Verfassungswert der Verfassungsinterpretation" ist das stets von neuem Verehrte, die als „gut" wiedererkannte staatliche Gestaltung. Wann immer die Verfassungsgerichtsbarkeit sich auf Werte berufen wollte, hat sie stets Kategorien der Staatsrenaissance eingesetzt. Die historische Interpretation hat stets einen besonderen Platz im Verfassungsrecht eingenommen. Der Rückgriff auf den Willen eines Verfassunggebers ist weit häufiger als der auf die Absichten des technischen Einzel-Gesetzgebers, und gerade Grundsatzentscheidungen greifen auf frühere Verfassungsordnungen zurück und auf fremde Ordnungen aus, in einer selbstverständlichen Distanz zum Verfassungswortlaut, welche die dichtere Fassung des Gesetzeswortlauts dem Richter sonst nicht erlaubt. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit wird hier etwas geleistet, was man im Grunde nur als „Rückgriff" bezeichnen kann, in diesem Wort aber liegt richterliche Staatsrenaissance in kleinen Schritten. So häufig „zurückgegriffen wird", so selten ist die Berufung auf eine „Tradition" - und auch sie kehrt weit öfter in Form einer wiedergeborenen Staatsidee zurück, als dass sie nun in

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gegenwärtiger Praxis fortgesetzt werden sollte. Verfassungsgerichtsbarkeit versteht sich im Grunde immer als eine Staatspraxis der größeren und kleineren Sprünge, und diese mögen eben von normativen Gipfeln aus leichter sein. Die Höhe des Verfassungsorgans hebt dessen Spruch aus der Horizontale fortspinnender Traditionalität an sich schon heraus, trägt ihn hinauf in eine Ebene, aus welcher größere Räume überschaut, von der aus in Staatsrenaissance Verfassungen weiterentwickelt werden. So ist denn diese historische Verfassungsinterpretation etwas anderes als die anderer Gerichte - hier vollzieht sich Renaissance-Interpretation, in Formen und Inhalten. Darin verbindet sich auch Wertinterpretation und historische Auslegung zu einem einheitlichen Verständnissystem: In beiden ist die Zeit zwar im Ausgangspunkt bedeutsam, im Ergebnis aber wird sie überhöht, aufgehoben, weil die richtige Verfassungsauslegung diejenige ist, welche das Wiederkehrende zurückbringt. Selbstverständlich ist es daher auch, dass sich diese Form der Verfassungsentwicklung von jedem Radikalismus freihält, wie er Verfassunggebungen von ihren revolutionären Ursprüngen her wesentlich sein mag: Wenn hier „gute Staatsformen" zurückkehren sollen, so ist dies nie in Extremen vorstellbar, allenfalls in der Wiederkehr älterer technischer Formen, welche diese abmildern. Verfassungsgerichtsbarkeit als mäßigende Staatsgewalt - darin bewährt sich Verfassungsinterpretation als eine Staatsrenaissance der kleinen Schritte.

6. Typische Staatsrenaissance-Inhalte des Verfassungsrechts Mag es auch eine Theorie des materiellen Verfassungsrechts nicht geben, die formellen geschriebenen Verfassungen zeigen weithin gleichartige, typische Inhalte, die sich häufig formal in Staatsrenaissance entfaltet haben, in Übernahmen und Rückgriffen, und eine solche Prägung auch inhaltlich tragen. Hier treten typische Renaissance-Rechtsinhalte immer wieder in Erscheinung. - Da ist die Verfassung als die Charta der höchsten Kompetenzträger, mit denen, wie sich später noch zeigen wird, zuallererst Renaissanceinhalte zurückkehren. Nach den großen Institutionen der Staatlichkeit, Präsident, Kammern, Gerichtsbarkeiten, sind diese Normenwerke gegliedert, bei jeder von ihnen bringen sie Aufgaben und Befugnisse in allgemeiner Umschreibung. Damit beginnt eben alle Staatlichkeit: bei den Trägern der Macht, dem ganz allgemein, was sie als Aufgaben zu erfüllen haben, nicht aber bei den Details dieser Funktionen. - Verfassung als Verfahren ist nicht nur eine demokratische Notwendigkeit, Kanalisierung wechselnder Dynamik der Volkssouveränität. Hier liegt eine auch aus der Sicht der Staatsrenaissancen begründete Notwendigkeit, denn diese Verfahren, welche ja regelmäßig in den Verfassungen an Kompetenzträger angeschlossen, aus ihren Zuständigkeiten entwickelt werden, bringen gerade Elemente zum Tragen, die nicht von Organen isoliert in anderen Ordnungen wiedergeboren werden können. Hier gibt es wahre Steinbrüche der Verfahrensformen, Aus-

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grabungsfelder gerade für demokratische Gestaltung, man denke nur an die Verfassungsexperimente der französischen revolutionären Tradition, die ihrerseits stets Ausdruck kleinerer Renaissancen der Volkssouveränität gewesen sind. Da mag man Ein- und Zweikammersysteme wählen und kombinieren, ihre Beziehungen zum Staatsoberhaupt, zur Regierung verfahrensmäßig bestimmen - immer bleibt die Verfassung im Räume jener Strömungen, welche sich als Wiedergeburten von Staatsideen verstehen, wie sie schon einmal mächtig gedacht worden sind. - Die Feierlichkeit der Verfassungen zeigt eine weitere typische Renaissance-Prägung. In eigenartiger Hoheit will ja dieses Gesetzeswerk im Ganzen einhergehen, und mag es in den Einzelheiten noch so sehr in Technik hinabsteigen. Es bleibt überwölbt von den großen Proklamationen, Präambeln, denen aus der Sicht der Staatsrenaissance eine ganz andere Bedeutung zukommen müsste, als es heutigem Verständnis einer im Grunde doch nur „Verfassung als Gesetz" entspricht. Da ist die hoheitsvolle Wucht der Grundrechtsformulierungen, die Festlegung der Bezeichnungen und Staatsembleme, die symbolhafte Kraft des „Namens des Volkes". Es ist, als wollten die Verfassungen immer wieder hinweisen auf ihre letzte Legitimation und Herkunft, nicht nur auf die Kraft des Volkes, sondern auch auf die Macht einer Staatsrenaissance, welche solche Würde hervorzubringen vermag. - Verfassung bedeutet schließlich immer einen Rahmen, hier werden keine technischen Einzelheiten geregelt, und doch wird Staatstechnik geboten, gerade in der Rahmenvorstellung kommt dies zum Ausdruck. Institutionen können übernommen werden, nicht nur ihre Einzelheiten. Grundentscheidungen, oft nur Grundstimmungen werden gefühlt, sind von der Verfassungsgerichtsbarkeit zu entfalten. Dies alles sind Grundzüge eines in großen Rück- und Ausgriffen übernommenen Rechts, in seiner Flexibilität, seiner Anpassungsbedürftigkeit. Gerade die Weite des Rahmens verlangt dessen letzte Festigkeit, die nicht alles zur Disposition stellt - so wie auch der Renaissance-Rechtsinhalt vieles den Einzelausgestaltungen aus späterer Systematik heraus überlassen mag, eine letzte Achtung vor der früheren integrierten Größe aber verlangen muss. So ist denn eine weitgehende Kongruenz von Verfassungsrecht und Renaissancerecht auch in der inhaltlichen Struktur feststellbar, selbst darin, dass nie „alles Rahmen", „Öffnung" sein kann, an manchen Punkten vielmehr ganz hart doch entschieden sein muss, so wie es das geschriebene Verfassungsrecht oft in zufällig anmutenden Verfassungsbefehlen versucht. Auch das Renaissancerecht kehrt ja in Trümmern zurück, mit der Schönheit der alten Steine, aber auch mit ihrer Festigkeit.

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7. Verfassungsrisiko: Verfassung als Renaissance-Sperre a) Verfassungszementierung Das Verfassungsrecht ist ein ambivalenter Gegenstand der Betrachtung aus der Sicht der Staatsrenaissance: Einerseits zeigen die geschriebenen Verfassungen, in ihrem formalen Zustandekommen wie in ihren inhaltlichen Strukturen, die Prägung der wiederkehrenden Staatsideen, die bisherige Betrachtung hat es erwiesen. Doch auch eine andere Seite wird sichtbar: die Verfassung als ein Risiko für die Wiedergeburt „guter Staatsformen", Verfassung als Renaissance-Sperre. Historisch gesehen haben ja Staatsrenaissancen gerade dort besonders stark wirken können, wo geschriebene Verfassungen im heutigen Sinn fehlten, wo allenfalls eine Gesetzesidee lebendig war, welche ihrerseits in Staatsrenaissance zurückkehren konnte, in der solonischen Tradition der unverbrüchlichen Festlegung von Regeln des sozialen Zusammenlebens, nicht der Staatsorganisation. Die Zeit der großen Renaissance war nicht eine solche des Verfassungsrechts, England ist in Staatsrenaissance zur Imperialität emporgestiegen, gerade weil es in der Flexibilität seiner materiellen Verfassung immer neue Grundstimmungen übernehmen konnte. Im postrevolutionären Frankreich, dem klassischen Feld der Staatswiederkehr, hat relative Verfassungslosigkeit, hat die Abschwächung der normativen Kraft der Grundgesetze, das Fehlen von Grundrechtskatalogen in der Verfassung, mit einer „Elastizität an der Spitze" eher renaissancegünstig gewirkt. Im Bereiche der großen „Staatsrenaissance durch Privatrecht", in der Wiederkehr der Pandektistik, war wiederum Deutschland glücklicher als Frankreich, weil dort nicht die Kodifikationssperre der napoleonischen Gesetzgebung wirkte. Allen Verfassungen ist in der Tat etwas von einer ursprünglichen Selbstbegeisterung eigen, welche zwar übernehmen, nicht aber übernommen haben will. Hier soll die ganze politische Zeit stillstehen, für radikales Verfassungsdenken gibt es„keine Zeit vor der Verfassung". Grundgesetzlichkeit, in welcher Form immer, trägt in sich stets eine Tendenz zur Kanonisierung des angeblich oder wirklich Erreichten, jedenfalls Normati vierten. Die Renaissance der guten Staatsform hat stattgefunden und ist abgeschlossen, formale Sperren werden errichtet, weitere Übernahmen müssen immer stärker formalisierte Hürden nehmen, nur mehr von diesem einen Ausgangspunkt her kann gedacht werden. Die Verfassungsordnung ist so hoch gebaut, in der pyramidalen Vorstellung dieser Normativität, dass damit auch die Mauern wachsen, alles weiter Entfernte extra muros verbannt wird - die Ausgrenzungswirkung des Verfassungsrechts, bis hin zur nationalistischen Provinzialisierung, ist immer wieder der Virtualität solcher Ordnungen, ihrer dauernden Schöpfungskraft, zum Verhängnis geworden. Besonders ungünstig wirkt all dies zusammen, wenn sich Verfassung, in lang dauernder Anwendung, eben doch hinab bewegt auf die Ebene des technischen einfachen Gesetzesrechts, wenn sie wie dieses ausgelegt und fortentwickelt wird. Wo schließlich das Verfassungsrecht eine Tradition erreicht, will es sich „aus sich 29 Leisner

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selbst heraus halten", als wenn es der großen Stunden der Renaissance nicht mehr bedürfte. In dieser Gefahr steht vielleicht nicht die geschriebene Verfassung als solche, solange sie ein reines Organisationsgesetz der Staatlichkeit bleibt, in Kompetenzen formalisiert. Sie steigert sich aber, wo in Grundrechtskatalogen materiell Unabänderliches eingeführt wird. Die Grundrechte bringen die große Versuchung der Verfassungszementierung, der den Blick über die Grenzen der Charta hinaus verschließt.

b) Verfassungswandel

als Öffnung zur Wiederkehr

Diese Verfassungsrisiken für eine Renaissanceprägung des Rechts sollten jedoch auch nicht überschätzt werden. Die geschriebenen Verfassungen bleiben, selbst in ihrer Grundrechtlichkeit, doch immer noch weithin „offen", schon weil volle Systematik hier, vom Ausgangspunkt her bereits, nicht erreichbar ist und insoweit ein Renaissance-Denken in größeren Bewegungen durch das Verfassungsrecht weitergetragen wird. Wo aber die Verfassung wirkliche Starrheit erreicht, da bricht sie auch, die französische Entwicklung hat dies vor allem gezeigt, immer wieder zusammen, ihre guten Elemente werden zu jenen Trümmern, die sodann in neuer Renaissance aufgenommen werden können. Nicht zuletzt aber ist gerade im Bereich geschriebener Verfassung in besonderem Maße die Erscheinung eines Verfassungswandels zu beobachten, stärker als bei der einfachen Gesetzgebung. Angeblich wird hier zwar in erster Linie auf Außerrechtliches ausgegriffen, doch in Wahrheit verdeckt dies nicht selten eine Wiederkehr früherer oder entfernter Staatsformen; rein Tatsächliches wirkt nur selten bis in die oberste Normschicht hinein. Etwas wie eine Theorie des Verfassungswandels als Form der Staatsrenaissance ließe sich vielleicht entwickeln. Eine solche lässt sich ja auch in der kontinuierlichen Strömung, in den vielen kleinen Schritten feststellen, die sich dann zur größeren Veränderung weniger summieren als integrieren, Staatsrenaissance ist keineswegs immer nur der politische Theaterschlag. Andererseits aber ist der Verfassungswandel durchaus nicht auf die vielen, unfassbar kleinen Schritte beschränkt, in denen das Neue langsam heraufkommt. Als ein solcher Wandel wird ja in der Regel etwas durchaus Machtvoll-Dezisionistisches ausgegeben - und soll hier als ein „natürlicher Vorgang" nur zu oft verharmlost werden; Verfassungswandel ist meist ein Verschleierungswort für große Entwicklungen, welche man institutionell nicht durchzusetzen vermag. So wird etwa heute ein „Eigentumswandel" postuliert - in ihm aber soll vor allem etwas wie eine Renaissance früherer Ober-Eigentumsformen ablaufen. Und der eigentliche Verfassungswandel vollzieht sich nur zu oft durch ein Einzelereignis, eine mächtige Einzelpersönlichkeit, die etwa einem Präsidentenamt für lange Zeit eine Prägung verleiht, welche es früher einmal besessen und dann zuzeiten verloren hat; amerikanische Beispiele fehlen nicht.

C. Formen der Staatsrenaissance

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Die Wandlungsfähigkeit der Verfassung schwächt die Gefahr der RenaissanceSperre durch eine starre, oberste Normenschicht wesentlich ab: Neue, alte Inhalte können zurückkommen zu den bereits wiedergeborenen. Gerade nach demokratischem Verfassungscredo dürfte ja auch der Wille des souveränen Volkes nicht durch eine Wirklichkeit gebrochen werden, welche ihr, der absoluten Gewalt, stets untergeordnet bleiben muss. Im Namen dieser Wirklichkeit kommt vielmehr, häufig nur eine „neue Vergangenheit zurück". So groß muss das Gefäß einer bedeutenden Verfassung sein, denn mit einem Mal kann sie ja die „guten Staatsformen" nicht aufnehmen. Das größte vielleicht an der Verfassungsvorstellung ist, dass hier nicht „eine Staatsform als solche", sondern dass, der Idee nach, „eine gute Staatsform" versucht wird - eine, die im Verfassungswandel durch Staatsrenaissance immer weiter zu verbessern ist. So zeigt denn die Staatsrenaissance-Betrachtung die Verfassung vor allem als eine durch die Wiederkehr guter Staatsformen geprägte höchste Äußerungsform der Staatlichkeit, als eine Serie von Grundentscheidungen weit mehr denn als eine oberste Normschicht. Die Verfassung gilt nicht nur, in ihr kehrt etwas wieder.

V. Der Gesetzesstaat und die Staatsrenaissancen 1. Gesetz gegen Staatsrenaissance Das große heutige Problem für das Verständnis der Staatsrenaissance liegt im modernen normativen Gesetzesstaat. Hier, nicht im Verfassungsbereich, zeigen sich Mechanismen, welche das gegenwärtige Recht von größerer Vergangenheit, von bedeutenderen Beispielen absperren, in der Selbstgenügsamkeit einer immer kleiner mahlenden Rechtstechnik. Nicht Demokratie hat Renaissanceblindheit hervorgebracht, als ein Organisationsversuch der Staatlichkeit von oben her ist gerade sie stets der Staatsrenaissance fähig gewesen. Die Übersteigerung der Rechtstechnik in Gesetzesstaatlichkeit dagegen ist einem Denken in größerer staatsideeller Wiedergeburt gefährlich, zuzeiten tödlich geworden.

a) Die Norm als geschlossener Befehl Die Norm war einst, von ihren antiken Ausgangspunkten her, Ausdruck der höchsten, allgemeinen Ordnung, in ihrer Unverbrüchlichkeit die Verfassung von heute. Dieser solonische Gesetzesbegriff, welcher der Staatsrenaissance stets fähig gewesen ist, musste, das wird sich bei der Betrachtung der Renaissance-Inhalte noch näher zeigen, in das Verfassungsrecht abwandern. Geblieben ist heute das Gesetz als Norm, als Erscheinungsform kontingenter und vielfacher, wesentlich wechselnder staatlicher Befehle. Da „die Normen herrschen sollen" - hier hat die französische liberale Theorie das Wesen dieser technischen Gesetzesstaatlichkeit 29*

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erfasst - wird der Normbegriff auch immer weiter verschärft, spezialisiert, vor allem aber verengt. Diese Norm ist nun der abschließend festsetzende Staatsbefehl, der außer sich nichts mehr kennt; sie wird objektiv interpretiert, der Blick richtet sich auf die Gegenwart oder in die Zukunft, was sollte da in Renaissance zurückkehren? Zur Befehlswirklichkeit integriert wird diese Norm in der Anwendung auf den Einzelfall, dem sie schon in ihrem Inhalt möglichst weit spezialisierend sich nähern will; was könnte da eine Inhaltserfüllung aus größerer Vergangenheit bedeuten? Alles, was als typischer Staatsrenaissance-Inhalt erkannt werden konnte, Kompetenzen, Verfahren, Staatsetiketten, sind nicht primäre Norminhalte der Gesetzesstaatlichkeit, die zuallererst den inhaltlichen, den materiellen Befehl bringen will. Dieses Gesetz bedarf keiner Legitimation aus einer größeren Vergangenheit, es genügt ihm sein demokratischer Erlassvorgang - und es will selbst, in eigentümlicher Umkehr, im allgegenwärtigen Normensystem gar diese Demokratie noch rechtsstaatlich legitimieren. Von „guten Normen" wird kaum jemand sprechen, von der antiken und kirchlichen lex divina ist nichts mehr geblieben. Klassische Inhalte muss es geben, damit Staatsrenaissance erlebt werden kann. Das Gesetz des Normenstaates bedeutet das wesentlich Veränderbare, wer könnte schon „klassische Gesetze" nennen, wenn nicht jene Grundlagen des Zivilrechts, in denen früher noch Staatsrenaissance gekommen ist. In der Norm liegt schließlich das Festlegende, zugleich aber auch beliebig Veränderbare, die Form, welche den Inhalt voll bestimmt, wo doch Staatsrenaissance stets das Gegenteil bedeutet hat.

b) Das „gleiche Gesetz " und die guten Staatsformen Die Gesetzesstaatlichkeit hat den Demokratien die Form für den wechselnden Willen ihrer sich ändernden Mehrheiten geboten - und sie geradezu in diesen Wechsel damit gezwungen. In den dynamischen, schnellen Veränderungen dieser Inhalte wird am Ende die Gütefrage an diese Inhalte gar nicht mehr gestellt. Im Rahmen einer materiellen Verfassungstheorie wird solches immerhin noch gelegentlich versucht, eine materielle Gesetzestheorie braucht es nicht zu geben, da doch die Gesetzesstaatlichkeit den Normbegriff grundsätzlich ersetzt hat und die Abgrenzungen zur Verordnungsgewalt formal zu leisten sind. So kann die Gesetzesnorm problemlos zum Maßnahmegesetz werden, solche Inhalte aber sind ihrem Wesen nach der Staatsrenaissance nicht fähig, Maßnahmen bringen kaum je Ideen, also auch keine solchen zurück. Die einzige innere Grenze für das Gesetz in der Rechtsstaatlichkeit liegt in seiner notwendigen Allgemeinheit, damit in der Gleichheit, welche es heute auch inhaltlich herstellen, in der es daher auch anwendbar sein soll. Gleichheit als solche mag eine Staatsidee sein, die auch in Renaissance zurückkehren kann, in der Bürgervorstellung ist dies immer wieder erlebt worden, in der Wiederkehr der Gerichtsgewalten. Doch der Staatsbefehl als Gleichheitsordnung

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ist kein typischer Renaissanceinhalt, für die wiederkehrenden „guten Staatsformen" war es wohl nie entscheidend, in wie vielen Fällen sie gleichmäßig Anwendung fanden, ob sie nun Egalität in sich trugen und verstärkten oder nicht. Auf Machtordnungen waren sie immer gerichtet, darin auf Freiheitsbewahrung und auf die technische Ermöglichung des größeren Herrschens. Die Schematisierung des Egalisierenden gehört nicht zu ihrem Wesen, wollen doch die „guten Staatsformen" wiederkehrender Imperialität das Große nicht in Einebnungen, sondern in der Kombination unauswechselbarer Vielheiten. So ist denn die formale Gesetzesgleichheit wohl der Renaissance fähig gewesen, nicht aber jener Zug zur materiellen, inhaltlichen Egalisierung, der den Gesetzesstaat seit der Französischen Revolution prägt. Vielleicht ist diese Grundtendenz der Gesetzesstaatlichkeit, welche von Staatsrenaissance im Letzten eben doch absperrt, wiederum eng verbunden mit jener legislativen Machbarkeitsfiktion, von der bereits die Rede war. In einem vor allem trägt das Gesetz den Anspruch der Machbarkeit und die Forderung ständiger Veränderung in sich: in immer neuer, immer stärkerer nicht Anwendungs-, sondern inhaltlicher Gestaltungsgleichheit.

2. Gesetzesflut - Gefahr und Chance der Staatsrenaissance „Das Gesetz als Weg der Wiederkehr guter Staatsformen" - das ist nicht die einzige, vielleicht nicht einmal die eigentliche Frage. Nicht das Gesetz steht ja im Mittelpunkt heutiger Staatlichkeit und wird ihr zum Problem, es sind „die Gesetze". Unkritisch haben einst Verfassungsgeschichte und Staatstheorie den Schritt vom Gesetz zu den Gesetzen vollzogen, den Geist der Lex im Esprit des Lois zu entdecken geglaubt; erst heute wird in der steigenden Normflut deutlich, dass zwischen beidem Welten der Staatlichkeit liegen. Kritik gegen diese Normflut bleibt schwächlich, denn sie setzt bei der äußeren Form an, nicht an der tieferen Bedeutung: Beklagt wird die Unübersehbarkeit der Technizität als ein Abfall von der Rechtsstaatlichkeit, die sich hier selbst aufhebt. Doch solche formalen Schwierigkeiten erscheinen immer wieder als lösbar, zurück bleibt dennoch das inhaltliche Problem der allzu vielen Gesetze, gerade wenn an Wiederkehr von Staatsideen gedacht wird, ist es deutlich: Die Normmassen überfluten die großen Gedanken, die wiederkehren könnten, wer wollte aus ihren Sandablagerungen noch Größeres ausgraben? Staatsrenaissance vollzieht sich, das zeigte sich schon, in isolierender Übernahme auch „technisch" erscheinender Bruchstücke früherer Ordnung, doch so klein und glatt können sie nicht aufgefunden werden, dass sie in die rastlos verrechtlichenden Raster der Gesetzesdemokratie passen. So viel kann nicht rezipiert werden, dass solche Einzelheiten, selbst zusammen gesehen, im Ganzen noch eine Wiedergeburts-Wirkung zeitigen könnten auf die vielen Gesetze. Irgendwo wirkt in der Staatsrenaissance eben das Gesetz der

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wenigen Übernahmen, in ihnen erst wächst sie zur Majestät empor. Und es gibt dort auch ein Gesetz der abnehmenden Übernahmen: Zuallererst wird das Wichtige gefunden, das Große, später kommt die Zeit der Spezialisierungen, der kleinen Funde, in der Pandektistik war es hier ebenso wie in der klassischen Archäologie. Die Normflut aber bringt Einzeltechnizität, die zum undurchdringlichen Geflecht wird, kein Gefühl lässt sie für die Schönheit einzelner Trümmer früherer, größerer Ordnungen. Sie fragt nicht mehr nach Legitimation, bedarf keiner rechtfertigenden Grundstimmung, sie ist sich selbst genug, die Regel der Selbstlegitimation der Demokratie wirkt für ihre Gesetze wie für ihre Bürger: Je zahlreicher sie sind, desto legitimer. Wo würde da schon die große Rechtfertigungskraft einer Staatsrenaissance gebraucht? Die Gesetzesflut setzt sich nach unten fort, in unzähligen abgeleiteten Normen, Verordnungen und Satzungen. Dies könnten wohl auch Kanäle der Staatsrenaissance sein, doch die umgekehrte Wirkung ist meist stärker, die aufsteigende: Gesetze werden aus Verordnungen sinnerfüllt, Verfassung aus Gesetz, die zahllosen Normen halten sich selbst, von unten ebenso wie in der Horizontalen. Gegen Staatsrenaissance gewendet ist aber vor allem die Grundstimmung, welche in der Kettenreaktion solcher Gesetzlichkeit liegt: Wiedergeburt „guter Staatsformen" mag zu neuer Technik führen, doch Gesetzestechnik führt nicht zu Staatsrenaissance, diese hat ihre Chance eher dann, wenn eine Ordnung „mit ihrer Technik am Ende" ist, wenn Ausgangspunkte für neue Techniken gesetzt werden müssen. Die Normflut verschüttet das Größere, sie gräbt es nicht aus - und doch wird in ihr erstmals eine Chance auch hier sichtbar für größere Staatsrenaissance. Weggespült werden damit ja - davon wird noch die Rede sein - die großen ideologischen Strukturen, welche Übernahmen entgegenstehen. Wird überall in kleiner Münze bezahlt, müssen wieder größere Goldbarren ausgegraben werden. Ist nichts mehr übersehbar, alles wie von einem Rechts-Rokoko überzogen, so beginnt die Suche nach den klaren, größeren Formen. Aus dem Rechts-Künstlichen setzt der retour à la nature ein, im Umschlag der Wiedervereinfachung, und dies geschieht in Staatsrenaissance. So ist die große Renaissance eingebrochen in die unübersichtlich gewordenen Gewohnheits- und Regelgeflechte des Spätmittelalters, in die geistige Normflut der Spätscholastik. So konnte der Klassizismus im 18. und 19. Jahrhundert Gesetzesfluten normativer Wohlfahrtsstaatlichkeit zerteilen. Sichtbar wird hier ein neuer Weg, eine besondere Kraft der Staatsrenaissance: Wiederkehr als Simplifikation, als Reduktion der Gesetzgebung auf das „Wesentliche", damit aber als jener neue Beginn, in welchem allein sie sich zu legitimieren vermag. Gegen die verspielte und sich verspielende Formvielfalt der unzähligen Gesetze setzt sie die Einfachheit ihrer klassischen Staatsformen, klassisch wird sie rasch in solcher Einfachheit. Aus den vielen Gesetzen entsteht wieder das eine Gesetz, mit seinen wenigen großen Inhalten. Abgelöst wird das viele allzu Bekannte,

C. Formen der Staatsrenaissance

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sich ständig weiter gesetzlich selbst Erklärende durch das größere noch nicht Bekannte, das zu Erkennende der Staatsrenaissancen. So werden der Normflut der Gesetzgebung gegenüber die Schwächen der Gesetze durch Staatsrenaissance zur Kraft des Gesetzes. Im Wesen aller Wiedergeburt liegt ein Zwang zu ihr, ein Drängen, eine Notwendigkeit, die sich durch Wehen kämpft, die Leichtigkeiten der vielen Gassen durch den Ernst der einen Heerstraße ersetzt, auf welcher die Legionen geradeaus marschieren - zum Reich.

3. Staatswiederkehr in entideologisierender Gesetzgebung a) Renaissance gegen Ideologie Wie immer man Ideologie bestimmen mag - aus der Weite ihrer weltanschaulichen Inhalte, ihrer geschlossenen Systematik oder der Intensität ihres Strebens der moderne Staat, welcher sie in den Veralterungen der Tradition gebrochen hat, bringt sie in seinen Normen veijüngt zurück, in einer Zeit, welche Ideologie braucht nach der Zerstörung von Glauben und Herkommen. Die Gesetze der Demokratie, ihre Verfassungen zuallererst, mögen sich antiideologisch geben, in vielem sind sie doch Ausdruck solcher Geisteshaltung, jedenfalls offen zu ihr. In der Vielzahl der einfachen Gesetze wirkt Ideologie mit jener Allgegenwart, in welcher sich die Normwirkungen überall hin verästeln, sozialistische Gesetzgebung war ein Beispiel dafür. Tiefer müsste schließlich darüber nachgedacht werden, ob nicht im Begriff der Norm des Gesetzesstaates bereits eine „Form für Ideologien" vorgegeben ist, welche diese in der Unbedingtheit des Sollens überleitet in die staatliche Wirksamkeit. Demgegenüber erscheint nun Renaissance als das wesentlich Anti-Ideologische, allenfalls bringt sie noch etwas wie eine „höchst formale Herrschafts-OrdnungsIdeologie", welche eigentlich diesen Namen nicht mehr verdient. Was so weit zurückliegt, aus so großer Ferne übernommen wird, kann doch kaum mit all dem zurückkehren, was Ideologie braucht, allein kennen darf: Sie verlangt als solche Kontinuität, unwandelbare Geltung, nicht Unterbrechungen und Wiedergeburten. Deshalb musste der Kommunismus das Renaissancedenken zu eliminieren suchen in seiner Einbahn-Geschichtlichkeit, darum fehlte auch national-sozialistischer Staatsrenaissance die bewundernde Kraft römischer Übernahmen. Renaissance will Zwischenzeiten überspringen, Ideologie möchte sie annullieren, Renaissance bleibt irgendwie doch noch in der Zeit, Ideologie hebt diese in Fiktion auf. Ideologisches Denken fordert das „volle System", es schließt sich sofort ab, duldet nicht Einschaltungen oder gar Einbrüche, Übernahmen von auch nur einigem Selbstgewicht. Das eigene System ist alles, der antike Marmor darf nur mehr Mörtel sein, er wird nicht an Fassaden eingemauert, sondern in Kalköfen verbrannt.

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Ideologie legitimiert sich aus sich selbst, sie braucht die Fremdbegründung nicht, welche Renaissance ihr geben will. Die Wahrheit ist gefunden, sie muss nicht mehr zurückkehren, sie hat bereits die Kraft ihrer Durchsetzung geweckt, die überschäumt und alles verdrängt; hier ist radikale Begeisterung für ,,Neue Kunst", was sollen da die alten Statuen? Die Geschichte zeigt, wie berechtigt die Front aller Ideologie gegen alle Renaissance ist, stets hat diese Entideologisierungen bewirkt, in der allgemeinen geistigen Entwicklung wie im Besonderen der Staatlichkeit. Große Renaissance bedeutete das Ende der großen kirchlichen Ideologie - oder ihrer ideologischen Irrwege. Der Klassizismus des 18. und 19. Jahrhunderts drängte gleichmäßig neu formierte kirchliche und laizistisch-aufklärerische Ideologien zurück. In ideologischer Konzentration wollten sich die Renaissance-Regime des Faschismus und des Nationalsozialismus absperren gegen die belebenden Kräfte der Staatsrenaissance, gerade darin haben sie ihre eigenen geistigen Wurzeln abgeschnitten. Da es dem Kommunismus nicht gelang, sich einem sozialistischen Humanismus zu öffnen, der seine Ideologie überhöhte, Menschlichkeiten größerer Vergangenheit zurückbrachte, konnte er nicht anders enden. Diese entideologisierenden Wirkungen der Staatsrenaissance allein schon sind eine überzeugende Begründung für die Bedeutung dieser Gedanken gerade in einer Gegenwart, die von Jahr zu Jahr der Ideologien müder wird. Doch warum werden diese Fragen in den Zusammenhang des Gesetzes als Weg der Staatsrenaissance gestellt? Weil hier gerade eine Lage geschaffen wird, in welcher sich die Kräfte der Staatsrenaissance gegen die Ideologien entfalten können, weithin unbemerkt.

b) Gesetzgebung als entideologisierende Öffnung zu Staatsrenaissancen In der Technizität der vielen großen und kleinen Gesetze versucht man die „große Entscheidung", wie sie allein der Ideologie entsprechen kann, zwar immer wieder durchzusetzen, auf diesen leisen Sohlen und mit kleinsten Schritten schleichen sich Systemveränderer in die große ideologische Macht. Doch nur zu oft rächt sich die Technik, sie versperrt den Ideologen den Weg, treibt sie in die Ungeduld der Gewaltsamkeit. Mit ihrer Technik der Vorbehalte und Ausnahmen werden die Gesetze für den blockhaft-geschlossenen Willen der Ideologie unerträglich, immer länger werden die Verlustlisten ihres „absolut Wahren". Die vielen Gesetze rufen die noch zahlreicheren Gesetzesanwender, die Klarheit des Untrüglichen geht in der Abschwächung von Kompetenzwirrwarr und Bürokratien unter. Ideologie ist in erster Linie Inhalt, reiner Inhalt vielleicht, Verfahren sind und bleiben ihr sekundär. Der Gesetzesstaat aber verliert sich zunehmend in jenen Prozeduren, in denen gerade die Gesetze sich immer mehr spielen und ausleben können. Schweigend und mit der Wucht der Watte stellen sich die Gesetze gegen die Ideologie, und

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gerade mit dem, worin bereits typische Staatsrenaissance-Inhalte im Gesetzesstaat wirksam werden - in einem Denken in Kompetenzen und Verfahren. „Das Gesetz" könnte wohl Ideologie sein, wäre es eines wie diese, in der Masse der Normen spricht aber nicht mehr notwendig die Einheit des Ideologischen, Widersprüche schleichen sich ein und Gegenläufigkeiten; der blockhafte proletarische Volkswille muss immer wieder gegen verbürgerlichende Normtriebe und Verwaltungsbestrebungen verteidigt werden, die ihn nicht brechen, aber biegen, in alle Richtungen. Indem sich so Ideologie in der Gesetzgebung nahezu notwendig abschwächt, wird diese zum Motor der Staatsrenaissance. Entideologisierend sind in der Gesetzgebung gerade alle jene Kräfte wirksam, welche auch in Staatsrenaissance wiederkehren. In der antiideologischen Frontstellung öffnet der Gesetzgebungsstaat das Recht vielfacher Wiedergeburt, und nicht allein darin, dass mehr Grundsatzentscheidungen, „mehr Verfassung" immer wieder gefordert wird, gerade um die Vielfalt der Gesetze zu beherrschen. Nicht nur formal, vor allem inhaltlich ruft sich die Vielfalt der Gesetze den größeren Inhalt der Staatsrenaissancen, weil insbesondere er unmittelbar auf sie wirken, sie ordnen kann, wo es die Macht der Ideologie nicht mehr vermag. Die wiederkehrenden „guten Staatsformen" geben den zahllosen Gesetzen den Rechtfertigungs-Halt, den sie brauchen. Dann mag es sogar geschehen, dass der formale Verfassungs-Halt zurücktreten kann, dass Verfassung nicht mehr gebraucht wird, weil das Recht und seine Legitimation entsteht aus einem Zusammenspiel von Renaissance und der Technizität der vielen Gesetze. Sollte also nicht doch Staatsrenaissance sich ordnen lassen zum Recht der vielen Gesetze, in ihm gerade ihren Sinn erhalten - wiederkehren? Ist sie nicht etwas wie die weiche Ideologie des Gesetzesstaates?

4. Verrechtlichende Gesetzgebung - weite Räume für Rezeptionen Staatsrenaissance kann nur auf das wirken, was irgendwie vom Recht erfasst ist. Verrechtlichungsschübe waren stets ihr Anlass, seit dem Gesetz der X I I Tafeln. Erst eine gewisse quantitative und qualitative Entwicklungshöhe des Rechts lässt das Bedürfnis für Staatsrenaissance entstehen, stellt die Aufnahmegefäße für die Inhalte dieses „Alten Neuen" bereit. Entscheidend ist hier der Zustand der Gesetzgebung, ihre gewaltige Steigerung hat die quasi-totale Verrechtlichung gebracht und damit eine „Übernahmeöffnung" größten Ausmaßes. Da werden neue Räume normativiert, wie im Kulturbereich, im Recht der Hochschulen und Medien, nicht alle diese Inhalte können aus dem Nichts entstehen; wenn schon nicht jede Zeit den Beruf zur Gesetzgebung hat, derartige rechtliche Schöpfungskräfte dürfen von kaum einer erwartet werden. So schweift hier der Blick notwendig in Fernen, aus denen etwas übernommen werden, in eine Vergangenheit, aus welcher etwas zurückkommen könnte. Nichts anderes geschieht bei

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Ausweitungen bisheriger rechtlicher Gestaltungen, die eben auch großflächige neue Verrechtlichung bringen, vom Planungsrecht in all seinen Spielarten bis zu Einzelheiten der Umweltgesetzgebung. Rein technisch schon kann hier nicht überall nur experimentiert werden, und politisch wäre dies nicht erträglich, denn gerade derartige Verrechtlichungs-Ausgriffe bedürfen der Legitimation, solche Begründungs-Bedürfnisse aber führen geradezu mit Notwendigkeit in laufende, bewusste und unbewusste Staatsrenaissancen. Die heutige Gesetzgebung ist nicht nur ihr Weg, zuallererst schafft sie ihre Notwendigkeit. Staatsrenaissance wirkt hier auf die vielfältige Gesetzgebung wie eine Art von materiellem Verfassungsrecht; die Gesetzgebung fordert ein solches ständig neu, die formelle Verfassung kann es allein nicht bieten. Deduktionskraft moderner Verfassungen ist immer wieder und auf breiter Front überschätzt worden. Etwas vom Rahmen bleibt diesen Grundordnungen wesentlich, von der Delegationsnorm, und hier wird Kelsen nie widerlegt werden. Überall flutende Gesetzgebung aber verlangt mehr, sie bedeutet die normative Jugend, Verfassungen altern zu schnell und verdämmern. Selbst jene Staatsrenaissancen, welche auf dieser höchsten Ebene stattfinden, werden von der Alterskrankheit des Fundamentalen rasch angesteckt, für welche das Hohe nur zu oft eben das Vergangene bedeutet. Verfassungsrecht mag Staatsrenaissancen zulassen, ihnen wichtige Räume bieten, nicht hinreichend leitet es sie selbst nach unten, dorthin, wo sie aber in ständiger Verrechtlichung gebraucht werden. Und so gräbt sich Gesetzgebung ihre eigenen und oft direkten Kanäle der Übernahmen unmittelbar aus den Bedürfnissen der Ausweitung der Rechtsmaterien. Gesetzgebungsarbeit und Gesetzgebungstechniken entfalten hier eigene Formen der Wiedergeburt früherer Inhalte, welche dem gesetzgeberischen Fortschrittsoptimismus ganz natürlich als „gute" Staatselemente erscheinen. Bei neuen Verrechtlichungen etwa kommt es zu etwas wie einer Selbstübernahme, einer Renaissance innerhalb der eigenen Gesetzgebung, frühere Normen werden aufgenommen und zusammengefasst, bei den Kodifikationen wird davon noch zu sprechen sein. Übernahmen finden nicht nur in Texten statt, sondern auch in deren Begründungen: Früher Gedachtes, Liegengebliebenes kommt aus den Gesetzgebungsarchiven zurück, wird in Form kurzfristiger Renaissance wieder aufgenommen, so etwa wenn in politischem Machtwechsel nicht Gesetzgebungstraditionen neu geknüpft, sondern Gesetzgebungsbögen geschlagen werden. Doch hier kann auch viel weiter zurückgegriffen werden, vor allem wenn Inhalte verfassungsnaher Gesetzgebung gesucht werden: Wer heute Eigentum neu ordnen und - natürlich - immer weitergehend verrechtlichen will, mag Vorstellungen von Regalien in Renaissance begrüßen. So entwickelt sich in jener Technizität, wie sie aller Gesetzgebungsarbeit eigen ist, meist ideologiefern, in „voller Dogmatik", das Belieben der Übernahmen nur noch verstärkend, die Freiheit der Renaissance, ohne welche diese nicht gedacht werden kann. In diesen „Gesetzgebungs-Renaissancen" findet etwas statt, was bereits als „horizontale Staatsrenaissance" begegnet ist, in Übernahme aus anderen Ordnungen,

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wo sich diese Inhalte „bewährt" haben. Hier mag sogar der Versuch der Rezeption fremder Kontinuität gemacht werden, welche ja im Begriff dieses „Bewährten" liegt - mit der Übernahme selbst verliert sich die Schwächlichkeit der Tradition, die Transplantation verleiht die Kraft des neuen Organismus. Wie könnte auch das fremde Experiment übernommen werden, Wettbewerbs- oder Gesellschaftsrecht der Vereinigten Staaten oder deren Hochschulstrukturen, wenn nicht zugleich ihre Bewährung behauptet würde, die nur aus Dauer glaubwürdig begründet werden kann? Doch hier zeigt sich gerade eine eigentümliche Kraft der Staatsrenaissance in horizontalen Übernahmen: Was im Grunde im fremden Bereich noch immer Experiment sein mag, nicht voll gesicherte Erfahrung, wird dann in der Übernahme selbst verfestigt, verliert seinen Experiment-Charakter weitgehend. Im Recht des Umweltschutzes wird es nun täglich erlebt, wenn kurzatmige fremde Experimente wie Offenbarungen höherer Weisheit übernommen werden - obwohl sie eben im anderen Land bereits aufgegeben sind. Es wirkt eben doch wie ein Gesetz: Fremdes Experimentieren wird durch Übernahme in eigenes Gesetzesrecht mit der Weihe der Staatsrenaissance umgeben; denn wie sollte sonst die Übernahme der Experimente gewagt werden? Dies ist denn auch eine typische und nicht ungefährliche Renaissance-Mentalität in den Bereichen der sich ausweitenden Gesetzgebung: Das noch Unfertige - denn dies ist hier das Wort - wird als das Abgeschlossene politisch hingestellt, und eben dies schafft die so wesentlich dogmatisch wirkende Gesetzgebungsmaschinerie. Entscheidend ist dann die Übernahmekraft in der Legitimation und in den Grundstimmungen des in eigenen Gesetzen Wiedergeborenen, die Einzelheiten der ausländischen Erfahrungen bleiben gleichgültig, irgendwie war all dies dort möglich, ist dort abgelaufen - dies allein mag genügen. Selbst die Techniken solcher Übernahmen nehmen renaissancehafte Züge an. Da werden Entdeckungsreisen wie in alter Zeit unternommen und hoch bezahlt, deshalb dürfen sie ja nicht erfolglos verlaufen, es muss etwas in der Ferne aufgefunden werden, in moderner Wiederauflage der Reisen der Heiligen Helena zu den Kreuzen von Golgotha. Geschichten und Legenden aus der Ferne werden dazu erzählt, Überprüfbarkeit fehlt in der Heimat dem Volkssouverän, die Demokratie wird durch legendäre Staatsrenaissancen in ihre Schranken gewiesen. Mit ganzer Macht ist hier die „Reichs-Gewalt par excellence", die Exekutive tätig, Vorbereiterin in der Gesetzgebung in Übernahmen aus der Ferne. Herr über die Technizität der Gesetzgebung bleibt sie dabei in jedem Sinne. So bewirkt die Gesetzgebung durch die ihr immanente Ausweitung eine Rückgriffsverdichtung in dem, was man als „Höherentwicklung der Rechtskultur" nicht selten bezeichnet, und es kommt in solcher Weise zu immer noch stärkerer Renaissance-Notwendigkeit. Mächtig wirkt die Staatsrenaissance in diese angeblich so renaissancefernen Gesetzgebungsräume hinein, in welchen ihr immer neue Dimensionen geschaffen, aufgerissen werden.

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5. Kodifikation als Rechts-Renaissance Kodifikation ist in Idee und Formen vielfach untersucht worden, vor allem in ihren immer wieder sich gleichenden Techniken. Darin allein liegt schon etwas von Rechts-Renaissance. Hier soll nun gezeigt werden, dass eine Theorie der Kodifikation als staatsgrundsätzliches Phänomen ausgehen kann von der Vorstellung eines wiedergeborenen Rechts. Und gerade darin erweist sich Gesetzgebung als ein Weg der Staatsrenaissance; denn es ist ja nicht das Gesetz, es sind die vielen Gesetze, die Normvielfalt in ihrer Unübersichtlichkeit, welche den Zug zur Kodifikation schaffen, von den richterrechtlichen Normen zu ihrer kodifikatorischen Zusammenfassung im Gesetz, von den vielen Gesetzen zum einen Codex. Es ist, als solle hier noch einmal der Rückweg angetreten werden von den Gesetzen zur einen Lex. Doch dies ist eben nicht mehr das eine Gesetz der sparsam gesetzten fundamentalen Regeln, sondern eine große Kuppel, die sich über viele Normen wölbt, wie alle Kuppeln - in Renaissance.

a) Kodifikation

als Renaissancevorgang

In der Idee des Gesetzbuches liegt die Forderung nach der großen Simplifikation und Reduktion, in welcher die Gesetze nach Staatsrenaissance rufen, diese in ihrem Räume sich abspielt. In allen Einzelheiten, in ihren verschiedenen Phasen, zeigen sich Kodifikationsbewegungen als Staatsrenaissancen im Laufe. Ein erster Anlauf, eine Vorstufe kodifikatorischen Denkens, findet sich schon in all jenen Rechtsbereinigungen, in denen das irgendwie bereits teilweise Obsolete, das gerade noch Bekannte, aber unklar Gewordene nun wieder gereinigt, synchronisiert und in vollem Umfang zum Gesetz werden soll. In dieser Beseitigung vielfacher Gesetzeszweifel, der Bewahrung nicht nur, sondern Neuverkündung des Bleibenden, läuft im Grunde auch bereits etwas wie eine Wiedergeburt ab, das Zweifelhafte, nur mehr in Umrissen Bekannte kommt „voll als Gesetz zurück". In diesem Sinne liegt auch in jeder Kompilation etwas von Rechtsrenaissance. Wird dann das eigentliche, das eine Gesetzbuch geschrieben, so werden nicht nur geltende Normen zusammengefasst, es beginnt ein großer Ein- und Zusammenbau von Gesetzeskomplexen und -trümmern, welche gewissermaßen „bruchstückhaft daliegen". Richterrecht vor allem gilt es hier aufzunehmen, Gewohnheitsrecht und eine Rechtslehre, welche stets auf dem Wege ist, Normen zu entfalten, selbst zum Gesetz zu werden. In diesen komplexen Vorgängen wird eben nun auch vieles „aufgefunden", im wahren Sinne des Worte, in seiner gesetzgeberischen Bedeutung erst dabei voll erkannt. Wo so aus einem großen normativen Steinbruch heraus gebaut wird, ist Rechtsrenaissance notwendig, im Bereich der Gesetze. Neue Systematik muss geschaffen werden, nicht dies bedeutet Renaissance, wohl aber wird sie zur Voraussetzung eines großen Renaissancevorganges, in welchem das Frühere ins neue System gelegt wird. Jene Spannung zwischen den alten

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Inhalten und der neuen Systematik, welche bereits beschrieben wurde, ist eine immanente Notwendigkeit im Verfahren jeder Kodifikation. Zahlreiche „horizontale Übernahmen" aus anderen, entfernten Ordnungen finden statt. Der große Zusammenbau verlangt den Blick über die Grenzen, die umfangreiche Bestandsaufnahme, denn der Codex soll ja „alles bringen": das Denkbare und bereits Gedachte der Materie, wo immer es übernahmewürdig aufgetreten ist. Wesentlich ist für jede kodifikatorische Bemühung in erster Linie das Auffinden, das Zusammentragen des Bisherigen, nicht der neue Wille, der nur den Rahmen bietet, einiges von Systemen. Hier ist die Vergangenheits- und die Auslandsöffnung oberstes Gesetz, nicht der demokratische Volkswille. In seiner KodifikationsJudikatur hat das Bundesverfassungsgericht dem Volkssouverän des Grundgesetzes eine solche Achtung vor dem „Überkommen-Übernommenen" mit Recht unterstellt. Die Kodifikation bedeutet in ihrem Abschluss aber auch das bewusst gesetzte Ende eines größeren Rechts-Renaissance-Vorgangs, er wird nun geschlossen, „klassisch" - und damit seinem Wesen nach ein größeres „Gutes", wann wäre je schon von einer „schlechten Kodifikation" die Rede gewesen. Es finden in der Rechtsentwicklung ständig kleinere und größere Rechts-Renaissancen statt; erreichen sie wahrhaft staatsbedeutsame Inhalte, so bedeutet dies Staatsrenaissance. Die größte aller Kodifikationen, die justinianische, ist in sich schon, später noch mehr, zur größten Rechtsrenaissance geworden. In ihr sind all diese Vorgänge abgelaufen, beginnend mit einer Rechtsbereinigung, welche in Kompilation das Verstreute stärker normativiert und um Mittelpunkte der Gesetzlichkeit geordnet hat. Das so Aufgefundene wurde mit der neuen Macht erfüllt, in das imperiale Zentrum des Kaisers gestellt und so später wiedergeboren. Zwar blieb da noch immer ein geistiger Primat des „Früheren", „Ursprünglichen", und wo er ausgeschlossen werden sollte, kam er bald in fortlaufender Archäologie zurück, welche sich eben auch durch die Blockhaftigkeit der Kodifikation auf die Dauer nicht verdrängen lässt. Innerhalb des kodifikatorisch Zusammengefassten haben also die Kategorien der Renaissance weitergewirkt, welche hier vielfach beschrieben worden sind. Insgesamt aber ist darin doch die Zeit überwunden worden, alles erschien zunächst einmal, und von neuem bei den großen Übernahmen im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit, als zur selben Zeit geschaffen, tausende von Rezeptionen wurden zum rocher de bronze der einen großen Staatsrenaissance. Mit ungeheuerer Legitimationskraft ging dieses Riesenwerk einher, gerade aus diesen Hintergründen der Renaissance heraustretend, der politische Wille seiner Gesetzgebung fiel zurück. Die zusammengefassten, geballten Rechtssprüche wirkten mit der Kraft ihres Inhalts, geradezu gelöst von der konkreten politischen Macht des sie verkündenden Imperators. Entstanden ist so etwas wie eine freischwebende Ordnung, in weiteren Staatsrenaissancen derselben wurde es jeden-

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falls immer so gefühlt. Diese legitimierenden Kräfte erfassten das Ganze der Kodifikation, legten über sie etwas wie eine Grundstimmung allerhöchster Systematik, mochte diese auch im Einzelnen nicht durchgehalten sein. Auflösen ließ sich sicher später in historisierender Pandektenforschung diese Einheit wieder, übrigens in neuen, historisierenden Rechtsrenaissancen; zunächst einmal, und über viele Jahrhunderte, sollte jedoch die Einheitlichkeit der Kodifikation den vielen wiedergeborenen Elementen ihre einheitliche Stoßkraft verleihen, wie sie von ihnen inhaltlich befruchtet worden war. So ist die große Kodifikation, so sind nach ihr alle anderen Global-Gesetzgebungen in Verfahren und Inhalt - Staatsrenaissancen.

b) Von Kodifikation

zu Kodifikation

Justinian wollte mit seiner Kodifikation „die Gesetzgebung schließen", das in wahrer Staatsrenaissance Zusammengefasste sollte immer bleiben, nicht zurückkehren, so wenig wie etwas anderes in diese geschlossene Welt. Die Geschichte wollte es ganz anders, diese ganz große Kodifikation ist zum Aufruf ganz großer weiterer Staatsrenaissance geworden. Etwas vom Versuch einer Sperre der Staatsrenaissance liegt sicher in jeder Kodifikation, in deren Idee als solcher: In ein dogmatisch stark verfestigtes System hinein können weitere Übernahmen, formal jedenfalls, nur schwer stattfinden, und warum sollten sie auch gesucht werden, da sich jenes doch aus sich selbst heraus rechtfertigt? Dennoch sind die Kodifikationen stets, mit Blick auf die Renaissance, klüger gewesen als die Kodifikatoren, von ihnen gerade ist der Anreiz zu neuer Wiedergeburt ausgegangen. Die Ausweitung der Gesetzgebungsmaterien, wie sie gerade hier vollzogen wurde, rief immer wieder nach neuen Übernahmen. So große Werke können im Grunde auch nicht beendet werden, gerade diesen „Abschluss" schafft Kodifikation nie, sie wird zum „ewigen Werk" gerade dort, wo sie neue Systematik hervorbringt, in welche stets von neuem eingebaut werden muss; beim Bürgerlichen Gesetzbuch ist damit schon bald begonnen worden, und nicht nur in der Entdeckung der Generalklauseln. Interpretation kann durch Kodifikation nicht ausgeschlossen werden, ihre Notwendigkeit verstärkt sich gerade hier, in der systematischen Zusammenordnung vielschichtiger Normen und Kategorien; in den so vielen Auslegungen kommt ganz anderes, früheres und entferntes Recht in die angeblich geschlossenen Räume. Nur zu oft sind auch gerade Teilkodifikationen Aufruf geworden zu noch größeren Gesetzbüchern, das öffentlichrechtliche Prozessrecht bietet ein neueres Beispiel. Die Kodifikation verbreitet überhaupt um sich etwas wie eine Grundstimmung jener Renaissance, deren großes Phänomen im Gesetzesbereich sie ist, das dort Bedeutsames hervorgebracht hat und daher auch - wie in einer methodischen

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Rechtsrenaissance - in anderen Bereichen der Rechtsordnung einsetzbar erscheint. Wenn es etwas wie eine „Kodifikations-Idee" gibt, so muss eben irgendwie alles möglichst zusammengeschlossen werden, damit aber beginnt man in Wahrheit erst recht ein unendliches Werk, in dem endlose Rechtsrenaissancen ablaufen. Die Lehre der Kodifikationsgeschichte an den Juristischen Fakultäten ist so denn auch immer ein Unterricht in Rechtsrenaissancen geworden, weit über reine Rechtsgeschichte hinaus. Kodifikationen sind nie ein Abschluss, eher ein Anfang gewesen - zur Fortsetzung der Wiedergeburten, von Renaissance zu Renaissance. Doch nicht nur dies gilt, sondern auch die Wiedergeburt des Codex-Inhalts von Kodifikation zu Kodifikation. Später wird ja vor allem das übernommen, was in Kodifikation geschlossen und damit greifbar geworden ist. Das historische Beispiel des römischen Rechts zeigt es klar, hier konnte „ganz einfach" aufgefunden, die historische Renaissance sollte darin die größte werden, dass sie die einfachste war. Das Gesetzbuch bringt immer, was man aus ihm auch übernehmen mag, viel an Rechtstechnik; und wenn sie es gerade ist, welche der Wiedergeburt fähig ist, führt aus jeder Kodifikation ein solcher Weg. In dem einen Codex ballt sich inhaltlich Gesetzeskraft zusammen, darin nähert er sich etwas wie einer Verfassungshöhe. Dies bedeutet nicht nur eine Verstärkung der Geltungskraft der hier wirksamen Staatsrenaissance, sie weist eben dadurch auch über sich hinaus, zu einer neuen Wiedergeburt: Was so geschlossen ist, beeindruckt und ruft nach Übernahme, es ist ein in sich Gelungenes. Etwas liegt darin wie eine überschießende Legitimationskraft für eine noch gar nicht abzusehende Zukunft. Was in einem Gesetzbuch bereits in eine gewisse Ordnung gebracht war, lässt sich leichter erfassen und, das hat sich immer wieder gezeigt, auch erneut aus dem dort geschaffenen systematischen Zusammenhang artikulierend herauslösen, wie es einem Renaissancedenken entspricht. Wo immer ein größerer gesetzgeberischer Bau versucht wird, steht über seinem Eingang die ratio scripta, an ihm geht niemand so leicht vorbei, er ruft nach Wiedergeburt. So wird jedes neue gesetzgeberische Bemühen ansetzen, sie im Sprung zu erreichen. Methodisch wie inhaltlich also doch: von Kodifikation zu Kodifikation.

c) Kodifikation

- ein Reichsrecht in Wiedergeburt

Kodifikationen werden von Kaisern geschaffen, in ihnen ist immer der Atem des Reiches. Nicht als ob Imperien stets der Gesetzbücher bedürften, nur in ihnen überleben könnten; nur zu oft sind diese ihre letzte, größte Anstrengung gewesen, ein konsekrierender Abschluss, oder doch ihr Höhepunkt, von der Imperialität Justinians und Napoleons bis zu der der Deutschen Kaiser und des Faschismus. In der Kodifikation liegt eben doch mehr als rechtliche Methode, Rechtstechnik, hier bedarf es offenbar immer der Reichskonstellation, aber der Codex bringt diese nicht hervor.

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Deutlich zeigt die Kodifikation das Reich als Ausdruck der größeren, dauernden Ordnung: Groß ist hier alles in der Weite des Gesetzgebungsausgriffs, der nichts extra muros mehr lässt. Dauernd ist ein solcher Bau seinem ganzen Wesen nach, in der Überzeugung, dass er als solcher nicht mehr untergehen wird, wer hätte je Kodifikationen abschaffen oder auflösen wollen? Die Macht des Imperators mag vergehen, die selbsttragende Legitimation seiner Kodifikation überdauert ihn, die ratio scripta ist stärker als die Legionen. Die Vielheit der Fälle und Komplexe wird hier zur dauernden Einheit verbunden - und sie bleibt doch bestehen, der Kodifikations-Nexus ist immer einigermaßen formal gewesen. Normativprovinzen liegen so unter der Wölbung der größeren Kodifikation, deren System nicht in Form einer „Zentralgewalt" totale Systemeinheit erzwingt. Kodifikation wird nie mehr gedacht werden können ohne Erinnerung an die ganz große Renaissance des römischen Rechts - des römischen Reiches. In den großen Kodifikationen wird das kontingente Gesetzesrecht geradezu staatsformübergreifend imperialisiert. Der Gesetzgeber spielt keine Rolle mehr, der Codex zeigt das Recht als etwas Erkanntes, mit ihm kommt der Gesetzgeber zurück, aber nicht mit Macht, sondern in Autorität, in alle möglichen Regime hinein. Selbst der Wille des demokratischen Volkssouveräns beugt sich ihr, die Demokratie sieht sich als geistige Provinz eines größeren Imperiums, sie unterwirft sich nicht dem politischen Willen eines Kaisers, sie akzeptiert die Existenz eines imperialen Rechts - das im Letzten eben staatsform-neutral bleibt, also für sie auch nicht Ausdruck eines Gegenregimes sein kann. So steht hier am Ende: Kodifikation kann nur Reichsrecht sein; wesentlich ist sie Ausdruck der Renaissance in der Gesetzgebung; in ihr schafft „integrierte Rechtsrenaissance" mehr als Collagen von Bruchstücken - ein neues Reich der Gesetze.

VI. Staatsrenaissance durch Verwalten 1. „Renaissance der Verwaltung"? Staatsrenaissance durch Verwalten - das Problem hat zwei Seiten: Im Sinne dieses Abschnitts ist auch hier zu fragen, ob sich Staatsrenaissance auf den Wegen der Verwaltung vollziehen kann, ob diese heute so mächtige Staatsgewalt, für den Bürger meist der einzig fassbare Ausdruck der Staatlichkeit, etwas von „guten Staatsformen" zurückbringen kann. Doch im Vorfeld bereits zeigt sich ein anderes Problem: Ist Verwaltung als solche Gegenstand und nicht nur ein Weg der Staatsrenaissance, können Modelle der Vergangenheit gerade hier wiedergeboren werden? Den Inhalten der staatlichen Wiedergeburt wird das nächste Kapitel nachgehen. Doch wenn hier ihre Wege beschrieben werden, so kann nicht gleichgültig sein,

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was man die Renaissancefähigkeit des Verwaltens nennen könnte. Immer hat sich ja bei bisheriger Betrachtung schon gezeigt, dass die Wiederkehr „guter Staatsformen" dort besonders deutlich abläuft, wo - die Kanäle selbst der Wiedergeburt fähig sind; und so konnten denn Revolution, Verfassunggebung, ja in gewissen Grenzen der Gesetzesbegriff selbst als Gegenstand der Staatsrenaissance erkannt werden. Hier nun zeigen sich aber bereits beim Problemkreis „Verwaltung als Gegenstand staatlicher Wiederkehr" Probleme, welche auch dort Zurückhaltung nahe legen, wo Verwaltung als Weg einer solchen Wiedergeburt untersucht werden soll. Wenn das römische Modell - die bisherigen Betrachtungen legen es nahe - in besonderer Weise der Wiederkehr stets fähig war, über ein Denken in Einzelkompetenzen und Verfahren mehr noch als in Gesetzessystematik und durchgehender Normativität, so sollte es eigentlich möglich sein, die Verwaltung als den ersten, eigentlichen Gegenstand der Staatsrenaissance zu verstehen, jene geordnete Gewalt, in welcher Imperien immer zuerst, wenn nicht allein gewirkt haben. Und doch zeigt hier die Entwicklung ein anderes Bild. Staatsrenaissance hat sich bisher vor allem in den Bereichen abgespielt, welche heute dem Verfassungsrecht zugeordnet werden, auf einer Höhe eben, wo von „Staatsformen" die Rede sein kann, diese also auch als „gute" zurückkehren. Für die Verwaltung als solche gilt dies nicht. Im Schema der Gewaltenteilung ist sie ein Bereich der Exekutive, „Verwaltung als Staatsgewalt" gibt es noch immer nicht, es hat sie in jenen Perioden nicht gegeben, aus welchen Staatsrenaissancen machtvoll in frühere Zeiten zurückgekehrt sind und in die Gegenwart. Was am römischen Reich imperial war, ist wohl Verwaltung gewesen, dies war ein „Reich der Verwaltung". Mit heutigen Kategorien gewertet waren dies aber „Formen der Administration durch Verfassungsorgane", nicht solche im Sinne der doch irgendwie stets untergeordneten Verwaltung von heute, das Verwalten stand in einem völlig anderen technisch-militärischen Umfeld, welches insgesamt nicht wiederkehren kann. Ob nun der Begriff eines Verwaltens den Römern als solcher von staatsrechtlicher Bedeutung erschienen ist oder nicht - in späteren Zeiten, in der Renaissance auch des römischen Modells ist er es sicher nicht gewesen. Verwaltungsgrundsätze, wenn es solche überhaupt fassbar gab, waren eben „kleiner als Staatsformen", sie wirkten auf staatlichen Ebenen, welche die Höhen einer Renaissance kaum je erreichen konnten. In dieses tagtägliche Staatsordnen hinein mochten Rechtsgrundsätze aus dem Gesetzesrecht übertragen werden, etwa Treu und Glauben, andere dort ihre nähere Ausformung finden, wie das öffentliche Interesse - doch sie alle waren im Grunde aus höheren Bereichen übernommen. In den westlichen Ländern gab es bis vor kurzem noch gar kein „aufnahmebereites Verwaltungsrecht", in welches hinein Staatsrenaissancen hätten wirken können. Wiedergeburten des Früheren dürfen aber doch erst dann erwartet werden, wenn ein Zustand bewusster „Verwaltung als Staatsgewalt", oder wenigstens eines als solchen sich selbst bewussten Verwaltungsrechts, erreicht ist. Im kontinentalen Europa nähert man sich dem seit einem 30 Leisner

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Jahrhundert, doch immer wieder, und vor allem in Deutschland, spielen sich die großen Vorgänge auch dieses Bereichs eben doch im Bereich der Verfassung ab. Im angelsächsischen Raum schließlich steht dies alles noch in den Anfängen. Mögen also auch vielfache Renaissanceinhalte bereitstehen, welche „über Verwaltung wirken" könnten - die Aufnahmeräume sind noch nicht voll formiert, zu erwarten ist dies erst, wenn sich im Verwaltungsrecht feste, in Grenzen endgültige Gestaltungen entwickelt haben, die Gesetzgebung mag heute auf dem Weg dazu sein. Erst dann kann „Verwaltung in Staatsrenaissance" zurückkehren, dann auch erstmals ein großer Weg für eine solche werden. Begonnen hat dies bereits mit einem Verwaltungsrechtsvergleich, der aus der Ferne übernimmt. In diesem Sinne ist vielleicht die Zeit für ein Kapitel „Staatsrenaissance durch Verwalten" noch nicht reif, solange eben die Verwaltung und ihr Recht noch nicht so formiert sind, dass sie selbst Gegenstand von Staatsrenaissance werden könnten.

2. „Verwalten ohne Renaissance" Ergibt sich nicht aus dem Begriff des Verwaltens bereits, dass hier staatliche Wiedergeburt im Größeren kaum möglich ist? - Wie bedeutend immer die Gegenstände des Verwaltens sein mögen - und sie nehmen ja ständig zu - irgendwie bleiben sie, der Gesetzgebung wie der Staatsleitung gegenüber, etwas wie kleinere Münze, mit den Augen des Rechtes gesehen. Nicht als ob der „kleine Verwaltungsfall" als solcher zu vergessen wäre doch in ihm wirkt eben, anders als im kleinsten Prozess vor dem Amtsgericht, nicht der größere Rechtsgedanke, in welchem sich vor den Gerichten ohne Rücksicht auf Streitwerte die Staatsidee bewährt. Erst über die Verwaltungsgerichtsbarkeit gewinnt daher die Verwaltung die Chance zu einer solchen prinzipiellen Höhe, und auf diesem Gebiet wird sich wohl einmal zuerst Staatsrenaissance vollziehen. - Die Verschiedenartigkeit des Verwaltungsgegenstands und des Verwaltungshandelns besteht aber auch dann noch, trotz aller Verwaltungsgerichtsbarkeit, sie lässt sich nicht so leicht wie Bürgertätigkeit im Privatrecht kategorisieren. Unvergleichlich viel enger bleibt die Verwaltung dem „Außerrechtlichen" verhaftet, auf dessen Lösungen ausgerichtet, so läuft sie „aus dem Recht hinaus", damit aber auch aus jeder Staatsrenaissance. Das Selbstverständnis erfahrener Verwaltungsbeamter, welche ihre Tätigkeit gerade nicht als Rechtsanwendung sehen, sondern als weithin rechtsfreie Gestaltung, in allem und jedem immer wieder dahin drängen, gibt dem recht. - Diese Realitätsnähe unterwirft das Verwalten dem Wechsel der politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen Verhältnisse in einer Weise, welche der Statik der anderen Bereiche, der Verfassung oder der Grundsätze der Gesetzgebung, nicht bekannt ist. Wenn es eine Überbau-Gewalt im marxistischen Sinne im

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Staat gibt, so ist es die Administration. Was aber derart in der Erscheinungen Flucht steht, wie könnte zu dem anderes als nur flüchtige Fetzen einer Vergangenheit zurückkehren - und vorüberziehen? - Dass Verwaltung auf Effizienz ausgerichtet bleibt, ist kein leeres Wort, aber es wirkt rechtsentleerend, wie immer man es verstehen mag, Prinzipien treten vor der konkreten Wirkung zurück. Effizienz mag ein Ziel „guter Staatsformen" sein, welche wiederkehren, das römische Modell ist vor allem unter ihm stets gestanden; ist aber hier eine Wiederkehr nicht allenfalls möglich in Organisationsformen, welche im weiteren Sinne dem Verfassungsbereich zuzuordnen sind, kaum in jenen einzelnen Handlungsformen, aus denen eine Verwaltung aber wesentlich besteht? - Die Verwaltung steht, wie alle anderen Gewalten, unter laufendem Legitimationszwang, sie will ihm vor allem in Verwaltungsübung gerecht werden, diese aber verlangt Kontinuität, Tradition, und „dass es schon immer so gewesen sei". Dieser belächelte Grundsatz ist nicht Ausdruck bürokratischer Entartung, sondern Grundlage allen Verwaltens. Darf dann aber diese selbe Kontinuität in Staatsrenaissancen gebrochen werden, kann es Einbrüche der Wiedergeburt in diese ruhigeren, kleineren Gleichmäßigkeiten überhaupt geben? Würde dies nicht die Legitimation der Verwaltung als solcher schwächen, ja aufheben? - Unveröffentlicht ist Verwaltungshandeln ganz wesentlich, die Verwaltung überhaupt. Was immer sich hier, im Kleineren oder Größeren, an Wiedergeburten bürokratisch vollziehen mag, ist schwer feststellbar, noch weniger als „gute Staatsform zu beschreiben", es ist als „gute Verwaltung", nicht als Staatsform, bürger- und beamtenbewusst. Die große Publizität, welcher jede Staatsrenaissance bedarf und wie sie heute in den Kampagnen und Modewellen der Medien ihre große Chance findet - an der Verwaltung läuft sie weithin vorbei. - Die Verwaltung ist gesetzesunterworfen, immer strenger legalitätsgebunden im Einzelnen. Staatsrenaissancen mögen sie daher „über das Gesetz erreichen", die zahllosen Normen wirken aber doch als ebenso viele Sperren größerer und kleinerer rein administrativer Wiedergeburten, die sich eben an ihrem grundsätzlich unwandelbaren Willen brechen sollen. Die eigentlichen Renaissancen vollziehen sich also doch mehr auf der Gesetzesebene; hier mag die Administration mitwirken, durch ihre Interpretationen und Gestaltungen, nicht so sehr unmittelbar in ihr aber laufen sie ab als vielmehr, immer wieder, aus ihr heraus auf die Höhe des Gesetzes und von dort zurück in die Verwaltung, also nicht als ein wesentlicher, typischer Verwaltungsvorgang. - Verwaltung ist schließlich nicht grundsätzlich in dem Sinne „renaissancegeprägt", dass dort irgendwelche Ideal- oder gar Sehnsuchtsvorstellungen lebendig wären von einem „guten, alten Zustand". „Gutes, altes Recht" mag es geben, gute, alte Verwaltung wäre wohl für die meisten die Negation jeder Qualität. Irgendetwas von einer Grundstimmung in diesem Sinne aber gibt es bei jedem *

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Staatsorgan, in seiner Kompetenzausübung, und sie ist hier eindeutig - nicht renaissancegeneigt. Also doch „Verwalten ohne Renaissancen"? Wie könnte hier Rechtsrenaissance stattfinden, wo doch das Recht erst vor kurzem überhaupt die Verwaltung erreicht hat?

3. Renaissance-Öffnungen im Bereich der Verwaltung Dass die Vergangenheit und die Ferne unwiderstehlich wiederkehren in alle Staatlichkeit, zeigt sich, trotz all dieses scheinbaren Renaissance-Abstands, auch, gerade in der Verwaltung. Bisher war dies kaum bewusst, denn Staatsrenaissance blieb stets Grundsatz-, allenfalls noch Gesetzesrenaissance. So aber wie diese und die nächste Zeit die eigentliche große Verwaltung als Staatsgewalt wieder entdecken werden, so müssen sie dann auch zu Renaissancewegen finden, welche über die Verwaltung führen. Hier kann nur weniges angedeutet werden.

a) Wiedergeburt

durch Rechtsanwendung

Ein Kapitel über „Rechtsrenaissance durch Richterspruch" konnte hier nicht mehr geschrieben werden, als Entschuldigung mag gelten, dass nirgends Wiedergeburt so deutlich war, hat sich die große Renaissance des Rechts doch gerade auf solche Weise vollzogen. Hier soll betont werden, dass sich dasselbe Phänomen „Renaissance durch Rechtsanwendung" auch und gerade in der Verwaltung zeigt, in fast noch breiterer Form. Das Gesetz ist nicht nur klüger als der Gesetzgeber, es ist auch klüger als der Richter und der Verwaltungsbeamte - in dem Sinn, dass es sich ihnen bei der Anwendung im Einzelfall aufdrängt, ob sie dies nun erwartet haben oder nicht. In jeder Gesetzesanwendung liegt ja etwas wie eine ganz kleine, als solche gar nicht bewusste Gesetzesrenaissance: Ein time-lag trennt den jetzigen Fall vom entschiedenen früheren, größer wird er, wenn der Anwendende sich unmittelbar auf den Normgebungsvorgang zurückbezieht. Hier mag nun nicht selten ein Gerichtsbarkeit und Verwaltung „unbekanntes", in diesem Sinne also geradezu obsoletes Gesetz doch wiederkehren, der Rechtsanwender ist seinem Wesen nach ein Ausgrabungsorgan bereits verschütteten Rechts; und wie froh sind nicht Richter wie Verwaltungsbeamte, wenn sie, zeitübergreifend, altes, unvordenkliches Recht heranziehen, den heutigen Fall damit überraschend entscheiden können. Rechtsanwendung - das bedeutet eine Organschaft des „lange ruhenden Rechts", welches plötzlich in seiner Anwendung wiederkehrt. Das fast schon vergessene Praecedens, das so oft „gerade noch die Ver-

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waltung" kennt, in ihren unendlichen Akten, nicht aber mehr der Bürger - wirkt es nicht wie eine Wiedergeburt, und sei es auch nur aus dem Staub der Schränke? Die Verwaltung als Herrin der Archive - zaubert sie nicht täglich neue, erstaunliche Renaissance dem Bürger vor? Darin kommt auch keineswegs nur Recht zurück, alte Gesetze, und welches Gesetz wäre denn im Augenblick der Anwendung und aus ihrer Sicht nicht „alt"? Frühere Fälle kehren wieder, die Verbindung des Rechts mit dem Außerrechtlichen, in all seiner Tatsächlichkeit und Tatbestandlichkeit. Wo immer der Richter, der Verwaltungsbeamte noch mehr, den „alten, früheren Fall" beschwört, kommt ein Stück Rechts- und Verwaltungsgeschichte wieder, in Interpretation oft nur wenig verändert. Natürlich will der Rechtsanwendende dies nicht immer als Wiedergeburt des Früheren verstanden wissen, die Legitimität seiner Entscheidung könnte sich darin abschwächen, in seiner Normanwendungs-Tätigkeit spielt sich aber gerade dies ab, Gesetz und Praecedens sind klüger als er. Und wie gerne sieht er sich auch selbst oft als Instrument dieser übergreifenden Entwicklung, wenn er befriedigt auf eine Lösung schaut, welche niemand erwartet hätte, welche sich doch ihm, dem Staunenden, aus einer entfernten Vergangenheit angenehm aufdrängt. Es ist ja auch gar nicht immer nur das unbekannte Gesetz, welches so im Geiste des Normanwenders seine Wiedergeburt feiert - und wie viele Verwaltungsgesetze sind nicht, für den ehrlichen Beamten, im Augenblick ihrer Anwendung auch ihm wirklich unbekannt, oder werden es doch in der unvorhergesehenen Anwendung auf diesen Fall; auch beim „wohlbekannten Gesetz" kommt mit jedem vertiefenden Anwendungsfall die ganze Gesetzgebungsgeschichte zurück, sie muss in objektiver Interpretation, d. h. in heutiger Dogmatik, damit aber in Renaissance zur Wirkung gebracht werden. Ob Richter und Beamte nun das Bekannte oder das Unbekannte „auffinden" - sie sind Rechtsfinder, Archäologen früherer Staatlichkeit im schönsten Sinne des Wortes. Mit ihrer Legalität hat die normative Demokratie die Renaissance-Wege über die Verwaltung versperren wollen, darin aber das Gegenteil bewirkt: Aus dem Bewusstsein konnte sie die Wiedergeburten verdrängen, nicht aus der Realität, denn im Kleinen und Kleinsten der Rechtsanwendung vollziehen sie sich täglich. Und bewusst ist dies als das Auffinden „guten Rechts" - denn was anderes könnte denn der Verwaltungsbeamte auch finden, wenn nicht er, dann spätestens der Richter? Gute Staatlichkeit - das verbürgen doch Bestands- und Rechtskraft.

b) Ermessen - Freiheit des Rückgriffs Ermessen als Macht des freien Beliebens ist ein autoritäres Schreckgespenst, in festen Kompetenzordnungen kann es sie an sich schon nicht geben. Hier bleibt sie zwar Freiheit, aber doch nur zur Gestaltung in einem fest umschlossenen Zuständigkeitsraum. Diesen allerdings darf das Ermessen ganz zu erfassen versuchen, in die Zukunft hinein wie auch in die Vergangenheit hinüber, in die Ferne der Über-

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nähme hinaus. Man würde dem tagtäglichen Verwaltungsermessen ebenso wenig gerecht wie dem des Richters, wollte man darin nur die Macht sehen, in die Zukunft hinein zu experimentieren, oder sich gar „diese Zukunft zu schaffen". Darin läge vielleicht der Machtgewinn eines Augenblicks, bald aber würde er in Machtverlust umschlagen. Denn diese Zukunft von heute würde der Verwaltung zur drückenden Vergangenheit von morgen, auf welche sich jeder Bürger berufen könnte, und so muss die Verwaltung „ihre Zeitabläufe strukturieren", das aber heißt: die Zukunft als Vergangenheit - aber auch die Vergangenheit als Zukunft stets sehen. Ihre Aufgabe bleibt es daher, im Namen ihres Ermessens auf weit Entferntes, nach Ort und Zeit, zurückzugreifen, dies als Zukunft zu gestalten, darin vollzieht sie in vollem Umfang wenn nicht Staats-, so doch Verwaltungsrenaissance. Weil irgendwann einmal schon in diesem Sinn vom Ermessen Gebrauch gemacht worden ist, darf dies auch heute und in Zukunft wieder geschehen, mögen dazwischen selbst längere Zeiten eines „anderen Ermessens" liegen, sie eben werden in Renaissance übersprungen, im Namen der Freiheit des Ermessens. Denn dieser Begriff wird denaturiert, nimmt man aus ihm die Freiheit der Wahl, verengt man ihn zur Fortsetzung; hier muss er sich schnell dem „Null der Gesetzesbindung" nähern, in dem die Verwaltung selbst wahrhaft zum Nichts wird. Ausdruck der Freiheit, mehr noch, der staatlichen Majestät, bleibt das Ermessen im „freien Rückgriff auf weit Entferntes", als ein Brückenbau, der irgendwo einen Pfeiler setzen muss, nicht aber nur eine Mauer führen darf, Stein neben Stein. Und wieder bewährt sich die Freiheit des Ermessens in einem Rückgriff nicht nur auf früheres Recht, sondern auf einstige Tatbestandlichkeit, in jener untrennbaren Einheit, welche beide gerade in der Ermessensausübung immer wieder finden, oder in Übernahmen aus weiterer räumlicher Ferne. Wenn etwas ist an der „Rechtsfreiheit des Ermessensraums", so darin, dass seine Bereiche „wieder zurückgeholt werden" als ein Ganzes von Tatbestand und auf ihn angewendetem Recht, hier findet in der Verwaltung mehr als Staatsrenaissance statt - Politikrenaissance, Geschichtsrenaissance im Kleinen. Je älter und erfahrener der Verwaltungsbeamte ist, desto mehr wird er sich entfernen von der reinen Technizität einer lediglich zukunftszugewandten Ermessensausübung; er wird versuchen, in seinem Ermessen die größeren Bögen aus der Vergangenheit seiner ersten Tätigkeit in eine nun schon Jahrzehnte weitergerückte Zukunft zu bauen. Solange eine Hierarchie noch von älteren Verwaltungsbeamten beherrscht wird, sind diese etwas wie menschliche Katalysatoren, Brückenbauer aus der Verwaltung ihrer Jugend in die Verwaltung ihres Alters. Beispiel können sie besser geben als es hier möglich wäre. Auf das klassische Ermessen des Verwaltungsrechts darf dies ja auch nicht beschränkt werden, allein schon das Stichwort der Planung, der größeren Tochter des Ermessens, zeigt heute solche Renaissancen im höheren, ins Staatsrechtliche hinaufreichenden Stil. Hier ist immer wieder groß übernommen worden, mit deutlichen Renaissancegedanken, unglücklich im Nationalsozialismus, glücklicher nun, von Rechtsbereich zu Rechtsbereich, aus den klassischen Planungsinstrumen-

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tarien des Baurechts heraus. In all dem steht heutiges Verwaltungsrecht am Anfang. Das Planungsrecht wird es eines Tages nur dann vollständig zu dogmatisieren vermögen, wenn es hier auch den großen Renaissancegehalt anerkennt, in welchem die Bögen der Planung sich nicht nur in die Zukunft fortsetzen, sondern auch schon aus der Vergangenheit herkommen, oder aus weiteren Fernen.

c) Verwaltung - in Organisation und Verfahren

renaissance- geöffnet

In ihrer ganzen, tagtäglichen Aktivität vollzieht die Verwaltung heute „Staatsrenaissance im Kleinen, im Kleinsten", in der Rechtsanwendung, in der Ermessensfreiheit und, nicht zuletzt, in zahllosen Verfahrenstechniken des laufenden Lernens von Fremdem, in der Übernahme aus weit Entferntem, in etwas wie fremder Praxis-Renaissance in ihrem Bereich. Nicht die Richter reisen - unermüdlich informieren sich die Beamten im entfernteren und näheren Ausland - und dies sind für den wahren Beamten schon „fremde Verwaltungen" - über „gute" Methoden und Institutionen, und so werden die kleinen Dienstreisen zu Renaissance-Ausflügen. Zunehmend systematisierte Verwaltungsrechtsvergleichung wirkt dabei als Vorbereitung und Nachbereitung. Sicher liegt hier die Gefahr, dass sich die Staukraft der Renaissance in laufender Kooperation abschwächt, in der sich dann Bürokratie nur weiter verfilzt. Doch der gesunde, auch schon politisch getragene Profilierungswille der Administration wirkt dem immer wieder entgegen: Es muss doch etwas „aufgefunden" worden sein, damit das eigene Verdienst nicht zu klein erscheine, und sein Einbau alsdann in die eigene Verwaltung darf deren Selbstand nicht gefährden, aus dem heraus die Dienstreise, im weitesten Sinn, unternommen worden ist. Die Vorsicht der Verwaltung wird auch immer dazu führen, dass erst in der Ferne etwas sich „ganz bewährt" haben muss, bevor es übernommen, in den eigenen Amtsstuben immer wieder geboren werden kann. Gerade das große Gesetz des Wandels der Wirklichkeit, welches die Verwaltung als erste zu spüren bekommt, erzwingt jene ständigen größeren Adaptierungen einer Praxis, die nur im Ausgreifen auf fremde, formierte Praxis, in ihrem Einbau in die eigene Wirklichkeit gelingen können. Dies alles ist ein „Verwaltungsverfahren im weiteren Sinne", welches kein Verwaltungsverfahrensgesetz regelt, es ist das innerorganisatorische Procedere, in dem sich die Verwaltung selbst entfaltet, in renaissancehaftem Handeln fortentwickelt. Hier wird deutlich, wie Organisation und Verfahren das Wesen der Verwaltung bedeuten, gerade in ihrer Verbindung, also eben jene Bereiche, welche den Normen nicht voll geöffnet sein können, zugleich aber auch die eigentlichen Auffangräume der Staatsrenaissancen immer gebildet haben, eben in ihrer geringeren normativen Verdichtung. Darin, wie die Verwaltung „mit sich selbst verfährt", sich selbst organisiert, wird sie Weg, besser: Brücke der Renaissance, ohne dass diese immer im Einzelnen fassbar würde. Hier wird man sicher vergeblich stets auf die Wiederkehr der Digesten warten, Verwaltungsorganisations- und Verfahrensrecht kann es als

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große Renaissancematerie der Rechtslehre an Hochschulen kaum geben, doch gerade deshalb vielleicht liegt hier eine unbewusste offene Flanke zur Renaissance. Und die früheren Kolonialländer sind hier schon vorgestoßen, auf breiter Front, in administrativer Wiedergeburt. Wenn eines Tages stärker die Bedeutung des Organisationsrechts der Verwaltung erkannt ist, werden sich auch hier die Ströme der Verwaltungsrenaissance enger kanalisieren lassen, sie werden damit als Formen beginnender Staatsrenaissance in Erscheinung treten. Und in dieser Entwicklung wird dann wieder etwas vom römischen Modell erreicht werden. Klassik - das ist heute noch kein Wort für die Verwaltung und ihr Recht; doch nach Generationen des Verwaltens im heutigen Sinn wird es sie geben, in Handlungsmaximen zuerst und Organisationsprinzipien innerhalb der Verwaltung.

4. Renaissance der Bürokratien Staatsrenaissance ist stets zuallererst als Rechtsrenaissance erlebt worden, dies hat ihr Verständnis entscheidend geprägt. Das Phänomen der Verwaltung, der in ihr sich abspielenden Renaissancen, lässt sich damit aber nur unvollständig erfassen. Seit Max Weber ist bewusst geworden, dass Normativität nicht alles bedeutet für die Verwaltung, dass ihre Strukturen vielmehr durch Entwicklungen bestimmt werden, welche da und dort in der Form des Rechts ablaufen mögen, darin und darüber hinaus aber den eigenständigen Prinzipien einer Organisationssoziologie im weiteren Sinne folgen - dies ist der Sinn der Bürokratietheorie. In ihr hat sich die Verwaltung wieder von jenen Fesseln teilweise befreien können, welche ihr gerade in derselben Zeit perfektionierte Legalität anlegen wollte. Bürokratie als solche ist bereits ein Renaissancebegriff, mit gewissen Entwicklungsstufen werden ihre Strukturen notwendig erreicht, sie kehren zurück, bewusst oder unbewusst. Nirgends wohl finden auch so deutliche horizontale Übernahmen aus fremden, weit entfernten Systemen statt. Die Organisationslehre könnte viele Beispiele bringen. Hier kehrt das wieder und beherrscht die Verwaltung, was der Jurist nicht erfassen kann, weil da mehr Grundstimmungen sind als Grundprinzipien. Führung und Kollegialität etwa haben ebenso ihre Renaissancen in der Verwaltung erlebt wie die Herrschaftlichkeit und Genossenschaftlichkeit in den Rechtssystemen, dort setzen sich diese Wellenbewegungen noch heute typisch verwaltungsförmig fort. Eine gegebene Verwaltungsordnung ist, trotz aller normativen Sperren, stets weithin offen für ganz unterschiedliche Grundströmungen: Da mag eine paramilitärische Verwaltungsvorstellung zuzeiten vorherrschen, wie etwa im Gefolge der Napoleonischen Zeit überall in Europa oder, früher schon, in der Preußischen Verwaltung; da kann es para-privatwirtschaftliche Organisationsformen geben, welche sich etwa in Amerika entfalten konnten, von dort in wahrer Renaissance nach Europa wieder übernommen wurden - um nur die wichtigsten Grund-

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Strömungen zu nennen. In ihnen allen liegt, erreichen sie eine gewisse Größe, auch etwas von „guter Staatsform", und so sind sie, im Preußentum wie in der ServiceVerwaltung, immer wiedergekehrt, als Grundströmungen der Bürokratie. Im Einzelnen wird dies dort fassbar, wo Effizienzvorstellungen in Wellen zurückkehren, einmal mehr „technisch", dann wieder stärker „human" gewendet; oder wenn es gilt, in der Verwaltung und ihren bürokratischen Strukturen die Grundströmungen größerer politischer Machtwechsel umzusetzen, was ja nur typisch verwaltungsmäßig überhaupt gelingen kann und dann sogleich zu neuen bürokratischen Formen führt. Auch hier würde systematische Betrachtung wohl gewisse alternierende Grundströmungen erkennen können, jene Bewegungen, welche sich resistent erweisen werden gegen alle Bürokratiekritik, eben weil sie, mag man sie lieben oder nicht, etwas von „guten Verwaltungsformen" in sich tragen.

5. Verwaltung als „Raum von Gesellschaftsrenaissancen" Wie immer man das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bestimmen mag, ein zentraler Berührungspunkt beider Bereiche bleibt die Verwaltung, in all ihren Formen. Was sich also in der Gesellschaft an Wiederkehr vollzieht, in größeren geistigen Zügen, wird, mit Phasenverschiebungen oder gar in erstaunlichem zeitlichen Gleichklang, die Verwaltung erreichen. Der Begriff der „gesellschaftlichen Renaissance" mag schwer zu fassen sein, die banale Bezeichnung mit „wiederkehrenden Moden" wird ihm sicher nicht gerecht. Wenn es heute etwa da und dort zu Freiheitsausprägungen kommt, welche an Sturm und Drang erinnern, wenn in Nostalgie die Romantik zurückkehrt - um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen - so wirkt dies alles unmittelbar in jene Verwaltung hinein, die darin der Gesellschaft näher steht als jede Partei und Politik, dass die in ihr Tätigen eben zuallererst „ganz gewöhnliche", durch kein politisches Credo mediatisierte Staatsbürger sind. Politische Parteien mögen „gesellschaftliche Renaissancen" blockieren oder verstärken, einfach aufgenommen werden sie, ganz selbstverständlich und ebenso unfassbar im Einzelnen, von der Verwaltung und ihren Beamten. Darin wird jede größere Gesellschaftsrenaissance zur Staatsrenaissance. In der Umweltverwaltung läuft der große retour à la nature ab, im denkmalschützenden Verwalten viel von einer Renaissance der Romantik des 19. Jahrhunderts. Was immer an Bildungsrenaissancen sich in der Gesellschaft vollzieht - welcher Bereich wäre stärker immer erneut von Wiedergeburt geprägt worden - schlägt alsbald durch, und dies ganz konkret, auf das Wirken einer Verwaltung, deren Bedienstete auf den neuen Schulen, in den neuen Lehrgängen ausgebildet werden. Hier zeigt sich jene Phasenverschiebung, mit welcher die Verwaltung auf gesellschaftliche Wandlungen reagiert, sie ist seit langem bekannt und viel kritisiert worden. Doch sie gehört zum Wesen dieser Staatsgewalt, und nicht immer nur wird hier verzögert, oft ist die Wiedergeburt in der Verwaltung stärker als sie es in der Gesellschaft sein konnte. Ja selbst zwischen diesen beiden Bereichen, wenn man

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sie schon trennen will, gibt es etwas wie ein Geboren- und Wiedergeborenwerden: Sind die Phasenverschiebungen größer, so hat das früher gesellschaftlich Angestoßene hier sogar seine große Chance, in Verwaltungsrenaissance wiederzukehren, sie führt dann zu einer eigenständigen Form der Gesellschaftsrenaissance. Ein Wort sei hier genannt, das durch viele schöne Sprüche nicht verunstaltet werden konnte: Beamtenethos. In seinen Grundelementen, der distanzierten Ruhe, der systematischen Vertiefung und der pünktlichen Genauigkeit kehrt immer wieder zurück, über alle gesellschaftlichen Renaissancen hinweg, ein und dasselbe römische Vorbild, einmal aus mehr überschäumender Freiheit, dann wieder aus der Härte militärischer Pflichterfüllung geboren. Es ist, als ob hier ein Renaissancegefäß, das im Zentrum der Verwaltung steht, stets von neuem aufnehme, in verschiedenster Mischung, was den ganzen Staat belebt; die Treue der Beamten ist der breiteste Weg und der schönste Inhalt einer Staatsrenaissance in Verwalten.

VII. Renaissance-Wissenschaft - Wissenschafts-Renaissance 1. Rechtswissenschaft - Motor der Staatsrenaissance Die Rechtswissenschaft war einst der große Motor der großen Renaissance, für Jahrhunderte ist sie das erste Medium der Wiedergeburt „guter Staatsformen" geblieben. Heute kann sie nur mehr bescheiden am Ende solcher Züge einhergehen, doch noch immer steht sie dem Denken in Staatsrenaissance am nächsten, als ein wahres Mitglied der „philosophisch-historischen Klasse". Ob das griechische Rechtsdenken im römischen, das der Antike im scholastischen, das römische Recht zu Beginn der Neuzeit staatsträchtig wiedergeboren wurde - immer waren es Rechtsgelehrte, welche dies wenn nicht leisteten, so doch erst voll bewusst und damit wirkmächtig werden ließen. Die Universitäten Europas sind Renaissance-Institutionen der Bildung, vor allem aber der Staatlichkeit gewesen, mit jeder neuen Gründung kam die alte große Republik des Geistes, kam der römische Senat wieder zurück. In der Lehre selbst vollzog sich die Wiedergeburt; nicht nur, weil dieselben Vorgänge sich im Abstand von vielen Jahrhunderten über dieselben Texte wiederholten, sondern vor allem in dem Einbau, in der Systematisierung des Übernommenen in die neue Welt, die gegenwärtige Staatlichkeit. Was oben als Isolationsvorgang beschrieben und als Wesen der Staatsrenaissance erkannt worden ist, das Herauslösen gewisser wichtiger Inhalte aus dem früheren Zusammenhang, ihr Einbau in eine heutige Systematik, welche dies in achtungsvoller Behutsamkeit aufnimmt: Die Rechtslehre hat es über Jahrhunderte hinweg in Europa geleistet und damit einen Beitrag zur Kultur geboten, der in seiner bescheidenen Geistigkeit wohl noch nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Was an der Rechtswissenschaft kritisiert werden mag - dass ihr die großen Namen der Geistesgeschichte fehlten, dass sie immer nur mit den kleinsten Schritten der Bedenklichkeit sich fortbewege - gerade darin liegt die große Leistung dieser Staats-

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renaissance-Wissenschaft. Unablässig, aber stets zurückhaltend, systematisierte sie das Übernommene, fast immer ist sie, wenn schon nicht die Politik, der Versuchung entgangen, eigenes System zu überschätzen. Am bedeutendsten ist in dieser Bescheidenheit die deutsche Pandektistik gewesen. An die Stelle der leichten Begeisterung für einen „Beruf zur Gesetzgebung" hat sie das große Staunen vor der Gewalt des Wiedergeborenen gestellt, das sie gerade als solches erfassen wollte. Noch einmal ist in diesen Jahrzehnten an den deutschen Universitäten Staatsrenaissance ganz gewesen. Und es war keine konstruktive Schwäche, die eigene Kraft wurde für die Erkenntnis der fremden Größe eingesetzt, darin lag konstruktive Geschichte, nicht blinde Suche des Vergangenen. Wer immer den juristischen Fakultäten, der Rechtswissenschaft überhaupt, eine Chance geben will, in einer Renaissance dessen, worin sie einst so groß waren, der darf sie nicht von ihrer Geschichte trennen, weil die Rechtswissenschaft erstickt, wenn in ihr der große Atem der Renaissance nicht mehr lebendig ist. Das Einpflanzen von Rechtsgedanken in den Geist junger Menschen, wie es der Verfasser in den unvergesslichen Vorlesungen von Heinrich Mitteis erleben durfte, ist in sich einer der schönsten Vorgänge der Wiedergeburt: Mit der Selbstverständlichkeit des beginnenden geistigen Lebens nimmt der junge Mensch das Größere auf, und bald ist er sicher: Diese Gedanken sind zuerst von ihm gedacht worden.

2. Kein „Ende in Kompilation" Das öffentliche Recht, heute der eigentliche Bereich der Staatsrenaissance, ist für solche Bewegungen auch wissenschaftlich kaum hinreichend gerüstet. Immer größer wird die Distanz zu den klassischen historischen Materien, sie erweitert sich mit den Gräben zwischen privatem und öffentlichem Recht. Während dort das römische Recht noch immer ein, wenn auch verdämmernder Hintergrund bleibt, bringt das staatsrechtliche römische Modell kaum irgendjemand mehr bewusst ins öffentliche Recht zurück. Rechtsvergleichung hat hier manche „horizontale Staatsrenaissancen", Übernahmen aus entfernten Ordnungen, gerade in letzter Zeit vorbereitet und gefördert; dass dies allein nicht Staatsrenaissance bringen kann, wurde schon deutlich. Die Verfassungsgeschichte wird oft allzu sehr zur Ideengeschichte des Politischen, und sie tritt überhaupt zunehmend zurück gegenüber der harten Befehlskraft des öffentlichen Rechts. In der Demokratie versteht es sich wesentlich geschichtslos, der Volkssouverän ist heute und jetzt ganz, wie sollten da Rechtslehrer Vergangenes, Wiederkehrendes lehren? Der Primat der Dogmatik ist hier so stark geworden, dass er die historischen Elemente des dogmatischen Denkens erdrücken könnte. Die größte Gefahr aber droht der Rechtswissenschaft des öffentlichen Rechts als Medium von Staatsrenaissancen aus der kompilatorischen Versuchung. Die gesetzgeberische und judikative Entwicklung des öffentlichen Rechts läuft rasch und im-

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mer rascher, insgesamt kaum mit der eines anderen Bereichs vergleichbar. Vor allem aber fehlt hier die systematische Geschlossenheit, welche andere Materien aufgrund ihrer großen Gesetzeswerke noch immer bewahren konnten. Hier also muss doch zuerst einmal erfasst werden, zusammengetragen und bereinigt, und darin mag ja, das zeigte sich schon, ein Ansatz auch, ein Beginn von Rechtsrenaissance liegen. Doch dies wären nun eigentlich Arbeiten, welche in Gesetzgebungsabteilungen von Ministerien, von geschulter Praxis zu leisten wären. Wenn die Rechtswissenschaft ihre Aufgabe dahin missversteht, dass sie noch mehr kleine Aufgaben mit noch mehr Zitaten lösen will, wenn es ihr nur mehr darum geht, irgendeine Praxis „mit wissenschaftlichen Augen zu sehen", ohne näher angeben zu können, was dies eigentlich bedeuten soll, wenn sie sich einfach in der allenfalls noch genaueren, noch mehr vertieften Methodik verliert, welche im Grund auch die Praxis anwendet - dann braucht es Rechtswissenschaft und Juristische Fakultäten nicht mehr zu geben. Sie müssen der genauen technischen Arbeit der Gerichte und Verwaltungen noch etwas hinzufügen, was außer ihnen niemand vermag, worin allein sie ihre Daseinsberechtigung beweisen können: Zu orientieren haben sie sich an ihren großen Vorbildern, zuletzt an den Lehrstühlen des 19. Jahrhunderts - ihre Aufgabe ist es, Renaissancen zu vermitteln, das größere, methodisch-technisch und historisch gleichermaßen Vertiefte und Abstrahierte jungen Menschen weiterzugeben. Wenn diese Arbeit nicht in einer anderen Grundstimmung geleistet wird als die Kommentierung einer Praxis, welche anderer Praxis Hilfsmittel bieten will, so ist der Schwung der Renaissance verloren, Rechtswissenschaft verschenkt ihren Sinn. Und selbst diese Praxis der Gerichte und Verwaltungen muss von der Rechtslehre mehr erwarten dürfen, als ein ständiges Zusammentragen von Einzelheiten und deren mehr oder weniger mühsames Systematisieren. Es gilt ja nicht nur, das Gegenwärtige überschaubar zu machen, in ihm muss das Wiedergeborene erkannt werden, seine tiefere Legitimation, die Chance seines längeren Dauerns. Praktisch bedeutet dies vor allem die notwendige und enge Verbindung von historischem und dogmatischem Denken in der Rechtswissenschaft, durch welche sich deren Arbeiten von vorneherein abheben müssen von einem Umfeld, das über Referentenerinnerungen nicht hinauszureichen braucht. Nur darin kann ja auch diese Rechtswissenschaft lehrbar bleiben, nicht in der reinen Vermittlung zufälliger Gegenwärtigkeiten. Rechtswissenschaft als das „besser Vertiefte", oder gar als das „Richtige" wäre nur Anmaßung. Zur Unterrichtung über Kompiliertes bedarf es keiner Universitäten. Das Geheimnis einer Staatsrenaissance, die in Kompilation begann, sich aber in größerem Staatsdenken vollendete - das ist es, was die Rechtswissenschaft weitertragen muss. Dazu ist sie wie keine andere Instanz berufen, in ihrer wissenschaftlichen Freiheit: Ausgreifen kann sie über beliebige zeitliche und geographische Räume hinweg, nicht getrieben von politischer Tagtäglichkeit, sondern von dem Erstaunen eines größeren Phänomens, das wieder heraufkommt, welches sie durch ihre Ausgriffe noch größer machen kann.

C. Formen der Staatsrenaissance

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3. Die große Veränderung - Chance der Rechtswissenschaft Ende in Kompilation mag ein Schicksal für die Rechtswissenschaft sein in einer Zeit, in welcher größere Entwicklungen nicht stattfinden, oder doch nur in kaum merklichen kleinen Schritten sich vollziehen. Dann nämlich liegt es nahe, und dieser Versuchung kann der Wissenschaftler leicht erliegen, jede, auch die kleinste Spur nachzuzeichnen, die größeren Strömungen in Zettelkästen zu archivieren. Solche staatliche und verwaltungsmäßige Kontinuität bedeutet für famuli der Wissenschaft die Chance zum großen Material, für deren Meister die Gefahr, sich in Traditionen zu verlieren, wo ihr Renaissancedenken gefordert wäre. Warum sollte der Wissenschaftler über die Grenzen dessen hinwegsehen, was sich in seinem ganzen Leben nicht wesentlich verändert hat? Nicht ohne Neid mag er auf die „glücklichen ersten Stunden" sehen, in denen, nach einer staatlichen Umwälzung, erstmals „klassische" Behandlungen einer Frage verfasst worden sind, klassisch deshalb, weil in ihnen das lebendige Bewusstsein des Wiedergekehrten wirkte. Aus der Strömung des allzu vielen, vor allem aber des andauernd, kontinuierlich Gedachten vermag sich dann aber der Spätere kaum mehr zu befreien, von der Kompilation zur Kopie ist es nur ein Schritt, vor allem wenn dies noch durch Bedürfnisse des Unterrichts gerechtfertigt zu werden scheint. Tradition wurde auf diesen Blättern immer wieder als Antithese zur Staatsrenaissance erkannt; wenn der Staat im öffentlichen Recht nicht mehr bietet als dieses Herkommen in Kontinuität, so darf er keine Renaissance-Professoren erwarten. In dieser Lage ist die Rechtswissenschaft heute weithin, und nicht zuletzt durch die Schuld ihrer Vertreter. Immer mehr erscheinen die heutigen Vertreter des öffentlichen Rechts als Notabeln der gegenwärtigen Ordnung, als deren große und kleine Kanzler, welche sie einfach fortschreiben, und wer wollte es ihnen verdenken, wenn das Gegenwärtige so viel Tradition hat? Oder aber sie werden abgedrängt in eine säuerliche Kritik, welche der selbstverständlich sich selbst verherrlichenden Tradition eine ebensolche Kontinuität des Hinterfragens entgegensetzt. Hier mögen Meister der wissenschaftlichen Kritik am Werke sein, Notabein sind sehr bald auch sie; arbeiten sie da und dort an Ufern, den Strom wenden sie nirgends. Auch dies sind Zustände, die kommen und wiederkehren. Nicht deshalb allein müssen sie schon gut sein, nur bewusst sollten sie werden. Die Staatsrenaissance verlangt von der Wissenschaft letztlich ein anderes: Professoren müssen sich Barrikaden wünschen, nicht immer nur Traditionen; in ihnen werden sie bald nicht mehr gebraucht, sie entwickeln sich zurück zu bezahlten Jurisconsulten, im weiteren Sinne zu einer Institution des Staatsfeudalismus, nicht zu lebendigen und belebenden Kündern von Staatsrenaissancen. Bedauerlich ist es, dass der Verfasser heute das Selbstverständliche hinzufügen muss: dass diese Barrikaden der Professoren nicht solche der Gewalt sein müssen, dass die Wissenschaft nicht Blut und Tränen braucht, sondern die größere geistige Bewegung. Andererseits kann man

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die verstehen, welche heute von Professoren Umsturz und Gewalt verlangen - oder befürchten. Vielleicht ist es deshalb dahin gekommen, weil jene zuwenig mehr über Staatsrenaissance haben nachdenken dürfen, in zementierten Einbahnentwicklungen. Wenn größere Wellen sie wieder leichter zum Bewusstsein ihrer tieferen Aufgabe zurückfinden lassen, wird professorale Agitation vergehen - wenn Renaissance· Wissenschaft sein darf, und damit Wissenschafts-Renaissance.

D. Wiederkehrende Staatsinhalte Staatsrenaissance - das ist Staatsrecht und Politik, nicht nur Staatstheorie. Entscheidend ist, was nun wiederkehrt, mit all den Kräften und in den Formen, die beschrieben wurden. Dabei wurden viele Beispiele gegeben, verstreut nach Geschichte und Staatsrechtssystematik. In ihnen allen treten nicht nur Formalien staatlicher Wiedergeburt in Erscheinung, hier liegen auch inhaltlich die Elemente der „guten" Staatlichkeit, welche zurückkehrt - gut schon deshalb, weil in ihnen die Kraft der Wiedergeburt lebendig ist. So weist hier, wie so oft, die Form den Inhalt: „Gute Staatsform" ist eben das ganz einfach - was die Kraft zur Wiederkehr hat, mag es nun nach anderen Kriterien des Rechts positiv zu beurteilen sein oder nicht. Viele wichtige Einzelheiten von dem, was wiederkehrend staatsrechtliches Bewusstsein seit langem geprägt hat, sind als solche noch immer unbewusst, werden es vielleicht stets bleiben, ja immer mehr in das Unter-, in das Unbewusstsein der Staatsrechtsdogmatik hinabsinken. Gerade dann, wenn etwas selbstverständlich wird, scheint es heute geboren, die Anstrengung der „Reflexion", einer wahren „Rückbeugung" in bewusstere Geschichtsbetrachtung, oder mit dem weiten Blick auf fremde, entfernte Staatlichkeit, tritt ja nur dann ein, wenn sich die Staatsrenaissance im Bewusstsein der Gegenwart noch nicht vollendet hat, wenn sie dabei ist, sich zu vollziehen; und in Rechtstechnizität zurückfallende Staatsorganisation, welche die Gegenwart beherrscht, will den kleinen Stolz genießen, dass sie schafft, nicht aus der Ferne übernimmt. So vieles in den folgenden Abschnitten mag daher tagtäglicher Praxis wie reine Rückprojektion des Heutigen erscheinen, vielleicht regt dies aber doch an zu allgemeineren Überlegungen über Kräfte einer Gegenwart, die sich eben in ihr nicht erschöpfen, die „weiter her sind" als sie, daher auch eines Tages weiter tragen können. Diese Kapitel folgen nicht dem herkömmlichen Aufbau des demokratischen Staatsrechts - von den Freiheiten der Bürger zu den Organisationsprinzipien der Staatlichkeit und zu jenen Organen, welche ihnen entsprechen müssen. Der Weg kehrt sich um, und diese Methodik erzwingt gerade ein Denken in Staatsrenaissancen: Entscheidend sind jene Organe, welche immer und zuallererst, im Einzelnen wie in Blöcken, übernommen worden sind, aus ihnen baut sich, wenn auch vielleicht nur in Teilen, eine Organisation zusammen, welche dann ihre eigenen Grundsätze entfalten mag. Die Renaissancen der Freiheit sind ein besonderes, höchstes, aber ein letztes Problem.

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Der Primat der Organisation, ja in ihr wieder der der Kompetenzen im Einzelnen, aus denen sich dann alles aufbaut, leitet also eine Betrachtung, welche in diesem Sinne ihrer eigenen Systematik folgt.

I. Die Rückkehr der Staatsgewalten Das demokratische Staatsrecht denkt in Einzelorganen, nur im Letzten und meist unvollständig fasst es sie zu Gewalten zusammen. Staatsrenaissance lässt sich durchaus in diesen Denkkategorien erfassen. In ihr mag der Übergang vom „Organ" zur „Gewalt" leichter gelingen, doch die Bedeutung einer solchen Trennung bleibt auch in dieser Vorstellungswelt bewusst. Die bisherige Betrachtung hatte, in der Suche nach wiedergeborenen Staatsformen, den Weg „von unten nach oben" angeregt; das bedeutet methodisch: vom Einzelorgan zur zusammengefassten Staatsgewalt. Wenn hier in der Betrachtung von einzelnen Organen stets auch, vielleicht von Anfang an, der weitere „Gewalten-Aspekt" betrachtet wird, so ist dies kein Widerspruch; induktive Vorsicht aber ist stets geboten. 1. Die Wiederkehr der Könige - das eine Amt an der Spitze a) Monokratie, nicht Monarchie Die große Antike, damit die abendländische Staatlichkeit, hat mit der homerischen Verdammung der Herrschaft der vielen Herren begonnen. Die größeren staatlichen Wiedergeburten haben nicht in allen Fällen eingesetzt, fast stets aber geendet in Ideen einer organisatorischen Staatseinheit an der Spitze, von den römischen Renaissancen im Mittelalter und in neuerer Zeit, über Napoleon und die Führungsromantik des 20. Jahrhunderts, bis hin zur Faszination der demokratischen Monarchie der Vereinigten Staaten. Nicht auf Monarchie darf dies verkürzt werden; angezogen haben immer Formen einer letzten Einheit des monokratischen, nicht des monarchischen Denkens. Monarchie ist in der Staatengeschichte allzu sehr verbunden mit Kontinuität und Traditionalität der Familiengewalt, als eine solche gerade ist sie heute der Wiederkehr nicht fähig. „Wiederkehr der Könige" - das bedeutet, dass an der Spitze der Staatlichkeit ein Organ zu denken ist, in dem sich die Einheit nicht nur einer Gewalt im Sinne der Gewaltenteilung, sondern der ganzen Staatsgewalt lebendig findet, nicht bedrohlich zusammenballt. Mehr ist dies als ein letzter, staatsgedanklicher Zurechnungspunkt, aber auch, und vor allem, weniger als eine permanente Diktatur, welche sich etwa gar noch in einer Führungspyramide „nach unten", bis in die letzten Verästelungen der Staatlichkeit fortsetzen müsste. Die nationalsozialistische Einheit des Staates in Führeranalogie ist ebenso wenig imperial gedacht wie eine „Demokratisierung auf allen Stufen".

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„Nach unten zu", auf niederen Organebenen, können völlig andere Organisationsprinzipien eingreifen, Kollegialitäten, Machtteilungen, die Organeinheit ist an der Spitze gefordert. Die große liberale Dogmatik des 19. Jahrhunderts hat dies wohl gefühlt und in den Satz gefasst: Le Roi règne et ne gouverne pas. Damit sollte doch mehr ausgedrückt werden als nur die Distanz des Herrschers zur tagtäglichen Macht, mehr auch als eine reine Minimierung derselben, ein Freiheitsgewinn für den Bürger. An der Staatsspitze sollte zwar mehr sein als ein letzter dogmatischer Zurechnungspunkt, aber doch nicht eine aktuelle, ständig durchgreifende Dauergewalt, sie ist nie eine Idee gewesen, niemals wiedergeboren worden. Der Renaissanceinhalt der Monokratie an der Staatsspitze lässt sich vor allem in Folgendem zusammenfassen: - Die letzte Entscheidung wird von einem Menschen getroffen, nicht die erste. Die Vorbereitung liegt bei Vielen, Provisorisches kann von Nachgeordneten befohlen werden, wie immer sie organisiert sein mögen. Und bei diesem Provisorium bleibt es ja auch in aller Regel, wenn nicht besondere Umstände die Letztentscheidung herbeirufen. Darin liegt auch das Imperiale dieses monokratischen Staatserbes, dass es auf die große Letztentscheidung angelegt ist, dass es nicht nur die vielen, tagtäglichen, kleinen kennt. Die Tiefe des Herrschens ist hier eine ganz andere als in den glatten Befehlsordnungen des laufenden Abstimmens. Sie erhalten in dieser Monokratie die vertikale Dimension, in welche Napoleon die ebenfalls wiedergeborene Republik erhöht hat. - In dieser Monokratie kommt zurück die große Ruhe früheren imperialen Regierens. Dies ist nicht ein König, der auf Schlachtfeldern reitet und stirbt, in der wiederkehrenden Idee dieser Monokratie liegt die Vorstellung von der letzten Abwägung an der Spitze, von einer ruhigen Gewalt, welche die Unruhe aller anderen Mächte und Gewalten immer wieder in einen Stillstand der Ausgewogenheit bringt. Deshalb kann eine persönliche Gewalt, welche in der Unruhe des Führertums von Unternehmung zu Unternehmung getrieben wird, vielleicht noch letzter Ausdruck eines Renaissancebemühens sein, der staatlichen Wiedergeburt sind solche flukturierenden Formen nicht fähig. Etwas von der „Staatsspitze" als Reservegewalt" aber ist immer wiedergekommen, bis hin zu den Wahlpräsidenten der Neuzeit. - Eine Grundidee noch ist mit dieser monokratischen Renaissanceidee stets verbunden gewesen: Staatsleitungsgewalt ist immer mehr, und etwas anderes als alles Verwalten. Gerade jene Ordnungen, deren Imperialität in Wiedergeburt andere befruchtet hat, die römische, britische, französische, sie haben sehr wohl den Unterschied gekannt und institutionell verfestigt zwischen einer Staatsleitung und der Verwaltung, denn sie waren ja soweit entwickelt, dass sie auf einer solchen Verwaltung gerade aufruhten. Dieses verwaltende Staatsfunktionieren aber war in ihnen, trotz allen hierarchisierenden Bemühens, letztlich stets von Vielen getragen, von einer Kompetenzvielfalt bestimmt. Über ihm stand dann die

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Staatsleitung, nicht nur als das Höhere, sondern als ein aliud - eben als Monokratie.

b) Kollektive

Staatsspitze? - Konsuln

Bemühungen um eine Kollektivierung der Staatsspitze werden wohl noch lange Zeit die moderne Staatlichkeit beschäftigen, in immer neue Experimente treiben. Dies wäre eine Antithese zu der hier geschilderten renaissanceträchtigen Monokratie an der Spitze. In der Vergangenheit war es Ausdruck einer Oligarchie vor allem, die heute soziale Vergangenheit bedeutet. Die Adelskonvente des alten Rom und Venedig werden so nicht wiederkommen, als solche waren sie wohl nie der Übernahme aus der Vergangenheit fähig, sie bedeuteten Späteren nicht viel mehr als Etiketten früherer Würde. Seit der Französischen Revolution bleibt aber das Problem nicht nur des Regierungskomitees gestellt, sondern selbst das des vielköpfigen Staatsoberhaupts, die klassische Staatsratslösung. Doch sie ist nicht Ausdruck organisatorischer Staatsrenaissance, sondern eher immer wiederkehrender Freiheitsstöße, in deren Namen man eben an der Spitze auch nur die freiheitsbewahrende Vielfalt sehen will. Nichts anderes im Grunde bedeutete die Versuche kommunistischer Staatlichkeit, in kollektiver Führung lastende Gewalt des einen, ungeheuer konzentrierten Herrschens wenigstens an der Oberfläche und nach außen aufzulösen - in allen seinen Tiefen aber blieb der rocher de bronze undurchdringlich und einheitlich erhalten. Im Letzten ist auch dies ein Zugeständnis an heutiges Freiheitsbedürfnis, nicht eine Übernahme ferner staatlicher Organisationsmacht. Steht dem allen aber nicht die Konsul-Idee entgegen, die doch immer wiedergekommen zu sein scheint, die Grundvorstellung von der geteilten Gewalt an der Spitze? Im Grunde war dies nie eine Antithese zur letzten Staats-Monokratie, die konsularische Idee sollte die Macht beschränken und verkürzen, in den kurzen Monaten - oder Stunden - aber, in denen ein Konsul dann sprach, war seine Macht die höchste des Staates. Diese geometrische Staatsteilung in der Zeit war der Wiedergeburt nur begrenzt, unter besonderen Umständen mächtig, war sie doch stets weit mehr wechselnder Oberbefehl als monokratische Staatsspitze; und gescheitert ist sie alsbald in jenem Consulat, in welchem man, zwischen Französischer Revolution und Kaisertum, in der Tat etwas wie eine antimonokratische Struktur an der Spitze versucht hat. So waren denn die Konsuln ebenso wenig Spitze des Staates wie die attischen Strategen, Generäle auf Zeit aber kehren in Staatsrenaissance nicht wieder. Die eigentliche Spitzenmacht in Rom war die der unfassbaren Res publica, als sie der oligarchische Senat nicht mehr festhalten konnte, mussten sie Konsuln besetzen, welche sogleich zu Diktatoren wurden, bis hin zur Kaiserfigur.

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In einem allerdings zeigt die Organisation der Staatsspitze auch hier eine renaissancefähige Struktur: „Ganz oben" wird immer wieder eine Institution bereitgestellt, welche nicht allzu viel Macht des tagtäglichen Herrschens ausüben soll, der nicht alle konkrete Macht zustehen kann, die gerade darin auch monokratisch sein darf. Und so ist denn die konsularische Idee dort der Renaissance fähig geworden, wo sie Kompetenzvielfalt auf der zweiten und allen tieferen Ebenen symbolisiert. Eine Antithese zur höchsten monokratischen Struktur ist sie nie gewesen.

c) „Macht als Person " an der Spitze Die Staatsrenaissance der Monokratie war stets eine Wiedergeburt des Denkens in abstrakter Staatlichkeit. Sie bedeutet die Absage an einen „Clan an der Spitze", der sich die Macht teilt und im Grunde den Staat. Wenn schon ein Mensch ganz oben in dieser übermenschlichen, vielleicht unmenschlichen Organisation stehen kann, so muss er einer goldenen Kaisergestalt nahe kommen, wie heute noch der Präsident der Vereinigten Staaten. Etwas von einer abstrakten Figur muss ihm eigen sein, weithin distanziert von allem, was nach ihm, unter ihm, folgt. Und doch ist hier ein Mensch gefordert - der Staat, und noch weniger das Reich, sie enden nicht in Abstraktion, wie man heute allzu rasch glauben mag. Immer wiedergekehrt ist, von der römischen Kaiseridee her, die Vorstellung von einer alles übergreifenden Gestalt an der Spitze, die weder in ihrem Purpur verdämmert, noch als ein innerster Organisationsmechanismus unfassbar wird. Im Gegenteil: „Ganz oben", über all den vielen „staatstechnischen" Mechanismen, muss noch einmal das Menschliche, das Persönliche durchbrechen, weithin sichtbar werden, die Macht im Ganzen appropriiert sein von einer fassbaren Gestalt. Die großen römischen Soldatenkaiser konnten dies leisten, denn sie blieben greifbar für ihre Soldaten, für die Stützen ihrer Macht und für die römischen Bürger, der Wahlpräsident ist es noch immer in Augenblicken des Volksplebiszites, das ihn in die Macht trägt und seiner imperialen, vor allem außenpolitischen Entscheidungen. Menschliche Macht - das ist hier auch das richtige Wort. Staatsrenaissance hat nicht Staatsgeneräle weitergetragen, sondern die Vorstellung der Inkarnation des Reiches an der Staatsspitze. In besonderer Weise persönlich konnte diese Gewalt immer wieder werden - wann immer sie in der Geschichte übernommen wurde oder wo man nach ihr strebte, wie in der deutschen Kanzlerdemokratie - gerade weil sie nicht Persönlichkeit einzementiert in das Protokoll eines Staatspräsidentenamtes, ihr vielmehr etwas von einer letzten, großen, einer wahrhaft menschlichen Entscheidungsfreiheit belässt. Vertrauen bringt das zu diesem Menschen, zu dieser seiner letzten Freiheit, mag sie begrenzt und gebunden sein wie immer. Dies ist der tiefere Sinn der monokratischen Staatsspitze, die stets wiederkommt: dass in der allerletzten, allerobersten Gewalt des Staates noch etwas vom persönlichen Belieben erhalten bleibt, ein Raum, in dem der Oberste so frei ist wie der Letzte

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seiner Bürger. In diesem Sinne ist das große Amerika dem großen Rom näher als die kleinen europäischen Länder mit ihren kleineren Protokollpräsidenten. Frankreichs Weg aus der Würde-Präsidentschaft zu einem Staatshaupt, das diesen Namen verdient, ist eine große Form von Staatsrenaissance gewesen, de Gaulle hat nicht an England angeknüpft, sondern an das ewige römische Vorbild der Imperialität seines Landes. Nicht mit lastender Gewalt beginnt also die Staatsrenaissance „von oben", sondern mit einer immerwährenden Menschheitshoffnung: ganz oben - erst recht ein Mensch. Könige kehren nicht wieder - Kaiser! 2. Die Ausnahmegewalt a) Souveränität - Entscheidung über den Ausnahmezustand? „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet". Mit dieser Formel hat der Dezisionismus seine Vorstellungen übersteigert, das Denken in Kategorien juristischer Organisationsmathematik überhaupt. Rechtlich gesehen ist der Satz im Augenblick stets unangreifbar, und doch hat die Verfassungsentwicklung kaum je eine „rein juristische Theorie" so schlagend widerlegt: Die beiden Figuren, auf welche dies zutreffen sollte, sind eben daran gescheitert: der Reichspräsident der Weimarer Verfassung, mit dem der Ausnahmezustand zum laufenden Regieren geworden war, und sein Nachfolger, der im Regieren an sich nur einen Ausnahmezustand sehen mochte. Gerade dies hat die Geschichte, die Weltmeinung, wenn es eine solche gibt, nicht ratifiziert. Darin eben liegt der Sinn der Ausnahmegewalt gerade nicht, dass man durch ihren ständigen Einsatz Souveränität demonstriert, was aber doch dauernd geschehen müsste. Die Gleichung „Ausnahmegewalt = Souveränität" kann also institutionell nicht richtig sein. Gerade die Wiedergeburten der Staatlichkeit zeigen dies stets von neuem. Sie stellen immer die Frage der Ausnahmegewalt, denn aus ihrem Einsatz kommt es ja in den meisten Fällen zur großen Staatsrenaissance, wie könnten sie also ihre Geburtsstunde vergessen? Zutreffend hat auch der Dezisionismus wieder auf das Problem des Ausnahmezustandes hingewiesen, welches lange dogmatisch ruhige Generationen hatten vergessen wollen, oder verdrängen. Dies alles kann nicht einfach extra muros des Rechts verbannt werden, die Wiedergeburt größerer Staatlichkeit ist immer auch eine solche von Ausnahmegewalten. Doch gerade darin liegt der Unterschied zu den Schmitt4sehen Thesen: Echte Souveränität bringt die Staatsrenaissance nicht auf solche Weise zurück. Aus größeren imperialen Zusammenhängen kommend weiß sie, dass dieses höchste Wort der Staatlichkeit immer nur dem Normalzustand zugehören kann; gerade darin wird der Staat zum Reich, dass er sich Souveränität im Normalzustand bewahrt, wie immer dieser nun definiert werden mag.

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Wiedergeboren wurden stets Ordnungen, welche die Ausnahmegewalt zwar als eine solche gesehen und institutionalisiert haben, aber doch gerade „so normal wie irgend möglich". Begeisternd hat die römische Kaiseridee, die des Imperiums überhaupt, eben darin gewirkt, dass dort der Ausnahmezustand „voll institutionalisiert" erschien, dass der Kaiser zugleich „dauernder Diktator" war. Die Staatskatastrophe ist in ihm institutionell schon gelöst, sie findet nicht mehr statt. Die Staatsgewalt ist so stark und so selbstverständlich, dass die Bewältigung des Ausnahmezustands eine außergewöhnliche Verwaltungsform wird, nicht eine Staatsaffäre. Dies wird auch heute immer wieder übernommen: die Vorstellung von einer Staatsorganisation, in welcher ein Präsident für sich schon etwas wie ein natürlicher außerordentlicher Vollmachtträger ist, so dass in seiner Person der Ausnahmezustand in Ruhe abläuft. Und wann hätte etwa England anders als in solcher imperialer spätrömischer Ruhe gehandelt? Wenn aber schon der Ausnahmezustand als solcher institutionalisiert werden soll, so muss - und dies ist die andere Seite, welche Staatsrenaissancen immer wieder zeigen - dies so eng und geradezu verwaltungsmäßig geschehen wie nur irgend möglich: im Ausnahmezustand als wahrem Belagerungszustand der höchsten Not, der beschränkten Zeit. Keine Verfassungsaffäre soll also diese Ausnahmesituation werden, sondern ein technisches Verwaltungsproblem bleiben, auf diese Ebene haben es die ganz großen imperialen Staatlichkeiten stets heruntergespielt, ob sie nun Legionen zur Bewältigung einer Krise entsandten oder Kanonenboote. Diese andere Seite der römischen Medaille vom Ausnahmezustand zeigt das Bild des alten republikanischen Diktators. Auch er kommt immer wieder, in der Idee allerdings mehr als in einer Wirklichkeit, in der er dann, von Bolivar bis zu den Befreierfiguren der Gegenwart, stets einen Zug zum Dauer-Diktator rasch gezeigt hat, dieses schöne Wort für Demokraten endgültig abwertend. So ist es denn fraglich, ob die Diktatoridee als solche überhaupt der Staatsrenaissance fähig ist, ob sie es je war; ist es nicht nur immer dann zu echter Wiedergeburt von Staatlichkeit gekommen, wenn dieser Ausnahmezustand zum Normalzustand institutionell geworden war? Und selbst dann, wenn dies allzu deutlich sichtbar wurde, die Normalgewalt in Stößen einer Ausnahmegewalt zu regieren sich dauernd vornahm, wie unter der Präsidentschaft de Gaulles, hat dies die eigentliche Staatswiedergeburt eher ins Zwielicht gestellt. Dies also mag vielleicht eine Lehre der Staatsrenaissancen sein: Der Ausnahmezustand findet nicht statt - wenigstens nicht als Verfassungsereignis.

b) Militär als Ausnahmegewalt Die bewaffnete Macht ist ihrem Wesen nach keine Verfassungsinstitution, mit welchen Anstrengungen sie neuere demokratische Ängste auch zu einer solchen

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machen wollen. Dies gilt nicht nur für die Volksherrschaft der Gegenwart. Gerade Staatsrenaissancen haben immer gezeigt, dass Militär nicht Staatsgewalt, nicht Verfassungsgewalt sein kann, und so ist es denn auch nie als solches in Staatsrenaissance wiedergeboren worden. Die römischen Legionen sind immer politischer Traum geblieben, und die englischen Geschwader der napoleonischen Zeit wird keine Staatsrenaissance einer anderen Ordnung je bescheren. Schilder hat man und Schwerter - man kann sie sich nicht rechtlich befehlen, militärische Vergangenheit in Staatswiedergeburt zurückholen wollte vergeblich Mussolini. Trophäen mögen Staatsetiketten sein von früherer, weiterwirkender Triumphalität, die siegreichen Soldaten sind gefallen oder gestorben, Staatsrenaissance sollte man nie mit Militärrenaissance verwechseln. Nicht als ob es keine Verbindungen gäbe - die Neugeburt antiker Tapferkeit hat auch die Adler der napoleonischen Regimenter beflügelt. Doch bewaffnete Macht als Staatsgewalt kann ebenso wenig wiedergeboren werden wie die Ausnahmegewalt überhaupt ein wahrer Renaissanceinhalt ist. Vielleicht vollzieht sich eben die große Staatsrenaissance gerade erst nach gewonnener Schlacht. Dies alles bedeutet nun freilich nicht, dass ein Denken in Staatsrenaissance militärblind bleiben müsste. Gerade jene großen, glücklichen Ordnungen, aus denen übernommen wird, haben ja diese Gewalt der politischen Durchsetzung in ihre Institutionen eingebaut, auf nachgeordneter Ebene freilich, nicht als eine Herrscherin des Ausnahmezustands, sondern als ein Institut des Anormalen aus der Normalität heraus. Darin liegt der Sinn des römischen Militärstaates, jener großen Administrativierung des Militärischen, die das Soldatentum nicht in Freiheitsangst zurückdrängt, sondern zur Zivilisierung des Bürgerlebens allenthalben einsetzt. Staatsrenaissance im Militärwesen bedeutet: die bewaffnete Macht als eine wahre Verwaltungsinstitution, nicht dauernd begrenzt und beargwöhnt, sondern in ruhigem Vertrauen gerufen, als eine technische Hilfe für Funktionsstörungen des Staates; und was wäre auch ein Verteidigungsfall letztlich anderes. Die Demokratie wird dann Ruhe finden, wenn sie in solchen Tagen nicht sogleich den Untergang all ihrer Institutionen an die Wand geschrieben sieht. Dies ist das Gute und der Wiedergeburt Fähige des Militärstaates, von seinen Milizvorstellungen von Rom bis in die Schweiz, bis hin zum Militär als technischer Spitzeninstitution, wie sie schon Napoleons polytechnische Militärschule wollte: nicht dass das Militär die Macht ergreife, sondern dass es als eine ganz normale Institution der zivilen Verwaltung geordnet und eine Selbstverständlichkeit in der Gemeinschaft werde. Darin sind auch die von Vergangenheiten gequälten Demokratien Westeuropas wohl nun auf einem richtigen Weg, in einem ersten Schritt geistiger Staatsrenaissance, der ihnen eines Tages die Natürlichkeit eines technischen Militärstaates zeigen möge.

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c) Die Eingreifgewalt Eine Seite der großen Unbekannten „Ausnahmezustand" wird gerade im Staatsrenaissancedenken deutlich beleuchtet: Immer wieder kommt etwas zurück, was man die Eingreifgewalt nennen könnte, sie ist, so scheint es fast, notwendig mitgedacht in allen Vorstellungen größerer Ordnung, sie wird bewusst, wenn eine gewisse staatliche, eine imperiale Dimension erreicht wird. Es beginnt schon ganz unten in den kleinen Bereichen des täglichen gemeindlichen Zusammenlebens - in jener Feuerwehr, in deren Namen weit mehr liegt als nur irgendeine technische Hilfe in Notfällen. Hier wird alles beseitigt, was das Zusammenleben schwerwiegend stört, das Vertrauen in die große, rasche Rettung prägt diese kleine und kleinste Staatlichkeit vielleicht mehr als man bisher erkannt hat. Dies ist die Gewalt, welche den Ausnahmezustand in engsten Grenzen hält, so rasch wie möglich in die volle Normalität zurücklenkt. Dies nun zeigen die immer erneuten Übernahmen: dass derartige Eingreifgewalten auf allen Ebenen erforderlich sind. Die militärischen Eingreifreserven, die hier nicht „im Verteidigungsfall", nicht im Kriege, sondern wahrhaft als administrative Gewalten, als Feuerwehr zum Einsatz kommen, gehören dazu ebenso wie die politischen außerordentlichen Missionen, welche die oberste Staatsführung aus der Fülle ihrer Macht heraus, als eine wahre Souveränitätserscheinung entsendet - als task force. Vielleicht lässt sich all dies verdeutlichen in der Figur des außerordentlichen Legaten, in dem das Zweite Rom den Militärstaat des Ersten geistig fortgesetzt hat. Dass dies als eine Haupt- und Staatsaktion erscheine - und es doch im Grunde nicht ist, das ist das immer wiederkehrende, fast schon geheimnisvolle institutionelle Wirken der Souveränität über diese Eingreifgewalt. Staatlichkeiten, die groß genug sind, um solches zu entwickeln, ihm die ganze punktuelle Macht in einem kritischen Augenblick mitzugeben, von dem aus aber ein großes Reich aufgerollt und zerstört werden könnte - sie verdienen wirklich den Namen eines Reiches, ob sie ihn auf ihren Schildern tragen oder nicht. Ausnahmegewalt - das sollte eigentlich kein Kapital der Staatsrenaissance sein, wer wollte schon institutionell zurückrufen, was von Katastrophen umwittert erscheint? Doch gerade hier öffnet sich die große Weite der Wiedergeburten, sie erfassen das ganze staatliche Leben, punktuell und also auch in seinen Krisen. In der Ruhe der wiederkehrenden Wellen aber gilt es - und dies zeigt sich gerade hier - jene Souveränität wieder zu dem werden zu lassen, was sie allein sein kann: die Macht, welche im Normalzustand entscheidet, den Ausnahmezustand zum Normalzustand macht.

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3. Der Senat a) Menschentyp als Institution Die senatoriale Idee ist deutliche und bewusste römische Wiederkehr, über Jahrtausende hinweg, immer gewesen. Die Räte der feudalen Könige haben stets nach Senatorialität gestrebt; mit der Kaiseridee Napoleons ist der Senat zurückgekehrt; die Republiken der Volkssouveränität haben, in eigentümlicher Umkehr, nach dem Volk stets auch ihren Senat gesucht. In Frankreich haben das Wort und viele seiner Inhalte nach dem Sturz des Kaisers überleben können, der Wahl-Imperator der Vereinigten Staaten teilt die Macht mit diesem Gremium vor allem, das ja auch in der römischen Kaiserzeit nicht zur völligen Bedeutungslosigkeit herabgesunken war. In der Idee des Senates wird Staatsrenaissance im eigentlichen Sinne vielleicht am deutlichsten greifbar, vermittelt durch ein überall gebrauchtes, faszinierendes Wort, das wie kaum ein anderes der staatsrechtlichen Sprache nicht nur beschreibt, sondern einen Anspruch bedeutet: eine Versammlung von Königen zu sein, wie die römische Republik sie gezeigt hat. Zwei Grundgedanken hat diese senatoriale Idee stets weitergetragen: In ihr ist zunächst etwas bewahrt worden von dem großen oligarchischen Atem der alten Republiken. Die Monokratie der Staatsspitze sah sich flankiert in einer Kollegialität, welche nicht „politisch", im Sinn heutiger - und früherer - Parteipolitik bestimmt war, sondern ihrem Wesen nach eine Zusammenfassung vieler kleinerer Staatsspitzen bedeutete, etwas wie eine gebündelte Staatskulmination. Und dies hat auch einen wichtigen Freiheitsaspekt stets in sich bewahrt: Ein in Dezentralisation gewährter organisatorischer Freiheitsschutz der kleineren Einheit gegenüber dem mächtigen Staat wird hier in diesen eingebaut, in einer Klammer freiheitsschützender Organisation zusammengefasst; und dies ist so geblieben, von der Eigenständigkeit der großen römischen Adelsfamilien bis zur Dezentralisation der amerikanischen Einzelstaaten und ihrer Senatoren. Doch „Senat" bedeutet nicht nur eine Organisationsform, er will zugleich das Wichtigste im Staatsrecht leisten: Führungsauswahl, gerade darin hat er immer wieder auf Regime gewirkt, die solches im Übrigen den formalen Mechanismen der Wahl überlassen wollten: Nicht der Senat ist entscheidend - es sind die Senatoren, in der Bezeichnung der Institution wird etwas zusammengefasst wie die Forderung nach einem „Menschentypus als Institution". Der „senatoriale Typ" ist eine der großen Sehnsüchte gerade der Wahldemokratie, so wie auch das absolute Kaiser- und Königtum immer nach ihm gesucht hat, der dritten Kraft zwischen Volk und Herrschaft. Da mag stets viel gewesen sein von historischen Romantisierungen um Cato-Gestalten, manch unklare Vorstellungen von Würde, Ruhe, Verantwortungsbewusstsein - alles Vokabeln, die im dynamisch-demokratischen Staatsrecht ebenso wenig ihren juristischen Platz mehr haben wie im Staatsrecht der in die Macht durchgebrochenen Anarchie. Warum sollte der gewählte Senator sich auch anders verhalten als der gewählte Abgeordnete oder der ernannte kaiserliche Würdenträ-

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ger, woher käme ihm der Selbstand der großen alten Aristokratie? Und doch hat immer gerade hier in wahrer geistiger Wiedergeburt „das Wort den Mann gerufen". Etwas von republikanischer Würde hat stets dem Senator sein Name mitgegeben, das Zweite zugleich, was ihn prägt: die überlegte und überlegene Ruhe des Alters. Altersweisheit als Staatsinstitution - nur hier ist etwas vom Geheimnis der Gerontokratie geblieben, an diesem Punkt allein ist ein Lebensalter des Menschen zur Institution geworden, während man sonst doch so oft nur die Bedeutung der Jugend in demagogischen Worten einzufangen versucht. Ob der Senat nun „Menschentypus als Institution" bedeutet, ganz aus dem Außerrechtlichen seine Kraft zieht, oder ob die Institution den Menschen prägt - denn auch dies Letztere ist immer wieder Realität gewesen - beides klingt in diesem Wort zusammen zu einer stets von neuem nicht wuchtigen, aber mächtigen Staatswirklichkeit.

b) Vom Kollegium der Könige zur Reserve der Staatsmänner In der Senatsidee löst sich Oligarchie von ihren aristokratisch-familiären Machtgrundlagen, ihre Idee lebt weiter in der Wiedergeburt der Kollegialität mächtiger Persönlichkeiten. „Konvent der Könige" - dies ist mehr als ein bewunderndes Wort von Anfang an gewesen. In einer solchen Versammlung hat stets etwas gelebt vom Kern der Reichsidee: So wie das Imperium sich aus vielen Königreichen zusammensetzt, über ihnen sich wölbt, so ist es geradezu vorgezeichnet in dem Konvent der Senatoren, in denen jeder ein kleines Teilreich verkörpert, früher eine mächtige Familie, heute eine bedeutende Leistungs-Vergangenheit oder, vor allem, eine Provinz des Reiches, selbständig wie der Senator. In diesem Sinne war der Bundesrat des Zweiten Deutschen Reiches von der Idee her ein echter Senat, und alle Dezentralisation der heutigen Zeit wird an solche Vorstellungen anknüpfen müssen, denn nur so kann sie ihre Idee in die Staatsspitze tragen, aus Verwaltungsdezentralisation herausheben, verewigen. Herkunft der Senatoren ist es nicht allein, was die Bedeutung dieses Königs-Konvents ausmacht: In ihm ist etwas gefordert von der Ruhe und Besonnenheit des Staatsmännischen, welches Parteipolitik überhöht, und in diesem Sinne hat der amerikanische Senat ein Beispiel gesetzt, auch für die neben ihm wirkende andere Volksvertretung. Dies ist eben ein wesentlich unideologisches Gremium, seine Vertreter kommen von den Teilen des Ganzen und blicken daher differenziert auf dieses. Demagogie und Senatorialität sind unvereinbar, mag auch kein Gesetz dies dem Senator verbieten, hier liegt die vielleicht deutlichste negative Definition der unfassbaren Hydra der Demagogie. Das Funktionärhafte der Parteien bleibt hier zurück, der Einzelne ist nicht Ausdruck einer Richtung, sondern zuallererst er selbst. Das Abgeordnetenideal der deutschen Verfassung ist im Senator verwirklicht - dem eigenen Gewissen allein unterworfen zu sein.

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Dies alles ist Wiedergeburt so oft und vor allem wie eine römische. Stets von neuem in der Geschichte hat sie auch eine andere Chance mit Senatorialität eröffnet: im Zurücktreten der ideologisierten Parteipolitik die besonnene „technische Verhandlung". Dieses Gremium hat schon im alten Rom nicht nur Gesetze und Einzelbefehle gegeben, es hat Verwaltungsorientierungen im weitesten Sinne stets gesetzt, sich um die großen technischen Probleme des gesamten Staates gekümmert. Wiedergeboren wurde dies in der deutschen Bundesratsidee, mit jenem Gremium, welches Gesetzgebung und Verwaltung zusammenfasste, erstere durch die Technizität des Administrierens stets wesentlich geprägt hat. Amerika hat im Senat sein großes staats- und machttechnisches Kollegium gefunden, eine Welt mit Sinn für „Technik in allem" hat sich gerade dem anvertraut. In dieser Aufgabenstellung sind die Senate, in immer erneuter Staatswiedergeburt, etwas geworden wie eine Reserve der Staatsmänner, die sich hier in Verwaltung im höchsten Sinne bewähren und entfalten. Von ihnen wird erwartet, dass sie sich nicht in großen Worten verbrauchen, dass sie vielmehr zu einer staatsmännischen Ruhe zurückfinden, aus der heraus sie eines Tages bis in die monokratische Staatsspitze aufsteigen können. Ihr ist der Senat ja am engsten zugeordnet, ihre Konzentration leitet er bereits in Kollegialität über. Doch dies ist noch nicht die Technizität des Expertengremiums, der Senat bedeutet noch immer die Integration dieses überpolitischen Verwaltens in die überpolitische Staatlichkeit hinein. In diesem Sinne ist er die Höchstform, die Spitze all jener unzähligen Notablierungen in der Gesellschaft, die es geben muss, neben der Parteipolitik und über sie hinaus. Dies ist nicht ein Verein von Volksmännern, eine Quelle der Volkssouveränität, in dieser Reserve der Staatsmänner ist die Republik immer wiedergeboren worden, über alle Parteien hinaus.

c) Senat - Staatlichkeit über den Gesetzen Senate sind nicht Gesetzgeber, in der Idee ihrer Wiedergeburt liegt dies nicht im heutigen Sinne. In ihren Verhandlungen geht es um die großen staatsleitenden Entscheidungen, mögen sie nun in Gesetzesform gekleidet sein oder nicht, diese Letztere ist nur ein politischer Zufall. Immer häufiger sprechen Senate die Gesetzessprache dann, wenn dies die einzige Ausdrucksmöglichkeit für Grundsätzliches und Dauerndes ist. Die Aufgabe der Senatoren ist es gerade, die politische Maßnahme in staatsmännische Dauerentscheidung umzuformen, nach ruhiger, staatstechnischer Reflexion mit Blick auf das Ganze. Ein wahrer Senat hat immer weniger Gesetze gegeben als vielmehr Doktrinen verabschiedet, Leitlinien für politisches Handeln, nicht „politische Gesetze". Die Senatsidee kommt eben aus einer römischen Welt, in welcher die Gesetzgebung sich auf verschiedenen und anderen Ebenen vollzog als heute - einerseits im reinen Richterrecht, zum anderen in

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„politischen Maßnahmegesetzen", und diese Regierungsgewalt repräsentiert der Senat. Heutige demokratische Gesetzesstaatlichkeit mit ihren Versuchen, Staats- und Gesellschaftsgestaltung in Gesetzesform, in Gesetzesfluten laufend zu betreiben, ist der senatorialen Idee fremd, läuft in gewissem Sinne an ihr vorbei. Jedes Mal wenn ein „Senat" im eigentlichen Sinne zurückkehrt in Wiedergeburt, bedeutet dies zugleich eine Erinnerung an die große römische Regierungsidee, für die nicht das Gesetz einer Volksversammlung, sondern das Recht des Prätors einerseits, die große geordnete Machtentscheidung des Senates andererseits die Grundlage bot. So ist denn die Staatsrenaissance der Senate stets zugleich auch eine Warnung vor der Übersteigerung eines Denkens in Kategorien der Gesetzesstaatlichkeit.

d) „Senatorialisierung

der Staatsgewalt"

Die Kraft stets wiedergeborener Senatsidee beschränkt sich nicht auf den Bereich der Staatsleitung, welche den Senat mit der eigentlichen Regierung verbindet. Der Typ, die Persönlichkeit des Senators wird immer wieder und immer mehr zum Ideal des Autoritätsträgers schlechthin im Staate; nicht nur „ganz oben", in einem staatsleitenden Gremium will der Bürger dem Senator begegnen, sondern auch in seinen kleineren Kreisen, und auch diese Vorstellung ist immer wiedergekommen: Der Ratsherr der Stadt sollte nie der Volksmann der Parteien sein, Vertreter von Ideologien und Mehrheiten. Wie die Stadt ein Staat im Kleinen nicht immer war, stets von neuem aber in Renaissancen geworden ist, so ist auch in ihrem Rat der Senat immer wieder lebendig. So wie in der Allzuständigkeit der Städte die Gewaltenteilung dort zurücktrat, zugunsten der Einheit einer größeren, stadtleitenden Aufgabe, in der technisches und politisches Regieren zusammenfällt, so ist dort auch immer wieder der leitende Senat gefordert, wie in den Anfangen der römischen Stadtrepublik. Die Stadt als Prototyp der Staatlichkeit, in den flächenhaften Großstaaten verlorengegangen, in der englischen Municipalisierung noch bewahrt - dies alles wird deutlich in jenem Senat, der den Staat wieder zur Stadt der Bürger machen soll, zu ihrer Civitas. So ist denn der Senator nicht der staatsferne Notabel, in welchem sich eine Aristokratie über das Volk erhebt; in der Wiedergeburt dieser Idee wandelt sich das Beste der Oligarchie zu einer unmittelbaren, eigentümlichen Volksverbindung des Regierens, zu etwas wie einem kollektiven Patriarchalismus. In vielfachen Formen brechen Senatsideen immer wieder durch, und sei es auch in einer vertikalen Form: Im Russland der Räte war der Oberste Sowjet gedanklich etwas wie ein Senat, an der Spitze diesmal einer ganzen Pyramide von Räten, in denen das gesamte Regime „senatorialisiert" werden sollte; vielleicht war dies nur ein großangelegter Versuch, den formalisierten Parteien-Wahlstaat durch einen Staat der Senatoren zu ersetzen. Wie auch immer - die Wiedergeburt der senatorialen Idee beschränkt sich nie auf eine Institution, stets will sie den ganzen Staat

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erfassen. Ihre große neue Staats-Form ist ein Föderalismus, in dem sie die Einheit über der Vielheit repräsentiert. In diesem Wort liegt die Erinnerung an das Alter, an seine Weisheit und Würde, vielleicht aber auch etwas von der Hoffnung auf einen Staat der vielen Väter. Möge dieser tiefe Gedanke der politischen Sprache der Römer oft noch wiederkehren!

4. Kollegialität des Regierens a) Kollegialität

- das Wesen des Regierens

Eine Grundvorstellung ist in Staatsrenaissance immer wiedergekommen: die Trennung der monokratisch inkarnierten Staatsspitze von ihrer Verwaltung, in diesem Sinne die Unterscheidung einer Regierungsgewalt im weiteren Sinne von der technischen Administration. Doch die entscheidende Problematik des Überganges von jenem wesentlich politischen Regierungsbereich in den ebenso wesentlich „technischen" Bereich des Vollzuges ist, in dem großen römischen RenaissanceStrom, nicht vereinfachend gelöst worden in einer Zusammenfassung von Staatsleitung und Verwaltung zu einem einheitlichen Begriff der Exekutive. Ältere Weisheiten, die immer wieder geboren wurden, differenzieren hier vielmehr: Einerseits flankieren sie die Staatsspitze mit jenem Senat, von welchem die Rede war, der bereits zu Formen differenzierter Kollegialität überleitet; zum anderen schiebt sich zwischen diese Staatsspitze im weiteren Sinn und die eigentliche Verwaltung nun die entscheidende Zwischenstufe der Regierung ein, und hier setzt der Gedanke der Kollegialität an, ein Grundprinzip des römischen Modells, immer wieder entdeckt. Das staatsrechtliche Wesen dieser Kollegialität des Regierens liegt darin: Streng getrennte Exekutiv-Spitzenkompetenzen werden zusammengefasst in einer mehrköpfigen politischen Leitung der Verwaltung, in welcher doch jedes Mitglied des Kollegiums seinen eigenen Verantwortungsbereich behält. Dies ist der tiefere Sinn der römischen Konsularidee: ein „getrennt Marschieren - vereint Schlagen" der Exekutive, eine freiheitsbewahrende Absage an allzu lastende monokratische Staatsgewalt. Aufgenommen wird dies heute nicht nur als eine organisatorische Form der Freiheitsbewahrung - die es immer gewesen ist - sondern auch aus den Gründen, welche die römische Kollegialität maßgebend bestimmt hatten. Ein Herrschender kann nicht überall wirken, nicht alles bewirken, also sind absolute Befehlsinstanzen für Teilbereiche einzurichten. Die Einheit des Gesamtregierens aber wird im Zusammenwirken der verschiedenen, selbständigen Kompetenzträger gewahrt. Die Größe des Kollegiums ist nicht wesentlich, und von der Grundidee der Kollegialität aus mag hier auch immer etwas wie Einigungszwang mitgedacht worden sein, kollegiales Regieren bedeutet nicht in erster Linie ein Abstimmen innerhalb des Kolle-

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giums, eine Mehrheitsentscheidung, welche die Regierung zur parlamentarischen Kommission machen würde. Vielmehr wird hier etwas wie eine Verbindung von heterogenen Verantwortlichkeiten angestrebt, in denen sich Mehrheiten eigentlich kaum bilden können, in diesem Sinn ist die Zweier-Kollegialität immer ein Modell gewesen. Eine solche Regierungs-Kollegialität unterscheidet sich auch deutlich von jener senatorialen Kollegialität, welche schon beschrieben wurde. Im Senat ist das lang dauernde Zusammenwirken aneinander gewöhnter Persönlichkeiten gefordert, die sich nicht durch Kompetenzen, sondern eben durch ihre starke Persönlichkeit unterscheiden. Senatoriale Kollegialität ist stets ein Kontinuitätsfaktor der Staatlichkeit gewesen, als solcher wiedergeboren worden, über allem, als Überhöhung sogar der Wahlperiodizität moderner Demokratien. Selbst wo Senate wahlmäßig erneuert werden, geschieht dies nicht immer in einer Art von großem nationalen Schlag, sondern oft in einem Zusammenklang vieler Notabel-Verschiebungen. Regierungskollegialität dagegen ist, von ihren konsularischen Grundideen her, stets auf kürzeres, regierungstechnisches Zusammenwirken angelegt, es ist eben weit mehr Kooperation im heutigen Sinne als gemeinsames Entscheiden. Dies sind eigentümliche Formen einer Gewaltenteilung nach einem älteren, immer wieder geborenen römischen Modell: Nicht Exekutive und Legislative werden gegenübergestellt, sondern Grundausprägungen von Staatsformen: einerseits die zum Senat erweiterte Oligarchie - zum anderen die geteilte Monarchie, im Doppelkönigtum der Konsuln. Gewaltenteilung durch unterschiedliche Formen von Kollegialität kehrt immer wieder, gerade in höher entwickelter Staatlichkeit, welche neben die senatoriale Kollegialität der globalen Zuständigkeit das Zusammenwirken technischer Einzelverantwortungen stellen muss. Diese Regierungs-Kollegialität ist ein Bekenntnis zur Notwendigkeit des technischen Spezialistentums im Regierungsbereich, zugleich aber der Versuch, es zu einem Kollegium zusammenzufassen, welches, als solches, „als Generalist tätig wird". Im Grunde ist diese kollegiale Regierungsidee ein Lösungsversuch der Spezialisten-Generalistenfrage auf Verfassungsebene, eines ewigen Problems, das daher auch nur in laufender Renaissance zu bewältigen ist.

b) Das demokratische Kabinett als Ausdruck der Kollegialität In die demokratischen Regierungsformen ist diese kollegiale Idee auf vielfachen und verschlungenen Wegen zurückgekehrt, hier gerade lässt sich deutlich etwas wie Staatsrenaissance beobachten. Der eine und der eigentlich historische Ausgangspunkt der Kabinettsidee, der Exekutivrat des Königs, vor allem in der klassischen englischen Form, ist nicht durchgehend, nicht von seinen Anfängen her von der eben beschriebenen Kollegialitätsidee geprägt gewesen. Senatoriale Vorstellungen von einem königlichen Rat

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sind hier ebenso maßgebend wie die beherrschende Persönlichkeit eines, eben des Ersten Ministers, in dem sich die Macht des Königs fortsetzt und auf diese Weise durch das Parlament kontrolliert werden kann. Kollegialität erscheint so als etwas Sekundäres, mediatisiert durch die eine Persönlichkeit des Regierungschefs, und dies ist dann auch in das kontinentale Verfassungsrecht übergegangen, bis hin zum deutschen Kanzlerprinzip. Immerhin - getrennte technische Verantwortlichkeit für einzelne Bereiche ist gerade hier deutlich entwickelt worden, und auch die Figur des einzelnen Ministers, der als solcher angegriffen werden kann, zu seiner Verteidigung der Kollegialität bedarf. Die andere Wurzel der modernen Kabinettsidee findet sich in der Vorstellung von der Regierung als Exekutivkommission der allmächtigen Nationalversammlung, nach französisch-revolutionärem Vorbild. Auch hier steht eine konsularische Kollegialitätsidee zunächst nicht im Vordergrund, die Regierung ist das Parlament en miniature, letztlich nur die aktionsfähige Volksversammlung. Den notwendigen parteipolitischen Koalitionen der neuesten Zeit hat dies den verfassungsrechtlichen Rahmen zur Verfügung gestellt. Doch gerade hier kehrt nun auch die alte Grundidee der Kollegialität zurück, einer Regierungsgewalt zur gesamten Hand, in welcher das Kollegium gemeinsam handelt, keiner der heterogen Verantwortlichen im Grunde überstimmbar ist. In der Koalitionsregierung würde dies ja in der Regel den Bruch des Regierungsbündnisses bedeuten, und auch innerhalb der einen großen Regierungspartei muss immer mehr der Erste Minister auf seine Kollegen auch politische Rücksicht nehmen, er entwickelt sich eben doch zum primus inter pares. Dort schließlich, wo einigermaßen gleichgewichtige Koalitionen Zustandekommen, gleicht auch das äußere Erscheinungsbild wieder dem der konsularischen Kollegialität. Viel von dieser Grundidee aber ist auch ohnedies in der tagtäglichen Regierungsarbeit der modernen, hochtechnisierten Staaten schon wiedergekehrt. Nach außen mag es der Kanzler, der Erste Minister sein, der alles zu halten, alle Entscheidungen zu fällen scheint, doch sind es nicht nur mehr die ganz großen Dezisionen, welche bereits in den Bereich des Staatsleitenden hinübergehen? Das eigentliche Regieren, die wichtigen, ressortübergreifenden Entscheidungen, die mehr sind als Verwalten, wenn auch vielleicht weniger als eine Staatsaffäre, die aber immer noch die quasi-Totalität des Regierens ausmachen - sie fallen in jenem Kabinett, das bereits nahezu überall in voller Kollegialität arbeitet. So wird denn in den modernen Kabinetten immer weniger überstimmt, immer mehr abgestimmt, aus ganz heterogenen Verantwortungsbereichen heraus. Hier behält der Staat seine Einheit über der Vielfalt der von ihm beherrschten Techniken und Gebiete. Und eine Sorge sollte ein Denken in Staatsrenaissancen den Demokratien nehmen: dass enthauptete Könige in Regierungschefs wiederkehren könnten. Von einer weiteren Illusion noch, welche Dogmatisierungsversuche englischer Gewaltenteilungs-Wirklichkeit hervorgebracht haben, wird man immer wieder Abschied nehmen müssen: von der Einheit der Exekutive. In höher entwickelter Staat-

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lichkeit, welche die römischen Modelle erreicht, kann es sie nur in der „ganz anderen Form" einer Zusammenordnung monokratischer Staatsspitze, kollegialen Regierens und hierarchisierten Verwaltens geben. Und hier zählen die Unterschiede.

c) Reichs-Regierung In dieser Kollegialisierung des Regierens ist schon Rom zum Imperium geworden, in dieser Form der Regierung liegen auch heute Chancen zu einer wahren Reichs-Größe. Wenn dieses Wort vom Reich einen tieferen Sinn haben soll, so muss er zuallererst gefunden werden in der Zusammenordnung und darin Beherrschung der vielen heterogenen Bereiche, seien sie nun in örtlicher, technischer oder in welcher Vielfalt immer zu bestimmen. Die Grundvorstellung, dass sich eine Vielheit technischer Verantwortungen nicht beziehungslos nebeneinander entwickeln darf, dass sie in Regierungen zusammenzuordnen, doch gerade dort in ihrer technischen Vielheit zu belassen ist, dass hier der Ausgleich in der Einstimmigkeit der Kollegen gesucht werden muss - all dies ist ebenso ein Denken in Reichskategorien wie die Vorstellung von der Vielfalt der eigenständig lebenden und verwalteten Provinzen. Reichs-Regierung - ohne sie wird es ein Imperium nicht geben, und sie kann nicht anders gedacht werden als in dieser Kollegialität. Sie eben unterscheidet sich von der Satrapen-Vorstellung des allmächtigen Gouverneurs, der einen fernen, verdämmernden Zaren in seiner Provinz inkarniert; in der Kollegialität des Regierens ist die Herrschaft jedenfalls aufgespalten, örtlich oder technisch, zusammengefasst wird sie in einem Gremium von Persönlichkeiten, die Amtsträger einer Republik sind, nicht Verwandte, Emissäre eines kaiserlichen Diktators. Hier beginnt die Verbeamtung des Staates an der Spitze, die Entfeudalisierung, welche heute den Parteien gegenüber wieder zum neuen Problem geworden ist. So wie Rom vom Machtbesitz der adligen Familien, von seiner alten Senatsvorstellung, fortgeschritten ist zur Kollegialität der Konsuln, so kommt diese kollegiale Idee des Regierens immer dann zurück, wenn der Übergang von der Macht in die geordnete Verantwortlichkeit gelungen ist. Dann wird eine geistige Höhe erreicht, auf der, stets von neuem, das Wort Renaissance seinen Sinn erhält.

5. Die Richter - Einzelfallentscheidung als Staatsgewalt a) Das Gesetz des Einzelfalles Ein Denken in vereinfachenden Gewaltenteilungsschemata hat die tieferen staatsrechtlichen Grundlagen der Judikative lange Zeit verschüttet, doch kaum eine Staatsgewalt ist immer wieder so ungebrochen und in so deutlichen Staatsrenais-

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sancen wiedergekehrt wie diese. Wer daran zweifeln möchte, dass der Gedanke der Wiedergeburt einen Sinn im Staatsrecht hat, der wird durch jene großen Wellenbewegungen eines anderen belehrt, welche nach dem prätorischen Recht der Römer in weithin sogar bewusstem Renaissancedenken die englische Falljurisprudenz hervorgebracht haben und heute in allen Gerichtsbarkeiten, vor allem aber in der Verfassungsgerichtsbarkeit, über Versuche übersteigerter Gesetzesstaatlichkeit und Gesetzesbindung erneut triumphieren. Nicht nur, dass die größte, am stärksten bewusste Renaissance, eine solche des Rechts, der Pandekten gewesen ist - jene Figuren sind ebenso machtvoll zurückgekehrt, welche das Gesetz nicht anwenden, sondern schaffen, bewahren, verwalten: die Richter. Das Richterkönigtum schien zwischen Antike und hohem Mittelalter in doppelter Weise und endgültig begraben: zuzementiert durch die justinianische Kompilation, erstarrt in angeblicher, unabänderlicher Gesetzestechnik - allzu sehr befreit und geradezu entrechtlicht in der allgemeinen Richtergewalt eines Königs, hinter dessen politischer Macht der Richter zurücktrat. Doch das Richterkönigtum alter, prätorischer Prägung kam zurück, gerade auch in der Renaissance der Pandekten: im Urteiler, der nicht zuallererst einem Gesetz, sondern der Gerechtigkeit eines Falles unterworfen ist, eines Einzelfalles, der sich sein Recht selbst suchen muss, in der Tätigkeit des Richters. Die Urteile der Renaissancezeit konnten keine Subsumtion darstellen unter festes, geltendes Recht, hier fanden die Richter das Recht für ihre Fälle in einem großen Gedankenreservoir, sie übernahmen - welch glücklicher Ausdruck! - sie wendeten nicht an. Die größte bekannte Staatsrenaissance, die der privatrechtlichen Digesten, hat also die Renaissance des alten Richtertums nicht gehindert, sondern, auf ihre Weise, beflügelt. Hier fanden die Richter den Selbstand, um sich durchsetzen zu können gegen politische Macht des Königs-Richters, die Kraft zu einer Politik im Gewände des Richterspruchs. So kam denn, geradezu als römische Idee, überall der Prätor wieder zurück, wo sich solche Vorstellungen nicht schon, wie in England, aus adligen, freiheitsbewahrenden Grundvorstellungen heraus, gefestigt hatten: Gerichtsbarkeit als Staatsgewalt, als Produktion des Rechts, geleitet nicht von der Politik der Mächtigen, sondern von der Gerechtigkeit des Einzelfalles, als eine Form von kollegialer Regierungsgewalt, wie die Römer ihre Prätoren verstanden hatten. Die entscheidende in Staatsrenaissance immer wiederkehrende Grundvorstellung ist die des Rechts aus dem Einzelfall, aus dessen serienmäßiger Wiederkehr, aus der Gerechtigkeitserfahrung, die nicht von der Macht diktiert werden kann. Hier ist es die ganz konkrete Entscheidungsaufgabe, welche den Richter leitet, sie lässt weniger als irgendwo sonst im Staate dessen Organ Entscheidungsfreiheit. Der Richter, der den Einzelfall nicht dezisionistisch biegt, sondern sich von ihm leiten lässt - dies ist eine staatsrechtliche Grundvorstellung von höchster Bedeutung, eine Staatsbeschränkung, in der das Römische Reich ganz groß gewesen ist. Was mit Gewalt zu erzwingen war, das setzte es mit seinen Legionen durch, und es war dann echte

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Macht über jedermann, die ihre Rechtfertigung nur in einem suchte, in der Spitze der Bajonette. Einsatz der Staatsgewalt aber im Verhältnis zwischen den Bürgern das ist eine aus imperialer römischer Sicht unvollziehbare Vorstellung, hier trägt der Fall eben seine Gerechtigkeit in sich, die Bürger selbst haben sie ja durch ihre Absprachen, ihr Verhalten geschaffen, der Staat „erkennt" durch den Richter dieses Recht, Vollstreckung bleibt immer Akzidens. Was in Staatsrenaissance wiederkehrt an Richtertum, ist daher auch nicht primär belastet mit der Problematik der persönlichen Unabhängigkeit des Urteilenden. Entscheidend ist zunächst die Freiheit von jedem Befehl in der Sache, denn sie allein befiehlt dem Richter. Wenn persönliche Unabhängigkeit gesichert werden muss, so ist das eigentliche Richtertum schon in Gefahr, dann akzeptiert die Staatlichkeit nicht mehr die tiefste Rechtfertigung dieser Staatsgewalt, die Eigengesetzlichkeit des Einzelfalles. Wo sie aber herrscht, da gibt es wahre Gerichtsbarkeit, wie in den schon fast zwei Jahrhunderten der Rechtsprechung des französischen Staatsratsrechts, dessen Mitglieder nie im verfassungsrechtlichen Sinn persönlich unabhängig waren. Was könnte umgekehrt aber dem Richter die persönliche Unabhängigkeit nützen, wenn er in allzu vielem sachlich fremdbestimmt ist? Dass der Einzelfall in sein Recht gesetzt, nicht der Richter gegen die Regierung gesichert werde, dies ist eine Grundidee in Staatsrenaissance stets gewesen. Und so nützt es denn wenig, Richter unabsetzbar zu stellen, solange sie befördert werden müssen, und sie verdienen diesen Namen, wenn sie sich von allem Staatlichen zu emanzipieren verstehen - hin zum Einzelfall.

b) Die richterliche

Staatsgewalt und das Gesetz

Gesetzesunterworfenheit des Richters oder freie Rechtsfindung - diese alte und vielleicht ewige Problematik ist eine solche des Gesetzes, des Zivilrechts vor allem, und sie soll es bleiben. Staatsrechtlich bedeutsam aber sind Erkenntnisse, die durch Staatsrenaissance gewonnen wurden: Eine volle oder auch nur eine sehr weitgehende Gesetzesunterworfenheit des Richters, die ihn zur technischen Anwendungsinstanz degradiert, setzt nicht Zeichen einer „guten Staatsform", mag sie auch rechtstechnisch möglich sein. Das Wort vom Pouvoir en quelque facon nul weist in die falsche Richtung. Der Urteilende würde so von seinem eigentlichen Gesetz, dem Einzelfall, völlig getrennt, unabhängig davon, wie weit dieser mit den Augen der Gesetzgebung voraussehbar war. Dass damit die Gerichtsbarkeit denaturiert würde, zeigen die großen Renaissancen des römischen Richterrechts, in England, Deutschland und anderswo. Verarmen müsste aber auch die Staatsgewalt selbst machtmäßig an einem entscheidenden Punkt: Etwas von der Fülle einer Macht muss ihr immer eigen sein, gleich wo sie auf den Plan tritt. Das eigentliche, oft zuwenig erkannte Problem der richterlichen Gewalt, bis hin zum Richterrecht, liegt überdies - große Vergangenheiten haben es immer wieder gezeigt - nicht nur im materiell-Rechtlichen, sondern vor allem im Verfahrens31 Leisner

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recht: Mag auch dort der Gesetzgeber noch soviel voraussehen können, in der konkreten Lage, in welcher die Parteien aufeinanderstoßen, muss immer dem Richter eine Verfahrensgewalt bleiben, in welcher er nur zu oft auch das materielle Recht im Einzelfall verändert. Mehr noch: die Verfahrensgewalt der Gerichtsbarkeit als solcher weist diese als Staatsgewalt aus; materiellrechtlichem Richterrecht wird man immer Schranken setzen können, weit weniger der Verfahrensgewalt, der gegenüber sich ja auch der moderne Gesetzgeber vorsichtig zurückhält. Die Rückkehr der Richter-Könige erlebt der Bürger gerade heute, nicht weil es, wie früher, zu wenige Gesetze gäbe, sondern zu viele. Wenn sich hier die Gerichtsbarkeit Wege in den Dschungel schlägt, sich in Verfassungsentscheidungen frontal gegen den Gesetzgeber wendet, so ist nicht etwa ein alter, guter Gesetzesstaat in Gefahr, es vollzieht sich eine neue Staatsrenaissance der Richtergewalt, in denselben und stets unausgesprochenen Überzeugungen, dass hier zuallererst Freiheitssicherung durch Staatsorganisation zu leisten sei, nicht durch Gesetzeswort. Die Grundidee aller staatlichen Wiedergeburt wird darin gerade verwirklicht: dass Freiheit nicht nur im Normbefehl gewonnen werden kann, dass sie vielmehr in den Formen zu befestigen ist, in welchen der Staat sie früher, in „guter Staatlichkeit" geschützt hat. Die Warnung vor der Überschätzung des freiheitsschützenden Gesetzesstaates ist wohl eine Grunderkenntnis jeder Form der Staatsrenaissance, die eben von Organisationsstrukturen ausgeht, nicht von normativen Inhalten. In der wahren Unabhängigkeit ihrer Richter ist eine Gegenwart stets großer Vergangenheit nah.

c) Reichs-Richter In einem Sinne sind Richter immer Könige: Sie sind hohe Träger einer Reichsgewalt, welche sich über ihnen wölbt, ihre königlichen Selbständigkeiten bewahrt und zusammenordnet. Da in jedem letztentscheidenden Richter etwas widerspruchslos Souveränes liegt, so würde gedanklich die Staatseinheit zerbrechen, könnte sie nicht als etwas Imperiales über diesen Einzelsouveränitäten gedacht werden. So ist es denn auch in der täglichen Praxis: Das souveräne Urteil weist in die Richtung einer höheren Ordnung, so wird es von allen verstanden. Mag der Richter auch hier und jetzt der kleine gelobte oder kritisierte Urteiler bleiben - in diesem Sinn ist jeder Richter Reichs-Richter. Wo immer imperiales Denken in Staatsrenaissance wiederkehrt, gibt es der Gerichtsbarkeit aber noch eine höhere Dimension, wird das Wort vom „ReichsRichter" noch in einem anderen Sinn Wirklichkeit: in dem eines „Gerichtes über den Staat im Namen des Reiches". In einer imperialen Wiedergeburt hat Napoleon in seinem Staatsrat, in den Anfängen der großen Verwaltungsgerichtsbarkeit, auch die Vorstellung eines „Gerichts im Staat aber über den Staat" entfaltet. Die richterliche Selbstkontrolle der Staatlichkeit gehört zu den großen Rechtsinhalten der Staatsrenaissance, seit der

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römische Magistrat dem römischen Bürger die Ketten abnehmen lassen konnte, der englische Richter der königlichen Gewalt widerstand. Zuhöchst gesteigert wurde diese Idee in der gerichtsförmigen Selbstkontrolle der Staatlichkeit, welche in Frankreich aus einer wahren imperialen Souveränität heraus vollzogen und in vielen Ländern nicht kopiert, sondern wahrhaft wiedergeboren wurde. Ein Staat, der über sich selbst zu Gericht zu sitzen vermag, eine Selbstkontrolle am Einzelfall durchführt, hat die volle, eine wahrhaft imperiale Souveränität erreicht, die sich nicht mehr mit der Gewaltsamkeit der Privilegien verteidigen muss. Letztlich ist dies nur denkbar, weil sich dann „über aller Staatsgewalt noch immer der Staat wölbt - das Reich". Das schöne Bild von den schwebenden Normen wird hier Wirklichkeit, welche der Richter in Souveränität herabholt, ohne dass der Staat daran zerbricht. Diese Richtergewalt des letzten Wortes, dieses Richtertum über den Staat ist in der Gegenwart wieder zurückgekehrt in der Verfassungsgerichtsbarkeit, aus dem geschriebenen Recht der Verfassung heraus, nicht gegen den Gesetzesstaat, sondern in seiner Bewährung - eine große geistige Leistung der Wiedergeburt eines guten Staatselements. Staatsrenaissancen haben den Richter nie gegen das Gesetz gestellt, doch immer durfte er über das Gesetz hinausweisen. Noch eine Lehre kommt daraus für alle Staatsorganisation: der Primat des Organs, das zuallererst geschaffen werden muss, sich dann sein Verfahren sucht, seine Aufgaben im Einzelnen. Dies hat die Gerichtsbarkeit immer der anderen Staatlichkeit modellhaft vorgelebt, die prätorische Eigenentwicklung der Verfahren und Aufgaben. Dies also sollte der Staat auch heute, wie immer zu seinen großen Zeiten, seinen Organen, vor allem seinen Verwaltungen lassen: Sie sollen etwas von richterlicher Freiheit sich bewahren, nicht nur vom Gesetzgeber in Verfahren eingebunden werden. Die größere Freiheit der Staatswiederkehr hat vielleicht nirgends einen so glücklichen Hafen gefunden wie in den Hallen der Richter, welche die Gesetze fortdenken - als souveräne Staatsgewalt in Justizpalästen.

6. Die Tribunen - der Staat als Anwalt der Schwächeren a) Die Idee des Bürger-Anwalts Kaum ein Gedanke erscheint so „modern" im gegenwärtigen Staatsrecht, gelöst von aller Vergangenheit, wie die Vertretung gewisser Bürgergruppen durch besondere staatliche Beauftragte innerhalb der Staatlichkeit selbst. Wehr-, Frauen-, Ausländer- und Grundrechtsbeauftragte aller Art, nach dem Vorbild des schwedischen Ombudsmannes, sind staatsrechtliche, ja verwaltungsrechtliche Mode geworden. Weil in ihnen die herkömmliche Gewaltenteilung überwunden zu werden scheint, ist ihr dogmatischer Einbau in die Staatsorganisation kaum gelungen, es fasziniert 3*

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hier etwas wie eine neue Verfassungsform - aber sie bleibt noch immer eingezwängt zwischen Legislative und Exekutive, ohne wesentliches Eigengewicht. Und doch ist dies nur Ausdruck einer eigentümlichen Staatsrenaissance tieferer Gemeinschaftsbedürfnisse, welche der entwickelte, vielleicht übersteigerte Parlaments- und Parteienstaat nicht mehr zu befriedigen vermag: Was zurückkommen soll, ist die tribunizische Gewalt der Antike, der Bürger-Anwalt, nicht gegen den Staat, sondern in ihm, als sein Organ. Auch diese große Staatsidee konnte zeitweise durch die englische Gewaltenteilung in ihrer französischen Dogmatik verschüttet werden, wiedergekommen ist sie, in Krypto-Formen, schon früher, heute nun führt ihre Renaissance zu Institutionalisierungen. Grundidee ist etwas wie „Staatsgewalt als Anwalt der Bürger", das Advokatorische im Staat, nicht nur der Staat der Hoheitsämter, in Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Die seit der Renaissance auf alle Staatstätigkeit übertragene privatrechtliche Richter-Vorstellung hat den Staat als Motor der Austauschgerechtigkeit zurücktreten lassen, als Anwalt vor allem der schwächeren Bürger. Die gewählte Volksvertretung gerade hat dies bewirkt: Wozu brauchten sie den Fürsprecher, da sie doch wählen konnten, vertreten, ja inkarniert waren in der allmächtigen Volksversammlung? Doch die tribunizische Idee ist nicht gänzlich vergangen, gerade seit der Französischen Revolution erlebte sie eine Wiedergeburt in anderer Form im parlamentarischen Volksführertum. Die Danton-Figur ist ein Vorbild, geradezu ein Ideal geworden. Das Denken des Sozialismus ist seit mehr als einem Jahrhundert darauf gegründet, dass diese Abgeordneten sich nicht zuallererst als Vertreter des ganzen Volkes fühlen, sondern als Anwälte der Arbeiterklasse, dass sie die Devise wahrmachen: „Auf einer Seite nur, auf der Seite der Arbeiter!" Dieses sozialistische Verständnis des Volksmannes als Abgeordneten war schon eine große Staatsrenaissance, in ihrem politischen Gewicht wird sie vielleicht durch Vertrauensleute für einzelne Gruppen, welcher Art und Kompetenz immer, kaum mehr zu erreichen sein. Die römische Grundidee der tribunizischen Gewalt aber sollte bewusster werden, damit der Tribun nicht ein rhetorisches Geschenk des Himmels an das Volk bleibe, sondern vielmehr in dessen demokratischer Staatsorganisation wieder seinen festen Platz finde. Die Grundvorstellung der alten Idee zeigt auch ihre Bedeutung, ihre Notwendigkeit gerade in der Gegenwart: In ihrem advokatorischen Wesen sollte die große Dynamik der Volksbewegungen schwächerer Bürger aufgefangen, staatskonstruktiv gewendet werden, was nur gelingen kann, wenn der Volksführer selbst und als solcher zum immer neu bestellten Staatsorgan wird, und dies nicht nur als „Oppositionsführer Seiner Majestät". Rom hat auf diese Weise versucht, einen Bürgerkrieg institutionell zu beenden, und zuzeiten ist es gelungen. Die Bedürfnisse sind heute die gleichen, eine größere, eine gute Staatsidee kommt auf verschlungenen Wegen zurück.

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b) „Anwalt des Volkes" - eine Institution? Die tribunizische Gewalt der Römer wurde in der Französischen Revolution institutionalisiert, selbst dem Namen nach wieder aufgenommen, wiederum als eine Einrichtung zur Beendigung des Bürgerkriegs, jedoch bald mit anderen, in Verfassungstechnik verlaufenden Inhalten. Die eigentliche tribunizische Gewalt aber hat sich in den Kanälen des Parlamentarismus verteilt, nicht unter institutionellen Etiketten, vielmehr in der politischen Wirksamkeit von verschiedensten Kräften in diesem selben Sinne. Die Stärke des Parlamentarismus war es, dass er die tribunizische Aufgabe selbst mit übernahm, nicht zuletzt deshalb waren die großen Parlamentarier des 19. Jahrhunderts, vor allem in Frankreich, in erster Linie auch Anwälte von Beruf. Doch dann hat sich die Kraft dieser Staatsrenaissance abgeschwächt, so unbewusst wie sie gekommen war: Die Parlamente wurden mehr zu Versammlungen von Interessenten als von Fürsprechern, von den immer zahlreicheren BeamtenParlamentariern konnte Advokatur für die Schwächeren, „für das Volk" ebenso wenig erwartet werden wie von den Vertretern freier Berufe. Tribunizische Aktion zog sich immer mehr in den Lobbyismus zurück, sie verließ den Staat und seine Organisation - wo doch ihr Einbau in ihn gerade entscheidend wäre; Interessenvertreter als Tribunen - das kann es nicht geben. Die Parteien sollten, von ihrer Idee her, diese Aufgabe übernehmen, hier wären sie zu wahren Staatsorganen geworden, trotz aller politischen Freiheit, gerade durch sie. Dies mag die Hoffnung des beginnenden 20. Jahrhunderts gewesen sein, dass das sozialistische Modell der „tribunizischen Partei" von allen politischen Gruppierungen übernommen werde - alsbald aber ist es der Maximierung der Wählerzahlen geopfert worden in „Volksparteilichkeit", selbst von sozialistischen Kräften. Die Parlamente haben so die tribunizische Legitimation einer „guten Staatsform" weithin verloren, die politischen Parteien sie nicht festhalten können. Insoweit sind sie nicht mehr Institutionen einer durch Staatsrenaissance legitimierten Imperialität, dieses „gute" Staatselement ist nicht in ihnen institutionalisiert, es wirkt nur noch in ihren besten Kräften, von Zeit zu Zeit, immer schwächer vielleicht; und deshalb soll es nun von einer Staats-Anwaltschaft der Beauftragten übernommen werden - ob sie wohl über die Vertretung von Randgruppen je hinausführt? Die Gewerkschaften sind hier eingetreten; sie haben sich als die neue, große tribunizische Gewalt de facto bereits den Platz eines obersten Verfassungsorgans gesichert; hier vollzieht sich, weithin unbemerkt von Lehre und Dogmatik, die vielleicht heute wirkmächtigste Staatsrenaissance: Die Anwälte der Vielen und Schwächeren formieren sich zu außerstaatlichen Institutionen, diese Volksführerschaft dringt in die Staatlichkeit ein, agiert hinter deren weithin schon hohlen Fassaden wieder mit der alten advokatorischen Kraft. Man mag daran die Zeit eines

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Niederganges erkennen wie schon an den Ursprüngen der tribunizischen Idee doch hat sie nicht etwas Großartiges, diese Wiedergeburt der Gracchen? Kann der Tribun aber auf solchen Wellen „in den Staat getragen werden", endet er auf diesen Wegen nicht als Diktator - oder unter dem Fallbeil?

c) Schwächerenschutz, nicht Schwächerenherrschaft Eine solche Staatsrenaissance der tribunizischen Gewalt wird ein „gutes Staatselement" und ein wichtiges zurückbringen, wenn eines stets, von den Anfängen her, im Bewusstsein bleibt: Die „gute" Kraft liegt im Advokatorischen, nicht im Diktatorischen, die Diktatur des Proletariats ist ein Irrweg machtgieriger Tribunen. Wann immer die dynamische, ja radikale Interessenvertretung umschlägt in Machtbesitz, geht ihr nicht nur die schwächerenschützende Funktion verloren - durch einen definitorischen Kunstgriff, welcher die Schutzbedürftigen als Machtinhaber bezeichnet. Aus der Staatlichkeit verschwindet gerade jene große Dynamik, und zugleich die Fähigkeit zu ihrer Kanalisierung, in deren Namen die tribunizische Idee entstanden und immer wiedergeboren worden ist: dass es hier etwas zu verteidigen, zu erkämpfen gibt, dass der soziale Bürgerkrieg nicht in einen allgemeinen ausarten muss, sondern in Institutionen kanalisiert werden kann, wenn schon nicht in staatlichen, so doch in para-staatlichen, „gesellschaftlichen". Der große Tribun will weder die Appropriation des Reichtums der Besitzenden für sich, noch die Aneignung ihrer Macht, er bekämpft beide, drängt sie zurück, löst sie in Umverteilung auf. Anderenfalls „tritt er aus der Vertretung des Volkes heraus", er übertritt sein eigenes Grundgesetz. In römischer Zeit hat ihn davor der Einbau in die Staatsorganisation bewahrt, die modernen Gewerkschaften unterwerfen sich aus diesem Grunde den Gesetzen eines Marktes, ohne den sie ihre Funktion verlören, weil es sonst keinen Reichtum zu verteilen gäbe, jedenfalls nicht mehr sie es wären, die ihn verteilen dürften, sondern nur mehr der ganze, harte Staat. Kommunistische Staatlichkeit hat aus ihnen eine Art von staatlichem Volkstribunat machen wollen, sie sind dort zu technischen Helfern herabgesunken. Eine tiefere und wahrhaft imperiale Idee steht hinter diesem Tribunat: Auch die Schwächeren gehören zum Reich, mit all ihren Rechten und Schutzwürdigkeiten, den Namen des Reiches verdient eine Ordnung nur, wenn sie ihre protestierenden Anstrengungen, bis hin zur Rebellion, aufnimmt, kanalisiert und überhöht, dem Grunde nach aber bejaht. Ein wahres Reich und vor allem ein demokratisches, muss groß genug sein, um selbst Formen eines sozialen Bürgerkrieges auszuhalten, sich über verfeindeten Bürgergruppen als höchste Ordnung, in der Idee jedenfalls, halten zu können. Und ist nicht die imperiale Idee immer wieder wenn nicht aus Bürgerkriegen entstanden, so doch aus ihnen heraus besonders mächtig hervorgegangen, in Rom, Frankreich, Russland? Die eigentliche Ebene für solche volks-advokatorische Kämpfe im großen Stil ist und bleibt wohl heute doch das Parlament. Auf Dauer wird es nur soweit über-

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leben können, wie es auch Kräfte der guten tribunizischen Staatsform in sich aufnimmt.

7. „Alle Gewalt geht vom Volke aus" a) Das Volk - Machtursprung, Machtträger Römische Imperialität hat einen großen Renaissance-Inhalt gerade gegenwärtiger, demokratischer Staatlichkeit vorgegeben: Die Gegenwart des Volkes im Staat darf nie ganz verloren gehen, sie kommt immer zurück. Einer Zeit, welche die Macht politisch besetzter Worte erkannt zu haben glaubt, mag das S.P.Q.R., die imperiale Abkürzung par excellence, als eine demagogische, vielleicht als eine Beruhigungsformel der Gewohnheit erscheinen. Dass hier mehr verborgen liegt, zeigen die immer neuen Staatsrenaissancen dieser Formulierung, welche das Volk in der Macht halten will. Nicht nur bei bewussten imperialen Anläufen ist dies gegenwärtig gewesen, als der Kaiser der Franzosen sein Volk in die Schlachten führte, damit ein Reich aus diesem Volke werde. „Alle Gewalt geht vom Volke aus" diese Formel konnte das Staatsrecht nicht bewältigen, weil es sie sogleich in Institutionen fassen, an diesen überprüfen wollte. Gemeint ist hier jedoch etwas wie eine Grundlegung demokratischer Imperialität, eine demokratische Staatsrenaissance der römischen Weisheit: Das Volk wird nicht „aus der Macht geworfen", es bleibt nicht nur neben dem Senat, sondern auch neben dem Kaiser noch stehen. Aus der Organmacht kann es nicht gedrängt werden, eine Gegenüberstellung von Volk und Herrschaft findet nie statt. Dies kann nicht sogleich Institution sein, es ist ein Glaubensbekenntnis großer Staatlichkeit. In der römischen Erinnerung bedeutet es nicht, dass das Volk als solches allein herrsche, sondern dass es in die Herrschaft eingebunden sei, in welcher Form immer, „horizontal" als eines der bedeutenden Organe, oder auch „vertikal", als Basis der Macht, von der „alle Gewalt ausgeht". Diese doppelte Vorstellung bringt das „Volk als Macht-Titular": dass alle Gewalt institutionell auf das Volk zurückbezogen werden muss, und zugleich ein Zweites: das Volk als einen entscheidenden institutionellen Machtträger. Staatsrenaissancen des Populären bis hin zum Populistischen hat es in zahllosen Formen gegeben. Diese Grundlinie zieht sich durch alles: das Volk zugleich als Ursprung aller Macht und als Träger entscheidender Gewalt, wer eines von beiden verfehlt, hat eine gute Staatsform verloren.

b) Das „vergeistigte"

und das „reale" Volk

Diese Doppelgesichtigkeit des Volkes als Staatsorgan - denn in einem weiteren Sinne gilt dies für beide Aspekte - verlangt ein Zweifaches im Namen einer „gu-

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ten" Staatsform: eine Vergeistigung des Volksbegriffs, die aber nicht zur Volkstheorie verdämmern darf, denn nur so kann das Volk Ursprung aller Macht bleiben; und zum anderen die Fassbarkeit eines realen Volkes, das als solches noch immer und immer wieder „zusammentreten" kann. Die Spiritualisierung des Volksbegriffs wird stets von neuem, in wahrer Staatsrenaissance, schon rein verbal geleistet. Dass der Name des „Volkes" an der Spitze des Staates steht, ist stets mehr gewesen als ein Wort, es war ein Symbol. Wo immer dieser Begriff auftaucht, in dessen Namen so viel große geschichtliche Dynamik sich entfaltet hat, wirkt er als ein Aufruf zu neuen politischen Gestaltungsanstrengungen, in den Institutionen oder über sie hinaus, gerade dann, wenn sich dem Leser, der hier immer auch Betrachter ist, der Eindruck aufdrängt, es sei nur eine große Fassade geblieben - er will eben dann hinter ihr Neues hochbauen. Eine Spiritualisierung des Volksbegriffes vollzieht sich also schon in dieser verbalen Symbolik, wann immer sie zurückkehrt, hat sich Staatsrenaissance vollzogen. Doch im Namen der Staatsrenaissance des „Volkes als Machtursprung" ist auch die Staatslehre gefordert, stets von neuem hat sie in ihrer Dogmatik das Volk als Machtquelle zu erfassen versucht, es damit als Volkssouverän vergeistigt. In den römischen Quellen steht bald der Populus Romanus geradezu für die Republik, für den römischen Staat, in einer kollektiven Personalisierung. Dieses Volk ist nicht die unmenschliche, imperiale Staatsmaschine eines Byzantinismus, es ist ein menschlicher Akteur auf der imperialen Mittelmeerszene, eine Gemeinschaft, die Freunde hat und Feinde, der Unrecht getan wird und die dies bestrafen darf, die herrscht und doch als Volk menschlich auf der Ebene ihrer Bundesgenossen und früheren Feinde bleibt. Was dies an politischer Begeisterungskraft bedeutet, wie überzeugend die Führer des römischen Militärstaats im Namen dieses Volkes ihre Soldaten anzusprechen vermochten - dies ist nur die eine Seite; die andere zeigen die großen römischen Staatsreden, in denen nach Abzug der Demagogien doch stets dies eine bleibt: die Vorstellung von der römischen Bürgerschaft als des letzten Schiedsrichters zwischen advokatorisch vor ihm auftretenden Politikern, das Volk als Machtursprung in der letzten Schiedsrichterrolle des Politischen, und hier hat sich, spätestens in der Cicero-Zeit, in Rom bereits etwas wie eine Staatsrenaissance der attischen Demokratie vollzogen. In eindeutiger Staatsrenaissance kehrt all dies wieder in dem symbolträchtigen Anruf an „die Franzosen", welcher in den letzten zwei Jahrhunderten die französische Staatlichkeit nicht nur geprägt, sondern gehalten hat, in ihren schwersten Stunden wie im täglichen nationalen Stolz. Nicht zuletzt deshalb vielleicht ist in Frankreich auch, wohl das erste Mal, der bewusste Versuch einer Dogmatisierung dieses „Volkes der Volkssouveränität" gemacht worden, und wo er nicht gelingen wollte, trat die vergeistigte „Nation" Carre de Malbergs an die Stelle, in welcher heutige, frühere und künftige Generationen zusammengefasst werden mit ihren großen geistigen Leistungen, den Grundströmungen ihrer Gemeinschaft.

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Und dies sind erst recht nicht nur Worte vergeistigter Staatsrenaissance, aus ihnen werden nun harte Folgerungen gezogen für die Präsenz jenes realen Volkes, ohne welches das Volk als Machtursprung verdämmert: das Volk als Machtträger ist immer wieder Gegenstand der Staatsrenaissance gewesen. Wie immer man die Volksgemeinschaft bestimmt und ihre Mitglieder - und dies ist letztlich sekundär eines fordert die Grundidee: Dieses Volk muss zusammentreten, in irgend einer Form, nicht nur einmal, in einem legendären Augenblick der Verfassunggebung oder in Stunden ganz außergewöhnlicher, überverfassungsmäßiger Staatsaffären. In einer gewissen Periodizität muss dies geschehen - dann aber hat dieses selbe Volk auch wieder auseinander zugehen, damit sein Zusammentreten die große Machtdemonstration bleibe. Staatsrenaissancen des Volkes als Machtträger suchen stets den Mittelweg zwischen dem „permanent gegenwärtigen und dem theoretischen" Volk, zwischen der ständig aktiven Volkssouveränität und dem Volk, das sich nur als Wort in Staatspapieren findet. Die Grundidee ist klar, die Einzelausprägung bleibt jeder Epoche neu aufgegeben, hier kann Staatsrenaissance nicht mehr sein als ein fernes Ziel. Sichtbar wird der Weg vielleicht nur in einem: in institutionellen Formen, in denen das Volk real gegenwärtig bleiben muss, jedenfalls immer von neuem „in die Macht zurückkehrt"; sie müssen zugleich hinweisen auf das Volk als den Ursprung aller Macht, daher sollten sie Allgemeinheit und Grundsätzlichkeit der Volksintervention verbürgen, sonst wird gerade die Demokratie zu einer „guten Staatsform" nicht finden.

c) „Direkte Demokratie und Staatsrenaissance " Wiedergeburt von Staatsideen vollzieht sich in neuester Zeit in der Verstärkung der „direkten Demokratie": Das Volk will in die Macht zurückkehren. Vielfache Staatsrenaissancen haben sich hier vollzogen, von den römischen Volksversammlungen bis zu den Primärversammlungen der Französischen Revolution, hier sogar in bewusst historisierender Anknüpfung, auf anderen Wegen im germanischen Rechtsbereich, vom „Umstand" bis zum Kulminationspunkt der direkten Demokratie, der Schweizerischen Volksversammlung. Die Theorie der Repräsentation hat dies im 19. Jahrhundert, in Verbindung mit der gemäßigten Monarchie, zurückdrängen können, in Staatsrenaissance ist es aber wiedergekommen, im Weimarer Rückgriff auf weit entfernte französische Theorie und deutsche Geschichte, dann wieder in der Renaissance von Weimar in der Gaullistischen Verfassung. Der reine Parlamentarismus hat seinen Kulminationspunkt überschritten, und so setzt denn allerorts in der westlichen Welt die Rückbesinnung auf Formen unmittelbarer Volksherrschaft ein, durchaus auch in bewusster Staatsrenaissance. Hier ist eben eine größere Verfassungsphase ab-, die Monarchie ist im parlamentarischen Gesetzesstaat ausgelaufen; nun will sich endlich die Demokratie selbst ganz ernst nehmen, sie vermag es nur in staatlicher Wiedergeburt, deren das Volk mächtiger ist als jede andere Macht.

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Absehen lässt sich, dass die Zukunft wenigstens vielfache Formen einer partiellen Betroffenheitsdemokratie bringen und diese wohl auch zu größerer direkter Demokratie zusammenordnen wird. Schon heute stellt sich hier das Problem des Plebiszites, in welchem das Volk zugleich als Machtursprung und als Machtträger in Erscheinung tritt, in der alten Schiedsrichterrolle der römischen Bürgerversammlung. Wiederkehren wird, so scheint es, dann auch die politische Advokatur der geschickten Berufsdemagogen, eine Zeit des „geführten Volkes". Nicht nur einen zyklischen Ablauf der Staatsformen sollte man darin sehen wollen, in welchem eine schlechtere der müdegewordenen des Parlamentarismus folgt, zurück kommt hier auch ein „gutes Staatselement", das eigentlich immer hätte bewahrt werden sollen, nun vielleicht übersteigert wird. Wenn es gelingt, rechtzeitig diese große Welle aufzufangen, ihr weite Auslaufräume zu bieten, so wird diese Staatsrenaissance der direkten Demokratie die parlamentarische Volksherrschaft befruchten, nicht ihre in Notablierung verkrusteten Dämme brechen. Die Grundidee, welche in dieser Bewegung zurückkommt, zeigt auch historisch eines bereits heute: Hier wird Dezisionismus wiedergeboren, ihm muss Raum geboten werden, in der zukunftsweisenden, der großen, aber der konkreten Einzelentscheidung. Über Staatstechnik kann das Volk nicht abstimmen, seine Kraft aber sollte abschäumen in einer Tagesentscheidung, die schicksalhaft erscheint. Laufende Verwaltung wird anderswo geleistet. Das Volk ist nie ein Meer gewesen, das sich überall hin gleichmäßig verbreitet, alles erfasst. Stets ist hier etwas vom Macht-Grund, von dem aus sich eine mächtige Welle nach oben hebt - sie will etwas brechen können. Und dann genügt es dem Volk auch, wenn es im übrigen, in immer neuer Wiedergeburt, die Staatsüberschrift stellt: S.P.Q.R.

8. Orientierungen aus der Wiederkehr der Machtträger: Ideen für die Staatlichkeit der Gegenwart Staatsrenaissancen schaffen kein Staatsrecht, doch sie orientieren es. So sollen denn auch schon hier die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst werden Orientierungen aus Staatsrecht, das wiederkehrt.

a) Staatslehre der Kompetenzträger „Gute Staatsformen" - das wird zuallererst bestimmt durch gewisse Kompetenzträger, die in eigenartiger, seit der Antike immer wiederkehrender Weise zusammengeordnet werden, geradezu in etwas wie Staatsexperimenten. Für die strenge Dogmatik der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung ist dies oft nur schwer fassbar, und doch durchdringt es sie immer mehr, stets von neuem.

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Die Staatsrenaissancen vollziehen sich gerade nicht - und dies ist eine Schwierigkeit für gegenwärtige Dogmatik - in den Groß-Kategorien, welche das Staatsrecht seit zwei Jahrhunderten, welche seine Staatsformenlehre und sein allgemeines Staatsrecht in der Gewaltenteilung prägen. Es genügt nicht, „Gesetzgebung", „Parlament", „Rechtsstaatlichkeit" oder ähnliches mehr historisch zurückzuverfolgen, hier wird man allenfalls Traditionen finden, nicht Staatsrenaissancen. Da diese Letzteren sich in Einzelelementen vollziehen, welche als solche nicht notwendig Gegenstand heutiger Dogmatik sind, lassen sie sich eben durch Verfassungsgeschichte allein nicht erkennen. Wesentlich ist, das hat sich in den vorstehenden Betrachtungen immer wieder gezeigt, die Entwicklung einer Kompetenzträger-Staatslehre, welche bei ganz „konkreten" Organen und deren Kompetenzen ansetzt, bei dem, was immer wieder in großen, imperialen Ordnungen besonders fassbar gewesen oder geworden ist. Eine solche Staatslehre, zu der hier Ansätze entwickelt werden sollen, muss gerade ganz heterogen erscheinende Kompetenzträger nebeneinander stellen, sie zusammenzuordnen versuchen, nachdem ihre Ausstrahlungen auf die Staatlichkeit als Ganzes, ihre staatsprägende Kraft bestimmt worden ist. Gefordert ist also hier nicht so sehr eine Lehre der Staatsformen im aristotelischen Sinn. Sie hatte ihre Bedeutung, und wird sie behalten, in der Rückführung der Regime auf ihre soziologischen Grundlagen, in Monarchie und Aristokratie vor allem, darüber hinaus aber auch als eine Ordnungs-Kategorik für verschiedenartige Regierungssysteme und, nicht zuletzt, in der großen Forderung der Kombination all dieser Elemente zur gemäßigten Staatsform. Die römische Imperialität jedoch und die auf sie folgenden Staatsrenaissancen sind gerade darüber, über die klassische aristotelische Staatsformenlehre, bereits in verfeinernder Machttechnik und in ihren typisch imperialen Machtexperimenten hinweggegangen. Hier ist schon die Kompetenzträger-Staatslehre grundgelegt worden, die über Monarchen und Adelsclans hinausweist, den Staat weiter funktionieren lässt, auch wenn jene vergangen sind. Diese erste lang dauernde Staatlichkeit hat die Staatsformen in ihre Elemente, die Kompetenzträger vor allem, zerlegt und aus ihnen die selbsttragende Staatsmaschine gebaut. Ihre einzelnen Antriebseinheiten gilt es zu entdecken, neu einzubauen. Die Suche kann daher auch nicht mehr immer neuen Formen der Gewaltendefinition und der Gewaltenteilung gelten, sie haben schon in den vergangenen Jahrzehnten meist dogmatisch resignieren lassen, eben weil sie nicht mehr bei den einzelnen Kompetenzträgern ansetzen, den wirklichen Antriebskräften. Gewaltenkombination ist, wenn überhaupt, das Problem, welches Staatsrenaissancen weisen, der Einbau des wiederkehrenden, neuartig erscheinenden Elements in eine gegebene Systematik. Nicht umsonst ist denn auch die Gewaltenteilungslehre in neuester Zeit eine solche der Gewaltenkombinationen geworden, in welcher schon, wenn auch unbewusst, der Einbau des laufend Wiederkehrenden, des Übernommenen versucht wird. Verbesserung der Mechanismen ist die Aufgabe, nicht immer

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wieder der gänzliche Neubau in renovierter Gewaltenteilung. Um Machtträger geht es mehr und mehr, nicht um Staatsgewalten - und dass jene Mächte zu Kompetenzen werden.

b) Abschied von der Verfassungssystematik Funktionierende Machttechnik ist heute gefordert, nicht widerspruchslose Verfassungsgeometrie, die Staatsrenaissance bringt jene zurück, löst diese auf. Dogmatische Verfassungssystematik ist immer wieder gescheitert, zuallerletzt in ihrem vielleicht größten Versuch: der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit nach 1945. Die Illusion vom Wertesystem des Grundgesetzes ist längst begraben, vielleicht hat man aus einem solchen nie eine politische Ordnung dynamisch weiterentwickeln können. Sind die heutigen Sehnsüchte nach der „heilen Welt" früherer, angeblich geschlossener Wertsysteme nicht doch nur Staatsromantik? Letztlich kann Staatsrecht immer nur induziert, nicht aber deduziert werden, Neues lässt sich einführen, gerade in Staatsrenaissance, nur selten und in Grenzen aus alten Großentscheidungen herableiten. Nähere Betrachtung zeigt gerade bei der Verfassungsgerichtsbarkeit, dass ihre großen neuen Entwicklungen meist kleinere Staatsrenaissancen bezeichnen, etwa die des Liberalismus in der Berufsfreiheit, die der Volkssouveränität in der „offenen Verfassung". In den rechtstechnischen Kanälen der Abwägungen fließen nicht die Wasser der Werte, sondern der kleineren Wiederkehren. Was das Bundesverfassungsgericht in Deutschland an Großem geschaffen hat, ist nicht ein Verfassungssystem, sondern eine Verfassungstopik, sie will Behälter, in die Neues einfließen kann - nur zu oft ganz Altes. Die großen Kapitel des römischen Staatsrechts, von denen hier einige mit den Augen der Gegenwart gelesen wurden, haben eine von einzelnen Kompetenzträgern geprägte Staatsmechanik gezeigt, ihre Zusammenordnung mag Ansätze für ein System da und dort bieten, in ihnen lebt aber nicht die griechische Staatsidee einer vollen Systematik. Hier lässt sich das Erbe eines Militär- und Verwaltungsstaates antreten, vielleicht auch nur in einzelnen Vermächtnissen. Etwas vom Einzelbefehl ist darin lebendig, der aus dem Imperium des einzelnen Kompetenzträgers herauswächst - und gerade darin das große Imperium, das übergreifend ordnende Reich schaffen konnte.

c)... und von übersteigerter

Normativität

Wer so lernt, in Kompetenzträgern und ihren selbstentwickelten Verfahrensordnungen zu denken - dies ließe sich ja noch weiter fortsetzen, bis in die Verwaltung hinein, diese Betrachtung wird dem im Folgenden noch begegnen - dem zeigen sich auch die Grenzen der Dogmatik des alles erfassenden Gesetzesstaates, der nur

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in Normen die Lebensluft der Demokratie atmen zu können glaubt. Die Normativität ist heute gesteigert und schon übersteigert, in Planungen und Orientierungen tritt die Staatlichkeit die Rückkehr in den gestaltenden, nicht normanwendenden Verwaltungsstaat an. Dies ist ein römischer Rückweg in Staatsrenaissance, der nunmehr Brücken baut und Straßen, nicht nur Rechte dafür und dagegen verleiht. So weist denn eine Staatslehre der Kompetenzträger und ihrer Verfahren in eine Zukunft, die vom Recht der konkreten Staatsentscheidung und ihrer ebenso konkreten, am besten richterlichen Kontrolle beherrscht sein wird, welche Normen nur orientieren können. Das Parlament als oberste Staatsgewalt der Gesetzgebung wandelt sich schon heute zu einer Sammelgewalt vielfacher anderer Kompetenzen, der Allgemeinorientierung, der Planung und der großen Einzelentscheidung. Dies gilt es zu entwickeln und zu spezialisieren, die Gesetzesform wird dann wieder den ihr gebührenden sekundären Platz einnehmen, überhöht von den großen Renaissancen der Kompetenzträger, welche in ihre Rechte treten. Der Gesetzesstaat war der mächtigste bekannte Aufbruch zur Staatssystematik. Er hat normativ-systematische Illusionen geschaffen, die so groß waren, dass sie zuzeiten Realitäten wurden. Seine Dogmatik wird die Kraft haben, das Zerbrechen dieser normativen Übersteigerungen auch zu überdauern. Und dann mag die Gesetzesform stark genug sein, um diese Kompetenzen zusammenzuordnen, auch wenn sie von ihrer alten Systematik Abschied nehmen muss.

d) Organisatorische Freiheitssicherung Verfassungssystematik und Gesetzesstaat sind aus Freiheitsstreben geboren, heute noch sind sie die stärksten Garanten der Freiheit. Kritik an ihnen und ihren Trägern, vor allem den Parlamenten, die kaum mehr stark genug sind, um diese Riesenapparate zu beherrschen, an den Verwaltungen, welche die Freiheit an ihnen leer laufen lassen oder sich dem allem in Bürokratie entziehen - dies könnte zur tödlichen Gefahr für die Freiheit werden, wenn nicht eine Lehre der Staatsrenaissance erkannt und befolgt wird: dass es auch etwas gibt, immer im Großen gegeben hat, wie Sicherung der Freiheit durch Staatsorganisation. Wenn die Sicherung der Freiheiten durch Gesetze und ihnen unterworfene Richter sich abschwächt, wenn die Staatsgewalt die Gesetzestechnik allzu gut beherrscht, der Bürger allzu klein geworden ist und eben Normen auch nur den schützen, der Macht hat - dann ist eine Staatsordnung gefordert, welche in ihrer macht-zusammenordnenden Technik von vornherein verhindert, dass es zum Gegensatz Man versus State kommt, in welcher der Bürger am Ende stets nur unterliegen kann. Die heutigen Freiheitsvorstellungen des normativen Rechtsstaats sind geboren aus diesem großen Gegensatz des selbstbewussten Bürgers zur niedergehenden fürstlichen Gewalt, hier konnte ein Gleichgewicht ebenso erreicht werden wie in

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der Fortsetzung dieses Prozesses „Bürger gegen liberale Staatsgewalt"; auch hier war der alte Besitzbürger stark, die liberale Gewalt an der Wurzel schon, an ihrem Ausgangspunkt geschwächt. Doch all dies ändert sich laufend, gegen den Bürger. Geschützt werden schon mehr seine theoretischen Anarchismen als seine realen Freiheiten, welche dem Staate wirklich unbequem, ja gefährlich werden könnten. Deshalb wird hier in den nächsten Jahrzehnten wohl die Staatlichkeit immer mehr geöffnet werden müssen zu einer neuen Freiheitsvision, welche die Freiheitssicherung in die Staatsorganisation selbst verlagert, und dahin sind ja, auf den Straßen der Demokratisierung, schon heute viele unterwegs. In der Tat hat die rechtsstaatliche Freiheitsvision vielleicht doch nur eine zu kurze Vergangenheit, daher keine Zukunft, vielleicht kommt sie aus einer Welt, die ihrerseits der Renaissance nicht fähig ist: aus jener spätmonarchischen Lage, die in all ihren prägenden Zügen nun wirklich vergangen ist. Der Monarch lässt sich nicht restaurieren, welcher aus einer Geschichte des Gottesgnadentums gerade noch so viel an Macht zu ziehen vermochte, dass er der philosophisch-moralischen Kraft der Grundrechte widerstehen, ein Gleichgewicht der Staatlichkeit ihr gegenüber halten konnte. Die Staatlichkeit selbst muss neu aufgeladen werden, und bereits in ihren Zentren freiheitlich, jedenfalls in der Zusammenordnung derselben. Und hier wird das römische Erbe in Wiedergeburt fruchtbar, in einer solchen „Freiheit durch Staatsrenaissance": Die Machtträger sind schon von Anfang an, in ihren Kompetenzen, so zu organisieren, dass sich gar nicht die große explodierende Macht entwickeln kann, die grundsätzliche Frontstellung gegen den Bürger und seine Rechte. In Staatsrenaissance können Staatstechniken zurückkehren, in deren Kombination „die Macht" nie von vorneherein als eine absolut lastende gesetzt ist, eben weil sie, schon am Ausgangspunkt, „technisch" auf verschiedene Träger verteilt und in deren Verfahren weiter gebrochen wird. Staatsrenaissance weist darin den Weg der „guten Staatsform", dass in Kompetenzträgern organisierter Gewalt etwas stattfindet wie eine totale Entprivatisierung der Macht. Von ihren feudalen Ursprüngen her wird sie, in den westlichen Verfassungsstaaten, noch immer als etwas „Aneignungsfähiges" verstanden, deshalb gilt die Vermutung, dass jeder, der Gewalt hat, versuchen wird, sie zu missbrauchen, und dem muss dann freiheitssichernd durch „Gegenmechanismen" entgegengetreten werden. Die freiheitsschützend organisierte Gewalt der Kompetenzträger und ihrer Verfahren kennt dagegen von Anfang an eine einheitliche Gewalt nicht, die Macht ist von ihrem Ausgang her nicht appropriierbar, sondern stets kompetenzmäßig verliehen und beschränkt; sie hat eben nichts mehr an sich von der Ausschließlichkeit und Allgemeinheit der Eigentumsidee, welche, trotz aller vertikalen Stufungen, in der Feudalgewalt doch immer durchschlagen konnte. Freiheitsstreben ist entstanden gegenüber den Inhabern der Macht, welche diese wie

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ihr privates Eigentum gebrauchen, die Staatsrenaissancen bringen Elemente einer Staatstechnik zurück, die von ihrem Ausgang her nicht grundsätzlich freiheitsgefährdend gedacht ist. Die freiheitsbedrohende Feudalgewalt des Mittelalters wird, immer mehr in neuester Zeit, auch im Staatsrecht von Renaissancen verdrängt und abgelöst. Als eine „Zwischenzeit" mag diese Feudalperiode auch insoweit erscheinen, als vielleicht die Wiedergeburt von Grundvorstellungen des römischen Staatsdenkens den heutigen Freiheitsschutz nicht aufheben, sondern ihn auf eine andere Ebene heben wird, auf der ihn die früher appropriierte Macht verschüttet hatte. Dann müsste die Freiheit nicht mehr als eine natürliche proklamiert, ihre Selbstverständlichkeit könnte konstatiert, protegiert werden. Staatsrenaissance - das könnte auch das Ende der großen Freiheitskämpfe bedeuten.

II. Organisationsformen 1. Die Amtsidee Staatsrenaissance wird zuallererst fassbar in den Figuren einzelner Kompetenzträger, allenfalls noch in den von ihnen entwickelten Verfahren, nicht so sehr in allgemeinen Organisationsgrundsätzen; sie setzen bereits eine Regierungs-, ja Verwaltungssystematik voraus, welche sich als solche kaum in Renaissancen fortsetzen kann. So ist denn in diesem Kapitel Zurückhaltung geboten und eine Verallgemeinerung, welche sich auf das wahrhaft Prinzipielle beschränken muss, dennoch aber gewisse deutliche Akzente setzen kann, die in Formen wirklicher Wiedergeburten immer von neuem sichtbar werden. Am deutlichsten fassbar ist hier wohl die Amtsidee, sie ist auch „unmittelbar zum Reich", ohne sie wäre diese größere Ordnung nie vorstellbar gewesen. Nicht als ob hier nun etwas von der institutionellen Begeisterung zu finden wäre, in der die Ideen des Kaisertums oder des Volkes als Ursprung der Macht übernommen werden konnten. Und doch sind diese Grundvorstellungen, vielleicht auch nur in einer Form von technischer Renaissance-Folgeerscheinung, immer wiedergekommen, wo ein neuer Aufschwung zu größerer Ordnung begann. Rom war hier der große Ausgang, die Kirche hat, im Grunde schon im Altertum, die erste Renaissance des Amtsbegriffs in ihrer Ordnung vollzogen, eine wahre organisatorische Wiedergeburt gewisser Elemente, die in eine „ganz andere", vom Heilsgeschehen geprägte Ordnung übernommen wurden und diese gehalten, über Jahrtausende getragen haben. Diese Vorstellung von der grundsätzlich abgegrenzten Kompetenz, von den festen Aufgaben und daraus erwachsenden Befugnissen, von einer Macht, welche die Person des Trägers überdauert und übertragbar erscheint - letztlich die große Grundidee der entpersonalisierten und zugleich begrenzten Staatsgewalt, und schließlich der Zug zur systematischen Ordnung Staat-

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licher Gewaltäußerung, also der Übergang vom einzelnen Kompetenzträger in die größere Organisationsform - all dies hat die Imperialität stets begleitet, ist immer als ihr erstes Zeichen gesetzt worden. So ist es gewesen in den Stadtrepubliken der Renaissance, welche sich als neues Rom fühlten, in der Ämterordnung Ludwig XIV., der dadurch zu imperialer Höhe emporwuchs, dies seinem Land als Reichsvermächtnis hinterlassen hat. Napoleons Reich hat in Ämterordnungen Siege und Niederlagen überdauert, mit dieser Idee hat sich das moderne Beamtentum gegen die Feudalisierung durchgesetzt, sie abgelöst, am Ende selbst den König in die Ordnung eingebaut, als Träger des höchsten Staatsamtes. Wo immer aber diese Amtsidee der Dynamik politischer Gewaltsamkeit geopfert wurde, war es noch weit bis zum Reich, und in diesem Sinne hat Adolf Hitler in der parteipolitischen Auflösung der deutschen Ämterstruktur der Beamtenschaft imperiale Chancen verloren. Viel ist es schon, wenn die Renaissanceträchtigkeit der Ämteridee erkannt wird, wo immer man sie ernst nimmt, öffnet sich der Weg zu einer guten Staatsform. Doch die Staatsrenaissance zeigt hier noch mehr: - Ämter bedeuten fachlich begründete Handlungs- und Entscheidungskompetenzen. Dies ist zwar rechtlich verfestigt, bringt aber eine Öffnung zum Außerrechtlichen, jedenfalls zum Außernormativen, eine sachliche Annäherung an den Verwaltungsgegenstand. In diesem Sinne bezieht sich die Ämterorganisation - und dies gehört zu ihren Grundvorstellungen - nicht primär, jedenfalls nicht notwendig, auf gesetzlich abgegrenzte oder gar normativ „geschaffene" Sachverhalte. Weil der Staat durch seine Ämterorganisation sozusagen auf Außerrechtliches zurückgreift, ist jene Organisationsgewalt, welche das Ämtersystem hervorbringt, stets und ganz wesentlich eine außernormative geblieben, in dieser Form stets auch wiedergekommen. Hier gehen eben Staatsrenaissancen über Gesetzesstaatlichkeit hinweg. - Die Ämter bringen zwar eine feste Ordnung der Zuständigkeiten, diese sind aber nicht „personenabhängig", daher leichter mit Blick auf den „Amtsgegenstand" verschiebbar, technischen Erfordernissen entsprechend. Dies hebt eine solche Ordnung ab von feudalisierender Machtaneignung, welche eine so starke Subjektivierung der Macht mit sich bringt, dass sie kaum mehr objektbezogen verändert werden kann. Hier liegen die Gefahren übersteigerter Berücksichtigung der Amtsträgerinteressen, welche gerade heute bei der Personal-Mitbestimmung nicht immer gesehen werden, derartige Entwicklungen müssen stets von neuem im Namen der Amtsidee zurückgedrängt werden. - Wo immer die Amtsidee sich durchsetzen konnte, wurden stets sogleich größere, ja durchgehende Ordnungen der Staatsorganisation „in Ämtern" geschaffen, dieser Kategorie wohnt ein notwendiger Zug zur Erweiterung inne. Über die Ämter wächst die Staatlichkeit aus der punktuellen Kompetenz, in der sie geboren oder wiedergeboren - wird, in eine umfassende, wenn auch inhaltlich nicht im Einzelnen bestimmte Ordnung hinein, hier wird das Wesentliche geleistet: die

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Zusammenordnung der Kompetenzen. Die Staatlichkeit ist in all jenen Ordnungen, welche so groß waren, dass etwas aus ihnen wiedergeboren werden konnte, zur Einheit gerade in ihren Ämtern geworden. Nicht auf den Schlachtfeldern konnte sich das napoleonische Reich befestigen, nicht von seiner Spitze aus als Staat gedacht werden, sondern allein in der strengen Amtsorganisation seiner Verwaltung. Was hier wiedergeboren wird, ist die Grundidee der Staatseinheit, fassbar überall, in Ämtern. - In der Amtsidee liegt immer auch die vertikale Dimension, jener Zug zur Hierarchie, von dem noch die Rede sein wird. Hier erschöpft sich die Staatlichkeit nicht in einem Nebeneinander von Staatstätigkeiten, wie es heute radikaldemokratische Richtungen verwirklichen wollen. Zum Amt gehört ja, dass es nach allen Seiten hin abgegrenzt sei, weder nach oben hin wuchern könne, in höhere politische Macht hinein, noch nach unten, in unkontrollierter Verbindung zur Basis. Außerrechtlich ist beim Amt die Aufgabe, welche es abgrenzt, nicht die Person des Trägers. Sie tritt so weit zurück, dass Ämterordnung auch nicht etwa Herrschaft über Menschen, von Amtsträgern über andere Amtsinhaber, bedeuten kann, hier herrscht nur die höhere Aufgabe über die nachgeordnete. - Der Amtsgedanke ist immer auch dadurch eine „gute Staatsform" im wahren Sinne gewesen, dass er Verantwortung auf jeder Stufe begründet, damit wahrhaft imperiale Vielfalt horizontal und vertikal nicht nur erhalten, sondern gestärkt, ja hervorgebracht hat. Seiner Idee nach ist jedes Amt unmittelbar zum Staat, zu seiner Spitze. Deshalb handelten seine Inhaber stets im Namen des Kaisers, oder ihres Gottes. Dies bedeutet zugleich aber auch Absage an den großen „Durchgriff", der im ordre de mufti alles erreicht, vom einen Zentrum aus alles beherrschen will. Darin ist die römische Ämterordnung eine Antithese gewesen und immer wieder geworden zu orientalisierendem Großkönigtum, welches stets von neuem in dieser Renaissance einer „guten Staatsform" gebrochen werden musste. - Die Ämter bedeuten wesentliche Technizität des Herrschens, ein überschaubarer Aufgabenbereich kann nicht nur, er muss nun geradezu sachbezogen verwaltet werden, „die Kompetenz ruft die Kompetenz". Wenn Amtsideen wiedergeboren werden können, so zeigt sich die Staatsrenaissance als wesentliche Herrschaftstechnik, als eine Absage an Ideologisierungen welcher Art immer, die ja stets, im Namen postulierter Werte, Zuständigkeitsabgrenzungen verwischen wollen. - Mit der Ämteridee kommt immer wieder die Grundentscheidung guter Staatlichkeit für den Verwaltungsstaat zurück. In den Ämtern wird Staatsgewalt wesentlich administrativiert. Selbst die Regierung noch nimmt Verwaltungsförmigkeit an, in den Ämtern wird die Staatsgewalt nicht nur formal, sondern auch qualitativ zur Einheit. „Politik", welche da „frei gestalten wollte" - und es in der Gesetzgebung ja auch ämterübergreifend vermag - wird durch die Amtsidee zurückgedrängt, das römische Modell hat in diesem Sinne ebenso Entpolitisierung bedeutet wie alle seine Nachfolger in Staatsrenaissance. 32 Leisner

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- In ihren vielfachen, horizontalen und vertikalen Abgrenzungen bedeuten die Ämter entscheidenden organisatorischen Freiheitsschutz. Die Sprache schon zeigt es: Gewaltunterworfene mag es geben, Amtsunterworfene gibt es nicht. Freiheitsgefährdende Bürokratisierung, mit ihren sich verselbständigenden Ämterwucherungen, der privatisierenden Aneignung der Amtsgewalt durch die Amtsinhaber, bedeuten Freiheitsgefährdung, nicht weil sich hier die Ämteridee folgerichtig entwickelt, sondern weil sie in Feudalismen pervertiert wird, den alten Feinden der Freiheit. So ist denn auch heute das Behördendickicht nicht eine Folge der Ämterstruktur, sondern der auf ihr immer lastenden, sie übergreifenden und komplizierenden Gesetzesmechanismen. Im Gesetzesdschungel nur konnte das Ämterdickicht entstehen. Das Amt bedeutet ja immer eines: geordnete Staatsklarheit, wenn auch nicht rationale Staatsgeometrie. Hier fällt stets von neuem eine ganz große Grundentscheidung, in Bescheidenheit und oft fast unbemerkt, gegen Privatismen, Feudalismen, Soziologismen und Personalismen im staatlichen Räume. Hier kommt etwas von der Transpersonalität des Imperialen zurück, ein großer Atem aus den kleinen Amtsstuben.

2. Die Allgegenwart der Staatsgewalt Die Gottesidee des Monotheismus sieht ihren Schöpfer gleichmäßig überall, überall ganz. So wie diese Allgegenwärtigkeit wesentlicher Inhalt religiöser Renaissancen stets gewesen ist - heute etwa im „Nächsten", „in der Natur" wiederkehrend - so auch ihr säkularisierter Ausdruck, die imperiale Staatsgewalt: Wo immer etwas von ihr wiederkommt, und sei es auch isoliert in einzelnen Kompetenzträgern, stets wird damit der Saum des kaiserlichen Purpurs berührt, der alles überdeckt, jede Staatsrenaissance trägt in sich den Gedanken einer Staatsgewalt, die überall ist und ganz, so wie in ihrer kleinsten Fahne ihre ganze Hoheit geschützt wird. Dieser Absolutismus einer „Fasces-Idee", so könnte man diese wandelnde staatliche Allgegenwart beschreiben, bedeutet gerade nicht die freiheitsgefährdende „Machtkonzentration an der Spitze". Was überall ganz wirkt, ballt sich nirgends gefährlich zusammen. Wichtig ist, dass Staatlichkeit allenthalben sich findet, nicht irgendwelche Gewalten, welche der Staat dann erst mühsam in sich zusammenfassen müsste; und in diesem Sinne ist Deutschland in den entscheidenden Perioden seiner Geschichte ein Land der nur unvollkommenen Staatsrenaissance geblieben. Denn mit dieser kommen nicht Zwischengewalten als solche zurück, alles was sie bringen, trägt das staatliche Siegel auf der Stirn. Dies ist keine Absage an Autonomien oder das originäre Wachsen der Staatlichkeit von unten, es muss nur immer wieder eine Entwicklung im Namen der einen, allgegenwärtigen Staatlichkeit sein, die Triebe müssen aus einer Wurzel kommen und wieder zu einem Baum zusammenwachsen. Was dann von solchem Staats-Wachstum in andere, spätere Ordnun-

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gen eingepflanzt, dort wiedergeboren wird, treibt mit der Kraft der allgegenwärtigen Staatlichkeit neue, ebenso omnipräsente Kräfte hervor. Mit jeder römischen Institution ist immer wieder etwas vom ganzen Imperium zurückgekehrt; in allem, was heute in der Dritten Welt übernommen wird, kommt etwas vom Zentrum der hoch entwickelten Staatlichkeit in die neuen Welten. Wenn die Staatsgewalt überall gleich ist in dieser Grundidee der Staatsrenaissancen, so muss sie den Bürger auch grundsätzlich gleichmäßig erreichen. Höhere Mauern darf er um die Paläste seines Genusses gegen den Staat errichten, solange er „rein privater Eigentumsnutzer" bleibt; nie darf dies zu Wällen und Trutzburgen gegen die politische Staatsmacht emporwachsen. Der Grundgedanke der allgegenwärtigen Staatsgewalt verlangt in diesem Sinne eine gewisse Egalisierung der Bürger gegenüber der Gewalt, sie schafft damit eigentlich erst den Bürgerbegriff, sie hat ihn, auch politisch, etwa mitten im Absolutismus eines Ludwig XIV. hervorgebracht - eben aus einer staatlichen Wiedergeburt heraus. Der Allgegenwart der staatlichen Gewalt entspricht Machtegalisierung aller Bürger, dies ist die „Gleichheit als gute Staatsform". Laufende Umverteilung der politischen Macht ist stets Ausdruck glücklicher staatlicher Wiedergeburt gewesen, der Staat, der überall ist, kennt überall nur Bürger. Tiefes Missverständnis ist die genussstrebende Umverteilung der Güter, welche nur allzu oft übersieht, dass sich gerade dort Machtballungen vollziehen, wo alle Güterkonzentrationen unmöglich werden, weil diese dann eben durch jene im Aktivitätsdrang der Menschen kompensiert werden. Laufende Umverteilung der Macht dagegen, nach römischem und immer auch französischem Vorbild, hält den Staat, gerade weil der Bürger genießt, und diese Wiedergeburt einer großen Idee ist eine der Aufgaben der nächsten Jahrzehnte. Umverteilung will private Wirtschaftsmacht im Staat brechen; doch dabei wird übersehen, dass Reichtum nur zu oft den eigentlichen Willen zur Macht aufhebt, der arm bleibt und asketisch. Die allgegenwärtige Staatsgewalt ist schließlich die einzige, welche sich unwiderstehlich nennen darf, damit aus Gewalt erst zum Staat wird. Allgegenwart und Allmacht sind eins in der Gottesidee, und auch in der imperialen Staatlichkeit auf Erden. Doch wie diese göttliche Allmacht nicht den gewaltsamen Zwang zum Guten bedeutet, wie sie das Geheimnis des Gewährenlassens menschlicher Freiheit einschließt, unwiderstehlich bleibt auch in der Souveränität dieser Entscheidung so bedeutet staatliche Unwiderstehlichkeit nicht die Zerstörung der Freiheiten, sondern ihren wesentlichen Schutz im Staat, durch ihn. Ob dies mit den Kategorien vorstaatlicher Freiheitsrechte erfasst werden kann, ob weiter in dem gedacht werden sollte, was doch einst nur feudaler Machtaneignung entgegengesetzt werden musste - heute ist es noch schwer absehbar. Vielleicht wird eines Tages die Grundidee der allgegenwärtigen Staatsgewalt sich in Formen omnipräsenter organisatorischer Freiheitssicherung so selbstverständlich durchsetzen können, dass in Vorstaatlichkeiten nicht mehr gedacht werden muss. Was allgegenwärtig ist an Staatsgewalt - ist es überhaupt anders als zugleich auch freiheitsbewahrend vorstellbar? Wenn die gewaltsamen, totalitären An3*

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strengungen der Gegenwart endlich gescheitert oder überholt sein werden, in denen die Allgegenwart des Befehlens gelingen sollte - dann wird vielleicht eine neue Staatsrenaissance die reinere Idee der staatlichen Allgegenwart zurückbringen.

3. Hierarchie Etwas von Hierarchie, von der wesentlichen Über-Unterordnung in vielfacher Stufung, ist schon in der Ämteridee mitgedacht. Doch es gibt eine Grundentscheidung zur Hierarchie, die darüber hinausführt, gerade als solche stets fasziniert hat, immer wieder zurückgekehrt ist. Dies bleibt, für die gegenwärtige Staatlichkeit zumindest, römisches Staatsdenken; damals wurde die allzu rasche Einmündung staatlicher Kompetenzen in die Horizontale der griechischen Volksversammlungen über höhere Stufungen verändert. In Staatskirchen-Renaissance hat das Christentum dies übernommen, damit konnte es der späteren Staatlichkeit das römische Modell ihrer Renaissance erhalten: die größere Höhendimension, die mehr ist als eine Selbstverständlichkeit vertikalen Aufbaus, weil sie bedeutet, dass Staatlichkeit „höher hinaufgebaut" werden soll. Hierarchie meint die Über-Unterordnung machtmäßig irgendwie vergleichbarer Kompetenzen, etwas also wie ein Gleichgewicht der Gewalten in der Vertikalen. Nur dort ist sie, ihren römischen und kirchlichen Vorbildern entsprechend, als „gute Staatsform" wiedergekehrt, wo sich in einer solchen Pyramide die Staatsgewalt weder nach oben noch nach unten wesentlich abschwächt. Die Feudalpyramide konnte, in Deutschland jedenfalls, dieses Gleichgewicht nicht halten, immer mehr verlor es sich zu Lasten der imperialen Spitze, während in Spanien eher die gegenteilige Entwicklung stattfand. Hier liegen auch die Renaissanceprobleme romantischen Staatsdenkens, welches stets versucht sein wird, „ganz oben" zuviel an Macht anzusiedeln - oder zuwenig, und gerade in Deutschland ist im Wechsel vom einen Extrem zum anderen die Chance der Hierarchie-Renaissance immer wieder verloren worden. Das absolutistische und das napoleonische Frankreich hat die Balance ebenso zu halten vermocht wie das imperiale England mit seinen harten Befehlen und weiten Autonomien. Die Herkunft der Staatsidee der Hierarchie aus dem Militärischen wird kaum zu leugnen sein, der römische Militärstaat hat hier seine in Ämterordnungen gewandelten Befehlsstrukturen in einem größeren Ordnungsdenken vollendet. Hier sind wohl die Grundvorstellungen der Hierarchie geprägt worden, die zahlreichen Stufungen, der strenge Zugriff von oben - nicht der ungeordnete Durchgriff - , eine gewisse Gleichgewichtigkeit und damit auch Gleichartigkeit der staatlichen Machtäußerung auf allen Stufen. In all dem entwickeln sich große, durchgehende, in gewissem Sinne sogar systematische Ordnungsstrukturen; in Staatsrenaissance übernehmbar bleiben sie, weil sie letztlich doch vor allem Formales bringen, eine Kategorik, in welche jede Zeit ihre Inhalte gießen kann.

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Doch Hierarchie bedeutet nicht notwendig das durchgehende Totalsystem, sie mag an einzelnen Stufen auch enden, neu wieder beginnen, sie kennt wesentliche Einschnitte. Nie ist sie unvereinbar gewesen mit Selbstverwaltung, wenn nur deren Spitzen wiederum in eine, vielleicht andersartige, neue Hierarchie gestellt blieben, die ihrerseits dann weiter hinaufreichte. Man könnte dies die heterogene Hierarchie nennen, in welcher sich der Grundgedanke nicht notwendig abschwächt, vielleicht sich eher noch belebt, noch weitere Durchstufung ermöglicht. Als eine „heilige" Ordnung ist dieser Organisationsgedanke stets vorgestellt worden und stets von neuem als solcher wiedergekehrt, hier liegt weit mehr als eine kirchliche Reminiszenz. Renaissancemäßig bedeutet dies, dass solche Konstruktionsformen unwandelbar zur imperialen Ordnung größerer Staatlichkeit gehören, dass sie deren wesentliche Verwaltungsordnung darstellen; in diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend die wesentliche Über-Unterordnung des Beamtlichen in der Verfassung selbst verankert gesehen. Der „reine Formalismus" hätte keine Gestaltungskraft, würde er nicht kompensiert durch die absolute Kraft seiner Strukturen, an denen als solchen es nichts zu deuteln gibt, solange man nur intra muros bleibt. Dies ist eine Grunderfahrung aller Staatsrenaissance, dass gerade das Formale in Erz zurückkehrt. Eine Hierarchie verdient diesen Namen nur dann, wenn vor allem „ganz oben" dieselbe Befehlsgewalt steht wie auf den niederen Rängen. Hier drohen der Demokratie Gefahren, weil sie an die Spitze die in Wahlen geschwächte politische Kombination stellt - oder gar dort das „Reich der Normen" errichten will; Hierarchien zwischen Normen und Menschen kann es nicht geben. Wie aber ganz oben Befehlsgewalt bleiben muss, so ist sie auch auf den unteren Stufen ganz, und voll zu achten. Hierarchie bedeutet, und dies hat das kirchliche Recht stets bewahrt, dass im Zweifel, in aller Regel ihre heiligen Stufen hinaufund herabgeschritten werden müssen. Die großen Mächte des Pfarrers und des Bischofs kann auch ein Papst nicht ausschalten. Die Befehle durchlaufen die Hierarchie, brechen sich in vielem in ihr und verlieren darin das Lastende der Gewalt, dass sich ihre Anordnungen primär an die Staatlichkeit richten, an weiter nachgeordnete Instanzen, nicht stets und unmittelbar an den Bürger, den Gewaltunterworfenen. So wird die Hierarchie zum großen organisatorischen Freiheitsschutz, als solche ist sie stets in Wiedergeburt empfunden worden, am deutlichsten vielleicht nach jener Französischen Revolution, deren Freiheit gerade in ihren napoleonischen Strukturen überleben konnte, weshalb denn auch die Zurückdrängung der Grundrechte weniger belastend gefühlt wurde. In der Hierarchie wird der Staat erst recht, über die Ämter und die staatliche Allgegenwart hinaus, ganz wesentlich „Verwaltung", und in dieser Verwaltung zum römisch-imperialen Garanten der Freiheit, so wie es die Kirche in ihrer Hierarchie in ihren besten Epochen für die Freiheit eines Christenmenschen gewesen ist. In diesen Befehlsstufen macht sich der Staat laufend selbst den Kontroll-Prozess, echte Hierarchie ist freiheitsbewahrend, weil sie Verwaltungsverfahren ver-

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langt; und die gerichtliche Hierarchie ist dann nur mehr die Fortsetzung dieses organisatorischen Staats-Prozesses mit anderen, noch stärker freiheitsschützenden Mitteln. Wo immer Staatsgewalt den Mut fand - denn dessen bedarf es hier wirklich sich hierarchisch zu organisieren, da wandelte sich die Gewalt zur organisierten Staatlichkeit, wurde etwas wiedergeboren, was nicht nur in einem Augenblick, als Befehl, ganz gelten wollte. Und auch hier hat das Militärische, welches ja mit dem römischen Erbe auch von der Kirche übernommen worden ist, viel Renaissanceträchtiges vorgezeichnet: Ein Leben unter den Adlern wäre nicht erträglich, übernähme hier nicht die Hierarchie den Freiheitsschutz des Soldaten; und Militärgerichtsbarkeit wird stets nur ihre außergewöhnliche Form sein; zur Erschießung bedarf es eben mehrerer Urteiler und mehr an Verfahren ... Doch das militärische Vorbild zeigt noch ein Weiteres: Hierarchie ist imperiales Denken auch darin, dass sich außerhalb ihrer pyramidalen Ordnungen, jedenfalls aus ihrer Sicht, nichts anderes vorstellen lässt; Hierarchien können ebenso wenig, von der Idee her, nebeneinander stehen wie Reiche. Von den „guten Staatsformen", welche in Staatsrenaissance zurückkehren, müssen sich also Versuche entfernen, Hierarchien nebeneinander zu stellen, die militärische neben die staatliche - dies war ein Grundproblem wilhelminischer Imperialität - oder die der Partei neben die des Staates, wie es der Nationalsozialismus unternommen hat. Der Sowjetstaat musste die militärische und ökonomische geistig-grundsätzlich zusammenfassen; so lange es gelang, blieb er ein Imperium. Die eigentliche Hierarchie fordert die Einheit der Pyramide; sei diese Über-Unterordnung nun stärker oder schwächer militärisch geprägt, sie muss aber im Letzten eine große zivile Über-Unterordnung aller Gewaltträger bleiben, auch dies ist römisches Modell. Die militärischen Hierarchien aber können nicht in Kasernen eingesperrt werden, sonst brechen sie im Putsch aus und besetzen eine Staatlichkeit, die sie allerdings noch nie auf Dauer haben halten können, eben weil sie die Besonderheit ihrer Pyramide ängstlich bewahren wollten. Hierarchie - das ist nicht nur das Bild einer Treppe, es ist das eines Staatsgebäudes, in dessen Stockwerken die Bürger ihre verteilte Staatlichkeit finden - und in deren Räumen die Beamten, die Träger der imperialen Macht, vor ihnen, vor ihren Vorgesetzten und Untergebenen und vor ihrem eigenen unruhigen politischen Willen geschützt sind. In der Hierarchie vollendet sich die Ämterordnung, in ihr nur wird die Allgegenwart der Staatlichkeit erträglich. Und sie bietet ein Modell von Staatlichkeit der Kompetenzträger, an dem sich sogar die Normenordnung der Rechtsstaatlichkeit orientieren konnte, denn die Hierarchie der Amtsträger war da, bevor Normenhierarchien gedacht werden konnten. Hier kommt in Staatsrenaissance die Grundidee des stufenförmigen Ordnens schlechthin zurück, die Grundvorstellung, dass gerade größere, weitere Ordnung nicht nur horizontal gedacht werden kann, dass die größeren Weiten doch nur von Bergen aus zu beherrschen sind. Hier überfliegt sich die Staatsgewalt selbst, und nur in Hierarchie steigen die

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Gesetze von den Höhen herab, auf denen sie heilig gegeben wurden. Die Staatlichkeit aber ist, in dieser Idee des Höheren, auch zum Größeren geöffnet - zum Reich.

4. Der Statthalter In Hierarchie kommt die vertikale Dimension größerer Staatlichkeit zurück, doch Staatsrenaissancen haben dies häufig ergänzt durch eine besondere Form horizontaler Bündelung der Staatsmacht, in etwas, was man die „Figur des Statthalters" nennen könnte. In ihm wird die höchste, damit aber die Gesamtgewalt auf einer gewissen hierarchischen Stufe abgebildet, nie allzu nah an der imperialen Spitze, doch stets noch weiter entfernt von einer zu verwaltenden Wirklichkeit. Die Geschichte zeigt den Statthalter in verschiedenen Ausprägungen, nicht immer in bewusster, stets aber in deutlich fassbarer Staatsrenaissance vor allem römischer Vorstellungen. Der römische Statthalter der spätrepublikanischen und kaiserlichen Zeit fasste ja, für ein gewisses Gebiet, die grundsätzliche Vollgewalt der Staatlichkeit zusammen, gerade auch in der Verbindung von militärischen, technischen und sonstigen Verwaltungskompetenzen. Bei ihm waren die Fäden gebündelt, welche sodann in der imperialen Hierarchie weiterliefen. Aufgenommen wurde dies schon in der kirchlichen Bischofsvorstellung, mit ihrer prinzipiellen Vollgewalt über die Kirchenprovinz, weitergedacht dann, ins Staatliche hinein, in der Figur des spanischen Vizekönigs und dort, der allgemeinen Staatskonzentration entsprechend, allzu hoch vielleicht angesiedelt. Die napoleonische Staatsrenaissance hat in reinerer Form den Regierungs-Statthalter zurückgebracht, in der bis in die Gegenwart zentralen Staatsorganisationsfigur des Präfekten. Vertreter der Republik in den Provinzen, Repräsentant der absoluten Souveränität der Nation in deren Teil, ist er doch seinerseits besonders streng in die staatliche Hierarchie eingefügt. Im preußisch-deutschen Regierungspräsidenten ist eine ähnliche Statthalterschaft errichtet worden, der alten Provinzialstatthalterschaft darin eher noch deutlicher gleichend, dass die Räume meist größer waren, in denen solche Gewalt ausgeübt wurde. Selbst im amerikanischen Gouverneur der Einzelstaaten ist etwas von dieser Staatsidee lebendig, er versteht sich gewiss nicht allein als Regierungsspitze einer Selbstverwaltung, als „Gewalt von unten". Diese Statthalteridee weist grundsätzliche Aspekte einer wahren Regierungsform auf, in ihr vollzieht sich eine wesentliche und grundsätzlich untrennbare Verbindung von Regieren und Verwalten. Dies ist eben nicht eine Zufälligkeit der Verwaltungsorganisation, hier entsteht in der Tat etwas wie eine „Regierung en miniature", gerade in ihrer weithin unpolitischen Verwaltungstechnizität die überpolitische römische Staatlichkeit im Kleinen widerspiegelnd. Indem grundsätzlich alle staatlichen Kompetenzen bei diesem Statthalter zusammengefasst werden, tritt hier immer wieder jene Globalität in der Betrachtung aus gebündelten Kompetenzen

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hervor, welche als das Wesen des Regierens bereits erkannt wurde. In unerträglicher Weise würde sich ja die Administration „technisch verselbständigen", würden ihre spezialisierten Hierarchien nebeneinandergestellt und bis in die Staatsspitze hinaufreichen, und zugleich wäre damit ein Grundgedanke der Hierarchie verfehlt, welcher die Zusammenfassung der Über-Unterordnungspyramide verlangt. Diese Statthalteridee steht also in einer gewissen Spannung zwar zur „technischen" Hierarchisierung, doch zugleich bedeutet sie ihre Ergänzung, eine Entscheidung zum Generalistentum auf höherer, nicht nur höchster Ebene, welche eine Feudalisierung der Staatsgewalt durch Spezialistenhierarchien verhindert. Diese Denkkategorie ist heute in vielem geläufig, sie hat sich immer wieder renaissancehaft durchgesetzt, wenn es galt, neuartige Formen höherer Verwaltung zu entwickeln. In der globalen Befehlsgewalt des kommandierenden Generals zeigt sie sich ebenso wie in der Einheitszuständigkeit des Botschafters, des Statthalters der Staatlichkeit im Ausland. Ausgangspunkt von Statthalter-Konstruktionen waren sicher meist praktische Herrschaftsnotwendigkeiten, was nicht einheitlich von der Zentrale voll erfasst werden konnte, musste auf dieser Ebene gebündelt werden. Doch dahinter steht die größere und ebenfalls immer wiederkehrende Verwaltungserkenntnis, dass Staatlichkeit, in Administration wie auch sonst, letztlich stets „möglichst im Zusammenhang" ausgeübt werden muss, nicht nur im Blick auf einzelne technische Seiten der Wirklichkeit. In der Statthalterfigur fällt immer wieder die Grundentscheidung für die Einheit des Verwaltungsrechts, aus der notwendigen Zusammenfassung der Verwaltung, seit den Zeiten der römischen Imperialität. Nicht nur an der Reichs-Spitze sieht sich das öffentliche Interesse zur Einheit integriert, vorintegriert ist es bereits in „höherer Verwaltung" bei den Statthaltern, welche alle seine Aspekte zu dem einen intérêt public zusammensehen, denn historisch wie staatsgrundsätzlich ist dieser Begriff in der Einzahl zu gebrauchen. Der Statthalter als „Grundentscheidung für die Einheitlichkeit des öffentlichen Interesses" ist auch der Ausdruck weiterer Grundentscheidungen allen Verwaltens: zuallererst des Primats der Sicherheit und Ordnung, denn im Bereich dieser Polizeigewalt, wie weit immer sie ausgedehnt sein mochte, sind stets derartige Statthalterschaften eingerichtet worden, dies war immer ihre zentrale Zuständigkeit. In der kompetenzmäßig geordneten Ausübung der Sicherheitsbefugnisse wird so zugleich der Kern aller guten Staatlichkeit sichtbar, alles andere Verwaltungsrecht gehört dazu, soweit es eben „Polizey" beinhaltet, und dieser alte, gute Begriff kommt immer wieder in Staatsrenaissance zurück, von ihm sollte man sich in Spezialorganisationen nie allzu weit entfernen. Ein Weiteres aber liegt in der Statthalter-Vorstellung: die notwendige Lokalisierung aller Sicherheit und Ordnung, die räumlich feste Verwurzelung der Befugnisse, welche nur dann überzeugend und von Zufälligkeiten befreit wird, wenn sie für mehr als eine technische Kompetenz gilt, wenn in dieser Lokalisierung grundsätzlich alles Verwalten zusammengefasst wird. In diesem Punkt werden wirklich Re-

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naissance-Verwaltungsvorstellungen der Imperialität erreicht, jenes Reiches, das nicht „ganz oben verdämmert", sondern überall gleichmäßig ist. In der Statthalteridee finden die Hierarchievorstellungen ihre Steigerung und Verfeinerung, eine große „Staustufe" des Hierarchischen wird errichtet, an der dessen Inhalte überschaubar bleiben. Darüber hinaus ist dies ein höherer Ausdruck der Ämteridee, wird hier doch etwas wie ein „Superamt" errichtet. Und schließlich wird auch jene Personalisierung verstärkt, welche sich in der technischen Ämtermechanik zu verlieren droht: Nicht umsonst war stets der Gouverneur zentral, nicht das Gouvernement, der Präfekt, nicht die Präfektur, „der Regierungspräsident" handelt für den Staat, nicht ein Präsidium, überall ist der Statthalter das Abbild des Kaisers, der Imperator im Kleinen, ob es diesen nun gibt oder nicht.

5. Die Provinzen Das Deutsche Reich hatte Teilfürstentümer, große Reiche haben zuallererst Provinzen. Es gibt etwas wie eine Provinzialidee, die mehr und ein anderes bedeutet als die des Statthalters, der an ihrer Spitze steht. Auch sie ist seit römischer Zeit und meist mit dem römischen Namen in kirchliche und staatliche Herrschaft stets wiedergekommen, auch sie ist nicht eine reine Verwaltungs-, sie ist eine „gute Staatsform". Die Machtausübung wird hier territorial geordnet, einheitlich, gleichartig, flächendeckend erfasst das Reich seinen Raum. Staatsformen sind nur dann „gut", wenn sie auch, in besonderer Weise, territorial konzipiert sind, wenn es etwas wie Grundentscheidungen gerade in diesem Sinne gibt und nicht nur in Formen staatlichen Herrschens gedacht wird, welche dann in territorialer Beliebigkeit verteilt werden. Für die weiteren imperialen Ordnungen war dies immer eine Selbstverständlichkeit, Provinzialdenken entfaltet sich dann, wenn ein Anlauf zu größerem Ordnen unternommen wird. In diesem Sinne ist das Provinziale der Gegensatz zum Provinziellen. Deutlich ist dies für die Zeit des französischen Absolutismus, für die größere Territorialgewalt im deutschen Raum, vor allem in Preußen, während in Frankreich die hierarchische Staatsgeometrie in der Revolution triumphiert und die Imperialität gerade in der Zertrümmerung der Provinzen schicksalhaft verfehlt hat. Hier wird ja, im Gegensatz sogar zu Italien und Spanien, welche der römischen Staatsrenaissance näher geblieben sind, atomisierendes Verwalten an die Stelle imperial aufbauenden Regierens gesetzt, zu seiner inneren Größe findet das Land gerade jetzt in Dezentralisierung nur mühsam zurück, weil sich diese eben aus Verwaltungskategorien entwickeln soll, nicht in Regierungsgedanken gedacht ist. Die Grundidee der provinzialen Ordnung ist stets in gleicher Weise fassbar geworden. Die Großordnung eines Imperiums muss flächenmäßig geteilt werden, gerade damit Herrschaftsintensität alle Räume erreiche. In einer Provinzialstruktur

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aber müssen diese etwas wie Mosaiksteine bleiben, aus denen sich das größere Bild des Reichsadlers zusammensetzt, etwas wie eine „Mosaik-Theorie" kommt wohl den Grundvorstellungen der Provinzialität am nächsten. Dies bedeutet eine gewisse Vergleichbarkeit der Aufteilung nach Größe und Bedeutung der Räume und, damit ein Bild in Farben entstehe, eine Einteilung, in welcher sich Vielfalt, Farbigkeit ausdrückt. Nicht beziehungslose Eigenfarben dürfen hier gehisst werden, soll das gemeinsame Ordnungsbild nicht gestört sein, doch die Provinzialkategorie bedeutet das Bekenntnis zu einer Vielfalt, welche über die immer wiederkehrende Gleichartigkeit des Departementalen weit hinausreicht. Ihr Grundgedanke ist: Vielfalt in allen Bezügen, welche nicht die politische Herrschaft in einem engeren Sinne betreffen, sie bleibt einheitlich, uniform, in ihr gerade tritt die Reichseinheit in Erscheinung. In der Provinz dagegen liegt das „früher Selbständige", das einst auch politische Autonomie besaß, und der Versuch, die Ausstrahlungen dieser einstigen politischen Selbständigkeit in allen Bereichen zu erhalten, ja zu pflegen, welche nicht gerade das Zentrum der Willensbildung betreffen. So bedeutet denn ein „Denken in Provinzen", dass es eine Trennung von politischer Herrschaft und allem anderen gibt, etwas der liberalen Trennung von „Staat und Gesellschaft" irgendwie Vergleichbares. Hinter dieser Provinzvorstellung steht der Gedanke der Trennung des Verwaltens und des Verwalteten, in gewissem Sinne auch die Unterscheidung zwischen Verwaltungsinstrumenten und Verwaltungszielen. Die Verwaltung und ihre Instrumente werden als etwas Einheitliches, überall Gleiches gedacht, in ihrem Einsatz liegt die Staatseinheit beschlossen, soweit der Bürger sich an sie gewöhnt, läuft ein politischer Integrationsvorgang ab. Doch die Eigenständigkeit des Verwaltungsgegenstandes wird gewahrt, das Verwaltungsziel ist nicht, wie im Departement-System, die überall gleichartige Republik, sondern das vielfältige Provinzen-Reich. So bedeutet die Grundentscheidung für die Provinzen etwas anderes als Verwaltungsgeometrie, und mit Recht wird in ihrer Steigerung, bis in den Regionalismus hinein, eine Staatsrenaissance römischer Provinzialautonomie angestrebt. Denn diese Organisationsform ist ja, in ganz besonderer Weise, auch der organisatorischen Intensivierung fähig, einer Dezentralisierung, welche aus reinem Verwalten heraus, wie bereits festgestellt, nur schwer denkbar ist, sich aus der provinzialen Struktur heraus jedoch bis hin zu föderalen Formen, ja bis zu Teilreichen entwickeln kann, wie sich in Italien, Spanien und anderswo erweist. Die römische Imperialität war an ihrem Ende noch immer so groß, dass sie aus ihren Provinzen Teilreiche werden ließ, die Provinz zum Imperium steigern konnte, aus dessen einheitlicher Befehlsgewalt sie ja einst entstanden war. So nahe steht die Provinz beim Reich, dass in ihr noch, wenn sie zum Teil-Reich gesteigert worden ist, die große imperiale Klammer gefühlt wird, und so hat in den immer stärker werdenden feudalisierten europäischen Provinzen das römische Reich in der Idee jahrhundertelang überleben - und immer wiederkommen können, in neuen Provinzen und in anderen Organisationsformen.

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„Andere Provinzen" - das kann es stets von neuem geben, der Begriff ist elastisch und nimmt gerade neueste technische Zusammenhänge, aus ihnen sich ergebende Herrschaftsnotwendigkeiten, mühelos in sich auf. In seiner römischen Entstehung haben ja militär- und damit vor allem auch technisch-politische Notwendigkeiten eine entscheidende Rolle gespielt, und hier zeigt sich, dass die Provinz vielleicht doch nicht primär ein Herrschaftsraum, ihrem Wesen nach vielmehr ein typischer Verwaltungsraum stets gewesen ist, Verwaltung eben in ihrer räumlichen Erscheinungsform. Wie der Statthalter ein Imperator en miniature ist, so wird die Provinz immer wieder zu einem „Reich im Kleinen" werden, in ihr spiegeln sich die Verwaltungsformen einer Zeit in örtlich optimaler Zusammenfassung wider, und so gibt es eben heute etwas wie die Provinzen der technischen Notwendigkeiten, nach ihnen werden die Räume immer mehr zusammengefasst - und, wie schon gesagt, nach ihrer Historie; wäre dies nicht eine staatliche Grundentscheidung seit römischer Zeit, diese eigenartige Verbindung der Technik der Gegenwart und der Historie gewordenen Politik? Die Entscheidung zu den Provinzen ist eine staatsrechtliche von hoher Grundsätzlichkeit, sie selbst aber sind keine „Personen des» Staatsrechts", in ihnen lebt nur Administration und die Vorstellung von einer notwendigen Interdependenz in der größeren Ordnung des Reiches; hier verläuft die Trennung zum Föderalismus. Die große Staatsgewalt „kommt nicht aus der Provinz", stets wird sie über diese ausgeübt. Was an notwendiger Zentralgewalt dort bleiben, in den Provinzen einsetzbar sein muss, ergibt sich eben aus dieser Provinzial-Idee, aus ihr folgt auch, in der Umkehr, was an einheitlicher Ordnung erforderlich ist, damit von einem Reich gesprochen werden könne. Und noch ein Letztes bringt eine Staatsrenaissance der Provinzen immer: eine Absage an die Theorie „aller Ordnung von unten", die als solche ein Reich nie gebaut hat, auch nicht das Britische Empire. Von unten das Vertrauen, von oben die Autorität - dieses große Wort des Paternalismus ist in guten Provinzialordnungen immer Wirklichkeit gewesen, allzu viel an staatlicher Gewalt gab es dort nicht, Verwaltungseinheiten allein sind sie nie gewesen; doch was herrschaftlich wirkt in ihnen, das kommt vom Reich und ist zu ihm gewendet.

6. Selbstverwaltung Selbstverwaltung ist eine der guten Staatsformen, welche immer geboren werden - als eine eigenständige Gestaltung von Machtausübung, weithin unabhängig von den politischen Zentralvorstellungen des jeweiligen Regimes. In monarchischen und oligarchischen Ordnungen hat sie sich, als deren Abschwächung wie Ergänzung, ebenso entwickelt wie in demokratischer Staatlichkeit. Auf diese Demokratie nämlich darf Selbstverwaltung nicht verengt werden, sie ist mehr als eine

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Form der Demokratisierung der Gemeinschaft. Primär bedeutet sie ja keine Regierungsform, sondern eine Verwaltungsordnung, die zwar bis in die Regierungsebene hineinreicht, mit dieser vielfach verbunden ist, sie sogar „von unten trägt", und doch ihrem Wesen nach nicht notwendig ein „Gouvernement en miniature" darstellt. Als etwas wie ein selbständiges Staatselement ist denn auch diese Selbstverwaltung immer wiedergekehrt, in deutlichen Staatsrenaissance-Bewegungen. Die große Städtefreiheit des ausgehenden Mittelalters kam in der Staatsromantik des 19. Jahrhunderts zurück, angelsächsische Selbstverwaltung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland übernommen. Stets wird gerade bei der Übernahme von Selbstverwaltungsformen in bewusster Anknüpfung an größere, imperiale Vorbilder gehandelt. Nur sie vermochten ja einst einen Raum zu schaffen, der groß genug war, dass sich Städtefreiheiten in ihm entfalten konnten, das Vorbild aller Selbstverwaltung. Nicht immer wirkte diese Selbstverwaltungs-Renaissance bewusst aus antiken Vorbildern heraus, und doch ist in den römischen Municipal-Verfassungen wohl weit mehr an griechischer Staatsrenaissance lebendig, ist aus ihnen wiederum mehr in die italienischen Städte übernommen worden, als es eine Theorie annehmen mag, die hier in erster Linie angelsächsische Vorbilder zugrunde legt. Rom war ja auch nicht mächtig genug, um sein ganzes Reich in „Regie zu verwalten", es traf auf höher entwickelte Zivilisationen, Griechen, Juden, Ägypter, die nur in eingegrenzter Selbstverwaltung regierbar blieben. Etwas von der alten Bundesgenossen-Idee ist auch in Italien in der römischen späteren Hegemonie stets lebendig geblieben, die Föderalidee wandelte sich zur Municipalisierung, sie hat wohl nicht in Kontinuität, aber in den größeren Bögen der Staatsrenaissance das hohe Mittelalter erreicht. Und schließlich bedeutet Selbstverwaltung ja letztlich nur „die Provinz von innen gesehen", die Provinzialisierung des Reiches wäre formal geblieben, wäre es in jeder anderen imperialen Ordnung auch, fände sie nicht zu den lebendigen Kräften der Selbstverwaltung. Selbstverwaltung ist nicht nur eine notwendige Organisationsform größerer Imperialität, sie trägt auch Grundideen derselben in sich: die Vorstellung der höher entwickelten Einheiten, die noch nicht Staat, aber doch schon seine Grundlage sind; in ihrer Verwaltung, und über ihnen kann dann ja das größere Reich, die Zusammenfassung dieser Vielheiten, gedacht werden; das Abbildhafte des größeren, des „Mutter-Gemeinwesens", das in vielfachen Brechungen die öde Einförmigkeit des großflächenhaften Herrschens auflockert; der Bündnisgedanke schließlich, in dem nicht nur die Selbstverwaltung in ein Föderalsystem hinaufwächst, der vielmehr auch in jeder Autonomie, als Bürger-Bündnis, Grundlage und Legitimation der kleineren Ordnung bedeutet. Vor allem aber vollzieht sich in der Selbstverwaltung eine typische Entwicklung zum Imperialen: Die staatlichen Ordnungen werden größer und breiter, zugleich aber auch leichter für den Bürger, der sie anders nicht ertragen könnte. Vielleicht wird ein Reich nur in Selbstverwaltung überhaupt erträglich. Nicht so sehr Macht-

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abschwächung ist es übrigens - Selbstverwaltung kann ja, gerade als eine bürgernahe, besonders belasten; die Gewalt wandelt sich vielmehr, von der Fremd- in die kollektive Selbstbestimmung, in welcher sich die Herrschaft geradezu der Idee nach aufzulösen scheint. Fasst man dies in die Staatsrenaissance-Grundvorstellungen des organisatorischen Freiheitsschutzes, so bewährt sich dieser hier in besonderem Maße: Die Bürger schützen sich selbst in ihrer Freiheit durch Herrschaft zur gesamten Hand. Der Idee nach bleibt diese Autonomie „Verwaltung", doch in ihren antiken Vorbildern wie in denen des englischen Self-Government wächst sie in den Regierungsbereich hinein, in den Formen einer „gesteigerten Verwaltung als Regierungsgrundlage", und dies gerade ist immer wiedergeboren worden. Hier vollzieht sich eine Steigerung des Verwaltungsbegriffs, Administration wird zur höheren Staatlichkeit - und bleibt doch wesentlich Verwaltung, übergreifender Parteienpolitik der Idee nach fern. Dies ist eine Form der Bewältigung des Parteipolitischen in imperialen Ordnungen, ihre Kanalisierung in die Verwaltung hinein, damit letztlich doch eine Form der Entpolitisierung, welche deshalb auch als solche so leicht in Staatsrenaissance wiederkehren kann und etwas vom überpolitischen Reich mitbringt. Hier wirken Vorstellungen von etwas Ursprünglichem, nicht nur des Regierens, sondern auch des Verwaltens. Immer wird man versucht sein, dieses als „von oben kommend" zu verstehen, gerade in größeren, imperialen Ordnungen - die Wiederkehr der Selbstverwaltungen beweist, dass gerade die intensive Administration, auf welcher die Imperialität aufruht, zugleich „von unten" kommen muss, in ihrer gesteigerten Technizität der höher entwickelten Kompetenzträger bedarf, und so haben sich denn scharfe Zentralisierungen stets vom Reich eher entfernt, das revolutionäre Frankreich ist ein Beispiel. Selbstverwaltung bringt in die größere Ordnung die qualitative Vielfalt, welche jene erst ermöglicht, sie nicht zur riesigen Ballung gleichartiger Gewalt werden lässt, sie in der Unterschiedlichkeit der Kompetenzträger und ihrer Verfahren weniger fühlbar macht. Grundgedanken des Imperialen kommen in alledem immer wieder zurück, von einem Reich, das in Vielfalt heterogene Kräfte hervorbringt, die dann nur, zu einigen größeren, gemeinsamen Interessen, auch an der Spitze verwaltet werden. Eine originäre Grundstimmung bleibt in dieser Selbstverwaltung immer, denn sie beruht auf den „eigenen Angelegenheiten", die zwar von oben her abgegrenzt, der Idee nach aber niemals zugewiesen werden können. Und in ihnen liegt auch eine Selbstbeschränkung der Verwaltung auf allen Ebenen: sie ist eben immer eine Administration bestimmter Aufgaben, nicht ein Anspruch auf Totalordnung des Bürgerlebens. Die große Zentralverwaltung hat stets einen Zug zum Moloch der Totalordnung, im Begriff der Selbstverwaltung liegen bereits die einzelnen, abgegrenzten Aufgaben, zu deren Bewältigung allein sich die Bürger zusammenfinden, und nur dazu sind sie auch in der Lage, anders als eine stets virtuell omnipotente Zentralverwaltung. Wo immer autonome Verwaltung Wirklichkeit ist,

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kann der Gedanke des punktuellen Verwaltens noch nicht verloren sein - wieder eine große Staatsrenaissance-Form organisatorischer Freiheitssicherung. Selbstverwaltung hat schließlich, in Staatsrenaissance wiedergekehrt, immer bedeutet, dass die öffentlichen Interessen auch von unten entwickelt, nicht nur „von einer Regierung octroyiert" werden. So ist dies auch stets die Staatsrenaissance eines großen Liberalismus gewesen, im 15. wie im 19. Jahrhundert, Anerkennung des „Privaten im Öffentlichen", eines öffentlichen Interesses aus gebündelten privaten Interessen. Darin bereits, aus dem Wesen der Selbstverwaltung heraus und unabhängig von deren wahldemokratischer Ausgestaltung, ist die Autonomie ein Übergang vom Privaten ins Öffentliche geworden, nicht die Vermischung dieser Bereiche, als welche sie heute Radikaldemokratismus oft missversteht. Hier vollziehen sich immer wieder die notwendigen Erweiterungen des Begriffes des Öffentlichen, welche privatem Egoismus die Verwaltung und den Staat nicht überlassen; zugleich aber geschieht dies nicht in der Gewaltsamkeit der zentralen Anordnung, es soll wie von selbst von unten wachsen. Ein totalitäres öffentliches Interesse ist in solcher Ordnung nicht vorstellbar, nicht nötig, weil ihr Begriff des intérêt public elastisch und dynamisch genug ist, alle Bedürfnisse einer wie immer verstandenen Basis aufzufangen, sie in Verwaltung, nicht in Politik, zu transformieren. Deshalb ist diese Selbstverwaltung die sicherste Kraft gegen die Versuchungen diktatorialer Imperialität. Staatlichkeit erreicht dort die Dimension des Imperialen wirklich, wo sie groß genug ist, nicht nur bestehende Selbstverwaltungskräfte einzubauen, sondern neue vorzubringen, wo sie bereit bleibt, Selbstverwaltung nicht nur zu akzeptieren, sondern zu organisieren. Dann wird das Empire liberal Wirklichkeit, weithin kann die Regierung ihre Macht der Verwaltung überlassen, selbst zu Verwaltung werden. Nirgends vielleicht ist so deutlich wie in der Selbstverwaltungstheorie erkannt worden, was Staatsorganisation für den Bürger bedeutet und seine Freiheit - dass ihm hier Abbilder des Imperialen gezeigt werden.

7. Ergebnis: Verwaltung als Reichsgewalt Dieses Kapitel über Organisationsformen der Staatlichkeit, welche immer wiedergeboren werden, zeigt eines vor allem: die große klassische Staatsidee des Herrschens als Verwaltung, in all den entideologisierten, distanzierten, technisierten Formen, welche man eben Administration zu nennen pflegt. Deshalb gerade ist dies ja auch der Renaissance mächtig, in welcher hier schon größere Teile von Staatsorganisationen zurückkehren. Die neuere Erkenntnis der Staatslehre von der Verwaltung nicht als einem Staatlichkeits-Rest nach Abzug der anderen Gewalten, sondern als einer eigenständigen Staatsgewalt, muss aus der Sicht der Staatsrenaissance problematisiert werden. In konkreten Verwaltungsstrukturen kommt sie wieder, nicht in Staats-Philosophis-

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men. Verschüttet wurde dies durch ein Gewaltenteilungsschema, welches im 18. Jahrhundert den sich schon abschwächenden Feudalismus völlig überwinden sollte und sich mit ihm im Grunde geistig ebenfalls überwunden hat. In ihm konnte die alte imperiale Verwaltung ebenso wenig ihren Platz finden, wie dort das „Regieren" wirklich erfasst wurde. Ein Denken in Staatsrenaissance verlangt vielleicht eines Tages eine neue Staatslehre, eine Staats-Verwaltungslehre, und diese Bedürfnisse werden, die neuere Verwaltungslehre zeigt es, schon jetzt immer deutlicher erkannt. Nur dürfen sie nicht in jene engeren Räume eingesperrt werden, in welche das Verwaltungsrecht der Gewaltenteilung die Administration gedrängt hat. Verwaltungslehre als Staatsgewaltslehre ist eine Aufgabe, ohne welche die größeren Ordnungen der hochtechnisierten Staatlichkeit nicht bewältigt werden können. Theorie und Praxis der technisierten Verwaltungsgewalten in ihrer Zusammenordnung zur Staatsgewalt - dies ist mehr als eine Vision, heute schon eine Notwendigkeit. Die festen Denkschemata der Staatsformenlehre des Aristoteles mögen hier noch auf einige Zeit entgegenstehen, er hat das Regieren systematisiert, nicht das Verwalten, er kannte ja noch nicht die Perfektion des römischen Verwaltungsstaates, daher vermochte er auch Imperialität nicht zu beschreiben. Denn dies vor allem ist eine Staatsrenaissance-Erkenntnis: Verwaltung ist nicht nur eine Staatsgewalt, Verwaltung ist die Reichs-Gewalt.

III. Handlungsformen Nicht nur Figuren von Kompetenzträgern kehren wieder oder größere Organisationsformen ihrer Zusammenordnung; als „gute Staatsformen" lassen sich in Staatsrenaissance auch, bei vertiefender Betrachtung, da und dort einzelne Handlungsformen erkennen, in denen größere Staatlichkeit sich befestigen konnte, die anderen Ordnungen zum Vermächtnis werden. Hier muss die Betrachtung weithin gängiges Verfassungsrecht verlassen, welches so vieles herkömmlich in das Verwaltungsrecht abdrängt, ohne zu erkennen, dass sich darin entscheidende Entwicklungen eines jedenfalls materiellen Verfassungsrechts zeigen. Das positive Staatsrecht von heute „kennt" eben „Verwaltung nicht als solche", es will sie nur beschränken, deshalb können ihm ihre Handlungsformen nicht zum Regierungs-Problem werden. Und doch zeigt sie gerade ein Staatsrenaissance-Denken als wesentliche Elemente einer „guten" Staatsform.

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1. Staatsrenaissance des „vertraglichen Herrschens" a) „Privatrecht

im öffentlichen

Recht"

Die heutige Dogmatik sieht das Staatsrecht als Ordnung des Befehls, als Zentrum des vom Einsatz einseitiger Hoheitsgewalt geprägten öffentlichen Rechts. Die Französische Revolution hat in der scharfen Trennung von öffentlichem und privatem Recht diese vielleicht doch byzantinische Vorstellung in Kontinentaleuropa und weit darüber hinaus durchgesetzt, nicht als Ausdruck einer Staatsrenaissance, sondern jener übersteigerten Staatsgeometrie, welche sich bereits in der Departement· Verfassung entscheidend von früherer Imperialität entfernt hatte. Hier wurden öffentlich-rechtliche Kategorien einheitlich-flächendeckender Machtausübung von oben entwickelt, das Privatrecht, das Recht par excellence der alten Zeit und der großen Renaissance, sollte aus dem Staatsrecht vertrieben werden. Diese wahrhaft grandiose Leistung juristischer Kategorisierung, welche den Rechtsstaat grundgelegt hat, war aber wohl, die Sicht der Staatsrenaissancen zeigt es, im Letzten eine Fehlentwicklung, welche ja auch vom angelsächsischen Recht dem Grunde nach nicht mitvollzogen worden ist. Die Einheit der Rechtsordnung, das unmittelbare Wirken des Privatrechts im öffentlichen Bereich, ist Motor und Inhalt der großen Staatsrenaissancen der Vergangenheit gewesen, und es kommt auch heute zurück. Über die Renaissance in den Absolutismus hinein war ja viel mehr im Staate privatrechtlich gestaltet, denkt man nur an die Fiskustheorie, welche bis ins 19. Jahrhundert weithin beherrschend geblieben ist. Enteignung als Zwangskauf, Genehmigung als Vertrag, Beamtlichkeit als Dienstvertrag, Entschädigung als privatrechtliche Haftung - alle diese Gedanken sind ja auch bis in die heutige Zeit hinein noch lebendig, hier wird privatrechtliches Denken in der Gegenwart eher wieder verstärkt, die öffentlich-rechtliche Verwaltungsaktlichkeit zurückgedrängt. In einer Zeit der Technik ist eben nicht der Befehl gefordert, sondern ausgleichendes Ordnen. Gerade die amerikanische Imperialität der Technik konnte auf dieses „allgemeine Recht" der privaten Bezüge nicht verzichten, und nicht nur deshalb, weil sich hier vielleicht mehr Freiheitlichkeit verwirklichen lässt. In diesen Handlungsformen des „Privatrechts im öffentlichen Recht" kommen nicht nur Freiheiten zurück, sondern gute Formen flexiblen technischen Verwaltens.

b) Die Vertragsidee Der Vertrag vor allem ist eine Grundform imperialen Handelns, nicht nur eines autonomen Ausgleichs zwischen den Bürgern. Die Staatstheorie hat dies, auch in neuester Zeit, immer wieder erkannt, die Theorie vom Herrschaftsvertrag zeigt es. Er ist ein verfassungsrechtlicher Inhalt von Staatsrenaissancen, in der S.P.Q.R.Formel liegt die fundamentale Staatsvertraglichkeit des römischen Reichs beschlossen, im Herrschaftsvertrag zwischen König und Volk kehrt sie im Mittelalter

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wieder, im Contrat social dient sie gar der Grundlegung imperialer Volkssouveränität. Große nationale Wahlen erscheinen als immer wiederkehrender Abschluss dieses Sozialvertrags, Verfassunggebungen erst recht, und im demokratischen plébiscite de tous les jours liegt etwas von permanenter Herrschaftsvertraglichkeit nicht zu vergessen die Tarifvertraglichkeit, als die ins Öffentliche hinein wirkende Handlungsform mächtiger außerstaatlicher Staatsgewalten. Die Genossenschaftlichkeit, für die deutsche Entwicklung von Gierke klassisch beschrieben, bedeutet im Grunde nur die vertragliche Ausgestaltung von Herrschaftsbeziehungen, nicht ein „privatrechtliches Nebeneinander der Staatsbürger als Staatszustand"; die große Vertragsidee beherrscht auch hier das Staats-Gesellschaftsrecht. Doch all diese bedeutende Dogmatik hat eine Gefahr nicht zu bannen vermocht: die Abwanderung der Vertragsidee in das Verfassungsrecht. Darauf aber waren Staatsrenaissancen nie beschränkt, stets haben sie gerade in dieser Privatvertraglichkeit im „öffentlichen Recht" die ganze Staatlichkeit erfasst, auch und vor allem ihre Verwaltung. Doch die Lehre vom Herrschaftsvertrag als dem großen Verwaltungsvertrag muss erst noch geschrieben werden, ist diese letztere Kategorie doch heute besetzt durch konkrete und sehr eng eingegrenzte Handlungsformen nachgeordneter Administration; im Grunde wird sie, trotz aller Ausweitungsversuche im neueren Verwaltungsverfahrensrecht, noch immer bestimmt durch den Vergleich mit verwaltungsaktlichem Handeln, als dessen Ersatz, ja Unterfall sie in den meisten Fällen erscheint, so wie es der französischen Dogmatik vom Contrat administratif im Grunde entspricht. Doch unabhängig von politischen Entwicklungen kommt die große, imperiale Vertragskategorie des ausgleichenden Herrschens auch in das öffentliche Recht immer stärker zurück, und hier sogar meist in bewusster Anknüpfung an Herrschaftsvertraglichkeit, welche in die Verwaltung hinein in Staatsrenaissance erweitert werden soll - die demokratischen Vorstellungen dienen als Motor. Das ganze neuere Verwaltungsverfahrensrecht ist eine Hinwendung zu gewissen Vertragsvorstellungen: der Bürger soll angehört werden und einbezogen, darin liegt der Anfang einer größeren verwaltungsvertraglichen Beziehung. Die Gesetze verlangen das Gespräch mit ihm, bevor Gewalt gegen ihn eingesetzt wird, sie begünstigen in vielen Formen das Arrangement, und wie oft sind nicht die verwaltungsaktlichen Befehle nur mehr dessen Ratifikation. Wenn Vertrag vor allem Ausgleich bedeutet, so wird dies durch die unzähligen gesetzlichen Abwägungsgebote einer Verwaltung selbst zur Pflicht gemacht, welche insgesamt unter dem höchsten Verhältnismäßigkeits- und Abwägungsgebot der Verfassung steht; was sich hier vollzieht, ist im Grunde nichts anderes als das Ablaufen des Vertragsmechanismus innerhalb der Verwaltung selbst, welche zugleich als Gegner und als Anwalt des Bürgers funktioniert. Und wenn dieser selbst in steigendem Maße in solches Verfahren einbezogen wird, so nähert sich dieses erst recht der klassischen Vertraglichkeit. 33 Leisner

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Vertragsformen erfassen schließlich das Verwaltungshandeln auch noch auf anderer Ebene: Der Herrschaftsvertrag erreicht die Stufe des Staatsvertrags zwischen den föderalen Gebilden, von dort senkt er sich noch tiefer herab auf das Niveau des Verwaltungsvertrags zwischen autonomen Trägern, und von dort aus durchzieht er, in offenen Vertragsformen oder ohne sie, immer mehr die gesamte Verwaltung, in unzähligen Konsultationen, Zustimmungen, Abstimmungen der immer komplexeren Verwaltungstätigkeit. Die heutige Verwaltung handelt bereits weitestgehend vertragsförmig ohne Vertragsform. Darin kommt in einer großen, unbewussten Staatsrenaissance etwas von imperialer Machttechnik wieder herauf, welche im römischen Recht und seinen späteren Renaissance-Nachfolgern bereits vielfach vorgedacht war: die Ordnung als Ausgleich, der staatliche Befehl nur als eine Form des letzten Zwangs-Vertragsabschlusses. So kann das öffentliche Recht zum Reichtum des Privatrechts zurückfinden, aus dem heraus es zum Befehl verschärft worden ist, die Flexibilität zivilrechtlicher Ausgleichsformen lässt sich auch in der Verwaltung wieder entdecken - dies alles aus Notwendigkeiten imperialer Machttechnik heraus, nicht nur mit Blick auf die Freiheit des Bürgers. In dieser Renaissance der öffentlich-rechtlichen Vertraglichkeit werden die Digesten endlich wieder zum vollen Reichsrecht, etwas wie ein Abglanz der großen Renaissance des Privatrechts erscheint erneut. Und darin kehrt nicht zuletzt auch die große Freiheit des privaten Willens zurück. Nicht nur, dass der Bürger in dieser Libertät belassen wird, die Staatsgewalt selbst findet zu ihr, sie handelt aus der freiheitlichen Grundstimmung ihrer Bürger heraus. Reich als Befehl wäre Gewalt - die Imperialität der Verträge bedeutet das Reich der Freiheit.

2. Der Gesetzesstaat - eine Staatsrenaissance? a) Gesetz als Grundlage allen Herrschens? Der Staat der Gesetze als der Grundlage jeglicher Gewaltausübung ist heute die fast unangefochtene, immer noch weiter verfeinerte Grundvorstellung der rechtsstaatlichen Dogmatik, hier begegnen sich, in einer an sich imperialen Verbindung, Staats- und Verwaltungsrecht. Und doch werden die Zweifel an dieser Errungenschaft der letzten Jahrhunderte immer stärker - mit Recht, wirken doch hier, dies zeigte sich schon mehrmals, nicht so sehr Staatsrenaissancen, als vielmehr Gegenkräfte wider einen vielleicht schon weithin überwundenen Machtfeudalismus. Eine Renaissance des Gesetzesbegriffs im Sinne der heutigen Normensouveränität hat es bisher nie gegeben, jedenfalls nicht als die einer durchgehenden Legalität, welche den ganzen Staat auf die Tafeln gründen wollte. Der Verfassungsbegriff als solcher ist weit älter, die wenigen Bestimmungen als Grundlage des Zusammenlebens folgen großen Vorbildern der X I I Tafeln, des solonischen und des mosaischen Gesetzes - aber immer in der eigentümlichen Form der Konzentration auf

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das, was heute nicht öffentliches, sondern vor allem privates Recht bedeuten würde. Regelung des Interessenausgleichs der Bürger - das ist die große Gesetzesidee, so ist sie gekommen und vergangen; das Gesetz als Organisationsnorm der Staatlichkeit, als ihre Rechtfertigung in allen Einzelheiten, das Recht als allgegenwärtige Norm - das ist ein gänzlich anderer Begriff, der der Antike so wenig geläufig war wie ihren großen Renaissancen. Und schließlich hat Napoleon mit dem code civil vor allem jene Gesetzesvorstellung in Staatsrenaissance zurückkommen lassen, in deren Namen die Bürger zusammenleben sollten, er hat seine Verwaltung nicht an eine normative Legalität im heutigen Sinne gebunden. Einem Denken in Staatsrenaissancen und Imperialität entspricht eben dies: das Gesetz als eine staatliche Handlungsform unter vielen, als eine besonders bedeutsame an der Spitze des Staates, und, der Verwaltung gegenüber, das Gesetz als Schranke, nicht als Grundlage ihres Tätigwerdens. Das Gesetz ist immer etwas gewesen, in den vielen Staatsrenaissancen, wie eine Verfassung im Kleinen, eine Selbstbeschränkung der Staatlichkeit in deren eigenem Verfahren, zur Garantie auch der Bürgerfreiheit, in diesem Sinne also eine Form organisatorischer Freiheitssicherung. Eines dagegen hat das Gesetz in diesen Wiedergeburten kaum je bedeutet: die eigentliche oder gar die einzige staatliche Handlungsform, ein Instrument staatlicher Aktivität par excellence. Manche Wege führen sicher vom früheren Gesetz als besonders vornehmer Form der Staatsorganisation und organisatorischer Freiheitssicherung bis zum heutigen Gesetz als Grundlage allen Staatshandelns, und doch ist hier der Übergang in eine andere Kategorie vollzogen worden. „Kein Staat außerhalb der Gesetze", das gerade haben die großen Staatsrenaissancen nicht gelehrt, welche immer auch etwas von der gesetzesfreien Verwaltung, von der extra-legalen imperialen Hoheit zurückbringen wollten.

b) Gesetzestotalitarismus Das Gesetz ist, von seiner in Renaissance wiederkehrenden Grundidee her, die unverbrüchliche, heilige volonté générale, insoweit hat Rousseau noch in antiken Kategorien gedacht. Doch in seinem Denken ist der Geist der Gesetze der Versuchung erlegen, nun jeden Staatswillen über die Gesetzesform auf diese höchste Ebene zu bringen, und sie auf alle Befehle hin zu verbreitern. So ist es, flächendeckend wie in der Intensität, zu einem Gesetzestotalitarismus gekommen, welcher diese hohe Form, wie sie die Staatsrenaissancen zeigen, überall hin getragen hat, vermeintlich als Freiheitssicherung des Bürgers, in Wahrheit nur zu oft als dessen legislative Unterdrückung. Das alte Gesetz ist in die Verfassung abgewandert, und dort ist es, in wahrer Gesetzes-Renaissance, durch die Verfassungsgerichtsbarkeit wieder entdeckt und den vielen Gesetzen entgegengesetzt worden, die nun nichts anderes mehr sind als die früheren Befehle der imperialen Verwaltungen, unter der pervertierten Decke 33*

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des Gesetzesnamens. Dieses „Gesetz als Verwaltungsform" ist dort noch unschädlich, wo es in Verordnungen auftritt, wenn die Verwaltung es sich also selbst gibt, das Gesetz nicht mehr darstellt als eine Form autonomen Verwaltungsverfahrens. Die immer stärkere Renaissance der Verordnungsgewalt, gerade in den kontinentaleuropäischen Staaten der durchgehenden Legalität, bringt in Staatsrenaissance die alte, geordnete Verwaltungsgewalt zurück und ist als solche ein rechtstechnischer, auch ein freiheitsbewahrender Fortschritt. Wo aber nun alles auf das höhere, das parlamentsbeschlossene Gesetz zurückgeführt werden soll, wie weithin heute in Deutschland, da werden die Grenzen zu einer Fiktion überschritten, welche dem Gesetzgeber zuschreibt, was nicht er bedacht hat, sondern nur die Verwaltung, oder was er allenfalls zerdenken konnte, verpolitisieren. Renaissanceferne Irrwege schließlich gehen Staatsdogmatik und Verfassungsgerichtsbarkeit dort, wo sie sich vor einer Hoheit des Gesetzgebers verbeugen wollen, die nicht ihm als Produktionsgewalt technischen Staatshandelns zukommt, sondern nur dem alten Gesetzesbegriff der Staatsrenaissance, heute der Verfassung. Viel renaissanceferne Staatsromantik liegt in diesem Respekt vor der parlamentarischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die jedoch im Grunde nur den Bürger um seinen Freiheitsschutz bringt - in doppelter Hinsicht: Weder findet er Sicherung gegen dieses gesetzgeberische Ermessen vor den Gerichten, noch in der technischen Kompetenz einer Verwaltung, welche sich sachgerecht selbst kontrollieren könnte, ausgeliefert bleibt er den Gesetzen, damit so oft nur einer parteipolitischen Verdünnung des sonst sachbezogenen Willens der Administration. Es naht die Zeit - die immer stärkere Kritik an der Übersteigerung der Legalität zeigt es - in welcher Gesetzesmäßigkeit der Verwaltung zur Gefahr für den Bürger wird und für eine Verwaltung, welche sich darin vom politischen Totalitarismus demokratischer Machtbedürfnisse erfasst sieht. Das Gesetz wird erst dann wieder zu seinen eigentlichen Staatsrenaissance-Inhalten zurückfinden, wenn sich Wandlungen im Demokratiebegriff vollzogen haben, wenn der Absolutismus der Volkssouveränität der Vergangenheit angehören wird. c) Gesetz - als Verfassung Das Gesetz ist in den großen Staatsrenaissancen nie als eine unter vielen staatlichen Handlungsformen verstanden worden, aber auch nicht als die Grundlage von allem, was im Staat geschieht. Stets war dies die besonders hoheitsvolle Form des Ordnens, ein Abbild des imperialen Ausgleichs an der Staatsspitze, in diesem Sinne liegt etwas von Normativität im Gedanken des Reiches: Ohne ein oberstes Gesetz, eine „Verfassung", ist es nicht vorstellbar. Doch die Inhalte sind hier entscheidend, nicht die äußeren Erscheinungsformen, selbst in einer mächtigen Gestalt, in einer bleibenden Verwaltungsstruktur kann etwas wie das Grundgesetz eines Imperiums gefunden werden. Wenn aber schon geschriebene Normen sein sollen, so ist die Sparsamkeit der gesetzlichen Form entscheidend, sie kann immer nur punktuell ordnen, die wichtigsten Punkte erfassen, gerade das ist nicht ihr Ziel, was Legali-

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täts-Systematik aus den Gesetzen machen will: die durchgehende, lückenlose Ordnung. In den modernen Verfassungen ist die Heiligkeit der alten Lex zurückgekehrt, sie hat nicht endgültig verdrängt werden können von der Vorstellung der „gesetzesförmigen Machttechnik", welcher alle Staatlichkeit untergeordnet, im Grunde ausgeliefert werden soll. Die Orientierungen der Staatsrenaissance verlangen heute die Befestigung dieses normativen Verfassungspoles, ohne die ständige Angst vor „zementierter Staatlichkeit". Die „völlig offene Verfassung" wäre ein Irrweg, der sich von dem entfernt, was immer wieder in der Heiligkeit der wenigen Gesetze wiedergekehrt ist; ein solches Glaubensbekenntnis braucht jeder Staat. Doch auf der Ebene darunter sollte die Gesetzesform nicht unbesehen ausgeweitet, ihre Inhalte sollten wieder mehr den einzelnen Kompetenzträgern zugeordnet, als deren geordnetes Verfahren erkannt werden; und auf diesem richtigen Weg ist die heutige Staatlichkeit, etwa in der Organisation ihrer Planungsgewalten. Daneben muss den Vertretern der Wahldemokratie ein eigener Raum der Gesetzgebung bleiben, welcher in der römischen Staatlichkeit noch nicht erforderlich war, doch er sollte als begrenzte Zuständigkeit erfasst werden, nicht als grenzenloses Recht, sich beliebig Entscheidungsgewalt anzueignen. Die Verfassung der V. Französischen Republik ist darin Ausdruck imperialen Denkens, dass Verfassung, Gesetzgebung und Verordnung in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden, damit Regierung und Verwaltung, als die alten imperialen Gewalten Frankreichs, wieder in ihre Rechte gesetzt seien. Gesetz wird in gegenwärtiger Zeit stets mehr bedeuten als die X I I römischen Tafeln, doch dass es nur eine Form des staatlichen Handelns sei, nicht der ganze Staat - das ist eine Wegweisung der guten, wiederkehrenden Staatsformen, zu einer gemäßigten Demokratie, die darin allein imperial werden kann.

3. Geordnete „Freiheit staatlichen Handelns" a) Generalklauseln des Herrschens Der Rückzug der Gesetze aus den Grabenkämpfen täglichen Verwaltens macht den Weg frei für die Erkenntnis einer Staatsrenaissance, welche sich immer wieder vollzogen hat, gerade heute wieder kommt: Die Ausübung der Staatsgewalt vollzieht sich in generalklauselartig umschriebenen Handlungsräumen. Die Generalklausel ist keine Ausgangsform des Gesetzesrechts, eher dessen spätere, systematisierende Lückenfüllung. Und doch hat es im öffentlichen Recht stets etwas gegeben wie geschriebene und ungeschriebene Generalklauseln des Herrschens, als Ausdruck einer generell geordneten und doch freien Staatsgewalt. Die großen allgemeinen Befugniskategorien der Souveränität, der staatszentralen Privilegien, des Domaine réservé, sind in Staatsrenaissance immer wiedergekehrt, nicht nur als Begründung der Staatsgewalt, sondern auch als deren, wenn auch weite, Kanalisie-

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rung in herrscherliche Generalklauseln; und rasch sind ja dann auch aus der einheitlichen Souveränität die Souveränitätsrechte erwachsen, nach heutigem Verständnis Generalklauseln des Herrschens. Die Entwicklung des intérêt public im französischen Verwaltungsrecht des 19. Jahrhunderts, die Übernahme dieser im Grunde kaiserlich-römischrechtlichen Vorstellungen in die Verwaltungsrechte des Kontinents, hat ein Gegenstück zur privatrechtlichen bona fides geschaffen, wie diese hat sie aus sich spezialisierende Einzelausprägungen des Ordnens der Herrschaft hervorgebracht. Doch auch diesen engeren Generalklauseln des Herrschens musste stets etwas von der Virtualität ihres Ausgangspunktes bleiben, ob dies nun in den polizeilichen Generalklauseln Wirklichkeit wurde, einer immer wiederkehrenden, geradezu notwendig erscheinenden Form des Herrschens, oder in Generalklauseln verwaltungsrechtlicher Einzelbereiche, die sich gerade um solche Allgemeinbestimmungen entwickelten. Das heutige Planungsrecht ist in vielem nur eine Kombination von Generalklauseln, welche gerade in einer immer mehr typisierten Zusammenordnung die Freiheit des staatlichen Handelns bewahren und doch ihr den Rahmen setzen. Staatsrenaissancen lehren, dass Generalklauseln des Herrschens möglich sind, und lägen sie auch nur in gewissen gesetzesfreien Räumen, in denen sich die Verwaltung zu entfalten vermag. Ihre Notwendigkeit darüber hinaus zeigt sich darin, dass sie immer wiederkehren, in Einzelnormierungen nicht völlig aufgelöst werden können. Darin liegt nicht stets freiheitsbedrohende Staatswucherung, es werden Räume geschaffen, in denen die Verwaltung sachangepasst Ordnungen ihrer eigenen Kompetenzausübung entwickeln kann. Die verbreitete Angst vor den unbestimmten Rechtsbegriffen - denn in ihnen vor allem liegen diese Generalklauseln des Herrschens - sollte ihre tiefere Bedeutung nicht vergessen lassen: Die Ordnungen können weitergedacht werden, die Öffnung zur Wirklichkeit ist gegeben, die Staatsgewalt findet zur Fallgesetzlichkeit und Fallunterworfenheit des Zivilrichters zurück, der staatliche Befehl als Ausgleich kann in ähnlichen Formen ergehen wie im Gericht zwischen Bürgern, erscheint doch das Zivilrecht, im Vergleich zu dem überspezialisierten Verwaltungsrecht, heute eher als ein Geflecht flexibler Generalklauseln. In den Generalklauseln des Herrschens finden die Ausgleichskategorien für alle staatlichen Befehle ihren Raum: Hier herrscht nicht unbedingter Vollzugszwang, die Verwaltung gewinnt das Freiheitsgesetz ihres Handelns zurück. In den Beurteilungsspielräumen der unbestimmten Rechtsbegriffe wird ihr die Einbeziehung und Abwägung auch privater Interessen möglich gemacht, hier hat sie immer wieder jene Verwaltungspraxis entwickeln können, deren staatsordnende Kategorie stets Staatsrenaissancen virtuell begleitet hat, sind in diesen doch nicht nur Kompetenzträger wiedergekommen, sondern zugleich deren Möglichkeiten, sich in Staatsund Verwaltungspraxis selbst zu ordnen. Diese Selbstnormativierung der Verwaltung, die Übertragung der Praecedens-Vorstellung auf die gesamte Staatlichkeit, die Entwicklung einer „kleinen Tradition eines jeden Staatsorgans" - all dies sind

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Grundgedanken, ohne welche die Rückkehr früherer Kompetenzvorstellungen weithin wirkungslos geblieben wäre. Es kommen aber diese Generalklauseln des Herrschens meist nur rechtsformal zurück, inhaltlich können sie kaum weitergehend bestimmt sein. Was Verwaltungen, Staatsgewalten überhaupt, im Einzelnen zu leisten, wie sie zu handeln haben, kann nicht in Staatsrenaissance zurückkehren, wohl aber die Grundidee, dass sie sich im Rahmen herrscherlicher Generalklauseln bewegen, und diese sind am „besten", wenn sie einzelne Kompetenzkerne abgrenzen und zusammenordnen als „Generalklauseln des staatlichen Handelns nach der jeweiligen Kompetenz". Etwas von der großen Beurteilungsmacht des Richters muss überall im Staat erhalten bleiben; in der Rückkehr der öffentlich-rechtlichen Generalklauseln, die sich gerade heute wieder, über alle Gesetzesspezialisierung hinaus, vollzieht, bewährt sich die alte, ebenfalls stets in Staatsrenaissance zurückkehrende Einheitsidee der Staatsgewaltträger, über ihre stets in gewissem Sinne richterliche Urteilskompetenz. Wer Generalklausel sagt, sucht den Richter; das imperiale Recht findet ihn überall im Staat.

b) Ermessen - die Majestät der freien Entscheidung Staatsrenaissance hat stets zuallererst Kompetenzträger zurückgebracht, Organe und Zuständigkeiten, nicht ihre gesetzlichen Regelungen im Einzelnen. Darin liegt nun ein weiteres beschlossen, das gerade heute für die Staatlichkeit der voll normativierten Legalität von großer Bedeutung ist: Mit jeder Institution kommt in Staatsrenaissance auch ein gewisses letztes Vertrauen zu deren „guter" Machtausübung zurück, schlägt sich nieder im Ermessen, dessen Freiheit sie mitbringt. Dies ist kein Zeichen unterentwickelter Staatlichkeit, es kommt aus der Natur der Kompetenz, kann letztlich durch keinen Normativismus ausgetrieben werden, es verdient sorgfältige Entwicklung, nicht grundsätzlichen Argwohn. Historisches Missverständnis sieht schon nahezu in jedem weiteren Verwaltungsermessen eine gefährliche Rückkehr römisch-imperialen Beliebens, einen neuen Einbruch der summa potestas, in welcher die Kaiseridee im Absolutismus wiedergekommen ist. Die große Vielfalt der imperialen römischen Kompetenzordnungen schloss wohl schon damals das grenzenlose Belieben aus, Diskretion bestand nur im Rahmen des ämtermäßig Vorgegebenen, und freies Ermessen ist erst recht nicht eine Kategorie des Militärstaates. Wichtig aber ist stets gewesen, dass mit Staatsrenaissancen auch Ermessensräume immer wieder zurückgekehrt sind, dass es hier also zu „Souveränität in Stößen" gekommen ist, bis in die Verwaltungen hinein, Napoleons Reformen sind ein Beispiel. Diese Entwicklungen müssen aufgenommen und zu Lehren werden, denn sie können sich wiederholen.

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Die heutige Dogmatik der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ist dafür wenig gerüstet. Das Ermessen ist und bleibt ein weißer Fleck auf der Landkarte der Legalität, hic sunt leones. Die Staatsformenlehre behandelt das Ermessen nicht, der Theorie der Gewaltenteilung ist es eher ein Ärgernis, seine Erfassung ist schon im Verfassungsrecht, in der Theorie vom „Bereich der Regierung", nur unvollständig gelungen. Je mehr die Staatslehre, aus einem Denken in Staatsrenaissancen heraus, wieder zu einzelnen Kompetenzträgern und ihrem Wesen findet, desto eher wird sie auch das Ermessen wiederentdecken und bewältigen können. Die Grundlinien sind in der Wiederkehr der „guten Staatsformen" vorgezeichnet: Absolutes Ermessen kann es nie geben, es sieht sich stets in Amtsschranken verwiesen. Im Zweifel aber, und solange es diese formalisierten Grenzen nicht überschreitet, muss es weit verstanden werden, die eigentliche imperiale Gewalt ist die, welche vor den Schranken ihres Ermessens Halt macht, es nie ganz ausschöpft. Das Ermessen muss stets geprägt bleiben von den Kernvorstellungen der jeweiligen Zuständigkeit, es kann daher dem betreffenden Organ nur sehr in Grenzen materiell vorgegeben werden; Ermessen bleibt letztlich eine formale Kategorie, etwas Machttechnisches, nicht Macht-Teleologisches. Konkret bedeutet dies, dass es stets Ziel renaissanceträchtiger Staatsgestaltung war, die Organisation zu verbessern, sie nicht mit Richtlinien zu überfrachten, und dass stets der Primat der äußeren, nicht der inneren Ermessensschranken zu achten ist, diese Letzteren entwickelt im Grunde das Organ sich selbst. Darin liegt sicher etwas wie ein Zug zum freien Ermessen, denn in ihm tritt auch heute noch und immer wieder etwas von der Majestät der größeren Gewalt hervor. Institutionen kehren zurück - zunächst einmal sind sie in einem größeren Raum frei. In diesem freien Ermessen ist Verwaltung, auf all ihren Stufen, etwas wie eine Regierung, repräsentiert sie das Imperiale auf allen Ebenen. In dieser befreiten Zuständigkeit gewinnen die verschiedenen Gewalten des Staates auch etwas von der großen Freiheit des Ausgleichs zurück zwischen dem Bürger und seinem Staat und unter den Bürgern, hier wird ihnen nicht in dauernden Wertungen vorgeschrieben, was niemand dem Zivilrichter befehlen dürfte: wie im Einzelnen zu gewichten und zu werten sei. Gesetzliche Normierung von Verwaltungszielen, Festlegung also von inneren Ermessensschranken - das mag freiheitlich gedacht sein, praktisch bedeutet es fast immer einen Freiheitsverlust, denn die gesetzgeberische Wertung wendet sich doch, in aller Regel, gegen den Bürger. Die freiheitsschützende Macht des freien Ermessens ist immer wieder in Staatsrenaissancen zurückgekehrt, sie muss auch heute neu entdeckt werden, soll sich eine solche vollziehen. Wiedergeborene „gute Staatsformen" haben Disziplinierung des Staates in seiner Organisation gebracht, damit auch feste Grenzen des Ermessens. Nicht an den Handlungsformen sollte, im Namen der Freiheit, beschränkend angesetzt werden, sondern bei der Zusammenordnung der Kompetenzen. Renaissancestaatliche Handlungsformen - das bedeutet vor allem die Wiederkehr der Freiheit des staatlichen Handelns.

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IV. Wiedergeburt der Freiheit 1. Menschenrechte als totale Staatsrenaissance Freiheit ist ein mächtiger Inhalt von Staatsrenaissancen, vielleicht deren größter Begriff. Die Libertät der römischen Republik ist immer wiedergeboren worden, in den Städten des Mittelalters, in der Renaissancezeit, im Klassizismus der französischen Revolution. Freiheit als Menschenrecht, die zentrale Proklamation der Neuzeit, verkündet die ewige Wiederkehr eines Staatsideals, das unwandelbar über den Bürgern steht, von ihnen zuzeiten verloren werden kann, dann jedoch immer wieder zurückkehrt, als sei es nie vergangen. Die Menschenrechtsidee bedeutet das Postulat der totalen Staatsrenaissance, diese Göttin soll unversehrt wiederkehren an Haupt und Gliedern. Was mit jedem Menschen immer wieder neu und ganz geboren wird, erlebt eine tägliche, vollständige Wiedergeburt, in der Totalität der Idee wie in der Fassbarkeit ihrer Träger. Grundvorstellung des Staatsrechts der neuesten Zeit ist es nicht, dass diese Freiheit in Kontinuität bestehe, ihr kann die Geschichte nichts hinzufügen, sie nur verschütten. Hier lebt vielmehr die Überzeugung, dass eine gute Staatsform immer wieder zurückkommen wird, als sei sie nie vergangen, dass zwischen zwei Freiheitszuständen nur etwas wie finsteres Mittelalter liegen kann, das vergessen wird. So bedeutet denn Freiheitsrenaissance weniger einen Rückgriff als ein Hinaufgreifen, und zwischen diesen Bewegungen in der Geschichte liegt im Grunde keine bedeutsame Zeit, hier steht die Historie in Renaissance still. Die Eigenart solcher Staatsrenaissance in neuester Zeit liegt in den immer kürzeren Phasen, in denen Freiheitsvorstellungen zurückkommen. Der Rückgriff aus der Weimarer Zeit in die Frankfurter Grundrechtlichkeit kann noch als eine größere Wellenbewegung der Staatsrenaissance verstanden werden, wie sie auch sonst die Geschichte zeigt. Die Wiederkehr der liberalen Freiheiten nach 1945 ist schon weit mehr Verdrängung kürzerer Zwischenzeiten, ein Versuch von Freiheitskontinuität in Freiheitsrenaissance. Doch letztlich ändert all dies nichts am Gedanken der großen Wiederkehr und seiner Kraft; mögen nun die Wellen länger sein oder kürzer in der Zeit - Freiheit im Staate kommt immer in Wiedergeburt, und sei sie auch gestern erst verloren worden. Revolutionär kehrt sie im Grunde stets zurück, und hier kann nur Staatsrenaissance stattfinden. Der große Kampf freier und unfreier Regime, der die Gegenwart beherrscht, müsste diese Epoche eigentlich zur Zeit der ganz großen Staatsrenaissance werden lassen, das Bewusstsein entwickeln für alle Formen der Wiederkehr, an deren Spitze die Freiheit heraufkommt, vieles andere an „guten Staatsformen" nach sich ziehend. Nie ist schließlich so eindeutig, ja moralisierend die Güte von Staatsformen beschworen worden, wie im Namen wiedergefundener Freiheit. Müsste heute nicht

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dies allein schon genügen, um das Thema dieser Betrachtungen zu rechtfertigen? Ist hier nicht „gut" eine große Staatsidee, eben weil sie immer wiederkehrt?

2. Freiheit als Ordnung Freiheit wird stets zuallererst als Abwehranspruch des Bürgers gegen den Staat gesehen, und in dieser ihrer „revolutionären Anfangsform" hat die Staatsrechtsdogmatik den Begriff geradezu versteinert. Freiheitsrenaissance bedeutet dann aber nichts anderes als eine Rückkehr des ewigen Freiheitsstrebens des Menschen, im Grunde ist diese Kategorie „gegen die Ordnung gerichtet", nicht eine Renaissance von Ordnungsvorstellungen. Und in der Tat hat sich ja immer wieder bei diesen Betrachtungen gezeigt, dass Freiheit und Gesetzesstaat Wiedergeburten in der Neuzeit erlebten als Gegenwehr wider feudale Mächte, als Absage an das Diktat der Tradition, der in ihr verkrusteten Gewalt. Freiheit gegen den Staat, nicht in ihm, ist das Grundthema der Staatsphilosophie des 18. Jahrhunderts und seither, darin hat die Freiheitsvorstellung der neuesten Zeit ihre entscheidende Durchschlagskraft gewonnen, eben darin aber kann sie auch in einer geschichtlichen Situation relativiert werden und könnte mit dieser vergehen. Die Grundsatzkritik, welche alsbald der Sozialismus, aber auch der Populismus westlicher Soziallehren an dieser liberalen Freiheitsidee geübt hat, geht immer in diese eine Richtung: dass hier nur die antistaatliche Freiheit gesehen werde, die Ordnungsinhalte der Freiheit verfehlt seien. Alles, was heute an Freiheitsskepsis in Wissenschaft und Praxis immer lebendiger wird, ob es nun Verteilung fordert als Staatsgrundidee oder elementare Sicherung - nirgends will es sich von der Freiheitsidee trennen, und doch soll diese umgeprägt werden als eine Ordnung im Staat, nicht gegen diesen. Wenn die letzten Erinnerungen an Autoritarismen und Diktaturen verblasst sein werden, kommt sicher, gerade in Deutschland, die Freiheitsidee als das zurück, was sie hier immer zuerst hatte sein sollen: eine freiheitliche Gesamtordnung der Staatlichkeit, Freiheit als Ordnung. Damit wird wieder der Anschluss an die höhere Staatsrenaissance erreicht, die in der antistaatlichen Anspruchsfreiheit nicht verfälscht, wohl aber verengt worden ist. Dann ist wieder der größere Atem einer wiederkehrenden Freiheit als einer wirklich „guten Staatsform" zu fühlen, nicht nur als anarchisierende Absage an den Staat, vor allem aber an alle seine größeren Formen, an alles Imperiale. Denn die Staatsrenaissance lehrt und bringt immer wieder die „Freiheit im Staat" zurück, der Idee nach hat sie stets die Überhöhung des Gegensatzes von persönlicher Freiheit und Staatsgewalt in der organisatorischen Freiheitssicherung des Staates postuliert. Dies ist dann die Renaissance des griechischen Staatsdenkens, die schon ein erstes Mal und entscheidend im römischen Militär- und Verwaltungsstaat Wirklichkeit wurde, von dort aus in immer neuen Wellen organisatorischer Freiheitssicherung die Neuzeit erreicht hat.

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Dies muss keine Absage bedeuten an die Freiheit der Aufklärung, denn auch sie wollte ja, gerade in der Französischen Revolution, eine Totalordnung aus Freiheit bauen, das Règne de la Liberté. Die große Staatsrenaissance der Freiheit kann sich nur mit einem nicht aufhalten: mit jenem Gleichgewicht zwischen spätfeudaler Gewalt und antistaatlich-liberalen Bürgeransprüchen, wie es im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts zur Staatsordnung werden sollte. Darüber geht wiedergeborene Freiheit in der Tat hinweg, sie verlangt und setzt die volle Freiheitsordnung durch, und gerade dies vermag sie nur in Staatsorganisation. In ihr muss sie sich auch durchaus nicht notwendig abschwächen. In der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, von den Volkstribunen bis zur modernen Rechnungskontrolle des Staates, dass sich in „reiner Staatsorganisation" gerade sonst gar nicht deutliche schutzwürdige Bereiche des Bürgers erkennen und sichern lassen. Die reine Ansprüchlichkeit der Freiheit bringt auch noch keinen wirklichen Schutz, sie führt nur zum oft recht vereinfachenden Ruf nach dem freiheitsschützenden Richter. Demgegenüber ist der organisatorische Schutz einer Freiheit als Ordnung vielgestaltiger und elastischer in der Staatsorganisation selbst möglich. Liberale Ansprüchlichkeit mag heute der Motor der Freiheitsrenaissancen sein, als solcher ist er unverzichtbar. Doch das Ziel muss dort gesehen werden, wo es die Staatsrenaissancen der Freiheit stets gezeigt haben: in der Freiheit als Institution, die mit Ordnungskraft wirkt, nicht im Freiheitsanspruch als dauerndem anarchischen Ordnungskampf gegen alle Staatlichkeit. Mit ihm wäre in der Tat „kein Staat zu machen", und erst recht nicht ein höheres Reich denkbar. In der Zusammenordnung freiheitsbewahrender Staatsinstitutionen wölbt sich der Freiheitsschutz in imperiale Höhen hinauf, wird der Reichsgedanke zur Vorstellung der gegliederten, geordneten Freiheit. Freiheit als Ordnung - das ist in der heutigen Staatsrechtsdogmatik nicht viel mehr als eine mögliche Alternative zur Freiheit als Anspruch, sie wird sich als solche nie überzeugend beweisen lassen. Einem Denken in StaatsrenaissanceKategorien erschließt sich jedoch die tiefere Bedeutung einer Freiheit als Ordnung - sie allein kann letztlich immer wiederkehren, nicht nur in Revolution zerstören, sondern in Ordnung bleiben. Denn Wiederkehr hat doch nur dort Sinn, wo das Wiedergeborene dann auch länger verweilt und größer, nicht nur im anspruchsdurchsetzenden Freiheitsbereich deutlich geworden ist.

3. Renaissance der Freiheit - Wiederkehr der vielen Freiheiten Die eine, große Freiheit ist als solche in Staatlichkeit nie zurückgekehrt, sie ist keine Idee der Staatsrenaissance, keine „gute Freiheit". Wiedergeboren wurde sie in einzelnen Freiheiten, entdeckt werden auch hier immer wieder nur die Trümmer der einen Statue, deren Schönheit sich aber in jedem von ihnen zeigt. Die große „allgemeine Handlungsfreiheit" wäre, aus der Sicht aller bisherigen Staatsrenaissancen, nur ein verfassungsrechtlicher Irrweg, keine „gute Staatsform".

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Die eine Freiheit würde ja ein volles System zurückbringen wollen, wo doch nur einzelne Elemente stets wiederkehren konnten. Dass die große Freiheit in Einzelfreiheiten wiedergeboren wird, hat die Geschichte stets gezeigt, beginnend mit den einzelnen Ausprägungen der persönlichen Freiheit, fortschreitend zur Freiheit des Gewissens, von dort zu ihrer Säkularisierung in Meinungsfreiheit, und nicht zuletzt dann, in einem wiederum „anderen Freiheitszug", in den Einzelausprägungen des Eigentumsgrundrechts und in den gewerblichen Freiheiten. Dogmatische Konstruktionen und längere kontinuierliche Praxis konnten zu Teil-Systematisierungen dieser Einzelfreiheiten führen, wie sie etwa im Bereiche des Eigentums gelungen sind. Doch auch heute noch gilt, dass das Kernanliegen der Freiheit nur in den Einzelfreiheiten erkannt wird, dass eine Systematisierung aus ihnen heraus weder auf eine gemeinsame Grundrechtlichkeit hin, noch weniger für die gesamte Staatlichkeit vollzogen werden kann. In dieser Freiheiten-Vielfalt zeigt sich immer wieder Ordnungsbemühen: Ordnend wirken können ja nur Grundrechte, welche einzelne Räume intensiv besetzen, zwischen ihnen und der Staatsgewalt wieder Aktionsmöglichkeiten bieten. „Eine große Freiheit" - das hat keine Ordnungskraft. Eine solche Vorstellung könnte immer nur auf Rechtsstaatlichkeit hinauslaufen, auf den Vorbehalt des Gesetzes, dessen Problematik aus der Sicht einer sich in Kompetenzträgerordnungen bewegenden Staatsrenaissance bereits deutlich geworden ist. „Eine große Freiheit" könnte aber auch gerade jene Unbedingtheit nicht zum Tragen bringen, welche der Freiheit jedoch eigen sein muss, welche ihr Ethos bildet. Die eine Freiheit würde sofort relativiert und damit alles Freiheitliche degenerieren, einzelne Freiheiten können nicht so leicht gebrochen werden, deswegen kehren immer sie zuerst wieder, in ihrem Namen überhaupt erst die Freiheitsidee, ob es nun nach der Restauration die Pressefreiheit war oder heute die Streikfreiheit ist. Hier zeigt sich die Gesetzlichkeit der Staatsrenaissancen, wer sie erfassen will, muss sich mit den Teilen zufrieden geben, nur sie kann er ordnend in sein System einfügen. Wenn Freiheit in gewissem Sinne doch stets zuallererst gegen die jeweilige Staatsgewalt schützen will, und sogar noch gegen andere, vielgestaltige soziale Gewalten, die sich in größeren Epochen, ja von Tag zu Tag, in ihren Erscheinungsformen wandeln, gerade mit immer weiteren Staatsrenaissancen - so muss auch die Freiheit jene Wandlungsfähigkeit besitzen, die der jeweiligen Staatsgewalt ordnende Schranken setzt, allen Staatsgewalten ordnend zu folgen vermag. Dies aber verlangt die vielfache, die überall aufsprießende Freiheit. Es ist der gute Kern aufklärerischer Freiheits-Ansprüchlichkeit, dass hier nicht der unmögliche Versuch unternommen wird, überall hin gleichmäßig „etwas an Freiheit" auszugießen, „überall Freiheit" zu setzen. Die Freiheit wird vielmehr in ihrer dialektischen Beziehung zu den einzelnen Staatsgewalten gesehen, welche sie zurückdrängen und darin auch ordnen soll. Deshalb ist es eine Lehre der Staatsrenaissance immer gewesen, dass die Freiheit der Staatsgewalt folgt, nicht umgekehrt, dass es so viele

D. Wiederkehrende Staatsinhalte

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Freiheiten gibt, wie der Proteus der Staatsgewalt Erscheinungsformen annehmen kann. Wenn die „guten Staatsformen" weithin, gerade in Staatsrenaissance wiederkehrend, in einer Zusammenordnung technischer Einzelkompetenzen auftreten, so muss dem ein vielfaltiger, gegliederter Freiheitsbegriff entsprechen, es muss zu etwas kommen wie einer „technischen Aufgliederung der Freiheit". Und wenn es zum Wesen dieser guten Staatsformen gehört, dass hier Elemente der Gewaltausübung kombiniert und zwischen ihnen und ihren Wirksamkeiten bereits ein organisatorischer Ausgleich versucht wird, so muss im Begriff der Freiheit etwas „zu Kombinierendes", „Auszugleichendes" liegen, das ihrem philosophischen Grundanliegen eigentlich fremd ist, bleibt dieses doch stets auf Totalität gerichtet. Wiederum hilft hier nur die Staatsrenaissance-Erkenntnis weiter, dass Freiheit - Freiheiten bedeutet, sie bieten einzelne Räume, die sodann abgewogen und ausgeglichen werden können, unter den Bürgern wie zwischen deren Freiheit und der der Staatsorgane, denn auch dort gibt es ja diesen Begriff. Die Elastizität des Ordnens ist nur denkbar im Geflecht der vielen kleineren Freiheiten. Wachsen sie hinauf zur knorrigen Eiche der einen Freiheit, so bricht sie der Sturm jeder Gewalt. Wenn schließlich „gute Freiheiten" zuerst auf das Kompetenzmäßige der Staatsordnung blicken lassen, das sich in der Zusammenordnung von Kompetenzträgern entfaltet, so muss auch in der wiederkehrenden Freiheit etwas Kompetenzhaftes mitgedacht sein, aus ihr sich Zuständigkeit entwickeln können - und dies wiederum verlangt die Einzelfreiheit. Und in der Tat hat sie den Bürger zuerst als ein Staatsorgan geschützt, in der Magna Charta, in jener persönlichen Freiheit, die vor allem dem Träger der Volkssouveränität gewährt wird. Die Eigentumsfreiheit gebührt nicht nur dem privaten Genuss, sondern dem Eigentumsbürger als Organ der Wirtschaftsverfassung; Koalitionsfreiheit sichert nicht zuallererst den Arbeitnehmer in seinem privaten Belieben, sondern als einen Organträger außerstaatlicher öffentlicher Macht. Organwendung der Freiheiten wird in der Gegenwart immer deutlicher; sie reicht schon bis zur Grundrechtsträgerschaft öffentlicher Organisationen, der Kommunen, Universitäten, Medienanstalten, und sie wird sich wohl noch verstärken. Das alles bringt neue Aufgliederung der Freiheit, aber auch die Chance einer wahren Freiheitsrenaissance in den Staat hinein, in seine Strukturen. Damit wäre der Anschluss mit den heutigen vielen Freiheiten an das gewonnen, was immer an Freiheitsinhalten im Einzelnen zurückgekommen ist - und an die imperiale Staatsorganisation der vielfachen Kompetenzträger.

4. Der Primat der persönlichen Freiheit Staatsrenaissance der Freiheit hat immer mit der Rückkehr der persönlichen Freiheit begonnen, ohne sie war sich die Libertät ihrer selbst nie bewusst. Staatsgrundsätzlich lässt sich dies kaum überzeugend als Notwendigkeit begründen, selbst in der Demokratie nicht, wo der Wahlbürger in seiner Funktionsfreiheit gesi-

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chert werden soll. Denn die Demokratie hat hier ja mit ihrer egalitären Atomisierung vorgesorgt - wer könnte ein Volk hinter Gitter setzen, durch Attentate auf persönliche Freiheit schon wirkliche große politische Veränderungen heute bewirken? Hier stehen doch die Kommunikationsfreiheiten in ganz anderer Weise im Vordergrund, und vielleicht noch mehr die ökonomischen Freiräume, ohne welche der Bürger, das ganz kleine Gesellschaftsatom, zu keinerlei politischer Mächtigkeit finden kann. In diesem Sinne mag also heute die persönliche Freiheit wohl überschätzt werden, und doch ist ihr Primat in Staatswiederkehr eindeutig, von den altenglischen Anfängen bis in die grundgesetzliche Zeit. Tiefere Gründe liegen vor allem in der primären Ordnungsbezogenheit dieses Schutzbereiches, der in seiner Schutzbedürftigkeit und den Sicherungsmöglichkeiten eindeutig und auch kompetenzmäßig erfassbar ist. Durchsuchung, Verhaftung, Prozess - überall ist hier klare, greifbare Tatbestandlichkeit, etwas wie eine auch politisch wirksame „Objektivierung" von Schutzbereichen. Die primäre Verfahrensbezogenheit der persönlichen Freiheit ermöglicht in besonderer Weise die Wiederkehr nicht nur ihrer Idee, sondern der einzelnen Techniken ihres Schutzes; vom Durchsuchungsbefehl und den Haftzeiten bis zur Garantie des gesetzlichen Richters, überall kann hier „institutionell übernommen werden", die Einzelausgestaltung mag sich aus dem jeweiligen System ergeben. Die Anknüpfung an das Kompetenzdenken, welches alle Staatsrenaissance prägt, ist deutlich, wird doch in erster Linie der Bürger als politischer Kompetenzträger geschützt, von den englischen Baronen des 13. Jahrhunderts bis zu den Journalisten der Gegenwart. Der Schutz gilt hier auch einem immer gleichen, gerade in diesen Bezügen geradezu „abstrakten Objekt", jenem Menschen und Bürger, der nackt und bloß vor die Staatsgewalt tritt, bei Nacht und Nebel jedem anderen gleichend - und darin kann er immer wieder in Staatsrenaissance geboren werden, und sein Schutz. Und das Gefängnis ist über Jahrtausende hinweg im Grundsatz stets die gleiche Staatsinstitution geblieben. Hier zeigt sich das wahrhaft Staatsformübergreifende einer großen ideellen Renaissance des Politischen: Für die Demokratie ist diese Ordnungsmacht der Bewahrung persönlicher Freiheit so wichtig wie für ihr Gegenregime, es gibt keine Staatsordnung, in welcher diese persönliche Freiheit nicht zum Problem würde, in welche hinein sich also Staatsrenaissance hier nicht vollziehen könnte. An dieser Stelle lässt sich ja auch immer etwas Festes realisieren, eine klare politische Entscheidung treffen, ein abgegrenztes Bruchstück der „guten Staatlichkeit" kommt ganz sicher zurück. Als ein Gutes ist dieser Schutz der persönlichen Freiheit auch immer konsensgetragen gewesen, wie vielleicht keine andere menschliche Freiheit. Diese persönliche Freiheit mag andere bedrohen, wenn sie ins Kriminelle gewendet wird, und doch hat es politisch nie eine Diskussion über die Güte der Sicherung persönlicher Freiheit gegeben, solange im Menschen nicht der Verbrecher vermutet wird.

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Hier bedarf es im Grunde zur näheren Ausgestaltung auch gar nicht des Gesetzes, die Gesetzesungebundenheit der großen Staatsrenaissancen kann sich voll entfalten, gefordert ist nur ein Kompetenzträger: der Richter, das wandelnde Gesetz der persönlichen Freiheit. Dies steht ganz nahe bei den Grundvorstellungen einer Staatsordnung, die sich in erster Linie in Kompetenzträgern, ihrer klaren Ordnung bewährt, und gerade sie muss ja bei jeder Renaissance der persönlichen Freiheit im Begriff des gesetzlichen Richters in besonderer Weise gesichert werden. Der Mensch wird frei geboren - damit beginnt alle Grundrechtlichkeit; frei wiedergeboren wird er in jeder Renaissance der persönlichen Freiheit.

5. Kernbereich der Freiheit Die eine, große Freiheit kann nicht wiederkehren, aber Freiheitsrenaissancen haben dort ihre große Chance, wo sie in technischen Gestaltungen, vor allem im Verfahrensrecht, den Schutz der persönlichen Freiheit gewähren können. Dies führt zu einer weiteren Erkenntnis, welche stets in Staatsrenaissancen deutlich geworden ist: Großflächiger Schutz mag an ihren Anfängen proklamiert sein, zur Realität kann er nur, bei jeder einzelnen Freiheit, in der Sicherung von Kernbereichen werden, die verfahrensmäßig zu leisten ist. „Eine Ordnung in Freiheit" ermöglicht dies, welche Abstriche an den Einzelfreiheiten verlangt. In Kernvorstellungen der Freiheit ist immer gedacht worden, von dem freien Bürger, der ohne Ketten vor dem römischen Richter stand, über die freie Rede, welche die Zensur verbietet bis zum freien Gewerbe, dessen Aufnahme staatlicher Bedürfnisprüfung nicht unterliegt. Immer waren es einzelne, fest institutionalisierte Mechanismen, in welchen die Freiheitsidee Fleisch annahm, zum fassbaren Schutzgegenstand wurde. Wichtig sind nicht alle einzelnen Ausprägungen dieser Kernvorstellung - auch sie werden sich wandeln - entscheidend ist die Idee eines Freiheitskernes selbst, um den sich die grauen Zonen der staatlichen Eingriffsbereiche legen. Das grundgesetzliche Wort vom Wesensgehalt der Grundrechte ist eines der schönsten dieser Verfassung - vielleicht ist es deshalb für rechtsstaatliche Dogmatik unfassbar geblieben, droht es sich in Abwägungen zu verlieren. Mit seinem Eigentumsbegriff hat hier das römische Recht ein Modell gesetzt; Nachbarrecht gibt es hier wie bei allen Freiheiten, dieses muss in sorgfältiger Rechtstechnik entwickelt, und es können die Freiheiten entsprechend zurückgedrängt werden, im Namen einer wahren flächendeckenden Freiheits-Ordnung. Der outer space der Freiheit, philosophisch gesehen ein unendlicher Weltraum, gehört nicht zu den Freiheiten der Staatsrenaissance, hier hat immer noch der Staat, das Gesetz „das Nähere" geregelt, vielleicht sollte es besser heißen: das weiter vom Kern Entfernte. Freiheitsverletzungen werden zu Staatsaffären immer erst dann, wenn sie unerträgliche Schwere erreichen, das ist heute nicht anders als unter feudalen Freiheitsbedrohungen. Freiheitsschutz in der Wiedergeburt der Freiheitsidee setzt sich in

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Bewegung gegen Lettres de cachet, um die kleinen Schikanen der Nachbarschaftsprozesse kümmert er sich nicht. Die Schwere des Einbruchs wird nur dort sichtbar, wo der Kernbereich berührt ist; wo der Mensch dasteht und nicht anders kann, da hilft ihm Gott - und die Freiheit. Daran hat sich nie etwas geändert, die Staatsrenaissancen der Freiheit zeigen es, die allzu weite Ausdehnung der Schutzbereiche ist ebenso leicht philosophisch begründbar und reizvoll - soll hier doch das „ganz Neue" geschaffen werden - wie politisch unhaltbar, denn auf Dauer gelingt nur der Einbau der Bruchstücke, auch im Fall der Freiheit. So muss sich die Gegenwart mit ihren Versuchen der Systematisierung der Freiheiten warnen lassen: sie könnte leicht von Staatsrenaissancen der Staatsgewalt überrollt werden, gegen welche nicht Freiheitssysteme, sondern stets nur etwas wie topische Freiheitskerne Schutz gewähren. Je enger der Schutzbereich gezogen wird, desto mehr gewinnt er nicht nur an Absolutheit und Abwehrkraft, desto stärker kann er auch als Rückgriff auf früheren, ebenso begrenzten Freiheitsschutz erscheinen, die Legitimation einer Staatsrenaissance gewinnen.

6. Staatsrenaissance der Freiheit in Grundrechtskatalogen und Freiheitsorganisation Die Freiheiten sind in einer Deutlichkeit der Institutionalisierung immer wieder, und gerade heute, in Staatsrenaissancen zurückgekehrt, welche sonst solchen Bewegungen fremd ist: in den Grundrechtskatalogen der neuesten Zeit. Hier finden über Verfassunggebung, davon war schon die Rede, fassbare Rückgriffe statt wie sonst vielleicht in keinem Bereich. Vom System Gelöstes kehrt zurück, denn ein Grundrechtskatalog war nie System, darin gerade erweist sich seine Wiedergeburtsfähigkeit. So liegt es denn nahe, Freiheitsrenaissancen auf diese Formen verfassungskräftiger Wiedergeburt zu beschränken - und doch haben diese Betrachtungen über die Wiederkehr der „guten Staatsformen" gezeigt, dass der Begriff weiter gefasst werden muss. Wenn man schon in den Grundrechtskatalogen geradezu das Modell moderner Staatsrenaissance sehen will, so muss ein Weiteres hier mitgedacht bleiben: dass diese Freiheiten in die Staatsorganisation hinein ausstrahlen können, wie es eine Ordnung versucht hat, von der nicht nur in Deutschland freiheitsrechtlich vieles der Wiedergeburt fähig war: das Weimarer Vorbild mit seiner grundrechtlich geprägten Ordnung der Lebensbereiche. Einem Denken in Kategorien der Staatsrenaissance erschließt sich dort in der Tat etwas wie eine tiefere Weisheit, und vielleicht ist es gerade sie gewesen, welche seinerzeit dieses Werk zu der am meisten bewunderten Verfassungsschöpfung Europas gemacht hat: als eine Ordnung der Freiheiten und zugleich eine Organisation der Freiheit. In dieser systematischen Idee liegt in der Tat etwas von freiheitlicher Imperialität, werden die Dimensionen der römischen Staatlichkeit von der

D. Wiederkehrende Staatsinhalte

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Seite der Freiheit her erreicht. Der punktuelle Freiheitsschutz wird gewährt, aber die Freiheitsorganisation ist nicht vergessen, und sie liegt nicht nur in der isolierten Richterpersönlichkeit, nicht allein im freiheitssichernden Vorbehalt des Gesetzes. Damals ist der Gedanke der institutionellen Garantien entwickelt worden, in ihm findet sich die Grundvorstellung eines von Staatsorganisation in Freiheit gestalteten Lebensraums, eine Reform also jener organisatorischen Freiheitssicherung, welche seit römischer Zeit immer wieder zurückgekehrt ist. Die große Idee der Einrichtungsgewährleistungen bedeutet in der Tat eine der dogmatischen Renaissancen klassischer, „guter" Staatsvorstellungen, und nicht umsonst ist dies ja gleichmäßig für Institutionen des öffentlichen wie für Einrichtungen des privaten Rechts postuliert worden. Freiheit sollte hier nicht abgeschwächt werden, sich vielmehr zu einer von Staatsorganisation getragenen Freiheitssicherung wandeln. Der Übergang sollte gewonnen werden von den Forderungskatalogen der Grundrechte in die staatliche Freiheitsorganisation hinein, in welcher jene vielleicht überhöht, ja geradezu zur „nutzlosen Freiheit" hätten werden können. Die Geschichte wollte es anders, die institutionelle Freiheitsidee hat sich nicht entfalten können, ihr droht Pervertierung durch eine staatliche Freiheitsbevormundung, bis hin zu einem problematischen staatlichen Grundrechtsschutz, in einem geistigen Raum, der eben nach wie vor geprägt ist von dem Gegensatz der spätfeudalen Ordnungen und der bürgerlich-liberalen Freiheitsansprüche. Solange dies noch politische Wirklichkeit ist, oder die Macht in den totalitären Fiktionen der absoluten staatlichen Ordnung einhergeht, werden dagegen Grundrechte gesetzt werden müssen und ihre Kataloge. Sobald aber der Feudalismus mit seinen Machtaneignungen einem neuen, technischen Staatsverständnis Platz gemacht hat - vielleicht auch nur, da es nichts mehr zu appropriieren gibt, da schon alles verteilt ist - können wieder in Staatsrenaissance die alten „guten Staatsformen" zurückkehren, auch und gerade in freiheits-institutionellem Denken, denn hier gewinnt die aufklärerische Liberté ihren Anschluss an die Institutionenkategorien des römischen Rechts. Diese großen Verbindungen, die in der Weimarer Zeit und nach ihr Worte geblieben sind, können vielleicht eines Tages mit Sinn erfüllt werden, dann wird es zu einer Renaissance der Institutsgarantien kommen, über sie zu einer solchen der imperialen Institutionen geordneter, freiheitsschützender Kompetenzen der organisatorischen Freiheitssicherung, von der hier so oft die Rede war. Die Freiheiten werden Grundrechtsforderungen bleiben, solange die spätfeudale Gewaltenteilung, die klassische Staatsformenlehre und die Idee des Gesetzgebungsstaates das Staatsdenken beherrschen. Freiheit wird im Gewände der Institutionen zurückkehren, wenn die Entwicklung wieder einmündet in Staatlichkeit als organisatorischen Freiheitsschutz - und dies wird dann eine ganz große Staatsrenaissance sein.

34 Leisner

Ausblick Staatsrenaissance - mit diesem Begriff wurden historische Phänomene dogmatisch betrachtet, aus ihnen ergaben sich Elemente einer Staatslehre. In einzelnen Grundlinien ist sie sichtbar, in vielen Einzelheiten verdämmert sie in der Unfassbarkeit der historischen Entfernung. Von „historischer Krankheit" ist solches seiner Natur nach bedroht, wo immer man zu den einzelnen Quellen vordringt, wie dies der Verfasser für die Französische Revolution versucht hat, mögen sich ebenso viele Beweise dafür wie Argumente dagegen im Einzelnen leicht finden. Doch über all diesem Fluss und Gegenfluss bleiben die großen Wellen sichtbar, und sie tragen nicht nur Bruchstücke an heutige Gestade, welche der Dogmatik der beiden letzten Jahrhunderte entsprechen, in denen das heutige Staatsrecht geformt worden ist. „Zurück kehren" auch Elemente aus anderen fernen Systemen, in Rechtsvergleich; und dieses wichtige Phänomen bedarf wohl noch weiterer Vertiefung. Diese Phänomene der Staatsrenaissance sollten daher zunächst und vor allem eines selbstverständlich werden lassen: eine weit größere Bescheidenheit, welche die geschlossenen Systeme der klassischen Staatsformenlehre, der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit nicht als Offenbarung nimmt, sie vielmehr in ihrer historischen und lokalen Kontingenz erkennt, ihre Güte gerade daran misst, dass sich in ihnen Größeres, weiter Herkommendes verfestigt hat, sich aber auch wieder in seine Bestandteile auflösen könnte. Staatsrenaissance - das bedeutet die Wiederkehr von „guten Staatsformen", die heute zwar Schritt für Schritt angetroffen, jedoch noch nicht bewusst wiederentdeckt werden. Dies ist die Öffnung des Horizonts bis zurück zum großen römischen Modell, zu seiner Verwaltung als Regierung, zum Gewicht der Kompetenzen und ihrer Zusammenordnung, zum topischen staats-organisatorischen Denken, zur Freiheitssicherung in Organisation. Laufend werden Kapitel der herkömmlichen Staatslehre überflüssig, neue müssen geschrieben werden, nur allzu oft werden sie in alte Systematik gezwängt. Im Laufe ist, nach der Überwindung der Ideologismen der Gegenwart, eine neue „technische Staatlichkeit", die vielleicht keiner anderen in der Geschichte so sich nähern wird wie dem imperialen römischen Modell. Es ist die Überzeugung dieser Betrachtung, dass keine Epoche der neueren Zeit dieser Imperialität in ihrem Kern so nahe gewesen ist wie die heutige - welche sich von aller größeren, imperialen Machttechnik abwenden will und doch nur durch sie und in ihr leben kann: Europa beweist es. Die römische Staatlichkeit wollte herrschen, dies ganz - und nur dies, dasselbe ist auch der heutigen Staatswelt aufgegeben: die Beherrschung dessen,

Ausblick

547

was immer größer, bedrohlicher, kaum mehr erfassbar auf den Menschen zukommt, zu ihm zurück in vielem als übermächtiges Geschöpf seines eigenen Geistes. Viel ist gedacht worden in Kategorien des Herrschens - vielleicht muss wieder die Kategorie des Beherrschens heraufkommen, in einer Welt, welche nicht mehr nur Mengen von Gütern bringt und die Freude an deren Verteilung, in der es gilt, mit Staatstechnik „noch etwas festzuhalten", eine schwer lastende Welt, wahrhaft auf den Schultern eines Atlas. Hier wird römische Staatstechnik gefordert sein, nicht nach den Philosophien der Menschen, sondern nach der Breite der Flüsse, über welche Brücken zu schlagen sind. Und etwas vom Geist der römischen Legionen wird in dieser harten, geordneten Technizität wiederkehren. So mag sich hier eine Entwicklung vollziehen „von Staatstechnik zu Staatstechnik" in einer großen Staatsrenaissance, und dabei kann vielleicht unmittelbarer in den Grundideen angeschlossen werden an ein römisches Modell, als man dies heute sich vorstellen kann. Da mag es wohl sein, dass zwischen Techniken „gar keine Zeit liegt", dass der Weg von Staatstechnik zu Staatstechnik so zeitlos gegangen wird, wie er von einem Reich zum anderen führt, sind doch beide in der Idee ewig. Wiedergeburt - das ist dann vielleicht ein Wort, um solche Bewegungen auf höherer Ebene, in der imperialen Zeitlosigkeit zu beschreiben, nicht notwendig ein historischer Vorgang; und deshalb mag auch eine völlig unhistorisch denkende Zeit die große Wiedergeburt erleben, ist sie ihrer gerade fähig, als hätte es die Zwischenzeiten nie gegeben, mit all ihrer Gesetzesdogmatik. Ein Paradox: Geschichtslosigkeit ist in ihrer Naivität Chance zur Staatsrenaissance. Dies ist Frucht und zugleich Ursprung geschichtlichen Denkens. Doch all dies sind nur Perspektiven, Spekulationen vielleicht, erstaunliche Wirklichkeit dagegen bleiben die immer wiederholten Staatsrenaissancen, mögen sie noch so oft in der Eitelkeit einer selbstbewussten Gegenwart verdrängt werden. Die Vergangenheit wird in den Staatsideen nicht fortgesetzt, sie kommt immer zurück, mit einer geheimnisvollen Mächtigkeit; sie macht staunen, bringt ein wahrhaft sokratisches Erlebnis. Alle Einzelheiten um diese Staatsrenaissancen können bestreitbar sein, das Phänomen gibt es, dieses Geheimnis wird begleiten, immer mehr verfolgen. Wiedergeburt bedeutet Auferstehung, dieses Wort wurde hier nicht gebraucht, weil es von Größerem besetzt ist. Doch in der Wiederkehr der „guten Staatsformen" erreicht das Staatsdenken die Offenbarungsdimension: Was immer wiederkehrt, ist dem politischen Willen nicht nur mitgegeben, er hat es sich selbst - vorgegeben. Diese Form historischer höherer Naturrechtlichkeit mag gerade dann angenommen werden, wenn der Mensch, die politische Gewalt von heute, sich nicht unter den Willen eines Schöpfers beugen, sondern sich selbst vergöttlichen, wenn sie unsterblich werden will in ihrem fortdauernden Willen. Erfüllt sich dann nicht die Ewigkeitshoffnung der Menschen in dem, was doch so gegenwärtig zu sein scheint: im Staat mit seiner Gewalt? 34*

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Buch 2: Staatsrenaissance

Die große Renaissance ist für die Menschen eine Offenbarung gewesen. Sie haben ihr ein schönes Wort gegeben, und auch dieses muss - immer wiedergeboren werden. Oder sollte sich wirklich all dies nur einmal vollzogen haben? Im Begriff der politischen Ordnung liegt es ebenso, dass sie in der Zeit kommt und wirkt, als auch, dass sie, gerade in ihrem Ordnungsanspruch, über alle Zeit hinausreicht, daher in große, zeitlose Trümmer zerbricht. Darin ist gerade das Recht „der Renaissance am nächsten", diesem großen menschlichen Hoffnungswort. Wer in Staatswiederkehr denkt, hat die Idee des Reiches berührt, nicht erfasst, er nähert sich dem tieferen Sinn des geheimnisvollen Wortes, mit dem ein Mysterium übersetzt werden sollte: Renaissance ist die Brücke von Reich zu Reich - „von Ewigkeit zu Ewigkeit...".

Buch 3 Der Monumentalstaat: Große Lösung" - Wesen der Staatlichkeit

Vorwort zu Buch 3: Der Monumentalstaat: „Große Lösung" - Wesen der Staatlichkeit Monumentalstaat - ist dies nicht Staatslästerung? Der Bürger hat endlich seinen „großen Staat" überstanden, der ihn arm gemacht hat und klein. Der Besitz ist wiedergekommen - darf er denn nicht im kleinen Staat genossen werden, endlich einmal in deutscher Bescheidenheit? Und da soll von Staatsgröße auch nur gesprochen werden? Es muss sein, denn nur in Worten wird sie verdrängt, in Wirklichkeit kommt sie zurück, täglich mehr. Die „großen Lösungen" des Staates sind überall, von der hohen Wirtschaftspolitik bis zu den Fachplanungen der Verwaltung, von den mächtigen Haushaltsansätzen bis in die Regierungsprogramme, von der nationalen Wirtschaftspolitik bis zur Globalisierung. Gerade ein demokratischer Staat, der sich nicht durch Gewalt beweisen will, kann sich nur in der Größe seiner Gestaltungen legitimieren. Das ist die These dieses Buches. Die Demokratie muss groß denken und handeln, in allem und jedem; das Monopol öffentlicher Größe ist ihr durch Verfassung und Gesetz verliehen, täglich weiß sie es in „großen Lösungen" zu rechtfertigen, in Staatspedanterie stirbt sie zuerst. Einst hatte sich diese Staatsform offen und mutig mit Größe geschmückt. Vor zwei Jahrhunderten konnte eine Große Revolution die Grande Nation hervorbringen. Seit hundert Jahren grüßt das Riesenmonument der Freiheit am Eingang der größten Demokratie. Hier soll die These begründet werden: Gerade Demokratie verlangt den Staat als große Lösung, darin wird das Demokratische Reich. Vom Reich braucht hier nicht immer wieder gesprochen zu werden. Der Begriff steht für die große, dauernde Ordnung; daher kann „Reich" hier ersetzt werden durch „Größe" der Staatlichkeit.

Inhaltsverzeichnis Α. Einführung: Staatsgröße - Frage und Versuchung der Gegenwart

563

I. Staatlichkeit - die „größere" oder „die große Lösung"?

563

1. „Staat" - ganz natürlich: „das Große"

563

2. Größe „an sich" - oder: nach dem Maße der Menschen?

564

II. Die „große Staatlichkeit" - eine historische Versuchung 1. Die historischen Bewusstwerdungen der Größe

565 566

a) Rom - die absolute Größe

566

b) Die Weltkirche

567

c) Die ganz große Freiheit

568

d) Napoleon - die historische Menschwerdung staatlicher Monumentalität 570 2. Die Machtpolitik der „nationalen Größe"

571

3. Die Philosophie vom „großen Staat" - Normhöhe als Staatsgröße

573

III. Staatsgröße - Wesenselement entwickelter Demokratien

574

1. Die Verstärkung der systematischen Staatsgewalt nach innen - „innere Größe" des hochtechnisierten Staatswesens 574 2. Das Volk - das politisch Große

576

3. Demokratischer Einungsgedanke - Zug zur größeren Staatlichkeit

578

4. Und daher: Frage nach der „großen Lösung", nach dem Monumentalstaat

579

B. Was ist Staats-Größe? I. „Größe" als Staatslegitimation - Fragestellungen - Allgemeines

581 581

1. Legitimation: Der Bürger und sein „größerer Staat"

581

2. „Größe" - Legitimation imperialer Ordnung

582

3. Monumentalstaatlichkeit - eine Kombination von Fragestellungen

584

Π. „Größe" als,»räumliche Ausdehnung" der Herrschaft 1. Der historische Primat der räumlichen Herrschaftsgröße

585 585

2. Die politische Wirkkraft des „Staats-Raumes" - Geschlossenheit und Offenheit 586

554

Buch 3: Der Monumentalstaat III. „Zeitliche Größe"

588

1. Die Vergeistigung der Größen-Kategorie in der zeitlich-historischen Betrachtung 588 2. Staatslegitimation aus zeitlicher Größe

589

3. Zeitliche Größe - Ersatz von Raum und Intensität des Herrschens

590

a) Herrschaftszeit als Herrschaftsintensität

591

b) Zeitliche statt räumliche Größe

592

IV. Machtgröße aus Herrschaftsintensität - der Vorrang der inneren Souveränität

593

1. Die Doppelgesichtigkeit der Herrschaft - äußere und innere Souveränität

593

2. Staatsgröße - primär in äußerer Macht?

594

3. Innere Souveränität - Trägerin der Machtgröße

595

V. Zusammenfassung: Die Frage nach der „Staatsgröße" - ein vielschichtiges, kombiniertes Problem

596

1. Staatsgröße - eine kombinierte Größe

596

2. Staatsgröße - mehr als Macht

597

3. Wie groß muss Größe sein?

598

C. Die Antithese der Gegenwart: Wider alle staatliche Größe I. 1945 - Ende aller Monumentalität? 1. Macht-Kolossalität - eine deutsche Versuchung

600 600 600

a) Der historische Größen-Komplex

600

b) Wilhelminismus - der Umschlag in überbewusste Größe

601

c) Adolf Hitler und der Monumentalstaat

602

2. Die Grundsatzkritik an der deutschen Kolossalität

603

3. Und doch auch deutsche Staatsgröße - in Staatsdynamik

604

4. Niederlage - nie ein Beweis gegen Staatsgröße

605

II. Antiimperialismus gegen Monumentalstaatlichkeit

607

1. Die Großmachtphobie

607

2. Antiamerikanismus als „Anti-Größen-Affekt"

608

3. Die Atommächte - „Größe zum Tode"

609

4. „Internationale Demokratie" gegen außenpolitische Größe

610

5. Der Niedergang der außenpolitischen Größe

612

ΠΙ. „Machtminimierung aus Freiheit" - Verlust der „inneren Größe"?

613

1. Freiheit - Gegenpol der Staatsgröße

613

2. Rechtsstaatlichkeit als „Anti-Monumental-Staatstechnik"

615

Inhaltsverzeichnis

555

3. Rechtsstaatliche Staatsminimierung - eine christliche, liberale, sozialistische Forderung 617 4. Und doch rechtsstaatlicher Raum für Staatsgröße? IV. „Technik" - „Rechtstechnisierung" - Absage an alle Staatsgröße?

618 619

1. Der Primat des „Funktionierens"

620

2. „Das Große kann nicht funktionieren"

621

3. Der Staat der Experimente

622

4. „Technisches Staatsverständnis" - Absage an jede Monumentalität

623

5. Und doch auch „staatstechnische Größe"

624

V. Gleichheit und Verteilungsstaat - „immer kleinere Lösungen" 1. Demokratischer Neo-Eudämonismus: „Genießen statt Größe" 2. „Gleiche Bürger - kleine Lösungen"

626 626 628

a) Staat und Bürger - gleich klein

628

b) Egalität - Dynamik zum immer Kleineren

630

3. Der Verteilungsstaat - Auflösung aller Größe

631

a) Verteilung - Kategorie der Minimalisierung

631

b) Distribution - Kleinschneiden an den Wurzeln

633

c) Die quantifizierende Verteilung

633

d) Der Verteilungsstaat muss verteilt werden

635

e) Der ganz kleine Schulden-Staat

636

f) Gegenthese: Der „große Verteilungsstaat"?

637

4. Der kleine Fluchtbürger im Verteilungsstaat

637

a) Bürger und Staat auf der Flucht vor der Größe

637

b) Kampf gegen Luxus - Negation des Großen

639

5. Konsequenter Sozialismus - der kleine Bürger im kleinen Staat VI. Demokratie - Staatsform der „kleinen Lösungen"?

641 644

1. Vom großen Volkssouverän zum kleinen Bürger

644

2. Der Mehrheitsstaat - die quantitative Entmonumentalisierung

645

a) Mehrheit - das „kleinere Volk"

646

b) Kompromiss - die kleinste Lösung als das Gemeinsame

647

c) Diskutabilität - Zerreden des Großen

648

3. Die Macht den Kleineren - kleine Macht? VII. Zusammenfassung: Die demokratischen Wege in die kleine Staatlichkeit

649 651

1. Die Wandlung aller Qualität in Quantität

651

2. Die progressiven Teilungen - Monadologie der Macht

653

556

Buch 3: Der Monumentalstaat 3. Die Aufhebung der Kategorie „Größe,,

655

4. Leugnung der Reichsidee, der imperialen Kategorien

655

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

657

I. Bedeutende Staatsdimension - eine gegenwärtige Notwendigkeit für die Staatsgewalt an sich 657 1. Monumentalstaatlichkeit - die notwendige Antithese zur Staatskleinheit

657

2. Kleiner Staat aus kleinen Bürgern? - Keine Notwendigkeit

658

3. Im Gegenteil: Kompensation „großer Staat aus kleinem Bürger"

661

4. Vorformung der Staatsgröße im gesellschaftlichen Kollektiv

662

a) Kollektiv - an sich groß

662

b) Kollektiv und Staat - die große Virtualität der Macht

664

5. Offene Größe gegen verschleierte Gewalt a) Die Gefahr des verschleierten Machtstrebens

664 664

b) Demokratische Verschleierung der „großen Macht"

666

c) Ein Wort für staatliche Ehren - offen gezeigte Staats-Größe

668

d) Exkurs: Demagogie - falsche Größe und Kleinheit zugleich

669

Π. „Größe" - notwendige Kategorie des historischen und romantischen Staatsdenkens 670 1. Die Wiederkehr der Geschichte - in Größe

670

2. Selbstgeschaffene historische Größen-Legitimation - Die Zwischengewalten und der Kampf um das Staatsmonopol der Größe 672 3. Die ewige Rückkehr der Staatsromantik 4. Außerrechtliche Größen-Kategorien und Staatsgröße

674 676

a) Staatsgröße - , »religiös besetzt"

677

b) Die Wirkung kultureller Größe in die Staatlichkeit

678

5. Geborstene Monumente - der Monumentalstaat der Trümmer ΙΠ. Demokratie braucht Größe 1. Demokratie - als vergeistigte Staatlichkeit zur Größe geöffnet

680 682 682

a) Flucht der demokratischen Staatsgewalt aus Sozialneid in abstrakte Staatsgröße 683 b) „Volk" - ein Abstraktionsbegriff „zur Größe geöffnet"

684

c) Republik - der große demokratische Herrschaftsraum

685

2. Demokratie - stets eine Staatsform selbstbewusster Größe

686

a) Die triumphale Demokratie der Französischen Revolution

687

b) Amerikanische Demokratie - groß in Freiheit und Moral

688

c) Das neue Deutschland - ein Abglanz demokratischer Größe

689

Inhaltsverzeichnis 3. Die „großen Worte" der Demokratie

557 692

a) Die „groß redende Staatsform"

692

b) ... und die großen Versprechungen

693

c) Demokratisches Regierungsprogramm - ein System großer Versprechungen 693 d) Programme und Versprechungen - eine „qualitative Größe" 4. Das „große Volk" - größer als seine Bürger

694 695

a) Das Volk als kompakte Größe

695

b) Das Volk - „der große Bürger"

696

c) Alles Demokratische ,4m Namen des - großen - Volkes"

697

5. Fraternité - Kernbegriff der Demokratie, Dimension der „integrierten Größe" 698 a) Integrationslehre - eine demokratische Theorie der Größe

698

b) Brüderlichkeit - demokratische Integration im Staat und darüber hinaus 700 IV. Gleichheit - Zwang zur „großen Lösung" im Gesetz

701

1. Gleichheit - „große Lösung für alle"

701

2. Gleichheit - die typisch staatliche Größe

702

3. Gleichheit - nicht Ungleichheit - als „Größe"

703

a) Die große Gleichheit - Quelle staatlicher Mächtigkeit

703

b) Egalität - Größe der einheitlichen Lösung

704

4. Das demokratische Gesetz - der „große Schlag der Gleichheit"

706

a) Das Gesetz - die große Lösung

706

b) Vergesetzlichung - „Zwang zur Größe"

707

c) Kodifikationszwang - großes Gesetz aus großer Gleichheit

708

d) Die normative Ausnahme - Entmonumentalisierung des Gesetzes

710

e) Ausnahme als Regel - die große Kleinheit

712

5. Große öffentliche Einrichtungen - eine Forderung der Gleichheit

713

a) Der demokratische Zwang zu den „grandes œuvres"

713

b) Gleicher möglicher Nutzen öffentlicher Anstalten als „große Lösung"

715

V. Der egalitär-demokratische Zwang zu den „großen Finanzen" als „großer Lösung" der Staatlichkeit 716 1. Staatsgröße durch Steuerlast

716

a) Die große Umverteilung

716

b) Die große Steuermaschine

717

c) Unmerkliche Größe

717

558

Buch 3: Der Monumentalstaat d) Finanzegoismus - eine „große Lösung"

718

e) Steuerrechtfertigung aus „Größe" - Staatsrechtfertigung aus Steuer ..

719

2. Große Staatsausgaben als staatliche Lösungen

721

a) Steuergewalt - Zwang zur großen Ausgabe

721

b) Die großen Staatsausgaben - bis zur Verschwendung

722

3. Großförderung durch den Staat

723

a) Gießkannengeschenke - staatliche Sünde

723

b) Grundlagenförderung

724

c) Staatshilfe - groß oder illegitim

724

4. Die staatlichen Haushalte und ihre Verabschiedung - Steigerungsformen „großer Lösungen" 725 a) Der Zug zu den „großen Einzelhaushalten"

725

b) Staatshaushalte als antizipierte Großlösungen

726

c) Haushaltsgesetz - Parlamentsentscheidung, nicht Parlamentsbuchhaltung 727 5. Der monumentale Verteilungsstaat - iustitia distributiva als Form der Staatsgröße 728 6. Exkurs: Konzentration - Zwang in die Größe - von Wirtschaft zu Staat ..

729

a) Die Unaufhaltsamkeit der „Wirtschaft in Größe"

729

b) Staatsgröße durch Wirtschaftsgröße

731

7. „Staatskonzentration" - Parallele zur großen Ökonomie

732

VI. Staatsgröße aus Staatsöffentlichkeit

733

1. Öffentlichkeit und Gleichheit - eine notwendige Verbindung

734

2. Größe in Sichtbarkeit

735

3. Demokratie - „redende Staatsform in Öffentlichkeit"

736

a) Begründungsstaatlichkeit als Form der Integration

736

b) Der Staat versteckt sich nicht

738

c) Lösungen größer durch Worte

739

d) Öffentlichkeit: Chance zur Größe durch Wahrheit - und Schein

740

4. Große demokratische Worte aus Öffentlichkeit

740

5. Medien - Macht nur für „große Lösungen"

743

a) Medienförmiges Handeln b) Verbreiterungswirkungen der Massenmedien

743 »

744

c) Der Staat als „Erwartungsgröße"

745

d) Campagnengröße - Verlust der Monumentalität

746

6. Staatsgröße der „Geheimgewalt"?

747

Inhaltsverzeichnis E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen"

559 749

I. Die Verfassung als große normative Dimension

750

1. Verfassungsnormen als „Großlösungen"

750

2. Die Grundrechte - „ganz große Freiheitslösungen"

752

3. Verfassungsrichtertum als organisatorische Großlösung

754

II. Der Präsident - der lebende große Staat

757

1. Der „Protokollpräsident" - Repräsentant des „Ganzen"

757

2. Präsidentielles Regime - Konzentration „großer Lösungen" an der Spitze

758

III. Parlament - große Lösung in Versammlung

760

1. Staatsgröße in Wahlen

760

2. Das Plenum der „großen Entscheidung"

761

IV. Föderalismus - Staatsverkleinerung oder Staatserweiterung

763

1. In Dezentralisation zum Staat en miniature?

763

2. Größe aus Einung

764

3. Föderalismus: „Staatlichkeit überall"

766

4. Die Schweizer Staatsgröße

769

V. Verwalten als große Lösung 1. Die Großaufgaben der öffentlichen Verwaltung

770 772

a) Öffentliches Interesse - Zwang zur großen Entscheidung

772

b) Die „große" Sicherheit und Ordnung

774

c) Planung

775

2. Grundsätze des Verwaltungshandelns - zu großen Lösungen

776

3. „Große Verwaltungsorganisation" - Instrument und Bild des Monumentalstaates 778 F. Monumentalstaatlichkeit - staatsrechtliche Kraft I. Staatsgröße als Kraft

782 782

1. Staatsgröße - ein „Faktum zur Rechtsmacht"

782

2. Kraft „von Größe zu Größe"?

783

II. Das große Erstaunen vor der Staatsgröße 1. Ius - nil admirari

783 784

a) Erstaunen im Recht?

784

b) ... und im Staatsrecht?

784

560

Buch 3: Der Monumentalstaat 2. „Große Lösungen" - Gegenstand der Bewunderung

786

3. Die politischen Wirkungen der bewunderten Größe

787

III. Unzerstörbare Größe - der Pyramidenstaat 1. Pyramiden als Staatssymbol

790 790

2. Großlösung im Negativen: Tabula rasa der Revolution

791

3. Geschlossenheit als Größe

793

4. Staatsgröße - Kraft der vollendeten Tatsache

795

a) Endgültigkeit - Wesen staatlicher Lösungen

795

b) Große Staatsentscheidung - die faktische Kraft des Normativen

796

5. Pyramidenstaatlichkeit - größer als Kritik

797

a) Größe jenseits aller Kritik

797

b) Demokratie - Flucht aus Kritik in Staatsgröße

798

c) Von der transkritischen zur transpolitischen Staatsgröße

798

d) Die Errungenschaft - Einbahn der Staatsgröße

799

IV. Die Monumentalität des Unvollendeten 1. Die Kraft des Begonnenen

801 801

a) Die Kraft des großen Anfangs - „Fundamentalstaatlichkeit"

801

b) Vorbereitung als Staatsgröße

802

c) Das Unvollendete als Programm zum noch Größeren

803

2. Wirkungsweisen unvollendeter Größe

804

a) In Selbstverständlichkeit in die Größe

804

b) Die Chance einer „Größe in Stufen"

805

c) Unvollendetes - Zwang zu „mehr Größe" - die Folgelast

806

3. Machtprämie aus unvollendetem Großen

807

a) Weiterwirkende Legitimation des großen Anstoßes

807

b) Die große Aufgabe - Ruf in die Macht

808

V. Integrationskraft der Staatlichkeit aus der „großen Lösung"

809

1. Die notwendige Partizipation an der Größe

810

2. Widerstand gegen den Monumentalstaat?

812

3. Staatszentrenbildung durch Staatsgröße - Kraft der Kernintegration

813

4. Die begeisternde Teilnahme an der Staatsgröße

814

a) Demokratie in Begeisterung

815

b) Integrative Begeisterung für das gemeinsame Werk

815

c) Zusammenfassung der Entscheidungsträger in Großlösungen - Hierarchie und Team 816 d) Die große Lösung - Einbindung der Adressaten

819

Inhaltsverzeichnis

561

5. Der große Befehl - Integration der Anordnungsempfänger, von Bürger und Staatsgewalt 821 a) Die Tradition des antithetischen Befehlsmodells

821

b) Der militärische Befehl als Synthese

822

c) Überhöhung des Befehls - nur im großen Ziel

823

d) Ende des öffentlichen Rechts in der Befehlslosigkeit der „großen Lösung" 825 VI. Die Kraft der transpersonalen Monumentalstaatlichkeit

827

1. Antithese: Der „humane Staat" der Demokratie

827

2. Das Missverständnis des Staats-Personalismus - Bürgerpersönlichkeit aus transpersonaler Staatlichkeit 829 3. Der demokratische Transpersonalismus

830

4. Die Staatskraft des Transpersonalen

832

5. Monumentalstaatlichkeit - das an sich Transpersonale

834

a) Größe durch Transpersonalität - die res republica

834

b) Erscheinungsformen des Transpersonalen in staatlichen Großlösungen 835 c) Der Staat - als juristische Person überpersönlich

836

d) Hoheitsgewalt - Großlösung in transpersonaler Form

836

e) Kein Neid gegen transpersonale Staatlichkeit

838

6. Transpersonale Symbolkraft der Monumentalstaatlichkeit VII. Die Transzendenz der Großlösung - der „göttliche Staat"

839

1. Vom Transpersonalen zum Transzendenten der Großlösung

839

2. Die Notwendigkeit des „Staatsgöttlichen" in der Monumentalstaatlichkeit

841

3. Schauder als Staatsgrundlage

843

4. Transzendenz - Hingabe an die Gnade des Großen

844

5. Der Monumentalstaat: Imperium des Geistes - Universitas

845

Ausblick: Der Monumentalstaat - eine Statue der Freiheit

36 Leisner

838

847

Α. Einführung: Staatsgröße - Frage und Versuchung der Gegenwart I. Staatlichkeit - die „größere" oder „die große Lösung"? 1. „Staat" - ganz natürlich: „das Große" Staatlichkeit als „große Lösung", der Staat als Monument seiner Bürger und Mahnmal für sie - darüber staatsrechtlich nachzudenken ist eine schwierige Selbstverständlichkeit. Noch immer ist zwar der Staat das Größte, was auf Erden begegnet, täglich beweist er in der Unendlichkeit seiner Macht und seiner Mittel, dass er „nicht ist wie diese" - seine Bürger. Gerade wenn er menschliche Züge annehmen, nurmehr ein Wort für Bürgergemeinschaft sein soll, muss er sich von seinen natürlichen Trägern erst recht durch Größe unterscheiden, versuchen, ein „Übermensch" zu sein, im tieferen Sinne des Wortes. Eine skeptische, wertungsmüde pluralistische Gegenwart vermag Staatlichkeit immer schwerer qualitativ zu bestimmen, müsste sie dabei doch wertend Gemeinschaft und Bürger gegenüberstellen, was hier gerade die Demokratie zu verbieten scheint. Ist es da nicht selbstverständlich, dass Staatlichkeit zuallererst anknüpft an die Dimensionen, in denen gehandelt wird, Lösungen gefunden oder postuliert werden? Und richtet sich nicht der Bürger der Volksherrschaft immer behaglicher ein in jener Wohnküche des ,»kleinen Mannes", der diesen Ehrentitel nurmehr gegenüber einem anderen verdienen will, dem „großen Staat"? Die Größendimension, im Sinne selbst primärer Quantität, ist auch nicht erst heute, in der Ordnung der gleichen Bürger, die erste Annäherung an ein Verständnis dessen, was Staat heißt, seit langem ist sie es immer wieder gewesen. Die größere Staatsarmee tritt an die Stelle der kleineren Leibwache des Feudalherren, der Gefolgschaft der alten Zeit; der isolierte Einzelbefehl eines Mächtigen darf sich nicht „Staat" nennen, solange er nicht aus einer Ordnung kommt, die weiter ausgreift; und wenn etwas ist an der Identität von Staat und Recht, dann gehört die normative Kraft zum Wesen dieser organisierten Gemeinschaft, sie aber erfasst notwendig die größere, ja die unbegrenzt große Zahl der Fälle und Menschen. Was immer Anerkennung heischt an staatlicher Hoheit, das muss zuallererst eine gewisse Größe erreichen, bestreitbar wird stets zunächst, was solche Größe verfehlt, die Arbeit in doch immer klein bleibende eigene Taschen, die kleinliche Rache der Mächtigen. Selbst Kaiser und Diktatoren müssen sich stets von neuem „in diese Größe werfen", auch wenn sie daran zerbrechen, denn dies ist das Gesetz, nach dem jede dauernde Ordnung antritt, die mehr sein will als bare Gewalt. Die ganz 36*

564

Buch 3: Der Monumentalstaat

große Brutalität der Macht aber darf sich noch immer mit den Emblemen der Staatlichkeit schmücken, solange sie nicht zum Verbrechen bei Nacht und Nebel verfällt, das sich versteckt und nie groß sein kann. Doch - „was ist Größe?" Hier beginnen schier endlose Probleme, wie in allem, was im Grunde selbstverständlich ist. Der Bürger anerkennt nur den großen Staat und doch fürchtet er ihn, bekämpft ihn und hat ihn im Grunde nie gewollt. Die Gegenwart schafft technisch immer Größeres, und wird zugleich pragmatisch stets noch bescheidener; und ist es nicht die noble Aufgabe gerade des Juristen, immer wieder Quantität in Qualität zu verwandeln, die unbehauene grässlich-große Gewalt in seinen Kategorien zu zivilisieren, wird nicht letztlich das öffentliche Recht nur dann „zivil", annehmbar für den Bürger, wenn es den Staat auf die Höhe seiner kleineren, „bürgerlichen" Geschäfte herabführt? Was soll ein Staatsmonument inmitten der tausend immer noch kleiner werdenden Kategorien der Rechtsstaatlichkeit? Ist es nicht Aufgabe der Gegenwart, Staatskolosse zu zerschlagen, aus diesen Trümmern Staats-Statuen von menschlicher Größe zu bilden? Darum haben sich nun Generationen bemüht; also gilt es, wieder das Große zu suchen - und sei es auch nur, damit es zerschlagen werden kann ...

2. Größe „an sich" - oder: nach dem Maße der Menschen? Doch die Frage bleibt: „Was ist Größe"? Die Antwort ist so schwierig wie die nach dem Wesen der Wahrheit, für die Staatlichkeit aber um so vieles wichtiger. An ihrem Anfang schon steht ein Problem, das diese Betrachtungen stets begleiten wird. Größe - dieses vielspiegelnde Wort, dessen Reichtum sich gar nicht ausschöpfen lässt, stellt zuallererst eine Frage: Sucht man das Wesen der Staatlichkeit in der „größeren Lösung", bezogen auf welche Vergleichsquantitäten immer, insbesondere auf die privaten Dimensionen der Bürger - oder muss da etwas gefunden werden von „absoluter Größe", „die große Lösung" schlechthin? Heutiger Gängigkeit mag die Antwort wohl leicht fallen: Wenn die Demokratie ihre humanistische Begründung darin findet, dass für sie der Mensch, der Bürger, das politische Maß ihrer Dinge ist, so bleibt der Staat darauf stets bezogen, er darf immer nur eine größere, nie eine große, übermenschliche Lösung sein. Und doch bleibt auch die Frage, ob nicht die These von einer „gewissen Größe an sich" als Wesen der Staatlichkeit die ursprüngliche ist, ob darin nicht die Kraft dessen liegt, was staunen macht und sich unterwerfen. Es mag sich auch zeigen, dass beides auseinander herauswächst, dass nur der „Staat nach dem Maße des Menschen" die Chance hat zur „großen Staatlichkeit an sich", zu jener bestimmten Dimension, die jedenfalls erreicht sein muss. So soll denn hier noch die Frage nach der relativen oder absoluten Größe offen bleiben, und ob die eine aus der anderen hinaufwächst. Noch ein ganz Allgemeines sei am Anfang sogleich angesprochen: Diese Betrachtung geht auf die Suche nach dem Begriff der Größe ohne vorgefasste Maß-

Α. Einführung

565

Stäbe dessen, wie und wo sich solche Dimensionen zeigen, wohin sie sich entwickeln können. Zunächst soll dieser Begriff der staatlichen Größe, trotz all seiner schließlich zu erreichenden Monumentalität, in vollem Umfang offen, ja virtuell bleiben, die Größe mag sich in allem und jedem erweisen - oder nur in wenigem, in Punkten, Zentren. Eine Frage wird sich dann allerdings stellen: Was sind die Wege solcher Grandeur, wenn wir dieses Wort einmal in ganz allgemeinem Verständnis gebraucht wird, genügen große Momente, um das Kleine hinaufzureißen, eine große Fassade, hinter der aus kleinen Zellen regiert werden mag - oder muss da nicht doch etwas sein wie „Größe in allem und jedem", weil ein Abfall in Kleinheit den Zauber des Caesar zerstört? Muss alles groß sein an der Statue, welche den Staat symbolisiert? Und wieder lenkt dies im Grunde zurück zu der gestellten Frage: Größe als Wesen des Staates - über den Menschen hinaus oder jenseits von ihm?

II. Die „große Staatlichkeit" eine historische Versuchung Die Geschichte der Staatlichkeit ist, als eine Folge politischer Phänomene, stets zuerst eine Historie versuchter oder erreichter Größe gewesen. Die Leidenschaftlichkeit des politischen Handelns kann weder als solche „klein" sein wollen, noch auf Kleineres sich richten. Dem Wesen politischer Aktion entspricht es vielmehr, dass sie, selbst auf Unbedeutendes gerichtet, stets in einer Art von Totalität antritt, deren überschießende Kraft eindeutig auf etwas wie Größe gerichtet ist, weil eben kleine Passionen unvorstellbar sind. Das Politische als etwas wesentlich Bewegtes, unfertig sein Wollendes, trägt in sich den notwendigen Zug zu einer Unbestimmtheit, Maßlosigkeit vielleicht, der bis ins Unendliche reicht - irgendwann erreicht ein solcher Weg mit Notwendigkeit die Station der Größe. Wenn säkularisierte Religion in dieser Politik lebt, so bleibt ihr, hinter vielen tagtäglichen Schleiern, doch immer etwas von der ganz großen Gottesvision. In diesem Sinne jedenfalls ist jede politische größere Gemeinschaft stets Civitas Dei. Und immer wieder haben diese Staatlichkeiten angesetzt zum Bau einer neuen Riesenkuppel. Vier Erscheinungen der politischen Geschichte waren es vor allem, in denen der Aufschwung zur Größe „ganz groß war", wie wenn sie sich hier ihrer selbst bewusst geworden sei. Was im Folgenden also Gegenstand der Betrachtung sein wird, muss nicht ausgegraben, ins Bewusstsein gehoben werden, hier war die Größe als Wesen staatlicher Ordnung schon einmal, mehrmals, begeisternde Gegenwart, richtungweisend stets für eine lange Zukunft. Dies ist es, was nun, ganz ohne Vorurteil, die historische Versuchung zur Staatsgröße heißen soll.

566

Buch 3: Der Monumentalstaat

1. Die historischen Bewusstwerdungen der Größe a) Rom - die absolute Größe Zuerst und am mächtigsten wohl ist Größe als politische Kategorie mit der römischen Staatlichkeit ins Bewusstsein der Menschen getreten. Bis auf unsere Tage ist sie im Blick auf das römische Reich Ideal und Versuchung geblieben. Nicht die riesige Last und Ausdehnung der orientalischen Großreiche hat späteres Denken geprägt, sie ist an der hellen, feinen, und darin auch irgendwie kleinen Qualität der griechischen Geistigkeit zerbrochen; hier ist das Monumentale aufgelöst worden, seine früheren Formen erscheinen noch immer, zu Recht oder zu Unrecht, als tönerne Kolosse. Doch die Römer haben dieser griechischen Qualität, der sie nicht fähig waren, die sie aber überall aufzunehmen versuchten, die riesige Dimension ihrer technisch-militärischen und zugleich ihrer menschlich-politischen Größe geöffnet, in ihren Räumen erst konnte das Feinere zum Größeren der abendländischen Kultur emporwachsen. Erstmals ist mit Rom Staatsgröße nicht mehr barbarisch, der Koloss wird zum Monument. Vermochten sie das Bessere gegenüber Athen nicht hervorzubringen - das Größere gelang ihnen allemal, immer gewaltiger wurde es, bewusst als solches und gesucht, mit dem größeren Abstand von den Quellen der griechischen Geistigkeit. Doch schon in seiner schwersten und schönsten Zeit, im Übergang von der Republik in den Prinzipat, tritt die bewusste politische Größe Roms entgegen: In der bisher unbekannten räumlichen Ausdehnung über alles Bekannte oder doch Interessante hinweg verdient sich die Macht zum ersten Mal das Beiwort der Größe, das nicht nur beschreibt, sondern rechtfertigt. Zeitabläufe aus dem Unvordenklichen heraus, eine nicht endende Reihe von Erfolgen, die in ihrer Tradition nur noch größer erscheinen, ein fortgesetzter Triumph immer noch weiter hinaus - diese Züge reißen nicht nur mit, sie umfassen letztlich alles. In noch nie gekannter Intensität organisierten Herrschens gelingt der politischen Macht Vereinheitlichung des gänzlich Unterschiedlichen der Reiche, Völker und Provinzen, soweit jedenfalls, wie der politische Wille dies überhaupt zu leisten vermag; Größe wird in dieser Einheit erreicht, aber auch in der liberal geschonten Vielfalt, auf welche sie sich stützt. Erstmals wird ein Staat in Raum, Zeit, Intensität seiner Macht nicht nur groß - ganz groß, zum Reich. Denn dies ist das römische Erbe der politischen Größe: Sie wird - unglaublich geradezu - in eben ihrer Grenzenlosigkeit sichtbar, so dass außerhalb der Grenzen nur politisch Bedeutungsloses zurückbleibt. Und sie erscheint nicht nur als Quantität, sondern von Anfang an in jener Monumentalität, welche sich in der Dimension der Unvergleichbarkeit enthüllt. Von da an hatte Größe immer einen absoluten Klang, sie wurde aus sich selbst definiert, nicht aus dem Kleineren heraus, das vielmehr von ihr aus gesehen wurde und immer nur noch bedeutungsloser erschien. Damit hat die politische Größe Kraft und Höhe der Idee erreicht. Darum ist sie Jahrtausende lang immer wieder bewundert worden, unerreichtes Vorbild ge-

Α. Einführung

567

blieben, ein Monument, von dessen Höhe man - über alles andere - hinweg sehen konnte. Drei Grundregeln der Staatlichkeit in Größe haben die Römer, wenn nicht gewusst, so gelebt: dass das Große sich aufbaut, aus den kleinen, unscheinbaren Ziegelsteinen ihrer Monumentalbauten, im Schritt auf Schritt der Legionen, von Sieg zu Sieg. Dass ferner Größe zur Einheit nur werden, Modellkraft politisch lediglich dann erreichen kann, wenn sie überall gleichmäßig hervortritt, wenn da nichts ist, was nicht groß gedacht würde, in weiteren Dimensionen verwirklicht. Nur dann wird schließlich Monumentalität erreicht, wenn die Dimension absolut gesetzt wird, wenn Staatlichkeit nicht das Größere bedeutet, sondern das Große an sich, das Einzige, in einem Zug zum Monopol in allem und jedem. Die Faszination, welche die Antike stets von neuem auf so viele Generationen ausgeübt hat, liegt gerade in diesem Selbst-Bewusstsein einer erstmals monumentalen Staatlichkeit. Legionen hat es immer gegeben und Triumphe, das Imperium nur einmal, dieses riesige Fundament des griechischen Geistes. Und wenn es, so verstanden, vielleicht auch nur ein Sockel war - ganz Rom liegt zuallererst beschlossen in einem Wort: Exegi monumentum. In dieser ganz selbstverständlichen römischen Größe sind Staatsrecht und Politik ein für allemal in das Reich des Geistes hinaufgewachsen.

b) Die Weltkirche Das Zweite, das Kirchliche Rom, hat nicht nur dort dieses monumentale Ideal verfolgt und verwirklicht, wo es im Kampf um das Reich dieser Welt an sein antikes Vorbild anschloss. Die katholische Weltkirche hat die römischen Kategorien der staatslegitimierenden Größe in ihr eigenes geistiges Reich übernommen, sie potenziert, bis ins absolut Transzendente hinein gesteigert. Aus unendlich vielen kleinen Steinen baut sich auch hier das Mächtige auf, die Weite der Weltkirche aus den zahllosen Gemeinden und Diözesen, wenn nicht gar aus den Herzen all jener Gläubigen, die eben auch „unmittelbar zu ihrer Kirche sind". Größe bringt ferner der Atem, der alles Kirchliche immer belebt hat, aus der übergreifenden Einheit von Rom ist alles gesehen, was je diese Kirche getragen, höher gebracht hat, und sei es auch im Kleinen und Kleinsten. Immer öffnet sich etwas wie eine ganz große Dimension nach oben; jene Kirche, welche die analogia entis auf philosophische Fahnen geschrieben hat, wollte sie selbst in allem und jedem, bis in die feinsten Verästelungen ihrer Organisation hinein, verwirklichen: Das Kleine wird größer auf dem Hintergrund des ganz Großen, denn der Herr ist in jedem kleinsten Akt seiner Kirche ganz. Die dritte römische Grundregel schließlich, die Größe an sich als Legitimation einer Ordnung - keine Institution hat sie je so ernst genommen wie das Zweite Rom. Es lebt ja aus der „Größe an sich", jenem Gott, der seit dem Alten Testament

568

Buch 3: Der Monumentalstaat

immer zuallererst nicht der Gute, sondern der Große genannt wird, aus dieser seiner Größe heraus zur Mahnung, zum Monument für die Menschen geworden. Nicht die Wahrheit steht am Anfang dieser Religion, nicht das Gute - die Größe. Deshalb wohl ist politisches Denken noch auf Generationen hinaus geprägt von solcher „räumlichen Dimension des Politischen" im weiteren Sinne, die wichtiger ist als alles Suchen nach rationaler Richtigkeit oder moralischer Qualität in der Politik. Die Gottesidee hat so den Begriff der Größe endgültig, wie es scheint, besetzt, seit eine riesige Organisation, die Kirche, es unternommen hat, diesen Sinngehalt der Größe bis ins Politische hinein legitimierend sichtbar werden zu lassen. Diese transzendente Monumentalität schwebt nicht nur über den politischen Wassern, sie taucht ein, täglich und allerorts, in die Politik und ihre Kämpfe, richtet sie nach oben aus, lässt das Wort „Größe" zum Anruf des ganz Großen werden. Die Kirche hat auch politisch diesem Begriff einen Zug ins Unendliche gegeben - außerhalb von Größe kann nichts mehr gedacht werden, und so muss denn auch die Umkehrung gelten: Wo immer Monopol verlangt wird, also auch im Staat, muss dahinter etwas von so verstandener Größe sichtbar werden. Es ist, als überkomme in neuester Zeit diese Kirche Angst vor ihrer eigenen Dimension, vielleicht will sie sich von ihrem Triumphalismus aber nur deshalb trennen, um von der Größe jedenfalls die Weite sich zu erhalten. Doch wo immer sie in kleineren Reformen die Unendlichkeit ihres Gottes aus dem Blick zu verlieren droht, gerade darin vielleicht, und in all den zahllosen Säkularisationen unserer Tage, öffnet sich erst recht der entkirchlichten Politik ein Weg in die Größe, und sei es auch nur die Versuchung zu ihr: Gedanken, einmal in solcher Dimension gedacht, sterben nicht, wenn sie die Kirche nicht mehr weiter trägt, werden sie zu Schubkräften vergleichbarer Mächtigkeit im weltlichen Bereich; in der Renaissance mit ihren Entkirchlichungen ist es ebenso erlebt worden wie in der Säkularisierung der Philosophie des deutschen Idealismus, welche nach dem kantischen Verlust der Transzendenz sich mit Hegel eine neue, diesmal ganz staatliche Unendlichkeit aufbauen musste. Diese Geschichte schon zeigt: Das wahrhaft Monumentale mag in der Politik zerschlagen werden, es bleibt noch in den Trümmern groß, dem Aufruf zu seiner Ganzheit. c) Die ganz große Freiheit Das bedeutendste Beispiel der Überwirkung zugleich römischer und kirchlicher Monumentalitätsgedanken in die Politik, in die der Gegenwart zumal, das ist die große Freiheit. In ihr scheint alle staatliche Größe zerschlagen zu sein, emsig sucht radikaler Demokratismus, bis hin zu Anarchismen, auch noch die letzten Brocken alter, großer Staatlichkeit zu zermahlen. Und doch wird daraus sehr rasch jener Beton gemischt, in welchem dann ganz große, monumentale politische Bauten wieder emporwachsen.

Α. Einführung

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Die Grundrechtlichkeit darf ja nicht nur verstanden - missverstanden oder missdeutet - werden als Kampf der Schwächeren gegen die Stärkeren, jedenfalls aber mit dem Ziel, irgendwelche frühere Größe zu verkleinern. Dieser anti-absolutistische Affekt hat die Bewegung zur Freiheit getrieben, doch in der Französischen Revolution, vor ihr bereits, wird überall deutlich, dass auch hier nur neue Größe in die alten, großen Gefäße gefüllt werden soll. Dies zeigt sich nicht nur in der Leichtigkeit, mit welcher absolutistische Denkformen und Institutionen von der Französischen Revolution übernommen worden sind, die eben zuallererst nur einen Souveränitätswechsel vollziehen wollte, vom großen König hin zum noch größeren Volk. Wo immer demokratische Staatsorganisationsformen die notwendige Folge oder gar Begleitung von Freiheitsstößen sind, bedeuten diese nicht eine Wendung gegen größere Staatlichkeit, sondern nur deren Umorganisation. Doch die Französische Revolution lehrt, gerade in ihrem Freiheitsdrang, noch eine ganz andere, eben dieser Freiheit wesentlich innewohnende Größe. Den Revolutionären ging es ja nicht in erster Linie um die Harmonie irgendeiner Staatsgeometrie, auch nicht allein um die „Richtigkeit" der neuen Staatsform der Freiheit. Sie wollten staatsgründend im wahren Sinne des Wortes wirken, in einem ganz großen Wurf, wie ihn solche Grundlegung verlangt, in einem Aufbruch, in dem sie im Namen der Freiheit ganz Europa erschüttert haben. Erst im Gefolge der Freiheit ist die französische Grandeur zum Kernwort dieses Volkes und einer ganzen Epoche geworden. Sehr rasch war nicht mehr die Freiheit das Entscheidende, sondern der Aufschwung, den sie zur Größe einer universellen Lebens- und Herrschaftsform in die politische Welt gebracht hat. In der Universalität der Menschenrechtserklärung liegt das potentiell Unbegrenzte der römischen Größe ebenso wie die unvergleichliche Überlegenheit, mit deren Anspruch all dies einhergeht. Und diese Freiheit trug ja in sich damals historisch nicht nur die ganze Dimension des systematischen Naturrechts, welches eine globale Ordnung anstrebte; sie wurde als etwas „Großes an sich" empfunden, hier hatte sich geradezu etwas wie eine politische Menschwerdung der säkularisierten Gottesidee vollzogen. Damals wie heute kann Freiheit nie, aus ihren historischen Ursprüngen heraus, verstanden und die Grundrechtlichkeit nie begriffen werden als ein Zug zu Kleinerem, sondern immer nur als ein Anruf zur ganz bedeutenden Gestaltung im staatlich-gesellschaftlichen Bereich; und schließlich soll hier ja der Bürger ganz groß werden, dessen Freiheit die Französische Revolution ein unzerstörbares Monument gesetzt hat. Damit allein schon konnte die „Große" Revolution Restaurationen und Konservativismen der nächsten zwei Jahrhunderte im Kern unbeschädigt überstehen, weil auch all ihre Gegner diese ihre Sprache verstanden und achteten - die Schriftzeichen historischer Monumentalität

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d) Napoleon - die historische Menschwerdung staatlicher Monumentalität Der Übergang von der Französischen Revolution ins Empire und ihre kombinierte Weiterwirkung zugleich mit diesem in Frankreich, Russland und anderswo, erklärt sich gerade aus der fundamentalen Gemeinsamkeit, welche im Begriff der Größe liegt: Unverändert fasziniert die napoleonische Staatlichkeit, das Wiederanlaufen der französischen Staatsmaschine, die sich legitimiert hat aus einem „Großsein in allem" - eben aus jenem unverwechselbaren, stets begeisternden Napoleonischen. Dieser Mann hat nach Jahrzehnten einer Zeit, die immer kleiner und feiner werden wollte, griechische Eleganz wieder erreicht hatte, das Große in den Staat und über die Welt zurückgebracht, und nicht nur in seiner Grande Armee, seinen Schlachten-Durchbrüchen. Erstmals entfaltete er bewusst die „Größe" überall, auch und gerade in jener Verwaltung, die doch sonst das" wesentlich Kleine im Staat" bedeutet, den Staat der" kleinen Münze". Er hat gelehrt und damit fasziniert, dass Organisation nicht zu verkleinernder Ordnung werden muss, dass sie sich letztlich nur in der großen Lösung wirklich bewährt und auf Dauer. Jene Administration, welche heute so vielen als das typische Experimentierfeld des Pragmatischen erscheint - Napoleon hat gerade sie zum rocher de bronze zusammengeschweißt, der in seinen Einzelgestaltungen, wie im Geist seines Volkes, Jahrhunderte überdauern konnte, nahezu unverändert; nur darin kann man das politische Frankreich auch heute noch wirklich begreifen. Kritikwürdig, ja schlecht, war an diesem Menschen so vieles, alles vielleicht oder gerade der Kern - und doch alles so groß, dass Richtigkeit und Güte davor verblassten. Das kleinste Wort dieses in so vielem kleinen Mannes grub sich in erzener Monumentalität in die Herzen seiner Grenadiere und seiner Zeit, der unbedeutendste Augenblick wurde historisch und damit - ganz große Staatlichkeit. Vor allem aber baute sich diese weitere Machtdimension auf in der eigenartigen, typisch napoleonischen Verbindung der „Größe der äußeren und der inneren Souveränität", der „großen Lösungen der Staatlichkeit" zugleich in Außen- und Innenpolitik - und aus deren wesentlicher Austauschbarkeit und Kompensation untereinander. Erst aus dieser Konzentration aller Politikbereiche in der Person, der Begabung und den Erfolgen eines Mannes wuchs die Politik in den Überstaat hinauf, der bleiben sollte, auch nachdem der Übermensch gefallen war. Napoleon ist eines gelungen: eine monumentale Größe, an der niemand je vorbeikam, noch ihre Trümmer versperrten Wege in die Kleinheit. Was historisch zu leisten blieb, nach dem Ersten und Zweiten Rom, hat der Mensch vollbracht, der das Dritte bringen wollte und daran so rasch gescheitert ist: die Menschwerdung der politischen Größe, welche das antike Rom letztlich nicht im Cäsar, sondern nur in der Institution des Cäsarentums hervorbrachte, welche das Zweite Rom in seinen unendlichen Gott verlagerte. Nun aber schien es und scheint es noch immer, als könne diese Größe in Menschengestalt geboren werden: So ist Napoleon zur

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Versuchung für die Großen eines Jahrhunderts geworden, für alle aber - zum Monument. 2. Die Machtpolitik der „nationalen Größe" Im 19. Jahrhundert hat sich, im Zusammenfließen revolutionärer und napoleonischer Strömungen, eine Praxis nationaler Machtpolitik entwickelt, in welcher die Identifikation von „Staat" und „Größe" zur Selbstverständlichkeit, zur Tradition geradezu geworden ist, im Reichsgedanken. Im englischen und französischen imperialen Machtstreben ebenso wie im transkontinentalen Herrschaftsanspruch der USA und der russischen Imperialität kam immer ein Gleiches zum Ausdruck: Staatlichkeit als Ausdruck nicht der Macht, sondern der ins Monumentale strebenden Mächtigkeit. Im transkontinentalen Ausgreifen der Herrschaftsgebiete vollzog sich dies ebenso wie in den oft romantischen Versuchen, die eigene Imperialität aus langer, bedeutender Tradition zu begründen. Alle römischen Elemente der Staatsmonumentalität finden sich hier wieder, denn auch die Herrschaft beginnt, mit ihrer flächendeckenden Administrativierung, die Intensität wahrhaft großer Staatlichkeit zu erreichen. Doch es war nicht das „innere Staatsrecht", aus dem heraus in erster Linie staatslegitimierende Dimension gesucht wurde; die volle Synthese von äußerer und innerer Souveränitätsgewalt und ihre gegenseitige Kompensation, wie sie noch bei Napoleon bestanden hatte, verschob sich immer mehr in den Primat des Großen in der Außenpolitik, der Größe durch machtpolitische Expansion. Dieses Erbe hat das 19. Jahrhundert auch dem 20. überlassen. Über dessen Ende hinweg haben immer nur die Geschlagenen ihren Staat und seine Begründung anders als aus solcher Größe gewinnen können. Selbst die romantischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts - und wie mächtig wirkten sie doch noch bis hin zu Faschismus und Nationalsozialismus - haben all dies nur noch verstärkt. Sie alle stellten ein nicht immer klar bestimmtes, darum aber nur um so wirkmächtigeres Größenideal in ihre Mitte, gesteigert bis zur Gigantomanie, von den verdämmernden Kathedralen und den riesigen Türmen, welche einen Staat symbolisieren sollten, bis hin zu der wagnerianischen Staatstitanik der letzten deutschen Imperialität. Immer mehr galt, dass Größe Wahrheit ersetzt und Richtigkeit, dass Ordnung sogar als Selbstwert verblassen darf, wird sie nur groß genug angelegt. Und der Primat des außenpolitischen Ausgreifens vor aller inneren Monumentalität verstärkte sich nur noch weiter. Dies ist eine Tradition der Monumentalität des Politischen, in der die Größe absoluten Vorrang gewinnt, den Staat geradezu als solchen definiert. Mittlere und kleinere Mächte scheinen dieses Wort nurmehr in Anlehnung an größere zu verdienen, oder in der Bereitschaft, sich mit ihnen zusammenzuschließen. Die Einungsbewegungen in Deutschland und Italien stehen in diesem immer mächtigeren Strom.

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Vor einigen Jahrzehnten hat er sich nun, im Zentrum Europas jedenfalls, gebrochen. Das Ende der großen Träume - ist es nicht auch das Ende der Größe in allen Gesprächen um den Staat? Mit demselben Schwung, in welchem sie Größe über außenpolitische Macht um jeden Preis gesucht hatte, wirft sich nun deutsche Staatspraxis in das Gegenteil, bene vixit qui bene latuit als Staatsmaxime. Unbeeindruckt von Vorgängen außerhalb ihrer Grenzen, wo noch immer Staatlichkeit mit Größe identifiziert und der Staat auf seine Monumentalität gestützt wird, suchen viele in Deutschland nicht nur das Heil, sondern das Wesen ihres Staates in der Gediegenheit von Schweizer Dimensionen - als ob in der Schweiz stets klein gedacht worden wäre ... Der Primat der Qualitätsbeurteilung der Staatlichkeit hat gewechselt, Innenpolitik gewinnt eindeutigen Vorrang, der allein noch nach außen bedeutsame Ausgriff der Wirtschaftspolitik soll nun die Überwirkung der „inneren Kräfte" nach außen ebenso bringen, wie früher, umgekehrt, in mächtigen Kriegen die innere Beruhigung gelingen sollte. Doch in all dem ist kein Zug zu einer wie immer verstandenen Größe mehr erkennbar, und sorgfältig achten die Hüter der zerbrechlichen Staatlichkeit, welche einer zerbrochenen folgte, darauf, dass auch nur der Anschein des Größeren vermieden werde. In dieser Lage müssen die folgenden Betrachtungen stets mit einer Kritik rechnen, welche aus einem historischen Missverständnis erwächst: So wie die heutige Staatlichkeit in Deutschland sich völlig untriumphalistisch gibt, sich kaum Erfolge einzugestehen, sie jedenfalls nicht zu feiern wagt, so hat sie auch nurmehr ein negatives Verhältnis zum Begriff der Größe im staatlichen Bereich, geschweige denn, dass sie darin ein Wesensmerkmal aller Staatlichkeit erkennen möchte. Diskussionen darüber sind, soweit ersichtlich, nirgends auch nur begonnen worden. Gerade deshalb werden sie hier angeregt, zur Überwindung vor allem dieser deutschen Megalophobie, die immer wieder begegnen wird. Denn es ist eben ein schwerer, vielleicht schicksalhafter Fehler, all diese vielen und tiefen Lehren vergangener Monumentalstaatlichkeit einer großen Niederlage zu opfern. Sie erwuchs aus der Einseitigkeit außenpolitischen Machtstrebens, aus einer Verengung der Größe auf jenes Militärische, das immer nur Anstoß zur Größe oder ihr Ergebnis sein kann, niemals wirklich ihr Zentrum bedeutet. Diese Veroberflächlichung des Größenbegriffs im Staatsrecht hat schon das 19. Jahrhundert in seinem nationalistischen Pathos begonnen, die klein gewordene Gegenwart Deutschlands erhebt es zum System. Damit sperrt sie sich auch hier wiederum von Kraftquellen der Geschichte und der eigenen Gegenwart, insbesondere aber des staatsphilosophischen Denkens ab, wo es um zivile Staatlichkeit, um Organisation und Ordnung zuallererst geht. In solcher Einseitigkeit weicht die Gegenwart noch hinter die schon schlechten Vorbilder des 19. Jahrhunderts zurück: Bei aller Wertschätzung des Außen- und Militärpolitischen war jener Zeit immerhin noch bewusst, dass Größe ein Attribut der Staatlichkeit an sich zu sein hat, dass sie sich nicht in Millionen von Gewehren allein ausdrücken lässt. Ein Hauch von Staats-

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große geht denn auch durch die staatsrechtliche Literatur des vergangenen Jahrhunderts, wenn sie sich mit der preußischen oder der deutschen Verwaltung beschäftigt, die österreichische Administration beschreibt und preist, die englische zivile Organisationskraft oder die unermüdliche italienische Kolonisationsfähigkeit. Große Anstrengung und große Ordnung sind Worte, welche durchaus noch diesem Sprachschatz geläufig sind, der erst später zu Tanks und Schlachtschiffen vergröbert wurde. Dass Staaten aus der außenpolitischen Größe verdrängt worden sind, kann dann zum Glück werden, wenn der Primat der innenpolitischen Größe als Wesensmerkmal des Staates neu gesehen, wenn diese geduldig und Schritt für Schritt aus Kleinem und Kleinstem aufgebaut wird. Und deutsches Denken hat hier eine Chance: „Innere Größe" war und ist ein schönes deutsches Wort; nicht nur für Menschen sollte es gelten, auch für ihren Staat.

3. Die Philosophie vom „großen Staat" - Normhöhe als Staatsgröße Die philosophischen Grundlagen einer Theorie des „großen Staates" sind denn auch gerade in Deutschland und mitten in jener Zeit gelegt worden, welche von der eigentlichen, wesentlich staatlichen Größenkategorie in das rein außenpolitische Machtstreben abzuirren begann. Die Hegeische Staatsphilosophie ist die Grundlage nicht allein einer Theorie vom Staat als der großen Lösung, sondern vom Staat als dem höheren geistigen Sein. Nicht nur, dass hier die im Einzelmenschlichen immer noch anerkannte Kategorie der Größe überzeugend auf den Staat übertragen wird, auf jene Wesenheit, die eben wirklich das sein kann, was dem Menschen seine Natur letztlich versagt - es ist darin auch eine andere tiefe Erkenntnis gewonnen worden, welche heute den Begriff der Monumentalstaatlichkeit besser verstehen, in „ganz anders" erscheinenden Worten wiederentdecken lässt: „Höhe" ist eben im Bereiche der Staatlichkeit weithin nur ein anderes Wort für „Größe", es vermag jedoch diesen letzteren Begriff mit deutlicherem Sinn zu erfüllen, ihn vor der Polemik verkleinernder Geister zu schützen. Was Hegel lehrt, ist die große Staatlichkeit als das Höhere, der Staat als größtes, weil als höchstes Sein, als eine Wesenheit, welche alles Einzelmenschliche in sich aufnimmt und perfektionierend überhöht, in seiner Größe der Idee näherkommend. In diesem Stufendenken, welches sich den Ideen nähern wollte, und als dessen Spitze Hegel den Staat erkennt, hat die idealistische Philosophie stark auf das deutsche Staatsrecht gewirkt, gerade im 20. Jahrhundert, in der Erkenntnis, ja in der Konstruktion der Normpyramiden vor allem, ohne welche gegenwärtige Staatlichkeit in Deutschland nicht mehr vorstellbar ist. In all diesen Diskussionen um den Begriff des „Höheren", in allen staatsrechtlichen Konstruktionen, die sich darum ranken, ist aber letztlich stets eines mitgedacht: dass dieses Höhere eben auch das „Größere" bedeutet, dass an seiner Spitze, im Bereiche der Verfassung und der Staatsgrundsatznormen, das wirklich „Große" sich finden muss, weil nur dies

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allein das andere halten - im Grunde: umfassen kann. Mag heute noch so wenig von der Größe die Rede sein, in der laufenden Beschwörung der Höhe von Entscheidungen und Normen hat dies nur einen anderen Namen gefunden, der zwar nicht alles von früherer Monumentalität aussagt, die Richtung aber deutlich weist. In all dem hat sich letztlich nur eine Parallelentwicklung zum Religiösen im säkularisierten Bereich des Rechts vollzogen: So wie dort der alte Gott der Juden, der immer zuerst der Große war, zum höheren sich wandeln und dann in fernen Höhen verdämmern sollte, so wird die größere Macht früherer Autokratismen in die „höhere" der Verfassung spiritualisiert. Doch alle diese Begriffsverschiebungen, oft nur Begriffs-Akrobatien, vermögen eines nicht zu verdecken: In der Höhe, soll sie nur etwas bedeuten, ist eben auch und vor allem die Größe mitgedacht. Wo immer die Staatlichkeit vertikal gestuft wird, von den Gemeinden bis zum Bund, von den Verordnungen bis zu den Staatsgrundsatznormen, da richtet sich dies nicht etwa immer auflösend gegen Monumentalstaatlichkeit, es bedeutet nur eine Transformation, vielleicht Spiritualisierung derselben. So ist denn die Hegeische Größen-Höhen-Philosophie gerade der letzte Ausdruck der hegemonialen Versuchung - zur Monumentalität im Zentrum des Staates, nicht nur in seinen äußeren, wehrhaften Spitzen. Über diese Größe aber kann keine geschichtliche Entwicklung hinweggehen, ihr Träger bleibt die Staatlichkeit; und wenn etwas groß gewesen ist am Staat in der letzten Zeit, so ist es die Qualität dieser Staatsphilosophie der Größe.

III. Staatsgröße Wesenselement entwickelter Demokratien Die historische Erfahrung der letzten Jahrhunderte zeigt, dass die Frage nach der „Staatsgröße", als Wesen aller Staatlichkeit wie als Versuchung der Politik, keine geschichtliche Zufälligkeit, sondern etwas wie eine historische Normallage beschreibt. Wird sie rein außenpolitisch gestellt, so mag dies durch vernichtende Niederlagen zuzeiten verschüttet sein - in anderen, ebenfalls staatsgrundsätzlichen Erscheinungen ist die Frage gerade heute wieder besonders gegenwärtig: Geschichte und zukunftsgeöffnete Erfahrungen verbinden sich in der Erkenntnis, dass nach dem „großen Staat" gerade jetzt gefragt werden muss, dass dies nicht etwa staatsromantische Abwege sind.

1. Die Verstärkung der systematischen Staatsgewalt nach innen - „innere Größe" des hochtechnisierten Staatswesens Die Unwiderstehlichkeit der Staatsgewalt nach innen nimmt heute im gleichen Maße zu, wie sich die militärische Durchsetzungsfähigkeit nach außen abschwä-

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chen mag. Das Gewaltmonopol der Staatlichkeit bedarf im Grunde heute weder der Rechtfertigung noch gar der Verstärkung, daran können einzelne Attentate und Demonstrationen nichts ändern; sie dienen oft nur zur Legitimation weiterer technischer Staatsmachtverstärkung. Trotz aller Möglichkeiten, ihre Wirkung im Einzelnen zu unterlaufen, kommen die neuen Techniken in der Regel und flächendeckend den Großorganisationen zuerst zugute, an erster Stelle dem Staat. Lücken in diesem immer feineren Netz werden nur deshalb häufiger bewusst, menschliches Versagen tritt darum besonders in Erscheinung, weil nahezu alles durch eine immer höher technisierte Rechtsordnung besetzt ist. Dass die einseitige HoheitsEingriffsgewalt nicht stets unwiderstehlich sein kann, beweist nichts mehr gegen die Absolutheit der inneren Souveränität: Längst hat sich jene mit Formen gewährender und partizipativer Staatlichkeit verbunden; dass es aus diesem Leistungsstaat kein Entrinnen mehr gibt, ist ein Gemeinplatz. Diese Staatsmacht erscheint dem Bürger als eine „große", nicht im lastenden Gewicht eines Einzelbefehls, sondern in der Allseitigkeit des technischen Netzwerks. Dass der Staat „groß" ist, wird nicht mehr durch die Hoheit seiner Abzeichen bewiesen, sondern durch die Unausweichlichkeit, welche seine Bürger umspannt. Der Abstand zwischen der Individualkraft und dieser hochtechnisierten Kollektivität nimmt zu, trotz aller oft verzweifelten anarchisierenden Ausbruchsversuche aus ihr, die sie immer nur neu bestätigen. Darin aber wird der Staat als etwas Allgegenwärtiges erfahren - wie könnte dies nicht zugleich ein Erlebnis wahrer „innerer Größe" sein? Warum sollten sich die Bürger der Fragestellung nach dem „Monumentalstaat" entziehen, wenn sie immer mehr in diesem Felsen von Watte - wenn schon nicht mehr von Bronze - gefangen sind? Ist es nicht Zeit, gerade in diesem Zustand der immer höher technisierten Staatlichkeit die Frage nach der Staatsgröße erst recht zu stellen? Gewiss - das „öffentliche Interesse" ist heute dem privaten vergleichbar, kommensurabel geworden, täglich legt die Verwaltungsgerichtsbarkeit beides auf dieselbe Waage, und nicht selten tritt das staatliche Gewicht zurück. Doch was ändert dies daran, dass so oft und immer öfter eben doch dieses „öffentliche Interesse" durchschlägt, gleich auf so breiter Front durchbricht, dass der Richter gar nicht mehr zur Einzelabwägung zu schreiten braucht, der Bürger von vorneherein schon entmutigt wird? Man betrachte die neuere Umweltschutzentwicklung: Wenn ihr gegenüber die Grundrechte, vor allem das Eigentum, „im Zweifel", ja „in aller Regel" zurücktreten müssen, in zahlreichen, bald unzähligen Einzelbereichen wäre dies denn nicht eine moderne Form „großer Staatlichkeit", in dieser ihrer Intensivierung nach innen? All dies sind staatsform-unabhängige Erscheinungen, hier ist Staatstechnik am Werke, von Moskau bis Paris, und bald bis nach Washington. Solche technische Größe, bis hin zur monumentalen Unbeweglichkeit eines Riesenapparats, scheint mehr und mehr zum Attribut aller Staatlichkeit zu werden, nicht zu einer regimebedingten Besonderheit derselben. Jene „Größe", die sich von Schlachtfeldern und

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Militärparaden verdrängt sieht, steigt in der Technizität des modernen öffentlichen Rechts aus ihrer Höhe hinab in die unzähligen Amtsstuben und durchformt in unübersehbarer Allgegenwart das ganze Gemeinwesen. Wo immer sie auftritt, wirkt sie in leiser Größe, in oft nur nebelhafter Monumentalität; doch stets und überall fühlt sie in sich die Versuchung zu noch mehr Größe, und sie erliegt ihr. Oder wäre nicht die Bürokratie zuallererst und immer eine „große Erscheinung", quantitativ und qualitativ, ein Berg, der nicht erdrückt, aber erstickt?

2. Das Volk - das politisch Große Große staatstechnische Mittel schaffen sich rasch ihre großen politischen Ziele, noch schneller finden sie ihre größeren politischen Träger. Die Demokratie sieht hier kein Problem; das heutige Wort für politische „Größe" heißt „Volk". Nicht nur größer ist es als der Einzelne und jede Gruppe von solchen, es erscheint als schlechthin „groß", gibt es doch außer ihm nichts anderes mehr, weder räumlich noch zeitlich: In seiner allgegenwärtigen Intensivierung begegnet man ihm überall, und in der Tat auch immer mehr gleichförmig, in der Nivellierung von Denkweisen und sozialen Gewohnheiten. Real ist es überall gegenwärtig, in der geistigen Unfassbarkeit der Abstraktion erst recht, außerhalb von ihm gibt es keine Legitimation mehr. Die demokratische Totalität, die am stärksten absolute, ist oft genug beschrieben worden. Sie verstärkt sich noch in der Unsterblichkeit dieser immer neu geboren werdenden politischen Gottheit, welche die Alten wohl ein Monstrum genannt hätten. Nun liegt allerdings die Kraft dieser unfassbaren täglichen Begegnung nicht so sehr in einer massiven Erscheinung, mag das „Volk" auch zuzeiten in Blockform zusammengeschweißt werden, als vielmehr in der schäumenden Dynamik, die immer ist, ständig aber kommt und geht. Diese demokratische Flexibilität, die Kraftquelle allen Populismus, steht nun aber, so mag es scheinen, gegen alles, was man an monumentaler Größe als Wesen der Staatlichkeit entdecken möchte. Sie müsste dann doch etwas Statisches an sich haben, und kann die demokratische Doktrin nicht einwenden, gerade diese Mauern früherer Zwingburgen habe sie mit ihren völkischen Bewegungen unterspült? Doch die Volkssouveränität ist größer als solche historische Zufälligkeit. Ganz wesentlich ist sie immer aufgetreten als das „bewegte Statische", dieses dynamische Monument lässt sich nicht so leicht von einem Sockel stürzen. Lediglich eine Begriffsverengung der Größe setzt diese mit harter Fassbarkeit gleich, wird damit dem Zug ins Unendliche nicht gerecht, mit dem doch nahezu jeder, gerade in politischen Dingen, das Wort ausspricht. Nur wer die Frage der Monumentalstaatlichkeit in einem neuen Sinne auch und gerade an die Demokratie stellt, kann ihre wahre „Größe" erkennen, die Erscheinungsform, die dieser Begriff im Politischen heute zuallererst annimmt: Die Volks-

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herrschaft bindet in sich alles ein, was man, in grundrechtlicher Überzeugung, als „Individualstaatlichkeit" bezeichnen könnte, die laufende staatsformende Kraft der Bürger. Gerade diesen Bürgern gegenüber ist der Staat nun der Größere - nein: das Große schlechthin, weil er, aus ihnen geboren, im Grundsatz wenigstens ständig ein „menschlicher" bleiben soll, mit ihnen daher vergleichbar. Und gerade darin ist er der „größere", dass er sie zunächst schon einmal addiert, sie quantitativ zusammenfasst. Da mag man nun dieses Quantitative relativieren wie man will, mit Blick auf individuelle Höchstwerte oder gar auf die Würde des einzelnen Menschen dass mehrere auch mehr sind im Staat, wird täglich deutlich, nicht nur in Abstimmung und Mehrheit, sondern auch in jenen ständigen Abwägungen, welche eben doch laufend die Interessen der wenigen denen der größeren Zahl opfern müssen. Doch dann setzt erst der entscheidende demokratische Kunstgriff ein, das demokratische Wunder vielleicht, das nie voll erklärt wird, weil es damit entzaubert würde: Das Volk, „die Gemeinschaft", ist eben doch - und soll immer sein - größer als seine Teile, der Umschlag findet statt aus der Quantität in die Qualität, und dessen ist ja gerade der Jurist des Staatsrechts stets zufrieden. Nun begegnet er seiner „volonté générale", und wie sollte diese nicht groß, ja ganz groß sein, wo sie sich doch auf dem aufbaut, sich dem aufzwingt, was schon so groß, ja fast absolut gesetzt wird: dem einzelnen Bürger und seinen höchsten grundrechtlichen Werten? In diesem Sinne macht alles, was ihn seinem Staat gegenüber schützen soll, diesen nur immer noch mächtiger - und größer. Für die folgenden Betrachtungen aber stellt sich, gerade aus der Sicht solcher Demokratie, in besonderer Weise die Frage nach Quantität oder Qualität, und die der Übergänge zwischen beiden, wenn von Größe die Rede ist und Monumentalität. Etwas von beidem liegt wohl in diesen Begriffen, vielleicht muss Größe gerade in der schweren Bestimmbarkeit der Übergänge von Quantität und Qualität im Politischen gesehen werden. Um schließlich im monumentalen Bild zu bleiben: Dieses Volk der Demokratie ist „groß" - ganz einfach durch seine Allgegenwart und darin, dass jeder zu ihm gehört, jeder, dem gerade in einer rechtebewussten Demokratie eines gemeinsam eigen ist: dass er sich selbst nicht nur der Nächste, sondern der Größte ist. Wenn dann dieses Volk auch verteilt, ja verwässert vielleicht erscheint - es bleibt an ihm auch etwas von jenen zermahlenen Monumenten aus Marmor, deren zementierende Kraft am Ende alles einmauert. In diesem Sinne ist die Volkssouveränität der „große staatsrechtliche GrößenVersuch" der Gegenwart, der mit einem wahrhaft monumentalen Wort unternommen wird. Der Absolutheitsanspruch, mit dem heute die Demokratie vorgeht, alle anderen Regime in die Vergangenheit, jedenfalls aber in die totale Illegitimität zurückweisend - all das zeigt einen Willen, alles Politische zu besetzen. Und liegt nicht eine erstaunliche Größe bereits in diesem Anspruch, wäre politische Größe eigentlich je im letzten mehr gewesen als ein Anspruch - in Augenblicken mehr oder weniger verwirklicht? 37 Leisner

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Niemand muss also, gerade heute, die Frage nach der Staatsgröße drängender stellen als der Demokrat.

3. Demokratischer Einungsgedanke Zug zur größeren Staatlichkeit Dass großflächige politische Einungen nur schwer gelingen, von Afrika bis Europa, beweist nichts gegen ihre Notwendigkeit, die überall gesehen, mehr noch gefühlt wird. Hier fließen die Ströme der modernen Demokratizität zusammen, in dem Streben nach dem Größeren, im Grunde nach der ganz großen Staatlichkeit. Ob sie nun, wie alles politisch Große, schrittweise verwirklicht werden kann oder doch in mächtigeren Schlägen, ob sie nahe ist oder fern - geprägt erscheint heutiges Staatsdenken nicht nur von den staatsrechtlichen Wirklichkeiten, sondern von fernen Zielen, und seien es selbst unerreichbare Ideale. Wie also sollte der Bürger von heute keinen Sinn für Größe als Wesenselement der Staatlichkeit haben, wo er doch täglich den Wunsch nach größerer weiterer Staatlichkeit hört, bis hinein in Globalisierungen, die sie vorbereiten - oder bereits sind? Die wirtschaftlichen Interessen, Speerspitzen heutiger Zusammenschlüsse, dürfen von dieser Staatsgrößen-Problematik nicht ablenken. Für sie mag sie sich nicht primär stellen, Monumentalstaatlichkeit dem Merkur eher im Wege stehen, der über Grenzen und verschiedene Länder sich tragen lässt. Doch ihm folgt, langsam aber sicher, die gepanzerte Schildkröte der Staatlichkeit, auf kräftigen staatsgrundsätzlichen, ja sogar ideologischen Füßen. Sie weiß die Frage nach der Größe zu stellen, schon in ihrem technischen Apparat, in einem gewaltigen Parkinsonschen Gesetz ihre Bürokratie von Land zu Land ausdehnend und gleichschaltend. Diese internationalen Zusammenarbeiten mögen dem Bürger zuzeiten schon unheimlich erscheinen, wenn sie der Verbrechensbekämpfung dienen sollen, bei Zoll und Finanz aber enden. Ununterbrochen vollzieht sich die bürokratische Verflechtung über die Grenzen hinaus, in der Schaffung nicht großer, sondern riesiger Verwaltungsräume könnte sie sich wohl eines Tages vollenden; noch ist sie lange nicht am Ziel - und sie bewegt sich doch. Wenn solche Dimensionen, in Brüssel und anderswo, auch nur gedacht werden können, ist es höchste Zeit, über die große Staatlichkeit nachzudenken. Und erst recht für den Demokraten ist diese Zeit gekommen, denn seine politische Überzeugung treibt in diese Dimensionen größerer staatsähnlicher Zusammenschlüsse. Die Volkssouveränität war sicher im 19. Jahrhundert zuallererst ein Isolationsbegriff, in ihm schloss sich der Macht und Größe suchende Staat in seinem Bürgerelement enger zusammen. Dies ist nicht mehr die Größen-Dynamik der Gegenwart, oder allenfalls noch dort - in der Absperrung nach außen - wo bereits das „größere Volk" Wirklichkeit geworden ist. Wo es noch, auf Zusammenschlüsse hin, gesucht, ja geschaffen werden muss, wirkt der Volksbegriff mit eben jener ein-

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schmelzenden Wirkung, die sich bereits in den Großreichen Amerikas und Russlands gezeigt hat: das Volk als der Begriff der „größeren", ja der virtuell unendlichen, sich aber zusammenschließenden Masse. Das zusammengeschweißte Volk des sowjetischen Föderalstaates, der Schmelztiegel USA - überall hat der einebnende Volksbegriff die Grundlage für riesige Staatlichkeiten geschaffen. Das Volk hat zu sich als etwas Größerem gefunden in der klassenlosen amerikanischen Gleichheit, in welcher seine Basis ganz breit - also eben doch groß - geworden ist; im Kampfruf der Vereinigung aller Proletarier lag lange der populistisch-grenzüberschreitende Anspruch auf das riesige Volk des Weltproletariats, als Grundlage der ebenso gewaltigen Größenordnung der kommunistischen Weltstaatlichkeit. Alle diese Größen-Züge kommen aus dem Begriff des Volkes und seiner Souveränität selbst heraus, und warum sollte sie nicht auch europäischen, arabischen oder afrikanischen Einungen eines Tages die staatsgrundsätzliche Schubkraft verleihen können? So drängt denn alles, was bisher Anläufe zur Größe gezeigt hat, die Staatstechnik wie die demokratische Staatsgrundsätzlichkeit, Geschichte wie Wirtschaft, in eine immer stärkere, immer mehr gegenwärtige Suche nach größeren Formen der Staatlichkeit. Wenn nurmehr Großunternehmen auf dem Markt letztlich überleben können, nur Großmächte mehr den Namen der Macht, der Staatlichkeit in vollem Sinn heute noch verdienen - ist dann nicht über alles und jedes nachzudenken, in dem Staatlichkeit überhaupt, auch kleinere vielleicht, solange es sie noch geben muss, eben doch - Größe zeigen kann?

4. Und daher: Frage nach der „großen Lösung", nach dem Monumentalstaat Staatlichkeit als „große Lösung" heißt das Thema dieser Betrachtungen, und aus dieser Sicht gilt all dies einleitend Gesagte: Konzentration ist ein Kernwort der Gegenwart, aus ihrer technisch-wirtschaftlichen Entwicklung. Wenn jeder Bürger in seinem Berufsleben gezwungen wird, daran zu denken, wenn ökonomische und organisatorische Überlegungen darum kreisen, wie „große Lösungen", mechanisierbare, massenweise produzierbare, gefunden werden, etwas wie die „Flächendeckung überall" - warum sollte hier das Staatsdenken ausgenommen werden, sich etwa gar in immer weitere Verkleinerungen verlieren? Und auch dort, von unten her, wo sich alles Große in kleinen Schritten aufbaut, ist dies doch längst Wirklichkeit: Die Gemeindegrenzen sind zu eng geworden, zweckverbandliche Zusammenschlüsse beherrschen alles; die Bundesländer der Föderalordnungen selbst, früher große Territorien, müssen der größten Staatlichkeit der Föderationen weichen, das Gesetz der Konzentration scheint hier unausweichlich. Was schwer noch erfassbar sein mag an dieser Fragestellung, ist der Hinweis auf das Monumentale; doch es zeigte sich schon, dass es nicht im Sinne des Unbeweg37*

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liehen, Statischen missverstanden werden darf. Entscheidend ist hier die Erkenntnis einer „Größe als Selbstzweck", einer Größe als Mahnung und Aufruf zu noch Größerem, Unendlichem vielleicht, und in Überdauerndes. Der Begriff der Größe allein wird zu klein, überhöht man ihn nicht in dem Wort vom Monument. Und schließlich muss wohl eine gewisse Festigkeit, wie sie darin eben auch durchaus mitgedacht ist, in der staatsrechtlichen Betrachtung stets gegenwärtig bleiben. Spreche man also getrost vom Monumentalstaat, damit etwas von jener festen Staatlichkeit in Händen bleibe, nicht alles in Politik zerrinne. Staatsgröße als Versuchung haben die Deutschen, die Europäer überhaupt, erlebt und dafür bezahlt. Muss dieses Wort stets und immer nur Versuchung bleiben, kann es nicht doch auch zum Kraftquell der Legitimation werden? Zwei Fragen sind den Menschen stets gestellt, von ihnen nie voll beantwortet worden: Was ist Wahrheit? - aber auch: Was ist Größe? - Selbstverständlich ist dies, wenn Größe Wahrheit ersetzen kann. So werden denn auch die folgenden Betrachtungen „Größe" nicht erschöpfen, und sie doch vielleicht wenn nicht fassbarer, so doch denkbarer machen.

Β. Was ist Staats-Größe? I. „Größe 44 als Staatslegitimation Fragestellungen - Allgemeines Dem Großen nähert man sich langsam. Die erste Annäherung an eine Begriffsklärung dessen, was unter „Staatsgröße" verstanden werden kann, muss aus den Bedeutungen erwachsen, welche dieser Begriff für die Begründung aller Staatlichkeit gewinnen kann, insbesondere der größeren, imperialen. Und bei aller Unterscheidungsbemühung muss die Einheit im Blick bleiben, in der sich Größe bewährt.

1. Legitimation: Der Bürger und sein „größerer Staat44 Die Dimension staatlichen Herrschens, in welcher Weise immer bestimmt, ist allenthalben ein wesentliches Element der Staatslegitimation. Im ganz unkritischen Sprachgebrauch bereits findet diese Gemeinschaft ihre Rechtfertigung darin, dass man sie die „größere" nennt. Durch ihre Größenordnung zuallererst übertrifft sie andere Gruppenbildungen, Großfamilien und Clans. Über den Stamm reicht der Staat dadurch hinaus, dass er als das Größere, potentiell Unbegrenzte empfunden wird. Nur darin erreicht er jene typisch staatliche Abstraktionshöhe, dass er zwar nicht im eigentlichen Sinn als ein unbegrenzter, wohl aber als etwas Großes gedacht wird. Zuwenig ist bisher bewusst geworden, dass gerade in der Abstraktion, in welcher dieses Gemeinwesen dem Bürger begegnet, ein wesentlicher Größenbegriff mitgedacht ist: Darin wird diese Gemeinschaft, diese Macht, erst recht eigentlich zum Staat, dass sie, in dieser ihrer Allgemeinheit, viele und vieles, im Grunde alles in sich aufzunehmen, jedenfalls zu beherrschen in der Lage ist. Die Staatsgröße wirkt auf alle Gemeinschaftsglieder, jeweils entsprechend ihrem geistig-politischen Entwicklungszustand, in unterschiedlicher Weise: Wo sich der Einzelne vor allem als Gewaltunterworfener fühlt, lässt das Staunen vor der staatlichen Größe keinen Widerstand bei ihm aufkommen; der seiner Rechte nicht bewusste Bürger wird durch die allseitige Größe der Staatlichkeit überwältigt. Sie ist deren erste und unmittelbarste Legitimation, alle anderen schließen sich an sie an. Der rechtebewusste Bürger entwickelter Gemeinschaften wird erst recht und in besonderem Maße durch die Dimension der Staatlichkeit beeindruckt. Sie drängt sich ihm auf, ist leicht feststellbar und überall, sie befriedigt seine rationalen Be-

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dürfnisse im Bereich des Politischen, steht weithin für das Indiskutable. Und gerade dem emanzipierten Bürger gegenüber kann sich nur der „große Staat" voll durchsetzen, mit seinem Gewicht allein vermag er die stärker werdenden Rechte der Bürger zu brechen, diese in Grenzen zu weisen. Die Staatlichkeit muss nicht nur mächtiger, sie muss weiter in allem und jedem in dem Maße werden, in welchem der Bürger sich in ihren Räumen emanzipiert, seinerseits größer werden will. Dieses Phänomen der „großen Staatlichkeit als Staatslegitimation" ist, und dies bleibt Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen, zunächst undifferenziert, die Staatsgröße wirkt in einer Gesamtdimension, welche sich aus mehreren Größen aufbaut. Hier steht noch nicht, in rationaler Verfeinerung, allenthalben Recht wieder gegen Recht, zuallererst tritt der Bürger eben „einem Größeren" in der Institution seines „Staates" gegenüber, so wie der Mensch jenem Gott, der auch zunächst für ihn nur den Beinamen des Großen verdient. Für die Betrachtung der Staatsgröße bedeutet dies, dass sie von vorneherein nicht sogleich festgelegt werden kann auf eine bestimmte Erscheinungsform dieser Mächtigkeit, dass alle derartigen aufgesucht, immer wieder in ihrer Verbindung, im Zusammenklang zu der einen Größe gesehen werden müssen.

2. „Größe 44 - Legitimation imperialer Ordnung Was dem Staat im Verhältnis zum Bürger ganz allgemein seine Legitimationskraft verleiht, sozusagen in seiner „Normalform", das gilt erst recht dort, wo sich Ordnungen mit einem imperialen Anspruch entwickeln. Jenes Reich, von dem so oft bereits die Rede war, definiert sich gerade als eine dauernde, vor allem aber größere Ordnung. Immer wieder hat die Geschichte Derartiges deutlich von mittlerer und kleinerer Staatlichkeit abgehoben. „Staatsgröße" ist hier nicht mehr nur Staatslegitimation, sie wird reichskonstitutiv: Ohne eine besondere Größen-Kategorie lässt sich ein Imperium nicht vorstellen. Von solcher Groß-Staatlichkeit her muss also zuallererst die Kategorie der Staatsgröße, wenn es sie geben soll, bestimmt werden, da sie solchen Gestaltungen wesentlich ist. Hier wird der Anschluss an eine ebenfalls bereits gewonnene Erkenntnis erreicht: Diese Imperialität bestimmt sich als eine Steigerung der kantischen Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität/Wirkung: Dort erhebt sich das Reich über dem, was „nur Staat" ist, wo sein Raum größer wird, wo es länger dauert und aus mächtigeren Wirkgründen hervorbricht. Denn diese drei Kategorien sind ja einerseits Formen menschlichen Erkennens, zum anderen aber auch Wesensmerkmale des erkannten politischen Seins der Staatlichkeit und der Imperialität. Das Reich ist also erkennbar in einer größenmäßigen Steigerung von Raum, Zeit und Wirkkraft seiner Institutionen, dies ist nur der Ausdruck der historischen Erfahrung, dass es sich eben um einen „Groß-Staat" handelt. Dann aber schließt sich

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sogleich die Frage an, welche dieser Kategorien denn nun in erster Linie „größer werden" muss, damit Imperialität erreicht werde. Dass sie alle bedeutende Straßen zum Reich sind, wurde bereits deutlich, bei der Wirkkraft aus der Triumphalität heraus, was die Zeit betrifft in der Betrachtung der Staatsrenaissance, der Wiederkehr der imperialen Staatsformen. So wäre hier nun wohl die Stufe erreicht, auf welcher vor allem vertieft über räumliche Größe nachgedacht werden muss, über den Monumentalstaat als die vor allem räumlich große Ordnung. Dies wird denn auch für die folgenden Betrachtungen stets den Ausgangspunkt bilden: die große Herrschaft über die großen Räume. Doch nicht ohne weiteres darf diese Raumvorstellung auf Machtgeographie festgelegt werden: Die „große Lösung" ist zwar in erster Linie, aber nicht immer allein, die einer ausgedehnten räumlichen Wirksamkeit. Von vorneherein kann die Raum-Kategorie, um welche es hier geht, nicht lokal verengt werden, zumindest ist immer zu prüfen, inwieweit nicht auch zeitliche Dauer und wirkungsmäßige Intensivierung „Größe" bedeuten, räumliche Größe unterstützen oder gar kompensieren können. Wie viel Großes, wie viel an wahrer Imperialität haben nicht gerade kleine Einheiten hervorgebracht und getragen, vom römischen Stadtstaat bis in die Schweiz, und liegt nicht Größe gerade auch in der Beherrschungskraft kleiner Anfänge über später immer Weiteres? Der Zusammenklang der drei kantischen Kategorien muss also im Begriff der „Größe" stets gesehen werden, seine Möglichkeit zumindest, und dies ergibt sich ja bereits aus der größenmäßigen Steigerung dieser drei Kategorien, welche allein wirklich ein Imperium konstituieren kann: Seine Größe liegt eben in allem und jedem, in seinen sämtlichen Erscheinungsformen. Damit ist nicht nur der Anschluss an die These von der primären Undifferenziertheit des Größenbegriffs wieder erreicht, welche oben schon ganz generell aufgestellt, hier aus der imperialen Betrachtung vertieft worden ist. Es zeigt sich auch, dass der Versuchung einer zweiten Verengung der Fragestellung nach der „Staatsgröße" widerstanden werden muss: Von vorneherein darf hier nicht stets allein in Quantitäten gedacht werden; auch Qualität des Herrschens kann dessen Größe begründen, und wenn diese sich stufenförmig erhebt, so sind solche graduellen Unterschiede fast immer in Qualitätssprüngen erreicht worden, während Quantität eher das kontinuierliche Ansteigen bezeichnet, mit dem allein man aber der Besonderheit der imperialen Ordnung gegenüber der staatlichen im Allgemeinen nicht gerecht werden kann. So bestätigt denn eine Betrachtung aus der Sicht der Imperialität ein Ergebnis zur Problemstellung der Monumentalstaatlichkeit: Die Frage nach der „Staatsgröße" ist, wie ihr Gegenstand, eine wahrhaft „große", in ihr fließen Elemente der Zeit, des Raumes und der Wirkkraft zusammen, sie darf daher auch nicht von vorneherein auf rein quantitative Betrachtung verengt werden.

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3. Monumentalstaatlichkeit - eine Kombination von Fragestellungen Im Folgenden werden einzelne Fragen zum Wesen der „Staatsgröße" gestellt, über welche man sich diesem ebenso wirkmächtigen wie schwer fassbaren Begriff nähern sollte. Zu vermeiden sind jedoch zwei Vorfestlegungen: auf die Frage nach der rein räumlichen Dimension des Herrschens, Verengung der Staatsgröße also auf die weit herrschende Staatlichkeit, und eine rein quantitative Betrachtung. Gerade wenn sich aber „Größe" hier auch aus zeitlichen und intensitätsmäßigen Elementen des Herrschens gewinnen lässt, wenn die Quantität nicht alles ist in der Größenbetrachtung, so kann diese doch wesentliche Beiträge zur Erkenntnis der Bedeutung des „räumlichen Geltungsbereichs", der „reinen Quantität" andererseits für das staatliche Herrschen bringen; diese beiden Begriffe werden ja bekanntlich in der staatsrechtlichen Betrachtung nur zu oft als bedeutungslose Variable abgetan, der Geltungsraum interessiert den Juristen meist ebenso wenig wie die reine Quantität seiner rechtlichen Ausfüllung. Vielleicht kann sich bei diesen Betrachtungen herausstellen, wie sehr das fassbar-Gegenständliche, um das es in diesen beiden Begriffen gerade geht, doch auch von rechtlichem Gewicht ist. Vom „Monumentalstaat" wird gerade deshalb gesprochen, weil im Begriff des Monuments alles mitschwingt, was die hier gesuchte Größe bestimmen kann: die Höhe des Standbildes, die Dauer seines Erzes und seine mahnende Kraft - all dies fließt zusammen im Monumentalen. Und auch Quantität wie Qualität verbinden sich im Monument, in diesem Begriff liegen sie unausscheidbar im Gemenge; was bedeutet die reine körperliche Größe, wenn sie nicht als eindrucksvolle Ruine verewigt ist, sondern nur ein Bild des Verfalls zeigt? Was sind Höhen und Weiten, wenn sie nicht mahnend wirken, wenn sie dem Menschen und seiner Politik nicht Wege werden, sondern nur solche drohend versperren? Juristen wird gelehrt, dass für sie der Umschlag von Quantität in Qualität entscheidend sei, dass das Recht gerade dies zu betrachten, vielleicht hervorzubringen habe. Eine überzeugende „Theorie des Umschlags" von Quantität in Qualität ist, soweit ersichtlich, noch nie entwickelt worden, vielleicht ist sie methodisch unmöglich, da sie stets von dem abhängt, was man in jene Begriffe hineinlegt. Hier soll daher, gerade bei der Monumentalstaatlichkeit, ganz bewusst in Synkretismus verfahren werden, in der Suche nach kompensatorischen Übergängen von Quantität und Qualität. Staatsgröße wird schließlich, um diese methodischen Betrachtungen abzuschließen, vor allem auch als eine übergreifende Kategorie verstanden, über Raum, Zeit und Wirksamkeit; in ihr werden alle diese Kategorien größer, und sie wird aus allen heraus gleichmäßig erfüllt. In diesem Sinne fasst die Betrachtung der Monumentalstaatlichkeit auch vieles von dem zusammen, was früher schon zum „Triumph" und zur „Staatsrenaissance" ausgeführt wurde; denn monumental sind ja nicht nur die Bögen, durch welche der Triumphzug ein Kapitol erreicht, er selbst

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wird zum historischen Monument, er will der Beginn bleibender, weiter Herrschaft sein. Und Monumente sind nicht nur die mächtigen Trümmer, in welchen eine „gute", größere Vergangenheit zurückkehrt - aus ihnen wird ja gerade die Monumentalität der Gegenwart gebaut, die so groß sein will wie die Vergangenheit, welche in ihr wiedergeboren wird.

II. „Größe" als „räumliche Ausdehnung44 der Herrschaft 1. Der historische Primat der räumlichen Herrschaftsgröße In der räumlichen Ausdehnung des Herrschens ist die Staatsgröße historisch wohl zuerst und immer wieder am deutlichsten bewusst geworden. Da ist die Rede von den alten „Großreichen", die Dauer solcher Herrschaften ist, selbst bei historischer Betrachtung, heute kaum mehr fassbar, ihre Intensität mit den Formen gegenwärtiger Staatlichkeit keinesfalls vergleichbar. Der beherrschte Raum vor allem ist es, der erstaunt und solche Imperialität konstituiert; so mag auch gegenwärtiges Staatsdenken in Kategorien der „Größe" noch immer zuerst räumlich geprägt sein. Entscheidend verstärkt hat sich dies erst recht mit der römischen Imperialität, die immer zuerst durch ihre Ausdehnung erstaunt hat. Die Weltkirche wirkt nicht primär durch die Intensität ihrer Glaubensmacht und deren Wahrheit, sondern durch die räumliche Ausdehnung, durch die Umfassungskraft ihrer Ordnungen. Im Ersten und Zweiten Rom sind es eben die Herrschaftsräume, welche faszinieren, sie sind so groß - und im Letzten gar nichts anderes - dass in sie hinein das qualitativ Unterschiedlichste gestellt werden kann; in der räumlichen Größe wird es zur Einheit. Napoleonisches Herrschen wiederum, gleichfalls aus Räumlichkeit heraus stets zuerst bewundert, zeigt eine andere Kraft gerade dieser Dimension: Ist der beherrschte Raum in einem historischen Augenblick wirklich „ganz groß" gewesen, so wirkt solche Herrschaft, in der Idee wenigstens, weiter, auch wenn sie in der Zeit nicht überdauern kann; die räumliche Größe kompensiert in ihrer geistigen Wirksamkeit die zeitliche Schwäche. Die räumlich ausgedehnte Herrschaft bleibt in der Erinnerung groß, wie schnell sie auch zusammenbricht, der beherrschte Raum wirkt zeitlich nach. Vielleicht sind hier die politischen Ideen nur Provinzen einer größeren Philosophie. Auch in ihr ist ja die räumliche Größe stets die erste, jener archimedische Punkt, den das denkende, betrachtende Individuum zuallererst finden muss, um seines Ich bewusst zu werden - sodann in Dauer und in der Suche nach dem in Beständigkeit wirkenden Grund. Das Staatsrecht mag umgekehrt verfahren, Wirkkraft zuerst behandeln, der Zeitlichkeit immerhin noch in Rechtstraditionen Aufmerksamkeit schenken, das Staatsgebiet in die Nebensächlichkeit weniger Absätze

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verbannen. Dem politischen Wesen der staatlichen Herrschaft wird es damit nicht gerecht, will es ihr Zentrum erreichen, so muss sich die Aufmerksamkeit nicht nur auch, sondern zuallererst auf den Raum des Herrschens richten. Allein in ihm kann sich ja die Macht entfalten, so groß nur wird sie wie er, und kleine Monumente halten den Blick nicht, sie entzücken, sie mahnen nicht, Herrschaft über Menschen und ihren Geist ist ihnen versagt.

2. Die politische Wirkkraft des „Staats-Raumes" Geschlossenheit und Offenheit Vom größeren Herrschaftsraum der Staatlichkeit als solchem und unmittelbar gehen bedeutsame politische Wirkungen aus - in seiner Eindeutigkeit, seiner Widerstandskraft gegen Herrschaftskritik, seiner Offenheit für vieles. Fassbar wird der Staat an seinen Grenzen und in ihnen. Auch das weiteste Staatsgebiet verdämmert nicht in Grenzenlosigkeit, in seiner Größe verstärkt sich vielmehr die innere Fassbarkeit der Macht. Gerade heute wird dies immer deutlicher, mit der Erhöhung der Mobilität der Bewohner wird der Staat gerade in seiner räumlichen Größe für den Bürger zur klar feststellbaren - eben Größe, nicht Kleinheit. Räumliche Größe ist vielleicht das einzige, was am Staat auch geradezu mathematisch definierbar ist, und ein Gesetz der Staatlichkeit ist es, dass diese Eindeutigkeit mit der Größe eher zu- als abnimmt. Morgen wird sich dies vielleicht in einem größeren Europa bewähren. Über räumliche Grenzen mag man prozessieren und Kriege führen - letztlich sind sie politisch so fest und der laufenden Diskussion entzogen, wie das bürgerliche Sachenrecht kritiklose Festigkeit und Indiskutabilität gewährleistet, so weit, wie dies dem Recht überhaupt nur möglich ist. So ist räumliche Größe nicht nur an ihren Grenzen weithin außer Diskussion, sie existiert eben „in ihnen" im vollen Wortsinn; wenn sie wirkliche Großausdehnung erreicht, wird sie nicht nur militärisch unschlagbar wie Russland, sie ist auch den Anschlägen einer Kritik entzogen, die ihr Randgebiete streitig machen mag, nie die Staatlichkeit als solche. Dies aber ist ein Symbol für die Kraft räumlich großer Staatlichkeit überhaupt: Sie bindet in sich auch ihre Kritiker ein. Aus ihrer kleinen Perspektive mögen sie da und dort - und dies ist wiederum ein räumliches Bild punktuell eben, ansetzen, doch die Weiten sind überall besetzt. Kritik ist eindimensional, „richtet sich auf Punkte", kann im Grunde Rächen nie zerreißen. Und ganz praktisch-politisch muss der Kritiker der Staatlichkeit eben immer damit rechnen, dass „hinterm Berg auch noch Leute" leben, die seine Gedanken, seine Staatsablehnung nicht erreichen wird. Man könnte wohl etwas wie eine Isolationstheorie wirklicher räumlicher Größe aufbauen; nicht umsonst sind die größten Staaten dieser Welt am stärksten nicht nur nach außen, sondern auch in sich isoliert, prallt an ihrer Staatlichkeit die Kritik am ehesten ab, gerade aus ihrer räumlichen Größe

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heraus. In ihr kann der Staat so leicht eben nicht „von einem Punkt aus aufgerollt werden", was aber politische Kritik doch immer versuchen muss; und sie verstärkt sich in Grenzüberschreitung, wenn sie „von überallher" zu kommen scheint. Die große räumliche Herrschaft „existiert zuallererst", und sie lässt sich aus diesem Sein nicht so leicht werfen, denn sie kann sich immer noch etwas weiter zurückziehen, in die tieferen Räume der wahren, in diesem Sinne immer russischen, Imperialität. Der große beherrschte Raum wirkt aber nicht nur mit seiner abschließenden Kraft, sondern gerade auch in seiner Offenheit mächtig auf alle, denn jedermann findet in ihm seinen Platz. Wie könnte die große räumliche Herrschaft nicht an sich etwas „Gutes" sein, da sie doch jedem den kleineren Entfaltungsraum schafft, den er braucht, den er entweder schon erreicht hat oder findet, in dem doch immer möglichen Go West? Die große räumliche Herrschaft ist statisch in der Kontinentalität ihres Innenraums, zugleich aber höchst bewegt als Raum der ständigen Mobilität, dies ist die wahrhaft imperiale amerikanische Kraft stets gewesen. Und sie wiederum wirkt ja nicht nur lokal, sie schafft auch geistig-politischen Bewegungsraum, in welchem sich der politische Druck nicht so leicht vernichtend zusammenballen kann: Für die großen Machtmenschen, die zu allen Zeiten der Staatlichkeit am gefahrlichsten werden, gibt es hier so viel zu herrschen und zu gestalten, dass sie der Grenzüberschreitung nicht bedürfen; Liberale, welche den Staat in Frage stellen, finden in diesen Großräumen immer wieder einen neuen Freiheitsbereich; Konservative können stets so vieles bewahren, kaum reicht ihre Kraft dafür aus, sie müssen sich ja schon den ganz großen Raum erhalten. Dies war Geheimnis und Größe des englischen Empire, in diesen großen Räumen konnten immer gewaltige Persönlichkeiten leicht ihren Frieden mit der Freiheit machen. Nicht umsonst also beruht die Völkerrechtsordnung in erster Linie auf den Grundsätzen über das Staatsgebiet, dem eindeutigen Souveränitätsraum. Außenpolitische Versuche, diese Grenzen mit politischen Doktrinen zu überschreiten, wie es Amerika immer wieder mit seinen Vorstellungen von den Menschenrechten unternommen hat, sind kein Argument gegen die räumliche Wirkkraft der Staatsgewalt: Immer nur aus ganz großen machtpolitisch beherrschten Weiten heraus konnten solche Theorien überhaupt wirken, in der Französischen Revolution, heute aus Amerika. All dies spricht also für den Herrschaftsraum als eine Primärkategorie wirklicher Staatsgröße. Dann aber stellt sich auch die Frage nach der Mindestausdehnung des Raumes einer „großen Staatlichkeit", welche (noch) zu legitimieren vermag - genügen hier Schweizer Dimensionen? Und nicht weniger zeigt sich auch das umgekehrte Problem - gibt es eine Maximalweite des Herrschaftsraums, bei deren Überschreitung sich die Staatslegitimation erst recht wieder abschwächen könnte? Das englische Empire in seiner Endphase wird hier zur Mahnung. Vor allem aber muss stets gefragt werden, ob diese primär quantitative Kategorie des beherrschten Rau-

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mes „in Qualität umschlagen kann", in welcher Größenordnung Derartiges vorstellbar ist. Alle diese Fragen an die staatslegitimierende Kraft des großen beherrschten Raumes relativieren vielleicht doch auch seine politische Wirkmächtigkeit; allgemein gilt eben auch hier, dass der Raum am ehesten seine Grenzen findet. Doch bevor dies im Einzelnen vertieft wird, mag nun zunächst die „zeitliche Größe" betrachtet werden.

ΙΠ. „Zeitliche Größe" 1. Die Vergeistigung der Größen-Kategorie in der zeitlich-historischen Betrachtung Das Wichtigste an dem Monument war schon für Horaz seine Dauer. Gerade wenn eine große räumliche Ausdehnung der Herrschaft gelungen ist, mag auch die Grenze erreicht sein, an der dann der Raum, aber auch die Wirksamkeit der staatlichen Herrschaft nurmehr schwer messbar sind, beide vielleicht in Widerspruch zueinander treten. Die Zeit aber ist gegenwärtig und wirkmächtig gerade im Geiste jener Elite, welche die entwickelte Staatsherrschaft trägt. Primär erscheint diese Kategorie dem geistig Schöpferischen, der „in alle Winde sät", in die unendlichen Räume hinaus, welche alle Kultur stets erreichen will, die Geistigkeit eben nicht messen und durchmessen muss. Zeitliche Weite - dies wird darin etwas wie eine zweite, höhere Stufe des politischen Denkens in Größen-Dimensionen, auf einer Ebene, wo bereits die kulturgeschichtliche, jedenfalls historische Betrachtung einsetzt, wo Größe nicht nur erfasst, sondern bewusst werden will. Wie in allem Historisierenden, so liegt auch darin eine gewisse Relativierung der politischen Herrschaftsmacht: Jung und kräftig entwickelt, erfasst sie den gegenwärtigen Raum, und nur ihn; an ihre räumlichen Grenzen stoßend, und an die ihres verfeinerten Bewusstseins, erschließt sie sich eine neue Dimension in der zeitlichen Größe. Für alle höher entwickelten Staatstheorien tritt so der räumliche Herrschaftsbereich zurück gegenüber der zeitlichen Dimension der Historie, darin haben die Griechen mit Herodot einen zweiten Sieg von Salamis über das persische Ausdehnungsreich errungen: Sie haben die historischen Weiten ihrem Bewusstsein erschlossen. Das Recht zeigt sich hier, entgegen geschichtlicher Entwicklung, als Magd der Philosophie, ja der Historie - vielleicht auch nur als Geisteswissenschaft: In seiner Dogmatik hat die Zeit einen noch höheren Stellenwert als die physische Ausdehnung der Herrschaft im Raum. Diese stellt bereits eine dogmatische Kategorie dar, noch deutlicher aber ist eine solche der Zeit und, vor allem, der Wirksamkeit der Herrschaft in ihr; die Zeit aber mehr als der Raum deshalb, weil sich in ihr die

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qualitative Wirksamkeit, die Intensität des Herrschens entfaltet, welche durch die Zeit geprägt wird. So gibt es denn die Zeit als dogmatische Kategorie des Rechts, in dem „gefestigten Rechtszustand", in der „staatsrechtlichen Tradition" nicht nur, sondern ganz allgemein in den Ketten der Präzedenzien, welche im Staatsrecht stets, und mehr noch als im kodifizierten Zivilrecht, Bedeutung gewannen, in jener Staatspraxis, welche das Recht in die Staatlichkeit gebracht hat; und nun setzt sich dies noch fort in einer Verfassungsgerichtsbarkeit, welche die staatliche Herrschaft an die Zeitlichkeit der Präzedenzien immer mehr bindet, sie in ihr betoniert. Soweit schließlich Staatlichkeit von normativem Wesen ist, entfaltet sich ein Eigenleben der Normen zuallererst in der zeitlichen Dimension; je weiter sie wird, desto höher ist ihr Staat geachtet, hier öffnet sich der unmittelbare Weg in die zeitliche Staatsgröße. Dies sind politische Erscheinungsformen historischer Vergeistigung, welche sich über das Staatsrecht vollziehen, eindrucksvoll verkündet das Recht die zeitliche Größe der Herrschaft: Englands räumliche Größe mag schwinden, seine Tradition sichert ihm stets die bewunderte Staatsgröße seiner Rechtsmacht.

2. Staatslegitimation aus zeitlicher Größe Für den Durchschnittsbürger, in einer geschichtsferneren, wenn nicht geschichtsfeindlichen Zeit zumal, mag die zeitliche Dimension seiner Staatlichkeit nur ein ferner Hintergrund seines aktuellen Bewusstseins sein. Immerhin zeigt gerade er dafür ein Organ - etwa in seinem gesteigerten Friedensbedürfnis, jenem Sicherheitsstreben des „kleinen Mannes vor der großen Staatsgewalt", das sich in den gewohnten Formen einigermaßen gleichbleibender, sic^h bewährender Staatlichkeit befriedigt. Im Zusammenwirken all dieser geistigen und der tagtäglichen Bedürfnisse gewinnt Tradition eine neue Bedeutung; sie ist nicht mehr die romantisch begeisternde Aufschwung-Kategorie, aus der frühere Eliten Kraft schöpften, sie wird zur stabilen Beharrungskraft der breiten Massenbasis, in diesem Sinne gerade zur demokratischen Kraft. Allen Staatsrenaissancen leistet in ihrem Namen gerade die Volksherrschaft immer stärkeren Widerstand, und sie belastet damit geradezu ihre Erneuerungsfähigkeit. Hier zeigt sich - aber auch in den ständigen Stößen der Staatsrenaissance - etwas wie eine Unzerstörbarkeit des zeitlich Gewordenen, denn jeder der unzähligen Bürger ist eben doch, virtuell wenigstens und je nach seinem geistigen Entwicklungszustand, „unmittelbar zu all dem, was einst monumental geschaffen worden ist", was aus der Zeit heraus auf ihn in voller Größe wirkt. Frühere räumliche Herrschaftsgrößen und Dimensionen staatlicher Wirksamkeit werden durch die Zeit der Gegenwart vermittelt, und je weiter diese Zeitdimension wird, desto mehr kommt auch von anderen Formen früherer Größe dem heutigen Bürger wieder zurück;

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dass dies in spiritualisierter, oft schwer fassbarer Form geschieht, ändert nichts an der Wirkkraft gerade dieser zeitlich vermittelten Größe. Und es ist doch gerade die Zeit mit ihren Entfernungen, eben ihrer Größe, welche die vergangene Dimension nur noch gewaltiger erscheinen lässt, hier bleibt immer etwas von Romantik. Auch Geschichtsferne wird in diesen zeitlichen Dimensionen überwunden, in einem eigentümlichen Prozess, der sich gerade heute feststellen lässt: In dem Maße, in welchem das Fernere verdämmert, wird das zeitlich relativ Nahe bereits zur fernen, „großen" Geschichte, und zugleich zur Historia Magistra; früher hätte man die Adenauer-Zeit kaum nach so kurzer Zeit schon fast wie ein Epos beschworen, und die Medien verkürzen nicht nur die Historie zur Zeitgeschichte, sie intensivieren darin auch die Zeitdimension. Darüber hinaus aber wirkt eben die „Größe an sich" auch in zeitlichem Gewände, schlechthin von ihrem Ausdehnungs-Umfang her. Etwas wie eine Gemeinsamkeit aller Größen-Volumina ist auch hier geistig am Werke, deutlich wird es darin, dass diese große Zeitdimension dann eben politisch mächtig wird, weil sie - beeindruckt. Das Wort vom Monumentalstaat schließlich hat gerade hier seinen tieferen Sinn: Die Größe mahnt in der Zeit, aus der Zeit heraus und gerade durch sie, wenn vergangene Macht noch größer erscheint. Die mahnende, damit aber eminent politisch wirkende Kraft der Größe wird gerade zeitlich vermittelt, denn diese Dimension läuft ja durch die Gegenwart hindurch in eine Zukunft hinein, welche die Mahnung erreichen will und gestalten. Politisch hat der Humanismus Jahrhunderte lang mächtig gewirkt, indem er Legenden und Geschichte mit der Schubkraft der zahllosen Jahrhunderte immer neuer Jugend in die geistige Wiege gelegt hat. Wenn sie Größe in der Gegenwart nicht finden konnte, kam sie ihr aus der Vergangenheit, verbunden mit der Zeitkategorie: Ganz groß war diese frühere räumliche Größe der Römer darin, dass sie solange, über so viele Generationen bildungsmäßig hatte wirken können, als sei sie immer noch gegenwärtig. So verstärkt sich denn die Größendimension in der Zeitkategorie, es kompensiert, ersetzt sich bis zum gewissen Grade räumliche Größe durch zeitliche, in diesem Sinne hat es nie eine größere räumliche Herrschaft als die der Römer gegeben. Und vielleicht kompensiert Zeit den Raum stärker noch als umgekehrt räumliche Größe auch in kurzer Zeit wahre Staatsgröße schaffen kann.

3. Zeitliche Größe - Ersatz von Raum und Intensität des Herrschens Staatsgröße tritt, dies zeigte sich schon, in dem Umfang des beherrschten Raums, der Dauer der Machtausübung und deren Intensität in Erscheinung. Zeitdauer ist unter diesen drei Elementen eine eigenartige, aber besonders kompensationswirksame Kategorie, der dauernde Staat trägt immer etwas Großes.

Β. Was ist Staats-Größe?

a) Herrschaftszeit

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als Herrschaftsintensität

In der Zeit intensiviert sich die Herrschaftsmacht - diese historische und gegenwärtige Erfahrung wird längst nicht vollständig widerlegt durch Phänomene der Machtabnutzung, wie sie gerade die Demokratie kennt, oder durch Verfallserscheinungen langer Friedenszustände. Was sich hier machtabschwächend auswirkt, ist eine Unbeweglichkeit, die allerdings weit mehr ein Feind der Staatsgröße ist, als dass sie deren monumentalisierende Verstärkung bedeutet. Dass Friedensbewegungen immer irgendwie anarchisierend wirken, ist nur folgerichtig: Hier wird ein Stillstand der Geschichte angestrebt, der in seiner Bewegungslosigkeit staatliche Aktionen überflüssig machen soll. Bleibt aber etwas von Bewegung in lang dauernder Staatlichkeit lebendig, so wirkt diese zeitliche Dimension schlechthin vergrößernd, auch und vor allem in der Intensität der staatlichen Herrschaftswirkungen. Dies belegen nicht nur Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten, wo sich aus aktueller Herrschaft durch lange, einigermaßen gleichmäßige Dauer ein wahres Herrschaftssystem immer mehr verdichten konnte. Dies liegt an sich eben schon im Gedanken der staatlichen Macht als eines Netzwerks - ein Begriff, der sich nicht nur in der Naturwissenschaft durchgesetzt hat, sondern insbesondere in der Organisationslehre, und daher auch die der staatlichen Gemeinschaft prägt. Gerade in kleinen Schritten wird „immer enger geknüpft", Zeit heilt nicht nur die Wunden der Staatlichkeit, sie schließt deren Lücken. Wo die heutige Staatsmacht ihre größte Intensität erreicht, im Sozialversicherungs- und Steuerbereich, ist dies jedermann einsichtig, gerade weil es weithin regimeunabhängig geschieht. Groß wird hier der Staat geradezu durch Zeitablauf allein, und wer wollte der fiskalischen Maschine Monumentalität absprechen? Zeit verstärkt die Legitimation, bricht den Widerstand, wirkt verfeinernd - all dies vor allem in „herrschaftstechnischen" Bereichen, welche, anders als das „Hochpolitische", der Erosion der Macht durch Zeit nicht in gleicher Weise ausgesetzt sind. Zeit ist nicht nur Staatsgröße, sie erscheint den Bürgern als solche, und dieser „Macht-Intensivierungs-Schein" ist vielleicht die stärkste Form des Rechtsscheins. Herrschaftsformen, die in einem bestimmten Augenblick als „zu weich", ja als ineffizient erscheinen, laden sich doch immer wieder im Geiste der Bürger auf durch die Überzeugungskraft ihres langen Bestehens, darin können sie selbst Verfallsperioden überstehen. Für ganz unterschiedliche, meist aber zentrale Bereiche staatlichen Herrschens lässt sich dies belegen, von früheren und neueren Formen des Zünftischen bis hin zu solchen einer Militärstaatlichkeit, die so häufig gerade durch ihre zeitlichen Traditionen, oft nurmehr darin, wirklich groß erscheint. Die Bürger vertrauen dann eben früheren Erfolgen und einer Organisation, die aus diesen heraus groß erscheint und es in der Zeit für sie geblieben, es durch Zeit immer mehr noch geworden ist; die preußische Tradition im Wilhelminismus ist ein Bei-

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spiel. Von Erz erscheinen diese Staatsmonumente auch dann, wenn sie hinter ihren Monumentalfassaden längst zerbröckelt sind; und selbst dann noch werden diese Gebäude im Inneren ganz intensiv bewohnt. In ihren zeitlichen Formen der Kirchenstaatlichkeit, wie selbst im Geistlichen, zeigt die Katholische Kirche nur zu oft die wohl am weichsten erscheinenden Formen des Herrschens überhaupt. Doch diese Milde der nicht nach Blut dürstenden Kirche wurde eben stets in ihrer Herrschaftsintensität gehärtet durch eine Zeit, deren riesigen Sälen - oder Gefängnissen, wie andere meinten - man nicht entkommen konnte, da dort der ganze Druck einer langen und damit großen Zeit lastete. Wohl könnte man etwas wie eine Theorie „der scheinbaren Härtung, der Herrschaft durch Zeit" entwickeln. Es wirft ja jede Periode ihre Wünsche nach intensiverer Machtausübung - und solche gibt es doch ständig - sozusagen „in jene Zeitdauer, in welcher bereits geherrscht wurde", sie darin befriedigend, wenn sie schon den noch wirkmächtigeren Staat nicht sogleich zu schaffen vermag; und die Staatsgewalt kann, umgekehrt, solchen Wünschen unter Hinweis auf die lange Dauer immer wieder entgegentreten, in welcher sie sich doch bereits bewährt habe - groß genug jedenfalls. Dies sind traditionelle liberale Abwehrargumente gegen die Forderungen nach dem „starken Staat" auch in der Gegenwart. Gerade der Liberalismus wird durch Zeitablauf größer, daher braucht er nicht „stärker" zu werden. Die „große Zeit" ist also nicht nur ein Ersatz für große Wirkungsmacht der Staatlichkeit, sie wird geradezu deren Alibi, und - für eine weitere Zeit rettet sie diese ihre temporäre Größe über Wirkungsschwächen hinweg.

b) Zeitliche statt räumliche Größe Größenkompensation von Herrschaftsraum durch Herrschaftszeit tritt in verschiedenen Formen in Erscheinung, vor allem in der Kraft der historischen Betrachtung, in der Lehre von den beweglichen Herrschaftsgrenzen, aber auch in der Sicht des Wesens der Staatlichkeit als einer „unberührbaren Herrschaft". Die Größenmacht der Geschichte für alle Staatlichkeit ist ohne weiteres einsichtig. In aller historischen Betrachtung - und wie stark sie rechtlich wirkt, wurde bereits deutlich - zählt der Raum nicht primär, entscheidend ist die zeitliche Dauer als Beweis der Größe. Sie zuallererst wird eben in historischen Kategorien erfasst, und Geschichte ist wichtiger zur Herrschaftslegitimation als Geographie; Staatsgeschichte gibt es, Staatsgeographie noch immer nur in Ansätzen. Mit zunehmender Entwicklungshöhe einer Zivilisation, und damit auch der staatsgrundsätzlichen Betrachtung, bleibt die Bedeutung des Zeitlichen ständig, die des Räumlichen nimmt doch insgesamt eher ab. In der Spiritualisierung der Historie wird sogar die räumliche Herrschaftsgrundlage relativiert, ja verlassen, und kein - größeres Beispiel dafür kennen wir als die Theorie vom „Fleckchen Erde" von Leo XIII., von dem aus bald später eine Weltkirche regiert werden konnte, die nun wirklich Raum durch Zeit ersetzt hat.

Β. Was ist Staats-Größe?

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Doch gerade das Völkerrecht, das hier der Großstaatlichkeit seine Kategorien leiht, hat Derartiges immer schon praktiziert. Provinzen können eben verloren gehen, ohne dass eine Staatlichkeit ihr Wesen, ja ihre Größe sogleich verlöre, und je größer der Herrschaftsraum war, desto länger kann ihn die Zeit auch über räumliche Verluste hinweg kompensieren. Die völkerrechtliche „Theorie der beweglichen Vertragsgrenzen" gilt eben nicht nur für den Geltungsraum internationaler Vereinbarungen, sie ist eine Grundregel aller Staatlichkeit, wenn diese eine gewisse Größe erreicht. Man ist versucht, in diesem Zeit-Raum-Kompensationsverhältnis sogar etwas wie einen Umschlag von der Quantität des Räumlichen in die andere Dimension der vergeistigten zeitlichen Qualität zu sehen; doch es wäre wohl zu einfach, Quantität und Qualität staatlicher Größe allein mit solchen Kategorien zu definieren. Auch die Zeit wirkt ja in diesem politischen Bereich durchaus in einer gewissen Quantität, mit kleinen, gleichartigen Schritten, denn einigermaßen kontinuierlich wächst eben auch hierin die Herrschaftsgröße. Der Staat als abstrakte Größe schließlich, in seiner Unfassbarkeit und eben darin auch Unberührbarkeit, dieses politische Intangible, wie es sich in der noch aus der Sicht der Größe zu betrachtenden Souveränität uns darstellt, ist doch wohl der Kategorie der Zeit geistig am nächsten verwandt, in eben dieser gemeinsamen Unfassbarkeit. Manchmal mag es scheinen, als sei dieser Staat als solcher in seiner Herrschaft nichts anderes als eine Verwandlung des Räumlichen in Zeit, als bedeute seine Macht, die ja primär in der Zeit in Erscheinung tritt, in Normgeltung, nichts als eine Temporalisierung des physisch, räumlich Fassbaren. Wie dem auch sei - eines sollte die folgenden Betrachtungen der Staatsgröße immer begleiten: Hohes Abstraktionsverständnis, ein Gefühl für die Spiritualisierung des Politischen ist hier gefordert, welches nicht den Raum allein sieht in seiner groben Eindeutigkeit, mit ihm menschliche Größe nicht identifiziert, und auch nicht mit der Zahl der gewaltunterworfenen Bürger; denn über dem allen steht die unfassbare Zeit in ihrer Größe.

IV. Machtgröße aus Herrschaftsintensität der Vorrang der inneren Souveränität 1. Die Doppelgesichtigkeit der Herrschaft äußere und innere Souveränität Das dritte Wesenselement einer Größenbetrachtung des Staates ist die Souveränität, nirgends ist so eindeutig die Größe bis in ihre letzten Konsequenzen gesteigert worden - ins Absolute hinein. Die eigenartige politische Kraft dieser Intensitätsbetrachtung der Staatsgröße lag von Anfang an in der Doppelgesichtigkeit der 38 Leisner

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Souveränität - und wiederum darin, dass sie als solche doch in einer gewissen Einheit gesehen wurde. Heute unterscheidet die Volkerrechtslehre deutlich zwischen der „äußeren" und der „inneren" Souveränität, die Letztere setzt sie schlechthin absolut; in die äußere legt sie die Dynamik ständigen Behauptungs- und Steigerungswillens, auch ihr gibt sie also das Ziel der absoluten Herrschaft vor, jedenfalls das einer Autarkie, die den Staat auch nach außen absolut setzt, und sei es in Absperrung von anderen Mächten. Das Eigentümliche der Souveränitätslehren war es, in ihren Anfängen in neuerer Zeit, dass sie gemeinsam nach innen und nach außen den Staat zu legitimieren suchten. Jean Bodin wollte seinen französischen König erheben, nach außen über die Macht der römisch-deutschen Cäsaren, nach innen endgültig über die Machtansprüche des hohen Adels. Wesentlicher Kern dieser ganzen Lehre war, dass das eine zugleich mit, ja durch das andere begründet wird: Im Widerstand gegen den Kaiser muss sich der Adel unterordnen, und weil er dergestalt unterworfen ist, kann vom König gesprochen werden, der Kaiser in seinem Königreich ist. Auch hier wieder bewährt sich die geistesgeschichtliche Erfahrung, dass zu Beginn einer grundsätzlichen Vertiefung die Zusammenhänge am besten gesehen und zusammengesehen werden, bevor sie immer weitere Analyse zerreißt. So gilt es auch hier, diese historische Doppelgesichtigkeit stets im Blick zu behalten, die letztliche Untrennbarkeit der äußeren und inneren „ganz großen Staatsmacht", denn um nichts anderes handelt es sich. Noch heute sind Trennungs-, ja auch nur Unterscheidungsversuche zwischen innerer und äußerer Souveränität im Völkerrecht immer wieder problematisch, die Letztere verweist eben auf die Erstere und lässt sich schließlich nur durch jene wirklich definieren; und damit ist auch schon die Richtung der folgenden Betrachtungen aufgezeigt: der Vorrang der inneren Herrschaftsintensität.

2. Staatsgröße - primär in äußerer Macht? Eingangs war von dieser weit verbreiteten Auffassung bereits die Rede, einer politischen Versuchung, welcher die Staaten immer wieder erlegen sind, an der ihre Größe zerbrochen ist. Die Geschichtsbetrachtung der Großreiche und Schlachten hat Größe als äußere Macht gelehrt, vor allem in der Wilhelminischen Vergröberung der spätpreußischen Staatsidee hat sie Deutschland geistig tief geprägt - in einem tiefen Missverständnis gerade der wahren preußischen Größe. Die Wirkkraft einer Größenbetrachtung aus außen- und militärpolitischer Sicht hat immer faszinieren können, den „inneren" und den „äußeren" Betrachter der Staatlichkeit, die eigenen Bürger wie jene Fremden, welche so abgeschreckt werden sollten. Bedeutende und unbestreitbare Realität ist dies stets dort gewesen, wo es weniger um Größe ging als um Streben nach solcher: Wo die innere Schwäche

Β. Was ist Staats-Größe?

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offenbar wurde, sollte sie durch äußere Kraftakte kompensiert werden, als wenn äußere Souveränität innere ersetzen könnte. Bei Athens militärpolitischen Abenteuern nach den Perserkriegen war es nicht anders als im Expansionsdrang der zerfallenden römischen Republik, in dem Aufschwung der levée en masse der französischen Revolutionsheere, in den Versuchungen, welchen der Nationalsozialismus erlegen ist. Immerhin muss eine solche Betrachtung auch heute noch damit rechnen, dass die Theorie der „Großmacht" eben doch außen- und damit bis auf weiteres auch militärpolitisch geprägt ist. Und nicht als ob all dies unrichtig wäre; nur sollte man das äußere Erscheinungsbild als Ergebnis, nicht als Ausgangspunkt sehen, am Ende vielleicht noch als eine Fassade, die über Jahrzehnte hinweg auch inneren Größenverfall zu kompensieren vermag, gerade darin eine gewisse „Fassadenmonumentalität" zum Tragen bringt, welche ernst genommen werden muss. Doch dies ist eben nicht alles, der Blick muss tiefer eindringen, hin zu den inneren Quellen der äußeren Souveränität. Die Versuchung einer Überschätzung der äußeren, der militärisch begründeten Souveränität ist um so größer, als sie in der Tat historisch weithin fehlende räumliche, ja zeitliche Größe zu kompensieren vermochte. Preußen, vor allem aber England sind die historischen Beispiele dafür, wie intensive, wohlorganisierte, wirksam verteidigte Herrschaft von kleinen Räumen aus wahrhaft große Staatlichkeit tragen konnte. Hier zeigt sich übrigens, dass die Theorie vom großen Herrschaftsraum noch in Konzentrik erweitert werden muss: Entscheidend sind hier eben oft die Ausgangsbereiche, in Verbindung mit einer besonders starken Intensität, welche sich abgestuft von dort auf andere, in vielfacher Form angegliederte Räume erstreckt. Von den Föderativsystemen der Römer bis zu den Satellitenordnungen unserer Zeit hat sich dies immer wieder bewährt. Die Macht der außenpolitischen Souveränität kompensiert auch Schwächen „zeitlicher Größe" - die Vereinigten Staaten sind mit einem Mal so mächtig außenpolitisch in die Geschichte eingetreten, dass ihre Traditionsschwäche geradezu zur Staatsgröße wurde.

3. Innere Souveränität - Trägerin der Machtgröße Jenseits all dieser beeindruckenden, nicht selten theatralisch wirkenden Effekte der äußeren Souveränität und ihrer großen Machtintensität darf doch nicht die deutlich primäre Wirkungskraft der inneren Souveränität zur Steigerung der Staatsgröße übersehen werden, in einer Zeit der noch näher zu betrachtenden Anti-Monumentalität. Die innere Größe der Herrschaft ist Trägerin der äußeren Macht. Hier bleibt man voll im Bilde der Monumentalität: Solange sie sich in ihrer inneren Absolutheit hält, bewahrt sie sich auch nach außen jene Geschlossenheit, welche in ihrer erzenen Undurchdringlichkeit den Monumentalstaat prägt. Die innere Souveränität verliert keine Schlachten und muss keine Provinzen abtreten. Der Begriff der Niederlage ist ihr fremd, jenes - großen Abfalls von Größe. Selbst für kurze Zeit nur 38*

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bestehend, nimmt sie rasch Modellcharakter an, gerade darin, in zeitlicher Intensivierung, wahre politische Größe erreichend, über die Grenzen hinaus wirkend. So hat etwa das preußische Verwaltungsmodell in seinen geistigen Grundlagen Niederlagen und Ende dieses außenpolitischen Machtgebildes überstanden, es ist noch heute ein Element wahrer deutscher Größe, aus der heraus sich Staatsgröße auch der Nachfolgegebilde immer wieder aufzuladen vermag, im Geiste der eigenen Bürger wie in der Bewunderung ausländischer Betrachter. Erstaunlicherweise wird die innere Souveränität rascher zum „historischen Modell" als Erscheinungen der äußeren, welche vor allem historischen Ordnungskategorien weit weniger Legitimationskraft für die Staatlichkeit bereitstellen. Schlachten bleiben, bei aller Triumphkraft, eher „reine Geschichte" als große Gesetze. Neben Raum und Zeit soll also die innere Souveränität vor allem im Mittelpunkt dieser Betrachtungen stehen.

V. Zusammenfassung: Die Frage nach der „Staatsgröße" ein vielschichtiges, kombiniertes Problem 1. Staatsgröße - eine kombinierte Größe Diese Betrachtungen haben gezeigt, dass Staatsgröße gerade das nicht sein kann, als was sie so oft missverstanden wird: ein rocher de bronze, eine ungegliederte, gigantische Monumentalität. Sie baut sich auf, wächst gewissermaßen zusammen aus vielen „Einzelgrößen" - hier ist dieses Wort wohl am Platze - aus der Ausdehnung des Herrschaftsraumes, der zeitlichen Dauer, der Absolutheits-Annäherung der äußeren und inneren Souveränität, kurz: aus all dem, worin historisch und staatsdogmatisch bisher Aspekte staatlicher Größe erkannt worden sind. Es hat sich aber auch gezeigt, dass solche Vielschichtigkeit notwendig kombiniert gesehen werden muss, soll ein Bild staatslegitimierender Größe entstehen. „Etwas an Größe", aus jedem dieser Elemente, ist wohl, und spätere Betrachtungen mögen dies noch vertiefen, unverzichtbar für wahre Monumentalstaatlichkeit. Sie verlangt etwas wie „kombinierte Größe" der Staatlichkeit; denn die „große Lösung" ist ja zeitlich, räumlich wie auch intensitätsmäßig „möglich und daher notwendig". Immer wieder wird sich erweisen, wie schwierig eine solche Betrachtung gerade deshalb ist, weil es gilt, diese Elemente nicht nur zusammenzusehen, sondern auch zu bestimmen, wie weitgehend ein Größenelement andere, schwächer ausgebildete, zu ersetzen vermag, und mit welchen staatsgrundsätzlichen Gesetzmäßigkeiten. Eines jedenfalls ist schon hier deutlich: die Unrichtigkeit einer Gleichsetzung von Staatsgröße und außenpolitischer Macht, jene Identifikation mit der Großmacht, welche heutige Staatsbetrachtung in Deutschland nur allzu rasch in die

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Resignation der Erkenntnis eigener außenpolitischer Bedeutungslosigkeit zurückwirft. Vielmehr geben gerade den europäischen Staaten Staatsgrößen-Betrachtungen staatsgrundsätzliches Maß, wenn sie sich nur von jener primitiv-historisierenden Betrachtungsweise abwenden können. So wird hier denn auch eine eminent europäische staatsrechtliche Frage gestellt: Wodurch können die hoch entwickelten Staatlichkeiten der alten Welt ihren flächenmäßigen außenpolitischen Machtverlust nach der Entkolonialisierung kompensieren, in welchen Grenzen ist dies möglich, in welcher Aktivierung zeitlich-historischer, vor allem aber auch staatsorganisatorisch-effizienzmäßiger Elemente? Damit soll der Begriff der Größe ebenso wenig aufgelöst werden wie der des Monuments. Denn der Zusammenklang all dieser großen Töne muss immer gehört werden, nur aus ihm kann letztlich doch eine Staatsgröße als Staatslegitimation erwachsen.

2. Staatsgröße - mehr als Macht Macht als Staatslegitimation, als Wesensmerkmal aller Staatlichkeit - das stand keineswegs zu allen Zeiten, wohl aber im Staatsdenken des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, deutlich im Vordergrund. Mit dem Zusammenbruch vieler Mächte, der Fragwürdigkeit der außenpolitischen Macht an sich wurde, darauf wird noch vertieft einzugehen sein, die Staatsmonumentalität als solche in der Gegenwart zum Problem. Von vorneherein mag daher die Fragestellung dieser Betrachtungen dahin verdeutlicht werden: Es geht hier nicht um Macht als solche, um das Durchsetzungsvermögen nach außen und innen; auch die Diskussion um das Gewaltmonopol des Staates, auf welche die Machtproblematik in oft zweifelhafter Weise reduziert wird, steht hier nur am Rande. Die unzählige Male gestellte Machtfrage, in welcher die Theorie der Politik - und heute weithin die Politologie - staatsgrundsätzliches Denken überholen will, soll hier geradezu umgekehrt werden: Nicht ob Macht Größe sei, muss gefragt werden, sondern umgekehrt, ob aus der Größe sich auch echte Staatsmacht ergeben kann. Doch die Unterschiede der staatsgrundsätzlichen Denkkategorien Macht und Größe reichen noch weiter: Staatsgröße ist deshalb, gerade auch heute, eine wichtige Fragestellung, weil es ja etwas geben könnte wie eine Wirkung der Größe ohne Gewalt, eine Theorie der „gewaltlosen Größe". In der Tat liegt dies gerade in der Vorstellung von einer Monumentalstaatlichkeit: Es werden derartige Dimensionen der staatlichen Existenz erreicht, dass Gewaltanwendung immer mehr sekundär erscheint, an einem gedachten Endpunkt geradezu überflüssig. Die einen mögen hier Verbindungslinien ziehen zum Absterben des Staates in einer kommunistischen Endzeit, die anderen werden jedenfalls Größe und Dichte des Netzwerks beschwören, in welchem der Staat hält, nicht mehr zu schlagen braucht - eben durch seine allmächtige Größe. Der vielbeschworene Niedergang des Eingriffsstaates mag

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darin auch zu erklären sein: Ein riesiges Versorgungsunternehmen wirkt durch seine Wirtschaftskraft, letztlich in seiner Existenz, es braucht kaum Polizei. Wenn es schließlich etwas gibt wie ein Reich, als die größere, dauernde Ordnung, so tritt erst recht Macht und Gewaltanwendung hinter der ruhigen Existenz in Größe zurück. Wie sollte sich ein solches Imperium anders definieren und legitimieren als durch die Vorstellung von einer in sich ruhenden, um sich selbst kreisenden Größe - so wie es immer die Idee des schöpferischen und ordnenden Gottes war? Monumentalstaat - viele mögen dies für eine Neuauflage der Machttheorie halten; in Wahrheit steht dahinter ein Ziel, eine Hoffnung vielleicht: durch Größe über alle Macht hinaus.

3. Wie groß muss Größe sein? Über allen Bemühungen um die Wesensmerkmale des hier gesuchten Begriffs der monumentalen Größe darf jedoch nicht vergessen werden, dass es immer noch, in erster Linie sogar, dabei um Fragen der Dimension geht. Selbst wenn also klar geworden ist, aus welchen Elementen sich Staatsgröße aufbaut, wie sie in deren Kombination wächst, so folgt darauf die zweite nicht weniger wichtige Frage: Wie weit muss dieses Monument hinaufreichen, welche Ausmaße sind zu erreichen, damit Größe mehr sei als Sein, damit sie zum staatsgrundsätzlichen Sollen, zur Begründung der Staatlichkeit werde oder doch beitrage? Die folgenden Gedanken werden also immer auch wieder um das quantitative, aber auch um etwas wie ein qualitatives Größen-Minimum kreisen, wenn es diesen letzteren Begriff überhaupt geben kann, und hier wird sich wohl die tiefste Problematik auftun. Quantitative Größen-Schwellen sind leichter vollziehbar als dasselbe in qualitativer Wendung, ist doch für den Juristen der von ihm stets gesuchte „Umschlag in Qualität" meist geradezu der Ausdruck einer Absage an qualitative Minima: „Qualität" beginnt einheitlich jenseits von Quanten, ein „qualitatives Minimum" gibt es nicht. Es gilt eben auch hier noch immer iudex non calculai, und wenn schon, dann nur mit den festen Quanten der alten Mathematik, aus den Zeiten des römischen Rechts. Oder sollte es möglich sein, auch hier zu neuen Formen eines staats-mathematischen Denkens überzugehen, welches auch Qualitätsschwellen über Integrale erkennt? Die Schweizer Staatlichkeit, die als eine große, in vielen ihrer Aspekte geradezu imperiale immer wieder begegnen wird, sollte eine solche Suche nicht von vorneherein vergeblich erscheinen lassen. Und eine Orientierung vermag dies vielleicht mitzugeben: Könnte nicht eine Qualitätsschwelle der Größe auch dort liegen, wo ruhiges staatliches Ordnen in Indiskutabilität hinaufwächst? Mit so vielen Fragen und Problemen nicht verunsichert, sondern eher gerüstet, mag man sich nun auf die Suche nach dem verborgenen Monumentalstaat bege-

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ben. In der Tat ist er aus staatsrechtlicher Betrachtung heute nahezu völlig verschwunden, manche mögen denken, dies sei Graben nach einem verschütteten Koloss. Denn um alles Gegenteil von Staatsgröße bemüht sich heute verbreitetes Denken.

C. Die Antithese der Gegenwart: Wider alle staatliche Größe Zeitgeschichte und Politologie, Staats- und Verwaltungsrecht scheinen sich heute nur um eines zu kümmern: um die Entdeckung des „guten, kleinen Staates", der Staatlichkeit der kleinen Hilfen und Geschenke, die sich nicht in Monumentalität aufbaut, sondern sich im Service verteilt. Haben nicht moralische Kriterien das Denken in Größen abgelöst, heben nicht Schuldgefühle dies alles von vorneherein auf? Ist es nicht gerade deutsche geistige Pflicht, wenn es etwas Derartiges geben kann, nunmehr „endlich einmal klein zu denken"? Eine Fehlentwicklung in der Betrachtung der Größe ist sicher weithin deutsche Verantwortung, dies soll hier betont werden; wenn es heute politischen Konsens in Deutschland gibt, dann darüber. Doch gerade dies verpflichtet zur Suche nach jenen alten, guten Formen der Staatsmonumentalität, welche deutsche Megalomanie nicht mit sich reißen, für immer nehmen darf. Sonst wäre die deutsche Schuld hier noch größer: Sie hätte nicht nur ein Reich zerstört, sondern das Staatsdenken überhaupt verarmt.

1.1945 - Ende aller Monumentalität? 1. Macht-Kolossalität - eine deutsche Versuchung a) Der historische Größen-Komplex Historische Suche nach den Gründen gegenwärtiger Fehlentwicklungen scheint in Deutschland gerade in der Frage nach der Monumentalstaatlichkeit rasch fündig zu werden. Gibt es hier nicht geradezu etwas wie eine Tradition des Strebens nach rein kolossalischer Macht-Größe als Grundlage deutscher Staatlichkeit, eine derart eindeutige Einbahnstraße von Größenverirrungen, dass diese Frage gar nicht mehr gestellt werden darf? In der Tat scheint sich die Suche nach „politischer Größe" im Deutschland des 19. Jahrhunderts rasch zu einem Komplex entwickelt zu haben. Kaum irgendwo anders ist in dieser Zeit soviel darüber nachgedacht worden, welchen Gestalten der Geschichte das Beiwort des „Großen" gegeben werden könne. Bei Napoleonsverehrung war es meist noch Ausdruck persönlicher Bewunderung, im deutschen Staatsdenken schien es etwas wie höhere Weihe zu verleihen. Historische Betrach-

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tung könnte wohl im Einzelnen erweisen, dass hier sogar eine deutsche Form des napoleonischen Komplexes auftritt, welche auch wahrhaft bedeutende und kritische Geister zuzeiten erfasste, von Beethoven bis Heinrich Heine. Doch tiefere historische Gründe fehlen nicht. Da ist zuallererst das historische Defizit der deutschen Einheit; auf dem Hintergrund des zerfallenden Reiches, jener historischen Größe ohne Macht, wird es gerade dem 19. Jahrhundert und seiner Romantik zum politischen Komplex. Dies alles verbindet sich mit dem preußischen Phänomen, jener Staatlichkeit der „Kraft ohne Größe". Der Mythos der Befreiungskriege, der von anderen Mächten genutzten, missbrauchten „deutschen Kraft", verband sich mit der eigenartigen Staatstradition einer Monarchie, die stets ernst und überzeugt Kraft gesucht hatte, nicht Größe. Vertiefte Betrachtung wird auch und gerade im älteren Preußentum wahre, vor allem innere Größe entdecken, eine schmucklose Monumentalität, die alle Fassadengröße verschmäht. Dennoch dies alles blieb eben doch „Kraft ohne Größe", die friderizianische Periode, die Gestalt des wahrhaft großen Königs, blieb hier Parenthese. In diesem Sinne fällt er vielleicht wirklich aus etwas wie der preußischen Tradition. Da nun einmal der Umschlag in die bewusste, geradezu überbewusste Größe folgen musste, entsprach es aber geschichtlicher Notwendigkeit, gerade dort, wo die Kraft vorhanden war, die alten Ruinen des monumentalen Reiches wieder mit Leben zu erfüllen. Das Reich und Preußen, der Ruf des Einen nach dem Anderen, das ist zum Schicksal deutscher Staatsgröße für Generationen geworden.

b) Wilhelminismus - der Umschlag in überbewusste Größe Der Umschlag aus der schmucklosen Kraft der Garnisonskirche in die bewusste Größe des Reiches ist in der Kaiserproklamation erfolgt, von Anfang an in Formen der Übersteigerung. Bekannt ist, wie schwer er dem alten Preußentum gefallen ist, verständlich konnte er ja Preußen nur darin werden, dass eben das neue Reich der preußischen Kraft all jene Größendimensionen hinzufügen sollte, die es allein nicht gewinnen konnte; hier ist eine Probe aufs Exempel versucht worden, wie viel die „reine Größe" in ihren historischen Dimensionen der effektiven inneren Kraft noch hinzufügen kann - letztlich waren es dann nurmehr Versuchungen zum allzu Großen. In dieser Entwicklung ist die Größenfrage in Deutschland von vorneherein einseitig gestellt worden: Im nunmehr deutlichen Primat des Außenpolitischen, im megalomanischen Anspruch, nicht in der Betrachtung und ruhigen Entwicklung innerer Ordnungsgröße. Der Bismarck-Moltke-Mythos des beginnenden Wilhelminismus erscheint heute geradezu als eine Personifizierung aller oben beschriebenen Größenkomplexe: Nun hatte die Staatsgröße ihre menschlichen Vertreter gefunden, und bald wurde aus der stillen Größe des Schweigers die redende Größe des Kaisers. Vom Napoleonischen schien dann nurmehr das Parvenuhafte zu bleiben, von den großen Männern ging es rasch abwärts in die Großmannssucht.

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Hier, und nicht etwa erst im Nationalsozialismus, sind die Grundlagen des Deutschen Größen-Mythos gelegt worden, und es ist für alle Betrachtung der Staatsgröße wohl die im Negativen wichtigste Periode: Hier zeigt sich, was Monumentalstaatlichkeit eben nicht bedeuten kann. Wäre 1914 eine Schlacht nicht verloren worden, so hätte sich vielleicht auch dies anders entwickeln können, doch dann hätte sich währe Staatsgröße trennen müssen von den Illusionen einseitiger MachtGröße. So aber hat nun die Niederlage von 1918 alle geistig-politischen Probleme der preußisch-wilhelminischen Größenbetrachtung erst recht aufbrechen lassen, vom Primat des Außenpolitischen bis zur Übersteigerung der militärpolitischen Macht-Größe. Doch die Fehlentwicklung war offensichtlich noch weit tiefer gegangen, sie lag im Begriff der Größe selbst, wie man ihn damals in Deutschland immer mehr verstand: Sie sollte nicht nur aus Gewalt, sie sollte aus Gewaltsamkeit entstehen, in unruhiger, titanischer Dynamik aufgetürmt, nicht in ruhiger, staatsorganisatorischer Selbstverständlichkeit wachsend. Größe als großer Schlag, nicht als große Lösung - das war das Ideal. Die Größe des Friedens konnte nicht gesehen werden, in welcher gerade die staatlichen Lösungen ihre Weite gewinnen. Fixiert schien das Denken auf die Kategorien „groß" und „klein" in einem vertikalen Verständnis, allein in jener im I. Weltkrieg viel beschworenen Möglichkeit, „dem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen". Diese Durchsetzungs-Größe, über aller Lösungs-Größe, war eine entscheidende Fehlentwicklung in der Suche nach wahrer Monumentalstaatlichkeit: Sie bewährt sich ja in der Evidenz ihrer großen Lösung, welche in sich derartige ordnungsmäßige Überzeugungskraft besitzt, dass sie der Durchsetzung kaum mehr bedarf.

c) Adolf Hitler und der Monumentalstaat In oberflächlicher Betrachtung mag es scheinen, als vollende sich im Nationalsozialismus nur endgültig eine Fehlentwicklung, welche gerade den Monumentalstaat angestrebt habe, als sei nun die Frage nach diesem mit 1945 zu begraben. In der Tat erscheint hier alles zusammengefasst und potenziert, was an Größenvorstellung aus dem Wilhelminismus weiterwirkte: Der außenpolitische Machtanspruch wird als Fehlgröße nicht erkannt, Parvenuhaftigkeit theatralischer Dekors wirkt nur immer noch stärker, die unablässig beschworene Größe geradezu ad absurdum führend. Historische Turbulenz hat diesen Verzeichnungen, dem Missverständnis der Staatsgröße durch übersteigerte Größenansprüche, endgültig die verhängnisvolle Richtung gegeben - obwohl doch der Nationalsozialismus Ansätze eines neuartigen, allseitigen Staatsdimensions-Denkens durchaus zuzeiten zeigen konnte: Der Gedanke der Staatsgröße wurde ja nun auch, und weit stärker als früher, nach innen projiziert, und keineswegs nur in der Zerstörung von Bürgerfreiheiten, sondern auch in sozialen Entwicklungen und dem Zug zu einer „großen Solidarität", der

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weiterwirken sollte. Die Staatsform, wenn von einer solchen überhaupt gesprochen werden kann, war an sich eine solche der allseitigen, kombinierten Größe, angelegt in einer Ordnungsdimension, welche dann allerdings im militärischen Größenanspruch unterging. Der Monumentalstaat wurde wohl gefühlt, von den Besonneneren dieser Zeit, in seinem Zusammenklang großer Vergangenheit, mächtiger Gegenwart und weiter Zukunftsordnung, doch nun fehlte eben die Kraft zur Erfüllung eines Anspruchs, der sich in Willenskräften erschöpfte, die ruhige intellektuelle Ordnung der Staatsgeometrie verschüttete. Dass großes Machtstreben gerade nicht den Staat als „große Lösung" bringt, sondern von ihm entfernen kann, dafür ist diese Zeit ein Mahnmal geworden. Ihre Rassenpolitik bedeutete einen staatsgrundsätzlich nicht verständlichen Abfall von der überall gepriesenen Sicht der Größe, einen fundamentalen inneren Widerspruch. An sich schon musste dieses Rassendenken ja verkleinernd wirken, die hier eingesetzten Kategorien mochten als Kampfparolen gelten, ein Reich der Größe konnten sie nicht tragen. Der Staat der großen Lösung hat noch nie die Minderheiten vertrieben und verfolgt - am wenigsten das römisch-deutsche Reich die Juden - er baut sie in solche Strukturen ein, bewahrt seine Größe gerade darin; in der Überhöhung der Unterschiedlichkeiten, die er bestehen lässt, entfaltet er zuallererst seine große Dimension. Die notwendige horizontale Weite der Staatsgröße wurde seinerzeit durch die Rassenpolitik in Vertikalität verengt, ja grundsätzlich aufgehoben. Noch deutlicher wird der Verlust der geistigen Größe im Angriff gerade auf das Judentum. Ungetrübter Blick hätte auch damals schon erkennen müssen, wie sehr eben diese Gruppe, als solche vielleicht, jedenfalls aber in ihren bedeutenden Vertretern, stets den Blick für Kategorien der „großen Lösung" sich bewahrt hatte, über große, lange Zeiten hinweg. Die großräumigen Organisationsleistungen in der neuen Welt, im wirtschaftlichen Bereich überhaupt, hätten allein schon den Beweis erbringen müssen, dass hier Weggenossen zu wirklicher Staatsgröße der Krieg erklärt wurde. Und freilich hätte nur in religiösem Denken erfasst werden können, dass ja hinter diesem vermeintlichen Feind aller Größe die größte Idee überhaupt stand, welche Menschen denken können: die des unendlichen, nirgends so groß gedachten Gottes. Was für verwirrte Geister, und für Verbrecher, die „große Endlösung" sein sollte, das war ein Verbrechen gegen großes Denken.

2. Die Grundsatzkritik an der deutschen Kolossalität Zu leicht macht es sich allerdings auch hier eine Betrachtung, welche in Wilhelminismus und Nationalsozialismus nicht Etappen, sondern nur Parenthesen einer deutschen Geschichte sehen möchte, Irrwege, aus denen der Rückweg leicht möglich ist in die weiteren Gefilde echter Staatsgröße. Nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass auch heute noch, nach Jahrzehnten, und also doch wohl ganz grund-

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sätzlich, weithin kritische Distanz zum deutschen politischen Denken festzustellen ist; es gäbe sie nicht, würde all jene angestrebte Größensuche der Vergangenheit nur als vorübergehende geistige Abirrung gesehen. Und bringt denn ernste Kritik die deutschen Verirrungen nicht immer wieder gerade mit dem Streben nach einer Monumentalität in Verbindung, die eben doch nur als eine solche der tönernen Kolossalität erscheint? Staatsgrundsätzlich lässt sich dies unschwer auch heute noch belegen: Die französische Grandeur ist immer und überall leichter akzeptiert worden als die lastenden deutschen Organisationen. Hier vernahm man die hellen Zeichen der Clairons, nicht die Märsche der deutschen Kürassiere, etwas von leichter Kavallerie hat diese Größe sich immer bewahrt. Dem deutschen Ordnen wird, zuhause und in Besatzungszeiten, Größe und Effizienz nicht bestritten, doch in ihm lastet die Schwerfälligkeit des Volkes der Systeme und der flächendeckenden organisatorischen Unbeweglichkeiten. Ist aber nicht gerade dies nun letztlich doch das Monumentale, das Große, welches überall lastet - und erdrückt? Historische Monumentalitäten, ganz und gar deutscher Art, reichen von dem „Hier stehe ich" bis zum „Es ist erreicht" - mag sie noch soviel trennen, sie haben monumentale Größe und konnten diese dem deutschen Staatsdenken gewiss aufprägen. Doch eines ist ihnen auch gemeinsam: dass sie - nicht anders können, dass ihre Monumentalität zur Unbeweglichkeit erstarrt, die anderen Völker ängstigt und die eigenen Bürger. So mag es vielen scheinen, dass in der deutschen Geschichte nur zu oft an Monumenten staatlich gebaut wurde, welche am Ende die Größe von Grabmalen erreichten, in denen sich der Geist und die Künste wohl Denkmale setzten, in ihnen aber auch erstarrten. Der „deutsche Geist" ist so oft mit dem Musealen in Zusammenhang gebracht worden - sollte zu diesen „Friedhofen der Kunst" nun auch noch der Friedhof der Politik kommen, im deutschen Streben nach dem Monumentalstaat? Und dies alles noch zementiert in der theoretischen Systematik deutscher Professoralität? Wer wollte leugnen, dass dies Züge deutscher Staatsgeschichte sind, welche Ängste vor dem Monumentalstaat rufen?

3. Und doch auch deutsche Staatsgröße - in Staatsdynamik Dies alles mögen Schwächen der deutschen Entwicklung, vielleicht des deutschen Denkens sein - gegen den Begriff der Staatsgröße bedeuten sie wenig, aus deutschen Verirrungen heraus darf er nicht verlassen werden. Hier wirkten die Überstürzungen politischer Kontingenz, über rasche Zementierungsversuche, welche kompensieren sollten, was in der säkularen Beständigkeit römischer Größenentwicklung nicht wachsen konnte. Eines zeigt sich darin ganz deutlich: Monumentalität kann nicht mit immobilem Konservativismus gleichgesetzt oder

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gar verwechselt werden. Die deutsche Lektion warnt davor, die Größe des Elastischen zu verkennen, der Geschichte ein Monument in den Weg stellen zu wollen, anstatt deren Wege monumental zu gehen. In diesem Sinn kann Staatsgröße kaum irgendwo soviel lernen wie aus der deutschen Entwicklung. Dies gilt aber auch noch in einem anderen Sinne, denn auch hier gibt es eben das andere Deutschland, in jenem Land, dem bisher noch niemand, selbst nicht die grundsätzliche Kritik, „etwas von Größe" hat aberkennen wollen. Nicht nur geistig-kulturell, auch politisch und gerade im Staatsdenken, haben typisch deutsche Konstruktionen und Modelle nicht nur bewegt, sondern geradezu ins Unendliche getragen - von Luther bis Kant, von Marx bis Nietzsche. Das Faustische als Staatskategorie ist hier ebenso wirksam wie in der schäumenden Größe Wagnerscher Musik, immer mit einem Zug nicht nur ins Große, sondern ins Unendliche. Vielleicht ist die organisatorische Monumental-Erstarrung gerade die Kompensationssuche gegen allzu viel innere, mächtige Bewegung, in der sich die Dynamik dieser Geistigkeit selbst zu verlieren droht. Lektionen der politischen Bewegung, des Drängenden, immer wieder Anstoßenden hat sich diese Mitte Europas selbst und hat sie auch ihren Nachbarn immer von neuem gegeben, nicht zuletzt nach 1945, dem scheinbaren Verlust aller Größe. Monumentalstaatliche Betrachtung aber mag gerade hier lernen, wie das „ganz Große" auch das „voll Dynamische" bedeuten kann, die nahezu unbeschränkte Öffnung, wie sie heute manche deutsche Liberalität in der Aufgabe letzter verfassungsrechtlicher Festigkeiten sucht - auch darin ganz und gar in deutscher Tradition stehend, übersteigernd.

4. Niederlage - nie ein Beweis gegen Staatsgröße Das deutsche Schicksal ist aber auch in einem anderen Sinn, und ganz allgemein für alles Staatsdenken, eine Mahnung nicht gegen, sondern für den Monumentalstaat: Er kann selbst in der größten Niederlage nicht als Idee sterben. Historisch hat sich hier nur die Napoleonische Lektion wiederholt: Dort war soviel an wahrer, innerer und äußerer Größe versammelt, dass sie Waterloo in geistiger Leichtigkeit überleben konnte, dass von der Niederlage oft nichts geblieben ist als die Anklage gegen eine ungerechte Geschichte. Diese Phoenix-gleich immer wieder erstehende Monumentalität hat allerdings nur ein Mann verdienen können, der dem Begriff des Großen nirgends und niemals untreu geworden ist, und der von einem Volk getragen wurde, dessen größte Grandeur die Treue in der Niederlage war. Völkern, welche vom Humanismus geprägt sind, sollte die Bewunderung für das Gefallene ohnehin leicht fallen. Von der römischen Nachdenklichkeit auf den Ruinen von Karthago bis zur Bewunderung für die geborstene römische Größe ist die abendländische Geistigkeit so oft vom Gefallenen und Zerstörten getragen worden,

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die Lektionen der Monumentalstaatlichkeit sind vielleicht immer am deutlichsten die der großen Niederlagen. Die aufsteigende englische Imperialität hat dies in einem ihrer historischen Lehrbücher verewigt, im „Decline and Fall of the Roman Empire". In dieser historischen Erfahrung spiegelt sich eine grundsätzlich-philosophische Erkenntnis: Monumentalstaatlichkeit bedeutet eine Idee, nicht einen Erfolg, sie kann nicht sterben in der Niederlage einer großen Staatlichkeit, gerade in ihr wirkt sie weiter - wenn dort wirklich ein Monument gewesen ist. Wer dem nicht folgt, mag 1945 in anderem Licht als Bestätigung der Staatsgröße, nicht als ihr Ende sehen: Die Niederlage der Deutschen kam durch den Sieg des Größeren, von Staatlichkeiten, welche sich gerade in diesem Augenblick ihrer imperialen Größe bewusst wurden, auf beiden Seiten des Atlantik. Die Übersteigerung großer Lösungen bedeutet nichts gegen die Idee der großen Lösung, der Zusammenbruch der übergroßen Kuppel nichts gegen die Möglichkeit des monumentalen Überbaus. Zusammengebrochen ist 1945 die Vorstellung von der rein nach außen wirkenden Kraft des Machtstaates, wieder ins Lot gekommen ist das Gleichgewicht zwischen innerer und äußerer Staats-Monumentalität, denn gesiegt haben Mächte im Namen ihrer großen inneren Lösungen, des Kommunismus im Osten, der liberalen Freiheit in den Vereinigten Staaten. Mit ihnen haben sie sich die Welt erobert und geteilt, nicht nur mit ihren Armeen; und so ist vielleicht am Ende des II. Weltkriegs historisch nur ein Defizit der Monumentalstaatlichkeit aufgefüllt worden, in der Zerstörung dessen, was sie allein nie schaffen kann: eines militärischen Apparats. Denn eines allerdings haben diese Jahre überzeugend gelehrt: Die rein militärische Größe kann immer nur ein Mittel sein zu einem weiteren, größeren Zweck: zum Staat der großen Lösung, die sich als solche nie im Militärischen erschöpfen, also auch in der militärischen Niederlage nicht untergehen kann. Wo Militär zum Militärstaat emporwächst, wie im römischen Vorbild, mag im Überwirken auf die Staatsorganisation die „große Lösung" auch von den Waffen kommen - in der gewonnenen Schlacht allein liegt sie nicht, mit solchem Triumph darf sie nicht gleichgesetzt werden, der sie lediglich anstößt. Sie bedarf der zivilen Übersetzung in die großen Lösungen allgemeinerer Staatlichkeit, nur sie runden sich zum kuppelhaften Monument. So sollte das deutsche Staatsdenken an seiner Niederlage nicht verzagen, auch darin ist ein Beitrag zur wahren Monumentalstaatlichkeit geleistet worden. Ob damals wahre oder falsche Monumente gestürzt wurden - dies alles ist staatsgrundsätzlich sekundär, schon weil das Ende des II. Weltkriegs neue Monumentalitäten geschaffen hat. Wer aber heute in der deutschen Vergangenheit noch deutsche Trümmer zerkleinern wollte, hätte nichts von der Größe begriffen, zu der sie mahnen, gerade wenn sie sie verfehlt haben. Militärische Niederlage als Beweis gegen große Staatlichkeit - könnte kürzer gesehen werden, wo doch die „großen Lösun-

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gen" gerade nach der großen Niederlage kommen und aus ihr herausführen? Und die Deutschen haben dies doch erleben dürfen.

I I . Antiimperialismus gegen Monumentalstaatlichkeit 1. Die Großmachtphobie Die außenpolitische Situation in Europa, bald auch darüber hinaus, ist seit Jahrhunderten, verfestigt seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, durch das Konzert innenpolitisch und außenpolitisch annähernd gleich starker Staaten geprägt. Dieses Gleichgewicht der Kräfte hat vor allem die Sorgen der Kleineren immer wieder beruhigt. Dadurch war auch weithin die Einstellung zur Staatsgröße geprägt: Die Großmächte übten eine bestimmte Ordnungsfunktion aus, die Gefährlichkeit ihrer Macht zeigte sich immer wieder an einzelnen Stellen, sie trat aber nicht systematisch als „Gefahr der Größe als solcher" in Erscheinung. Bei aller Rivalität der Großmächte, allen Ängsten der mittleren und kleineren Mächte - jene Staatsgröße, welche weithin in der Großmachtstellung in Erscheinung trat, war nicht eigentlich ein Angstbegriff; und dies mag eine der wichtigsten positiven Wirkungen des Konzertes der Mächte gewesen sein. Endgültig nach 1945 ist dieses säkulare Machtsystem zerbrochen, das länger gedauert hatte als irgendein anderer beruhigter Spannungszustand seit dem Ende des Römischen Reiches. Mit einem Mal musste eine ganze Reihe von Großmächten ins zweite Glied zurücktreten - oder anerkennen, dass dort schon seit langem ihr Platz war. Gewicht und Gewalt der Supermächte schienen ins nahezu Ungemessene zu wachsen; und gerade aus der Sicht einer Monumentalstaatlichkeit besteht ein entscheidender Unterschied zwischen den Großmächten und den eigentlichen Übermächten der Gegenwart: Erstere standen doch in Formen ruhiger Größe nebeneinander, eine Reihe von Monumenten, die Supermächte wurden zu Riesenimperien mit Exklusivanspruch, welcher die andere Seite in ein wirtschaftliches, militärisches und wenn möglich geistiges Sibirien verbannen möchte. Damit verschiebt sich nicht nur der Begriff der Größe, bis ins fast Grenzenlose, es kommen auch wieder in verstärktem Maße die Ängste der kleinen und mittleren Mächte, in einer Renaissance der Grotius-Zeit. Bis sich ein neues Konzert bilden kann, wie es mit dem Aufstieg Chinas und anderer Mächte in die erste Reihe sich anbahnt, wird „Großmacht" ein Angstbegriff bleiben, der alle Monumentalstaatlichkeit ins Zwielicht rückt. Vor allem die früheren Großmächte Europas, durch solche Entwicklung „hollandisiert", werden nicht nur außenpolitisch zu Trägern dieser grotianischen Ängste: Da bei ihnen so viel von jenem Potential liegt, welches die allgemein-geistige Entwicklung prägt, staatsgrundsätzliche Theorien hervorbringt, wirkt all dies aus ihnen heraus in nicht zu beruhigenden Angstvorstellungen weit über ihre Grenzen hinweg - und vor allem kommt es aus Deutschland. Wer sich gegen Über-Mächte behaupten will, muss „kleines Denken" lernen und

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verbreiten, ganz allgemein jeder Staatlichkeit gegenüber, deren Größe ja in einem schwer trennbaren Zusammenhang von äußerer und innerer Macht gewachsen ist. So wird denn heute gerade in Europa systematisches Misstrauen gesät gegen alle Formen größerer Staatlichkeit, nicht im Äußeren allein, sondern auch an ihren inneren Wurzeln. Dies ist der eigentliche Hintergrund eines Antiimperialismus, der, auf solche Weise geistig herrschend geworden, geradezu staatsgrundsätzlichen Konsens hervorbringt - bis er vielleicht in neuer europäischer Weltmacht seine Beruhigung findet.

2. Antiamerikanismus als „Anti-Größen-Affekt" Im Westen vor allem, aus dessen geistiger Beweglichkeit heraus, vollzieht sich diese Entwicklung, haben antihegemoniale Ängste in den 50er und 60er Jahren stille, aber tiefe Wurzeln geschlagen, sich seither rasch und immer offener verbreitet. Nun ist es nicht mehr etwas wie die alte französische Sorge vor englischer oder deutscher Hegemonie, der man immerhin ein eigenes Größenstreben entgegensetzen konnte. Jetzt gilt es, die Größe als solche zu kritisieren, herabzusetzen, zu schwächen, damit nicht jene Weltherrschaft sich verbreite, welche alle anderen Staaten unter die Vereinigten stellt. Dieser Antiamerikanismus, seiner primitivierenden Formen wegen oft, aber politisch wohl zu Unrecht verachtet, verstärkt sich in deutlicher Wendung gegen jede Art von Staatsgröße, und aus immer neuen, heterogenen Quellen heraus: Da ist jener lateinamerikanische Nordkomplex, in dem noch manches von gedemütigter eigener, früherer spanischer oder heutiger geographisch-wirtschaftlicher Größe mitschwingt; da entfaltet sich auch im Übrigen eine dritte Welt, welche ähnliche Denkmodelle übernimmt oder aus Lateinamerika lernt - und da stimmen wieder die früheren Kolonialstaaten und die klein gewordenen Besiegten Europas in diesen Chor ein, die antiamerikanischen Ängste, ja Komplexe immer mehr übernehmend. In all dem aber ist stets eines lebendig: Größenangst, und sie verstärkt sich in dem Maße, in welchem die Vereinigten Staaten sich ihrer Macht bewusst werden, überzeugt und deutlich gerade aus solcher Größe und in deren Namen handeln. Wiederum wird konzertierte Außenpolitik, ja europäische Einung, zu einer gemeinsamer Wendung wider alle äußere Staatsgröße wie auch gegen das, was sie von innen hervorbringt. Der anderen Über-Macht war es immer wieder gelungen, diese Ängste zu verstärken, indem sie zugleich von ihrer eigenen Größe ablenkte: Im Namen alt eingewurzelter sozialistischer Phobien gegen alles „wirtschaftlich Große", gegen die Macht der vom Mehrwert getragenen, politisch wirkenden Großindustrie, in der Verlebendigung der Ängste des einzelnen Menschen gegen die Anonymität des Kapitals, wurden im Grunde nur Größenphobien zusammengefasst und gezielt gegen die westliche Über-Macht eingesetzt. In Verbindung mit den erwähnten antiimperialistischen Ängsten in der westlichen Welt kam es damit zu einer großen

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gemeinsamen Front gegen alle Erscheinungen der Staatsgröße. Sie war nun nicht mehr nur primär außenpolitisch gewendet, sozialistische Strömungen setzten bei dem ihnen historisch geläufigen Primat der Innenpolitik an, indem sie Außenpolitik lediglich als Fortsetzung der Wirtschaftspolitik mit anderen Mitteln begriffen, so wie ihnen die innere Staatsgröße überhaupt nur Ausdruck der großen privaten Wirtschaftsmacht zu sein schien. So begann, in der Verbindung all dieser Elemente, die geradezu systematische Suche und Kritik aller Erscheinungsformen staatlicher Größe. Niemand war aber wohl weniger bereit, sich dem in selbstverkleinernder Kritik zu entziehen, als amerikanisches Denken und das freiheitlich-ungezwungene Verhalten dieser Welt der unbegrenzten - eben der ganz großen - Möglichkeiten. Dies alles ist noch immer, mehr denn je, gegenwärtig; es wirkt weiter gegen die nun einzige wahre Supermacht.

3. Die Atommächte - „Größe zum Tode" Die Staatsgröße erscheint aber letztlich doch nicht so sehr primär innenpolitisch problematisch, aus solchem Antiimperialismus heraus, als vielmehr in ihrer außenmilitärpolitischen Dimension, nach den neuesten Entwicklungen des Militärischen. Dass die Atomwaffen etwas wie ein neues Völkerrecht hervorgebracht haben, wenn man diesem noch den Namen des Rechts geben will, ist seit langem erkannt; diese Entwicklung hat selbst das staatsgrundsätzliche Denken ganz allgemein verändert. Staatsgröße ist hier wahrhaft furchtbar geworden, ein Ausdruck tödlicher Macht. Dass dahinter innenpolitisch große Staatsmodelle stehen - in Amerika der Liberalismus des Marktes, in China noch immer die Planwirtschaft - ändert nichts an einer Gewichtsverlagerung, welche sich so in der Betrachtung der Staatsgröße vollzieht: von der Innenpolitik eben doch wieder zur Außenpolitik, von dieser aber hin zur Militärpolitik. Staatsgröße als militärische Vernichtungsmacht dies mag bei vertiefter Betrachtung rasch als nichts anderes denn eine Fortsetzung von Irrungen der Größenbetrachtungen des 19. Jahrhunderts erscheinen, die ebenfalls Größe in den außen-, ja militärpolitischen Bereich verlegen wollten; und damit zieht diese heutige Größenkonzeption ihre Kraft gerade auch aus solcher, immer noch ganz naher Tradition, mag man sich dabei auch nicht mehr auf antihegemoniale Ängste vor Deutschland berufen. Doch hier scheint Staatsgröße sich selbst zu widerlegen: Sie wird schlechthin furchtbar, zeigt nicht majestätische Fassaden, sondern das Gesicht des Todes, vor dem sich ihre eigene Größe zu fürchten beginnt. Die Staatsmonumentalität wird damit aller Majestät entkleidet, sie verliert gerade jene Kraft, welche sie früher zur Staatsgrundlegung hatte werden lassen. Nunmehr erscheint sie als Ausdruck reiner Kraft, barbarischer Tyrannei, als eine Rückkehr zu persischem Großkönigtum, welche alle feineren, kleineren staatlichen Formen zerbrechen will, in denen sich griechisch-abendländische Staatlichkeit organisieren konnte. 39 Leisner

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Zugleich ist diese Atom-Größe aber auch in sich schon wieder relativiert, als Staatslegitimation jedenfalls. Ihre Kraft liegt ja in etwas „rein Faktischem", nicht in Organisationsmodellen oder Staatszielen, welche einen oder trennen könnten. Wie sollte eine immer komplizierter werdende Staatsmaschine aus dem heraus geistig getragen werden, was sich noch immer, in seiner undurchdrungenen Macht, letztlich nicht bändigen lässt? Atomunfälle sind daher stets Staatsunfälle, geradezu ein Unfall staatlicher Macht - ein Umfall... Alle Waffen-Größe war bisher stets auf einen Ernstfall gerichtet, doch nun ist es erstmals jener, der - nie eintreten darf. Staatsgröße aber als „Größe zum Tode hin", Monumentalstaatlichkeit im Blick nur auf das „große Ende" - das kann Staatlichkeit nicht legitimieren, wie immer man sie definiert. Hier ist nichts mehr von konstruktiver Potenz, aus der Schöpferkraft wird die Vernichtungsmacht im wahrsten Sinne des Wortes. Aus religiöser Sicht eine Negativ-Göttlichkeit, staatsorganisatorisch ein Nichts - darin ist nichts von Ordnung, keine Spur mehr von einem „Staat als großer Lösung", denn wie alle „Endlösungen" verdient auch diese den guten Namen nicht. Wird so nicht das Mächtigste, was der menschliche Geist außerhalb der Staatlichkeit ersinnen konnte, zum Ende der Staatsgröße?

4. „Internationale Demokratie" gegen außenpolitische Größe Antiimperialistische Gegenbewegungen wider eine wie immer verstandene, vor allem außenpolitisch gewendete Staatsgröße kommen jedoch auch aus den klassischen Bereichen staatsgrundsätzlichen Denkens, und aus deren Mittelpunkten in der westlichen Welt. Wo die Sprengkraft der Atombomben versagt, wird die Explosionswirkung der Freiheitsideen eingesetzt, die sich in Kettenreaktionen über die Grenzen verbreitet, werden in der amerikanisch-europäischen neuesten Menschenrechtsdoktrin internationale Dimensionen erreicht. Diese wahrhaft großen, traditionsreichen Staatsgedanken werden nun als Sprengsätze eingesetzt wider monumental wirkende, blockhaft-autoritäre Staatlichkeiten, wiederum damit in deutlicher Wendung gegen herkömmliche Vorstellungen von Staatsgröße. Wenig ändert es, dass dies gerade aus der westlichen Über-Macht heraus und mit der Schubkraft ihrer Großmachtstellung geschieht. So wie diese früher vom Osten durch den Einsatz seiner sozialistischen Wirtschaftsdoktrin verschleiert wurde, so verbirgt der Westen seine Größenordnungen noch immer hinter der grenzüberschreitenden Menschenrechtsdoktrin, denn auch ihr ist eines wesentlich: Sie will das Kleine ansprechen, den Menschen, das Große verkleinern - die Staatsmacht. Sie soll sich an ihren Monumental-Grenzen nicht mehr unüberwindlich eingraben dürfen, im Inneren nicht mehr allein ihre eigene staatliche Autorität kennen; allenthalben ist das unzählige Kleine angesprochen, der Mensch, und diesmal wahrhaft staatsgrundsätzlich, ja in Begründungs versuchen einer neuen Staatlichkeit.

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Wenn überall so das Staatsdenken „durchschlagen soll auf die Menschen", deren Regimekritik dergestalt von außen gestützt wird, wo sie nicht schon innen feste Wurzeln geschlagen hat, so ist doch eine gegen jede Staatsgröße gerichtete Folge grundsätzlich unausweichlich: die Gleichheit nicht nur der Menschen, sondern auch ihrer politischen Gemeinschaften. Das letzte Ziel kann dann nur das „ganz große internationale Konzert" sein, in dem es aber die Dimensionen von Groß und Klein nicht mehr geben darf, da alle Mitwirkenden ebenso gleich sind wie die einzelnen Menschen, die sie bilden, und deren Rechte; eine solche Bewegung von der individualistischen zur kollektiven Grundrechtlichkeit, von der der Menschen zu jener der Staaten, hat sich schon im 18. Jahrhundert einmal vollzogen, heute ist sie wieder im Lauf, in einer vergleichbaren Systematisierung naturrechtsähnlicher Vorstellungen. Wo dies aber noch nicht erreichbar erscheint, da muss doch jene „internationale Demokratie", welche über die Grenzen strebt, jedenfalls allenthalben Minderheitsachtung durchzusetzen versuchen, in ihr aber vollzieht sich ebenfalls Staatsverkleinerung in aller Regel, wenn sie nicht durch größeres föderales Denken sogleich aufgefangen wird. In internationalen Organisationsbemühungen hat solche Demokratisierung, bisher vor allem auf Staatenebene, auch bereits bedeutsame Erfolge errungen - vor allem im Negativen, in der Wendung gegen Formen außenpolitischer Staatsgröße letztlich im Namen eines Antiimperialismus: Die Vereinten Nationen und ihre Gliederungen werden immer mehr zum Bollwerk gegen einige mächtige Staaten, damit aber gegen die in ihnen verkörperte außen- und wirtschaftspolitische Größe. Den „Großen" mag dies immer wieder als Alibi nicht nur ihrer Macht, sondern schlicht ihrer Dimension dienen - in kleinere Ordnungen sehen auch sie sich eingebunden, und diese werden, im Namen von Mehrheiten und Staatenabstimmungen, zunehmend zum allgemeinen internationalen Denkmodell. Neue international organisierte Größe, eine echte allgemeine Über-Staatlichkeit, könnte sich so wohl entwickeln, damit neue Größendimensionen hervorbringen; doch dazu bedürfen diese Organisationen gerade einer Macht, die eben noch immer heute bei den Staaten endet, wie zu Hegels Zeiten. So wendet sich denn all diese organisierte internationale Staaten-Demokratisierung letztlich doch frontal gegen Staatsgröße, sie baut nicht neue Kategorien derselben auf. Hier sind Hilfsorganisationen für Ärmere am Werk, zuzeiten wirkt ihr Druck auf die Stärkeren, macht sie kleiner, niemanden jedoch wahrhaft groß. Dass Demokratisierungsbewegungen ein Zug zur Organisation der Schwäche in Kleinheit seien, hat antidemokratische Kritik immer wieder behauptet; wie dem aber auch im Inneren sei - außenpolitisch wird es in diesen internationalen Zusammenschlüssen zur Zeit bestätigt, und darin erneut zu einer Wendung gegen alle Staatsgröße.

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5. Der Niedergang der außenpolitischen Größe Dem Antiimperialismus in all diesen und anderen Formen ist eines jedenfalls schon heute geistig gelungen: Eindeutige, allgemeine Distanz ist geschaffen worden gegenüber außenpolitisch sich zeigender Monumentalstaatlichkeit. Deren wichtigste Stütze, die militärische Kraft, bleibt ins atomare Zwielicht gestellt. Sie geht auch im Übrigen und geradezu militärtechnisch nieder, an Vorstellungen einstiger Größe gemessen. Aus punktuellen Erfolgen früherer Franctireurs ist etwas wie eine internationale Guerillaidee geworden, welche herkömmliche Militärmacht überholt. Diese kann, seit Vietnam, nicht mehr in Panzerspitzen und Flächenbombardements ihre Größe beweisen, sie muss sich selbst in Spezialeinheiten verkleinern, zur Staats-Guerilla werden, bis hin in die Kleinst-Einsätze des Terroristenkampfes. Im alten Wort vom „Kleinkrieg" liegt aber die hier entscheidende Wendung gegen das, was hinter dem traditionellen Militär steht: die staatliche Größe. Monumental war der Tank, der jetzt liegen bleibt, das Riesengeschütz, welches nun zu weit feuert. Der kleine Krieg wird von der kleinen Armee des kleinen Staates erfolgreich geführt; sie ist groß in der Unfassbarkeit, nicht in harter, erstarrter Monumentalität. Und dieses Wort vom Monumentalen - ist es nicht geradezu ein Reizbegriff gegenüber antiimperialer Geistigkeit, die alle Mauern in ihrem menschlichen Paradies zum Einsturz bringen möchte? Für die folgenden Betrachtungen verstärkt sich in all dem nur die Mahnung, den Begriff der Staatsgröße weder auf außenpolitische Strukturen noch auf rein militärpolitische Mächtigkeiten festzulegen. Gegen eines nämlich wendet sich diese Imperialismuskritik ja nicht zentral: gegen die Staatlichkeit im Sinne einer größeren, oder sogar einer großen Gestaltung. Organisationsräume und -notwendigkeiten stellt sie nicht in Frage, sie wendet sich gegen die lastenden Organisationsstrukturen, gegen die drückenden Formen des staatlichen Hochbaus. So gilt es denn verstärkt über innenpolitische Größe im Folgenden nachzudenken, schon weil sie über wirtschaftspolitisches Ausgreifen die alte außenpolitische Mächtigkeit abzulösen beginnt. Der unbestreitbare geistige Niedergang außenpolitischer Mächtigkeitsvorstellungen, der sich, trotz mancher Renaissancen, sicher ungebrochen fortsetzen wird, bezeichnet den Raum, in dem jetzt auf die Frage nach der Staatsgröße die Antwort gesucht werden muss: Der Monumentalstaat - das ist heute nicht mehr die Macht der Kanonenboote oder Atombomben, es kann nur primär der Staat der inneren Größe sein, der als solcher nach außen wirkt, außenpolitisch von innen her getragen wird. Über die Grenzen wirkende, international bewunderte innen-, wirtschaftspolitische Mächtigkeit ist wohl damit die wichtigste zeitgemäße Monumentalform der Gegenwart, vor allem, wenn sie sich einmal mit der demographischen Größe der Milliardenvölker verbinden sollte. Innenpolitische Organisationserfolge im weitesten Sinne des Wortes bedeuten heute wahre Staatsgröße.

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Über all dem darf aber eine Betrachtung, welche mit Blick auf die Geschichte Ganzheitlichkeit nicht aufgibt, nie die Bedeutung der außenpolitischen Größe völlig vergessen. Diese ist nicht nur der Maßstab der inneren Monumentalität, an welchem jene bleibend und allgemein gemessen wird, sich über Kritik zu erheben vermag. Außenpolitischer Größen-Verlust erzeugt allgemeingeistig eine gefährliche Gegenstimmung wider allen Aufschwung zur staatsbegründenden Größe. Sie wirkt der doch gerade heute längst überfälligen Spiritualisierung des Größen-Begriffes entgegen und treibt dessen unkritische Vertreter erst recht wieder in außenpolitisch-militärische Gewaltsamkeit. Wenn es staatsgrundsätzlicher Betrachtung nicht gelingt, diesen Größenbegriff innenpolitisch endgültig in unserer Zeit zu besetzen, so wird er in außenpolitischen Abenteuern immer neue Entladungen bringen, der staunenden Welt tödliche Feuerwerke. Vor allem aber führt eine radikale Wendung gegen alle außenpolitischen Größenphänomene zu einer Grundstimmung, aus der heraus auch innenpolitisch dann eben nicht mehr aufgebaut, sondern immer nur noch weiter verkleinert wird; innenpolitische Größe als Kompensation außenpolitischer Machtverluste wäre gefordert - leicht könnte es zur Gefahr kommen, dass sich diese Größenverluste bis in die innere Staatlichkeit hinein fortsetzen. Und hier hat ja die Entwicklung schon seit langem begonnen.

ΙΠ. „Machtminimierung aus Freiheit 44 Verlust der „inneren Größe44? 1. Freiheit - Gegenpol der Staatsgröße Internationales Freiheitsstreben hat immer wieder aus der Angst der schwächeren Staaten die stärkeren kleiner gemacht. Doch weit wirksamer läuft all dies im Inneren ab, wenn auch mit weniger deutlicher Grundsatz-Richtung gegen Formen staatlicher Größe. Dass Freiheit selbst - dies wird sich noch zeigen - ein Begriff nahezu unbegrenzter staatsorganisatorischer Größe ist, gerät leicht in Vergessenheit, da sie zuallererst, und primitivierend verstanden, doch etwas wie eine geradezu ideologische Grundstimmung gegen alle Formen größerer Staatlichkeit hervorbringt. Freiheit ist, in ihren grundrechtlichen Ausprägungen institutionell verfestigt, letztlich eine Grundsatz-Absage an alle Staatlichkeit, diesen anarchischen Unendlichkeits-Zug kann keine Harmonisierungsformel von der staatlichen Gemeinschaft abwenden. Wer die Freiheit ganz ernst nimmt, dem Staat also doch im Letzten ein Nein entgegensetzt - wie vermöchte er gar noch dessen Größe zu seiner Begründung aufzusuchen? Und wenn schon dieses Nein in der grundsätzlichen Anerkennung der Staatsnotwendigkeit relativiert wird, so bleibt es doch jedenfalls eine Absage an größere Formen der Staatlichkeit, welche dann vom Grundsatz her nicht erforderlich erscheinen.

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Freiheit ist aber, in ihrem Kern, Absage an die innere Macht des Staates, Macht hier verstanden als „größere Herrschaft" im Sinne der Machtintensität. Wenn diese jedoch ein Wesensmerkmal der Staatsgröße stets sein muss, entfernt dann nicht alle Freiheit notwendig von dieser, indem sie ihr die durchgreifende Wirksamkeit streitig macht? Wenn Staatlichkeit nicht allein, aber doch immer im Kern, sich durch den Einsatz der Hoheitsgewalt bewährt - macht dann die Freiheit nicht gegen die innerste Größe des Staates Front, wenn sie dieser obrigkeitlichen Macht gerade den Zugriff sperren will? Liegt damit nicht in aller Freiheitlichkeit eine grundsätzliche Stoßrichtung auf das Herz dessen, was man Staatsgröße nennen kann? Nicht nur staatliche Handlungsintensität ist in Freiheit relativiert, diese will „möglichst wenig Macht" überhaupt, also auch in deren flächendeckenden Aspekten, in ihren zeitlichen Ausdehnungen. Die Staatsgewalt soll eben gerade nicht „überall" in Erscheinung treten, auch wenn sie sich milde zurückhalten wollte, und im Zweifel soll es immer nur etwas wie eine Staatsmacht auf Zeit geben - bis zum überzeugenden Beweis des Gegenteils, der eben doch besseren Freiheit. Wird aber die Staatlichkeit als „große Lösung" verstanden, so kann dies doch nur in ihrer Intensität einerseits, in ihrer zeitlichen und räumlichen Flächendeckung zum anderen gefunden werden, wie sich bereits gezeigt hat. Findet Staatsgröße aber nicht in all diesen Richtungen immer die gleichen Hürden vor - die der Freiheit? Mit diesem Gegenpol der Freiheit muss jeder Versuch zur Staatsgröße stets rechnen, politisch heute besonders deutlich im Erstarken des nationalen und internationalen Liberalismus und seiner freien Märkte, politisch auch darin, dass hier die Bewegung gerade und noch immer aus dem Mekka der westlichen Staatsgröße und zugleich der Freiheit - kommt, von jenseits des Atlantik. Strom und Gegenstrom - aus derselben Quelle? Dazu hier nur eine erste, immerhin relativierende, Randbemerkung in Form einer Frage: Steht hinter diesem vermeintlich notwendigen Gegensatz von Freiheit und Monumentalstaatlichkeit nicht das Missverständnis, welches staatliche Größe immer nur in Machtballung zu sehen vermag, nicht aber im Begriff der Ordnung, der hier mit dem Wort von der „großen Gestaltung" an den Anfang dieser Betrachtungen gestellt wurde? Gerade wenn der Primat der inneren Größe neu begründet werden muss, so hat die Betrachtung wohl tiefer einzudringen: Größe nicht nur im Befehl, sondern auch im Gewährenlassen, in der Verbindung beider zur großen Gestaltung, die diesen Namen verdient, aus dem Staat heraus, vielleicht sogar über ihn hinaus. Immerhin gilt es hier, tief eingewurzelten Missverständnissen zu begegnen; vielleicht können diese Betrachtungen auch dazu beitragen, den Staat weder allein in äußerer noch auch nur in innerer Macht zu sehen, jedenfalls aber Staatsgröße größer als Staatsmacht.

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2. Rechtsstaatlichkeit als „Anti-Monumental-Staatstechnik" Doch diese Untersuchung soll hier nicht bei Allgemeinheiten stehen bleiben, einen Undefinierten Freiheitsbegriff dem noch nicht definierten Begriff der Größe gegenüberstellen. Gerade aus der Freiheitlichkeit heraus haben sich ja Staatstechniken entwickelt, welche nicht nur die Freiheit konkretisieren, sondern geradezu als deren antimonumentaler staatstechnischer Ausdruck verstanden werden können. Vielleicht lässt sich aber, auf solchen Gegen-Hintergründen, eine Staatsgröße näher bestimmen, welche auch hier noch bleiben kann, bestehen muss. Die erste Annäherung an die Rechtsstaatlichkeit, die auch historisch deren Ausgangspunkt war, ist die Forderung „Staatlichkeit nur im Rahmen des Rechts", die Gesetze noch nicht als Grundlage, wohl aber als Schranke aller staatlichen Macht. Wie weit auch immer hier der Rahmen gezogen sein mag - die Rechtsstaatlichkeit wirkt schon dadurch restriktiv, nicht im Sinne der Eröffnung bedeutender Staatsgrößen-Dimensionen. Angelegt ist hier bereits die Tendenz zu einer Minimalisierung der Staatlichkeit, welche in gewissem Sinne sogar als aller rechtlichen Betrachtung wesentlich erscheinen könnte: Die normative Ordnung der Rechtsstaatlichkeit muss von einem Konsens getragen sein, der Maximalisierungen ausschließt. Liegt aber nicht im Begriff der Staatsgröße immer eine Dynamik, ein Anspruch, ein Strecken in geradezu ideale Dimensionen, welches mit dieser „Minimalisierung auf Konsens hin" unvereinbar ist? Die Rahmenidee jedenfalls, mit der rechtsstaatliches Denken einsetzt, hat nur zu oft verkleinernd gewirkt, und ganz grundsätzlich, soll sie doch die Überschaubarkeit, die Berechenbarkeit staatlicher Macht erleichtern, und sei es eben auch nur in erster Annäherung. Berechenbare Staatlichkeit ist ein bereits anspruchsvolleres, aber doch in aller Rechtsstaatlichkeit stets mitgedachtes Ziel. Erst wo alle Staatlichkeit auf normative Grundlagen gestellt wird, scheint sie voll erreicht, schon die Rahmenvorstellung der Egalität ermöglicht einen gewissen Überblick. Doch die „berechenbare Staatlichkeit" - kann dies je ein „Staat der Größe" sein? Muss von diesem Letzteren nicht erwartet werden, dass er „immer größere Dimensionen aus sich selbst hervorbringt", und wie könnte man so mächtige Bäume - berechnen? Im Begriff der Größe liegt sicherlich, wie immer sie verstanden wird, die Vorstellung von etwas, das jede Berechenbarkeit überschreitet, weil es dem Betrachter vorgegeben ist, nicht mit dessen jeweiligen rechnerischen Möglichkeiten größer und kleiner werden soll. Das politische Verständnis der Berechenbarkeit, wie es der Rechtsstaatlichkeit zugrunde liegt, ist an sich auf Eingrenzung gerichtet, nicht auf größere Dimensionen. Berechenbarkeit könnte nun wohl auch größen-neutral verstanden werden, im Sinne einer Instrumentalität der Ordnung, welche gerade größere Räume ebenso politisch zu erschließen vermag, wie dies naturwissenschaftlich möglich wurde. Doch der eigentliche Akzent liegt hier, wie eben bei aller Rechtsstaatlichkeit, auf der Begrenzung staatlicher Macht, von diesen liberalen Wurzeln lässt sich eine solche Macht-Technik kaum abschneiden. Wenn das Ideal aber, nicht nur grund-

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sätzlich-kategorial, sondern durchgehend und auf jede Einzelheit staatlicher Machtäußerung bezogen, immer die Minimalisierung sein soll, in einem gewissen „in dubio pro minimo" - wie soll es dann zur „großen Gestaltung" kommen? Das Ideal des Rückzugs der Staatlichkeit scheint doch diametral gegen deren Größe zu stehen. Und wenn die große Lösung die der großen Gestattung privaten Beliebens sein soll - lässt sie sich dann überhaupt noch als eine typisch staatliche begreifen, bedeutet dies alles nicht immer ihr Ende, nie ihre Größe? Leichter kann man die Rechtsstaatlichkeit jedenfalls so erklären und wenden, nicht im Sinne einer „liberalen Größe". Werden schließlich höhere Stufen der Rechtsstaatlichkeit erreicht und dann alle einzelnen Äußerungen der Staatlichkeit auf normative Grundlagen gestellt, so erscheint diese Legalität doch erst recht als ein Instrument perfektionierter Verkleinerung: Die Norm kann, will sie bei aller Auslegungsbedürftigkeit noch rechtsstaatlich fassbar bleiben, nicht alles voraussehen, eröffnen, zulassen, vor allem selten, nie vielleicht, das „wirklich Große". Der „enge Tatbestand" ist das Ideal der Legalität, die restriktive Interpretation im Zweifel, nicht Ausdehnungen und Generalklauseln, die immer aus solcher Sicht kritikabel erscheinen. Das Gesetz ist, gerade wenn es auf rechtsstaatliche Stabilität und damit auf Dauer gerichtet ist, in allen Regimen, besonders aber in der Demokratie, von vielen, oft gegenläufigen Kräften getragen, die sich im Kompromiss eben auf dem bescheidensten gemeinsamen Nenner einigen, sich in der Kompromisssuche geradezu kleinreiben müssen. Liegt damit in der Rechtsstaatlichkeit nicht der notwendige Zug zum „immer kleineren Gesetz", gibt es nicht geradezu eine Gesetzmäßigkeit der immer kleineren staatlichen Lösung? Die Legalität tritt mit dem großen Wort der Lex auf, doch sie zerbricht deren mächtige Tafeln sodann in immer kleinere Normstücke. Diese ganze normativ schon vielfach gebrochene, wenn nicht zerbrechende Legalität - wird sie nicht noch kleiner in der richterlichen Anwendung, im Geiste derjenigen, die ihrem Wesen nach begrenzend und unterscheidend denken müssen, bis hin zur haarspaltenden Präzision? Wenn das Gesetz den Richter ruft, so fordert das Gesetzessystem der Rechtsstaatlichkeit das Richtersystem der systematisierten Genauigkeit - wo sollte sich das Große entfalten können, das doch jenen Kategorien der Macht verwandt ist, welche der Richter nicht kennen darf und brechen will? Rechtsstaatlichkeit bedeutet schließlich die Kommensurabilität privater und öffentlicher Interessen, jedenfalls in ihren höchsten Steigerungsformen der richterlich sanktionierenden Verwaltungsgerichtsbarkeit. Wie aber könnte dann das Wesen eines solchen öffentlichen Interesses, derartiger Staatlichkeit, auch nur irgend etwas Monumentales in sich tragen, wo doch das Private als etwas seinem Wesen nach Unmonumentales erscheint? Und wenn es anders wäre, wenn in „privater Monumentalität" gedacht werden könnte - hebt sich dann nicht die Grundthese dieser Betrachtungen wieder auf, die eben die Staatlichkeit als Träger der großen Lösung, als von dieser wesentlich geprägt, erfassen wollte?

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So scheint denn die Rechtsstaatlichkeit, dieses machttechnische Zentrum des Liberalismus, auch etwas durchaus Großes im staatlichen Bereich zu bieten - die große Absage an den Staat überhaupt, an seine Größe in allem und jedem.

3. Rechtsstaatliche Staatsminimierung - eine christliche, liberale, sozialistische Forderung In Deutschland und weithin in Europa sind derartige rechtsstaatliche Techniken rasch im Vordringen, denn es wirkt hier nicht nur die Schubkraft liberaler Ideen, ihre konsensgetragenen Gestaltungen vereinen alle großen politischen Strömungen. Christlich geprägtes Staatsdenken wird zwar kaum je systematisch ausgehen von den harten Staatsbarrieren liberaler Rechtsstaatlichkeit; hier wird der Staat weit mehr als Gemeinschaft gesehen, Staatstheorie wandelt sich - eben doch und in vielfacher Weise - zur Soziallehre. Der scharfe Gegensatz von Individuum und Staatlichkeit soll flexibilisiert werden im Namen der Grundüberzeugungen eines Glaubens, der die brüderliche Gemeinsamkeit predigt; irgend etwas von der Lex Charitatis ist, weit über alles Kirchenrecht hinaus, immer mitgedacht. Was aber sollte hier „große Staatlichkeit" bewirken, oder auch nur bedeuten, wo doch nur eine Größe wirkt, und dies durch alle Glieder der Gemeinschaft und über diese selbst: die transzendente Größe des gütigen Schöpfergottes? In solcher Sicht hat sich der Staat immer - beugen müssen, einst vor der mächtigen Kirche, der Vertreterin des Jenseits auf Erden, auch heute noch vor der Gottesebenbildlichkeit der Menschen und vor ihren natürlichen, gottgewollten Gemeinschaften; und in Subsidiarität gesehen zeigen sie alle doch eher das „natürlich-Kleine" als etwas wie eine mächtig-monumentale Dimension. Ist eine solche politische Grundstimmung nicht zutiefst antimonumental, erreicht sie nicht das Ziel liberaler Rechtsstaatlichkeit nur auf anderen Wegen? Nichts anderes könnte man von jenem Sozialismus sagen, der einst, gerade in seinen entschiedensten östlichen Ausprägungen, etwas wie eine sozialistische Legalität forderte, in voller Folgerichtigkeit: Hier soll das ausgebeutete Individuum gesichert werden, der „kleine Mann", gegen die großen Mächte der Wirtschaft und einer mit ihr wesentlich verbündeten, gerade ihre Größe widerspiegelnden Staatlichkeit. Staatsbeschränkung, bis hin zur Staatsvernichtung im kommunistischen Endzustand, ist für dieses Denken noch weit mehr begeisternd-dynamische Forderung als in den kühlen Berechnungen der Liberalen. Allzu leichte Kritik an sozialistischer Planwirtschaft übersieht heute oft, dass diese Grundhaltung der Staatsminimierung letztlich liberalen, christlichen und sozialistischen Kräften gemeinsam ist, dass sie alle daher auch unschwer eine letzte einheitliche Front der Rechtsstaatlichkeit aufbauen können - eben mit einer Stoßrichtung: hin zur Staatsminimierung. Fast mag es scheinen, als bleibe so der Monumentalstaatlichkeit in all ihren Ausprägungen nurmehr eine politische Heimat, die heute aber mehr und mehr ver-

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sinkt: jener Konservatismus, welcher die Normen und ihre Rechtsstaatlichkeit klein, den wuchtigen Staat aber groß halten möchte. Wäre dies unausweichlich, so könnten die Betrachtungen an diesem Punkte schließen, Staatsgröße, wie immer verstanden, hätte dann keine Zukunft, wollte sie die immer höheren Mauern der Rechtsstaatlichkeit durchbrechen. Es bedürfte gewiss nicht einmal des Hochrechnens der Gemeinsamkeiten all der beschriebenen politischen Richtungen der Staatsminimierung, bis hinein in anarchische Formen der völligen Staatsablehnung, des „Verlusts der Ordnung als Staatsprinzip", das in früheren Betrachtungen als Wesen der Demokratie erkannt wurde; diese anarchische Vorhut auf dem Marsch in das Ende aller Staatlichkeit wäre allenfalls die unbekümmert-begeisterte Speerspitze einer unschlagbaren Armee, welche gegen die Staatsgröße marschiert.

4. Und doch rechtsstaatlicher Raum für Staatsgröße? Die Rechtsstaatlichkeit gibt dem zu denken, der Betrachtungen über den Staat als große Lösung anstellt. Doch sie präzisiert nur seine Fragestellung, sie hebt diese nicht von vorneherein auf. Legalität wendet sich in erster Linie gegen staatliche Machtintensität, nicht so sehr gegen Staatsgröße im räumlichen und zeitlichen Verständnis. Sie wird hier weniger kritisch betrachtet, erscheint sie doch ruhiger und nicht allzu lastend. Als kritischer Punkt der Monumentalstaatlichkeit sind allerdings gewisse Intensivierungen des Machtdrucks vorzumerken. Rechtsstaatlichkeit sagt noch nichts aus über die „großen Lösungen", ja sogar über die Größe der Macht der in ihrem Rahmen verbleibenden Staatlichkeit; vielleicht muss diese hier gerade besondere Größenordnungen erreichen, damit sie vom unendlichen Außenraum des Privaten erfolgreich abgehalten werden - und diesen doch halten kann. „Wenig Staat" - kann, muss dies nicht gerade bedeuten, dass er groß dort ist, wo er bleibt? Vor allem aber wendet sich die Rechtsstaatlichkeit nirgends gegen die Kategorie der Ordnung, sie denkt in den Kategorien von Eingriffen und Freiheitsbeschränkungen. Die Aufteilungen von Freiräumen, die Systematik von Zulassungen gibt es gerade in ihr, überall sucht sie etwas zu bewirken wie die klassische Verwandlung der allmächtigen Vollzugspolizei in die allgegenwärtige OrdnungsVerwaltung. Kritisch sollte also Monumentalstaatlichkeit immer dort betrachtet werden, wo sich die Größe des Staates in der Tiefe seiner Eingriffe bewähren soll. Dies aber liegt doch in der Fragestellung und in ihrem Bild: Monumente müssen hoch sein, ihr lastendes Gewicht aber berechnet kein Bewunderer. Sie stehen wie die Ordnung, sie schlagen erst, wenn sie stürzen. Nichts wird in Rechtsstaatlichkeit ausgesagt über die vielfachen Öffnungen der Staatlichkeit zu einem eben doch vielleicht „größeren Privaten", wie es ja allenthalben gerade liberale Staatlichkeit hervorbringt - wahrhaft in größten Ausmaßen,

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wie der Blick über den Atlantik zeigt. Dies große Private zu erhalten, ja zu schaffen, sich ihm dann zu öffnen - wäre nicht auch dies eine Fragestellung großer Staatlichkeit? Doch die Rechtsstaatlichkeit bewahrt sich nicht nur solche große Tore, sie hat auch ihre kleinen Hinterpforten, über die sich ihr unbestreitbarer laufender Energieverlust der Macht immer wieder kompensiert - durch Erschließung anderer, kleinerer und größerer Machtquellen. Da ist der Ausweg in außenpolitisches Machtstreben, wie es freiheitliche Staatlichkeit durchaus immer wieder praktiziert hat, von der französischen III. Republik bis zu Ronald Reagan. „Große Lösungen" erscheinen dann eben in Bereichen durchsetzbar, wo kein Bürger „groß getroffen" werden muss, wo ihm sogar etwas von so gewonnener nationaler Größe zugeteilt wird. Auch innenpolitische Wege solcher Kompensation von Machtverlusten gibt es, über welche durchaus andere „große Lösungen" durchsetzbar werden als immer nur die eine, den Jedermann-Bürger schwer zu treffen: Wäre es nicht eine „große Lösung", die „großen Bürger" gerade hart zu treffen, damit viele kleine Freiheiten möglich werden, materiell und vor allem in der allgemeinen Überzeugung? Die verteilende Lösung vieler kleiner Freiheiten - kann sie überhaupt je einer „großen Lösung" im Wege stehen? Rechtsstaatlichkeit bewährt sich schließlich, dies wird noch zu vertiefen sein, wesentlich in Gleichheit - erzwingt diese aber nicht gerade die großen, flächendeckenden Lösungen, die alle gleich, niemanden aber eben deshalb besonders hart treffen und damit dem Ideal der Legalität zu genügen scheinen? Wenn es eine Gemeinsamkeit liberaler, christlich geprägter und sozialistischer Staatsideen gibt, welche auf Rechtsstaatlichkeit beruhen, so finden sie sich in einer gewissen Fortschrittsidee zusammen, bis hin zu glaubensmäßig oder sozialistisch geprägten Paradiesvorstellungen. Könnte aber nicht gerade darin etwas ganz Großes liegen, in der Idee jenes paradiesischen Gemeinschaftsgartens, in den sich dann die Staatlichkeit verwandelt? Wer Staat als uniformierte Polizei sieht, braucht sicher nicht weiter zu fragen nach seiner Größe; wem sich hier etwas wie die Unendlichkeit eines Paradieses öffnen kann, der muss die Größendimension erst recht neu entdecken. Ist denn dieser Garten nicht groß bis zur Unendlichkeit, wie sein Schöpfer? Und wenn er fern bliebe - hat nicht utopisch-anarchisches Staatsdenken eine Größe immer gezeigt, von der organisierte Staatlichkeit nur lernen könnte?

IV. „Technik" - „Rechtstechnisierung" Absage an alle Staatsgröße? Man würde die Kräfte, welche heute gegen alle Staatsgröße stehen, wohl zu klein sehen, wollte man sie allein in jenem im weiteren Sinne politischen Raum erkennen, von dem bisher die Rede war, auch in der Betrachtung der stets wesentlich politisch gewendeten Rechtsstaatlichkeit. Wenn es zutrifft, was viele heute be-

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grüßen, andere beklagen, dass die „Politisierung" des Gemeinschaftsdenkens rückläufig ist, sich allenfalls oberflächlich noch verbreitert, nicht aber in jene Tiefen, welche staatsgrundsätzliche Betrachtung erreichen muss - dann sollte der Blick sich weiten auf jene „technischen Entwicklungen" hin, welche die Staatlichkeit schon deshalb prägen, weil immer mehr sie es sind, in deren Räumen sie sich vollzieht. Ist aber nicht gerade hier das Ende aller Größe absehbar?

1. Der Primat des „Funktionierens" Eine Begeisterung für die reibungslosen Abläufe hat die Gesellschaft allgemein erfasst, und den Staat. Für jene Träger der Technik, von denen alles heute lebt, ist entscheidend, in allem und jedem, das „gute, reibungslose Funktionieren", wie es in der Elektronik nahezu vollständig erreicht zu sein scheint. Was sollte es da noch bedeuten, „in Größen" zu denken, wo doch alles Ablauf ist, in Ziegelsteinen Monumente aufzuhäufen, welche gedankenschnelles technisches Denken um Lichtjahre hinter sich lässt? Gleichgültig ist es, wie weit der Begriff der Größe, wie immer verstanden, für die Naturwissenschaften selbst heute noch Bedeutung hat oder wieder gewinnt - in ihren populärwissenschaftlichen Auswirkungen auf Recht und Politik scheinen sich die Größen immer mehr in Energien aufzulösen, in Spannungszustände und Bewegungen. Wenn es etwas wie ein Überwirken allgemeinerer Denkkategorien gibt, so ist es wohl hier spürbar, wenn auch noch längst nicht im Einzelnen definiert. Wie dem auch sei - kann Größe denn je ein Ziel oder gar eine technische Legitimation sein? Oder soll der Staat hier zu dem „an sich Anachronistischen" werden? Abgesehen davon, dass diese Technik über sich hinauswirkt mit der Faszination für das immer Kleinere - ist ihr nicht vor allem das Gesetz des ganz kleinen Anfanges mitgegeben, aus dem sie unverdrossen erwächst, das sie dann aber auch ständig begleitet? Im staatlichen Bereich hat dies sicher, wenn auch mit einiger Vergröberung, schon deutlichen Niederschlag gefunden: Da ist man überall mit Dezentralisierungen beschäftigt, in einer Art von Herabstufung der Staatlichkeit auf kommunale Ebenen, eben dort, wo es technische Abläufe zu kontrollieren gilt; und grundsätzlich wie organisatorisch eben doch näher bei solchem kommunalen Denken liegen selbst größte technische Anstrengungen des Anlagenbaus. Doch die technisch geprägten Verhaltensweisen reichen viel weiter im staatlichen Raum. Man denke nur an die oft bis zur Zwangsvorstellung gesteigerte Suche der Bürgernähe, jener Kontakt des Staates mit einer „Basis", wo er doch sicher nicht Elementen der Größe, sondern eben dem kleinen, zahllosen Bürger begegnet. Dieses Bürger-Kleine, nur zu oft wahrhaft Kleinbürgerliche - liegt in ihm nicht eine Art von feinmechanischer Staatsannäherung an die Uhrenperfektion der Schweiz und ihrer ganz allgemein als klein empfundenen Staatlichkeit? Ist es nicht das Ideal aller „zu groß gewordenen Staatlichkeit", sich bis in diese kleinen Räume hinein selbst zu reduzieren, in denen alle Werke so reibungslos laufen?

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2. „Das Große kann nicht funktionieren" Mammutstaatlichkeit wird heute in Ablehnungskonsens verworfen. Der Koloss mit den tönernen Füßen, die riesigen Bürokratien, die aufgeblähten Planungsapparate scheinen von einer Riesenmacht ad absurdum geführt zu werden, welche sich in der Tat einer bestimmten Form der Staatsgröße grundsätzlich verschrieben hat. Das Große kann eben nicht funktionieren - und seine Abläufe sind nicht reibungslos, gerade wegen solcher Größe; dies ist fast schon eine Grundthese verbreiteter Organisationslehre, und vor allem im staatlichen Bereich. Nicht Planung an sich wird ja verworfen, nur ihre Großflächigkeit in Raum und Zeit, ihre größenmäßig lastende Intensität. Man befindet sich ohne Zweifel auf dem Weg in etwas wie einen technischen Föderalismus: Alles soll möglichst klein gehalten werden, die Theorie der „kleinen Einheiten" entfaltet sich allenthalben, mit ihr wird wiederum die rechtsstaatliche Überschaubarkeit gefördert, bewegliche Anpassung an die veränderten Umstände ermöglicht. Dies trägt doch auch politische Früchte: Die „kleine Verwaltungseinheit", eine immer wieder beschworene Idealvorstellung der Gegenwart, braucht keinen Bürgerwiderstand zu befürchten, den der große Staat immer herausgefordert hat. In einer mächtigen Tendenz zur Dezentralisation der bestehenden Verwaltungsgröße setzt sich dies fort, stets im Namen der reibungslosen Abläufe. Wo sie nicht voll durchbricht, auf einer bestimmten Stufe doch zum Stehen gebracht werden muss, eben wiederum aus „technischen" Notwendigkeiten heraus - und dies sind nun schon kaum mehr Größenordnungen, welche den Namen der Größe verdienen - da setzt sich all dies noch intern fort: Die Entscheidungsverlagerung nach unten nimmt zu, die Sachbearbeiterebene wird zum Normalraum der Staatstätigkeit, hoch gebildetes Generalistentum zieht sich vor den „guten Technikern" zurück; hier aber ist Vielseitigkeit gefordert, nicht Sinn für Größe, wie sie immer Generalisten eigen war, und sei es auch nur, weil sie weit blickten in Oberflächlichkeiten. „Oben" bleiben dann nurmehr juristische Überwachungsinstanzen zurück „Authorities", wie in den voll automatisierten Energiezentralen haben sie viel zu sehen und wenig zu wirken, vor allem nirgends Großes. Die Jurifizierung des Staates, die Staatstechnik der reibungslosen Abläufe, setzt die Überwachung des Überschaubaren, also nicht allzu Großen, an die Stelle, von der sonst Impulse ausgegangen wären - aus Öffnungen zu Größerem. Und juristische Überwachungsbedenklichkeit macht all dies immer noch kleiner. Wo wäre da die „Staatlichkeit als große Lösung", wenn überall Organisationstechnisierung als Absage an Monumentalstaatlichkeit sichtbar wird?

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3. Der Staat der Experimente Die neueste Zeit schafft sich immer mehr den Experimentierstaat und sie sieht darin noch machtminimierende Rechtsstaatlichkeit. Gesetze und Verwaltungspraxis gelten, ganz wesentlich, „bis auf weiteres", im Namen der technischen Machbarkeit, die eben auch reibungslos verknüpfen und lösen will. Mit ihrem kleineren politischen Aktionsbedürfnis hat die Demokratie dem noch Dynamik und Weihe verliehen. Dieser Staat der Experimente bleibt nicht auf niedrigen Rängen. Seine Versuchsfreudigkeit bewährt er gerade „an der Spitze", in seinen wichtigsten, geradezu auf eine gewisse monumentale Dauer angelegten Bereichen. Im technisch-Wirtschaftlichen mag er sich dabei auf eine Dynamik berufen, welche ihm aufgezwungen wird, vom Markt und der technologischen Entwicklung. Doch er setzt all dies unbekümmert fort bis in kulturelle Bereiche hinein, in zahllosen Unterrichtsexperimenten wird die Einheit von Forschung und Lehre in ständig wechselnder Weise praktiziert. Der einzelne Vorgang mag hier politischer Zufall sein, nicht gilt dies für die größere, geradezu systematische Entwicklung, die auf solche Experimentierstaatlichkeit gerichtet scheint - durchwegs wieder als „Absage an die große Lösung". „Das Große" leitet nicht die Anstrengungen als mächtiges, fernes Ziel, es kann nur in einer Zufälligkeit, da und dort, erreicht werden, als eine „Glücks-Spitze" der Staatlichkeit, nicht als Ausdruck einer staatswesentlichen Kategorie. Für solche Rechts-, im Grunde mehr reine Organisationstechnik ist „die große Lösung" nicht einmal das eigentliche Ziel in dem Sinne, dass sie zwar nicht vorgedacht, immer aber angestrebt würde, als ein Ideal der Größe, an dessen irgendwie doch mögliche Erreichung man eben politisch glaubt. Denn in solcher Experimentierfreudigkeit steckt zutiefst die „kleine Lösung", die eben dann auch meistens bescheiden bleibt, schon weil sie sich in kleineren Änderungen vollzieht. Induktives Denken ist im öffentlichen Recht seit langem immer größere Mode, je mehr die Grenzen der Deduktion, vor allem aus dem Verfassungsbereich heraus, sichtbar werden. Dann aber muss eben „irgendwo", in einem Spezialgebiet, mit gewissen Lösungen begonnen werden, etwa mit der Einbindung der Bürger und ihrer Initiativen in den Verwaltungsablauf an einem Punkt des Baurechts, mit der Tendenz es in andere Bereiche des Umweltschutzes zu übernehmen. Rasch aber bleibt das so Eingeführte auch wieder liegen, isoliert und bald restriktiv interpretiert, selbst in seinen ursprünglichen Räumen. Wo immer es „weiterläuft", erreichen solche Lösungen andere Bereiche kaum je mit dem Anspruch der übergreifenden inneren Größe der Lösung, fast stets im vorsichtig tastenden Experiment. Darin zeigt sich eine tiefe Analogieschwäche des ,»reibungslosen Funktionierens", es schafft sich überall seine Spezialgewinde, der Standardisierung ist es weit weniger noch fähig als seine bewunderten technischen Vorbilder. Nie kann man ausschließlich horizontal zusammensehen, von einem höheren Punkt aus muss stets die Zusammenschau erfolgen, damit steckt in jeder Gesetzes-

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analogie ein Kern von Rechtsanalogie, vor allem aber - etwas Höheres und damit, dies zeigte sich schon, eben doch auch Größeres. Wenn aber das technische Funktionieren im Experiment weiterhin eine Absage an „Zusammenschau" bedeutet, wie sollte solche Staatlichkeit da leicht in jener Analogie gebaut werden können, welche verschieden Erscheinendes einheitlichen Regeln unterwirft?

4. „Technisches Staatsverständnis" Absage an jede Monumentalität Im Bild des Monumentes lässt sich so vieles ausdrücken, was Staatsgröße fassbarer macht - wenn es sie noch geben kann, wenn sie nicht vor allem in Staatstechnik sich auflöst. Denn aus dieser letzteren kommen vielleicht die tiefsten Ängste gegen jede Größendimension, welche etwas von Monumentalität erreichen könnte. Technik fordert das Experiment, dieses aber scheint doch in unauflöslichem Gegensatz zu stehen zum statischen Charakter der Monumentalität. Der reibungslose Ablauf ist ja in eine Richtung gewendet, in ihm vollzieht sich stets auch etwas von Fortschritt, alles läuft auf das „immer Bessere" zu. Wie sollte hier die Kategorie der Größe eingesetzt werden, in welcher bereits alles oder doch das Wichtigste erreicht scheint? Technik mag sich in Metallen vollziehen, doch hier ist alles auswechselbar, nichts von „Dauer an sich", nichts aere perennius. Es ist fast, als genieße der Mensch die Freude an der Kurzlebigkeit seiner eigenen Gedanken, und wie sollte er sich dann in Monumentalstaatlichkeit selbst überdauern wollen? Die Organisationstechnik trägt kaum je Einmaliges in sich, das dann zur Mahnung des Monuments werden kann, und nur auf diesem Wege. Pragmatisches Denken braucht sich nicht mahnen zu lassen, es wird sich ändern, wenn es Neues sieht. Was einst da war und in die Zukunft hinein mahnen möchte, kümmert den reibungslosen Ablauf nicht, der nur in die Zukunft blickt - es stört ihn. Gewiss will schließlich Monumentalstaatlichkeit, wenn es sie geben sollte, über den Bürger hinausreichen, in gewissem Sinne darin die übermenschliche Abstraktion der Staatlichkeit inkarnieren. Doch dieser Größen-Staat will eben doch und vor allem noch fassbar bleiben, in einer gewissen definierbaren Festigkeit den Bürgern gegenübertreten und sie auch überdauern. Die Entwicklung der beschriebenen „Technik", ihre Übernahme ins Recht und ihre Steigerung zur Staatstechnik gehen von ganz anderen Abstraktionskategorien aus, sie zeigen das in voller Bewegung Unfassbare, in dem nichts mehr ist von der greifbaren Ruhe der Monumentalität, einer Größe, die sich irgendwo nicht mehr bewegen muss - es in ihrer Dimension gar nicht mehr vermag. Dies alles waren Ausblicke in ein dem Recht noch kaum bewusstes Neuland, das es vielleicht mit seinen Kategorien allein nie erfassen kann. Sie mögen mehr Zweifel als Erkenntnis bringen, doch es genügt hier der Anstoß zum Nachdenken

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über eine „technische Dynamik", in der sich mit Sicherheit etwas wie ein großer Verlust der Größe vollzieht, in allem Denken. 5. Und doch auch „staatstechnische Größe" In technischem Pragmatismus verkleinerndes Staatsdenken mag an vielen Stellen den Schwung zur Größe nehmen; gegen diese als notwendige Kategorie der Erkenntnis und Legitimation der Staatlichkeit als solcher bedeutet es wenig. Hier werden zunächst ja immer nur die Mittel angesprochen, nicht das Ziel staatlichen Handelns, die Instrumente, welche vor allem in der Verwaltung eingesetzt werden, nicht die größeren Gegenstände, welche sie gestalten, ja hervorbringen sollen. Es vollzieht sich darin eine große methodische Bewegung „von unten nach oben", ins Staatsrecht hinein wird sozusagen aus den rechtstechnischen Handlungsformen rangniederer, insbesondere verwaltungsrechtlicher Gebiete interpretatorische Sinnerfüllung betrieben. Dies ist an sich schon nur in Grenzen zulässig: Gestaltungsformen einzelner staatlicher Machtäußerungen können nicht zur Erkenntnis des Wesens und der Ziele der gesamten Staatlichkeit eingesetzt werden, hier würden Mittel und Ziele verwechselt, mehr noch: verwaltungsrechtliche und staatsrechtliche Ebene. Vor einer Versuchung muss sich insbesondere höher entwickelte Staatlichkeit hüten: Sie darf ihre eigenen perfektionierten Formen nicht absolut setzen, in ihnen nicht das Wesen der Staatlichkeit und deren Ziele erkennen wollen. In diesen letzteren aber kann durchaus Größe liegen oder erstrebt werden, selbst wenn die technischen Mittel überall nur zu verkleinern scheinen. Vielleicht muss sich hier auch eine metabasis eis allo genos vollziehen: Selbst wer das Wesen des Staates im Normativen sehen will, darf es nicht mit Normtechnik gleichsetzen. Die Äußerungsformen müssen sich dem Wesen der Staatlichkeit unterordnen, ihm entsprechen, nicht umgekehrt; vielleicht können diese Betrachtungen zeigen, dass die Instrumente der Staatlichkeit, bei aller spezialisierenden Technizität, eben doch auch - größer werden können und sollten. Denn es ist ja auch gar nicht erweisbar, dass diese rechtstechnischen Instrumente nicht auch in sich „Größe" zeigen, eine solche im kontingent erscheinenden Experiment gar noch zu steigern vermöchten. Gerade im Versuch kann ja auch der Zug zum Größeren liegen, nicht nur im schrittweisen Einsatz immer größerer Mittel der, blockhaft konzentriert, als solcher vielleicht gar nicht möglich wäre - sondern auch in der eigenartigen Selbststeigerungskraft aller Experimentierfreude, welche in geradezu transpersonalen Schüben in immer größere Dimensionen hineinwächst; die Selbstpotenzierungskräfte der Technik zeigen dies. Und dass es Größenphänomene ohne Größenbewusstsein geben kann, auch dies ist eine politische Erfahrung: Gerade die bundesrepublikanische Entwicklung nach 1945 hat in einer verständlichen Sorge vor Größen und Untiefen der eigenen Vergangenheit dennoch, vielleicht gerade deshalb, beachtliche staatliche Größe erreicht. Im Bereiche der Einzelverwaltungen zieht nur zu oft das kleinere Experiment das größere nach, schon damit die jeweils eingesetzten Mittel nicht verloren gehen - und hier zeigen

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sich auch günstige, kontinuitätsbewahrende Auswirkungen haushaltsrechtlicher Prinzipien, wie sie eine Privatwirtschaft nicht kennt, die eben viel großzügiger Verluste abschreibt - dadurch aber auch kleiner werden kann. Eines der Zentren, der beschriebenen „technischen" Entwicklung im Recht, damit aber auch in der Staatlichkeit, das Denken in Analogien, zeigt die Ambivalenz des „technischen Denkens", das eben auch auf immer Größeres gerichtet sein kann: Hier treten ebenfalls geradezu transpersonale Effekte auf, eine sich, wenn auch vielleicht unbewusst, von personaler, menschlicher Zufälligkeit lösende Gestaltungskraft, die damit aber auch die Dimensionen individueller Kleinheit rasch überschreitet. In den Phänomenen jener Normen, welche weitergedacht werden - im Grunde: sich selbst weiter denken, denn dies ist das Ideal jeder Analogie - entfalten sich Kräfte des ausgreifend menschlichen Willens, von engeren, vorhergesehenen Anlass Tatbeständen in größere Weiten hinein; und darin bricht gewissermaßen die außerrechtliche und eben in der Regel weit größere Realität rechtsgestaltend in die Staatlichkeit ein. Analogie ist nicht nur eine Brücke in Weiten des Rechts hinein, sondern eine Brücke zu größerer Staatlichkeit. Gerade jene Instanzen bauen sie, welche an sich so gar nichts „Großes" zu haben scheinen, sich in ihren typischen Verhaltensweisen jedenfalls gegen den Vorwurf der Machtarroganz leicht bedeckt zu halten vermögen: eine Verwaltungspraxis, welche doch immer und überall „klein anfängt", eine Gerichtsbarkeit, welche durch die Ketten ihrer Entscheidungen langsam, aber unaufhaltsam in „immer größere" rechtstechnische Lösungen hineinwächst. Ein grundsätzliches Missverständnis der Staatlichkeit wäre es schließlich, wollte man ihre Monumentalität in durchgehendem Gegensatz zur Dynamik sehen; dies hat sich schon an mehreren Stellen gezeigt, es muss gerade hier unterstrichen werden. In jener Staatlichkeit eben kann, ja muss es etwas wie dynamische Monumentalität geben, welche die Entwicklung eines kollektiven Organismus zeigt; wenn er sich nicht „höher bewegt" - damit in Größeres hinein, stirbt er rasch ab, Statik ist hier, wo es um Integration vieler geht, schneller tödlich als die Bewegungslosigkeit im Leben des Einzelnen. Der Staat, jener Gott auf Erden in der Gegenwart, findet auch, wie immer man ihn entzaubern will, stets in sich etwas von der Ruhe des primum movens, gerade in seinen vielen, oft allzu zahlreichen und geradezu unbewussten Bewegungen. Wie die Normen klüger sind als der Gesetzgeber, und eben auch größer, so setzt sich dieses „Gesetz der Unbewusstheit" bis in Bereiche fort, wo man leicht Dynamik und Monumentalität in Gegensatz bringen möchte: Die letzte Bewegungslosigkeit der höchsten Macht mag dabei nicht Ausdruck einer bewussten Monumentalität sein, zur großen Ruhe wird hier die Dynamik dennoch und wie von selbst; dies ist dann Gegenstand herber Kritik, welche wohl erkennt, dass der Staat soviel an - oft zielloser - Bewegung nie tragen und ertragen kann wie die große Wirtschaft. Gerade darin aber findet er nicht nur zur Größe, sondern zur Monumentalität. 40 Leisner

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Schließlich wird Größe in diesen vorliegenden Betrachtungen zuallererst als eine Dimension verstanden, als ein „Raum" im kantischen Sinne, in welchem Staatlichkeit zugleich erkannt und dadurch für den Erkennenden existent wird. In dieser Dimension mögen sich dann ständige und starke Bewegungen vollziehen als solche „bleibt sie stehen", ist ihr Monumentalität eigen, gerade in der wesentlichen Begrenzung, die sie allen Staatsäußerungen bietet. Und dies ist schließlich selbst eine Form der Monumentalität einer begrenzt, liberal gedachten Staatlichkeit: Gerade in diesen Schranken zeigt sich die Festigkeit, in welcher der Staat alles andere hält, auf allen Ebenen, in der Kommune die lokale Wirtschaft, an der Staatsspitze die nationale Ökonomie. Auch solche Staatsschranken sind Mauern von monumentaler Höhe. Im Begriff des „Technischen" liegt, hier wie in anderen Bereichen, immer auch etwas von vergänglicher Mode: Bestimmte Perfektionsinstrumente vermögen aber das Wesen dessen nicht zu verändern, was sie zuzeiten verbessern, es bleibt hinter ihnen stehen, in unverrückbarer Monumentalität - und so der Staat.

V. Gleichheit und Verteilungsstaat „immer kleinere Lösungen" „Technisches Denken" nimmt nicht selten der Staatlichkeit den Schwung zur Größe; niedergehalten aber wird sie gegenwärtig letztlich und am stärksten durch eine politische Grundstimmung, mehr als Grundentscheidung: Der Gleichheitsstaat marschiert auf allen Wegen, das Staatsziel der Verteilung scheint an all ihren Endpunkten aufgerichtet; Aufgabe aller öffentlichen Gewalt geradezu wird die Verteilung, das Wesen der Staatlichkeit selbst scheint sich im Verteilungsstaat zu vollenden. Lässt sich dann aber nicht eine These aufstellen, vor der alle Staatsgröße verblassen muss: Der Bürger genießt, was sein Staat verteilt?

1. Demokratischer Neo-Eudämonismus: „Genießen statt Größe" „Kanonen statt Butter" - dies befiehlt heutige Staatlichkeit kaum mehr irgendwo ihren Bürgern. Breiter Konsens trägt vielmehr die Umkehr dieses Satzes, wobei darüber nachzudenken wäre, ob in ihm wirklich Größe gegen Genuss steht, und nicht nur Zerstörung. Die Säkularisierung der öffentlichen Gemeinschaften, der weitgehende Verlust religiöser Dimensionen, damit insbesondere der göttlichen Größenordnung, scheint die Bürgergemeinschaft in alte Versuchungen zurückzuwerfen: Sie dreht sich im Tanz um das Goldene Kalb des Neo-Eudämonismus, ohne einen Blick in die Höhen hinauf, auf denen aber Gesetze gegeben, Volk und Staat gegründet werden, und wo wäre der Moses, der in Größe und Groll zu ihnen herabstiege?

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Die Eudämonismus-Kritik seit der Antike, im deutschen Idealismus klassisch vollendet, ist nie widerlegt worden, doch sie kann vergessen werden; und politisch hat sie stets weit weniger gewirkt als individual-ethisch. Die grausame Strenge des platonischen Wächterstaats, jene Größe aus Tugend, welche sich über Robespierre bis heute immer wieder bewunderns- und fürchtenswert gezeigt hat, sie ist der Ausdruck des wahrhaft großen Kampfes gegen den ruhigen Genuss der politischen Unfreiheiten - und Freiheiten. In diesem Genießen liegt eben in erster Linie das Verbrauchen, nicht ein zu Größe Aufbauen; der Genuss bringt die Untätigkeit, nicht eine schaffende Aktivität, die notwendig größer werden will. Genießen wollen bedeutet reinen Personalismus, der hier seiner selbst ganz bewusst wird, alles Transpersonale fällt von ihm ab, und doch eröffnet gerade dieses im Grunde immer den Weg zur Größe, vor allem in ihrer staatlich-abstrakten Erscheinungsform. Eudämonismus ist nicht eigentlich steigerungsfähig, seinem Wesen entspricht gleichbleibende, wenn nicht größer werdende Kleinheit. Die Grenzen der Genussfähigkeit des Bürgers mögen immer noch einmal erweitert werden, doch bald stößt er an die Schallmauern der Selbstschädigung, der Selbstzerstörung, wie sie die Drogenprobleme zeigen; und dies sind die Grenzen des Luxus überhaupt, den Staatlichkeit heute so oft genehmigt, ja hervorbringt, zur Befriedigung der Bürger und zur eigenen politischen Beruhigung. Die Steigerungsfähigkeit des Genießens selbst ist gering, mag sie auch einer rasch reich gewordenen Gegenwart manchmal grenzenlos erscheinen. Große Züge jedenfalls kann es hier nicht geben, staatliche Größenanstrengungen zu solchen Zielen wären mit Sicherheit verfehlt. Potenzierungsmöglichkeiten des Genusses sind gerade dort sehr begrenzt, wo die Mittel zu ihm wachsen, mit zunehmenden Erfolgen, im Alter. Heutige Gesellschaft und Staatlichkeit sogar will hier manches umkehren, in Richtung auf einen „Frühgenuss in der Jugend", in dem sich Eudämonismus verbreitern und vergrößern soll. Nach dem allgemeinen Bürger-Eudämonismus soll, wie auf einer Zweiten Stufe, der Jugend-Eudämonismus entstehen - aber auch hier sind rasch Schranken erreicht, und nicht nur im Widerstand der besitzenden Älteren; hier stößt die oft demagogisch erscheinende Jugendfreude der Staatlichkeit erneut an Grenzen die des Genießen-Könnens bei fehlender Weisheit. So ist hier denn wesentlich alles begrenzt, ja klein, die Größenkategorie als solche - was sollte sie bedeuten, wohin sollte sich der Staat hier bewegen, im Namen solcher Ziele? Nicht zur Staatsgröße strebt der Eudämonismus, sondern in die Kontinuität; er wird auf Dauer erstrebt, vor allem aber in einer Sicherheit, welche die Beständigkeit, in jeden Augenblick hinein, intensiviert. Der Umschlag ist gerade im staatsgrundsätzlichen Denken der Grundrechte deutlich erkennbar: Von der „Freiheit zu ...", in der immer ein Zug in die Unendlichkeit, jedenfalls in die Größe liegt, wendet sich der kleiner gewordene Bürger mit seiner Staatlichkeit zu den „Freiheiten von ...", zur Freiheit von Furcht an erster Stelle; und er glaubt, darin sogar noch 4*

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liberale Abwehr-Staatlichkeit zu vollenden, die sich ja doch immer gegen etwas richte. Nur ist es hier eben nicht mehr der Staat, gegen den er sich schützt, sondern sein eigener Zug zum Risiko - zur Größe. Die vielkritisierte Versicherungsmentalität ist der Gegensatz zum „Aufschwung zur Größe"; und bei aller Achtung vor den Leistungen der Rechtstechnik gerade in diesem Bereich - gäbe es eine „kleinere Materie" als die der Sozialversicherung? Hier ist man einmal aufgebrochen zu etwas ganz Großem: dem Bürger eine Grundlage zu schaffen, aus der heraus er stärker, größer werden sollte, Helfer damit auch zu großer Staatlichkeit; und gerade eine Periode, welche diese auf ihre Fahnen geschrieben hatte, konnte hier auch wahre soziale Größe beweisen. Doch dann setzte die technische Verkleinerung ein und der politische Eudämonismus der Demokratie - der große Zug löste sich in sozialversicherungsrechtlichen Pfennigberechnungen auf, dieses große Instrument menschlicher Existenzsicherung wurde als kleine Verdienstmöglichkeit für kleine Taschen erkannt - und daraus soll nun gar noch, mit einem großen Wort, eine „Staatlichkeit" gebaut werden; denn gerade diejenigen, welche nicht immer unberechtigte Kritik an der Verbindung dieses Wortes mit gewissen Begriffen üben, scheuen sich nicht, begeistert, ja oft pathetisch, diese Sozialstaatlichkeit zu feiern. Ihr Lob gilt damit aber meist nicht mehr einer Kraft, die in staatliche Größe hinaufträgt, sondern wahrhaft kleiner, rechtstechnischer Münze. Das Kontinuitätsstreben des Neo-Eudämonismus begnügt sich leicht, wie auch der Sozialversicherungs-Bürger, mit Wenigem, Kleinem; ihm ist es genug, etwas wie eine räumliche Dimension in eine zeitliche verwandelt zu haben: Ist der Genuss auch nur mäßig, so sei er doch auf Dauer. Auch darin könnte sich wohl etwas von Größe zeigen, in der Kompensation des Gegenstands des Genusses durch seine Dauer und Sicherheit. Doch Größe geht eben in solcher Bewegung immer weiter verloren: Der Genuss des gesicherten Bürgers ist notwendig ein kleiner, in Zeitdauer droht er immer noch kleiner zu werden, die kleine Münze der bescheidenen Gemeinschaftsgeschenke wird in die noch kleinere ihrer zeitlichen Sicherheit gewechselt; Rentenabsenkung wird immer hingenommen, solang „die Rente sicher ist". Bezogen ist denn auch diese Sicherheit immer auf etwas notwendig und wesentlich Begrenztes: auf die persönliche Lebenszeit des kleinen Bürgers. Kontinuität kann hier schon deshalb nie in wirkliche Größe hinaufwachsen, solche Dimensionen sind dem allem völlig fremd. Das Genießen also und seine Sicherheiten - ist dies nicht eine Antithese zu jeder Form der Staatsgröße?

2. „Gleiche Bürger - kleine Lösungen" a) Staat und Bürger - gleich klein Gleichheitsstaat - dies ist heute und wohl noch auf lange Zeit die kürzeste und treffendste Beschreibung des Wesens gegenwärtiger Staatlichkeit. Ihre freiheits-

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gefährdende Intensität und Systematik sind bereits früher beschrieben worden. Hier gilt es zu erkennen, dass in diesem Wort eine Antithese liegt zu einem zentralen Wesenszug aller Staatlichkeit, zur Dimension ihrer „großen Gestaltungen", dass es daher jedenfalls gilt, darüber die Synthese zu finden; vom Gegenstand der Betrachtung her kann dies nur eine sein, die eben doch - auch Größe zeigt. Unschwer lassen sich an der Gleichheit Wesenszüge finden, die jede Staatsgröße verhindern. Dies liegt bereits in der Idee der Egalität. Schon wenn diese lediglich als eine Gleichheit der Rechte gegen den Staat und andere Bürger verstanden wird, könnte in ihr leicht eine verkleinernde Tendenz entdeckt werden: Dann geht es doch in erster Linie darum, dass viele Kleine nebeneinander stehen können - wo sollte sich da „etwas Großes" überhaupt zeigen? Wer kann „groß sein" in einer Welt der gleichen Rechte - quantitativ ist es ausgeschlossen, und qualitative Unterschiede hat das Gleichheitsdenken noch immer rasch auf quantitative zurückzuführen verstanden; in ihm findet, obwohl es eine so wirksame juristische Kategorie ist, gerade eine Quantifizierung qualitativer Unterschiede laufend statt, ein Umschlag, wie ihn das Recht eben nicht kennen will. Doch die Gleichheit erschöpft sich längst nicht mehr in Rechteegalität und Abwehr, sie ist in den status positivus hineingewachsen, in die „gleichen Rechte auf ...". Die Gleichheit ist heute in erster Linie eine Chancengleichheit zum Genuss von dort fortschreitend zum Recht auf gleiches Genießen. Wenn der Genuss an sich schon verkleinert, so verstärkt sich dies noch in seiner Verbindung mit dem Gleichheitsdenken. Selbst wenn der Einzelne sich in den großen Luxus hineinsteigern könnte - und etwas von Größe hat auch dies immer wieder gezeigt, in unausscheidbarem Gemenge nur zu oft mit Sinn für politische Größe, wie die „volle Menschlichkeit" der Renaissancegestalten es beweist - eben solche Luxusspitzen der Größe will die Gleichheit brechen, zuallererst. Und es gibt eben auch höhere - wenn auch nicht „größere" - Stufen dieser Gleichheitsentwicklung: Nicht nur die Bürger sollen in Egalität nebeneinander stehen, neben sie wird geradezu der Staat gestellt, die „Grundstimmung der gleich Kleinen" soll auch ihn erfassen, der Gott soll sein wie die Menschen. Diese Vermenschlichung der Staatsgewalt weckt heute Begeisterung, und sie verstärkt sich laufend. Öffentliche und private Verhaltensweisen sollen sich angleichen, im Servicedenken einerseits, in verstärkter Bürgerverantwortung von der anderen Seite her. Dies alles kann nur auf einen idealen Endpunkt hin zusammenlaufen: Der Staat soll sein wie seine Bürger, sich bewegen wie sie, in vielen, kleinen, immer kleineren Schritten. Wenn der kleine, gleiche Bürger nurmehr mitzutragen bereit ist, was „ihm etwas bringt", zu seinem Genuss, etwas „Kleines für jedermann" muss dann nicht eine „Anti-Größen-Stimmung" die gesamte Staatlichkeit erfassen, welche sich den Bürgern nähert, zu ihnen geradezu in eine Austauschbeziehung auf gleicher Ebene zu treten scheint? Gleichheitsstaat - das bedeutet ja nicht nur, dass die Staatlichkeit Egalitätsbringerin wäre, sie selbst muss Ausdruck der Gleichheit sein, in nichts größer als ihre

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Bürger, die sich als ihre Teile verstehen, also ebenso bescheiden, in ganz bewusster Kleinheit. Jene bürgernahe öffentliche Gewalt, welche wie mit ihresgleichen zu verkehren hat, in Bürgernähe - und zu praktieren, muss sie dann nicht ganz notwendig die Dimension des immer kleiner werdenden Mannes der Straße annehmen? Die Repräsentanten der demokratischen Politik werden argwöhnisch darauf hin betrachtet, dahinter aber steht, dass sie der Staat sind, dass man in ihnen auch jene größere Einheit nicht nur kontrollieren, sondern in allem und jedem verkleinern kann, klein schneiden will.

b) Egalität - Dynamik zum immer Kleineren Kaum einen Staatsgrundsatz-, einen Staatsformbegriff gibt es, dem größere Selbstverstärkungskräfte innewohnten als der Gleichheit. Wenn sie also, wie sich gezeigt hat, auf Minimalisierung gerichtet ist, nicht zu Größerem hinauf, so muss sich dies notwendig zu immer „größerer Kleinheit" steigern, in einer eindeutigen Gegenrichtung zu jener Monumentalstaatlichkeit, welche wesentlich nach oben geöffnet ist. Was immer an Dynamik im Staat sich bewährt, treibt hier sicher nicht zu seiner Größe. Mehrfach schon hat sich in diesen Betrachtungen gezeigt, wie bedeutsam die Einbeziehung der Dynamik in den Größenbegriff ist, wenn er auf den Staat angewendet werden soll, das vielfach und ganz wesentlich dynamische Gemeinschaftswesen. Wenn also jene Kraft, welche hier vor allem Bewegung erzeugt, das Streben nach Gleichheit und ihre einebnenden Veränderungen, verkleinernd wirken, so muss mehr befürchtet werden als ein punktueller Größenverlust: Es könnte dann eine systematische Schrumpfung der staatlichen Dimensionen eintreten, nicht deren Erweiterung oder auch nur Bewahrung für große Gestaltungen. Wo immer sich in der Gemeinschaft noch eine Erhebung entdecken lässt, in größerem Verdienst, gesteigerten Chancen - gleich ist die tausendäugige Staatlichkeit der Gleichen am Werke, auch noch diese Berge abzutragen, die letzten Täler aufzufüllen. Kennt diese Ebene überhaupt noch die Dimension der Größe - oder will man diesen Begriff der nivellierenden staatlichen Dampfwalze vorbehalten? Die Einwände liegen nahe, dass dies eben noch längst nicht erreicht sei, nie vielleicht voll realisiert werden könne, dass immer neue Ungleichheiten hervortreten werden; aber auch das Gegenargument ist nicht fern: dass alle diese Erhebungen nur mehr ängstlich und versteckt aufgeschüttet werden können - und eben, dies ist das Problem der Dynamik, immer nur noch kleiner. Rechnet man schließlich auf einen Endzustand hin hoch - und keine Staatstheorie hat doch deutlicher und bewusster diese Hochrechnung gerade gefordert als die radikale Gleichheit - wo soll denn noch „irgend etwas von Größe" sein, in diesem total atomisierten Staat der Gleichen, den die Egalität so sehr mit seinen Bürgern auf eine Ebene stellt, dass er - völlig verschwinden muss? Und hier ist das Staatsabsterben im Endzustand eine unausweichliche logische Konsequenz. Die klassische Staatstheorie

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der kommunistischen Erfüllung bewies geradezu, aus umgekehrter Sicht, die Richtigkeit der These von der Staatgröße als notwendigem Staatselement: Wo die Staatlichkeit nicht mehr groß sein kann - und in diesem Kommunismus war sie es ja so lange und damit „wirklich Staat" - da hört sie einfach auf zu existieren, groß im Sterben... Doch auch dieser Endzustand, der „umgekehrte Beweis für Staatsgröße", ist ja noch unendlich weit entfernt. Heute dagegen arbeitet, so scheint es doch, emsig der Gleichheitsstaat an seiner eigenen Verkleinerung, und er schlägt unablässig Stücke von seinem eigenen großen Monument. Denn dies in erster Linie darf es doch wohl nicht geben: das Große nicht, erst recht nicht das Monumentale. Unvorstellbar ist hier eine „Erhebung von Staatlichkeit im Bürgermeer", die da etwas von unwandelbarer Größe der Dynamik der Gleichheit entgegensetzen wollte. Das Unterspülen der Monumente - war es nicht von jeher Ziel und Kraft der Gleichheit? Sie stürzen dann mit einem Mal, jene schäumt weiter, über sie hinweg. Wenn die vielen Gleichen eines Tages auch den großen Gott nicht mehr sehen oder ihn bloß mehr in dem ebenfalls kleinen, gleichen Nebenmenschen erkennen wollen wie könnten sie dann ein Staatsmonument dulden, das ihnen ja nicht einmal den gleichen Genuss servieren will, sondern nur „einfach sein und dauern", in Größe? Gleichheitsdynamik gegen Staatsmonumentalität - dies trägt doch noch weiter, wie es scheint: zur Absage an jede größere Staatslösung als solche, in welcher die Egalität nichts anderes sehen kann als ein Attentat auf ihre Idee, darf doch überhaupt nichts größer sein als gleich; mit Gleichheitsorganen erfassbar, mit Kategorien des Gleichheits-Staatsrechts, in dem sich die Egalität ihre technischen Instrumente zunehmend schafft, vom Abgabenrecht bis in die Kultur.

3. Der Verteilungsstaat - Auflösung aller Größe a) Verteilung - Kategorie der Minimalisie rung Verteilung ist die wichtigste Aufgabe heutiger Staatlichkeit, Umverteilung vor allem. In breitem Konsens werden die Segnungen der Freiheit und des Marktes gepriesen - und in größtem Stil wird das Ergebnis seiner Verteilungsmechanismen korrigiert. Nur aus einer Überzeugung kann man dies erklären: Freiheit wird angenommen als Produktions-, nicht als Distributionsprinzip. Längst sind hier Formen jener Grenzkorrekturen verlassen worden, in denen einst in Deutschland manche das Wesen der sozialen Marktwirtschaft sehen wollten. Die Verteilung ist weit mehr geworden als ein ökonomisches Prinzip, hier wirkt ein Staatsgrundsatz im wahren Sinne des Wortes, er prägt das Wesen der Staatlichkeit, ihr Ziel und alle ihre Ausdrucksformen, gilt es doch, allenthalben Mächtigkeiten zu vermeiden, zu brechen, zu nivellieren, das „Vermögen" des Bürgers vor allem, in einem vollen, nicht nur materiell-pekuniären Sinn; denn nach solcher Verteilung wird er nicht mehr in der Lage sein, sich über andere zu erheben. In dieser Verteilungsstaatlich-

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keit - und auch diese Wortverbindung ist wahrlich gerechtfertigt - hat sich der Sozialismus durchgesetzt, nicht in seinen ursprünglichen Erscheinungsformen, welche alles Staatliche auf ökonomische Zusammenhänge zurückführen wollten und deshalb die „staatliche Ökonomie" forderten - sondern umgekehrt darin, dass nun wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten im Staatsbereich korrigiert werden. So ist denn diese Verteilungsstaatlichkeit keineswegs nur Schwächerenschutz, sie bedeutet gezielte, systematische Machtminimierung, damit aber trägt sie Höhen ab, auf denen der Sinn auch für Staatsgröße immer gewachsen ist, von deren privaten Erhebungen aus nur zu oft wahre Staatsgröße geschaffen werden konnte. Darin liegt ein wesentlicher Verlust von Staatsgröße ganz sicher. Doch auch in der ursprünglichen Legitimation der Verteilungsstaatlichkeit, im klassischen Schwächerenschutz aus den Wurzeln des 19. Jahrhunderts und seinen sozialen Bewegungen, liegt noch immer eine mächtige Kraft zur Kleinheit, jedenfalls eine entschiedene Wendung gegen alles Große in der Gemeinschaft, damit auch gegen deren Größe. Denn es ist ja aus der Sicht des Schwächerenschutzes gleichgültig, ob diese Gruppen etwa „klein" sind, entscheidend ist, dass sie „nicht groß", jedenfalls nicht groß genug sind; und sie sollten ja auch niemals, dies ist das Grundverständnis der ganzen Bewegung, groß werden, vielleicht nicht einmal größer, stärker; angehalten werden sollte nur ihre immer größere Schwäche, ihr Verfall, die Verelendung. Sicher ist es nun, gerade im 20. Jahrhundert, zum Umschlag in das Gegenteil gekommen, zur erstaunlichen, im Grund „ganz großen" Hebung der Schwächeren auf die Stufe der Befriedigten, ja der Begüterten. Der Grundzug aber und das Grundmuster bleiben noch immer dieselben, weil aus ihnen die moralische Überzeugungskraft der Verteilungsbewegung kommt: Auch der bereits Aufgestiegene, der vielleicht längst die Schwelle zum früheren Bürgertum überschritten hat, wird noch immer als „kleiner Mann" gesehen, er sieht sich selbst so, und längst nicht nur aus Sorge vor verbreitetem Sozialneid, sondern ganz natürlich in der Überzeugung von der „Kleinheit als Normaldimension" in der Existenz als Bürger. Im Bürgerwort scheint geradezu etwas von der Bescheidenheit dieser kleineren Existenz mitgedacht zu sein, welche Verteilung bejaht, weil sie von ihr lebt. Verteilung bedeutet nicht notwendig den Zug nach unten, wohl aber ein Festhalten auf einer bestimmten Ebene, sicher eines nie - den Zug hinauf zum Monument. „Statische Verteilung" kann es nicht geben. Dies ist ein ständiger, nie abgeschlossener Vorgang, der sich mit der Verteilungsmasse verstärkt und abschwächt, in sich aber eher die Tendenz zur Selbstverstärkung trägt, dies gerade ist ja die Kraft des sozialistischen Egalitätsgedankens: Ist viel zu verteilen, so ist überall Verteilung gefordert, wenn wenig, so genügt Verteilung nicht mehr, es muss zur Umverteilung kommen, in noch weiter verstärkter Solidarität. Wirtschaftshöhen und Wirtschaftskrisen - alles treibt immer und in grundsätzlich gleicher Intensität in die Distribution, und vor allem in einer nicht enden wollenden Bewegung. Denn

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nachdem ja das Marktsystem eine im Ergebnis nicht zu billigende Allokation bringt, muss es auch ewig in bewegter Verteilung korrigiert werden.

b) Distribution - Kleinschneiden an den Wurzeln Pyramiden bleiben groß, selbst wenn ihre Spitzen verwittern, Staatsgröße als Monument leidet nicht darunter, dass das Allerhöchste genommen wird - vielleicht auch nur Auswüchse. Die Größe der gesetzlichen Lösung mag sich sogar in der gewährenden Ausnahme bewähren, die flächendeckende Verwaltung darf kleinere Reservate des Herkömmlichen respektieren, sie wird nicht dadurch klein, dass sie mit der unwiderstehlichen Durchsetzung ihrer Entscheidungen gelegentlich wartet. Ganz anders der Verteilungsstaat. Seine Kraft „dreht nach unten"; ist das Größere kleingemahlen in Verteilung, so gilt es, das Kleinere auch noch zu brechen, und nichts, was die Ebene überragt, ist grundsätzlich so klein, dass es nicht erfasst würde; je unabsehbarer jene ist, desto deutlicher wird es sichtbar und muss beseitigt werden. Mehr noch: Es darf von Anfang an schon gar nicht entstehen. Dies ist ja die Grundsatzkritik sozialistischen Staatsdenkens am Liberalismus, dass hier der Staat stets nur dem Profit in atemlosem Lauf folge, dass jener sich neue Burgen baue, wenn seine früheren Werke noch nicht voll geschleift sind. Der integralen Verteilung geht es um die Verhinderung der Größe an der Wurzel, nichts mehr darf überhaupt größer werden - und warum dann eine Staatlichkeit, die doch gerade darin ebenfalls klein bleiben möchte, dass sie sich nicht ständig in der Bekämpfung größerer privater Macht zusammenballen muss? Der Steuerstaat hat seit langem solche Wege systematisch beschritten und mit totalem Erfolg. Das Zweitakt-Prinzip „Akkumulation-Distribution" ist längst im Ganzen aufgegeben, auf wenige, sekundäre Bereiche beschränkt, wie etwa die Erbschaftsteuer. Es dominiert die „Vor-Verteilung": Das Einkommen erreicht den Steuerpflichtigen gar nicht mehr, es ist nach laufender Schätzung schon im Zufluss abzuführen. Dies lässt sich natürlich auch auf jene selbe Staatlichkeit übertragen, die eintreibt - und sei es auch nur in der noch zu erörternden Verschuldungspolitik; ihr Juliusturm soll niemals auch nur die Erdoberfläche erreichen. Hier wird im Ergebnis nicht nur Größe verhindert, sie wird als Begriff eliminiert. Alles, was sie bringen könnte, in der Gesellschaft und im Staat, ist bereits gedanklich vor-distribuiert, damit klein geworden. Und sollte da eine solche Maschine der Vorverkleinerung zum Bau von Staatsgröße eingesetzt werden können?

c) Die quantifizierende

Verteilung

Die Gleichheit und ihre Durchsetzung in Verteilungsstaatlichkeit arbeitet durchgehend mit der Kategorie der Quantifizierung: Sie misst in Abgaben und Kündi-

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Buch 3: Der Monumentalstaat

gungszeiten, in Schuljahren und Renten das ganze Leben ihrer Bürger aus mit der Elle der Quanten. So wird alles, was größer erscheinen könnte, mit der Genauigkeit quantifizierender Methoden festgestellt und, wie es eben dieses Vorgehen erlaubt, sodann schrittweise, wiederum in Quanten-Bausteinen, abgetragen. Die Bedeutung der Quantitätskategorien für die Betrachtung der Staatsgröße wurde bereits, wenn auch nur in Umrissen, klar. Hier zeigen sich Egalität und Verteilungsstaat nicht nur als deren Negation, sondern als ihr Gegenpol: Sie setzen eben jene Quantifizierung gegen alle Größe in Gesellschaft und Staat erfolgreich und laufend ein. Es beginnt in der Gesellschaft, die aber, in der Demokratie zumal, die Staatlichkeit trägt, in diese vielfach hineinwirkt. Dort zunächst verlieren sich die Qualitätskategorien in quantifizierendem Denken, alles, was „durch seine andere Eigenschaft" vielleicht doch noch größere Dimensionen erreichen, sich in ihnen behaupten wollte, wird ebenfalls von quantitativen Rastern zerschlagen. Den „größeren Bürger" gibt es nicht mehr, nurmehr den in Quantität zahlreichen. Diese Quantifizierung, welche Teilbarkeit schafft, kann immer weiter fortgesetzt werden, bis zur quasi-totalen Atomisierung der Bürgerschaft, in welcher der Einzelne ein wahres Atom, eine geradezu gedachte Größeneinheit darstellt, die aber überhaupt nurmehr in einer gewissen, begrenzten Verbindungsfähigkeit mit anderen erfassbar ist. Widerfährt dies der Bürgerschaft, so trifft es im Grunde in ihr auch und vor allem den Staat, die Atomisierung des Volkssouveräns muss in der Demokratie rasch zu der der Staatlichkeit und ihrer Macht überhaupt werden. Und in der Tat wird ja durch die verteilende Quantifizierung auch die Staatsmacht in einem gewissen Sinne teilbar, zunächst bereits in ihrer sich verstärkenden Ökonomisierung. Als Verteilungsbank der durchlaufend verkleinerten Größen ist sie, in ihrem „Vermögen" und der darauf gerichteten Staatsgewalt, ihrerseits in Quantität weitestgehend erfassbar, sie ist eben „soviel wert, wie sie verteilt und verteilen kann". In diesem Sinne beginnt wirklich das vom Marxismus postulierte endliche Absterben aller Staatsmacht bereits in deren durchgehender Ökonomisierung - die qualitativen Unterschiede zwischen dem Bürger und seinem Staat verschwinden, und dies ist eine der Grundlagen der marxistischen Demokratiekonzeption: alles wird zur Bürgerherrschaft - der Kleinheit. Darin kommt es dann zum Verlust jeder Monumentalität, beim Träger der Volkssouveränität wie bei seinem Staat. Der Bürger ist die „kleine" Quantität geworden, der nun nirgends mehr daran denken kann, sich Monumente zu bauen wie das Großbürgertum vergangener Zeiten, ja selbst gewissermaßen, auf Ahnenbilder und Familien gestützt, zum Monument zu werden; es folgt ihm in all dem rasch auch sein Staat. Wie die Kleinheit aus diesem in Verteilung herabsteigt auf die Bürgerschaft, so kommt sie ihm aus dieser wieder zurück. Darin zeigen sich zwar Formen extremer Personalisierung, die Güter dieser Welt werden zum Tascheneigentum, welches die Person mit sich tragen kann, in der Idee jedenfalls; doch dies bedeutet nicht die „Person als Monument", in ihrer un-

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auswechselbaren Qualität. Personalisierung wird auch noch als Quantitätskategorie eingesetzt, als Absage an das Transpersonale, einen Kernbegriff der Staatsgröße.

d) Der Verteilungsstaat

muss verteilt werden

Der Verteilungsstaat ebnet nicht nur die Bürgerschaft ein, will seine eigenen Souveränitätsträger kleiner machen, er schreitet, in eben diesen laufenden Vorgängen, zu einer Art von Selbstverteilung seiner eigenen Macht. In Verteilung kleiner wird ja nicht nur der Verteilungsgegenstand; auch die öffentlichen Hände, die da laufend geben, können und müssen immer kleiner werden - in einem gewissen, aber entscheidenden Sinn: Was sie, in quantifizierender zeitlicher Verteilung, leisten oder schenken - und auf diesen Unterschied kommt es hier nicht mehr an - das wird ganz wesentlich genossen und verbraucht, seine Größe geht in der Zeit vorüber, der Staat schafft sich in verteilenden Subventionen keine Monumente. Macht wird nicht mehr in Zeit erkennbar, sie löst sich in ihr auf. Nichts anderes geschieht mit der Größendimension der Räumlichkeit. Der verteilende Staat „verteilt sich auch hier selbst", gerade in der Technik seiner Distributionen: Damit diese „bürgernäher seien", in Wahrheit meist, um alle Bürgergröße rascher erfassen und einebnen zu können, muss die Macht näher an die Basis gebracht, damit aber dieser entsprechend „verteilt" werden, ein Zug der nicht nur flächendeckenden, sondern flächenerfassenden Dezentralisation ist die Folge. Die notwendige Verteilungsnähe schafft die kleinere Verteilungsräumlichkeit und schwächt damit eine Staatsgewalt, die wirklich nurmehr an den Verteilungsempfänger, den Bürger denken kann, nicht mehr an ihre eigenen, größeren Ziele; und nur zu oft wirkt so im System des Verteilungsstaats eine List der Vernunft zu Gunsten der Freiheit des Gleichheits-Unterworfenen ... Deutlicher noch wird die Selbstverteilung der Staatsgewalt sichtbar, wenn man diese als etwas wie einen Subventions-Durchlaufposten der vielen kleinen Steuergelder zu vielen kleinen privaten Aktivitäten begreifen muss. Dieser Staatsschatz behält grundsätzlich nichts für sich, er verdient diesen Namen gar nicht, der Staat wird zur altruistischen Genossenschaftsbank, die Monumentalität privater Großbanken wird er auch an seinen Fassaden nicht mehr zeigen. Aus aller Monumentalität zieht er sich schon darin zurück, als Verwalter des Durchlaufenden wird er geradezu eine Art von ökonomischem Nullum, auch in diesem Sinne sozialistische Staatsauflösung vorwegnehmend. Doch diese sozialisierenden Versionen der Verteilungsstaatlichkeit, welche, mitten in der angeblich freiheitlichen Marktwirtschaft, ständig und immer größer praktiziert werden, sind längst nicht alle Formen der verkleinernden Selbstverteilung der Staatlichkeit, es gibt auch deren durchaus marktkonforme Versionen, man denke an die Privatisierung: Was an Staatsvermögen sich noch irgendwo hat ansammeln können, rasch muss es verteilt werden, aus der größeren finanziellen Zusammenballung in die Winde geworfen, in die ganz kleinen Hände der Bürgerschaft, und der Staat sorgt in Erwerbsgrenzen, grö-

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ßenordnungsmäßig dafür, dass die Masse des marktbelebenden Wassers in kleinste Tropfen zersprüht werde. Was dann noch bleibt an Staats-Vermögen in einem weiteren Sinne, an jenem „Betriebsvermögen" der Staatlichkeit, in der Organisation ihrer Aufgabenerfüllung, wird ebenfalls von Privatisierungen erfasst: In ihren öffentlichen Diensten, bei Post und Bahn, und in zahllosen Zulieferbeziehungen wird die große Dienstleistungsmaschine in kleinere Hände gelegt, ihre Profite fließen auseinander, in unzähligen privaten Abhängigkeiten verliert sich jedenfalls ihre geballte, beeindruckende Größe.

e) Der ganz kleine Schulden-Staat So kommt denn die Endlösung in Sicht: Die zuerst ökonomisierte, dann kleinere, am Ende ganz kleine Staatlichkeit. Der systemgegebenen Notwendigkeit der Auflösung aller großen Vermögen im Gleichheitsstaat kann auch das Größte von allen, das Staatsvermögen, nicht entgehen. Wird der Staat nach dem Bild des kleinen Bürgers zurückgeformt, so hat sich seine Vermögenslage der der unzähligen (Volks-) Souveräne anzupassen. Da aber nun ein Staats-Tascheneigentum sinnlos wäre, muss noch weitergegangen werden: Das staatliche Ideal wird der Abschreibungs- und Abzahlungsbürger und - sein Schulden-Staat. Fast mag es heute den Anschein haben, als wolle die Staatlichkeit ihre Größe nurmehr in einem bewähren: In ihrer Verschuldungsfähigkeit, darin, dass sie, geradezu ins Unendliche belastet, noch immer wenn nicht in allem groß, so eben „für alles gut" ist, Bonität zeigen kann. Mit großen Defiziten finanzieren Großmächte ihre Staatsgröße; hinter mächtigen Worten und Rotten verschwindet der Schuldenberg, die absolute „NegativGröße". Demokraten mögen darin sogar noch Positives entdecken - solidarisiert sich hier nicht der Staat mit Bürgern, da er, ihr irdischer Gott, ans Kreuz der Schulden geschlagen wird wie sie? Werden sie ihn verlassen können, da er ihnen so vieles schuldet? Die große Solidarität durch die große Staatsschuld - wäre dies ein Monument? Die Antwort erübrigt sich, dies ist, trotz allem, die Negation jeder Staatsgröße. Großes mag, auch im Staat, häufig, immer vielleicht, auf Schulden gebaut worden sein, auf Vorschüssen jedenfalls aufbauen, in jeder Art, von den napoleonischen Schlachtensiegen, die mit vorweg-mobilisierten Jahrgängen erfochten wurden, einer wahren Blut-Schuld an die Nation, bis zu den später so ertragreichen bayerischen Königsschlössern. Doch es bleibt die Antithese der Staatsschulden zur Staatsgröße eben doch, denn sie binden die Hände, welche Größeres schaffen wollen, in der Angewiesenheit auf andere, Kleinere, damit aber auf immer weitere Verteilung. Die Betrachtung des Verteilungsstaates drängt geradezu in Philippiken gegen jede Staatsgröße - oder gäbe es hier auch nur Ansatzpunkte einer Monumentalität?

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f) Gegenthese: Der „große Verteilungsstaat "? In einem scheint sich die Entwicklung, gerade in dieser letzten Steigerung der Gleichheitsstaatlichkeit, wieder umzukehren - hin zu größeren Dimensionen: Muss hier nicht eine Riesenkraft ständig am Werke sein, die laufend nimmt und gibt, die politische Macht zur Verteilungsentscheidung immer wieder aufbringt, wäre dies nicht, in Zeit, Raum und Intensität zugleich, eine Aufforderung zu wahrhaft gewaltiger Größe? Wenn dies sozusagen quantitativ Staatsgröße schafft, erhält, ja laufend steigert, liegt nicht geradezu Monumentalität in der vollen Uneigennützigkeit solcher Kraftanstrengungen, da der Staat hier doch nicht wirtschaftlich zu handeln scheint, sondern in totaler Entökonomisierung? Wird er darin nicht ein wahres Mahnmal der Uneigennützigkeit für die ganze Bürgerschaft, für alle Zukunft, und wächst er nicht in all diesem Tun hinauf in die Bereiche der „reinen Gewalt", so dass sich eben doch darin der vom Juristen erwartete Umschlag von der Quantität der Verteilung in die Qualität der verteilenden Staatsgröße laufend vollzieht? Jener Staat, der in der reinen, selbstlosen Verteilung so arm wird, wie es sein Bürger nie sein könnte - erreicht er nicht darin charismatische Kraft in einem ewigen Gelübde der Armut, und welche Kraft könnte heute größer, heiliger erscheinen als die des Wundertäters von Assisi? Etwas von einer franziskanischen Staatstheorie ist heute vielen das Ideal schlechthin, und darin zeigt sich, sei es auch nur in fernen geistigen Möglichkeiten, eine letzte Ambivalenz von Gleichheit und Verteilungsstaat, die eben auch wieder auf Staatsgröße gerichtet und dahin aktivierbar erscheinen. Dies hier nur als Posten der Erinnerung. Denn die erste, sichtbare Realität ist eben doch eine ganz andere: Dieser Staat der kleinen, laufenden Verteilung lässt ja Armut nicht in freier Entscheidung wachsen, er predigt nicht den Vögeln wie der große Heilige, er zwingt, er drückt seine kleinen Bürger nieder. Wenn die franziskanische Selbstentäußerung Bewunderung weckt, durch die in sich ruhende Zufriedenheit überzeugt, so werden hier auf breiter Front Gegenkategorien aktiviert - der allgegenwärtige Sozialneid, das Gegengefühl zu allen Monumenten in der Gesellschaft und im Staat. Insgesamt muss also doch von all dem hier die Rede sein, in der Gegenthese wider jede Form der Staatsgröße, nicht in ihrer Begründung.

4. Der kleine Fluchtbürger im Verteilungsstaat a) Bürger und Staat auf der Flucht vorder Größe Starke Bewegungen rufen mächtige Reaktionen; wenn dem Verteilungsstaat eine gewisse Größe der Gestaltungen nicht bestritten werden kann - könnte sich dann nicht gegen ihn, aus eben dieser immer weiter verkleinerten Bürgerschaft heraus,

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etwas wie eine große Gegenbewegung entfalten, die eben doch auf nicht mehr verteilende Staatlichkeit gerichtet ist, darin Staatsgröße erreicht? Gibt es eine solche sozialpolitische levée en masse gegen den Verteilungsstaat? Sie ist schon da, aber eben nicht in Größe, sondern auf der Flucht vor ihr. Sobald die Staatlichkeit alle Größe besetzt und im Begriff der Gleichheit klein gemacht hat, gibt es außerhalb dieser, in der Tat riesigen, Großlösung nichts mehr, auch kein Argument gegen sie. Selbst und gerade in seiner Opposition bleibt der Bürger zum Schweigen verdammt und zur Kleinheit - er wird zum geheimen Fluchtbürger. Kleines hat hier der kleine Teil des Volkssouveräns nurmehr, und er versteckt es sorgsam, gleich ob es illegal erworben wurde oder gesetzmäßig; denn dies macht, so betrüblich es ist, keinen Unterschied mehr: Was immer sich an großen Mitteln irgendwo zeigt, hat doch schon die Vermutung der irgendwann begangenen Abgabenverkürzung, der Wirtschaftskriminalität, der Exploitation im Geiste vieler gegen sich. Wer hier der zuerst sozialen, dann stets auch rechtlichen Kriminalisierung entgehen will, muss ausweichen in die Theorie der kleineren Fluchtrisiken. Was aber so versteckt wird, erscheint darin den Argusaugen der vielen jedenfalls noch weiter verkleinerungsbedürftig, dem Verbergenden selbst ebenso. Der Eigentümer möchte sein Gut „eher kleiner sehen" als größer. Selbst der Leistungsfähige, Stärkere in der Gemeinschaft wird, und sei es auch nur mit dem laufenden schlechten Gewissen der Fürsorgepflicht für Schwächere belastet, zum ängstlichen Klein-Bürger, bis auch er endlich lieber kleiner bleibt, als ständig für andere zu arbeiten. Dies alles aber ist die absolute Antithese zu jeder Monumentalität. Denkmale kann man, braucht man, will man schon gar nicht verstecken; sie sollen nicht nur gezeigt werden, sie sollen sich zeigen, nur darin wirken sie mahnend über sich selbst hinaus, dass sie zunächst einmal in voller Selbstüberzeugung in sich ruhen, das Standbild ist der Prototyp des Selbstbewusstseins, das Gegenteil des kleinen Fluchtbürgers der Verteilungsstaatlichkeit. Er schaut in Misstrauen zu allem Monumentalen empor, auch und zuallererst zu dem, was an ihm selbst und seinesgleichen zum Mahnmal werden könnte, sodann aber und vor allem auf einen Monumentalität anstrebenden Staat. „Sein Staat" wäre vielmehr die Ordnung und die Lösung, die endlich so klein würde wie er selbst, ist er doch vor der großen Lösung der Gleichheit ständig auf der Flucht, und darin eben klein geworden. Die geistigen Kategorien besitzt er schon gar nicht mehr, in denen er Staatsgröße erfassen könnte; und wenn Staatlichkeit - darin wird Hegel nie widerlegt werden - die Potenzierung des Menschlichen bedeutet, so gibt es eben auch die Antithese: Der Staat wird noch kleiner, wenn schon sein Fluchtbürger in ihm klein geworden ist. Ihre ganze politische Position definieren dieses Individuum und sein Staat in kleinen Unzähligkeiten, die zwar ständig gezählt und addiert werden, nur nie zu einer staatlichen Größe. Etwas wie ein laufendes Abzählen der Soldaten findet hier statt, nie endet es in gemeinsamem Einsatz zu Größerem.

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b) Kampf gegen Luxus - Negation des Großen Der Evasionsbürger ist nicht nur vor dem Staat auf der Flucht, sondern vor allem, was um ihn herum größer erscheinen könnte, allzu groß, groß an sich und ohne Beziehung auf die kleinere Person. Zuallererst wird hier allem Luxus der Krieg erklärt, im privaten Leben wie in der Staatlichkeit. Dieses Wort, in seiner Zusammenfassung von unbeschränkter Größe und Überfluss - der Verteilungsstaat kennt es nurmehr als den luxe insolent, als die Beleidigung der anderen Bürger. Und doch hat sich darin soviel an wahrer Monumentalität stets gezeigt und entfaltet, gerade in deren typischen Formen: in der Schaffung von Größen-Dimensionen. Denn nicht im Genuss des Luxus lag ja die Größe - und könnte er überhaupt genossen werden, liegt nicht im Begriff bereits das wesentlich Inappropriable? - sondern in den bis zum Unnötigen großen Räumen, in denen er stattfand, in römischen Gelagen, in renaissancehafter und absolutistischer Prunkentfaltung. Historisch fest steht nur, dass alles, was heute Luxus genannt wird, vielleicht späte, bereits dekadente Erscheinungsform der Größe war, dass es aber immer dort aufgetreten ist, wo es vorher oder zugleich wahre Staatsgröße gegeben hatte; diese kann also dann kaum erreicht und bewusst werden, wenn schon der kleine, kleinste Luxus gebrochen werden soll. Selbst wer die geschichtliche Phasenverschiebung von Staatsgröße und Luxus betont, die Erstere nicht den kaiserlichen Gelagen, sondern der weit früheren Virtus Romana zuschreibt, wird doch eingestehen, dass beides eben im Letzten zusammengehört, dass dort die eigentliche Dimension der Staatsgröße kaum erreichbar erscheint, wo alles Luxuriöse versagt bleibt. Das spartanische Staatsideal - wer wollte ihm eine gewisse Größe versagen, und doch hat es nicht in seiner Allseitigkeit prägen und heute würde es in seiner unmenschlichen Härte nicht überzeugen können; hat also nicht doch die Historie einen gewissen Gleichklang von Staatsgröße und Luxus gezeigt, wenn nicht zumindest Staatsgrößenmöglichkeit aus Luxusbejahung heraus? Geistig wäre dies ja wohl auch nachvollziehbar, gerade in staats-grundsätzlicher Betrachtung. Denn in staatlichem und öffentlichem Luxus liegt auch immer etwas von dem in sich selbst Drehenden der Transpersonalität, welche in eine kaum begrenzte Größenordnung geöffnet ist, die weiter jedenfalls reicht als die Genusskraft dessen, der sich Luxus schafft. Wird er nicht auch, wenn nicht in der Regel, vor allem von anderen genossen, von Zaungästen dessen, der mehr hat als er eigentlich braucht? Im Luxus liegt eine begeisternde Kraft, sie will aufrufen zu immer mehr Genuss, darüber hinaus zu einem über sich Hinauswachsen des Menschlichen. Darin mahnt sie und erreicht geradezu monumentale Dimensionen. Und Staatsgröße, fürwahr. Denn der eigentliche, große Luxus ist immer der des Öffentlichen gewesen, von antiken Triumphen über den gotischen Versammlungsund Gebetsluxus der Kathedralen bis nach Versailles. Etwas von solchem Staatsluxus begleitet noch den kleinen Staatsbeamten, der im Bewusstsein der unendlichen finanziellen Leistungskraft des Staates mehr aufbaut und größer als es der Geist des kleinen Bürgers versteht und billigt. Überhaupt ist irgendwo alles in der

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Staatlichkeit Ausdruck einer Art von „Machtluxus", des Übermäßigen, vielleicht gar nicht gebraucht Werdenden, das sich diese Gewalt aber leisten will, für alle Fälle ihrer Machtbedürfnisse - und darüber noch hinaus. Wer also dem Luxus in der Gemeinschaft den Kampf ansagt, der wird eines Tages, trotz aller kommunistischen Vorbilder, selbst die Wucht der den Luxus zermahlenden Staatsmaschine und ihrer Größe vielleicht nicht mehr bewahren können - es sei denn, es gelänge ihm, auch den letzten kleinen Fluchtbürger noch einzuholen, ihn in die riesigen Größen seiner Werke einzumauern. Dem Osten ist dies nicht gelungen, im Westen bedeutet Absage an den Luxus die Frontstellung gegen großes Denken in der Gesellschaft und im Staat. „Groß denken" über den Staat - wie sollte dies, bei verbreiteter Evasions-Mentalität, irgend jemand politisch noch vermögen, er müsste es doch sogleich anderen zeigen, sie gewinnen wollen; doch sie sammeln sich nicht um seine Fahnen, sie sind ja auf der Flucht vor allen Feldzeichen. Hier stellt sich der egalisierenden Verteilungsstaatlichkeit vielleicht ihr schwerstes Problem: Ist in ihr größer Gedachtes überhaupt noch vorstellbar, wird über den Staat nicht stets nachgedacht in den Wandelgängen von Akademien, nie in Wohnküchen? Die großen Staatsdenker der Vergangenheit hatten immer etwas von Reichtum um sich, an sich, von Überschießendem, bis hin zum geistigen Luxus, was waren ihre Gedanken denn anderes, da sie Profit nicht brachten? Und wie oft haben sie sich nicht gerade um Größe und Reichtum geschart, ja gedrängt, nicht in Genusssucht, sondern damit sie in diesen Hallen, in diesen Dimensionen selbst groß denken konnten, etwas wie einen Blickpunkt für ihre Augen fanden, welche sich sonst nur in Utopie verloren hätten. Soweit Staatsdenken nicht im privaten Reichtum gedeihen kann, da muss es im öffentlichen Gold stehen, und in der Bewunderung dieser Throne wächst es empor, dies war das Geheimnis der absolutistischen Kulturkraft und ihrer bis heute im Grunde ungebrochen wirkenden Staatsphilosophie: Der private Reichtum der großen Könige Frankreichs wuchs hinüber in die öffentliche Größe, um sie und in ihren Staatspalästen versammelte die Monarchie, physisch oder geistig, die staatsgrundsätzlichen Kapazitäten ihrer Periode; und wo sie dem Ruf nicht folgten und zurückgestoßen wurden, haben sie stets mit Blick auf diese Fassaden gedacht, ja kritisiert. Vor ihrem Staate waren sie nicht auf der Flucht, jedenfalls nicht in jener Grundsätzlichkeit von heute, welche die Drohung der immer lastender aufgezwungenen Kleinheit fühlt. Ihre Staatlichkeit gab ihnen Modelle vor, Gegenstände der Bewunderung oder der Kritik, die aber immer eher größer machen wollte als kleiner. Letztlich sind es stets Berater von Großen, die groß über den Staat denken können - oder diejenigen, welche sich, in einer eigentümlichen persönlich-romantischen Welt, als solche sehen, eben doch im „Großen". Vielleicht müssen den Herrschenden und ihren Beratern doch eines Tages wieder große Schlösser gebaut werden, die sie, wenn nicht bewohnen, so doch bedenken. Und ob es nicht nötig ist, dass die Volksherrschaft ihre Politiker höher bezahlt,

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damit sie die Verfolgung der Fluchtbürger anhalten und freier sind, an ihren größeren Staat zu denken, aus ihrem größeren Vermögen heraus - das ist eine ernste Frage.

5. Konsequenter Sozialismus - der kleine Bürger im kleinen Staat Bisher wurden die Kräfte der Verkleinerung von Bürgerschaft und Staatlichkeit erwähnt, Tendenzen dahin und, vor allem, gewisse geistige Grundstimmungen, welche sich an einzelnen Punkten besonders zeigen. Eine systematische „Theorie des kleinen Staates", mit welcher sich eine solche der Staatsgröße auseinanderzusetzen hätte, gibt es als solche nicht. Und doch ist, wenn nicht alles, so doch das Wichtigste über den „kleinen Bürger im kleinen Staat" in einer gewissen Grundsätzlichkeit zusammengefasst in bestimmten Richtungen des Sozialismus, dort könnte es geradezu, so scheint es, zu einer politischen Theorie werden. Ein ebenso grundsätzlicher Einwand liegt allerdings nahe: Eine „Theorie der kleinen Staatlichkeit" - ist sie als solche überhaupt denkbar, ist der Staat nicht entweder groß - oder nichts? Die Kraft einer echten Staatstheorie kann schwerlich einer Lehre vom kleinen Staat zukommen, allenfalls liegt sie in der vom NichtStaat, von dessen Auflösung und Ende, eben in der letzten Konsequenz des radikalen Sozialismus. Eine Doktrin dagegen, welche das Kleine predigt, wird, so scheint es, schon gar nicht jene - Größe erreichen, welche jede Theorie verlangt; bleibt sie nicht in einer eigenartigen „Praxis-Theorie" verfangen, in einer Art von systematischem Praktizieren immer derselben kleinen Lösungen? Kommunisten werden dies wohl als die typische Staatslehre des Sozialdemokratismus bezeichnen, sich von ihr distanzieren, da sie doch in den ersten Phasen den Staat der wahrhaft monumentalen Größe predigen - der dann völlig zerfallen soll. Zwischen beidem, und auf Dauer angelegt, zieht sich der Weg der Kleinheit dahin, wie er, nicht ohne Konsequenz, von vielen Richtungen beschritten wird, am geschlossensten und entschlossensten wohl von Sozialisten, welche weder kommunistische Größe noch kommunistischen Fall der Staatlichkeit akzeptieren. Der Ausgangspunkt ist klar und er wird in die Menschen gelegt: Überall sieht man den Exploitierten, den seiner Natur nach eben kleinen Bürger, der gut ist und wie er sein soll, jedoch vom bösen größeren sich bedroht sieht, welcher gegen ein Recht handelt, wie es immer nur auf Seiten des Kleinen stehen kann. Die subjektive Rechtslage - und sie hat für diese Betrachtungsweise unbedingten Primat - ist also klar: Recht hat die Kleinheit, Größe hat Unrecht in den menschlichen Beziehungen. Ständig muss der kleine Mann kämpfen wider - nicht nur den großen, sondern das Große, welches den Staat besetzen will, sich dort „als Großes" etablieren könnte. Politische Ängste, bis hin zu Komplexen, richten sich nicht so sehr gegen den „größeren Mitbürger", den es doch aus derartiger Sicht als 41 Leisner

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solchen kaum geben kann, als vielmehr wider die Identifizierung von Bürgergröße und Staatsgröße, gegen eine Entwicklung, in welcher aus mächtiger subjektiver Dimension die objektive Staatsdimension entstehen könnte, bis hin schließlich zu den Kanonenbaronen, welche sich den Staat kaufen. Und sozialistisch bleibt all dies darin gewendet, dass dieser befürchtete Weg der Größe vom großen Bürger über sein großes Kapital in den großen Staat zu führen scheint, der sich die Kleinen unterwirft. Die Kraft dieser sozialistischen Überzeugungen liegt seit jeher in dem fassbaren, von jedermann zu begreifenden menschlichen Ausgangspunkt, mit welchem an Unterlegenheitsängste angeknüpft wird, wie sie selbst der Stärkste immer wieder fühlen muss. Die große Kraft solcher Lehre, geradezu als Staatskonzept, ergibt sich aus dem fast bruchlosen Übergang vom menschlich-fassbaren „Klassenfeind" zur Ablehnung der „großen Staatlichkeit", welche ist wie jener, und schlimmer noch. Denn in der Größe des Staates findet sich doch alles Negative wieder, was an der Person Einzelner erfolgreich demonstriert werden konnte: Auch er exploitiert eben, und in ganz großem Stil, hier kann sich Sozialdemokratismus überzeugend vom Kommunismus abheben. Deshalb muss gegen die Staatlichkeit genauso Front gemacht werden wie gegen Private, der Staat als Massen-Arbeitgeber ist nicht besser, sondern eher noch schlimmer als der private Fabrikherr, warum sollte er also nicht an erster Stelle bestreikt werden, und von französischen und italienischen Konfrontations-Gewerkschaften sind gerade im öffentlichen Bereich die großen mauerbrechenden Streiks geführt worden. Im Namen eines sozialistischen Humanismus, und in täglich-praktischer „Humanisierung der Arbeitswelt" und der Welt überhaupt, kann hier angetreten werden, gilt es doch, die transpersonale Größendimension der Staatlichkeit in erster Linie zu bekämpfen, sie wieder auf das Maß des Menschen zurückzuführen, und wer wollte dem widersprechen? Wenn darin nicht schon System und Theorie liegt, so doch ein Anspruch geistiger Höhe. Aus solchen Wurzeln erwachsend tragen diese sozialistischen Gedanken überzeugender bis in einen Internationalismus, etwa in der Anti-Globalisierungsbewegung, als die aller Kommunisten. Diese brauchen ihre mächtige, sich dann eben auch abschließende Staatlichkeit, der ältere, staatsferne Sozialismus und der NeoSozialdemokratismus haben immerhin eine ganz natürliche internationalisierende Wendung stets beibehalten, in ihr wollen sie auch die räumlichen Dimensionen der Monumentalstaatlichkeit gewissermaßen aufbrechen, jedenfalls „menschlich besetzen". Der Fortschrittsidee ist solches Denken überzeugt und in allem verpflichtet, es bewegt sich notwendig in den Einbahnstraßen seiner „Errungenschaften", welche immer nur Vorläufer sein können zu noch weiteren, wenn auch nie wirklich großen anderen; begrenzte Rückschläge erwachsen aus menschlichem Irren. Darin scheinen diese Gedankengänge auch in die zeitliche Dimension der Staatsgröße einbrechen zu wollen: Nichts soll politisch mit der Macht der großen Vergangenheit in

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eine noch größere Zukunft hineinwirken dürfen, in letzter statischer Ruhe, alles soll vielmehr in kleinen Schritten immer unterwegs sein - und darin mit langsamer Mühe immer etwas größer werden, groß nie. Die Intensitätsdimension schließlich der Staatsgröße wird darin reduziert, wenn nicht geradezu aufgehoben, dass überall und systematisch der fordernde Widerspruch in die Staatlichkeit selbst getragen wird, sich in ihren Parlamenten und Bürgerversammlungen allenthalben erhebt, mit einem „ins Kleine subjektivierenden Anspruchsdenken" die Staatsgröße vollends auflöst. Um die alten wenigen Pfennige mehr Lohn werden die großen Schlachten im Staat geschlagen und gegen ihn, Staatsmonumentalität zerbröckelt darin - oder sie bleibt unbeachtet stehen. Insgesamt lässt sich keine deutlichere Antithese vorstellen zur Staatsgröße als solche laufend praktizierten Gedanken; die Spannung von Sozialismus und Monumentalstaatlichkeit ist eine grundsätzliche, sozialistische Monumentalität ist undenkbar, wo sie aufträte, wäre eine andere Denkform erreicht, die des Kommunismus; und nicht zuletzt deshalb wird er insgeheim von Sozialisten so oft doch bewundert. Doch den ständigen Versuchen, aus marxistischen Wurzeln heraus das Gemeinsame zu entdecken und zu entfalten, steht hier etwas Kolossales im Wege - oder ein Monument: der kommunistische Glaube an die Notwendigkeit zuerst des Staatsgiganten und dann seiner Götterdämmerung. Und darin zeigt sich auch, dass Monumentalstaatlichkeit nicht mit den Schlagworten von „rechts" und „links" beschrieben werden kann, das „linke" Riesenimperium hatte sie zu höchst gesteigert. Der Sozialdemokratismus aller Schattierungen darf dagegen für sich in Anspruch nehmen, dass er sich wirklich der Kleinheit im Staate annehme und des kleinen Bürgers, dass er ihn wohl aufsteigen lassen will - und dies ist ihm ja bereits weithin, seine Erfolgschancen vielleicht schon gefährdend, gelungen - aber doch „nicht allzu sehr", damit es eben immer neue Aufsteiger auf kleine Anhöhen geben könne. „Aufsteigen und klein bleiben" - dies ist ein durchgehendes Dynamisierungskonzept für Staat und Gesellschaft, von etwas wie einer Staatsmonumentalität bleibt hier doch wohl kein Stein auf dem anderen. Die Frage nach der Staatsform ist für einen so formierten Sozialdemokratismus stets im Grunde sekundär geblieben; alle Instrumente werden bejaht, wenn auch nicht geschätzt, welche dieses Aufsteigen der Kleinen und im Kleinen befördern können; doch der ganze Mechanismus - und besser sollte von ihm die Rede sein als von einem System - erreicht eben doch nicht allzu spät die Höhe der Staatsform. Über die ökonomischen Zentralmaterien der Staatstätigkeit entwickelt er sich mit sozialistischer Folgerichtigkeit in den Mittelpunkt der Staatlichkeit hinein und prägt diese im Ganzen. Verfestigt hat sich dies, mehr als es vielen Trägern solcher Gedanken lieb ist, in gegenwärtigen demokratischen Staatsform-Strukturen, mögen diese auch längst nicht allein davon bestimmt sein.

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VI. Demokratie - Staatsform der „kleinen Lösungen44? Die Notwendigkeit, gerade unter Demokraten über Staatsgröße zu sprechen, wurde eingangs hervorgehoben. Doch „Demokratie" zeigt sich hier, wie auch sonst, als ein wenn nicht unklarer, so doch wesentlich ambivalenter Begriff, sie trägt zur Größe, aber eben auch, wenn nicht zuallererst, in immer kleinere Dimensionen hinein. Und gerade wenn es dies zu korrigieren gilt, muss es zunächst vertiefend beschrieben werden.

1. Vom großen Volkssouverän zum kleinen Bürger Ein erster Blick auf demokratische Staatsbauten und Staatsleistungen zeigt Großes im Laufe, ja geradezu eine Idee, welche den Namen des Gigantischen verdient: Groß ist sie doch zuallererst in der Einbeziehung von allem Menschlichen in diesen einzigen Begriff des Volkes als des souveränen Trägers einer Macht, welche nur ebenso groß sein kann wie jenes. Der demokratische Totalitarismus ist von Rousseau klassisch entwickelt, von den Jakobinern in einer demokratischen Sternstunde monumental praktiziert worden, er hat seither immer fasziniert und geängstigt durch seine Größe, in allen Dimensionen der Staatlichkeit: Das Volk als Menschheit im Räumlichen, das Volk als Herr der Geschichte im Zeitlichen und das Volk als der allmächtige Souverän in seiner beispiellosen Machtintensität - wo könnte es größere Monumentalität geben? Zunächst, und für lange Zeit, hat diese „Volks-Größe als Staatsgröße" den Demokratien zu einem „theoretischen Etikettenschwindel" verholfen, dem sie allerdings meist gar nicht nachzugehen brauchten, kümmerten sie sich doch oft ebenso wenig um das „Volk" wie um seine Staatstheorie: Volksherrschaft bezeichnete nur die Fortsetzung, oft noch Intensivierung, des großen, wahrhaft monumentalen Staatsabsolutismus, vor allem in Frankreich. Die neue demokratische Staatsform wollte sich, von der Französischen Revolution bis nach dem Zweiten Weltkrieg, und heute noch überall in der Dritten Welt, mit ihrem großen Volks-Wort vor allem vor ihren neuen Bürgern legitimieren, denen diese Souveränität unbekannt, wenn nicht unheimlich war. In den großen Schlössern früherer Staatlichkeit und ihrer Geschichte lebte es sich im Übrigen für die Regierenden auch weiterhin gut, materiell und geistig. Außenpolitisch wollten sie sich Generationen lang, und nicht ohne Komplexe, legitimieren vor Fürsten und adeligen Oligarchien, und sie sahen sich sogar in Kontinuitätszwänge gespannt, welche ihnen die großen Fassaden oktroyierten - hinter denen sie dann aber doch für das Volk bald nurmehr kleinere Wohnungen bauen konnten. Sobald diese Legitimationsängste und -zwänge weggefallen, die Bürger sich ihrer selbst bewusst geworden sind, muss man da nicht beginnen, das Volk „ernst zu nehmen"? Geschieht es in jakobinischer Größe? Setzt da nicht die klare Entwicklung ein „hin zum Bürger", zu seiner Fraktionierung in Basisnähe, also in Richtung

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auf „immer mehr Kleinheit"? Der Personalismus wollte in der Demokratie in den Anfängen groß sein, ja geradezu die Triumphe der früheren goldschimmernden objektiven Großstaatlichkeit weiterfeiern. Doch nun wird er „ganz konkret", der Volkssouverän geradezu physisch fassbar, der wahre Demokrat kann mit den alten Jakobinern sagen, dass er und seine Freunde „das Volk seien", heute in der kleinen Stadtviertelversammlung wie einst auf den wenigen Rängen der Montagne; und noch immer kapitulieren vor ihm selbst die bewaffneten Mächte demokratischer Staatlichkeit. Diese nahezu schicksalhaft vorgezeichnete Entwicklung zu „immer mehr Demokratie" - trägt sie dann aber nicht zur Fraktionierung der Souveränität in durchgehender Personalisierung, in beidem zur Antimonumentalität par excellence? Oder könnte ein Monument mit den erzenen Zungen seiner einzelnen Teile sprechen? Wenn der bereits beschriebene kleine Verteilungs- und Fluchtbürger „der Staat ist", geradezu in Fleisch und Blut, im Sinne einer hier salvo respectu ins Weltliche übertragenen sakramentalen Transsubstantiationslehre, wenn er also nicht nur „den Staat bedeutet", weil man über ihn an jenen glaubt - wie könnte dann diese Staatlichkeit so groß sein wie ein Gott, von dem doch nie alle glauben mochten, dass er sich in eine Hostie fassen lasse? Liegt es nicht in der letzten Konsequenz der Demokratie, dass sie geradezu antritt „gegen den Staat als solchen", dass sie an einen Gegensatz glaubt zwischen Staat und Volksherrschaft, jenen zumindest in diese völlig auflösen möchte? Ein solches „Staatsende in Demokratie", wie es verschwommen sicher vielen Demokraten vorschwebt - muss es nicht, und nun wirklich ganz grundsätzlich, aus einer wahren Staatslehre heraus, zuallererst das Ende der Staatsgröße bedeuten? Wenn Demokratie dies zu ihrem Wesen rechnen kann, so findet hier etwas statt wie eine qualitative Entmonumentalisierung der Staatsgröße, weil die Staatlichkeit eben „ihrem Wesen nach" nicht mehr in Größe gedacht werden darf, sondern nurmehr in der Kleinheit der völkischen Kategorien und ihrer Bürger.

2. Der Mehrheitsstaat die quantitative Entmonumentalisierung In der Volksherrschaft ist Mehrheit überall, in ihrer Theorie und allseitigen Praxis, als Legitimation und Endzielvorstellung. In dem Begriff liegt die globale Kraft des Instrumentalen wie der Teleologie, der Wesensbeschreibung ebenso wohl wie der Staatsmoral.

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a) Mehrheit - das „ kleinere Volk " Mehrheit bedeutet die „größere Zahl" - und doch liegt in ihr, paradox mag es scheinen, etwas wesentlich Reduzierendes: Sie will nicht klein sein, ist aber doch kleiner als das Ganze, welches sie repräsentiert. Feine Unterschiede werden sichtbar zwischen der „Größe" und dem „Größeren" im politischen Raum: Nicht umsonst war hier immer wieder von der Monumentalität die Rede, von etwas wie der „Größe an sich", einer besonderen Erscheinung, die in ihrer Bedeutung außer sich nichts Größeres mehr gedanklich zulässt, also auch, als solche, vielleicht größer, nicht aber kleiner werden kann, im Kern stets „einfach groß" ist. Diese Staatsgröße der Dimensionalität ist dem Mehrheitsgedanken fremd. Die Majorität kann größer und kleiner werden, sie ist wirksam, auch wenn sie so knapp ausfällt, dass man sich hinter der einen Stimme eher verschämt versteckt, als hier Größe vorzuzeigen. Mehrheit - das ist ein Ereignis, ein Zufall so häufig, nicht eine gedankliche politische Dimension. Sie kann, so scheint es doch, in Staatsgröße hineintreiben, wenn sie groß wird, massiv bleibt; doch zu Größe fehlt ihr meist, wenn nicht immer, die Sicherheit des Zusammenkommens, die Ruhe des Vorgedachten oder doch Vorauszudenkenden. In der monumentalen Staatsgröße ist stets etwas von dem rocher de bronze eben doch mitgedacht, bei aller Dynamisierung, der im Letzten jedenfalls nicht aufgebrochen werden darf, weil sonst das Monument stürzen würde. Mehrheit aber bedeutet immer nur den Teil, vielleicht das Zusammenkommen unterschiedlicher Teile. Auch darin mag sich Größe zeigen, wie sie in jenen Ruinen zu bewundern ist, welche Dimensionen zeigen, die sich mit Gedanken ausfüllen lassen. Dies wirkt nicht gegen Größe, denn kleinere Teile, die Arme des Laokoon, liegen nicht daneben, abgeschlagen; die Ruine ist nicht das Größere, sondern eben doch, im Geist des Betrachters, das Große, stets zu ihm ergänzt. Mehrheit, wenn dieser Vergleich erlaubt ist, strebt wohl auch zu solcher Gesamtheits-Legitimation der Größe, in der Gleichsetzung von Willen der Mehrheit und allgemeinem Willen wird sie tagtäglich in Demokratien versucht. Doch diese zerbrechen eben doch immer wieder in Mehrheiten, nicht in große Staats-Ruinen. Hier sind und bleiben Teilungen und Teile, größere durchaus, aber nicht das große Ganze. Und so wird es sprachlich selbst dann und noch deutlicher gefühlt, wenn von diesem „größeren Ganzen" gesprochen wird, der Mehrheit also selbst das Beiwort des „Größeren" versagt bleibt. Das Monumentale duldet schließlich an sich kein Gegenmonument. In der klassischen Demokratiekonzeption Englands sollte die Opposition Seiner Majestät zwar noch ein solches sein, ihre monumentale Weihe erhielt sie aus dem, wenn auch immer mehr gedachten, Mandat des Fürsten, des großen Staatsmonuments. Doch nun, in der dynamisch fluktuierenden Volksherrschaft, verkleinern sich in ihr der Volksstaat und seine Souveränität sozusagen immer noch weiter, hier werden Aufgaben der großen Souveränität von Kleineren gegen Größere wahrgenommen, Teilung findet statt, mehr noch: ein Herabschaukeln der Staatsgröße in die Diskus-

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sion hinein. Diskussion aber als Form der Staatsmonumentalität - nicht leicht ist dies jedenfalls zu Ende zu denken.

b) Kompromiss - die kleinste Lösung als das Gemeinsame Mehrheiten bilden sich im Konsens, sie wirken fast ausschließlich durch ihn, im Kompromiss. Die Vorstellung von der originären Kompaktheit der Mehrheit, die sich vor den Wahlen schon bildet, deren Perioden durchhält und dann, wie in einem politischen Wunder, in der nächsten Wahl, im Machtwechsel, zerfällt, all dies hat die demokratische Praxis längst als Legende entlarvt. Mehrheit ist selbst und ganz wesentlich Kompromiss, bevor sie ihren Willen nach außen trägt, findet die, oft schweigende, Grundsatzdiskussion statt, der mehrheitskonstituierende prinzipielle Ausgleich der Grundrichtungen. Wenn so aber Kompromiss alles ist in der Demokratie, welche sich darin von Größerem oder gar vom Überdruck laufend entlastet, so ist das Gesetz des gemeinsamen Nenners ernst zu nehmen, die berüchtigte Tendenz der Volksherrschaft zu den „kleinen Lösungen", über die allein der Kompromiss sich finden lässt, ist ein Wesenszug dieser Staatsform. Ihr gerade soll nun bescheinigt werden, dass sie zu Größerem unterwegs sei, mit ihren immer kleineren Nennern? Kompromiss als große Lösung, der ganz große laufende Kompromiss aller als Staatsgröße - wäre dies nachvollziehbar? Widerspricht es nicht auch der täglichen praktischen Erfahrung in Gesetzgebung und Verwaltung, wo die Normen zwar immer weiter werden, darin aber stets nur noch inhaltsschwächer, wie die Verwaltung zwar häufig immer noch weiter ausholt, um wenigstens irgend etwas doch zu bewirken, aber in einer dem eingesetzten Apparat immer weniger entsprechenden Kleinheit? Nun muss der Einwand der Freiheit kommen. Sie hat die Größe der Demokratie stets getragen, in welcher jedermann mithilft, Staatsgröße aus Integration erwächst. Doch die Gegenthese lässt sich, wiederum aus der Praxis, gleichfalls belegen: Da für jeden Teilnehmer an solcher Anstrengung eben, so will es doch der Kompromiss, „etwas abfallen soll", droht stets jener Zerfallsprozess der großen Lösungen. Ständig wird er in den Finanzen des Staates erlebt: Immer von neuem wird der große, wahrhaft staatliche Anlauf zu ihrer globalen Sanierung für heute und morgen unternommen, stets von neuem zerbrechen die Großlösungen in den Wahlgeschenken politischer Kompromisse. Der Kompromiss - sollte man ihn nicht in der Volksherrschaft definieren als die große Kraft zu den kleinen Lösungen? Ist diese Untersuchung aber nicht auf der Suche gerade nach dem Gegenteil - nach den großen Staatslösungen, die als solche, aus ihrer Konzeption heraus, dem Staat Kraft geben können? Verleiht nicht ein Denken in weiten Staatsdimensionen an sich schon Mächtigkeit, indem es auch kleine Lösungen in die Sonne der Gipfel hinaufhebt?

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c) Diskutabilität - Zerreden des Großen Die Mehrheit ist mit ihren Kompromissen schon gewissermaßen äußerlich klein, auf kleine Lösungen hin sich bewegend; doch diese bescheidene Dimensionalität liegt sie nicht bereits tief in ihrem Inneren, in einer Prekarietät der Schwäche, welche gewollt ist, Stärke aus ständiger Zerbrechlichkeit gewinnen will? Gar nicht zu oft kann das Stirnwort über dem Eingang zum Volkstempel wiederholt werden: Si nous ne sommes pas discutables, nous ne sommes pas vrais - der Standort, der Sockel dieser Staatsform ist die Diskutabilität; und darauf nun soll ein Standbild errichtet werden? Wenn man das Staats-Bild der Größe unvermittelt dieser wahrhaft „ganz anderen" Diskutabilität der Demokratie gegenüberstellt, was erstrebt dann die Volksherrschaft mit ihrem in Kritik zerbrechenden Monument, ihrem Kartenhaus der Abstimmungszettel? Gibt es kritisierte und kritikable Monumente, müssen sie nicht sogleich gestürzt werden, wenn man zu ihnen nicht mehr in Bewunderung hinaufblickt? In ihnen liegt doch, bei aller Dynamik, eine gewisse Festigkeit, welche die ständig sich aufblasende und wieder kleiner werdende Volksherrschaft nicht kennen darf. So jedenfalls atmen Monumente nicht, gerade nicht solche der Staatsgröße. Diskussion findet wohl in Räumen statt, aus deren Größe mag sie zuzeiten auch eine gewisse eigene Dimension gewinnen, und nicht umsonst haben Demokraten ihren Volksversammlungen stets besonders weihevolle Räume gewidmet, vielleicht in der Sorge, dass sonst nurmehr kleines Gezänk bleibe. Doch Diskutabilität - bedeutet sie an sich eine Dimension? Vielleicht doch, mag man einwenden, eben in der unbeschränkten Weite der zulässigen und auch immer wieder aus allen Richtungen angezogenen Argumente. Nicht in allem scheint also Diskutabilität gegen Größe gerichtet, wohl aber in jener Systematik, in welcher sie, in der Volksherrschaft, gerade gegen alle großen Lösungen eingesetzt ist. In der Demokratie wird ja geradezu das Prinzip sichtbar: Je größer eine Lösung geworden ist oder zu werden scheint, desto rascher, vollständiger muss sie kritisiert und sodann gestürzt werden, die Zeiten des Miltiades, des Themistokles, des Ostrakismus sind dauernde demokratische Gegenwart. Dem kann sich der Politiker der Gegenwart nur dadurch entziehen, dass er kleiner bleibt als jene über die Demokratie hinauswachsenden Personal-Monumente der Vergangenheit. Kleinheit wird in der Volksherrschaft geradezu fleißig gesucht, mit all der Bescheidenheit, die in diesem Worte liegt, als Ersatz für den großen Schwung und Schlag, damit die Kritik das Werk nicht finde oder so spät, dass es schon zur vollendeten Tatsache geworden ist; und diese kann dann ihrem Wesen nach nie allzu groß werden. Wenn aber schon Dialektik, warum sollte dann nicht auch darin etwas Gutes, vielleicht besonders Großes gesehen werden: Wenn man sich einstellen könnte auf etwas wie eine „kurzlebige Monumentalität", ein „Monument im Augenblicklichen" - warum sollte es dies nicht gegeben haben und immer weiter geben, sieht man es nur mit den richtigen Augen? Waren nicht die größten Staatserhebungen

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solche eines Augenblicks, stets doch in napoleonischer Monumentalität ihren raschen Zusammenbruch überdauernd? Bleibt nicht in der hoch aufschäumenden Kritik, welche den ganz großen Staatsgedanken hinwegspült, eben doch etwas von der Vision einer solchen Grundwelle zurück, an der sich alles Künftige ausrichtet, ja begeistert - an dieser klassischen, großen Diskussion? Vielleicht sollte man dies doch einmal - stehen lassen.

3. Die Macht der Kleineren - kleine Macht? Der Kommunismus hat in der Diktatur des Proletariats aus dem ganz Kleinen etwas ganz Staats-Großes aufbauen wollen, und es ist ihm gelungen. In der Idee einer wahrhaft monumentalen Staatsgröße ist das menschliche und politische quasi-Nullum der bisher gewichtlosen Massen zur Monumentalität emporgeschweisst worden - und dann gefallen. Dies sind nicht die Erfahrungen und auch gar nicht die Zielsetzungen der siegreichen westlichen Demokratien. Ihr Bürger wird stets als etwas Kleineres gedacht, wenn nicht als das Kleine an sich; in diesem Begriff liegt nicht die Größe; sonst hätte man nicht den Großbürger dem politischen Bürger entgegenstellen müssen, der Gegensatz von Bourgeois und Bürger ist im Letzten für Demokraten ein Dogma, weil sie ihren Bürger nur zu oft zum Symbol des Kleinen erheben. Daran ändert auch die Weihe, das Pathos wenig, mit dem nun „Bürger" in allem Demokratischen umgeben wird - es ist vielmehr, als solle hier mit großen Worten eine bescheidene Wirklichkeit geschmückt und als solche verehrt werden, damit sie klein bleibe, ja nicht zum Träger einer Staatsmonumentalität werde. Die Mehrheit der Bürgerschaft besteht mit Sicherheit nicht aus großen Persönlichkeiten, sondern aus, wie immer im Einzelnen definierten, „kleinen Leuten"; ihr Konsens muss überall gesucht werden, und dies gilt bis in die politische Elite hinein, welche sich wenigstens so verhält, wenn sie auch im Grunde anders denken sollte. Für alle ist es selbstverständlich, dass sie eher verkleinern in Verteilung, in allen politischen Entscheidungen; ob nun für sie persönlich etwas sich in Verteilung ergibt oder nicht - die kleinere Dimension führt weit über die kleinen eigenen Interessen hinaus. Solche Tendenzen reichen bis in die Gestaltung der Macht hinein. Nur folgerichtig war es schon in der attischen Demokratie, dass immer kürzere Amtszeiten, insbesondere militärische Befehlsgewalten, vergeben wurden, beschränkt geradezu auf einzelne Unternehmen. Den Machtwechsel sieht die Demokratie und ihre Mehrheit ja nicht nur als eine mehr oder weniger entfernte Möglichkeit, im Grundsatz, und auch in der Praxis immer mehr, wird er als solcher erstrebt und begrüßt, und eigentlich sollte er rasch, jedenfalls nach nicht allzu langen Machtperioden eintreten. Die Länge der Amtsausübung, im gewissen Sinne sicher ein Phänomen der großen Staatsmacht, wird von zunehmendem Misstrauen der Bürger begleitet eben weil sie nicht groß sind, nicht groß zu denken vermögen.

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Diese innere Verkleinerung der Macht schreitet auch dann fort, wenn heute in zunehmendem Maße eine politische Technikerklasse, ja fast schon eine Kaste, sich etablieren kann, weil sie gebraucht wird, gerade auch zu längerer Tätigkeit. Dann aber müssen eben die Aufgabenbereiche getauscht werden, nicht etwa primär damit die Verantwortlichen mehr Erfahrung sammeln, sondern in erster Linie zur höheren Ehre einer verkleinerten Macht, die nicht auf allzu lange Zeit besessen wird, weil sie nicht ersessen werden darf. Etwas davon schwingt, machtpolitisch, in jedem Kabinettswechsel mit, mag es sich auch, angenehm für den Regierungschef, mit dem ersten Gesetz aller Personalpolitik verbinden: dass da niemand sei, der einen Schatten werfe. In all dem wirken eben nicht nur Mechanismen der Machttechnik, des Machtverschleißes, sondern auch, und nicht zuletzt, das Misstrauen der vielen „Kleinen", das ja in deren gesteigertem Selbstbewusstsein zu etwas wie Größe emporwachsen wird. Die politische Öffentlichkeit vollendet diese innere Machtverkleinerung auf eigentümliche Weise, obwohl sie eigentlich gerade die größere, die gedanklich unbeschränkte Dimension der Staatlichkeit eröffnen sollte. In Wahrheit vollzieht sich nur zu oft das Umgekehrte: Die größeren Lösungen werden im Zusammenreden der vielen Kleinen, aus allen erwarteten und unerwarteten, immer aber bescheidenen Ecken, im Ganzen stets nur noch kleiner. Was an Größerem durchgesetzt werden soll, muss politisch irgendwie „verpackt", also verborgen werden - „Verpackung der Monumente" ist keine künstlerische Einmaligkeit, sondern ein laufender politischer Vorgang; doch sie soll eben nicht in die Augen fallen. Nicht die innere Größe ist gefragt, sondern geradezu die verborgene - und sie muss nun wirklich ihre verhüllenden Grenzen rasch finden. Staatsgewalten mag es geben, die sich hier die List der Vernunft zunutze machen, Großes hervorbringen, gerade indem sie sich selbst vor den Augen der kleinen Bürger verkleinern. Die Stärke der Verwaltung, der schweigenden Macht, ist dies immer gewesen, und daher muss sich ihre Bürgernähe in engen Grenzen halten. Hier mögen die Träger in ihren Amtsstuben klein bleiben, dennoch bringen sie, wie mit einem Male, etwas oft wahrhaft Großes hervor, in Bauten und Planungen, ja in Kulturkonzepten, welche sich, wie aus ihrer Kleinheit heraus, zu einer gewissen Größe selbst zu befreien scheinen. Sicher werden diese Betrachtungen zu unterscheiden haben zwischen der großen Organisation und der großen Lösung der Staatlichkeit, welche nicht immer zusammenfallen. Eine gewisse Nähe beider Phänomene der Staatsgröße - aber eben auch der Staatskleinheit zeigt jedoch gerade dieses Verwaltungsbeispiel: Ist nicht die Administration, in staatsgrundsätzlicher Betrachtung, nur zu oft das „wesentlich Nicht-Große", eine Art von heterogenem Restbestand anderer, viel eher groß erscheinender Gewalten, eine kombinierte Mächtigkeit, die noch nicht einmal zu ihrer Einheit als Staatsgewalt gefunden hat? In ihr werden eben auch, und nur zu oft, auf die zahllosen Anfragen die kleinen Antworten gegeben, und in ihr ist vor allem der kleine Bürger auch tätig als der kleine Beamte und Angestellte. Legitim strebt er hier zuallererst gerade nach sei-

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nem kleinen eigenen Vorteil, ihm muss sich immer wieder die große Staatsmaschine, die große Lösung unterordnen. Sicher - es kommt an auf die große Gestaltung, nicht auf die großen Fassaden; blickt aber durch ihre Fenster nur der „kleine" Bürger und Staatsdiener - wo sollte da etwas sichtbar werden vom Monumentalstaat?

VII. Zusammenfassung: Die demokratischen Wege in die kleine Staatlichkeit Monumentalstaatlichkeit ist sicher nicht das offene, bewusste Ziel heutiger Staatlichkeit. In der Demokratie, wenn auch längst nicht nur über ihre Mechanismen, zeigt sich, ganz umgekehrt, ein Verkleinerungsstreben, welches sich unschwer geradezu in eine geschlossene Systematik zusammensehen lässt. Es verneint alle jene Kategorien, die als wesentlich für Staatsgröße erkannt wurden. Vor dem Versuche nun, die Gegenposition zu begründen, gerade etwas wie notwendige demokratische Staatsgröße zu zeichnen, ihre Gesetzesmäßigkeit zu erweisen, ihre Möglichkeit gerade in der Ambivalenz der hier vertieften Gegenargumente herauszustellen, sollen diese Letzteren hier nochmals zusammengefasst werden, damit alles deutlich werde, was heute einem Denken in Kategorien der Staatsgröße im Wege steht. Und hier zeigen sich geradezu gewisse Stufen der Entwicklung politischer Anti-Monumentalität:

1. Die Wandlung aller Qualität in Quantität Quantifizierung entwickelt sich immer mehr zum Grundprinzip der Staatlichkeit, gerade in der parlamentarischen Demokratie. Ihre Macht wird geteilt und kombiniert, insgesamt also mehr und mehr fass- und austauschbar - quantifiziert. Die Bausteine der Macht werden nicht sogleich wie durch einen steinernen Mörtel zum größeren Block verbunden, vielmehr bleiben sie austauschbar, personell und organisatorisch, dies ist das Ideal des Staatsaufbaus. Bekannte Formen der „Machttechnisierung", welche immer mehr sogar den Raum der klassischen Demokratien überschreiten, tragen in dieselbe Richtung. Da werden Gewaltenteilungen vorgenommen, die Rechtsstaatlichkeit schärft den Blick für die einzelne Machtäußerung und sucht nach deren spezieller Grundlage, die Verwaltung wird nicht zu einer qualitativ eigenständigen Gewalt zusammengefasst, sondern immer mehr in ein Bündel dünnerer, zählbarer Machtspäne geteilt. Qualitativen Unterschieden will man hier sicher in vielem immer noch Rechnung tragen, gerade in der klassischen Gewaltenteilung an der Spitze des Staates; aber eben weil diese Teilungen auch wieder das Zusammenspiel verlangen, die Gewaltenverklammerung bereits bedeutsamer erscheint als die Gewaltenteilung, tritt

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doch der Aspekt der Gewaltentrennung, im Sinne der quantitativen Teilung einer einheitlichen Gewalt, immer stärker in Erscheinung. Die Betrachtungsweisen von Parlament und Verfassungsgericht, beim Gesetzeserlass und in der Gesetzesbeurteilung, sind sicher qualitativ noch immer unterschiedlich, und doch gleichen sich die Überlegungen und Prüfungsmethoden immer stärker an; das Parlament führt gerichtsverhandlungsähnliche Anhörungen durch, das Verfassungsgericht nimmt - um es vorsichtig zu sagen - vor seinen Entscheidungen jedenfalls die politischen Meinungen zur Kenntnis, welche auch das Parlament beherrschen. Von einer gleichartigen Mehrphasigkeit des Gesetzgebungsvorgangs ist man noch entfernt, doch die Entwicklung nähert sich ihr, indem sie gewisse Gleichartigkeiten herstellt - Ausgangspunkte machtmäßiger Quantifizierung. Die Ökonomisierung der modernen Staatsmacht, von ihrem Haushaltsprimat über die immer staatszentralere Rechnungskontrolle bis hin zu einem Servicedenken, zu seiner privatwirtschaftlichen Imput-Output-Betrachtung, lässt am Ende alles jedenfalls monetär als teilbar erscheinen, bis auf Mark und Pfennig. Von den früheren Zentralbereichen der hohen Politik waren einige, jedenfalls der Idee nach, nicht vergleichbar quantifizierbar - die Militär-, die Außen- und im Inneren die Kirchenpolitik. Das Vordringen der Wirtschaftspolitik in die Spitze der Staatsentscheidungen bringt dagegen, schon über die Verschiebbarkeit der Haushaltstitel, eine Grundstimmung der Quantifizierung hervor, welche größere, in Zahlen nicht fassbare Zusammenhänge verdämmern lässt. All diese und andere in Staatstechnik die Macht auflösende Tendenzen wirken, mit zusammengefasster Kraft, gegen die Monumentalität des Staates, die letztlich beides braucht: Quantität und Qualität, für die insbesondere auch der umgekehrte Weg wesentlich wäre - von der Quantität eben doch, im typisch rechtlichen Kategorienumschlag, in die höhere, die monumentale Qualität hinein. Größe als das „ganz andere" hat immer die Theologie beherrscht, aus der Gottesidee heraus. In einem von ihr geprägten Denken ist es gerade das „ganz andere", das vielleicht nicht die erste, wohl aber die letzte Größe gibt. Dies also mag als der erste Schritt der hochentwickelten Demokratie erscheinen: die grundsätzliche, die potentiell totale Quantifizierung der Staatsmacht, vielleicht nicht mit einer Notwendigkeit, wohl aber einer Möglichkeit und mächtigen Versuchung zum Kleinen. Eine Theorie der Demokratie als einer quantifizierbaren, weil eben alles und vor allem die eigene Macht quantifizierenden Staatsform kann hier nicht entwickelt werden; sie müsste vor allem auch die entideologisierende Kraft der Staatstechnik einbeziehen, welche keine Regierungsform so beherrscht wie diese. Hier genügt die Feststellung, dass die „reine Quantität", jedenfalls im Politischen, etwas in sich zu tragen scheint vom an sich Unmonumentalen.

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2. Die progressiven Teilungen - Monadologie der Macht Die Quantifizierung der Macht der staatstechnisierten Volksherrschaft bringt deren Teilbarkeit, und sie ist virtuell unendlich. Diese immer kleineren Räume gilt es zu besetzen, die Verfeinerungsmöglichkeiten zu nutzen, in einer Organisations-Mikroskopie, welche nicht nur immer Kleineres entdeckt, sondern sich geradezu eine Teilungs-Dimension erschließt - die Antithese zu der des Monumentalstaates. Die ökonomisierte Staatsmacht ist teilbar bis in die Mark hinein, die Rechnungshofkontrollen müssen ihre Wirtschaftlichkeit bis in die Pfennige vertiefen und leisten dies eindrucksvoll. Die kleinen Quanten und Ersparnisse des Staates setzen Beispiele, so heißt es, in Wahrheit aber wird hier die Staatlichkeit so klein wie ihr kleinster Haushaltsansatz, und die Person ihrer Bürger. Diese Bürgerschaft wiederum wird teilbar bis zum Einzelnen hin, bis in eine Kleinheiten-Ordnung, die als solche keinen Machtausschlag mehr bewirkt, von der nun wirklich, mit Montesquieu, gesagt werden könnte, sie sei en quelque façon nulle, ohne jedes Machtgewicht eben. Die Machtäußerungen des Staates selbst werden in der Rechtsstaatlichkeit teilbar bis zum Einzelbefehl, bis zu jenem kleineren und kleinsten Verwaltungsakt, welcher geradezu als der einzige ideale juristische Betrachtungsgegenstand des öffentlichen Rechts erscheint. Dies allein sind eben Erscheinungsformen der Macht, die noch sichtbar sind oft „gerade noch" - rechtlich existiert nur ihre ganz kleine Dimension und ein globaler ,3eziehungspunkt Staatsgewalt", der aber als Macht vom öffentlichen Recht nicht zur Kenntnis genommen wird. Aus all dem lässt sich wohl geradezu eine Theorie der staatsrechtlichen Monadologie entwickeln, welche den Atomisierungen der politischen Macht nachgehen müsste, ihrer eifrigen Suche nach dem immer noch klein und kleiner Werdenden. Es ist fast, als sollte darin, nach physikalischen Gesetzen, die ganz große Kraftquelle gefunden werden, nicht im Großen, Monumentalen; ob aber die Machtwirkung der kleinen Staatsäußerung wirklich die Energien des physikalisch absolut Kleinen freisetzen kann? Immerhin - etwas wie ein staatsrechtliches „vom Monument zum Atom" lässt sich allenthalben erkennen. Da ist der Zug zur verkleinernden Selbstverwaltung, die sich in immer engere Kreise hinein fortsetzt; da beobachtet man die Aufspaltung von früher mächtigen Zwischengewalten, jener Corps intermédiaires, die einst in staatsähnlicher Monumentalität der Staatsgewalt gegenübertraten, nun aber von dieser bereits kleiner gemacht werden, bis dann in sie noch die Sprengkräfte innerer Demokratizität getragen werden; da lässt sich die Aufspaltung der Familieneinheit verfolgen, vom Staat zum Teil gewiss nur hingenommen, aber auch immer wieder gefördert, wie neueste Diskussionen zeigen; da wird die Unterteilung der irgendwie doch als etwas Großes erscheinenden einheitlichen Bürgerfreiheit in

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vielfache Freiheitsaspekte erlebt, jedenfalls das Bemühen des Staates, deren Integration entgegenzutreten; und schließlich wird auch noch die einzelne Bürgerfreiheit in Aspekte und Funktionen gegliedert, wie es etwa die Eigentumslehre versucht. In all dem liegen nicht nur Spaltungen der Machteinheit, solche Aufteilungstendenzen reichen, in immer stärkerer Dynamik, in die Gesellschaft hinein, sie erfassen den Einzelmenschen und teilen auch noch seine Persönlichkeit, aus der Sicht des Staates. In dieser wenn nicht Macht-, so doch Kräfteteilung bewährt sich nun wirklich etwas wie die Einheit von Staat und Gesellschaft, in einer Bewegung, die weit mehr noch aus dem Politischen heraus sich in den sozialen Bereich hinein entlädt als umgekehrt, mag diese Teilungskraft dort auch zuerst in Kryptovorgängen aus der Gesellschaft heraus aufgeladen worden sein. Am Ende stehen dann Versuche einer geradezu politischen Kernspaltung, der Auflösung aller Herrschaft durch deren immer weitere Unterteilung, objektiv in kaum noch machtmäßig erfassbare, in ihrer Dimension geradezu schon als privat erscheinende Entscheidungsgegenstände - „die Verwaltung beschäftigt sich mit allem, insbesondere mit dem Kleinsten" - aber auch subjektiv, in der Staats-BürgerZusammenarbeit, wie im kompromissschaffenden, willensauflösenden Teamwork in den Administrationen. Staatsorganisatorisch erscheint dies modellhaft vorgedacht, freiheitsrechtlich soll dann, im Geiste vieler, diese Machtvernichtung vollendet werden: überall Erfindung neuer Einzelfreiheiten, die bis in den Staat hineingetragen werden, vom Recht auf staatliches Verfahren bis zu einem solchen auf eine bestimmte Staatsorganisation. Überall soll der Einzelne die Staatsgewalt sich zurechtschneiden können, nicht nach seinem Bild und Gleichnis, sondern nach dem seiner kleinen, immer kleineren, aber zahlreicheren Freiheiten. Vor dem Bürger selbst, dem Träger der so in Kleinheit verschwindenden Gewalt, macht die Entwicklung nicht Halt. Seine in alter Liberalität mächtige, große Gestalt wird zerteilt, atomisiert geradezu in einzelne Funktionen, nur in ihnen sieht ihn das Staatsrecht und nimmt ihn zur Kenntnis, vom Wahl- und Abstimmungsbürger bis zum Steuerbürger; man hat die Verbindung des Begriffes „Staat" mit anderen Begrifflichkeiten kritisiert, nicht zu Unrecht vielleicht in dem Sinne, dass damit die Staatsgröße auch kleiner werden könnte. Mit wie viel größerer Sorge müsste man hier nun blicken auf die bereits eingeführte Relativierung des Begriffs des einen, großen Bürgers, in seiner Verbindung mit staatsfunktionalen Begriffsmonaden! Nirgends bleibt also auf dem Felde des Staatsrechts, so scheint es doch, eine größere Kategorie noch zurück - wie sollte sich auf ihm da ein emporragendes Monument erheben können, nach diesem zweiten demokratischen Schritt, der in seinen Verkleinerungen nie zu Ende getan werden kann?

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3. Die Aufhebung der Kategorie „Größe" Und dies ist dann, ganz natürlich, der dritte, letzte Schritt: Größe als Kategorie verschwindet aus dem Staat. Nicht nur der entscheidend legitimierende, sondern der letztlich einzige Bezugs- und Definitionspunkt der Staatlichkeit - dahin könnte man dies alles hochrechnen - ist das „politisch möglichst Kleine", gerade nicht das Große. Die Staatlichkeit lebt, ist überhaupt nur erkennbar aus dem kleinen Bürger, der minimierten Gewalt. So kann es dann allenfalls das „Größere" als ihren Begriff geben, nicht „das Große". In dieser Formulierung des „Größeren" liegt nicht nur politische Vorsicht vor den Blicken der unzähligen Kleinen, sondern auch der Zug zur Staatskleinheit, zur immer weiteren Reduktion der Staatlichkeit, bis dass die Kategorie der Größe selbst aufgehoben erscheint. Dagegen setzt die Lehre vom Monumentalstaat das Große gerade als Legitimation und als Blickpunkt ihrer Definition. Daher wird aus dieser Sicht stets vom „Kleineren" zu sprechen sein, nicht vom Kleinen, dessen der Staat in seinen Entscheidungen nie mächtig sein darf, in der ganzen paradoxen Bedeutung dieser Formulierung. Und in monumentalstaatlicher Betrachtungsweise wird damit nicht nur die Kategorie „Größe" an die Spitze gestellt, es wird auch der Zug zum Größeren deutlich. Man lasse sich nicht täuschen: Hier liegen These und Antithese von einer geradezu ideologischen Gegensätzlichkeit: Einerseits wird behauptet, Größe sei von Übel, in allem und jedem, in der Entscheidung wie in der Organisation, schon weil nicht alle an ihr teilhaben könnten. Ihr wird der Argwohn entgegengesetzt, sie könnte bis ins Transpersonale hineinreichen, den „kleinen Bürger" unter sich vergessen. Im Letzten steht hinter dieser radikalen Leugnung der Größenkategorie ein ebenso radikaler und konkreter Personalismus, der dem allem seine „menschliche Weihe" geben soll; es liegt darin schon etwas wie geradezu eine Vergötterung des Einzelmenschen, eine letzte Stufe aufklärerischen Denkens. Staatsgröße soll also nicht etwa kleiner geschnitten werden, sie darf überhaupt nicht sein. Da alle staatlichen Lösungen nach dem Bild und Gleichnis des Einzelnen zu schaffen sind, können sie allenfalls um ein Weniges größer geraten als er, noch seinen Nächsten einbeziehen. Die Dimension einer Größe an sich muss ihnen unbekannt bleiben.

4. Leugnung der Reichsidee, der imperialen Kategorien Aus der Vorstellung dieser personalistischen Bürgerkleinheit und ihres Staates heraus kann es nichts geben, was als Wesen des Imperialen erschiene. Da Kraft und Macht ignoriert werden, gibt es hier nichts zu triumphieren, dies würde ja den großen Erfolg aus Mächtigkeit voraussetzen - es bleibt nur das Genießen, die Feststimmungen allenfalls, in denen sich der auslaufende Triumphzug verliert. Trium-

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phalismus ist groß gedacht, seine Straße führt zum Staatsmonument, zum kapitolinischen Tempel; gibt es ihn nicht, so mag sich allenfalls ein Bacchantenzug formieren. Das Volk übernimmt nichts, denn es weiß schon alles, jedenfalls all das Kleine, das die Personen seiner Bürger betrifft, über sie nicht hinausgeht. Staatsrenaissancen also sind nicht erforderlich, ja von Übel. Die Zeit steht still. Es gibt nicht die großen Krankheiten, auf welche das große Erwachen der Wiedergeburt folgt, der kleine Bürger ist zufrieden mit seiner kleinen Gesundheit, die er als dauernde wünscht. Großes gibt es auch gar nicht zu bauen - Größe ist von Übel, der Raum überhaupt erschreckt, von solchen Kategorien gleitet der Blick ab. Das Reich ist in Kleinheit eliminiert, Pazifismus herrscht an allen Fronten, an die Stelle der Begeisterung tritt die Freude, doch nicht als Götterfunke. Ein Zerrbild heutiger Gesellschaft und ihrer Staatlichkeit? Nein, eine Staatstheorie - ist es wirklich die der Demokratie, gestern und heute?

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße I. Bedeutende Staatsdimension - eine gegenwärtige Notwendigkeit für die Staatsgewalt an sich 1. Monumentalstaatlichkeit - die notwendige Antithese zur Staatskleinheit Eine Vorbemerkung jenseits von allem demokratischen Zug zur Staatsgröße: Die These vom „kleinen Bürger im kleinen Staat" ruft schon in ihrer Radikalität die Antithese auf den Plan, und ganz grundsätzlich. „Irgendwie" ist die Staatlichkeit stets, in ihrer ganzen geistigen Entwicklung, als nicht nur das Größere, sondern als das Andere gegenüber dem Bürger stets gedacht worden. Es wäre schon eine kopernikanische Wendung, wollten Menschen nun den Staat ganz nach ihrem Bild und Gleichnis formen. Was im Religiösen nicht gelungen ist, soll es hier Wirklichkeit werden? Die These von der Staatsverkleinerung, der Reduzierung staatlicher Größenordnungen mit Zug zur Aufhebung der Größenkategorie als solcher, ist nicht einmal an sich voll plausibel. Nach ihr müsste im Grunde der Staat überhaupt eliminiert werden, ihre Konsequenz kann nur das Absterben aller Staatlichkeit sein; soweit sie sich nicht als kommunistische Staatstheorie versteht, ist sie in sich schon nicht folgerichtig. Alle Gedanken über den Staat als das „höhere Sein" müssten vergessen werden, ganze Bibliotheken deutscher Staatsphilosophie wären zu begraben, und nicht nur Hegel. Vor allem aber bliebe, gerade angesichts der unbestreitbaren Kleinheit des heutigen Massenbürgers und wie in Antithese zu ihr, eine tägliche Praxis unerklärlich, die den Staat durchaus und in all seinen Erscheinungsformen als das Größere annimmt und wirken lässt. Der kleine Bürger selbst aber wäre schließlich in seinem Vertrauen getäuscht, in welchem er doch immer häufiger hilfesuchend auf den Staat blickt - eben gerade nicht als seinesgleichen, sondern als den Nothelfer, der mit „großen Lösungen" eingreift - die stets erneute Diskussion über Konjunkturprogramme und Arbeitsplatzschaffung zeigen es: Man sucht den Staat in der großen Lösung, der nicht kleckert, sondern klotzt, der mit seinen ökonomischen Panzerspitzen Fronten durchbricht, die in wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeit erstarrt zu sein scheinen. Und eine weitere Angst schließlich kann die kleine Bürger-Staatlichkeit nicht bannen, die in Zeiten des steigenden Sicherheitsbedürfnisses der kleiner Gewordenen fast jedermann beschleicht: Ein Ende in Anarchie ist unausweichlich, wenn es „nur Kleines" gibt in der staatlichen Gemeinschaft. Seine nicht mehr zu überbli42 Leisner

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ckende Vielfalt lässt sich ohne Größeres in der Wirklichkeit nicht erfassen und ordnen, ohne weitere Begrifflichkeiten, Kategorien, die sich ihrerseits wieder nach oben ausrichten, auf ein wahrhaft Großes hin. Mit Blick auf diese Riesenorganisation kann sich der Bürger wirklich „klein" fühlen und sicher, in dieser seiner Bescheidenheit sich in Ruhe verstecken, sie wird ihn mit ihren größeren Rastern nur zum Teil in ihrer Gleichheit erfassen, im Übrigen ignorieren, und der Blick der „hohen Politik" gleitet leichter über eine Masse ohne Erhebungen hinweg. Doch vor der Betrachtung, wie gerade in der politischen Wirklichkeit der Demokratie die These vom kleinen Bürger den großen Staat ruft, ist bereits dasselbe rechtsgrundsätzlich festzustellen: Wie weit immer in der Realität Bürgerkleinheit bereits verbreitet ist - gerade wenn sie zur Grundthese der heutigen Staatlichkeit überhaupt erhoben wird, zum rechtlichen Sollen aus Sein, ruft diese jedenfalls mächtige politische These die ebenso starke Antithese notwendig: Wenn der Staat über der Bürgerkleinheit nicht groß wäre, er müsste es werden, als rechtliche Antithese - oder es gäbe ihn nicht; und hier wird ja nicht nur beschrieben, hier werden Strukturen des Rechtlichen grundsätzlich fortgedacht: Aus allzu viel Kleinem entsteht notwendig, in Antithetik, die Theorie der Größe, das Recht macht sie zu einer Realität, aus ihrer geistigen Notwendigkeit heraus. Vielleicht könnte man gerade hier sagen, dass das Sein dieser Staatsgröße gar nicht mehr bewiesen werden muss, weil sie die notwendige Antithese ist zu dem, was in der Wirklichkeit verbreitet ist, in der Demokratie immer mehr sein soll - nichts Großes im Bürgerstaat. So setzt die Lehre vom geistigen Sein die Wirklichkeit wirkmächtig fort - solange man nicht hinausdenken kann über Hegel.

2. Kleiner Staat aus kleinen Bürgern? - Keine Notwendigkeit Nicht nur in einem Denken in These und Antithese hat das Recht, gerade heute, in der Zeit der „kleinen Bürger", über die Monumentalstaatlichkeit Betrachtungen anzustellen - der Schluss von der immer kleineren Bürgerdimension auf Staatsbescheidenheit in allem, was groß machen könr/^, ist an sich nicht berechtigt. Alles bisher Dargestellte beweist nur eines: den in laufender Verteilung „immer kleineren Bürger", oder doch dessen immer weiter begrenzte Horizonte, seine kleinere Denkungsart in der Angst vor und nach politischen Zusammenbrüchen. Über das Wesen des Staates, der sich über einer solchen Basis erhebt, die Bürgerschaft zusammenschließt, ist damit noch längst nichts Entscheidendes ausgesagt. Nicht nur, dass er gerade deshalb größer werden könnte, müsste, weil seine Gewaltunterworfenen immer kleiner werden - die These „kleiner Staat aus kleinen Bürgern" ist nur aus einem politischen Vorverständnis heraus haltbar, das heute mehr und mehr verlassen wird, wissenschaftlich nie erweisbar war: Dahinter steht letztlich nur eine Art von sozialistischer Überbaulehre, welche dort Bürger und Staat synchronisieren will, wo gerade Antithetik gefordert ist. Wenn der Staat sich stets gesellschaftskonform entwickeln muss, dann könnte von der kleiner werdenden

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Gesellschaft auf den immer kleineren Staat geschlossen werden - und wenn es weiter richtig wäre, dass die Gesellschaft als solche, wie immer man sie bestimmen will, mit der Reduktion des Bürgers zum Kleinbürger von der Gemeinschaft zur Kleingesellschaft würde. Eine zweistufige Überbaulehre wäre also im Grunde zu beweisen - von der Gesellschaft zum Staat, vom Bürger zur Gesellschaft - und überall müsste nur eines weitergegeben werden: Kleinheit. Der Sozialismus mag sich hier in voller Konsequenz entfalten, fordert er doch nicht nur die Abschwächung gesellschaftlicher Macht, sondern hinter ihr auch noch den „kleinen Bürger". Untreu wird er allerdings in seinen geistigen Grundlagen der Philosophie Hegels: Hatte er nicht immer in Antithesen denken wollen, und auch hier, dem angeblich so großen Staat der Vergangenheit den kleineren, schwächeren der Gegenwart entgegenzusetzen versucht? Und müsste dann nicht die Antithese wieder weiterführen - von dem in solcher Entwicklung so klein gewordenen Bürger doch wieder zurück zum größeren Staat? Einen solchen Zyklus akzeptiert folgerichtiger Sozialismus nicht, doch sein stets gerichtetes Fortschrittsdenken ist ebenso wenig beweisbar wie seine These „Staat nach Gesellschaft", gegen die es für ihn keine Antithese geben soll. Auf eines jedenfalls kann sich eine solche Überbaulehre nicht berufen, was ihr aber gerade heute, immer stärker, als Legitimation dienen soll: auf jenen „Humanismus", welcher den Menschen in den Mittelpunkt stellt, in seiner vollen Natur, nicht nur in seinen immer kleineren Nöten. Wenn der Sozialismus fortschreitet und dies ist nun wirklich ein Progress - vom ausgebeuteten, kleinen Arbeiter zum immer größeren, selbstbewussteren Bürger, dann wird der Ausgangspunkt seiner Überbaulehre immer größer, der einzelne Bürger eben, in dessen Namen doch der Staat beschränkt werden soll. Wie aber kann die Überbaulehre noch den „kleinen Staat" legitimieren, wo doch sein erstes, wichtigstes Substrat, der Bürger, oder nenne man ihn auch den Werktätigen mit all seinen Rechten und Errungenschaften, immer stärker wird? Die Überbaulehre mag bleiben, doch wenn sich der Unterbau so ändert, so trägt dies hin zu einem größeren Staat; und wenn der selbstbewusstere, stärkere Bürger das große Verdienst eines Jahrhunderte langen Sozialismus ist, dann muss es der größere Überbau erst recht sein, der Monumentalstaat. Wenn sich aber der „kleine Staat" aus der sozialistischen Überbaulehre nicht legitimieren lässt, könnte dann die synchronisierende Gleichung „immer kleinerer Staat aus immer kleineren Bürgern" in jener liberalen Sicht gerechtfertigt sein, welche im Staat nichts anderes sieht als Bürger und ihre Freiheit? Dann erst recht geht sie aber nicht auf, denn solcher Liberalismus müsste ja den begrenzten Staat, der seine Grundforderung darstellt, mit dem immer schwächeren Bürger bezahlen, dem Gegenteil dessen, was seine eigentliche Legitimationsgrundlage darstellt. Nur etwas wie ein „pessimistischer Liberalismus" könnte hier folgerichtig bleiben, in der Erkenntnis, dass der von ihm unbedingt geforderte schwächere Staat eben selbst mit der Schwäche des Bürgers bezahlt werden darf, vielleicht werden muss. 42*

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Auf diesem Weg entwickeln sich viele Richtungen heutiger Liberalität - mag der Bürger auch schwächer werden, wenn nur der Staat es noch vor ihm ist. Doch die Legitimationskraft dieses Denkens ist begrenzt, ständig muss sie ja das opfern, woraus sie kommt: die Größe des einzelnen Menschen. Christliches Staatsdenken schließlich würde man wohl vergeblich für die Notwendigkeit des „kleinen Staats aus kleinen Bürgern" in Anspruch nehmen. Der Ausgangspunkt mag hier derselbe sein - vor Gott, seinen Ansprüchen an den Menschen, ist dieser stets der Kleine, auch wenn er - gerade neuere, optimistische Theologie unterstreicht dies ja - an eben diesen Anforderungen auch wieder wächst. Doch die Gleichung geht nicht auf, über diesem kleinen Geschöpf steht eben nicht die ebenso kleine Herrschaft des Schöpfergottes, sie weitet sich gerade ins Unendliche hinein; etwas von dieser grenzenlosen Größe aber ist immer, in christlichem Staatsdenken, eben als göttlicher politischer Anspruch, auch in die staatliche Wirklichkeit eingeschlossen, ja eigentlich eingebrochen. Hier wird eben doch antithetisch gedacht, aus dem tiefsten Gegensatz heraus, den es geben kann: zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf. Welche politischen Grundrichtungen immer man in heutiger Zeit also verfolgt den „kleinen Staat aus dem kleineren Bürger" legitimieren sie nicht, sie führen zum Gegenteil oder sie heben sich selbst auf. Gäbe es eine bessere Begründung für das notwendige Spannungsdenken im Staatsgrundsätzlichen? Und um zurückzukehren zu jenem Grundprinzip, in welchem sich alle diese Richtungen einig sind, dem demokratischen Denken, bis hin zu seinen radikalen Formen: Fordert es nicht „den großen Staat", aus seinem Grundmodell heraus, welches allen diesen Strömungen gemeinsam ist, vom „Staat nach ökonomischer Arbeitergesellschaft" über den „Staat aus dem starken Individuum der Liberalen" bis hin zum Staat als der Civitas Dei - und zu jenem Sozialvertrag, in welchem sich politisch-gesellschaftlicher Konsens mehr hat denken lassen, als er Wirklichkeit war? Hier verlieren zwar die Bürger viel an Macht und Freiheit, doch alle diese Mächtigkeiten werfen sie gerade in die Größe ihres Staates, der darin als Demokratie absolut sich setzen lässt. Macht ist also doch vorhanden, zahllose Stücke von ihr, die zur einen, grundsätzlich grenzenlosen Mächtigkeit des „allgemeinen Willens" integriert werden. Im Sozialvertrag findet nichts anderes statt als ein Vorgang der „Umverteilung von Bürgergröße zu Staatsgröße", vom im wahren Sinne absoluten Menschen zum im ebenso wahren Sinne des Wortes absoluten Staat, der seinerseits so abgelöst ist von seiner Basis, wie einst der Bürger gelöst von anderen im vorsozialvertraglichen Zustand gedacht war. Was könnte da anderes entstehen, wenn schon in Staats-Bürger-Gleichheit gedacht wird, als „der große Staat", in eben solcher Monumentalität, wie vorher der Einzelmensch als Denkmal der Natur oder seines Schöpfers im Paradies lebte oder aus ihm vertrieben wurde? Gerade aus dem immer kleineren Samenkorn, das vergeht, wächst der immer größere Stamm der Staatlichkeit.

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3. Im Gegenteil: Kompensation „großer Staat aus kleinem Bürger" Ob nun der Staat aus dem Bürger kommt oder nicht, nur geliehene Mächtigkeit konzentriert oder eigenständige - eine ganz große Macht muss ihm eigen sein, sonst könnte er nicht die unzähligen kleinen Monaden beherrschen, die seine Macht tragen. Dass der Gleichheitsstaat die große Macht schlechthin nicht nur bringt, sondern braucht, wurde bereits früher deutlich - wie anders sollte er sonst den ewigen Gleichschnitt führen können, jede Regung zum Größeren sogleich unterdrücken? Der Bürger wird klein im Verteilungsstaat, er selbst würde sich stets mehr zuteilen, und nicht nur den Mehrwert. Ihn ständig abzuschöpfen, sich damit gegen die massierte und neuerdings in wirtschaftlichen Großorganisationen globalisierte Gesellschaftlichkeit durchzusetzen - dazu bedarf es einer wahrhaft herkulischen Kraft, und eines Selbstandes wahrer Staatsgröße: Sie muss die ständige Balance halten zwischen jenem Übereinsatz der Staatsmacht, welcher in dirigistische Depression führt, und einer schwächlichen Staatlichkeit, die sich allzu sehr dem herrschaftsgeneigten Mehrwert der Bürgerschaft ausliefert: „Aus dem Stande" sozusagen muss also immer wieder Mächtigkeit zurückgeholt werden, die vorher aufgegeben wurde, dies aber kann nur die wahrhaft große Organisation, die nicht allein Fremdes verwaltet. Jener selbe Sozialismus, der in seinem Endzustand den Staat töten wollte, musste doch überall am Rande seiner Straßen die größten Staatsmonumente - nur zu oft Staatsruinen - hinterlassen, welche die neueste Zeit kennt. Zunächst hat er immer mit mächtigen bürokratischen Bauten angesetzt, in welchen seine Inspektoren die Gleichheit beobachten konnten und schafften. Und wäre dieser „Mehr-Staat gegen Mehr-Wert" nicht letztlich auch die „größere Staatlichkeit", wodurch unterschieden sich die grenzenlosen Bürokratien vom Monumentalstaat, erschienen sie nicht blockhaft, wenn nicht aus der Sicht des Bürgers von unten, so doch aus der einer Staatsgrundsätzlichkeit, welche prinzipiell „von außen" auf all dies blickt? Denn diese perspektivische Unterscheidung muss stets beachtet werden: Was dem Bürger klein erscheint, weil er bereits „kleine Augen" hat, welche das Größere nicht fassen - entbehrt es wirklich der Weite? Gerade der Kommunismus musste doch die Größe suchen in seiner Einheit - oder konnte es für ihn Sozialismen geben? Der Integrationsvorgang der kleineren Bürger zum größeren Staat bedeutet sicher auch Addition, denn im Geiste der Demokraten zumindest kann es nur eine Qualität geben: Sie kommt vom einzelnen Bürger, wird von ihm in seinen größeren Staat geworfen. So ist denn auch das öffentliche Interesse etwas wie eine „Majorisierungskategorie" stets im Ausgangspunkt, das Individualinteresse des Bürgers muss vor ihm zurücktreten, weil in ihm letztlich mehr einzelne Interessen zusammengefasst - eben addiert sind. Doch darüber wölbt sich rasch die Integration zur qualitativ anderen, aber eben auch in der anderen Qualität immer nur noch größeren Staatlichkeit. Widerstandsspitzen aus der Bürgerschaft heraus werden bald gebrochen, in die qualitative Ein-

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heit der einen großen Bürgerbasis aufgelöst - und diese wird zur Grundlage einer besonderen, ebenfalls qualitativ bestimmten Staatlichkeit. Jene Stufungen, welche die Übergänge bezeichneten, die Zwischengewalten, in denen, zuwenig bemerkt, sich auch etwas wie eine Quantifizierung überall erhielt, vom Gewaltunterworfenen bis in die Gewalt hinein - sie sollen nun aufgehoben werden, oder jedenfalls einer der beiden großen sich gegenüberstehenden „Qualitäten" zugerechnet sein, dem Staat oder der Bürgerschaft; und in der Regel enden sie in der staatlichen Qualität, die Gewerkschaftlichkeit beweist es. Aus all dem zieht die Staatsmacht Kraft, und sie kann sich gegenüber solcher Widerstandslosigkeit der kleineren Bürger auch zurückhalten. Doch all dies ist wiederum letztlich doch nichts anderes als ein Größenphänomen: Diese Integration zu einer „anderen Qualität", gegenüber allen Bürgerzusammenschlüssen, nimmt nicht Größe, sie bringt eine solche der Staatlichkeit, in einem „qualitativen Großsprung" nach oben, in die Andersartigkeit einer wahren Monumentalität hinein, in deren Erz die Gewaltträger integriert sind. Die innersten Bedürfnisse gerade des kleinen Bürgers kommen in Machtpsychologie der sich hinaufentwickelnden größeren Staatlichkeit entgegen. Ihre eigene Kleinheit ist den Vielen nur erträglich, wenn auch etwas stattfindet wie ein psychologischer Transfer von ihnen in etwas Größeres hinein, in dem sie sich wiederfinden, in all dem, was frühere philosophische Sprache die „Wollungen" des Menschen genannt hat. In ihm müssen sie sich wiederentdecken, der alle ihre so notwendigen ständigen Bewunderungsbedürfnisse verwirklicht, in ihm, der nur dann wirklich „ihr Staat" wird. Sie können auf Größe verzichten, wenn er sie sichtbar trägt, wenn ihnen wenigstens die - große Illusion bleibt, dass sie ihm diese Größe geliehen haben. Bisher war dies auch immer eine Legitimation des Religiösen - die eigene Kleinheit, das grenzenlose Leid dieser Erde in der Größe eines Gottes überwinden, mag er nun gekreuzigt sein, auferstehen oder nicht. Dies war wirklich stets der „große Gott für die vielen Kleinen", deshalb hat er sie gerade als solche gesucht, oder sie glaubten es. In ihrem säkularisierten Staat kopieren sie nun, schlecht und recht, diese kompensatorische Gottesidee; denn nach ihrem Bild und Gleichnis haben sie ihn eben nie erschaffen.

4. Vorformung der Staatsgröße im gesellschaftlichen Kollektiv a) Kollektiv - an sich groß Der Weg läuft nicht vom kleinen Bürger zum kleinen Staat, weit eher in die Staatsgröße hinein. Wenn man hier schon Analogien ziehen will vom „Gesellschaftlichen" zur öffentlichen Gewalt, so führen sie, recht deutlich, über einen Kernbegriff heutiger Staats- und Gesellschaftslehre: das Kollektiv. In welchen Formen immer verwirklicht, von der Schule über den Betrieb bis in die Gruppen-Frei-

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zeit - es gibt dem klein gewordenen Gesellschaftsglied Schutz, seine Ängstlichkeit ruft „das Große"; das Wesen dieses Kollektivs ist nicht, dass es größer sei als seine Glieder, Schutz gewährt es ja nicht darin, sondern weil es als nur - „schlechthin groß" gedacht werden kann. Nicht der größere, nur der „große Bruder" wird gefürchtet, aber nur er schützt. Wo immer sich der Einzelne im Kollektiv bewegt, ist es für ihn, in diesem Augenblick, „das Große schlechthin", es bedeutet eine Dimension der Größe, einen Raum, in dem man sich geschützt fühlt, sicher bewegen kann, außerhalb dessen auch nichts eigentlich interessiert. Hier ist, für Augenblicke oder für Stunden, jedenfalls aber mit geistig prägender Kraft, für den kleinen Bürger ein politischer „Lebens-Raum" in dem Verständnis Wirklichkeit, in welchem hier die Raumkategorie gebraucht wird - in einem ins Politische gewendeten kantischen Sinn: Außerhalb von ihr kann nichts gedacht werden, ist, in einem bestimmten Augenblick jedenfalls, nichts existent. Das Kollektiv wird gar nicht wegen dieser seiner Größe gefeiert, „es ist ganz einfach groß". Eine Mahnung auch für diese Betrachtung der Staatsgröße: Sie sollte sich nicht blenden lassen, oder zurückgestoßen werden, von der „gefeierten Größe". Wo immer dieses Wort gebraucht werden darf, muss es etwas ganz „Natürliches" zuallererst sein, nicht ein „sich groß Reden"; und hier ist das Kollektiv ein Modell, in seiner stillen, selbstverständlichen Größe. Aus der Unentrinnbarkeit kommt sie ihm eben letztlich, aus einem gesellschaftlichen intra muros, und dieses meist unausgesprochene „intra" war stets stärker und größer als das pathetische „extra", es schützt, schließt nicht aus und verbietet. Zuwenig ist kollektivierten Bürgern der Gegenwart bewusst, dass hier eine geradezu imperiale Kategorie in gesellschaftlichem Gewände, ganz selbstverständlich und unpathetisch, einhergeht und sie immer begleitet. Was wäre auch das „Reich" anderes, als der staatlich-gesellschaftliche Raum, demgegenüber es „nichts außerhalb" geben kann? Einen gesellschaftlichen Bezug hatte das „nihil extra" für die römisch-griechische Mittelmeergesellschaft in ihrer Absperrung zum Barbarischen von Anfang an. Dies eben war Imperium als Kollektiv, eine eigentümliche Form der kollektiven Imperialität. Auf diesen gesellschaftlichen Stützen hat sich das Riesenreich halten können, als es längst Militär allein nicht mehr hielt. So ist denn die Gegenwart einer trotz aller lauten Identitätssuche leisen Kollektivierung - gerade auch die des Monumentalstaates; denn das Kollektiv trägt in sich auch, ja vor allem, jene statische Stille der Monumentalstaatlichkeit, deren Raum sich nicht verändert, in dem allein allerdings Bedeutendes geschehen kann. Dies ist ein „Kollektiv als Heimat", wie es der Sozialismus verwirklichen will, wie es der egalisierende Massen-Markt des Liberalismus in der Tat verwirklicht. Wenn heute nicht in Staatsgrößen-Kategorien gedacht werden kann, in der Zeit des Kollektivierens - wann jemals?

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b) Kollektiv

und Staat - die große Virtualität

der Macht

Diese gesellschaftliche Verdeutlichung - nicht Begründung - der Staatsgröße aus Kollektivität zeigt vor allem ein Wesenselement der Monumentalstaatlichkeit: Sie ist Aktionsraum, nicht primär Aktion. Durch eine „große Gestaltung" - von ihr wird noch die Rede sein - wird ihr wesentlicher Raum geschaffen, abgesteckt, durch andere dann noch gelegentlich erweitert. Monumentalstaatlichkeit ist nicht der Staat, der kann, sondern die Staatlichkeit, die könnte; es ist der Staat der „großen Virtualität", der als solcher auch zurücktreten mag - gerade in diese seine Größe, um dann, wie es eben heutige Staatlichkeit so oft verlangt, „aus dem Stand heraus" seinen Raum wieder ganz auszufüllen. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hat gerade darin fasziniert, dass es die große Freiheit geben konnte, und doch ein Staat blieb - eben in der Unbegrenztheit seiner Möglichkeiten, welche sich nicht zur Staatlichkeit verdichten mussten, die Freiheit achten konnten. Nur die Grenzen der Vereinigten Staaten wurden stets hart kontrolliert, der Raum der großen Virtualität musste ja abgesteckt sein und bleiben, jenes Staates, der im Grunde nichts anderes war als ein Kollektiv freier Menschen, zuzeiten etwas fast wie „reine Gesellschaft". Darin sind „die Staaten" ein Monument gewesen, längst vor ihrer Freiheitsstatue und über sie hinaus, in diesem Raum der Staatlichkeit, die nicht ist, aber sein kann, die dazu mahnt, nicht sein zu müssen. Dass also wenig Gewalt ist in den riesigen Räumen der Monumentalstaatlichkeit - dies beweist sie nur, aus den kleinsten Büros ist immer freiheitsvernichtend regiert worden. Am mächtigsten wird der Staat dann, wenn er so groß ist - dass er nicht gebraucht wird, wie das Kollektiv, in dem vor allem etwas ist: Freiheit, oder deren Illusion.

5. Offene Größe gegen verschleierte Gewalt a) Die Gefahr des verschleierten

Machtstrebens

Heute ist über Staatsgröße nachzudenken, denn der Staat soll ehrlich sich mit Größe schmücken, offen die Flagge der großen Macht zeigen - sonst treibt er das Machtstreben seiner Bürger, seiner Politik, in den Untergrund der Kryptomächtigkeiten. Der verbreitete Anti-Größen-Affekt der Gegenwart kann das ebenso allgemeine politische Streben nach großer Macht zu teilen versuchen, er kann es nicht aufheben. Gerade die Demokratie will ja möglichst viele an öffentlichen Dingen interessieren, damit aber auch an einer Macht, ohne welche es solches Interesse nicht geben kann. Ganz unbefangen ist denn auch, und offen, vom „gesunden politischen Ehrgeiz" der Demokraten die Rede, und darin liegt mehr als Selbstentschuldigung der Herrschenden für ihre politischen Ambitionen. Wenn möglichst viele in dem

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Raum dieser Macht agieren sollen, so müssen doch dessen Grenzen weiter gezogen werden; und ganz praktisch zeigt sich dies schon in der Vervielfältigung jener Minister- und anderer Posten, von denen zwar jeder etwas dem anderen abtreten muss, wobei aber im Ganzen doch noch immer „etwas mehr bleibt an Macht" als bisher. Gerade die Demokratie muss, aus ihren Grundannahmen heraus, damit rechnen, dass sie laufend mehr an Machtstreben und also auch - etwas mehr jedenfalls an Macht produzieren muss, das jenem eben notwendig folgt. Die Konkurrenzlage, welche gerade die Volksherrschaft zwischen vielen ihrer Bürger herstellt, um mehr und immer mehr politische Macht, bringt laufend zunehmenden politischen Größenwillen hervor. Wie die Marktwirtschaft - und an diesem Vergleich ist etwas Wahres - zur immer größeren Massenproduktion von Gütern treibt, aus dem großen Wettbewerb heraus, so die Demokratie zur Produktion immer größerer Machtquanten durch immer mehr Machtkonkurrenz. Und wenn etwas Richtiges ist am ökonomischen Mehrwert, so gibt es diesen sicher, noch weiter gesteigert, im politischen Raum. Die Wette der Demokratie geht darauf, dass durch Teilung die Machtquanten bis zur Gefahrlosigkeit vermindert werden; doch sie muss damit rechnen, dass Macht eben auch organisierbar und des Zusammenschlusses ebenso fähig ist wie wirtschaftliche Potenz. Wird es gelingen, ein politisches Kartellamt einzurichten, wird es effizienter sein als jene Institutionen, welche die Zusammenballung ökonomischer Kräfte doch nicht haben verhindern können, wenn es zutrifft, dass alle einmal geschaffene Mächtigkeit zur Konzentration drängt? Die Mittel des Herrschens sind heute potenziert wie noch nie. Sie rufen sich die Macht und diese ruft sich die Mächtigen. Vermögen diese sich hinter „kleiner Staatlichkeit" zu verstecken, indem sie sich die Fassaden jener Technik noch zunutze machen, der ja bisher auch immer die eigene Verharmlosung gelungen ist, so verstärkt doch die Technisierung jene Unübersichtlichkeit in der ihr eigenen Überkomplikation, welche sie zum „Herrschaftsinstrument wenig bekannter Politik" macht; und Ängste vor all dem sind heute ja, bis hin zum politischen Komplex, so weit schon verbreitet. Wenn die Demokratie als Staatsform der Öffentlichkeit ihren Anspruch ganz ernst nimmt, so muss sie auch bereit sein, ihre eigene Größe zu veröffentlichen, welche sie eben ganz natürlich hat, die ihr ökonomisch und technisch tagtäglich immer noch mehr zuwächst. Wenig nützt es, über Publikationsmethoden nachzudenken und über Medien, welche den Staat zum Bürger bringen sollen, nicht entscheidend ist, dass dies immer noch näher geschieht; vor allem bleibt wichtig, dass darin etwas von Wahrheit liegt, auch die gefährliche Wahrheit der Größe. Der Eudämonismus der Vielen überlässt zur Zeit den wenigen Herrschenden das politische Feld - bis hin zur verschleierten Diktatur, die brennenden Augen der Macht werden hinter den demokratischen Kutten mönchischer Einfachheit nur selten sichtbar. Dass sich aber dieses riesige Machtpotential, wie immer es geteilt sei, so rasch zusammenschließen kann, in der Besetzung weniger Sender und Flughä-

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fen, das ist heute schon gesicherte Machttechnik, und nicht nur im Geiste einzelner Diktatoren. Nur wenn klar ist, wie groß der Staat ist - und seinem Wesen nach sein muss - können die Anstrengungen der bewussten Gewaltenteilung Erfolg haben, nie dann, wenn das Monumentalbild, das es eben doch gibt, oder in jedem Augenblick geben kann, verschleiert wird: eine Mahnung für jede Staatlichkeit, vor allem für die Demokratie. b) Demokratische Verschleierung

der „ großen Macht "

Es gehört zu den Illusionen der Volksherrschaft, dass sie glaubt, endgültig ihren Frieden mit den Geheimmächten geschlossen zu haben. Kann es in ihrer allseitigen Offenheit, im gleißenden Rampenlicht ihrer Medien, etwas wie Mafien geben, hat sie nicht ihre Staatlichkeit so begründet, dass es keiner ehrbaren Geheimclique mehr gelingen kann, dort staatsähnlich zu herrschen, wo sich der Staat zurückgezogen hat? Weit verbreiteter Mafia-Doktrin entspricht es ja, seit den Erfahrungen des sizilianischen „staatsfreien Raumes", dass der Clan nur eine Chance hat, wo der Staat resigniert. Doch auch diese Theorie des öffentlichen Staates droht zur - Verschleierungstheorie zu werden, wie alle Revolutionslehren, nach denen die gewaltsame Erhebung nicht mehr stattfinden kann, weil dies bereits einmal endgültig geschehen sei. Nicht erkannt wird, dass die eigentliche Gefahr der Mafienbildung sich eben dort entwickelt, wo eine „an sich große Gewalt sich klein zeigen" oder überhaupt nicht in Erscheinung treten will. Gerade dort schafft sie sich die Prämie der versteckten, unkontrollierten Mächtigkeit, wo eines nicht mehr zu existieren scheint: große Macht. Wenn stets nur nach Verkleinerung des Staates, in welcher Richtung immer, gerufen wird, finden diese Techniken der verschleierten GroßMacht nur weitere Ansatzpunkte, Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Betrachtungen werden die Notwendigkeit der Staatsgröße erweisen, wo sie eine solche nicht in der Wirklichkeit beweisen können, spricht vieles dafür, dass sie sich schon in die Kryptoformen der geheimen Größe zurückgezogen hat. Das erste, in einer Demokratie beste Beispiel sind die politischen Parteien. Ihre eigentliche Macht zeigen sie nicht, keine Theorie kann sie beweisen, sind sie doch geradezu Organisationen der Verschleierung großer Mächtigkeiten, als solche aufgebaut und zielstrebig verfeinert. Die eigentlichen „großen Entscheidungen" werden in ihren Gremien getroffen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit zumeist, jedenfalls sind sie organisatorische Räume, aus denen die Öffentlichkeit stets, für jeden Fall, ausgeschlossen werden kann. Wenn für Staatsgröße die Möglichkeit der großen Lösungen genügt, so ist das große Staats-Geheimnis organisatorisch in den Parteien Wirklichkeit geworden, weil sie die Öffentlichkeit jedenfalls ausschließen - können; und all dies geschieht ja gerade, damit die eigentliche Größe der Entscheidungen nicht offenbar werde, wie oft werden sie nicht in den kleinen Zirkeln der Hinterzimmer getroffen. Die Parteien sind schon in ihrer Organisation Organismen zur Verschleierung von Staatsgröße, noch mehr werden sie es in ihren Finanzierungsmethoden. Hier

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mag man manches offen legen, eines nie: Das Verhältnis zwischen der Größe der Zuwendungen und der Größe der Lösungen, welche jene erkaufen - dies bekannt zu geben kann ja kein Parteiengesetz gebieten. Die großen Lösungen aus den kleinen Geschenken - könnte es eine perfektere Technik des Überlebens der Staatsgröße im Untergrund geben, und sind nicht gerade dazu die Parteien wenn nicht geschaffen, so doch berufen, diese großen Lösungen zu verschleiern, damit sie in kleinerer Münze bezahlt werden können? Staatsgröße in der Hand der Spender lässt sich dies dadurch verhindern, dass man den Staat klein schneidet, seine Monumentalität mit Parteiplakaten verdeckt, und wäre ein so beklebtes Monument weniger groß? Wer Parteienherrschaft und die Macht der Spender begrenzen will, der mag Parteien und den Staat zu einem vor allem zwingen: zur Offenlegung der großen Lösungen - der Staatsgröße. Bedeutungsverschleierung eigener Aktivitäten, deren Dimensionen vor allem, wird im staatlichen Raum in groß angelegter Organisation betrieben. Die Gefahr der Bürokratisierung liegt längst nicht nur darin, dass sich Systematik und Gewicht der staatlichen Lösungen laufend verstärken, bis ins Unübersehbare hinein. Dies mag noch ein Aspekt der modernen Staatsgröße an sich sein, die nicht mehr in äußerem Pomp, sondern in konzentrierter Organisation einhergeht. Doch die größenverschleiernde List dieser Organisationsformen liegt gerade darin, dass hier das wirklich Große, geradezu Erdrückende aufgelöst erscheint in unübersehbar viele Amtsstuben, in seiner lastenden Gewalt gebrochen in die Entscheidungen der zahllosen „kleinen Beamten" - und repräsentieren sie nicht, bis in die Zentren der Staatlichkeit hinein, den „kleinen Bürger"? Das Gegenteil trifft zu, hier erwächst erneut, und im Staat selbst, Größe aus den vielen Kleinen, gefährlicher noch in der Illusion, dass die „großen Lösungen" geteilt seien in die vielen Kompetenzen oder dass hier geradezu Größe aufgehoben werde, weil der in sich und für sich selbst funktionierende bürokratische Apparat sie sozusagen konsumiere. Doch all dies wäre ein Irrtum, Anonymisierung bedeutet allenfalls Kryptogröße, die Dimensionen hebt sie nicht auf, sie werden nur noch gewaltiger. Und das Unüberschaubare hat noch längst nicht die größere Dimension an sich verloren. Bürokratie als verschleierte Verwaltungsgröße - vielleicht gewinnt die Administration überhaupt erst hier das Recht, sich groß zu nennen. So verschleiert sich die Größe der staatlichen Entscheidungen auf typisch staatlichen und auf vielen anderen Wegen, auch dort, wo sie dem Bürger hilft, ihn in die staatlichen Gestaltungen einbezieht, weil die Gemeinschaft allein mit ihren Interessen sie nicht tragen könnte. Was ist denn Subventionierung anderes als die „große Lösung", welche der Private allein nicht leisten kann, ebenso wenig die Staatlichkeit, und sei es auch aus ihrem liberalen Selbstverständnis heraus, jene Lösung, die aber gerade darin ganz groß ist - und verschleiert eben in den schwer übersehbaren Kooperationsformen einer oft geradezu gemischten öffentlich-privaten Bürokratie. In Subventionierungen dehnt sich die staatliche Bürokratie in den privaten Raum aus, je mehr sie ihre Geschenke kontrolliert, und nur manchmal verrät noch ihr Finanzvolumen, welche ganz großen Lösun-

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gen sich hier in Bereichen vollziehen, von denen nur die Spitze des Eisbergs veröffentlicht ist. „Bescheidene", verschleierte Größe sucht überall dort im Staat sich zu verbergen, wo „technische" Entscheidungen das Rampenlicht der Politik scheuen. Mit sicherem Gefühl für die Gefährlichkeit des Staates in seiner erdrückenden Monumentalität unternimmt es die liberale Demokratie seit langem, ihre „eigentlichen Entscheidungen" auch in den politischen Raum zu stellen, damit sie dort in Rede und Gegenrede zerkleinert werden. Doch staatsformübergreifend flieht, hier und anderswo, der staatliche Apparat aus dieser Öffentlichkeit und nimmt seine Größe mit, in die Staatstechnik hinein. Eine Erscheinungsform ist, in der Regierungsspitze selbst, die Kooperation der parlamentarischen Kabinettsmitglieder und der „technischen" Staatssekretäre. Die einen reden im parlamentarischen Pathos, sie zeigen die großen Lösungen und lassen sie im politischen Kampf klein werden. Inzwischen wandern die eigentlichen, die bleibenden, großen Entscheidungen über die Schreibtische der hoch beamteten Techniker, von ihnen werden sie in bescheidener Größe gezeichnet, verwirklicht. Regierungsorganisation als Größenverschleierung - die Demokratie erreicht hier mit ihren Mitteln, was jede Staatsform suchen muss.

c) Ein Wort für staatliche Ehren - offen gezeigte Staats-Größe Heutige Staatlichkeit ist, in Demokratien und anderen Staatsformen, gekennzeichnet von einem laufenden „Verlust der Notablierung", der Ehren und Titel, der hoch geachteten Staatsfassaden, welche einzelne vor sich hertragen dürfen. Was aber ist dies anderes als Verschleierung äußerer Größe, die in „bescheidenere" Formen ausweicht - in gefährliche? Eine Theorie der Staatsehren hätte gegenwärtig kaum die Chance des allgemeinen Interesses. Und doch hat dies zahllose Generationen befriedigt, die sich auch die wenig geistreiche heutige Kritik an den „leeren Ehrenformen und -formein" hätten vorsagen können. Hohl oder nicht, Fassade oder Prachtbau - die Ehren des Staates haben doch eine Funktion immer erfüllt: die Veröffentlichung der äußeren Größe, vielleicht sogar ohne innere Macht. Deshalb werden sie belächelt, doch darin sind sie auch das gerade Gegenteil der verschleierten Größe, der gefährlichen Kryptomacht. Und wäre nicht die Machtillusion der Ehren, welche Kritik wach hält, den Staat in jedem Augenblick, in Personen fassbar, als das zeigt, was er wirklich hat - monumentale Größe - besser als ihr Gegenteil, als die Macht in den, allzu rasch auch privaten, Taschen der bürgerlichen Anzüge? Staatliche Ehre ist eine Kategorie der Staatsgröße, etwas „Erfüllbares", ein Raum, in dem, aus dem heraus etwas erwartet wird, auch wenn in ihm nichts geschieht, sich nichts ereignen muss, wie in den Palästen der protokollarischen Monarchen, den Ehren-Präsidialämtern. Ironie über sie vergisst, dass sie das Gegenbild jeder Mafia sind, jenes geheimen, unterirdischen Gewölbes, in dem Großes

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geschieht, obwohl niemand weiß, wo und ob überhaupt es sich ereignet. Sich wie ein Schwein in einem Schloss mästen lassen - das mochte ein Napoleon ablehnen, der um seine wahre Größe wusste und den Mut hatte, sie ganz zu personifizieren, voll zu zeigen. Wenn sie abwandert in die Hinterzimmer der Macht, ist es dann nicht besser, es bleibt etwas von ihr öffentlich, und sei es auch mehr groß als mächtig? Wäre Größe ohne Macht nicht eine glückliche Formel, ein Geheimnis früherer Monarchie, ist es aber nicht das Gefahrlichste, Macht in falscher Kleinheit zu verstecken, unter den ordenslosen Bürgeranzügen der Robespierres?

d) Exkurs: Demagogie -falsche Größe und Kleinheit zugleich Führung kennt jede Staatsform - und Verführung. Die Volksherrschaft hat sie institutionalisiert, veröffentlicht, die klassischen Beispiele ihrer moralischen Verwerflichkeit und politischen Gefährlichkeit gezeigt. Doch die Ordnung der Kaderpartei entgeht dem ebenso wenig wie der Führerstaat; auch dort muss ja das Volk bei der Macht gehalten werden, und ist die demagogische Notwendigkeit nicht noch größer, wo es immer geführt werden muss, nicht einfach folgt? Diese staatsformübergreifende Machttechnik ist in der Gegenwart der Werbungen und Medien entwickelt wie kaum je zuvor - „nach unten" vor allem. Hier sollte sie einen Augenblick des Nachdenkens wert sein über ein Phänomen bekannter Verschleierung: ein Überspielen, ein wahres „Verreden" der Staatsgröße von einem Bereich zum anderen, von einer Illusion in die andere hinein. Demagogie bedeutet: die typisch staatliche Größe dahin schmeicheln, wo sie nicht ist, nie sein kann: beim Bürger, sie von dort wegzulügen, wo sie sich aber vorbereitet: im Zentrum des Demagogischen selbst. Dem Volk wird alles bescheinigt, was der Staat an Größe in sich tragen sollte: die hohe Intelligenz, der sichere, untrügliche politische Instinkt, die große „Gesundheit" in allem und jedem. Es ist, als führe der Demagoge dieses große Kind, von dem er doch will, dass es nur schreien könne, wieder an die Brüste der noch größeren, allgegenwärtigen Natur zurück. Er befriedigt es mit Größe und muss dabei nicht zuviel über Kompetenzen sprechen. Er lässt die sichtbaren Dimensionen der Staatsgröße - und Staatsmacht leer. Pseudogröße wird geschaffen - und meist Kryptogröße zugleich; und wenn das Letztere nicht gelingt, dann ist die Gefahr für die Staatlichkeit noch näher: die großen hohen Gefäße sind beim Volkssouverän nurmehr mit Machtillusionen gefüllt. Wie mächtig aber die Staatsgröße ist, das zeigen auch sie noch, aus deren Leere Völker jahrelang zu schöpfen bereit sind. Da dies heute überall geschieht - sollte man nicht über Staatsgröße nachdenken? Man beschäftigt sich also, spricht man von Staatsgröße, mit einem allgemeinen, staatsformübergreifenden Phänomen, es wird sichtbar nicht nur in dem, was es sein will: bedeutend, sondern auch in den Verhüllungen, die ihm überall angelegt wer-

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den. Stets aber ist es ganz nah, weil es ein Wesenszug, eine Notwendigkeit dessen ist, als was gerade heute der Staat gefühlt wird: Bürgergemeinschaft, jenseits einzelner institutioneller Formen.

II. „Größe" - notwendige Kategorie des historischen und romantischen Staatsdenkens Bevor sich diese Betrachtungen der Notwendigkeit von Staatsgröße gerade in der Demokratie zuwenden, sei noch ein Blick in jene Vergangenheit gerichtet, aus der staatsformübergreifend vieles in jede Ordnung laufend zurückkehrt und gerade Staatsgröße immer wiederbringt. Volksordnungen wollen sich dem verschließen und sind ihm mehr geöffnet als andere.

1. Die Wiederkehr der Geschichte - in Größe Staatsgröße lässt sich in Gegenwarten leugnen oder gar überwinden, die Demokratie ist darin Meisterin, in ihrem organisierten Misstrauen, ihrem staatstragenden Neid. Doch im Grunde gelingt immer nur die gegenwärtige Verkleinerung der Herrschaft, und diese nie völlig. Was sie an Machtwünschen unerfüllt lässt, an natürlichen Staatsdimensionen nicht auszufüllen in der Lage ist, kommt nicht immer ganz, doch stets in beachtlichem Maße, aus der Vergangenheit laufend wieder - als Monumentalstaatlichkeit. Die eigenen Größen-Defizite werden in eine größere Vergangenheit geworfen, sie wird nur „immer noch größer", weil sie eben tot ist und darin gut. Das Entscheidende daran aber ist nicht die gute, es ist stets die große staatliche Vergangenheit, die Größe der Persönlichkeiten, welche sie prägen. Dies ist schon das Schicksal der historischen Betrachtung als solcher: Was man heute nie untersuchen würde, weil seine Dimensionen es nicht rechtfertigen, das gewinnt seine Bedeutung, letztlich seine Größe, als Gegenstand der historischen Untersuchung, aus dem zeitlichen Abstand. Der Historismus kann beruhigt an der gegenwärtigen Staatsgröße und ihren Gefahren vorübergehen, da er doch einer anderen und so ungefährlichen Staatsgröße nachspürt. In dieser Rückschau-Vergrößerung der Vergangenheit darf die geschichtliche Betrachtung vollends unehrlich werden, der Demagogie wird sie nie geziehen, weil es da scheinbar kein Volk zu verführen gibt - oder doch? Der Napoleon-Mythos der retrospektiven Größe hat Generationen geführt und verführt, waren nicht alle Versuche, selbst von Tolstoi unternommen, fruchtlos, die größten, die höchsten Höhen dieser militärischen Größe als tagtägliche Zufälle zu entlarven? Die Demokratie ist hier anfälliger vielleicht als jede andere Herrschaftsform: Was sie mit ihren neidigen Kräften an Größe im Augenblick von sich abhält, bei

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Personen und Machtinstitutionen, das übernimmt sie nur zu oft unbesehen, ja romantisierend, aus großen völkischen Vergangenheiten, aus der Riesendimension der Revolution, in der das eine große Volk aufgestanden ist. Und „groß" sind heutigen Demokraten ihre eigenen Entstehungsgeschichten, jene Verfassunggebungen, in denen doch häufig nur sehr viel Kleinheit zur Größe emporgewachsen ist. Tradition mag ein Heilmittel sein gegen die oft gespenstisch wiederkehrende Größe der Vergangenheit, das Herkommen ist ja in erster Linie fortgesetzte frühere Gegenwart, mit all ihren Schwächen fortgeschleppt und nur zu oft verkleinert. Tradition wird langsam, aber sicher müde, verliert darin die Kraft der historisch aufgeladenen Größe. Wo immer aber sie sich in Staatsrenaissancen zusammenballt, von der Gegenwart ersichtlich oder auch nur scheinbar getrennt eine aufgestaute, geradezu ideologisierte Vergangenheit zurückbringt, da ist in dieser imperialen Kategorie zuallererst Staatsgröße zurückgekehrt, eine Herausforderung für die kleinere Gegenwart - und ihre Beruhigung darin, dass es Staatsgröße wenn nicht gibt, so doch hat geben können. Doch solche Beruhigungen trügen immer wieder. Spannungen entstehen zwischen einer kleineren Gegenwart und einer nur zu häufig idealisierten Vergangenheit; sie wird weit öfter als groß, denn als „gut" glorifiziert, und darin liegt wohl ein tieferer staatsrechtlicher Sinn. Über die Güte früherer Lösungen mag man ja heute so streiten wie über die der eigenen Gegenwart - die Größe ist indiskutabel, sie zwingt sich auf, mehr noch: der Staat sucht sie vor allem, vor aller Legitimation aus Güte. Vielleicht könnte man einer staatsrechtlichen Gesetzmäßigkeit nachgehen: Primat der Größe vor der Güte der Staatsformen, und einer weiteren: Güte aus Größe; kamen nicht auch in diesem Takt die Wiedergeburten früherer Staatlichkeit zurück, setzten sie nicht ein mit der Erkenntnis der riesigen Dimension, die als solche schon „gut" sein muss, weil eben der Staat Macht ist, „gut" dann, wenn er sich mit der Unentrinnbarkeit und dem lastenden Gewicht seiner Lösungen aufzwingt? All dies gerade tritt aber auch in Spannung zur kleineren Gegenwart, in welche die Größe der Vergangenheit einbricht. Sie mag unerträglich werden, frühere Größe zu mächtig für heutige Schwäche zeigen. Größenwahn ist dafür kein Wort, Mussolini ist das Opfer früherer wahrer Größe der Römer geworden. Dass Staatsrenaissancen nicht nur Chance, sondern Gefahr bedeuten, wurde bereits vertiefend dargestellt, hier zeigt es sich vor allem mit Blick auf die Dimensionen: Wo sich nicht vergleichbare Weite des Denkens aus der Gegenwart entwickeln lässt, da ist kein Gefäß, in welches die schweren alten Weine gefüllt werden könnten. Und es gilt auch: Wenn eine Zeit ihre eigene Staatsgröße aufzuheben sucht, wie sich dies echte Weimarer Bescheidenheit vorgenommen hatte, dann kehrt die rächende Größe der Vergangenheit zurück, und wenn sie eines Tages alles und sich selbst zerbrechen müsste, wie es die Deutschen im Nationalsozialismus erlebt haben. Die Gefahren anachronistischer Staatlichkeit - und dies sollte ein wichtiger Begriff der Staatstheorie sein oder werden - zeigen sich nirgends deutlicher als in

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Größen-Betrachtungen. Gestalten gibt es im politischen Raum, die ganz bewusst und zuallererst groß sein wollten, nicht immer vielleicht im Blick zurück, wohl aber im Bewusstsein, oder in der Illusion, dass sie bereits etwas von „vergangener Größe" in der Gegenwart bedeuteten. Nirgends deutlicher ist dies erlebt worden als in Leistung und Tragik de Gaulles. Hier ist dann alles gelobt, was groß macht, was sich den Dimensionen der Vergangenheit nähert, bis in die dämmernden Dome der französischen Könige. Groß aber wird vor allem die Gefahr der vergangenen Staatsgröße für die Gegenwart: Sie errichtet nicht ein lebendiges Mahnmal, sondern wirklich etwas wie ein lateinisch wirkendes Monument - bewundert, überlebt, unter Denkmalschutz zu stellen. Doch der Historismus lässt sich nicht überwinden, historisches Denken kommt mit seinem Auf und Ab immer wieder zurück, Stöße von herbeigeholter, herangeredeter, nicht hergebrachter Größe erschüttern immer kleinere Staatlichkeiten, die erkennen sollten, dass sie sich wenigstens die Dimension der Staatsgröße erhalten müssen, damit sie nicht vom Historismus überrollt werden - und zwar ganz ungeschichtlich, staatsrechtsdogmatisch; denn dies ist ja die eigentliche Kraft dieser historischen Größendimension in den politischen Dingen, dass sich hier die Geschichte zuerst und sehr rasch sogleich „dogmatisiert", dass sie zur Quelle gegenwärtiger Kategorien wird, als habe es diese stets schon gegeben. Gerade eine in vielem so unhistorische Bewegung wie der Sozialismus ist dem immer wieder gefolgt, zuzeiten erlegen: Die Größe seines Arbeiterstaates sah er in fernen völkischen Bewegungen versucht und stets von neuem verschüttet, in Bauernkriegen und anderen aristokratischen Verbrechen. Nun aber sollte sein Staat endgültig werden, in der unschlagbaren Roten Armee, in der unzerstörbaren, allgegenwärtigen Bürokratie - eben in allem, was der Staat an Größe zeigen kann, was ihm die Vergangenheit als Vermächtnis mitgegeben hat. Der Arbeiterstaat hat diese Lehren der Geschichte gezogen und überzogen - aber überall und in erster Linie in Größe. Spätere Staatlichkeit aber darf sich nicht damit beruhigen, dass sie ja von so mächtiger Größe der Vergangenheit nicht bedroht werde, weil es sie nie gegeben habe, wie etwa in der Dritten Welt, oder weil sie sich in historischer Kritik als Kleinheit erweise. Historische Staatsdimension als Aufruf und Zwang zu heutiger Größe gibt es zu billigen Preisen, hier macht der Historismus seinen Frieden mit den eigenen Schwächen. Was nicht groß war, wird groß gelogen.

2. Selbstgeschaffene historische Größen-Legitimation Die Zwischengewalten und der Kampf um das Staatsmonopol der Größe Der Staatsideologie mag es, vor allem in der Demokratie, gelingen, den Größenbegriff in der Gegenwart zu eliminieren, sich freizuhalten von einer vielleicht nur herbeigeredeten historischen Größe des Staates. Doch gerade dann tritt eine neue, nicht geringere Gefahr auf: Die verdrängte Größe kommt durch eine andere Kraft in die Gegenwart zurück, die sich ihre eigenen historischen Größen aufbaut, wenn

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nötig herbeilügt, und all dies durchaus in historischem Denken: die Zwischengewalten. Dies ist die Stärke des „Bürokratischen" im weiteren Sinne von jeher gewesen, jeder länger in großen Lösungen funktionierenden Einrichtung, dass dort ein Corpsgeist entsteht, der sich das Corps schafft, und dieses wird dann in seiner bewährten größeren Dimension historisch geradezu etwas Großes. Zum Monumentalstaat kann es sich hochbauen - diesen aber auch auflösen. Wenn der Staat Größe nicht kennen will, sie sich nicht aus seiner Vergangenheit zurückholt, so entfaltet sie sich in und um ihn in jenen Zwischengewalten, welche stets begierig zu historischer Legitimation gegriffen haben, wo sie nicht zu finden war, sie aus sich selbst, wenn nötig, hervorbringend. Daraus erklärt sich die starke historisierende Neigung aller Verbandlichkeit, von den früheren Zünften bis zu jenen Großorganisationen, die weit sorgfältiger ihre Jubiläen feiern als der sich nur zu oft in zeitloser Größe sicher fühlende Staat. Denn diese Zwischengewalten haben ja in Größe und an ihr etwas zu gewinnen, sie können darin wachsen, in die Macht hinein, dazu ist ihnen jedes Mittel recht, auch, gerade historische Legitimation. Der schleichende Historismus der zünftischen Legitimation ist eine gegenwärtige Realität, wie er es immer war, bevor er von einer Staatlichkeit gebrochen wurde, die sich mit einem Mal ihrer Größe bewusst wurde, mit den Fürsten der Renaissance und der Französischen Revolution. Auch Verkrustungen können groß werden, und sie hat damals der Staat zerstören wollen, in der Bewusstwerdung seiner eigenen Größe. Die historisierenden Größenanstrengungen der Zwischengewalten, heute etwa fühlbar im wachen Geschichtsbewusstsein der Gewerkschaftsbewegung, sind ein dauernder leiser, aber harter Kampf um das „Monopol der Größe": Soll es beim Staat liegen, oder muss dieser es mit den Zwischengewalten, den gesellschaftlichen Mächten, oder wie immer man sie nennen will, doch letztlich teilen? Dieser Kampf ist schwerer und wichtiger als der um die Erhaltung des staatlichen Gewaltmonopols, der ihn nur verdeckt. Staatliches Gewaltmonopol kann es nicht geben, weil der Begriff der Gewalt damit allzu sehr verengt würde - und sogleich in andere Formen auswiche. Immer wieder wird man nachweisen können - dem Sozialismus ist es gegenüber dem Liberalismus überzeugend gelungen - dass sich zwingende Gewalt im Einzelfall eben nicht und nie beim Staat monopolisieren lässt, gerade in der Demokratie muss er dies ja anderen, gesellschaftlichen Mächten ganz bewusst überlassen. Ein anderes aber sollte beim Staat immer bleiben: das Monopol der Größe der Lösungen, der Ordnungen, und allerdings der dafür einzusetzenden Gewalt. Der Staat muss nicht nur „der größte", er muss immer „der große" sein und bleiben, sonst setzt er nicht mehr die Maßstäbe der Größenordnungen überall, sonst ist seine Souveränität gebrochen. Der Historismus, das Vergangenheitsbewusstsein in all seinen Formen, ist hier der mächtige Feind der Staatlichkeit, deren Größenmonopol er durch selbstentwickelte Traditionen brechen will, letztlich auch über staatliche Gestattungen, welche eben, geschichtlich verfestigt, nicht mehr zu ändern sind. Dies ist vielleicht die 43 Leisner

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größte Gefahr der Größenenthaltsamkeit der Staatlichkeit: dass sie dann, historisch-politisch, einzementiert wird in viele kleinere Größen, in die Feudalismen unzähliger privater Wehrtürme, die bald den Staatsanblick bestimmen wie in den italienischen Stadtrepubliken des Mittelalters. Historismus ist keine Einbahnstraße. Die Adelsburgen sind nicht auf ewig gebrochen. Feudalismen kehren nicht nur zurück, sie entwickeln sich politisch neu, mit einem Mal sind sie - große Gewalten aus eigener Geschichte, wenn da nicht ein Turmbau immer noch beherrschend bleibt: die Staatsgröße.

3. Die ewige Rückkehr der Staatsromantik Modernes Staatsdenken blickt beruhigt auf Romantik, wenn es sie überhaupt noch kennen will. In irgendeine mehr oder weniger ferne Periode verbannt es die Staatsromantik, am liebsten in jenes 19. Jahrhundert, von dem es sich durch Technik und Sozialismus getrennt weiß; und sollte Staatsromantik doch noch gegenwärtig erscheinen, so wird sie rasch in politischen Reden abgewertet. Dies aber ist ein schwerer und staatsformübergreifender Fehler der Gegenwart, eine Sünde vor allem wider die alte Staatsgröße, welche hier unzerstörbar lebendig ist. Staatsromantik bedarf nicht fürstlicher Spitzenkleider, um in die Staatspitze vorzudringen. Hier überspringt die historische Größe die Jahrzehnte und Jahrhunderte. Ganz Verschiedenes bringt sie zurück, aber eines ist all dem stets gemeinsam: die große staatliche Dimension. Drei Beispiele mögen es zeigen: Als deutsche Staatsromantik gilt die Rückkehr der mittelalterlichen Kaiseridee im 19. Jahrhundert. Was aber brachte sie, was ist geblieben? Der Gedanke der großen, föderal gestuften Ordnung, in welcher Formen des alten Staats-Feudalismus sogar noch der Bonner Republik Größe und internationales Ansehen gewannen. Die Schreckensherrschaft der Französischen Revolution konnte gebrochen, nicht aber überlebt werden. In die klaren, liberalen Rationalismen der freimaurerischen III. Republik ist sie zurückgekehrt, in etwas wie einer eiskalten Romantisierung des Jakobinertums; die französische Staatsrechtslehre hat sie in der „republikanischen und revolutionären Tradition" bis in den radikal-sozialistischen Republikanismus vor und nach dem Zweiten Weltkrieg fortgetragen. Die Terreur war eben große Staatlichkeit, eine große furchtbare „Lösung", wie sie nur der Staat vermag. Selbst sie hat in Staatsromantik weiterwirken können. Die Menschenrechte, die amerikanische Freiheit - wäre sie nicht eine wahrhaft „große Lösung", kommt sie nicht heute mit etwas wie einem staatsromantischen Schwung in eine rationalisierte, machttechnisierte Gegenwart, mit der Absicht vielleicht, gerade dieses Instrumentenwerk zu durchbrechen - zu brechen? Hier ist die Freiheit die große Gestaltung, der Gegenstand der romantischen Begeisterung. Sie kann also wohl alles bringen und potenzieren, in beliebig mechanisierte, „abge-

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kühlte" Staatlichkeiten hinein: Ordnung, Gewalt und Freiheit, alle Aspekte der Staatlichkeit, und sie alle groß. Denn was ist nun das Wesen dieser Staatsromantik? Sie entzündet sich nur am Großen, in allem und jedem. Da ist die Romantik als die Verehrung des nur undeutlich Wahrzunehmenden, und könnte man nicht eine Theorie der Romantik als des Verdämmernden aufstellen? Sie müsste eine solche der Größe sein, denn nur das ganz Große reicht in den Himmel, entschwindet dem Auge, wird vom Menschen - vom Bürger nicht mehr wahrgenommen, in der Natur, in der Kunst, und eben auch in seinem Staat. Romantik bedeutet die Verehrung des Schönen - aber im Grunde und zuallererst wird das Große schön gesehen. Nicht moralisch ist ja diese Romantik orientiert, auch im Politischen, nicht primär jedenfalls auf ethische Werte gerichtet. Sie mögen in das Staatsrecht einfließen, ohne Größenanspruch, in einer bürgerlichen Beruhigung, die alle Macht verkleinert zum „Guten", in welchem sich der Bürger beruhigen soll. Doch dies ist eben nicht die ganze politische Wirklichkeit, in ihr muss es doch auch etwas von jener Schönheit geben, auf welche sich sonst überall das menschliche Streben richtet. Wer aber hätte je den „schönen Staat" sich vorstellen können - und doch gibt es ihn, gerade die Romantik zeigt es: Es ist das Riesengroße an ihm, Größe als Schönheit, in der Dom-Idee ist es Stein geworden, in den Imperien politische Wirklichkeit. Verehrt wird dort das Transpersonale, alles, was über den einzelnen hinausgeht - nicht hinweg - die Demokratie nennt es ihr Volk und sein Glück. Und es wird begeistert verehrt, so will es die Staatsrenaissance. Diesem Enthusiasmus mag man viele Namen geben, ihn als „Ideal" sich wünschen, dem eine Jugend nachzueifern habe, oder als Engagement, in welchem sich diese selbe Jugend so begeistert zusammenfindet - aber worauf ist all dies gerichtet? Doch nur romantisch immer auf eines, auf jene Größe, die emporreißt und zusammenschweißt, heute in der ganz großen zu schützenden Natur gefühlt, in Aufgaben der Menschlichkeit in der Dritten Welt, die anders als romantisch doch nicht anzugehen, geschweige denn zu lösen sind. Die große Aufgabe wirkt begeisternd. Wenn der Staat dafür keine Kategorien mehr bereitstellt, wird ihn zuerst die stets romantische Jugend verlassen. Zuallererst aber ist doch diese Staatsromantik immer noch potenzierter Historismus, enthusiastische Geschichtlichkeit. Jenes so Uralt-Einherschreitende - was könnte es anderes sein, wenn nicht das ganz Große in Staat und Politik, das eben hat überdauern können, auch ohne gepflegte Tradition, nur weil es ganz groß war, wann auch immer. Die Völker Europas haben aus solchen Kräften einst ihre meerüberspannenden Reiche geschaffen, doch mit deren Ende ist solche Staatsromantik nicht gestorben. Sie ist lebendig überall dort, wo eben wahre Staatsgröße sich entfaltet und an eigene ganz große Geschichte anschließt, in Russland, China, Amerika und anderswo. Dass kleine Staatlichkeit über Staatsromantik lächeln lässt gegen wen beweist dies etwas? 4*

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Staatsromantik ist und wird immer sein „Anstoß von Größe aus Geschichte". Damit sie nicht in geordnete Staatlichkeit einbreche, sich dort entfessle und wie in deutscher jüngster Vergangenheit alles um sich und im Namen ihrer Größe zerstöre - darum sollte man ihr, gerade nach solchen Erfahrungen, immer die weiten Räume der Staatsgröße bereithalten, in denen Begeisterung Bewegungsraum, aber auch Grenzen findet, wo Bewunderung schon vorhanden ist, bevor Staatsromantik sie mit einem Mal mit Gewalt in den Staat wirft und diesen damit aus der Ordnung. Dies ist die Lehre von Weimar: Staatsromantik immer erwarten, in staatlichen Größenkategorien sie aufnehmen, sie in einer Staatsgröße auffangen, die längst vorher staatsrechtliche Wirklichkeit war - und es bleibt.

4. Außerrechtliche Größen-Kategorien und Staatsgröße Staatlichkeit bedeutet die Illusion des allseitigen Monopols, eine gedachte Allmacht, die sich in alle Richtungen zu jeder Zeit entfalten, alles erfassen kann. Gerade in einer Zeit, in welcher die Staatlichkeit von all dem weithin keinen Gebrauch machen will oder gar soll, zeigt sich aber eine erstaunliche Folgeerscheinung dieser weiterwirkenden Illusion: als seien Politik, Staat und Demokratie sich jedenfalls begrifflich selbst genug, als müssten die Staatsformen, und vor allem die deutsche, nicht damit rechnen, dass sie sinnerfüllt, unterlaufen, vielleicht ausgehöhlt werden aus einer außerrechtlichen Wirklichkeit heraus, deren Macht ja nicht dadurch geringer wird, dass man ihr die Staatsform großzügig öffnet, wie es gegenwärtig geschieht. Hier nun stellt sich aber vor allem für den heutigen Staat die Frage seiner Größe, ja seiner Monumentalität: Selbst wenn er darauf verzichten wollte - entwickelt sie sich nicht um ihn, im Außerrechtlichen, allenthalben im Geist seiner Bürger, in religiösen, kulturellen und anderen Phänomenen zuerst, die noch immer rasch in den staatlichen Bereich hinübergewirkt haben, sich vielleicht parallel mit ihm entfalten? Selbst wenn diese Staatlichkeit als politische Denkform klein bleiben wollte - vermag sie es in einer Zeit, die sich außerrechtlich vielleicht ganz anders entwickelt, durchaus mit Sinn und Blick für Größe, gerade in deren Bewunderung? Und wenn Größe, aus der Staatlichkeit verdrängt, nun in diese Bereiche abwandert - kommt sie nicht von dort rasch zurück? Diese Fragen werden hier bewusst in den Zusammenhang von „Staatsgröße und Historismus - Staatsromantik" gestellt; denn gerade im Außerrechtlichen sind größere, historische Abläufe zu beobachten, jedenfalls findet dort nicht jene Staatsdogmatik im engeren Sinne statt, zu deren Formen anschließend zurückzukehren ist. Etwas im weiteren Sinn Staatsromantisches schließlich liegt gerade in jenen kulturellen Überwirkungen, welche in größeren Bemühungen um Kulturstaatlichkeit heute die Politik erreichen. In all dem stellt sich eine Grundsatzfrage des staatlichen Wesens: Kann diese heutige Staatlichkeit, die sich doch aus ihrer schiedsrichterlichen Neutralität der Gesellschaft gegenüber definiert, eben diese Rolle noch halten, gegenüber Größen-

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begriffen des Weltanschaulich-Religiösen, oder des Kulturellen, wo sie gerade gefordert ist - wenn sie selbst nicht „in Größe zu denken vermag"?

a) Staats große - „religiös besetzt" Seit monotheistische Religionen sich über Sektendimensionen hinaus durchsetzen konnten, war Staatskirchentum vorgezeichnet, mit ihm aber vor allem eine Frage an die Staatlichkeit gestellt: Würde sie soviel an Dimensionen aufbringen können, dass diese die Größe des einen, unendlichen Gottes in sich aufnehmen, vielleicht gar noch überhöhen könnten, mit dessen Kraft jene Religionen in die Welt der antiken kleineren Vielgötterei eingebrochen waren? So ist denn Rivalität und Kampf zwischen Staat und Kirche seit Constantinischer Zeit ein Kampf um Größe gewesen, um die größeren Dimensionen. Solange das römische Reich in seinen imperialen Weiten und Staatsstrukturen jene natürliche Staatsgröße sich bewahren konnte, welche seine Adler über so viele Jahrhunderte getragen hatten, war der Bischof von Rom nicht mehr als das Haupt einer staatsprivilegierten Sekte, der kaiserliche Adler ließ sich auf das Kreuz nieder wie früher auf die Siegeszeichen der Legionen, der Staat war „das Große an sich" geblieben. Doch bald überhöhte ihn die größere Macht des allmächtigen Schöpfergottes, Jupiter wurde wieder über seinen Adler gesetzt. Gängige Geschichtsschreibung zeigt uns den Papst näher bei der Größe des römischen Imperiums, als Resident eben in Rom, und damit näher zuzeiten am kaiserlichen Purpur auch des Mittelalters. Doch da war mehr zu seinen Gunsten als die örtliche Nähe zum Zentrum des Reichs: Er besetzte es geistig mit seiner absoluten monotheistischen Gottesidee, mit dieser höherentwickelten Größenkategorie kam er den nördlichen Königen zuvor. Sie hatten noch Mühe, sich aus ihren Gefolgschafts- und Feudalbeschränkungen, ihren kleineren Ordnungen, erst einmal zum größeren Führertum zu entwickeln, und in ihrem Drang zur Staatsgröße, immer noch gehemmt von Adel und Gefolge, trafen sie auf die abstrakte, absolute Größenidee von Rom, mit welcher eine religiöse Macht alles besetzt hatte, geistig auch das diesseitige Reich. Schlachten konnten sie immer wieder gewinnen, letzte geistige Staatsgröße nie erreichen, mit ihr mussten sie stets von oben gekrönt werden - in Rom. Dies ist der Sinn der römischen Krone: Der deutsche Kaiser wird in die römische Größe gesetzt. Der Feudalismus aber hat, aus seinen Grundstrukturen heraus, in seinem pyramidalen Aufbau, immer nur in kleineren, langsam sich steigernden Dimensionen denken und herrschen können - in Größen eben, nicht in Größe des Staates. Solang er Europa politisch prägte, konnte die religiös besetzte Staatsidee nicht erobert werden, in der sich die Unendlichkeit eines Gottes niedergelassen hatte. Mit mächtigen Kraftanstrengungen musste sich der Absolutismus eines Sonnenkönigs wenigstens in Teilen des Kontinents dagegen durchsetzen, und die Kraft dazu kam ihm nur aus einem beispiellosen Höhenflug, einem Zug zur Größe um jeden Preis - und dem

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Mut, sich als Gott auf Erden an die Stelle des geistigen Besetzers der StaatsgrößenIdee zu setzen. Im Absolutismus geht es denn auch weit weniger um unbedingte Gewalt, als um eine Gewaltdimension, die seit Constantin geistig in die Staatskirche abgewandelt war; und so beeindruckt auch heute nicht so sehr das Durchsetzungsvermögen dieser Gewalt in allem und jedem, ihre so vielgepriesene Absolutheit - wie relativ war sie nicht in vielem - als die ganz großen Dimensionen, welche sie ihrem Staat wieder erschlossen hat, in Versailles und anderswo. Um einen historischen Sprung zu wagen: Die Kraft des Islam in der Gegenwart ist ein neuer Sieg der religiösen Besetzung der Staatsgröße. In der ganzen langen Geschichte dieser Länder ist es nie auf Dauer einer Staatlichkeit möglich gewesen, sich gegen die unendliche Größenidee des arabischen Schöpfergottes durchzusetzen, denn hier ist ja nichts als Größe, dies ist das erste Beiwort des unsichtbaren Herrschers, der nicht so wie im Westen durch eine Pyramide von Engeln und Heiligen mit der Erde verbunden war, der niemals etwas wie nur ein Feudalherr, immer der absolute Herrscher - und der absolute Staat - gewesen ist. Die arabischen Emire können nichts mehr weitertragen von der Größe des römischen Reiches, die in Staatsrenaissance in Europa wiedergekommen ist und den irdisch herrschenden Schöpfergott zurückgedrängt hat. Constantinopel ist zu spät gefallen, um den Sultanen mehr als auf kurze Zeit Staatsgröße vererben zu können. Und so können denn die religiösen Führer noch heute Staaten beherrschen, weil sie die Herrschaft dieser Welt verachten, die nie so groß sein kann wie ihr Gott. Im Westen aber mit seiner Säkularisation unserer Tage hat der Staat, aus dem sich Gott so weit zurückgezogen hat, eine neue Chance der Größe.

b) Die Wirkung kultureller

Größe in die Staatlichkeit

Ein Phänomen ist heute deutlich: Wenn der Staat in seiner Größe niedergeht, bricht seine Bürgerschaft aus in Kulturstaatlichkeit. Nie war die Begeisterung für Dichter und Denker, für die Fürsten der Kunst, so groß wie in der Gegenwart, und gerade in Deutschland. Noch vor einem Jahrhundert waren sie es zufrieden, ja glücklich, wenn ihnen der Staat und die Völker einen geistigen Fürstentitel verliehen - sie nahmen damit teil an der staatlichen Größe, sie scharten sich um Kronen, von Fürsten in den Fürstenstand erhoben. Heute erscheint dies alles völlig verwandelt: Nicht nur die Herrscher und ihre Macht sind vergangen, selbst ihre schimmernde Größe wird nurmehr als Kulturdimension begriffen, fast ist es, als müssten sich Fürsterzbischöfe durch musizierende Wunderkinder legitimieren. Viel daran mag Wirkung jenes Pazifismus sein, der sich heute vor dem immer blut- und schlachtengierigen Staat nicht mehr zu einer Kirche flüchtet, die nicht nach Blut dürstet, sondern in eine Kultur, die ohne Leiden triumphiert. Darin aber bleiben die Menschen bei der Größe, welche sie ihrem Staat aberkennen wollen: Sie werfen ihre Begeisterungen in Kunst und Geist, dort ist Größe, dort darf sie sein. In diesen geistigen Räumen wird ja auch das große Theater gespielt, dessen

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Effekte der Kulturstaat in unzähligen Ausstellungen, Konzerten und Festen braucht, in denen er geradezu Bürgergemeinschaft hervorbringt. Wenn es noch so einfach ist - dort wird doch eine Art von Größen-Theater gespielt, die Wirklichkeit wieder auf den alten Kothurn gestellt, das Einfachste allgemein-menschlich erhöht. Kein Heerführer, kein Herrscher ist mehr groß, den Fürsten des Geistes gibt man diesen Namen immer leichter. Kulturstaat nennt man heute all diese Aufschwünge zusammen, und mit vollem Recht: Hier ist jene Größe, welche der Staat verloren hat, wieder in tausend Hallen zurückgekehrt, so sollen sie zusammengebaut werden und in die Verfassung hinein. In dieser Kulturstaatlichkeit werden rasch aber auch politische Scheidewege erreicht: Eine Straße führt auf Dauer sicher wieder zurück in den größeren Staat. Was in einer nationalen Kultur als groß länger verehrt wird, gibt auch der Politik diese Weihe, welche eine solche Einheit zusammenhält: Wo überhaupt auf Dauer in größeren Dimensionen gedacht werden kann, im großen Wurf des Werkes oder in der machtvollen Person seines Schöpfers, da ist die Größenkategorie gegenwärtig, sie beherrscht das Denken in all seinen Ausprägungen, Politik kann sie nicht aussparen. Ob nun die nationale Kultur groß ist oder eine andere, fernere - das Bedürfnis nach politischer Größe wecken sie auf Dauer beide, und nicht in allgemein-nebelhafter Unbestimmtheit, sondern gerade in der Verfestigung zum großen Werk, zur großen Lösung, der man auch im Staate begegnen will. Im DanteEffekt hat ein ganzes Volk seine nationale Größe aus kultureller Mächtigkeit aufgebaut. Griechische Kulturleistungen haben sich, wenigstens für kurze Zeit, einen Alexander gerufen, der sie über die Welt tragen sollte, einen wahrhaft Großen. Und die missionarische Kraft des Kulturellen ist dem Staat und seiner Größe nie so gefährlich geworden wie religiöser Eifer. Dies ist der eine Weg: von der kulturellen Größe zu der der Staatlichkeit; es gibt aber auch einen anderen, auf dem sich Staatlichkeit immer weiter zurückzieht, die Bürgerschaft in kultureller Größe sich befriedigen will. Lange kann er nicht gegangen werden, die Grande Nation, welche zuzeiten mehr mit ihrer Sprache hat herrschen wollen als mit ihrer Infanterie, hat ihr Beiwort der Größe gerade dort noch rascher verloren. Die Mahnung geht also dahin: Gebt dem Staat eine eigene Größe, gerade wenn er große Kultur in sich aufzunehmen hat, sonst flieht das Größenbedürfnis seiner Bürger allzu schnell aus ihm und verliert sich dann bald. Und „große Kultur" wird heute ja zunehmend verstanden als irgendwie integrierte Multikultur, in einer offenen Staatlichkeit zusammengefasst; sie aber kann dann groß und weit gedacht werden, als ein geistiges Imperium eben, das vielen Provinzen Heimat bietet. Nur in einem Gleichklang der Größe von Politik und Kultur können die Gefahren gebannt werden, welche stets drohen, wenn Größe abwandert in Kultur: dass nämlich entweder die Staatlichkeit der Kultur in Romantik geopfert wird, bis dann vielleicht sogar der gewaltsame Umschlag kommt - „Riesenstaat aus Riesenkultur", wie ihn

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der Nationalsozialismus bringen wollte - oder dass die Kultur keinen Raum mehr findet und mit dem kleineren Staat selbst immer schwächer wird. Große Kultur in Staatsgröße und aus ihr - diese Lehre der Geschichte, von Augustus über das goldene Jahrhundert der Spanier bis zu Ludwig XIV., sollte ernst genommen werden. Immer war es die staatlich-politische Größenkategorie, die in einer letzten Phasengleichheit geistig-Künstlerisches begleitete und ermöglichte, außerstaatliche Größe aufnahm, sich von ihr nicht nostalgisch besetzen ließ. Denn der Mäzen muss so groß sein wie sein Horaz, dieser kann sein Monument nicht aufführen, wenn jener ihm nicht den Monumentalstaat vorstellt. Kulturstaatlichkeit aber heißt auch eines: Die Menschen werden nie aufhören, in „reiner Größe" zu denken.

5. Geborstene Monumente - der Monumentalstaat der Trümmer Von jener Romantik war schon die Rede, mit der alles Denken in Staatsgröße so eng verbunden ist. In der Geschichte ist sie oft aufgebrochen aus Monumenten, gewachsen auf dem Zerstörten, von dem noch etwas sichtbar ist und mahnt. Die gebrochenen Burgen am Rhein sind in deutscher Romantik neu und höher gebaut worden, wie der Staat der Deutschen damals, und dies alles gilt zuallererst für die mahnende Kraft staatsrechtlicher Ruinen. Die geistige und politische Elite Europas hat über ihre eigene Staatsgröße auf den Trümmern jener Römer nachgedacht, welche ihre hohen Mauern nachdenklich auf den Ruinen von Karthago errichtet hatten, in einem der größten Genüsse: the pleasure of ruins. In den Ruinen ist aber nicht nur Romantik - sie zeigen vor allem ruhige, mahnende Größe. Jeder Phantasie lassen sie ihren freien Lauf, wohin - zur Größe. Ruinen - das sind zwei Spannungen in einem: Größer war dies in Wirklichkeit als es heute ist, größer ist es dem Geist des Betrachters als es je war. Alles an ihm aber ist Größe. Und so auch die geborstenen Monumente der Staatlichkeit, von den wiedergefundenen Trümmern der römischen Staatlichkeit, dem römischen Reich, bis hin zu den zertrümmerten Größenträumen napoleonischer Staatlichkeit. Dass Niederlage und Verfall nichts gegen Größe bedeuten, auch nicht gegen die des Staates, dass hier Niederlagen vorüberziehen, Monumente aber bleiben - all dies gilt auch für eine Monumentalstaatlichkeit, die historisch geworden, in Trümmer gefallen, erst recht zum Monument darin emporgewachsen ist, und die doch mit der Geschichte nicht sterben kann. Dies ist vielleicht die mächtigste Kraft des politischen Historismus, der Staatsromantik: Nur mit ihren eigenen, historischen Waffen könnte sie geschlagen werden, indem solche Größe eben in Geschichte vergeht; doch gerade durch diese Historie wird sie, zertrümmert, erst recht zum Monument, historisch vielleicht widerlegt - und doch immer nur noch größer.

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Wieder ganz auf der Erde des täglich-Politischen gedacht: Halb Zerstörtes wird überall, auch im staatlichen Bereich, auf Dauer rasch zum Beweis der Größe, die Zerstörung selbst zum Zeichen, dass „doch noch etwas geblieben ist - also muss etwas ganz Großes gewesen sein"; und hier ist einmal der Raum sogar stärker als die Zeit. Gerade die Gegenwart sollte den Mut zu den staatsrechtlichen Ruinen früherer Größe haben, auf ihnen gerade wird doch immer so fest gebaut. Sie versucht es heute, indem sie sich auf das Mahnmal des Widerstandes gründet, der ein halb zerstörtes Reich hatte bewahren wollen. Noch wichtiger vielleicht ist aber eine weitere Lehre aus der mahnenden Kraft politischer Trümmer: Selbst wenn gegenwärtige Staatlichkeit der ganz großen Lösungen nicht fähig ist, die ganz mächtige Organisation nicht zeigt - auch die unvollständige Lösung, das teilweise Gescheiterte kann noch Staatsgröße bedeuten, sie als mahnende Dimension einer künftigen Generation an den Weg stellen, die vorübergehen oder zu Ende bauen mag. Damit sollte von einer Politik, welche in Kategorien der Staatsgröße zu denken vermag, die schlimmste politische Angst abfallen, die vor dem politischen Todesurteil, dem Misserfolg. Der politische Aufschwung zur Größe ist - lenkt man zum Gleichklang mit dem geistig-Kulturellen zurück - auch nicht anders zu werten als der große künstlerische Versuch, der allein das Recht hat, unvollendet zu bleiben, Ruine nicht zu werden, als Ruinenmonument zu entstehen - wenn er nur eines war: groß. Zu diesem Staats-Großen allein kann der Bürger das olympische Wort sagen, dabei gewesen zu sein, sei alles. Dies sollte Politikern den Mut zum Misserfolg erleichtern, in einer Art von „Zwang zur großen Lösung": Historische Lehren zeigen ihnen, dass sie sich dann allein einen Misserfolg leisten dürfen, vor der Geschichte, vor ihren Bürgern. Das große Fresko darf unvollendet bleiben, auch in der Politik, dem kleinen Genre-Bild der friedlichen Bürgerstube würde man es nie verzeihen. Fasst man zusammen, was staatsformübergreifend, in staatsgrundsätzlicher wie in historischer Sicht Staatsgröße bedeutet, so ist dies eine Staatsnotwendigkeit, aus dem Wesen des Staates, jeder Staatsform heraus, ohne etwas von ihr kann es Staatlichkeit nicht geben, in ihr potenziert sich diese zum Reich. Monumentalstaatlichkeit als Denkkategorie ist daher ein Beweis dafür, dass der Staat mehr ist als die Staatsform, gerade er ist der Träger der Größe, in der Lösung wie in der Organisation, erst weit nach ihm die konkrete Staatsform. Und dies ist ein wichtiges Resultat in einer Zeit, welche den Staat nurmehr als Staatsform, eben die der Demokratie, kennen will. Größe ist eine Qualität der Staatlichkeit an sich, eine Staats-Tugend, und doch ganz wesentlich frei von moralischen Wertungsproblemen und Bestreitbarkeiten. Hier wirkt moralinfreie, „rein politische Begrifflichkeit", darin auch etwas „Staatstechnisches", eben ein echter Staatsrechtsbegriff im weiteren Sinne sogar der Reinen Rechtslehre. Dem heutigen Funktionalismus und seinen Wertungszweifeln sollte diese Monumentalstaatlichkeit teuer sein.

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Buch 3: Der Monumentalstaat

III. Demokratie braucht Größe Außerhalb der Demokratie ist nur Unrechtsstaat - dies ist bereits eine politische These der Gegenwart, vielleicht wird es bald die Grundformel einer neuen Staatslehre sein. Diese Regierungsform hat ihren Absolutheitsanspruch so hoch gesteigert, derart moralisch befestigen können, dass eine Unterscheidung von Staat und Staatsform kaum mehr vorstellbar erscheint; Staatstheorie wird hier vielleicht bald und völlig umdenken müssen. Am Wesen der Demokratie muss sich also erweisen, ob Staatsgröße, bis hin zur Monumentalstaatlichkeit, ein Herrscher-, Führer-, Gewaltbegriff ist, als solcher in den Unrechtsstaat zu verbannen, oder ob gerade die „Ordnung des Volkes" nur daraus leben kann, darin allein ihre Zukunft findet. In jener Zusammenschau soll dies nun vertieft werden, welche staatsgrundsätzliche und historische Betrachtung bereits nahegelegt hat: Dimensionsprobleme der Staatlichkeit zeigen sich zuallererst wohl immer in den Entscheidungen, deren eine politische Machtordnung fähig ist; in diesem Sinn bedeutet Monumentalstaatlichkeit die „große Lösung". Doch eben dies kann auch bereits, wie global vorweggenommen, in den großen Trägern, den mächtigen Organisationen sich zeigen, denn was wären sie anderes, woraus könnten sie sich legitimieren, wenn nicht eben durch jene großen Gestaltungen, welche ganz natürlich aus ihnen kommen werden. Staatsgröße wurde früher im König fassbar, weil man von seiner großen Person die großen Lösungen und Siege erwarten konnte, welche sein Purpur symbolisierte, ob sie nun errungen wurden oder nicht. Dasselbe wird auch in die demokratische Staatlichkeit hinein begleiten: Das große Volk als die monumentale Lösung im Namen der Vielen, in ihrer Dimension bereits, in der Unendlichkeit des Volkssouveräns angelegt. Organisation als vorgedachte Groß-Lösung - diese Gleichung wird im Denken der Staatsmonumentalität deutlich.

1. Demokratie - als vergeistigte Staatlichkeit zur Größe geöffnet Die Thesen dieses Kapitels sind: Demokratie bedeutet Staatlichkeit par excellence; deshalb ist Größe die Probe auf ihr Exempel. Volksherrschaft stellt eine hohe Vergeistigungsform der Staatlichkeit dar, welche gerade in dieser ihrer Abstraktion der Größe fähig ist. Eben der Begriff des Volkes als Souverän lässt sich zu immer weiterer Größe erfüllen, auf ihm ruht sogar noch die Größe anderer Staatsformen. Viele Demokraten betrachten „den Staat" mit Misstrauen; ihrer Staatsform möchten sie am liebsten den ersten Teil dieses Wortes streitig machen. Damit würde in der Tat typische Staatsgrößen-Fähigkeit der Volksherrschaft von vorneherein abgehen, hier wäre nur breites Zusammenleben, ohne jede monumentale Dimension.

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

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Die bisherigen Betrachtungen zur Staatsgröße widerlegen bereits diese verbreitete Auffassung. Gerade in der Staatsform der Demokratie treten jene Probleme auf, welche sich letztlich nur aus voll bejahter Staatsgröße heraus lösen lassen. Erwähnt wurden die großen Gefahren der verschleierten Macht, jener Mafienbildungen, welche aber in das Licht der großen Staatsfassaden gezogen werden sollten. Die Rede war von den Kräften der Selbstentwicklung kleinerer Größen im Staat, in zünftischen und in allen anderen Zwischengewalten, welche sich selbst historisch in Staatshöhe hinaufpflanzen wollen - nirgends sind sie wirksamer als in jener Demokratie, welche dem Bürger ja auch die Freiheit dazu bringt, ihn zu allem Politischen im weiteren Sinne ermuntert: Volksherrschaft wird immer etwas von Basisdemokratie in sich tragen und erdulden müssen; wenn sie nicht die größere - nein: die schlechthin große bleibt, wird ihre Staatlichkeit in neuen Feudalismen völlig zerstört, in welche partielle Basisdemokratie rasch hineinwächst. Wenn also alles dieser Herrschaftsform besonders gefährlich werden kann, was gerade in Staatsgröße überwunden werden muss, so darf sich nur eine Staatsform nie aus der Größe werfen lassen, die Volksherrschaft; denn dann kann sie sich auch nicht mehr in den Äußerlichkeiten der Kronen und Kanonen befestigen. Die Banalthese, dass die moderne Demokratie der Französischen Revolution nur die Bewusstwerdung des Staates per excellence bedeutet hat, findet ihre Bestätigung, wenn das Wort Staatsgröße fällt: Von Anfang an hat diese Staatsform hier zugleich ganz Staat und ganz groß sein wollen.

a) Flucht der demokratischen Staatsgewalt aus Sozialneid in abstrakte Staatsgröße „Staat" wird gemeinhin als Abstraktion verstanden, als vergeistigte Organisationsform des politischen Herrschaftswillens. Staatlichkeit ist als „gemeinsame Sache", als res publica von den Römern geschaffen und vererbt worden, damit dies keines Bürgers Eigen sei, auf dass die Staatlichkeit dem Sozialneid der Bürger entgehe, ihn überdauere. Die Demokratie sucht all dies nicht nur mit einem Begriff, sondern in der fassbaren Person ihres Souverän - res publica, res populi. Das Volk mag der Träger des Neides sein, zuallererst sogar, selbst ist es nie Gegenstand dieser Begehrlichkeit. Damit wird die Demokratie zu einer besonders hohen Form der Vergeistigung des politischen Machtstrebens, das sich hier nicht nur hinter der Fassade des Staates, sondern auch noch hinter der des Volkes verstecken muss. Wohin aber entzog sich die früher erfolgreiche monumentale Fürstenstaatlichkeit, ja -imperialität dem zersetzenden Neid der Kritik? In jene Abstraktion der Größe, in welcher der Fürst hinter dem Staat verschwand, der einzelne Aristokrat hinter seinem größeren, abstrakten „Haus", das Gottesgnadentum hinter dem Schöpfer. Flucht aus dem Sozialneid in Staatsgröße hinein - dies war das Rezept von Monarchien und Oligarchien, denn zu Ludwig XIV. passt auch gerade das Gegenteil des berühmten Wortes, nämlich: „Ich bin - (ja nur) der Staat". Wenn nun der De-

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mokratie die perfekte Flucht aus partikulärem Neid in die kollektive Größe gelungen ist, indem sie alle möglichen Kritiker mit den Kritisierten zusammen zum gemeinsamen Souverän erklärte, so liegt darin nur eine - wenn möglich - noch höhere Abstraktion, als sie je einem Fürstenstaat möglich war. Damit aber hat sie sich „in die ganz große Staatsgröße gerettet". Dies war ja bereits die politische List, mit der sich die persönlich Herrschenden unangreifbar machten, dass sie nämlich ihre Zuflucht zu etwas wie einer abstrakten Größenkategorie nahmen, deren Vergeistigung aber eben ohne besondere Dimension gar nicht vorstellbar war: Nur dadurch war ja der Staat vom Monarchen getrennt, dass er über ihn hinausging, letztlich größer war als jener. Da aber der Staat größer sein muss als der Herrschende, so bedarf die Demokratie mit ihrem riesigen Souverän der Staatsgröße par excellence, einer sich ganz weit öffnenden Staatlichkeit, damit niemand sage, hier gebe es doch wieder etwas wie persönliche Herrschaft, und sei es auch nur die Diktatur des Proletariats. Die spiritualisierte Staatsform der Demokratie kann, muss also gerade deshalb „größer" werden, geradezu beliebige Größenordnungen erreichen, und sie braucht sie, weil sie ihre besonders hohe Vergeistigung halten muss. Im Begriff der Spiritualisierung selbst schon liegt ein mächtiger Größenanspruch - oder könnte etwas wie eine „kleinere Spiritualisierung", eine „kleine geistige Wesenheit", auch nur gedacht werden? Und hier ist Hegel Bewunderung geschuldet, er hat in sicherer Erkenntnis Vergeistigung, Größe und Staat gleichgesetzt. Dies wird denn auch die folgenden Betrachtungen stets begleiten: Wo immer Abstraktion in besonderem Maße gefordert ist in politischen Dingen, da bedeutet dies die Eröffnung einer wahren Dimension der Staatsgröße. Diese Erkenntnis reicht weit über die Staatsform der Demokratie noch hinaus, lässt sie sich auch gerade in ihr besonders deutlich gewinnen; im Grunde ist überall dort, wo typisch staatsrechtliche Abstraktion eingesetzt wird - jene Vergeistigungskraft, welche der Staatsbegriff einem ganzen Rechtsgebiet vermittelt, eben dem Staatsrecht - auch immer die Türe aufgestoßen zur Erkenntnis der Staatsgröße.

b) „ Volk" - ein Abstraktionsbegriff

„zur Größe geöffnet "

Mit dem „Volk" will die Demokratie einen konkret fassbaren Träger der Souveränität zeigen, ihn gewissermaßen vor den abstrakten Staat stellen. Doch gerade dies hebt die Vergeistigung, die typisch staatliche Abstraktion dieser Staatsform, nicht auf, sie wird dadurch eher noch gesteigert. Dieses „Volk" ist ja nie allein eine Addition konkreter Personen, mehr legt demokratische Staatstheorie immer in diesen Begriff. Fließend sind schon seine Übergänge zu jener „Nation", in welcher viel von Vergangenheit mitschwingt, über politische Kulturgemeinsamkeiten; eine strenge Trennung zwischen Volkssouveränität und nationaler Souveränität ist bisher noch nie gelungen. Und selbst in der ,/einen" Theorie der Volkssouveränität trägt diese Staatsform in sich eine starke Abstraktionskraft, bereits in ihrem „allgemeinen Willen", der hier ein demokratisches Gralswunder bedeuten mag, vor

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

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allem aber die Offenheit der Demokratie zu hoher Abstraktion verdeutlicht. Offenheit wozu? Zu „allem, was größer macht" - groß. Doch die Abstraktion des Volksbegriffs reicht noch viel weiter. Staatsrechtlich können ja auch einzelne Persönlichkeiten in mehr oder weniger fest institutionalisierter Form für dieses Volk sprechen, Führer moderner Staatsparteien oder gar Inhaber persönlicher Gewalt. Offen ist also dieser staatsrechtliche Kernbegriff für staatsformübergreifende Weiten, ein Augustus konnte für den geistig ja auch im Prinzipat noch gegenwärtigen Populus Romanus immer noch sprechen, mochte dieser auch in Abstraktion verdämmern - und in der staatsrechtlichen Realität. Nirgends sperrt sich also diese auf so breiter Basis angelegte Staatsform gegen größere institutionelle Formen, alle lassen sie sich irgendwie auf „Volksherrschaft" zurückführen - sie suchen sogar deren Legitimation; also muss hier doch in besonderem Maße Staatsgröße geradezu angelegt sein, wenn sie sich in fast allen Staatsformen immer wieder gerade aus diesem Volksbegriff legitimieren will. Wenn schließlich laufend die Rede ist von der „natürlichen Einheit des Volkes", in welcher das Staatsrecht ja wesentlich auf Außerrechtliches ausgreift, so kann auch dies nur in erster Linie eine Öffnung zu außerrechtlicher Abstraktion bedeuten, zu einer Vergeistigung jenseits aller institutionellen Formen. Wie könnte denn sonst dieses „natürliche Volk" ins Staatsrecht übernommen werden, seine Grundlage darstellen? Diese ganze und typisch demokratische Offenheit zu unterschiedlichen staatsrechtlichen Inhalten, die hohe Abstraktion, welche dahintersteht - all dies bringt also viele Öffnungen zu Größerem, mehr noch: eine Öffnung zur großen Dimension der Staatlichkeit. Indem sie unterschiedliche Institutionen aus sich legitimiert, Außerrechtliches in vielfacher Form in sich aufnimmt, kann sich diese Staatsform, wie kaum eine andere, immer von neuem zur Staatsgröße aus all dem aufladen, was außerhalb von ihr groß ist, so bedeutend in Quantität oder Qualität, dass es ihrer breiten Basis bedarf, sich gerade ihr überlagert. So mag man durchaus der Volksherrschaft ein hohes Lied singen: Darin sogar, dass sie, scheinbar von anderen Staatsformen gebrochen, unter ihnen als Fundament weiterlebt, hat sie stillschweigend Anteil selbst an geistig-politischer Staatsgröße, welche nicht unmittelbar vom Volkssouverän kommt.

c) Republik - der große demokratische Herrschaftsraum Hier liegt auch eine wesentliche geistige Verbindung zwischen Demokratie und Republik. Blutleer wäre eine Begriffsbestimmung, welche die Republik lediglich aus dem Fehlen der Fürsten definieren wollte. Sie bedeutet den großen Raum, den mächtige politische Persönlichkeiten stets, in der oder jener institutionellen Form, besetzen wollen, indem sie „an die Republik herangehen", wie schon die Römer so plastisch formulierten - und dies vermögen auch Aristokraten, wenn nicht fürst-

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liehe Sachwalter. In diesem Sinne ist für die Demokratie heute die Republik wesentlich, vielleicht war sie es immer, denn sie bedeutet ja nicht einen Restbestand von Staatlichkeit nach Abzug von Monarchie oder Oligarchie, sie ist der große staatliche Raum, der besetzt werden kann, in dem sich - Staats-Großes sodann vollzieht. In diesem Sinn ist Republik nichts anderes als ein Wort für große staatliche Dimension, welche sich nicht auf wenige Familien, auf einzelne Personen verengen lässt. Erst die Demokratie lässt diese „öffentliche Sache", die res publica, zur res populi werden. Sie erfüllt sie in jenen Wahlen und Mehrheiten, in denen sich dann auch - dies wird sich noch zeigen - demokratische Staatsgröße in besonderer Weise abspielt. Die geistige Kraft gerade der republikanischen Demokratie liegt nicht nur in dieser ihrer eminent staatsrechtlichen Virtualität, aus dem Raum, in dessen Legitimationsdimensionen sich alles bewegt. Die Volksherrschaft gewinnt sie auch aus der erstaunlich räumlichen Spannweite, die ihr eigen ist: Ihre res publica mag machtpolitisch klein sein und groß, die antike Spannung zwischen attischer und römischer Demokratie beweist es; denn auch Letztere gilt es zu entdecken. Diese Staatsform kann aber ihr Substrat beliebig erweitern, durch die Angliederung anderer Völker, in einer beispiellosen politischen Kapitalerhöhung. Der republikanische Herrschaftsraum lässt sich schier grenzenlos vergrößern, ohne die Sorgen der Regierbarkeit durch einzelne Fürsten oder Häuser. Oligarchien etwa sind niemals vergleichbar erweiterungsfähig gewesen. Die Zeitdimension schließlich eröffnet für die Demokratie einen republikanischen Erweiterungsraum ohne Grenzen, denn ihr Volk stirbt nicht. Dies alles trägt in sich eine kaum begrenzbare staatliche Größendimension. Klein erscheint die Demokratie so oft in der Spannung zwischen dem immer verhältnismäßig Wenigen, was in diesen großen Räumen geschieht, klein aber scheint dies im Grunde vor allem deshalb, weil es in diesen gewaltigen Räumen der Staatsgröße abläuft, sich verläuft, nahezu sich verliert. Wenn Monumentalstaatlichkeit in erster Linie den Raum für das politisch Große absteckt, so übertrifft nichts darin die republikanische Demokratie.

2. Demokratie - stets eine Staatsform selbstbewusster Größe Was bisher als Größe der Volksherrschaft gepriesen wurde, mag als eine schweigende, unbewusste und daher politisch wenig wirksame „reine Dimension" erscheinen, als ein Staat der leeren Mauern, als ein monumentales Trümmerfeld, in welchem jeder Condottiere seine Zwingburgen errichten kann, die in der Tat stets noch etwas von der Volksgröße sich bewahren, auf der sie gebaut sind. Doch solche Betrachtung täte einer Staatsform Unrecht, die wie kaum eine andere Selbstbewusstsein bis zur Begeisterung der Größe entwickelt hat, in vielen Augenblicken einer wahrhaft großen Geschichte.

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

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a) Die triumphale Demokratie der Französischen Revolution 1789 bedeutet wirklich die - „große" politische Umwälzung der Neuzeit, dieses Beiwort wird ihr immer gegeben, sie verdient es wie kein anderes politisches Phänomen. Die Revolutionäre feiern in ihrer Aktion die Wiederkehr der natürlichen, der besten aller Staatsformen, in erster Linie aber eine Staatlichkeit, welche die Erbin all dessen ist, was je groß war am Staate: in der historischen römischen Monumentalität, der unendlichen philosophischen Weite, in welche der griechische Geist über die systematischen Riesenkonstruktionen der Aufklärung zurückgekehrt schien; vor allem aber in einer alten, neuen Freiheit, welche die ganze Welt erfasst, die staatsrechtliche französische Dimension in die europäische erweitert, diese mit kolonialem Schwung über die Meere getragen hat. Außenpolitisch ist dieser Volksherrschaft ein Zug nicht nur zur Größe, sondern zur Grenzenlosigkeit eigen gewesen, er hat sie nie verlassen. Paradox mag es erscheinen in einer noch immer unterschwellig von antidemokratischer Kritik des 19. Jahrhunderts getragenen und geprägten Sicht persönlicher Gewalt, welcher die Volksherrschaft das parvenühaft-Kleine bedeutet: In Wahrheit war diese Volkssouveränität von 1789 die staatsrechtliche Form par excellence für außenpolitische Größe, im Namen ihres Souveräns ist sie immer und oft bedenkenlos über bestehende Grenzen hinweggegangen, welche sie nicht anerkennen wollte, da sie von Unfreiheit und in deren Namen gesetzt waren. Wo immer der Geist von 1789 lebendig ist, da will sich die demokratische Staatlichkeit geistig etwas angliedern: andere Völker, Kulturen, in Freundschaften und Föderationen, zu gleichem Recht, damit sie in all dem - größer werde. Unterwerfung durch Fürsten und Oligarchien baut vielleicht hierauf, aber sie macht nicht breiter und größer in allem. Die Annexion der Demokratie ist im Grunde ein Größenbegriff, eine Verbreiterungskategorie nahezu ohne Begrenzung. Insoweit blieb selbst Napoleon noch in der Größentradition der Volksherrschaft, ist er aus ihr heraus noch verständlich, wenn er seine bonapartistische Großfamilie in Europa zu einer in Angliederungen immer größer werdenden Völkerfamilie unter französischem Schutz ausbauen wollte. Dass dies Letztere dann in Hegemoniestreben umschlug, wird als das Große Napoleonische gefeiert - letztlich ist es nur das Ende der eigentlichen demokratischen Größe der Französischen Revolution gewesen, und damit der Untergang der Größe eines wahrhaft großen Mannes. Die französische Demokratie hat zuerst ihr Volk ganz bewusst in Größe gefeiert, aus 1789 heraus ist die Grande Nation als Begriff über die Welt gegangen, in ihr ist alles groß geworden, was vorher am „kleinen Volk" belächelt werden mochte, ist der bescheidene Bürger ins große Staatsrecht hinaufgewachsen. Alles war ja auch staatlich groß aus dieser Zeit heraus: Riesenheere der unübersehbaren Bürgermassen, die gigantischen Kulturanstrengungen der Staatlichkeit, die zum ersten Male in Museen alles vereinigen wollte, was bisher groß gewesen war im Namen des Volkes und seines neuen Kulturregals. Und die schier grenzenlosen Versammlungen - war in ihnen nicht, nach den hier versammelten Persönlichkeiten, in der fast

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schrankenlosen Freiheit der Rede und den unendlichen Sitzungszeiten, etwas vom wahrhaft Staats-Großen, weht nicht dieser Atem durch die Blätter des Moniteur für den, welcher heute die Debatten der Nationalversammlung liest? Man mag sie beurteilen wie immer, niemand bestreitet ihnen - Größe. Dieses politische Selbstbewusstsein der Größe sollte sich sogleich in alle geistigen Dimensionen erweitern, aus ihnen wiederum das Politische zu mehr noch an Größe aufladen, am deutlichsten in der Entfaltung des mächtigen revolutionären Ethos. Hier bestätigt sich die Monumentalstaatlichkeit in einem Fortschreiten der politischen Kultur im Namen der Größe: Angetreten mit einem schier grenzenlosen Pathos, entwickelt sie aus ihm heraus rasch das ebenso große Ethos, mit dem allein sie einer Welt von Feinden standhalten konnte. Diese Demokratie lebt und feiert sich aus dem besseren moralischen Recht des politischen Bürgers; er ist nicht Träger oder Objekt der Gewalt, nicht aus ihr definiert sich die Herrschaft, sondern aus einer Moral heraus, in welcher das Politische verbunden wird mit allem anderen, was dem Bürger wert und gut ist in seiner Welt. Damit allein schon erweitert sich aber entscheidend die Dimension des Staatlich-Politischen dieser Demokratie, ihre Legitimation. Sie wird wahrhaft groß als voller Lebensraum des Menschen - mehr noch: aller Menschen in dieser Staatlichkeit. Fürstliches und Familien-Ethos erscheint demgegenüber als Unmoral, aus einem Grund vor allem: weil es nur Ausdruck der Werte und Überzeugungen kleiner Kreise darstellt, vor der Größe der Gesamtethik der gleichen Bürger nicht zu bestehen vermag. Deshalb war der Zusammenbruch der Schreckensgröße der Revolution zuerst ein moralischer, in der Ermordung des Marat. Die ins Unmenschliche übersteigerte Staatsmoral eines Robespierre und St. Just aber hat ein Monument von staatsethischer Größe hinterlassen, moralische Monumentalstaatlichkeit der Französischen Revolution. Politisch vollzog sich in der Terreur ein starker Wertverlust der demokratischen Staatsmoral, doch ihre Größendimension hat dennoch weiter wirken können. Die Verbindung von Größe und Staatsmoral ist vielleicht nirgends deutlicher geworden als in der Französischen Revolution, doch im Grunde hat sie die Geschichte der Monumentalstaatlichkeit stets begleitet: Immer bei großen politischen Umwälzungen, und im Namen gerade von deren Größe, ist auch die ethische Kategorie eingesetzt worden, geradezu als Magd staatlicher Größe; der Staatspuritanismus des Augustus beweist es. Darin aber zeigt sich auch die notwendige Verbindung zu dem, was im weiteren Sinne eben doch auch wieder demokratisch ist; denn der Imperator wollte gerade in dieser großen Staatsmoral die res publica restaurieren.

b) Amerikanische Demokratie - groß in Freiheit und Moral Das Selbstverständnis gegenwärtiger Volksherrschaft ist entscheidend geprägt durch die amerikanische Demokratie, mit welcher diese Regierungsform weitbeherrschende Staatsgröße erreicht hat. Hier setzt sich der französisch-revolutionäre Größenzug mit all seinen Strömungen fort, sich ständig erweiternd, seine eige-

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nen Dimensionen preisend, was europäischer Ironie schlechthin als Wesenszug des Amerikaners erscheint. Das erste Selbstbewusstsein dieser Nation ist immer ihre Größe gewesen, zuallererst die schier unendliche ihres Raums und seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten. Im Politischen hat dies rasch besondere Formen angenommen, in jener pathetischen, sich selbst feiernden Volksherrschaft, die Kreuzzüge nach Europa unternehmen zu müssen glaubte, in jener menschlichen und politischen Naivität, die noch immer wenn nicht das Zeichen, so doch die Vorläuferin der Größe gewesen ist. Bald kam mit diesem Volk, wieder nach französischem Vorbild, in Folge der Massen und Massenheere, das massive politische Ethos über die Weltmeere in alle Kontinente. Puritanismus setzt hier auf „moralische Politik", in der Selbsthochschätzung, ja Überschätzung der eigenen staatsrechtlichen Prinzipien, in der Moralisierung der Freiheit. In ihnen scheint geradezu dieses große Volk dem großen Schöpfergott am nächsten; Präsidenten werden dazu gewählt, damit sie das Great America immer wieder von neuem entdecken, darin nur dürfen sie selbst groß werden. Endlich hat hier eine Demokratie ihr „ganz großes Volk" gefunden, ist sie „große Volksherrschaft" im wahren Sinne, und eben auch in der „Herrschaft" geworden. Staatsgröße bis zur Monumentalstaatlichkeit zeigt hier ihre ganze Weite, in der Wesensverbindung mit jener Staatsform, welche ihr näher steht als jede andere. Vor Grenzüberschreitungen übrigens schreckt diese Demokratie im Namen ihrer Größe wahrlich nicht zurück, die Imperialismus-Kritik hält es ihr täglich vor. Unrecht wird Amerika darin getan: Wie könnte eine Staatsform der Monumentalität in einem großen Land nicht - noch größer werden wollen? Lässt sich wirklich der Mehrwert der Größe an politischen Grenzen aufhalten? Und liegt nicht im vielangeklagten Business-Imperialismus amerikanisches Streben zu den größeren Strukturen eines Reiches, weicher und härter zugleich als das Vordringen der Heere der Französischen Revolution?

c) Das neue Deutschland - ein Abglanz demokratischer

Größe

Deutschland hat seine Größe mit seinem Reich verloren, in der Demokratie ist es dabei, einige kleine Größen wieder zu gewinnen, vielleicht entfalten sie sich in Weiten, die heute manche Demokraten so ängstlich meiden. Jene drei Schritte zur Größe, welche typisch für die Volksherrschaft sind, in der Grande Nation wie der Größenverehrung der Vereinigten Staaten - sie werden auch in Deutschland heute vollzogen, und nicht einmal mehr so unbewusst, wie die Größe der bewunderten Bundesrepublik nach 1949 aufgebaut wurde. Da ist zuerst ein steigendes Pathos, in dem sich die Volksherrschaft heute bereits selbst zu feiern beginnt. Es setzt ein mit der Tabuisierung der eigenen institutionel44 Leisner

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len Formen, zu welcher schon antidemokratische Vergangenheit zu zwingen scheint. Dies gibt sich als Distanz zu früheren Größen-Versuchungen, und ist doch bereits eine große staatsrechtliche Gegenthese, die sich an den Dimensionen ihres Feindbilds aufrichten muss. Solcher Lobpreis der eigenen demokratischen Vorzüglichkeit, in erster Linie der Güte des eigenen Staatssystems, erfolgt mit einer Intensität, welcher die Kraft einer demokratischen Monumentalität nicht abzusprechen ist. Absolut gesetzt werden demokratische Begrifflichkeiten und vermeintliche oder wahre Werte dieser Staatsform, bis hin zu einem systematischen Radikaldemokratismus, der sich kaum von den Größenordnungen der Französischen Revolution unterscheidet, und oft auch nicht mehr von deren Naivität. Deutschem politischen Denken entsprechend wird hier rasch systematisiert, überall hin ausgebaut. Experimente der Basisdemokratie schrecken wenig, da auf die Bemühungen um eine Demokratisierung gesellschaftlicher Bezüge vertraut wird. Pathos oder ausgebaute Staatstechnik - in all dem ist etwas von Staatsgröße: Jene Demokratie, welche man nach außen mit eigener Macht nicht tragen kann, soll sozusagen „nach innen vergrößert werden", bis in deutsche Formen des Dichtens und Denkens hinein, der staatsphilosophischen Systematik. Wenn diese Demokratie schon nicht offen „groß" genannt werden darf, so soll sie doch „ganz" entstehen - und liegt darin nicht auch etwas von einer Grenzüberschreitung in größere Dimensionen hinein, in einen demokratischen Mikrokosmos, von dem man heute weiß, dass er das eigentlich Unendliche darstellt? Wäre er dann nicht auch - groß bis zur Monumentalität? Aus diesem verhaltenen, leisen Pathos wächst rasch und heute schon deutlich sichtbar die größere ethische Dimension. An die intensive Erziehung zu solcher demokratischer Staatlichkeit glaubt bundesdeutsche Politik mit all ihren Kräften. Hier wirkt der Edukationseffekt viele Jahre amerikanisch geprägter Besatzungszeit weiter, mit ihm, und im Anschluss an amerikanische Politologie, die Auswirkungen puritanischer Staatsethik der Größe von jenseits des Atlantik. Und wer wollte leugnen, dass sich deutsche Demokraten so gerne als eine Provinz dieser Größe fühlen? In politischer Bildung, inneren Führungen, in tausend Formen der Jugendarbeit soll hier demokratisches Pathos in Ethos verwandelt - vergrößert werden, zu etwas von einer wirklich weiten Staatsdimension, in welche das ganze Bürgerleben hineingestellt werden kann. In beispiellosen Anstrengungen der Vergangenheitsbewältigung findet laufende Ethisierung der demokratischen Staatsform statt, sie muss so groß hinaufwachsen, dass sie die doch wahrhaft monumentalen Gewaltformen noch geistig zu überhöhen vermag, all das, was für die Demokratie Unrechtsstaat bedeutet. Nur wenigen ist bewusst, auf welche - vielleicht inneren Staatsgrößen hin die Staatsform im neuen Deutschland gerade darin unterwegs ist. Läge denn nicht etwas von wirklicher geistiger Staatsgröße darin, dass man im Namen solcher Staatsethik sogar auf eigene Staatsinteressen verzichtet, auf dem

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Weg in das große, demokratische Europa? Steht dahinter nicht bedeutenderer, eben moralischer, Größenanspruch als in der Annexion einzelner Provinzen? Viele Demokraten mögen es in Deutschland heute so empfinden. Wie immer man dies aber werten mag - ein bereits bedeutendes Pathos wächst hier wirklich zum demokratischen Ethos hinauf und erreicht damit nach allen demokratischen Traditionen Staatsgröße. Das Ausland fühlt dies und betrachtet es gerade deshalb mit Sorge, vielleicht weil es diese Bemühungen ernster nimmt als manche Demokraten in Deutschland glauben, weil es, anders als sie, in ihnen einen Weg der Größe erkennt. Nicht als ob übrigens der dritte und ebenfalls typisch demokratische Schritt in die nun auch deutlich machtpolitische Größe im neuen Deutschland fehlte, etwas von einer außenpolitischen Grenzüberschreitung, ein Zug vor allem in das außenpolitisch Größere. Da ist jene „leise Grenzüberschreitung", die aber doch ganz deutlich mit nahezu schon ideologisch aufgeladenem, grenzüberschreitendem Größenbedürfnis einhergeht: Die Demokratie soll aus dem bundesrepublikanischen Deutschland in besonders reiner Form, so wollen es hier demokratische Kräfte, in fremde Bereiche getragen werden; solche politische Entwicklungshilfe ist aber auch Ausdruck eines Strebens demokratischer Größe, welche die Dimension eigener Staatsideen exportiert. Rasch ist man denn auch, im Namen dieser größeren Sicht, mit dem Urteil über fremde Demokratizität bei der Hand, sogar bereit, die eigene im Ausland mit eigenem Geld zu erkaufen, mit dem Druck von dessen Versagung zu erzwingen. In all dem mag man mehr naive Großmanns-Politik sehen als Staatsgröße; fassbarer wird das Streben nach ihr schon in jenem auch rein politischen Eifer zum europäischen Zusammenschluss, in dem die Bundesrepublik Deutschland sich von keinem europäischen Lande übertreffen lässt, seit Jahrzehnten nicht. Was immer hier wirklich gewünscht, wie groß auch jener Idealismus sein mag, der vielleicht wirklich eigene Staatsgröße gar nicht im Blick hat - die Partner und manch andere Stimmen im Ausland werden darin doch wieder ein deutsches Größestreben auf demokratischen Wegen sehen oder befürchten, besonders dann, wenn dem so starke Beteuerungen entgegengesetzt werden. Außerhalb deutscher Grenzen glaubt man seit Jahrzehnten nicht und wird noch Jahrzehnte nicht glauben, dass aus einem Raum, in dem soviel Größe gewollt, soviel über Größe nachgedacht worden ist, Staatsgröße nicht wieder hervortreten will. Und dann war da von jeher die „Deutschlandpolitik" - wer wird je ausloten, was hier Pathos, Ethos, Machtstreben war? Vielleicht war gerade ihr Gemenge groß, jedenfalls das Ziel - in Demokratie. Und es ist denn auch spektakulär erreicht worden, mit der deutlichsten Grenzüberschreitung, die es geben konnte: dem Fall der Mauer. „Friedensmissionen" in fernen Ländern, stets allein im Namen der Demokratie, kennen selbst für deutschen Pazifismus keine Grenzen mehr. Mit anderen Demo44*

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kraten zusammen ist sogar Deutschen - jede Grenzüberschreitung erlaubt. Wenn Demokratie nicht Größe bereits bedeutet - sie legitimiert sie.

3. Die „großen Worte" der Demokratie a) Die „groß redende Staatsform " In keiner Staatsform bedeutet das Wort so viel wie in der Demokratie. Man mag sie das Regime der vielen Worte nennen, sie den Ordnungen der wenigen, großen Aussprüche gegenüberstellen, mit denen Könige oder Volksführer Massen faszinieren; doch im Grunde ist dies ein falscher Gegensatz, gerade aus der Mächtigkeit des politischen Wortes heraus. Die vielen gewichtigen Worte fallen eben doch in der Volksherrschaft, wo ja nichts anders bewirkt werden kann als letztlich über sie, und sie sind dort weit inhaltsschwerer als in Herrschaften, wo sie nur Bajonette verdecken. Kaum irgendwo ist das Beiwort des „Großen" so selbstverständlich wie beim großen Wort, und dies vor allem ist von jeher das Ziel: groß über den Staat zu sprechen. So ist denn die Demokratie jene Staatsform, die sich groß reden will, mit Notwendigkeit. Ihre politischen Reden sind das Bedeutendste - eben das StaatsGrößte, was politische Wortmacht bisher je hat hervorbringen können. Demosthenes bedeutet Monumentalstaatlichkeit in Worten, nicht die wenigen und unsicheren Sätze, die von Alexander überliefert sind. In den Parlamenten der neuesten Zeit sind diese staatsgroßen Worte gesprochen worden, von Demokraten oder solchen, welche die Demokratie auf ihre Tribünen gezwungen hat, auch wenn sie sonst nicht nach Canossa gehen wollten. Diese demokratischen Worte schaffen zuallererst die Größendimension der Volksherrschaft, sie muss nicht, kann aber ausgefüllt werden, und mit der Sogkraft politischer Leere ziehen sie demokratische Taten nach sich. Groß ist schon die Dynamik, welche damit in Bewegung gesetzt wird, monumental wahrhaft und wie in Erz gegossen hat die Demokratie mit dem Satz der machtlosen Größe begonnen, dass ihre Redner nur der Gewalt der Bajonette weichen wollten - und diese sind ihnen gewichen. Wenn Demokratie der Größe oratorisch nicht mehr fähig ist, setzt sich ihre Eloquenz in den großen Gesten fort, deren diese Staatsform mächtig bleibt, vom volkstribunizischen Auftritt bis zur Hand aufs Herz des amerikanischen Präsidenten. In Worten und Gesten des Volkstribuns wird der ewige popolino, das immer kleine Volk - ganz groß in seiner Demokratie. Wo aber eine Zeit großer Worte und Gesten nicht mehr fähig ist, werden sie den Führern des Volkes nachgesagt, zugedichtet, oder ihr Auftritt war eben ihr Wort - im Adenauer-Effekt. Selbst dort noch, wo politische Kraft nichts von alledem mehr erreicht, vermag sich die Volksherrschaft „in die Größe zu reden": An die Stelle ihrer „großen Worte" treten die wuchtigen inhaltsleeren Allgemeinformeln; die anderen Parlamentarier mögen sie langweilen und die Bürger, doch sie besetzen immer noch

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große politische Räume und eröffnen solche. Dies ist ja das Geheimnis der Demokratie als redender Staatsform: Es genügen ihr die hundert großen oder auch nur weiten Worte, wenn nur zehn Taten folgen; der Rest bleibt Stimmung, Chance-Dimension, und auch darin liegt so viel an Größe, in all diesen „Vielleicht-Taten".

b)... und die großen Versprechungen Wenn Demokraten nicht mehr groß sprechen können, versprechen sie Großes. Demokratie als Staatsform der Versprechungen - das bedarf keiner Beweise. Dies sind die bedeutendsten Instrumente ihrer Staatsmechanik, mehr noch: Versprechungen werden ihre „großen Stunden", die Augenblicke, in denen sich diese Staatsform in schier unglaubliche Höhen der Hoffnung und der Zukunft erhebt. In der politischen Versprechung ist Größe an sich, durch keine Finanzierungsangst wird sie genommen. Wenn Staatsgröße zuallererst Dynamik braucht - hier ist sie in Fülle, aus den Kleinheiten der faktischen Beschränkung weist das Versprechen der Staatlichkeit geradezu in die Idee der Größe hinauf. Und was leichte Kritik dieser Staatsform vorhält, ist im Grunde ihre größte Kraft, eine Macht aus gedachter Größe. Hoffnung wird zur staatsrechtlichen Kategorie im wahren Sinne des Wortes - in der Unsicherheit eben der Erfüllung des Versprechens, welches diesem erst das Recht zur Größe gibt. Versprechungen als große Worte tragen in sich die Kraft jenes Pathos, in dem so oft Monumentalstaatlichkeit schon liegt, aus dem sie sich noch öfter entwickelt. Vom Siegesversprechen in der Geste eines britischen Premier bis zum Versprechen, „mehr Demokratie zu wagen", in dem vor kurzem in Deutschland wieder, wie so oft, Staatsgröße in Worten versucht worden ist - immer steht dahinter eine Kraft, die größere Räume füllen oder öffnen will. Doch da ist mehr als das große Ausholen, welches solche Kraftanstrengung eben verlangt, das selbst in ihrem Scheitern noch ein Vermächtnis des Denkbaren hinterlässt; das große Versprechen schreitet vom Pathos ins demokratische Ethos hinein. Mögen die Kräfte auch fehlen, der Mut bleibt zu loben, mit welchem versprochen werden konnte, und nirgends so groß wie in der Volksherrschaft. Eben das wiederum, was ihr zum moralischen Vorwurf so rasch gemacht wird, dass sie in leichtem Sinn auf den Sand der Versprechungen baue, dies ist letztlich ihre ethische Kraft, weil diese Sandstrände sich in solcher Größe erstrecken, dass es schon moralisch gut ist, sie mit dem Blick durchmessen zu haben, ein Zeichen der Tapferkeit, den Lauf über sie sich auch nur vorzunehmen.

c) Demokratisches Regierungsprogramm ein System großer Versprechungen Das Regierungsprogramm ist nicht nur ein wichtiges Instrument, ja geradezu eine Institution demokratischer Politik, es ist ein Wesenselement dieser Staatsform,

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eine Zusammenfassung von großen Versprechungen, ein Versuch zu einer weiteren Einheit künftiger Politik. Hier werden die großen Worte der Demokratie zum System, welches den ganzen Staat und seine Politik erfasst, ihm zukünftige Größe verspricht, ihn geradezu in diese hineinspricht. In dieser Programmatik einer Gesamtpolitik liegt ganz wesentlich ein Zug zu großen Lösungen, die immer über das Erfüllbare hinausgehen. Hier traut sich die Staatsform die Kraft zu, die gesamte Politik in all ihren Verästelungen zu erreichen, allenthalben die eine Staatsdimension nahezu gleichmäßig auszufüllen. Ein Regierungsprogramm als verzweigtes Versprechen der großen Lösungen für die gesamte Staatlichkeit soll aber in sich eine einheitliche Größe darstellen, eine solche bringen. Von den Staatsplanungen anderer Regierungsformen unterscheidet sich die demokratische Regierungsprogrammatik gerade durch ihre unbefangene Freiheit zur Größe; gescheiterte Planungen werden rasch zum Vorwurf, unerfüllte Regierungsprogramme sind eine Selbstverständlichkeit gesuchter Größe. Mit ihren vielen großen oder auch nur in ihrer Allgemeinheit weiten Worten konstituiert so die Demokratie geradezu in einer verbalen Integration ihren Staat auf seine größere Zukunft hin. Entscheidend in dieser Größendimension ist der Erwartungshorizont, nicht das gegenwärtige, das erwartete Ausmaß zählt hier vor allem. Demokratie nimmt damit in staatsrechtlichen Formen politischen Kredit auf zukünftige Größe auf. Das Regierungsprogramm ist seinem Wesen nach ein einziges Versprechen „höher hinauf, „weiter hinaus". Nicht das eine, große Monument wird als Ziel vorgestellt, in der Programmatik liegt der Zug zum Größeren - bedeutet er nicht Absage an das „Große", das sich in solchen Dokumenten kaum je findet? Viel ist dort vom Verbessern die Rede, von der Sicherung des Erreichten und dem geduldigen Höherbauen. Dennoch definiert sich ein wahres Regierungsprogramm nicht aus dem gegenwärtigen Zustand, es hat stets bereits einen „großen Sprung" nach vorne getan, will die Politik in das als erreichbar Vorgestellte nachziehen. In diesem Sinne verspricht es nicht größere, sondern wahrhaft große Dinge - oder es verdient seinen Namen nicht. Wie sollte auch etwas, was allen bekanntgegeben wird, da es von allen zu verwirklichen ist, anders sein als groß, so wie jenes Volk, dessen politischen Raum es absteckt - in Größendimension? Darin laufen ja alle diese Versprechungen zusammen, bis hin zu einem großen demagogischen Zug: Hier lobt sich eine Staatsform selbst in die Größe hinein.

d) Programme und Versprechungen - eine „qualitative Größe" Programm gewordene Versprechungen der Demokratie müssen nicht in allem voll erfüllt werden - es bleibt ihnen eine wesentliche Unteilbarkeit, bis hin zur Verwirklichung in voller Größe. Im Geiste jener Bürger, welche davon ausgehen, dass sie nur zum geringeren Teil erfüllt werden, erscheinen sie stets auf die volle

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Größe ihrer Realisierung gerichtet, sie wird erwartet, auf sie hin werden sie fortgeschrieben. Mit all ihren wichtigen politischen Organen, von den Parteien bis zur Regierung, tritt die Staatsform der Demokratie hier stets in Blockhaftigkeit auf, ihre Programme, wie weit immer später erfüllt, haben etwas von einer geschlossenen Monumentalität, wollen sie ihre politische Kraft entfalten. Ein politisches Programm bedeutet postulierte Monumentalstaatlichkeit. Größendimension ist ihm auch darin eigen, dass es „eine Zäsur in die Zukunft hinein" vollzieht; denn nach dem Ziel, welches hier gesetzt wird - damit aber „nach dem Programm" - „kommt nichts mehr", es „bedeutet die ganze Zukunft" - und läge nicht darin ein Zug gegenwartsübergreifender Größe? Als qualitative und nicht nur quantitativ zusammengestellte Einheit erweist sich die demokratische Programmatik in der Unteilbarkeit des großen Wurfs. Keine andere staatsrechtliche Form zeigt vergleichbar Größenzüge einer geradezu futuristischen Staatsform. Wenn die Demokratie in ihren Programmen auf die Zukunft hinlebt, so darf dies etwas Großes sein, denn letztlich ist an ihm ja etwas wie eine ungefährliche, rein gedachte Dimension. Daran prallt Kritik schon deshalb ab, weil diese großen Lösungen noch nicht Wirklichkeit sind, vielleicht nie kommen werden. Dann aber liegt der Schritt nahe zu jener Utopie, die bereits weiß, dass sie nie kommen kann, darin unangreifbar wird. Und in der Tat: Die Demokratie ist immer der politischen Utopie am nächsten gekommen, ganz bewusst, sie hat sich aus ihr mit der Kraft der Größe erfüllt, welche in dieser erstrebenswerten Unmöglichkeit liegt. In ihren Programmen und ihren ganz großen Worten muss sich die Demokratie, mehr als jede andere Staatsform, etwas von der mitreißenden Kraft des Utopischen stets bewahren, im Bekenntnis zu dem ganz Großen, das auf dieser Erde seinen Platz nicht hat, dennoch mit der Idee der ganz großen Lösung wirkt. In der Utopie gerade aber wird die Einheit demokratischer Programme als qualitative Größe sichtbar, denn Utopie definiert sich zuallererst aus Unteilbarkeit.

4. Das „große Volk" - größer als seine Bürger a) Das Volk als kompakte Größe In aller demokratischen Staatstheorie ist „das Volk" stets letztlich unteilbar geblieben, ohne das Postulat seines einheitlichen „allgemeinen Willens" kann es demokratische Staatlichkeit nicht geben, dieser aber verlangt den einheitlichen Träger. Auf den Sand der Bürgerschaft kann das Haus des Staates nicht gebaut werden. Demokraten müssen ihr Volk als eine Art von Monument postulieren, nicht in Stein gehauen, sondern in Fleisch und Blut.

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Als eine kompakte Größe wird daher dieses Volk stets hingestellt, in welcher Weise immer: Wird es von den demokratisch Regierenden angesprochen, so erscheint es als ihr Partner, als sei es eine Person; im Volkskrieg steht es auf „wie ein Mann", dann bricht der Sturm los, der eine, große. Das Volk, nicht „die Bürger", überträgt letztlich die Regierungsmacht in Wahlen, und auf alle großen Lösungen dieser Staatlichkeit hin wird immer an das Volk im Ganzen appelliert. Die Größe des Gerufenen macht den Ruf erst groß, man möchte hier etwas wie eine Echotheorie demokratischer Größe entwickeln. Vorgestellt wird dieses Volk als ein Souverän in ewiger Größe, in welcher er sich laufend reproduziert, als etwas überall „ganz groß" Existierendes, in allen denkbaren Dimensionen. b) Das Volk - „der große Bürger" Viel ist vom Bürger in der Demokratie die Rede - doch man meint im Grunde immer das Volk, jedenfalls dann, wenn es nicht um Freiheit geht, sondern um Staatsorganisation. Darin liegt aber im Grunde nur eines: eine typisch demokratische Größenkategorie. Quantitativ wird dies schon deutlich, wenn so oft „die Vielen" beschworen und „dem Einzelnen" gegenübergestellt werden. Man mag dessen unauswechselbare Größe preisen, doch die „Vielen" sind mehr, und sie sind es nicht nur aus der Größe ihrer Zahl heraus, welche dann auch die großen Lösungen tragen wird. Das Volk ist eben mehr als Addition, es bleibt die unabsehbare, unerfassbare Größe, souverän deshalb, weil es wesentlich größer ist als seine Teile, als sie alle zusammen. Deshalb ist es auch stets souverän, wie klein es zahlenmäßig auch sei, und gerade auch darin: Demokratische Theorie hat immer gerade das zahlenmäßig kleine Volk staatsrechtlich ganz groß gesetzt - ein typisch demokratischer, ein Schweizer Größeneffekt. Monarchien, persönliche Gewalten können Staatsgröße nicht aus ihren Trägern gewinnen, sondern nur aus Religionen, Traditionen, effektiven Gewalten sie aber müssen in jedem Augenblick, in jeder großen Lösung bewiesen werden. Mit dem „Volk als dem großen Bürger" wird die Staatsgröße ganz selbstverständlich fassbar, in Zeit, Raum und Wirkkraft, das Volk tritt in die Politik hinein als das auch außerrechtliche, als das „ganz natürlich Große". Das Wort vom „Volkssouverän" hat überhaupt nur einen Sinn aus der Größenkategorie heraus, es ist etwas wie ein „reiner Größen-Begriff 4, sonst wäre es nur ein Zählergebnis, eine zufällige Zusammenfassung irgendwo lebender Menschen; deshalb kann es nie „mehr oder weniger groß" sein, seine tatsächliche Größe zählt insoweit nicht, als sie nicht gezählt zu werden braucht, weil sie im Begriff liegt. Volk - das sind eben „die Unzähligen", in diesem Wort findet der Übergang von der Quantität in die Qualität statt, damit auch vom Privaten in jenes Öffentliche, dessen Interesse sich ja dadurch definiert, dass nicht festgestellt werden kann, wie groß die Zahl der Interessenten ist. Er braucht auch gar nicht abgezählt zu werden,

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dieser Kreis der Träger des öffentlichen Interesses, im Verwaltungsrecht geschieht es selbst dort nicht, wo es ohne weiteres möglich wäre. Er ist seinem Wesen nach „einfach groß"; dies ist das eigentliche Kernwort der Demokratie, das einer Legitimation aus der unzähligen Bürgergemeinschaft gar nicht bedarf. Wo immer für dieses „Volk" gehandelt wird, geht es um dessen Belange als das „große Bürger-Wohl", es ist schlechthin groß, in der Größendimension, welche man sich eben noch vorstellen kann. Wenn Demokraten ihre Staatsform damit legitimieren wollen, dass hier „le plus grand bien du plus grand nombre" verfolgt wird - zweimal wird hier „Größe" angesprochen - so liegt darin nur verbal ein Vergleich. In Wahrheit wird dieses „Staatsgute" für die „große Zahl" definiert - sie ist „an sich groß", nicht etwa die größte. So ist das Staatswohl dieser Staatsform auch hier wieder definiert aus reiner Größe. Gerade jener Eudämonismus also, in welchem der Verteilungsstaat in die genießende Kleinheit herabgezogen zu werden droht - davon war schon die Rede - führt damit doch wieder in eine Legitimation der Größe. Über den Volksbegriff gerät selbst die Verweigerung des Genießens, gegenüber manchen oder gar vielen, zu einem Ausdruck des plus grand bien, in welcher dann durchaus etwas von jenem Monumental-Guten liegt, das eben nicht wirklich „verbraucht" werden darf, weil es „dem Volk gehört".

c) Alles Demokratische „im Namen des - großen - Volkes" Viele Demokraten nennen ihre Staatsform klein, doch in ihr geschieht alles darin „auf Größe hin", dass es im Namen des Volkes getan wird. Dieses Volk gibt den großen Akten dieser Staatlichkeit die Überschrift, es wird genannt, wenn den kleinen Lösungen die Weihe des Großen gegeben werden soll, in allen drei klassischen Staatsgewalten: - Das Parlament sieht sich als große Versammlung, unabhängig schon von der Zahl seiner Mitglieder, welche aber in immer größere Dimensionen gesteigert wird, als könne so dieser peuple en miniature etwas von der Größenordnung, der Unübersehbarkeit des Volkes erreichen. Alles was im Plenum geschieht, legitimiert sich eigentlich nurmehr aus der Größe dieses Aktionsrahmens, in welchem „große Reden gehalten", „große Abstimmungsschlachten" gewonnen und verloren werden, in welchen die Demokratie ihre „großen Augenblicke" erlebt, um nur an ganz selbstverständliche, täglich gebrauchte Begriffe anzuknüpfen. Güte ist wohl selten in diesem „hohen Haus" und auch kaum Weihe, eines aber sicher: ein Hauch von Volks-Größe, und sei es auch nur aus der Zahl, die hier zu den größten Lösungen des Staates zusammenkommt - groß bis an die Grenze der Unregierbarkeit. - Die Exekutive richtet ihre „großen Worte" an ihr „großes Volk", nur darin wird sie eigentlich als eine einheitliche Regierungsgewalt überhaupt politisch fassbar.

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Wo sie in täglicher Arbeit, in Verwaltung und Planung, das Zentrum der Staatlichkeit bildet, geschieht dies stets mit einem breiten Wirken, welches sich aus dem „öffentlichen Interesse" legitimiert, eben im Handeln für das ganze, große Volk - und wenn es auch nur ganz wenigen nützt oder nur den „kleinen Bürgern". Demokraten bemühen sich, diese Regierungsgewalt auf „das Volk zurückzuführen", damit sie sich aus seinen Befehlen und Mandaten legitimiere. Überzeugend hat das demokratische Staatsrecht dies nie zu leisten vermocht, zu eigenständig, volksunabhängig bleibt der „Bereich der Regierung", punktuell immer nur kontrollierbar. Doch in einer Legitimation lässt sich geistig diese Exekutive auf „das Volk" wahrhaft zurückführen: in den Größendimensionen des Regierungshandelns, aus dem großen, dem öffentlichen Interesse heraus. Und dies ist eine Legitimitätsmahnung für jede demokratische Exekutive: Demokratische Begründung geht ihr dort verloren, wo sie nicht mehr so groß handelt, wie es das große Volk erwarten darf. Die Exekutive legitimiert sich im Volksstaat weniger aus dem demokratischen Mandat als aus der demokratischen Teleologie, aus einem „Handeln auf Volksgröße hin". - „Im Namen des Volkes" handelt die Judikative in ihrem kleinsten Urteil, in den rechtlichen Bagatellen der Staatlichkeit. Auch diese Gerichtsbarkeit will Radikaldemokratismus auf den Volkswillen zurückführen, hier soll es wenigstens verbal geschehen. Dies wäre, politisch gesehen, nichts als Etikettenschwindel, wollte man hier fortlaufende Wirkungen von Volksbefehlen erkennen. Der Sinn ist ein anderer und derselbe, in welchem früher im Namen des Staates gehandelt wurde, des Königs, eines Gottes - all dessen, was groß schien auch auf Erden: Über dem kleinsten Urteil der Demokratie ruht die Weihe der Staatsgröße, quantitativ und qualitativ, des letzten Wortes, eines Staatsaktes, der darin allein diese Bezeichnung verdient, dass er groß ist wie die demokratische Staatlichkeit. In ihr gerade ist ja das Größte, was hier überhaupt gedacht werden kann: In jener Staatsform der Diskussion überhöht alle Bestreitbarkeiten „der große Befehl", der letzte, der richterliche, außerhalb dessen es in einer Sache nichts mehr geben kann, über dem keine andere Anordnung steht. Wäre dies nicht, qualitativ zuallererst, etwas wie „absolute Größe", eben „im Namen des Volkes", des absolut Großen?

5. Fraternité - Kernbegriff der Demokratie, Dimension der „integrierten Größe" a) Integrationslehre

- eine demokratische Theorie der Größe

In der Weimarer Zeit der ersten deutschen Demokratie ist jene Integrationslehre entwickelt worden, auf welcher letztlich noch heute die Wertsystematik und damit das Staatsrecht des Grundgesetzes aufruhen. Seinerzeit musste sich eine verunsicherte demokratische Staatlichkeit erst ihrer Grundlagen bewusst werden, es ge-

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schah auf den drei klassischen Wegen von Kelsen, Schmitt und Smend: In der Erkenntnis des Selbstandes der Normtechnik, im Bekenntnis zu einer Entscheidungskraft auch und gerade in der Volksherrschaft und - was hier im Mittelpunkt steht in der Bewusstwerdung „demokratischer Zusammenfassung zu Größerem", in der Integrationslehre. In den beiden Teil-Worten, welche diese Staatsform beschreiben, liegt ja der Aufruf zur Integration, zur Zusammenfassung der vielen Kleinen zur großen Einheit, im „Volk" eben sowohl wie in jener „Macht", die immer als Einheit letztlich gedacht und daher das Ergebnis einer Integration sein muss. Selbstverständlich war damals, dass zuerst über die Wege nachgedacht wurde, auf denen es zu solcher Integration kommen könne, über die Werte, in deren Namen die Bürger einig sind, um dann aus dieser Einigkeit das große Recht, aus diesem Recht die große Freiheit zu schaffen. Doch dahinter stand schon damals ganz deutlich, was es heute herauszuheben gilt: Integrationsbemühungen und Integrationstheorien sind stets nur ein Bekenntnis zur Staatsgröße, in einem ganz besonderen Sinn von zentraler Wichtigkeit: In der Integration soll etwas wie „eine größere Größe als die Summierung der Einzelgrößen" erreicht werden, eben nicht größere Staatlichkeit, die noch gesteigert werden könnte, sondern - Staatsgröße schlechthin. Dies liegt ja bereits im Begriff jener Integration, welche hier mit glücklichem sprachlichen Gefühl ins Staatsrecht übernommen wurde: Dieser mathematische Begriff bezeichnet ein Denken in Größen, will sie zusammenführen zu einer einheitlichen Größe, die aber hinausgeht über alles, was Addition bewirken könnte und daher in sich geschlossen und nicht mehr steigerungsfähig ist. Hier wird ein „Grenzwert" gebildet, außerhalb dessen es Größeres nicht mehr geben kann, aus der Sicht der zusammengefassten kleineren Einheiten. Integration ist in diesem Sinn ein Begriff absoluter Größe. Dies gerade ist es, was der Staat den Bürgern bietet, darin eben lässt sich das Volk, weit mehr noch als der Staat, aus Einzelbürgern zusammenfassen und aufbauen. Denn Integration bedeutet ja gerade, dass diese Gesamtheit aus vielen, kleinen Teilen aufgebaut werden muss, damit sie dann, in ihrer letzten Verbundwirkung, über all dies hinauswachse, eine „Größe sui generis" darstelle. Wieweit die.se in Wahrheit reicht, von „außen" gesehen, bleibt gleich, aus der Sicht der Einzelgröße ist sie „das Große schlechthin". Demokratisch übersetzt: Die Integrationslehre begreift und erklärt das Volk nicht nur als „eine Größe aus Bürgern", sondern auch als „das (Staats-)Große", jedem einzelnen Bürger gegenüber. Dies ist vielleicht die eindeutigste Widerlegung der These vom „kleinen Staat aus den immer kleineren Bürgern": „Bürger" - das bedeutet, den Menschen in seiner Integrationskraft zur Staatsgröße sehen, nur darin hat das Wort demokratische Weihe, eben aus der demokratischen Staatsgröße heraus. Integration ist aber auch eine feste, endgültige, mathematisch notwendige Zusammenfassung der kleineren Einheiten, ihr wahrhaft „großes Sein in Symbolen

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der Mathematik"; wer dem Volk als einer so aus Bürgern geschaffenen Größe die Monumentalität abspricht, versteht nicht die übermenschliche Kraft der Zahlen, welche seit den Vorsokratikern die Philosophie stets faszinieren konnte.

b) Brüderlichkeit - demokratische Integration im Staat und darüber hinaus Mit Fraternité hat die kontinentaleuropäische Demokratie nicht begonnen, demokratische Staatstheorie kann schwer nur erklären, warum so spät dieses Wort zu den anderen Kernbegriffen der Französischen Revolution hinzugetreten ist, und so sucht man es denn über die soziale Bewegung zu verstehen. Wie immer dies historisch zu deuten sein mag - Fraternité als Krönung der Demokratie ist schon deshalb eine Selbstverständlichkeit, weil sich hier die Bewusstwerdung der Volksherrschaft in ihrer integrierten Größe vollzieht, welche vorher, in den ersten revolutionären Phasen, sozusagen natürlich vorausgesetzt wurde. Zuerst galt es, die Mauern in Freiheit zu brechen, durch die Breschen sodann die vielen Gleichen zu führen, bevor ihre ungeordneten Züge in den neuen Mauern Brüderlichkeit in demokratischer Einheit verbinden konnte. Wenn Freiheit zuallererst den Einzelnen zeigt und seinen Machtanspruch, Gleichheit den Demos konstituiert, so findet die so entwickelte Demokratie endgültig zu der Größe, in welcher sie Staat wird, über die Brüderlichkeit ihrer Bürger. Dies ist also kein Begriff der Staats- oder gar der Sozialromantik allein, sondern eine eminent staatsrechtliche Größenkategorie, mehr noch: ein wirklicher Monumentalbegriff. In ihm liegt ja die Festigkeit, das Bleibende, das natürlich-Unzerstörbare der Bruder-Beziehungen, erweitert zum großen Volk, in ihrer natürlichen Vorgegebenheit und Unabänderlichkeit, nicht zuletzt in ihrer mahnenden Kraft. Und wenn hier schon soziale Historie beschworen werden soll, so muss dies als ein Aufruf nicht nur zum Sozialstaat, sondern zum sozialen Monumentalstaat begriffen werden. Der wohl erste bewusste Aufschwung zum Großen an sich in der Musik hat diese Brüderlichkeit gefeiert, in einer gar noch grenz- und staatsübergreifenden Größe. Darin ist Staatsgröße nicht geleugnet, sondern in Weltstaatsgröße erweitert worden. Grenzüberwindende Größe in der Tat hat diese Fraternité stets getragen. Als staatsrechtlicher Grenzüberschreitungsbegriff bedeutet er einen beispiellosen Anspruch räumlicher und zeitlicher Dimension in dieser neuen Form der gemeinsamen Herrschaft. Universalstaatlichkeit ist in diesem Namen angestrebt worden, zuletzt und wahrhaft ganz groß im Vereinigungsruf der Proletarier aller Länder; hier sollte wirklich der soziale Monumentalstaat werden, in aller Unbeweglichkeit des erstmals und zugleich endgültig Erreichten. Und von ihm ist immerhin lange Zeit der russische Monumentalstaat geblieben, imponierend selbst dann, wenn man ihn nun als eine geistige Ruine proletarischer Weltstaatlichkeit begreifen will.

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

In dieser kolossalen sozialen Ordnung sollte die Unruhe liberaler Exploitation im Erz der Monumentalstaatlichkeit erstarren. Dieses Kapitel über die Demokratie als Staatsform der Größe lässt sich wohl überzeugend abschließen mit der Feststellung, dass keine Staatsform sich so klein hat machen lassen, um doch zugleich soviel an Staatsgröße notwendig und oft schweigend in sich zu tragen wie diese. Aufnahmefähig wie keine andere ist sie für alles, was dieses Wort verdient, mit einem Zug zur Größe begabt in allem und jedem, in ihren Lösungen der Größe fähig im Frieden wie im Krieg; und schließlich in ihrem Zentrum, in ihrem staatlichen Wesen wie keine andere Staatsform bedroht, wenn sie gerade die Größe verfehlt. Denn dann bliebe wirklich nurmehr eine Menge zurück, die, wie zahlreich sie auch sei, das Beiwort „groß" nicht mehr verdient. Wer Demokratie halten will, muss zuallererst über Staatsgröße nachdenken. Wenn nun Betrachtungen folgen über Gleichheit und andere zentrale Erscheinungsformen heutiger Staatlichkeit, so schließen sie nahtlos an dieses Kapitel an, in welchem die Notwendigkeit der Staatsgröße gerade für die Demokratie bewiesen werden sollte; denn keiner Staatsform steht all das näher, wovon nun die Rede sein wird. Doch es reicht sogar noch über die Lehre von der Demokratie insoweit hinaus, als sich Bewegungen etwa zur Egalität ja auch dort vollziehen, wo Demokratie im engeren Sinn der Wahlen und Mehrheiten noch nicht erreicht oder bereits wieder verlassen ist. Es geht eben um den Nachweis, dass alle breiten Ströme am Beginn eines Jahrtausends auf eine Staatsgröße hin notwendig zusammenfließen.

IV. Gleichheit Zwang zur „großen Lösung" im Gesetz 1. Gleichheit - „große Lösung für alle" Kleine Gleichheit kann es nicht geben, begrifflich ist die Egalität immer eine große Lösung. „Klein" ist der Einzelfall, groß seine Verbreiterung auf alles Vergleichbare, und eben nicht nur „größer": Außerhalb der Vergleichbarkeit ist nichts vorstellbar. Sie steckt den Raum ab, der immer als großer erstrebt wird aus der Sicht der Einzelfälle, der noch nicht durchgesetzten Gleichheit. Zuwenig ist bisher bewusst geworden, dass diese Gleichheit wahrhaft über Staatsgebäuden stehen konnte, als das zentrale Programm für alle großen Lösungen, in welchen der Staat sein Wesen zeigt, aber auch insgesamt als die ganz große Staats-Lösung, eine Ordnung, außerhalb von deren Räumen nichts mehr Staatliches gedacht werden kann, weil sie eben - gleichmäßig für alle gilt. In der Gleichheit werden Lösungen nicht für Einzelne, sondern für Viele gefunden - und dann findet ein notwendiger und typisch demokratischer Übergang statt von den vielen einzelnen Fällen zu „den Vielen", zum Volk, in dem hier die Rechte

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aller gleichmäßig geordnet werden. Der notwendige Volksbezug der Gleichheit ist immer gesehen worden, hier werden die „vielen Fälle", die jede Gleichheit begrifflich braucht, von „den Vielen" in Staatsmacht erfasst und in Egalität geordnet. Was also immer groß ist am Volk, fließt in die Größe der Gleichheitslösungen notwendig ein. Gleichheit mag zunächst einen staatlichen Aktionsraum bezeichnen, in dem solche Forderungen verwirklicht werden sollen; er ist notwendig von großer Weite, und unablässig ist ja der Gleichheitsstaat bemüht, ihn in Selbstverstärkung seiner Macht und Verdichtung seines Netzwerkes auszufüllen. Größe zeigt der Staat also hier nicht nur extensiv, in der Einbeziehung immer weiterer Kategorien und ihrer Gleichbehandlung, sondern auch in jener Intensität des Herrschens, mit der noch der letzte Berg abgetragen werden soll. Dies ist aber nicht allein eine Möglichkeit, es ist ein wahrer Zwang zur Größe, denn die Egalität treibt sich ja selbst in immer mehr verbreiternde und verfeinernde Lösungen. Die Dynamik des Gleichheitsstaates ist schon früher beschrieben worden. Dass sie sich in Größe nicht auflöst, die vielmehr ein Beweis für ihre Kraft ist, wurde dort bereits deutlich. Trotz all diesem Drängen zu immer mehr Gleichheit darf aber auch die Statik der Egalität nicht verkannt werden. In jedem Augenblick bleibt sie etwas Festes, ein klar festzustellender Zustand, darin liegt vor allem ihre Kraft, dass niemand aus ihrer Festigkeit ausbrechen darf. Dies reicht hinauf bis in eine wahre Monumentalität der Gleichheitsordnung, in welcher, wie in einem rocher de bronze, alle Privilegien endgültig gebrochen sind, eingeschmolzen. Gleichheit ist denn auch eine typisch staatsrechtliche Endzustandsidee, wie sie der Kommunismus eindrucksvoll vorgestellt hat. Darin spätestens wird dann die Egalität zum Monument, dass sie, in Unterschieden der Menschen nicht mehr beweglich, in riesiger Gleichmäßigkeit in sich ruht; und etwas wie einen Abglanz religiöser Ideen, von der höchsten Monumentalität des in sich ruhenden Gottes, wird man hier nicht leugnen.

2. Gleichheit - die typisch staatliche Größe Gleichheit bedeutet nicht nur eine wesentliche Größendimension, es erscheint hier auch eine solche, wie sie gerade dem Staat, eigentlich nur ihm, wesentlich ist. Darin wird sie zum Ausdruck der wahren Staatsgröße. Ob nun dem Staat Monopolisierung der letzten Größe bei sich gelingt oder nicht - Anleihen zur Sinnerfüllung dessen, was man an ihm als Ausmaß bewundert, in der Dimension als „typisch staatlich" anerkennt, wird er immer auch bei seinen Bürgern machen müssen: Höher mag er dann bauen, mit bedeutenderen Mitteln forschen als es eben Private vermögen. All dies sind „größere Effekte als Erscheinungsformen der Staatsgröße", und insoweit haben sie ihre Bedeutung, ebenso wie

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„der große Befehl", der seine Dimension darin beweist, dass er einzelne Bürger ganz schwer belasten darf. Doch all dies sind im Grunde nur Steigerungsformen privater Größe, und im lastenden Einzelbefehl wird nicht mehr erreicht als Satrapen-Größe. In ihr kann Staatlichkeit, heute zumal, vielleicht den Bürger hier und dort erschrecken, und auch so muss sie sich beweisen. Ihre wesentliche, systematische Größe aber, wie sie von Privaten nie gefordert wird, erreicht die Staatlichkeit erst im Gleichheitsbefehl. Er ist nicht nur breiter in der Wirkung als alle privaten Willensakte, er hat eine andere Qualität, weil er eben immer die grundsätzliche Egalität anstrebt, und mag er seine Souveränität auch darin noch seinen Bürgern beweisen, dass er für eine größere Zahl von ihnen Ungleichheiten in Kauf nimmt. Weil Gleichheit typische Staatsgröße darstellt, ist sie auch von Privaten nicht in gleicher Weise zu fordern, und darin liegt die tiefere Begründung der Ablehnung einer vollen Drittwirkung des Gleichheitsgrundsrechtes in den privaten Beziehungen der Bürger untereinander, nicht nur in der Privatautonomie: Der Staat hat eben das Monopol dieser „Gleichheits-Größe", die Aufgabe, in typisch staats-großen Lösungen Gleichheit herzustellen - nicht der private Arbeitgeber, das private Unternehmen, der Vater den Söhnen gegenüber. Wollte man alle Bürger zu voller Gleichheit in ihren Beziehungen verpflichten, so könnte man die Staatlichkeit töten, wie das konsequenter Kommunismus ja auch in seinem Endzustand wollte. In der Herstellung der Gleichheit liegt immer etwas von Entpersönlichung, Schabionisierung, welche Menschliches zum Menschenwerk machen will. Eine wahrhaft über-menschliche Organisation allein kann Derartiges leisten, die nicht nur als solche ein Anderes, sondern vor allem ein Größeres ist, weil sie eben über den Bürgern steht, welche sie egalisiert. Solange noch festgehalten wird an der Persönlichkeit des Staates, darf sich diese - gerade die Gleichheit zeigt es - nur definieren als „große Staatspersönlichkeit" gegenüber den Bürgern, die unter ihr gleich werden sollen. In dieser eigentümlichen Verbindung von Abstraktion und Personalität zum Zwecke der Herstellung gerade der Gleichheit gewinnt diese Staatlichkeit göttliche Züge. Sie hat Teil am Wesen der absoluten Größe, sind doch auch vor dem Angesicht dieses Gottes zuallererst alle Geschöpfe eines: gleich.

3. Gleichheit - nicht Ungleichheit - als „Größe" a) Die große Gleichheit - Quelle staatlicher Mächtigkeit Auf den ersten Blick erscheint die einebnende Gleichheit als die weite, die große Lösung an sich. Greift sie nicht immer und ganz wesentlich weiter aus als alle Ungleichheiten, welche sie stets übertrifft, in die Enge der Ausnahme drängt? Privilegien mögen kleiner sein oder auch größer - sind sie wirklich je „groß"? Wer hätte es denn wagen können, seine Vorrechte offen so zu nennen, und liegt darin nicht das Eingeständnis der Ungleichheit als des „an sich Un-Großen"?

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Nahe liegt demgegenüber vor allem der historische Einwand aus den „großen Ungleichheiten". Sollte das Dreiklassenwahlrecht Preußens nicht auch eine „große Lösung" bringen, verstand sich nicht auch die furchtbare „Endlösung" des Todes, die letzte Sanktion der Ungleichheit der Rassen, als eine „große"? Sollte daher nicht jede differenzierende Lösung so „groß" sein können wie die Einebnung in Gleichheit? Doch Historie lehrt es anders. Gerade diese mächtigen Anläufe zur Ungleichheit sind kaum je als „große Lösungen" in die Geschichte eingegangen, das Wort von der großen Gleichheit dagegen geht ganz natürlich über die Lippen. Dahinter steht wohl mehr als ein angeborener Zug der Menschen zur immer breiteren Egalität, dem man stets auch ein ebenso natürliches menschliches Unterscheidungsbedürfnis entgegenstellen wird. Aus der Sicht des Staates vielmehr erweist sich die Gleichheit als das wesentlich Größere, als das Große schlechthin: Die egalisierende Lösung setzt sich leichter durch, bis hin zu einer gewissen Notwendigkeit, und gerade darin wird sie als die typisch staatliche empfunden. Schaffung oder Fortsetzung von Differenzierungen verlangen stets den Einsatz bedeutender Ordnungskräfte, die „Größe der Gleichheitslösung" dagegen scheint immer wieder auch mit kleiner Kraft zu gelingen, sogar aus sich abschwächender Staatsgewalt heraus setzt sie sich wie mit einem gewissen Selbstgewicht durch. Nähert man sich hier einem Geheimnis der Gleichheit, dass nämlich die „Größe der egalisierenden Lösung" in ihrer horizontalen Verbreiterung bereits eine Kraft an sich ist, den Einsatz spezieller Staatsmacht gar nicht mehr erfordert? Ist es so, in jener „natürlich" erscheinenden Verbreiterung der egalisierenden Lösungen im Staat, welche heute zu beobachten ist, so wird in der Tat die Macht des Staates durch die Größe der Lösung gesteigert, die Kraft des Subjekts durch die Gleichheit des geordneten Objekts; der Inhalt der Entscheidung trüge dann geradezu seine Kraft in sich. Einfach gewendet: Ist dies nicht Ausdruck jener „Natürlichkeit der Gleichheit", aus der heraus egalitäre Großlösungen selbst schwacher Staatlichkeit ohne weiteres gelingen? Wenn daran etwas ist, so treffen die Betrachtungen gerade hier auf das, was sie suchen: Kraft aus der Größe der Lösung als solcher, nicht nur aus der Stärke der eingesetzten Lösungsmacht. Dann wird in dieser Gleichheit die höchste Rationalisierung des Ordnens zur Selbstgewichtigkeit, in einer letzten Steigerung des Denkens der Aufklärung erwächst Staatsmacht aus Rationalität als solcher.

b) Egalität - Größe der einheitlichen Lösung Die Gleichheitslösung bringt Staatsgröße vor allem in einem: in der Einheitlichkeit, der Unteilbarkeit ihrer Entscheidungen. Da „Einheit stark macht", wird jede Staatlichkeit sie immer suchen, doch vor dieser Stärke kommt aus der Einheit die Größe. Die Egalität schafft ja die Teilungen ab, sie verwirklicht die eine Ordnung für alle. Damit beeindruckt sie den Bürger selbst noch dort, wo sie all dies nur in

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

so ungerecht erscheinenden Abstufungen erreichen kann, wie im modernen Abgabenrecht der Progression. Diese Stufungen lassen sich im Einzelnen durch nichts legitimieren, insgesamt aber so leicht durch ein Ziel, auf das sie im Ganzen gerichtet sind: die große Gleichheit der Menschen gegenüber dem Staat und bald auch untereinander. Mit blockhafter Monumentalität tritt diese Unteilbarkeit auf, sie begründet und sichert mit einem Schlag all ihre Teile und Instrumente, denn diese Gleichung bedeutet ja das „große Entweder-Oder". Sie ist ganz oder gar nicht. In dieser Unbedingtheit schlagen die vielen quantitativen Gleichheitsbemühungen zur Angleichung der Bürger rasch, geradezu von Anfang an, um in eine massive einheitliche Qualität, die groß nur gedacht sein kann. Diese Einheit der Gleichheit ist monumental in ihrer Undurchdringlichkeit, ganz anders als dort, wo die „Einheit der Lösung" lediglich in einer Gesamtlösung des Ordnens gesehen werden muss, die in sich stark differiert, weil sie differenziert. In Gleichheit wird dagegen Größe deutlich sichtbar als Einheit. Sie erreicht damit qualitative Dimensionen, hebt sich als die „ganz andere" über alles kleine, schwächliche Unterscheidungsstreben. Hier liegen die geistigen Grundlagen, aus denen heraus Gleichheit als „große Lösung" jeder Art von Feudalismus stets auf Dauer überlegen ist. Feudale Strukturen, wo immer sie auftreten - und sie dürfen ja nicht auf die Aristokratien einzelner Jahrhunderte beschränkt werden - entwickeln sich stets aus kleineren Einheiten, welche sie turmartig hinaufbauen, nicht aber wesentlich in Gleichheiten verbreitern. Nur wenn ihnen die Verbindung aller drei Dimensionen gelingt, in der Idee der Pyramide, welche allein in voller Breite, Höhe und Tiefe zum Staatsmonument werden kann, haben sie in Staatsgröße existieren können, die Kraft kam ihnen dann aus der Breite ihrer egalisierten Basis, in welcher die römische Aristokratie zuzeiten mächtig war, oder die sich laufend verbreiternde englische. Es scheint fast, als verleihe große Gleichheit dem Staat die ganzen Kräfte der „positiven Lösung", die doch immer weiter hinaufreicht als alle Ausschluss-Lösungen der Vorrechte und Privilegien; und dahinter mag auch die Kraft des ontischen Grundsatzes stehen, Sein sei besser als Nicht-Sein. Gleichheit bedeutet ja auch politisch nicht primär das große Nein zum Privileg, sondern zuallererst das große Ja zu allen gleichen Bürgern, dies schafft Kräfte und assoziiert sie schließlich, sie werden nicht in Anstrengungen der Wärter immer größerer Gefängnisse verbraucht. Gleichheit als das Große im Staat schlechthin - niemand wird es im Grunde leugnen; Kritik richtet sich eigentlich immer auf etwas anderes: dass diese Lösungen nun wahrlich nicht verfeinert seien, nichts an sich trügen von der raffinierten Staats-Schönheit barocker Fürstlichkeit. Und ist nicht diese unschöne Gleichheit, welche am Ende das Proletarische divinisiert, etwas wie eine hässliche Staatsgröße, welcher immer wieder die Staatsästhetik der gegliederten Ordnungen entgegengehalten wird? Gleichheit bedeutet ein Ja auch dazu, und ein großes; hier geht es um die Dimension der Staatlichkeit, nicht um deren Schönheit, die für historische 45 Leisner

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Betrachtungen ein Staatsbegriff sein mag. Dem Staat genügt es, in seiner Gleichheitsordnung als groß verehrt zu werden.

4. Das demokratische Gesetz - der „große Schlag der Gleichheit" a) Das Gesetz - die große Lösung Wer die Staatsgröße als Wesen der Demokratie gefunden, sie vor allem in der Gleichheit entdeckt hat, der wird nun mit Notwendigkeit zum Instrument demokratischer Größe geführt, zum Gesetz. In ihm allein kann Egalität zum überzeugenden Grundsatz werden, mehr sein als eine Reihe von Gewaltakten, die immer wieder Größeres niederstrecken. Nur das allgemeine Gesetz kann die Volksherrschaft überhaupt ordnen, ihren Souverän konstituieren. So kommt denn das Gesetz im Grunde vor aller Demokratie, am Anfang steht es von aller gegenwärtigen Staatlichkeit, so wie es die französischen Revolutionäre erkannten: La Loi et le Roi. Trotz all ihrer Größe - Demokratie ist auch heute nichts als eine Folge der Gesetze. In diesem Sinne ist das allgemeine Gesetz staatsformübergreifend und staatsformkonstituierend zugleich, für alle Staatstheorie ist es das wesentlich Staatliche an sich. Und, aus seinem innersten Wesen heraus, die „große Lösung", das Wesen der Staatlichkeit. Größe der Lösung liegt ganz wesentlich im Normbegriff. Hier soll ja nicht einiges, sondern vieles und in der Sicht des Normgebers immer ein „Großes" zusammenfassend geordnet werden, eine Fallgruppe, alle gleichen Fälle. Entscheidend zeigt sich diese „horizontale Größe der Normen" in der bewussten und gewollten Unübersehbarkeit der Befehlswirkungen, aus der sie sich definieren: Niemand weiß, und vor allem niemand will wissen, für wie viele Fälle hier Gleichheit hergestellt werden soll. Etwas von Unabsehbarkeit der Größendimension liegt geradezu in diesen Befehlen. Deshalb ist auch immer das Gesetz als großer Befehl verstanden und gefeiert worden. Normen niederen Ranges, Verordnungen etwa, stehen, nach demokratischer Staatstheorie, unter dem Gesetz vor allem aus formellen Gründen, da sie nicht unmittelbar auf den Willen der Vertreter des Volkssouveräns zurückzuführen sind. Aus der Sicht des Gesetzes als der „großen Lösung" lässt sich dies aber auch materiell begründen: In aller Regel sollen diese Normen eben Spezialisierungen bringen, die großen Lösungen also doch, in gewissem Sinne wenigstens, verkleinern, bis hinunter zu den „wenigen" Fällen der Ausnahmen. Etwas von der normativen Dimension der Unabsehbarkeit mag sich auch hier noch erhalten, doch von der Größe des allgemeinen Gesetzes entfernt sich die Verordnung eben doch, „absteigend", die Lösungen verkleinernd, spezialisierend. So begründet sich denn auch das demokratisch-normative Misstrauen gegen das Maßnahmegesetz. Zwar bringt auch diese Norm „große Lösungen", sie ist gerade deren äußeres Zeichen und leiht ihnen die Majestät des Normativen. Auch hier sind nicht mehr die vielen Fälle der

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

unabsehbar-egalisierten Verbreiterung, es ist eine Entscheidung, die ins Werk gesetzt wird, und wie sollte da nicht ein demokratisches Misstrauen begründet sein, ob dies wirklich „groß" sein kann, da es doch nicht wesentlich „für alle gilt" - weil ihm eben „Geltungskraft" überhaupt nicht zu eigen ist. Zu der inhaltlichen Größe der Lösung kommt für das allgemeine Gesetz nun aber noch die formale: Es fließt aus der mächtigsten Quelle des Staates. Von seinem ersten Organ wird das Gesetz gebildet, seine Majestät ist hier mehr als ein Wort, in ihm wird Größe verehrt. Diese so geläufige demokratische Wortsymbolik erklärt sich im Grunde nur aus der Sicht der Staatsgröße. So lässt sich denn das Gesetz als „die große Lösung" der Staatlichkeit zugleich begreifen horizontal - aus der Allgemeinheit seiner Inhalte und vertikal - aus der Majestät seiner parlamentarischen Setzung. In beidem wirkt die „ganz große Lösung der Gleichheit", welche sich hier konkretisiert, im Gesetz erst fassbar wird - und in monumentaler Staatlichkeit: Wer Gesetz sagt, meint Gleichheit, und die Majestät des Gesetzgebers ist als solche nicht nur eine so hohe, sondern eine so große, dass aus seiner Sicht alle anderen Entscheidungen unendlich klein werden. Es ist, als fasse in diesem Gesetz eine Gottheit auf Erden die tausend Jahre der verzweigten Fälle, der unzähligen Bürger, in einem Tag zusammen. Die Größen-Legitimation dieses Gesetzes ist so bedeutend, dass sie selbst dann noch wirkt, wenn es nicht aus Wahldemokratie erwächst. In der Majestät der Gesetze überdauert die Gleichheit die Demokratie, weil sich in ihnen etwas von deren Staatsgröße fortsetzt. Das Gesetz ist der Gleichheits-Staatsakt par excellence, als solcher wesentlich groß.

b) Vergesetzlichung

- „Zwang zur Größe "

Die Ausuferung der Gesetze zu Normfluten wird immer lauter beklagt, jedoch erklärt mit der Intensivierung einer Demokratizität, die eben überall Wirkungen ihrer Wahlen, ihrer „gewählten Politik" verbreiten will - und verbreitern. Längst ist erkannt, wie viel der Volksmacht damit wieder an Kraft verloren geht und an Legitimation, im Zeitverlust für unzählige Kleinentscheidungen in Gesetzesform - die doch große Entscheidungen für unzählige Fälle sein sollten - in der Überforderung der Parlamente. Ist es nicht so, als wendeten sich die Gesetze, diese Instrumente der Staatsgröße, gegen ihre Legitimation selbst, als zwängen sie Demokraten in immer kleinere Entscheidungen, in eine Norm Tagtäglichkeit, welche das Ende der Norm-Ewigkeit bedeutet, aus der das Gesetz sich einst legitimierte? All diese Gefahren sind greifbar nah, und woraus könnte denn Größe mehr bedroht werden als aus ihrer sich in Kleinheit verlierenden Übersteigerung. Dieses Bild zeigt gerade heutige Demokratie: Sie will sich in allem und jedem in die Größe der Gesetze werfen, immer mehr „Wesentliches" sieht sie, welches sie in diesen Formen lösen zu müssen glaubt, in der breiten Diskussion, im großen 45*

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Staatsakt, in stets noch mehr Staatstheater, Publizität. Wenn die Volksherrschaft dann vollends Organisationsstaatlichkeit über Normstaatlichkeit vernachlässigen will, wenn sie glaubt, Befehle an Bürger könnten staatliche Durchsetzungen und Kontrollen ersetzen, wenn sich in der Ordnung geradezu die Durchsetzung verlieren soll - dann wird nicht nur wesentliche Staatsmacht preisgegeben, es geht auch Staatsgröße verloren. Und doch ist es der Demokratie immer wieder gelungen, sich aus den ex definitione großen Lösungen ihrer Gesetze aufzuladen, und seien es noch so viele, denn in ihnen wirkt eben etwas von Gleichheit, von der ganz großen Staatlichkeit. Die Gesetze breiten um sich einen Heiligenschein der Staatsgröße, der sogar falsche Lösungen durch ihr Ausmaß zu richtigen werden lässt. Die Gegenwart hat es zu einer neuartigen Generalisierung der Größenidee der Staatlichkeit im Gesetz gebracht, und warum sollte sich nicht jede Periode ihre eigenen Gefäße der Größe schaffen, die sie lassen muss, solange sie noch etwas von Größe fassen, wie heute die Gesetze? So wird denn Normenflut hingenommen, als ein großer Strom der großen Gesetze. Wenn sie nicht eigentlich die Großartigkeit des Monumentalstaats zeigt, so liegt dies sicher daran, dass eine Zeit hier ihre staatliche Durchsetzungsgröße opfert, sich mit der Dimension ihrer Gesetze begnügt, sie überall verbreitet, in ihnen alles - groß „werden lässt", nicht „macht"; doch Rechtsstaatlichkeit hat immer wieder mit ihrer Faszination Kritik an den Normfluten überwunden, weil sie auf die Gesetzesgröße hinweisen konnte. Eines allerdings bleibt und mahnt: Das Gesetz muss, will es die Staatsgröße weitertragen, in sich Monumentalität bewahren, gerade weil es die einzige politische Denkform ist, in welcher heute in der Demokratie überhaupt noch monumental ganz offen überlegt und gesprochen werden darf. Es ist eine ernste Mahnung an die Demokraten: Ihre Gesetze müssen sich stets in Erz schreiben lassen.

c) Kodifikationszwang

- großes Gesetz aus großer Gleichheit

Das Gesetz ist der Idee nach eines, eines muss es geistig bleiben, eine Lösung, nur darin ist es groß. „Die Gesetze", welche bei Piaton wie gute Götter Menschen aufziehen und stets begleiten, sind in den Formen des griechischen Polytheismus gedacht, in der monotheistischen Kultur der Gegenwart steht hinter ihnen das eine Gesetz Gottes, die Idee der einen staatlichen Größe. Darin allein ist das Gesetz letzter Ausdruck einer Egalität, welche in vielen Gesetzen stets Formen für Ungleichheit argwöhnen muss. Die vielen Gesetze verkleinern die Monumentalität des Normativen in jedem Falle, bis sie das Staatsmonument zertrümmern, ihr Eigenleben führen, die bürokratische Eigenexistenz der die einzelnen Gesetze anwendenden Institutionen schaffen und damit auch die Staatsorganisation in kleinere Einheiten auflösen. Täglich wird es in den Verwaltungen erlebt, wenn sich neue organisatorische Einheiten um neue Spezialgesetze bilden; in der demokratischen Spezialisierung schwächt

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

sich die eine Staatsgröße, ja selbst noch das Gefühl einer letzten Zusammengehörigkeit in größeren staatlichen Räumen. Lösungen verlieren ja auch an Weite, die Fälle werden übersehbar, und gerade darin gefällt sich selbstverkleinernde Bürokratie. Schließlich endet das Gesetz, dem nicht der größere Zug eigen ist, in immer weiteren Ausnahmeregelungen - bis aus dem Gesetz als Ausdruck des allgemeinen Willens das Gesetz als Form der Ausnahmeregelung wird, gerade darin erforderlich scheinend, dass nur in seinen majestätischen Formen die Gleichheit gebrochen werden kann. Aller Gesetzlichkeit in der Demokratie muss also der Zug zur Kodifikation bleiben, sie ist als eine wahrhaft imperiale Kategorie schon früh erkannt worden, hat sich mit der Bewusstwerdung der Staatsgröße immer entwickelt. Das eine Gesetz nur, das weite, schafft sich bald eine eigene Systematik, wächst aus der quantitativen Größe der entschiedenen unendlich vielen Fälle zur besonderen Qualität, zur qualitativen Größe empor, zu einem wahren Planetarium der Gesetzessystematik. Zu Hilfe kommt hier der Demokratie ihr Grundanliegen der rationalen Klarheit, der Überschaubarkeit eines Rechts, in welchem der Bürger seine Freiheiten stets soll nachlesen können. Auf solches Bemühen aber sollte die Gesetzgebungsmaschine ihre Kraft allein nicht verwenden, Kodifikation muss sie zuallererst zur Staatsgröße anstreben, nicht zu deren Durchschaubarkeit; denn nicht Klarheit allein schafft Akzeptanz der Staatlichkeit, sondern deren Größe. Doch beides steht nicht im Gegensatz, die Klarheit der Rechtsstaatlichkeit und die Größe der Staatsmajestät, im Gegenteil: Je weiter der Bürger die Wälder der Normen noch sehen kann und durch sie in die Weiten der Staatlichkeit, desto größer wird sie ihm erscheinen in ihren Prinzipien, die sich nicht in der Kleinheit der Paragraphen verlieren. Eine letzte Unfassbarkeit, Unerklärlichkeit der Gesetze allerdings gehört nicht nur zu deren Historie, als Ausdruck einer ursprünglichen Geheimgewalt, welche sich in den Expertengeheimnissen heutiger Juristen fortsetzt; letzte Staatsgröße verlangt auch etwas von Unerklärlichkeit in den Gesetzen, die irgendwann zum unerwarteten und gerade darin großen Auslegungs-Schlag führen. Monumentalität lässt sich nie ganz fassen - die Größe des Gesetzes geht über den Geist des Bürgers hinweg, auch in der Demokratie. Der Beruf einer Zeit zur Gesetzgebung ist mit Recht als deren Berufung zur großen Kodifikation erkannt worden, es ist ihr Beruf zur Staatsgröße. Hier aber sollte sich heutige Staatlichkeit in Deutschland um ihre Größe nicht allzu sehr sorgen, deren Bewusstwerdung in Kodifikation schreitet rasch fort. Wie in einer List der Vernunft wird sie getragen gerade durch jene unzähligen, schier unübersehbaren „technischen Kräfte", welche überall wirken, in den Gesetzgebungsabteilungen und ihren modernen Techniken, wahren Maschinenhallen der Gesetzgebung. Erstaunlich - sie bauen doch in rascher Folge immer größere Gesetze. In ihnen vollzieht sich die eigenartige Transpersonalisierung der normativen Staatlichkeit, hinter welcher der Gesetzgeber verschwindet, damit das Gesetz nur um so größer werde.

Buch 3: Der Monumentalstaat

d) Die normative Ausnahme Entmonumentalisierung des Gesetzes Der Demokratie und ihrer Gleichheit ist ein Gesetz im Grunde unwandelbar vorgegeben: das der wenigen Ausnahmen. Im Namen der Staatsgröße gilt es, alsbald eine Theorie der normativen Ausnahme als eines Abfalls von der Größe der einen, gleichen Lösung zu entwickeln. Einer Staatsvorstellung, welche ihre Größe in der Gewaltsamkeit der willkürlichen Einzelentscheidung sucht, mag gerade die souveräne Durchbrechung des Gesetzes den Beweis ihrer Kraft bieten; mit Blick auf demokratische Staatsgröße ist dies nichts als Berufung auf großes eigenes Unrecht - hier wäre reine Kraft, nicht staatliche Größe. Aus der Sicht der Gleichheit als Ausdruck der Staatsgröße ist die Ausnahme nur ein Abfall von dieser: In ihr geht die Weite einer Lösung verloren, die nicht mehr „auf alle Fälle angewendet wird". Und dies ist mehr als ein quantitativer, es wird zum qualitativen Verlust: Die große Lösung wird als solche, auch dort, wo sie „im Prinzip bestehen bleibt", in ihrer Kraft relativiert. Die Steuergesetzgebung zeigt es ebenso wie das Baurecht oder alle jene Bereiche, in denen „die Ausnahmen zur Regel werden" - sie werden es schnell: Da es sie gibt, „muss das Prinzip ja nicht sein", es verliert die typisch zwingende normative Kraft, die Größe des Befehls, innerhalb deren sich alles abspielt, denn die Ausnahmen treten ja aus dem Gesetz heraus, darin werden sie so rasch zu neuen Weiten. Und die alte Interpretationsregel, dass Ausnahmen eng auszulegen seien, hat sich noch nie voll durchhalten lassen, vielmehr gilt bald das Gegenteil: Ausgeweitet wird das Kleine, Fassbare, die Ausnahme, und darin sucht man dann sogar noch die Staatsgröße des Normativen fortzusetzen, die Ausnahme wird zum „kleinen großen Prinzip", das Erz der Tafeln wird nicht nur an allen Rändern brüchig. Weitere qualitative Größenverluste treten ein durch eine innere Gegenläufigkeit, welche die Ausnahme in das Gesetz bringt, sie nimmt ihm die Überzeugungskraft der Gleichheit als innere Größe; und in der streit- und bestreitbarkeitsgewohnten Demokratie bildet sich das rasch aus. Am Ende stehen bedeutsame qualitative Größenverluste durch die Entwicklung einer „eigenen Systematik der Ausnahmen", es kommt zum „Recht der Sondergenehmigungen", und was wäre denn das breite Rechtsgebiet der einzelnen Gießkannen-Staatshilfen anders als eine neue Systematik der Ausnahmen im liberalen Staat der Wirtschaftsfreiheit? „Die Systematik des Gesetzes", welche dessen Einheit und damit seine und des Staates Größe geschaffen hatte, zieht sich zurück in systematisierte Ausnahmen - systematisierte Kleinheit. Was könnte denn die Ausnahme anderes bringen, als normativierte Staatskleinheit, in einer Demokratie, vor deren Gleichheit sie sich ja stets und erst recht - klein machen muss? Die normativen Ausnahmen haben das Wesen der Norm herabgestuft: Sie will gelten, nicht „sich durchbrechen". Das Gesetz wird heruntergesetzt zum technischen Instrument, in dem alles und jedes bewegt werden kann, zum Großen und

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

zum Kleinen; die notwendige Größe des Gesetzes, in der ganz natürlich etwas von Unbeweglichkeit liegen muss, seine innere Majestät, sie gehen verloren. Doch der Abfall, den die normative Ausnahme der Staatsgröße der Gesetze bringt, zeigt sich nicht nur im „Inhaltlichen", er wird heute schon ganz deutlich an dem, was man den formellen Größenverlust der Gesetzgebung nennen könnte: in den Mechanismen des Parlaments als Ausnahmegesetzgeber. Weshalb wird denn die große Versammlung des Volkssouveräns so oft nur mobilisiert? Doch nicht, damit sie große, gleiche Befehle in Härte gebe, sondern damit sie Löcher schlage in diese Tafeln. „Zu solchen Ausnahmen bräuchten wir ein Gesetz" - dies ist doch die praktische Sorge und Anstrengung der Gesetzgebungsabteilungen. Eingeführt wird es nicht durch den großen Plenarsaal, in dem solche Ausnahmen sich nicht leicht verstecken könnten - dies geschieht in den Ausschüssen, in welchen Monumentalstaatlichkeit der Regierungsentwürfe von den kleinen Vertretern des großen Volkes durchbrochen wird, nur zu oft von noch kleineren Beamten angeregt. Und keine Untersuchung kann eindeutig klären, ob dieses Durchbrechen, ja Zerschlagen in kleine Ausnahmen, ob diese Staats-Kleinheit aus der Ersten oder der Zweiten Gewalt letztlich kommt. Der Dimension nach verliert damit das Gesetz die Verbindung zum Volk und dessen Größe, seine wichtigen Einzelheiten kommen von der Parlament gewordenen Lobby, in deren kleinere Interessenvertretungen die souveräne Volksvertretung zerfällt, überall blickt hinter den großen Kulissen der Abfall von der Gleichheit und ihrer Größe hervor, in dieser Verkleinerung der Gesetze. Ausnahmen von Monumentalität gibt es nicht, in der Ausnahme verliert das demokratische Gleichheitsgesetz die Monumentalstaatlichkeit; und was sie verlangt, wird kaum je deutlicher als gerade hier. Das Monument kann die Ausnahme schon deshalb nicht kennen, weil es eben so groß nicht gebaut werden darf, wenn sie nötig erscheint. Ausnahmen halten das Gesetz in Bewegung, denn sie betreffen in aller Regel das Kleinere, in dem die Entwicklung versucht, an der Staatlichkeit vorbei zu laufen, das ungestraft verändert werden darf, weil es ja auch wieder rückgängig zu machen ist - all dies sind Kategorien, welche die Unverrückbarkeit der Staatsgröße nicht akzeptieren kann. Mit seinen Ausnahmen beugt sich das Gesetz zu tief hinunter zum Bürger - oder es wird zu ihm hingebogen - in allzu kleiner Pedanterie nähert es sich seinen immer kleineren Belangen, die Typisierung im Steuerrecht ist ein Beispiel, ist sie doch meist weit mehr erweiterte Ausnahme als fortgedachte Regel. In ihr erreicht den Bürger nicht ein Atem seines großen Staates, seine kleinbürgerlichen Räume werden systematisch in die Staatlichkeit entlüftet. Ihre großen Bögen können so tief nicht gebogen werden, sie brechen, oder werden in systematisierten Ausnahmen verbaut. Eine von ihnen ruft dann sofort eine neue hervor, wie mit einem Mehrwert von Ausnahmen, in immer neue Kleinheit hinein. Immer wieder sind es Schwellen und Grenzen, kleinere Räume, in denen das große Gesetz nicht den kleinen Bürger erreichen soll; in ihnen, in dieser Frei-

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betrags-Staatlichkeit, wird der Monumentalstaat zum Kleinheitsstaat, und wenn er dann noch die Hälteregelung hinzufügt, gebiert er immer neue, immer kleinere Kleinheiten als Ausnahme-Pedant. Im Namen der Gleichheit zieht er sogar noch aus, in dem der sozialen Gerechtigkeit, um all dies zu bewirken, und so wie sie ihn ganz groß machen konnte in der einen Lösung des einen Gesetzes, so macht sie ihn ganz klein in seinen „sozialen" Ausnahmen.

e) Ausnahme als Regel - die große Kleinheit Wären es nur Ausnahme-Absätze der Gesetzesparagraphen, sie blieben in Grenzen, im größeren Rahmen der einen Norm. Doch immer mehr wird heutige Staatlichkeit, ihre ganze Politik, erfasst von einer Ausnahmementalität, welche aus dem Gesetz kommend über dieses weit hinausgeht, so wie eben alles, was in und um die Gesetze geschieht, den ganzen Gesetzesstaat prägt. Und hier droht diese Staatlichkeit der Größe sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Es genügt, einige Beispiele zu nennen, um die wahrhaft großen Dimensionen zu erkennen, in denen hier die Kleinheit einzubrechen droht: Zuerst ist es die allgemeine Humanisierungsbegeisterung, die sogar die Mechanismen und Institutionen des Staates, den Beamten, den staatsgewordenen Menschen, zwingen möchte, „auf den Bürger und seinen Einzelfall" zuallererst zu sehen, ihn mit einem Wohlwollen zu behandeln, das wieder zum Gleichheitsverlust wird. Immer mehr Gerichtsbarkeit soll sein, nur zu oft ein Weg, ein formales Gefäß, zu immer mehr Besonderheiten, damit jeder Fall seinen Richter, jede Besonderheit ihre Ausnahme in seinem Spruch finde; mit jedem neuen Richter, jeder neuen judikativen Instanz wird das eine große Richtertum als Ausdruck der Staatsgröße kleiner, in der Demokratie sollte immer daran gedacht werden. „Das Gespräch mit dem Bürger" soll nicht, es muss gesucht werden - wohin soll es führen, wenn nicht in Ausnahmen und deren Berücksichtigung, oder wollte der Bürger nur seinen Normalfall verdeutlichen, den doch der Beamte ohnehin schon kennt? Förderung wird vom Staat erwartet, Aktivität in allem und jedem, im Grunde Subvention überall - und was ist es anderes, als Ausnahme von der großproklamierten selbstverantwortlichen Freiheit der Wirtschaftssubjekte? Nach Ermessen wird gerufen, und mit guten Gründen; doch wenn es nicht begrenzt und, vor allem, inhaltlich orientiert wird durch ein klar entscheidendes Rahmengesetz, so ist es nichts als ein Raum unkontrollierter, unsystematischer Ausnahmen. Und dies alles, die ganze Staatlichkeit, soll dann noch „unkonventionell laufen" - wohin? Doch nur in die Ausnahmen. Ihr schlechtes Gewissen schlägt hier der egalitären Demokratie in all dem, und sie betont, dass sie die Ausnahmen doch nur zu einem einsetze: zu mehr Gleichheit. Wenn sie auch dies wollte - alles würde sich dann rasch in immer mehr Ausnahmen, am Ende in der großen Kleinheit der Ausnahme verlieren.

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Und die Gnade der Ausnahme als Staats-Güte, nach dem Vorbild der Gottesidee - muss sie nicht die Politik der kalten Tafeln zur menschlichen Lex Charitatis führen? Gnade ist Ausnahme im höchsten Sinn, sie bedeutet eine große Lösung, den höchsten Beweis der Kraft zu ihr, die sich über ihre eigenen Normen stellt. Doch dies kann für die Staatsgröße des egalitären Gesetzesstaates nicht der Normalfall sein, er darf seine Größe nicht überall in Großzügigkeit verlieren. Für den Staat der Gesetze gilt hier, ob er nun den Schöpfergott anerkennt oder nicht: Du sollst nicht sein wie Gott. Und ist nicht der Theologie Gnade ein Geheimnis, das es auf Erden nicht gibt, das sich nicht in ein Gesetz fassen lässt, welches immer zuerst groß sein muss, nicht geheim? Dies mag nicht das letzte Wort der Staatsgröße sein - doch es ist eine ernste Frage an sie.

5. Große öffentliche Einrichtungen eine Forderung der Gleichheit a) Der demokratische Zwang zu den „ grandes œuvres " Die demokratische Staatlichkeit handelt groß, wird geradezu „in Staatsgröße gezwungen", nicht nur durch ihre wesentliche Handlungsform des Gesetzes; die Gleichheit treibt sie auch in die „großen Staatsveranstaltungen", in jene MassenEinrichtungen der Demokratie, welche für den Bürger in Gleichheit, notwendig für alle Bürger geöffnet sind. Das deutsche Verwaltungsrecht kennt die „Anstalt des öffentlichen Rechts", übernommen aus der französischen Terminologie des établissement public, jener „öffentlichen Einrichtung", welche deutlicher die Weite der typisch staatlichen Veranstaltung zum Ausdruck bringt. Der Staat ist denn auch, in einem weiteren Sinn, für die französische Lehre ebenfalls ein établissement public, für die deutsche etwas wie eine „große Anstalt", mag heute auch der Körperschaftscharakter in der Bürger-Demokratie stärker betont werden. Wesentlich ist also die „öffentliche Einrichtung" ein Ausdruck der Staatlichkeit, ihrer Tätigkeit in Bereichen, wo sie nicht normativ erfolgt, und diese öffentlichen Einrichtungen definieren sich, bei vertiefter Betrachtung, letztlich ebenso aus dem Begriff der Staatsgröße heraus, wie das Gesetz eine „große Lösung" darstellt. Denn was sind diese Einrichtungen denn anderes als Veranstaltungen, welche ganz wesentlich „grandes œuvres" darstellen, weil sie den unverwechselbaren staatlichen Stempel tragen, weil sie in Staatsgröße funktionieren müssen - anderenfalls wären sie in einer liberalen Demokratie des Wettbewerbs gar nicht zu legitimieren. „Kleine Staatsanstalten" mag es in der Wirklichkeit geben, in der Idee ist solche Veranstaltung, sei sie nun wirtschaftlicher, kultureller oder anderer Art, immer von einer gewissen Größenordnung geprägt, sie ist „als Veranstaltung eine große Lösung".

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Daran ändern nichts heute verbreitete politische Tendenzen, welche auch von „grandes œuvres" im Staate nichts mehr hören, diese gerne in die Zeiten des feudalen Absolutismus verbannen möchten - zu gleicher Zeit bringt die Volksherrschaft nicht nur in der Idee, sondern in der Wirklichkeit geradezu riesige öffentliche Einrichtungen laufend hervor: Sie entstehen mit demokratischer Notwendigkeit, denn sie sind immer „für alle da", zeigen sich als große Lösungen durch die Weite ihrer Tore, welche von allen Bürgern, und grundsätzlich sogar zugleich, passiert werden. Die Größe gesamtvölkischer Aufnahmefähigkeit prägt heute, vom Schwimmbad zur Forschungseinrichtung, genauso wie es einst bei den mittelalterlichen Kathedralen und, vor allem, bei den politisch ausgerichteten Veranstaltungen der griechisch-demokratischen Antike war, in ihren Staats-Theatern, in der wesentlichen Verbindung von Kultur und Politik. Da hier etwas wie eine grundsätzliche allgemeine Betretbarkeit Anstaltszweck ist, hat dem die äußere Dimension zu entsprechen, heute oft bis zur „sachlichen Zweck-Hässlichkeit". Auch in diesen seinen Anstalten muss der Staat sich ja nicht „schön" zeigen, wenn er nur groß bleibt. Von Bädern zu Universitäten, von Straßen und Brücken zu Kulturpalästen - überall übertrifft die Volksherrschaft sogar noch die forcierte Dimension diktatorialer Prestigebauten, in etwas wie einer nicht gewollten, ja kaum bewussten Größe, zu welcher sie aber allein schon durch die große Zahl ihrer gleichen Bürger und damit Nutzer gezwungen wird, die hier in Qualität umschlägt, in die Größe des établissement public. Jede Staatlichkeit, welche dieses Namens würdig ist, gehorcht eben ihrem eigenen Zwang der grandes œuvres, entsprechend ihren Grundstrukturen, in der Demokratie denen der Gleichheit, welche hier zum Opus wird. Die Verbindung lässt sich dann sogar ziehen zu der anderen Seite der Staatsgröße, zu den Gesetzen: Immer mehr gründet die Volksherrschaft ihre großen Anstalten in Form der Gesetze, und dies ist nur vordergründig ein Ergebnis der Rechtsstaatlichkeit, im Grund wirkt darin jene Staatsgröße, die sich eben in allen typischen Handlungsformen der Staatlichkeit zeigen muss. Was hier an Dimension fehlen mag, ist allein eine „Exklusiv-Größe", welche diese staatlichen Bauten und anderen Veranstaltungen wenigen nur vorbehalten möchte, wie die Paläste den früheren Feudalherrn. Solche innere, verfeinerte Größe, diese Art von „Staats-Rokoko" kennt die Demokratie in der Tat nicht. War aber dieser Stil überhaupt, oder auch nur in der Staatlichkeit, ein Zeichen der Größe? Staatsarchitekturen, um im Bild zu bleiben, zeigen in der Regel die einfache Größe der antiken Linienführungen - dem ist das demokratisch-egalitäre Etablissement treu geblieben. Wenn hier der Gleichheitszwang zur Einfachheit zum Ausdruck kommt, so liegt eben darin gerade die große Lösung: im Staat als einfacher Größe.

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b) Gleicher möglicher Nutzen öffentlicher Anstalten als „große Lösung " Die öffentliche Anstalt bedeutet immer eine „große Lösung" in der Gleichheitsdemokratie, gleich wie groß sie in Wirklichkeit sei. Diese Etablissements haben, wie der Staat, den sie verkörpern, etwas Normförmiges schon aus der Gleichheit des Zutritts für alle Bürger, die zur Egalität des Nutzens für alle gleichmäßig wird, welcher wiederum gleiche Anziehungskraft auf all die Unzähligen ausübt. Demokratisches Postulat ist es, das hier für alle gebaut sei, dass „die Anstalt in Gleichheit auf sie alle anwendbar werde", wie das Gesetz, das immer häufiger den Zutritt regelt. Ebenso gleichgültig ist, wie viele nun wirklich kommen, weil die gesetzliche Lösung unabhängig davon groß bleibt, auf wie viele Einzelfälle die Lex angewendet wird. Die öffentliche Anstalt in dem hier zugrundeliegenden weiteren Verständnis ist wahrhaft ein Stein gewordenes Gesetz, hier findet die Demokratie ihre letzte legislative Einheit und Größe zugleich, kann doch anders als in Gesetzen in ihr nicht gedacht werden. Anders als für Könige ist es denn auch für Demokraten gleichgültig, wie groß nun äußerlich ihre Werke werden; „große Lösungen" sind sie immer, in begrifflicher Notwendigkeit. Jene Personalisierung, welche Monarchien und Diktaturen aus der einen Gestalt des Herrschenden gewinnen müssen, entfaltet sich hier in der Groß-Personalisierung durch die unzähligen Benutzer. Königliche Bauten streben Größe unabhängig von Benutzung an, Versailles hat immer nur Besucher, es wird nicht benutzt. Auch so lässt sich Größe erreichen, transpersonal fürwahr, doch die Dimensionen müssen hier ins Riesige wachsen, damit Staatsgröße deutlich sei. Die Demokratie trägt in jede ihrer kleineren und größeren Anstalten absolute Staatsgröße, durch ihre unendlich vielen gleichen, virtuellen Benutzer, man könnte etwas wie eine Theorie der großen egalitären Personalisierung durch die Benutzer entwickeln, welche steinerne Monumentalität noch ersetzt, im Geiste größer ist als diese. Die Demokratie bleibt hier übrigens ganz in der Virtualität monumentalstaatlicher Größe, grundsätzlich will sie keinen Bürger zur Benutzung zwingen, nur die Räume schaffen, in welchen diese stattfinden kann - so hat sich schon bisher diese Staats-Form immer wieder gezeigt. Gerade aus Gleichheitsdenken heraus, das sich im späten römischen Reich entwickelte, sind wahrhaft gewaltige öffentliche Werke entstanden, Symbole staatlicher grandes œuvres, über Jahrtausende hinweg: Colosseum und Caracallathermen, ewige Beispiele monumentaler Staats-Benutzung. Eine weitere Dimension noch wird hier hinzugefügt: die Höhe der Bedürfnisbefriedigung, bis hinauf in den Luxus für alle. Eine Mahnung ist dies für allzu billige staatliche Anstalts-Politik: Sie darf nicht allein auf elementare Bedürfnisbefriedigung sich richten, will sie nicht die Größe verfehlen; römische Armenhäuser hat es gegeben, sie sind nicht Monumente für Jahrtausende geworden. Vielleicht wird in

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dieser „Benutzungs-Höhe" etwas wie ein „qualitativer Umschlag" deutlich. Damals sollte ja nicht nur „etwas für viele", sondern „Großes für alle" geboten werden, und man mag Massenkultur verabscheuen, Staatsgröße wird man ihr nicht absprechen können, diesem plus grand luxe du plus grand nombre. Der wahre Staat aber hat sich gezeigt, in seiner egalitären demokratischen Form, als eine moderne Verkörperung der antiken Legende: Was er anfasst, wird nicht zu Gold, aber zu Größe. Und doch auch zu Gold - damit stets überall Größe entstehe, führt doch die große Gleichheit in die großen Ausgaben der Monumentalstaatlichkeit.

V. Der egalitär-demokratische Zwang zu den „großen Finanzen" als „großer Lösung" der Staatlichkeit Die folgenden Seiten könnten als ein Exkurs über die Steuergleichheit gelten sie sind mehr: Betrachtungen über die Größe des Steuerstaats. In ihm zuallererst werden die Gesetze zur „großen Lösung", seinen unermesslichen Reichtum verlangen die großen Staatsveranstaltungen. Hier wird er selbst, in immer weiterer Umverteilung, zum ganz großen Etablissement für alle.

1. Staatsgröße durch Steuerlast a) Die große Umverteilung Der moderne Staat führt keine finanziellen Grenzkorrekturen zwischen seinen Bürgern durch; die Gleichheit treibt seine Finanzen in die großen, die ganz großen Lösungen, wie nur er sie kennt. Umverteilung - ein odioses Wort, doch gleichmütig kann der Staat auf den massiven Hass so vieler seiner Bürger gegen diese seine Lösungen sehen, wenn sie ihn darin nur fürchten müssen; dies aber ist sicher. Umverteilung ist ein Globalvorgang, der seinem Wesen nach nicht aufhört, kaum kleiner werden kann. Der Gegenstand des Zugriffs seiner zahllosen Hände schon macht ihn groß - die Vermögen aller. Wo immer ein Tropfen dieses Öls der demokratischen Weihe vergossen wird, muss es sich wie ein Ölfleck ausbreiten über die ganze Weite der Staatlichkeit, mit einer beispiellosen Folgekraft immer neue Belastungen und Geschenke aus sich hervortreibend. Groß muss vor allem auch stets die Entlastung sein, sonst könnte sie vor Steuerstaatlichkeit nicht gerechtfertigt werden. In der ersten, kleinen Umverteilung soll zwar der Gleichheit nähergekommen werden, zunächst aber wird ein Gleichgewicht gebrochen, und dies treibt zum nächsten, mit einer lawinenhaften Tendenz zur steigenden Größe. Randkorrekturen können hier schon deshalb nicht genügen, weil eine große Herrschaftsaufgabe ge-

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stellt ist, mit wesentlich aus sich heraus überschießender Tendenz; einmal angefangen zeigt sie bald ihre großen Dimensionen. Und Dimension bleibt dies stets und wesentlich; in dem, was programmiert und möglich ist, wird zuallererst Größe sichtbar, selbst wenn es klein, ja unansehnlich begonnen und nie voll ausgeführt wird. Umverteilung ist schließlich groß als wahrhaft ewige Aufgabe, und dies fügt eben dem Worte des „laufenden" die Dimension der Größe hinzu: Stets wird sie als eine „ganz große" empfunden. An früherer Stelle dieser Betrachtungen erschienen die Bürger ständig kleiner im Vorgang der Umverteilung, die alle private Größe zermahlen will oder in größeren Stößen zerstampfen. Doch dass daraus gerade nicht der kleine, dass aus dieser Umverteilung der Riesenstaat entsteht, der Finanzkoloss, zeigt sich nun deutlich, und zugleich auch die Doppelgesichtigkeit all dieser angeblichen Verkleinerung der Bürger, aus der immer nur der noch größere Staat entsteht.

b) Die große Steuermaschine In Staatsgröße ergeht sich hier die Demokratie doppelt: Wesentlich „große" Finanzvolumina werden laufend bewegt in bedeutenden zeitlichen Räumen, und dies verlangt Organisationen, welche gerade in ihrem Umfang modellhaft für alle anderen Verwaltungen geworden sind, seit aus ihnen heraus Ludwig XIV. seinen Intendances moderne Verwaltung schuf. Und wenn alle diese Veranstaltungen dem Bürger nur Pfennige brächten, dem Staate im Ergebnis bescheidene Summen - niemand wird vor dieser organisatorischen Mächtigkeit der Finanzamtlichkeit zu sagen wagen, der Staat sei klein, die Kritik seiner tönernen Kolossalität ist hier nur der Ausdruck der Angst vor ihm als der organisatorisch und gegenständlich ganz großen Lösung. Die Dimensionen sogar seiner inneren Organisation dringen nach außen: Das Gesetz der Finanzverwaltung mag es sein, dass sie dem Staat das „große Geld bringe" - in jedem kleinsten Akt ihrer Kontrollen ist sie groß aus diesem Ziel heraus, aus dem sich überall der ganz bedeutende organisatorische Einsatz rechtfertigt, staatspolitisch sogar lohnt: Denn hier reißt die staatliche Organisation den gesamten privaten Raum des Bürgers auf, sie weitet die Staatlichkeit zum Großraum durch ihre organisatorische Tätigkeit, in den Riesenraum der Gesellschaft hinaus.

c) Unmerkliche Größe Die Größe des Steuerstaates ist seine virtuelle Allmacht, vor der nichts verborgen werden darf, die damit zur Allgegenwart wird. Monumentalität ist hier keineswegs identisch mit den schweren Lasten staatlichen Erzes auf dem Rücken des einzelnen Bürgers. Staatsmajestät muss sich nicht im Selbstmord des entdeckten,

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wirtschaftlich ruinierten Steuersünders beweisen; der Kaiser ist nicht darin groß, dass er flüchtige Steuersklaven einholt. Demokratie hat dies klar erkannt, sie will hier ihre Größe geradezu in die Unfühlbarkeit zurückziehen: Die ganze moderne Finanztheorie ist auf Minimalisierung der Merklichkeit der Belastungen gerichtet, sie wird durch deren allerfassende Großdimension kompensiert. Da sie überall hinreicht, sich in die kleinste Hütte senkt, legitim immer aus der einen großen Gleichheit, kann sie auf ungleich hart treffenden Einzelschlag verzichten, sie ist „große Lösung" in ihrer Allgegenwart. Selbst, ja gerade wenn er nachgibt und verzeiht, im Namen der Finanzen, wird niemand dem Staat die Größe hier streitig machen, an keiner seiner vielen Fassaden steht das Wort der Allmacht so natürlich: Mag sie wenig auch verändern, sie kann alles bewegen, und sie hält stets alles irgendwie in Bewegung. Nicht der Schöpfergott ist groß, der überall eingreift, alles zertrümmert, sondern jene transzendente Macht, welche Freiheit schafft und laufen lässt so weit. Handelt der Steuerstaat anders auf Erden? Wer wollte ihm diese Größe bestreiten?

d) Finanzegoismus - eine „ große Lösung " In jahrtausendelangen Bemühungen sucht abendländische Geistigkeit, in Philosophie und Dichtung, den Finanzen den Wert zu bestreiten, dem Materiellen menschliche Bedeutung streitig zu machen. Und hat dies nicht auf den Finanzstaat gewirkt, erscheint er nicht in der politischen Theorie immer wieder als das notwendige Übel, mit dem sich eben beschäftigt, wer verdienen will, nicht die vornehme Staatstheorie? Etwas davon lag sicher in der Geringschätzung der Steuerstaatlichkeit durch das Staatsrecht für lange Zeit, und es mag noch immer darin nachwirken, dass eben hier Staatstheorie entweder gar nicht oder mit einer Wendung zu betriebswirtschaftlicher Kommerzialität betrieben, dass jedenfalls nicht immer von all der Größe gesprochen wird, der man doch laufend begegnet. Und wenn der Staat idealisiert werden, das „Gute" für den Bürger bedeuten soll - muss er nicht unter dem Vorwurf seines Abgaben-Egoismus irgendwie doch leiden, wird er nicht dann allenfalls groß gesetzt, wenn er der altruistisch Gebende ist, nicht der in Staatsgröße Abgaben Nehmende? Dies alles sind staatsrechtliche Betrachtungs-Grundstimmungen, die ihr Gewicht haben; aus der Sicht der Staatsgröße sind sie ohne Belang: „Gut" und „schlecht" sind nicht deren Kategorien, großer Egoismus hat immer schon große Staatlichkeit gebaut. Und dieses Erbe des persönlichen Absolutismus hat sich die Kollektiv-Demokratie zu bewahren gewusst. Sie kann diesen Egoismus auch legitimieren: Die bedeutende Einnahme stellt sie ja dem Bürger nicht als Selbstzweck vor, sie lässt sich von ihr in die immer noch größeren Lösungen treiben, bereit sogar, Schulden zu machen, um mehr noch einzunehmen - für ihn, den Träger der Volkssouveränität. Groß ist die Demokratie auch in der Selbstverständlichkeit ihrer Staatsverschuldung, die keine andere

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

Regierungsform in gleicher Leichtigkeit wagen dürfte. Hinter ihr stehen die allgemeinen Unternehmungen, die damit durchgeführt werden, der Staat vergoldet sein Monument auch dort, wo er sich diese Größe leiht. Selbst dann prallt die Kritik des Finanzegoismus an ihm ab. Worin liegt denn übrigens der Vorwurf des Egoismus, welcher wirklich trifft doch nicht im großen Nehmen, darin vielmehr, dass es für „kleine Zwecke" geschieht. Dies aber kann der Staatlichkeit niemand vorwerfen. In der Ungerichtetheit der Abgabenerhebung rafft sie zunächst einmal das große Gold zusammen, kassiert es in ihre riesigen Haushalte, in etwas wie einem deutlich fassbaren Umschlag von Quantität in Qualität. Von da aus bleibt all dem, auch wenn es später im Kleinsten ausgegeben wird, noch immer etwas von der ursprünglichen Größe des Obolus aus dem Staatsschatz des Großkönigs. Die Staatlichkeit verbirgt keine Strickstrümpfe, die Demokratie gibt sich als Staat gewordener Altruismus, ihre Finanzmassen dürfen umfangreich sein aus ihren Aufgaben. Mehr noch: In ihnen liegt schon die künftige Größe, sie müssen sich nie legitimieren wie der Private in seiner Profitmaximierung. Je bedeutender die Staatsfinanzen, desto mehr sind sie Staat - Staatsgröße, altruistisches Gold. e) Steuerrechtfertigung Staatsrechtfertigung

aus „Größe" aus Steuer

Bisher wurden die Abgaben aus der Staatlichkeit gerechtfertigt, es gilt aber, den Staat aus der Steuer zu rechtfertigen. Im öffentlichen Finanzbereich war von jeher und in allen Regierungsformen stets Staatsmisstrauen verbreitet, dies ist die zentrale Domäne des Liberalismus, seine politische Quelle immer gewesen: Der Bürger will wenig belastet sein, daher wird sein Staat ihm als klein vorgestellt, der dies wenige eben nun benötige. Da Staatlichkeit die Steuer legitimiert, muss die möglichst kleine Belastung aus der möglichst kleinen Staatlichkeit begründet werden, vom Spar-Staat aus. Diese Betrachtungen erfolgen von einem diametral entgegengesetzten Standpunkt aus: Die Steuern können massiert werden, weil die Staatlichkeit eine bedeutende ist, und solange sie sich aus dieser Größe heraus rechtfertigt, lässt sich auch die belastende Abgabenquote legitimieren, mehr noch: in ihr gerade wird Staatsgröße erkannt, legitim wird Steuerrechtfertigung aus Staatsgröße - damit wird die fatale Diskrepanz aufgehoben, die bisher immer sich nur noch vergrößerte, zwischen der eben doch laufend zunehmenden Steuerbelastung und dem angeblich immer kleiner, unbedeutender, unschädlicher werdenden Staat, der all dies benötigt. Denn so klein könnte er ja auch nie werden, dass dies dem Entlastungsstreben des Bürgers je genügen würde. So ist es staatstheoretisch nur konsequent, diese Steuerrechtfertigungslehre auf den Kopf zu stellen. Der kleine, schwach vorgestellte Staat kann Steuer überhaupt nicht legitimieren, soviel, wie er jedenfalls nimmt, dürfte er nie brauchen.

Buch 3: Der Monumentalstaat

Hier liegen die Schallgrenzen einer liberalen finanzpolitischen Steuerrechtfertigung, welche die Abgabenquoten laufend senken und dem Staat Verkleinerungskuren verordnen möchte. Staatssparsamkeit als solche kann nie sinnvoll sein, auch nicht zur Rechtfertigung der Steuern, damit würde der Staat systematisch aus der Größe gedrängt, am Ende zum Kostgänger des reicheren Bürgers werden - bis ihm dies wieder von gewissen politischen Richtungen zum Vorwurf gemacht und die Abgabenquoten erst recht hochgeschraubt würden. Die Steuerrechtfertigung muss vielmehr bei den Staatsaufgaben ansetzen und deren Größe auch sehen. In ihrem Namen darf sicher nicht immer noch mehr Gold gefordert werden, groß sind sie auch, wo sie sich liberal beschränken. Grundsätzlich aber darf der Staat die große Steuer fordern und sich in ihr zu erkennen geben. Diese grundsätzliche Steuerrechtfertigung aus Staatsgröße gibt nicht alles dem Kaiser, wohl aber eines der Idee nach: Die vielen kleinen Verwaltungsbedürfnisse werden darin deutlich sichtbar zu dem einen, Großen integriert, dass der Staat die vielen Steuern nehmen darf, zu seinem einzigen, undifferenzierten Zweck - dem seinen eben, dem der Staatsgröße. Auf dem Steuerstaat richtet sich die Riesengröße der einen Staatlichkeit sichtbar auf, Staatseinheit wird in der Einheit des Staatshaushalts fassbar. Die Abstraktion der Staatlichkeit, aus den vielen kleinen Staatsmaschinen abgezogen, wird geradezu symbolisiert in der Abstraktheit des allseits verwendbaren Geldes - und dies wird doch zum riesigen Haufen des Goldes, es entsteht in den Staatsfinanzen quantitativ und qualitativ „Großes". Tatsächlich kann dies dann auch, in liberaler Selbstbeschränkung, kleiner werden und immer kleiner, erhalten bleibt die Größe des Staates aus dem Steuerbegriff selbst. So gerät diese Betrachtung denn zur Rechtfertigung des bürgerschonenden Steuerliberalismus: Er braucht sich nicht vorhalten zu lassen, dass er zu wenig nehme, seine Größe muss er nicht in Milliardenzahlen seines Haushaltes beweisen, in den schwindelnden Höhen seiner Steuerquote. Die typisch staatliche Größe erhält er sich schon darin, dass er auch die „kleine Steuer" aus seiner Monumentalität rechtfertigt, und dass sie ihm sogleich Legitimation verleiht; selbst in mäßigen Abgaben bleibt der Staat groß, er muss nicht Bürger mit mächtigen Steuerschlägen an den Bettelstab bringen. Im Grunde ist dies nur eine Erkenntnis: dass auch und gerade der liberale Staat ganz groß sein kann, nicht in seinen panzerbewehrten Goldgruben, sondern gewissermaßen aus dem Steuerbegriff selbst, in dem bereits die entscheidende Staatsgröße, „die große Lösung" liegt, durch die Mittelbereitstellung vorweggenommen. Allerdings bedeutet eine Staatsrechtfertigung aus der Steuer, in welcher Staatsgröße deutlich werden soll, auch Forderungen an eine Steuergewalt, die sich legitimieren will: Die Steuern müssen in ihrer Struktur etwas von der Größe des Staates widerspiegeln, sie dürfen nicht zum Abfall von dieser werden. Dies bedeutet ein grundsätzliches Votum gegen Bagatellsteuern, in denen der Staat schikaniert, nicht in Größe dominiert. Sie zeigen den Kleines zusammenscharrenden Steuereinnehmer, nicht den groß ausgebenden Steuerstaat. Selbst schwere Abgabenbelastungen

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

unter besonderen Umständen lassen sich dann rechtfertigen, wenn sie nicht allzu sehr verteilt, sondern in größeren Schlägen konzentriert wirken. So sehr diese schmerzen - Staatlichkeit kann sich auch in ihnen legitimieren, bewähren; die englische Steuergeduld nach dem Zweiten Weltkrieg hat wirtschaftlich vieles verloren, staatlich Britannias Größe aber bewahrt. Vor allem eine Größe muss sich unbedingt in den Steuern, in ihnen allen, stets spiegeln: die der Gleichheit, der großen Lösung par excellence. Keine bessere Begründung für die strenge Steuergleichheit gibt es als die aus der Staatsgröße. Nichts begründet überzeugender das Unwerturteil über Steuerkomplikation, Unübersichtlichkeit, als eben dies: Keine andere Staatsaktivität darf, muss in gleicher Weise aus der Sicht des Bürgers primär betrachtet werden; für ihn aber bedeutet Komplikation schlechthin den kleinen, in Pedanterie quälenden Staat. In Dschungeln verbergen sich nur Monumente verfallener Staatlichkeit.

2. Große Staatsausgaben als staatliche Lösungen Dass die öffentlichen Hände ebenso groß ausgeben wie einnehmen, steht in keiner Verfassung und ist doch ein selbstverständliches tägliches Zeichen der Staatlichkeit als einer großen Lösung, in besonderem Maße der Gleichheit, der größten von allen.

a) Steuergewalt - Zwang zur großen Ausgabe Einnahmen drängen in Ausgaben. Diese ökonomische Selbstverständlichkeit aller Haushalte bewährt sich beim Staat im größten Stil, mit wesentlicher Notwendigkeit gerade in der Gleichheitsdemokratie: Er darf die bedeutenden Mittel nicht lange halten, will er dem Neid der Vielen entgehen, in deren Namen er doch angetreten ist. Leere Kassen sind daher ein Grundgesetz der Demokratie, der Staatsform der Neidvermeidung. Juliustürme zieren nicht demokratische Staatsbilder, sie sind hier nicht Staatsbauten, denn nicht jeder hat Zugang zu ihnen, und sie weisen nicht in die Größe der Staatsausgabe, sondern in die Kleinheit der Sparsamkeit. Gefüllte Kassen sind monarchischer Stolz, den Vielen ein Ärgernis. Nicht nur, weil ihre zahlreichen Volksvertreter in immer noch zahlreicheren Wünschen die Türme leeren und die Haushalte der Demokratien angespannt sind zu jeder Zeit, sondern weil diese Staatsform dem Grundsatz folgt, geben sei seliger noch denn nehmen. Grenzen findet diese Staatlichkeit nur an den leeren Kassen, was immer sich in ihnen findet, wird sogleich ihrer Größe zum Opfer gebracht. Es ist, als zeige diese Freigebigkeit der Demokratie die Größe ihrer Seele, wie im alten aristokratischen Russland. Das Rechnen der Demokratie heißt ebenso ausgeben wie bei den früheren Magnaten und ebenso wird es von allen als Zeichen der Größe bewundert; arm darf sich zeigen, wer vorher groß ausgegeben hat. 46 Leisner

Buch 3: Der Monumentalstaat

Die Richtigkeit neuer Lehren der Nationalökonomie beweist hier der demokratische Staat der ewig leeren Kassen: Geld ist Macht nicht durch gehortetes Gold, sondern im Umlauf, wirtschaftlich in actu. Darin wird es nicht nur mehr, es ist in diesem Vorgang allein groß. Ludwig Erhards Wirtschaftsdynamik auf den Staat übertragen - das begründet dessen ökonomische Größe. Was wäre heute überzeugender? Beruhigt gibt sich daher die Volksherrschaft dem seligen Zwang des großen Nehmens zum großen Geben hin, aus dem sie, wir sahen es schon, ihre Steuergewalt erst voll rechtfertigt.

b) Die großen Staatsausgaben - bis zur Verschwendung Von Umverteilung als Zeichen der Staatsgröße war schon die Rede; in ihr schließt sich notwendig und laufend der Kreislauf der Einnahmen und Ausgaben, dreht sich in größere Dimensionen hinein. Staatsanstalten werden hier als wesentliche „große Lösungen" erkannt, weil sie allen nützen, alle sie benützen, die Unzähligen. Doch sie zeigen noch eine andere, selbstverständliche Größe: Da sie aus den großen Mitteln der öffentlichen Hände entstehen, können sie an sich schon nie in Kleinheit funktionieren, weil doch ihre Dimension erst die Einnahmen legitimiert. Der Bürger wird nur unter der Steuerlast schweigen, wenn sein Opfer in die große Lösung geführt hat; und das gilt nicht nur im Krieg. Staatsbauten sollen groß sein, darin repräsentieren. Doch dies ist gerade heute doch nur ein Wort - was sollen und sollten sie zeigen? Staatliche Größe. Nicht Schönheit ist von ihnen gefordert, sondern Bedeutung, das Teuere, die ausgegebenen Mittel. Hier soll sich der Staat einmal, und nicht nur immer auf der Einnahmeseite, als der unendlich Leistungsfähige zeigen, der wahrhaft aus dem Vollen seiner Bürger schöpfen kann. Aus Staatsgröße allein lässt sich noch ein Wort mit Sinn erfüllen, hinter dem in der Demokratie nicht mehr die Majestät des Monarchen steht und seiner Geschichte - repräsentieren, im wahren Sinne: Wieder in Ausgaben gegenwärtig machen, was schon in Einnahmen dem Bürger so belastend gegenwärtig war - die „große Lösung". Hier schlägt selbst „dem kleinen Beamten" eine Stunde der Größe; es darf auch schimmernde Finanzämter geben. Von der großen Verwendung in die Verschwendung führt ein notwendiger Weg, beim Staat sogar - in Größe. Steuerzahler, ihre Parteien und Verbände, mögen da mahnen und kritisieren, immer wieder werden sie überrollt nicht nur durch die Macht, sondern durch die Größe des Staates. Steuerverschwendung - dies ist kein Paradox - zeigt eine Größe, die eben auch wieder Steuer und Staat zugleich rechtfertigt. Wenn sie den Mut zur Dimension hat, wächst sie über sich hinaus, in den Mut zur - Monumentalität; etwas von Verschwendung liegt in jedem Denkmal. Und bedeutet Staatlichkeit nicht gerade dann bleibende Größe, wenn sie sich auch

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

einmal im Verschwendungsstaat ganz groß zeigt? Wo war Staatsgröße, bei Ludwig II. - oder seinen Ministern? Dies ist doch immer die eigentliche und moderne Begründung für große Staatsbauten, selbst in der Demokratie: nicht nur, dass Krankenhäuser für alle Bürger entstehen, in unmittelbar egalitärem Nutzen; hier wirkt auch etwas wie eine „indirekte Größenbegründung aus Gleichheit": Egalität bringt so viel an Steuergeld, dass dieses immer nur groß ausgegeben werden darf.

3. Großforderung durch den Staat Die fördernde Gemeinschaft wird in ihren Hilfen für den Bürger zum „guten Staat", deshalb wagt auch die Demokratie hier das gleichheitswidrige Geschenk. Doch im Tieferen legitimieren sich ihre Subventionen, als moderne Erscheinung der „Großlösung", aus der Staatlichkeit. Und wieder braucht dies keine Verfassung zu verlangen, weil es sich aus dem Wesen der Staatsgröße ergibt. Hier gerade wird sie ja fassbar, wo von der Gemeinschaft die „große Lösung", und im Grunde immer nur sie, erwartet wird; klein darf hier nicht genommen werden und nicht gegeben. a) Gießkannengeschenke - staatliche Sünde Gleichheit verlangt Hilfen für alle; erzwingt sie nicht das „Gießkannenprinzip" des Subventionsrechts, jedem sein Kleines aus dem großen Staatsschatz? Solche Praxis überwiegt heute bei weitem, doch kaum irgendwo ist ökonomische und politische Kritik der in politischer Schwächlichkeit Geübten mutiger: Nicht nur als wirtschaftlich fehlerhaft erweist sich das alles, falsch ist es staatsgrundsätzlich, als Abfall von Größe. Dem Subventionsstaat, ihm vielleicht zuallererst, ist die Aufgabe der „großen Lösungen" mitgegeben. Seine Größe kann er nicht damit begründen, dass er ja nur zu leisten habe, was „Private nicht können", dass aber gerade eines niemandem anderen möglich sei: allen gleichmäßig zu helfen, die da fordern. Hier kann er sich nicht einmal auf die vordergründige Egalität berufen, das kleine, gleiche Geschenk als Beitrag zu ihr als der einen großen Lösung ausgeben. Gefordert ist ganz offen die einzelne große Lösung, sie nur kann auch vor der großen Gleichheit bestehen. Und die Dimension des geförderten Unternehmens kompensiert - in letzten Grenzen - den Gleichheitsverstoß, der in der Schwerpunktförderung liegt. Zuallererst hat eben der Staat „das Große" hervorzubringen, in sich und um sich herum, dies allein ist seiner würdig. Subventionen sind wirklich kein Gebiet herkömmlicher Staatsromantik, und doch wirkt Staatsgröße gerade in diesen nüchternen Rechnungen. Darin setzt sich die „Einheitlichkeit" der großen Aufgaben durch, gegenüber der Weite der geteilten Großaufgabe, der Herstellung allseitiger Gleichheit. Etwas von letzter Konzentration liegt eben in der Staatlichkeit, sie darf sich nicht nur verbreiten. 46*

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Buch 3: Der Monumentalstaat

b) Grundlagenförderung Eine Form der Staatshilfe, bis hin in die unmittelbare Staatsveranstaltung, ist heute mit Sicherheit jeder Diskussion entzogen, ein „gutes" Wort: Förderung der Grundlagenforschung - dies ist auch ein großes Wort der Staatlichkeit. Aus der Gleichheit lässt sich das unschwer begründen - Basiserkenntnisse der Wissenschaften kommen wahrhaft allen zugute, heute und in der Zukunft, diese Gleichheit erzwingt schon ihre Veröffentlichung. Und in seinem Egoismus wird der Private gewiss dies nie vollständig leisten. Doch all das bietet nur eine Seite, die vordergründige vielleicht, der Legitimation großer Einsätze; andere zeigen sich aus deren Staatsgröße, bis hin zur wissenschaftlichen Monumentalität. Der kleinste mittelvergebende Beamte ist hier ja überzeugt, so wie jeder Bürger, dass „dafür gerade der Staat da ist", weil solche Größenordnungen der Lösung nicht nur von keinem anderen erwartet werden können, sondern keines anderen würdig sind. Großunternehmen mögen entsprechende Mittel aufbringen, die ruhige Monumentalität der Grundlagenförderung der Wissenschaft verlangt bleibenden Einsatz der staatlichen Mittel. Hier definiert sich die Staatsgröße bereits ganz deutlich aus der Transpersonalität, welche in jeder „Forschung an sich" sichtbar wird. Sie zeigt darin auch ihre Größen-Verbindung zur Gleichheit: Das Transpersonale kommt, ganz wesentlich, allen zugute, weil es eines mit der Egalität gemeinsam hat: die letzte Nutzlosigkeit der großen Lösung, in der sogar auf das große Unbekannte hin investiert, gespart wird, wie in Monumenten aus geistigem Gold. Und ein Staat, der hier nur Mittel einwirbt bei kleinen Privaten, er versucht, vielleicht vergeblich, sie in seine Größe zu integrieren - oder er hat sich schon selbst verloren.

c) Staatshilfe - groß oder illegitim Liberale Politik fordert das Ende der Subventionen - zu Recht bei den vielen kleinen Vergaben. Doch solcher Liberalismus verfehlt Größe und Staatlichkeit dort, wo er Front machen will gegen alle, auch die große Staatshilfe, damit fällt er in die verhängnisvolle Kleinheit letztlich anarchisierender Sparsamkeit. Gerade die großen Liberalen des vergangenen Jahrhunderts haben mächtig subventioniert, in Bahnen und Schulen, im Schwerpunkteinsatz aber ihrer Mittel, nicht in deren sozialisierender Vergabe an alle. Sie waren ja auch des Monuments fähig, niemals sind so viele Standbilder errichtet worden. Nur die Staatsgröße rechtfertigt die Subvention vor der Gleichheit, deswegen muss sie bedeutend sein - oder sie wird illegitim. Nicht zu verwechseln ist dies allerdings mit den wirtschaftlichen Dimensionen der empfangenden Einheiten. Groß angelegte Mittelstandsförderung ist Aufgabe wahrer Staatlichkeit, wenn nur auf solche Weise das tragende Mittelstück in die Pyramide der Gemeinschaft eingefügt werden kann, in jenes Symbol aller Größe. Doch je kleiner die Empfänger werden, desto größer muss die einheitliche Konzeption sein, nach der ihnen gege-

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

ben wird; das geförderte große Unternehmen trägt seine Dimension in sich; Kleines als Kleines ist der Hilfe aus den staatlichen Kassen nicht würdig. Doch wahrhaft vornehme Aufgabe der Staatlichkeit bleibt die Integration der kleineren Einheiten ihrer Gesellschaft in der weiten Subventionslösung, welche sie in die Nähe der Staatsgröße führt, die Kleinen zu Trägern der großen Lösung werden lässt. Solche Subvention verlangt politische Kraft, und immer wird deshalb der Staat leicht der Versuchung zur Hilfe für die bereits Bedeutenden erliegen - seine Aufgabe ist nicht ein solcher Zug zu vorgefertigter Größe, er selbst soll sie hervorbringen, indem er dem Bürger zu Hilfe kommt und darin seiner eigenen Größe.

4. Die staatlichen Haushalte und ihre Verabschiedung Steigerungsformen „großer Lösungen" a) Der Zug zu den „ großen Einzelhaushalten " Die demokratische Verfassung kennt den staatlichen Haushalt, nicht die Einzelhaushalte, ihr Recht, ihre Entwicklung. Und doch vollzieht sich hier in „ganz natürlicher" politischer Evolution, eine typisch staatliche Konzentration zur Größe, zu Handlungsmöglichkeiten - und daraus staatlichen Handlungen. Die Zusammenballung der Haushaltsmittel in wenigen Bereichen, der Verteidigung vor allem und des Sozialen, vielleicht noch der subventionierenden Staatlichkeit, wird oft beschrieben, nur selten kritisiert. Und doch scheint hier eine Machtbalance immer mehr zu brechen, von der die Verfassungsnormen über das Kabinett und seine Kollegialität ausgehen, in einer gewissen Gleichheit der Exekutivspitzen. Selbst in den Bereichen der „großen Haushalte" führen Aufspaltungen in Einzelansätze noch immer zu riesigen Positionen. Hier sind Entwicklungen von Größenordnungen im Gange, welche staatstheoretisch noch nicht entfernt gewürdigt, ja noch nicht einmal erkannt sind in ihrer Bedeutung für den Gegenstand dieser Untersuchung, die Staatsgröße. Durch eine Zusammenballung dieser Mittel an einzelnen Punkten der Staatlichkeit wächst diese betreffende Staatsfunktion in eine Weite und zugleich in eine Konzentration hinein, in der sie sich immer mehr in notwendigen Großlösungen sodann entladen muss. Gefordert wäre wohl eines Tages eine Staatslehre der großen Haushalte, eine Erfassung der Staatsfunktionen aus den Mitteln heraus, in deren Zusammenfassung sie bereits in ihren Dimensionen vorgezeichnet sind. Hier aber ist rechtsdogmatisch alles nicht im Werden, sondern im Schwimmen, damit aber die Staatslegitimation selbst, die Staatszwecklehre, die doch heute zuallererst aus den eingesetzten Mitteln heraus geleistet werden muss. In deren Bereich aber hat sich eben die Politik nicht verrechtlichen lassen, im Kern widersteht das Haushaltsrecht aller Rechtsstaatlichkeit - vielleicht in einer List der politischen Vernunft, welche die Staatsgröße der Mittel nicht in die kleine Münze der spezialisierenden Normativität verkupfern lassen will.

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Dennoch eine Mahnung aus der Sicht der Staatsgröße: Auf die „großen Haushalte" sollte sich rechtsgrundsätzlich ein Blick richten, der der „Staatlichkeit".

b) Staatshaushalte als antizipierte Großlösungen Darin steht Staatshaushaltsrecht im Zentrum des Staatsrechts, dass eigentlich nur hier die bedeutenden Lösungen als solche juristisch fassbar sind, welche im Einzelnen stets „Politik" sein werden: in ihrer Vorwegnahme durch Bereitstellung der mächtigen Mittel. Hier sind die quantitativen Dimensionen schon beeindruckend: Wie könnten die Aufgaben der Verteidigung oder der sozialen Befriedung nicht „groß" genannt werden, wo ihnen so viele Milliarden gewidmet werden? Alles, was dann im Einzelnen aus ihnen kommt, trägt es nicht noch etwas von dieser Größe weiter, weil eben das eine Düsenflugzeug „Verteidigung" ist, als solches eine „große staatliche Lösung", wird darin nicht die Quantität, die es kostet, auch noch zur bedeutenden staatlichen Qualität? Die Größe der Aufgaben und ihrer Lösungen zeigt sich gerade auch in der inhaltlichen Verschiebbarkeit der Ansätze, wirklichen Großentscheidungen der zuständigen Minister. Die Haushaltsgliederung nach Ansätzen, wie weit auch immer sie verfeinert sein mag - und ihre Problematik wird noch beschäftigen - bleibt ja begrenzt, hier ist stets etwas von der Größe des „Bereichs der Regierung". Nicht nur, weil das Parlament technisch überfordert wäre, wollte es die gewaltigen Mittel auch nur in weite Lösungsansätze gliedern, sondern vor allem weil es gilt, hier die „Dimension der Exekutive" zu wahren; deshalb müssen Großeinsätze aus den Riesenetats in der Entscheidung der Exekutive bleiben, der Minister, Kabinette und Kanzler. Und dort fallen sie auch in stiller, aber ganz bewusster Größe. Die Verfassungen wollen ihre Organe nicht groß und sie geben ihnen ungern weite Kompetenzen; hier geschieht es ganz selbstverständlich, in jenem Haushaltsrecht, in welchem Staatsgröße über die Legalität hinauswächst. Dies ist auch eine Mahnung nicht nur an die Parlamente, sondern an das Staatsrecht als solches: Im exekutiven Entscheidungsrecht aus den Großhaushalten heraus, in Gestaltung und Umgestaltung derselben, müssen Entscheidungsräume großer Lösungen staatsrechtlich bewahrt werden. Der Finanzminister aber bleibt aufgerufen, darin nicht nur zu balancieren, sondern auch manche Super-Entscheidung zu treffen, in ganz großen Lösungen den Finanzstaat als solchen sichtbar werden zu lassen. Eine Exekutive der reinen Haushaltsausführung könnte Staatsgröße nicht zeigen, in technischem Diensteifer. Sie verlangt stets das Herrscherliche der Entscheidungsmacht, an den Spitzen des Staates muss es überall wirken.

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

c) Haushaltsgesetz - Parlamentsentscheidung, nicht Parlamentsbuchhaltung So oft wollen Demokraten ihren Vertretern mit der Haushaltshoheit ein Recht der Heller und Pfennige anvertrauen, und natürlich mag es sein, dass Etatdebatten nicht nur Augenblicke der Größe sind. Immerhin hat sich aber das Parlamentsrecht auf guten Wegen hier entwickelt: Gerechnet wird in den Ausschüssen, dort, wo Volksvertretung nicht allzu bedeutend sein muss, im Plenum wird gerade der Haushalt zur großen politischen Debatte genutzt. Dieses Gefühl für das Haushaltsgesetz als eine Zusammenfassung der großen staatlichen Lösungen sollte sich die Demokratie erhalten, die Exekutive nicht in Misstrauen auf Wegen verfolgen, auf denen diese sich Größe zutraut. In den Vereinigten Staaten werden nun Machtkämpfe zwischen den Gewalten nicht mehr um wenige Millionen ausgetragen. Gewiss ist der Haushalt ein entscheidendes Instrument der Gewaltenbalance in der Demokratie, sie aber muss in der Ruhe des Bedeutenden gehalten werden, indem beide beteiligten Mächte - denn dieses Wort ist hier erlaubt - sich und die andere jeweils „in Größe belassen". Aufgabe des Parlaments ist der weite Wurf, die in dieser Bereitstellung vorweggenommene ganz große Staatslösung im Ganzen. Die Gesamtrechnung hat diese Staatsgewalt zu erstellen, aus ihren Teilen heraus, und in deren Verhältnis den Aufbruch zu bedeutenden Lösungen sichtbar werden zu lassen. Aufgabe der Volksvertretung ist es, die Gesamtdimension zu bestimmen, in diesem Raum alle Lösungen zur Größe zu führen. Durch Gesetz entscheidet der Volkssouverän hier, nicht aus historischem Misstrauen allein heraus - dies wäre arme Demokratie sondern weil dieser normative Ausdruck der Größe allein der Entscheidung der größten staatlichen Lösungen angemessen ist, ihnen die Majestät, die normative Monumentalität verleiht. Jede Einzellösung wird so zur gesamt-bürgerschaftlichen Lösung, sie erhält die Zustimmung auch jener, deren Interessen nicht unmittelbar berührt erscheinen, sie wird in die öffentliche Dimension gestellt. Gerade beim Haushaltsgesetz geht die Demokratie mit Recht alle, auch verschlungene Wege zur Größe. Da ist der klassische parlamentarische Schacher, in welchem das „hohe Haus", wenigstens in den Hinterzimmern seiner Ausschüsse, zum orientalischen Basar werden darf; doch auch darin gibt es immer wieder große Stunden, wenn eine bedeutende Lösung „so einfach durchgeht", weil sie durch viel Kleinheit ermöglicht wurde, weil sie übersehen wird oder sich in Zähigkeit schrittweise aufbauen konnte. Alle Listen zur Staatsgröße sind, wie sonst nirgends, hier erlaubt, wenn diese in Geld beginnen soll. Nicht übersehen werden darf schließlich der Größenschwung, welcher gerade in der Haushaltsberatung des Parlaments so mancher kleiner darin gebilligter Verwaltungsentscheidung durch den Willen der Vertreter des souveränen Volkes mitgegeben wird. Als reine Verwaltungslösung möchte sie klein erscheinen, nun trägt sie das parlamentarische Siegel, und die ewig „kleinen Beamten" dürfen in seinem

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Namen bedeutend handeln, mit ihren Stempeln parlamentarische Größe weitergeben. Und nur zu oft kommt es hier zur eigentümlichen Erscheinung einer Art von „stillschweigendem Akklamationseffekt" - die Volksvertreter lassen eben passieren, ohne Diskussion. Der Vertreter der Regierung mag dies als einen großen Augenblick der Staatlichkeit fühlen. Noch ein Letztes, ohne Ironie und Kritik: Wahrhaft große Lösungen haben sich stets ihre Wege nicht nur über Kundige gesucht, sie gehen so oft die Straße der Inkompetenz, auf welcher Bedenken sie nicht verkleinern, aufhalten. Wäre darin nicht auch das parlamentarische Haushaltsrecht ein Umweg zur Staatsgröße?

5. Der monumentale Verteilungsstaat iustitia distributiva als Form der Staatsgröße Der moderne Finanzstaat ist und bleibt ganz geballter Altruismus; wie viel er seinen Bürgern auch nimmt, er verteilt es eher noch rascher, bis in die Schulden hinein. Heutige Politik - und vielleicht auch Theorie - mag hier nicht ohne Befriedigung einen laufenden Vorgang der Selbstverkleinerung beobachten, nachdem doch die früheren Mittel immer so schnell verteilt werden, im Haushaltsgesetz wesentlich und geradezu vorweggenommen. Dagegen steht allerdings schon die Erkenntnis, dass gerade dieses Verteilen das Haushaltsrecht ausweist als Instrument der bereits vorweggenommenen großen Lösung, in welche diese Staatlichkeit sich eben werfen will, gleich ob die Mittel eingehen oder nicht. Andererseits mag dagegen wieder die monistische Monumentalstaatlichkeit beschworen werden: Ist sie nicht allein darin folgerichtig, dass nicht wesentlich, der Idee nach, unter Bürgern verteilt wird, dass vielmehr dem Grunde nach „alles beim Staat bleibt", ist dann aber nicht nur der Kapitalstaat groß, nicht der Verteilungsstaat, wird dieser nicht doch ein Weg in die Kleinheit? Die Gegenthese von der notwendigen Größe des demokratischen Verteilungsstaats muss tiefer ansetzen: Die Demokratie wird darin zur „großen Lösung", dass sie an ihre Bürger ständig gibt, ihre ganzen Mittel darin verströmt, „ihre Macht in Verteilung vorwegnehmend", dass sie der Ausdruck der iustitia distributiva ist, der wahren Form heutiger Staatsgröße. Schon nach ihrem geistigen Wesen steht diese verteilende Gerechtigkeit als eine wahrhaft große der tauschenden gegenüber, die ja nie wesentlich bedeutend sein muss, ist das Hin und Her als solches doch unabhängig von der Dimension des Verschobenen. Mag „do ut des" im Großen ablaufen oder im Kleinen, als solches bleibt es der „großen Lösung" ebenso wenig fähig, wie es Ausdruck bedeutender Macht ist. Ganz anders, schon in rechtsgrundsätzlicher Betrachtung, die iustitia distributiva. Sie ist der Größe verpflichtet, bis hin zu jener Gottesidee, deren Gerechtigkeit sie auf Erden weiterführen will. Sie fordert stets zuerst die Anhäufung des Bedeutenden, das allein ja dann langsam verteilt werden kann, und darin darf

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sie sich in Höhen über die Empfänger erheben. Irgendwie muss es ihr gelingen, nicht nur Größeres, sondern Großes zusammenzubringen, das ja allein verteilungsfähig ist. Groß ist die verteilende Gerechtigkeit vielleicht nicht immer in dem Wort, mit dem sie sich schmückt, wohl aber in der Vorphase, welche die Verteilung ermöglicht, in der Zusammenfassung der Mittel. Austauschende Gerechtigkeit bleibt stets gewissermaßen in der Horizontale, auf der gleichen Ebene der Hände, die da geben und nehmen. Sie kann sich nicht wesentlich potenzieren, hinaufwachsen in höhere und zugleich weitere Dimensionen. Der verteilenden Gerechtigkeit ist all dies gegeben; muss nicht, was glücklich verteilt werden konnte, immer noch breiter gesammelt werden, damit aus der großen früheren Lösung die noch größere spätere werde? Darin werden die Lösungen schon bedeutender, vor allem aber auch jene Organisation, welche sich nur in der verteilenden Gerechtigkeit mit der Lösung wesentlich verbindet, sie bereits vorwegnimmt - worin sollte sie sich sonst auch legitimieren? In diesen seinen Verteilungsorganisationen und in denen der Zusammenführung der Mittel zugleich erreicht der Staat, diese Organisation gewordene verteilende Gerechtigkeit, wahre Monumentalität: Seine Institutionen und Organisationen drehen sich erweiternd in sich selbst, bleiben aber in ihren Zentren stehen, in der Ruhe der Standbilder. Nicht als Beweis Parkinsonscher Selbstbefriedigung darf dies aber missdeutet werden, aus ihr käme keine verteilende Gerechtigkeitslegitimation mehr für den Staat. Seine Lösungen verlören dann auch die Größe, wie sie ihnen gerade jene Umlaufgewalt der Mittel verleiht, mit welcher der Staat seine Finanzen zu Privaten leitet und sie von dort zurücknimmt. Die letzte Größe erreicht die verteilende Gerechtigkeit des Staates darin, dass sie sich - ganz verströmt, dass ihr diese Ströme noch mächtiger zurückkommen. Darin „steht sie der Gesellschaft gegenüber" und verbindet sich doch mit ihr, eröffnet sich mit dem Schlüssel des staatlichen Goldes deren weitere Räume.

6. Exkurs: Konzentration - Zwang in die Größe von Wirtschaft zu Staat a) Die Unaufhaltsamkeit

der „ Wirtschaft

in Größe "

Konzentration der Wirtschaft, in immer größere Organisationen, zu immer größeren Lösungen, ist die Entwicklung der Gegenwart, unaufhaltsam aus dem technischen Fortschritt, der Egalität der Konsumenten und der Öffnung der Märkte bis zu wahrer Globalität. Nicht nur den Zug zu „immer Größerem" zeigt hier die Ökonomie, sie verlangt auch, zu jeder Zeit, geradezu die Erreichung gewisser minimaler Größenordnungen, das Überschreiten von Größenschwellen, nur jenseits von ihnen gibt es überhaupt noch Existenz, Lebensfähigkeit. Rechtlich läge darin nichts als banale Wiederholung wirtschaftlicher Erkenntnisse, müsste nicht die heutige Staatlichkeit aus dem Spannungsverhältnis zur Wirtschaft vor allem gese-

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hen, ja definiert werden, daraus, wo sie am deutlichsten „der Gesellschaft" gegenübersteht. Und diese „Gesellschaft" scheint doch eines dem Staat heute zu sagen: Nur in Größe liegt Existenzfähigkeit; gilt dies politisch nicht auch für ihn, muss er nicht Lehren einer Wirtschaft folgen, die einen Konsens erreicht haben darin, dass sie stets dem Staat voraus ist? Überall ist die Wirtschaft nicht nur auf Größe hin unterwegs, sie ist schon „Größe geworden". Nur wenige Beispiele dafür: - Das Sterben der kleinen Wettbewerber, den Zug zum Marktriesen, mag der Staat mit Kartellämtern bekämpfen, ganz kann er ihn nicht aufhalten, allenfalls das Monopol ins Oligopol drängen. Doch in ihm gerade, in der Oligarchie der wenigen bedeutenden Häuser, werden die großen Lösungen erst recht sichtbar, müssen sie groß bleiben, weil sie im Wettbewerb der Großen sich zu bewähren haben. Beim Monopol ist oft gar nicht mehr die „große Lösung" bewusst, es bleibt von der Größe nur die Ausbeutung. Das Oligopol zeigt deutlicher die wirtschaftlich großen Lösungen, die „Dimension der Größe im Wettbewerb", ohne den sich jene ja auf Dauer nicht entwickeln können. - Nicht nur oligopolistische Größe schafft der Markt, immer mehr ordnet er die zahllosen kleineren Zulieferbeziehungen den wenigen Großen zu und ihren bedeutenden Anstrengungen, vor allem im Begriff der gemeinsamen großen Lösung, auf die alle Anstrengungen gerichtet sind. Die kleinen Einheiten bleiben bedeutsam als Akteure des Wettbewerbs und seiner Belebung, der Erhaltung der Dynamik der großen Lösungen, sie „stehen alle in deren Räumen", etwa beim Fahrzeugbau. Die Lösungen an der Spitze ordnen also den gesamten Wettbewerb, immer mehr, auf allen seinen Ebenen, die Großlösung wird dynamisiert. - Internationalisierung des Wettbewerbs ist in der Wirklichkeit meist nur ein Zug zu immer stärkerer Oligopolisierung, die Lösungen müssen ganz groß werden, damit sie sich auf den ganz weiten, den globalen Märkten behaupten. Wirkt die wirtschaftliche Oligarchie in den Zulieferbeziehungen „nach unten", so muss sie sich auf den internationalen Märkten „nach oben", in die ganz bedeutende Dimension hinein, fortsetzen und vergrößern. Hier kämpfen Wirtschaftsgiganten von staatlichem Ausmaß miteinander und mit staatlichen Hilfen. Etwas wie eine zweite internationale Gemeinschaft der staatsübergreifenden Unternehmen ist in Bildung begriffen; so wenig wie die politische internationale Gemeinschaft etwas gegen Monumentalstaatlichkeit bedeutet, vielmehr einen weiteren Raum für deren Entfaltung eröffnet, so deutlich ist die „Wirtschaftsstaatlichkeit" der international wirkenden Großunternehmen eine zweite Front der Staatsgröße, in sich selbst und in ihrem Überwirken auf die politische Staatlichkeit. In der Organisation und der Finanzkraft dieser Einheiten drückt sich dies aus, in der Masse der produzierten Güter, in der Größe der Märkte, mehr und mehr auch in der Qualität der Produkte, wie sie eigentlich, so möchte man meinen, nur Staaten hervorbringen und verteilen dürften, will man Waffenmonopol-Kategorien ein-

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setzen; in der existenziellen Bedeutung des Produzierten schließlich überholen diese Wirtschaftsgiganten immer wieder Staat und Politik - in Größe, Qualität und bald auch in den Quantitäten. An ihnen kann keine Gesellschaft mehr vorübergehen und keine Staatlichkeit. Parastaatlich werden sie genannt, sie sind es zuallererst in ihrer Größe, durch sie treiben sie den Staat - in die gleiche Richtung.

b) Staats große durch Wirtschafts große Wollte der Staat heute auch klein bleiben - er müsste groß werden in seinen Lösungen, sonst würde seine Wirtschaft sterben und mit ihr die staatliche Gemeinschaft. Die Wirtschaft fordert von ihm die Kraft zur großen Einzellösung, die Schaffung der Rahmenbedingungen und eine politische Förderung eines gewissen Stils, wie sie nur Staatsgröße ermöglicht. Die großen Lösungen der Wirtschaft bedürfen der Staatlichkeit als großer Lösung. In Einzelentscheidungen wird dies bereits deutlich: Kredite und Bürgschaften müssen hier bereitgestellt werden, in einer Dimension, welche nur der Staat aufbringen kann, der so zu wahrer, unverwechselbarer Staatsgröße emporwachsen muss, selbst wenn er von sich aus derartige Einsätze nicht unternommen hätte. Gerade jener Liberalismus, der die Wirtschaft sich selbst überlassen will, wird also von ihrer Konzentration in die großen Lösungen gezwungen. Sie finden sich, wenn auch weniger deutlich, selbst dort, wo nur über Förderung vieler kleinerer Unternehmen eine Zulieferlage hergestellt werden kann, welche die Entwicklungen der Großindustrie, einer größeren Gesamtindustrie ermöglichen. Diese Lösungen sind „groß" nicht nur summenmäßig, sondern vor allem in der Zeit; Langfristigkeit und Verlässlichkeit sind hier gefordert in Dimensionen, welche jede private Anstrengung übersteigen, selbst wenn diese die finanziellen Größenordnungen an sich erreichen könnte. In allen Richtungen wird Staatsgröße, aus dem privaten Bereich heraus, beim Staat potenziert. Und längst nicht nur in den großen Lösungen der Finanzen. Rahmenbedingungen, Weiträumigkeit und zeitübergreifende Stabilität verlangt diese Wirtschaft vom Staat. Vom Steuerrecht zum Sozialrecht, vom Wirtschaftsrecht über das Bauzum Energierecht - überall sind große Lösungen normativ und investiv von der Staatlichkeit zumindest in der Verlässlichkeit der Zeit gefordert, letztlich aber auch materiell, in der Einheitlichkeit der weiten, unübersehbaren normativen Räume. Große Lösungen und mächtige Bereitstellungen erzwingt die liberale Wirtschaftsdemokratie; selbst wenn der Staat nicht groß sein wollte aus Staatsraison, er müsste die großen Räume schaffen, in denen seine Bürger sich in breiter Ökonomie entfalten dürfen. Dies sind vielleicht heute die eindeutigsten, partei-, regime-, ja geradezu politikübergreifenden Formen typisch staatlicher Großlösungen. Vom

Buch 3: Der Monumentalstaat

Großkredit über die Stabilität der Rahmenbedingung führen aber die Forderungen der Wirtschaft noch weiter hinein in staatliche Größe: Wenn die Staatsgewalt überall ihre Kräfte zurücknehmen soll - hier werden sie doch gefordert, im außenpolitischen Einfluss über die Grenzen hinaus, welcher der Wirtschaft Entfaltungsräume zu ihren großen Lösungen eröffnen soll, bis in den Altruismus einer Entwicklungshilfe, die sich notwendig immer mehr konzentriert. Diesen Vorwurf des Imperialismus ertragen die Vereinigten Staaten gerade dort, wo sie ihre große Wirtschaft zum Tragen bringen. Doch der Staat soll nicht nur große Märkte eröffnen, er soll ja auch, so wollen es viele, im Inneren die große Nachfrage schaffen, für die Ergebnisse der Produktionsdimensionen seiner Industrie. Nachfrageförderung als „typisch staatliche große Lösung" - hier fordert sogar der Sozialismus, sonst gewiss kein Freund majestätischer Staatlichkeit, deren ganz großen Schlag. Das Gesetz der wirtschaftlichen Größe geht allerdings, wenigstens in der freiheitlichen Demokratie, stets zuerst, ja wesentlich vom Bürger aus und seiner Ökonomie. Der Staat als der von ihm Getriebene - ist auch das Staatsgröße? Gewiss bereits darin, dass die Antwort der politischen Instanzen „in Staatsgröße", nicht in „Privatgröße" erfolgt, und damit schon in sich eine „ganz andere" ist. Nur zu oft vollzieht sich, gerade wenn private größere Kräfte zu erlahmen drohen, der Umschlag in Staatsinitiative: Der Staat soll nun vorangehen, beschädigte Privatheit wieder flott machen, manchmal bis zur Übernahme des konkursreifen Großen. Hier wird der Staatlichkeit geradezu das Aktivitätsgesetz der großen Wirtschaft aufgezwungen, in eine Größenordnung hinein, welche die Politik weder erreicht hat, noch auch nur je erreichen wollte. Der Staat als Diener der Bürger? Realität ist auch das Gegenteil: Staatsgröße in Staatspartnerschaft zur großen Wirtschaft.

7. „Staatskonzentration" - Parallele zur großen Ökonomie Der Staat soll nicht nur „von außen Gold anfahren", vor die Tore der Wirtschaft; sie öffnen sich ihm in laufenden Kontrollen ihrer großen Unternehmungen, mehr noch in ständiger technischer, wirtschaftlicher, politischer Partnerschaft. Die Staatsgröße, welche die Wirtschaft in ihren Lösungen der Staatlichkeit induziert, erfasst auch den staatlichen Apparat: Große Subventionen verlangen mächtige Steuer- und Fachverwaltungen, ForschungsVeranstaltungen größten Ausmaßes. Organisatorische Staatskonzentration ist, auf allen Ebenen, die Folge der großen Wirtschaftseinheiten auf der anderen Seite. Partnerschaft ist hier gefordert, und sie kann nur in der letzten Gleichartigkeit, in der Niveau-Vergleichbarkeit der Gesprächsteilnehmer sich entfalten; indirekt drängt vor allem die große Industrie den Staat in entsprechende bürokratische Konzentrationen. Wo sie im staatlichen Bereich nicht voll verfestigt sind, wirkt doch bereits etwas wie eine organisations-

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

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psychologische Grundstimmung von den Großunternehmen auf die große Politik über, zerstreut dort nicht selten politische Provinzialität. Nicht nur ähnlich, im gleichen Takt sogar muss sich der staatliche Gesprächspartner entwickeln in seiner bürokratischen Technisierung, im Einsatz von neuen Büromedien, der naturwissenschaftlich-technischen Überwachungsmechanismen. In all dem muss er so groß werden wie die geförderte und überwachte Wirtschaft es ist - deren Absatz er auf solche Weise in immer weitere Größenordnungen noch steigert. Ihre größenorientierten Handlungsformen schließlich überträgt die Wirtschaft auf breiter Front in die Staatlichkeit: Ihre Verwaltungen sollen, wenn ihre Aufgaben schon nicht übernommen werden von privater Wirtschaftsmacht, „ebenso handeln" wie diese, Effizienz des Privaten vor allem wird von ihnen gefordert, und längst nicht nur im Sinne einer gleichen Produktion mit weniger Mitteln; Steigerung der Leistung in dynamischer Wirtschaftlichkeit ist die erste Forderung an die Manager-Administration, nicht austrocknende Sparsamkeit, aus der heraus ja auch private Wirtschaft nie groß werden konnte. In all dieser wirtschaftsanalogen Staatskonzentration zu Größe der Lösungen und Organisationen segelt diese längst nicht nur im Schlepptau der privaten Ausmaße. Staatskonzentration fördert auch, erzwingt oft geradezu, „private Wirtschaftsdimensionen" in jener Pionierarbeit, in der moderne wirtschaftliche Staatsgröße vorangehen muss - eben nicht in vielen kleinen Lösungen, sondern in wenigen großen, welche die Richtungen der Zukunft zeigen, mächtige Entwicklungen in diese hinein ermöglichen. Auch organisatorische und technische Pionierarbeiten der Verwaltungen haben so oft Größe - mögen sie auch fast immer in der Stille geleistet werden. Die Folge ist eine Konzentrationsführerschaft geradezu des Staates, der hier wieder den Anschluss an liberale Grundüberzeugungen gewinnt, nach denen er stets zuallererst anzustoßen hat, nicht breit zu produzieren. Gerade damit diese Wirtschaft nicht in staatsüberholende Ausmaße hinaufwachse, muss sich der Staat von ihr nicht nur in Größe zwingen lassen, er muss diese anführen und letztlich immer noch weiter sein als sie. Die Konzentration in der Wirtschaft ist unaufhaltsam; mit ihr ist ein Zug abgefahren - in Staatsgröße hinein.

VI. Staatsgröße aus Staatsöffentlichkeit Die Demokratie hat sich von Anfang an entschlossen in die Öffentlichkeit des Politischen geworfen, Pressefreiheit gewagt und Kritik. Doch dies war ihr nie Selbstzweck, stets nur wichtiges Mittel zur Zielerreichung; es gibt keinen Öffentlichkeitsstaat, wohl aber eine Staatsöffentlichkeit. Sie ist zugleich ein Instrument

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der Staatsgröße - die großen Lösungen wachsen darin erst in die eigentlich öffentlichen Dimensionen hinaus; und Öffentlichkeit ist auch wiederum Folge einer Staatsgröße, welche sie ruft, weil sich Bauten solcher Dimensionen nicht verstecken lassen. Dies bleibt ganz im Bild der Monumentalstaatlichkeit: Das Monument will offen dastehen, es kann nicht anders, nur darin hilft ihm, dem Staat, sein Gott. Wie schon die Gleichheit, so ist auch die Öffentlichkeit nicht etwa eine institutionelle Grundentscheidung des Verfassungsrechts zur Staatsgröße, sondern eine allgemeinere Erscheinungsform derselben, aus vielen staatsrechtlichen Kanälen fließend. Wie in der Egalität verkörpert sich geradezu in der Öffentlichkeit Staatsgröße, denn dies ist eine Dimension, welche Private nicht zu kennen brauchen, sowenig wie die unbedingt zu wahrende große staatliche Gleichheit.

1. Öffentlichkeit und Gleichheit - eine notwendige Verbindung Wer Gleichheit will, der muss sich zur politischen Öffentlichkeit bekennen, diese Legitimation derselben ist bisher nicht klar genug hervorgetreten. Die Gleichen wollen ja über sich und ihresgleichen hinwegschauen können, nur dann lässt sich ihr Grundprinzip halten, wenn es nicht von wenigen oben, sondern vom unzähligen Heer der Gleichen in seiner Einhaltung kontrolliert wird. Nicht der Staat und seine Richter garantieren die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern das Misstrauen der Parteien, der Neid der Vielen. Die Fortsetzung der Egalität im status activus der Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen ist nur in Öffentlichkeit effizient, in ihr allein überhaupt vorstellbar. Gleiche Teilhabe schließlich an Staatsleistungen würde ohne Publizität vom Verteilungsstaat zur Gefälligkeitsstaatlichkeit. Was in die Öffentlichkeit gerät, wird notwendig gleich und gleicher, privacy ist zuallererst das Recht auf Bürgergeheimnis, sonst würde sie in Gleichheit untergehen. Vielleicht ist die große Öffentlichkeit der Demokratie nichts als eine Erscheinungsform der Gleichheit. Wenn also die Egalität den Staat in bedeutende Ausmaße zwingt, wie es diese Betrachtungen zeigen wollten, so treibt sie ihn zugleich in die Öffentlichkeit, mit deren Kraft erst recht in Staatsgröße - dies ist das Thema der folgenden Seiten. Überall dort, wo der Staat in großer Entscheidung oder Organisation sich der Monumentalität nähert, entschleiert er sich zuallererst in Öffentlichkeit: Staatlichkeit muss ihre Dimensionen ins Öffentliche stellen, nur dann werden ihre großen Schläge angenommen, die Steuern, die Ausgaben bis hin zur Verschwendung. Mit dem Steuergeheimnis akzeptiert die Staatlichkeit die private Kleinheit ihrer Quellen; sobald die unzähligen Rinnsale ihr großes Strombett erreicht haben, müssen sie offen vor dem Blick der Gleichheit liegen, in ihrer ganzen Dimension. Gerade in der Organisation der Staatlichkeit führt das Gleichheitsprinzip zu Formen großer Staatsöffentlichkeit: Bürokratie, in ihren nivellierenden und nivellierten Formen, zeigt egalitäre Größe, selbst wo sie als tönerner Koloss, nicht als

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

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Monument aus Erz erscheint. Aus diesen Größenordnungen heraus, mit den Zwängen solcher Gleichheit, kommt in sie auch eine Öffentlichkeit, welche die Mauern der Amtsgeheimnisse überwindet: Damit alle Gleichen alles Mögliche wissen, darf, muss die Verwaltung preisgeben, was ihre Kunden in alle Winde streuen, in den großen Raum der Gesellschaft; nicht selten wird dadurch bewusst große Staatslösung verbreitet. Gleichheit als Recht des Personals erzwingt die Personalvertretung mit all ihren Publizitätswirkungen. Darin wird die große Einheit einer Verwaltung als solcher geradezu in besonderem Maße sichtbar, sie ist nicht mehr das verschleierte Machteigentum weniger hierarchisch Herrschender. Bedienstetenzahlen bedeuten nicht immer Größe, wohl aber stets eine gewisse Dimension, eine Erscheinungsform derselben, häufig auch einen Willen zu ihr; in der Bewusstwerdung der Gleichheit und deren Veröffentlichung in Personalvertretung und deren Stufen, worin die „große Bedienstetenzahl" sichtbar wird, tritt staatliche Bürokratie aus der Arkangewalt der reinen Hierarchie in die Sichtbarkeit ihrer ganzen Größe heraus. Die Gleichheit drängt den Staat in die materielle Größe seiner typischen Lösungen - sie nur kann veröffentlicht werden; und zugleich treibt sie ihn in organisatorische Ausmaße, welche aus der „geschlossenen Verwaltung" in die Öffentlichkeit der mediendurchwirkten Großbürokratie hinaustreten sollen.

2. Größe in Sichtbarkeit Das Große, in welchen Formen immer es sich zeigt, hat einen natürlichen Zug zur Sichtbarkeit, in die Öffentlichkeit hinein. Darin aber sollte dann auch die Umkehr gelten: Wo immer Öffentlichkeit erstrebt wird, in den Erscheinungsformen der Demokratie zuallererst, dort müsste - doch eigentlich - die wesentliche Größe sich entfalten, welche in die Enthüllung drängt. Bescheidenen Lösungen lässt diese Staatsform das Privileg des bene vixit qui bene latuit. Kleine Staatsorganisationen, im Grund eher Auswüchse der Staatlichkeit, mögen im Verborgenen wirken, Geheimdienste eben, welche die eigentliche, die große Staatlichkeit gar nicht kennen darf. Und wo in öffentlichen Dingen schon „klein gehandelt" werden soll, in Kommunalisierungen und anderer Bürgernähe, da wird mit Recht erst recht veröffentlicht, und nicht nur, weil das Kleine politisch unschädlich ist, sondern weil die Öffentlichkeit selbst dem Unbedeutendsten etwas von der Weihe der Staatsgröße verleiht. Dann aber muss eben auch die Umkehr gelten: Wo immer Öffentlichkeit wesensnotwendig ist, darf ganz klein nie gehandelt werden, gerade nicht in der Volksherrschaft. Der Staat kann kaum das Gewaltmonopol halten, ein Öffentlichkeitsmonopol hat er ganz selbstverständlich - kein Bürger wird es ihm streitig machen - damit aber das Monopol der typischen „äußeren staatlichen Größe". Diese Sichtbarkeit jedoch braucht gerade der Staat, die abstrakte Person, der niemand

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als solcher begegnet; in der Öffentlichkeit wird sie doch von allen gesehen, in ihren größeren Werken. Größe in Sichtbarkeit - dies ist das Wesen des Monuments, das Wesen daher auch des demokratischen Staats in seinen großen Lösungen, seinen weiten Organisationen. In ihrer „Veröffentlichung" ist diese Staatlichkeit eine mahnende, sie spricht den Bürger an, ohne dass sie reden müsste, überall ist sie in ihrer Größe, sie braucht ihn nicht zu sich zu rufen. Demokratie als „redende Staatsform" begegnete bereits - auch ihre Grenzen: Zuallererst ist vielleicht die Volksherrschaft groß nicht in ihren Worten, sondern in der Sichtbarkeit ihrer Werke und Instrumente, welche sie in ihrer durchgehenden Öffentlichkeit schafft. Hier erweist sich Monumentalstaatlichkeit so wie sie sich stets gezeigt hat: zuallererst als eine Dimension der Größe, die konkret nicht immer ausgefüllt sein muss, so wie Öffentlichkeit nicht stets voll in Anspruch genommen wird. In dieser Publizität stehend kann die Demokratie übrigens auch die schweigende Staatsform sein, und nur zu oft ist sie es in ihren großen Dingen, die hinter breiten Fassaden des ewigen unwichtigen Redens geschehen. Doch über der Verschleierungskraft der demokratischen Worte steht die Größe der demokratischen Öffentlichkeit. Sie kommt immer zu ihrem Recht, denn die bedeutenden Lösungen und Organisationen des Staates sind eben unübersehbar, darin haben sie bereits eine natürliche Publizität und Monumentalität, bis in Unabänderlichkeiten hinein; was alle sehen können, darf nicht in jedem Augenblick verändert werden, Staatsgröße setzt sich so in Zeit hinein fort, wieder aus Öffentlichkeit heraus. Etwas wie eine Verdinglichung der Staatsgewalt entfaltet sich in dieser Öffentlichkeit, eine besondere Festigkeit, wie sie auch dem Sachenrecht eigen ist in seinen Grundstücks-Registern; letztlich sind dies doch auch die „großen Lösungen" des Zivilrechts, welche so beurkundet werden, in die Öffentlichkeit hinein. Im politischen Geschehen macht diese nahezu alles zum Staatsakt, zum Zeichen der Staatsgröße.

3. Demokratie - „redende Staatsform in Öffentlichkeit 44 a) Begründungsstaatlichkeit

als Form der Integration

Demokraten können auch schweigen, durch Worte verschleiern, im Ganzen aber ist ihnen der Zug zum „großen demokratischen Wort" eigen, von dem schon die Rede war, hier wird ganz allgemein etwas wie eine „redende Staatsform" sichtbar, welche die Dimensionen ihrer Öffentlichkeit nicht nur herstellt, sondern sie ausnützt, welche gerade in der staatlichen und der politischen Rede „in actu" erscheint, sonst nur in politischer „Möglichkeit" verharrt - als eine „redende Staatsform" sich aber wesentlich zu Größe integriert und in Staatsgröße zeigt. Demokratie versteht sich als Begründungsstaatlichkeit, ihre Lösungen und Organisationen will sie dem Bürger in allem und jedem erklären, als rationale Staatsform

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

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par excellence. Selbst das wesentlich oder in einem bestimmten Augenblick kaum Begründbare soll darin noch „politisch vorbereitet" werden, dass es durch Reden verständlich wird. In der materiellen Rechtsstaatlichkeit erreicht dieser Begründungsstaat eine weitere Stufe: Nun hat der Bürger Recht in allem, was ihm nicht begründet worden ist, die Beweislast wird zur Sanktion der Begründungspflicht. Auf einer dritten Stufe schließlich, der formellen Rechtsstaatlichkeit, muss der Staat diese Beweislast sogar vor den Schranken der unabhängigen Gerichte tragen können. Dies sind zugleich auch Stufen der Öffentlichkeit im Staat: In sie wird der öffentliche Befehl auf der ersten Stufe in Diskutabilität gestellt, auf ihrer zweiten muss er so gut begründet werden, dass er „jedem gezeigt werden kann", dass er in der Öffentlichkeit eben „hält", und auf der dritten schließlich hat er die Probe der gerichtlichen Öffentlichkeit zu bestehen. Diese Begründungsstaatlichkeit, dogmatisch noch gar nicht voll erfasst, scheint auf ersten Blick die Demokratie eher aus der Staatsgröße zu treiben. Nehmen nicht ihre Verwaltungen Abstand von den großen Lösungen nur zu oft gerade deshalb, weil sie nicht zu begründen sind, oder jedenfalls nicht vor der großen Öffentlichkeit der Gleichen? Wird hier nicht der Staat aus der Aktivität vertrieben, wenn er seine „großen Lösungen" in Begründungen zerreden soll, aus aller Monumentalität heraus? Majestät ohne Erklärung - solche Überzeugungen mögen weit verbreitet sein, sie erfassen nur eine, allerdings wichtige Seite, auf ihr warnen sie vor der Auflösungswirkung der Rationalität, welche diese aller Größe gegenüber stets entfalte. Nicht zu übersehen ist, andererseits, die Verbreiterungs- und Vertiefungswirkung der Begründungsstaatlichkeit, die sich darin der Dimensionen ihrer Akte voll bewusst wird, dass sie deren Grundlagen offen legt; wie oft erkennt die Verwaltung nicht gerade darin, dass sie „eben noch viel weiter gehen kann". In einer begründeten Entscheidung liegt ja auch schon die Konsequenzialität vieler anderer, welche sich dann zur „großen Lösung" zusammenschließen. Hinter der Redebereitschaft demokratischer Politik und dem Redezwang, den diese Staatsform ihren Verwaltungen verordnet, steht die Überzeugung, dass in jenem Mechanismus von trial and error, welcher hier in der Öffentlichkeit abläuft, sie recht eigentlich konstituiert, etwas gefunden werden kann wie die demokratische Staatswahrheit, die richtige Lösung. Dies ist demokratisches Postulat, und darin sieht die Volksherrschaft einen Weg zur Größe: in der Integrationswirkung des öffentlichen Redens, der vielen Reden im Räume der Staatlichkeit. Dieser demokratische Polylog ist ja nicht Selbstzweck; aus verbreiterter Meinungsbildung heraus sollen die Gedanken und Entscheidungen „richtig" werden, damit aber akzeptabel für - eine immer breitere Öffentlichkeit, ein Begriff, der hier von der Bezeichnung des Lösungsraums zu dem des letzten demokratischen Entscheidungsträgers hinüberspielt, der in ihm tätig werden soll. Die Öffentlichkeit wird auf diese Weise zum demokratischen Kreationsorgan der Machtträgerschaft im Staat. Sie soll, mit ihrer Akzeptanz, eine möglichst große sein, dann werden die 47 Leisner

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Lösungen sich ausweiten, den ganzen Raum der Öffentlichkeit erfassen, in welcher diskutiert worden ist. Von der Begründung in die große Lösung in Staatsgröße zu gehen - dieser Weg erscheint dann ganz natürlich. Und etwas wie die Weite eines Naturzustandes wird hier geradezu in Staatsentscheidungen verdichtet, wenn diese jedermann erklärt werden müssen und können, überall. Die Demokratie geht von dem Credo aus, dass die vielen politischen Worte nicht zerreden, sondern „zusammenreden", dass ihre Worte nicht schlechter sind als ihre Taten, welche sie in den Dimensionen von jenen vorbereitet. Eine staatspsychologische Überzeugung trägt die Demokratie auch auf diesem Weg, und wieder durchaus im Sinne der Staatsgröße: In dieser Öffentlichkeit und ihren Reden soll nicht nur Wahrheit gefunden und in ihr zur Größe integriert werden, unrichtiges und bestreitbares Beiwerk abfallen, damit sich die Konturen der eigentlichen Monumentalität der Staatslösung deutlicher zeigen. In diesen vielen Reden versucht die Staatsform auch die Entpassionalisierung ihrer Politik. Leidenschaften und Begierden sollen ihr Kräfte verleihen; dann aber, wenn die einfachen Linien der Lösungen sichtbar werden, müssen die Unklarheiten der Emotionen zurücktreten hinter die klassische Rationalität der Lösung, welche eben mehr ist als Begierde. Die Unausgeglichenheiten sollen hier auslaufen, welche die Lösung belasten, ihr letztlich die Ruhe und damit die Größe nehmen. In den Fluten der Reden, auf der Straße und in Parlamenten, auf politischen Hintertreppen und in Justizpalästen, sollen die Wogen politischer Elevationen und Depressionen geglättet werden, damit die Lösungen des Staates Sicherheit und Größe, die Glätte und Klarheit des Meeres erreichen. b) Der Staat versteckt sich nicht Die Öffentlichkeit zwingt die staatlichen Lösungen und Organisationen aus einer Ängstlichkeit, welche hinter allen Verschleierungsversuchen steht. Vor diesem großen Staat mag der Bürger auf der Flucht sein, sich in kleine Lösungen verkriechen, wo er nicht erreicht werden kann, die Staatsgewalt stellt sich dem Bürger, im Grunde - jedem, in der Sicherheit, dass ihre Erscheinungsformen „von allen Seiten groß genug", dass sie nicht zu erschüttern sind; die Öffentlichkeit ist gerade die Probe auf dieses Exempel. Gegen den Neid demokratischer Politik setzt die Demokratie sogar etwas wie den Mut ihrer politischen Eitelkeit, der hier wenn auch nicht mit dem höchsten, so doch auch mit einem Paradies belohnt wird, wie Justinian bei Dante die großen Werke der römischen Imperialität im Angesicht Gottes preisen darf. Allein schon die Eitelkeit der großen Worte, geboren aus dem Zwang, sich nicht zu verstecken, hat die Lösungen, welche sie bringen wollte, oft erst wirklich groß gemacht. In ihnen streift die Staatsform die falsche Scham ab, welche doch nur die kleine politische Lösung begleitet. Die Größe des Monumentalstaats muss sich nicht nur zeigen - sie darf es.

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c) Lösungen größer durch Worte Die staatlichen Lösungen werden durch den Zwang zur Öffentlichkeit, zur Begründung, in etwas wie eine „redende Ausweitung" getrieben, welche bei der „Begründungsstaatlichkeit" schon begegnete: Die öffentliche Entscheidung wird voll bewusst und damit „bis in alle Ecken hinein durchdacht", sozusagen quantitativ in ihrer ganzen Größe gesichert; sie wird in allen Konsequenzen erkannt, damit stabiler auch in der Zeit, in ihrer temporären Größe nicht leicht mehr zu brechen. Schließlich gerät sie zum Modell für andere Entscheidungen, deren Begründung bereits - vorweggenommen ist. Dies Letztere vor allem zeigt die Bedeutung des Praecedens als Instrument geradezu einer Monumentalstaatlichkeit. Ihm ist zuallererst die Öffentlichkeit eigen, denn nur als etwas Veröffentlichtes kann es die typische Vergrößerungswirkung entfalten, die einer staatlichen Entscheidung zukommt: Was ein Gericht, eine Verwaltung entschieden haben, ist causa finita für den Gesamtraum der Staatlichkeit; und in immer weiteren Fällen wird es in ruhiger Beharrlichkeit hinaufgebaut zur Höhe geradezu einer monumentalen Lösung. Die Vergrößerungswirkung demokratisch-staatlichen Redens in Öffentlichkeit, bei allen wichtigen Entscheidungen der Staatlichkeit, zeigt sich geradezu als eine Form des Übergangs von voluntativen in rationale Dimensionen, von Größenordnungen des stets eng begrenzten, befehlenden Wollens in die der weiteren rationalen Systematik. Was der Staat in Öffentlichkeit seinen Bürgern an seinen Lösungen erklärt, das öffnet ihm nur zu oft die Horizonte dessen, was hier alles eigentlich gewagt werden könnte, müsste; die Lösung bleibt nicht mehr auf das eben heute durchsetzbare Kontingente beschränkt. Und gerade die Öffentlichkeit, in der das geschieht, bewirkt diese Erweiterung der staatlichen Lösungen: Eine Entscheidung, die hier gerechtfertigt wird, fällt sozusagen allen gegenüber; der Polizeieinsatz, der sich in seiner Notwendigkeit der gesamten Bürgerschaft, vorher oder nachher, erklärt, ist etwas wie ein „großer Schlag", auch wenn er nur wenige von einem Platz abdrängt. Und Begründungen, wie sehr sie auch immer nur gegenüber Privaten „im Einzelfall" ergehen mögen, erfolgen doch nur zu oft durchs „Fenster hinaus", und seien es die Öffentlichkeits-Fenster der Verbände und Medien: Hier entfaltet sich die Staatspraxis, ein Gefäß für große Lösungen, zugleich begabt mit der Stabilität, ja Statik einer wirklichen Monumentalität. Gerade wo sie am Rande gesetzlicher Entscheidungen erfolgt, diese fortdenkt, erweitert sie noch den großen Staatsraum der Normen. In der Dimension der gerichtlichen Präzedenzien schiebt sich all dies zusammen zu einer Festigkeit in Raum und Zeit, die oft nurmehr um Millimeter verschoben werden kann. Von der Einzelentscheidung zur präzedenziengeschützten Staatspraxis - dies ist ein Weg der Staatsgröße in der begründenden Öffentlichkeit des Staatsredens.

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d) Öffentlichkeit:

Chance zur Größe durch Wahrheit - und Schein

In der Öffentlichkeit findet die Demokratie ihre Staatswahrheit in Diskussion. Wer dies als Herrschender aus Überzeugung auszusprechen wagt, umgibt seine Lösung bereits mit einer Aura der Größe, gerade in einer Politik, wo das Wahre ständig im Streit steht, keine akzeptierte Kategorie bedeutet; wer es hier aus Diskussion heraus entfalten kann, rettet von vorneherein „seine Lösung" in eine Dimension größerer Unantastbarkeit. Da er das „Richtige" gefunden hat, braucht es in der Zeit auch nicht geändert zu werden, es gewinnt hier die dauernde Monumentalität. Als richtige Lösung muss es erzwungen und daher voll, d. h. meist im Großen, realisiert werden, hochgerechnet in all seine Konsequenzen. Wenn es aber demokratischem Glauben entspricht, dass ,»richtig" ist in der Demokratie nur die „Lösung für die Vielen", ihr großer Nutzen, so kann das „öffentlich Entstandene" im Geist des Volkes nur ein wahrhaft Großes sein und richtig zugleich. Denn ein Bagatell-Prozess für „kleine gute Lösungen" - dafür mag sich Demokratie nicht zu gut sein, jedenfalls ist sie zu schwerfällig dafür. So wird demokratische Wahrheit demokratische Staatsgröße - beides aus Öffentlichkeit. Dann aber bleibt es gleich, wie viel da an Wahrheit ist, weil Größe jedenfalls sich zeigt, aus dem Schein der Wahrheit heraus. Gegen diese öffentlich gefundenen Lösungen können die Vielen nichts einwenden, jeder öffentliche Wahrheitsschein wird für sie zur politischen Wahrheit. Die Staatslösung umgibt sich mit dem großen Anschein des großen Verfahrens; da jeder virtuell dabei gewesen ist, wird jeder glauben, darin sei auch sein kleines Interesse berücksichtigt, insgesamt ein öffentliches, großes befriedigt. Und in der Tat: Eine Lösung wird doch leicht „so groß", wie es der prozessuale Apparat ist, der sich mit ihr beschäftigt hat, der darin gerade selbst zu einer „Größe" integriert worden ist. Unrichtig oder wahr - diese großen Staatslösungen in Öffentlichkeit können eines immer bewirken: die politischen Größenbedürfnisse eines Augenblicks befriedigen. Es ist, als fielen ihre vielen, einzelnen Schalen ab von der einen Größe der Monumentalstaatlichkeit. In ihr stellt sich der Staat über Wahrheit und Irrtum.

4. Große demokratische Worte aus Öffentlichkeit Demokratische Führer sprechen große Worte, ganz wesentlich. Es ist, als werde sich hier die Staatsform ihrer Größe in den Worten ihrer Regierenden bewusst. Kurz soll dies hier noch einmal aufgenommen werden aus der Sicht der Auditorien, jener Öffentlichkeit, die solch große Worte erwartet, nur sie versteht. Erinnert werden soll auch daran, wie oft die große Praxis dann großen Worten folgt. Dazu nur einige Thesen: - Die „großen Worte" allein werden in der Demokratie von den Vielen gehört. „Groß" - was immer auch dies Wort bedeutet: die Weite eines Inhalts, die Tiefe

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

einer Symbolik oder das Pathos einer Form, vielleicht alles zusammen - in alledem liegt eine Allgemeinheit, welche den weiten, großen Inhalt ruft. Nur sie kann von ganz vielen, von der Öffentlichkeit verstanden, überhaupt wahrgenommen werden, in kleinerer Spezialisierung bleibt sie Klang und Schall. Jedem müssen die Worte etwas bringen, und wenn sie es nur versprechen. Basis müssen sie dafür sein, dass jeder sodann über sie und in ihnen mitreden könne, alle Übertechnisierung vermeiden, und deshalb, wie schon gesagt, Haushaltsdebatten aus staatlichen Rechnungslegungen in politische Generalabrechnungen verwandeln. Die „Einzelheiten" mögen dann den „geschlossenen Räumen" überlassen werden, den Kommissionen und Verbänden, in denen nicht „demokratisch groß gesprochen wird". - Angenommen werden politisch von den Vielen nur „große Worte", weil sich allein mit ihnen das Volk als solches identifizieren kann; kleinere werden diskutiert, nicht akzeptiert. In diesem Wort liegt ja nicht nur kühles Überzeugtsein, sondern immer etwas vom Willen, ja von einer Begeisterung, welche große Worte in jedem Einzelnen wecken. Gerade jene Volksherrschaft, welche im Grunde die Vielen von den eigentlichen Entscheidungen fernhalten will durch einen Schein großer Volkssouveränität, muss sie in Begeisterung einbinden und in dieser groß befriedigen - eben damit ihre großen Entscheidungen dann in kühler Rationalität fallen können. Deshalb muss ja auch die Lösung der Größe der Worte nicht voll entsprechen. - Ganz natürlich müssen in der Demokratie Entscheidungen von an sich mittlerem Rang in öffentlicher Diskussion zu Großlösungen hochgespielt werden, hier liegt die Rechtfertigung der demokratischen Campagnen. Erscheint die Umwelt durch gefährliche Transporte auf Straßen bedroht, durch Großchemie an Rüssen, müssen demokratisch Regierende zu Verfassungsänderungen antreten, sich in Diskussionen werfen, die jedenfalls bedeutend sind, auch wenn es die Lösungen weder sein müssen noch können. Die einen werden groß in ihren rettenden Gesten, wenn sie „das Volk" vor der Überfremdung durch Asylanten sichern die anderen darin, dass ihre Gegencampagne hier eine tödliche Bedrohung der Freiheit zeigt. - Das Beste ist in müden politischen Zeiten die Staatsgrundsatzdiskussion, jetzt und gleich. Selbst wenn nur in Worten die Berge kreißen, hat sich der große Staat doch bewegt. Oft ist ja dann die Maus so klein nicht, die er gebiert: Ganz große Worte zwingen wenigstens zu großen Taten, der wuchtige Protest der Außenpolitik immerhin zu fester Haltung auf Folgekonferenzen. Allzu weit darf der Abstand ja nicht werden, der politische Leistung von der Ankündigung trennt, sonst wird der ridiculus mus zum ridicule qui tue - den Staat in Kleinheit; nichts ist eben für ihn so tödlich wie dieser Vorwurf. - Und wenn es schon gar nicht zu Taten kommen kann, zu Lösungen, welche groß versprochen wurden, so werden doch vielleicht die großen Worte zu den großen Organisationen, welche handeln oder wenigstens etwas hätten bewegen sollen -

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Buch 3: Der Monumentalstaat

und denen dies eines Tages sogar gelingen mag; wenn der Staat gar nichts Großes tun kann in einer wichtigen Sache, wird für sie ein Ministerium geschaffen. Was schadet es, da doch organisatorische Größe vorhanden ist? - Damit etwas geschehe, muss ganz groß geredet werden in der ganz großen Öffentlichkeit - reißt sie nicht doch den Staat hinauf, zumindest zu einigem Ausmaß? In Vor-Wahl-Zeiten werden in der Demokratie große Worte geradezu große Taten, weil der Volkssouverän sie so nehmen - muss. Wahlen definieren sich heute daraus, dass ihre Publizität Worte als Tat gelten lässt, der Bürger die eigenen Taten an den Worten seiner Kandidaten misst - aber eben nur an den großen. Vom Wort als Versprechung, dem Wesen der Demokratie, war schon die Rede. Nach der Wahl aber soll doch erfüllt werden, also werden erst recht irgendwelche große Taten erwartet, und Regierungsprogramme bezahlen wieder - in großen Worten. Sie werden nicht nur groß durch die redende Staatsform, sondern durch deren weite Räume der Öffentlichkeit, immer nur noch größer. - Am Kern des Staates schließlich, der Verwaltung, läuft all dies Reden nicht vorbei. Vertiefender Betrachtung mag es als eine politische Mechanik erscheinen, welche die eigentlichen Entscheidungszentren des Staates, die Administration vor allem, gar nicht erreicht. Doch die Demokratie transformiert die wuchtigen Worte in ihre großen Organisationen und damit weithin in - große reale Lösungen. Nicht nur die Regierung, auch die Verwaltung muss den Worten der Regierenden folgen; hier liegt der Sinn der politisierten Verwaltungsspitzen, der Minister, Staatssekretäre, politischen Spitzenbeamten. Diese Parteipolitisierung der technischen Staatsapparate, bis hinein in den unaufhebbaren politischen Skandal der zunehmenden Ämterpatronage, legitimiert sich vor allem in einem: dass aus den großen Worten der Spitze die großen Taten der Apparate werden, die bedeutenden Lösungen, welche der Minister sogar bei seinem bereits politisierten Abteilungsleiter ausleiht, um sie politisch noch größer zu verkaufen. Die Verwaltung, nach täglicher Erfahrung so oft das Reich der mittleren Taten und der kleinen Worte, wird zum verlängerten Arm der Politik, auch indem sie sich deren große Worte ihrerseits wieder ausleiht, mit ihnen den Bürger befriedigt, der immer mehr von Beamten Rechenschaft fordert, nicht von Ministern. Wenn in den mittleren Rängen der Verwaltungen zuallererst Parteibücher gelesen werden, dann wird man auch hier die großen Worte lernen, oder doch deren Geschicklichkeit, und etwas von Staatsgröße mag sich vielleicht sogar darin über alle Apparate hin ausbreiten, vor allem wenn der Beamte stets auf dem Sprung ist in irgendeine Volksvertretung. Dass dann den zahlreicheren großen öffentlichen Worten auch immer mehr große „öffentliche Arbeiten" folgen, mag eine Hoffnung der Demokratie sein. - In ihrer Öffentlichkeit erreicht hier die Staatsform ihre Verwaltung, darüber wird in den nächsten Jahren immer mehr diskutiert werden. Die einen sehen den Stern der Demokratisierung in den Amtsstuben aufgehen, andere die alte, schweigende Administration in Aktionismus geworfen. Sicher ist, dass Kraft

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und Gefahren der großen Worte, welche in diesem Kapitel beschrieben wurden, in die Verwaltung einbrechen werden, sie wird, immer mehr, unter Größenzwang geraten. Schon heute ist sichtbar, dass sie zu „großen Lösungen" durch eine Öffentlichkeit - verstanden zugleich als Aktionsraum und Kollektivpersönlichkeit - gedrängt wird, die sich ja nicht für den einzelnen Fall interessiert, sondern für dessen gleichförmige, große Erledigung. Dann aber muss die Administration immer mehr typisieren, in breite Lösungen schematisierend hinaufwachsen - oder fliehen, der Einzelfall wird Vergangenheit sein, überall bleibt normförmige Verwaltungspraxis. Wer möchte hier die Größe bestreiten, welche der Verwaltungsakt kaum erreicht, und die Vertreter der Rechtsstaatlichkeit werden darin ihren Normstaat vollendet sehen. - Da die Verwaltung in der Öffentlichkeit arbeitet, ist von ihr jene Öffentlichkeitsarbeit gefordert, welche sie erst recht in die Ankündigung der „großen Lösungen" zwingt, denen Taten folgen müssen. Bürgernähe in demokratischer Überzeugungsarbeit - die wuchtigen Worte der Verwaltungspropaganda werden zu den großen der demokratischen Administrationen. - Darin erhebt sich dann die Verwaltung wieder zur Staatsgewalt, sie, welche durch Rechtsstaatlichkeit zur Kleinheit verurteilt werden sollte und zum Schweigen. Eine eigenartige Rückkehr mag man hier sehen zu römischer Verwaltungsstaatlichkeit, damals der Trägerin wahrer Staatsgröße. Nicht in den streng vor den Bürgern bewachten Prätorianerlagern wächst dieser Verwaltungsstaat in die Staatsgröße, sondern in der Öffentlichkeit der Demokratie als einem Teil von deren groß redender Gewalt. Größe zeigt der Staat nicht mehr so sehr in der Majestät der hart treffenden Einzelfallentscheidung als in der Weite der groß angekündigten, flächendeckenden Aktionen - in einem Ordnen letztlich, in dem die Erwartung des Bürgers die Verwaltung in große Lösungen treibt.

5. Medien - Macht nur für 99 große Lösungen44 a) Medienförmiges

Handeln

Medien zerreden viel Großes in Staat und Gesellschaft, mahlen es klein zum Verbrauch des Bürgers. Solche Kritik muss aber auch die andere Seite sehen: Täglich werden hier große Lösungen durch große Öffentlichkeit erst als solche geschaffen, die Demokratie nicht nur in Großsprecherei gezwungen, sondern in wahre Größe. Und dazu bedient sich nun eine wahre List der Vernunft gerade jener rationalen Hydra, welche alles andere sein möchte als groß. Die Massenmedien zwingen die Repräsentanten des Staates zu medienförmigem, also zu großem Reden und auch Handeln. Nur in einer gewissen Größenordnung können sie selbst Nachrichten aufnehmen, in ihren Apparaten konsumieren, von ihrem Verkauf leben. Was bedeutet ihnen die „kleine Lösung", sollen sie über Baugenehmigungen für Rentner berichten, noch dazu wenn sie dem Gesetz ent-

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Buch 3: Der Monumentalstaat

sprechen? Was sie zustimmend oder ohne Kommentar weitergeben, muss in Raum oder Zeit, nach der Zahl der Adressaten, oder qualitativ als Modell für viele Fälle, Bedeutung haben, die Schwelle zu einer gewissen Weite überschreiten, dann erst wird es, und ganz selbstverständlich, berichtenswert. In der liberalen Volksherrschaft wird das Interessierende bezahlt und das Bezahlende interessiert, nicht das Befohlene: nur die große Lösung weckt das große Interesse, aus dem heraus die Medien immer leben, an das sie dann auch gelegentlich kleinere Interessen anhängen können. Wenn der Staat nicht Großes bietet, werden seine Regierungen, am Ende er selbst, uninteressant, dann sind sie erst in der Erinnerung, bald in den Herzen der Bürger gestorben. Jeder Politiker kennt diese erste Grundregel des demokratischen Erfolges, sie gilt auch für seinen Staat. Dessen kleine Verfehlungen mögen berichtenswert sein, von Skandalen allein kann er nicht leben; für jeden Fehler in Staatskleinheit muss er mit einer großen Staatslösung bezahlen, will er das Interessen-Niveau der Staatlichkeit in den Medien halten. Zuerst zwingt dies zu medienförmigen Worten und Auftritten, doch in dem schon beschriebenen Mechanismus folgen diesen öfter Taten als es scheint. Wird ihr Abstand zu den Reden zu - groß, so wird auch über ihn, als ein großes Staatsphänomen, in den Medien groß und breit berichtet, aber darin gerät der Staat in Gefahr. Diese institutionalisierte Form der Öffentlichkeit zwingt ihn von großen Worten in große Taten.

b) Verbreiterungswirkungen

der Massenmedien

Presse und Fernsehen tragen stündlich den Staat in jedes Haus. Selbst seine kleinen tatsächlichen Entscheidungen machen sie darin groß, dass sie sie unzähligen Augen zeigen, Gehirnen und Herzen, die sie in Erwartungen, oft in Aktionen begleiten. Selbst das kleine Staatliche wird darin zum großen Staatstheater, der Staat zum Getriebenen, durch die Vergrößerungskraft der Medien. Für die große Entscheidung gilt dies zuallererst, die hier schon in ihrer Ankündigung Wirklichkeit wird, von der Steuererhöhung bis zum Verteidigungsbündnis, aber auch für die Organisation in allen staatlichen Bereichen. Für die Medien zählen rechtliche Qualifikationen und Unterscheidungen nicht, sie kennen nur Fakten, beurteilen sie nicht nach Kriterien der Richtigkeit, sondern, letztlich, allein nach solchen der Größe, des Interesses nämlich, welches sie wecken. Darin aber kann die Organisation genauso wirken wie die Lösung selbst, die mächtigen Panzerparaden so wie der Sieg im Kriege. Das Axiom „große Lösung aus großer Organisation" kommt meist wesentlich aus den Medien. Über die Lösungen in Ministerrunden können sie meist nicht berichten, doch die Größe des Apparats zeigen die anrollenden Limousinen - könnte dann Kleines beschlossen werden? Da die Medien dies alles im großen Theater verbreiten, gibt es für sie nicht nur das bedeutende, es gibt auch das verbreitungsfähige Faktum, dies gerade erwarten sie vom Staat. Die Medien zwingen ihn zur staatlichen Dimension - und zugleich

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

helfen sie auf diese Wege, wenn sie noch nicht gefunden sind. Konkret bedeutet die Medienförmigkeit der Politik, dass Staatsorgane nur setzen dürfen, was wenigstens „groß werden kann", was die Medien zumindest zur Größe eines Augenblickes - aufblasen können. In diesem Moment wird dann die Dimension der Staatlichkeit sichtbar, welche etwa in großen Schlägen ganze Techniken verbieten „könnte", im Namen der Umwelt und ihrer weiteren Entwicklung - auch wenn dies dann in üblicher Kleinheit nie geschieht. Horizonte sind in Verbreiterungswirkung eröffnet, der drohende Staat erscheint wie eine Gewitterwolke am Horizont der Bürger. c) Der Staat als „ Erwartungsgröße

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Staatsgröße bezeichnet stets zuallererst die Dimension, in welcher Staatlichkeit wirken kann, nur sie in solcher Weite. Nirgends ist dies heute derart sichtbar wie in den Medien. Bis zu einer Quasi-Allgegenwärtigkeit wird hier die Staatlichkeit seines Landes und anderer Staaten dem Bürger täglich nahegebracht; was wird denn im Grunde schon „aus der Gesellschaft berichtet", welche doch, nach liberalem Credo, den „großen Außenraum" beherrschen soll? Auf den Bildschirmen kehrt die historische Staatlichkeit zurück, große Spannung und die letzte Lösung bringt der Staat mit seiner Polizeigewalt, nicht der Bürger mit seinem Verbrechen. Von dem so überall Gegenwärtigen muss doch der Bürger erwarten, dass es Bedeutendes schafft, sich letztlich jedenfalls durchsetzt; so wird der Staat in den Medien zur erwarteten, zur „Erwartungsgröße", und in ihrem Theater wollen sie daraus schon die reale Größe zaubern, den „Staat des als ob", der Bilder und Ankündigungen. Gefahr und Problem des Medienstaates der Demokratie liegt gerade darin, ob dies gelingen, ob die gesteigerte oder doch verbreiterte subjektive Erwartung der Staatsgröße zur objektiven Gegebenheit werden kann. Diese Staatsform setzt darauf, dass das Medienbild ihrer Institutionen im Spiegel des Bürgers die Entscheidungsgröße der Staatsorgane, in Grenzen jedenfalls, zu ersetzen vermag. Darin liegt eine großartige Vorstellung von einer subjektiven Staatsgröße im Geiste der Bürger, mit der sich die Demokratie in ihrer letzten Konsequenz sogar glaubt begnügen zu dürfen. Könnte es aber nicht sein, dass - mit einem Mal gar nichts mehr Reales ist, keine wirklich große Staatslösung, kein Bild vom großen demokratischen Staat im Geist der Vielen? Dass Demokratien rasch zusammenbrechen, erklärt sich vielleicht eben daraus. Länger könnte hier gesprochen werden über die Bedeutung der nicht realen, sondern nur dargestellten, erwarteten Größe in der Volksherrschaft. Diese Staatsform ist darin groß, dass sie durch die Dimension ihrer Entscheidung, nicht durch die der Durchsetzung wirken will, welche dahinter steht, eben weil sie darauf setzt, dass sie, in den Medien verbreitert, sich als erwartete und vorabgebildete Größe in den Herzen ihrer Bürger sodann von selbst realisiert. „Entscheidung als Befolgung", dies ist der einfache Nenner dieser komplizierten Operation. Und eine noch größere Wette geht diese Staatsform über ihre Medien ein: dass die Abbildung, die

Buch 3: Der Monumentalstaat

Vergrößerung ihrer Entscheidungen, deren reale Größe ersetze. Sie scheint an etwas wie eine wirklichkeitstunabhängige, eine - fiktive Größe zu glauben, zumindest als Quelle von Schöpfungen eines Mehrwertes der Macht.

d) Campagnengröße - Verlust der Monumentalität Diese Staatlichkeit existiert in vielen großen, laufenden Bildern - weil sie bedeutend erscheint, ein Monumentalstaat ist das allein noch nicht; die Medien kennen ihn nicht und haben für ihn kaum mehr als Ironie. Die Größe, in welcher sie die Institutionen und Organisationen der Staatlichkeit zeigen, scheint einmal unendlich zu werden, sodann fällt sie wieder ins Nichts zusammen. Die aufgeblasene Dimension der „Pressecampagne" vor allem zwingt die Staatlichkeit nicht zur vorangehenden Größe, sondern zu den atemlos nachlaufenden Lösungen, „damit etwas geschehe", zur Eintagsdemagogie, zum Gegensatz dessen, was hier betrachtet wird. Da ist dann nichts mehr von der sicheren Größe des Herrschaftsraums, der unveränderlich ablaufenden Herrschaftszeit, und es gibt eben doch nur große Stunden, nicht große Sekunden der Staatlichkeit. Hier ist Monumentalität in Gefahr: dass sich der Staat, gerade durch die Medien, aus seiner Ruhe werfen lässt, ist auch die schärfste Kritik, die ihn heute verfolgt; und das Interessante ist eben gar nicht wesentlich das breit Wirkende, schon gar nicht das auf Dauer Geschaffene, die staatliche Lösung als Monument. Die Medien mögen tausend Hilfen zur Größe bieten - das große Ergebnis können sie im Grunde nicht wollen, das Monument, das in ruhiger Gleichheit auf seine Bürger herabblickt, und auch diese Gleichheit als große Lösung - ist sie medien-interessant? Das einzig immer Große, welches die Instanzen der öffentlichen Meinung aufrechterhalten, liegt darin, „dass die Größenkategorie als solche im Staate bleibt": Für den Bürger ist nicht mehr vorstellbar, dass dort „nicht laufend etwas Großes geschehe". Dies sollten heute demokratisch Regierende als Chance verstehen und als dauernde Verpflichtung. Medien sind Organe vor allem der Dimensionsvergrößerung der Staatlichkeit, nicht aber der großen Entscheidung, in ihnen fällt sie nicht. Sie verhelfen zu den großen Worten, welche Dimensionen erschließen, immerhin zur Erwartung der großen Taten, vielleicht bis zu diesen. Immer ist da aber etwas, das ausgefüllt werden muss, etwas von Gefahr, Versuchung, aber auch Chance der „reinen Dimension". Oder sollte man darüber philosophieren, dass diese Medien sich so steigern können in ihrer geballten Wirkung, dass „sie selbst", als Staatsgewalt etwas „Großes" werden, nicht nur in der Organisation, sondern gar noch in Lösungen, Entscheidungen? Dies wäre ein Medienstaat, der den Staat überholte, vor allem in seiner Verwaltung. Ein solches Monument in Wellen, sich fortsetzend in den Schwingungen der Bürgerakzeptanz - das wäre weit hinausgedacht...

D. Der demokratische Zwang zur Staatsgröße

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6. Staatsgröße der „Geheimgewalt"? Geheimnis als Macht - dies ist die Gleichung der Arkangewalt, von chinesischer Staatsweisheit bis in die Gänge des Vatikans und die Hauptquartiere der modernen Geheimdienste. Diese Formen der Staatsgewalt sind wohl in der Vergangenheit groß gewesen, jedenfalls als solche gefürchtet worden; Priestertum und geheime Polizei standen sich stets so nahe. Beide repräsentierten die „großen Mächte" der Staatlichkeit, in den geistlichen wie in den Geheimnissen dieser Welt. Ist das Geheimnis - nicht zugleich das Größenumwitterte, bis auf den heutigen Tag, in jener Geheimdiplomatie, welche nie vergehen wird, trotz aller Anstrengungen demokratischer Öffentlichkeitspolitik und des demokratisierten Völkerrechts? Geheimnis und Monumentalität mögen im Bild nahe beieinander liegen; denkt man an die Staatspyramiden und ihre Staatspriester, so sind sie etwas wie erste Monumente der Staatlichkeit. Wenn Staatsgröße „vermutete, erwartete Macht" ist, hält sich dann nicht etwas von dieser Geheimgewalt mitten in der politischen Welt der Medien und ihrer gleißenden Scheinwerfer, welche die Schatten des Nicht-Berichteten nur um so dunkler werden lassen? Muss man Staatsgröße nicht nach wie vor im Staatsgeheimnis suchen, nicht in der Öffentlichkeit? Gewiss ist von den beiden Seiten der Machtmedaille nur eine stets in Öffentlichkeit beleuchtet, diejenige, welche das Symbol des Staates zeigt, nicht den Kopf des eigentlich Regierenden, aus dem die großen Lösungen kommen, und verschleierte Größe ist sicher immer auch dort, vielleicht ebensoviel, oder noch mehr, wo der Staat die Hüllen seiner Größe auf einer Seite abwirft. Dennoch bedeutet die Demokratie die Grundentscheidung gegen die Arkangewalt, hin zur offenen Größe. Das Geheimnis belässt sie dem Privaten, in seiner Autonomie ist es auch von der größten Staatlichkeit zu achten, nicht als das Geheime, sondern als das ewig dem Staat Unbekannte. Staatlichkeit aber hat sich in vielen Jahrhunderten laufend in die Öffentlichkeit hineinentwickelt, damit auch in die immer mehr bewusste Größe, und selbst die Kirche, von den kleinen Kammern der Priester in die pontifikalen Paläste: was dort nicht veröffentlichte Macht war, wurde öffentliche Schönheit, Staatsgröße der Renaissancepäpste. Staatliche Größe lässt sich sehen, weil sie sich sehen lassen kann. Religiöse Arkangewalten, Legitimation und Zentrum aller Geheimgewalt, sind in Entzauberung und Bildung zerstört worden. Die Höhe des religiösen Geheimnisses, welche früher die staatlich-priesterliche Geheimgewalt schützte, ist heute weit sichtbar abgetragen; sie allein kann Größe nicht mehr sichern, nicht einmal mehr symbolisieren, in einer Volksherrschaft, welche sich überall sehen will, weil sie „überall auf gleicher Ebene steht". Vieles wird heute im Staat geheim gehalten, in erster Linie aber nicht das Große, sondern gerade das Kleine, in welchem die öffentlichen Organe ihrer Verpflichtung zur Größe nicht gerecht werden können, das sie verstecken müssen vor dem Bürger, der die große Lösung der Gleichheit fordert. So hat sich eine völlige Wandlung

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Buch 3: Der Monumentalstaat

des Begriffs des Staatsgeheimnisses vollzogen: Bald wird es so sein, dass nurmehr das kleine Privileg als ein solches gehütet wird, nicht aber die große Lösung, die als solche alsbald die Öffentlichkeit erreichen muss. In den Schubladen bleibt, was die Medien nicht wissen dürfen - zuallererst das Staats-Kleine, der Abfall von der größeren Aufgabe, der Skandal, den rasch die Kritik von den strengeren erzenen Zügen des Staatsmonuments abschlagen würde. Den Verlust des Staatsgeheimnisses - denn nichts anderes liegt darin - sollte man nicht bedauern: Er zeigt die Bewusstwerdung einer staatlichen Größe, die um ihrer Dimension willen nicht geheim bleiben kann, mehr noch: es nicht mehr will. Wo stünde auch ein - geheimes Monument? Der Verlust der Geheimnisse in der Welt der Gegenwart mag mit Trauer erfüllen. Doch die Entromantisierung des Staatsrechts, in deren Zug dies im politischen Raum liegt, ist nicht Verlust der Größe in Rationalisierung. Die Demokratie und ihre Öffentlichkeit zeigen sich hier in dem, was die französische Sprache den „großen Tag" nennt - au grand jour ihrer öffentlichen Gleichheit, ihrer Größe in Öffentlichkeit. Dass dieser Staatsform, damit dem heutigen Staat, viele und breite Straßen in die Staatsgröße offen stehen, dass er durch seine zentralen Erscheinungsformen geradezu in sie gezwungen wird - das sollte dieser Teil der Betrachtungen zeigen. Volksherrschaft ist nicht der kleine Staat des kleinen Bürgers, in ihr wird nicht zusammengeballt, sondern zusammengefasst: was Menschen an politischer Größe fassen können - und was sie als solche erfasst.

E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen44 Große Gestaltungen sind das Wesen der Staatlichkeit, der Demokratie sind sie aufgegeben wie kaum einer anderen Staatsform. Ihre rechtlichen Organisationsformen entsprechen denn auch den Aufgaben, aus welchen sich diese Staatlichkeit überhaupt erst legitimiert: Sie sind so beschaffen, dass aus ihnen Großes entstehen kann, „gut" sind sie, wenn es aus ihnen kommen muss, am besten dann, wenn in der Organisationsform selbst bereits die große Lösung angelegt erscheint, vorgedacht. Die höchste Annäherung an die Monumentalstaatlichkeit wird dort erreicht, wo die Organisation als solche bereits etwas wie eine große Lösung darstellt, eine Dezision von typisch staatlicher Dimension. In einem kaum gebrochenen Spektrum reihen sich hier Erscheinungsformen der Staatsgröße aneinander - beginnend mit den weiten Kompetenzen, die einen großen Aktionsraum abstecken, fortschreitend zu Machtfüllen und kombinierten Instrumentarien, welche die bedeutenden Gestaltungen ermöglichen, weiter hinauf zu den großen Gestaltungsaufgaben, die den Befugnissen entsprechen, mit ihnen geradezu gestellt sind - bis hin zu jenem Punkt, an welchem die Organisation mit ihren Instrumentarien nicht mehr allein die Möglichkeit der Großgestaltung bedeutet, Verpflichtung zu ihr, an welchem sie vielmehr als solche „die große Lösung" schon darstellt, welche die Staatlichkeit prägt. Rechtsstaatlichkeit verlangt die Legitimation der Befugnisse der Staatsorgane aus den Aufgaben der Staatlichkeit. Doch in Wahrheit ist der organisatorische Weg der Staatlichkeit gegenläufig: Die große Staatsaufgabe wird aus den großen Staatsbefugnissen deutlich, diese Letzteren wieder werden bereits in den weiten Organisationsstrukturen erkennbar. Dass Staatlichkeit die Erfüllung großer Aufgaben verlange, ist zunächst ein Wort, der Beweis dafür liegt in den weiträumigen Befugnissen und Organisationsstrukturen, aus denen diese Aufgabenerfüllung kommt. Bei aller staatlichen Freiheit, sich die Aufgaben selbst zu wählen - hier ist dann das Gesetz wirksam, dass sich die Befugnis die Aufgabe schafft, die Organisation die Befugnis. Im Letzten ist in der Organisation bereits die Aufgabe angelegt, die „große Organisation" wird zur „großen Lösung" der Staatlichkeit. Beispiele dafür wurden schon genannt - die Gesetzgebung, die Strukturen der Finanzgewalt des Staates. Nun sollen noch, in staatsorganisatorischer Betrachtung, einige Beispiele folgen für das Durchschlagen der Organisation in die „Staatlichkeit als große Lösung".

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Buch 3: Der Monumentalstaat

Vorher jedoch noch ein Wort zu jener Organisationsgrundlage aller demokratischen Staatlichkeit, welche in ihrer normativen Weite den Staatsorganen eine Großräumigkeit der Aufgabenerfüllung mitgibt - und ebenso weiträumige Begrenzungen ihrer Mächtigkeit: die Verfassung. Denn alle Staatsorganisation muss in diese Dimension gestellt, in solcher Globalität gesehen werden, welche, wie keine andere politische Grundidee, die große Gestaltung als das Wesen heutiger Staatlichkeit zeigt.

I. Die Verfassung als große normative Dimension 1. Verfassungsnormen als „Großlösungen" In der Betrachtung der Gesetzgebung zeigte sich bereits: Die Norm an sich schon ist eine typisch staatliche, die wichtigste Form der „großen Lösung", wie sie nur die organisierte Gemeinschaft heute mehr in derart zwingender Präzision kennt. Mit der Norm hat die Staatlichkeit die große Lösung schlechthin monopolisiert. Unabsehbar viele Fälle werden darin mit einem Schlag gelöst, in unbegrenzte Weiten hinaus wird gestaltet. Hier entzieht sich alles dem Abzählen der einzelnen Fälle, hier ist der „Raum an sich", in dem sich unendlich vieles vollziehen kann, in den immer Neues eintritt, aus ihm ausscheidet. Die Verfassung bringt solche Normativität par excellence. Sie ist wesentlich „raumschaffend", konstituiert sie doch rechtlich den Gesamtraum des Gemeinschaftslebens. Hier werden nicht Einzelkonflikte gelöst, da ist auch kein „Nachbarrecht im Großen"; der gesamte Raum wird rechtlich geschaffen, in dem sich überhaupt etwas abspielen kann, der „große Rechtsraum an sich". Was immer dort dann im Einzelnen geschieht, läuft ab in der ganz großen Dimension. Die Verfassung schafft rechtlich die Staatselemente, den Raum der Staatlichkeit legt sie im Territorium fest, den des Staatsvolks in der Staatsbürgerschaft, den der Staatsgewalt mit den Grundstrukturen der Staatsmacht. Diese drei Räume, der temporäre, personale und „potentielle", wachsen zusammen zu einer großen Dimension des Gemeinschaftslebens. Auf die Verfassung ist der ganze Staat gegründet, sie schafft erstmals seine Einheit, als staatstragendes Normfundament. Wie groß immer Staatsgebiet oder Staatsvolk sein mögen - allein darin schon, dass auf diesen Normen die „ganze Staatsgewalt" aufruht, in ihrer virtuell unendlichen Intensität, ist der Verfassung eine einmalige normative Größe eigen, die ja auch ganz selbstverständlich in der Majestät des Konstitutionellen verehrt wird. Wo immer eine geschriebene Verfassung diesen Namen verdient, bedeutet sie die Schicht der höchsten Normen. In dieser vertikalen Dimension allein schon liegt einmalige Größe, ist sie doch nach „oben" unbegrenzt, nach „unten" allmächtig.

E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen"

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Normhöhe nennt dies die Verfassungsdogmatik; in Wahrheit wird hier „die Höhe als Größe" gedacht, nicht als verdämmernde Ferne, sondern im Sinne des immer weiteren Ausgriffs. Die höherrangige Norm ist ja auch im Grunde stets die weitere, dies liegt schon im Gedanken der Normpyramide. Ihre Breite aber bedeutet die größere Lösung, in der Höhendimension wird dies mit der stärkeren Durchsetzungskraft und der erschwerten Abänderbarkeit verbunden. Womit aber könnte all dies besser erfasst werden als im Gedanken der Monumentalstaatlichkeit? Wie sie bleibt die Verfassung, in der Idee, stets unverändert. Wie ein Mahnmal ragt sie hoch auf, über allen Staatsraum hinwegblickend, -wirkend; und mit ihrer Mahnung setzt sie sich, letztlich unbedingt, durch in allem, was in ihrem Raum geschieht. Der Begriff der „Normhöhe" wird immer nur „von unten" gesehen, aus der kleineren Perspektive der niederrangigen Normen, von Gesetz und Verordnung. Über das Wesen des Konstitutionellen sagt all dies erst dann etwas aus, wenn Höhe als Größe erkannt wird. So ist die Verfassung formal, eben in ihrer Normhöhe, Ausdruck der Monumentalstaatlichkeit. Erst recht erscheint sie aber als solche in materiell-rechtlicher Betrachtung. Was können ihre Normen denn letztlich anderes sein als „Super-Generalklauseln", welche alle Bewegungen im Staatsraum erfassen, diesen völlig durchwirken? Bei den Grundrechten ist dies offenkundig und wird sich noch näher zeigen. Doch dieser Generalklausel-Charakter ist jeder eigentlichen Verfassungsnorm wesentlich, auch dem Staatsorganisationsrecht: Hier werden ja Strukturen geschaffen, Aufgaben gestellt, Befugnisse verliehen, deren Wesen ihre Weite ist; was aus ihnen kommt, in ihrem Namen geschieht, durchwirkt die gesamte Staatlichkeit. In diesem Sinne ist das Staatsorganisationsrecht nicht formelles, sondern ebenfalls antizipiertes materielles Recht. Doch wie immer dem sei - formell und materiell sollen hier „große Lösungen" geboten werden, nur sie gehören letztlich auf die Ebene der Verfassung, und eine materielle Verfassungstheorie könnte mit Blick auf den Monumentalstaat aussagen, was auf Verfassungsebene zu heben wäre, was in den normniederen, in Wahrheit: normkleineren Bereichen verbleiben sollte. Die Väter aller Verfassungen haben stets nicht nur Einmaliges und Hohes schaffen wollen - in erster Linie erstrebten sie eine ganz große Lösung, im Geiste der semitischen Buchreligionen, in dem sie aufgewachsen sind. Verfassung als Staatsthora, als Machtkoran, als Volksbibel will nicht nur heilig sein, geliebt und unverbrüchlich, hier ist normative Größe in Buchformen, buchstäbliche Staatsdogmatik. Durch ihre Artikel blickt die Größe eines Schöpferwillens, sie ist eine Staatsgenesis, in welcher zuallererst Raum und Zeit geschaffen werden, für das viele Folgende, Tagtägliche. Eine Einheit ist sie vielleicht nicht in all ihren Dezisionen, wohl aber in ihrer Weite und Höhe, in dem einen Dokument, das all dies überhöht. „In einem Augenblick rechtlich alles" - das ist Verfassung; was wäre das Monument anderes, in welchem an einer Stelle alles steht, von einem Punkt aus auf alle und alles gewirkt wird?

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Buch 3: Der Monumentalstaat

2. Die Grundrechte - „ganz große Freiheitslösungen" Die Verfassungsidee verleiht aller Staatlichkeit die ganz große Dimension. Die Grundrechte, die Verfassungsfassade zum Bürger, zeigt ihm das ganz große Freiheitsmonument: die Staatslösung nicht zu seiner „kleinen Freiheit", sondern zu einer Libertät, die nur als eine große an sich gedacht werden kann, die nicht mehr ist, wenn sie auch nur kleiner wird. Die Grundrechtsidee ist immer als etwas ganz Bedeutendes gesehen und erkämpft worden, für die ganz große - nicht für die unendliche - Freiheit werden Barrikaden errichtet, nie zum Schutze kleiner Freiheitsräume. Ein Zug in die Unendlichkeit sogar ist all dem stets eigen, in welchem sich die Freiheit dann in Anarchie immer wieder verliert, in einer grandiosen Perversion der Grandeur. Jenes Atemholen der Freiheit, das zum Aufatmen eines Volkes werden kann, bringt, staatlich wie physisch, jedem Menschen das erste Gefühl für Größe, in einem Sich-Weiten zu Größerem. Deshalb allein schon, weil hier die Staatsmonumentalität greifbar nahe ist, haben immer wieder wahre Staatsgründer mit diesen Verfassungsartikeln begonnen, oder in ihnen, wie noch in Weimar, die Verfassung wenigstens vollenden wollen. „Freiheit über alles - alles aus Freiheit" - es kann hier nur die ganz große Staatslösung gemeint sein. Diese Freiheit mag ihre Grenzen wohl haben, da aber aus ihr alles im Staate lebt, sich legitimiert, ist sie nicht groß als schrankenlose Willkür, sondern als große Staatsorganisationsidee. So muss also die Freiheit hier verstanden werden, mit Blick auf die Monumentalstaatlichkeit: Als eine Großlösung der Gemeinschaft erscheint sie vielen heute vor allem darin, dass ihnen vieles erlaubt sei, im Zweifel alles. Dagegen wendet sich dann sogleich die Staatlichkeit der vielen, kleinen, bürokratischen Lösungen, die etwas von der notwendigen Macht in Zähigkeit festhalten, dem Bürger doch wieder abnehmen will. Dies ist auch gar nicht die eigentlich „große Lösung" der Grundrechte, dass jedem alles erlaubt sei. Sie liegt vielmehr in der Allwirksamkeit der Freiheit, in der ständigen Abwägung aller Staatsgewalt ihr gegenüber, im Letzten in dubio pro liberiate. Das ist dann eine wahrhaft große Lösung für unendlich viele, für alle Fälle. Die große Freiheit des Bürgers ist die Schubkraft dieser Idee, die Freiheit im Staate, durch alle seine Äußerungen verbürgt, ist „Staatlichkeit als große Lösung". Wäre Grundrechtlichkeit nichts als Staatsferne, so läge alle wahre Größe außerhalb der Staatlichkeit. Die demokratische Gemeinschaft jedoch will die Freiheitlichkeit in ihre Mauern aufnehmen, die große Lösung der außerstaatlichen Freiheit wahrhaft rezipieren, Privacy als „große Lösung in Staatlichkeit". Dieses Staatsmonument nimmt jene Kräfte in sich auf, welche es eigentlich zerstören wollten; in seinem Erz ist alles beruhigt, was es zersetzen könnte. Die Grundrechte als typische große Lösung der Staatlichkeit treten denn auch immer mehr ins heutige Bewusstsein. Der Staat hat die Freiheiten zu bewahren, ja

E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen"

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ihre Voraussetzungen zu schaffen. Die stete Spannung zur außerrechtlichen Freiheit des Bürgers und dessen Ansprüchen kann dieser Staat nur halten in einer ruhigen Größe, die sich nicht durch die Regung jeder individuellen Freiheit schon erschüttert fühlt. Hier sind die weiten Rahmen des staatlichen Handelns gefordert, ein Abstecken von Räumen, welches auf deren ständiges „Durch-setzen" verzichtet. Die Rezeption der großen Freiheit des Bürgers zwingt den heutigen Staat nicht in die Kleinheit einer Staatlichkeit als Randerscheinung, sondern in die Größe der Staatlichkeit als Freiheitshalt. Inhalt und Schranken der Grundrechte muss der Staat nicht nur beim Eigentum bestimmen, wie das Grundgesetz es vorsieht, letztlich ist dies seine Aufgabe allen Freiheiten gegenüber. Doch er hat sie damit nicht zu zerteilen, zu bewerten und schließlich umzuverteilen, sondern zu befestigen und zu belassen. Umverteilung allein - das wäre nichts anderes als „viele kleine Lösungen"; unendlich zahlreiche und ewig neue. Freiheiten zu bestimmen und sodann zu belassen - dies ist eine große, des Normgebers würdige Aufgabe, die ruhige, monumentale Lösung des Staates, welche die Bewegung und Verteilung dem Bürger überlässt. Großlösungen sind die Grundrechte aber nicht nur dort, wo der Staat sich ihrer Definition und ihres Schutzes annimmt. In sich bereits stellen sie normative Großgestaltungen dar, welche ihresgleichen kaum in der Gemeinschaft haben. Hier wird doch der Versuch unternommen, globale Lösungen für ganze Rechtsbereiche mit wenigen Worten zu treffen. In zwei Sätzen wird da aller Beruf geordnet, in zwei Worten Religion und Meinung. Dass dies nicht voll gelingen kann, ständig zu leisten bleibt, ist eine Banalität; entscheidend ist der normative Aufbruch zur Größe der Lösung, der in diesen wenigen Worten stets liegt, der alle Versuche näherer Bestimmung immer leiten muss. Das menschliche Leben in einige Sätze gepresst hier waltet ein normativer Optimismus ohnegleichen, er vertraut der Kraft jenes Staates, der sich doch zugleich vor diesen Freiheiten so weit zurückziehen soll. Denn diese Staatlichkeit der „Grundrechtlichkeit als großer Staatslösung" darf ja nicht einfach nur weiße Flecken aussparen auf der Landkarte des Gemeinschaftslebens, Räume, über die er schreibt „hic sunt leones", um sie den Bürgern zu überlassen. Von ihm ist im Namen der Grundrechtlichkeit die Globalgestaltung dieser Räume gefordert, darin liegt der tiefere Sinn der Dogmatik der institutionellen Garantien auf grundrechtlicher Basis: Aus wenigen, wahrhaft großen Freiheitsgedanken heraus haben Gesetzgeber und Verwaltung jenen elementaren normativen Mindestbestand zu schaffen und zu achten, der die großen Lösungen der einzelnen Räume darstellt, von der Presse zur Versammlung, vom freien Zug bis zur Wohnung. Wenn da immer wieder die Rede ist von den „elementaren Grundsätzen", wie sie sich in der Gesetzgebung, an der Verfassung orientiert, entwickelt haben, so meint dies nichts anderes als den Staat als Lordsiegelbewahrer der großen Rahmen, der weiten Lösungen, in welche hinein die Bürger entlassen werden, im Namen der Grundrechte. Dass ihnen selbst hier vieles überlassen bleibt, hebt Aufgabe und Verantwortung staatlicher Gestaltung nicht auf; das erstaunliche Bekenntnis zur Normierungskraft der wenigen hohen Worte kann sicher nicht 48 Leisner

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immer Wirklichkeit werden - stets von neuem wird der Bürger hier verkleinern, oder die Staatsmaschine. Doch es bleibt das Bekenntnis zu dem, was einfach im Wort sein darf, weil es Großes proklamiert. Grundrechte sind schließlich große Staatslösungen nicht nur in der Definition und der Bewahrung der Freiheiten durch die öffentliche Gewalt. Diese selbst wird in ihrer Organisation durch die verfassungsmäßigen Freiheiten geprägt, die sie schützt. Organisatorische Freiheitssicherung wird immer wichtiger: Schutz der politischen Freiheiten durch parlamentarische Strukturen, Organisation staatlicher Medien, Schulen und Hochschulen, Sicherung wirtschaftlicher Freiräume in den Organisationsstrukturen der Gewerbe- und Steuerverwaltungen, in Planung und Subventionen. Was sich hier in fast unübersehbarer Vielfalt ausbreitet, steht doch alles unter wenigen, ganz großen Lösungen, es geschieht im Namen der Freiheiten, wird dadurch in deren hohe Dimensionen hinaufgehoben, hat Teil an ihrer Größe. Darin vollzieht sich, ob es die einzelnen Staatsorgane erkennen oder nicht, eine Vergeistigung und Monumentalisierung ganzer Staatsbereiche, die in unzähligen Detailentscheidungen der einen großen Lösung dienen. Organisatorische Freiheitssicherung, jener immer breitere Weg in die Zukunft der Freiheit, ist daher eine wahre staatsmonumentale Straße, von einer großen Lösung zur anderen. Und wieder erklärt das Bild vom Monument so vieles an der Grundrechtlichkeit: Nicht nur in ihrer unbestrittenen staatsideologischen Größe entspricht sie ihm, in ihren weit ausgreifenden Regelungsräumen. Hier ist die große normative Ruhe in die Staatlichkeit eingezogen, wer wollte es wagen, an Grundrechte zu rühren ohne Blut und Gewalt? Mit des Menschen Natur gegeben, welche die Demokratie als das Größte erkennt, wachsen sie noch über den einzelnen Menschen hinaus, in die Dimension der Würde und der Freiheiten ganzer Völker, ja der Menschheit hinauf. Von all dem trägt jede, auch die kleinste Gemeinschaft etwas in sich, in ihrer Freiheit wird die Würde aller Menschen geschlagen. Das Monument gehört eben nicht denen allein, die es sich errichtet haben, allen Beschauern ist es gewidmet. Verschüttet mögen sie werden, diese Freiheiten, doch sie erstehen auf nach dem Vergessen von Jahrhunderten in einer Französischen Revolution. Und immer sind sie Monumente in ihrer mahnenden Kraft, das Vorgezeichnete, nie Vollendete fortzusetzen. Wenn ein Monument auch das und gerade das Begrabene ist, das Zerbrochene, Vergangene, dessen Suche uns stets bewegt, so ist dies alles wahr für die Idee der großen Lösungen des Freiheitsstaates. Gewalt mahnt nicht, sie erdrückt; Freiheit ist nie Wirklichkeit, immer nur ein Finger, der nach oben zeigt...

3. Verfassungsrichtertum als organisatorische Großlösung Nirgends vielleicht ist der Übergang so deutlich von der staatlichen Groß-Lösung in Normen zur Groß-Gestaltung in Organisation wie im Verfassungsrichtertum. Hier ist eine „Organisation nach Norm" geschaffen worden, für das höchste

E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen"

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Gesetz, nach seinem Bild und Gleichnis. Die Verfassung, welche nur leben kann im Spruch dieses Areopags, leiht ihm die Größe ihrer Lösungen und erhält von ihm die Größe seiner Erkenntnisse. Ein Gericht an der Spitze des Staates, der normative Spruch über aller Gewalt - dies ist ein höchster Ausdruck der großen rechtlichen Lösung, die ihren Namen eben nur mit diesem Beiwort wirklich verdient, nicht im Namen des Schwertes. In der Verfassungsgerichtsbarkeit erwächst das zum Wesen der Staatstätigkeit, was sich sonst auf seltene Spitzen beschränkt: die Einzelentscheidung wird zur Prinzipiensetzung. Wie lange dauert es sonst, bis auf den mühevollen, steinigen Straßen der Instanzenzüge, oder gar der Verwaltungspraxis, die Einzeldezision emporwächst zum Grundsatz für einen ganzen Bereich, vielleicht für die Gemeinschaft als solche. Hier sind alle diese Zwischenstadien übersprungen, jede Erkenntnis wird letztlich gelesen wie ein Gesetz. Seit diese Institutionen wirken, ist der Grundsatzcharakter auch anderer höchstrichterlicher Entscheidungen klarer und immer häufiger erkannt worden. Darin liegen nicht nur Verschiebungen innerhalb der Gewaltenteilung, Kompetenzverlagerungen und Überleitungen von Politik auf Recht. Der Richter löst stets und wesentlich den Einzelfall. Dass er dies in dem Geist der „großen Lösung" leiste, kann ihm nur selten bewusst sein - hier wird es zu seiner ersten Pflicht. Die Entscheidung des Staatsprozesses ist ein neuer Prozess der Gewinnung typisch staatlicher Großlösungen, der sich vor aller Augen in streng rechtlichen Formen vollzieht. Hier bewährt sich die Großlösung - vom Einzelfall zum Gesetz und zurück. Deutlich wird die Nähe des großen Einzelfalls zur großen Norm, in der gemeinsamen Dimension der Monumentalstaatlichkeit; nur sie kann eine Verfassungsgerichtsbarkeit kennen. Verfassungsrichter treffen stets Großentscheidungen, aus der Höhe ihres Normmaßstabes heraus. Aus diesem Gerichtssaal kommt laufende Staatsgrundsätzlichkeit, in Wellen großer Lösungen, in alle Bereiche der organisierten Staatlichkeit. Der Blick des „kleinen Beamten, des kleinen Bürgers", wird immer wieder auf diese Größe gerichtet. Nicht induktiv baut sie sich auf, unbemerkt und dann plötzlich in lastender Erscheinung - in ständiger Deduktion wirkt sie offen „von oben", typisch staatlich, eben in der großen Entscheidung des kleinen Falles. Diese Monumente haben nicht viel mehr als menschliche Größe, doch müssen alle stets auf sie blicken. Verfassungsrecht will groß sein in allem; wo es in seinem Wortlaut dies nicht vermag, wächst es in Größe hinauf durch den Spruch der Verfassungsrichter. Aus bescheidenen Worten werden große Linien. Immer fanden Lehrbücher größere Worte als die dürren Gesetze; die größten Worte finden heute Verfassungsentscheidungen. Auf vielen Seiten verkleinern sie nicht die Normen, sie erweitern sie in ihren Doktrinen. Das Staatsrecht mit seiner ganzen Dogmatik bricht ein in die wenigen Sätze der Verfassung, so wird das Absacken der großen Staatsideologie in die kleine Verwaltung verhindert. 4*

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Buch 3: Der Monumentalstaat

Dass Verfassungsrichter stets auch auf den Staat und seine Handlungsfreiheit blicken, nicht alles in Normen zementieren wollen, ist nicht ein bedauerliches Zugeständnis an die stärkere Politik; darin gerade zeigt sich der Blick für eine Monumentalstaatlichkeit, die eben nicht einbetoniert, sondern frei stehen muss, in ständiger Wirkkraft neuer, großer Lösungen. Gerade wenn die Freiheit des Gesetzgebers betont wird, bleibt er auch aufgerufen zu größerem Schaffen, nicht nur zu ängstlicher Zurückhaltung. Wie oft haben nicht diese Richter den Staatsgewalten bescheinigt, dieses und jenes könnten sie tun, doch nicht um den Einzelnen im Kleinen zu schlagen, nur in größerer Gestaltung. Dem Eigentumsgesetzgeber wird bestätigt, im Rahmen großer Neugestaltungen dürfe er auch über den Bestandsschutz einzelner Gruppen hinweggehen, die Judikaturen zu den Reformen ganzer Berufszweige oder zu größeren Steuerreformen mahnen immer an eines: Die „große Lösung" ist verfassungskonform, weil entsprechend dem Wesen der Staatlichkeit, die „kleine" liegt unter dem Verfassungsrisiko des schikanösen Machtmissbrauchs gegen Einzelne, zu heutigen politischen Zwecken. Wenn die Verfassungsrichter Gesetzgeber und Verwaltung in größere zeitliche Dimensionen hineinzwingen, so liegt auch darin stets nur die Mahnung zur verantwortlichen Gesamtgestaltung - zur großen Lösung mit anderen Worten. Immer mehr zieht sich heute die Verfassungsgerichtsbarkeit zurück aus dem Schutz fester Freiheitsräume in die Sicherung der Voraussehbarkeit staatlicher Entscheidungen: Nicht einzelne Rechtspositionen des Bürgers werden unverbrüchlich gesichert - nur überrascht soll er nicht werden durch die Staatsgewalt. Nicht selten wird dies als Freiheitsverlust beklagt und im Sinne der liberalen Bürgersicherung ist es ein solcher. Doch gewonnen wird damit die große Dimension der typischen Staatslösung, in welche die öffentliche Gewalt, in all ihren Erscheinungsformen, gezwungen wird: Was der Bürger abzusehen vermag, auf was er sich einrichten kann, ist mit Sicherheit ein „neuer Raum", also eine größere Lösung; mehrere muss dies treffen, damit sich die ganze Gruppe und vielleicht noch andere daran orientieren können - also wieder Zwang zur Großlösung; und es muss aus bedeutendem Anlass heraus geschehen, nur mit ihm, nicht mit kleinen Zufälligkeiten, hat der Gewaltunterworfene zu rechnen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat vielleicht bald überhaupt nur eine Chance größerer politischer Wirksamkeit: Wenn sie die Staatsgewalten, die immer mächtigeren, übermütigeren Politiker der Demokratie, in die rechtliche Folgerichtigkeit ihres Handelns zwingt, in Selbstbindungen, wie sie nicht eine beliebige Systemgerechtigkeit, wohl aber die „große Lösung" eben verlangt. Soweit wird sie gar nicht gehen können, dass sie dem Gesetzgeber, dem Staat überhaupt, eine venire contra factum proprium verbietet, dem Volkssouverän mag täglich Neues belieben. Doch zu einem kann sie ihn verpflichten: dass sein factum stets ein großes sei; und dann wird er auch bei ihm stehen bleiben müssen - in Monumentalität. Mit dieser Monumentalität haben die Menschen stets ihre Gerichte umgeben und ihre Richter. Von ihnen erwarten sie Bewegungslosigkeit des in sich Ruhen-

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den, umgeben sie mit alten Gewändern. Jede Bewegung ist hier von Übel, wo große Worte gesprochen werden sollen. Verfassungsrichtertum ist der höchste Ausdruck dieser judikativen Monumentalität. Das Gesamtgericht erscheint der ganzen Bürgerschaft geradezu wie ein kaum sich bewegendes, gerade noch lebendiges, fast schon Norm gewordenes Monument, als eine lebende Großlösung. Und als ein Mahnmal - denn was anderes wäre die Aufgabe dieser Instanz, als die ständige Mahnung aller Staatsgewalt an das dauernd Mahnende - die Verfassung?

Π. Der Präsident - der lebende große Staat 1. Der „Protokollpräsident" - Repräsentant des „Ganzen" Nichts charakterisiert den Staat, gleich in welcher seiner Formen, so deutlich wie das Staatsoberhaupt; oft ist es Ausdruck der Staatsform, stets der Staatlichkeit als solcher. Galionsfigur oder Steuermann des Staatsschiffs - der Präsident ist auch heute überall mehr als eine Fortsetzung der Monarchie mit anderen Mitteln, er ist ein lebendes Staatsmonument, ein Ausdruck der Monumentalstaatlichkeit. Besonders deutlich wird dies beim Protokollpräsidenten der parlamentarischen Demokratie, gerade weil ihm die Macht zur großen Lösung fehlt: Er trifft sie nicht, aber er repräsentiert sie. Eigentlich ist dies eine politisch unvollziehbare Vorstellung: Eine Figur, welche allein auf die eigene Persönlichkeit angewiesen ist, aus deren ethischem Gewicht heraus nur zu wirken vermag - wie sollte sie einen Ausschlag geben können in einem System der Mehrheiten, der im Grunde doch ganz brutal quantifizierten Machtverhältnisse? Man mag hier darauf verweisen, dass jede Staatsform ihr Gegenbild sucht, in einem zentralen Punkt doch verwirklichen will - hier eben das einer aus „reiner Staatlichkeit heraus" wirkenden Instanz. Doch mit solchen romantischen Erinnerungen an die Monarchie, derartigen stets bestreitbaren Moralisierungen, lässt sich ein repräsentatives Staatsorgan nicht legitimieren. Seinen Sinn findet es im Gedanken der großen Staatlichkeit, die es versinnbildlicht. Immer wieder heißt es, hier werde das „Ganze" repräsentiert, nicht die Wirkkraft seiner Teile. Zunächst steht damit sicher Existenz gegen Effizienz, und dies bedeutet nicht wenig. Doch auch eine Größendimension ist im Spiel: Der Protokollpräsident bleibt der machtlos Größte, der Große schlechthin im Staate. Er braucht sich nicht zu bewegen, nichts zu bewirken, er empfängt weit mehr als er gibt, Botschafter und Staatsoberhäupter, Bürger und Ehrungen für seinen Staat. In alledem ist er Abbild von dessen Größe, welche aktionistischer Legitimation nicht bedarf. Reservegewalt bedeutet er im Verfassungsspiel nicht an sich, sondern nur bei den ganz großen, letzten Entscheidungen einer vom Parlament nicht bewältigten Regierungsbildung, bei der Auflösung der Vertreterversammlung des Volkes, im Verteidigungsfall. Alles andere, Kleinere, hat ihn nicht zu kümmern, fällt von

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ihm ab. Was er ohne Gegenzeichnung durch die parlamentarisch legitimierte Regierung sagen und wirken darf, aus seiner eigenen Persönlichkeit heraus, kann immer nur das „ganz Große sein", was den ganzen Staat angeht, jeden einzelnen Bürger, was alle orientiert und prägt. So ist der Protokollpräsident in seiner Repräsentationsfunktion Ausdruck der „ganz großen Lösung" der Staatlichkeit, ein wahres Monument, in all jenem formelhaften sich selbst Gleichbleiben, welches das Wesen des Protokolls ausmacht. Der Präsident bewegt sich in großen Erklärungen, im Kleinen nur in den Kanälen jener Riten, in denen das Tagtägliche groß, zeitübergreifend geworden ist. Nichts wird er sagen und tun, was sich verändern ließe, durch ihn selbst, seine Regierung oder einen Nachfolger; denn monumental sind alle seine Gesten, monumental ist alles, was „Repräsentation an sich" bedeutet: ein Dastehen und die Größe des Staates Reflektieren. Seine eigentliche Bedeutung gewinnt jeder Protokollpräsident - und seine Stellung in der Geschichte - schließlich nur aus der Kraft und der Nachhaltigkeit, mit der er zu mahnen versteht. Dieser erhobene Finger der Nation wird oft belächelt, worin anders könnte sich eine solche Figur bewegen als in mahnenden Gesten? Und dass da stets Staatsmoral ist, zeigt eben nur den Präsidenten als Vertreter der ganz großen Lösungen der Staatlichkeit, als denjenigen, der ihre wahrhaft bedeutenden Dimensionen anspricht. Staatsgewalt aus reiner Staatsgröße - so könnte man den Protokollpräsidenten der parlamentarischen Volksherrschaft wohl definieren. Dies ist ein Zeichen dafür, wie Größe wirken kann ohne Macht.

2. Présidentielles Regime Konzentration „großer Lösungen" an der Spitze Wo der volksgewählte Präsident nicht nur an der Spitze steht, sondern „die Spitze ist", wird Staatsgröße wiederum, aber in einem ganz anderen Sinne, institutionalisiert: Nun ist dies der mächtige Mann im Staate, bei ihm, an der Spitze, sind die „großen Lösungen" der Staatlichkeit, ist ihr Wesen konzentriert. Der amerikanische Präsident und der französische sind nicht allein als Figuren in einem Spiel der Gewaltenteilung des demokratischen Staates zu erfassen, sie stehen entscheidend über ihm. Hier ist eine horizontale Gewaltenteilung eigener Art nach oben fortgesetzt, innerhalb der Exekutive selbst: Die Kompetenzen des Präsidenten kann man, wie immer sie umschrieben sind, nie anders definieren als die der „großen Entscheidungen", welche über den täglichen Ablauf seiner „Administration" hinausreichen, die dann eben den Rest der Staatstätigkeit erledigen mag. In gewissem Sinn ist darin auch das amerikanische Staatsrecht konsequent, dass es seine entscheidende Gewaltenteilung, die Vertikale des Föderalstaates, fort-

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setzt in der vertikalen Gewaltenteilung der Regierung, zwischen den Ministern und dem sie haltenden Präsidenten. In Frankreich hat sich die schwierige Balance zwischen dem Staatspräsidenten und „seiner" Regierung mit deren Chef, welcher immerhin die Richtlinien der Politik zu bestimmen hat, nur dadurch halten lassen, dass deutlich die „großen Entscheidungen" beim Präsidenten liegen oder doch nicht ohne ihn zu treffen sind. Der Begriff der „großen Lösung" ist so geradezu eine dogmatische Kategorie des französischen Staatsrechts geworden; der französische Präsident ist der institutionelle Ausdruck der französischen Monumentalstaatlichkeit. Dies ist wiederum nur denkbar in einem Lande, dem der Begriff des Monumentalstaats aus seiner Geschichte geläufig ist wie keinem anderen, in dem die Reiterstatuen der großen Könige noch immer staatsrechtliche Wirklichkeit sind. In anderen Ländern, und vor allem in Deutschland, mag man an dem zweifeln, was den Gegenstand dieser Betrachtungen bildet - im Frankreich der Fünften Republik ist es in der Gegenwart erlebt worden: die fleischgewordene Monumentalität der großen Lösung an der Spitze, über aller parlamentarisch-tagtäglichen Politik; und als solche ist sie dann, immer wieder, vom Volk eindrucksvoll ratifiziert, nicht in Parteipolitisierung verkleinert worden. Dieser Selbstand des Großen, der Staatslösungen als solcher, prägt auch noch immer die amerikanische lebendige Verfassung. Mit solcher Kraft setzt sich ihr Präsident - eine in Europa schwer vorstellbare Wirklichkeit - stets von neuem auch gegen andere politische Mehrheiten im Parlament durch, eben im Namen der Größe der Gesamtunion, und nur in ihr. Das Parlament erscheint demgegenüber geradezu als eine Randkorrektur-, im Grunde als eine Verkleinerungsgewalt. Sie mag Haushaltsansätze kürzen, präsidentielle Politiken reduzieren, hindern und bremsen, zuzeiten den Staat um seine Größe bringen, wie in der epochalen Fehlentscheidung der Nichtratifizierung des Völkerbundvertrages. Der Staat als große Lösung - das ist und bleibt der Präsident, die vielen Kleinen, welche immer wieder dezentralisieren, zentrifugalisieren, wirken im Kongress. Eine eigentümliche Gewaltenteilung geradezu hat sich eingerichtet zwischen dem Staat der großen präsidentiellen und der kleineren, durchaus nicht immer kleinen, Kongresslösungen. Durch schlägt aber stets wieder das präsidentielle Gewicht der großen Lösung, die eigentliche Staatlichkeit gegen die mehr oder weniger privaten, parlamentsrepräsentierten Interessen der Vielen. Eine Großmacht könnte auch anders kaum wirken, wäre nicht - die große institutionelle Lösung des Präsidenten geradezu ihre Spitze. Die Monumentalität des Protokollpräsidenten, von der eben die Rede war, verbindet sich hier mit der Macht zur großen Lösung, in Existenz und Effizienz tritt der Staat auf in seiner ganzen Größe, in der Volkswahl des Präsidenten wird sich jedermann dieser institutionalisierten Monumentalstaatlichkeit deutlich bewusst.

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I I I . Parlament - große Lösung in Versammlung 1. Staatsgröße in Wahlen Das Parlament erscheint dem Bürger als eine große Versammlung, nicht als eine große Lösung. Wird dort nicht alles Größere verkleinert, alle Regeln mit Zusätzen und Ausnahmen verwässert, ist nicht längst das Wesen der parlamentarischen Gesetzgebung nicht mehr das allgemeine Gesetz, sondern die „Norm als Ausnahme"? Endlose Palaver, ausgeschliffene Rederoutine, unzählige kuhhändlerische Kompromisse - soll darauf auch nur der Schatten eines Monuments liegen? Zieht die Majestät des großen Staates nicht erst wieder in den Plenarsaal ein, wenn ihn die vielen kleinen Redner verlassen haben? Vorher schließlich die Wahlen: Von der theatralischen Aufregung des Ergebnisabends abgesehen - wo wäre auch nur ein Schein von Staatsgröße, von größerer Lösung? Sind da nicht nur Diskussionen, Streitigkeiten, die immer nur noch kleiner alles mahlen, bis dann der glatteste obsiegt, der kleinste Geist? Diese Parlaments-, besser: Parlamentarierkritik erkennt nicht die List der Vernunft, mit der sich der Parlamentarismus immer wieder gehalten, in der er nicht zum Ausdruck des kleinen Staates, sondern zum Instrument seiner großen Lösungen hat werden können. Der Wahl Vorgang selbst zeigt es bereits: Wohl scheint hier zunächst die hohe Staatlichkeit in die Gasthöfe und Hinterzimmer der Parteien hinabgezogen, in die Primitivismen der brüllenden Wahlversammlung. Doch im Grunde vollzieht sich in all dem eine einzige große Bewegung der Abstraktion, des Hinaufhebens der kleinen Interessen und Fragen auf die höheren Ebenen der Staatlichkeit. Die „allgemeinen Aussagen" im Wahlkampf werden immer wieder kritisiert, keine Partei gibt es, welche hier nicht ständig Besserung verspräche, mehr Nähe zum Bürger und seinen kleinen Interessen. Doch nie wird dieses Gelöbnis gehalten werden, nur stets noch stärker wird der Zwang der Generalisierung von Themen und Thesen im Wahlkampf, welche den Wähler vor große und immer größere Entscheidungen stellen, bis hin zur Schlagworthaftigkeit. Bewusst wird ihm hier, dass es mehr gibt im Staat als sein kommunales Schwimmbad, dass er zwar die wählen darf, welche Größeres zu lösen haben, nicht aber mitzuwirken vermag bei solchen Entscheidungen. Gebündelt, integriert werden die zahllosen privaten Belange zu größeren Problemen und Lösungen, über sie stimmt der Bürger ab, und so wird die demokratische Wahl in ihrem großen Lärm zur - großen Lösung. Am Ende sind nurmehr einzelne Schreie hörbar in diesem Tumult, aber es sind die großen Fragen, auf welche dann die Gewählten und der Staat überhaupt die großen Antworten geben müssen. Fallen sie von diesen ab, wollen sie über diese großen Themenblöcke hinüberregieren, so wird die nächste Wahl ihr parlamentarisches Cannae. Als Träger größerer Fragen, als große Versprecher kommen die Parlamentarier schließlich in ihrer Versammlung zusammen. Sie haben nicht nur Interessenwah-

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rung gelobt, ihre Wähler erwarten von ihnen immer auch und in steigendem Maße, dass sie für ein größeres „il faut que ça change" eintreten. In diesem vielschichtigen Spiel des Hineinpackens eigener kleiner persönlicher Wünsche in große Lösungen - und des Verzichts auf jene, aus all dem heraus wird der Parlamentarier gewählt, und er repräsentiert am Ende eben doch eher das Größere seines Wahlkreises, seiner Partei, das eben, was stärker, breiter konsensfähig war - die Hoffnung auf die große Lösung. Längst schon kommen in den modernen Großparlamenten nicht mehr lokale Forderungsträger zusammen, die nichts Größeres sähen, nur über Kirchtürme debattieren wollten. Die Wahl hat sie, ob sie es wollen oder nicht, zu Integrationsfiguren des Staates der großen Lösungen gemacht. Darin allein findet auch der Typ jener Mehrzweckepolitiker seine Rechtfertigung, als welche sie in ihr „Hohes Haus" einziehen: Die vielen Bereiche werden dann in ihrer Person schon im Wahlkreis zu größeren Einheiten zusammengeschlossen, in der Wahl wird dies bestätigt.

2. Das Plenum der „großen Entscheidung" In der Parlamentsarbeit setzt sich all das fort, was die Wahl geprägt hat - die Integration der vielen kleinen Belange zur großen Entscheidung. Wo dem anders ist, wenn sich ein Bruch vollzieht zwischen Erwartungen und Versprechungen größerer Lösungen und Leistungen in der Wahl und kleiner Gesetzgebungstechnik nach ihr, so geht das verloren, was man den Basiskontakt zu nennen pflegt; nicht ein ständiges Schielen auf eigene kleine Belange will diese Basis, wie es heute oft missverständlich gefordert wird, sondern dass der Parlamentarier seine größeren Lösungen und Versprechungen nicht der tagtäglichen, kleinschleifenden Routine opfere, oder gar seinen eigenen, bald noch kleineren Interessen. Keine politische Richtung hat übrigens nachdrücklicher den Verlust des Basiskontakts stets gerügt als jene, welche dann im Parlament große, oft allzu große Lösungen anbieten wollte. Der Parlamentsalltag scheint nun all dem zu widersprechen. Die großen Lösungen kommen von der Regierung, viele Parlamentarier finden ihre Daseinsberechtigung in ihrer Verkleinerung durch Zusätze aus ihrem lokalen Gesichtskreis. Auch dies bedeutet nicht immer nur Schaden, tritt doch die große Lösung nur auf dem Hintergrund vieler kleinerer Ausnahmen hervor, welche allein sie möglich, konsensfähig machen. In der Unterordnung der bescheideneren Belange unter die große Staatslösung, in diesem Prozess der Integration des Lokalen in das Nationale, vollzieht sich die Genesis der großen, typisch staatlichen Lösung, die nicht nur durch die Macht des Niederwalzens im Einzelnen wirkt, dies vielmehr in ihre Dimensionen einbaut. Ohne es vielleicht zu ahnen, mit Sicherheit ohne es stets zu wollen, arbeiten doch die Volksvertreter in der Gesetzgebungstechnik der Ausschüsse Tag für Tag mit am Werden der großen Staatslösungen, welche dauern können, weil sie debattiert und kompromittiert worden sind. Darin unterscheiden sich diese politischen

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Vertreter von den Gemeinderäten, dass sie eben durchaus nicht alles ebenso kennen, in gleicher Weise vertreten wie ihre Nebenmänner, weil sie aus verschiedenen Räumen kommen. Über sie stellt sich dann nur die wahrhaft größere, die große Staatslösung, dieses Übergreifende allein können sie alle - mittragen in des schönen Wortes wahrer Bedeutung, jeder aus einer anderen lokalen Kraft heraus. Schon im Ausschuss bedeutet Rechtstechnik durchaus nicht Lösungskleinheit, bleibt nur den Entscheidenden dieser geistige Ablauf stets bewusst. Und dass er das immer mehr werde, ist Aufgabe politischer Bewusstseinsbildung in einer entwickelten Demokratie. Das Plenum aber ist letztlich die Stätte der großen staatlichen Gestaltung - geradezu das Sinnbild des Staates als großer Lösung, der Gemeinschaft, die sich nur in ihr eint. Der Sinn der Plenarsitzung wird immer wieder in Frage gestellt, die Fraktionierung in beschließende Ausschüsse gefordert und nicht selten verwirklicht. Gewiss kann auch in solchen Gremien, mit einem parlement en miniature - anstelle des Parlaments als peuple en miniature - die „Volkseinheit zur großen Lösung" noch erscheinen. Immer verstehen sich heute selbst „technische" Parlamentsausschüsse in diesem Sinn; welcher von ihnen hätte nicht laufend „große Lösungen" zu treffen? Unverzichtbar bleibt aber, immer noch, das große Zusammentreten zu den weiträumigen Gestaltungen, die schon darin ihre Dimension finden, dass sie in so weiten Kreisen fallen. Die Abstimmung so vieler in Parteienmechanik ist kein erhebender Vorgang, wohl aber noch immer ein Sinnbild des Zusammenfließens aus zahlreichen politischen Kraftquellen zu einer großen staatlichen Entscheidungswelle. Die Plenarreden ändern nichts, aber sie zeigen eines immer: die großen Konturen des zu Beschließenden. Und wenn dann bei solcher Gelegenheit die Regierungspolitik als solche zur Debatte steht, so wird geradezu sie als große Lösung, wenn nicht sogar der Staat und sein Verständnis, zum Gegenstand der Entscheidung erhoben; und sie wird nicht dadurch kleiner, dass sie einem Parteiprogramm entspricht. Die Volksvertreter und das Volk erfahren in diesen Stunden die Größe ihrer Entscheidungen - mag sie diese auch zuzeiten langweilen, wie so vieles an großen Monumenten, die allzu lange schon bekannt sind. Oft hat man den teueren und rasselnden Apparat beklagt, den sich die Volksherrschaft so vieles kosten lässt an Geld und Achtung. Eines gewinnt sie mit ihm sicher: Er mag allzu vieles produzieren und Falsches, doch immer geschieht es in größeren Dimensionen, in einem voluminösen Verfahren, in unüberhörbarem Getöse. Und all diese größeren Dimensionen rufen sich doch nicht selten - die große staatliche Lösung.

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IV. Föderalismus - Staatsverkleinerung oder Staatserweiterung 1. In Dezentralisation zum Staat en miniature? Die Standardkritik am Föderalismus sieht in dieser Staatsform eine Staatsverkleinerung, das Gegenteil jeder Monumentalstaatlichkeit. Wird hier nicht die Staatsgewalt geschwächt durch eine vertikale Fraktionierung, in welcher nirgends die eine Macht überall mit ganzem Gewicht wirkt? Löst sich hier nicht das Staatsmonument, der rocher de bronze, auf in mühsam gekittete Teile, in welche er vielleicht nicht zerfällt, in denen sich aber gespaltene Staatlichkeit zeigt? Wenn Frankreich in Europa das Vorbild der Monumentalstaatlichkeit stets gewesen ist, hat es nicht um dieser Potenzierung der Staatsstärke willen - nach außen und nach innen - das Opfer, der Verödung im Zentralstaat in Kauf genommen? Der Idee nach kann doch ein Föderalismus nichts Monumentales in sich tragen, wenn das Mahnmal wesentlich nur in seiner Geschlossenheit wirkt, wenn es eben nicht nur zum großen, sondern zum einen Staat mahnt, zu jener Einigkeit, welche die République une et indivisible zum unverrückbaren Standbild erhebt. Föderalismus wird nicht nur kritisiert als Grundsatz, Grundstimmung der Staatsverkleinerung, eine solche scheint sich hier auch in allen Aspekten zu zeigen, gewollt zu sein, wohin man blickt. Der Schwerpunkt staatlicher Gewalt soll, dem Grundsatz nach, bei den Einzelstaaten liegen, jedenfalls in den ursprünglichen deutschen Föderalformen. Sie sind „noch immer Staaten" - doch schon an den Rand der Staatlichkeit gedrängt, oft fast nurmehr leere institutionelle Hülsen einer solchen, aus denen alle Macht nach oben abgewandert ist. Staat ohne Macht - ist dies nicht gerade die Perversion der Staatsmonumentalität, zeigt sich hier nicht, dass es eben Staat ohne Größe rechtlich noch immer geben kann? Gewollt ist dies sogar neuerdings, die liberale Staatsrechtsdogmatik hat den Föderalismus nur deshalb angenommen, weil hier „weniger Staat" gerade an jenen Stellen sich zeigt, an denen das Schwergewicht der lastenden Gewalt im Allgemeinen erscheint - bei den Trägern der Exekutive. Dezentralisierung als Staatsminimierung scheint hier gesteigert zur Staatsminimierung in Föderalisierungen. Was die Staatlichkeit „unten" verliert, gewinnt sie nur zum Teil an der Spitze, in der Macht des Oberstaates. Geteilte Macht lässt sich überhaupt nicht wieder voll summieren, Reibungsverluste zwischen den Gewalten bleiben immer - hier in den vertikalen Konflikten etwa zwischen Bund und Ländern. Sie kosten noch weit mehr Kraft als die Koordinierungsanstrengungen der horizontalen Gewaltenteilung, steht hier doch Staatlichkeit gegen Staatlichkeit, und bei aller Unterschiedlichkeit zwischen föderaler und internationaler Staatenstruktur lässt sich doch im Bundesstaat immer wieder etwas wie ein quasi-völkerrechtlicher Genossenschaftszustand feststellen, in dem die Oberstaatlichkeit zurücktreten muss. Der Bund mit seinen Rahmenzuständigkeiten umgreift zwar die Weiten des Staatlichen - fehlt

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ihm aber nicht die staatliche Größe, die sich doch letztlich in dem mächtigen, unmittelbaren Durchgriff zeigen muss? Der Föderalismus findet seine Legitimation in historischen, ethnischen, kulturellen und anderen Unterschieden zwischen den Einzelstaat-Regionen, welche hier institutionell bewahrt und verfestigt werden. Wenn es aber Aufgabe der Staatlichkeit ist, eine ja doch niemals übersehbare tatsächliche Vielfalt zur Einheit zusammenzuschließen, damit sie in Größe regierbar werde - selbst beherrscht, nicht andere beherrschend - bedeutet dann diese Staatsform nicht die Rezeption natürlicher Kleinheit, keinesfalls die einer natürlichen Größe, wie sie etwa im Rückgriff auf das große, demokratische, das „außerrechtliche" Volk in Erscheinung tritt? Wie könnte solche Konservierung des Kleinen eine Form der Staatsgröße sein? Das beste historische Beispiel für den Föderalismus als Antithese der Monumentalstaatlichkeit scheint doch gerade die Bundesrepublik Deutschland zu bieten. Von den siegreichen Besatzungsmächten wurde ihr Föderalismus - so beklagten es damals viele - verordnet, wenn nicht aufgezwungen, als eine staatsrechtliche Absage an die blockhafte Einheitsstaatlichkeit der Nationalsozialisten, deren Monumentalstaat zerbrochen war. Doch gerade diese verbreitete, historisch und staatsrechtlich vereinfachende, wenn nicht primitivierende Vision zeigt, dass Föderalismus ganz anders gesehen werden muss - eben im Licht einer Monumentalstaatlichkeit, welche die Staatsgröße nicht mit dem Machtstaat gleichsetzt: Der Föderalismus gerade beweist, dass große staatsrechtliche Lösung nicht identisch ist mit einheitlicher Gewalt, Ordnung nicht mit Macht. Aus solchen Missverständnissen lebt seit langem zugleich die Kritik am Föderalismus und an der Staatsgröße.

2. Größe aus Einung Historisch schon wird man gerade dem deutschen Föderalismus nicht gerecht, sieht man ihn, nach den Schablonen des nationalsozialistischen Staatsrechts, nur als einen Abfall von Staatsgröße. Die zentrifugalen Kräfte, welche das Alte Reich auflösten, kamen nicht aus föderalen Schwächungen, sondern aus den Zerfallstendenzen, welche im Feudalismus angelegt waren. Staatsgröße hat sich in Deutschland, ganz im Gegenteil, aufgebaut über jene territorialen Staatseinheiten, welche dann Ausgangspunkt des Aufschwungs wurden zur neuen Staatseinheit. Diese ganze große Bewegung, seit den Befreiungskriegen, zeigt geschichtlich den deutschen Föderalismus als ein Aufbauprinzip zu größerer, zu geradezu monumental-imperialer Staatlichkeit. Die so oft missverstandene Staatsgrundstimmung des Wilhelminismus hat gerade der französischen Staatsmonumentalität des Einheitsstaates eine Organvorstellung von der gegliederten Reichs-Monumentalität entgegensetzen wollen, aus der auch, erst recht, die ganz große Stärke kommen sollte.

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„Einigkeit macht stark" - dies wurde, durchaus auch im Sinne der militärischen Machtstaatlichkeit, buchstäblich als ein föderaler Grundsatz gesehen: Das eine Reich zieht aus der Vielfalt seiner in Staatlichkeit belassenen Teile mehr an Kraft, als es etwa der uniformen Staatsgeometrie des französischen Einheitsstaates möglich wäre. Dahinter steht das politische Glaubensbekenntnis, dass die Integration bestehen bleibender Vielfalt mehr an Mächtigkeit bedeute als die Summierung gleicher Einheiten. Ob nicht auch damit, militärisch wie politisch, das II. Deutsche Reich im Weltkrieg scheitern musste, ist hier nicht zu entscheiden; wesentlich bleibt das föderale Grundverständnis: nicht Einheit, Einigkeit der vielen Staaten macht stark. Staatsgrundsätzlich lässt sich dies auch unschwer begründen. Der Föderalismus blickt ja nicht nach unten, sondern hinauf in die größeren Weiten der zusammenzuschließenden Staatlichkeit. Sein Bild ist der sich immer höher hinauf verzweigende mächtige Baum mit seinen zahlreichen Wurzeln und Ästen - und gäbe es denn nicht auch Naturdenkmäler? Hier wird nicht zuerst danach gefragt, wo denn Macht vorher sei, vor dem Zusammenschluss, wo sie nach ihm bleibe, sondern allein, ob große, immer größere Zusammenschlüsse möglich werden. Und wenn schon Macht im Sinne der Durchsetzungsfähigkeit nach außen geopfert wird - gewinnt sie dieser Staat nicht in seiner Ordnungsmächtigkeit im großen, immer mehr erweiterten Innenraum zurück? Das föderale Missverständnis besteht aber nicht nur darin, dass die Kritiker dieser Staatsform auf das Kleine sehen, ihre Vertreter „hinauf in den Oberstaat". In anderem Sinne noch unterscheidet sich die föderale Vision von der der einheitsstaatlichen Machtgröße - und doch ist auch sie eine monumentale Perspektive: Die Einheitsmacht ist stets primär als Durchsetzungs-Staatlichkeit nach außen gesehen worden, dazu sollte der Staat groß sein, dass er undurchdringlich bleibe für seine äußeren Feinde; dies war stets Frankreichs monumentales Staatsideal, in einem Land des immerwährenden Primates der Außenpolitik, welches sich geistig gegen das Heilige Reich wie gegen andere mächtige Nachbarn zu verteidigen hatte. Aus eben der Selbstverständlichkeit der ererbten römischen Imperialität heraus hat der deutsche Föderalismus anders denken dürfen: Sein geistig-politischer Innenraum schien groß, ja kaum ermesslich, der Blick wandte sich ihm zu, nach innen, wo es Ordnungen zu schaffen galt, deren Größe sich allein schon dort zeigte, sich nicht primär in der Abwehr nach außen und damit in innerer Konzentration bewähren musste. In der Not nur zusammentreten - sonst in Freiheit zusammenleben, diese Devise galt stets auch für jene Eidgenossenschaft, welche die hohen Berge ganz natürlich als wesentlichen staatsrechtlichen Innenraum abgrenzten, in dem nur föderal geeint werden konnte. Föderalismus ist denn auch die Staatsform der Großstaatlichkeit dort geworden, wo geographische Weiten über die Kräfte des Einheitsstaats hinausreichen. Die Vereinigten Staaten hätten als rocher de bronze nach französischem Beispiel nie entstehen können, ebenso wenig wie manche südamerikanische Staatlichkeit, in

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welcher die französische Staatskonzentration versucht wurde und immer wieder scheitern musste. Die Riesengröße kann eben nur in institutionellen Abstufungen überhaupt noch gehalten werden; was heute als wirklich monumental, kontinentausfüllend erscheint, kann nurmehr föderal gedacht werden. Und so wie der Föderalismus die Ausdehnungsstaatlichkeit allein wirklich bewältigt, wird er auch, immer mehr, zur optimalen Organisationsform von Gemeinschaftskräften, welche sich auf kleineren Gebieten vervielfältigen und intensivieren. Frankreich und Italien sind nicht größer geworden im Raum, doch bedeutender in wirtschaftlichtechnischer Mächtigkeit und deren Vielfalt. Sie übersteigen die Integrationskräfte des traditionellen Einheitsstaates, rufen nach Regionalisierung, damit die immer größeren Inhalte in stets noch weitere staatsrechtliche Gefäße aufgenommen werden. Selbst das Riesenreich des Ostens wird in diesem Sinne, in welchen Formen immer, stets noch über seine föderalen Ansätze hinausgehen müssen, aus Gründen der geographischen Extensität wie der wirtschaftlich-technischen Intensität. Der Staat kann und muss heute immer größer werden, vor allem darin, dass er die vielfachen Kräfte seiner Gemeinschaft ordnet und hält, nicht nur in ihrer Abschirmung und Verteidigung nach außen. Wenn dies aber Staatsgröße bedeutet, bis hin zur Monumentalität, jene „innere Größe", von der schon die Rede war, so gilt es auch, Abschied zu nehmen von der massiven Machtstaatlichkeit nach außen, in einer Hinwendung zu jenem Föderalismus, der Größe gerade in der Einung des Vielfältigen sieht. Selbst wenn dann vieles, nach wie vor, klein bleibt in seinen Ländern und Kleinstaaten - er ist doch ihre große Chance zur Staatsgröße.

3. Föderalismus: „Staatlichkeit überall" Föderalismus liegt in der gestuften Staatlichkeit. Nicht nur auf einer Ebene wird in ihren Kategorien gedacht, über welcher nichts wäre als internationale Unverbindlichkeit, unter der sich Verwaltungstechnik allein halten könnte. Dies war ja die Grundkonzeption des Geometrie-Einheitsstaates der französischen revolutionären Republik: Der Staat als die große eiserne Ebene, der seine Emissäre „nach außen" schickt, Außenminister und Botschafter zu fremden Staaten, den Präfekten in die Provinzen des Reiches, beide etwas wie Hochkommissare, Statthalter der Republik. Es ist die Vision einer Staatlichkeit, die in Kategorien der Unterwerfung denkt: Nach innen ist sie vollendet, nach außen wird sie verhindert. Dieser Staat ist jedenfalls stark. Dass er auch groß sei, muss Grandeur-Lyrik den Bürgern täglich verkünden. Dem steht im Föderalismus eine andere Konzeption der Staatsgröße gegenüber, die extensivierte Staatlichkeit auf allen Ebenen, der Kaskaden-Staat. Überall soll hier dem Bürger „etwas vom wesentlich Staatlichen" gezeigt werden, durchaus in einem Bekenntnis zum Staat en miniature, der eben dann für den Einzelnen fassbar wird, wenn er sich nicht hinter die kalten Fassaden von Paris zurückzieht. Diese Konstruktion reicht über das Verhältnis Bund-Länder weit hinaus, sie bezieht, bei

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allem Unterschied zwischen Autonomisierung und Föderalismus, auch alle autonomen Einheiten ein. Der Föderalismus ist die eigentliche Lebensluft der Kommunalisierung, in ihm setzt sich geradezu Staatlichkeit auf noch niederen Stufen fort. Mag dies dann wieder durch zentralisierende Landespolitik gebändigt werden - auch zwischen Kommunen und Bundesstaaten bestehen in einer solchen Ordnung im weiteren Sinne doch staatsrechtliche Beziehungen, hier ist nicht nur reines Verwaltungsrecht, wie man an vielen, gerade bayerischen, Beispielen zeigen könnte. „Nach oben" schließlich öffnet sich dieses föderale Denken, indem es überstaatliche, etwa europäische Einungen in einer Weite grundsätzlich annimmt, wie sie traditioneller Einheitsstaatlichkeit stets schwer fallen wird, die außerhalb von sich keine Staatsgröße kennen darf. Der Föderalismus fühlt sich darin gerade groß, dass er typische Staatlichkeit, mit all ihren Attributen, auf allen Stufen des Öffentlichen verbreitet, bis hinein in Kommunen und Autonomien, vor allem aber in der Homogenität der Einzelstaaten mit dem Bunde. Sein Bekenntnis ist es, dass die Teilung der Staatlichkeit zu deren Potenzierung wird, weil sich im Geiste der Bürger viele Staatlichkeiten spiegeln, mehr von ihnen angenommen, mitgetragen wird als im Einheitsstaat. Diese Intensivierung der Staatsrezeption durch den Bürger, heute ganz einfach als die größere Bürgernähe des Föderalismus gepriesen, verbreitet aber auch das Verständnis für jene Größe, welche gerade und nur dem Staat eigen ist. Sie ist keine „ferne" mehr und, das ist nun entscheidend, diese „Nähe des Staates" lässt alle öffentlichen Entscheidungen größer erscheinen, da sie eben doch letztlich in etwas wie typischer Staatlichkeit fallen. Zwei naheliegende Beispiele nur: Föderalismus fördert auf allen Ebenen eine gewisse „Politisierung der Verwaltung" und ihrer Entscheidungen, oft ist dies beklagt worden. Abgesehen davon, dass es für die Demokratie kein Ärgernis ist, wenn ihre nationalen Grundstrukturen auf solche Weise bis tief in die Basis hinabreichen - in all dem vollzieht sich etwas wie eine „Staatswerdung der Verwaltungsentscheidungen"; sie fallen, obwohl der Verwaltung zugehörig, in staatsrechtlichen Prozessen auf Länderebene, selbst noch zum Teil in den ja weithin in ähnlicher Weise organisierten Kommunen. Dass hier die Politik einbricht über solche Mechanismen, ist eine institutionelle Notwendigkeit, sie bewirkt aber vor allem eines: dass die Entscheidung als eine „staats-große" erscheine, durch ihr Verfahren, die Organe ihres Erlasses schon etwas wie ein großes Staatssiegel trage. Es ist etwas anderes, ob ein Präfekt, ein lokaler Statthalter der Zentralgewalt, gewisse Entscheidungen für ein Gebiet diktiert und proklamiert, oder ob Parlamente en miniature, Landes- und Stadtregierungen im Kleinen, in den vielschichtigen Formen der konstitutionellen demokratischen Willensbildung zu solchen Entscheidungen gelangen. Diesen letzteren Formen gehört, bei all ihrer Komplikation, die staatsrechtliche Zukunft wohl überall in Europa, und darin wird sich Staatlichkeit nicht verkleinern, sondern intensivieren. Selbst größte Anläufe zur blockhaften Monumentalstaatlichkeit wollten stets, dass im Inneren ihrer undurchdringlichen Standbilder überall dieselben Staatsgrundsätze wirksam und fühlbar seien, Leader-

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ship etwa bis hinein in die kleinste Gesellschaft, in die Familie. All dies erreicht der Föderalismus mit seiner „Kaskadenstaatlichkeit", ohne den Zwang des Diktats, aus der Spontaneität der immer kleineren Bürgergemeinschaften heraus. So entsteht etwas wie die Monumentalität intensivierter Staatlichkeit, welche aus Verwaltung Staat werden lässt, Politik nicht von „Technik" trennt. Noch stärker potenziert findet sich diese Politisierung durch stufenförmige „Verstaatlichung aller öffentlichen Bereiche" in der Institution der zweiten föderalen Kammer wieder, nach der bundesstaatlichen Dogmatik ein unverzichtbarer Wesenszug des wahren Föderalismus. Wenn die Kommunal- und Landesverwaltung durch „Staatlichkeit auf ihren Ebenen" politische Entscheidungen treffen kann, welche als typisch staatlich und damit als größer erscheinen, so wird dasselbe, zusammengefasst, wiederholt auf der höheren Stufe der gesamtstaatlichen Willensbildung. Eine wahrhaft große staatskonstruktive Idee liegt darin, „Verwaltung als Staatsgewalt" im Bundesrat zu organisieren, in einer Institution, welche nicht nur Administration koordiniert, sondern an den großen Entscheidungen des Staates beteiligt ist, ihnen über „Verwaltungsstaatlichkeit" eine noch weitere Dimension verleiht. Hier wird die Verwaltung ganz groß in ihrer institutionellen Konzentration bis in den politischen Raum hinein, große Verwaltung als Politik - große Politik als Verwaltung. So vollzieht sich darin die Potenzierung einer, der zentralen Staatsgewalt; diese Staatswerdung der Verwaltung als solcher wird unmittelbar und notwendig zur Bewusstwerdung der „großen Verwaltungsentscheidungen" - nur sie können ja die nationale Dimension einer zweiten Kammer ausfüllen. Typisch staatliche Großlösungen überall - das lässt sich nicht dekretieren, wohl aber, in lokalen Gewaltenteilungen und im Bundesrat, institutionalisieren. Dort läuft seit Jahrzehnten, allseits gebilligt, ja bewundert, in aller Stille ein Integrationsvorgang der kleinen Verwaltungstätigkeit in die Höhe der nationalen Entscheidung ab. Das Gesetz ist an sich groß, Ausdruck der Staatlichkeit als großer Lösung, deshalb ist auch zu Recht stets von seiner Majestät die Rede. Wer je hat schon von Verwaltungsmajestät gesprochen, obwohl doch die früheren Majestäten fast nur über diese Mächtigkeit sich legitimierten? In seiner Kaskadenstaatlichkeit hat der Föderalismus diese Majestät der Verwaltung in seinen Bundesräten neu entfaltet und sie mit der Hoheit der Teilnahme an der Gesetzgebung verbunden. Staatlichkeit als große Lösung leuchtet so durch diese „stille Kammer" hindurch bis in alle lokalen Winkel der Staatlichkeit. Und noch ein Weg zur Bewusstwerdung der Staatsgröße eröffnet sich im Föderalismus: Hier stehen sich, wenn auch auf verschiedenen Stufen, Staatlichkeiten gegenüber, zwischen ihnen werden Staatsverträge geschlossen, Staatsgerichtsbarkeit findet statt, in manchem wird der Oberstaat zum Schiedsrichter über die Gliedstaaten. Alle Entscheidungen, die auf solcher Ebene stattfinden, tragen staatsrechtliche Qualität, führen sogleich zu den höchsten Instanzen der Gerichtsbarkeit. Großlösungen müssen hier immer getroffen werden, weil die Entscheidungen zwischen Staaten ergehen, mögen die Anlässe auch noch so bescheiden sein. Stets läuft hier mehr ab als ein verwaltungsrechtlicher Zuständigkeitsstreit, als Rechtstechnik. Hintergrund ist immer die natürliche Staatlichkeit der Parteien, deren

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Kern zu wahren ist, welcher dem Streit und seiner Lösung etwas von der zurückhaltenden Hoheit internationaler Schiedssprüche im letzten eben doch verleiht. Auch hier macht allein schon die Staatsqualität alle Lösungen groß, um die es gehen kann - sie werden, im wahren Sinne des Wortes, zur „Staatsaffäre". Indem die Staatsqualität der Streitteile beachtet werden muss, belässt jede Entscheidung ihnen etwas wie einen unausgeschöpften Rest, eben die typisch staatliche Globalkompetenz - welch anderen Sinn könnte sie haben als den, dass sie in sich die Virtualität zur großen Lösung trägt? Föderalismus - Staatlichkeit überall, man mag auch schreiben „überall Staatsgröße in einem gegliederten Monument", das, in all seinen Teilen Staat, zu grundsätzlich grenzenloser Größe hinaufwächst - denn wer könnte weitere, höhere Zusammenschlüsse verbieten?

4. Die Schweizer Staatsgröße Niemand wird der deutschen Staatsrechtsdogmatik den Vorwurf machen können, sie habe die Staatlichkeit der Eidgenossen mit jener Kritik bedacht, welche französischer Einheitsstaatlichkeit nahe liegt: dass hier, im Vorbildsland des Föderalismus, eben doch die „große Staatsverkleinerung" sich vollzogen oder bewahrt habe, der Verlust der Staatsgröße in staatsrechtlicher Feinmechanik, in etwas wie einem perfekten kleinen Uhrwerk. Hier ist nicht darüber zu handeln, ob es eine Schweizer Enge gibt, welche die Eidgenossen immer wieder in erstaunlichem Kosmopolitismus überwinden mussten. Es geht um das „Staatsmodell Schweiz" - für die Dogmatik des Föderalismus gibt es ein solches, und es zeigt in keiner Weise das Gegenbild der Staatsmonumentalität, sondern gerade Staatsgröße in Kleinheit. Der Aufbau eines so kleinen Territoriums aus zahlreichen noch weit kleineren Einzelstaaten hat die Schweizer Staatlichkeit nach dem Grundsatz der Relativität geweitet: Wäre hier nur eine einzige Verwaltungseinheit - und wie leicht wäre es heute vorstellbar - eine größere Region in einem großen Einheitsstaat, so würde diese in ihrer Konzentration viel bescheidener wirken. Dadurch, dass sich in ihrem Inneren etwas wie eine Kernteilung zeigt, macht sie das allein staatsrechtlich Entscheidende deutlich: Für das Verhältnis zwischen der Größe der Kantone und der gesamten Eidgenossenschaft ist wesentlich nicht die Dimension der Einheiten, aus welchen jene sich aufbaut. Durch die Schweiz führt der Weg ganz bewusst von Staat zu Staat, jedes Mal ist da ein geistiges Anhalten, eine neue innere Einstellung auf institutionalisierte, herkömmliche Besonderheiten. Und sei es auch nur in dieser staatsrechtlich erzwungenen geistigen Kadenz - das Land erscheint geradezu geographisch darin schon größer. Doch die entscheidende Staatsweitung vollzieht sich in der Intensität der so fraktionierten Kaskadenstaatlichkeit. Wie nirgends sonst ist hier jeder Bürger, jeder 49 Leisner

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Quadratmeter des Territoriums, jede kleinste Äußerung der Staatlichkeit eingebunden in die staatliche, in die Verfassungsebene. Das Volk kann über jede Kleinigkeit abstimmen - damit aber auch das Kleinste beliebig zum Staats-Großen werden lassen. Die Intensivierung des dritten Staatselements, der Staatsgewalt, kompensiert die kleineren Dimensionen von Staatsvolk und Staatsgebiet, und zwar nicht in verwaltungsmäßiger Detailtechnik, sondern stets in der Erreichung der typisch staatsrechtlichen Größendimension. Erben der römischen flächendeckenden Riesenstaatlichkeit können hier lernen, auch wieder in den Polis-Kategorien des griechischen Gemeinwesens zu denken, seien sie nun demokratisch oder oligarchisch regiert gewesen, denn die Eidgenossenschaft hat beides bewahrt. Die Natur hat diesem Land die Weite durch die Höhe ersetzt, und dies war sicher ein natürlicher Ausgangspunkt seiner Institutionen. In ihrer vertikalen Dimension haben sie gebracht, was anderen die Weite des beherrschten Raums, die vielen Millionen ihrer Völker gewährten: die rechtliche Dimension der Staatsgröße, ist doch die Fiktionskraft des Staatsrechts hier groß genug, die kleinste Entscheidung zur Staatsaffäre hinauf zu heben. Die Schweiz bietet ein großartiges Beispiel dafür, wie der Menschen Geist im Staatsrecht seine Dimensionen sich schafft, ohne Rücksicht auf die Größe der Natur sie dennoch groß werden lässt. Und auch dies lehrt die Eidgenossenschaft: Keine Gemeinschaft ist so klein, dass sie nicht der Staatlichkeit fähig, ja geradezu mächtig wäre. Es bedarf nicht der internationalen Gewalt offensiver oder defensiver Riesenarmeen, deren Kern übrigens nur zu oft die Schweizer Garden auch noch gebildet haben. Entscheidend ist und bleibt der kleine Kern, imperiale Ordnung kann beliebig Großes und beliebig Kleines ordnen, immer in der Majestät eines Reiches. Den Großstaaten aber bleibt die Schweizer staatsrechtliche Mikroskopie noch zu entdecken. Die Schweiz bedarf keiner pathetischen Staatsmonumentalität, und doch ist sie im tiefsten Sinne des Wortes - Monumentalstaatlichkeit. In der Unverbrüchlichkeit ihrer Einung liegt dies beschlossen, in der unverändert stets lebendigen Volkssouveränität, in der extrem verfeinerten Rechtstechnik, welche all diese Politisierung aufnimmt und in die Formen des Rechts gießt. In diesem Sinne fühlt sich kaum eine, andere Staatlichkeit dem semper idem vergleichbar verpflichtet, worin Unverstand nur Konservatives sehen mag. Von welchem anderen Staat aber hätte gerade das deutsche Staatsrecht und seine Theorie mehr gelernt als von der kleinen Alpenrepublik, ist sie nicht ein Mahnmal der Staatlichkeit, in ihrer Verbindung von perfektem Staat und großer Freiheit ein wahres Staatsmonument?

V. Verwalten als große Lösung Diese Überschrift hätte vor einem Jahrhundert noch eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen, heute mag sie als Ärgernis erscheinen: Geht es doch dem Rechtsstaat, wie groß immer er in anderen Bereichen sein mag, gerade hier um Staatsver-

E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen"

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kleinerung, um weniger lastende Staatsgewalt. Haben nicht eineinhalb Jahrhunderte staatsrechtlicher Liberalismus in Deutschland endgültig die Bücher geschlossen über die Verwaltung der „großen Schläge", der mächtigen polizeilichen Lösungen, die bis zur unseligen „Endlösung" pervertiert erscheinen? Die heutige Verwaltung, in Deutschland zumal, leidet insgesamt unter dem Komplex ihrer großen, mächtigen Vergangenheit. Fast scheint es, als wolle sie sich verstecken hinter Gesetzen und Organisationsdickicht, in den Mauern ihrer unübersehbaren Bürokratien, etwas von Arkangewalt sich bewahren in schwer verständlichen Formulierungen, undurchsichtigen Absprachen und Verflechtungen, ja Verfilzungen. Der Transparenzforderung sucht man nur zu oft dadurch zu entgehen, dass man die eigenen Strukturen klein, immer kleiner schneidet, die Entscheidungen als solche des isolierten Einzelfalles ausgibt - oder sie umgekehrt hinter der größeren ja nicht zu brechenden Gleichheit verschwinden lässt. Die Verwaltung auf der Flucht aus ihrer Größe - so könnte man einen Weg beschreiben, der nur zu oft in unkontrollierte Krypto-Größen führt. Doch nicht solche Perversionen, Abwehreffekte gegen übersteigerte Rechtsstaatlichkeit sollen hier betrachtet werden. Der These von in ihrer Rechtstechnik kleiner, im Korsett der Gesetze immer noch enger geschnürter Verwaltungsstaatlichkeit soll die Antithese gegenübergestellt werden: Verwalten als große Lösung der Staatlichkeit. Plausibel ist sie schon aus der alten Erkenntnis heraus, dass Verwaltung Gestaltung bedeutet, sich nicht in punktueller Streiterledigung verlieren darf. In diesem Wesensunterschied zwischen Administrative und Judikative ist bereits die stets „überschießende" Lösungskraft der Verwaltungstätigkeit, ihr Zug zur weiteren, wenn auch flexiblen und oft nicht endgültigen Ordnung angesprochen; obwohl auch hier nur zu oft das erste, ordnende Wort der Verwaltung das letzte bleibt. Konsens besteht wohl auch, gerade gegenwärtig, über die Notwendigkeit immer weiterer Verwaltungslösungen im Allgemeinen, größerer Verwaltungseinheiten, die sie ermöglichen, entsprechend den Notwendigkeiten einer stets und ganz wesentlich innere und äußere Grenzen überschreitenden Wirtschaft und Technik. Doch dies letztere mag nun nicht als Ausdruck „typisch staatlicher Größe" erscheinen; zeigt sich hier nicht die Verwaltung im Schlepptau der Wirtschaft, der niemand Größe bestreitet, ohne diese doch anders definieren zu können als in Produktions- und Beschäftigtenzahlen? Wieder erreichen hier diese Betrachtungen die typisch liberale Problemstellung, ob es denn Staatsgröße an sich geben dürfe, ob sie nicht nur soweit legitim gefordert sei, wie außerstaatliche Entwicklungen sie verlangen oder gar erzwingen. Die Verwaltung mag, aus dieser Sicht, das Flaggschiff im Konvoi der Gesellschaft sein - fährt es nicht in seiner gepanzerten Schwerfälligkeit am langsamsten, alle anderen nicht orientierend, sondern retardierend? Diese heute gängigen Modelle, welche in Privatisierungen, in Staats-Aktiengesellschaften weitergedacht werden, mögen in bestimmten Entwicklungsstufen ihre Berechtigung haben - in Grenzen. Nie dürfen sie die Sicht verstellen auf die im Letzten stets bleibenden Aufgaben, auf die Verantwortung des Staates, die sich in 49*

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einer besonders ihm eigenen Größendimension bewähren muss. So sind denn die Blicke zu lenken auf die typisch staatlichen Formen der Größe auch in der Verwaltung; die Dogmatik ihres Rechts zeigt, gerade heute, Ansätze genug zur Erkenntnis des typisch Staats-Großen des Verwaltens.

1. Die Großaufgaben der öffentlichen Verwaltung a) Öffentliches

Interesse - Zwang zur großen Entscheidung

Alle staatliche Verwaltung, im weitesten Sinne, ist stets und ganz wesentlich aufgerufen zur Erfüllung großer Aufgaben in großen Lösungen, nach den Grundsätzen des Allgemeinen Verwaltungsrechts wie nach den Regeln des Besonderen. Die Globalaufgabe der staatlichen Verwaltung, in all ihren Organisationsformen, ist stets die Verwirklichung und Durchsetzung des öffentlichen Interesses. Um diesen Begriff des „Öffentlichen" bemüht sich die allgemeine Dogmatik seit langem mit geringem Erfolg, und so wird es bleiben. Denn der Bezug auf die Allgemeinheit kann hier nicht ein hinreichend präzises Abgrenzungskriterium abgeben; was könnte ihr nicht zugerechnet werden? In einem allenfalls lässt sich eine Annäherung gewinnen: in der Dimension der Lösungen, welche dieses allgemeine Interesse erfordert. Viele verwaltungsrechtliche Beispiele, vom öffentlichen Verkehr bis zum Umweltschutz, von Sicherheit und Ordnung bis hin zur Staats- und Landesverteidigung, weisen immer wieder auf die Größe der Lösungen hin, welche dann ins öffentliche Interesse hineinwächst. In vielen Fällen ist dies einfach schon quantitativ erfassbar: Die große Zahl der Verkehrsteilnehmer, der Erholungsuchenden, von möglicherweise durch nächtlichen Lärm Gestörten schafft als solche das öffentliche Interesse an Förderung und Gefahrenabwehr. Gleichgültig ist, wie groß die Zahl der Betroffenen im Einzelnen ist, weithin bleibt sie geschützt oder nicht einmal das - virtuell: Im öffentlichen Interesse liegt bereits, was viele auch nur berühren könnte. Auf Quantität, den ersten, eigentlichen Maßstab der Größe, lässt sich, bei näherem Zusehen, hier meist auch die „qualitative Großlösung" zurückführen. Wenn eine kulturelle öffentliche Veranstaltung auch nur wenige erreicht, so erwächst doch ihr öffentliches Interesse nicht aus der Zahl der unmittelbar Angesprochenen, sondern derjenigen, welche von diesen, der geistigen Elite, wiederum erreicht werden, aus der sich verbreiternden Lawinenwirkung des staatlichen Einsatzes. Abgesehen davon, dass in der Massendemokratie die qualitative Größendefinition immer weniger fassbar wird, weil die Gleichheit der Bürger eben die Quantifizierung erzwingt - öffentliches Interesse und quantitative Groß-Lösung waren im Grunde stets eine Gleichung. Sie wird auch nicht durch den über das Polizeirecht hinauswirkenden Grundsatz in Frage gestellt, dass schwere Gefahren für einzelne ebenfalls im öffentlichen Interesse zu verhindern sind: Einerseits steht hinter den jeweils aktuell Betroffenen eben immer die virtuell unendlich große Zahl mögli-

E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen"

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eher anderer, gleicher verletzter Bürger, zum anderen verbietet quantifizierendes Denken eben auch ein allzu großes Quantum an Freiheitsverlust beim einzelnen Bürger. „Groß" ist ein Problem auch dann schon, wenn es einzelne besonders schwerwiegend betrifft. So wird denn das öffentliche Interesse, quantifiziert, als „Interesse an der großen Lösung" erfassbar, sowohl mit Blick auf die Zahl der Betroffenen als auch als Quantum der ihnen entzogenen oder in ihrem Falle gefährdeten Rechtspositionen. Die Staatsgewalt muss in beiden Fällen die große Lösung zum Schutz des öffentlichen Interesses einsetzen. Darin aber läuft etwas von einem Staatstheater ab, wie es der Einsatz der Staatsgewalt immer mit sich bringt: Groß ist es in der Zahl der Zuschauer - oder in den schicksalhaften Vorgängen, die auf der Bühne wenige betreffen, aber von vielen geschaut werden. Weil also Verwaltung stets im öffentlichen Interesse erfolgen muss, wird sie auch immer von ihm in solche große Lösungen gezwungen, und von der Rechtsstaatlichkeit: Sie verlangt die Abwägung privater Interessen gegenüber jenen öffentlichen Belangen, die nicht an sich durchschlagen, sondern nur dann, wenn sie eben - eine überragende Größenordnung erreichen. Die gesamte, oft von den Gerichten beschworene, niemals von ihnen näher präzisierte Abwägungsmechanik öffentlicher und privater Interessen findet in der Praxis fast immer mit Blick auf die Größe der Verwaltungslösungen statt. Betreffen sie „viele" oder doch Einzelne sehr tief in ihren Rechtspositionen, so haben die der anderen zu weichen, es findet etwas statt wie eine „quantitative Interessenmajorisierung der Wenigen durch die Zahlreicheren". Dies aber steht doch der Demokratie wohl an, und es war im Grunde schon eine verwaltungsrechtliche Vor-Form derselben in monarchisch- autoritärer Administration. Darin aber liegt nun, und dies ist entscheidend, ein ständiger Zwang, den das öffentliche Interesse auf die Verwaltung ausübt, hin zur „großen Lösung": Nur wenn die Entscheidungen so gestaltet sind, dass sie bestimmte, im Grunde doch meist quantitative, Dimensionen erreichen, kann sich die Behörde vor den kritischen Augen des abwägenden Richters gegenüber den isolierten Einzelbelangen durchsetzen, alles andere ist Verwaltungsromantik oder Abwägungs-Irrationalismus. Sie soll ja auch nicht den Einzelnen schlagen um eines anderen einzelnen Bürgers willen, sondern im Namen der Interessen der größeren Zahl. Und so wird sie denn ihr ganzes Handeln in diese größeren Dimensionen stellen, damit sie die Interessen der Wenigen in Verwaltungsentscheidung majorisiere. Über Pauschalierungen und Schablonierungen mag man diskutieren und klagen; im Grunde ist diese ganze Verwaltungs-Typisierung nur eine unbewusst-notwendige Handlungsform, in der das öffentliche Interesse, der Staat, letztlich gegenüber dem Bürger zum Überwiegen gebracht wird. So ist es wiederum eine List der Vernunft der Rechtsstaatlichkeit gewesen, dass sie im Namen ihrer Abwägungen die Staatsentscheidungen nicht hat kleiner werden lassen, sondern größer, immer groß.

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Buch 3: Der Monumentalstaat

b) Die „große" Sicherheit und Ordnung Dieses öffentliche Interesse konkretisiert sich, in etwas wie einer ersten Annäherung, im Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, und irgendwie wird alle Verwaltung stets „Polizey" bleiben. Dass sie im Rahmen weiter Generalklauseln handeln muss, hat keine Rechtsstaatlichkeit je ändern können, seit preußischen Tagen. Das Unvorhersehbare der Bedrohung verlangt hier den Tribut der weiten Kompetenz - der Zuständigkeit und der Befugnisse zur größeren Lösung. Der Polizeieinsatz ist immer eine staatliche Großaktion, nicht nur in seinen bedrohlichen Mitteln. Hinter jeder kleinen Anordnung steht hier die ganze Majestät der Instanzen, welche im Namen des Staates das „Erforderliche anordnen". Die großen, weiten Kompetenzen rufen denn auch die große Lösung, die Rechtsstaatlichkeit muss immer darüber wachen, dass sie - nicht allzu groß gerate. Das polizeiliche Eingreifen ist wesentlich weder an territoriale noch an personale Grenzen gebunden, noch an solche des maximal einzusetzenden Eingriffes. Im Begriff der Großfahndung läuft all dies sichtbar zusammen, aus dem „kleinen Kriminalfall" wird der Versuch der großen Polizeilösung. Sicherheit und Ordnung verlangen die Größe der Verwaltungsanstrengung nicht nur aus ihrer un vorhersehbaren Dimension heraus; hier weitet sich die Verwaltungsaktion von vorneherein in der Zeit, in den Adressaten und den eingesetzten Mitteln schon aus, im Namen der Prävention, der Vorsorge. Das Wesen der Polizei liegt in ihr, nicht so sehr in der Abwehr der aufgetretenen Gefahr, sondern in einem weiten, größeren Vorbauen, das ganz selbstverständlich um den kleinen Fall die große Vorsicht legt. Feuerwehr-Polizei ist der Anfang vom Ende der Staatlichkeit, weil sie ja stets versuchen muss, großen Schaden durch kleine gezielte Einsätze abzuwehren. Wahre Polizei aber ist, in welchem Verwaltungszweig auch immer, virtuell überall und, vor allem, immer rechtzeitig, vor der Zeit selbst zur Stelle. In ihrer Vorsorge muss sie ganze Lebensbereiche in der Gemeinschaft geradezu überbauen, mit einem Sicherheitssystem alles überziehen, welches in seinen Teilen und insgesamt eine große, typisch staatliche Lösung bedeutet. Schließlich fordert alle Polizei, alle Verwaltung als eine solche, die letztlich unbedingt durchgreifende Lösung, der sich niemand entziehen kann. Sie muss daher die Mittel zum großen Einsatz stets bereithalten, zu erkennen geben, dass hinter jeder Äußerung ihrer Macht die ganze, unabsehbare staatliche Großmaschine steht. Das polizeiliche Gewaltmonopol des Staates ist schon als solches eine ganz große Lösung in der Gemeinschaft, sie wird ständig vollzogen, in weiteren aktuellen und virtuellen Großlösungen, durch den Einsatz einer Macht, der das letzte Wort bleiben muss, das Schlachtfeld. Etwas von der alten Majestät der Waffen und der Gewalt liegt also über allem Verwalten, die Staatsmacht bleibt nur dann klein und in Grenzen, wenn ihr der freiwillige Gehorsam des Bürgers größere Dimensionen belässt, den großen Außenraum der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, in dem große Lösungen wenn nicht stattfinden, so doch immer möglich sind.

E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen"

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c) Planung Planung ist vielleicht die deutlichste Erscheinungsform eines Verwaltens als großer Lösung. Hier erreicht die rechtsstaatliche Administration die Grenzen jener Gesetzgebung, welche ganz wesentlich Großentscheidung bedeutet. Die vielfachen Kompetenzübergänge zwischen den beiden Gewalten in diesem Bereich ändern aber nichts an der wesentlichen Verwaltungsaufgabe einer Planung, die stets etwas wie eine erste Vollzugsstufe darstellt. Hier ist auch die Initiativgewalt der Exekutive, wenn schon der Gesetzgeber gefordert ist, faktisch noch weit stärker als bei jeder anderen Gesetzgebung, ist sie allein es doch, welche Rahmenentscheidungen vorzuschlagen hat, die sie dann selbst nicht nur ausfüllen, sondern geradezu erst aktualisieren muss. „Kleine Planung" ist ein Widerspruch in sich, „klein" bedeutet hier „zu klein" und wird notwendig zur vernichtenden Kritik am ganzen Werk. Alle Größendimensionen treten darin in Erscheinung, geplant wird für größere Räume, längere Zeit, im Einsatz bedeutenderer Mittel. Die notwendige Flexibilität dieses Vorgehens nimmt seinen Lösungen nicht die Größe, öffnet sie vielmehr erst recht zum noch Größeren; die Planung verdient ihren Namen, wenn sich ihr Folgeplanungen anschließen können, die Großlösung wird so immer größer. Die „Einzelplanung" aber steht stets in der rechtsstaatlichen Gefahr, nichts zu sein als eine Verschleierung des harten Individualzugriffs - und diesen in das unkontrollierte Ermessen der ausführenden Behörde zu stellen. Und selbstverständlich hat also gerade jene Staatlichkeit, welche sich monumental wollte, vom Nationalsozialismus bis in kommunistische Formen, stets zuallererst aus der Planungsidee gelebt, weil sich eben Größe nicht planlos verwirklichen lässt. Moderne Wirtschaftsentwicklungen haben solche Blockhaftigkeit zum Scheitern verdammt und sie warnen damit vor einem Fehlverständnis der Monumentalstaatlichkeit als eines unbeweglichen Allwissens. Größe in Bewegung ist also gerade hier von der planenden Verwaltung gefordert, und dies bringt eben doch auch große mobile Lösungen; es muss ihnen etwas von der monumentalen Staatsgewalt immer noch bleiben bei aller Flexibilität, Planung darf nie in kleine plébiscites de tous les jours aufgelöst werden. Diese Aufgabe der beweglichen Großlösung hat die Staatsplanung der hochentwickelten Demokratie tagtäglich zu leisten, mit Leben zu erfüllen. Darin zeigt sich auch ihr Wesensunterschied zur Planung der privaten Wirtschaft: Sie muss stets auf die großen, bleibenden Grundlagen des Gemeinschaftslebens bezogen sein, die totale Flexibilisierung der Profitorientierung ist ihr fremd. In ihr tritt das hervor, was „vom Staat eben bleiben muss", im Letzten sogar monumental drohen, sie ist in diesem Sinn Großlösungs-Perspektive für andere große, feste Entscheidungen. Vorgaben nennt dies die rechtsstaatliche Dogmatik, in Sozial-, Beschäftigungs-, Verteidigungspolitik und anderem mehr, was Private nicht vergleichbar zu beachten brauchen. So schafft die Verwaltung in ihrer Planung Großlösungs-Räume für

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weitere staatliche Großlösungen. Deutlich tritt hier das Wesen der Staatsgröße hervor: das Entstehen eines Raumes, in dem sich dann große Entscheidungen abspielen können. Planung ist also Verwaltung in Größe par excellence, hier wird der größere Raum für künftige Großlösungen abgesteckt, sie ist selbst eine große Lösung, Staatlichkeit in fieri. Aus monumentaler Höhe blickt die Verwaltung hier in die Weiten wie der Gesetzgeber, sie mahnt sich selbst und den Bürger zu künftigen bedeutenden Aktionen.

2. Grundsätze des Verwaltungshandelns - zu großen Lösungen Der Rechtsstaat ist angetreten nicht im Namen großer Gestaltungen, sondern der Beschränkung der Verwaltungsmacht. Die Grundsätze des Verwaltungshandelns werden denn auch allgemein verstanden als Begrenzungen, welche sich flexibel den vielförmigen Verwaltungstätigkeiten anpassen, diese immer in Schranken halten. In diesem Sinn erscheinen sie als Verkleinerungs-, nicht als Weitungsformen der Staatlichkeit im Sinne der großen Lösung. Als Korsett werden sie nicht selten verstanden, in welches die Gerichtsbarkeit eine Administration immer enger einschnüren kann, die Größeres planen und verwirklichen möchte. Und doch zeigt sich, bei näherem Zusehen, überall Ambivalenz: Die begrenzenden Handlungsprinzipien erweitern zugleich den Verwaltungsraum, die Freiheit der Administration zur großen Lösung lässt sich nicht austreiben: - Bestimmtheit ist wenig behandelt in Lehrbüchern, selten diskutiert vor Gericht. Auch sie soll wohl zuallererst begrenzen in Präzision, der Verwaltung nicht die Freiheit des Unklaren lassen. Doch zugleich zwingt sie dieser Grundsatz zur Entscheidung, zur Lösung. Dass diese als eine große nur unbestimmt vorstellbar wäre, steht nirgends geschrieben. Der Bestimmtheitsgrundsatz ist eine dezisionistische Kategorie. Seine Beachtung bedeutet den Anfang der großen Lösung. - Geeignet muss das Vorgehen der Verwaltung zur Zweckerreichung sein, auch hier wieder sollen Grenzen gezogen, nicht-zweckgerichtete Mittel von vorneherein verboten werden. Doch in keiner Weise ausgeschlossen oder auch nur begrenzt ist damit die große Lösung, die weitere Dimension der Gestaltung. Eher wird ein Zwang ausgeübt zur Reflexion, zum Nachdenken über die Ziele, das Verfahren zu ihrer Erreichung, eben die „geeigneten Mittel". Geeignetheit ist ein Prinzip der Rationalisierung des Verwaltungshandelns, nicht von dessen Reduktion. In ihrem Namen können sehr wohl weitere, größere Eingriffe noch erforderlich erscheinen als ursprünglich geplant. Dass „nur" die geeigneten Instrumente verwendet werden dürfen, ist eine Seite, die immer betont wird; es gibt auch die andere: Sie sind alle einzusetzen, wenn es eine Lösung verlangt, die eben auch groß sein darf und dann alle geeigneten Mittel auf sich zieht.

E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen"

- Notwendigkeit, verstanden im Sinne des geringsten erforderlichen Eingriffs, ist besonders deutlich auf Beschränkung des Verwaltungshandelns gerichtet. Bezeichnenderweise wird dieser Grundsatz immer wieder mit dem der Verhältnismäßigkeit verbunden, häufiger noch verwechselt: In ihm liegt bereits die Vorstellung, dem Bürger dürfe doch „nicht allzu weh getan werden" - dies allerdings bedeutet dann in vielen Fällen die Anwendung eines Prinzips „im Zweifel die kleinere Lösung". So aber ist die „reine Notwendigkeitskategorie" nicht zu verstehen; sie erlaubt alle Mittel, ohne die das Ziel nicht erreichbar wäre. Wird dieses als ein großes gesetzt, so muss die Verwaltung zwar aus den in ihrer administrativen Phantasie, im Namen der Geeignetheit, entwickelten instrumentalen Vorstellungen die „notwendigen" Instrumente auswählen. Doch je größer die Lösung, desto bedeutender auch der Mitteleinsatz. Und wieder zeigt sich die schon bei der Geeignetheit festzustellende Ambivalenz: Nicht „nur" alle notwendigen Mittel dürfen eingesetzt werden, es müssen auch alle erforderlichen zum Einsatz kommen. Zu oft wird eben verkannt, dass Geeignetheit und Notwendigkeit die Mittel ansprechen, nicht das Ziel; und dieses darf nicht schon in einer Ängstlichkeit reduziert werden, welche besorgt, es könnten dann die Eingriffsmittel vom Rechtsstaat nicht bewilligt werden. Dieses Staatsformprinzip verlangt, ganz im Gegenteil, eher die größere Zielprojektion, damit die Verwaltung nicht in Mittellosigkeit ersticke. Über die Großlösung befreit sie sich von ihren instrumentalen Schranken. - Verhältnismäßigkeit erscheint doch nun aber, bei oberflächlicher Betrachtung, als ein deutliches Hindernis auf dem Weg zu jeder großen Lösung, damit aber als Grundsatz reduzierter Staatlichkeit: Wo sollte diese angesiedelt werden, wenn nirgends einem Bürger allzu nahe getreten, in seine Rechtspositionen übermäßig nie eingegriffen werden darf? Wirken hier nicht schon die beschränkten Mittel als Begrenzung jedes Planungsschwunges im Vorfeld? Doch wiederum ist Verhältnismäßigkeit ambivalent. In ihr wirkt in der Tat die „große Lösung" nur in einer gebrochenen Form als Legitimation des Verwaltungshandelns, lediglich in den Teilen bleibt ihr Begründungskraft, kann sie letztlich realisiert werden, in welchen sie nicht von privaten Interessen wieder aufgehoben wird. Dies gerade aber - es zeigte sich schon - verhindert nicht die große Lösung, es zwingt die Verwaltung zu ihr, zum immer größerflächigeren Handeln, wie es auch täglich geschieht. Nur mit ihm kann sie sich ja überhaupt durchsetzen, in ganz großer Planung allein lässt sich dann das Große verwirklichen, vor welchem die privaten Belange zurücktreten müssen. In die staatliche Waagschale der Verhältnismäßigkeit müssen schwerere Gewichte geworfen werden, damit sie sich zu Gunsten der Allgemeinheit senke. So sind denn all diese Grundsätze des Verwaltungshandelns letztlich nur Chancen: zur „kleinen" - bis zur Kleinlichkeit - ebenso wie zur „großen Lösung", in welcher das Ziel die Mittel bewilligt. Beides erfährt und erleidet die Verwaltung an jedem Tag. Wenn sie nicht unter dem Mahnmal der großen Staatlichkeit steht, wird

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sie nur die kleinen Wege gehen; und dass dies zuzeiten geschehe, ist ja durchaus auch Ausdruck einer großen staatlichen Lösung - der Freiheit. Die rechtsstaatlichen Grundsätze des Verwaltungshandelns sind als solche, dogmatisch betrachtet, weder Entscheidungen für noch gegen die „große Lösung", ihr zentrales Anliegen ist ein anderes: Die Willkür, das durch nichts begrenzte Belieben der Exekutive, soll es nicht geben, immer hat sie zu reflektieren, zu kalkulieren. Dies sind nicht Prinzipien der Reduktion der Staatlichkeit, sondern ihrer Rationalisierung. Damit aber stehen sie doch näher bei der großen Staatlichkeit als bei deren verkleinernder Perversion; denn dass Willkür gerade Größe bedeute, ist seit den Tagen der Großkönige aus der Staatlichkeit verschwunden. Große Lösungen sind heute nurmehr in Rationalität vorstellbar. Dann aber ist der Zwang zu ihr auch ein Weg zur großen staatlichen Lösung in der Verwaltung.

3. „Große Verwaltungsorganisation" Instrument und Bild des Monumentalstaates Große Organisationen zu großen Lösungen, als ihre vorgedachte Form, ja ihre Vorwegnahme - so zeigt sich die Verwaltung heute immer mehr als ein Bild der Monumentalstaatlichkeit, und sie bringt diese mächtigen Instrumente der Großorganisation für die typisch staatlichen Lösungen zum Einsatz, extensiv und intensiv: Denn die Größenkategorie tritt nicht nur in der Zahl der eingesetzten Beamten und Büromaschinen hervor, sie bewährt sich auch in einer Konzentration des Entscheidungsablaufes, der größere Lösungen mit kleineren Mitteln ermöglicht. Zu all dem bietet die heutige Verwaltungswirklichkeit vielfache Beispiele - nur einige im Folgenden: Einheitlich und eindeutig zeigen alle verwaltungswissenschaftlichen Analysen zwar ein Bemühen um Differenzierung und Flexibilisierung der Verwaltungsorganisation, zu ihrer Anpassung an schwer vorhersehbare Entwicklungen, im Sinne einer Bürgernähe, in welcher sich die Grundsätze von Föderalismus und Autonomie in die Administration hinein fortsetzen. Zugleich aber, in einer gewissen und durchaus notwendigen Gegenläufigkeit, ist hier ein Zug zur größeren Verwaltungseinheit, zur Erweiterung der Organisationsgebilde feststellbar. Die Kommunal- und Landkreisreformen der vergangenen Jahrzehnte haben überall größere Verwaltungsräume geschaffen. In der Zweckverbandlichkeit haben sie sich, sogar diese Grenzen noch überschreitend, auf bestimmte Gegenstände bezogen, noch stärker geweitet. In Kommunalverbandlichkeit werden die Verwaltungsinteressen gebündelt und koordiniert. Wichtige Befugnisse sind bereits landes- oder gar bundesübergreifend in zentralen Ämtern zusammengefasst. Auf diesen und vielen anderen Wegen bewegt sich die Verwaltung in immer bedeutenderen organisatorischen Räumen, damit aber werden ihre Schritte notwendig größer, die Lösungen weiter flächendeckend. Das technische Verbundsystem der unbeschränkten Möglichkeiten wird dies, trotz allem Datenschutz und über ihn hinweg, vollenden: Die

E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen"

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kleinste Lösung wird dann auf vieles oder alles durchschlagen, worin der Bürger administriert wird, damit ist sie für ihn und für viele Gleiche eine wahre Großlösung. Die staatlichen Großorganisationen wecken Angstvorstellungen beim Bürger, und längst nicht nur mehr wegen ihrer Kosten. Dahinter steht die Sorge, dass die Großorganisation eines Tages auch nur mehr groß wird schlagen - können, aus ihren organisatorischen Zusammenhängen heraus, und weil eben ihre kleinste Lösung sogleich in Kettenreaktion für die Betroffenen zu einer großen sich steigert, die allseitig auf sie zugreift. Diese Bürokratien werden sich dann, so wird überall befürchtet, so große organisatorische Räume schaffen, dass sich der Bürger mit seinen Rechten in ihnen geradezu verliert - auch dies wieder eine große, mehr Auflösung als Lösung in Staatlichkeit. Dass hier die staatliche Verwaltung nur im Schlepptau privater Entwicklungen segelt, wird kaum behaupten wollen, wer die politischen Dezisionsschübe erkennt, in denen dieser Zug zur organisatorischen Größe sich ständig weiter vollzieht, gerade in Balance zu Föderalismus und Autonomie. Hier sind Mechanismen am Werke, deren Grundprinzipien die private Wirtschaft nicht kennt. Entscheidungskonzentration war von Alters her ein Mittel der Zusammenfassung von einzelnen Verwaltungsdezisionen zu größerer Verwaltungspolitik, in ihnen wurde die zerfasernde Administration immer wieder gebündelt. Das klassische Beispiel ist die administrative Einheit auf jener Mittelstufe der Regierungen, auf welcher „Verwaltung in großer Form" betrieben wird, in der Kontrolle der nachgeordneten Administrationen wie in eigengewichtiger Gestaltung, und, vor allem, unter einer einheitlichen Direktive, der Idee nach wenigstens. Der Regierungspräsident sollte, wie der französische Präfekt, nicht nur die Einheit der Staatlichkeit repräsentieren, sondern die größeren staatlichen Lösungen in der Verwaltung garantieren. Unter einem Dach sollten sie entschieden werden, kombiniert zwar, aber doch konzentriert. Hier liegt eine Integrationsbemühung, welche ihren Sinn nur darin finden kann, dass letztlich größere Lösungen, oder doch größere Räume, einer einheitlichen, eben typisch staatlichen, Verwaltungspolitik erschlossen werden. Die zunehmende Regionalisierung erweitert ja bereits ständig die Verwaltungsräume, bald auch mit europarechtlicher Kraft. Neuere Kompetenzgestaltungen haben Elemente davon aufgenommen und, materienweise, generalisiert. Immer häufiger findet sich Prüfungskonzentration bei einzelnen Instanzen, Baurecht und Bergrecht, vor allem aber der Immissionsschutz, zeigen es deutlich. Dies alles geschieht nicht nur im Namen der Verwaltungsvereinfachung, sondern der Ermöglichung der „großen Lösungen", welche gerade in solchen Bereichen gefordert sind, anders gar nicht erreicht werden, als dass eine Instanz voll und ganz federführend ist und bleibt. Die Verwaltung konzentriert sich organisatorisch auf ihre großen Lösungen. Die „Einheit der Verwaltung" erscheint gebrochen in unzähligen Organisationsformen im Einzelnen, in der kaum übersehbaren Vielfalt der Aufgaben und Befug-

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nisse. Und doch ist sie nie ganz aufgegeben, in letzter Zeit eher noch befestigt worden auf der Ebene der Bediensteten, in statusrechtlicher Vereinheitlichung. Die Verlagerung der zentralen, beamtenrechtlichen Kompetenzen auf den Oberstaat, der Tarifabschlüsse ins Beamtenrecht, vielfache Vereinheitlichungstendenzen mit dem Arbeitsrecht - all dies lässt den einen „öffentlichen Dienst" immer bewusster werden, für Bedienstete und Bürger. So entsteht das Bild einer eben doch im letzten einheitlichen Riesenorganisation, zwischen deren Angehörigen sich Solidaritäten entwickeln. Gemeinsamkeiten der Mentalität und der Arbeitsweise mögen nicht ins Auge stechen, bei näherer Betrachtung sind sie unverkennbar. Von sich aus wird dieser Riesenapparat gewiss keine Großlösungs-Initiativen ergreifen können. Doch denjenigen, welche aufgerufen sind, solche immer wieder anzuregen, den politisch Regierenden, ist in steigendem Maße bewusst, dass in ihren Händen ein einheitlicher großer Apparat liegt, oder doch große Mehrzwecke-Mechanismen, welche sie auch zu mehr oder weniger einheitlichen Großlösungen einsetzen können. Dies mündet dann in jene Durchsetzung der parlamentarischen Politik in „der Verwaltung", die eben doch gerade darin als Einheit gesehen wird, dass sie, wenn auch in vielfachen Bereichen und in unterschiedlicher Intensität, stets eine größere Direktive zum Tragen bringen muss - und warum sollte dies nicht „große Lösung" genannt werden? Im Umweltschutz ist es in den letzten Jahren erlebt worden, wie über die organisatorisch-personelle Einheit der Verwaltung sich rasch, wie in einer Osmose, große Schutzlösungen haben durchsetzen lassen, im Datenschutz mag dies noch bevorstehen. Die „große Lösung" sollte man nicht immer nur in der mächtigen Staatseinrichtung suchen, oder gar im harten Schlag gegen viele Bürger. Vor allem liegt sie in der einheitlichen Orientierung vielfältiger Verwaltungsentscheidungen, hin auf ein einziges größeres Ziel. Für solches aber steht das größte Mehrzwecke-Instrument zur Verfügung: „die Verwaltung"; in ihrer letzten organisatorisch-personellen Einheit wird sie nicht nur zum Instrument, sondern zum Bild der Monumentalstaatlichkeit. So hat sich denn der moderne Staat mit seinem öffentlichen Recht überall den großen Lösungen geöffnet und sich Einrichtungen geschaffen, aus welchen diese kommen können - letztlich kommen müssen. Die Aufgabe der Rechts- und Verwaltungspolitik bleibt es, den übergreifenden Grundsatz der Staatsgröße hier überall zu erkennen und bewusst zum Tragen zu bringen, im Sinne eines Kriteriums dessen, was im Zweifel fortgesetzt werden sollte. Die große, ruhige, nicht unbewegliche, aber doch unaufgeregte Entscheidung ist es, für welche Mittel bereitzustellen sind, der staatliche Blick muss das Nächstliegende sehen, aber in die Weite gehen. De minimis non curat praetor - und nicht sein Staat, der Bagatellgrundsatz bedeutet eines der obersten Prinzipien für die Erste und Zweite Gewalt, mehr noch als für den Richter. Staatspedanterie ist nur die kleinste Lösung, die nichts sein kann als ein neuer Knoten - das verbietet die „große Lösung in Staatlichkeit". Diese Betrachtungen haben gezeigt, dass gerade die Demokratie auf Größe angelegt ist, dass der moderne Verfassungs- und Verwaltungsstaat sich, gewollt oder

E. Staatliche Organisationsformen für „große Lösungen"

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unbewusst, rechtliche Wege zu großen Lösungen gebahnt hat. Letztlich bleibt dies alles noch Beschreibung und Analyse. Nun muss sich die Wertung, das Güteurteil anschließen, in der Erkenntnis der Kräfte, welche sich aus der Staatsgröße entbinden. Wenn sie Kraft gibt und nicht nur einsetzt, dann sollte ständig nachgedacht werden über die große Lösung, nicht allein als Form, sondern als inneres Wesen der Staatlichkeit.

F. Monumentalstaatlichkeit staatsrechtliche Kraft I. Staatsgröße als Kraft 1. Staatsgröße - ein „Faktum zur Rechtsmacht" Wenn die Größe der öffentlichen Lösung und der staatlichen Organisationen nicht staatliche Kraft bedeuten, Legitimation wie Durchsetzungsvermögen, so sind diese Betrachtungen ohne Sinn; könnten sie dies nicht gerade dem Staat verleihen, mehr als allem anderen, so wäre Staatsgröße ein reiner Beschreibungsbegriff, nicht eine Kategorie der Staatslehre oder gar des Staatsrechts. Allenfalls würde dann die Banalthese umschrieben werden, dass die große Macht eben als solche immer anzustreben sei, oder dass der große Einsatz sich in der Politik besser lohne als der kleine; was alles aus sich selbst nicht beweisbar ist. Mehr noch: Dagegen würde sogleich die These der Liberalstaatlichkeit gesetzt werden, dass nämlich die kleine, überschaubare Staatlichkeit an sich näher stehe bei den „guten Staatsformen", nicht nur weil der Bürger sich immer mehr in bescheidene Dimensionen entwickle. Unabhängig davon, von aller gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, kann ja durchaus etwas wie die eben erwähnte „Schweizer Staatsdoktrin" entwickelt werden, eine Lehre von der Staatsperfektion im Kleinen. Der Staat, der auf alle Erscheinungsformen der Größe, im Raum vor allem, verzichtet, könnte er nicht, das perfekte wiederum Schweizer Staatsuhrwerk, der Idee aller Staatlichkeit am nächsten kommen? Heutige Föderalisierung und Kommunalisierung werden nicht selten so gerade legitimiert, obwohl sie so oft das Gegenteil bewirken: Größe müsse dezentralisiert werden, wenn nötig zerschlagen, sie bringe nicht Kraft, sie könne auf solche immer nur hoffen. Gute Staatsformen - nicht moralisch, sondern als perfekte Staatstechnik verstanden - müssten daher bewussten Verzicht leisten, zu allererst auf alle großen Räume der Staatlichkeit. Ist nicht die ganz kleine Basisversammlung von Bürgern die beste Staatlichkeit, weil hier überschaubare Herrschaft funktioniert? Bedeutet nicht Demokratie letztlich die Grundentscheidung der Verlagerung möglichst aller Entscheidungen in die Überschaubarkeit des Bürgers? Solche Gedanken sind bereits begegnet, schon allgemein konnten sie nicht überzeugen; sie missdeuten das Schweizer Modell, sie verkennen die Schweizer Größe, in welcher die Kleinheit des Raumes durch die Größe und Dauer einer Staatsform kompensiert wird und durch die perfekte Intensität der Herrschaft. Dennoch -

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Staatsgröße erschien bisher in erster Linie als eine notwendige Erscheinungsform der Staatlichkeit, die sich immer mehr, bewusster entfaltet. Ob sie dem Kraft gibt, was man morgen und später den Staat nennen wird, ist damit nicht aufgezeigt, es ist nicht bewiesen, dass dies ein typisch staatlicher Weg sei, als solcher gut und in „gute Staatsformen" führend. Gelobt sei, was groß macht, diese These muss sich beweisen lassen, vor allem heute, gegenüber dem großen Missbrauch der großen Staatsgewalt, in den staatsbefestigenden Wirkungen eines wahrhaft guten Staatselements - denn mehr kann es nicht sein. Nicht zu vergessen ist hier sicher auch die Staatspsychologie, die Wirkung der Staatlichkeit auf die Bürger. Dies ist die Fragestellung des Folgenden.

2. Kraft „von Größe zu Größe"? In der Betrachtung der Staatsgröße, vor allem als Phänomen demokratischer Staatlichkeit, hat sich gezeigt, wie vieles heute gerade diese Regierungsform „in die Größe treibt". Bleibt aber noch zu beweisen, dass hier weiterführende Kräfte am Werke sind, in solcher Monumentalstaatlichkeit. Zeigt denn nicht die geschichtliche Betrachtung, dass gerade groß entwickelte und aus solchem Ausmaß immer noch monumentaler hinaufgebaute Staatlichkeit notwendig, ja gerade besonders rasch zerfällt - also nur Größe vor dem Fall? Müssen nicht die Chancen kleinbleibender Staatlichkeit aufgesucht und gelobt werden, die sich nicht groß zeigt dem Neid der Götter, der Zeiten und ihrer Bürger? Mit dem Bild des Monumentalstaats sollte nicht die Dynamik aus der Politik und ihren großen Lösungen vertrieben werden. Die Historie zeigt in der Tat, dass eine Grandeur die andere gebiert, oft immer noch größer hinauf, bis das Standbild stürzt. Darin ist aber nicht bewiesen, dass es „aus Größe zum Fall kommen muss". Der Turmbau von Babel als Gesetz der Staatsgröße? Dagegen gerade wurde hier das Bild von der ruhigen Monumentalität gesetzt. So steht hier denn die doppelte These: Größe aus Größe, „hinauf 4 - Größe, die sich hält, immer fester. So allein lässt sich Monumentalstaatlichkeit als Begriff legitimieren. Nur dann kann Staatsgröße auch eine imperiale Kategorie sein, Reichsdimension bedeuten, eben als die - große, dauernde Ordnung, bleibend in Größe, in der bedeutenden Zusammenfassung aller drei kantischen Kategorien von Raum, Zeit und Herrschaft als wirkender Staatskausalität.

II. Das große Erstaunen vor der Staatsgröße Wenn alle Philosophie, alle kreative Geistigkeit, aus dem Staunen beginnt, so muss dies auch für das Staatsrecht gelten, als einer geistigen Konstruktion. Mit dem großen Erstaunen muss es einsetzen, nicht mit dem kleinen sich Wundern.

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1. Ius - nil admirari a) Erstaunen im Recht? Juristen sind selten erstaunlich, kaum je erstaunt; die Bewunderung, die zum Erstaunen führt, versenken sie in Bedenklichkeiten, die größeren Dimensionen, vor welchen man in Verehrung stehen bleibt, lösen sie in der Rationalität ihrer Fälle und Gesetze, und sie lösen sie auf. Steht nicht schon diese Rationalität, der Demokratie zumal, gegen alles Bewundern und damit letztlich gegen alle Größe im Recht? Der demokratische Geist hat das Gegenteil bewiesen, er hat das rationale Erstaunen gelehrt, damit der Vernunft gerade den Weg in die übervernünftige Größe gewiesen. Das Recht erscheint als die Zusammenfassung zahlloser „Minimallösungen", nicht nur des ethischen Minimums. „Was darüber hinausgeht, kann jedenfalls rechtlich nicht gefordert werden" - ist dies nicht ein täglicher Erfahrungssatz, der Wünsche rechtlich beschränkt, den Gegenstand von Hoffnungen - von Erstaunen? Sollte man solche Denkformen und ihre wesentlichen Gegenstände wirklich bewundern können? Doch so minimal sind die Rechtskategorien und ihre Lösungen nicht, letztlich schützen sie „irgendwie alles", auch und gerade das Größte, schon im klassischen Zivilrecht der austauschenden Gerechtigkeit. Dass hier kein Erstaunen im Einzelnen ist, liegt in deren Wesen; sind aber nicht die Institutionen dieses so sicher geordneten Austausches - erstaunlich, mit der Weite der Fassungskraft ihrer Kategorien, in der Dauer der Institutionen des privaten Rechts? Und setzt nicht der Richter in so manchem großen Prozessausgang - Erstaunliches? Bedenklichkeit schließlich, wie sie gerade das Recht geistig allenthalben vermittelt, ist doch der erste Schritt in das Erstaunen vor dem nicht Erkannten, vor dem Großen, welches keine Bedenklichkeit vorwegnehmen konnte, worauf sie aber vorbereitet hat. Piatons Dialoge haben das Erstaunen als Anfang des Denkens, das Innehalten vor unerwarteter, unauflöslicher Größe, gerade in den Schritten rechtlicher, ja anwaltschaftlicher Bedenklichkeit eingeführt - und da sollte man im Recht nicht erstaunen und vor seinen großen Phänomenen?

b) ... und im Staatsrecht? Bei Piaton hat das abendländische Denken in staatsrechtlichem Erstaunen begonnen, vor den Gesetzen des Staates, denen er im Kriton als den ehrwürdigen Elterngestalten begegnete, die er am Ende seines Lebens in die absolute Größe des Wächterstaats erhob. Darin vor allem ist er selbst erstaunlich geworden, in diesen Monumenten der Staatsgröße.

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Ein Staatsdenken, das in Bewunderung verharrt, dann mit ihren Kräften fortschreitet, ist leichter vorstellbar als die Kategorie des Erstaunens etwa im Privatrecht der austauschenden Gerechtigkeit. Auch im Staatsrecht läuft zwar etwas wie ein Prozess stets ab, doch das Pro und Contra der Austauschgerechtigkeit steht hier nicht vergleichbar im Mittelpunkt, jenes Spiel der kontradiktorischen Kritik und Gegenkritik, welche das Erstaunen sogleich in Argumentation auflöst. Staatsrechtliche Bemühungen sind stets „auf Konstruktion" gerichtet, auf Lösungen, die monumental stehen bleiben, nicht auf die „Auflösungen" des Zivilrechts hin. Im Zentrum der Staatlichkeit steht auch nicht die „große Lösung" nach außen, sondern zuallererst die Organisation, welche sie bereits vorwegnimmt. Sie aber bleibt „jedenfalls stehen", daraufhin ist sie, bei aller Flexibilität, konzipiert, und längst nicht so in allem und jedem „handlungsadäquat" wie im privaten Gesellschaftsrecht. In ganz anderer Weise kann man daher die Institutionen dieses Staatsrechts in ihrer Größe betrachten, bestaunen. Und „große Lösung" bedeutet im Staatsrecht jene Ordnung, die „stehen bleibt", nicht eine begrenzte Problematik beendet. Rechtsdogmatik ist im Staatsrecht schließlich weit weniger durchrationalisiert, nicht gleichermaßen wie im Zivilrecht ein Geflecht von Regeln und Rechtsgrundsätzen. Gegenstand des Staatsrechts bleibt jene Politik, in der außerrechtliche Vorgaben das Recht in ganz anderer Weise prägen als im Privatrecht. Mit den immer wieder beunruhigenden, aber stets bestaunten Einbrüchen der Machtphänomene ins Staatsrecht muss sich dieses der „akkumulierten Wirklichkeit" öffnen; seine Vertreter bestaunen heute deren Größe in den Gesellschaftsveränderungen ebenso wie ihre Vorgänger, die Berater der Könige, die überrechtliche Größe ihrer Monarchen bewunderten. Magd der Macht bleibt das Staatsrecht in einem ganz anderen, gesteigerten Sinne als das Zivilrecht, in seiner Rechtsqualität gerade deshalb immer wieder bestritten, weil sich seine Vertreter so sehr der Bewunderung der politischen Macht und Größe hingeben. Deshalb schon werden staatsrechtliche Systeme immer in sich weniger geschlossen sein als solche des Privatrechts; dieses öffentliche Recht gerät aber damit auch weit weniger in die Gefahr einer sterilisierenden geistigen In-sich-Bewegung. Etwas von der Selbstbewunderung des Narziss, ein Verharren in den eigenen geistigen Kategorien, ein sich in sie Verlieben, wird immer Reiz und Versuchung des Zivilrechts sein, das alle Wirklichkeit aus seinen geschlossenen Räumen sieht, sie in diese holt. In Verfassungswandlungen und ganz einfach in der Kapitulation vor der außerrechtlichen Macht steht das Staatsrecht täglich vor den großen Gegebenheiten und Vorgegebenheiten der Politik - in Bewunderung vor der Staatsgröße. Diese Recht gewordene Politik hat die größten staatsrechtlichen Gedanken-Bauten errichtet, in der platonischen Philosophie und all den glücklichen Utopien, die alle doch immer bewundern. In den spitzfindigen, zivilrechtsähnlichen Argumentationsketten der Gespräche mit den Sophisten hat Piaton in seinen früheren Dia50 Leisner

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logen schon das aristotelische Thaumazein entdeckt, vollendet wurde es in der unwandelbaren Größe der Gesetze, im Monumentalstaat. Die Bewunderungskategorie liegt im Herzen des Staatsrechts, das ständig um Bewundertes herum seine großen Bauten errichtet - um die Macht.

2. „Große Lösungen" - Gegenstand der Bewunderung Vor Monumenten bleibt der Mensch stehen, darin gewinnt die Zeit die Kraft zu mahnen, im Letzten immer an Staatsgröße, ihr Ausdruck ist das Monument. Am Großen geht niemand achtlos vorüber, ob es gefällt oder zurückstößt - man bewundert es doch zuallererst einmal, und darin eben beginnt das kreative Denken in Erstaunen. Staatsmoralisierungen, Beurteilungen als gut oder schlecht, sind spätere Stufen, auf denen diese Bewunderung zurückgeht; dies ist das Schicksal auch der großen historischen Phänomene, dass sie sich eines Tages Moralisierungen gefallen lassen müssen. Doch zuerst einmal wirken sie, selbst in Schrecklichkeit und Verbrechen, in Blut und Tränen, einfach groß, bewundert selbst von ihren Opfern; das gemarterte Christentum hat die imperiale Größe seiner Verfolger trotz allem in Bewunderung übernommen, darin ist es selbst groß geworden. Staatsgröße wird bewundert, weil sie der Bürger mit seinen eigenen, privaten Kräften vergleicht, den notwendig so kleinen. In dieser Bewunderung, in welcher die Gewaltunterworfenen vor den großen Lösungen, Bauten, Organisationen - einfach vor der Majestät ihres Staats stehen, geben sie all dem, was doch zunächst nichts ist als brutale faktische Kraft, Macht über sich, die der mächtigen geistigen Idee. Wer heute Staatlichkeit bewundert, wird sie vielleicht einmal mit seiner eigenen politischen Kraft besetzen, doch indem er auf ihre Größe zustrebt, wächst sie in ihm selbst - die Cäsar-Verehrung beider Napoleone ist ein klassisches Beispiel für Staatsgröße aus Staatsgröße - in Bewunderung. Diese Kraft trägt den Dialog zwischen dem schon errichteten Monument und dem Neubau, der daneben, darüber hinaus beginnt. Die bewunderte große Lösung wird zum geistigen Modell und zugleich zur politischen Legitimation des eigenen, heute noch kleinen Handelns, das größer werden will. Dies alles spielt sich nicht nur in Machtträumen künftiger Herrschender laufend ab, es wirkt in allen Kanälen staatlicher Bürokratie, am „kleinen Schreibtisch", an dem die größere Lösung gesehen, in Bewunderung erstrebt - eines Tages verwirklicht wird. Was immer als große Lösung Erstaunen und Bewunderung weckt in der Politik, ist nicht nur rasch der Verfestigung fähig in rechtlichen Formen, weil es als etwas Endgültiges erscheint - so wächst die experimentelle Erfahrung im Großen zum Planungsgesetz. Die große Lösung wird darin meist eher noch weiter als sie es an sich ist, weil alles Erstaunen eben das Bewunderte größer will als es in sich sein kann. Wahrhaft große Reformen verlieren daher kaum je ihre Dimension, meist gewinnen sie weitere hinzu im Laufe ihrer Verwirklichung.

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In der Bewunderung der großen politischen Lösung ist auch durchaus nicht nur die moralische Kraft einer Verehrung wirksam, welche bleiben wird in der Anerkennung der größeren Kraft. Hier tritt die politische Schmeichelei selbst noch in ihr Recht, hier wirkt die dumpfe Demut im Anblick der Staatsgröße. Die harten Urteile über die Kniefälle vor der Majestät der Macht fallen heute meist über vordemokratische Vergangenheiten; war aber nicht die Demokratie seit ihren attischen Anfängen die Staatsform des systematischen Schmeicheins? Aus monumentalstaatlicher Sicht liegt darin eine Kraft der Staatlichkeit, die eben das Kleine in solche Niedrigkeiten zwingt; mächtig bleibt sie solange, wie sie es noch verachten kann. Machtschmeichelei als Perversion der Bewunderung aber gehört zur Staatlichkeit, welche diesen Namen verdient, wird sie begleiten, bis sie ihre Größe und damit ihren Namen gänzlich verliert. Selbst bei Verbeugungen vor oft so billigen demokratischen Machtfassaden, im Zurückweichen der Kritik vor den Worten der Kanzler und Minister - es ist immer noch der große Staat, der in die Knie zwingt. Das Erstaunen vor der großen Lösung erschöpft sich auch nicht in rational fassbaren Vorgängen, hier ist etwas Aufgerufenes, eine aktionsoffene Geisteshaltung wozu? Aus dem Bestaunten zur großen Lösung, zum großen Staatsbauwerk, das gehalten, fortgesetzt, gesteigert werden soll. In Bewunderung wird Größe aus Größe im Staat.

3. Die politischen Wirkungen der bewunderten Größe Man betrachte die Wirkungen im Einzelnen, in welchen die politische Bewunderung der Staatsgröße in der Staatlichkeit sich zeigt, sich rechtlich verfestigt, an ihren wichtigsten Ausprägungen: - Der Aufruf zur Bewahrung und Fortsetzung der großen Lösungen hat immer gewirkt. Hier bewähren sich Verfassungen und Gesetze, deren Jubiläen nicht mit Genugtuung gefeiert werden, sondern in Bewunderung. Wenn sie novellierungsbedürftig erscheinen, so ändert dies nichts an ihren Dimensionen; die Gesetzgebungen sind heute so oft wahre Dombauten - mit Bauhütten: immer wird an bewusst bewährter Größe fortgebaut. - Die „große Erbschaft" ruft und wird gerade im Staat immer angetreten, über Niederlagen und Katastrophen hinweg, in der Bewunderung glücklicher Vergangenheit; die Deutschen haben es in zahllosen Gesetzgebungen, in der Wiedererrichtung der Grundstrukturen ihrer bewährten Verwaltung, ganz unpathetisch vollzogen. Und wer wollte hier nicht stille Bewunderung am Werke sehen? - Die Bewunderung der Staatsgröße drängt zur Nachahmung der eigenen Vergangenheit, vor allem aber auch des fremden Vorbildes. Beides mag hier zusammenfallen, die fernere eigene Größe kommt ebenso in Staatsrenaissance zurück wie die aus der Ferne übernommene der fremden Modelle. Unter dem Größenzwang der Maiores stand römische Staatlichkeit über viele Jahrhunderte, sie 50*

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wurde dadurch gehalten und zu ihren höchsten Erhebungen geführt, in der augusteischen Zeit. Hier waren, in einer glücklichen Wortsymbolik, die Älteren wirklich die Größeren, das große, bewunderte Staatsvorbild. Die Deutschen aber haben über den Atlantik die Staatsgröße der Staaten in ihre neue Ordnung getragen, mit Verfassungshöhe, föderaler Weite und in der Größe der Freiheit. Kontinuität und Unterbrechung bringt das große Vorbild gleichermaßen, aus seiner Dimension heraus. - Emotionale Politik und Staatsentscheidung wird heute so oft kritisiert - und doch, nicht nur heimlich, bewundert. Dieser Dimension bedarf, wie immer man sie benennen mag, als Ideal oder Engagement, gerade die Demokratie. Nur diese Kräfte tragen zur Staatsgröße - und allein aus dieser kommen sie. Die Demokratie gerade bedarf dieses Gegenpols zu ihrer Macht-Rationalität, zu den Mechanismen ihrer tausend Normen. Das Erstaunen weckt in der Betrachtung der großen Domäne, in denen sich die Politik zu Staatlichkeit zusammenballt, die Passionalität des Politischen. Hier erwärmt sich der Marmor der Staatsmonumente, aus ihrer kalten Größe wird im Erstaunen die warme Menschlichkeit, die sich vor Leistungen verneigt, vor dem Leiden des Menschen und seiner Überwindung in Größe. Dies ist jene Bewunderung für die Kraft der Einwanderung, aus der eine Weltmacht gewachsen ist, ganz natürlich, in dem Erstaunen vor den sich öffnenden Weiten und in der Bewunderung der späteren für die leidende Größe der ersten Generationen. Das Freiheitsmonument, zu welchem die zahllosen Armen und Kleinen ihre Hände empor streckten, hat aus ihren begeisterten Herzen einen großen Staat werden lassen, diese erzene Monumentalstaatlichkeit ist menschlich geworden. Humanisierung der Politik muss nicht den in Schwäche zerbröckelnden Staat bedeuten. - Bewunderung erfasst immer nur annähernd, das Große ist nicht zu umfassen. Zuallererst gilt dies für die Staatlichkeit, der Bürger mag sie erfassen, umgreifen kann er sie nicht in all ihren Ausprägungen, und niemand wünscht es. Hier wirkt etwas von der Größe der Gottesidee auf Erden, die Kraft der Bewunderung verleiht gerade diese Unfassbarkeit. Sichtbar bleiben einzelne bedeutende Linien, hinter denen sich die Bewunderung weitere vorstellen kann. Entscheidend sind die großen Schwellen der Staatspaläste, nicht umsonst ist kaum ein Bild des „Teils für das Ganze" so häufig gebraucht worden wie dieser Begriff der Schwellen für die Paläste in der alten Literatur. Diesen limina eben nähert sich der Bürger im Erstaunen vor seiner Staatlichkeit, in jener Approximationsdimension, welche der Bewunderung für die große Staatslösung genügt. In all ihren Einzelheiten muss, darf er sie nicht einmal ganz durchdenken; darin liegt die große Kraft der Grundrechtlichkeit: Ihre Freiheitslösungen sind hier und jetzt, in einzelnen Fällen ganz klar fassbar, in anderen mögen sie „zu weit führen", Bedenklichkeiten wecken doch diese werden immer wieder überwunden, überhöht im Bewusstsein, dass die Kraft der Freiheit eben „weit und groß hinaufführt"; und deshalb waren hier

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die Weiten der Formeln niemals ein Argument dafür, die Paläste der Freiheit zu schließen. Immer wieder nähern sich die Bürger diesen großen limina, von ihnen lässt sich die Demokratie nicht abweisen, eher ist sie bereit, dem Staat in diesen Hallen der Freiheit auch etwas wie eine große gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit zuzugestehen. Im Grunde wurde dieser Begriff erst erlernt in der Bewunderung vor den großen Räumen der Freiheit - und längst nicht nur als ihre Beschränkung. - In Annäherung nur sieht man die verdämmernden großen Vergangenheiten der Staatlichkeit, aus denen immer wieder neue Größe zurückkehrt, in Staatsromantik vor allem. Doch das gegenwärtig Große am Staat wird letztlich genauso bestaunt, eben weil es nicht ganz erfasst werden kann, gerade nicht in der hochtechnisierten Demokratie. Hier ist etwas vom alten Erstaunen vor großer Staatlichkeit selbst in der Bescheidenheit, in welcher sich der Bürger dem Spezialisten des Staates überlässt. Dieser sieht ganz klar nur sein Kleines, aber in der Komplikation von dessen Mikrokosmos fühlt er die unendliche Verfeinerung der großen Staatsmaschine, auch er kennt etwas wie beamtetes Staunen. - Die bewunderte Staatsgröße schafft allenthalben politische Bescheidenheit, vor allem bei den Regierenden an der Spitze, im Blick über das große Schiff, das sie lenken, wo man so weniges nur zu übersehen vermag, so vieles allein - bewundern kann. Damit führt bewunderte Staatsgröße zu jener Mäßigung, welche bei den Alten als erste Staatsweisheit galt, heute in Dynamik fast vergessen wird, oder in politischer Trägheit. Wer sich Monumenten nähert, in ihren Bann tritt, der verlangsamt die politische Gangart, mäßigt sie, aber zum größeren „römischen Schritt". Dieser monumentale Stechschritt der Legionen führt jedoch nicht über den Staat hinweg, er lässt in Bewunderung vor ihm verharren. Hier wird „Es ist erreicht" zum Ausdruck der Mäßigung, einer Staatsgröße, die sich nicht ins Wagnis des Unendlichen weifen will, aus Zufriedenheit oder Götterfurcht. Rom hat diese Mäßigung in der temperantia seiner praktischen Staatsphilosophie gefeiert, englische und russische Staatsvorsicht haben ihre eigene erreichte Größe bewundert und in bescheidener Mäßigung in ihren größten imperialen Augenblicken zu bewahren versucht. Der große Staat ist sich in einem Punkt einmal selbst genug: wenn er zum Monument geworden ist, das nicht wachsen kann. Diese Bescheidenheit vor allem ist auch in den Begriff der Monumentalstaatlichkeit zu legen, und die des sich selbst mäßigenden Bürgers, der solche Lösungen und Organisationen bewundert, und ihnen, zufrieden, Größeres nicht wünscht. Größe als Grenze - das sollte vor allem heutige demokratische Staatlichkeit erkennen: Gefährliche Experimente vermeidet sie nur dann, wenn sie in großem Griff schafft, worin sie dann den Bürger in seine Grenzen weisen kann. Ihre Konzepte, von der Sozialpolitik bis in die Umweltplanung, sollten von vorneherein Dimensionen erreichen, in denen sich dann Mäßigung verbreiten kann, nicht Größenwahn; und eine der großen Schulden der Weimarer Republik an Deutschlands Freiheit war, dass sie nicht groß genug zu denken vermochte, um der Mäßigung den

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Sieg zu bringen. Nur in letzter Bürgerbescheidenheit kann vor allem die Demokratie leben, wenn ihr so viel Bewunderung zuteil wird, dass sich Anarchie nicht an ihre Stelle setzen zu können glaubt, weil eben der Einzelne die Staatsgröße doch nie erreichen kann. Mäßigung aber bewirkt der bewundernde Blick auf die große Lösung im Staat auch darin, dass man nicht allzu rasch sie ersetzen, sie auch nur angreifen will, aus dem altgriechischen Erstaunen heraus: Was es hier zu verwalten, vielleicht zu ändern gibt, verlangt eben doch noch weitere Überlegungen, die Vorsicht des sich immer wieder in Fragen Prüfenden. Wer angesichts der Dimension staatlicher Entscheidungen zu rasch in Aktion tritt, der hat „noch nicht genug gestaunt" - vielleicht war nicht genug Größe vor ihm. Nur wenn sie den Blick anzieht und die Aktion aufhält in Bewunderung, können jene wertvollen Augenblicke der Überlegung eintreten, welche keine Verfassung in ihren Mechanismen hinreichend zu institutionalisieren vermag, weil sie nur aus dem Staunen vor der großen Lösung heraufkommen, um welche es ganz offensichtlich geht. So ruft die Staatsgröße die Bewunderung der Regierenden und der Bürger, und sie ist doch, in wirklicher Dimension hervorgebracht, eine Selbstbeschränkung zu Bescheidenheit - wahrhaft bescheidene Größe. Nur deijenige wird ihr gerecht, der seine eigenen Kräfte in jener Ruhe an ihr misst, welche eben Monumentalstaatlichkeit ausstrahlt. Hitler hat Friedrich bewundert, nicht aber die große Ruhe der monumentalen preußischen Staatsdisziplin. Im Erstaunen wird der Staat in seiner Größe bewusst. Nur in Bewunderung ist er unangreifbar, ein unzerstörbares Monument.

III. Unzerstörbare Größe - der Pyramidenstaat 1. Pyramiden als Staatssymbol In den Pyramiden begegnet man der ersten Staatlichkeit, die sich ihrer selbst ganz bewusst war - das wurde in diesen gewaltigsten Zeichen der Monumentalstaatlichkeit deutlich. Hier wird sichtbar und im Geiste das Zentrum der Monumentalstaatlichkeit erreicht, der Punkt, wo sie sich mit dem Außerrechtlichen von Religion, Kunst und Wirtschaft zugleich verbindet. Hier zuerst, und vielleicht das einzige Mal, ist es gelungen, so Großes zu schaffen, dass es allein deshalb unabänderlich wurde, unverrückbar, und in immer gleicher herrscherlicher Konzentration noch heute über dem Betrachter steht. Wenn es ein Staatssymbol gibt, in der Verbindung der fassbaren zur geistigen Konstruktion, so zeigen es die Pyramiden, in ihren Fundamenten, in ihrer Ewigkeit - wahrhaft aere perennius. Hier hat die bekannte Geschichte mit Monumentalstaatlichkeit ganz groß begonnen. Dies waren die Symbole der am längsten dauernden, der für ihre Zeit größten

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Herrschaft, eines Imperiums, außerhalb dessen es für seine Herrscher und Bewohner nur Urgewalten, Barbaren geben konnte. In bewusster Monumentalentscheidung wollte sich hier die Staatlichkeit gegen alle künftige Zerstörung wenden: Keine Macht sollte groß genug sein, dies auch nur um ein Weniges zu versetzen. Mit faktischer Unzerstörbarkeit ist es dieser ägyptischen Staatlichkeit gelungen, eine Realität der Gegenwart zu bleiben, geistiges Symbol zu werden für heutige Gedanken zur Staatsgröße. Durch Dimensionen allein zwingen sie in ihren Bann, diese Pyramiden, in denen sich zuerst und immer wieder Größe und Staat, Staat und Größe zusammen denken lässt. Im Kleineren, immer noch Staats-Großen, finden sich Staatspyramiden auch in naher Geschichte, in all jenen Schlössern und Burgen, die heute so oft nicht mehr gebraucht, manchmal nicht mehr gewünscht werden - sie zwingen sich durch ihre große Existenz auf, ragen nicht nur als Symbole, sondern Fakten früherer Größe in die geistige und auch politische Welt der Gegenwart, verpflichten zu öffentlichen großen Anstrengungen der Erhaltung, mehr noch: Sie eröffnen ständig Dimensionen, welche immer wieder auszufüllen sind, heute nurmehr in Staatlichkeit. In diesem Sinne liegt Pyramidenstaatlichkeit im Schlosse von Versailles, in den englischen Burgen, welche ihre Tradition nur noch größer macht. Dieses Erbe konnte der Staat enteignen, er darf es erst besitzen, wenn er es in eigener Staatsgröße erworben, auf Dauer ausgefüllt hat. Die Pyramiden waren, aus heutiger Sicht, Staatsbauwerke par excellence. Sie sollen daher den Blick nunmehr in Analogie zu den großen Lösungen heutiger Staatlichkeit lenken, zu all dem, was seiner Dimension wegen schlechthin nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Kraft der faktischen Unzerstörbarkeit wird eben dann auch zur Rechtsmacht, und weil die Dauer so selbstverständliche Folge der Größe ist, gibt es schließlich in Lösungen und Organisationen der Staatlichkeit nurmehr dieses eine: Staatsmonumentalität.

2. Großlösung im Negativen: Tabula rasa der Revolution Mit einem Paradox kann man sich ebenfalls dem Phänomen der pyramidalen Riesenstaatlichkeit nähern, in ihrer negativen Ausprägung, der totalen revolutionären Zerstörung. Der ganz große Staatsbau ist heute ja nicht leicht erkennbar, jedenfalls nicht in bewusster Monumentalität; die ganz große Zerstörung, als ein Anfang gedacht, haben die beiden bedeutendsten Ereignisse der neuesten Zeit in Idee und Wirklichkeit nahegebracht, und beide sind gedacht als Anfang eines wahrhaft monumentalen Staatsbaus. Zuerst muss ja auch Kleineres abgetragen, der Raum geebnet werden, in dem dann das Monument stehen soll. Negative Pyramidenstaatlichkeit, Revolution zur tabula rasa, dies war immer ein Traum von der „ganz großen Revolution", die unausgesprochene Theorie der Umwälzung überhaupt. Groß müssen Revolutionen sein - oder sie sind nicht, was für

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das Deutschland von 1918 gilt. Tabula rasa ist noch zu wenig, jede politische Archäologie muss unmöglich werden in solcher Vernichtung, die letzten Grundsteine der früheren Monumente sind aus dem Boden zu reißen, damit auch nicht an Klagemauern geweint werde über das Vergangene. Und allerdings nur im Namen eines ganz Großen, Neuen ist solcher Kampf gegen die Steine der Vergangenheit legitim. Revolutionen verstehen sich immer als ganz große staatliche Lösungen, zuallererst in der Zerstörung; und darin hat die größte dieser Umwälzungen dieses Beiwort stets ganz natürlich getragen, darin war die Französische Revolution einfach „die große", mochte sie positive Staatlichkeit auch nur in großen Trümmern der Zukunft weitergeben. Die Revolutionäre glauben daran, dass etwas wie ein horror vacui alles Politische auf sie ziehen werde, sämtliche neuen Kräfte. Sie wagen es, den Grund-Satz der aristotelischen und scholastischen Philosophie des Optimismus zu brechen, dass immer Sein besser sei als Nichtsein, sie wollen zuerst das Negativmonument schaffen. Für unmöglich mag man es halten - und doch wird in dieser Negation die Staatsgröße wohl zuallererst greifbar: in der Begeisterung für den ganz freien Raum, für die geöffnete Dimension, in welche sich beliebig Politisches einbauen lässt, für eine „Größendimension an sich", die eben auch zur großen Freiheit wird in der beliebigen Ausnutzung des geschaffenen Raumes. Im Umschlag der Zerstörung in die große Freiheit der möglichen Staatskonstruktionen nähert sich die Monumentalität der großen freien Plätze, welche die Revolutionen für ihre Aufmärsche immer zuallererst schaffen mussten, für ihre ewigen Marsfelder als Staatsmonumente. Mögen dann Kulturrevolutionen kommen, dauernde Umwälzung vielleicht - die reine monumentale Dimension bleibt, sie ist wichtig, sonst nichts. Darin wird sogar die „permanente Revolution als Monument" noch fassbar. Diese Lehren der Staatsmonumentalität sollte die Gegenwart lernen, sie lebt in dauernden Umbrüchen, es ist, als könne sie Staatlichkeit eigentlich nurmehr in Revolutionen erkennen, blickt man einmal über die kleineren, wohlgeordneten Grenzen. Dann aber muss auch in der heutigen Staatlichkeit der negierten Revolution, bewusst werden: Staatsgröße zeigt sich eben auch in jener Gewalt des Entsetzens, in welcher sich alle mögliche Gewaltsamkeit ganz groß zusammenballt. Vielleicht kann nur aus ihr dann das Staatsmonument von morgen geboren werden. Ob Revolution der Staatsmonumentalität am nächsten kommt? Vielleicht reicht die Frage noch weiter: Könnte es wohl sein, dass sich Staatsgröße letztlich geradezu in Revolution erschöpft? In manchem weist die Geschichte in solche Richtung. Die Französische Revolution ist wahrhaft monumental geworden in den großen Zerstörungen der Feudalität, in ihrer vernichtenden Egalität, gegen die nie wieder gebaut werden konnte. Einebnend ist ihre große Ideologie seither ständig am Werke, für viele eine permanente Zerstörung der Staatlichkeit. Historischer Betrachtung, die sich von aller Ideologie, von staatlichem Denken überhaupt freizumachen versucht,

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auf Positives nicht sieht, ist in der Tat die Schreckensherrschaft der Jakobiner in ihrem absolut erscheinenden Zerstörungsrausch - Revolution par excellence. Doch französische wie russische Revolutionäre wollten mehr: aus dem belebenden Blutbad in die Riesenlösung, welche allein es legitimieren kann. Es gilt, die Revolution zu erkennen als den staatsrechtlichen Tiefbau der Pyramiden, der den Schutt zu ungeheuren Fundamenten verdichtet. Das völlige Zerbrechen der alten Mauern und Tafeln ist ja monumental auch in einem anderen Sinne: Nun kann nichts mehr restauriert werden, in kleineren Teilen, kleiner Staatlichkeit. Nur ein Weg bleibt: in die blockhafte neue Staatlichkeit, in Pyramiden.

3. Geschlossenheit als Größe Politik, die diesen Namen verdient, wird bewusst die große, geschlossene Einzellösung stets anstreben, sich aus deren Kräften aufladen. Im Experiment wird sie nicht verharren, das Staatliche ist wesentlich endgültig. Experimentelle Organisation ist in sich nicht denkbar. In ihren Instanzenzügen strebt sie zur Geschlossenheit, nicht zur punktuellen Erledigung. Dem Verwaltungsaufbau muss Hierarchie schon deshalb stets zugrunde liegen, weil nur sie zugleich die größere Dimension und jene Geschlossenheit sichert, aus der heraus zusammengefasste Kräfte sich entbinden. Dies war die Größe des napoleonischen Staatsaufbaus, der noch heute alle Verwaltungsorganisation bestimmt. Was immer auf ein Großes hin hierarchisch gebaut wurde, selbst und gerade in der geometrischen Aufteilung der Herrschaftsräume in der Departement-Verfassung, es gewinnt Dimension schon durch die pyramidale Geschlossenheit seiner Instanzenzüge. Sie hat sich in der französischen Bildungsstaatlichkeit der Konkurssysteme so in Staatsgröße fortgesetzt, dass sie die Anarchismen der Bewegung von 1968 nicht haben brechen können. Diese Geschlossenheitskraft der Pyramidenstaatlichkeit kommt sicher zuallererst aus den bedeutenden Zentrallösungen der jeweiligen Staatlichkeit. Die Idee der einen inneren Sicherheit führt hier ebenso zu großen sicheren Entscheidungen wie die Bewahrung nicht der großen Freiheit, sondern der großen Einzelfreiheiten; sie gerade haben in der Geschichte die Geschlossenheit monumentaler Staatslösungen erreicht. Deshalb auch muss notwendig moderne Staatlichkeit zu einer Gesamtplanung in monumentaler Geschlossenheit finden, und sie soll so weit sein, dass sie die Freiheiten der Bürger aufnehmen kann. Doch wenn einmal solche Kategorien wie die der Planung in die Staatlichkeit gedrungen sind, so müssen sie notwendig in ihr zu einer gewissen Geschlossenheit wachsen - oder die Staatsidee selbst nimmt Schaden. Dies gilt auch für die föderalen Staatskategorien: „Große Lösungen" vom Oberstaat her sind grundsätzlich gefordert, wenn hier von Staatlichkeit überhaupt gesprochen werden soll. In diesem Sinne wenigstens muss er stets in Größe auch der Gesamtstaat sein; doch gerade dann kann und darf er sich auch auf das Große beschränken, wenn er nur nicht allein der Raum größerer Reden ist.

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Im Übrigen aber gilt, auch aus der Sicht solcher Geschlossenheit, welche der Staat als Kraft zu seiner Größe braucht, etwas wie eine Relativitätstheorie: „Größe" - das bezieht sich eben stets auf die jeweiligen Aufgaben der Staatlichkeit, in ihrer Geschlossenheit treten sogar quantitativ klein erscheinende Lösungen in die Ausmaße einer Monumentalstaatlichkeit. Hier wird die Schweizer Staatsmonumentalität vor allem fassbar, in der Intensität, mit der das quantitativ Kleine staatsrechtlich geschlossen geordnet wird. Der Staat hat ja nicht nur das Recht, sich seine Aufgaben in Freiheit zu wählen, er kann auch, in Grenzen, deren Größenordnungen bestimmen und darin ihre „Staatsgröße definieren", indem er sie in speziell staatlicher Geschlossenheit und Endgültigkeit erledigt. Gerade wenn er viel an Freiheit belässt, findet er in der Perfektion der übrigen, von ihm nun aber besetzten Räume zur Staatsgröße, indem er zeigt, dass dies eben nur er vermag - und sich daraus in Schweizer Präzision legitimiert. So hat denn dieses Land auch immer liberal sein können, trotz seiner kleinen großen Lösungen, die ja vor allem nicht das Leben des Bürgers betreffen, sondern das der Staatlichkeit selbst, in der einmaligen Vollendung der Abstimmungssysteme. Pyramidenstaatlichkeit im Kleinen - der kommunale Bereich zeigt sie täglich, und darin wieder das Gesetz der Relativität der Größen: In den Gemeinden, den kleineren Verwaltungseinheiten, ist eben die Größe im Verhältnis zu den Aufgaben, den Finanzkräften zu sehen, und hier ist die Staatlichkeit laufend ganz groß, die Kommunen gerade werfen sich oft in grandioser Bedenkenlosigkeit in öffentliche Werke, in denen nicht nur sie oder ihr Bürgermeister Größe beweisen, sondern in denen auch Staatsgröße für den Bürger fassbar wird - wird Derartiges nicht immer in erstaunlicher Dimension gebaut? Und wenn Kommunen nur mehr sparen, sind sie schon zerstört. In einzelnen Verwaltungsgängen sogar zeigt sich Staatsgröße in der Geschlossenheit der Entscheidungen, kommt es, oft überraschend schnell, zu wahrhaft monumentalen Bauplanungen, die ganz bewusst so in Größe angelegt sind, dass niemand mehr aus ihnen zurück kann, keine künftige Mehrheit, kein folgender Beamter. Genehmigungen werden gegeben und versagt, mit einem Schlag eine ganze große Zukunft bestimmt oder verspielt. Technische Vorsicht möchte dies so oft heute auflösen, sie sollte sich vorsehen, dass sie darin nicht die große staatliche Lösung verspielt, Staatsgröße. Die Bürokratie muss immer wieder in solchen Fällen gelehrt werden, dass es für sie auch den Zwang zum weittragenden Ja, Ja Nein, Nein gibt, dass ihre Rede die des großen Staates sein muss, selbst in dem, was ihr klein erscheint, was sie gerne immer noch kleiner schneiden möchte. Und wenn sie sich in große Staatsbauten hineinstürzt, unübersehbare Folgelasten aus der Geschlossenheit der Erstentscheidung hinter sich herschleppt, ihre kleinen Pyramiden schwer dann nur verändern kann - die Ge- und Entschlossenheit der einen Entscheidung legitimiert sie doch, und was wäre dieses schöne Wort von der Legitimation anderes als eine Erlaubnis zu weiterer, künftiger Größe, aus geschaffener heraus?

F. Monumentalstaatlichkeit - staatsrechtliche Kraft

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4. Staatsgröße - Kraft der vollendeten Tatsache a) Endgültigkeit

- Wesen staatlicher Lösungen

Der Staat ist wesentlich vollendete Tatsache. In dem Sinn ist er, sind seine Organisationen und Lösungen stets „abgeschlossen", darin der pyramidalen Monumentalität nah, dass sie mit dem Gewicht ihrer Existenz allein schon wirken können, gerade in einem Recht und einer Staatsform der Diskutabilitäten. Wie kein anderer ist der Staat bereit und berechtigt, sich diese Kraft der vollendeten Tatsache rechtlich selbst zu gewähren. Dies ist der Sinn jener Rechtskraft, mit welcher er seine Entscheidungen umgibt, sich selbst an sie bindet, im Grunde doch nur an den Beweis seiner eigenen Macht. Immer wieder beendet die Staatsgewalt die Diskussionen, hält die Zeit an in der Endgültigkeit ihres Wortes, darin allein unterscheidet sie sich zuletzt von allen anderen sozialen Mächten. Endgültigkeit ist selbst dort Wesen ihres Handelns, wo sie einmal noch etwas offen lassen will - wie oft bleibt es nicht endgültig offen, in der Unbeweglichkeit der Bürokratien. Und der Experimentierstaat selbst droht häufig schon zum endgültigen Experiment zu degenerieren. Endgültig - eine solche Lösung muss aber bis zum Ende gültig sein, sie muss mit der Kraft der vollendeten Tatsache wirken, diesem Abschluss nurmehr die rechtliche äußere Form geben. So ist denn alle Staatlichkeit, aus dem Wesen ihrer „Rechtskraft" heraus aufgerufen, Vollendetes nicht nur zu dekretieren, sondern wesentlich hervorzubringen; und was wäre ein besserer Weg dazu als - die große Lösung? Sie bedeutet das natürliche fait accompli, das jeder zu achten hat, ob er es nun noch rechtlich angreifen kann oder nicht. Hier allein findet der Staat aus dem für ihn vernichtenden Labyrinth des Rechtswegestaates heraus, indem er so groß plant und beginnt, dass schon ohne Rechtskraft die vollendete Tatsache durch die große Staatslösung eingetreten ist. Heutige Rechtsstaatlichkeit mag hier eine tödliche Gefahr für Bürgerrechte sehen, doch diese Straße zu der Größe der Pyramiden muss dem Staat immer offen bleiben, der nicht nur Rechtswege gehen kann - hin und her. In der großen Lösung vollendet sich wirklich eine rechtsbegründende Tatsache, sie allein verdient dann voll auch die Rechtskraft. Die Pyramiden Ägyptens sind heute Symbole des staatlichen fait accompli, in ihnen ist die große Macht auf ewig vollendete Tatsache geworden. Nicht nur in dem Sinn gilt dies, dass niemand „an ihnen vorbeikommt", dass jeder sie betrachten muss - sie ziehen zu sich hin, die vollendete Tatsache orientiert, ruft zum Erstaunen, zur Nachahmung, zur Fortsetzung. So ist es im Kleinen mit jeder wahren Lösung in Staatsbewusstsein: Sie gewinnt eine Dimension der in Größe vorweggenommenen materiellen „Rechtskraft" und sie zwingt zu sich und zu ihrer Fortsetzung; das Faktum beginnt zu herrschen.

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Buch 3: Der Monumentalstaat

b) Große Staatsentscheidung - die faktische Kraft des Normativen Staats-, nicht nur Machtinstinkt wird in großen Lösungen auch ohne Recht bereit sein zu handeln, in der Sicherheit der normativen Kraft des Faktischen. Doch es gilt auch die Umkehrung: Wo die Rechtsmacht zur großen Entscheidung gegeben ist, darf diese fallen, auch gegen alle Fakten, denn hier wirkt die faktische Kraft des Normativen. Die große rechtliche Staatsentscheidung, welche in pyramidaler Dimension fällt, wird zur vollendeten Tatsache. Aber nur für das bedeutend Gedachte und Gewollte gilt dies, solche Lösungen allein zwingen sich auch tatsächlich auf, solchen Befehlen wird dann gehorcht, nicht weil sie zwingen können, sondern weil sie groß sind. Die Rechtslehre findet sich meist damit ab, dass ihr Gegenstand nur das Sollen ist, nicht das Sein, dass er schon deshalb wesentlich veränderlich, verschiebbar, aufhebbar erscheint, ohne dass etwas von fassbaren Trümmern bliebe. In den Dimensionen einer Pyramidenstaatlichkeit wird all dies überhöht. Wenn entschlossen der Versuch gemacht wird, rechtlich ganz Großes hervorzubringen, wird diese Kodifikation, die alles verändernde Planung, die genehmigende Großentscheidung unaufhebbar, allenfalls noch zerstörbar, aber immer zu so großen Trümmern, dass aus ihnen Neues gebaut werden muss. So wie die Wirklichkeit das Recht verachtet, so das Recht diese - wenn großes Recht gesetzt wird, versöhnen sich beide: ex iure oritur factum. Das rechtlich Große ist ja auch letztlich von anderer Qualität als das kleine Sollen. Der Angriffsbefehl mit Blick auf die Pyramiden beginnt mehr als ein Töten in Ebenen. Napoleon hat dort seine Monumentalschlacht geschlagen, später sah dann seine eigene Größe auf seine Grenadiere herab. Dazu ist auch der Staat gefordert, zu einer Befehlsgröße, welche in sich schon zum unausweichlichen Faktum wird, zur schicksalhaften Notwendigkeit, zu einem Sein, das sich die quälende Frage nach der Befolgung des Befehls nicht mehr zu stellen braucht. Der große Befehl wird zum guten, in seinen Weiten ist Raum für die Dynamik einer Interpretation, welche die Dimensionen in ihrer Imagination noch erweitert. Und in der Interpretationsfähigkeit und -bedürftigkeit des Befehls zur großen Lösung findet sogar die Freiheit des Anordnungsempfängers ihren Weg in die Staatsgröße. Zur rechtlichen vollendeten Tatsache wird die große Staatslösung, der hohe normative Befehl zuallererst - und damit zum „stärkeren Recht" - durch den Zwang des bedeutenden Befehlsinhalts zum systematischen Denken; darin wird dann dieses Recht auch als geistig sich selbst vollendendes Faktum zum wirkenden fait accompli. Das „große Gesetz", die Kodifikation zuallererst, weist diesen Weg. Hier tritt der Staat an mit dem Befehl zur ganz großen Lösung; in seinen Gesetzbüchern hat er normative Pyramiden errichtet. Die hier erfasste und geregelte Weite der Fälle, wahrhaft der Konstellationen, kann ja nicht in der Addition der Paragraphen allein bewältigt werden, Gesetzesgröße erwächst nicht nur aus Paragraphenzahlen. Hier

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muss der große Befehl erweitert werden - in Systematik; hier schließt er sich wieder zusammen - im System; hier bleibt er stehen - in der Unbeweglichkeit der Systemgeschlossenheit, welche Einzelnovellierungen nicht mehr verändern können. Diese drei Produktionsquellen systematischen Denkens finden sich hier in pyramidenstaatlicher Großlösung vereint. Systemlose Riesenbefehle sind Perser-Staatlichkeit, letztlich Ausdruck eines großen Erschlagens, einer furchtbaren „Endlösung". In ihr verliert sich Staatlichkeit im reinen Kraftakt. Zur fortwirkenden Tatsache wird sie in der Systematik der großen Lösung als vollendeter, laufend sich selbst vollendender Tatsache.

5. Pyramidenstaatlichkeit - größer als Kritik a) Größe jenseits aller Kritik Eine Angst verfolgt heute die Herrschenden: dass sie durch große Entscheidungen Kritik auf sich ziehen und dann nicht in Pyramiden begraben werden könnten. Ballt nicht die mächtige Lösung alle politischen Widerstände täglich zusammen, unter denen sie dann endlich zerbricht, mag sie auch zuzeiten an ihnen gewachsen sein? Was Kraft gegen Kritik verleiht, wird alle Politik gerne annehmen, suchen in all ihren Anstrengungen. Muss sie aber befürchten, dass die Dimension der Lösung Kritik potenziert ruft, so wird sie sich verstecken wollen, bis zum Ende aller Monumentalstaatlichkeit. Hier wieder sprechen die Pyramiden: Von der „ganz großen Größe", um im Wortbild zu bleiben, fällt wahrhaft Kritik ab, wie von den schrägen Mauern dieser Bauwerke. Wer wollte Pyramiden diskutieren? Was einmal in voller Größe „in den Raum gestellt ist" - auch dies wieder ein lehrreiches Bild demokratischer Politikdiskussion - was von dort wegen seiner Ausmaße nicht mehr fortgeschafft werden kann, widersteht sogar der Rationalität, der Kritik allemal. Die Lösung der Pyramidenstaatlichkeit wird nicht zum Bunker, in dem sich die Herrschenden verstecken und schließlich doch erschlagen werden, sondern zum Stein des Anstoßes, der den Anstoß zum Glück bringt. Vielleicht wird ja auch der Mut zur Sünde nur bei ganz großen Sündern belohnt - der Staat darf selbst dies wagen. Das Indiskutable pyramidaler Dimension wirkt in jedem wahren Staatsbefehl legitimierend, und wie bei solchen Bauwerken wird gar nicht gefragt, ob dies gefällt oder nicht. Objektive Größe, in welcher der Staatsbefehl einherschreitet, zwingt in ihren Ausmaßen die kleineren Subjekte nieder, welche ihre Kritik nie so hoch hinaufbauen können. Gerade im politischen Bereich hat ja die große Wirkung bereits mit der Ankündigung eingesetzt, die Kritik sieht sich aus dem einfacheren Nein in einen Verbesserungsvorschlag gezwungen, in welchem sie hilflos wird, wenn sie einer wahrhaft großen Dimension gegenübersteht. Hier entfaltet die Demokratie sogar die geheime Vernunft ihrer Mechanismen: Solange eine Regierung groß entscheidet, bleibt Opposition gelähmt, das - in jedem Sinne - „leichtere Gewicht" ihrer kritischen Gegenlösungen prallt an dem bereits zum Faktum

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gewordenen Angekündigten ab. Kleinere Staatslösungen aber vermag die kritisierende Gegenregierung durch ihre Vorschläge in Größe zu überholen, durch deren faktischen Gehalt an bedeutenderen Forderungen allein schon übertrifft sie unbedeutende Verwirklichungen der Herrschenden. b) Demokratie - Flucht aus Kritik

in Staats große

Wollte die Demokratie den Weg in die Staatsgröße nicht antreten, sie müsste dahin fliehen. Jene Staatsform, in der alles diskutiert werden kann und soll, lässt nur „die ganz großen Lösungen stehen", etwas von ihnen wenigstens. Befehle müssen hier gegeben oder doch angekündigt werden, deren Nichtbefolgung so große „schwere" - Folgen hätte, dass niemand dies wagt. Der Mut zur Entscheidung muss immer größer sein als der zur Kritik, dies ist das Grundprinzip eines solchen Regimes. Es drängt zur „ganz großen Geldforderung", damit stets große erfüllt werden; es verlangt einen „Vorhalt des Größeren" in allem und jedem, als eine Staatsform des „Willens sogar über Staatsgröße hinaus" - damit diese dann doch erreicht werde. Alle ihre Lösungen sucht sie hinaufzusteigern, sie „aus der Kritik zu heben". Ihr Handlungsgesetz verlangt, auf allen Ebenen, klein zu sein oder groß - sich zu verstecken, in der Hoffnung, dass die Kritik sie nicht sieht, oder so groß zu werden, dass diese verzagt. Eines nur ist ihr verboten, was sie so oft an die Stelle des Bedeutenden setzen will: das Mittlere zu tun. Und hier müssen Demokraten den Kompromiss kritisch betrachten. Schnell muss gerade demokratische Herrschaft den Großbefehl geben, die große Lösung realisieren, steht sie doch im Wettlauf mit der Kritik, damit nicht die Gegenpartei, zu rasch an die Macht gekommen, das Große wieder abtrage. Wenn die Krankheit einsetzt, dass alle größeren Lösungen nach wenigen Jahren stets von der zur Regierung gewordenen Opposition widerrufen werden, gibt es nur ein Heil: Gleich das wahrhaft große Unternehmen, Steuerreformen, Sozialgesetzgebungen, die dann keine demokratische Macht mehr verändern kann, ohne alle Staatlichkeit zu zersprengen. Der Zwang zur Größe im ersten Jahr nach der Wahl ist ein pyramidenstaatliches Phänomen unserer Tage. In diesem schnellen Lauf zur Staatsgröße muss die Demokratie versuchen, ihre Machtwechsel nicht zur Atemlosigkeit unstaatlicher Kleinheit herabsinken zu lassen. Will sie ihren Staat halten, so muss sie durch eine Monumentalität, die sie mehr braucht als andere, befreit werden von der schlimmsten Gefahr: der Überdynamik der Gegenläufigkeiten; dies aber wieder gelingt nur, wenn in mächtigen Staatslösungen pyramidenförmig über alle Kritik hinausgebaut wird. c) Von der transkritischen

zur transpolitischen Staats große

In pyramidenstaatlichem Staatshandeln findet der Krieg des Politischen sein Ende. Der konstruktive Neid der Kritik hat sich gewissermaßen im Kampfe gegen

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Ankündigung und Bauanstrengung der großen Lösung erschöpft. Der Hass der Freund-Feind-Beziehung ist in seinen politischen Argumenten und Passionen verbraucht. Regierende, welche der Staatsgewalt würdig sind, vermögen dies durchzustehen, lassen diese Politik an ihrer großen Pyramide abschäumen, mit deren Spitze erreichen sie einen Punkt jenseits des politischen Hasses. Selbst wenn die wirklich große Entscheidung, wie sie dem Staat wesentlich ist, letztlich nicht von allen übernommen wird - hingenommen muss sie werden, auch Oppositionen müssen nun einfach „mit ihr leben", sie später sogar weitertragen, wenn sie an die Macht kommen. Die Bündnisentscheidung Konrad Adenauers war eine solche pyramidale Staatslösung für die Bundesrepublik Deutschland, sie ist ihre Staatspyramide geworden; dass sie richtig war, konnte erst weit spätere Historie entscheiden. Staatspolitische Richtigkeit hat sie aus einer Größe gewonnen, hinter die sich bald alle Opposition stellen musste, weil sie in ihren Dimensionen den Hass überwand, über Kritik hinauswuchs, und weil man einem Monument nicht auf Dauer gegenüberstehen kann. Damit werden diese staatspolitischen Akte zu Formen des Transpolitischen, zu einer Entpolitisierung des Staates in Monumentalstaatlichkeit. Etwas vom Kleinen liegt ja im Begriff des Politischen, es ist dessen jedenfalls fähig, in der Demokratie zumal; das ganz Große, Monumentale ist im Letzten nie politisch, weil es über die kontingenten Wellen dieser Passionen und Argumentationen hinausreicht, die sich an ihm - brechen. Hier wird nicht nur Konsens geschaffen, es tritt staatsmonumentale Ruhe ein, jenseits der notwendigen, heilsamen Unruhe des Politischen. Bismarcks Sozialversicherungsschöpfung, die Entscheidung der Rentendynamisierung, sind für Generationen in diese Höhen des Transpolitischen hinaufgewachsen. Hier scheint es, als sei die größte aller Dimensionen, deren der Staat fähig ist, völlig ausgenutzt worden, als bleibe nichts mehr zu tun. Keine Willenskräfte schäumen mehr auf, es tritt ein Le silence de la mer, die größte Ruhe, das Größte überhaupt, was Menschen kennen, die Sehnsucht vor allem der bewegungsgetriebenen Demokratie. Der Traum des Überpolitischen, in dem gerade die Volksherrschaft ihr Gegenbild immer sucht, wird hier Wirklichkeit; die Staatsform hat nun eigentlich nicht ihr Gegen-, sie hat ihr Über-Bild gefunden, ihre Idee der vollen Einheit aller. Mit dieser Kraft zur Stille der Selbstverständlichkeit, die im höchsten Sinn sogar unbewegliche Monumentalität erreicht, vollendet sich Staatlichkeit in Größe.

d) Die Errungenschaft

- Einbahn der Staatsgröße

Pyramidenstaatlichkeit in ihrer ruhenden Kraft lässt immer zuerst an das Staatsbauwerk denken, dem die ausgebaute Organisation noch am nächsten kommt, eine als rocher de bronze geschlossene Monumentalkraft, die in sich zur transpolitischen Ruhe gekommen ist. Doch Staatsgröße blickt immer auch auf die Dynamik, auf Wege zum Ruhm; in dieser Perspektive soll nun das Kapitel über die Pyrami-

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denstaatlichkeit schließen mit Bemerkungen zu Ansätzen einer Theorie der Errungenschaft. In ihr lässt sich beobachten, wie große Staatsdynamik zur Ruhe kommt, vor allem aber auf welchem Weg - in einer monumentalen Einbahn. Errungenschaft ist ein Wort der Sozialbewegung, aus ihr in die politische Theorie der Demokratie eingegangen. In anderen Sprachen wird dies „Eroberung" genannt, das Ergebnis eben der „Kämpfe" der Arbeiter. In dem Begriff liegt ein Dreifaches: die Größe, die Geschlossenheit, die Unwiderruflichkeit der sozialen Lösung. Der Sowjetstaat, monumental in allem, ruhte auf den Grundlagen dieser Groß-Lösungen, mit dem Mut zu ihrer Monumentalität, mehr noch: zum monumentalstaatlichen Charakter der breiten Einbahn, an deren Ende sie stehen. Wäre nicht die via triumphalis ebenfalls ein Monument der Staatlichkeit, ebenso ruhig und unbeweglich wie der Triumphbogen, durch welchen sie führt, der Tempel, den sie erreicht - endgültig schon in ihren ersten Steinen, weil sie ganz wesentlich nicht auf Durchgang, sondern auf ein Ende gerichtet ist, das an ihrem Anfang bereits sichtbar wird? Liberale Marktwirtschaft, in staatliche Dynamik transformiert, leugnet die Errungenschaften; dies ist ihr notwendiges Gesetz, trägt sie doch in sich die ambivalente Kraft des ständigen Zwangs zur großen Lösung - und der ständigen Auflösung der Monumente. Die sozialen Errungenschaften haben als große Lösungen der Staatlichkeit dem allem widerstanden, nicht allein, weil sie „sozial" wären, oder weil eine „sozialistische Gesetzmäßigkeit" in ihnen wirkte - dies wäre nur marxistische Ideologie, übrigens nicht ohne Größe. Der wirkliche Kern der Errungenschaft, der sie zur Kategorie der Staatslehre werden ließ, liegt in der Größe der Lösung, die hier erreicht wurde. Im sozialen Bereich kommt sie besonders sichtbar aus der monumentalstaatlichen Dimension der Egalität. Sie kann das Ergebnis geduldigen Pyramidenbaus sein, in kaum merklichen kleinen Schritten, groß eines Tages in ihren Akkumulationseffekten, und plötzlich als solche bewusst werden oder durch den einen machtvollen Schlag, den sozialen Durchbruch, vom bezahlten Urlaub in der Zeit Léon Blums, der damals als ein staatsrechtlicher gefeiert wurde, bis hin zur dynamischen Rente, welche in der Dimension ihrer Entscheidung schon seinerzeit ganz sichtbar geworden ist. Hier zeigt sich eine eigentümliche, nahezu paradoxe Gegenform der ägyptischen Pyramide - und doch ein Ausdruck der Pyramidenstaatlichkeit: In der Errungenschaft selbst wird nicht mehr geschaffen, sondern genossen von den zur Ruhe gekommenen Vielen, und nicht aus einer riesigen Befehls-, sondern aus einer riesigen Verbrauchsdimension heraus. Die Errungenschaft ist endgültig, unwiderruflich, und doch bewegt sich diese Lösung gleichförmig weiter in einer Zeit, die geradezu als solche monumental gesetzt wird. In all dem ist entscheidend die große Einbahn, jenes „Nie wieder", das im Grunde über allen staatlichen Portalen steht, durch welche die Bürger aus ihren Kämpfen und Anarchien in die Ruhe der Lösungen großer Staatlichkeit treten. In den sozialen Errungenschaften mag geradezu die Zukunft schon verbraucht erscheinen,

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wie es nun die Rentenentwicklungen am Ende des Jahrtausends zeigten. Staatliche Steine können dann nicht nur der Erosion widerstehen, sondern sie sogar noch vorwegnehmen, die Pyramidenstaatlichkeit des Genussverzichts, des groß für eine ewige Zukunft aufsparenden Befehls, geradezu auf den Kopf stellen. Dennoch bleibt die Dimension des Pyramidalen auch dieser Staatlichkeit, einer Monumentalität der breiten Straße, die unter Denkmalschutz steht, einer Lösung, die nie wieder verwickelt werden darf, einer transpolitischen Ruhe des Meeres, das nie mehr von sozialen Stürmen aufgewühlt werden wird. Monumentalstaatlichkeit - das kann bedeuten: mit Riesenbauten allen Stürmen trotzen - oder alle Stürme beenden. Und wenn es eines Tages bricht - groß war es, Staat...

IV. Die Monumentalität des Unvollendeten 1. Die Kraft des Begonnenen Das Wesen der Monumentalstaatlichkeit wird im Pyramidenbild erkannt, wenn man dessen Statik nicht überlädt. Doch es bedarf der Ergänzung durch andere Wirkungsweisen der Staatsgröße, vor allem aus der Kraft des Unvollendeten. Staatsphilosophisch ist dies noch immer Pyramidenstaatlichkeit - in fieri, in potentia, in diesem scholastischen Sinn eine Seins-Form pyramidaler Monumentalstaatlichkeit. Bedeutsam als Quelle politischer Kraft wirkt dieses Unvollendete vor allem aber darin, dass hier ein dynamisches Element eigener Art erkannt wird, welches weit über alles statische Staunen hinausweist und zugleich eine Antwort auf die Zentralfrage der Pyramidenstaatlichkeit bringt: Wie weit muss sie geschlossen sein, in jeder staatlichen Entscheidung?

a) Die Kraft des großen Anfangs - „ Fundamentalstaatlichkeit

"

Als der Kölner Dom zu Ende gebaut wurde, jener Bau, welcher dem 19. Jahrhundert ganz und gar staatsromantische Monumentalstaatlichkeit verleihen sollte, da trieb das Angefangene in die große Vollendung hinein - ein Symbol für das Reich der Deutschen. War es nicht schon in der Geschichte begonnen, konnten seine Fundamente nicht überall ausgegraben werden, ein Aufruf zum Weiterbauen? Und Dörpfeld hat seinen Kaiser nicht nur begeistern können, weil in Korfu antike Köpfe gefunden wurden. Eine Theorie des größeren Anfanges wird man wohl in allem bedeutenden Bauen entwickeln können, wie es wesentlich dem vorbehalten ist, was man Staat nennt: Mächtige Fundamente sind bereits Monumente, sie mahnen zur Vollendung, sie werden zum - Vor-Wurf. Ganz große Staatstrümmer dürfen nicht liegen bleiben, sie sind lebendig in ihrer Mahnung, aus ihnen das große Eine zusammenzufügen. So war es letztlich in der deutschen Kleinstaaterei, aus der das Reich wurde, 51 Leisner

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weil sie bereits, in Preußen zumal, größere Staatsfundamente erkennen ließ, in Verwaltung und Armee, in Wissenschaft und Staatsdisziplin - aus ihnen musste eines Tages ein Reich gebaut werden. Hier wirkt die Dynamik der großen Lösung ganz allgemein. „Es muss hoch gebaut werden", die große Lösung muss sich in laufenden, immer größeren Ergebnissen bewähren, und sie bleibt doch eine Grundlagenentscheidung: Die große Rentenreform bringt in ihrer Dynamik „immer mehr"; die weit angelegte Rahmenplanung verdichtet sich in ihrer Spezialisierung nach innen in perfektionierendem Netzwerk. Über die rein bauwerkhafte Größen-Lösung weist dies hinaus, hier können sich Organisationen bewähren in „laufender Größe", weil sie so angelegt sind, dass sie bedeutende Lösungen hervorbringen können. In diesem Unvollendeten zu Vollendenden - „lebt die Pyramide der Staatlichkeit".

b) Vorbereitung

als Staats große

Eine Theorie der Vorbereitung der Staatsakte gibt es noch nicht. Sie wird geschrieben, wenn sich Verwaltungslehre und Verwaltungsverfahren der Dimension dieses Themas bewusst werden, seiner selbständigen dogmatischen Bedeutung; in der Gesetzgebungslehre hat es bereits begonnen. Wenn Staatsgröße in Staatslehre vertieft wird, muss die „begonnene Größe in der Vorbereitung" ganz sichtbar werden. Der Dezisionismus hat die Majestät des letzten Wortes im Staat gelehrt, in ihm tritt in der Tat die Endgültigkeit des Monumentalstaats hervor. Doch da er sich in all seinen Äußerungen zeigt, kann hier schon das erste Wort groß sein, jene Initiative, welche Fundamente der Diskussion schwer verrückbar festlegt, bedeutende Themen in diese Räume stellt, die kaum mehr veränderbar sind. Auch aus der Sicht der Monumentalstaatlichkeit sollte der Weg „vom letzten Wort zum ersten Wort" beschrieben werden, die Theorie der Staatsgröße in Initiative, der monumentalen Vorbereitung, die nicht nur in Dimensionen zwingt, die selbst bereits Dimension ist. Das Ende der Legislaturperiode lässt die begonnenen Gesetze als Trümmer liegen. Doch wie oft wirkt nicht ihre Größe über sie hinaus. Sie können nicht nur, sie müssen „aufgegriffen", vollendet werden, wenn sie „große Lösungen der Staatlichkeit" waren, und hier ist geradezu im Staatsrecht der Demokratie ein praktisches Kriterium zur Fassbarkeit dieses Begriffs gegeben. Und weit über die Gesetzgebung noch hinaus: Die begonnene, aber verschobene Großentscheidung der Verwaltung, der unvollendete organisatorische Aufbau - sie mahnen und zwingen den Nachfolger in die begonnene Größe, wenn er sie nicht in ihren Dimensionen ignorieren kann. Die tägliche Erfahrung lehrt: Wiederkommt nur das in großer Dimension Begonnene, das „groß Gedachte". Und „Denken" bereits ist ja ein Anfang. Ob Denkschriften sich zum Anstoß verdichten oder nicht - sie drängen sich mit einer Größe in den Diskussionsraum von Verwaltung, Staat und Volk hinein, die zum Lesen zwingt, zum Nach-Denken, in

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einer Dimension eben, die ihnen die Freiheit der Gedanken erlaubt. So wirken sie in der Staatsgröße des rein geistigen Beginns, des (noch) nicht Verwirklichten in der Politik. Wie weit sind Denkschriften „ein Anfang"? Aus der Größe ihrer Gedanken kommt allein die Antwort. Je mehr dies Vorstudien sind, um so mehr sollten sie Größe zeigen, um dann „auch nur irgendwie" in der Wirklichkeit zu wirken, wenn die Wellen der Medien sie tragen...

c) Das Unvollendete als Programm zum noch Größeren Die großen Fundamente geben die Kraft der Vollendung, das Unvollendete die Macht zum Größeren, aus dem ein Monument wird. Nur an das bedeutende Staatsbauwerk wird auch groß angebaut, nicht allein der Louvre beweist es. Hier verdichtet sich die Möglichkeit zum staatspsychologischen Zwang, und wie oft wird nicht auf solchen Wegen wahrhaft das „staatliche Ermessen auf Null reduziert" - wie in jenen Lösungen des Verwaltungsrechts, die groß sind, weil sie die vielen Gleichen betreffen. Gesetzgebung kann „dann nicht stehen bleiben" bei einer Lösung. Wenn diese schon größer ist, dann muss sie das Große erreichen. Die Verfahrensordnungen des Staates sind ein Beispiel: In einzelnen Gerichtsbarkeiten kodifiziert, müssen sie die große Zusammenfassung der einen Verwaltungsprozessordnung erreichen, und dann wird auch noch, eines Tages, die eine Staatsverfahrensordnung folgen, welche das Verwaltungsverfahren mit aufnimmt. So wird heute das Baurecht „hinausgebaut", das Sozialrecht, die Polizei wird dies erreichen und viele andere, so klein oft erscheinende Organisationen und Lösungen der Staatlichkeit. Überall wirkt hier die Kraft des Unvollendeten als Möglichkeit, wenn in ihm „schon Größe" liegt. Dies ist nicht der atemlose Lauf des Großen in das Größere, in welchem es sich selbst zerstört, sondern umgekehrt die Kraft der unvollendeten, aber bereits ausgreifenden Lösung zu ihrer Selbstvollendung in Größe. Die mögliche Pyramidalität zeigt sich schon in der Gesamtdimension, die in den einzelnen Blöcken sichtbar wird. Sie können hochgerechnet werden, sie sind bereits ein Programm der Staatsgröße; insbesondere zeigen sie schon die Enddimension, Größe als Richtung auf Größe, im Kleinen selbst erkennbar. Der Verwaltungsakt der Einzelgenehmigung wie oft ist er ein Anfang geradezu monumentaler Staatspraxis aus Präzedenzien, weil eben das Einzelne nicht in Ungleichheit liegen bleiben darf. Der Demokratie vor allem ist dieses Gesetz mitgegeben, in ihren wechselnden Mehrheiten zumal. Die Mittel eines Augenblicks sind hier ja für die Herrschenden stets begrenzt, und doch muss jede Periode versuchen, zumindest einen großen Anfang zu setzen, mehr noch: ein Unvollendetes zu schaffen, an das sie die geistige Marmortafel des Beginns heften kann - sei es auch nur der stolze Grundstein, den dann die Erde deckt. Vier oder fünf Jahre der politischen Möglichkeiten, welche Wahlen eröffnen, sind meist zu kurz, um Staatsmonumente zu errichten, lange genug dauern sie, um etwas von unvollendeter, großer Lösung zu setzen; und so ist 5*

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es an der Spitze von Verwaltungen, welche die Gestalt eines wirklichen Chefs in wenigen Jahren prägen will, zumindest in begonnener Größe. Vollendete Tatsachen müssen auch dort hervorgebracht werden, nur sie sind Steine für Pyramiden. Doch die Offenheit der Dimension nach oben müssen die Regierenden, in der Volksherrschaft zumal, wahren: Groß dürfen sie kaum je sein; also muss über ihren Werken stehen: „Wenn wir nicht groß sind, wir können es werden". Dies ist die Größe selbst des „Noch-nicht-Imperialen": nie den Zusammenbau zur großen Lösung im Kleinen ausschließen, deren Dimension offenhalten, die Monumentalstaatlichkeit in Möglichkeit, die dann so rasch zum Monumentalstaat in Hoffnung werden kann - und dies ist ein kaiserlicher Zug: potentia in spe, in fieri, in der Politik, dem Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, der bruchlosen Übergänge, und über sie hinaus. Die bezaubernde Kraft des Unvollendeten wird zum Zauber der großen Möglichkeit.

2. Wirkungsweisen unvollendeter Größe a) In Selbstverständlichkeit

in die Größe

Die unvollendete, zu vollendende „große Lösung", in all ihren Erscheinungsformen, nimmt vor allem den Aufbrüchen zum Monumentalstaat ihre Gewaltsamkeit. Hier wird dann ja nicht Fremdes verehrt; das bereits im Ansatz Sichtbare kann leicht zur „eigenen Größe" fortgesetzt werden. Jener Abstand, aus dem das Monument den Betrachter zurückstößt - den selbst, welcher an ihm arbeitet - er wird hier im bereits erfolgten Beginn verkürzt. Darin liegt der gute Sinn einer Verwaltung, welche sich „auf irgendeine Weise in eine große Lösung hinein-praktiziert", indem sie an dem Punkt beginnt und jenem. Dann wird ja „nur Bekanntes fortgesetzt". Von der „invidia temporum" war in Rom oft die Rede, sie hat frühere Größe zerfallen lassen. Doch was ist dieser „Neid der Zeiten" oft anderes als die Abneigung der Gegenwart gegenüber der Fortsetzung einer größeren Vergangenheit, deren Dimensionen sie nicht mehr ausfüllen kann, deren sie nicht mehr würdig ist? Die unvollendete Größe in der Staatlichkeit entgeht diesem Neid der Nachfahren, des Späteren. Sie lässt dem Bisherigen seine Dimension, bewahrt sich dennoch den eigenen Schwung, ist es doch, als sei früher „nur die Dimension gesetzt worden"; in ihrer Ausführung kann sich der politisch Regierende profilieren, der Nachfolger an der Spitze einer Verwaltung. Nachfolge - dies ist ein Zentralproblem gerade im staatlichen Bereich mit seinen festen Kompetenzen, und nur zu oft ein Hindernis auf den Wegen zur Größe. Wenn da immer wieder neu begonnen, alles Bisherige aufgelöst werden soll, wann entsteht endlich die große Lösung, in Planung, Ent-

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Scheidung, Organisation? Das bereits Begonnene, aber Unvollendete „erleichtert die Nachfolge" und damit Staatsgröße in vielen Einzelheiten. Es ermöglicht Regierenden und Verwaltenden, ja dem in Kritik betrachtenden Bürger, etwas wie eine Fraternité in der Zeit mit begonnener früherer Größe, zu einer Integration, welcher diese Verbrüderung fähig ist. Nachfolge bedeutet dann nicht mehr Nachordnung, nie erreichte Vorbilder. Die ganze Legitimation der Vergangenheit wird in der Gegenwart fruchtbar. Im Unvollendeten ist die Diskussion der Möglichkeit der großen Lösung bereits abgelaufen, beendet, das Ob steht nicht mehr im Zweifel; und ist es nicht eine typische Staatstechnik, auf größere Lösungen hin gerichtet, eine Lösung „dem Grunde nach" vorwegzunehmen, sie von jenen Ausführungen zu trennen, in denen dann immer noch genug Hürden zur Größe sichtbar werden? In der Grundsatzentscheidung liegt etwas Unvollendetes, und die Zwei-Stufen-Theorie des „Ob" und „Wie" ist geradezu Staatstechnik moderner Verwaltung und Gesetzgebung geworden - zu Recht, mit Blick auf eine Größe, welche hier in qualitativen Stufen erreicht wird, und auf eine Staatlichkeit, die ihre Monumentalität auch im Grundsätzlichen bereits sichtbar zeigen muss. In all dem wirkt das Unvollendete wie eine staatspsychologische Erleichterung zur Größe, und nicht zuletzt auch noch mit der ökonomischen Begründungskraft des Investitionsdenkens, das heute so großes Gewicht hat: Wenn schon soviel eingesetzt worden, geschaffen ist - lasst es uns beenden, damit nicht Aufgewendetes verloren gehe! Und investiert werden ja in der Staatlichkeit nicht nur Mittel, sondern politische Kräfte, Möglichkeiten schlechthin, Höheres zu erreichen. Sie alle sind Teil jenes politischen Kapitals, das seinen Mehrwert nur entfaltet, wenn aus dem Unvollendeten das Große wird. In allen Einzelheiten des staatlichen Handelns sind diese Erleichterungen täglich spürbar: bei jenen Staatsbauten, welche eben die geplante Größe erreichen müssen, wenn die Voranschläge noch so weit überschritten werden, und dies muss Staatsgröße ertragen; bei den „offenen Lösungen", jenen Planungen, deren mangelnde Vollendung ihre politische Anziehungskraft gerade begründet; bei organisatorischen Entscheidungen, die doch wesentlich als unvollendet immer erscheinen - im bürokratischen Denken der großen Verwaltungen, das hier eine Chance zur Staatsgröße eröffnet.

b) Die Chance einer „ Größe in Stufen " Größe wird in Stufen gebaut und erreicht; in der Stufenpyramide ist eine Grundidee der Monumentalstaatlichkeit Stein geworden. Hier scheint Pyramidenstaatlichkeit auch im Kleineren erreichbar. Monumentalstaatlichkeit wird stets von neuem zum Problem, weil der Mut zum politisch Großen fehlt. In Tagtäglichkeit kann so schwer andauernd an die große

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Lösung gedacht werden, anders aber entsteht sie nicht. Im Gedanken der Stufenpyramide macht die Staatsgröße ihren Frieden mit dieser Alltäglichkeit. Nacheinander wird gebaut, auseinander entwickelt, entfaltet, so allein kann Verwaltungspraxis großen Stiles entstehen. Doch nur dann ist dies ein Weg zur „großen Lösung", wenn darin eine Stufe der Pyramide gesetzt werden soll, nicht eine Steinschicht neben die andere - in den Sand. Demokratische Staatlichkeit kann sich hier vor dem Neid der Kritik schützen, die ihr immer wieder vorhalten wird, einer dürfe doch alles nicht wollen, nichts Großes. In den Schutz nicht nur der Tradition, sondern des „Unvollendeten - zu Vollendenden" dürfen Politik und Verwaltung aus diesem Neid fliehen. Mehr noch: Sie können dann etwas wie eine „Gleichheit in der Zeit" sich zu Hilfe rufen - muss nicht die Regierung heute Ähnliches oder dasselbe tun wie die der nahen Vergangenheit, welche schon eine Stufe der Pyramide gesetzt hatte, im Aufbau etwa größerer europäischer Strukturen? Darf sich nicht vor allem die demokratische Verwaltung auf diese Egalität berufen, die moderne Version früherer monarchischer Kontinuität, aus der heraus sie für den Bürger von heute „ebenso etwas schaffen muss" wie ihre Vorgänger? Dass dies dann so oft doch nicht in Gleichheit danebensteht, sondern in Größe darüber - wen stört es, wenn es aus der Gleichheit in Fortsetzung von Unvollendetem geboren wurde? Wachsende Erfahrung schließlich mündet in immer weiter verfeinernden Hochbau, wie sich ja vor allem in der Intensivierung der Planungen zeigt - wirkt hier nicht auch die Kraft des Unvollendeten, welche sich eben in besserem Wissen vollendet, in der Wirkung aller Kategorien heutiger Fortschrittsgläubigkeit? Aus der groß angelegten unvollendeten Lösung wächst gerade die vielfältige, schwerfällige Staatlichkeit unbewusst in Größe hinein, und das ist vielleicht ihre bedeutsamste Schwerkraft - nach oben. Die oft hier schon erwähnte Bürokratie wird darin zu Unrecht gescholten, dass sie sich wuchernd verbreite; sie schließt sich auch immer wieder in Größe zusammen, auf größere Lösungen hin, in welche sie sich unbewusst selbst hineinzwingt. c) Unvollendetes - Zwang zu „ mehr Größe " - die Folgelast Diese Stufenpyramidalität der Staatsgröße kann so intensiv wirken, derartige Gesetzmäßigkeit erreichen, dass sie geradezu in „erzwungene Größe in Stufen" führt, die Entscheidenden und ihren Staat „die Stufen hinauf in die Größe reißt." Dann wird das Unvollendete etwas wie ein Gesetz der Grandeur progressive. Weil begonnen worden ist, muss auch vollendet werden; der Aufruf zur großen Lösung wirkt zu stark, als dass man auf einer niederen Stufe verharren könnte: Die Stufungen scheinen zu eben, sie werden zur Versuchung des Höherbauens, das sich „wie von selbst ergibt". Darin wird das Problem einer „Staatsgröße als Folgelast" erreicht. Die Problematik dieses letzteren Begriffes ist deshalb so wichtig, von staatsgrundsätzlicher

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Bedeutung, sie wird es gerade bei solcher Betrachtungsweise der Monumentalstaatlichkeit. Demokratische Staatlichkeit zumal lebt in der Angst vor Folgelasten, in den Kostenüberlegungen der Gesetzgebung wie der Verwaltung wird stets heute damit begonnen, Folgelasten zu minimieren. Wahr muss aber bleiben: Wo immer Folgelast ist, da ist auch Zwang zur Größe, gerade auch im Sinne einer investiven Betrachtung. Oft entgeht allerdings gerade darin die Größe listig ihrer Kritik, dass Folgelasten zu ihr nicht erkennbar sind - oder verschwiegen werden. Und dies bleibt legitim, wenn es zur Größe geschieht. Darin wirkt die Vernunft der Verwaltungen, dass sie die Demokratie zu ihrer Größe wider Willen zwingen, in den verschwiegenen Folgelasten. Leicht wird aus Folgelast zur Größe die Größe als Folgelast: Jedes kleinere Handeln ist unmöglich, die weite Lösung muss, wenn auch im demokratischen Bedauern angesichts der Kritik, entstehen, sonst wäre „alles Bisherige umsonst gewesen". Hier ist wieder Organisation der zentrale Ausdruck staatlicher Größenentscheidung: Sie bedeutet Recht gewordene Folgelasten, schon aus Personal- und Bauverpflichtungen heraus. Unverstand kritisiert so oft die Unbeweglichkeit des Staates gerade hier - sie ist die der Monumentalstaatlichkeit. Mit solchen Folgelasten beladen schleicht sich der Staat unbeschwert in die Größe. Sie sind notwendig, damit es diese gibt; doch eine Vorsicht sollte die Regierenden begleiten, gerade in der Demokratie: Etwas vom bewusst Gesetzten muss doch immer die wahre Staatsgröße umgeben, ägyptische Stufenpyramiden wären nicht über Folgelasten entstanden. Und auch in ihnen liegt Pyramidenstaatlichkeit, sich in Stille langsam setzende Größe.

3. Machtprämie aus unvollendetem Großen a) Weiterwirkende

Legitimation des großen Anstoßes

Eingeleitete große Lösungen müssen vollendet werden - von denselben möglichst, welche den Anfang setzten. Für Planungen gilt dies ebenso wie für eine groß begonnene wirtschaftliche Politik des Aufschwungs, für mächtige Staatsbauten wie selbst für Kriege. Im breiten Strom werden die Pferde nicht gewechselt. Das Großunternehmen der Staatlichkeit wird so eine Maxime der Machterhaltung: Bedeutend beginnen, noch nicht vollenden, das Ende aber in Sicht - dies ist nicht eine Prämie des Programms, sondern der begonnenen Machtäußerung, Ausdruck einer „Prämie der Macht", welche hier aber nur die große Dimension verleiht. Wenn nämlich klein begonnen wurde oder Kleines, ist es rasch erschöpft, kann von beliebigen Herrschenden beendet werden; und wenn nichts Großes mehr ansteht, am Ende einer Legislaturperiode, warum sollte dann die alte Regierung bestätigt, der bisherige Chef einer Verwaltung verlängert werden? Machtwechsel, auf allen Ebenen, liegt doch bei erschöpfter Größe so nahe, bis hin zum Regime-, zum

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Staatswechsel, wenn bisherige Staatlichkeit nichts mehr Großes zu bieten hat. Darüber sollten diejenigen nachdenken, welche den Plänen der großen anarchistischen Utopie Widerstand leisten - oder auch nur einige Jahre weiterregieren wollen: Sie müssen sich mit großen Staatsvorhaben an der Macht halten, ihren Staat befestigen. Der Machtwechsel ist eine Maxime demokratischer Politik und Macht, er verlangt „immer die Kraft zu großen Lösungen"; einer politischen Richtung, die sie nicht mehr einzusetzen, die den Vielen nichts mehr an großem Beginn zu bieten weiß, ihr wird im Grunde die Macht gar nicht entzogen, denn sie hat sie bereits verloren, da sie nichts Großes beginnen konnte. Im Grunde aber gilt für die Staatlichkeit als solche dasselbe, ist sie doch immer nur eine gewisse Stufe der Verfestigung politischer Kraftkonstellationen in einer Demokratie: Wo nichts mehr zu vollenden ist, wechselt man die Regierung, eines Tages den Staat. Die große Lösung treibt in ihre Vollendung, manchmal, aber nicht immer, zu ständig weiteren großen Lösungen, in jener gefährlichen Dynamik, an der so viele zerbrochen sind, die Großes wagen wollten. Dies ist auch die entscheidende Scheide zwischen versprochener oder zu beginnender Staatsgröße als Wagnis auf der einen, unvollendeter Größe als weiterwirkender Legitimation auf der anderen Seite. Der „große Krieg", in welchem der Bau eines Reiches vollendet werden sollte, in Frankreich, Deutschland und anderswo, hat eben nicht unvollendete Größe zu Ende gebaut, er hat neue große Lösungen versprochen, gesucht, im Grunde nur riskiert. Sie legitimieren die Machterhaltung, die Fortsetzung der Arbeit am Großen erst, wenn auch sie, als ganz neuer Beginn, von Erfolg gekrönt sind, wenn die Schlacht an der Marne nicht verloren geht. Die Kraft des in Größe Begonnenen, Unvollendeten, zur Monumentalstaatlichkeit ist von ganz anderem machterhaltenden Gewicht als das große Wort, das reine Versprechen, dem solches auch zuzeiten eigen sein mag. In der Vollendung des großen Ansatzes liegt ja bereits eine mäßigende Selbstbeschränkung der Monumentalstaatlichkeit, die von Anfang an nicht mehr verspricht, als bereits ins Werk gesetzt ist. Deshalb sollte dies eine Mahnung sein: Ihre Kraft kommt der Staatlichkeit selten aus den reinen Worten, oft aus den ins Werk gesetzten Versprechen. Denen vor allem, die heute ganz Großes, Unvollendetes, ja geradezu Unvollendbares wagen aus der Staatlichkeit heraus, den sozialen Reformern, mag es eine Warnung sein: Wenn alles in die Zukunft gelegt wird, der große Anfang nichts als ein Wechsel auf dieses Unbekannte ist, so „hält das die Macht nicht", in der Beendigung des unvollendeten Großen, es entlegitimiert sie in der Enttäuschung einer Pyramide, die nur Fata Morgana war.

b) Die große Aufgabe - Ruf in die Macht Immer haben die großen Lösungen der Staatlichkeit die mächtigen politischen Kräfte gerufen, die große Führung zu ihrer Vollendung. Die Weltkriege der Franzo-

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sischen Revolution riefen Napoleon, ihre sozialen Riesenprojekte, von zu schwachen Revolutionären begonnen, haben den Stärkeren in die Macht gezogen, den Kaiser als Vollender der Revolution. Mit dem Neubeginn der Staatlichkeit in Deutschland hat Konrad Adenauer die wahrhaft große Lösung einer deutschen Außenpolitik der Befriedung aus konsolidiertem Bündnis heraus mit dem ersten Akt begonnen, der Entscheidung zum Westen. Die Kraft zum zweiten Akt fehlte seinen politischen Erben, 1969 wurden andere Kräfte zu solcher Lösung in die Macht gerufen. Die großen Entscheidungen der Staatlichkeit lassen sich nicht aufhalten. Sind sie einmal im Lauf, so müssen ihnen die Mächtigen, der Staat selbst - nachlaufen. Der Monumentalstaat ist dann in „großer Lösung" vorgeformt, er will unbedingt eines Tages in ihr in Erscheinung treten, sie prägt ihn in die Zukunft hinein. Es ist, wie wenn die Lösung ihre Größe schon vor der ganz großen Verwirklichung zeigte; und in diesem Sinne wieder ist Organisation die Vorwegnahme einer Lösung, welche mit ihr begonnen wurde und nun eigentlich - abzulaufen hat. Darin kehrt sich dann bürokratisches Gesetz sogar um: Nicht die Organisation erweitert sich selbstgesetzlich, sucht sich ihre großen Aufgaben - erst sucht sich die große Lösung ihre große Organisation, in ihr ist sie bereits gefunden. Staatsgröße ruft die monumentale Staatsorganisation in die Macht und erhält sie dort - zu ihrer Vollendung. Diese Weisheit aber sollte Regierende stets begleiten, zuerst in der Demokratie: nur in Dimensionen wagen und beginnen, zu deren Erfüllung die Kräfte ausreichen können, nimmt man die stärkende Kraft des Vollendungszwangs unvollendeter Staatsgröße noch hinzu. Wird dies missachtet, so ist mit dem allzu großen Anfang bereits der eigene Machtverlust Programm geworden, die große Lösung ruft sich einen anderen, Größeren. Ein Einwand bleibt gegen die Größe des Unvollendeten: dass sie in ihrem Wesen (noch) nicht monumental sei, weil das Denkmal stehen muss, um zu mahnen. Doch auch darauf weiß die unvollendete Pyramide eine Antwort: Es ist, als verkürze hier der Raum die Zeit, in einem optischen Effekt: Der Riesenbau in der Ferne wirkt heute bereits ganz nah, und nur dann ist all dies Begonnene, zu Vollendende, mehr als eine Fata Morgana. Das ganz groß Gedachte und Gewollte ist in diesem Sinne bereits heute „ganz" politische Wirklichkeit. Das Gedachte als Begonnenes, darin bereits Wirkliches - Gedanken als Wirklichkeit: Dies hat schon der deutsche Idealismus mit Hegel zu Ende gedacht; der Pyramidenstaat bestätigt es selbst in seiner in Gedanken begonnenen Größe.

V. Integrationskraft der Staatlichkeit aus der „großen Lösung" Der Betrachtung der Erscheinungsformen demokratischer Staatsgröße war bereits die Integration begegnet, eine Staatsgröße, die sich in der Fraternité der

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Vielen zeigt. These war dort, dass notwendig solche Zusammenschlüsse große Lösungen hervorbringen, die Demokratie also zu dieser Monumentalstaatlichkeit verurteilt ist. Hier ist die andere Seite des Integrationsvorgangs der Staatlichkeit zu betrachten: die zusammenfassende, staatserhaltende Kraft, welche Teilnahme und Teilhabe am Großen vermittelt, den Herrschenden, Verwaltenden, den Bürgern. Dort führte der Weg von der Integration zur großen Lösung, hier von dieser zurück zur verbindenden Einheit. Im Mittelpunkt steht nun aber jener Teilhabegedanke, Ideal und Hoffnung gegenwärtiger Demokratie. These ist nun, dass er sich nur in Monumentalstaatlichkeit wahrhaft verwirklicht.

1. Die notwendige Partizipation an der Größe Demokratische Staatsdoktrin ist, dass das typisch, das legitim Staatliche nur durch die Zusammenarbeit aller entstehen kann - also eben in Größe; tägliche politische Erfahrung lehrt, dass das große Staatsunternehmen allein wirklich zusammenfasst, integriert, die Vielen ruft, sich durch deren Partizipation in seiner Größe bestätigt. Die deutsche Feudalität ist in diesem Integrationsunternehmen an der Großlösung des Reiches gescheitert, die Fürsten setzten ihr zuviel an eigener, beginnender, zu vollendender Staatsgröße entgegen. Es fehlte die große, gewissermaßen basis-organisierende Vorentscheidung der Egalität, aus der heraus das große Unternehmen seine Anziehungskraft gleichmäßig auf die vielen Gleichen ausüben kann. Integrative Teilhabe an Staatsgröße vollzieht sich heute in konzentrischen Kreisen: - Kooperation ist ein gutes, demokratisches Wort, in den Verwaltungen des Staates hat der Mitarbeiter den Untergebenen abgelöst. Darin ist heutige Staatlichkeit ihrer Legitimation aus Größe nähergekommen. Sie verlangt eine Mitarbeit, in der sie alle Rädchen der Staatlichkeit integriert, anzieht, begeistert, in Teilhabe an einem großen Werk. Diesen Status positivus gewährt die freiheitliche Volksherrschaft nicht nur dem Bürger, sondern auch all ihren organisierten Helfern. Wie es für die Beamten ein Sonderrechtsverhältnis als Status negativus gibt, so auch ein besonderes Gewaltverhältnis des spezifischen Status positivus, für die Mitarbeit an großen Aufgaben. Darin sollen sie auch tagtäglich bezahlt, ihre Besoldung muss dadurch ergänzt werden. Hier liegen Aufgaben öffentlicher Dienstpsychologie von morgen, welche weit über die Motivationsmodelle heutiger Verwaltungslehre hinausreichen: Der Monumentalstaat allein kann auf Dauer seine Beamten an sich fesseln, in der Partizipation an der wahrhaft „großen Lösung"; und dort gelingt täglich Staatlichkeit, wo dem kleinsten Beamten im kleinsten Verwaltungsakt die große öffentliche Ordnung sichtbar bleibt. - In konzentrischen Kreisen wirkt diese partizipative Integrationskraft noch weiter hinaus. Da sind zunächst alle Bürger, welche durch solche Veranstaltungen in

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ihren Interessen berührt sind, darin immer mehr zu Partnern der Staatlichkeit werden, zu Mitarbeitern derselben in einem weiteren Sinn. Ziel und Hoffnung moderner Verwaltungsstaatlichkeit ist es, dass sich hier eine „Mitarbeiterschaft der Betroffenen" entwickelt, eine beliehene Unternehmerschaft in vielfacher Stufung, alle durch die Lösungen der Staatlichkeit interessiert, angezogen, integriert. Solche ausgreifende Kraft aber kann nur die große Lösung ausstrahlen, sie allein zerteilt die Bürgerschaft nicht in vielen kleinen, geradezu partikular wirkenden Interessenverfolgungen, in denen der Staat Gewaltunterworfene einfängt. Die Planung ist hier nicht nur eine Verwaltungsform, sondern ein Staatsmodell der Monumentalstaatlichkeit: viele Beamte an der Arbeit, mehr „Bürgerexperten" noch befragt, noch mehr Betroffene im Dialog - das Ganze mit der Integrationswirkung der großen, gemeinsamen Partizipation an einer staatlichen Weiten-Lösung. Hier liegen sogar die Chancen der Betroffenheits-Demokratie: Wenn die Staatlichkeit nicht in Wohnküchen getragen wird, in den Egoismus von Elternzirkeln zusammenschrumpft, wenn die Betroffenen zur Teilhabe an der Entscheidung über Großes gerufen werden, siegt nicht ihre Kleinheit, sondern die Dimension des Staates, und er wird darin größer, dass er sie ruft. Die Lehre heißt: Betroffenheitsdemokratie kann es nur bei großen Lösungen geben. Den Teilhabenden müssen sie als solche sichtbar gemacht werden, auch wenn es um das quantitativ Kleinere geht. - Noch weiter hinaus wirken die Integrationskräfte der Partizipation, auf die Gleichgültigen, welche durch die Dimension einer Staatsentscheidung wenn nicht zur Mitarbeit, so doch in ein Interesse gezwungen werden, aus ihrer Indifferenz heraus. Die Staatsgröße speit die Lauen aus ihrem Munde aus, sie zwingt zum Ja oder Nein. Und selbst Bejahung bedeutet bereits Teilnahme, Teilhabe und letztlich auch, dies ist ein Geheimnis der Monumentalstaatlichkeit, das Nein, die Kritik. - Staatsgröße sah diese Betrachtung bereits jenseits aller Kritik stehen, über sie hinauswachsen. Aus der Sicht der Partizipation gibt sie der staatlichen Gestaltung noch größere Kraft: Mit Lösungen, die dieses Wort verdienen, zwingt sie zur Stellungnahme, zur notwendigen Beschäftigung, zur kritischen Teilhabe. Eine laufende Erfahrung ist es dann, dass sich rasch etwas formiert wie eine „gemischte Kritik" um das große Unternehmen, Bejahung und Verneinung im Gemenge, immer mit einem Versuch des Beitrags. So mächtig ist der große Vorschlag allemal, dass er die Kritik aus der totalen Negation wirft, durch seine Dauer die Beharrlichkeit des Zweifels schwächt. - Doch die Größe der Diskussion aus der Monumentalität der Entscheidung zwingt nicht nur in die Richtung der Bejahung, sie integriert schon durch ihre Ablenkungswirkung von anderen Initiativen. Wenn sich der Staat groß in Bewegung setzt, beweist das die Macht des ersten Wortes an sich; er monopolisiert die politische Initiative, schlägt die desintegrativen Kräfte nieder, welche schon darin so gefährlich wirken, dass sie „in andere Richtungen wollen", überhaupt -

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„dem Staat Staatliches vorschlagen". Staatszögern muss rasch in Staatsgröße aufgefangen werden, immer muss etwas Bedeutendes unterwegs sein. Nicht zuletzt zwingt das große Unterfangen selbst die Kritik, die politische Opposition, zu einem Denken in Alternativen, die nur ebenso groß sein können - damit aber in das Staatskonstruktive hinein. Die Kraft deutscher Staatlichkeit, die sich von Parteipolitik zu Staatspolitik steigern konnte, im Gespräch zwischen Regierung und Opposition, liegt eben darin: Immer wieder wurden durch große Anläufe, mächtige und weite Aufgabenfelder der Staatlichkeit, die Gegner in die Alternativität der großen Lösungen gezwungen, die schon durch ihre Dimension in Staatlichkeit konvergierten, die selbst in ihrem Inhalt sich bald angleichen mussten, weil es eben außerhalb von Größe nichts anderes mehr gibt. Die Chance der Bundesrepublik Deutschland lag in ihrem geschichtlichen Zwang zu den großen Anstrengungen des Wiederaufbaus, dem Zwang zu den großen Lösungen der Bündnis- und Europapolitik, einer sozialen Befriedung, die all dies allein möglich gemacht hat. Hier nahmen wahrhaft alle an großen Aufgaben teil, ein Monumentalstaat hat sie integriert - der es nicht sein wollte.

2. Widerstand gegen den Monumentalstaat? Die Integrationskraft, welche von der Teilhabe an großen, gemeinsamen Staatswerken ausgeht, hat stets den Widerstand gegen Regime isoliert und gebrochen, welche sich aus solchen Lösungen zu legitimieren verstanden. Was wollte die russische Emigration gegen den Aufbau russischer Monumentalstaatlichkeit setzen, was der deutsche Widerstand gegen die staatlich-gesellschaftlichen Lösungen der Volksgemeinschaft? Widerstand legitimiert sich aus der Gewalt, gegen die er sich wendet, dort hat es ihn immer gegeben, und auch in Deutschland an Stellen, wo nicht Lösung war, sondern nichts als Gewalt. Die Integrationskraft der großen Staatsbauten, im weitesten Sinne des Wortes, auf die „Massen", ist vielleicht nirgends stärker fassbar, als im Erfolg autoritärer Regime in großen Werken der Innenpolitik; Kriege und Siege sind zwar selten große Lösungen wie jene. Zu ihnen aber kann der Widerstand nicht in Alternative treten, aus sich selbst heraus hat er keine Größe. Der deutsche Widerstand war darin allein legitim, dass er sich gegen Gewalt wendete; wie hätte er eine große, integrative Lösung gegen jene setzen können, welche damals versucht wurde, versprochen? Moral allein aber ist nichts gegen den Monumentalstaat, auch in seinen totalitären Formen. Er hat Dimensionen durch seine geplanten großen Lösungen geschaffen, wer sie nicht will, muss den Raum durch andere, noch größere vielleicht, ausfüllen - gerade dazu aber lässt ihm das Regime den Atem nicht. Wer nur im Widerstand Größenwahnsinn anklagt und bekämpft, bleibt wirkungslos; wer dagegen eigene Größe setzt, den Diktator in gewaltig gestürzter Größe vor ein historisches Gericht stellen kann, der allein ist politisch voll legitimiert, aus Staatsgröße. Dies war Geheimnis und Chance des Charles de Gaulle, darin ist sein Widerstand allein staatsgründend geworden in Europa, dass er mit neuer Staatsgröße antrat. Kommunistischer Widerstand aber hatte immer in

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einem eine Chance gegenüber allen anderen Formen der Machtablehnung: Er zeigte ja die Fahnen eines Monumentalstaates, demgegenüber bestehende Staatlichkeit dann nichts ist als klein, Zwang, reine Gewalt - in Gewalt auch zu brechen. Tragik und Triumph des Widerstandes ist Beweis für die unvergleichliche Kraft der partizipativen Staatsgröße.

3. Staatszentrenbildung durch Staatsgröße Kraft der Kernintegration Der Monumentalstaat wirkt nicht nur blockhaft und als Einheit, als „eine große Lösung", mag er auch immer wieder in dieser Form gerade begegnen. Wie jedes Sonnensystem strahlt er nur in der Konstellation vieler Kerne. Integration bedeutet zwar die Zusammenfassung möglichst vieler Bürger zur Einheit, aber auch den möglichst festen Zusammenschluss im Namen der großen Staatslösung; hier soll dies letztere noch beschäftigen. In der Weimarer Zeit wurde mit Recht gefordert, die Bürger sollten „im Namen von etwas einig sein", von Werten, auch vielen, verschiedenen. Doch es müssen stets - gerade das Schicksal dieser Republik hat es gezeigt - feste Kerne sein, welche sich anziehen und zusammenschließen. Bürger sammeln sich in der Burg, im festen Kern ihrer Mauern, daher haben sie ihren Namen, und sei es auch die Wagenburg des verzweifelt großen Widerstandes. Kernintegration, ein sich Scharen um feste, große Lösungen der Monumentalstaatlichkeit, mehr oder weniger sichtbar - dieser Vorgang macht doch den Menschen zum Bürger. In der Demokratie zumal sind nicht alle Bürger im Namen derselben Großentscheidungen einig mit anderen, scharen sich mit diesen um ihren Staat. Jede Gruppe sieht ihn als den ihren, in einer Pluralität, deren Vielfalt eben vor allem eine ist: die der großen Dimensionen, welche auf die Angehörigen der jeweiligen Gruppe politisch wirken, sie überhaupt erst zu einer solchen zusammenschließen. Dies ist das Problem der Staatsbejahung vielfach sich überschneidender einzelner Gruppierungen, die sich, in ihrem Herzen mehr noch als in ihrem Geist, um einzelne große staatliche Lösungen scharen, den Staat in deren Namen tragen, ihm aus ihnen heraus ihre partizipative Kraft geben: Die einen werden integriert vor allem durch die Entscheidung der großen sozialen Lösungen, andere im Namen einer schier grenzenlosen Weite liberaler Räume zur wirtschaftlichen Prosperität, wieder andere in der Größe der kulturellen Dimensionen, welche ihnen ihr Staat eröffnet, und einer Freiheit, der sie dort begegnen; und wer wollte auch jene kleinere Gruppe gering achten, welche den Staat als die große Verteidigungslösung sieht, ihm ihre Teilnahmekraft im Namen dieser Lösung mitgibt, in die sich im Augenblick der Gefahr dann doch rasch auch viele andere stellen? Dies vielleicht war Größe - oder Illusion - des Wilhelminismus, dass er nach den befriedenden Lösungen der späten Bismarckzeit, im Sozialen wie im Staats-

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Kirchlichen, hoffte, die Bürger würden sich alle um verschiedene große Lösungen dieser Staatlichkeit scharen, Konservative wie Arbeiter, Katholiken wie Liberale, alle sich drehend um die Sonne der Hohenzollern-Größe. Etwas von solcher Hoffnung begleitet die Staatlichkeit in Deutschland auch heute noch, ohne Reich und Kaiser. Integrationskräfte verschiedenster Art entfalten diese einzelnen Kerne, und in ganz unterschiedlicher Stufung, ständig auch wechselnd. Große soziale Reformen mögen den Arbeiter zuzeiten enger an den Staat binden, dann wieder eine Liberalisierung der Wirtschaft deren Führungskräfte und die freien Berufe; Aufgabe der Staatlichkeit ist stets eine Dosierung seiner monumentalen Zentripetalkräfte, zur Erhaltung des integrierenden Sonnensystems der Partizipation an Großlösungen in der Gemeinschaft. Bewusst bleiben muss nur immer, dass lediglich aus größeren Lösungen jene Teilhabe erwachsen kann, welche der Staatlichkeit Bejahung, Integrationskraft bringt, in den Abstufungen der Mitwirkung des Interessierten, des staunend, aber bejahend Betrachtenden. Die Kraft dieser Integration liegt in ihrer Vielfalt, in der sie zwar kaum abschätzbar, vor allem aber auch nicht in Staatsverneinung leicht zu bekämpfen ist, solange diese überall großen Lösungen begegnet, um die sich die Kerne der Bürgerakzeptanz gebildet haben. Bedeutende politische Integration zur Staatlichkeit wirkt ja nicht in der reinen Gleichartigkeit des Quantitativen. Vielfache, bereits vorintegrierte Einheiten, die ihrerseits Quantitäten zur Qualität führen, werden zusammengeschlossen, in Stufen staatlicher Großlösungen, in deren Namen die Einheit hergestellt wird. So wird einerseits jeder Bürger „nach seiner Façon selig", erfasst in dem, was gerade er beizutragen vermag, was ihn berührt, und es bleibt doch die Kraft des „großen Umstandes" erhalten, der sich um die bedeutende Entscheidung bildet. In Vielfalt und Stufung der Integrationswirkungen großer Staatsentscheidungen spiegelt sich auch die Vielfalt eben dieser Staatsgrößen wider, welche hier als Pluralität verstanden werden müssen, und doch immer wieder eines zeigen: die gemeinsame Größe dessen, auf den sie zurückführen, eben des Staates. Aus der Sicht der Integration ist es also fruchtbar, wenn eine Staatlichkeit, ein politisches Regime, nicht auf eine einzige Mammutlösung setzt, ihr alles unterordnet, wenn es vielmehr versucht, vielfältige Größe überall zu verbreiten, aber immer eben in einer bestimmten Dimension, aus der sich noch Integrationskraft ergeben kann.

4. Die begeisternde Teilnahme an der Staatsgröße Von der Begeisterung war bereits die Rede, welche schon aus der Betrachtung der Größe erwächst. Hier ist das Thema nochmals aufzunehmen in der begeisternden Wirkung der Teilhabe an staatlicher Größe; es ist ein Grundproblem politischer Psychologie.

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a) Demokratie in Begeisterung Dies ist eine Schicksalsfrage, gerade an die heutige Volksherrschaft: Braucht nicht eben sie, die sich so weit verbreitert in die kleinen Bürger hinein, soviel Kälte in ihrem abstrakten Normenapparat zeigt, nicht nur die Wärme, sondern die große Begeisterung? Überall soll sie geweckt werden, in politischer Bildung und innerer Führung, und viele wundern sich, warum sie so wenigen „Idealen" auf diesen Wegen begegnen, warum die Jugend sie nicht sieht, trotz all dieser Anstrengungen. Hier wird so oft die Größe der Staatlichkeit verfehlt, sie kann nicht nur in Unerreichtem oder gar illusionär Politischem geboten werden, in fernen Zukunftshoffnungen. Erreichbar Großes muss den jungen Bürgern vorgestellt werden, sonst kommt in dieser Politik nicht einmal mehr die Möglichkeits-Kunst dessen zum Ausdruck, was große Wirklichkeit werden kann. „Ideal" muss im platonischen Sinne genommen werden, nicht in dem der totalen Abstraktion. Da muss etwas greifbar sein, aus dem sich „abziehen" lässt, hinaufdenken - eine bereits realisierte Staatslösung, deren Dimensionen höher reichen. Für die Träger des Staats willens kann man sie kaum begeistern, die Vielen; Altruismus wird häufig gepredigt - im eingeborenen Elitarismus der Jugend geht er stets rasch vorüber. Also kann die Begeisterung nur wachsen aus den großen Lösungen auch demokratischer Staatsformen. Zu ihnen allein können sich diese Bürger bekennen, nicht zu den zu schützenden Vielen, sie bleiben ja immer übrig; warum sollte der in die bewaffnete Macht verpflichtete Jungbürger sterben wollen? Man muss ihm schon die Freiheit vor Augen stellen, die ganz große Staatslösung. Jener stille Enthusiasmus, der zum Sterben bereit ist im Verteidigungsfall - wann konnte man ihn für kleine Staatsmechanik verlangen? Die wehrhafte Demokratie einer äußeren Wehrbereitschaft, einer inneren Sicherheit, in der niemand zum Sympathisanten des Terrors wird - sie verlangen nicht den knarrend sich dahinschleppenden Verwaltungsapparat, sondern immer wieder Lösungen, in deren Namen ebenso große Opfer gefordert werden dürfen. Die Demokratie gerade, welche keine „großen Männer" zu zeigen hat, muss deren Bestes vorweisen: die großen Entscheidungen; und es müssen Lösungen sein „zum Mitmachen", ein staatliches do it yourself, das dennoch nicht klein ist.

b) Integrative Begeisterung für das gemeinsame Werk Mitwirkung an kleiner Staatlichkeit ist Staatsdienst, Mitarbeit an großer wird staatstragend. Dies geht weit über Staatsromantik hinaus, es ist gegenwärtige Bürgerpsychologie. In die Mitwirkung an Bedeutendem wirft der Einzelne seine ganzen Kräfte; wenn er es in seinem Staate nicht findet, wird er als Entwicklungshelfer ausziehen, um es in fremder Staatlichkeit zu leisten. Seine eigenen, ganz persönlichen Größenträume will er hier im Staat verwirklichen, der er - ganz demokratisch gedacht - in dieser Mitarbeit selbst ist. Andere Großunternehmen

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solcher Art und vergleichbare Begeisterungskraft - wo wollte man sie finden, wenn sich aus dieser selbst Kirchen zurückziehen? Durch die Begeisterung, welche eine große Staatslösung vermitteln kann, werden in ihrer Geistigkeit die höchsten gedanklichen, in ihrem Altruismus die besten Kräfte der Bürger geweckt. Es ist wie ein großes „es muss sein", mit dem die Kreuzzüge begannen, wenn eine große Lösung alle braucht und alles. Wenn aber Begeisterung ein irrationales Kollektivphänomen darin wird, dass alles gemeinsam getan wird, vermittelt sie doch gerade dadurch besondere integrative Kräfte, in einer von der Gemeinde Christi geprägten Kultur; sie lebt aus einem Enthusiasmus, in welchem sich die Glieder der „täglichen großen Lösung" hingeben, der Feier eines Geheimnisses. Doch hier ist nicht nur Kollektivismus; politische Begeisterung aus großer Staatslösung und zu ihr wirkt ganz individuell, integriert gewissermaßen den Menschen in der Mitwirkung zum Bürger. Er stellt seine Kräfte in den Dienst des Größeren, und durchaus in diesem Sinne ist Beamtenethos heute noch immer Wirklichkeit und in vielen kleinen Ausprägungen fassbar, mag dort auch so wenig begeisternd erscheinen. Der Miliz-Bürger in der Wehrübung handelt und opfert auf die große Lösung des Verteidigungsfalls zu, und der junge Mensch kommt nicht ohne Begeisterung über die schweren Stunden dieser Zeit hinweg. Hier wird die Staatlichkeit zur „Größe ad personam", sie verehrt der Bürger als eine politische Gottheit nach eigenem Bild und Gleichnis. Er appropriiert sich Staatsgröße in sein Leben hinein - dies ist der Sinn des Aktivbürgers, des Trägers der Souveränität. Man mag all dem eine müde, oft traurige Wirklichkeit entgegenhalten, in der alles funktioniert und nichts begeistert. Doch man sollte die Menschen des technischen Zeitalters nicht unterschätzen: Auch wenn sie ihre Begeisterungen nicht wie früher auf der Stirn tragen, sie sind noch immer bereit, für sie zu sterben - vor allem aber zu leben. Und solange man noch das Hohe Lied der Demokratie singt und deren Aktivbürger preist, darf man diesen Gedanken nicht den Vorwurf der Wirklichkeitsferne machen. Wenn es solche Begeisterung nicht mehr gäbe, sie müsste geschaffen werden - in großen Lösungen. Der höhere Sinn der Demokratie ist es, dass sie nicht nur den Bürger im Staat, dass sie „den Bürger als Staat will", so groß wie seine Gemeinschaft, welche die höchste platonische Idee des Menschen im Sinne Hegels bedeutet. So groß wie der Staat aber wird der einzelne Bürger nur in einer staatsannähernden Begeisterung, deren Gegenstand der Monumentalstaat ihm bietet.

c) Zusammenfassung der Entscheidungsträger Hierarchie und Team

in Großlösungen -

Große Unternehmen begeistern, aus ihnen wächst Motivation zu wahrer Mitarbeit. Doch darüber hinaus stellt sich im Staat, mit seinen Riesenapparaten und -bürokratien ein besonderes Problem: Wie soll überhaupt die viele, vielfältige Mitarbeit zusammengefasst, zu jenen Einheiten integriert werden, in welchen allein

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dann Staatlichkeit fassbar wird, vor allem aber wirksam? Die großen Unternehmen der Wirtschaft bereits kämpfen hier mit steigenden Schwierigkeiten, doch sie überwinden diese mit den Zwängen moderner kooperationsverpflichtender Technik, vor allem aber in der Zusammenfassung zur einen wirtschaftlichen Aufgabe der Produktion der ökonomischen Güter, in Profitmaximierung. Hier wird für den Staat stets ein psychologisches Defizit bleiben, das durch Managerverwaltungen nie voll auszufüllen ist. Vom Zerfall eines Wirtschaftsunternehmens wird kaum je die Rede sein, die Desintegration der Staatlichkeit ist immer wieder in der Geschichte zur Gefahr geworden, in jener Feudalität der Auseinanderentwicklung von Regierenden, Verwaltenden, ja ausführenden Organen. Mit Problemen solcher zentrifugaler Feudalität kämpft die Staatsorganisation mehr und mehr, zumal in einer Demokratie, welche möglichst viele Entscheidungsträger an allen Stellen einsetzen möchte, schon aus ihrem Machtmisstrauen heraus. Das Team hat sie hier entdeckt, überall in Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung will sie es einsetzen, in politischer Entscheidung noch weit über technische Zwänge hinaus. In dieser „Demokratisierung" macht die Volksherrschaft Front gegen die „hierarchischen Strukturen" der Vergangenheit - sind sie nicht die des Monumentalstaates, löst er sich nicht im Team auf - oder ist dieses gerade in seinem Namen gefordert, effizient? Das Thema dieser Betrachtungen ist bisher nirgends zur Legitimation der Hierarchie an sich geworden. Dass das menschliche Bild vom Staat den Kopf verlangt und die ausführenden Arme, ist politisches Gemeingut, seit in seinem Namen die rebellierende Plebs vom Aventin aus rückgeführt wurde in die römische Größe. Doch die große Lösung ist nicht die mächtige Spitze, nie liegt sie allein in ihr, von dort können nur punktuelle Schläge ausgehen. Überkonzentrierte Hierarchie, welche Staatsgröße bei sich monopolisieren wollte, auf allen Ebenen, hat nie volle Begeisterung wecken können, daher stets zuwenig Integration geschaffen. Die Lösungen, selbst „oben" groß konzipiert, können dann von Untergebenen nur sklavisch verkleinert werden. Minister und Vorgesetzte mögen zwar solche Entscheidungen „groß sehen", doch ihre Kraft reicht fast nie in die einer Pyramidenstaatlichkeit hinauf. Sie befehlen immer wieder das „kalte Große", das ohne Akzeptanz gehört, unten „aufgelöst wird". So bedeutend sind kaum je diese Entscheidungsträger an der Spitze, dass sie große Lösungen sozusagen als geistiges Eigentum an die Untergebenen zur Ausführung ausleihen könnten, damit es ihnen persönlich ad maiorem gloriam wieder zurückkäme. Die Hierarchie findet ihre Grenze an der Unmöglichkeit der Personalisierung wahrhaft großer Lösungen, zuallererst in der Demokratie. So ist denn das Thema „Staatskraft aus partizipativer Integration" eine überzeugende Begründung für die Grenzen der Hierarchie, für die Kraft einer Zusammenarbeit, die man heute Team nennt, die es immer gegeben hat: Die große Aufgabe, welche in der Staatlichkeit nie der gemeinsame Profit ist, schließt zusammen, sie allein ermöglicht Teamorganisation allgemein und in all ihren Einzelheiten, kann doch das Kleine von einem erledigt werden, der sich hier seine desintegrative feudale Befestigung in der Staatsgewalt schafft. An den Großaufgaben ist denn auch 52 Leisner

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Teamwork überall gewachsen, seine Notwendigkeit dort bewusst geworden. Wer die Staatlichkeit der großen Lösungen in der Praxis sucht, wird sie zuallererst in solchen Formen der Zusammenarbeit finden. Hier ist nicht nur Erfahrungsaustausch für die eigene Tätigkeit, Optimierung in der Erledigung des vielfältig Kleinbleibenden, im Team werden Organisationen für Lösungen gebildet, die Organisation ordnet sich der Lösung unter, diese entsteht, weil jene sich ihrer ganzen Größe bewusst wird. So lässt sich das Wesen des Teams aus der Größe, deren Essenz in solcher Kooperation erfassen. So stark wird das Persönliche integriert, dass es geradezu verschwindet in einer Gestaltung, in welche es sich verströmt. Wenn diese klein sein sollte - wozu dann dieser Aufwand, immerhin auch dieses Opfer persönlicher Ambitionen? Dies ist also wirklich eine Organisationsform „aus großer Staatslösung", die im Staatsbereich mindestens ebenso legitim ist wie in großen Unternehmen der Wirtschaft; was als Auflösung lastender Kolossalität des Staates erscheint, ist in Wahrheit die natürliche Organisationsform der Monumentalstaatlichkeit als Raum der großen Lösungen. Nur zu einem darf die Teamarbeit nicht degenerieren: ihrerseits zur Kolossalität des nivellierten, bürokratischen Riesenbetriebs, in den alles eingebunden wird. Wenn Autorität und Team nicht in einer Gleichgewichtslage verbunden, Teamwork erst durch letzte Hierarchisierungen ermöglicht wird, so tritt im Riesenteam oder in der Unübersehbarkeit dieser Lösungen wieder die Gefahr ihres Gegenteils, der Überhierarchisierung ein: dass dann der „kleine Mitarbeiter", angesichts seiner eben doch fraktionierten Gestaltungsaufgaben, die Begeisterung verliert, weil er, der allein gar nichts mehr bedeutet, in seiner Arbeit nicht die Größe des Staates wiederfindet, sondern nur seine eigene Kleinheit im Team, welches die Staatsmaschine symbolisiert. Als „Großbetrieb" bricht es alle Begeisterung in seinen Räderwerken, es mahlt klein - und wer wollte sich für einen „Betrieb begeistern", ist dies nicht ein Problem der Gegenwart? Dies alles sind Herausforderungen für demokratisch Regierende. Staatsgröße und Großlösungen können sie kaum je selbst, in ihrer Person, für ihre Mitarbeiter inkarnieren, schon die Staatsform erlaubt es nicht. Im technisierten Massenstaat brauchen sie die Großorganisation - woher soll ihnen die „Beamtenintegration" kommen? Großlösungen müssen sie also immer in den Vordergrund stellen, ihren Staat selbst als integrierte und integrierende Großlösung im einzelnen Team und über dieses hinaus. Inkarnation der Staatsgröße war eine Kategorie des Absolutismus; die Demokratie verlangt, im Grunde ebenso unbescheiden, mit einem anderen Wort dasselbe: Identifikation der Regierenden und Beamten mit ihren Aufgaben, mit ihrer Arbeit. Human kann nur eine Arbeitswelt sein, welche die Person nicht der kleinen Sache unterordnet, sondern sie in der Identifikation mit der großen Lösung nach oben hebt.

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d) Die große Lösung - Einbindung der Adressaten In der Demokratie gehorcht der Bürger dem Volkssouverän - darin sich selbst, seinen eigenen Befehlen, dies ist demokratische Glaubensüberzeugung. Nur in der Staatlichkeit der großen Lösungen ist solches erreichbar, welche ihre Adressaten einbinden in ihre weiten Dimensionen, als sei dies ihr eigener Wille. Sind die Befehlenden nicht begeistert, so geht kein großer Befehl von ihnen aus, der darin bereits Integrationskraft hätte; diese vollendet sich erst, wenn der Befehl zugleich Befehlende und Befehligte fasziniert. Und hier muss, der Pazifismus mag dies vergeben, im Ansatz einmal militärisch gedacht werden, und sei es auch zu ganz zivilen Zielen. Der große Befehl begeisterte Napoleon und seine Grenadiere, er machte ihre Carrés undurchdringlich. Im Krieg steht hinter jedem Einzelbefehl die Größe der gewonnenen Schlacht, hinter ihr die des gewonnenen Krieges, im Geist jedes Soldaten. Der Durchbruchsbefehl ist der Aufschwung zur großen Lösung an sich, in ihm liegt alles, was staatlich groß gedacht werden kann, ein Fundament der Monumentalstaatlichkeit und ihr Symbol. Übersteigerter Pazifismus ist dabei, die entscheidenden Analogien zu verschütten, welche diese Erscheinungen und Kraftquellen der Staatlichkeit mit dem zivilen Bereich verbinden. Auch hier entstehen große Lösungen über diese begeisternde partizipative Integration der Adressaten - und nicht nur in autoritären Regimen, wenn etwa Kommunisten überall Helden der Arbeit als Denkmäler aufstellen, den lebenden Monumentalstaat. Zivilstaatlichkeit sollte vom Militär nicht nur die Orden übernehmen, die äußeren Zeichen großer Lösungen für die Gemeinschaft, groß gegebener Befehle oder groß befolgter; etwas von der Entscheidungsschlacht ist auch hier immer wieder. Die Medien fühlen und vermitteln es dem Volk, die Regierenden gehen in diesem Bewusstsein in ihre dramatischen Sitzungen, dass sie vielleicht Durchbruchsbefehle werden ausgeben müssen. In schönen, integrativen Worten drückt die Marseillaise es militärisch aus, was die Französische Revolution der zivilen Demokratie als Vermächtnis mitgegeben hat: Serrez vos bataillons - rückt enger zusammen, als geballte menschliche Inkarnation eines großen Befehls. Zivilcourage wird heute noch gepriesen, nurmehr in diesem Wort lebt der alte militärische Mut vor Ort. Demokratie braucht die Zivilcourage der Befehlenden, wie die Zivilbegeisterung der Befehlsempfänger, den Mut ihrer Soldaten an der Bürgerfront. Hier aber trifft sie auf schwere Probleme: Der „zivile Großbefehl", wie er dem Bürger zuallererst in den Abgaben entgegentritt, in den Gestaltungen seines Berufs- und Arbeitslebens - wann kann er schon integrativ begeistern, wann den Bürger partizipativ in die staatliche Ordnung integrieren? Zuallererst „bleibt dies reiner Befehl", schon in der Unklarheit, wohin er im Einzelnen führen soll, wo doch nur die Klarheit einer großen Lösung begeistern kann. Die Ungerichtetheit der Besteuerung, die kaum mehr fassbare Allgemeinheit des Ziels der Sozial5*

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abgaben für eine unbekannte Zukunft - das alles erscheint eben den Befehlsempfängern nicht als der eindeutige, geballte Durchbruchsbefehl. Weite Ordnungen, in welchen der Staat täglich wahrhaft große Lösungen verwirklicht - im Verkehrsbereich etwa oder in Sicherheit und Ordnung - sie mögen jedem zugute kommen, doch er bleibt darin ihr Empfänger, mag er auch Akteur sein müssen, wenn er Verkehrsregeln einhält. Ausbezahlt wird ihm sein Sold in derartigen Ordnungen in kleiner Münze der „eigenen Sicherheit", welche die Unwahrscheinlichkeit des Unoder Überfalls noch weiter verkleinert; wo soll hier die Begeisterung der großen Gestaltung sein, welche den Befehlsempfänger einbindet? Von Versicherungsgemeinschaften ist viel die Rede, aus historischen und gesellschaftsrechtlichen Gründen. Der Staat selbst entwickelt sich für die Bürger zur letzten Versicherung. Doch hier war Gemeinschaft psychologisch stets nur ein Wort, und die Solidargemeinschaft der Versicherten ist immer unbegeisternd geblieben, wann je hätte sie integrativ wirken können? Nicht dass die Lösungen nicht „groß" wären; sie erreichen Mammutdimensionen an sich und in der Existenzsicherung des Bürgers, doch ausbezahlt wird in der kleinen Münze, welche der reine Befehlsempfänger an den Schaltern einer Größe empfängt, die nicht die seine ist. Der Versicherungsstaat mag eine große Lösung sein, sie bleibt quietistisch, wirkt eher desintegrativ. Der Bürger ist als Versicherungsnehmer Objekt des Riesenapparats, nicht Aktivbürger der Monumentalstaatlichkeit. Immer wieder muss also der Staat versuchen, in seinen großen Gestaltungen doch etwas Fassbar-Monumentales sichtbar werden zu lassen, eine große Lösung, auf welche hin befohlen wird; denn das Gehorsamsgebot allein wird nie mehr integrieren als - Sklaven. Der Planungsstaat auf allen Ebenen hat hier seine große Chance, nicht umsonst waren es monumentalstaatliche Militärregime, welche ihn zuerst verwirklichten. Hier ist der Befehl auf ein Ergebnis gerichtet, und sei es auch der Staat als produzierendes Großunternehmen. Darin wird dann dem Steuerbürger fassbar, wofür er zahlt, die Staatsziele, die grandes œuvres, werden sichtbar über dem großen Staatshaushalt. Staatstechnik ist auf Realisierung gerichtet, darin ist der Zug zum Service-Staat zu loben, als sichtbare Großlösung, nicht mit Blick auf den Verbrauch. Hier wird der staatliche Großbefehl an ein „Unternehmen" gerichtet, eine Realisierungs-Mentalität geschaffen, die gemeinsam Anordnende und Adressaten verbindet, integriert und begeistert. Dann erst wird die Übernahme der Formen der Privatwirtschaft überzeugend, wenn Staat und Bürger zusammen produzieren - große Lösungen; sie mögen dann selbst durch den Riesenverbrauch begeistern; integriert sich nicht das Großunternehmen der Wirtschaft in Großkonsum in die Gemeinschaft?

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5. Der große Befehl - Integration der Anordnungsempfänger, von Bürger und Staatsgewalt Die Schlussthese dieses Kapitels über die integrative Kraft der großen Staatslösung lautet: Im großen Befehl hebt die Staatlichkeit ihre eigene Gewalt auf, darin entsteht die Einheit von Bürger und Staat. Die Monumentalstaatlichkeit nimmt sich in diesem ihrem vornehmsten Ausdruck ihre eigene Schrecklichkeit, in der Größe der Anordnung allein wird der Staat vom Gegner zum Partner.

a) Die Tradition

des antithetischen Befehlsmodells

Zulange, allzu sehr ist man daran gewöhnt worden, den Befehl als Ausdruck des Gegensatzes zu sehen zwischen Gebenden und Hinnehmenden; Befehlnehmer haben negative Seiten vergangener Feudalisierungen fortgeschleppt. Vor den großen Revolutionen der Neuzeit war der Befehl zur appropriierten Macht geworden, zur Staatsmacht als Eigentum, ausgeübt im eigenen Interesse, Gewaltunterworfenen entgegengesetzt, die ebenfalls und allein in ihrem eigenen Interesse getroffen wurden, darin zurückweichen mussten. Es war wie ein Zusammenstoß von Machteigentümern auf allen Ebenen, in etwas wie einem „Nachbarrecht der Gewalt", in dem immer wieder die Befehle Grenzen verschoben; die Französische Revolution hat auf der Seite der Befehlgeber die große Wende geistig gebracht, hier „Machteigentum genommen", in Entfeudalisierung, Entpublifizierung. Doch da ihr die Eigentumskategorie teuer blieb, fuhr man fort, auch auf Seiten des Staates in ihr zu denken; etwas wie Macht-Eigentum des Staates hat sich bis heute nicht aus dem Denken vertreiben lassen. Die großen Früchte der Französischen Revolution sind hier noch längst nicht geerntet, vom Baume ihrer Erkenntnis hat selbst die heutige Demokratie noch nicht gegessen: dass nämlich die „ganz andere", weil „ganz große" staatliche Lösung nicht aus einem gewaltigen Staatseigentum heraus als Befehl dem Bürger gegenübertritt, sondern ihn in ihre Dimensionen integrieren, im Befehl zur Größe den Befehl auflösen will. Die französischen Revolutionäre haben es so gesehen, vielleicht nur geahnt; für diese Größe sind sie in Leichtigkeit gestorben und ihre Jugend, unter der Trikolore. Sie verehrten darin ihren neuen Monumentalstaat, ihre Republik im Marsch. Mit der Russischen Revolution ist der Monumentalstaat sich selbst hier zum Verhängnis geworden. Die furchtbare Macht seiner Befehle hat Größe geschaffen - und sie hat zugleich die Angst vor dem Befehl zur negativen Staatsgröße erhoben, im eigenen Land und über die ganze Welt hinweg. Dieser Staat wollte das Eigentum im Monopol des Staatsbesitzes aufheben, den Befehl ebenfalls, in der ungeheuren Größe der Richtung auf den Sieg des riesigen Vaterlandes und der noch größeren Weltrevolution. Im Geist seiner Bürger ist es ihm zuzeiten gelungen; der Westen, solchen Größentraditionen der Staatlichkeit entwöhnt, hat es nie

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nachzuvollziehen vermocht, ihm ist nur die große Angst geblieben. Geistig ist dem Sowjetstaat die Entfeudalisierung über seine Grenzen hinaus nicht gelungen, die Aufhebung der inneren Antithese des Befehls, welche mit der Französischen Revolution so glücklich begonnen hatte.

b) Der militärische Befehl als Synthese Die Französische Revolution musste deshalb zum großen militärischen Ausbruch geraten, weil darin allein das antithetische Befehlsmodell des Feudalismus gebrochen werden konnte, in der Armee, der neuen Schule, nicht nur dem neuen Modell, der Staatlichkeit. Wer dies nur mit Blut und Tränen gleichsetzt, den werden auch zivile Befehle immer bedrückend verfolgen. Von Anfang an stand das militärische Befehlsmodell gegen das des zivilen Ausführungs-Gehorsams, in der Armee war ja immer zuallererst Staatlichkeit, aus ihr heraus ist das römische Modell von Anfang an publifiziert worden: Der militärische Befehl richtet sich wesentlich und immer letztlich auf die „ganz große Lösung", virtuell auf die große Kraft, die siegreiche Schlacht, den gewonnenen Krieg. Aus dieser Großlösung heraus und in ihr werden Befehlgeber und Befehlnehmer zusammengefasst, zu einem einzigen Instrument, das auf ein großes Drittes gerichtet ist, den gemeinsamen Erfolg. Er wird von allen angestrebt - dann gehört er auch allen, wie die Beute, nicht nur dem Feldherrn. Er hat nicht mehr Rechte, sondern allein ein mehr an „Befehlspflichten", dies sichert ihm sodann vielleicht auch einen bedeutenden Anteil an der Beute, am Ergebnis der großen Lösung der Schlacht; in dieser Beuteidee, einer Grundlage römischer Militärstaatlichkeit, liegt ein Ausdruck der Staatsgröße, welche in dem sichtbar wird, was im Triumphzug gemeinsam getragen und sodann integrativ verteilt wird, wie es in Gemeinsamkeit gewonnen wurde. Dies ist das „große Dritte", in dem sich der Befehl zwischen Gebenden und Nehmenden auflöst. Auf dieses gemeinsame militärische Ziel hin werden alle Teilnehmer an der Schlacht in gemeinsamer Gefahr eins, in der mächtigen Integrationskraft des kollektiven Risikos. Hier wirkt wahrhaft „Basis nach oben", sie erscheint wie „in die Spitze der Pyramidenstaatlichkeit gezogen", als Symbol dieser integrierten Monumentalstaatlichkeit. In der Französischen Revolution konnten nicht nur erstmals Soldaten Offiziere werden, Offiziere sind wie Soldaten ausgezogen, im Namen des großen Dritten, des personifizierten Standbilds - la France. Die symbolische Integrationskraft dieser Monumentalstatue für den französischen Geist kann man nur aus solcher Sicht wenn nicht verstehen, so doch ahnen; hier ist der Nationalismus zum Monumentalstaat geworden. Aus solchem Denken heraus ist das moderne öffentliche Recht als selbständige geistige Erscheinung entstanden, das Verwaltungsrecht als Publifikation des revolutionären Militärstaates. Die preußische Militärordnung konnte es nicht umsonst so leicht übernehmen, und die militärisch geprägte Verwaltung des austro-ungari-

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sehen Reichs. Überall wurde in diesen Staaten der nunmehr absolut gesetzte Befehl des Staates erträglich, weil er aus dem Militärischen heraus verstanden und integrativ aufgelöst wurde, in der Gemeinsamkeit zu einer großen, staatlichen Lösung. Die Geburt des öffentlichen Rechts aus dem militärischen Befehl zu Großem ist geistig nur - der Staat als Synthese der Bürger. Wo diese Integrationskraft des Militärischen verfehlt wurde, nach Sieg oder Niederlage, in Italien oder Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, wo den Veteranen nicht die römische Beute der Triumphzüge verteilt, wo den Invaliden des großen Krieges nicht ein Dom errichtet wurde - da degenerierten diese Kräfte der enttäuschten Befehlsgröße in die Größensuche der Faschismen. Eine Mahnung ist dies gerade für die Staatlichkeiten der Dritten Welt: Sie wachsen aus militärischem Integrationsdenken so oft heraus, müssen es zur Bewusstwerdung ihrer Staatlichkeit einsetzen; mögen sie immer an die Beute denken, an die großen Lösungen, auf die hin ihre Soldaten unterwegs sind und ihre Offiziere, und es mag besser sein, ihnen zu verteilen, bevor sie sich nehmen.

c) Überhöhung des Befehls - nur im großen Ziel Nur die große Lösung der Staatlichkeit, in der etwas liegt von Kriegen und Siegen, löst den lastenden Befehl auf, integriert den Bürger nicht im Staat, sondern zu ihm. So deutlich muss sich diese Gestaltung über Führer und Geführte erheben, dass sie beide bereit sind, dafür alles zu geben, bereit auch, um es mit pathetischen Worten der Vergangenheit zu sagen, sich zur Truppe zusammenschweißen zu lassen. Im großen Staatsbauwerk wird dies Realität in der gemeinsamen Befriedigung aller Bauenden. Staatliche Planung fasst, schon in ihrem Verfahren „groß", Planer und „Verplante" in Teilhabe zusammen - und dieses letztere Wort verliert hier seinen menschenverachtenden Klang, werden diese Adressaten doch einbezogen in eine Gemeinschaftsarbeit der Staatlichkeit. Den großen Krieg können Staaten nicht mehr führen, in denen selbstzerstörende Techniken entstanden sind. Er verlagert sich heute in die Bürgerkriege, welche über die negative Pyramidenstaatlichkeit der Revolutionen zum großen, totalen Neubau vordringen wollen. Staatlichkeit, die sich so nicht aufs Spiel zu setzen braucht, lässt diesen früheren Krieg in den Anstrengungen ihrer inneren Sicherheit ablaufen, er wird verlegt in den Kampf gegen Verbrechen und Terror. Dies sind die größeren Hintergründe jener immer wieder hochgespielten Diskussion um die innere Sicherheit; in ihr liegt ein Problem der Staatsgröße: Die politische Gemeinschaft muss versuchen, hier den lastenden Polizeibefehl, ihr eigentliches Hoheitszentrum, aufzulösen in einer gemeinsamen Truppenbildung von Bürgern und Sicherheitskräften, welche auf die große Lösung der gemeinsamen Sicherheit hinarbeiten, sie in jeder kleineren Aktion vor Augen haben, wie der Soldat im militärischen Einsatz. Dies kann nur Unverständnis für das Wesen der Staatlichkeit als

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eine „Militarisierung des Zivilen" missverstehen; in Wahrheit liegt hier die Chance, den Befehl dort, wo er am eindeutigsten als solcher erkennbar wird, in der Polizeianordnung, in integrativer Gemeinsamkeit zu überhöhen, indem Befehlgeber und Befehlnehmer unter ihn treten, im Namen einer großen Lösung, welche alle Befehlenden zu Ausführenden macht - und umgekehrt. Heutige Demokratien beginnen keine Entscheidungsschlachten, und doch müssen sie sich für ihre Wirtschaftsaufschwünge in ähnlicher Weise rüsten, wirtschaftsrechtlich in der Überhöhung der Staatsbefehle durch die großen Lösungen. Der wirtschaftsordnende Staat darf dem Einzelnen nicht als der beschränkende Polizist entgegentreten, der eigene ökonomische Glorie verfolgt; alle müssen „in seine wirtschaftlichen Befehle treten", alle Eigentümer als Organe der Wirtschaftsverfassung, alle Arbeitnehmer auf den Feldern der Produktion. Sie können gewonnen werden nur aus der Größe solcher Perspektiven heraus und in einem paramilitärischen - oder para-navalen - Denken, welches „alle im gleichen Boot sieht", unter einem Befehl, der nur der Rettung aller dient. Aufhebung der Befehle in den großen Lösungen - nichts ist vielleicht für die Wirtschaft so selbstverständlich wie dies, und sie erwartet es auch vom Staat. Befehle „an sich" kann sie nicht verstehen, sie sind ihr immer das wesentlich Kleine. Ordnungen erwartet sie, und alle kleineren Befehle müssen sich darin auflösen, in dieser „Ordnung als ziviles Kriegsziel", in welcher alle wirtschaftenden Subjekte ihre große Befriedigung finden - und der Staat seine Monumentalität der Ordnung. Im Krieg, im Militärbereich steht das Große stets vor aller Augen, „um das es geht". Seine pyramidale Geschlossenheit findet es im Sieg - oder in der Niederlage als nicht mehr rückgängig zu machendem Faktum. Nirgends hat leichter die Kunst Monumentalstaatlichkeit abbilden können als in der Divinisierung der Schlachtfelder. Die große zivile Lösung, am besten die zivile Ordnung - denn in sie mündet hier der Befehl - bringt die gleiche politische Integrationskraft in die Staatlichkeit, wenn sie zu groß ist, als dass der Befehlende beargwöhnt werden könnte, er wolle doch nur private Macht; die große Ordnungslösung kann nicht appropriiert werden von den Herrschenden. Das „öffentliche Interesse" des Militärbereichs liegt eindeutig im Sieg, der allen gehört, auf den hin befohlen wird. Je größer der Staat in seinen wachsenden Aufgaben sich entfaltet, desto weniger müssen seine Regierenden befürchten, dass ihre Befehle als Aneignung des Gemeinsamen verstanden werden, dass sie privaten Interessen dienen, desto mehr wird der Befehlgeber wahrhaft Organ seines Befehls, nicht ist er mehr Träger eines Willens. Mit ihm riskiert ja auch der Befehlende - groß, sich selbst, so wie der Offizier der Revolutionszeit, der mit dem weißen Helmbusch voranging.

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d) Ende des öffentlichen Rechts in der Befehlslosigkeit der „großen Lösung" Erreicht der öffentliche Befehl Staatsgröße, so löst er sich gewissermaßen selbst auf in eine Ordnung, in welche Geber und Empfänger gleichermaßen treten, in einer Art von Gleichordnung sogar. Darin erreicht dann das öffentliche Recht der Normen und Befehle etwas wie die weite gleiche Ebene des Privatrechts. In den großen Organisationen und Ordnungen der Staatlichkeit entspricht dies täglicher Erfahrung. Die Staatsorgane handeln nicht mehr primär aus dem Bewusstsein ihrer hoheitlichen Gewalt heraus, eines letzten Wortes, mit dem sie sich über den Bürger stellen; es ist, als seien sie, ebenso wie die Norm- und Anordnungsadressaten, Teile eines großen Organismus, der durch die bürokratischen Großorganisationen vorgeformt ist. In ihn treten auch die Bürger ein, im Namen der großen Lösungen, welche hier durchgesetzt werden, die sie sozusagen gemeinsam vollziehen als Kunden, als Partner der Verwaltung. Diese ganz natürlich verwendeten Worte zeigen die geistig bereits erreichte Depublifizierung des Hoheitsrechts: Der „Verwaltungskunde" wird letztlich in einer Austauschbeziehung zur Administration gesehen, damit aber als eine Art von befehlsempfangender Teil derselben; und dass dies jedenfalls für denjenigen zutrifft, der in ihren zahllosen Amtsstuben als Antragsteller seine Tage verbringt, mag die ironische, aber durchaus ernstzunehmende andere Seite dieses Phänomens sein. Selbst im „allgemeinen Gewaltverhältnis", wo der Bürger nicht durch Organisationen „erfasst wird", wie etwa in den Ordnungen der Sozialversicherung, ist ebenfalls ein Bewusstseinswandel eingetreten, jedenfalls bei den Befehlgebern: Der Polizeivollzugsbeamte fühlt sich nicht zuallererst als der Anordnende, welcher dem Bürger gegenüber tritt; er ist das Organ der großen, dauernden Lösung „öffentliche Sicherheit", in deren Verfolgung er dem Bürger begegnet, irgendwie doch auf gleicher Ebene, mit ihm als Freund und Helfer kooperierend. In all dem muss herkömmlich-hoheitliche Staatsbetrachtung einen Verlust der Autorität befürchten, und in der Tat sind bedenkliche Fraternisierungseffekte, bis hin zu Formen der „Kumpanei der kleinen Leute gegen den großen Staat", durchaus heutige Verwaltungswirklichkeit: Da Beamte und Bürger sich oft derselben, erdrückenden Ordnung unterworfen sehen, als Steller und Bearbeiter von Anträgen ineinandergreifende Rädchen desselben Apparats, wenden sie sich nicht selten, innerlich jedenfalls, gegen diesen. Der Beamte, der doch den Staat repräsentieren und verteidigen soll, „kann ja nichts für dessen Bürokratie", er entschuldigt seine Kleinheit mit einer innerlich von ihm abgelehnten Größe, „versteht" den unter der Verwaltung leidenden Bürger usw. usf. Wie oft wird nicht erlebt, dass an den vielen Schaltern der großen Staatsorganisationen jeder Befehl aufhört, alles sich in faktische Gleichordnung verwandelt, unter der Bürger wie Staatsorgane gleichermaßen leiden.

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Bedeutsamer sind aber noch immer die positiven Effekte: Die große Organisation und die durch sie vermittelten bedeutenden staatlichen Ordnungen, letztlich der große Staatsbefehl als solcher - sie führen Verwaltende und Bürger nicht nur näher zusammen, sondern immer mehr auf gleiche Ebene. Diese Auflösung der Befehle in Kooperation aber hat nur dann eine Chance, wenn sie im Namen wahrhaft großer Lösungen erfolgt, sonst entwickelt sich überall die Appropriation der Staatsmacht in den kleinen Bereichen, der Beamte wird vom Verwalter zum Besitzer der von ihm souverän in Kleinheit eingesetzten Staatsmacht, hinter der nichts Größeres mehr sichtbar wird. Es ist kein Paradox: Wer die Partnerschaft will, muss Staatsgröße wollen. Enthoheitlichung der Staatsgewalt in Monumentalstaatlichkeit, in welcher alle voll integriert sind - das erscheint widersinnig, doch in dem wahrhaft großen Staat schlägt eben die Hoheit, mit der er sonst seine Dimension angestrengt beweisen muss, in ihr Gegenteil um: in größere Bürgernähe. „Immer mehr Staatsaufgaben" das ist allein noch kein Weg dahin, wenn es nicht stets noch größere sind. In ihrer Erfüllung verliert sich dann - und heute zeigt es sich schon deutlich - immer mehr „staatliche Härte in Größe des Herrschens". Die Dimensionen schaffen eine Unausweichlichkeit der Befehlsgewalt, in welchen sich deren Härte in Ordnungsgröße überhöhen kann. Kommunistische Staatstheorie hatte dies anfänglich erkannt; folgerichtig erstrebte sie über die Kolossalität des Staates dessen Sterben. Und dafür mochte sie auf ihren Wegen sich auch für berechtigt halten, ganz harte Befehle zuzeiten einzusetzen. Enthoheitlichung durch Größe der staatlichen Lösungen. Es mag eine weite Vision sein, aber sie wird in Staatsgröße sichtbar: Hier vollzöge sich dann auch eine Wiedervereinigung des privaten und des öffentlichen Rechts, welches im Namen der hoheitlichen Befehle sich von der Austauschebene abgehoben hatte. In jenem Gedanken der großen Lösung, der zur großen Ordnung wird, bliebe die Staatsgröße der verteilenden Gerechtigkeit erhalten, auch wenn sie immer mehr auf gleicher Ebene tätig wird. Und das Privatrecht als Grundmodell würde dann wieder der Allgemeine Teil dieser vereinigten Disziplin im vollen Sinne des Wortes. In all dem wirkt, fasst man es nochmals zusammen, die „große Lösung" der Staatlichkeit und der typischen Integrationskraft der Ordnung, in welche alle treten. Sie hebt den Abstand der Herrschenden und Beherrschten durch die gemeinsame Dimension auf, in der alle stehen. Sie werden zusammengefasst in einer Größenordnung, aus der niemand mehr ausbrechen kann, die darin unwiderstehlich wird. Demokratische Gleichheit von Herrschenden und Beherrschten wird dann nicht nur über laufende Wahlen Wirklichkeit, sondern durch den Wandel des Inhalts der Befehle, welche von den Gewählten ausgehen. Diese qualitativ neue Größe ist bedeutsamer als jede hart anhäufende Quantifizierung, die ja immer wieder rasch in Teilungen aufgehoben werden müsste. In wahrhafter Größe verlieren sich die befehlenden Formen der Staatlichkeit selbst, und dies ist heute tägliche

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Erfahrung, laufendes demokratisches Streben: dass so groß gehandelt werde, organisiert, dass die Annahme selbstverständlich erfolgt. Darin überbaut sich dann der Monumentalstaat selbst, hinein in die ganz große Gesellschaft, er ist die einzige wirkliche Chance der Einheit, der Verbindung von Gesellschaft und Staat - darin alternativlos in seiner Größe.

VI. Die Kraft der transpersonalen Monumentalstaatlichkeit Der transpersonale als der „wahre Staat" - diese These ist nicht erst in der korporativen Staatstheorie aufgestellt, in Faschismen verfolgt worden; sie ist so alt wie die Staatstheorie. Wenn Piatons Gesetze dem Bürger wie gute Götter entgegentreten, die Civitas Dei vom Schöpfergott als Idee geschenkt wird, aus den Geschöpfen zu ihm hinaufwächst, im goldschimmernden Absolutismus wie in der römischen imperialen Härte - immer ist der Staat den Menschen transpersonal gegenübergetreten, als Träger eigener Werte, die nicht nur von Personen kommen, nicht ihnen allein dienen. In so verstandenem Transpersonalismus hat die Staatslehre von jeher das Wesen des Staates erkannt, aus ihm sollen auch die besonderen Kräfte dieses unsichtbaren Wesens sich entfalten. Hier kann nicht eine Theorie des Transpersonalismus geboten, seine Rechtfertigung oder Widerlegung versucht werden. Nur ein Aspekt wird am Ende dieser Betrachtungen noch beschäftigen: der Transpersonalismus der großen Lösung, die Kraft des Staates gerade aus ihm.

1. Antithese: Der „humane Staat64 der Demokratie Im dritten Teil dieses Buches war bereits von der Antithese zur Staatsmonumentalität die Rede - kleiner Bürger im kleinen Staat. Hier muss dies nochmals aufgenommen werden, aus der besonderen Sicht jener Humanisierung, in welcher sich viele Demokraten heute gegen die Transpersonalität der Staatsgröße stellen, aus Grundüberzeugungen menschlicher Personalität heraus - damit aber frontal gegen den Monumentalstaat. Politisch eingängig ist diese Gegenthese, kaum jemand wagt heute transpersonalistische Positionen offen zu beziehen. Sind sie nicht durch Faschismus und Nationalsozialismus ad absurdum geführt worden, die den Staat als Übermenschen verehrt und darin zerbrochen haben? „Du bist nichts - Dein Volk ist alles", Deine Rasse - musste dies nicht unmenschlich werden, aus Transpersonalismus heraus, und, in der Tat, aus einem Streben nach Staatsgröße? Ist dieser Größenkult nicht gerade darin unannehmbar, ja ein Verbrechen, dass er sich transpersonal gibt, als Abfall vom höchsten Wert, der Würde der menschlichen Person?

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Philosophisch kann man dieser Argumentation kaum begegnen, sie will davon nichts hören, dass ja gerade Friedrich Nietzsche nicht den Unmenschen, sondern den Übermenschen gefordert hat, nicht also den Staat gegen den Menschen, sondern den Staat als die höchste Steigerung der Person, hier den Anschluss an Hegel gewinnend. Die politischen Ablehnungen sind stärker als solche Theorien. Der „menschliche Staat" wird gerufen und rasch ist er dann ebenso klein wie die Personen seiner Bürger, wird er organisiert und soll handeln wie sie. Etwas von der „Person" des Einzelmenschen als Modell der Staatlichkeit liegt ganz deutlich in heutigem Staatsdenken, und es hat sein Gewicht: Irgendwie soll alles möglichst privatisiert werden in und an der Staatlichkeit, nicht damit diese zur „anonymen Gesellschaft" der Staats-AG werde, sondern auf dass der Staat „sich der Person, dem Menschen nähere". Handeln soll er auch wie eine solche, das Unbedingte daher von ihm abfallen. Der Ausnahmestaat wird so gepredigt, der differenzieren und vergeben kann wie der Mensch, wie die Person, deren Menschlichkeit sich darin zeigt; etwas von einer Individualisierungsstaatlichkeit steht auf dem Programm. Wenn die Herrschaftsorganisation sich ihrer Personenhaftigkeit bewusst wird - weiß sie dann nicht auch um ihre Begrenztheit, ihre Brüchigkeit, wird sie nicht zum Bescheidenheitsstaat? Und schließlich trägt doch eine immer stärker, wenn auch stets noch naiver moralisierte Politik zu jener Verpersönlichung des Staates bei, in welcher dieser dann erstmals überzeugend der Moral unterworfen werden kann, aus der Transpersonalität heraus in den Moralitätsstaat hinein. So wird denn auch die Theorie von der „besonderen Staatspersönlichkeit" kaum mehr vertieft, soll doch der Staat etwas werden wie eine große private Person; solche Theoreme können dann sogar von seiner Größe sprechen, sie müssen nicht das Kleine an ihm feiern - ist denn die Person nicht ganz groß zu setzen, wie es der Eingang des Grundgesetzes befiehlt? Die Auflösung des Staats in Menschen, in Personen - so versteht gängiges Demokratiedenken seine Staatsformen. Darin wird der Staat personalisiert, dass hinter ihm Personen sichtbar werden; dies ist der eigentliche, der entscheidende Schritt in den Staatspersonalismus hinein. „Unpersönlich" wird zum schlechten Wort, es kann nur im Durchscheinen persönlicher Werte, auch in der Staatsorganisation, ins Gute gewendet werden. Demokratie durch das Volk personalisiert, durch die einzelnen Bürger - diese Reihe darf nicht durchbrochen werden. Im Namen solcher Personalisierung der Staatlichkeit wird der Bürgerbegriff forciert überall und zu allem gebraucht, zu jeder staatlichen Legitimation; der Bürger selbst wird in die Zentren der Staatlichkeit getragen, befragt und gehört wie ein Staatsorgan, der Beamte in seiner erweiterten Privatsphäre, als Gewerkschaftsangehöriger, nicht als Amtsträger: Das Berufsbeamtentum, über dessen blockhaftem Status immer ein Abglanz von Monumentalstaatlichkeit, von Unpersönlichkeit zu liegen scheint, soll Arbeitsverhältnissen angenähert, durch sie vielleicht ersetzt werden, in denen die Persönlichkeitswerte der Arbeitsordnung größeres Gewicht erhalten; alle „besonderen Gewaltverhältnisse", von der Schule über den Wehrdienst bis ins Gefängnis, sollen aus Erscheinungsformen unpersönlicher Staatsorganisation in etwas wie

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eine Verbandlichkeit von Personen transformiert werden; immer mehr Raum soll bleiben im Verwaltungshandeln für Ausnahmen ad personam, weg von der unpersönlichen Kälte der Anordnung; und der Staat gibt hier Rat, nicht mehr Befehl der Person kann mehr als Rat nicht gegeben werden, sie selbst muss sich dann überzeugen. Dies ist das Ideal des Service-Staates, einer in Freundlichkeit sich verlierenden Hoheit - aus Persönlichkeit heraus eine absolute Antithese zum Monumentalstaat. Man glaubt gar, die so dem Staat genommene Kraft werde man in der Person des Bürgers wiederfinden, in seiner - persönlichen Spontaneität. Dies mag als der letztlich nun endgültige westliche Weg zum Absterben der Staatlichkeit erscheinen, nicht durch immer größere, härtere Pyramiden östlicher Monumentalstaatlichkeit hindurch, sondern über die Person des Bürgers. Kann dieser Staat nicht dann allein sterben, wenn er auch hat geboren werden können eben als Person, wenn letztlich seine Werte und Ziele die sind von natürlichen Personen, sein Handeln so wie es der Personhaftigkeit seiner Bürger entspricht?

2. Das Missverständnis des Staats-Personalismus Bürgerpersönlichkeit aus transpersonaler Staatlichkeit All diese Lehren, mehr vielleicht nur Grundstimmungen, die man den heutigen Personalismus der Staatslehre nennen könnte, widerlegen sich in ihrer Übersteigerung überzeugend schon daraus, dass gerade die demokratische Staatsform, wie immer definiert, überall auf der Suche ist nach transpersonalen Werten, wie sich im Folgenden noch zeigen wird. Hier mögen wenige grundsätzliche Bemerkungen im Voraus genügen zur Relativierung eines solchen Staatsverständnisses, im Grunde nur eines Missverständnisses des Transpersonalismus: Er zerstört nicht die Einzelperson, sie wird in ihm allein möglich, Personalität des Bürgers im transpersonalen Monumentalstaat. Nicht überzeugend lässt sich in der Tat der Transpersonalismus der wahren Staatlichkeit begründen aus herkömmlichen, überpersönlichen Staatszielen, aus Verfahrensweisen der Staatlichkeit allein, die eben auch - in Personalismus umgebaut werden könnten. Drei große Aufgaben aber erfüllt die Organisation, welche man Staat nennt, in vollem Transpersonalismus, darin schafft sie erst die Voraussetzungen personalen Existenz: - Was die Person nicht könnte, schafft der Staat; in dieser alten liberalen, in der „umgekehrten" Subsidiarität, von den gemeindlichen Einrichtungen bis zur Landesverteidigung, liegt transpersonales Handeln, in den Formen, vor allem im Ergebnis: Hier werden gewissermaßen „Lösungen als solche" transpersonal angehäuft, die dann für die einzelnen Bürger appropriabel werden, welche sich Ordnung, Sicherheit, ja materielle Werte aus all dem aneignen können, ihrer unauswechselbaren Persönlichkeit entsprechend. Es ist die Schaffung des gro-

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ßen Gemeinsamen, in welcher der staatliche Apparat tätig wird, im Distributionseffekt wird es beim Bürger erst personenförmig, personalisiert. Darin schafft es ihm zugleich die Freiheit als Grundlage seiner Personalität und den materiellen Existenzraum als Einzelpersönlichkeit. Transpersonal aber bleibt es als ein vom Staat Geschaffenes, transpersonal die Staatlichkeit in dieser Leistung. - Der Staat steckt mit seinen Ordnungen die großen Dimensionen ab, Entfaltungsräume des Gemeinsamen, in welchem die Person in Verbindung zu anderen Personen tritt, daraus erst sich als Person bildet und vollendet. Dieser Sozialitätseffekt, in Bildung und Schule zuallererst ersichtlich, in der Ordnung der inneren Sicherheit im ganz großen Rahmen wirksam, ist an sich nichts Persönliches, er muss gerade über die Bürgerperson ausgreifen, doch er bringt Personen zusammen, macht sie erst möglich. - Diese so sich vollendende Persönlichkeit des Bürgers muss laufend in der weiten Politik ihre persönliche Dimension immer wieder finden, im Blick auf den Nächsten in Soziabilität, aber auch im Blick hinauf, in die großen, überwölbenden, gemeinsamen Lösungen, in denen der Staat nicht alles, in einigem aber doch größer ist. In diesem Redimensionierungseffekt, den die großen staatlichen Lösungen auf den Bürger ausüben, wird seine natürliche Anarchie in Ordnungen gestellt, er lernt das politische Staunen, wird dadurch in die politische Mäßigung, die Bescheidenheit erst geführt. Hier zeigt sich besonders klar, in diesem dritten Aspekt des Transpersonalen, der Monumentalstaat: Das Mahnende an der großen Staatlichkeit kann nie unmenschlich sein, denn es wendet sich an die Person, welche an ihm hinaufwächst - und warum auch nicht zum Übermenschen? - Von religiösem Denken geprägte Politik aber sollte nicht vorschnell allem Transpersonalismus abschwören; in ihm ist sie immer ihrem Gott auf Erden begegnet, aus ihm baut sich eine hohe analogia entis von der großen Lösung der kleinen Verwaltung bis in die Hoheit des Schöpfers hinauf. Nicht umsonst ist der Transpersonalismus naher Vergangenheit aus religiösem Staatsdenken geboren, in der klaren Erkenntnis, dass etwas Überpersönliches an die Stelle einer Kirche treten muss, die den Staat verlässt, den sie über Jahrtausende transpersonal getragen hat, die vielleicht selbst von diesen Kräften Abschied nehmen will. Etwas von säkularisiertem Staatskirchentum liegt sicher im Transpersonalismus; man müsste sich von den staatlichen Kraftquellen einer großen Geschichte trennen, wollte man diese ganze Monumentalstaatlichkeit begraben, auferstehen würde dann nur die Kolossalstaatlichkeit des früheren Ostens. Mit oder ohne Gott - transpersonal wird im Staat immer gedacht werden.

3. Der demokratische Transpersonalismus Manche Demokraten mögen den Transpersonalismus ablehnen, ihre Staatsform ist überall auf der Suche nach ihm; sie institutionalisiert ihn geradezu in ihren Zentren. Wenige bedeutende Beispiele genügen:

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- Normative Rechtsstaatlichkeit will die Herrschaft der Person, die persönliche Gewalt, ablösen durch das Reich der Gesetze. Darin ist sie wesentlich transpersonal; diese Normen können dann nicht wieder auf Personhaftigkeit zurückgeführt werden. Besonders deutlich wird dies in dem gesetzlichen Kuppelbau der Verfassung, der als normatives Gebäude Selbstand über aller anderen Staatlichkeit beansprucht, die Abstraktionshöhe der höheren Normstufe hinzufügt. Es ist kaum verständlich, dass in einer verfassungsgeprägten Ordnung nicht wesentlich transpersonal gedacht wird. Die Anonymisierungswirkung ihrer Normen breitet die Demokratie über die ganze Staatlichkeit aus, die Legitimationskraft des Rechts findet sie gerade darin, dass es „ohne Ansehung der Person" gelte; wie könnte man Transpersonalismus besser beschreiben? - Der Staat ist Person, aber eigener Art, nur die Qualität „rechtlicher Zuordnungspunkt" verbindet ihn mit der menschlichen Person. Alle Anstrengungen gerade demokratischer Staatlichkeit verstärken den „ganz anderen Charakter" dieser Staatspersonalität: die Teilung und Spezialisierung der Organe, ja eine Mechanisierung des Staatsapparats, mit dem Versuch einer rein rechtlich-fiktiven Rückführung auf den „Volkswillen" - dies alles ist unvereinbar mit der personhaften Geschlossenheit der natürlichen Rechtsträger, nicht einmal vergleichbar mit der stets nahe bei diesen stehenden, sie nur gerade noch verdeckenden Rechtspersönlichkeit des privaten Gesellschaftsrechts. Die stets und wesentlich beschränkten Kompetenzen der Staatsorgane haben nichts mehr gemein mit der kreativen Fülle von intellektuellen und voluntativen Kräften, welche in der natürlichen Person zusammengefasst sind. Die Staatspersönlichkeit wird als solche zum transpersonalen Begriff. - Das Mehrheitsprinzip ist eine transpersonale Institution. Hier wird das größte Wohl der größten Zahl gefunden - eine transpersonale Größe; es tritt im allgemeinen Willen hervor - ohne Rücksicht auf die Persönlichkeit wird die Minderheit unter ihn gezwungen. In all dem liegen wesentliche Großabstraktionen der Transpersonalität. Die Volksidee selbst ist in diesem Sinne ein Begriff jenseits aller Persönlichkeit. So ist es die Mehrheit, welche wesentlich addiert, die Besonderheiten des Persönlichen ignoriert. - Transpersonal wirkt die Anonymisierung der zentralen demokratischen Regierungsmechanismen, der Abstimmungen zuallererst, in denen die Persönlichkeiten hinter dem Wahlgeheimnis verschwinden. Und Anonymität liegt dann auch in den Entscheidungsinhalten: Auf einen Entscheidungsvorschlag, wie er blockhaft Ausdruck einer Persönlichkeit sein könnte, verständigt sich diese Demokratie in aller Regel nicht. Ihr regimenotwendiger Kompromiss ist ganz wesentlich transpersonal gedacht, eine sachliche Lösung zwingt sich den einzelnen Personen auf, steht, im wahren Sinne des Wortes, jenseits von ihnen. - Verwaltung kann, gerade in der Demokratie, durchaus zu etwas wie einem transpersonalen Apparat ausgebaut werden, möglichst voll eingebunden in Normen, maximal Abstraktionen unterworfen. Jenes Ermessen, das die Öffnung zu der

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Person und ihren unverwechselbaren Belangen bedeutet, wird mehr und mehr den großen personenübergreifenden Lösungen geopfert. Bürokratie wird von der Demokratie sicher nicht verdrängt, sie bedeutet im gängigen Wortverständnis das Unpersönliche an sich - in Wahrheit wird hier an transpersonaler Staatsorganisation gebaut. - Dass die Gleichheit personenbezogen gedacht sei, wird niemand behaupten, sie aber ist die Grundentscheidung der Staatsform. Als solche ist sie, in ihrem Wesen des ständigen horizontalen Vergleichs, die eine Linie oder Ebene, über all den vielen Personen - transpersonal im engsten Sinne des Wortes. Deren Besonderheiten drängt sie zurück, Schema ist sie an sich, das Verständnis, die menschliche Wärme der persönlichen Entscheidung verbietet sie. - Die Freiheit selbst, der so personal gedachte, individuelle Höchstwert der westlichen Demokratie, in welchem der Bürger mit seinem freien Willen zum Staatsorgan wird - sie ist doch nur aus seiner Sicht ein persönlicher Wert. Betrachtet man sie aus der Staatlichkeit heraus, aus dem Organisationsprinzip derselben, so bedeutet sie die große Absage an die persönliche Gewalt, an jene Verbindung des Wesens des Persönlichen mit der Staatlichkeit. Freiheit als Staatsprinzip fordert den entpersönlichten Staat, einen Transpersonalismus, den hier die Volksherrschaft in ihr Zentrum setzt. Die Republik der Demokratie ist immer wieder in der Geschichte symbolisiert worden als ein großer Tempel. In dieser Unpersönlichkeit der Säulen und Giebel, in denen kein personenbezogener barocker Schmuck an persönliche Machtentfaltung erinnert, sollte der Transpersonalismus verewigt werden, so wie der Personalismus der persönlichen Gewalt seine Triumphe im Reichtum der verschlungenen Allegorien feiern konnte. Hier wird durchaus in den Dimensionen jenes großen Wortes des „Übergangs" gedacht, eines „trans" - über das Menschliche hinaus, in eine Weite, welche nurmehr in wenigen, unklaren Umrissen noch erkennbar bleibt. Die Demokratie wird darin groß bis ins Verdämmern ihrer eigenen, natürlichen Grundlagen.

4. Die Staatskraft des Transpersonalen Die Demokratie hat mit sicherem Machtinstinkt den Transpersonalismus nicht aufgegeben, sondern ihre Kraft aus ihm gezogen, gegen die persönliche Gewalt. Gerade heute fließt staatliche Kraft sichtbar aus solchen Quellen: Personifizierte Macht wird in der selbstbewussten Gegenwart nicht mehr geduldet. Dies ist gerade eine personalistische Wirkung: Die Person unterwirft sich nicht der Person, sie sucht in „ganz anderem" die Ordnungskräfte. Transpersonale Werte allein schaffen jene „Wesensdistanz", aus welcher die Gesamt-Aufschwünge der Bürgerschaft erwachsen, welche die Unterwerfung ersetzen sollen, vom Erstaunen bis in die Begeisterung hinein.

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Viele Werte mag der Bürger in Pluralität nun verehren, doch solchen Polytheismus erträgt die Demokratie heute wie in der Antike. Sie baut ihn ein in ihre Hallen, mag sie auch wesentlich säkularisierte Staatskirche sein: Solang sie von Werten spricht - und heute geschieht es mehr denn je - liegt darin ein Bekenntnis zum Transpersonalen, auch wenn viele Götter verehrt werden dürfen, wie unter römischer Imperialität. Die heutige Staatlichkeit vermeidet die Rede von der Dezision, mag sie auch täglich entscheiden; sie will dies auflösen in Wertverwirklichung damit hebt sie ihr Handeln aus der Entscheidung der Person in die Transpersonalität der Werte hinauf. Aus diesen Höhen kommen ihr dann die Kräfte der Staatsmoral zurück, als „gute Staatlichkeit" kann sie sich moralisierend preisen, weil sie sich von allem Personalen entfernt, jede Machtaneignung im Grundsatz beendet hat. Und seit Piaton kommt dem Staat die Kraft nicht aus den guten Menschen, sondern aus einem Agathon, das über allen Personen transpersonal aufgehängt ist. Es befreit vom Machtneid, legitimiert aus Staatsgüte - was könnte eine Staatlichkeit sich mehr wünschen als solche Geschenke der Transpersonalität, in deren Namen sie dann auch, auf gegenwärtiger Entwicklungsstufe, ihre Großorganisationen entpersönlichend fortbauen darf? Die Deutschen haben in ihrer Geschichte Transpersonalismus als staatliche Mächtigkeit stets erfahren. Ihre Kraft war es gerade, in Abstraktion politische Kräfte zu transpersonalisieren, bis in die Vergeistigung hinein. Das Preußentum der Pflichtstaatlichkeit wächst über seine Personen hinaus, jene ist, wie der deutsche Idealismus, immer mehr in transpersonale Dimensionen hineingewachsen, die Person selbst mit Kant in der Transzendentalität des Erkennens und der Transzendenz der ethischen Begründung - transpersonal überhöhend. Die deutsche Romantik, in all ihren Ausprägungen, stark gerade im Politischen, bis in die neueste Zeit, hat immer das überpersönliche, geheimnisvolle sich-selbst-Fortbauen gesehen und verehrt. Solche Größe konnten zwölf Jahre für einen geschichtlichen Augenblick pervertieren, nicht löschen; sie wird immer in Staatsrenaissance zurückkehren. Das Transpersonale ist also nicht irgendeine Kraft der Staatlichkeit, es ist ein Wesenselement derselben, ohne welche sie nicht gedacht werden kann. Rationalisierung in ihr wird immer wieder versucht werden und nötig sein, aber eher als eine Art von Gegensteuern in den kleineren Ausdrucksformen der Staatlichkeit, welche personhaft bleiben dürfen, nicht in der Erschütterung des transpersonalen Staatsgebäudes. Solcher Transpersonalismus zeigt daher etwas wie einen Gesamtblick auf den Staat, er hat mit einer festen Größe zu tun. Die Person opfert er nicht, sie bleibt ein Wert, dem die Staatlichkeit im Transpersonalismus dient, aus dem heraus der Bürger diesem als ein auch „ganz anderer" entgegentritt - in Freiheit.

53 Leisner

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5. Monumentalstaatlichkeit - das an sich Transpersonale a) Größe durch Transpersonalität

- die res publica

In den großen Lösungen der Staatlichkeit liegt das wesentlich Transpersonale, in der notwendigen Verbindung von Dimension und Überpersönlichkeit das typisch Staatliche. „Große Lösungen" gibt es auch außerhalb des staatlichen Bereichs. Schon die Großunternehmen der Wirtschaft zeigen es in allen Spielarten, bis hin zu ihren organisatorischen Rahmen. Dort aber fehlt das wesentlich Transpersonale, eine Ordnungskraft, die sich ihrer als über den Menschen stehend bewusst ist und gerade als solche wirken will. „Wesentliche Staatsaufgaben" hat man bisher allenfalls so zu definieren vermocht, dass sie unter Einsatz gerade der Hoheitsgewalt ausgeführt werden müssen. Darin allein, in der Unwiderstehlichkeit der Durchsetzung, kann vielleicht ein äußeres Zeichen, nicht aber eine innere Legitimation wesentlicher Staatlichkeit gefunden werden. Diese Durchsetzungskraft mag groß sein, sie hat aber an sich nichts Transpersonales, im Gegenteil: Sie ist ganz personal gedacht, von der Person des Gewaltträgers auf die des Gewaltunterworfenen gerichtet. Erst dort, wo das Transpersonale des Ordnens hinzutritt zu den „großen Lösungen", nehmen diese ihren „wesentlich staatlichen Charakter" an. Mit anderen Worten: Nicht die Staatsgewalt ist transpersonal, sondern die große Lösung, zu welcher sie eingesetzt wird. Umgekehrt aber liegt in allem, was losgelöst von Einzelpersonen und ihren Belangen entschieden wird, an sich schon eine Größe, welche dem Staat typisch ist, eben in jenem „Handeln ohne Ansehung der Person". Da mag die Entscheidung an sich im „kleinen", gestattenden oder versagenden, Verwaltungsakt ganz unbedeutend erscheinen; sie trägt etwas in sich von der Größe, in welcher sie wie ein Zeichen gesetzt wird, dass hier Staatlichkeit wirkt. Es gilt also nicht nur: Transpersonalität in Größe, sondern auch Größe durch transpersonale Entscheidung, selbst in deren kleinen Formen. Zum Wesen des Überpersönlichen gehört es, dass hier etwas wie eine „Sache" über die Menschen tritt; in den Entscheidungen der Staatlichkeit ist es die öffentliche Sache, die res publica; in ihr wird jeder Äußerung der Staatlichkeit etwas von deren transpersonaler Größe verliehen. Wenn sie bewusst als solche gesetzt wird, wenn dies in großer Dimension geschieht, entfaltet sie eine transpersonale Kraft, die sie stets in den Raum der Staatlichkeit stellt. Der Staat handelt nicht nur ohne Ansehen der Person, sondern letztlich sogar ohne Ansehung von Menschen; ob dies gewollt ist oder nicht - in monumentaler Aktion wird es immer Wirklichkeit. Monumente sehen Menschen nicht an, sie stehen über ihnen.

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b) Erscheinungsformen des Transpersonalen in staatlichen Großlösungen Die Phänomene typisch staatlicher Großlösungen wurden mehrmals in diesen Betrachtungen beschrieben. Gerade in ihnen erkennt man stets etwas typisch Transpersonales. Da sind die Anstalten des Staates, die sich aus der „großen Zahl der Benutzer" definieren. Sie bezahlen entweder gleich - oder nichts, in beiden Fällen sind die Personen ohne Belang, die Anstaltslösung als solche zählt, die Person des Anstaltsbenutzers wird zum Durchlaufposten im wahren Sinne des Wortes. Zu den großen Lösungen gehört die Staatsaufsicht, wie sie vor allem heute im Umweltschutz begegnet. Sie sieht zwar alles mit Blick auf den gefährdeten Bürger, letztlich spielt seine individuelle Person aber keine Rolle mehr, es zählt die große gefährdete Zahl; Vorsorge für sie aber ist transpersonal gedacht, der Einzelne ist ihr nur Anlass. Den Schaden bei wenigen würde ja diese so menschliche Staatsgewalt ohne Bedenken in Kauf nehmen, sie eben dem öffentlichen Interesse - einer transpersonalen Kategorie - opfern. Treten Schäden „im Großen auf 4 , so erhalten sie die transpersonale Dimension des Bruchs der öffentlichen Ordnung, der nicht geduldet werden kann, weil hier der Staat in seiner eigenen Dimension getroffen wird. Gefahrenabwehr prägt noch immer, über den zentralen Polizeibegriff des Verwaltungsrechts, Kernbereiche der Staatstätigkeit. „Gefahr" muss aber als ein transpersonaler Begriff erkannt werden, nicht nur in ihrer allgemeinen Größe, sondern in dem Atmosphärisch-Undefinierbaren, das sie umgibt; hier wird der Kampf mit der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts aufgenommen; die getroffene Person spielt keine Rolle, sie ist austauschbar, im Grunde doch wieder vor allem nur Anlass. Die Zahl möglicher Verletzter bleibt denn auch meist gleichgültig, weil die Anstrengungen der Gefahrenabwehr eben, durch diese „möglichen Geschädigten hindurch", letztlich auf ein transpersonales Ordnungsergebnis gerichtet sind. Am ehesten fassbar vielleicht wird aber Transpersonalität in der großen Organisation. Hinter sie treten die organisierten Personen ebenso zurück wie die durch sie geordneten Adressaten ihrer Wirkungen. Nicht als ob die Organisation nun zum Selbstzweck würde, doch bei ihrer Betrachtung wird nur das Überpersönliche sichtbar, und sie verleiht dies sogar den Gestaltungen, welche sie hervorbringt; es gibt etwas wie ein Gesetz der Transpersonalisierung der Lösungen durch die Organisationen, deren Stempel sie tragen, durch die oder in deren Namen sie erfolgen. Der Staat selbst aber ist und bleibt doch der Prototyp jeder Organisation, die als solche immer allumfassend gedacht, darin ganz und gar transpersonal nur zu verstehen ist. Ob es nun „wirklich zu Lösungen kommt", oder ob sich seine Institutionen und Beamten in sich bürokratisch drehen - hier laufen wesentlich transpersonale Vorgänge ab, und diese Angst hat ja immer wieder in Bürokratiekritik getrieben. Sie sollte nicht verunsichern, denn jenseits der Personen ist eben nicht nur die Gewalt, sondern auch und zuallererst die ordnende Größe. 53*

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c) Der Staat - als juristische Person überpersönlich Dass die Staatlichkeit selbst personal konstruiert erscheint in der Lehre von der juristischen Person des öffentlichen Rechts, bedeutet keine Personalisierung der Staatsgewalt, keine Absage an deren wesentlichen Transpersonalismus und seine Kraft. Damit wird der Personenbegriff ins öffentliche Recht eingeführt - dies zeigte sich schon - nur mehr als ein Bezugspunkt für Rechte und Pflichten, als ein archimedischer Punkt sozusagen der Organisation. Sicher tritt jene typische Verkleinerungswirkung der Organisation durch Personalisierung darin ein, dass die eine Staatlichkeit in viele „juristische Personen des öffentlichen Rechts" unterteilt erscheint. Etwas von der Abschwächung der Lösungen durch das Personale ist auch hier durchaus wirksam. Doch die Größe, in welcher Transpersonalität sich entfalten kann, bleibt selbst darin bestehen: Diese „juristischen Personen des öffentlichen Rechts" sind eben im Letzten nur juristische Hülsen für große Staatslösungen, beliebig jederzeit zu erweitern, in der Überwindung der personalen Verengung. Die juristische Person des öffentlichen Rechts ist „Person nach dem Maße der großen Lösung" - eine wesentlich transpersonale Person, wenn diese Wortverbindung erlaubt ist. Hier macht der Staat seinen Frieden mit dem, was Persönlichkeit an reduzierter Dimension bedeuten könnte, er schafft sich seinen eigenen Personenbegriff, bleibt in ihm - groß, bis zur Monumentalität. So mag sich erklären, warum man im Letzten nie den „Staat als juristische Person" hat ernst nehmen können. Gewirkt aber hat immer auf seine Bürger und über ihnen das Personenbild, die personifizierte, „etwas menschlich" erscheinende, doch noch irgendwie zurechenbare große Lösung. Die Person des öffentlichen Rechts ist eben ein Staatsdokument, sie trägt die Züge der Menschen, aber sie ist aus Erz.

d) Hoheitsgewalt - Großlösung in transpersonaler Form Die Hoheitsgewalt ist die zentrale Kategorie des öffentlichen Rechts, sie wird, ebenso allgemein wie wenig reflektiert, laufend gebraucht. Einbürgern konnte sich die Begriffsbestimmung des Verwaltungsrechts, vor allem aber der Verwaltungsgerichtsbarkeit: die Einseitigkeit des Einsatzes, das Recht der Selbstvollstreckung. Ganz hat dies die Theorie des öffentlichen Rechts nie befriedigen können, immer wieder hat man, flankierend oder nicht, gleich noch auf den Träger dieser Gewalt verwiesen, eben die große Staatsorganisation, oder auf jenes öffentliche Interesse, aus welchem heraus stets die „virtuelle Großlösung" entsteht. Im Grunde zeigt dies nur eines: Hoheitsgewalt kann überhaupt nur transpersonal bestimmt werden, nicht aus dem heraus, was auch Personen vermöchten, aus dem einseitigen Einsatz, wie ihn auch Notwehr und Nothilfe kennen; Hoheitsgewalt ist nicht Staatsnotwehr. Die transpersonale Organisation oder das transpersonale öffentliche

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Interesse sind ihre wirkliche Legitimation; formelle Abgrenzung befriedigt Verwaltungsgerichte, nicht die Staatslehre. Die Transpersonalität der Hoheitsgewalt tritt darin hervor, dass sie aus einer so großen Organisation herauskommt, ihr jedenfalls zugerechnet wird, dass dort personales Handeln völlig verschwindet, im Vorgang der rechtlichen Zurechnung jedenfalls aufgehoben erscheint. Transpersonal ist die Hoheitsgewalt auch darin, dass sie sich an einen Bürger richtet, der „als solcher", als unverwechselbare Person, gleichgültig bleibt, letztlich nur als Teil der großen Gemeinschaft von ihr erkannt wird. Materiell erkennt man so die Hoheitsgewalt als Großlösung, bis hin zum kleinsten Verwaltungsakt, dem sie nur darin die Majestät verleihen kann, die alle achten. Hier liegen auch letzte Grenzen der Vertraglichkeit im öffentlichen Recht. Sie bedeutet immer eine Form der Personalisierung, im do ut des wird die große Staatlichkeit für einen Augenblick zur Person wie die ihres Partners, des Bürgers. Wenn in dieser öffentlich-rechtlichen Verträglichkeit mehr gesehen wird als eine Erscheinungsform der Staatlichkeit, wenn nicht die grundsätzliche Ersetzbarkeit durch Verwaltungsakte bleibt, so könnte sich hier der Staat in personalisierte Kleinlösungen verlieren, darin sein transpersonales Wesen aufgeben. Weil hinter dem Begriff der Hoheitsgewalt die Großlösung steht, nicht aber notwendig hinter allen Formen der Vertraglichkeit, ist das Misstrauen begründet, mit welchem immer diese Formen der Enthoheitlichung begleitet wurden; sie bleibt nur dann legitim und staatlich, wenn Hoheitsgewalt bewusst Großlösung sein will, mit der Kraft der Transpersonalität, wenn sie sich nicht auf die personale Höhe des Partners herabziehen lässt. So wie Hoheitsgewalt sich wesentlich aus der Transpersonalität der wenigstens virtuellen Großlösungen definiert, so gilt dies auch für die Staatshaftung, die Reparatur ihrer Folgen. Sie ist etwas ganz anderes als die Selbstversicherung des Staates gegen Großrisiken oder Fürsorge für seine Organe. Hier trägt der Staat die großen Folgen der großen Entscheidung in Transpersonalität, nicht um den Bürger primär schadlos zu stellen, sondern als die große Form der Versicherung im öffentlichen Interesse. Haftungsbeschränkungen kann es da nicht geben, und stets muss der Wesensunterschied zwischen privater und staatlicher Verantwortlichkeit gewahrt bleiben, denn diese Letztere ist nicht ein Phänomen des Ausgleichs zwischen Personen, sondern eine transpersonale Ordnungsentscheidung - in diesem Sinn eine „große Reparatur", auch wenn nur Kleines geleistet werden muss. So legitimieren sich denn die zentralen Handlungsformen des öffentlichen Rechts aus jenem Transpersonalismus heraus, unter dem der Monumentalstaat steht. Gäbe es ihn nicht, ein öffentliches Recht wäre heute nicht denkbar, morgen nicht - vielleicht - zu überwinden.

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e) Kein Neid gegen transpersonale Staatlichkeit Die wichtigste Kraft wohl, welche die große Lösung in ihrer Übelpersönlichkeit dem Staat verleiht, ist die, welche ihn im Namen des Transpersonalen über den Neid der Personen hinaushebt. Mehrfach schon wurde hier die Größe des Monumentalstaats erkennbar, seine Bedeutung gerade für die Demokratie, die Staatsform des politischen Neides. An der großen Lösung prallt er an sich schon ab, vor allem aber an der, welche nicht mehr mit dem Maß der Person gemessen wird. Wie sich der teuflische Neid gegen die Person des Schöpfergottes richtet, so kann es ihn in der Politik nur dort geben, wo Lösungen oder Organisationen personalisiert werden. Jene politischen Mächte, welche Schöpfungskräfte des Neides preisen und brauchen, müssen überall und immer versuchen, im Staat zu personalisieren, jede Organisation wahren oder vermuteten Ausbeutern zuzurechnen. Gegen die staatliche Großveranstaltung aber ist kein Neid zu richten, sie bleibt wesentlich „Sache", nicht Handlung einer Person, einen Neid gegen Sachen gibt es nicht und nicht gegen die wahre res publica. Mit solcher Legitimation hat der Staat den Sozialismus zu überleben vermocht - in sich aufgenommen.

6. Transpersonale Symbolkraft der Monumentalstaatlichkeit Ganz großen Unternehmen ziehen Fahnen voraus, Großlösungen entfalten Symbolkraft, ihr Transpersonalismus ist des Symbols fähig. Hinter den Fahnen und Hoheitszeichen der Staatlichkeit steht die eine, ganze Staatsgröße, der Monumentalstaat. Namen und Bilder haben hier nichts mehr Persönliches, ob sie Akte siegeln, Anstalten betiteln, Organisationen umgeben. Wo Hoheitszeichen gezeigt werden, bewegt sich etwas im „ganz großen staatlichen Raum", immer bedeutet es dann eine Teilerfüllung dieser Riesendimensionen, in ihnen ist es zu sehen, sie drücken ihm - ein schönes Bild - den Stempel der Größe auf, den des Monumentalstaates. Das Symbolon wird hier wirklich etwas wie ein Zusammenwerfen von Lösungen in die große Dimension, ein vergleichendes Hinaufrechnen von der einzelnen staatlichen Handlung in die Monumentalstaatlichkeit. Symbolisiert wird ja nie etwas Kleines, stets nur das ganz Große, die überpersönliche Lösung. Dem Wesen des Symbols entspricht es, dass es nicht überall gezeigt werden muss, wenn in ihm einmal Größeres erkannt worden ist. So muss nicht jedes staatliche Handeln gestempelt und gesiegelt werden wie der große Staatsakt; es gibt etwas wie ein unsichtbares Siegel auf aller Staatlichkeit - immer dort, wo Großes geschieht in Transpersonalität. Dies nämlich liegt ja zuallererst im Symbol, dass es nichts Persönliches bezeichnet, nicht auf Personen allein hinweist. Hier hat sich der große Umschlag im Staatssymbol vollzogen, vom Kaiserkopf in den Adler. Staatssymbole sind Zeichen für die Existenz eines überpersönlichen Willens, für den Hauch einer volonté générale in der Demokratie. In dieser Staatsform haben

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sie zu ihrem innersten Wesen gefunden, abgefallen sind von ihnen die Siegel als Zeichen von Personen. Hier ist die Majestät des Zeichens erreicht, das, größer als jede Person, sich über den Menschen - zeigt. Der Monumentalstaat ist weder die Statue der Großperson des ägyptischen Königs noch die Person eigener Art einer geheimnisumwitterten Sphinx. Ganz Zeichen ist sein Mahnmal - Pyramide, Kreuz oder das ganz große R der Republik. Zu seinem Himmel mit seinen nahen und fernen - aber immer großen - Erscheinungen blicken die Menschen hinauf - so wie der Monumentalstaat sie über-sieht...

VII. Die Transzendenz der Großlösung der „göttliche Staat" Für Liberale, deren Staatsdogmatik sich in Herrschaftsabbau, Privatisierungen und Absterben der Staatlichkeit erschöpft, waren die vorhergehenden Kapitel schon ein Ärgernis; das Folgende ist nicht mehr für sie geschrieben. Und doch ist es das notwendige Ende dieser Betrachtungen, gerade in einer Zeit, aus welcher die Transzendenz des Religiösen zu verschwinden scheint - immer wieder kehrt sie in säkularisierten Formen zurück: Wer den fernen Gott nicht anbetet, verneigt sich vor dem nahen Staat - oder er wird von ihm in die Verehrung gezwungen. Heutige Staatlichkeit ist nicht verständlich, in ihren Aufschwüngen zu großen Lösungen, werden nicht die Wurzeln erkannt, aus denen dieses Monumentaldenken in der Vergangenheit gewachsen ist. So folgt denn auf die Betrachtung der Staatsgröße als Ausdruck der Transpersonalität ein Blick auf die große Lösung als eine Erscheinung, hinter welcher Transzendenz steht. Durch den Rationalismus gegenwärtiger Spätest-Aufklärung kann all dies verdrängt werden. Dass es auch dann wieder, mit einem Mal zurückkommt, weil es eben in den Menschen liegt, hat die Geschichte oft gezeigt, nicht nur im geistigen Neubeginn der christlichen Staatsidee aus den zerfallenden Rationalismen der griechischen Staatsphilosophie.

1. Vom Transpersonalen zum Transzendenten der Großlösung Die Vergöttlichung des Staates ist kein Mythos, sondern eine tägliche Realität, vor allem aber eine Notwendigkeit der praktischen Vernunft im kantischen Sinn. Die Königsberger Kategorienlehre hat bei den staatsgrundsätzlichen Betrachtungen gezeigt, wie Raum, Zeit und Kausalität als menschliche Erkenntnisformen im Staatlich-Politischen wirken - in ihren Schwerpunkten des staatsschaffenden Triumphes, der zeitlichen Wiederkehr der „guten Staatsformen" und der Großdimension des monumentalstaatlichen Raumes - wie sie Erkenntnis- und Analysehilfen sind, welche das Wesen der großen, dauernden Herrschaft, der Imperialität im

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eigentlichen Sinn haben begreifen lassen. Zum Höchsten hinauf führten sie in jener Monumentalstaatlichkeit, welche Gegenstand dieser Betrachtungen ist. Doch hier kann eben der Menschengeist nicht stehen bleiben. Kant hat die Notwendigkeit der metabasis eis allo genos gelehrt, des großen Sprunges der praktischen Vernunft: Sie kann das Transzendente nicht erkennen, aber postulieren. Und so hat denn die Staatsgestaltung nicht nur konstruiert und erkannt, sondern stets ausgegriffen auf die Transzendenz, in der Divinisierung des von ihr Erkannten, Geschaffenen, ihres Staates. Göttlich wird darin der große Staatserfolg als Gottesgeschenk, ein Gotteswunder die Staatsrenaissance, vor allem aber ist die große Staatslösung ein fernes, vielleicht auch nur kleines Zeichen der ganz großen Staatsidee, aus der auch die kleinste Regung der Hoheit lebt. Doch wie der Mensch weder zum gestirnten Himmel immer hinaufblickt, noch nach dem moralischen Gesetz stets lebt, so ist auch diese Vergöttlichung des Staates rasch zu ihm herabgestiegen, von ihm vor die Wagen seiner Macht gespannt worden. Nicht der hohe Staat des platonischen Agathon der Ordnung wird divinisiert, seine reale Macht betet man an, leiht ihr dann immer noch mehr Kraft. Und wenn die Vergöttlichung, die Transzendenz, im soeben beschriebenen Transpersonalismus, den Staat über die Bürger, vor allem aber über die Herrschenden hinausheben wollte, so siegt doch auf transzendenten Höhen mühelos erneut die Personalisierung, wie die semitische Gottesidee zeigt: Aus der Divinisierung des Staates wird die der Macht, aus der Vergöttlichung der Macht die des Machtträgers, des Imperators. Es ist, als könnten die Gewaltunterworfenen den transpersonalen Staat allein in seiner Größe nicht denken, als genüge er ihnen nicht. Personen sollen über ihnen stehen in Transzendenz, in dem, was wirklich nur ein Postulat sein kann: in der Divinisierung der Kaiser und Volkssouveräne. Für praktische Politik ist Transpersonalismus stets nur ein leeres Wort, die Transzendenz des vergöttlichten Machtträgers ist eine Realität, aus welcher dem Staat noch immer die letzte Kraft gekommen ist. Das römische Modell, welches hier oft begegnete, stellt sich auch darin wieder vor: Die transpersonale Republik wurde in der Transzendenz der Göttin Roma personalisiert, sodann rasch die Macht in der Fassbarkeit der Soldatenkaiser divinisiert. Gemeint war damit immer nur eines, für den Bürger fassbar gemacht: der Monumentalstaat. Wer dieses Staatsmonument fürchtet, dem ist immerhin die historische Gefahr zuzugeben, dass sich immer wieder die transpersonale Großrealität des Staates rasch gewandelt hat in die Transzendenz der vergöttlichten personellen Gewalt von der Großlösung zum Großinquisitor. Diese Gefahr wird gegenwärtig bleiben, beschwören kann sie nur, wer den Staat in seiner Transpersonalität stets ganz groß setzt; wird er verkleinert, gerade dann findet die Politik rasch zur personalen Divinisierung, zur Transzendenz des Führertums. Transzendenz kann nicht durch ihre Leugnung bekämpft werden, einem Postulat tritt man nicht mit Erkenntnissen, sondern mit Gegenpostulaten entgegen, und so

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auch hier: Nur wenn die Staatstranszendenz in der großen sachlichen Lösung Wirklichkeit zu werden scheint, ist der Schatten des Gott gewordenen Führers gebannt.

2. Die Notwendigkeit des „Staatsgöttlichen" in der Monumentalstaatlichkeit Es muss etwas Staatsgöttliches aus der transpersonalen Erscheinung und Macht des Staates herauswachsen, sonst gibt es nicht nur kein „Heiliges Reich", sondern nicht einmal den täglichen Staat. Die Absolutheit muss beim Staat liegen, bei ihm allein, er ist in allem und jedem nicht das Relative, er, das Realität gewordene letzte Wort. Wer also große Lösungen von ihm verlangt, muss letztlich das absolut Große ihm abfordern, virtuell wenigstens, in einer Dimension, in welcher seine Gestaltungskraft sich entfaltet, in der sein Geist weht, wo er will. In allem, was hier als große Lösungen gesehen und gefordert wurde, muss dieser Zug in die Unendlichkeit der absoluten Größe sich irgendwo finden. Auch in seinem kleinsten Akt wirkt stets der ganze, unbegrenzt starke, grenzenlos reiche Staat. Diese transzendent gesehene Staatlichkeit ist der Adressat der heiligen Zehn Gebote, vor allem der ersten Drei: Andere Götter hat er nicht neben sich, nichts erreicht auch nur annähernd die Höhe und Größe seiner Monopole. Niemand soll seinen Namen missbrauchen, mit ihm seine kleinen, personalen Belange bezeichnen, oder seine Macht gar in seine kleine Münze wechseln, ihn als seinesgleichen behandeln, bekämpfen, beschimpfen. Zeit muss schließlich stets für ihn sein, seinen Dienst, seine Verehrung, den Zoll eines Teiles des Lebens verlangt er von jedem. In all diesen Forderungen ist und bleibt er der Große, sie werden an den Bürger gestellt im Namen der großen Lösungen, in denen all dies zusammenläuft. Mögen Liberale es weiter leugnen: Der Staat hat sich zum Gott auf Erden gemacht, gerade mit ihrer Hilfe, die sie Gott in die verdämmernde Transzendenz zurückdrängen wollten. Der entscheidende Unterschied, dass der Staat nämlich diesen Bürger ja nicht geschaffen hat, ihm also nie mit der gleichen Allmacht gegenüberstehen darf wie der Schöpfer - in der praktischen Politik gibt es ihn nicht. Der Staat sieht sich, in seinen ganz großen Lösungen und Befehlen, als ein göttlicher Herr selbst über das Leben des Bürgers. Der Extremfall des Krieges zeigt es: Hier wird das Opfer des Lebens gefordert, durch die größte Entscheidung der Staatlichkeit, mag man sie nun Verteidigung nennen oder anders. Was der Staat nicht gegeben hat, darf jeder Kompanieführer im Himmelfahrtskommando nehmen, in seinem Namen. Wehrdienstverweigerung ist kein Einwand, wenn sie überhaupt grundrechtlich-rechtsstaatliche Notwendigkeit sein sollte: Sie wird ja gerade nicht gewährt, um dem Verweigerer das Opfer des Lebens zu ersparen, entbunden ist er nur vom Töten, nicht vom Sterben. Wenn

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im Kriegsfalle etwa militärische Evakuierungsbefehle vernichtende Lebensrisiken bringen, nur damit der Kampf fortgesetzt werden könne, so sind sie legal, keine Wehrdienstverweigerung wendet das Lebensopfer ab. Und das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass einer für die Rechtsordnung zu sterben habe, damit der Staat nicht erpressbar sei - der Göttliche. Schamhaft bedeckt die Staatsrechtsdogmatik diese Probleme, und sie tut gut daran. Einmal aber muss ausgesprochen werden, dass all dies nur rechtens sein kann, wenn der Staat in seinen großen Entscheidungen eben doch handeln darf wie Gott, wenn in diesen seinen Größt-Lösungen Transzendenz ist, nicht nur Transpersonalität. Doch es bedarf gar nicht der Erwähnung der Todesopfer, welche dem transzendent gesetzten Staat allenthalben gebracht werden müssen. Lebensopfer seiner Bürger fordert er, im Namen großer Lösungen, täglich und überall: Er schenkt und nimmt ihnen Lebenschancen in Freiheitsbeschränkung, Eigentumsgestaltung und Enteignung - Güter und Werte, aus denen heraus ihre Existenz eine andere hätte werden können. Der banale Einwand, dies sei ein Gemeinschaftsrisiko, oder der Bürger könne sich ja auf all dies einstellen, rechtfertigt nichts, er ist so viel wert wie die Gottesrechtfertigung, welche dem Leidenden entgegengehalten wird: Er möge Gott auch in seinen Schmerzen preisen, weil ihm dieser immerhin das Leben geschenkt habe. Wie lange wird es noch dauern, bis auch der selbstbewusste Bürger die glatte Staatsrechtfertigung des Gemeinschaftsrisikos nicht mehr gegen sich gelten lässt, als Begründung des täglichen Verlustes von Lebenschancen? Wenn nun aber Staatlichkeit gar nicht anders vorstellbar ist als im Verlangen nach dem großen Opfer, wie es eigentlich nur der Schöpfer zu fordern hat, so muss auch dem Staat Transzendenz zu eigen sein, er muss sie sich aber auch durch geradezu transzendentes Handeln - verdienen. Dies nun zwingt ihn entscheidend in die großen Lösungen. Nur in ihrem Namen ist der Bürger zum großen Opfer bereit, ganz deutlich im Verteidigungsfall, bei Katastrophen, großen Wirtschaftskrisen. Nicht nur auf Notstände darf all dies aber beschränkt bleiben, von ihnen aus muss bis in die täglichen Erscheinungen der Staatsgewalt nicht hoch-, sondern hinuntergerechnet werden. In dem Maße allein, in welchem sich in ihnen noch etwas von der Transzendenz der großen Lösung erkennen lässt, ist selbst der schwächere Zugriff auf das Leben des Bürgers und seine Chancen gerechtfertigt, das Eindringen in seine vom Staat nicht geschaffene Freiheit. Güterabwägung wäre sicher hier immer gefordert, doch wie oft ist für sie nicht Zeit, wer wollte sie vornehmen und nach welchen Kriterien? In die Knie geht der Bürger nicht vor den Abwägungsgedanken des Rechtsdogmatikers, sondern vor der Größe der politischen Entscheidung. Ihre Dimension ist letztlich abgekürzte, überzeugende Abwägung. So ist denn das Staatsgöttliche Voraussetzung der Staatlichkeit überhaupt, der Staat muss dem stets „virtuell großen Gehorsam" immer auch mit den „virtuell großen Lösungen" entsprechen, mit deren Ergebnissen er dann die Gehorchenden auch - bezahlt.

F. Monumentalstaatlichkeit - staatsrechtliche Kraft

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3. Schauder als Staatsgrundlage Oderint dum metuant steht über aller Staatlichkeit immer, was kann die Furcht als Staatsgrundlage ersetzen, in Zeiten des Verlustes konsensgetragener Werte? Das Wegreden der Furcht aus dem Staat in unseren Tagen gehört zu den Unehrlichkeiten der Gegenwart. Wohl muss sie immer mit guten Worten verbrämt werden, mit jenem Vertrauen, das der Bürger zu seinem Staat zeigen soll, wie der Mensch zu seinem furchtbaren Schöpfer. Sanktionen mögen zurücktreten in Zeiten des Reichtums, und lange kann sich eine niedergehende Staatlichkeit Anarchismen, eine Freiheit von Staatsfurcht, leisten. Doch sanktionsloses öffentliches Recht hat sich noch nie entdecken lassen, es wandelt sich nur in der Art der Sanktion, der Furcht vor dem Staat. Weglaufende Sklaven wurden bestraft - dem modernen Staat können seine Bürger nicht mehr entfliehen. Wer sich in Unentrinnbares ergibt, braucht sich auch nicht zu fürchten, nur im Freiheitsverlust ist die Furcht ganz aufgehoben. Vielleicht sollte man vertieft darüber nachdenken, ob Furcht nicht das Zeichen der Freiheit ist, und auch des Mutes zur Sünde. Soweit heute nicht die Furcht mit der Freiheit verschwindet, vollzieht sich lediglich ein Austausch der Zwangsmittel, damit auch eine Wandlung der Furchtformen, bis hin zur systematischen Vorsicht des „kleinen Mannes", der überall ausweicht, damit er nicht in die großen staatlichen Maschinen gerate. Es bleibt also dabei: Solange noch Freiheit gehalten wird im Staate, muss dieser den Bürger das Fürchten lehren. Wovor wohl? Immer nur vor dem, was zuallererst fürchten macht: vor der Größe. Gegen die Großentscheidungen der Planung erheben sich viele Stimmen, aber letztlich keine Hand mehr. Die Kriegsentscheidung wird zum Kismet, in die Großorganisation lässt sich der Beamte fallen. Und dies alles ist gut so, denn der Staat hat immer die Furcht gebraucht und die Resignation, um sich nicht fürchten zu müssen. Hier erreicht er erst recht die Verbindung zur Transzendenz seiner Großlösungen. Der innerste Kern der staatsprägenden semitischen Großreligionen war der große Gott, zuerst war er immer groß, furchtbar in dieser Dimension. Das Ausmaß ist das Erste, was erkennbar wird, im Göttlichen wächst es über alle Diskussion hinaus. Gott muss seine Güte nicht beweisen, da er groß ist, und so der Staat. Wenn immer wieder so rasch vor allen Gerichten die Diskussionen abgebrochen werden über die Abwägung des Öffentlichen und des Privaten, so geschieht dies im Namen der Größe des Ersteren, die nicht diskussionsfähig ist, vor der sich der Bürger eben doch - nur zurückziehen kann, mit etwas wie Resignation und auch Furcht im Herzen. Selbst die Theorie des Gewaltabbaus findet in dieser „Furcht vor Staatsgröße" noch eine Bestätigung: Staatsfurcht - und warum sollte das Wort böser sein als Gottesfurcht? - kann der Gewalt zuvorkommen, sie überflüssig machen, ersetzen. Aufklärerische Rationalität schreibt all diese Wirkungen jener Information zu, welche die Formation des Staatswillens überflüssig macht; doch mehr noch kommen sie aus der Furcht von den großen Lösungen der Staatlichkeit. Müssen diese durch-

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Buch 3: Der Monumentalstaat

gesetzt werden, so wäre das in der Tat oft ein unverhältnismäßiger Schlag und Verlust für den Bürger. Da er zu fürchten gelernt hat, sich von selbst zurückzieht, ist gerade sein Staat der furchtbar großen Lösung zugleich der des kleinsten Eingriffes. Für den Staat aber bedeutet dies eine Lehre: Zuzeiten muss er mit „großen Schlägen" vorgehen, um etwas von jener allgemeinen Stimmung der Furcht zu erzeugen, die ihm dann gewaltloses Ordnen und Regieren wieder erlaubt. Dies ist nicht nur eine alte Weisheit von Tyrannen, es liegt schon im Wort der „furchtbaren Größe" beschlossen. Da mag etwas sein von den Grundregeln der Dressur, entscheidend aber bleibt immer der kalkulierte große Schlag, er allein erzeugt heilsame Furcht, nicht ein Entsetzen, das sich mit Ekel abwendet. Hier liegt die unverrückbare Grenze zwischen Staatsgröße und Staatsgrausamkeit; die Ermordung des Herzogs von Enghien konnte Talleyrand einen staatlichen Fehler nennen, weil sie nicht Furcht verbreitete, sondern Furcht zeigte. Nur der Monumentalstaat ist von diesem Schauder des Transzendenten der wahren Großlösung umgeben; so braucht er meist den großen Schlag nicht zu führen. Sein ordnendes, mahnendes Sein ist genug, zu ihm schaut der Bürger auf, weil er ihm Großes zutraut - nicht also nur in Furcht, sondern eben doch auch in Vertrauen.

4. Transzendenz - Hingabe an die Gnade des Großen Der Staat muss auf Erden sein wie der göttliche Pantokrator in den Himmeln: Sein Bild muss Furcht und Liebe verströmen, nicht nur die Gewalt des Schwertes zeigen, sondern auch die Hoffnung wecken auf die große Gnade. Nur dann werden die größeren Staatsopfer gebracht, wenn sich der Bürger nicht alles verdienen muss, wenn er sich letztlich auch dem schenkenden Staat hingeben darf. Die große Lösung kann also nie allein der Schlag sein, immer ist sie auch das Geschenk. Ein Liberalismus, der weder das eine will noch das andere, der dem Staat die große Strafe verbietet und die große Hilfe, bringt ihn zum Sterben. Staatlichkeit als „große Lösung" bedeutet auch, dass diese höchste Instanz auf Erden die Menschen beschenkt mit Diensten und Einrichtungen, dass sie ihnen darin die Füße wäscht. Privilegien verleiht sie ihnen mit ihrer Hoheitsgewalt, und all dies aus der Fülle ihrer Größe heraus, in einer wahren, unverdienten, gar nicht verdienbaren Staatsgnade. Dies alles hat einen transzendenten Grund: Wenn der Staat nicht ganz groß begnadigen und beschenken kann, verdient er seinen Namen nicht. Und der Monumentalstaat ist die Ordnung der großen letzten Amnestie, des ganz großen Verzeihens. Machtsouveränität liegt in der Entscheidung über den Ausnahmezustand Staatssouveränität im Recht auf Begnadigung. Darin gerade muss der Staat der „ganz Große" stets sein, dass er durch Gnadenerweis in all seinen Spielarten, in der Gewährung des Unverdienten und Unver-

F. Monumentalstaatlichkeit - staatsrechtliche Kraft

845

dienbaren, des „Glückes auf Erden", über seine eigenen Grundstrukturen der Rechtsstaatlichkeit noch hinwegsteigt, sie in noch größerer Lösung überhöhend. Diese Staatsgnade, welche dem Verbrecher zuteil wird wie dem Bedürftigen, dem Begabten wie dem Verdienten - sie darf nie ganz zum Recht werden, es ist ein Souveränitätsrecht des Staates, zu Hilfe kommen zu dürfen. Subvention ist nicht Ärgernis, sondern, in ihrem letzten Kern, eine große Lösung begnadender Souveränität. Ein Abglanz von all dem muss über der ganzen Staatlichkeit liegen, etwas von jenem Totalcharakter der Gnade, die nie anders denn als eine große Lösung gedacht werden kann. Sie ist recht eigentlich Transzendenz, sie wird in etwas wie Andacht angenommen, in ihr wird die Unterwerfung zum Dank. Es kann nur der in sich ruhende, im Letzten bewegungslose Monumentalstaat sein, aus dem sich diese Kraft zur Gnade ergibt. An diesem Punkt wird die große kelsenianische Gleichung von Staat und Recht erreicht, von Staatlichkeit und Gerechtigkeit: Der Staat allein darf Recht und Gnade verteilen, er „ist es" aber nur in ganz großen Lösungen. Etwas von der Stimmung eines Jüngsten Gerichts liegt über jeder Regung der Staatlichkeit. Es ist das Gerechteste, weil das Gericht der größten Lösungen, in seiner Monumentalität voll und ganz transzendent.

5. Der Monumentalstaat: Imperium des Geistes - Universitas Der großen, dauernden Ordnung wurde hier der Name des Reiches gegeben, wie schon von vielen Generationen. Der Monumentalstaat ist eine Seite, die sichtbarste, dieses Imperiums. Seine Lösungen sind so groß, weil sie aus den ganz mächtigen Erfolgen erwachsen - sie erreichen letztlich triumphale Dimensionen. Seine Lösungen sind so groß, dass sie unter der Erde liegen und sodann wiederkehren können in Staatsrenaissance. Dieser Monumentalstaat ist so weit wie das Reich vorgestellt werden muss, in allem und jedem. Er ist so ruhig in seiner Monumentalität wie die imperiale Ordnung, die alle Bewegung unter sich hält, er ist so weit wie die Bögen des Reiches, die noch heute das römische Vorbild zeigt. Und doch ist diese Imperialität des Monumentalstaats nichts Fernes, Unmenschliches: Das Staatsmonument ist nicht kalt wie Stein, es redet und mahnt die Menschen, macht diese zu seinen Bürgern. Dies ist wahrhaft ein Staat der Kultur, im eigentlichen Verständnis der Erziehung, der großen Paideia im Sinne Piatons: Wenn der Staat die Bürger nicht mehr zum moralisch Guten erziehen kann, so möge er sie doch zum Großen heranbilden, in seinen eigenen Lösungen; und wo wäre er mehr dazu berufen als in einer Staatsform, in welcher der Bürger an diesen großen Entscheidungen teilhaben, sie mittragen soll? Der Monumentalstaat als Menschenbildner durch große Lösungen erreicht damit die Höhe der Universitas - nicht nur im Sinne des Einbindens aller Menschen und Gegenstände der Entscheidung, sondern gerade in dem, was die eigentliche Uni-

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Buch 3: Der Monumentalstaat

versität stets hat sein sollen: in der geistigen Bildung von Menschen durch die große Lösung im „Weiter-Bilden an der Idee", die einst ein Schöpfergott gedacht hat in Transzendenz. Dies alles lässt sich in ein Wort fassen: „Das demokratische Reich".

Ausblick: Der Monumentalstaat eine Statue der Freiheit Die Angst vor dem Monumentalstaat kommt aus der Freiheit: Ist dies nicht ein neuer, lastender Perser-Staat, der die Freiheit erdrückt, in welcher Statuen geschaffen werden, nicht Monumente verehrt, fällt in solcher Unterwerfung nicht Staatskultur zurück in die Starrheit überwundener Machtstrukturen? Diese Betrachtungen können solche Sorgen beruhigen. Die Staatsgröße ist zunächst und vor allem eine Kategorie des Raumes, nicht der Kausalität, er zwingt nicht in intensive Gewalt, unter lastende Herrschaft, er ermöglicht große Ordnung. Dass „viel umbauter Raum sei", ist das Ziel, nicht aber, dass sich in diesem nichts mehr bewege. Der Staat soll stets große Bögen und Hallen bauen, damit der Bürger sich in ihnen frei und weit entfalte. Nicht die systematische Lösung ist gefordert, die alles durchwirkt und verändern will, das Monument steht über dem System, es durchbricht alle Systematik. Der Staat kann und weiß gerade nicht alles, aber stets alles Große. Und wenn diese Blätter nur eines begründen konnten: die Absage an alle Formen der Staatspedanterie, so haben sie dem einen Dienst erwiesen, was als ganz große Lösung im Mittelpunkt und hinter all diesen Gedanken stand: die Freiheit des Bürgers, die größte aller staatlichen Lösungen. Denn nur so kann sie gedacht werden, Wirklichkeit bleiben, nicht in anarchisierender Staatsabkehr, in utopistischem Staatsabsterben. Die Bögen der Staatlichkeit müssen immer größer und weiter werden, damit die virtuell unbegrenzte Dynamik der Freiheit nie allzu hart an ihre Mauern stoße - weil sie schon wieder höher hinaufgebaut sind. Soll man das Wort wagen? Der Staat muss größer sein als die Freiheit. Ein geistloses politisches Missverständnis wäre es, in dieser Monumentalstaatlichkeit den Ausdruck konservativer Machtpolitik zu sehen. In einem höheren Sinn ist dies vielmehr Ausdruck des wahren Liberalismus: ein Staat, dessen Lösungen so groß werden, dass sie den Bürger halten, nicht hindern. Monumente mahnen, sie zwingen nicht, darin erreichen sie einen hohen Grad der Vergeistigung. Die Liberalen der jüngsten Vergangenheit waren es, die überall ihre großen Vertreter auf die Sockel hoben, wie auf Altäre der neuen Staatlichkeit. Von dort sollten sie mahnen, zur Freiheit, so wie diese eben nicht nur Recht, sondern zuallererst Mahnung bedeutet. Und so wie diese liberale Freiheit in ihrer Idee ewig, damit aber ganz groß ist, so sollte wohl dieser Monumentalstaat in großen Lösungen hinaufgebaut werden, hinüber über alle Freiheit, nicht auf sie.

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Buch 3: Der Monumentalstaat

Das größte Monument, in seinen Dimensionen wie in seiner Idee, ist auch heute noch die Freiheitsstatue, das Geschenk des Landes der Revolution an das Land der Möglichkeiten. Dies ist der Monumentalstaat, die Freiheit, die wir meinen, zu der wir emporblicken, sie weist unseren Staaten den Weg: monumenta - ad maiora.

Buch 4 Staatseinung - Ordnungskraft demokratischer Zusammenschlüsse

54 Leisner

Vorwort zu Buch 4: Staatseinung - Ordnungskraft demokratischer Zusammenschlüsse Diese Gedanken wurden längst vor jenem November gedacht, den niemand vorausgesehen hat; durch seine Wende sind sie bestätigt worden, nicht durch die Staateneinheit der Wiedervereinigung, sondern durch die mächtigen Einungskräfte, die das Neue entbunden hat. Diese Betrachtungen gelten der staatsbildenden, staatserhaltenden Kraft, welche aus dem „Vorgang des Sichzusammenschließens" kommt; Einung, nicht Einheit macht stark. Sie führt die Bürger zusammen im Volk, ihre Vertreter in den Abstimmungseinungen der Parlamente; die Demokratie ist wesentlich die Staatsform der Einung. Doch „Staatseinung" vollzieht sich noch auf vielen weiteren Ebenen, die mit der Bürgereinung zusammenzusehen sind: Immer mehr schließen sich Behörden, Verwaltungen und deren Träger zusammen. Neben die Bürgereinung tritt die Verwaltungseinung - ein Kraftquell typisch für moderne Staatlichkeit. Der deutsche Kulturraum war stets ein „Staatsgebiet des Föderalismus". Seit Generationen schwächt er den Staat nicht, er stärkt ihn im Ganzen, weil er ihn glaubwürdig macht, weil er auf „ständigem Staatsvertrag ruht", nicht auf dem Einheitsbefehl. Deshalb muss in diesem föderalen Deutschland über Staatseinung nachgedacht werden. In ihr liegt eine neue Kraftquelle einer größeren, dauernden Ordnung, neben dem Erfolgsdenken, der Wiederkehr der guten Staatsformen und der Staatlichkeit als großer Lösung. Der Befehlsstaat wird sich wandeln, sein statischer Institutionenstaat wird in einen dynamischen Einungsstaat übergehen. Europa entsteht nicht als Einheit, sondern in Einung. Ein Glück wäre es, wenn dies eines Tages dem Bild eines funktionierenden deutschen Föderalismus entspräche. Deshalb vor allem muss das Denken in Staatseinung in Deutschland vertieft werden. Und weil hier diese Einung erlebt wurde. Der Fall der Mauer bedeutet Zusammenkommen, das Brandenburger Tor ist ein Ziel, es steht auf einem Weg. Nicht dass alle eins seien ist das November-Vermächtnis, sondern dass sie immerfort einig werden, in Recht und Freiheit.

54*

Inhaltsverzeichnis Α. Staatswende: Vom Institutionenstaat zum Bürgerreich I. Der Staat der Institutionen - traditionelle Grundidee des Staatsrechts

861 862

1. Staatlichkeit - Institution in großer Dimension

862

2. Der statische „ideale Staat"

863

3. Das herkömmlich „deduktive" Staatsrecht

864

4. Der Institutionenstaat - ein aristokratisches Staatsverständnis

866

II. Die kopernikanische Wende: Von den objektiven Herrschaftsinstitutionen zur Einung der Herrschaftssubjekte 867 1. Von der Republik zum Volk

867

2. Staatseinung - Wiederkehr der Sozialvertraglichkeit

868

a) Sozialvertrag - säkularisierte Form des Staatsdenkens

869

b) Sozialvertrag - Staatsrechtfertigung, nicht Staatsdogmatik

870

3. Der Neo-Individualismus - die Neuentdeckung der „vielen Menschen" ..

872

4. Wider die Konsensformeln, die „vorweggenommenen Einungen"

873

5. Das neue subjektive Denken in Staatseinung

874

III. Staatseinende Demokratie - das neue Bürgerreich

876

1. Demokratie - ein staatsformübergreifendes Wort für Staatseinung

876

2. Staatseinung - eine imperiale Kategorie

877

3. Einungen - Dynamisierungen des „Reiches der Freiheit"

879

B. Das Wesen der Staatseinung I. Staatseinung und Einheitsstaat

880 880

1. Der Einheitsstaat als Machtstaat

880

a) Einung - Einigkeit - Einheit

880

b) „Einigkeit macht stark"

881

c) Die Gefahr: Staatseinung - Machtdynamik zum Einheitsstaat

881

d) Einheitsstaat - Vollendung der Einung?

883

854

Buch 4: Staatseinung 2. Gegenposition: Staatseinung - „Staat ohne Macht"

883

a) Das große Ziel der gewaltlosen Staatlichkeit

883

b) Ordnung als intersubjektives Netzwerk

884

c) Selbstbeschäftigung der Staatlichkeit in innerer Einung

885

d) Staatseinung als Friedenskategorie

885

3. ... und doch Staatskräfte aus „Staatserweiterung" a) Machtlose Kraft - der Service-Staat

886 886

b) Das Ende der „Staatsfeinde" - Einungserweiterung statt Toleranz ....

887

c) Am Ende: Entpolitisierung in Einung

888

II. Staatseinung - mehr als Dezentralisierung und Subsidiarität

889

1. Dezentralisierung - Weg der Einung oder Institution der Teilung?

889

a) Dezentralisierung - Rückgängigmachung des Einheitsstaates

889

b) Dezentralisierung als institutionelles Instrument verfeinerter Herrschaft - nicht mehr Einung 891 c) Staatsabbau in Autonomie, nicht Staatsaufbau aus Einung 2. Subsidiarität - Modell der Dezentralisierung, nicht Weg der Einung

892 893

a) „Im Zweifel für die kleinere Einheit" - ein Fortdenken der Dezentralisierung 893 b) Subsidiarität Autonomien

kein Einungsprogramm, Verstärkung isolierender

c) Subsidiarität - Prinzip der Staatsauflösung, nicht des Staatsneubaus .. 3. Einung als Zusammenwirken von Autonomien

894 895 896

a) Die drei Ebenen der Einung

896

b) Einungsdenken auf allen Ebenen

898

III. Zentrale Voraussetzungen der Staatseinung 1. Einung als Ablauf, als Verfahren a) Staatseinung - nicht nur „Staat als Verfahren"

900 900 900

b) Einung als „ständiger Ablauf der Staatlichkeit"

901

c) Für eine Aktivierung der Staatsziele!

902

2. Pluralismus - Voraussetzung aller Einung

903

a) Pluralismus - kein Zerfallszustand, sondern ein Aufbaubegriff der Staatlichkeit 903 b) Vielheit - das erste pluralistische Element

904

c) Vielfalt - der zweite Aspekt

906

Inhaltsverzeichnis

855

d) Der neue Pluralismus: Einung von Menschen und Organisationen in „Föderalgemeinschaften" 906 e) Die „Organisationseinung"

908

f) „Staatsgesellschaftsrecht"

910

3. Vielfache Formen der Einung

911

a) Kein numerus clausus der Einungsformen

911

b) Intensitätsstufen der Einung

912

4. Einung in Freiheit und Zwangszusammenschlüsse

916

5. Exkurs: Mitbestimmung - ein Einungswort?

917

C. Einung - Kraft zum Staat I. Einungsstreben - Wille zur Ordnung, nicht Wille zur Macht 1. Einung als Fluchtburg - Kraft aus Angst - Lob des Verbändestaates

920 920 920

a) Die Abwehr-Einung

920

b) Gruppen-Abwehr-Einung - „Staat im Staat" oder Staatsmodell?

921

c) „Verbandlichkeit zum Staat"

923

d) Einung: die Kraft der Schwachen

924

e) Staatswerdung eines Verbandes der Schwächeren?

925

2. Einung als politischer Machtwille

926

a) „Wille zur Macht": nicht zu eliminieren - zu dynamisieren

926

b) Die Führungsrolle der Stärkeren

927

c) ... und Mitherrschaft der Schwächeren

928

d) Einungswirkungen als Marktkräfte

930

e) Einungskräfte - „öffentlicher Mehrwert"

932

3. Potenzierung des Menschen in der Doppelrolle Individuum - Einungsbürger 933 a) Die grundlegende Doppelrolle: der Mensch als Grundrechtsträger und Einungsbürger 934 b) Einungsrolle - „übertragener Wirkungskreis"?

935

c) Die Doppelrolle - Stärkung der Persönlichkeitsidentität des Einungssubjekts 937 d) Doppelrolle, Rollen Wechsel, Rollenverbindung: Einungskräfte

939

e) Das Schweizer Modell: Staatsstärkung durch einende Rollenvielfalt..

941

f) Von der Einungsrolle zum Staatstheater

942

856

Buch 4: Staatseinung 4. Überwindung des Staats-Neides in Einung

943

a) Neid - Staatshemmung

943

b) Neid - gegen Institutionen, nicht nur gegen Menschen

944

c) Gegen Staatsneid - nur Staatseinung

945

d) Die Lehre: Überall weite Einungsräume

947

5. Staatskraft aus „gemeinsamem Einsatz"

949

a) Bewunderung - ein totes politisches Wort

949

b) Der Verlust der Begeisterung

950

c) Neue Staatsgröße: Miteinander Geschaffenes

950

d) ... und sich verströmen in den Einungskräften der Hingabe

951

II. Einung - Der Staat der Kernfusionen

952

1. Staatslehre wie Naturwissenschaften: von der „Konstruktion" zur „Ausnutzung natürlicher Kräfte" 953 a) Naturwissenschaftliche Denkmodelle für Politik und Staatlichkeit

953

b) Von der mechanistischen Konstruktion zur Energiegewinnung

953

c) „Natürlichkeits- und Machbarkeitsüberzeugung" - Zusammenklang zur Demokratie 954 2. Staatliche Kernteilungen und -fusionen als Kraftquellen - historische Erfahrungen 955 a) Politische Kraft aus Staatszerfall?

955

b) Die Französische Revolution - Kernexplosion stärkster Staatlichkeit zur Freiheit 957 c) Die Russische Revolution - kupierte Kernexplosion

958

3. Die amerikanische Staatlichkeit als Staatseinung - Uniting United States

959

4. Der schwere Weg zur Einung formierter Staaten

961

a) Europa: Staaten-Einung oder Staatseinung?

961

b) Einungsprobleme der Dritten Welt

963

5. Einung als politischer Kraftquell in Kettenreaktionen

964

a) Staatsexplosion als Kettenreaktion

965

b) Ketten-Fusionen - vom Staat in die Gesellschaft

966

c) Die Gefahr der organisatorisch vorweggenommenen Globaleinung das „Volkspartei-Problem" 968 d) Daher: Einung stets in engeren Räumen 6. Ein Staats-Geheimnis: die irrationale Dimension der Einung a) Einung: Rationalität, Überraschung, Passion

969 970 970

Inhaltsverzeichnis

857

b) Zusammenschluss als „Ereignis"

971

c) Staatseinung - ein politisches Pfingsterlebnis

972

III. Von Herrschaftsobjekten zu Einungssubjekten 1. Subjektivierung - Kraftquell der Staatlichkeit

973 973

a) Die odiose Herrschaft - Macht von Subjekten über Objekte

974

b) „Herrschaftsobjekte" - selbst noch in der Demokratie

975

c) Grundrechte - subjektivierende Umkehr der Staatlichkeit?

977

d) Das grundrechtliche Ablenkungsmanöver - die Befriedigungsfreiheit im Forderungsstaat

978

2. Repräsentation - ein Grundproblem subjektivierter Staatlichkeit a) Subjektivierung als Einheit von Herrschenden und Beherrschten

979 979

b) Die Gefahr der Repräsentation: Verwandlung von Einungssubjektivität in Staatsobjektivität 980 c) Imperatives Mandat und Staatseinung

981

d) Einungsfreiheit im Parlament wider Abgeordnetenamt; Fraktionszwang 982 e) Teil-Einungen von Repräsentanten mit Entscheidungsmacht

984

f) Stufeneinung in Repräsentation

985

3. Subjektivierung überall - Staatsgefühl der Demokratie IV. Das neue divide et impera: Herrschen mit der Kraft geeinter Subjekte

987 989

1. Schwächung durch Teilung - eine objektivierte Herrschaftsmaxime

989

2. Der neue Sinn einer „subjektivierten Herrschaft aus Teilung heraus"

990

3. Divide et impera - eine imperiale Kategorie

991

D. Das Recht der Demokratie - Räume der Staatseinung I. Die Mehrheitsdemokratie als Einung 1. Der Volkssouverän, die „vorausgesetzte Einung" a) Volk - Einheit oder Einung?

993 993 993 993

b) Das Volk - „Gesellschaft in Einung zum Staat geöffnet"? - Chancen und Grenzen der Soziologie 995 2. Politische Parteien - Teileinungen zum Staat

997

a) Parteien als „Gegen-Einungen"

997

b) Oppositionspartei als Einungsform

998

c) Parteienkoalitionen

998

Buch 4: Staatseinung d) Die politischen Parteien als staatsunabhängige Einungsträger

999

e) Die staatsgewordene Partei - Ende demokratischer Einung

1000

f) Und die ... „Dauerregierungspartei"?

1002

3. Mehrheitsentscheidung als Einung

1003

a) Abstimmung - Einung oder Sieg?

1003

b) Wahl als Einung?

1006

c) Das Abstimmungsgeheimnis - Schutzschild oder Verschüttung der Einung? 1007 4. „Demokratisierung" - überall Mehrheitsentscheidung

1008

a) Demokratisierung - nur Majorisierung

1008

b) Demokratisierung der Gesellschaft - Einungschance und Gefahr

1010

5. Minderheitenschutz als Vertrags-Einung - die Kraft der großen Mehrheiten 1011 a) Minderheitenschutz - nur Verlust von Staatskräften?

1011

b) Hohe Mehrheiten - Einungsformen

1012

6. Dauerzusammenschluss oder „Lösungseinung?"

1014

a) Das Kontinuitätsproblem der Staatseinung

1014

b) Machtwechsel und Kontinuität in der Einungsstaatlichkeit

1015

Staatseinung durch Einung der Staatsorganisationen: Verwaltungs-Einung ... 1016 1. Verwaltungseinheiten als Einungsträger

1017

a) Das Ende der „Verwaltung als einheitlicher Staatsgewalt"

1017

b) Von den Verwaltungskontakten zur Verwaltungskooperation

1020

c) Administrativeinung in fortdauernder organisatorischer Selbständigkeit - „Verwaltungsföderalismus" 1021 d) Die Ministerialkooperation als Beispiel

1022

e) Staatseinung durch Verwaltungseinung

1023

2. Die „personalisierte Verwaltung": in Einung der /mit den Bediensteten ... 1024 a) Betriebliche Mitbestimmung - Einung in Gesellschaft und Staat

1024

b) Personalvertretungsrecht - Form der Staatsorganeinung

1026

c) „Bürgereinung innerhalb der Staatsgewalt" - Bedeutung und Grenzen 1027 3. Der Staat-Bürger-Vertrag - die „Verwaltungseinigung" a) Der Zug zur Verwaltungsvertraglichkeit

1030 1030

b) Verwaltungseinigung - Fortsetzung der Staatseinung mit anderen Mitteln 1031

Inhaltsverzeichnis c) Hoheitsgewalt subsidiär gegenüber Verwaltungseinigung

859 1032

d) „Vertragsgrundstimmung" im Hoheitsbereich - Wege zum Herrschaftsvertrag 1033 4. Kommunalisierung als Organisationseinung

1035

a) Die Gemeinde - ein Grundtyp der Einungsstaatlichkeit

1035

b) Gemeindliche Verwaltungsabläufe in Einungsformen

1036

c) Kommunen - „zusammenschlussgeneigte" Organisationsträger

1037

d) Kommunalrecht als Modell der Staatsorganeinung

1040

III. Föderalismus: Grundmodell der Staatseinung

1041

1. Föderalismus - Idee vielfältiger Einungen

1041

a) Föderalismus - Idee, nicht historischer Zufall

1041

b) Bundesstaat - zur Freiheit

1043

c) Föderalismus - Vervielfältigung der Einungskräfte

1046

d) Die föderale Stufeneinung

1047

2. Die Gliedstaaten-Ebene: echte „andere" Staatlichkeit

1048

a) Die Chance der „machtfernen Einungen"

1048

b) Landeseinung - im Raum des „natürlich Gewachsenen"

1050

c) „Genug Raum für die Länder"

1052

3. Von der Landeseinung zur Ländereinung a) Die „Dritte Ebene" - ein föderales Ärgernis?

1053 1053

b) Einstimmigkeits-Einung

1054

c) „Regierungseinung"

1055

d) Modell der „Einung von Staatlichkeiten"

1056

4. Der „Bund" - ein Einungsraum

1057

a) Bundesteilhabe der Länder - ein gefährdetes Wesenselement des Föderalismus 1057 b) Der Bund als Ländergemeinschaft

1059

c) „Mehr Macht den Ländern" - dem Bund gegenüber, in ihm

1061

d) Instruktion der Bundesratsstimmen - „Politikverlagerung nach unten" 1062 5. Der Bundesrat - eine eigenständige föderale Einungsform

1064

a) Keine Zweite Kammer parlamentarischer Einungsformen

1064

b) Die Regierungseinung

1065

c) Die Einung der kleinen Zahlen

1067

d) Die Bundesrats-Einungs-Materien

1069

860

Buch 4: Staatseinung e) Staatsfinanzen

1071

f) Verwaltung in Bundesratseinung

1072

6. Die föderale Staatsgrundstimmung der Einung

1074

a) „Mehr Föderalismus" - „mehr Einung"

1074

b) Die Überwindung der „Staat-im-Staat"-Ängste

1075

c) Vom „Föderalgefühl" zum Reich

1076

d) Föderale Symbolik: Der Kuppelstaat

1078

E. Europa - eine neue Staatseinung

1080

I. Der europäische Zusammenschluss - das große Neue

1080

1. Supranationalität - Zusammenschluss auf einer tabula rasa

1080

2. Sui generis - oder Neues an Altem zu messen?

1082

II. Europäische Einung als Super-Föderalismus

1083

1. Europa - gemessen am föderalen Modell

1083

a) „Ein Europa der Staaten"

1083

b) Absterben nationaler Föderalismen?

1085

c) „Sprungföderalismus"

1086

d) „Teilhabe am Super-Staat Europa"

1088

2. Das europäische Fazit für die Entwicklung der föderalen Idee a) Europa - nur „föderal zu denken"

1089 1090

b) Europäischer gegen nationalen Föderalismus?

1092

c) Selbststärkung des Föderalismus von Europa her

1093

F. Die Wiedervereinigung Deutschlands: Einung der Deutschen

1098

*

Epilog: Das Reich - Einung und über sie hinaus

1103

Α. Staatswende: Vom Institutionenstaat zum Bürgerreich Diese Blätter kreisen um eine kopernikanische Wende, welche die Gegenwart erkennen will und vollenden: um die Mensch-Werdung des Staates der Normen und Institutionen. Ihrem großen Gott sind die Menschen erst nahegekommen, als er wurde wie sie, aus ihnen. Wenn er sich von ihnen wieder entfernt in Säkularisation, so lässt er ihnen von seiner Herrschaft den Staat zurück - und auch er muss werden wie sie, menschlich und aus seinen Bürgern. In diesen neuen Bahnen bewegen sich die Kräfte von Politik und Staatsrecht seit langem - heute ganz und bewusst. Herrschaft soll sich in Bürgereinung auflösen, dort ihr neues Wesen finden. Die Ordnung, welche sich nie ganz in Macht erschöpfen wollte, soll nun in der großen Gemeinsamkeit der Menschen ruhen. In Gesprächen und Verträgen, in Akzeptanz und Toleranz soll sich der Zustand des Nebeneinander zum Recht des Miteinander und seiner politischen Kraft wandeln. Die Abschaffung der Todesstrafe war eine höchstrangige staatliche Grundentscheidung: Nun ist der Mensch der Macht endgültig vorgegeben; dauernd muss sie mit ihm ihren Frieden machen. Nicht mehr der Bürger nimmt die Macht an, sondern die Macht den Bürger - und in sich hinein. Im Volksstaat schafft der Bürger die Staatsgewalt nach seinem Bild und Gleichnis. Heute mag er sich noch fragen, wie und wo er ihr Grenzen setzen kann in seinen Menschenrechten; die Zukunft gehört einem anderen Streben: der Macht gewordenen Freiheit, der organisierten, allgegenwärtigen Libertät. Jeder muss sich darin wiederfinden, im wahren Sinne, mit seiner kleinen, unendlichen Menschlichkeit. Soll sie nicht in Anarchie sprengen, so muss sie in Einung ordnen. Bürger nicht einbinden, sondern verbinden - das ist die Frage. Ein Großprogramm der Dynamik, eine Umprägung der staatlich lastenden Herrschaftsstrukturen - all dies und noch mehr erzwingt, unabsehbar, der neue Blickpunkt. Zu groß ist solche Veränderung vielleicht für Revolutionen, staatsrechtliche Umwälzungen - hier muss umgedacht werden. Und dazu ist diese Zeit der pragmatischen Naivität rascher bereit als sie es weiß, und gehe es auch um eine tausendjährige Tradition, den Staat der Institutionen. Der lange Marsch hat begonnen: vom „reinen Institutionenstaat" in den Einungsstaat.

862

Buch 4: Staatseinung

L Der Staat der Institutionen traditionelle Grundidee des Staatsrechts 1. Staatlichkeit - Institution in großer Dimension Die Staatswerdung der Macht hat sich vollzogen in der Rechtswerdung des Staates. Die Staatslehre des 20. Jahrhunderts hat sie systematisch erkannt und vollendet, im Lauf war sie seit vielen Jahrhunderten: in der Institutionalisierung des Staates. Er wurde zuallererst in den Gesetzen gesehen, die seine Mitte bilden, seit es Staatslehre gibt. Doch um sie rankten sich stets ungeschriebenes Recht, Staatspraxis, Staatstradition, begrenzte gesetzesfreie Räume. Auch all dies ist „Staat", jenseits der einzelnen Gesetze, die er zu geben vermag. Immer mehr wird das hinaufgehoben in den Bereich des Grundsätzlichen, dort dann ganz, wenn nicht vergesetzlicht, so vergrundsätzlicht. Vor allem aus den staatsgesetzten Einzelnormen zieht die Staatstheorie Prinzipien ab, die sie in diese Höhe hinaufführt, um sie als Rechtsgrundsätze zum „höheren Gesetz" werden zu lassen. So ist der Staat der Institutionen entstanden, der rechtlichen Grundmodelle, deren Biegsamkeit die Dynamik der politischen Passionen aufzunehmen vermag. In all dem liegt, trotz aller vergeistigenden Offenheit, eine letzte, grundsätzliche Statik des herkömmlichen Institutionendenkens. Diese Institutionen der Staatlichkeit „werden", doch sie sind nicht vor allem Gefäße des Werdens, sondern des Seins. Stehen bleiben sollen sie zuallererst, nicht werden, Kraft aus Mauern, nicht aus Bewegung. Das Ideal dieser Staatslehre muss die große, dauernde Ordnung sein, gegründet im Letzten auf Institutionen großer Dimension. Diesem Institutionellen sind diese Betrachtungen auf der Suche nach einer Staatslehre der großen, dauernden Ordnung immer wieder begegnet. Da waren jene staatsgründenden Großereignisse, welche in Triumphen gefeiert werden können; doch sodann wird der Vorgang aufgenommen, kanalisiert - institutionalisiert eben, damit er weiterwirken könne. Triumphalität, der institutionalisierte Triumph, prägt das Staatsdenken, der zum Staatsgesetz erhobene Staatserfolg. Doch dies geschichtliche Werden ist umgelenkt in die Höhe des Institutionellen, dort kommt es zur Ruhe und wirkt aus ihr in die Zukunft. Staatsrenaissancen bringen ferne Vergangenheiten zurück, Entwicklungen, die damals abgelaufen sind - in einer großen Entfaltung der Wiedergeburt. Und doch ist dort nicht „alles Dynamik". Zurück kommen Elemente, die früher schon statische Institutionen waren, es rasch wieder werden können; nur darauf ist letztlich die ganze Staatsrenaissance gerichtet: auf Kanalisierung geschichtlicher Abläufe, Abstraktion aus ihnen, ins Staatsrecht hinein. In diesem Sinne ist die Staatsrenaissance Super-Institutionalisierung, über alles Werden und seine menschlichen Träger hinweg ein transpersonaler Vorgang. Staatselemente werden hier tradiert, Einheiten, nicht Einungen.

Α. Staatswende: Vom Institutionenstaat zum Bürgerreich

863

Der Monumentalstaat tritt auf in gewaltiger Dimension, in weiter Staatsprogrammatik, mit der er seine großen Lösungen in seine größeren Räume stellt, sie mit ihnen, Schritt für Schritt, erfüllt. Doch das Entscheidende daran ist die Dimension, und auch die Dauer der Lösung - nicht die Form ihres Werdens, das hinter sie zurücktritt - verschwindet. Ob sie aus Einung erwächst oder aus Gewalt eines einzelnen, bleibt gleich für dieses Wesen der Staatlichkeit. Sie ist ganz herkömmlich-institutionell gedacht; Ergebnisse entscheiden, Prozesse sind allenfalls Anzeichen für ihre Größe. Nimmt man all dies zusammen, so zeigt sich die Staatlichkeit als das große Ergebnis, betrachtet als der zum Ergebnis gewordene Vorgang. Die ganze Problematik dessen, was sich demokratisches Einungsstreben heute vornimmt, in seiner Entbindung der Einungsdynamik, wird erst auf diesem Hintergrund deutlich: Wie viel Zeit wird vergehen, bis alle Burgen gebrochen sind, die nicht in Einung erbaut wurden, bis aus allen engen Schießscharten Menschen blicken, Hand in Hand? All diese Untersuchungen sollten aber über eines nicht täuschen: In diesen Vorgängen liefen doch Bewegungen ab, Zusammenschlüsse, Integrationen, nur daraus konnten sie in ihren Dimensionen entstehen. Gilt es nicht nur, den institutionellen Schleier des „Statischen" wegzuziehen, damit das Bild der menschlichen Einung sich zeige, die um den Triumphator, in früherer Größe, und um die heutige große Lösung, staatsrechtliche Wirklichkeit geworden ist? Diese Untersuchungen der ersten drei Bücher waren gewidmet der Potenzierung der drei kantischen Kategorien des Erkennens, in die Dogmatik des Staatsrechts hinein; und in der höchsten Steigerung dieser Kategorien hatte sich dann über dem Staat die große dauernde Ordnung gezeigt, das Reich. Eine vierte Dimension kann es auch hier nicht geben; der Einzelmensch erkennt und schafft seinen Staat nur in jenen: in dem großen Staatsereignis, der Staatskausalität; in der großen Staatszeit, in welcher Staatsrenaissance zu ihm die guten Formen der Vergangenheit zurückbringt; in der Monumentalstaatlichkeit, in welcher er mit großen Lösungen den Raum der Staatlichkeit erfüllt. Und doch gibt es etwas wie eine vierte Dimension: in ihr werden die Vielen zusammengeordnet. Hier hat der Kommunismus im höheren Sinne mit Karl Marx recht: In den drei Kategorien erkennt, analysiert man den Staat, in der vierten, in der Einung, wird er verändert - gemeinsam. Daher ist heute Reich - Demokratie.

2. Der statische „ideale Staat" Eine Selbstverständlichkeit muss man sich endlich vergegenwärtigen: Für die Staatslehre verschwindet der Mensch, der Bürger hinter der Institution Staat wesentlich und immer schon deshalb, weil der geistige Blick bei solchen Bemühungen eben auf den Staat, nicht auf ihn gerichtet ist, aus dem er heute so wesentlich werden soll. Seit Piaton geht es um den Staat als eigenständige Wesenheit, seit

864

Buch 4: Staatseinung

Hegel endgültig um ihn als den Über-Menschen. und Generationen kann es noch dauern, bis dieser Über-Mensch in Menschen wieder aufgelöst wird, bis hinter den „selbständigen Staatsinteressen" gebündelte Bürgerinteressen ganz klar sichtbar werden. Diese Staatslehre will ja ihren eigenen Gegenstand festhalten, nicht in Staatssoziologie abgleiten; das Staatsergebnis betrachtet sie im Vordergrund, nicht die Staatswerdung, die Staatseinung. Wie könnte man Vorgänge zur Idee werden lassen, die dann auf anderes, Niederes ausstrahlen, auf jede Art von menschlicher Staatlichkeit, wie es die platonische Ideenlehre aber verlangt? Piaton und Aristoteles haben, für Jahrtausende unwiderruflich, die Grundlagen dieses statischen Institutionenverständnisses der Staatlichkeit gelegt, sie haben den idealen Staat vorgestellt, „wie er sein muss" - im Ergebnis! Und aus der römischen Geschichte ist sodann seine ideale Verwirklichung überliefert worden - wieder „wie er sein", nicht zu allererst wie er werden kann. Solange man, mit der traditionellen Staatslehre, nach dem „guten", dem „wahren" - dem idealen Staat fragt, sucht man letztlich nach derartigen festen institutionellen Antworten, nicht nach dem Werden des Staates. Doch gibt es nicht gerade Institutionen des Werdens, der Einung, darf sich die Suche nach dem Idealstaat der demokratischen Zukunft nicht darauf gerade richten, hierauf sich beschränken? Wäre dies unmöglich, so müsste in der Tat von einer Tradition Abschied genommen werden. Und - sie steht mächtig im Wege; denn in ihr gibt man sich immer wieder allzu rasch zufrieden mit irgendwelchen Mechanismen, an die sich nicht die letzte Frage ihres Einungsgehalts richtet, sondern die nach ihrer sich selbst ausbalancierenden Ausgewogenheit. Gewichtet wird dieser Staat nicht so sehr als politische Kraftquelle aus Einung, sondern vielmehr in der statischen Institutionenmechanik eines Gleichgewichts. Ruhe soll es bringen und in Ruhe lassen, dieses institutionelle System - als ob man nicht schon aus diesem typisch müden Spätzeitverständnis aufgebrochen wäre in eine neue Machtdynamik, die nach den Formen der Einung fragen lässt. Wie dem allem aber auch sei - eines ist für diese Untersuchung sicher: Die Frage nach dem „idealen Staat" wird sich auf die ideale Einung hin konzentrieren müssen, sonst steht die einungsneutrale Idealität der institutionellen Staatslehre im Wege.

3. Das herkömmlich

„deduktive"

Staatsrecht

Der Staat der Institutionen stellt sich der neuen Grundfrage einer wie immer verstandenen Demokratie, nach dem Platz des Menschen im Staat, mit einem vor allem in den Weg: Dort wird „von oben" gesehen und entschieden, in einer Art von „Deduktion auf die Menschenbasis der Staatlichkeit". Dieses Staatsverständnis ruht ganz wesentlich im Grundsätzlichen; und wenn schon die Norm als Form

Α. Staatswende: Vom Institutionenstaat zum Bürgerreich

865

gebündelter Befehle etwas Übermenschliches hat, so gilt dies erst recht für die Staatsgrundsätzlichkeit, aus welcher hier ständig deduziert wird. Diese institutionellen Räume sind größer als das, was einzelne Menschengruppen in ihren Zusammenschlüssen auszufüllen vermögen. Die Dimension der Triumphalität, der Staatsrenaissance und des Monumentalstaates zwingt dagegen zu der Frage, wie Einungen beschaffen sein müssen, um diese Räume zu beherrschen und doch die großen historischen Chancen der Einungsdemokratie zu nutzen. Wie muss der Staat gebaut sein, damit er sie wahrnehmen kann, damit er seine Bürger „von unten" zur Einung führe? Die Einung kann, muss vielleicht, immer wieder „klein anfangen", sie verfährt, im Verhältnis zur herkömmlichen Institutionenstaatlichkeit, gerade umgekehrt: wesentlich induktiv, die große Lösung ist ihr allenfalls Fernziel, nicht Ausgangspunkt. Es steht also nicht weniger bevor als eine Wende von herkömmlichem, deduktivem Staatsrecht, das seine Lösungen aus großen institutionellen Zielvorstellungen ableitet, zu einem induktiven Staatsrecht, das aus kleinen Einungen in Schritten hinaufwachsen will. Für dieses neue Verständnis hat auch das Staatsziel nur eine ganz neue, nicht mehr wie bisher deduktive Bedeutung: Aus ihm kann nicht die Lösung postuliert werden, mit Blick auf dieses Ziel lässt sich nur mehr Einung erhoffen, und die Lösung wird nie größer als sie. Wieder ist man damit bei der platonischen Staatslehre angelangt. Sie hat das Staatsverständnis zutiefst deduktiv geprägt, aus jenem „Staats-Guten" heraus, von dem ja die Vielen, das Volk, immer wieder nur in seinen hässlichen Einungen und Entzweiungen abirren kann. Wenn wahr ist, was aus Einung entsteht - opfert dann diese „wesentliche Induktion" nicht alle ,Staats-Werte'? Werden statt Werten - dies wendet sich eben frontal gegen die letzte Grundlage der Institutionen-Staatlichkeit: Sie stellt den objektiven Staat über alles, die Staatssubjekte darf sie nicht kennen, und nicht einen Staat aus ihnen, nach ihrem Willen. Die demokratische Staatslehre hat daran seit zwei Jahrhunderten nichts zu ändern vermocht: Immer musste sie die objektiven Staatsvorgaben der Ordnung respektieren, ihre völkische Dynamik dem allen unterordnen. Ob man es will oder nicht Staat bedeutet eben Vorgabe für diese politische Dynamik. Und wie könnte es anders sein in einem Staatsdenken, das noch immer wesentlich geprägt ist von der Idee der von Gott vorgegebenen Staatsordnung, der Civitas Dei, die vielleicht nicht auf alle einzelnen Fragen feste Antworten aus Höherem deduziert, stets aber einen Raum vorstellt, der von Menschen auszufüllen ist, von denen aber das Wesentliche nicht kommt; die Bürger haben Staatlichkeit zu verwirklichen im Rahmen der Institutionen, nicht sie hervorzubringen in der Einung als erster und wesentlicher Institution. Die letzten Grundlagen der Lehre vom Institutionen-Staat sind transpersonal gedacht, aus ihnen kann daher nur deduziert werden. Die Menschen kommen und gehen - durch diese Institutionen hindurch, diese stehen ihnen zur Verfügung, aber sie überdauern sie, denn im Letzten kommen sie nicht von ihnen, sie sind etwas 55 Leisner

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Buch 4: Staatseinung

wie ein geistiges Himmelsgeschenk; so sind sie von der Pandektistik im Privatrecht wiederentdeckt worden, so entstanden aus großen Ereignissen und mächtigen Staatslösungen - immer als etwas, das größer ist als der Mensch, als die vielen Menschen, als deren Einung. Diese letztere mag Gegenstand einer Institution sein oder auch mehrerer; zum Wesen dieses Begriffs gehört diese Integration nicht, oder doch nur in jenem allerallgemeinsten Sinne der Akzeptanz, in dem sich dann aller politische Wille verflüchtigt. Nicht aus ihm aber deduziert das herkömmliche Staatsrecht, nicht aus notwendiger Einung - sondern eben aus seinen Institutionen, die ihm geschenkt sind, die es den künftigen Generationen - weiterschenkt, immer deduktiv.

4. Der Institutionenstaat - ein aristokratisches Staatsverständnis Einer Staatslehre der Einung steht aber nicht nur der Institutionen-Staat mit mehr oder weniger abstrakten philosophischen Begrifflichkeiten im Weg: Dieses Staatsverständnis ist ein wesentlich aristokratisches, es ist daher heutiger Demokratietheorie fern und ferner, welche aus Einung wachsen will. Staatslehre ist bis heute im Grunde geblieben, was sie für Sokrates und Piaton war: Bemühungen einer politisierenden Philosophen-Elite, welche dem diffusen und wechselnden Integrationsstreben der Vielen und ihrer Demagogen feste, unwandelbare Grundsätze entgegensetzte. Es ist wie eine letzte geistige Revanche der Aristokratie gegen die attische Demokratie. Aristoteles hat sie in der aristokratischen Machtsicherheit der Mazedonier ebenso deduktiv-philosophierend fortdenken können; Respekt vor Einung wurde zum Gebot der Staatsklugheit degradiert. Traditionelle Staatslehre gründet ihre Gemeinschaft auf große Gestaltungen, Triumphe, geistige Wiedergeburten, große Lösungen, die der größeren Menschen als historischer Katalysatoren bedürfen - es ist fast, als wären diese staatsrechtlichen Institutionen etwas wie eine aristokratische Ebene über der demokratisch-tagtäglichen Gesetzlichkeit. Der Staat wird auf geistig Höheres gegründet, er wird zur ruhigen, bewegungslosen, zur selbstsicher aristokratischen Organisation. Denn dieses Denken ist jeder Aristokratie, der familiär begründeten zumal, eigen: dass sich alles in einer „Geschichte" entfaltet, in großen Wellen und Räumen, in Dimensionen, welche der vertikal denkende Aristokrat als wesentlich über sich stehend anerkennt, als deren Werkzeug er sich empfindet. Mit dem Staat baut er ein allgemeines Haus, nach dem Vorbild dessen, was ihm „das Haus" im aristokratischen Verständnis eben bedeutet: seine große Familie in ihrer großen zeitlichen Dimension. Dies ist dann ein Staatsrecht, das sich wie in einer „geführten Staatsgeschichte" und in ihr institutionenmäßig entfaltet, durch die Kraft der Triumphatoren, der geistigen Entdecker der Staatsrenaissancen, der Führer zu Großlösungen der Staatlichkeit. Wo wäre da eine sich in Bürgereinung entfaltende Staatlichkeit? Warum

Α. Staatswende: Vom Institutionenstaat zum Bürgerreich

867

Zeit auf die Entdeckung von Konstruktionsprinzipien verwenden, wenn allein das Bauwerk zählt? Der Institutionen-Staat dieser Tradition wird immer etwas von „idealer" Staatlichkeit an sich haben - sie ist jene „beste", deren Begriff den Kern des Aristokratischen seit den Zeiten der Griechen bildet. Dieser Staat selbst - er ist eben der Höhere, in der aristokratischen Vertikale steht er über seinen Bürgern. Diese aristokratische Staatslehre der statischen Institutionen nähert sich ihrem Ende. Es bleibt nur die Hoffnung, dass ihre Ergebnisse doch in vielem von solcher geistigen Qualität sind, dass sie selbst zur Einungskraft im neuen demokratisierten Staatsdenken der Einung werden.

II. Die kopernikanische Wende: Von den objektiven Herrschaftsinstitutionen zur Einung der Herrschaftssubjekte 1. Von der Republik zum Volk Den „idealen Staat" sucht heutige Demokratie nicht mehr. Sie nimmt hin, was kommt, wenn es nur aus den vielen Gleichen entsteht, und entscheidend sind hier die Vielen. Denn dies allein ist wichtig, dass es Zahlreiche, dass es möglichst alle sind, aus denen die Staatlichkeit wächst. Nach wie vor bleibt dies das Zentrum der Volksherrschaft: dass die Vielen herrschen, nicht die Gleichen. Das Erste und Wesentliche ist das Zusammenwirken, erfolgt es zu gleichem Recht, so hat die Egalität ihren wichtigsten Tribut erhalten. Dass sich dann in dieser Einung überall letztlich Gleichheit des Dürfens und Habens einstelle, ist eine Hoffnung, die sich auf viele Erfolge stützen mag, die aber in Kauf nimmt, nie ganz erfüllt zu werden. In diesem Sinne kommt die Einung noch weit vor der Gleichheit. Seit der Französischen Revolution, vor allem im 19. Jahrhundert, hat man in der Staatslehre viel Scharfsinn auf den Begriff der inneren Souveränität des Staates verwendet: Die königliche Oberhoheit sollte durch die nationale in Frankreich, durch die Staatssouveränität im Deutschland des Konstitutionalismus ersetzt worden sein. Damit habe sich, so hieß es, nicht viel geändert - und in der Tat waren ja auch die monarchischen Souveränitätsvorstellungen der Aufklärung bereits weit entfernt von denen der reinen persönlichen Gewalt. Doch nun geht das staatsrechtliche Kontinuitätsstreben noch weiter: Auch die Volkssouveränität soll dem kaum etwas hinzugefügt haben, so wollte es schon die französische Theorie mit ängstlichem Blick auf den Jakobinismus, und die neuere Staatslehre in Deutschland hat dem Begriff nicht nur all seine historischen Schrecken, sondern weithin seinen Sinn überhaupt genommen: Was geht schon wirklich „vom Volke aus"? Wenn Volkssouveränität nurmehr ein anderes Wort sein soll für Staatssouveränität, dann 55*

868

Buch 4: Staatseinung

ist der Demokratie kein Schritt über monarchische oder oligarchische, im Grunde über beliebige staatsgeometrisch kombinierende Staatstheorien hinaus gelungen. Volkssouveränität kann aber nur eines heißen: von der Res publica den Weg zum Populus gehen. „Gut" ist der Staat nicht, wenn und weil er so ist oder anders, sondern allein wenn er in einer bestimmten Weise - wird. Nicht einzelne Staatskonstruktionen, insbesondere nicht deren abwägende Kombination in Richtung auf ein Gleichgewicht, schaffen den annehmbaren, den „guten" Staat, sondern nur ein ganz bestimmtes Verfahren: die Einung der Herrschaftssubjekte. Es gibt nurmehr eine Staatlichkeit: das Staatsverfahren der Einung. Die Volkssouveränität bedeutet also den Primat des Verfahrens über das Ergebnis in der modernen Staatstechnik; das Resultat ist nicht als solches von Belang, sondern lediglich als Ausdruck der Souveränität der Herrschaftssubjekte. Diese Einungssubjekte, welche sich zusammenschließen, definieren den Staat, sie sind ihm vorgegeben, werden nicht von ihm definiert, mit Rechten beliehen. Der „voll formierte Staat" ist nicht, darf nie sein eine materiell-rechtliche Ordnung, die sich soweit verdichtet, dass sie aus sich heraus ihre Subjekte begrenzen, definieren, sie ihres originären politischen Gewichts berauben könnte. Die Volkssouveränität bedeutet also die Subjektivierung der gesamten Staatlichkeit, die Zurückführung des Institutionenstaats auf eine einzige Institution: die Einung. Nichts ist aber darüber ausgesagt, in welchen Formen sich diese Einung vollziehen muss; dies hängt von den Kräften ab, welche der Volksstaat für seine Herrschaft aus diesem Vorgang erwarten muss. Nicht auf demokratische Mehrheitsentscheidungen zwischen atomisierten Einzelbürgern darf hier der Begriff der Einung sogleich vorschnell reduziert werden; nur eines ist damit zum - obersten - Staatsprinzip erhoben: Gut ist im Staat, was die vorgegebenen Subjekte zusammenführt, in welcher Form immer. Denn in diesem Vorgang werden die Kräfte frei, welche den Staat tragen.

2. Staatseinung - Wiederkehr der Sozialvertraglichkeit Diese einleitenden Betrachtungen sollen die Bedeutung der Frage nach der Staatseinung und ihren Formen zeigen: Es geht um ein neues Staatsdenken, das sich gegen herkömmliche Formen eines idealstaatlichen Institutionenverständnisses vom Wesen der Gemeinschaft wendet. Auch diese Frage hat Tradition, sie ist immer wieder gestellt, stets von neuem aber von der Institutionalität des „guten Staates" zurückgedrängt worden. Heute läuft jedoch ein Neues ab: eine besonders mächtige, vielleicht für lange Zeit endgültige Renaissance der Sozialvertraglichkeit.

Α. Staats wende: Vom Institutionenstaat zum Bürgerreich

a) Sozialvertrag

- säkularisierte

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Form des Staatsdenkens

Dass die Menschen an ihre Einungen denken, wenn sie von „ihrem Staat" sprechen wollen, ist seit den Anfängen des griechischen Staatsdenkens ebenso eine Konstante wie die Suche nach der objektiv-idealen Staatsgestaltung an sich. Doch diese letztere ist immer gesehen sub specie aeternitatis; wenn sie nicht notwendig von den Menschen kommt, so kann sie nur als eine höhere gedacht werden, traditionell in Verbindung mit religiösem oder doch metaphysischem Denken. Wenn seine Macht sich abschwächt im politischen Bereich, beginnt das Fragen nach den „menschlichen Grundlagen" des Staates - es hat immer zuerst zum Sozialvertrag geführt. Nicht umsonst wird er den Sophisten in den Mund gelegt, in seiner ersten staatsphilosophisch prägenden Form, dem Protagoras-Mythos, in einer Zeit, in welcher die Demokratie, die Volkseinungs-Staatsform, zum ersten Mal, über alle Aristokratismen hinweg, in Athen sich durchsetzt. Doch zunächst wird nur die Staatseinung dargestellt, im ganzen Reichtum ihrer Formen, nicht die Entstehung der Demokratie. Und die volle Demokratisierung des Staatseinungsgedankens ist noch weit entfernt: Im platonischen Denken wird der Staat erneut in höheren, objektiveren Ordnungen gegründet - immer wirkte eben noch die von der Tragödie mächtig verkörperte und Staatstheater gewordene göttliche Ordnung in die Volksherrschaft hinein; sie, nicht die Einung der vielen, gab den letzten Halt, die Staatsweihe. Als sich aber die Staatsobjektivierung mit den Göttern aus dieser Ordnung zurückzog, da kam nicht mehr Staatseinung, sondern die Zeit der Neo-Tyrannen, Alexanders, des römischen Militärstaates. Das Christentum setzte den Menschen in ganz neuer Form in seine Rechte, als Ebenbild des Schöpfers. Doch wiederum bedurfte es nicht menschlicher Einung, um den Staat werden zu lassen und zu einen; mächtig wirkte der Schöpfergott in diese Ordnung hinein. Gesetz war sein Wille, er musste von Menschen erkannt werden, nicht in ihrer Einung - werden. Der von späterer und heutiger Demokratie so oft und zu Unrecht geschmähte Feudalismus hat unter dieser lastenden goldenen Decke der antik-christlichen, objektivierten Staatlichkeit das Banner der menschlichen Einung hochgehalten, Sozialvertrag auf vielen Ebenen, stets von neuem, staatsgründend und staatstragend bewährt: In der germanischen Gefolgschaftsidee und im „Umstand" vollzog sich ebenso Staatseinung von der Basis aus, wurden deren Dimensionen abgesteckt, wie in den Stadtgründungen des Mittelalters, aus denen immer wieder der Populismus aus- und in das Reich emporbrechen sollte. Vor allem aber hat der Feudalismus solcher Staatsvertraglichkeit - denn um nichts anderes ging es, mochte es auch nicht systematisch bewusst sein - eine neue, die vertikale Dimension geöffnet: Einung nicht mehr nur als Zusammenschluss der natürlichen Personen, der Bürger zum Staat, Einung auch im vertraglichen und ordnungsüberhöhten Zusammenwachsen von Herrschaften in jener Einungspyramide der Feudalzeit, welche eines der Urbilder des Föderalismus werden sollte. Von da an spätestens denkt man Sozialvertraglichkeit nicht nur in der Horizontale des Zusammenlaufens von freien

Buch 4: Staatseinung

870

Urmenschen aus ihren unendlichen Wäldern; Einung ist nun überall, auch in den höheren, bereits herrschaftlich zusammengefassten Stufen des Staates - und dieses Erbe gilt es auch heute zu bewahren, wenn über Staatseinung gesprochen wird: Sie muss immer mehr sein als radikaler Basisdemokratismus. Als sich am Ende des Mittelalters die religiöse Säkularisation verstärkte, als in gleicher Phase solches Einungsdenken auf allen Ebenen aufbrach, da musste es zum Zusammenstoß kommen mit der antik-christlichen, objektiven Ideal-Staatsidee, wie sie von der Kirche inkarniert wurde, die in diesem Sinne ganz die römische war: einungsneutral, über allen Einungen durch den Willen des Schöpfers gegründet. Größe und Schicksal der Reformation war es, dass sie alle diese Strömungen aufnahm, sie in ihre neue religiöse Einung emportrug, in die Gemeindeidee der erneuerten christlichen Kirche: Christus mitten unter den Seinen, „damit alle eins seien". Im Staatsprotestantismus des nördlichen Europa hat dann diese Idee sich mit den feudalen Bündnis-, Zusammenschluss- und Einungsideen bisheriger Staatlichkeit verbunden, deren institutioneller Staatseinungs-Reichtum ist so über Jahrhunderte auch dort erhalten geblieben. Viel wurde aber auch wieder verschüttet an Aufschwung, an Begeisterung für eine Sozialvertraglichkeit aus den einzelnen, natürlichen Christenmenschen. Das 17. und 18. Jahrhundert hat diesen individualistischen Sozialvertrag in Staatsrenaissance wiedergebracht - diesmal aber als rationalistische Quelle einer neuen Staatswissenschaft; und nur in dieser Form kennen die meisten heute den Sozialvertrag - als eine Form des säkularisierten, nun deutlich gegen Religion und Gott gerichteten Staatsdenkens.

b) Sozialvertrag

- Staatsrechtfertigung,

nicht Staatsdogmatik

Staatseinungsdenken sollte sich eigentlich heute stark fühlen, schon aus einer so großen Tradition heraus - sie bringt ihm wenig oder nichts. Seit der Aufklärung spätestens hat sie niemals mehr über ihren normativen Schatten zu springen vermocht. Wenn der Staat sich aus Vertrag erklärt, so muss es eine Norm geben, welche die Verbindlichkeit dieser Einung anordnet - sie kann nur wieder von einem Gesetzgeber stammen, der als präexistent gedacht werden muss; damit aber ist der Staat vor den Bürgern da, er wird nicht aus ihnen. Gerade das immer stärker sich entwickelnde Vertragsdenken seit dem 17. Jahrhundert, auf der Grundlage des Pandektenrechts, fand diese normative Grundlage eben ganz selbstverständlich in den so wunderbar wiederentdeckten römischen Normen - und zwar in allen Einzelheiten der normativen Vertragsdogmatik: Justinian war also doch vor aller populistischen Einung da mit seinem goldschimmernden Reich, der objektive Staat allein ermöglichte die Dynamik auf den niedrigeren Rängen der späteren Volksbewegung. Zu spät kam die Grunderkenntnis, dass diese ganze Sozialvertraglichkeit vielleicht nur einer letzten, höchsten Grundnorm bedürfe, nach der Einungen

Α. Staatswende: Vom Institutionenstaat zum Bürgerreich

871

als verbindlich gelten könnten, und dass diese Kategorie nicht von Menschen gesetzt sein müsse, sondern postuliert werden dürfe. Für die Staatsphilosophie gab es eben weiterhin unangefochten das „Ding an sich", ihren präexistenten, objektiven Staat, aus dem heraus deduziert, Einungen verbindlich erklärt - und vor allem auch begrenzt werden konnten. Doch die geradezu historische Schwäche der Sozialvertraglichkeit hat noch einen anderen Grund, der immer wieder betont, in dessen Namen sie aus der Dogmatik des Staatsrechts geradezu eliminiert worden ist: Von Anfang an war dies doch nur ein Mythos, so wie ihn der Sophist erzählt. Erklären soll er, nicht rechtlich ordnen, begründen und rechtfertigen, nicht befehlen. Die Sozialvertraglichkeit ist daher nie voll zur dogmatischen Kategorie geworden, an sie wurden historische Maßstäbe angelegt, und ihnen konnte sie dann - natürlich - nicht genügen: Wer hätte schon wissen können, ob je etwas Derartiges stattgefunden hat... Nicht einmal als große Historia magistra wollte man den Contrat social am Ende gelten lassen. Zu stark war ja auch noch immer bei weitem die objektiv begründete Staatlichkeit gerade in jenen Ländern, in welchen Sozialvertrag gedacht wurde: England und Frankreich - beide Erben der römischen Reichs-Staatlichkeit. Auf der Insel entfaltete sich neue, Kontinente umspannende Imperialität, die Ordnungen suchen musste, sich nicht in Einungsbemühungen verlieren konnte. In Frankreich wollte das Volk die Staatlichkeit erobern, eine bereits mächtige, in Befehlen geschaffene Res publica; es mochte sich nicht eine neue in anarchischem Zusammenlaufen schaffen. Der Staat war vorhanden, es galt, ihn zu besetzen, nicht zu schaffen. Die Sozialvertraglichkeit wurde damit zur Staatsrechtfertigung. Diese Legitimation aber war damals noch längst nicht als dogmatische Kategorie erkannt. In dieser Entwicklung wurde denn auch alles, was zur Dogmatik der Staatseinung als solcher hätte beitragen können, „an den Rand des Staatsrechts gedrängt", in die Allgemeine Staatslehre. Mehr noch: Was eigentlich Form des Staatsneubaus hätte sein können, wurde nun zum Legitimationsprinzip der bestehenden Staatlichkeit und ihrer einungsneutralen Ordnungen, ohne Rücksicht auf die Art, wie sie entstanden waren. Trugen sie nicht in sich die mythische Rechtfertigung des einmal stattgefundenen Sozialvertrags, der nun auch in ganz anderen, einungsneutralen Ordnungen - oder in abgeschwächten, kaum mehr erkennbaren Einungsformen - sich fortentwickeln konnte? So hat es die Staatsromantik des 19. Jahrhunderts verstanden, ihre Herrschaftsstrukturen daraus legitimiert. Stets wieder hat es Anläufe gegeben, den Staat „ganz neu als Sozialvertrag" zu errichten, ihn in solcher Dynamik weiter zu entwickeln. Doch die jakobinischen Versuche degenerierten rasch zu Anarchismen und Utopismen; damit verlor die Einungsidee für Generationen ihre Überzeugungskraft. Dasselbe Schicksal ereilte so manchen russischen Revolutionär, der zusehen musste, wie die Einungsdynamik der Räte rasch in den Betonstrukturen des Riesenreiches erstarrte - vielleicht lag

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Buch 4: Staatseinung

darin, verständlich in den unübersehbaren Weiten dieses Reiches, etwas wie die Angst der Institutionen und ihrer Besatzer oder Appropriateure vor dieser unabsehbaren Kraft; und vielleicht kann in solchen Weiten schwer in Einungen allein gedacht werden - von Rom bis Moskau. Ein historisches Bedauern, aber eine Sicherheit: Wer nur an Sozialvertrag denkt, wird nie eine Staatsdogmatik der Einung schaffen können.

3. Der Neo-Individualismus - die Neuentdeckung der „vielen Menschen" Die Frage nach der Staatseinung gewinnt heute eine ganz neue Dimension und eine bedeutsame Chance: Jenseits der vielbeklagten Vermassung, vielleicht gerade in jenem „Aufstand", der eben den Ausbruch aus der Masse versucht, vollzieht sich eine neuartige Subjektivierung der menschlichen Grundlagen der Staatlichkeit. Das Erste und Wichtigste daran ist: Diese Menschen lassen sich nun nicht mehr ohne weiteres zusammenfassen in bereits institutionell geprägten Begriffen, in Klassen und Schichten, in Proletariat und Bourgeoisie, sie können nicht mehr durchgehend mediatisiert werden in Kollektiven - und auch nicht mehr in dessen größter staatsrechtlicher Begrifflichkeit, im „Volk". Wer beklagen möchte, dass dieser schöne Zentralbegriff der Demokratie immer mehr verdämmert, hat das Neue nicht begriffen: Die Bürgerschaft kommt herauf als eine namenlose VielMenschen-Kraft, mit der ganzen Macht des, im wahren Sinne des Wortes, Anonymen, in dem aber auch ungeahnte virtuelle Kräfte liegen, die zur Einung drängen. All jene Zusammenfassungs-Begriffe, mit denen bisher ein Staatsrecht auskommen, Einungen als „bereits stattgefunden voraussetzen" - und dann eben nicht stattfinden lassen konnte, sie sind wohl endgültig fragwürdig geworden in der „Bewegung" von 1968, die ihre vielberufene „Basis" an deren Stelle setzen wollte; diese verstand sich nicht etwas Vor-Geeintes, sondern stets nur eine Herausforderung zur Einung. Noch immer mag es politische Richtungen geben, welche mit den „bereits ein für allemal stattgefundenen Einungen" operieren, mit Proletariaten und Berufsständen. Dieses Repertoire, welches die Soziologie der objektivierenden Staatsrechtslehre zur Verfügung stellen wollte, ist ebenfalls erschöpft. Die Herausforderung für das Staatsrecht lautet nun: den Durchbruch zum Subjektiven erkennen und normativ vollziehen, mit neuen Begrifflichkeiten, wenn es sein muss, die Zweierlei leisten: - Der Blick muss sich stets zuallererst auf den einzelnen Menschen richten, auf das Individuum, das nicht nur mit seinen Rechten in den Staat tritt, um die meisten von ihnen dann dort in Einung zu verlieren, wie es die Staatsvertraglichkeit der Aufklärung sich dachte. Weit stärker ist heute der Individualismus formiert:

Α. Staatswende: Vom Institutionenstaat zum Bürgerreich

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der Bürger will nicht nur Freiheiten verlieren und solche behalten, er will auch und vor allem den dritten Weg gehen: den der ständigen Einung seiner Freiheit mit der anderer. Dieser Prozess ist der entscheidende Gegenstand des Staatsrechts, nicht mehr nur die Abgrenzung dessen, was der Mensch behält, was der Staat ihm nimmt. Das bisherige Staatsrecht konnte stets nur primär in den Kategorien des Status negativus denken, nun muss die Wende vollzogen werden zum Staatsdenken des Status activus - ohne dass aber sogleich alles sich in kollektivierenden Staatsorganmechanismen verliert. „Einung als individualistischer Vorgang" ist gefordert. - Das dauernde Werden der Staatlichkeit aus vielen solchen Menschen muss die zentrale Grundlage des Staatsrechts sein; nach der Subjektivität der Bürger gilt es, deren Multisubjektivität zu erkennen. Ihr Selbstbewusstsein steigert sich ständig und rasch. In diesem Sinne stehen sie immer mehr, nur zu oft noch beziehungslos, nebeneinander. Die Zwänge des Zueinander verstärken sich dadurch, die Notwendigkeit der Staatseinung. Sie aber muss ein Vorgang bleiben, der in Individualismen abläuft, sie nicht aufhebt, sondern, so paradox es scheint, noch verstärkt. Dies bedeutet die Frage nach dem do ut des, nach den Kategorien einer Austausch-Staatsvertraglichkeit zwischen den Bürgern, deren jedem aus dieser Einung, in ihr, wieder etwas zurückkommt, nicht nur belassen wird. Die Ängste des Kollektivismus haben solange das Staatseinungsdenken überschattet, nun gilt es zu entdecken, dass nur Individuen der Einung fähig sind; die Schweizer haben es vorgelebt.

4. Wider die Konsensformeln, die „vorweggenommenen Einungen" Die heutigen Chancen zur Entfaltung eines neuen, individualistischen Einungsdenkens im Staatsbereich gehen verloren, wenn dort allzu rasch mit weiten, unbestimmten Begrifflichkeiten Einungen postuliert, vorweggenommen und damit letztlich eliminiert werden. Es gilt, sie zu entdecken, geduldig in ihren Einzelheiten zu kanalisieren. Sie müssen in Schritten aufgebaut, sie dürfen nicht, vermeintlich, überall schon im Großen, im unerklärbar Vorgefundenen gesehen und begrüßt werden. Billige Großformeln, welche die Mechanismen der Einung nicht offen legen, immer weiter verfeinern, sind nichts als Flucht des Staatsrechts in eine fiktive Soziologie. Es wäre ein Rückfall in jenes Denken in vorweggenommenen Einungsbegriffen, von dem schon die Rede war. Diese Gefahr ist heute ganz nahe: Da begnügt man sich damit, Integrationskräfte zu beschwören, Konsens zu fordern und Akzeptanz - alles „gute Worte" für Einungen, die stattgefunden haben oder vor sich gehen sollen - irgendwie, nur dass dies nicht vertieft wird, geschweige denn dogmatisiert. Gewissen Institutionen, Verfahrensweisen, werden eben kurzerhand solche Integrationskräfte zugeschrieben, die Begründungslast bleibt der Soziologie. Auf dem besten Wege ist man,

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damit die alten, guten oder meist schlechten Formen der Akklamation zu ersetzen, oder darin geradezu den Hauch des Heiligen Geistes zu fühlen, der weht, wo er will - wo man es selbst will, in der politischen Tatsächlichkeit zu erkennen glaubt. Weithin bricht man damit einfach aus, vom Staatsrecht in die Staatstatsächlichkeit hinein. Und frühere Staatslehre war noch ehrlich genug, Begriffe wie den „allgemeinen Willen" Rousseaus als staatsmythisch offen zu bezeichnen. Letztlich ist man damit wieder auf dem Wege zu den objektiven Institutionen des Idealstaates: Was sie an Legitimation „von der Basis her" brauchen, wird in sie hineingelegt, ganz global, über diese Konsens-Begrifflichkeit. Und man scheut hier auch die Fiktionen nicht, die höchste Stufe solcher rechtlicher Objektivierung: Das Staatsrecht befiehlt dann eben, dass die Mitbürger hier einig gewesen seien, es kümmert sich wenig darum, wie dies geschehe, allein das Ergebnis zählt, das Postulierte. Die Wert-Dogmatik, auf welcher viele noch heute das Staatsrecht aufruhen sehen, zeigt dies schon verbal: Was von einem höchsten Gericht oder vom Gesetzgeber als „Wert" bezeichnet wird - wie könnten in seinem Namen die Bürger nicht einig sein, wie dürften sie dies auch nur wagen? Etwas muss heute jeder entlarven - hier wird es bei den behaupteten Einungen versucht.

5. Das neue subjektive Denken in Staatseinung Gefordert ist heute das Staatsrecht der Bürger: Es muss den Prozess ihres „Zusammenkommens" normieren, ihre Subjektivität und Multisubjektivität nicht nur erhalten, sondern im Staat potenzieren; in diesem Sinne bleibt Staatlichkeit immer etwas „Höheres" im Sinne Hegels, aber eben zuallererst in dem Vorgang der Einungen. Mit vier Grundpositionen setzen diese Untersuchungen an - lassen sie sich nicht erweisen, so hat ein Nachdenken über Einungen keinen Sinn: - Die Subjekte der Einung bleiben, denn sie haben etwas Originäres an sich; und dies kann den natürlichen Menschen eigen sein wie ihren Zusammenschlüssen, ja den Teilen der Machtorganisation selbst. Diese Subjekte geben laufend im Einungsvorgang Energie ab, ohne dass ihre unverwechselbare, undurchdringliche, originäre Wesenheit aufgelöst würde. - Einungssubjekte existieren in Vielfalt, und sie ist immer eine qualitative; Gleichheit kann das Ergebnis der Einung sein, nie ist sie deren Voraussetzung. Die Einung von Ungleichem gerade erzeugt Staatskräfte. - Im Vorgang des Zusammenschlusses selbst, ohne Rücksicht auf sein Ergebnis, konstituiert sich Staatlichkeit. In diesem Einungsprozess werden jene Kräfte frei, welche, in der Unbedingtheit, Globalität und Dauer der Einung, den Staat tragen.

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- Aus dem so konstituierten Einungsstaat kommt den Einungsträgern die Kraft zurück, welche ihre Individualität verstärkt, ihre Einungskräfte steigert. Darin kommt es zum Kreislauf der Staatseinung - grundsätzlich ohne Ende. Der Einungsstaat, als welcher allein heute die organisierte Gemeinschaft vorstellbar ist, wird sicher weiter in Institutionen funktionieren. Sie sind aber als solche stets sekundär, immer zu messen an ihrer Bedeutung für die Entbindung von Einungskräften aus sich. Dementsprechend müssen bestehende Institutionen verstärkt und verfeinert, neue geschaffen werden. Die Einungsstaatlichkeit wird damit zum Kriterium der „guten Staatsform", einer im weiteren Sinne föderalen Demokratie. Dies ist kein futuristisches Staatsdenken; die Geschichte beweist den Reichtum der Einungsformen, ihre Chancen und Risiken, die Weite auch des Begriffs der Staatseinung, die selbst noch um transpersonale Ereignisse stattfinden kann. Nur eines zeigt solche Sicht sicher nicht: objektive Staatsziele, auf die hin die Gemeinschaft sich bewegen müsste, aus denen heraus dann der Bürger wiederum zu definieren wäre und sein Einungsbemühen. Insoweit bleibt jener Gegensatz, von dem hier ausgegangen wurde: Einung mag der Institutionen bedürfen - doch nicht jede Institution hat Einungsgehalt, und wo er gering ist, gilt es, sie aufzugeben. Soviel ist gut am Staat, wie er nicht so sehr aus, als vielmehr in Einung wirken kann. Dies fordert viel - vielleicht eine volle neue Dogmatik des Staatsrechts, eine Umwertung aller Werte in Staatseinungsgedanken, die zu einer neuen Geschlossenheit führt, zu etwas wie einer „Einheit aus Einung". Denn von Einheit soll wenig die Rede sein im Folgenden, ist doch der Vorgang zu betrachten, nicht sein Ergebnis, in dem sich die Kräfte der Einheit erschöpfen, vielleicht aufheben. Ein Kontrapunkt ist zu setzen zum bisherigen einungsneutralen Staatsdenken; all dessen Begriffe sind kritisch aus der Sicht der Einung zu überprüfen, eben „vom objektiven Institutionendenken zum Denken in Subjektivität". Sein Primat ist zu verwirklichen, nicht seine Ausschließlichkeit. Betont wurde bereits, dass mit dem Begriff der Einung den drei kantischen, auf das Staatsrecht übertragenen Kategorien eine vierte hinzugefügt wird, die des sich Zusammenschließens, letztlich aber nur eine „staatstypische" Akzentuierung der drei klassischen: Die Einung bezeichnet den Raum, in dem Staatlichkeit stattfindet; sie eröffnet etwas wie eine Zeitdimension, in der sie sich als staatlicher Vorgang vollzieht; in ihr wirken viele Kausalitäten zusammen auf ein großes, typisch staatliches Ergebnis hin, das sie allein hervorbringen können. In diesem Sinne ergänzt sie die „objektive" Kausalität der großen Staatserfolge in der „subjektiven" Kausalität der staatstragenden Menschen und ihres Willens. Staatseinung ist etwas entschieden Neues, nichts aber, was die Grundformen heutigen Staatsdenkens verließe.

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III. Staatseinende Demokratie das neue Bürgerreich 1. Demokratie - ein staatsformübergreifendes Wort für Staatseinung Demokratie - dieses Wort ist für die heutige Staatsrechtsdogmatik geradezu unvollziehbar, unfassbar geworden. Nahezu jede Form des Staatsdenkens beruft sich nun darauf, verbindet es mit ganz unterschiedlichen institutionellen Gestaltungen. Aus Sicht der Staatseinung lässt sich dies erklären: Dies ist ein Wort, in dessen Begriffskern, wenn es einen solchen gibt, die Staatseinung steht, es ist ein Begriff für die „Vielen" und ihre durch Einung ständig erzeugte Staatsmächtigkeit. Es muss daher Demokratie ein „unklarer" Begriff bleiben, solange Staatseinung nicht als solche gesehen und näher dogmatisiert ist: Dies sind doch dynamische Vorgänge, welche Virtualität des Begriffes verlangen; Demokratie kann dann nichts anderes sein als Ausdruck für ein „Mutterrecht", das immer Neues aus sich hervorbringt - stets allerdings in dieselbe Richtung. Die „Unklarheit", welche für das heutige Staatsrecht mit dem Begriff der Demokratie verbunden ist, ergibt sich vor allem aus dessen Konturlosigkeit, daraus, dass sich nahezu jede Ordnung noch auf diese Vorzüglichkeit berufen kann, mag sie auch gänzlich am Rande des Demokratischen angesiedelt erscheinen. Doch aus der Sicht der Staatseinung bedeutet dies eben doch nicht Inhaltslosigkeit: Der Kern bleibt fassbar, und wenn er nicht fest ist - er kann es werden: Es sind die Einungsmechanismen für die Vielen. Demokratie darf also auch, ja sie muss ein weiter Begriff sein, denn im Sinne des herkömmlichen Staatsrechts ist sie, als Einungsstaatlichkeit, institutionenübergreifend; sie bejaht alles, was dieses sich Zusammenschließen zu leisten vermag, in diesem Sinn gibt es noch weit mehr Wege zur Demokratie als zum Sozialismus. Darin ist auch die wesentliche Nähe von Demokratie und Sozialismus angelegt, dass auch dieser letztere die Einung anstrebt, sich als eine Form derselben versteht, mag er sie auch primär „von unten her" versuchen, zu Zeiten alles vernichten, was sich ihr in den Weg stellt - läge denn in der Vernichtung des radikal Ungleichen nicht auch eine Form der„Endlösung der Einung"? Dies ist die internationale Mächtigkeit des demokratischen Wortes: Demokratie ist eine Staatsform in einem neuen Sinn, die nicht auf viele Institutionen blickt, sondern nur auf eine: auf das ständige Werden der Staatlichkeit in Einung. Mit völkerübergreifendem Schwung wird sie über alle Institutionen hinweggetragen, denn in ihr drückt sich der geistige Entwicklungszustand einer Zeit aus, die multisubjektive Mündigkeit der Bürger, horizontal verteilt und vertikal gestuft - immer in Einungen zusammenfasst. Der aristokratisierende Idealstaat der Institutionen kann dies nicht mehr voll auffangen und er will mehr als dies, wo doch nur diese Einung allein mehr gefordert ist.

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Und deshalb gehört der Demokratie die Zukunft - nicht einer Staatsform, sondern einer Staatsgrundidee, die dann aus sich wieder Staatsformen institutionell hervorbringen mag: Formen der Staatseinung.

2. Staatseinung - eine imperiale Kategorie Wenn der Begriff „Reich" überhaupt einen besonderen Sinn je gehabt hat, heute noch haben kann, so ist es nur der der größeren, übergreifenden Einheit. In ihr liegt sicher die Vorstellung von etwas Großgewordenem, Endgültigem, vielleicht sogar lastend-Unentrinnbarem. Doch ist dies nicht bereits die Sicht eines Endzustands, der vor der Auflösung kommt, so eben, wie immer gesehen wurde, was wesentlich ein „Reich" war: das Römische und das Heilige Römisch-Deutsche Reich - beide Gegenstand der Betrachtung mit dem Blick auf „grandeur et décadence des Romains"? Das Reich in seiner Entstehung, in den dynamischen Kräften seiner Bewegung, in den weiten Freiräumen, die es gewährte - so wurde kaum je Imperialität betrachtet. Dann nämlich wäre erkannt, dass „Reich" nie etwas anderes bedeutet hat als Staatseinung im ganz großen Stil. Das Reich ist die große Dimension der Staatlichkeit in allem und jedem, zuallererst der Raum der Staatseinung. Seine Größe wölbt sich wesentlich über zahlreichen Bürgern und vielen Machtstrukturen. Seine größte Gefahr ist das, was sich in dem Wort „zerbrechen" ausdrückt, das sein Ende stets bezeichnet: dass sich das Nebeneinander „so vieler" eben doch nicht auf Dauer halten lässt, dass zu kleineren Einheiten zurückgekehrt werden muss; in diesem Sinne ist das Reich jedenfalls die quantitativ höchste Potenzierung der Staatseinheit. Imperialität war stets eine Herrschaftsform, die sich über Heterogenem behaupten, dieses gerade zusammenschließen konnte. Eine Untersuchung über „imperiales Denken" müsste sich zuallererst mit einer Staatskunst beschäftigen, welche Vielfältiges belässt - und es dennoch zum Ganzen zusammenschließt, in ständiger Integration. Das römische und das englische Weltreich sind dafür endgültige Beispiele: Sie bestanden in ständig geeinter Vielfalt, in der Zusammenfassung des gerade völlig Unterschiedlichen - und so Bleibenden. Daraus haben sie ihre einmalige Kraft gezogen, als der große staatsrechtliche Markt des Austausche für alle Mächtigkeiten. Liberale Imperialität verdient wohl, dass man ihr noch einmal ein Monument setze - jenes Empire libéral, das gerade auch in der Idee der napoleonischen, doch wahrhaft monumentalen Imperialität lag. Das Reich existiert eben nicht über Vielfalt, es wird täglich durch sie. Die Staatseinung lässt sich fortdenken, immer weiter, im Grunde ist dies ein „unendlicher Begriff 4 , darin gerade liegt ihre virtuelle Mächtigkeit: Optimistisch ist sie zu immer Größerem hin geöffnet, in der Sicherheit, dass sie es mit ihren Formen sich anzuschließen vermag. In der kleineren Staatlichkeit, die überall an ihre Grenzen rasch stößt, läuft solche Einung vielleicht bald leer - oder sie sucht eben diese Grenzen zu überschreiten, wie es mit den Heeren der Französischen

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Revolution und ihren neuen Einungsideen erlebt wurde. Der Raum eines wahren Reiches - und ein solches sollte damals ja gerade entstehen - ist weit genug für die ganze Dynamik der Staatseinung, er ruft sie, um groß zu werden, bis ins Unendliche. Das Imperium, welches sich durch das „Nichts außerhalb" definiert, ist der Raum der zu Ende, der unendlich gedachten Staatseinung. Und wenn die Expansion nicht mehr möglich ist, so kann sich die bisher weit überwölbende Imperialität in immer neuen Einungen „nach unten fortsetzen", die bisher beherrschten Räume sich nun in Einung anschließen; im französischen Empire colonial, wie früher schon im spanischen Reich, ist es wenigstens versucht worden. Reich - das war, trotz allem intra-muros-Denken, doch auch immer letztlich ein offener Begriff, eine Herrschaft, die sich ständig Weiteres anzugliedern vermochte, wie es Römern und Engländern gelungen ist, zuzeiten auch dem Heiligen Deutschen Reich. Hier bewährt sich erst recht die Kategorie der Staatseinung, in der Anbindung immer neuer Herrschaftseinheiten, einer Annexion im guten Sinne der Angliederung, in der sich liberale Einung vollzieht; das französische Königtum hat sich so neue, auch deutsche Provinzen endgültig gewinnen können. Das Reich definiert sich schließlich als eine vertikale Stufung geeinter Mächte, zusammenwachsender politischer Machtpersönlichkeiten - darin hat es stets föderalen Charakter. Das Imperium wird getragen durch die Multisubjektivität der vielfältigen bestehen bleibenden Mächte, in diesem Sinne war auch im II. Deutschen Reich etwas von echter Imperialität, was sich im Deutschen Föderalismus geistig hat fortsetzen können. Wenn mit dem Imperialen auch an etwas immer Unfertiges gedacht wird, welches zu vollenden bleibt - und dies war stets der höchste, beste Sinn der Imperialität - so gelingt darin erst recht der Anschluss an jene Staatseinung, die nie erreicht ist, stets zu leisten bleibt. Doch das Reich ist nicht nur eine gestufte Zusammenfassung politischer Machteinheiten, es braucht stets auch den Reichsbürger, wie immer er zum Reich vermittelt wird. Wenn die imperiale Kraft nicht mehr durchzugreifen vermag auf die Basis der Bürger, wenn sie nicht länger getragen ist durch deren Staatseinung - und diese „unten" unmittelbar fördern kann - dann bleibt bald nur mehr das Absterben der imperialen Spitzen, wie es im Römisch-Deutschen Reich erlebt worden ist. In einem Reich, das diesen Namen auf Dauer verdienen will, muss sich also stets nicht nur Mächteeinung vollziehen, sondern auch Bürgereinung, fassbar bis in die Spitze hinein; England hat es für Generationen vermocht, in der Einung internationaler Eliten und seiner freien Bürger. In diesem Sinne führt die Staatseinung nicht zum abstrakten Imperium, sondern sie muss im „Bürgerreich" ihre Vollendung finden.

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3. Einungen - Dynamisierungen des „Reiches der Freiheit" Staatseinung ist der Versuch, in politischer Dynamik aus der lastenden Statik der staatlichen Institutionen auszubrechen - in diesem Sinne wird hier ein neues Staatsdenken gefordert, jenseits des traditionellen Institutionenstaates. Gerade eine Betrachtung imperialer Erscheinungen zeigt die ganze Bedeutung dieses Vorganges: Nur auf dem Wege der Staatseinung kann der Staat der lastenden Kolossalität des Imperialen entgehen, jenem Vorwurf, dem nicht nur das Großreich ausgesetzt ist, der jede formierte Staatlichkeit immer bedroht. In einem „Reich" scheint so oft alle politische Bewegung in rechtlicher Erstarrung beendet - die Staatseinung, das Recht als wesentliches Staatsverfahren zwischen Staatssubjekten, öffnet das Reich und alles, was sich an Imperialität in jeder Staatlichkeit findet, dem Recht in einem ganz neuen Sinn: Nun ist dieses Staatsrecht wieder aufgerufen, in ständigen, vielfältigen Vorgängen sich ordnend zwischen Subjekten zu bewähren, in verteilender Gerechtigkeit, so wie sich selbst das große Zivilrecht stets verstanden hat, wie es das Wesen jedes Rechts immer war. Darin verliert dann das Staats-Recht jenes konstituierend-Konservierende, das ihm die politische Dynamik nie verzeihen, das sie stets überrollen wird. Wenn sich das Staatsrecht immer nur in Aus- und Abgrenzungen bewährt, so stirbt es in jener Zementierung, vor welcher Verfassungsrichter warnen - oder es verliert sich in einer gesetzgeberischen Freiheit, in welcher sie unnötig werden. Die Staatseinung ist hier ein Mittelweg, der die Dynamik wieder in das Staatsrecht zurückführt, dort neue Kriterien setzt, nach denen sich verfassungsrechtliche Güte an Gestaltungen und Einrichtungen messen lässt. Immer mehr wird in Politik und Staatsrecht heute nach dem „Sinn der Freiheiten" gefragt, nach der „Funktion" des Eigentums, nach der „Freiheit zu diesem und jenem", gewiss liegt in solchen Fragen bereits der Anfang vom Ende der Freiheit, die sich ihre Ziele nicht vorgeben zu lassen braucht. Doch so absolut, das zeigt sich heute schon, wird man sie eben nie mehr in Zukunft verstehen, immer wird man versuchen, die Teleologie auch in sie zu tragen, vom Staat her. Bevor dies aber dazu führt, dass die Freiheit in allem und jedem vorbestimmt, funktionalisiert, nur in bestimmten Richtungen brauchbar wird, sollte ein Denken in Staatseinung dies alles auf eine Teleologie konzentrieren: Freiheit, um sich in ihr zusammenzuschließen - und damit sie, in diesem Zusammenschluss gerade, bleibe. Wenn damit verhindert werden kann, dass dem Bürger täglich vorgeschrieben wird, was er mit seinen Freiheiten zu beginnen habe, wenn er nur zu einem gedrängt wird: zu ihrem konzertierten Gebrauch mit anderen, in die verfeinerten und gesteigerten Formen gemeinsamer Freiheitlichkeit - dann hat das Denken in Staatseinung den Anschluss gefunden an die größte Tradition des Staatsrechts. Dann ist in solcher, im Letzten doch zielloser, Dynamik Wirklichkeit geworden - das Reich der Freiheit.

Β. Das Wesen der Staatseinung I. Staatseinung und Einheitsstaat 1. Der Einheitsstaat als Machtstaat a) Einung - Einigkeit - Einheit Die Einung im Staat und durch seine Mechanismen ist der Gegenstand dieser Betrachtungen, nicht primär die Einigkeit, welche so hervorgebracht wird. Der Einungsprozess ist es ja, der, wenn die zentrale These zutrifft, die typischen Staatskräfte laufend entbindet und damit die modernisierte Gemeinschaft hält. Unter Einigkeit dagegen versteht die Sprache doch etwas Statisches, jenen Zustand des Zusammenstehens, in dem nicht der Vorgang der kontinuierlich-dynamischen Staatswerdung betrachtet wird, sondern wenn nicht deren Ergebnis, so doch ein Zustand, in welchem die Einung sozusagen zur Ruhe gekommen ist. Eines sei hier deutlich vorangestellt: Diese Einigkeit, ein solcher Zustand, steht nicht im Vordergrund der Betrachtungen, die Staatseinung soll nicht als etwas auf einen Endzustand Gerichtetes begriffen werden. Dies ist ja einer der Gründe, weshalb Staatseinung, in allen ihren Formen, stets von Misstrauen begleitet war: Man sah sie als einen Weg, der nur im Verlust der Vielfalt, der eigenen Rechte und Freiheiten, enden zu können schien. In der Sorge davor wurde von Anfang an im Staatsrecht institutionell-ausgrenzend gedacht, machtbalancierend, gewaltenteilend. Die Dynamik der Staatseinungen - waren dies nicht Schübe zu „immer mehr Staat", stets noch weniger Freiheit? Und weil man eben im Staatsrecht nur statisch zu denken gewohnt war, von herzustellenden Zuständen aus, wollte man nicht die Dynamik als solche erfassen, sondern sah hinter ihr bereits das Ende: einen Zustand der Einigkeit - der dann sehr rasch zur Einheit werden musste. Dabei ist es doch der deutschen Sprache eigentümlich, dass sie Einigkeit und Einheit trennt, in den ersteren Begriff etwas legt wie eine Momentaufnahme des Einungsvorgangs, einen Zustand jedenfalls, in welchem die Einungsträger nicht in Einheit aufgehoben, endgültig überhöht sind; in Einigkeit ist immer noch Vielheit mitgedacht - aber nicht mehr jene Kraft spendende Bewegung, die hier Betrachtungsgegenstand ist. Und dann kommt es eben allzu rasch, in gängigem Denken, zum Umschlag von der Einigkeit in die Einheit, jenen Zustand, in dem nicht nur keine Bewegung mehr ist, in dem die Einungsträger verschwinden. Wollte man dies hier betrachten, so

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müsste man aus vielen Traditionen des Staatsrechts treten, denn Einheit ist ihm oft eher Angst als Ziel; alle seine Mechanismen sind, schon im Namen der begrifflichen Klarheit, auf Teilung gerichtet, das Zentrum der Staatlichkeit selbst, die unauflösliche Herrschaft, wird verwirklicht in einem - divide et impera. So soll denn im Folgenden nur selten von Einigkeit die Rede sein, immer von Einung, und der Einheitsstaat sei hier zuallererst als Antithese zur Staatseinung verstanden.

b) „ Einigkeit macht stark " Dies ist „nur" eine politische Devise - doch solchen vermeintlichen Staatsweisheiten hat sich das Staatsrecht selten entziehen können, und sie verraten ja auch, wie das Wesen der Staatlichkeit herkömmlich gesehen wird. Zunächst schon zeigt sich in diesem Grundsatz, dass eine Trennung von Einheit und Einigkeit bisher nie überzeugend gelungen ist, dass also der stets primär betrachtete Endzustand der Einung die Sicht auf den Einungsvorgang immer wieder versperrt hat. Denn in der deutschen Fassung ist zwar von Einigkeit die Rede, doch wenn es heißt, „l'union fait la force", dann liegt eben der Akzent weit deutlicher auf der Einheit, und wer wollte schon „union" und „unité" überzeugend unterscheiden? Vor allem aber zeigt dieser Satz, dass der Staat bereits vorausgesetzt wird, der dann Träger dieser Stärke sein wird, ihm fügt die Einigkeit, die Einung vielleicht etwas noch hinzu, begrifflich aber ist er vor ihr da, er wird nicht erst durch sie konstituiert. Die Einigkeit gibt die Macht, sie ist ein Programm: Macht durch Aufhebung der Partikularismen. Wenn das Thema der Betrachtungen so verstanden würde, könnten diese hier schon schließen, denn man müsste in Einung zur Macht aufbrechen - damit recht bald die Einung in Einigkeit aufhöre. In der Überschrift dieses Kapitels kommt die Sorge zum Ausdruck, welche stets den Blick auf die Staatseinung verdunkelt hat: dass sie nichts anderes sei als ein Programm des Machtstaats, als ein Mechanismus auf den Einheitsstaat hin.

c) Die Gefahr: Staatseinung - Machtdynamik zum Einheitsstaat Dies ist in der Tat die große Versuchung aller Staatseinung: dass sie verstanden werde als der Weg zum immer stärkeren Staat, zum Machtstaat. Sieht man das Wesentliche in der Staatseinheit, nicht in der Dynamik, in den Einungsprozessen, in deren laufender, wesentlich ungerichteter Dynamik, setzt man der Staatseinung ein festes Ziel, so kann es nur die versteinerte Einigkeit sein, am Ende der Einheitsstaat, und diese Ordnung ist denn auch stets als Machtstaat begriffen und gewollt worden. In solcher Vereinheitlichung sah man die Chance zur Potenzierung 56 Leisner

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der Macht nach innen und außen. In diesem Jahrhundert haben denn auch alle autoritären Regimes ihre Föderalismen beseitigt oder gleichgeschaltet, in Deutschland, Italien und Russland, immer damit ihre Macht nach innen und außen absolut sei: stets also „Einheitsstaatlichkeit" als absolute Souveränität. Im Einheitsstaat wird der „rocher de bronze" gegossen, undurchdringlich von außen in seiner völligen inneren Gleichartigkeit. Es kann nur der Machtstaat sein, nach innen und nach außen: - Nach innen ist mit der Einheit die Gleichheit hergestellt, die der Herrschaftssubjekte und ihrer Rechte ebenso wie die der Herrschaft und ihrer Formen. Zuwenig ist erkannt worden, wie sehr der Einheitsstaat der stärkste Motor der Gleichheit stets war, weder in föderalen Gebilden noch in Zwischengewalten mehr irgendeine Hemmung fand. Selbst dort, wo überall gleiche Freiheiten geachtet werden sollen, wo der liberale Einheitsstaat verwirklicht wird, wie in der französischen III. Republik, da ballt sich zugleich auf der Seite der Herrschaft eine mächtige Staatlichkeit zusammen - vermeintlich zum Schutz dieser Freiheiten, rasch aber mit dem Mandat, den Staat einheitlich zu gestalten; in dieser Sorge sind die deutschen Föderalisten im Jahre 1871 mit Recht einer Reichs-Grundrechtlichkeit entgegengetreten, in der sie am Ende doch nur freiheitsgefährdende Einheitsstaatlichkeit sahen. Denn ganz natürlich werden im vollen Einheitsstaat die Widerstände der so Egalisierten immer schwächer gegen die staatliche Herrschaft, immer noch reibungsloser kann über sie geherrscht werden, da sie in allem eben typisiert und damit „den Herrschenden bekannt" sind. Die Staatsgewalt gewinnt Kraft zu stets noch größeren Schlägen, weil sie sich nicht mit föderalen Ausnahmen beschäftigen muss; und da sie machtmäßig nichts mehr kennt als Ebenen, wird sie bald auch vor den Kleinst-Erhebungen ihrer Bürger nicht mehr Halt machen, dies jedenfalls ist politische Erfahrung. Sie hat ja auch ein Ziel, das ihr immer neue Aufgaben stellt: die Vollendung dieser Einheit, den Abbau der Verschiedenheiten - immer mehr Gleichheit, damit immer leichteres Herrschen, wie es eben die glückliche Gesetzmäßigkeit des Gleichheitsstaates vorschreibt. Bei den vorliegenden Betrachtungen aber sollte nicht vergessen werden, dass es die Angst vor dem Gleichheitsstaat ist, welche deshalb, ganz folgerichtig, auch den Einheitsstaat nicht wünschen kann - oft jedoch, in einem weiteren, verhängnisvollen Schritt, sich auch gegen alle Formen einer Staatseinung wendet, die eben immer nur zu diesem Einheitsstaat zu führen scheinen. - Noch deutlicher fast und gefährlicher ist die Wendung des Einheitsstaats zur Machtstaatlichkeit nach außen. „Einheit" gewinnt doch nur dann letzten Sinn, wenn sie ihre im Inneren geschmiedeten, meist hart erkämpften Instrumente dann auch nach außen einzusetzen vermag, für etwas, das diese Anstrengung wert ist; und gerade im Namen dieser Außenherrschaft wird auch die innere Ungleichheit meist eingeebnet, muss man doch immer härter gegen den äußeren Feind zusammenstehen. Eine solche Einheitsstaatlichkeit kann sich nicht immer

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nur, nach innen gewendet, mit sich selbst beschäftigen; die Einheit muss sich im Sieg legitimieren, es siegt aber eben immer - einer, eine Einheit. In dieser dem Einheitsstaat wesentlichen aktiven Außenpolitik wird er sich erst voll seiner selbst bewusst, weil er damit „Etappen erreicht", fassbare Herrschaftszustände herstellt, sichtbar für alle Bürger, was nach innen nie vergleichbar deutlich gelingen kann. Hier sieht jeder den Einheitsstaat auf dem Marsch. Und wie sollte eine Macht nach außen Grenzen anerkennen, welche im Inneren alle Schranken beseitigt, alle Staatlichkeit und Verbandlichkeit eingeebnet hat? Muss sie nicht versuchen, sich die Außenräume ebenso anzueignen - anzueinigen, wie es ihr nach innen gelungen ist? Die Souveränität ist letztlich stets eine, sie kann nicht völlig „zwischen innen und außen geteilt" werden - und dies gilt für den Einheitsstaat: er muss auch nach außen der große Machtstaat sein.

d) Einheitsstaat - Vollendung der Einung? Von den Höhen solcher Hoffnungen auf innere und äußere Macht gesehen, müssen die vielfachen Bemühungen der Staatseinung stets als etwas Unvollständiges erscheinen, als Anstrengungen, die ihr Ziel noch nicht erreicht haben, die allerdings auf dem Wege sind zu Besserem, höher hinauf. Es ist schon ein ernstes Problem, ob sich im Staat verwirklichen lässt, was so selten gelingt: ungerichtete Dynamik halten, Aktivitäten scheinbar um ihrer selbst willen ablaufen lassen, ohne ein Ziel, das doch, so scheint es vielen, immer nur der Einheitsstaat sein kann. Die Deutschen wissen dies seit über einem Jahrhundert: Damals sind sie aufgebrochen, aus ihrer vielfachen Staatlichkeit heraus, zu Höherem, mit ihrem „Deutschland über alles", in dem die ganze Tragik der Verbindung von Einheitsstaat und Machtstaat bald über sie kommen sollte. So ist denn Staatseinung in diesem Land immer wieder „gerichtet abgelaufen", faszinierend mit ihrem Zug ad maiora, auf das Größere der Macht hin unterwegs. Begeisternd wirkte dabei die Staatseinung nicht zuletzt in ihrer Verbindung mit dem liberal-politischen, ja sogar naturwissenschaftlichen Fortschrittsbegriff dieses letzten Jahrhunderts, obwohl doch gerade hier sich hätte zeigen können, dass Fortschritt im Ungerichteten sich vollzieht, ja nur zu oft in Ziellosigkeit abläuft. Doch noch immer sind in Deutschland die Vertreter der Einheitsstaatlichkeit unterwegs auf das alte Ziel hin: mehr Einheit, mehr Gleichheit - und nur zu oft darin: mehr Macht.

2. Gegenposition: Staatseinung - „Staat ohne Macht" a) Das große Ziel der gewaltlosen Staatlichkeit Die Steigerungsgesetzlichkeit der Staatseinheit hat immer Ängste geweckt, ebenso wie die einer ihr vergleichbaren immer größeren Gleichheit. Zum Problem 5*

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muss dies vor allem in einer Zeit werden, welche sich in stets neuen Formen zu Bürger- und Staatseinungen herausgefordert sieht. Sollte dies wirklich nur möglich sein hin zu immer mehr Einheit, zu stets noch größerer Macht? Muss das Gespenst der Kollektivierung immer näher kommen? Die Gegenposition wird seit langem und immer entschiedener bezogen: Staatseinung muss ein Prozess sein zur „Ordnung ohne Macht", Zusammenschlüsse dürfen nur erfolgen in einem stets noch höher gesteigerten Selbstbewusstsein eigener Freiheit, die sich darin bewährt, nicht in der Einheit untergeht. Auch dies war ein Sinn der Bewegung von 1968: Einungen außerhalb aller bisherigen institutionellen Formen, und es belastet die Entwicklung, dass dies oft in Utopie und Anarchie zu enden schien. Es muss gelingen, die Einung aus einer Gesetzmäßigkeit der Machtverstärkung zu einem Prozess der Gewaltlosigkeit werden zu lassen, in welcher die Integration den Zwang ersetzt. An die Stelle einer sich flächendeckend in Einheit zusammenballenden Macht soll etwas treten wie eine punktuelle Mächtigkeit des Staates, welche nur immer wieder dort eingreift, wo es gilt, den Einungsprozess neu in Gang zu setzen, weiterzutreiben, in einer Staatlichkeit, die sich in ihren Idealvorstellungen gewissermaßen der ständigen Einung der Bürger und der anderen Einungssubjekte im Staat überlässt. Da ist schon etwas von einer zivilrechts-ähnlichen Staatlichkeit, die in erster Linie Einungsräume für die Vertraglichkeit ihrer Bürger bereitstellt, nur im Letzten eingreift und nur im Zuge eines wiederum von den Einungssubjekten betriebenen Verfahrens. Nicht dass sich der Staat einfach vor dem Bürger zurückziehen sollte - er soll nur immer mehr, um gängige Worte zu gebrauchen, Fremdbestimmung durch einigende Selbstbestimmung ersetzen.

b) Ordnung als intersubjektives

Netzwerk

In einer Betrachtung aus der Sicht der Staatseinung muss der Begriff der Ordnung neu konzipiert werden. Sie lastet nicht wesentlich mit Gestaltungen und Befehlen der Staatsgewalt auf dem Bürger. Denn diese Staatsgewalt wird als selbstgewichtslos gedacht, sie bewährt sich lediglich in Unterstützungen von Bürgeraktivitäten. Der Staat steht nicht „außerhalb", um die Herrschaftssubjekte wesentlich zur Einheit zusammenzuzwingen. Sie selbst knüpfen das Netzwerk ihrer eigenen Ordnung, auch im Raum eines öffentlichen Rechts, das nur als Katalysator privatrechtsähnlicher Autonomien erscheint. Dieses Netz soll halten, nicht drücken, so zeigt es das Bild des Sozialrechts, in welches die ganze Staatlichkeit letztlich verwandelt werden soll. Die Genossenschaftlichkeit des Sozialversicherungsrechts kann aus solcher Sicht nur ein Anfang sein, gerade hier soll ja immer mehr staatlicher Zwang durch Einung ersetzt werden. Dieses Vorbild der für den Bürger heute wohl praktisch wichtigsten Verwaltungstätigkeit muss sich doch eines Tages auf so viele andere Bereiche übertragen lassen: in einem Staat, der das im weiten Sinne

Β. Das Wesen der Staatseinung

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des Wortes soziale Netzwerk repariert, wo es brüchig ist. Beim Einungsvorgang aber, welcher das Netz knüpft, müssen dessen Subjekte bestehen bleiben, stärker werden, sind sie doch Halter des Gesamtsystems - jedes von ihnen wichtig, unersetzlich - damit die Spannungskraft der Einung ständig sich verstärke. Privatautonomie hat hier höchsten Rang, denn in ihrem Stoff ist alles gewebt. Die Menschen sind dieser Einungsstaatlichkeit nicht nur in ihren ausgrenzenden Menschenrechten vorgegeben, sie sind es auch in ihren Einungskräften, aus denen allein Ordnung werden kann; auch das intersubjektive Ordnungsrecht zur Einung ist ein wahres Menschenrecht; und in diesem Sinne sind Demokratie und Grundrechtlichkeit eins. c) Selbstbeschäftigung der Staatlichkeit in innerer Einung Der Staat, der Einungen anknüpft und repariert, hat keine eigentliche Macht. Er bleibt immer sekundär in dem Sinne, dass er Kräfte der Einungssubjekte hervorruft und Abläufe dieser Zusammenschlüsse verbessert. Daraus folgt dann ein laufender und wesentlicher Innenbezug der gesamten Staatstätigkeit, die sich nach außen auf die Abwehr gewaltsamer Eingriffe in die innerstaatlichen Einungsvorgänge beschränkt. Die Staatsgewalt wendet sich vor allem gegen eine Subvertierung der Einungsprozesse, in einer ständigen Schiedsrichterrolle, deren Ideal durchaus eine gewisse Subsidiarität, ja Passivität sein mag, lässt sie sich auch nie ganz erreichen. Die staatliche Tätigkeit ist aber immer wesentlich als etwas wie ein Einungsbeginn zu verstehen. Und sie ist auch in diesem Sinne laufende Selbstbeschäftigung mit vergleichsweise Kleinem. Nachdem diese induktive Einungsstaatlichkeit sich wesentlich „von unten aufbaut", jedenfalls sich auch stets in kleineren Bereichen vollzieht, gibt es für diesen Staat immer vieles zu tun, auch immer wieder Großes, nie aber Mächtiges. Es ist, als werde die große Kraft durch vielfältige Aktivität ersetzt, auch dort, wo die Gemeinschaft politisch gehalten wird. Der Einungsstaat, in solchen Reparaturen ständig mit seinen eigenen Werten beschäftigt, kommt gar nicht mehr zu jener Macht der großen Schläge, mit denen der Einheitsstaat immer wieder gefährlich wird: Nach innen könnte er damit ja nur versuchen, das feine intersubjektive Netz durch allzu grobe Raster zu ersetzen, die zerstören, nicht halten; nach außen würde er Stöße einleiten, die das Netz überfordern, das als solches nicht „gerichtet" ist auf Größeres, das nur „liegen bleiben" will - in der Sicherheit der sich vervielfältigenden Einung. d) Staatseinung als Friedenskategone Der Einungsstaat will Kontakte seiner Subjekte, der Bürger und ihrer Herrschaftseinheiten herstellen und enger knüpfen. Nach außen kann er nicht leicht of-

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fensiv werden, ist er doch ständig mit seiner eigenen Genesis beschäftigt. Wie sollte er auch außenpolitisch angreifen und niederwerfen, wo er doch wesentlich in Einungen denkt, in Verträgen? In diesem Sinne muss eine wie immer verstandene Einungsdemokratie friedliebend sein; Krieg ist für sie völlig systemfremd. Mehr noch: in ihrer Selbstbeschäftigung nach innen mit ständigen Einungen findet eine laufende Bindung des Aktivitätsdrangs von Menschen und Organisationseinheiten statt, die im Einheitsstaat nur zu oft wenig beschäftigt brachliegen und zur Gewaltsamkeit nach außen drängen. Das Ideal der Staatseinung ist, um es überspitzt auszudrücken, der friedliche Bürgerkrieg in Permanenz, bei dem Kräfte aufeinandertreffen, sich drängen und verdrängen, sodann ihren Frieden miteinander schließen. Die Marktwirtschaft bietet ein Modell für diesen wahrhaft zivilen wirtschaftlichen Krieg, in welchem die Selbstbehauptungs- und Durchsetzungskräfte der Menschen, individuell und gebündelt, ständig abschäumen können - wesentlich in den Einungen der wirtschaftstragenden Vertraglichkeit. Die Staatseinung sucht all dies zu übertragen in die traditionellen Bereiche des Herrschens. Dort sollen, ebenso wie in der Wirtschaft, in Wettbewerb und laufender Einung Kräfte freigesetzt und wieder eingesetzt werden; Energieproduktion und -kanalisation werden im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich parallel - wenn nicht gleichermaßen zum Problem. Deshalb sind auch die ständigen Versuche legitim, Modellvorstellungen aus der Wirtschaft in die Staatlichkeit zu übertragen, und zu kurz gedacht bleiben jene Einwände, die dem unter Berufung auf eine „ganz andere Natur des großen Politischen" entgegentreten; das Grundproblem ist dasselbe: der friedliche Bürgerkrieg des Wettbewerbs, immer wieder in Einungen beendet - und mit ihren Kräften neu beginnend. Darin liegt die größte Chance einer Friedensentwicklung in der Verbreiterung der Wirtschaftseinungen zur Staatseinung. Denkt man in diesen Kategorien, so schwinden auch die Sorgen vor den vielbeschworenen Reibungsverlusten der Demokratie, die letztlich nur die einer hochentwickelten Staatseinungsordnung sind. Diese Reibungen bedeuten den heilsamen zivilen Bürgerkrieg, ein Abschäumen von individuellen Selbstbehauptungs- und kollektiven Herrschaftsgelüsten, das kostet, nicht schadet. Die volle Transformation der Schlachten in Kosten - wäre das kein Ideal? Für die Staatseinung aber ergibt sich ein Grundprinzip: dass sie auf Kosten nicht sehe, solang sich mit ihnen noch Einungen bezahlen lassen.

3 . . . . und doch Staatskräfte aus „Staatserweiterung" a) Machtlose Kraft - der Service-Staat Heutige Politik und Staatsorganisation sieht sich immer wieder in eine vermeintliche Utopie gedrängt: in die machtlose Kraft des Staates. In ihm, in seinen Großorganisationen, ziehen sich stets noch mehr Möglichkeiten, Kräfte zusammen -

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und immer weniger soll er zwingen, Macht ausüben dürfen. Auf all seinen Ebenen hat einfach der Staat diese vielfachen Kräfte, ja über noch weitere Steigerung wird dabei nachgedacht, eben im Namen der Staatseinung. Sinnlos wäre es, sie zu betrachten oder gar systematisieren zu wollen, sollten sie nur zur Schwächung, nicht zur Kräftigung der Staatlichkeit führen. Und wer wollte überhaupt Seiten über diese Einung lesen, der nicht von ihr eine solche Kräftigung der Staatlichkeit erwartet, wie sie eben in allem liegt, was Integration anspricht? So sei auch im Folgenden ein zentrales Kapitel jenen Kräften gewidmet, die sich gerade im Einungsvorgang entbinden. Doch diese Kraft darf eben nicht zur Macht degenerieren, welche Objekte niederzwingt, nicht Subjekte stärkt, in ihren Einungen. Im öffentlichen Recht der Gegenwart ist dies wohl gefühlt, ja klar erkannt worden: Immer mehr ist vom Service-Staat die Rede. Nicht nur dort soll er mit seinen Kräften dienen - und was wäre machtlose Kraft anders als „Dienst"? - wo er ökonomische Güter und Leistungen bereithält; in das Herz seines Herrschens sind solche Worte eingedrungen, die Polizei als Freund und Helfer ist die entschiedene Absage an den hoheitlichen Zwang. Für die Dogmatik des öffentlichen Rechts ist dies noch immer ein Ärgernis um wie viel leichter ist es, die Besonderheit des Staates aus Befehlen zu erklären; und lässt sich nicht aller Service leicht wieder in Zwang umdeuten, wenn er eben aufgezwungen wird, eine unentrinnbare Lage schafft? Manchmal scheint es, als werde die alte Begrifflichkeit die Oberhand behalten, die des objektiven Staates und seiner lastenden Machtbefehle auch den Service-Staat sich noch unterordnen. Und doch kann die Umdeutung der Staatlichkeit in Dienstleistung gerade dann fortschreiten, wenn ihr Einungs-Wesen erkannt und entschlossen die Einungsdogmatik entwickelt wird. Denn aus der Staatseinung wird dann ganz wesentlich nur machtlose Kraft entstehen, ein „allgemeiner Wille", der stets auf die Subjekte zurückbezogen bleibt - und dass dies geschehe, das ist eben die große, neue Aufgabe. Eines jedenfalls sollte klar sein: Ein Service-Staat ist ohne Staatseinung nicht vollziehbar.

b) Das Ende der „Staatsfeinde " Einungserweiterung statt Toleranz Die Demokratie hat sich immer wieder Feindbilder aufbauen wollen, stets von neuem hat sie bald mit ihren „Staatsfeinden" ihren Frieden machen müssen. Da zeigt sich eben die tiefere Kraft dieses Denkens in Staatseinung: Jedes mögliche Einungssubjekt ist einzubeziehen, nicht auszugrenzen, jeder Zusammenschluss solcher Subjekte, Verbände, Parteien, widerspenstiger Kommunen und Gliedstaaten; sie alle dürfen letztlich nicht diszipliniert, sie müssen stets resozialisiert werden, wieder hineingeführt in die Einungsgemeinschaft. Feinde gibt es nicht nach außen, keinen Staatsfeind im Inneren. Selbst die Erziehung findet dort ihr Ende,

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wo die Einigungsfähigkeit des so korrigierten Subjekts wieder in ihren Grundlagen hergestellt ist; ginge sie weiter, so wäre sie nichts als seine Disziplinierung, nicht jene Rekonziliation, welche die Vorstufe der Einung sein muss: dass man sich nicht einsperrt und absperrt, dass man miteinander spricht. Angesichts des nicht nur idealisierenden, sondern ideologisierenden Missbrauchs, den solange schon manche mit diesen guten Worten treiben, fällt es fast schwer, es noch überzeugt auszusprechen: Eine wehrhafte Demokratie kann es im Letzten begrifflich eben doch nicht geben, denn eine Einung, die aus ihren Prozessen ausgrenzen will, bleibt stets unvollständig, unüberzeugend. Nun wird das Wort „Toleranz" wohl erwartet: Soll sie immer noch weiter gesteigert werden? Die Staatseinung kann sie „nicht als solche kennen", allenfalls mag sie ein Anfang zu ihr sein, nie ihr eigentliches Wesen. Denn auch dieser Begriff grenzt ja immer wieder aus, er stellt Subjekte „daneben", damit aber doch außerhalb einer Einung, in die sie aktiv einbezogen, in der sie nicht nur - toleriert werden sollten. Diese Toleranz ist darin ein schlechter, weil wahrhaft desintegrativer Begriff, dass sie nur Aggressionen negiert, nicht aber Integrationen konstituiert; im Grunde verneint sie ja auch diese, weil am Ende alles „nebeneinander stehen bleibt". Das geistige Programm muss also in der Staatseinung ganz anders lauten: Nicht Ausgrenzung des bisherigen Staatsfeindes in Toleranz, sondern Erweiterung der Staatlichkeit in seiner Einbeziehung - nicht: Einbindung - in der Gewissheit, dass soviel Staat immer sein wird, wie Raum für Staatseinung geschaffen werden kann. Stets ist es als höchste Staatskunst gefeiert worden, nicht zu tolerieren, sondern sich mit dem politischen Gegner zu versöhnen, d. h. aber, ihn in den Einungsraum zu stellen. Dies ist nicht nur ein Zeichen der vornehmen, es ist ein Beweis der menschlichen Staatlichkeit. Und mehr Kräfte bleiben dann für die eigentlichen Staatsaufgaben, für das Eigene jedes Bürgers, wenn es keine Feinde gibt, gegen welche Macht eingesetzt werden müsste, wenn sich alle und ihr Staat wirklich nur mit sich selbst beschäftigen dürfen, in Einungsprozessen.

c) Am Ende: Entpolitisierung

in Einung

Politik ist klassisch als Freund-Feind-Beziehung definiert worden, die Demokratie hat es ernst genommen, in ihren bereits beschriebenen zivilen Bürgerkriegen praktiziert sie diese Gegensätze ständig; nur bleibt sie allzu oft bei ihnen stehen. Im Namen der Einung muss auch über die Grenzen, das Ende vielleicht solcher Freund-Feindlichkeit nachgedacht werden. Politische Gegensätze sind die Voraussetzung für Einung und als eine laufende kann diese nicht gedacht werden, wenn sie nicht immer von neuem aufbrechen, daher auch, in gewissem Umfang, organisatorisch verfestigt, ja verewigt werden.

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Die Pluralität der politischen Parteien in der Demokratie findet darin ihre Begründung. Doch auch die Grenzen ihrer Gegensätzlichkeiten! Wenn der ständige Zug von den Gegensätzen zur Einung gehen soll, wenn er zwar immer wieder ablaufen, also auch rückgängig gemacht werden muss, so darf es doch nie zum Umschlag aus Einung in eine Gegensätzlichkeit kommen, welche dann am Ende stünde. Die Pole sind zueinander gerichtet, nur um der gemeinsamen Energie willen überhaupt legitim. Demokratie steht immer in der Explosionsgefahr der übersteigerten Politisierung, welche die Parteigruppierungen als Staaten im Staat verfestigt, nicht den Einungs-, sondern den Wechsel-, den Abwechslungsstaat schafft, in Wiederholung und Wechsel einer Beuteordnung. So tief ist in der Staatsrechtsdogmatik der Demokratie die Überzeugung von der Bedeutung der Gegensätzlichkeiten und des Machtwechsels verwurzelt, dass dies, mehr als viele andere Teilungsinstitutionen des Staatsrechts, immer wieder den Weg zur Erkenntnis der Staatseinung versperrt hat. Die Politik war es wohl zufrieden, fand sie darin doch Bestätigung für die Güte ihrer einungszerstörenden Kämpfe. Hier sollten nun endlich die „Grenzen des Politischen" sichtbar werden - in Staatseinung. Es kann nicht genügen, sie nur dort anzuerkennen, wo weiterer Kampf in Selbstvernichtung enden, die Gefahr der Anarchie am Horizont erscheinen lassen müsste. Es sollte etwas bedeuten, dass die Institution eines neuen Einungsstaates zu entwickeln ist, der in Staatseinung ständig neu sich bestätigt. Die ganz großen Staatlichkeiten der Gegenwart zeigen laufend, nicht zuletzt in Amerika, dass der „Streit auf Einung hin" immer das Oberste bleiben muss. In diesem Sinne bedeutet Staatseinung auch eine letzte Entpolitisierung der Staatlichkeit; sie kennt in der Tat keine Parteien mehr, nur mehr Deutsche, wenn sie die Einung zuhöchst setzt, nicht den Streit, der ihr vorhergeht, ihr Ehrlichkeit verleiht. Und in diesem Sinne bleibt dann Staatlichkeit auch im Sinne des 19. und weiter zurückliegender Jahrhunderte: Staat über der Tagespolitik.

II. Staatseinung - mehr als Dezentralisierung und Subsidiarität 1. Dezentralisierung - Weg der Einung oder Institution der Teilung? a) Dezentralisierung

- Rückgängigmachung des Einheitsstaates

Überall laufen Entwicklungen der Dezentralisierung ab, je höher die Staatlichkeit historisch und dogmatisch entfaltet ist, um so rascher und entschiedener. Zentralisierungstendenzen sind - dies ist heute schon konsensgetragen - eher Zeichen einer Entwicklungsstaatlichkeit. Wer von Staatseinung spricht, kann seine Zentralthese hier rasch bestätigt finden.

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Es geht dabei auch gar nicht nur um Organisationstechnik, um die Erkenntnis der Effizienz kleinerer Herrschaftseinheiten. Noch nie war die Großorganisation Staat in der Lage, allein aus organisationstechnischen Erkenntnissen heraus Entwicklungen solcher Größenordnung einzuleiten. Dahinter steht ein bedeutsames und allseitiges Einungsbemiihen; denn einerseits sollen die kleineren Einheiten eben den Staat näher an den Bürger bringen - aber auch diesen näher zu seinem Staat, der eben seine Einungen auf solche Weise besser in sich aufnehmen kann. Zum anderen ergibt sich auch sogleich bei Dezentralisierung die Notwendigkeit der Wiederzusammenfassung der so geteilten Organisationseinheiten, damit aber eine Staatseinung auf der höheren, der Herrschaft näheren, der organisatorischen Ebene, in einem Sinne, in welchem hier auch laufend von Staatseinung zu sprechen ist. So ist Dezentralisierung wirklich das Eingeständnis, dass mehr Staatseinung gefordert ist, weil der Einheitsstaat seine Grenzen, die der Staatlichkeit schlechthin, überschritten hat. Der Einheitsstaat ist ja die Staatlichkeit des beendeten Zusammenschlusses, mithin eine Ordnung, in welcher die Einung als Prozess gedanklich aufgehoben ist, jedenfalls auf vielen Ebenen. Wenn er sich nun selbst wieder teilt, so wird ein früherer institutioneller Prozess rückgängig gemacht, gerade aus der einungsbeendenden Staatlichkeit selbst heraus, die Einheit kapituliert vor der Einung. Sie soll an der Bürgerbasis verstärkt, in den Zwischenbereichen neu geschaffen werden. In diesem Sinne sind Dezentralisierungen aus der Sicht der Staatseinung stets positiv zu beurteilen, eben weil sie nicht nur technische Modifikationen bringen, sondern eine Grundsatzentscheidung für die staatsimmanente Notwendigkeit des Sich-Zusammenschließens. Vor allem gilt dies dann, wenn eine volle Dezentralisierung erfolgt: wenn die neuen „Einheiten" nicht „geschaffen" werden von der alten Einheitsgewalt, wenn diese sie vielmehr „anerkennt", indem sie ihnen originäre Kompetenzen und Aufgabenerfüllungskräfte zuerkennt. Derartige Formulierungen in deutschen Gemeindeordnungen nach 1945 sollten nicht belächelt, sondern als ein Ausdruck wirklichen Staats-Neubaus im Sinne der Staatseinung verstanden werden: Hier sind ursprüngliche Gebietskörperschaften entstanden, originär wie die natürliche Persönlichkeit jener Bürger, die damit näher an den alten Staat herangeführt werden. Die Kategorie des Anerkennens bezeugt ja, bei diesen Organisationseinheiten wie dem Bürger gegenüber, das Zurücktreten der allmächtigen Institutionenstaatlichkeit, aus der Qualität des absolut-Deduktiven in eine neue Ordnung hinein, welche „von unten aufgebaut wird" - in Staatseinung. Nicht mit Ironie sollten denn auch jene Regionalisierungen bedacht werden, in denen sich langsam der Hoheitsstaat in die Staatseinung zurückzieht. Abgesehen davon, dass dann so oft alte Staatskräfte in Staatsrenaissance zurückkehren, auch die Anerkennung des Originären kann sich in Schritten vollziehen; wäre es bei der Anerkennung der Menschenrechte der Bürger anders gewesen?

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b) Dezentralisierung als institutionelles Instrument verfeinerter Herrschaft - nicht mehr Einung Doch Vorsicht ist geboten. Die alten Kräfte des Einheitsstaates räumen das Feld nicht kampflos; nur zu oft wird die Dezentralisierung zum trojanischen Pferd der früheren „Herrschaft von oben" gegen neue Formen der Staatseinung von unten durchaus nicht immer wird dabei in Einungskategorien gedacht. Dezentralisierung ist zunächst ein institutionell-objektiver Weg teilender Staatlichkeit, wie sie seit Jahrhunderten zu beobachten ist, nicht ein Instrument des einenden Werdens des Staates. Die Staatlichkeit erscheint eben, da und dort, als „allzu groß", also wird sie verkleinert - mehr nicht. Es bleibt der kleine institutionelle Staat, er wird effizienter, weil näher. Ein Umschlag in staatssubjektives Denken muss damit noch nicht verbunden sein. Dass dann, innerhalb dieser kleinen Einheiten, mehr an Einung stattfinde - oder zwischen ihnen, „hinauf zum Staat" - mag demokratische Hoffnung sein, sicher oder gar notwendig ist es keineswegs: Die kleineren Einheiten können „einungsneutral" - rein technisch-administrativ - regiert werden und ihrerseits regieren; ihre Einungs-Demokratizität kann der dezentralisierende Staat beliebig abschwächen, „in sie hineinregieren", wie es bei den deutschen Kreisen weithin geschieht. Deshalb muss sich aus solchen Einheiten dann auch keineswegs immer mehr Einungskraft entfalten, Autonomien mögen hier auch wieder absterben. Der Zusammenschluss der kleineren Einheiten kann ohne weiteres „von oben laufend kontrolliert, ja erzwungen" werden, nicht „von unten wachsen", in Einung. Geschieht aber diese „Einung von oben", so wird deren Begriff leicht pervertiert, ein gutes, zentrales Wort für eine neue Dogmatik verliert, in den Kanälen der alten, seine Kraft. Mehr noch: Der Staat gewinnt sogar noch Regierungsmacht hinzu, hat er sich doch „neue Geschöpfe" hervorgebracht, die im Grunde einungsneutral sind, weil er allein sie eint, jener politische Schöpfer, der damit nur näher zum Gewaltunterworfenen rückt - es vollzieht sich nicht das Umgekehrte in Einung. In all diesen Gefahren, in der Wandlungsfähigkeit des alten Institutionenstaates, der von oben herrschen will, zeigt sich auch die Besonderheit der Staatseinung: Dezentralisierung ist ihrem Wesen nach ein deduktiver Vorgang, sie erfolgt von oben nach unten, und diese Richtung der politischen Kraftströme bleibt fast immer, lange Zeit jedenfalls, erhalten. Staatseinung dagegen erwächst aus der umgekehrten Bewegung, ihre Kräfte setzen erst ein, wenn eine solche Deduktion in Induktion umschlägt; bei schwächerer Zentralstaatlichkeit, etwa in der italienischen Entwicklung der neuesten Zeit, vollzieht sich dies. Nicht selten aber wird Dezentralisierung zum Ausdruck einer List der Vernunft des Einheitsstaates, zu dessen Verschleierung. Herrschaftseinheiten werden hier ja nicht erstmals hervorgebracht, sie werden besser verteilt, verfeinert, allenfalls wird die Herrschaft übersichtlicher. Darin kann sie leichter - sie mag aber auch lastender werden; diese Ambivalenz liegt in jeder Dezentralisierung, vor allem wenn sie

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ernst genommen wird, nicht nur demokratisierende Alibifunktionen erfüllt. Denn nur allzu oft werden ja vor allem die Ohren nach unten verlagert: Die Bürger und ihre Verbände werden mehr befragt, als dass sie mitentscheiden könnten, der Staat kann stärker herrschen, weil er besser informiert wird, und die Einheitswirkungen, die in dem Zusammenfluss einheitlicher Informationen liegen, dürfen nicht unterschätzt werden. In Dezentralisierung vollzieht sich schließlich nicht selten ein „divide et impera". Zentralstaatlichkeit vermag über kleinere Einheiten besser zu herrschen; es ist eleganter, Zwischengewalten zu dezentralisieren, als sie zu brechen. Derartige Vorgänge vollziehen sich sogar im unmittelbaren Staat-Bürger-Verhältnis, wenn die staatliche Familiengesetzgebung etwa „von der Familie auf den Einzelbürger dezentralisiert" - was viele auch noch als Sieg des staatsbegrenzenden Liberalismus feiern, ohne zu erkennen, um wie viel widerstandsfähiger die Familie gegenüber dem Staat ist, als es der Einzelne je sein könnte. Dezentralisierungen müssen also, aus der Sicht der Staatseinung, stets kritisch geprüft werden, ob sie nicht nur die frühere Einheitsstaatlichkeit verfeinern oder gar, weil nun „weniger Staat an der Spitze gebraucht wird", etwas wie eine Herrschaftsrationalisierung bewirken - in beiden Fällen jedenfalls nicht den Übergang in neue Formen der Staatseinung.

c) Staatsabbau in Autonomie, nicht Staatsaufbau aus Einung Dezentralisierung ist stets in erster Linie nicht verstanden worden als Schaffung von „Einungseinheiten", sondern als ein Nebeneinander von Autonomien; ihre (Wieder-) Verbindung ist als solche gar kein Begriffsinhalt der dezentralen Gestaltung, darin würde diese ja sogar teilweise wieder aufgehoben. In erster Linie bedeutet Dezentralisierung Anerkennung oder gar Neuschaffung von Freiheiten, sie ist eines der wichtigsten Freiheitsinstrumente, seit Jahrhunderten als solches bewusst. Man mag darüber streiten, oder es mag gar Definitionsfrage sein, ob die zentrifugalen Entwicklungen im alten Deutschen Reich als Formen lokaler Dezentralisierung des Feudalismus gedeutet werden können; die englischen Autonomien sind jedenfalls weit mehr von unten gewachsen als von oben geteilt entstanden. Spätestens ab dem 19. Jahrhundert erkannte der Liberalismus die Dezentralisierung als einen Weg zur Freiheit, welche in Autonomie anerkannt wurde. Stets aber war dies ein Vorgang der Individualisierung der Herrschaft, nicht ein Mechanismus von deren zusammenfassender Einung. Teilausgrenzungen aus einer allzu lastenden Ober-Staatlichkeit wurden versucht, nicht mit dem Ziel einer wie immer gearteten Sozialvertraglichkeit, sondern als deren teilweise Rückgängigmachung. Räume der Freiheit wurden und werden noch heute in Dezentralisierung zuallererst geschaffen, damit vielleicht die Voraussetzung für spätere Einung, die ja stets nur in Freiheit ihre größeren Kräfte abgeben kann, wie sich immer wieder zeigen wird. Doch

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Dezentralisierung als solche bleibt stehen in einem Status negativus auf höherer, kollektiver Ebene, sie bedeutet noch keine politische Grundentscheidung zum Status activus der Einung. All dies zeigt sich verhaftet in der alten Antithese: Herrschaftsstaat der objektiven Institutionen auf der einen Seite - individuelle Freiheit auf der anderen. Gewaltenteilung ist am Werk; weniger Staat wird erstrebt, nicht ein „anderer", der aus Einung wachsen soll. So kann dezentralisierendes Bemühen, mag es auch ehrlich Freiheitsschutz erstreben, doch den Weg zu neuen Formen des Einungsstaates versperren, weil es scheinen mag, als könne modernen Emanzipationsbedürfnissen durch immer mehr Teilung und Autonomien genügt werden - die dann schon „irgendwie zusammenfinden würden", ohne dass sich aber das Staatsrecht um dies letztere, eben um die Einung, bemüht, weil es bei immer weiteren Teilungen verharrt. Darin mag ein tief verwurzelter Optimismus zum Ausdruck kommen: das Nebeneinanderstellen der Bürger erzwinge die Gemeinschaft, das dezentralisierende Nebeneinander der Herrschaftseinheiten die Herrschaftseinung zum größeren Staat; es genüge, in Teilungen Einungszwang herzustellen, die Formen der Einung blieben den Subjekten überlassen - und darin mag man sodann noch ein Bekenntnis zur Freiheit sehen. Solche Wege sind immer wieder mit Erfolg gegangen worden, nicht zuletzt in Deutschland nach 1945. Aber das Staatsrecht wird damit nicht aus der Verantwortung entlassen, doch auch Wege der Einung zu bereiten, vorauszudenken, Staatseinung als einen dritten Weg rechtlich zu verfolgen, jenseits des großen Gegensatzes von Staatsgewalt und Autonomie, bei dem alle Dezentralisierung notwendig stehen bleibt. Bei Vielfalt in Freiheit darf man sich nicht beruhigen - sie gerade stellt die Einungsfrage.

2. Subsidiarität - Modell der Dezentralisierung, nicht Weg der Einung a) „Im Zweifel für die kleinere Einheit" ein Fortdenken der Dezentralisierung Dezentralisierung ist ein organisationstechnischer Begriff, Subsidiarität ein solcher der Soziallehre - hinter ihm steht nicht die Effizienzhoffnung einer Staatstechnik, sondern die Grundsatzkraft einer Staatsphilosophie und von politischen Kräften, welche von dieser geprägt sind. Sie ist keine Zweckmäßigkeitskategorie, hier wird die Höhe des staatsgrundsätzlichen Programms erreicht. Mit dieser Begrifflichkeit muss sich jedes Einungsdenken auseinandersetzen - sie könnte ihm als Hilfe angeboten werden, doch es kann in ihr auch vorzeitig sein Ende finden.

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Die staatsgrundsätzliche Bedeutung der Subsidiarität liegt darin: Sie ist eine Form systematisierter Dezentralisierung, dieser wird hier ein Doppeltes hinzugefügt: die Systematik der „kleineren Einheiten", auf welche, im Zweifel, Kompetenzen „immer weiter hinunter verlagert" werden sollen, vor allem aber die Suche nach eben jenen kleineren Kompetenzträgern; und hier wird nicht nur staatliche Dezentralisierungsentscheidung eingesetzt, in erster Linie soll Außerrechtliches ins Recht hineingenommen werden, die Theorie der kleineren Einheiten wird zu der der natürlichen. Darin führt die Subsidiarität allerdings weit über Dezentralisierung hinaus: Sie fordert nicht nur die Selbstteilung des mächtigen Einheitsstaates, durch dessen politische Entscheidung und aus politischer Zweckmäßigkeit, ihr geht es nicht um Verleihung von Autonomien - ganz wesentlich werden sie erkannt im Außerrechtlichen und anerkannt durch das Recht. Dieses Subsidiaritätsdenken fordert sicher Dezentralisierungen, wo immer sie rechtstechnisch möglich erscheinen, in letzter Konsequenz jedenfalls; wo die „kleinere Einheit" rechtlich auch nur möglich ist, muss sie doch wohl auch einer außerrechtlichen Realität entsprechen können, feste Grenzen zwischen Schaffung und Anerkennung von Autonomien kann es für die Subsidiarität kaum geben. Sie fordert ja auch und vor allem ein Instrumentarium, mit dessen Hilfe die Frage, ob der Staat nur die kleineren Einheiten schaffen oder anerkennen soll, letztlich überhöht, wenn nicht aufgehoben werden kann: Sie sollen jedenfalls gefördert werden, die Familien und Kirchen, die Verbände, die Gewerkschaften und Gemeinden. So ist denn in der Subsidiarität die Dezentralisierung zum großen Staatsprogramm hinaufgewachsen, und dieses hat eine Richtung erhalten, eine Akzentuierung: im Zweifel „nach unten", zur vor allem zahlen-, vielleicht auch machtmäßig immer kleineren Einheit.

b) Subsidiarität - kein Einungsprogramm, Verstärkung isolierender Autonomien Dezentralisierung als technische Staatsorganisationsentscheidung, nicht getragen von der Grundsätzlichkeit der Subsidiarität, mag „in Einungsnähe führen", indem sie Voraussetzungen für ein Sich-Zusammenschließen schafft, viele kleine Einheiten, die in ihrem Nebeneinander irgendwie doch bald unter Einungszwang geraten; und dieser mag ihnen mitgegeben sein von einer Staatlichkeit, die eben bereits Einheit kennt, alles begünstigen wird, was „wieder zusammenwachsen lässt". Subsidiarität steht weit entschiedener jenseits aller Einungsbemühungen, sie ist ganz grundsätzlich einungsneutral, ja einungsblind. Sie baut auf „Einheiten" auf, deren innere Einung sie nicht bekümmert: Diese Soziallehre setzt eben die Familie voraus, sie will nicht rechtliche Instrumente zu deren inneren Verbundenheit

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bereitstellen; sie geht von den Zusammenschluss-Bedürfnissen und -Realitäten der Arbeitnehmer aus, sie organisiert keine Gewerkschaften. Sie kennt eben Einheiten, nicht Einungen. Hier werden Kompetenzen, soziale und rechtliche Mächtigkeiten, immer weiter nach unten verlagert, soweit es die (natürliche) Leistungsfähigkeit dieser Einheiten zulässt. Das Programm lautet also: immer weitere Teilung und Verteilung „in die Gesellschaft hinein", nicht „Einung hinauf in den Staat". Die gesamte Zielrichtung der Subsidiarität ist eine völlig andere als die der Staatseinung: Dort sollen nicht Formen staatlicher Entscheidungen neu geschaffen, es soll Förderung zu einer gewissen Entstaatlichung geboten werden. Der Staat soll sich nicht in Bereiche einmischen, die ihm außerrechtlich vorgegeben sind; die Mechanismen von Zusammenschlüssen bleiben völlig deren Trägern überlassen, sie dürfen gar nicht Gegenstand einer Dogmatik der Staatseinung sein. In all dem ist dies eine grundsätzlich und systematisch staatsbegrenzende, staatszurückdrängende Theorie, kein staatskonstituierendes Denken, wie es sich aber jede Staatseinung vornehmen muss.

c) Subsidiarität - Prinzip der Staatsauflösung, nicht des Staatsneubaus Alle Tendenzen der Staatseinung zielen auf Staatserweiterungen; hier soll der Staat besonders ernst genommen, allerdings vielleicht sogar in neue Rechte gesetzt werden, in „subjektivierte", damit weniger lastende. Die Richtung der Subsidiarität ist eine ganz andere: Sie bleibt in der großen Tradition der Staatsbeschränkung, sie steigert diese geradezu bis in eine „Staatsauflösung von unten" hinein; sie ist eben auch ein geistiges Kind einer Epoche, in welcher alle über das Absterben des Staates nachdachten - von den Anarchisten und Kommunisten, bis zu den Vertretern der katholischen Soziallehre. Die Subsidiarität will ihre Ordnungen letztlich doch auf das „Natürlich-Bestehende" gründen, zuallererst auf die familiären Bindungen, welche immer der Prototyp, deren Existenz geradezu die Begründung der Subsidiarität war. Hier sieht sich die Staatsgewalt auf marginale Abgrenzungen beschränkt, im übrigen auf anerkennende Ratifizierungen; Selbstand hat sie, aber den des machtlosen Notars. Soweit Kompetenzverlagerungen „immer mehr nach unten" stattfinden, muss diese Dynamik zu liberalen Formen der Staatsbegrenzung, bis hin zur Staatsbeendigung an der Basis führen. Nichts wird darüber ausgesagt, wie der Staat, der doch all dies letztlich „halten" soll, seinerseits zu organisieren ist - in Einung? Wo kommt diese Kategorie in der Theorie der Subsidiarität vor, wenn nicht als das Postulat, dass man sich schon - zur Bewältigung „größerer Aufgaben" eben - zusammenfinden werde?

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Man würde der Subsidiaritätslehre nicht gerecht, wollte man sie nur als ein Programm der atomisierenden Staatsauflösung verstehen. Hinter ihren vielen kleinen Autonomie-Kompetenzen steht, ebenso natürlich, der Zwang und die Hoffnung auf die Kraft zum Zusammenschluss, in einem berufsständischen Korporativismus oder in anderen Formen „natürlicher Einung kleiner Einheiten". Nur - darauf eben richtet sich hier (noch) nicht primär der Blick, wiederum werden nur dezentralisierend Voraussetzungen für Einung geschaffen; dabei aber gerade darf diese Betrachtung nicht stehen bleiben. So ist Subsidiarität kein Ersatz für das Einungsdenken, noch nicht einmal eine Form desselben; hier werden allerdings Voraussetzungen geschaffen, von denen aus nun alle Einung erst beginnen muss; insoweit ist Subsidiarität ein Anfang von Staatseinung. 3. Einung als Zusammenwirken von Autonomien a) Die drei Ebenen der Einung Eine Dogmatik der Staatseinung gibt es noch nicht; hier kann auch nur deren allgemeiner Rahmen bestimmt werden. Dabei muss zunächst einmal, so unbefriedigend dies sein mag, in generellen Ordnungskategorien gedacht werden. Von entscheidender Bedeutung für alle Staatseinung ist, dass sie ein Denken auf drei Ebenen voraussetzt, denn dies ist letztlich ein insgesamt vertikaler Vorgang, so wie ja von jeher Staatlichkeit nur als etwas Größeres, „höher Werdendes" zu denken ist: - „Unten" ist zu denken die quantitative Vielheit und qualitative Vielfalt der isoliert-individualisierten, natürlichen und rechtlich geschaffenen Rechtsträger, der Bürger, ihrer Familien, Verbände und Organisationen, seien sie nun außerstaatlich gewachsen, vom Staat anerkannt oder gar in seine Herrschaftsmechanismen übernommen - oder durch Ausgliederung aus diesen entstanden. Dass es sie geben muss, ist das erste und wichtigste Postulat der Staatseinung, und dass sie „ihr Eigenes" zuallererst besorgen, grundsätzlich allein. Der Begriff des „eigenen Wirkungskreises" ist zentral für alles Einungsdenken im Staat. Dies fordert Autonomie, sie ist ein Ausgangs-, in diesem Sinne ein Kernbegriff der Staatsgründung, die Schaffung oder Anerkennung einer Basis, von der aus man sich mit anderen zusammenschließt. Und diese Grundlage muss nun, das ist entscheidend, eine gewisse Festigkeit haben; wobei hier noch nichts darüber ausgesagt werden kann, ob sie sich aus „natürlichen" Kompetenzen und Aufgaben ergibt, oder aus „technischen" Sachzwängen, die eben zur Konstituierung solcher Einheiten geführt haben, wie es heute immer mehr in der Ausformung autonomer Verwaltungsbereiche geschieht. Die „Natürlichkeit" der Einungseinheiten ist nicht Voraussetzung für die Staatseinung, wohl aber die Festigkeit von deren eigenen Bereichen.

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- „Oben" muss das Gesamtsystem der Einung einen ebenso festen Halt finden wie die Basis ihn bietet, von welcher die Einung ausgeht. Sie läuft ab in dem großen, so verklammerten Rahmen. Diese Kategorien sind aus der föderalen Staatslehre bekannt, und dies ist hier nun die Ebene des Oberstaats, auf dem die Einung soweit abgelaufen, vollendet ist, dass sie mit eigener, komprimierter Kraft rahmenschaffend wirken kann. Einheiten sind also „unten" an der Basis, eine Einheit muss jedoch stets auch „oben" gedacht werden. Ihre Aufgabe liegt nun aber - das ist entscheidend - nicht darin, immer mehr Kraft an sich zu ziehen, eine Bewegung von der unteren in die obere Ebene stattfinden zu lassen. Die Existenzberechtigung des „Oben" in der Staatseinung besteht nicht darin, dass es Aufnahme-, Sammelbehälter für von unten kommende Staatsmächtigkeit ist, welche sich an der Spitze zusammenballt. So wird oft föderal gedacht - von Antiföderalisten: der Oberstaat als der mächtige Raum, der aus den vielen Wurzeln seiner Gliedstaatlichkeiten und Bürger stets neue, unendlich vielfältige Kräfte zieht; als ob dann nicht doch rasch der Boden ausgetrocknet wäre, sodann die Wurzeln - und schließlich der Stamm selbst. Nicht diesem Missverständnis des föderalen Denkens soll hier gefolgt werden: Der Sinn des „Oben" kann in einer so großen, systematischen Staatseinung nur einer sein: der Systemerhalt, die Gewährleistung einer Festigkeit des Rahmens, in dem die laufende, dynamische Einung stattfindet. Und deshalb ist entscheidend nun - der Zwischenbereich, in dem sich die Einungskräfte begegnen und verbinden. Als solche sind und bleiben sie getrennt, erkennbar immer auch noch in ihrem Selbstand, als Bürger, Verbandspersönlichkeiten, Organisationseinheiten. Doch nun bilden sie gemeinsamen Willen, oder gemeinsame Willensträger, die aber auf die Basis „unten" stets zurückführbar bleiben. Ein Doppeltes findet also in diesem Zwischenbereich statt, in dem sich recht eigentlich die Staatseinung vollzieht, und beides verdient ihren Namen: - Die punktuelle Willenseinigung wird vollzogen, der Vertrag im weiteren Sinne des Wortes schafft den gemeinsamen Willen der autonomen Träger, welcher aber stets an deren Selbstand seine Grenze, in deren Bewahrung seine auflösende Bedingung findet. - In diesem Zwischenbereich der Staatseinung können sich auch, in Steigerung vertraglicher Zusammenschlüsse, neue Einheiten bilden, welche sodann die „Basis", das „Unten" ergänzen, erweitern, um eine oder einige Stufen höher hinaufheben. Im Zwischenbereich vollzieht sich also auch noch eine Fortentwicklung, eine Verfestigung der Basis - oder deren Flexibilisierung. Das alles ist bereits in den herkömmlichen Kategorien der Verbandlichkeit und des Föderalismus gedacht. Doch entscheidend ist dies: Nicht das „Oben" und das „Unten" sind wichtig, nicht sie sind die Selbstwerte der Staatseinung, was so oft die föderale Staatstheorie in unlösbare Konflikte getrieben hat. „Basis" und „Ober57 Leisner

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Staat" - beide in einem weiteren Sinne verstanden - bleiben immer nur Voraussetzungen dessen, was den eigentlichen staatlichen Kraftquell darstellt: der Zwischenbereich, den man besser die staatsrechtliche Mitte nennen sollte. Seine Dynamik bedarf des Haltes von oben und unten, aber sie gibt auch laufend Kräfte zur Verstärkung dieses Rahmens wieder ab; und diesem Mechanismus sind die folgenden Betrachtungen gewidmet. Das Beste ist doch ein Befehl - so konnte der alte Hoheitsstaat überzeugt und überzeugend sprechen. Das Beste im Einungsstaat ist eine Begrenzung, ein Raum, in welchem politische Energieträger aufeinanderprallen, sich abstoßen, anziehen und verbinden. Dieser Raum ist das Zentrum der Staatlichkeit, nicht der Oberstaat der militärischen und fiskalischen Macht, oder die „Basis". Die Absolutsetzung des einen wie des anderen hat in kleinen und großen Katastrophen geendet, in der außenpolitischen Anarchie der Kriege, in der innenpolitischen Anarchie, die noch immer bedroht. Es gilt, den Staat als Raum der Begegnung zu entdecken und dann - der Einung.

b) Einungsdenken auf allen Ebenen Die Einung erfolgt in der „Mitte", von ihr geht sie aus, und die vertikale Mitte ist nicht weniger zentral als die horizontale. Hier entfaltet sich die Dynamik der Staatseinung voll. Hier muss das Zentrum der neuen Dogmatik des Staatsrechts liegen: Die Einungseinheiten treten hier auf, die Gegenstände der Einung werden bestimmt, das Verfahren der Einung festgelegt und fortentwickelt. Hier wird zugleich Individualität bewahrt und aufgegeben. Entscheidend ist nun aber eines: Auf allen Ebenen, und nicht nur im Mittelbereich, wo die Einung eigentlich abläuft, muss stets an Einung und in ihren Kategorien, auf sie hin gedacht werden. - Die „Oberstaatlichkeit" muss ständig „nach unten blicken", in doppelter Hinsicht: Den Einungsvorgang muss sie dort gewährleisten, fördern, soweit möglich als Katalysator hervorbringen; und die Einungsbasis, in der Vielfalt ihrer Einheiten, gilt es zu erhalten. In diesem Sinne ist die Oberstaatlichkeit institutionelle Garantie der Basisvielheit und -Vielfalt. Die Monopolisierung des Einungsvorganges an der Spitze, die große Gefahr aller zentralen Parlamente, muss entschieden zurückgedrängt werden, im Bewusstsein, dass es hier um eine Grundentscheidung der Staatlichkeit geht, nicht um die Frage des Mehr oder Weniger an Bürgerfreiheiten, die ja immer diskutabel bleiben wird: Lässt sie sich besser in der Auseinandersetzung auf nationaler Ebene bewahren, oder „unten" in den vielen, kleinen, aber eben auch unübersichtlichen Diskussionen der Basis und des Zwischenbereichs? Jenes Schema, welches hier versucht wurde, vom „Oben", der „Mitte" und dem „Unten" der Basis, sollte auch vor einem warnen: dass allzu sehr die Mitte der

Β. Das Wesen der Staatseinung

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Einungsbegegnungen in die staatsrechtlichen Mechanismen des „Oberstaates" hineinverlagert wird, in der Illusion, dass allein die parlamentarische Diskussion in der nationalen Volksvertretung bereits hinreichend den „Einungsraum an der Spitze" festlegen kann. Dies wird noch kritisch zu betrachten sein. Weit besser entspricht es dem hier vorgestellten Grundmodell, sich „an der Spitze zu beschränken, ja zu bescheiden", wirklich dort nur die „großen Einungsrahmen" festlegen und halten zu wollen. Würde dies auch nur in Ansätzen erkannt und ernst genommen, eine tiefgreifende Änderung politischer Praxis wäre die Folge. Eine Forderung ist an eine solche „einungsgeneigte Oberstaatlichkeit" jedenfalls zu stellen: Auch auf ihrer Ebene muss stets in Einungen gedacht und verfahren werden. Würde dort Autoritarismus praktiziert, rein „deduktiv regiert", so könnte auch in einem solchen Rahmen dann im Zentralbereich Einung nicht mehr stattfinden; irgendwie, in welchen Formen immer, ist sie eben auf allen Ebenen gefordert. Demokratisierung also überall, auch an der Spitze - dort keineswegs in besonderem Maß - wenn man das Wort im weiteren Sinne der Einung versteht. - Wie der Blick „von oben" auf die Mitte gerichtet sein muss, so auch „von unten". Die Basiseinheiten müssen immer überlegen, was sie verfahrensmäßig in diese Einungs-Mitte hineinverlagern können, einungskonform müssen sie sich stets geben, das „bundesfreundliche Verhalten" der Föderaldoktrin muss, von unten, dem „länderfreundlichen Verhalten" der Oberstaatlichkeit wirklich und vollständig entsprechen. Dies führt zu einer wichtigen und heute unzeitgemäßen Forderung: Die Basis nicht allzu weit oder gar ungemessen nach unten aufzubrechen, zu atomisieren. Hier steht auch die ebenso unpopuläre Warnung davor, all diese Einheiten immer auch auf die letzte des Menschen, des Bürgers, zurückführen zu wollen. Entscheidend ist, dass die untere Ebene, wie die obere, fest bleibt, dass nicht der vielbeschworene „Zerfall der Basis" in beziehungslose Individuen eintritt; in ihm wird Einung nicht verstärkt, sondern unmöglich. Und wiederum daher die Forderung: Wie „oben", so muss auch bereits „unten", dort, wo die Einungseinheiten entstehen und sich verfestigen, laufend „in Einung gedacht" werden; in den „assemblées primaires" der Revolutionszeit ist es zumindest versucht worden, dort bereits sollte „an der Basis" die Einung, das Wesen der Staatlichkeit, „vorgedacht" werden. Gewarnt werden muss aber deshalb davor, Einungseinheiten immer nur im „Natürlichen" sehen zu wollen; ebenso gefährlich wie ein falsch verstandener Primat der natürlichen Person ist es, sich „unten" nur auf angebliche „natürliche Einheiten" stützen zu wollen, wie die Familie, innerhalb deren Einungsvorgänge entweder nicht stattfinden oder jedenfalls aus öffentlicher Sicht unfassbar bleiben müssen. Wenn in der Schaffung der Einungseinheiten Einung nicht gelernt wird, kann sie sich im großen Raum der Staatseinung dann nicht bewähren; und hier würden die Vertreter der „Demokratisierung der Familie" sogar ein Argument für ihre Thesen finden. 5*

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Dieses Staatseinungsmodell geht von der herkömmlichen Begrifflichkeit der Autonomien, Dezentralisierungen und Föderalismen aus, doch es reicht über sie alle weit hinaus. Vor allem: Es stellt sich eben nicht wieder in den traditionellen Gegensatz von Mensch und Staat, dieser letztere soll darin nicht geschwächt und aufgelöst, sondern neu gestaltet werden. Aus der Teilung, Isolierung, Individualisierung der Staatlichkeit, welche nun seit über zwei Jahrhunderten versucht worden und klassisch gelungen ist, soweit dies überhaupt möglich war, muss nun wieder zusammengeführt werden - und eben nicht im lastenden Befehl, sondern in Zusammenschluss-Vorgängen, welche auf einer dritten Ebene den erwähnten Gegensatz überhöhen, aber nicht auf einer höheren, sondern eben auf der erwähnten Zentralebene der Staatseinung. Diese Lehre wendet sich also nicht frontal gegen Bisheriges, sie will es aufnehmen, in seinen integrativen Kräften bewusst machen, verfeinern und systematisieren. Eine Frage allerdings bleibt, die eben auch bislang nicht überzeugend beantwortet werden konnte: Ist dieser geheimnisvolle Kraftspender, die Einung, die hier beschäftigt, überhaupt fassbar in Kategorien des Rechts, sie, die offensichtlich so ganz anders ist als alle bisherige Institutionalität?

I I I . Zentrale Voraussetzungen der Staatseinung 1. Einung als Ablauf, als Verfahren Eine Lehre von der Staatseinung wird hier versucht, weil diese ein Kraftquell für die Staatlichkeit sein könnte, wie das nächste Kapitel es näher verdeutlichen wird. Es geht dabei um eine Legitimation der Staatlichkeit in einem neuen Sinn der aktiven Akzeptanz, nicht der passiven Konsens-Entgegennahme; und es wird auch zu fragen sein, welche Kräfte sich daraus entbinden, damit solche Einungen sich überzeugend vorstellen können, nicht aufgezwungen werden. Darin geht es um den demokratischen Staat - bis hin zur größeren Ordnung des demokratischen Reiches.

a) Staatseinung - nicht nur „Staat als Verfahren" Wer das Wesen des Staates in Einung sieht, mag rasch versucht sein, die These vom „Staat als Verfahren" aufzunehmen, hier eine neue Begründung für sie zu finden. Sie ist entstanden aus der Erkenntnis des Wertzerfalls der heutigen Demokratie, als der Versuch, „Werte durch Verfahren zu ersetzen", weil jene nicht mehr geglaubt, dieses aber doch noch mitgetragen wird. Die These leidet aber, aus der Sicht dieser Betrachtungen, schon an einem entscheidenden Fehler: sie ist zu weit. Nicht jedes beliebige Verfahren vermag den Staat heute zu konstituieren, wird darin angenommen und zu seiner Begründung.

Β. Das Wesen der Staatseinung

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Auch die Befehlsstrukturen des Autoritarismus lassen sich in Verfahren fassen, nur zu oft soll ihnen damit die Weihe des Demokratischen verliehen werden. Komplexe Verfahren sind allzu oft zum Alibi geworden für den Verzicht auf demokratische Einung im weiteren Sinn; nur ein Verfahren, das beteiligt, vermag Werte zu ersetzen, nur ein solches kann akzeptiert werden. Und ein Verfahren, welches nicht auf die Hervorbringung dessen gerichtet ist, was dann als gemeinsamer Wert akzeptiert werden kann, findet nie Akzeptanz. Die Gegenüberstellung von „Wert" und „Verfahren" ist ebenso sinnlos wie die von „Eigentum" und „Arbeit" - mag sie auch ebenso populär sein: Eigentum muss doch immer als „geronnene Arbeit" verstanden werden, darin eben legitimiert es sich auch in einer Ordnung, die auf Arbeit gegründet ist; und was wäre denn „Wert" im Sinne der Staatsintegration anderes als „geronnene Einung" - übrigens mit allen Gefahren dieses „Geronnenen" und seiner sich immer rasch verlierenden Legitimation; aus den ständigen Frontstellungen gegen das Eigentum ist dies bekannt. Das „Verfahren" hat dem „Wert" überall, auch im Verfassungsrecht, die Dynamik voraus, doch nur zu oft bleibt sie ein Schein, wenn das Verfahren um des Verfahrens willen betrieben wird, wenn die Komplexität der Verfahrensabläufe nur verdecken soll, dass dort nichts entschieden, kein gemeinsamer Wert hervorgebracht wird. In dem hier als Staatseinung betrachteten Verfahren liegt bereits eine Werthaftigkeit, weil es eine besondere Form der Wertschöpfung darstellt: Was in dieser Form des Sich-Zusammenschließens vielfältiger Einungseinheiten entsteht - dies und nichts anderes ist eben dann der Wert, in dessen Namen die Bürger einig sind und der Staat steht. An der klassischen „Wertlehre" geht dies insoweit vorbei, als in Staatseinung nicht nur vorgegebene, überstaatliche Werte erkannt und verwirklicht werden, und vielleicht nicht alle diese; darin ist dies durchaus eine Staatsform des Relativismus. Und umgekehrt ist diese Lehre getragen von dem demokratischen Optimismus, dass all das, was in gewissen Formen der Einung zusammenkommt, entsteht, eben jene Werthaftigkeit besitzt, die nur in solchen Vorgängen erkannt, nie von oben oktroyiert werden kann. Vorgegeben bleibt immerhin auch einer solchen Staatlichkeit Entscheidendes, von dem noch die Rede sein wird: Es muss Werte geben, welche gerade die Entscheidungseinheiten, insbesondere die letzten Entscheidungsträger, die natürlichen Menschen legitimieren, ja konstituieren, sonst fällt alle Einung in sich zusammen, sie kann nur, in diesem Sinn, eine Staatsform der Menschenrechte sein.

b) Einung als „ständiger Ablauf der Staatlichkeit" Staatseinung kann nur dann das Wesen des Staates ausmachen, als Kraftgenerator in ihm wirken, wenn sie nicht primär auf gewisse Inhalte hin gesehen wird, die so entstehen sollen. Sie sind und bleiben sekundär. Entscheidend ist hier Staatlichkeit als ein laufender Vorgang, es ist eine „Dogmatik der unendlichen Geschichte".

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Diese Staatlichkeit wird lediglich im Ablauf fassbar, durch ihn konstituiert. Es ist dies der Bewegungsstaat, nicht eine Ankunftsstaatlichkeit. Sie entfernt sich entschieden von jeder Art endgültiger, unbeweglicher Monumentalität, in welcher der Institutionenstaat seine höchste Steigerung immer gefunden hat. Die Staatseinung will die Gemeinschaft im offenen Ablauf formen, nicht in einem „Es ist erreicht", das nie sein darf. Diese Worte mögen sich leicht anhören - sie bedeuten eine entscheidende Wende gegenüber so vielen heutigen Überzeugungen, Praktiken. Immer mehr ist man gewohnt, Ordnungen in Errungenschaften zu sehen und zu feiern, die dann nie mehr abgebaut, nicht rückgängig gemacht werden können, damit letztlich auch der Einung entzogen sind. Was anders wäre der ewige, betonierte Konsens? Zunehmend sucht man Worte und auch Entscheidungen, in denen die Zeit stillstehen soll: „Jahrhundertverträge" werden geschlossen, die dann nur wenige Jahre halten, vor allem aber rasch nach ihrem Abschluss schon wieder diskutiert werden. Dies ist kein Unfall der Staatlichkeit, kein Umfall des Konsenses, sondern Bewährung ihrer Stärke: Sie bleiben diskutabel und darin wahr, nach dem schönen Wort von Léon Bourgeois - nicht eigentlich diskutabel, sondern ewiger Einungsgegenstand. Die Hoffnung will eines Tages erreichen und dort stillestehen; der Hoffnungsstaat der optimistischen Demokratie erliegt immer von neuem dieser Versuchung, in seinem Gegenbild der Ruhe seine eigene oft so erlittene Dynamik zu beenden. Staatseinung ist eine große Absage an all dies. Das öffentliche Recht muss hier zur alten Ablauf-Dogmatik des Zivilrechts zurückkehren, das ja im Grunde auch nur Formen für ewige Abläufe in Einung zur Verfügung stellt, in seinen Rechtsgeschäften und Ausgleichsleistungen. So wie das Recht im Prozess erst wird, im wahren Sinne dieses Wortes, so ist es wohl gestorben, wenn es nur anhalten will und festigen, in den Grundlegungen und Teilungen des herkömmlichen Staatsrechts. Und wenn das öffentliche Recht schon etwas hervorbringen will, so hat es eben nicht nur zu garantieren, sondern in erster Linie zu aktivieren.

c) Für eine Aktivierung

der Staatsziele!

Wer so von Staatseinung sprechen hört, dem mag es scheinen, als sei der Begriff des Staatszieles selbst aus der Staatslehre zu eliminieren. In Wahrheit ist eher das Gegenteil gefordert: eine Aktivierung der Staatsziele, eine Art von Verunendlichung derselben. Die herkömmliche, statisch-institutionelle Staatsrechtsdogmatik kennt den Begriff des Staatsziels zwar, doch sie hat mit ihm, beschäftigt mit ständigen Teilungen und Abgrenzungen des Bestehenden, kaum etwas Wesentliches zu beginnen vermocht. Ein Staat darf ja auch nicht „auf ein Fernziel hin unterwegs sein", wenn es vor allem gilt, ihn zu begrenzen; aus solcher Teleologie würde er

Β. Das Wesen der Staatseinung

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immer nur neue Kräfte gewinnen. So ist denn die Schwäche der Staatsziele ein Glück für den Liberalismus stets gewesen, ihre Erhaltung seine große Aufgabe. Die Staatseinung braucht letzte, höchste Staatsziele, sie darf sie sich nur nicht zu nahe, zu leicht erreichbar setzen, etwa in gewissen Formen der sozialen Sicherung, der Wohlfahrtsstaatlichkeit überhaupt. Mit ihrer Erreichung nämlich wäre sie rasch am Ende, und es würden sodann nur mehr, in hartem Befehl, die statischen Errungenschaften administriert; in ewigen Einbahnen kann ja kein Staat fahren. Wird jedoch in Einungen gedacht, so werden sich eines Tages die fernen, unerreichbaren Staatsziele wie von selbst einstellen: Sie liegen mehr im Geistigen, im Kulturellen, in den Bildungsinhalten - oder in der Idee des wirtschaftlichen und sozialen Gleichgewichts, eines Ausgleichs, der nie endgültig hergestellt ist, immer neu gewonnen werden muss. Sie werden schließlich aus dem internationalen Bereich kommen, der ja immer mehr, mit seinen riesigen Märkten, auf Einung hin unterwegs ist, und die nationale Politik, die stets rasch Erreichbares anstrebt, in größere Weiten lenken kann. Das ferne, kaum erreichbare Staatsziel also gilt es zu entwickeln im Namen der Einungs-Staatlichkeit der ständigen Abläufe. Dann leuchten wieder ruhig die Sterne über diesem rastlosen Staat.

2. Pluralismus - Voraussetzung aller Ëinung Wer Staatlichkeit in Einungen denkt, für den ist Pluralität der staatstragenden Kräfte eine Notwendigkeit, sie muss „gehalten", systematisch zum Pluralismus hinauf verstärkt werden. Einung als dynamisches, staatsschaffendes und -erhaltendes Prinzip ist nur vorstellbar aus einer sich ständig neu entfaltenden quantitativen Vielheit heraus, und aus einer qualitativen Vielfalt der Kräfte.

a) Pluralismus - kein Zerfallszustand, sondern ein Aufbaubegriff der Staatlichkeit Pluralismus ist heute ein „gutes" Wort der Staatslehre geworden, konsensfähig, weil es den Dissens in einer Harmonieformel institutionalisieren will. In ihm schwingt die Toleranz der Liberalen mit, ihr Laissez-faire, fortgedacht zum Laissez-vivre der Sozialisten, und nicht zuletzt die christliche Achtung vor der unantastbaren Schöpfungsvielfalt, die der Mensch umweltschützend bewahren muss. Und doch will das Wort im Staatsrecht nicht so ganz positiv klingen, aus ihm spricht etwas wie eine Systematisierung von Bedauertem, eben ein „Zerfall einstiger Werte": Es ist letztlich ein Entschuldigungswort für die Auflösung früherer „einheitlicher Weltbilder", und wenn der erste positive Schwung der liberalen Befreiung vorüber ist, mit der sie gebrochen wurden, so folgt rasch eine Ernüchterung vor Trümmern - nicht anders ist es dem kommunistischen Denken ergangen.

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In diesem Sinne ist Pluralismus ein Nostalgie-, wenn nicht bereits ein Resignationsbegriff - aus der Sicht der Staatseinung zu Unrecht: Diese „zerfallenden Werte", vom christlichen Weltbild bis zur sozialistischen Solidarität, mochten zwar einst mächtige Einungsresultate gewesen sein, doch sie waren erstarrt zu Einungsergebnissen ohne Einungskräfte, zu einer gestockten Einung, die nicht mehr laufend gerinnen konnte. In erster Linie zeigt sich denn auch die Lehre vom Pluralismus als eine Zustandsbeschreibung, als eine rechtssoziologische Kategorie, der sich die Dogmatik unterordnen sollte, nicht als ein dogmatischer Begriff des Staatsrechts. Insgesamt liegt in dem Wort vor allem eines: dass weniger Befehl sein soll, mehr „Nebeneinander leben", letztlich ist dies Pluralismus als Staatsnegation. Hier soll das Wort in einem ganz anderen Sinne aufgenommen werden, als dogmatisch-dynamische Kategorie der Staatseinung: Pluralismus nicht als Beschreibung eines tatsächlichen Auflösungszustandes, sondern als rechtliche Erscheinung, als Produktionskategorie der Staatlichkeit, als Voraussetzung für die Staatseinung. Dieser Pluralismus muss sein, er ist gut, weil er den Kraftquell des Zusammenschlusses bildet, deshalb muss er gesteigert, verfeinert, systematisiert werden. Dies ist kein „Begriff nach unten", Vielheit und Vielfalt sind „nach oben gerichtet", aus ihnen baut sich immer weiter, immer höher die Staatlichkeit in Einung hinauf, wo dieser Pluralismus aufhört, ist sie in Gefahr, wenn nicht am Ende. Pluralismus war bisher staatsrechtlich gesehen nichts Denknotwendiges, keine Aufgabe, eher eine Bewältigungskategorie für immer größere Schwierigkeiten. Pluralismus als System bedeutete nicht viel mehr als ein großes demokratisches Zugeständnis an die alte institutionelle, sich immer mehr auflösende Staatlichkeit, einen letzten Versuch, ihre Trümmer in Eigenleben nebeneinander stehen zu lassen. Dies muss sich ändern, in einer dynamisch-demokratischen Dogmatik der Zukunft, sich wenden zur Vielfalt als bewusster Staatsgrundlage, von der Bedauerungs- und Auflösungsdemokratie zur Volksherrschaft als Einung. Dann bedeutet der Pluralismus etwas ganz Positives, in seinem ständigen Ausgreifen auf die außerrechtlichen Kräfte, aus denen sich der Staat laufend auflädt. Dann wird hier eine eminent kreative Phase der Staatlichkeit erkannt, nicht die Dekadenz der alten institutionellen Formen. Und wenn schon dieser Vielfaltszustand eine Zwischenphase sein sollte, zwischen der Auflösung alter und der Bildung neuer staatlicher Institutionen, wofür alles spricht, so ist dies der Augenblick für eine Erneuerung der Pluralismus-Dogmatik. Was bisher nicht viel anderes sein konnte als eine Beschreibung des Wegs in die Anarchie, allenfalls noch Ausdruck der Hoffnung, sie hinauszuzögern, das wird nun, in positivem Umschlag, zum neuen Staatsbeginn. b) Vielheit - das erste pluralistische Element Viel ist von Vielfalt die Rede in den Pluralismuslehren, allzu wenig von dem nächstliegenden Aspekt: von der Vielheit. Damit wird die primäre demokratische

Β. Das Wesen der Staatseinung

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Erkenntnis übersprungen: die „Vielen", die „Polloi", als erste Erscheinung, als Träger und Ziel aller Staatlichkeit. Ihre qualitativen Unterschiede zählen noch gar nicht, hier wird nur der quantitative Aspekt der Einungsbasis bedeutsam - in Wahrheit deren Unübersehbarkeit, die ganze Größe eines Staates in fieri. Ein Staat der Vielen, der unendlich zahlreichen Elemente ist immer, und schon als solcher, eine monumentale Erscheinung, ein Monumentalstaat. „Wenige" geben in ihrem Zusammenschluss weniger politische Einungskräfte ab, sind ihre Reihen - die der stets herrschaftlich-individualistischen Aristokraten - nicht weniger „dicht geschlossen" als die der undurchbrechbaren Masse, die sogleich zur Barrikade emporwächst? Wenn Einung die Verschränkung der Persönlichkeitskräfte bedeutet, die von jedem einzelnen Menschen ausgehen, zusammenwirken zur kollektiven Aura, so wächst diese Kollektivkraft hier exponentiell, je mehr Menschen zahlenmäßig zusammentreten, da ja jeder mit jedem sich eint, in „potenzierter Quantität". Darauf folgt dann, wieder wie nach einem mathematischen Denkmodell, der weitere, der wahrhaft integrative Schritt der quantitativen Steigerung der Staatskräfte, die von den vielen Menschen ausgehen: Im Grenzwertintegral wird das Zusammenzählen überhöht; da „die Vielen" nur als „unendlich viele" gedacht werden können, werden sie unübersehbar, außerhalb von ihnen gibt es nichts mehr. In der französisch-revolutionären Proklamation des Dritten Standes zur Nation, weil er die große quantitative Mehrheit repräsentiere - und daher die Nation ebenso verkörpern könne wie seine Repräsentanten den Stand - ist dies vor zwei Jahrhunderten ebenso vollzogen worden wie in der kommunistischen Idee der Revolution des Proletariats. Die nüchternen staatsrechtlichen Lehren aus diesen historischen Enthusiasmen sind: Möglichst viele Einungselemente müssen sein, bis hin zur Grenze jener Unüberschaubarkeit, der völligen Unmöglichkeit der Systematisierung, bei deren Überschreitung seit Aristoteles jedes staatsgrundsätzliche Denken aufhört. Doch wann wäre sie denn schon erreicht? Immer mehr kann man hineinnehmen in diese wahrhaft Vielen, immer zahlreichere dort in Brüderlichkeit begrüßen. Diese staatskonstruktive Freude an der großen Zahl, der immer größeren, darf nicht zu einer Divinisierung der „Massen" werden, hinter der nichts anderes steht als das brutale Zusammenschweißen durch den Befehl weniger, jene oktroyierte Einung, welche aus den Vielen allzu rasch die Einheit schaffen will, das Ende der Einung. Irgend etwas atomar-Massenhaftes in seiner noch ungeordneten Anhäufung muss am Anfang der Staatlichkeit liegen, als deren erste Realität. „Aufstand der Massen" ist dann nicht mehr ein Schreckenswort, sondern nur mehr die erste Phase der Bewusstwerdung der Vielen - nicht als einer einheitlichen Masse, dies ist das große Missverständnis der vergangenen Jahrzehnte - sondern als der unübersehbaren Vielheit der einzelnen Bürger. Darin wird dann das zweite Element erreicht: die Vielfalt, denn nur in der vielfältigen Vielheit kann sich Einung entfalten. Die Demokratie aber muss lernen, die

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Buch 4: Staatseinung

„große Zahl" positiv zu sehen, das Reich der Vielen, gebaut aus den Bürger-Ziegeln der römischen Bauten, nicht als einen Betonkoloss, der nur stürzen kann und dann alles erschlägt und sich selbst.

c) Vielfalt

- der zweite Aspekt

Der zentrale Inhalt des pluralistischen Denkens ist der Glaube an Güte und Kraft qualitativer Vielfalt, ihrer Verbindung zur Staatlichkeit. Immer ist dies das selten ausgesprochene Vorverständnis: Der kraftspendende Einheitsfunken kommt gerade aus der Vielfalt des Heterogenen, die Zündung aus Verschiedenartigem, das in Kontakt tritt. Die vielen Gleichartigen werden allzu rasch durch Addition zur neuen Einheit, in der sich nichts mehr bewegt, die nichts mehr hervorbringt; und dies war die lastende Angst der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts: dass im Moloch Masse alle qualitative Verschiedenheit sterbe. Deshalb glaubte man, dem nicht die demokratische Einungskraft, sondern den zerschlagenden autoritären Befehl entgegensetzen zu müssen, in jenen Faschismen, welche den Koloss zu Monumenten zermeißeln wollten, denen dabei aber nur Trümmer blieben. Verschmelzung von Heterogenem ist das große Programm der Staatseinheit, daher kann sie nur werden aus einem Minimum von Individualismus, auf der unendlich breiten Grundlage der gleichen - und doch nicht völlig identischen Bürger. Sie hat ihre große Chance heute, in einer Zeit der massenhaften Emanzipationen, die eben doch auch überall kleinere - aber entscheidende! - soziale Differenzierungen hervorbringt, wenn nicht mehr von Schloss zu Kate, so von Häuschen zu Häuschen. Das riesige Reich der Mitte konnte nicht immer weiter in gleichen Gesellschaftsanzügen neu gebaut werden, und auch gegenwärtige Staatlichkeit muss laufend nicht aus großen Unterschieden in Einung zusammenwachsen, die nur trennen, sondern aus den ewig erneuerten kleinen Qualitätsunterschieden der Kleidungen und Fahrzeuge, der Häuser und Bildungsformen, in der „Vervielfältigung" unterschiedlicher Elemente eines im Ergebnis vielleicht dann sogar weithin gleichen Lebensstandards. Die Bürger werden lernen müssen, diese Qualitätsunterschiede anders zu sehen als nur in den Vergröberungen von Proletariern, Bourgeois und Kapitalisten, die noch immer verfolgen, zwischen denen es in der Tat keine Einungschance gab, nur Klassenkampf.

d) Der neue Pluralismus: Einung von Menschen und Organisationen in „Föderalgemeinschaften " In der Weimarer Verfassung ist es zum ersten Mal im großen Staatsrecht vorgedacht worden: der Staat als Ordnungssystem vielfältiger Einungen, in der Überwindung des liberalen Gegensatzes von Staat und Bürger. Wenn damals die Rede

Β. Das Wesen der Staatseinung

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war von den Ordnungen der Familie und der Verbände, der Wirtschaft und der Kirchen, so war „Ordnung" nur ein anderes Wort für jene laufenden Einungsprozesse des Vielfältigen, als deren einer auch die Staatsorganisation - wiederum in Vielfalt - erschien. Dahinter steht ein großer Gedanke für die Zukunft, den gerade kurzsichtiger Radikaldemokratismus zu verschütten droht: Der Staat und die neuartige Supranationalität bauen sich nicht nur auf Menschen auf und aus ihnen, sie erwachsen aus ihnen und aus anderen organisatorischen Elementen, in denen die Bürger bereits zusammengefasst sind, aus Föderalgemeinschaften, und dieser Begriff ist viel weiter als der der natürlichen Menschen. Da sind die „natürlichen" Einungen (nicht immer nur „Gemeinschaften" und schon gar nicht „Einheiten") der Ehen, Familien, der Lebens- und Erziehungszusammenschlüsse - auf Zeit oder auf Dauer - , die sich in immer neuen Formen entfalten; und wenn die alte gute Familie immer das Ideal, der Prototyp dieser Einung bleiben wird, so wird man lernen müssen, die anderen Formen nicht nur als Abfall und Sünde, sondern als vielfach verschlungene Wege, vielleicht einmal doch auch wieder zurück zu ihr, zu verstehen. Da ist ein Aufbruch in die Verbandlichkeit, in unübersehbar vielfältige Zusammenschlüsse, wie sie noch keine Zeit gekannt hat - von den horizontal und vertikal, hier unendlich geteilten und gestuften Formen des wirtschaftlichen Gesellschaftsrechts bis hin zu Verbänden und jenen Zusammenschlüssen, die den schönen alten Namen der „Idealvereine" mit Recht noch tragen. Doch dann erfolgt, und bewusst gerade in der Gegenwart, der große Übergang: in die Staatsorganisation im weiten Sinne, in ihre organisatorischen Einheiten als Elemente weiterer Einungen, zwischen ihnen und den Bürgern. Bei allen Trennungsstrichen zwischen Gesellschaft und Staat ist hier ein großes Spektrum im Werden, aus der demokratischen Idee heraus: Der Staat wird erfasst als ein Verbund von Organisationseinheiten, und diese wieder als „bürgergetragen", als wahre Föderaleinheiten von Bundesgenossen, im schönen römischen und schweizerischen Sinn. Immer stärker wird das Mühen um Transparenz des Bürgerbezugs all dieser Verwaltungseinheiten, deutlich erreicht in den Autonomien; entscheidend ist überall die eine mächtige Staatseinung. Regionen und Länder bilden - im wahren Sinne! - zusammen ihren Staat, in einem Föderalismus, der mehr kennt als „Gliedstaaten" und „Oberstaat" - die Lehrbücher des Föderalismus werden neu geschrieben. Die Staaten selbst öffnen sich zu Föderalgemeinschaften, in der Einmaligkeit des Europäischen Zusammenschlusses ist es schon Wirklichkeit. All dies wird von einer großen Idee getrieben und erklärt: Der Staat als Einung braucht das alles, er bejaht alle Elemente, bringt neue hervor, die der Einung mächtig sind, Einungselemente sein können - und hier nimmt er die rechtlichen Traditionen vieler Jahrhunderte auf: Was immer Rechtsträger sein kann, im weitesten Sinne des Wortes, lässt sich auch als Einungselement verstehen und in diese demo-

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kratische Ordnung einbauen, Aufgabe des Staates ist es, diese Formen möglichst weit zu entfalten, hinauszubauen.

e) Die „Organisationseinung" Von zentraler und neuartiger Bedeutung ist daher die „Organisationseinung", sie muss mehr sein als ein auf den Staat übertragenes privates Gesellschaftsrecht. Ihr noch weithin unausgesprochener, kaum systematisierter Grundgedanke ist der der Verwaltungseinung; er wird im Folgenden immer wieder beschäftigen. Verwaltungseinheiten werden hier zu Einungselementen, schließen sich zu wahren Föderalgemeinschaften zusammen, Kommunen in Zweckverbänden, Länderverwaltungen zu Arbeitsgemeinschaften aller Art, Ressorts zu Ministerkonferenzen. Es findet etwas wie eine erstaunliche Erweiterung des Begriffs der Rechtsträgerschaft statt, der eine Staat als rechtlicher Zuordnungspunkt aller staatlichen Aktivitäten wird in der praktischen Entwicklung aufgelöst in eine schier unübersehbare qualitative Vielfalt von Organisationseinheiten, denen allen, wenn nicht die volle Rechtsträgerschaft, so doch ein Neues mitgegeben ist: die Einungsfähigkeit, man mag es auch Einungsträgerschaft nennen. Vielleicht wird auch nur das gerichtsförmige Denken der Rechtsträgerschaft durch das neue administrative Denken der Einungsträgerschaft überhöht, dogmatisch gewendet: vom Verwaltungsrecht zur Verwaltungslehre. Die moderne Verwaltungswissenschaft findet in diesen neuartigen Einungsgeflechten der Administrationen eine neue Materie. Die Größe dieses Vorganges liegt vor allem darin, dass er nicht revolutioniert, sondern Evolution im schönsten Sinne bedeutet: Organisationsstücke bisheriger Institutionenstaatlichkeit werden aus ihren starren Zusammenhängen gelöst, in Einungen organisatorisch vermenschlicht. Die bisherige Staatlichkeit erscheint wie ein großer Steinbruch, aus dem laufend Material gewonnen wird, immer zahlreichere Elemente, die sich organisationsrechtlich den neuen technisch-ökonomischen Entwicklungen anpassen, aus ihnen geradezu entstehen. Auf den traditionellen staatlichen Bereich sind diese „Bereitstellungen von Organisationselementen zur Einung" nicht beschränkt, sie reichen hinüber in die wahrhaft parastaatlichen Organisationen, welche auch ihrerseits mit immer neuen Einungselementen, immer bedeutenderen, angereichert werden, in ihnen emporwachsen; man denke nur an jene Gewerkschaften, welche sich in der Tat um Rechtsfähigkeit und Rechtsträgerschaft wenig kümmern mussten, wenn sie nur Einungsformen und Einungsräume bedeuteten, an jene Religionsgemeinschaften, deren Rechtsformen sekundär waren und sind, da in ihnen lebendige, laufende Einung von Menschen wirkt, und zugleich die Föderalgemeinschaft ihrer vielfältigen Verwaltungen. Denn dies ist der zweite zentrale Gedanke dieser neuen Vielfalt, welche die Einungschancen gewaltig steigert: Einungen sind nun möglich nicht nur zwischen Bürgern, sondern auch zwischen Organisationen, und: Föderalgemeinschaften

Β. Das Wesen der Staatseinung

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dieser Art bilden sich nicht nur zwischen Menschen einer-, Organisationseinheiten andererseits, sie sind zwischen all diesen Elementen vorstellbar, geradezu „durch sie hindurch", in neuen Formen der Transparenz des Organisationsrechts. Bürger kooperieren mit Verbänden und schließen sich als solche mit ihnen zusammen, größere und kleinere Verbände mit Privaten und mit staatlichen Organisationseinheiten, Teile der Staatlichkeit selbst wirken mit Verbänden und Einzelnen zusammen, vertraglich und in neuen Formen gemischter Gesellschaften letztlich ist jeder mit jedem einungsfähig. Der undurchdringliche Staatskoloss löst sich ebenso auf in Einung, wie das „atomare", einmalige Individuum in zahllose, qualitativ völlig unterschiedliche Bindungen - eben Einungen - eintritt, seinerseits so unendlich vielfältig erscheinend in diesen Föderalgemeinschaften wie sein Staat. Organisationseinung und Bürger-Organisations-Einung - aus diesen beiden Quellen fließen die neuen Formen der Föderalgemeinschaften, und sie müssen immer die qualitative Vielfalt sich bewahren, dürfen nie in „Einheiten", auf einheitliche Schemata hin, koordiniert werden. Deshalb droht hier auch nicht die mit Recht stets beschworene Gefahr der Einheit von Staat und Gesellschaft, im Sinne einer Gleichschaltung der Freiheiten, im Gegenteil: Immer noch mehr Vielfalt, bis zu schier unüberbrückbar scheinenden Unterschiedlichkeiten, gilt es hervorzubringen, sie zu föderieren, damit dieser Bund immer größer und mächtiger werde, im Staat und über den Staat hinaus. Für den Juristen sollte dies nicht schwer zu ordnende Soziologie bleiben; praktisch-dogmatische Lehren hat er daraus zu ziehen: Möglichst vielfältige Arten von Einungselementen muss es geben in der Rechtsordnung, immer neue Formen von Rechtsträgerschaften und Organisationseinheiten gilt es zu ersinnen, ohne Angst vor der Auflösung alter dogmatischer Formen. Je größer die juristische Phantasie ist auf diesen Wegen zu neuen Einungselementen, desto mehr Kraft hat die demokratische Staatlichkeit in nächster Zukunft. Sicher gilt es wachsam zu sein in der Schaffung solcher „Staats-Bürger-Verbandlichkeit", damit sich nicht unter ihrem Deckmantel Verstaatlichungen vollziehen, damit nicht Privacy und Freiheit auf der Strecke bleiben, das Problem der Umweltverbandlichkeiten zeigt es deutlich. So wird dann die Staatseinung gerne anknüpfen an frühere Traditionen, der Einungsstaat muss traditionsgeneigt entstehen, nur so wird er diese früheren Formen zu immer neuen fortdenken. Die große Aufgabe ist vor allem die Organisationen als solche, ohne Verwischung ihrer Eigenarten, in der Betonung gerade ihrer qualitativen Unterschiedlichkeiten, untereinander und mit ganz heterogenen Einungsträgern einungsfähig zu machen; in den Kooperationen zwischen Verwaltungen, Bürgerverbänden und Bürgern ist dies schon im großen Stile, wenn auch noch nicht in dem grundsätzlichen Bewusstsein begonnen worden, dass hier ganz neue Staatlichkeit entsteht. Und nicht nur Vertraglichkeiten und ähnliche Kooperationsformen gilt es einzusetzen.

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Organisationen des Staates oder parastaatlicher Verbände werden aber nur dann in diesem Sinne einungsoffen sein zu wahren Föderalgemeinschaften, wenn sie entsprechend auch intern ausgestaltet sind; hier liegt der Sinn wohlverstandener innerer Demokratisierung, die nicht an zufälligen politischen Formen haften darf. Parteien vor allem und Verbände müssen in einer Form ausgestaltet werden, welche ihnen ein Maximum innerer Einungsdynamik sichert, und zwar gerade im Zusammenschluss nicht nur gleicher, sondern auch ganz verschiedenartiger Träger. Geht man dabei von der einfachen Mehrheitsbildung ab, verlangt man qualifizierte Majoritäten, ja Einstimmigkeiten, so liegt darin nichts Undemokratisches, sondern nur die Bewährung des großen Föderalprinzips, in dessen Namen man dabei bedeutsamen Unterschieden Rechnung trägt, sie nicht kurzerhand in knappen Mehrheiten zusammenschweißt. Nicht allzu rasch sollte hier die Sorge vor neuer Verzunftung aufkommen, auch die Korporationen waren lange Zeit bedeutende und gesunde Formen der Organisations- und der Bürgereinung.

f) „ Staatsgesellschaftsrecht

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Nahe liegt es, den ganz großen Bogen zu versuchen: den Umbau der Staatlichkeit in die Formen des privaten Gesellschaftsrechts, wie er schon grundsätzlich im Schlagwort von der „Staats-AG" diskutiert, tagtäglich in zahllosen Formen gesellschaftsrechtlicher Zusammenarbeit zwischen Privaten und Staat und zwischen den Trägern der Staatlichkeit praktiziert wird. Das private Gesellschaftsrecht ist Grundlage, ja geradezu das materielle Staatsrecht einer Weltmacht geworden; die Vereinigten Staaten sind nicht nur Union, sie sind immer und überall auch Company, Gesellschaft freier Bürger unter sich, mit anderen Gesellschaften und ihrer großen Staats-Gesellschaft. Diese Rechtsformen haben die mächtigste Entfaltung wirtschaftlicher Kräfte gebracht in den vergangenen Jahrhunderten und vor allem heute, einer Mächtigkeit, auf welche der Staat nur mehr mit Neid blicken kann, die er sich in den vielfältigen Formen der Übernahme privater Unternehmensgestaltungen neu zu erschließen versucht, und nur im Gesellschaftsrecht kann er sie letztlich finden. Ist es ein Zufall, dass nach der Säkularisierung, dem Weg von der transzendenten Gewalt der Kirche zum diesseitigen Staat, die Gegenwart nun unter dem Wort der „Sozialisierung der Staatsgewalt" steht - zu übersetzen doch wohl letztlich als „Vergesellschaftung"? Führt der Weg vom Kirchenrecht zum Staatsrecht, vom Staatsrecht zum (privaten) Gesellschaftsrecht? Die Entwicklung ist dann eine solche der Staatseinung, wie sie hier bejaht wird, wenn ihr Ziel nicht das der riesigen Aktiengesellschaft als Société anonyme ist, sondern das einer unendlich vielfältigen Stufengesellschaft, und mag sie sich auch aus den prosaisch erscheinenden Formen der Beteiligungs-, ja der Schachtelgesellschaft des privaten Rechts entwickeln. In der ,3eteiligungs-Gesellschaft" liegen die Inhalte von „guten Worten": Kooperation, Teilhabe, Mittun in Einung, ohne Aufgabe der eigenen rechtlichen, wirtschaftlichen, menschlichen

Β. Das Wesen der Staatseinung

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Identität. Gebraucht wird dafür ein „Staatsgesellschaftsrecht" - ein „Gesellschaftsrecht zum Staat". Zusammengefasst: Zuallererst verlangt die Staatseinung die Existenz von möglichst vielen und möglichst vielfältigen Einungsträgern. Daraus kommt dann die nächste Forderung:

3. Vielfache Formen der Einung Zunächst ging es bisher um die Elemente, aus denen sich die Staatseinung aufbauen soll; viele müssen es sein, und vielfältige, einungsoffene, möglichst selbst bereits in Einung als Föderalgemeinschaften konstituiert. Doch der Staat als Katalysator der Einung dieses Zusammenschlusses, aus der er selbst seine lebendige Kraft zieht, hat mehr zu leisten: Er muss nicht nur diese Elemente hervorbringen und bewahren, er hat ihre Kontaktformen zu schaffen, zu erhalten.

a) Kein numerus clausus der Einungsformen Wenn Staatseinung einen letzten Grund im privaten Gesellschaftsrecht findet, so muss in ihr etwas lebendig bleiben von der Formfreiheit des klassischen Zivilrechts, von der großen Idee der Vertragsfreiheit. Das alte gute, unausrottbare, normative „Verkehrssicherungsbedürfnis" des Institutionenstaates hat immer wieder zu gesetzlichen Verfestigungen geführt, gerade im privaten Gesellschaftsrecht, und viele sähen gerne die großen privaten Gesellschaften wie einen kleinen Staat: entweder beherrscht von dessen Führerprinzip - oder demokratisiert entsprechend der politischen Gewaltenteilung. Vorsicht ist hier gefordert, damit die einungskraftspendende Flexibilität des Zivilrechts nicht zu rasch, gerade im Rahmen der Staatseinung, zu etwas verkruste, was dann nicht mehr dynamische Einungsstärke entbindet, sondern zu Institutionen erstarrt. Ziel der Staatseinung dürfen nicht Aktiengesetze sein, mit unendlichen Kautelen, mit immer mehr Wirtschaftsprüfungen und am Schluss dem Staatskommissar. So wie die privaten gesellschaftsrechtlichen Einungen dem Staat vorausliegen und daher flexibel bleiben müssen, über staatlich mehr „vorgeschlagene" als vorgegebene normative Formen hinaus, so sollte auch das, was der Staat davon in seine eigenen Organisationen, seine Verbindungen zum Bürger übernimmt, näher beim privaten Gesellschaftsrecht und dessen Freiheit liegen als beim Formenzwang. Wird hier gesündigt, so setzt sich neue Institutionalisierung durch und, noch schlimmer: Es entwickeln sich neue Formen einer „Einungsbürokratisierung" auf zahllosen Ebenen. Hier ist also großer rechtlicher Liberalismus gefordert, ein Laissez-faire für Verwaltungen, Kommunen und Länder, für staatliche und gemischte Verbände und für „Bürgergesellschaften zum Staat".

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Buch 4: Staatseinung

Wirklichkeit kann dies nur werden, wenn die Staatlichkeit ein rechtliches Kontaktspektrum ohne Bruch sich entwickeln lässt zu Formen der Einung. Nicht zu rasch dürfen „Einungstypen" rechtlich verfestigt werden, denen dann eben doch sogleich Zusammenschlüsse zugeordnet werden, so dass die Föderalgemeinschaft erstarrt in „schematisierten allgemeinen Einungsbedingungen", allgemeinen Geschäftsbedingungen der Staatlichkeit. Vom Kontakt bis zur festen Form gemeinsamer Organisation müssen sich überall weiche Übergänge finden, nicht nur das private Gesellschafts-, gerade das öffentliche, das Staatsrecht muss dies ermöglichen, damit auch „übergegangen", Einung gesteigert werden kann; denn der Zusammenschluss ist ganz wesentlich ein solcher Übergang von einer Kontaktform in die andere, „höhere". Vor allem aber ist stets zu erhalten der favor unionis, in dessen Namen alles auszurichten, alles zu interpretieren ist im Staat, hin auf mehr Einung, jedenfalls auf immer erneuerten Zusammenschluss. Darin gerade liegt auch ein wesentlicher Unterschied zu den „rein privaten" Zusammenschlüssen: Sie sind letztlich stets zurückbezogen auf die einzelnen Individuen, die sich zusammenschließen, und auf ihren, eben privat-individuellen Nutzen. In der Staatseinung dagegen entfaltet sich jener kollektive Nutzen, jenes bonum commune, an dem jeder Anteil hat, aber eben so qualitativ unterschiedlich, wie er zu ihm auch in Einung beigetragen hat, in jenem Vorgang der Zusammenfassung des Vielfältigen. So will denn die Staatseinung letztlich doch etwas ganz anderes als irgend eine private Gesellschaft: nicht (nur) mehr Nutzen für jeden Einzelnen - dahin verflacht heute so oft die angebliche „Bürgerdemokratie". Überall und stets soll vielmehr im Staat ein „Maximum an Einungsvorgängen" stattfinden, weil Staatseinung eben unter einem - in der Tat völlig unbeweisbaren, aber durch die Praxis erhärteten Axiom steht: dass dem Einzelnen dann der größte Nutzen zukomme, wenn er sich immer wieder zusammenschließt, wenn der große Kreislauf stattfindet vom Eigentum zu den Belangen der Allgemeinheit und zurück, von dem das Eigentumsgrundrecht spricht, wenn der Bürger immer von neuem zusammen mit anderen in seinen Staat investiert.

b) Intensitätsstufen

der Einung

Stets hat der Staat Einungsformen zur Verfügung gestellt in seiner Rechtsordnung, punktuell im Vertrag, weiter, tiefer und auf Dauer im privaten Organisationsrecht der Vereine und Gesellschaften. Dass dabei aber Staatseinung als solche nicht bewusst war, im Sinne einer staatswesentlichen Integrationsaufgabe, das zeigt sich nicht nur darin, dass diese privaten Einungsformen weithin der Disposition der Bürger überlassen blieben; noch mehr kommt es in den Defiziten des bisherigen Staatsorganisationsrechts zum Ausdruck, das erst vor kurzem als selbständige Materie erkannt wurde: Den Staat erfasste man eben doch als „Befehlseinheit von oben", nicht als „Einungsvorgang von unten". Erst in letzter Zeit entfalten sich,

Β. Das Wesen der Staatseinung

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weithin noch außerhalb fester Rechtsformen, jene Kontakte und Kooperationen, die so einungsträchtig sind, und nicht nur als Vorstufen zu Vertrag und Organisation. Diese Entwicklung, mit der vorsichtigen Verrechtlichung flexibler Einungsvorgänge, muss weiterlaufen, entfaltet werden zu einem Rahmen von Intensitätsstufen der Einung, in dem der Föderalgehalt stets im rechtlichen Bewusstsein gehalten wird. Anzuknüpfen ist hier durchaus an die Formen der traditionellen Rechtsdogmatik, gestützt auf Vertrag und auf das Gesellschaftsrecht der Organisationen. Stets wird man versuchen, einer dieser Formen neue Arten von Zusammenschlüssen zunächst einmal zuzuordnen; doch wesentlich bleibt, dass nichts ausgeschlossen, dass keiner Erscheinung vorzeitig die Einungskraft abgesprochen wird, und nicht minder fatal wäre umgekehrt die Annahme, dort sei Einheit bereits beendet, Einung hergestellt. Im Einzelnen verlangt dies die Anerkennung neuartiger (insbesondere Vor-)Intensitätsstufen der Einung und sodann eine neue Wertung der bekannten rechtlichen Berührungen auf ihren Einungsgehalt hin und darauf, wie sie zur Staatseinung eingesetzt werden können. Im Einzelnen etwa: - „Kontakte" gelten weithin als rechtlich inhaltslos, da noch nichts vereinbart, keine Gemeinschaft hergestellt sei. Und doch sind dies bereits Vorformungen der Einung, Entdeckungsreisen zu künftigen Kooperationen. Die Partner nehmen ihre beiderseitigen Ziele und Entscheidungsverfahren zur Kenntnis, richten die eigenen auf andere ein, schaffen, ganz formlos, die Voraussetzungen gemeinsamer Zweckverfolgung. Recht soll immer verbindlich sein - in diesen Feldern der Unverbindlichkeit vor allem entwickelt es sich stets neu, bis hinauf zum Staat. Die Spektralität der Intensivstufen der Einung wird hier besonders deutlich, wo Bindung durch Funktionieren ersetzt wird, jenen neuen Zentralbegriff des Rechts als Ordnung reibungsloser Abläufe, nicht als Einschränkung von Befugnissen. Eine deutliche Parallelentwicklung vollzieht sich hier in den privaten Bereichen der Wirtschaft wie in der Verwaltungsorganisation; Staat und Wirtschaft finden gerade in solchen „vorrechtlichen Formen" problemlos zueinander. Staatseinung im weitesten Sinne stellt hier die Aufgabe der vorsichtigen Entwicklung neuer flexibler Formen, von Frühstufen eines neuartigen Gewohnheitsrechts, das aus vorgängigen parallelen Übungen erwächst. Die aus dem Völkerrecht bekannten Entwicklungen von Übungen zum Gewohnheitsrecht - und zurück - sollten auch im internen Recht sich verstärken, und nicht nur dort, wo sie allzu rasch in Formen des Handelsbrauches und des Standesrechts gerinnen und erstarren. Angesagt ist vor allem eine Renaissance des Gewohnheitsrechts insbesondere im öffentlichen Raum - , dessen Bindungswirkungen es, in aller Vorsicht, vorzuverlegen gilt bereits in den Bereich der Kontakte. - Zur Erfassung der „Kooperationen", in ihrer reichen Intensitäts- und Formenvielfalt, stellt das Recht von jeher Denkmodelle zur Verfügung, von der rechtlichen 58 Leisner

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Buch 4: Staatseinung

Bedeutung des konkludenten Verhaltens bis in die Vorstufen des Vertragsschlusses und seiner Verschuldenshaftungen. Vor allem aber entfaltet sich die Kategorie des Vertrauens, jene reiche Einungsgrundlage des angelsächsischen Rechts, nun auch immer stärker im kontinentaleuropäischen Bereich. Dass sie weit über das private Recht, den Verkehr ihrer Bürger, hinauswirkt, geradezu Grundlage der modernen demokratischen Rechtsstaatlichkeit zunehmend wird, dort sogar die statischen Grundrechtsgarantien in verbindender Dynamik ersetzt - all dies ist noch gar nicht voll ins staatsgrundsätzliche Bewusstsein gedrungen. Nicht nur feste rechtliche Bindungen, Vereinbarungen sind es aber, welche dieses Vertrauen tragen, sondern schon jene zahllosen Kooperationsformen, von denen ebensoviel im Staatsrecht gesprochen wird, wie sie wenig dogmatisch vertieft sind, eben weil hier die Hilfestellung des klassischen Zivilrechts weithin fehlt: Aus dem „kooperativen Föderalismus" hat sich noch keine Bundesstaatstheorie entfalten lassen, „Arbeitsgemeinschaft" ist ein weithin gebrauchter Zentralbegriff der Verwaltungseinheit - doch man will ihn eben gar nicht näher definieren. Überall bewegt sich aber darin ein mächtiger Einungswille jenseits der gefahrvoll bindenden Formen des Rechts - vielleicht müssen sich diese letzteren erst einmal abschwächen, bevor sich Kooperationen unbekümmert zur Bindung entfalten können; vielleicht hat hier sogar das Staatsrecht von jenem Völkerrecht vieles zu lernen, das es bisher als bindungsschwach verachten zu können glaubte. Wiederum steht damit schließlich Gewohnheitsrecht auf einer neuen Tagesordnung: Diese Kategorie, verschüttet durch den Positivismus vergangener Jahrzehnte, muss eines Tages wieder den einenden Bedeutungsinhalt der Zusammenarbeit als Form der Einung erkennen lassen und ordnen, im wahren Sinne des Wortes „vor allen Gesetzen Recht werden lassen" - in Einung. - Verträge wurden, auf der Höchststufe des kodifikatorischen Positivismus vor einem Jahrhundert, immer mehr auf punktuelle Kontakte reduziert; die vertragliche Dauerbindung als Einungsform trat notwendig dort zurück, wo das souveräne liberale Individuum nur gelegentliche, stets widerrufliche Bindungen eingehen wollte. Der Reichtum der deutschrechtlichen Gesellschaftsvertraglichkeit, des Gemeinschaftsvertrages, den Otto von Gierke gerade in jener Zeit, kontrapunktisch sozusagen, gezeigt hat - er ist inzwischen überall wieder deutlicher geworden; nicht nur im Völkerrecht sind eben die Grenzen stets fließend geblieben zwischen „traité-contrat" und „traité-loi", und nichts ist leichter als der Übergang von der Kurz- in die Langfristigkeit der Vertragsbeziehungen, irgendwie sind Verträge zeitblind. So sollte denn im Vertrag stets mehr gesehen werden als die willensverschränkende Vereinbarung, als die gegenseitige Bindung aneinander geketteter Bürger. Stets liegt darin ja auch die Einung zu einem Dritten, selbst wenn es noch nicht im Gesellschaftszweck voll verselbständigt ist; und immer steht der von der Rechtsprechung mehr und mehr entfaltete Vertragszweck objektiv über den Parteien, lässt sich nicht in deren Willensmächte auflösen.

Β. Das Wesen der Staatseinung

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Selbst wenn man klassische zivilrechtliche Vorsicht bewahrt, in keinem Vertrag allzu viel an Einigkeit vermutet, so liegt doch in den Verträgen weit mehr an Einungskraft, als der liberale Individualismus des 19. Jahrhunderts gelten lassen wollte, und eben eine Mächtigkeit, welche das Privatrecht überschreitet, in den Staat einend hineinwirkt, und sei es auch nur im Modell. Um bei diesem klassischen Modell der Verträge zu bleiben: Auch der größere Sozialvertrag der Staatlichkeit kann ja leicht in einzelne Verträge aufgelöst gedacht werden, Globalvertraglichkeit war noch nie zur Konstitution eines Staates notwendig; das Provisorium des Grundgesetzes konnte gerade als Teil-StaatsVertrag überdauern, denn auch der Schwerpunktvertrag wirkt staatsgründend, vielleicht gerade er, weil er in späteren, laufenden Einungen vollendet, fortgedacht werden muss. In jedem Vertrag liegt also ein Stück Staat, gerade auch in der Aufgabe, die Vereinbarung zu novellieren, zu verlängern. Erst wenn die Schranken verschwinden zwischen Vertrag und Gemeinschaftsgründung, werden sie auch fallen zwischen dem Bürger und seinem Staat. - „Organisationen" - in den privaten Gesellschaften wie in der Staatlichkeit und in ihren Verwaltungen - gelten von jeher als die typischen, die eigentlich festen Einungsformen, auf sie wird diese Erscheinung nur zu oft beschränkt. Aus dem Blick gerät dabei nicht selten die Alibi-Funktion der Organisation, die als formaler Rahmen geschaffen wird, weil in ihm materielle Einung noch nicht vollzogen ist. Organisation als Formelkompromiss, der Bindung durch Kontaktdauer nur zu oft ersetzen soll - all dies gilt, gerade in letzter Zeit, zunehmend in jenem Staatsraum, in dem die entscheidende Kraft der Befehle nicht mehr aufgebracht und daher die „Flucht in die Kommissionen" - und Organisationen überhaupt - immer mehr angetreten wird. In Bürokratie mögen sie sich dann mit sich selbst beschäftigen, funktionieren in „rein formalen" Bindungen ohne materielle Einung. Dies ist gewiss die große „Organisationsgefahr": Selbstbefriedigung einer immer mehr perfektionierten Rechtstechnik. Doch aus der Sicht der Staatseinung bedeutet Organisation als Einungsstufe auch eine große Chance: die dauernde Verbindung zum Ziele der noch nicht voll gelungenen, im Grunde auch nie zur Einheit zu perfektionierenden Einung. In diesem Sinne ist der Staat wahrhaft, eben als Organisation, die Einung in fieri; in einem „immer wieder Zusammentreten-Müssen" liegt das Wesen der modernen Demokratie, nicht in den Entscheidungen, die dort ergehen oder auch nicht. Solche Schwächen nimmt der Einungsstaat hin, wenn nur seine Bürger und Verwaltungen stets von neuem zusammentreten, seine große Dezision ist die sich wiederholende Sitzungseröffnung des Parlaments, in England mit Recht mit höchstem Staatsprunk gefeiert. Dies ist der neue Dezisionismus der Demokratie: die einungsgerichtete Organisationsentscheidung. Und zugleich ist und bleibt Organisation eben auch Rahmenvertrag, eine große Virtualität ungeborener Verträge. Vom ersten Kontakt bis in die perfekte Dauerbindung: Überall scheint Einung durch diese Formen. 58*

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Buch 4: Staatseinung

4. Einung in Freiheit und Zwangszusammenschlüsse Einigkeit und Recht und Freiheit werden nicht in poetischem Zufall zusammen besungen: Staatseinung braucht die Formen des Rechts, sie geschieht nur aus Freiheit heraus und zu dieser hin. Dies ist Ethos und Pathos zugleich der Staatseinung: dass der Bürger seine Freiheit verschenke, sie größer zurückerhalte und behalte, sich dessen rühme. Damit wird im Grunde ja nur die große Dynamik der „Freiheit im status activus" beschrieben, die immer mehr die des status negativus wenn nicht ablöst, so doch überhöht, Einung darin erst möglich macht. Vielheit und Vielfalt der Bürger und Organisationen nützen nichts, alle Rechtsformen der Einung sind verloren, wenn sich diese nicht aus Freiheit heraus vollzieht, Libertät in ihr stets erhalten bleibt, damit sie sich laufend erneuern könne - oder auch nicht. Jenes Spontane, die wesentlich subjektive kopernikanische Wende der Staatseinung als Grundlage eines neuen Staatsrechts - all das ist nur denkbar in einem öffentlichen Raum, in welchem Freiheit stets und überall gegenwärtig bleibt, in der Überzeugung, dass aus den Eigeninteressen der Bürger und Organisationen stets und allein die besten Entscheidungen am Ende fallen. Wenn nicht Einigkeit - Einung jedenfalls ist nur ein anderes Wort für Freiheit, der Zusammenschluss ist ihre erträgliche Form. Dies aber stellt vor allem eine Frage: Zwangszusammenschluss als Einung? Wo immer der Staat zur mächtigen, blockhaften Befehlseinheit wurde, den atomisierten Bürgern sich gegenüber sah, da hat er stets bald versucht, sich neue Einungskräfte zu erschließen, und sei es in den Formen der Zwangszusammenschlüsse. So ist es zur zünftischen Renaissance der berufsständischen Kammern gekommen, so wird Einung in Zweckverbandlichkeit von oben organisiert. Zählt hier nur der Weg, gleich wo er beginnt, oben in der Staatsgewalt oder aus freier Bürgerinitiative - oder ist Einung staatswertvoll nur spontan aus der Basis? Im Zwangszusammenschluss kann die Einungsidee wohl pervertiert werden, dann vor allem, wenn nicht nur die Einungsträger zusammengefasst, sondern ihnen zugleich auch noch feste Einungsziele gesetzt werden. Dann ist im Grunde der Zusammenschluss vollzogen, laufende Einungskräfte entbinden sich dort kaum mehr, wo nur noch Einungsvorgaben gemeinsam verwaltet werden. Hier hat dann Dezentralisierung stattgefunden, der Weg der Staatlichkeit wird allein von oben nach unten gegangen, im Grunde senkt sich die Staatlichkeit in allgegenwärtiger Technik in die Freiheitsbereiche der Bürger und löscht sie aus. Bürger als Einungsbeamte der Staatlichkeit, etwa gerade in Berufen, die wesentlich „frei" sein sollten - darin mag Einungsgehalt liegen, doch dies kann nicht die „Lösung der Staatseinung" sein. Entscheidend ist eine staatliche Zurückhaltung: Freiheit ist zu bewahren entweder zum Zusammenschluss oder in der Wahl von Zielen und Verfahren desselben, beides darf nie diktiert werden, soll nicht am Ende nur der „mit Einung Beliehene

Β. Das Wesen der Staatseinung

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Private" stehen. Einungsanstöße und -hilfen muss der Staat immer wieder geben, gerade die „freien" Berufe zusammenzwingen; doch ihre Einungsaufgaben haben sie sich dann weitgehend selbst zu stellen, sie in eigenem Verfahren zu verfolgen; „Kammergesetze" mit festen Vorgaben werden rasch zum Widerspruch in sich. Oder es wird der andere freiheitsbewahrende Weg gegangen: Freiheit des Zusammenschlusses zur Verbandlichkeit, verbunden mit Zielvorgaben, mit Privilegien für diejenigen, welche dies in Einung erreichen wollen. Denn alles was Einung bringt, ihre Kräfte freisetzt zu einer staatsgewendeten Gemeinsamkeit, ist zu begrüßen im System der Staatseinung, sei es, dass sie sich in der Freiheit des Beitritts vollzieht oder sodann in der Libertät der Zielsetzung und -erreichung. Zwangszusammenschlüsse sind gut bis an die Grenze, wo sie zum Alibi dezentralisierter Staatsorganisation verkümmern. Und Demokratisierung ist hier ein gutes Wort, wenn es sich nicht nur auf die Freiheit der Verfahrensgestaltung, sondern auch auf die der Selbstsetzung der Ziele durch die Genossen bezieht.

5. Exkurs: Mitbestimmung - ein Einungswort? Mitbestimmung - in diesem Wort liegt die Einungssehnsucht einer Epoche; nur wenige Begriffe gibt es, die in solcher Virtualität Gesellschaft und Staat verbinden. Bei Administrationen ist dies ebenso ein „gutes Wort" wie in den wichtigsten privaten Beziehungen der Bürger, wo die Konfrontation der sozialen Forderungen überhöht werden soll. In der sozialen Mitbestimmung, im unausschöpfbaren Rest der Interessengegensätzlichkeit, der dort immer bleiben muss, werden zwar die letzten Grenzen der Staatseinung modellhaft deutlich - aber auch ihre großen Chancen: dass stets von neuem begonnen, verhandelt, gestritten und geeint werden muss. Eines jedoch muss bewusst bleiben: Was eigentlich demokratische Staatseinung bedeuten sollte, das Zusammentreten aller und ihre gemeinsame Entscheidung, lässt sich in den heutigen Formen der Über- oder Unter-Parität nicht leicht verwirklichen, hier zeigt die Mitbestimmung doch ein anderes Gesicht: das des Dialogs von Gegengewalten, die in Ausgewogenheit zusammenfinden wollen. Darin ist die soziale Mitbestimmung nicht primär ein Modell der dynamischen Staatseinung, sondern der gewaltenteilenden Institutionen-Demokratie, welche primär Kräfte mäßigen, nicht in Einung hervorbringen will. Und denselben Charakter tragen, ausdrücklich oder unausgesprochen, alle jene Mitbestimmungsformen, in denen Bürger nun auch ihre Staatlichkeit mitgestalten sollen, in deutlicher Anlehnung an die soziale Mitbestimmung. Auch dort sind es Gegenmächte, die so aufgebaut werden, sich mit der übermächtig erscheinenden Staatsgewalt am „runden Tisch" - letztlich ihr aber doch gegenübersitzend - einigen sollen. So ist denn Vorsicht geboten bei dem Versuch, Mitbestimmung schlechthin als Einungsvorgang zu begreifen, außerhalb der Staatlichkeit und in ihr: Entwickelt

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hat sie sich ja als eine Institution der Beschränkung der Freiheit anderer und ihres Eigentums, ja geradezu als eine Institution der Re-Expropriation. Hier aber verläuft die unüberschreitbare Grenze zur Staatseinung, sie ist eine Form der Organisation der Staatsgewalt, nicht primär der Distribution des Eigentums zwischen Privaten. So sicher, wie „Gruppeneinungen gegeneinander" Vorstufen der Staatseinung darstellen, im Verbändestaat allzumal, so wenig darf sich Staatseinung lediglich als Mechanismus kurzfristiger Streitschlichtung zwischen Bürgern verstehen. Die klassische Mitbestimmung des Sozialbereichs vollzieht sich immer irgendwie auf einer Ebene zwischen Bürgern, die Staatseinung muss stets versuchen, eine höhere Ebene über allen zu schaffen. Sie ist nicht primär ein Kampfmechanismus gegen fremde Rechte, eine Etappe der Auseinandersetzung. Wo sich „wesentlich Gegeneinungen" bilden, sodann in letzter Konfrontation aufeinanderprallen, wo nicht der Integrationszustand das Ziel ist, sondern die kurzfristige Aufhebung der Gegensätze, da finden allenfalls Vorstufen der Staatseinung statt, nicht diese selbst. Dennoch sollten diese Vorphasen nicht gering geachtet und sie müssen in die Staatseinung eingebaut werden, auf diesem Wege hat sich in Deutschland Bedeutendes vollzogen. Nicht als ob nun der Staat in Zwangsschlichtung eingreifen dürfte - gerade damit würde er nur Einungsansätze pervertieren. Bedeutsam ist ein Doppeltes an dieser Mitbestimmung: die Vor-Einungen der Partnerblöcke, die sich ja laufend vollziehen, unter dem Kompromisszwang des anstehenden Gesprächs, damit feste und zugleich laufend-dynamische Einungen hervorbringend; zum anderen das immer erneute Zusammentreten und der Einungszwang. Wenn hier auch der Konflikt bleibt, geradezu aufrechterhalten werden soll - weil eben immer nur Waffenstillstand stattfindet, nicht Friedensschluss - so ist doch Kriegsbeendigung, hier wie überall, der erste Ansatz für das Verständnis der gemeinsamen Ziele. Wo es um Lohn geht, werden sie nie endgültig bestimmt werden, doch in allen Vorphasen, dort, wo ständig Mitbestimmung im Betrieb stattfindet, hat sich, trotz aller laufenden Konfrontationsbereitschaft, vielleicht -notwendigkeit, doch schon etwas wie die große Betriebseinung vollzogen und, was mehr bedeutet: Sie vollzieht sich ständig von neuem. Noch wichtiger ist, dass damit die Voraussetzungen selbst für die immer erneuten Waffenstillstände der Tarifverhandlungen geschaffen werden, welche ohne die gemeinsame Basis der laufenden Mitbestimmung nicht denkbar wären; in jedem Tarifgespräch wird diese organisatorische Betriebseinung als notwendige Voraussetzung des Tarifvertragsausgleichs stets von neuem erlebt. So zeigt sich denn die Mitbestimmung als ein komplexes, in Vielem nur ansatzweises System sozialer Einungen, das durchaus in dieser Schwebe belassen werden sollte, weil sich in ihr doch auf Dauer mehr und anderes entwickelt als immer nur neue Konfrontation, vielmehr ein Gefühl für den kollektiven Einungszwang, dem sich alle Seiten in letzter Freiheit beugen. Dass diese Entwicklungen in die Staatlichkeit hinübergreifen, dafür sorgt die Gewerkschaftsbewegung. Der Staat aber sollte die Einungskräfte, welche dort wir-

Β. Das Wesen der Staatseinung

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ken, bewahren, nicht allzu sehr durch seine Gesetze und Institutionen kanalisieren, sonst werden sie absterben oder anarchisch auswuchern. Ohne klares Bewusstsein der Notwendigkeit einer Staatseinung hat sich dies alles in einem Jahrhundertprozess entfaltet. Eines Tages wird es als Vor-Form der Staatseinung erkannt werden; möge es dann in jener Freiheit sich halten lassen, aus der es erwachsen ist, fern von Staatsgewerkschaft und sozialer Verzunftung! Dies ist letztlich ein föderales Erbe, das der große Liberalismus, aus seiner Freiheitlichkeit heraus, dem sozialen Staat der Gegenwart hinterlassen hat, deshalb war auch an dieser Stelle davon die Rede. Damit hat er den stärksten Beweis dafür geliefert, dass sich Einung auch in der Föderalgemeinschaft der Staatlichkeit - bei allem sanften und oft so unsanften sozialen Zwang - nur in Freiheit vollziehen kann.

C. Einung - Kraft zum Staat Von nun an kann Staatlichkeit nurmehr in Einungen wachsen, aus ihnen Kräfte gewinnen, der Ent-Einung der Anarchie entgehen - das ist das Thema dieses Abschnitts. Es geht nicht um „Einigkeit macht stark", im herkömmlichen Sinn zusammengeschweißter Kleinheit. Nicht dieser beendete Einungsvorgang ist wichtig, nicht die Addition der Kräfte, sondern die Explosionen, in denen sich laufende Einungen entladen; nie wurden sie stärker erlebt als vor zwei Jahrhunderten in Frankreich. Doch nicht die sodann mächtig nach außen gewendete Einung ist entscheidend, die sich wehrhaft zementieren, die erstarren muss, sondern die nach innen, auf das Leben der Staatlichkeit gerichteten Kräfte. Dieser Einungsprozess, wie er hier gesucht wird, macht den Staat nicht stark, sondern lebendig. Zusammen tritt man zur Hilfe, nicht gegeneinander zum Kampf.

I. Einungsstreben - Wille zur Ordnung, nicht Wille zur Macht Lange wird es noch dauern, bis das gewaltig sinnmächtige, das wahre SchlagWort vom Willen zur Macht aus dem Staatsrecht weicht, es kann nur in Einungsdenken überwunden werden. Dieser - wahrhaft große - Individualismus wird vergehen, der sich selbst alles zuschreibt, sich selbst alles nimmt, um dann über andere zu herrschen. Angesagt ist das Reich der Einbeziehungs-Staatlichkeit, des politischen Strebens zur „Macht über sich selbst", im schönsten sokratischen Sinn. Darin allerdings wird man immer, und auch hier, den Staat als ein Machtphänomen verstehen müssen, der Durchsetzungskräfte braucht, auch und gerade wenn die alte Gewalt absterben soll.

1. Einung als Fluchtburg - Kraft aus Angst Lob des Verbändestaates a) Die Abwehr-Einung Vom Übermenschen geht Einung nicht aus, auch nicht um ihn vollzieht sie sich, in Staat oder Gesellschaft. Zuallererst ist dies ein Abwehr-, ein Angstphänomen stets gewesen, dazu sollte sich gerade eine umweit-, ja existenzbedrohte Zeit offen

C. Einung - Kraft zum Staat

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bekennen. Es bedarf nicht des Zurückgehens auf die Ethnologie der ersten bekannten Gruppenbildungen; gerade heute sind es Kleinheit und Angst, aus denen heraus sich die größten Einungen entfalten. Wie anders hätte auch nur etwas von einem gemeinsamen Europa entstehen können, als in den Ängsten vor der militärischen Drohung von der einen, der wirtschaftlichen Unterlegenheit auf der anderen Seite? Die größten, zugleich wahrhaft staatskonstitutiven Gesellschaftseinungen der letzten Vergangenheit kamen aus Unterlegenheitsängsten, ja Komplexen, in der Arbeiterschaft wie im politischen Katholizismus. Demokratie als Einungsform hat sich von Anfang an den Bürger hoch und groß gelobt - doch es war im Grunde immer der kleine Mann, der sich als Kanaille von den Hunden der Großen, Herrschenden, gehetzt sah. Nur weil Gruppen von diesen in den bürgerlichen Revolutionen rasch wieder die Zügel ergriffen, sind weithin jene Angsteinungen der Großen Französischen und der späteren Revolutionen vergessen worden, die allein die revolutionären Grausamkeiten erklären - weil eben stets intra muros peccatur et extra. Und wären die Fluchtburgen Phänomen eines schwächlichen politischen Angst-Willens, sind aus ihnen nicht flächendeckende Staatlichkeiten einst heruntergestiegen in die Städte und Territorien? Die Größe der Staatseinung kommt zuallererst aus der großen Angst der vielen Kleinen, darin ist sie ein politisches Machtphänomen, ein Zement für die schützenden Mauern des Staates. Solange es Angst geben wird um diese Mauern herum, werden Bürger sein in den Burgen. Dass der Staat den selbstbewussten Bürger braucht, ist eine Banalität; zuerst braucht er den Angst-Bürger.

b) Gruppen-Abwehr-Einung - „Staat im Staat" oder Staatsmodell? Diese Abwehr-Einung findet nicht nur unmittelbar auf den Staat hin statt; sobald die politische Gemeinschaft als Rahmen geschaffen ist, kommt es innerhalb von ihr stets und notwendig zur Gruppeneinung, zu Fluchtburgen gegen die Bedrohung von Minderheiten oder aus professionellen Existenzängsten. Solche Zusammenschlüsse, durchaus mit „Einungsspitzen nach außen", die Verbände im weitesten Sinne des Wortes, sind immer entweder bekämpft worden als „Staaten im Staat" oder sie wurden geduldet, ja gefördert als Staatsmodelle, aus denen sich die größere Gemeinschaft aufbaut, in denen sie, bis in die kleinsten Bürgerbezüge hinein, gegenwärtig bleibt. Darin ist die Position dieser Betrachtungen eindeutig: Staatseinung in ihrem Sinne bedeutet die entscheidende Bejahung der Verbände als Kraftquellen für die politische Gemeinschaft, weil sich in ihnen Einungskräfte entbinden, Einung praktiziert, laufend geübt wird. Monopolisierung der Zusammenschlüsse im Staat, Zusammenfassung allen Schwächerenschutzes bei ihm - das hat die liberale Staatlichkeit in ihrem Individualismus, im polizeilichen Gewaltmonopol der Gemeinschaft, im Kampf gegen die Zwischengewalten ebenso vergeblich versucht, wie sozialisierende Staatlichkeit in der durchgehenden Verstaatlichung, der Ver-Partei-

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Buch 4: Staatseinung

lichung der Verbände. Immer war hier die Angst lebendig, in diesen Verbänden könnten sich Gruppen-Fluchtburgen bedrohter Bürger innerhalb der Mauern bilden, sich dann zu „Staaten im Staat" emporentwickeln. In dieser Sorge liegt das Eingeständnis, dass Verbandlichkeit im Grunde ein Staatsmodell bedeutet, etwas wie Staatlichkeit, oder ein Teil von ihr, im Werden. Vor allem aber wird der Kampf gegen die vermeintliche Hydra des „Verbändestaats" gerade aus der Angst heraus immer wieder geführt, dieser könne seine Kräfte aus der Einung der Mitglieder, der „Verbandsbürger" ziehen - denn was steht ihm denn anderes zur Verfügung, wenn die „äußere", insbesondere die bewaffnete Gewalt ohnehin beim OrdnungsStaat monopolisiert ist? Hier ist tiefgreifendes Umdenken gefordert, die Erkenntnis, dass sich gerade in den Verbänden das Wesen moderner, demokratischer Staatlichkeit rein entfaltet: Kraft aus Einung der Bedrohten - ohne den Halt der Gewalt. Hier wird nicht befohlen, sondern integriert. Der Staat, der den äußeren Befehls-Gewalt-Rahmen hält, unterscheidet sich insoweit kaum von früheren Organisationen, welche durch Befehl von oben wirkten. Wo aber Verbandlichkeit in Einung integriert, ist wesentlich gewaltlose Macht, die der Ängstlichen, der Schwächeren. Hier entstehen also die „Staats-Subjekte" im reichen Doppelsinn dieses Wortes, und eben auch in dem der Einungen, welche diesen Namen verdienen, weil dem Staat aus ihnen seine eigentlichen Kräfte kommen. Die Verbände sind die natürlichen Assemblées primaires der heutigen Demokratie, im weitergedachten Wortsinn der Französischen Revolution. Die Demokratie anerkennt das auch in ihren Partei-Gruppierungen; doch sie bildet diese, von Anfang an, wieder aus mit Blick auf die Globalität des staatlichen Zusammenschlusses, nicht als Verbände mit teilintegrativer Ordnungskraft. Darin liegt eher eine Schwäche der Staatsform, ihrer politischen Gruppierungen, die, stets als „Volksparteien" sogleich gewollt, als staatsähnliche Gebilde also, nur zu oft die wahren Gruppenängste nicht aufnehmen und daher in sich Einungskräfte nicht zu entwickeln vermögen. Staatseinung setzt dem die Vorstellung von einer gruppensubjektiven, reich gegliederten Verbandlichkeit entgegen. Sie nimmt die Gruppen-, die Teilzusammenschlüsse nicht nur in Kauf, sie wünscht sie zuallererst, an der Basis, aus ganz konkreten Interessen heraus, damit sie dann erst zu immer höheren Einheiten integriert, letztlich im Staat zusammengeschlossen werden. Staatseinung ist insoweit ein Stufenmodell, das nicht daran glaubt, der Bürger könne allzu rasch, unmittelbar, an „seinen Staat" herangeführt werden; dieser bleibt immer der „ferne", denn in ihm wirkt erst die höchste, am stärksten abstrahierte Form jener geeinten Kräfte der Schwachen, die sich in vielen Vorstadien bilden muss. Staatseinung nimmt es in Kauf, dass dort unten immer nur Teileinungen stattfinden; „nach oben zu" auf den Staat gerichtet, werden sie eben dann immer weiter und größer. Die Staatseinung bejaht zunächst einmal eine Gruppenisolierung innerhalb der Mauern, durchaus in der Angst vor der Majorisierung durch andere - deshalb stimmen ja

C. Einung - Kraft zum Staat

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Verbände unter sich auch nicht ab, sondern nur im Inneren ihrer Organisation. Und im Letzten nimmt die Staatseinung es in Kauf, im Namen der Souveränität ihrer Bürger, dass diese sich sogar in ihren kleineren Zusammenschlüssen, in ihren Verbänden, „stärker einen wollen als in ihrem Staat", dass ihnen diese ihre Gruppe näher ist als ihre Staatlichkeit - bis hin zu einem Punkt des Umschlags, wo sich Verbände zu neuer Staatlichkeit umformieren. Die Staatseinung begrüßt es ganz entschieden, dass ihr eigentlicher politisch kraftspendender Vorgang, der Zusammenschluss, schon „unterhalb ihrer Ebene", in vielfachen Formen stattfindet. Diese Vielfalt der Zusammenschlüsse ermöglicht nur der Verbändestaat - und darin findet dieses Wort seinen Sinn - nur er besitzt wirklich die Kraft der Staatseinung. Und dieses Lob gilt ganz bewusst dem vielgegliederten Verbändestaat, nicht dem „auf den Bürger zu dezentralisierten" Verbandsstaat.

c) „ Verbandlichkeit

zum Staat "

Das Credo der neuen Demokratie, der Staatlichkeit aus Einung, kann nur eines sein: dass diese Verbände schon deshalb größeren politischen Einheiten nie Gefahr bringen werden, weil sie, aus Einung entstanden, einungsgeneigt sind zu „höheren" Zusammenschlüssen, weil sie eben den Staat rufen und brauchen, allerdings in den wiederum gestuften Formen des Föderalismus. Verbände in diesem Sinn sind „Einungen zu weiteren Einungen, hinauf in die Staatseinung", soziale Fluchtburgen, geöffnet zur größeren Schutzburg der Staatlichkeit. In ihnen wandeln sich die Isolationsängste der Bürger in einungsgeneigte Staatlichkeit, die Sorge der Schwächeren, gerade in ihren Gruppenzusammenschlüssen empfunden, begründet die Staatsnotwendigkeit des höheren Zusammenschlusses, im Verbändestaat schlägt der Individualismus in Staatlichkeit um. „Unten", im Bereich der Verbände und Gruppen, ist „nur Einung, keine oder nur wenig Macht" - „oben" in der Staatlichkeit vor allem die Gewalt; zwischen diesen beiden Punkten muss die Staatseinung den spektralen Bogen spannen: Auch „unten", in den Verbänden, belässt der Staat mit Recht einiges an Gewaltausübung den Bürgern in ihren autonomen Gebilden, „oben", „in seine politischen Spitzen" fließen dafür die lebendigen Einungskräfte ein, immer neu von unten kommend. Im Letzten ist die Sorge nicht begründet, die Verbände würden den Staat entmachten, da sie ja zuallererst doch nur Einungen sind und bleiben; und wenn sie daraus auch politische Macht sich gewinnen können, so kann dies leicht hingenommen werden, weil sich ja in den Verbänden der Einungsgedanke potenziert und damit auch an der Spitze der politischen Gemeinschaft immer stärker wird - diese Ordnung wird nicht auseinanderbrechen, sondern sich zu höherer Verbandlichkeit kraftvoll schließen. Nur dies ist demokratisch gedacht; „Einung als Gefährdung höherer Einheit" ist Majestätsbeleidigung der Volksherrschaft. Diese Verbände der Staatseinung sind nicht „Staaten im Staat", sondern im wesentlichen (Teil-)Einungen im Blick auf größere Zusammenschlüsse, sie sind ganz

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Buch 4: Staatseinung

auf einen Staat hin gerichtet, der allerdings nicht mehr der einungslose, blockhafte Befehlsstaat sein kann. Sie verlangen jedoch, dass er sie nicht im raschen Befehl der Mehrheit zusammenschließe, sondern nach ihren eigenen Gesetzen sich formieren lasse - in Einung. Diese Verbände sind, wie gesagt, vielleicht im Grunde die eigentlichen „Staats-Subjekte", sie haben weit mehr staatsschaffende Kraft als der Bürger, weil Einung in ihnen erstmals stattfindet. Sind sie stark genug, den Staat tatsächlich zu besetzen, so ist dies, aus der Sicht der Staatseinung, kein Unglück, sondern die Entstehung neuer Staatlichkeit, und erfolgte es auch durch die Kraft religiöser Gruppen oder Gewerkschaften. Dann wird so eben - ein neuer Staat. In aller Regel aber entfaltet sich ein anderes: ein Verbändeföderalismus, in dem sich die Fluchtburgen zum größeren politischen Schutzverband vorsichtig öffnen. Etwas aus ihrer integrativen Angst, damit auch von ihrem Staats-Misstrauen, wird und soll ihnen bleiben; doch in solchen komplexen Vorgängen wächst aus der Angst der schwachen Bürger immer mehr die kraftvoll ordnende Staatlichkeit.

d) Einung: die Kraft der Schwachen Dies ist der erste, größte Einungseffekt: Schwäche wird nicht addiert, sondern qualitativ zu politischer Kraft integriert. Was hier entsteht in den Verbänden, den Kooperationen der Verwaltungs- und politischen Einheiten der Staatsgewalt, ist nicht die Aggressivität der in die Enge Getriebenen, die Kraft der Verzweiflung, des Widerstands um jeden Preis. Allzu leicht wird gerade dies heute beschworen, daraus soll sich Staatlichkeit aufbauen eine trügerische Hoffnung. Widerstand braucht den Mut der Verzweiflung, die Einung sieht die bescheidene, tagtägliche Notwendigkeit der Ordnung. Hier begegnen die Bürger, bereits in vielfachen Einungen stehend, anderen „addierten Schwächen"; sie erkennen, dass überall solche massierten Schwächen sind, dies führt zum Zusammenschluss, in dem Selbständigkeit bewahrt werden kann. „Bewachte" Grenzen bleiben zwischen den so bereits formierten Teilen der Staatsgewalt, doch sie werden zuerst zu Nachbarschaften, bald zu verbindenden Flüssen. Ordnung darf man dies nennen, immer fester, bis hin zur Staatlichkeit. Gehalten wird das alles durch die Kraft der Überzeugungen von der gemeinsamen Schwäche: dass alle Ordnung zusammenbrechen muss, wenn es die Partner nicht mehr gibt - dies ist die Staatswerdung durch Schwäche, wie sie die Demokratie will. Zusammenschließen werden sich diese Schwachen in immer mehr Staatlichkeit, nicht ihrerseits in Machtmonopol umschlagen und den „Staat besetzen" wollen der doch der „Staat der Schwächeren" ist. Sozialistische Kräfte haben dies im Missverständnis der „Diktatur des Proletariats" versucht - eines Tages mussten sie ihre eigentliche Legitimation, die der solidarischen Einung der Schwächeren verlieren, da sie zur Unterdrückungsgewalt degenerierten, die Einung verloren. Der Staat lässt sich nicht besetzen, weder durch die französischen noch durch die russischen Revolutionäre, er lässt sich immer nur neu bauen, in immer mehr Einung.

C. Einung - Kraft zum Staat

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Auch der hochentwickelte Verbändestaat der gegliederten Demokratie bleibt wesentlich politische Kraft aus Schwäche, will er nicht degenerieren zum alten blockhaften Befehlsstaat oder entarten zur korrupten Oligarchie der Partei- und Gewerkschaftsspitzen und ihrer Funktionäre.

e) Staatswerdung eines Verbandes der Schwächeren? Immer wieder in der Geschichte, und zweimal ganz im Großen, haben Zusammenschlüsse von Schwächeren wahrhaft angesetzt zur Besetzung des Staates, im Umschlag von Ohnmacht in totale, geradezu monumentale Staatlichkeit: in der Kirche der Sklaven und im Sozialismus der entrechteten Arbeiterschaft. In beiden ist ein Extrem, das ängstliche Zusammentreten der Schwachen in gewaltlosen Zirkeln, umgeschlagen in den höchsten, absoluten Machtanspruch, die stärkste Staatlichkeit entstand aus den schwächsten Bürgern, aus den rechtlosen und rechtsfreien „reinen Subjekten" die absolute Objektivierung der Staatlichkeit. In ihr schwingt noch immer, nach so langer Zeit, etwas mit von der früheren Verbandlichkeit und ihrer Einung der Schwächeren, in den Gemeinden der Christen, den Arbeitervereinen; wo es sich verliert mit seinen Einungskräften, da wird sogleich der Staatskoloss brüchig. Die Dogmatik der Macht und Gewalt, der großen, lastenden Befehlsstaatlichkeit, konnte sich in diesen Großphänomenen geradezu bestätigt finden: Ist denn nicht der Mensch etwas, das überwunden werden muss in seiner Angst, verliert sich diese nicht erst dann ganz, wenn sie ganz Wille zur Macht wird, zur Macht aus Angst? Darf die vereinte Angst sich in Zusammenschluss-Bewegungen nur im Kreise drehen, muss sie sich nicht ,pichten", hinauf auf den Staat der höchst potenzierten Gewalt, in dem auch nicht der kleinste Raum mehr ist für die früheren Sorgen? Doch Kirche und Sozialismus haben es bewiesen: Rasch versiegt dann der Kraftquell der Einung, wenn diese nicht mehr geübt, sondern durch Befehl ersetzt wird. Die erzwungenen Zusammenschlüsse, in denen Wenige dominieren im Namen einer Ideologie, setzen sich nicht mehr nach außen fort und nach oben in lebendige Staatlichkeit. Die beiden erwähnten Großbewegungen haben mit Einung begonnen, alsbald hat diese ihre Ideologie gesetzt, als eine postulierte, angeblich präexistente Einung, in welcher das Verfahren bereits abgelaufen, nur das Ergebnis mehr sichtbar war. Begeisterte Massenzustimmung sollte die harten, mühsamen Einungsgänge ersetzen, die Eleganz der weiten Einungsdogmen faszinierte. Der mit den constantinischen Legionen und der Roten Armee siegreiche Verband bedurfte der integrativen Einungskraft nicht mehr, in sich konnte er sich „hinauforganisieren" in paramilitärischer Stufung, hinein in die Hierarchie, die heilige Ordnung ohne Einung. Der Zyklus schien beendet „aus Einung zur Institution", die Angst aufgehoben in Panzerungen, in Dies- und Jenseitssicherheit. Das alles konnte Jahrhunderte halten, heute wird überall die Gegenthese gesetzt: die Einung halten, die Angst laufend und als Kraftquell sehen, sich nicht in institu-

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Buch 4: Staatseinung

tionellen Maginotlinien einbetonieren, sondern im weiten Gelände sich bewegen, in Einungen, Gegeneinungen - und letztlich Über-Einungen mit vielen anderen Schwachen. Staatswerdungen aus Verbänden der Schwachen - das waren großartige historische Phänomene, vielleicht werden sie sich immer von neuem wiederholen, doch heute ist man an einem ihrer Enden angelangt: man fühlt die politischen Schwächen, dies ist die große politische Kraft der Gegenwart, wenn sie sich diese Schwäche erhält und sie zugleich immer von neuem in Einung überwindet.

2. Einung als politischer Machtwille a) „ Wille zur Macht": nicht zu eliminieren - zu dynamisieren Die demokratischen Bewegungen sind heute der zentralen Erkenntnis der Staatseinung ganz nahe gekommen: dass der schwache Bürger im Zusammenschluss Staatsmacht schaffen kann. Doch gegenwärtige Gefahr ist die Verabsolutierung dieser These, in der Perversion des Pazifismus: Der politische Machtwille soll geradezu ausgerissen, der Wille zur Macht als „Denkkategorie" eliminiert werden, damit alles zurückgeführt werde auf die große Zahl der kleinen beruhigten Bürger - dies ist ein Grundirrtum eines Demokratismus, der nicht zu sagen vermag, wer denn letztlich dies alles politisch beruhigen kann, wenn es eben doch immer wieder mehr geben muss als Feste und Spiele. Dasselbe versucht kollektivistisches Denken, in welches diese BeruhigungsDemokratie rasch umschlägt. In vollständiger Einung soll der Machtwille des Einzelnen gänzlich aufgehoben werden, ausgetrocknet die Kraftzentren jener Menschen, welche doch Kräfte ständig abgeben, die das Kollektiv halten. Ihr so geschaffener beruhigter Staat wird sie nicht in dieser Ruhe halten können, er muss zu schwach geraten, sie aber, die Bürger, werden ihn vielleicht eines Tages, in Anarchie stärker sich fühlend als er, verachten, zerstören. Die Demokratien sehen diese Gefahr, wollen sie überwinden in ihrem „starken Bürger", den sie hoch hinauf loben, und nicht nur vor Wahlen. Hier steht dann die Theorie von der Machtübertragung im Sozialvertrag, in welchem ständig der „Wille zur Macht" des einzelnen Menschen von ihm in seinen Staat geworfen wird. Die Lehre von der Staatseinung wird dies aufnehmen und begrüßen, denn es ist ihr Ausgangspunkt, die Theorie des Sozialvertrags bleibt die ihre - doch nur ihr Anfang: Diesen Transfer der Machtwillen gilt es nun zu systematisieren und zu erweitern, zu einem wahren „Kreislauf der Machtübertragung". Dies ist die Grundthese: Einungen dürfen nie Einbahnstraßen sein, sich in solchen entwickeln, auf diesen Wegen ist die Dynamik der Sozialvertraglichkeit allzu rasch umgeschlagen in die Befehlsinstitutionen des modernen Staatsmechanismus. Immer wieder gilt

C. Einung - Kraft zum Staat

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es, Dynamik in Einungen, in vielen, laufenden Bewegungen, in alle Richtungen hin zu schaffen und zu erhalten, und sei es auch in der Auflösung früherer Bande, die dann wieder neu zu knüpfen und zu lösen sind. Einung: das sind die vielen Wege, in den dynamisierten Kreisläufen des ewigen Bürgerwillens zur politischen Macht.

b) Die Führungsrolle der Stärkeren Staatseinung braucht die vielen Schwachen, aus deren Zusammentreten ihr politische Kraft erwächst. Doch gerade heute, wo die Chance dazu groß ist, wird sie weithin durch eine verfehlte Elitediskussion belastet. Im Namen dieses schillernden Wortes setzt man eine irgendwie durch Fleiß oder Begabung begnadete Gruppe jener Herde entgegen, die sich von ihr führen lassen soll - und verführen, letztlich doch als Bürger zweiter Klasse, die in Gleichheitsworten beruhigt, in Wahrheit aber durch den politischen Willen Stärkerer manipuliert werden. Da demokratisches Misstrauen dies stets von neuem entlarvt, wird diese Elite kaum je eine Chance haben, so vorsichtig sie auch von arrivierten Notabein aus Politik und Wirtschaft gepredigt werden mag. Denn die soziologische Realität unserer Tage sind eben nicht „die Starken" und „die Herde", sondern die „um etwas" Stärkeren und, als deren Partner, die Schwächeren. Sie alle haben, unterschiedlich ausgeprägt, etwas wie einen „Willen zur Macht"; nur der versteht das Wort wirklich, der es auch auf die heute schwächeren Bürger bezieht, in ihrer unverwechselbaren Individualität. Sie nun mit der ebenfalls größeren Zahl der Stärkeren, nicht mit einer punktuell-kleinen Elite, zusammenzuführen ist die Aufgabe; rechtlich-organisatorisch ist sie nur in Einungen zu lösen, nicht in Führungen. Die Staatseinung muss den (um etwas) Stärkeren die echte politische Machtchance bieten, in den Formen von etwas wie einer Verbandsführerschaft, die sich in zwei Aspekten bewährt: in der katalytischen Funktion der stärkeren Bürger „nach innen", welche die Genossen zur Einung überzeugt, und in der Verbandsvertretung nach außen, gegenüber anderen Zusammenschlüssen und vor allem hinauf in den Staat. Überall muss diese Führerschaft echte Repräsentation der Einung sein, nicht nur der vielen Geeinten: eine wahre „Verkörperung des Einungsvorgangs durch einzelne Menschen", in seinem Ablauf nach innen durch Überzeugung, in seinem Ergebnis nach außen durch Vertretung. Dies Ideal der Verbandsführerschaft ist, zum Glück der Demokratie, heute schon weithin verwirklicht, in einer Mitte zwischen der reinen Verspiegelbildlichung der Basis in Rotation und der autoritären Verbandsführung. Die Stärkeren, die Organe des Überzeugens und Befehlens in der Einung, können hier ihren „Willen zur Macht" hinter einer List der Vernunft verstecken: In etwas wie einer Kryptoherrschaft durch Einung entgehen sie vor allem dem ewigen Machtneid der Vielen, hinter deren Zusammenschluss sie verschwinden. Ihre Stär-

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Buch 4: Staatseinung

ke leihen sie sozusagen den schwächeren Partnern, den Verbandsbürgern und Mitarbeitern, in der Einung kommt sie ihnen mit Zinsen zurück. In der Vertretung der Geeinten gewinnen die Stärkeren etwas von der Kraft früherer Patriarchalisierungen. Im Eintreten für jene Schwächeren, die nicht nur hinter dem Patron stehen, sondern sich ihm auch, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, in Einung anvertraut haben - und dieses Sich-Anvertrauen liegt eben auch in jedem Zusammenschluss - herrscht die stärkere Persönlichkeit mit der Kraft und im Namen des Schwächerenschutzes, daraus kommt ihr die ganze Kraft der moralischen Legitimation. Nicht als die Stärkeren erscheinen diese Persönlichkeiten, sieht man sie stets in der Bewegung der Einungen, nicht als die Besseren, sondern zuallererst als die Aktiveren; darauf versucht, nicht ohne Erfolg, die Demokratie den „Willen zur Macht" zu reduzieren, dass diese Führer nicht die höheren Menschen, sondern die beweglicheren seien und die bewegteren - bis hin zu den Gefahren des politischen Schauspielertums und der inneren Zerrissenheit der Persönlichkeiten, welche die Schwächeren nur allzu gerne auf den staatlichen Bühnen vor sich agieren lassen. Die Stärkeren stehen in diesen Vorgängen der Einung über allen Monopolisierungsphobien der vielen Schwächeren, sie agieren ja ständig auf dem „gemeinsamen Markt" der Kontakte und Zusammenschlüsse; nicht „Große" schließen sich dort zusammen, sondern „Kleine und Große", in ständigem Austausch von Marktvorgängen. Gewisse Feudalisierungen mag es in diesen Einungsabläufen geben, in den immer wiederholten Überzeugungs- und Verflechtungsfunktionen, welche die kleinere Zahl erfüllt. Doch das Ziel ist eben der Zusammenschluss, nicht die Herrschaft über einen Kreis, der, als „Gefolgschaft", wesentlich zu gehorchen hätte. Einung mag dann wohl als indirekte Herrschaft von Stärkeren erscheinen, deren „Wille zur Macht" über die Zusammenschlüsse geleitet wird; doch dort zeigt er sich eben vielfach gebrochen, in ständigem Zureden und Fragenmüssen, und er befriedigt sein Aktivitätsbedürfnis nicht zuletzt auch darin.

c) ... und Mitherrschaft

der Schwächeren

Staatseinung bedeutet nicht nur politische Einbeziehung der Schwächeren, sondern ihre wahre Mitherrschaft, auf allen Ebenen. Staatskräfte aus Bürgerängsten bringen gerade diese größeren Kreise mit, sie müssen sie sich bewahren, sie ständig in die politische Gemeinschaft hinein entbinden. Nicht selten schließen sie sich, bewusst als Schwächerenzirkel, innerhalb ihrer Vertretungen zusammen, steigern so den Reichtum der Einungsformen in diesen: Selbst wo der Sozialismus volksparteilich erweitert auftritt, gibt es in ihm wiederum Arbeitnehmer-Gruppierungen. Doch der Wille der Schwächeren zur Macht - gerade ihn gibt es ja - muss nicht als solcher geweckt werden; er findet Chance, Verfahren und Ordnung in jenen

C. Einung - Kraft zum Staat

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Einungen, in denen sich die Schwächeren die Kräfte der stärkeren Glieder des Zusammenschlusses appropriieren. Hier wirkt zunächst schon die Rechtsordnung als solche mit den vielfachen Kräften des Advokatorischen, indem die zahllosen Klientelen ihre Interessen zur Geltung bringen. Die Demokratie setzt darauf, dass dies in Einungsvorgängen zwischen den Gruppenangehörigen und ihren politischökonomischen Wortführern erfolgt, deren Ergebnisse dann durch politische Führerpersönlichkeiten nach außen vertreten werden - nicht dass hier einzelne versteckte Stärkere sich advokatorische Macht über die eigentlich schwächeren Politiker kaufen. Dieser Mechanismus kann politisch nur funktionieren, wenn dabei in Einungen gedacht wird, nicht in einzelnen Kaufverträgen über anwaltliche Geschicklichkeit. Und die Idee der Advokatur darf nicht auf die Vertretung isolierter Einzelinteressen reduziert werden; es gilt, den großen Staatsadvokaten wieder zu entdecken, in einer ciceronianischen Renaissance, welcher gebündelte, letztlich öffentliche Interessen repräsentiert, und auch jene schwächeren Klienten-Bürger, die sich auf ihre Vertretung durch ihn geeinigt haben. Durch Mehrheitsmechanismen im Einungsvorgang üben die Schwächeren Herrschaft aus, ja sie herrschen über die Stärkeren, deren Gewicht sie in ihren Willen einbinden. Bei aller Kritik an der geistig schwächeren Mehrheit: dass sich in ihr auch die stärkeren Mehrheitsführer finden, das hat sie, trotz deren gelegentlicher Charakterlosigkeit, noch immer lebensfähig erhalten, allein aus der Kraft der Einung. Ist es nicht die Idee dieser Schwächerenherrschaft, dass sich geradezu die Vielen einige Stärkere „als Vertreter halten" - diese damit auch näher an der Macht haltend? Eine Überzeugung legitimiert die Herrschaft der Schwachen in Einung mit Stärkeren: dass die Interessen jener nicht so ausgeprägt seien wie die der letzteren, sich daher leichter zusammenfinden, adaptieren, oder eben von einzelnen Mehrheitsführern leichter zusammengeschlossen werden können als die der stets vielfach differenzierten „höheren Schichten". Die Einungsneigung des „kleinen Mannes", politisch und überhaupt verbandlich, ist soziologisch so eindeutig beweisbar, eben aus den Ängsten seiner Schwachheit heraus, dass er damit immer näher bei der Macht stehen wird als alle Stärkeren. Diese „Mitte der Einung", das Condominium der Schwachen und Stärkeren, darf weder verlassen werden in Richtung auf die Macht der Stärkeren im Namen der Schwachen, wie sie zuzeiten im kirchlichen Bereich versucht wurde, noch durch die reine Gewalt von unten. Sie, die Herrschaft des Proletariats, ballt sich ja sogleich zu Institutionen zusammen, Einung hört auf, der Mensch wird eliminiert, mit all seinen Schwächen - und Einungskräften. Vielleicht muss Einung geradezu definiert werden als Zusammenschluss verschiedenartiger politischer Potenzen, nur dann kann sie, von Anfang an, „staatsgeneigt" sein, selbst wenn sie sich außerhalb der Staatlichkeit vollzieht, weil diese in einer Demokratie ganz wesentlich der Zusammenschluss verschiedener politischer Mächtigkeiten ist; und so sollte auf allen Ebenen stets stärkerer und schwä59 Leisner

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Buch 4: Staatseinung

cherer „Wille zur Macht" sich verbinden. Dies sind die wesentlich vertikalen Strukturen aller Staatseinung, ohne die es den Kreislauf des Machttransfers nicht geben kann, von unten nach oben und zurück. Die große Gefahr für all das, was hier als demokratische Ordnung beschrieben wird, ist jene Feudalisierung, welche in schichtenmäßiger Einung nur gleichartig-gleich Starkes zusammenfasst. Sie verfehlt sogar den Zusammenschluss auf ihrer Ebene, wo jeder sich selbst genug sein kann; Kräfte entbindet sie, wenn überhaupt, nur für dieses Niveau, nicht weiter hinaus und hinauf in die Staatlichkeit, weil sich die feudal Geeinten absperren wollen vom Kontakt mit Schwächeren wie Stärkeren. Und der große Feudalismus der Vergangenheit war ja auch nicht der der Schichten, in die er später erstarrte, sondern lebendig-vertikale Pyramide, in welcher sich Schwächere und Stärkere laufend einten, Führer und Gefolgschaften. Wo aber Stärkere und Schwächere heute „nur unter sich bleiben", da entwickelt sich rasch die zerstörende Kraft des Verbands- und des politischen Schichten-Feudalismus, von den herrschenden Aristokratien und Clans bis hin zu den Verbands- und Staatsbürokratien, welche jene noch immer getragen haben. Einung ist etwas ganz anderes, das zeigt diese Analyse: vielfache Kräfte von allen her, als eine Macht zusammengefasst.

d) Einungswirkungen

als Marktkräfte

Der „Markt" gilt mit Recht nicht nur als idealer Entwicklungsraum der Volksherrschaft, sondern geradezu als ein System, welches der politischen Demokratie im Ökonomischen entspricht. Als plébiscite de tous les jours bedeutet er das Kernstück der „Wirtschaftsdemokratie" im materiellen Sinn. Ständige Kontakte zwischen vielen und vielartigen „Marktbürgern" finden dort statt, ein wirtschaftlicher Austausch zwischen ökonomisch Stärkeren und Schwächeren. Die eben beschriebenen Einungsvorgänge, aus denen sich die Staatseinung entscheidende Kräfte für das Leben der Gemeinschaft erwartet, unterscheiden sich von solchen Marktbewegungen sicher durch die grundsätzlich festeren Verbindungen, zu denen es bei ihren Zusammenschlüssen kommt; und doch ist die Analogie zwischen den politisch-gesellschaftlichen Einungsräumen und dem Markt unübersehbar: Auch dort finden ja laufend Kontakte statt, die sich durchaus nicht immer zu ständigen Bindungen verdichten, vieles bleibt, wie dargelegt, auf der Stufe der Kontakte und Kooperationen, gerade daraus entwickelt sich ein stets erneuerter Reichtum der Einungsformen. Grundsätzlich „in alle Richtungen" laufen die Marktbewegungen, jeder begegnet hier jedem - wenn die Einungen dies nicht realisieren, sie erstreben es jedenfalls - und auch die Staatseinung beruht zumindest auf der freien Kontaktfähigkeit aller Verwaltungseinheiten untereinander, dieser mit den Bürgern, und der Bürger wieder untereinander. Staatseinung bedeutet schließlich, wie schon gesagt, wesentlich Austausch zwischen verschiedenartigen Trägern dieser Ordnung, Stärkeren und Schwächeren. Sollte daher nicht geradezu

C. Einung - Kraft zum Staat

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von einem „Markt der Einungen" gesprochen, ein solcher wenn nicht institutionalisiert, so doch in institutionellem Rahmen geschützt werden, in ähnlicher Allgemeinheit wie der freie Markt in der Demokratie? Auch den wirtschaftlichen Märkten ist ja die Tendenz eigen, „sich zu schließen", immer mehr „zusammenzuwachsen", nachdem sie in vielen einzelnen Kontakten angebahnt, aus ihnen in laufende Marktkooperation hinaufgewachsen sind. Die voll „vernetzten" Märkte sind, jeder für sich und in ihrem Verbund, letztlich nichts anderes als Einungen im Werden, mögen sie auch ihre entscheidenden Kräfte gerade aus der Flexibilität, der Unvollendung ihrer Zusammenschlüsse ziehen. Dann aber ist es nicht nur legitim, die Formen der politischen, der Staatseinung in Analogie zu den mächtigen Entwicklungen der ökonomischen Märkte zu sehen; diese selbst wirken, mit all ihren zugleich immer auch politischen Effekten, als Formen der Einung, sie sind die allgemeinsten Formen der Wirtschaftseinung in der Demokratie. Geradezu etwas wie ein Föderalprinzip ist hier wirksam, zwischen den Marktteilnehmern: So wie sich Kommunalisierung, Föderalisierung und Bundesstaatlichkeit aus- und übereinander aufbauen, so entfalten sich die Teilmärkte, kooperieren, gewinnen Anteil aneinander „von unten nach oben", schließen sich endlich zum großen Gesamtmarkt zusammen, der nun schon ganz deutlich - wenn auch leider erstmals - ins politische Bewusstsein tritt als „eine Macht, der man sich beugen muss", „gegen die nicht regiert werden kann". Entscheidend ist, dass dort überall, ebenso wie in den gesellschaftlichpolitischen Zusammenschlüssen, das eine „Marktprinzip" lebendig ist - als ein letztlich einheitlicher, irgendwie „nach oben" gerichteter Vorgang - was wäre dies anderes als das Einungsprinzip? Manche Folgerungen lassen sich aus dieser Groß-Analogie ziehen, welche die zu entwickelnde Dogmatik der Staatseinung befruchten können, vor allem diese: Einungsräume und Einungsvorgänge müssen derart flexibel ausgestaltet werden und bleiben, dass sich in ihnen etwas wie ein politischer Markt entfalten kann, mit demselben kraftspendenden Reichtum, auf dem heute das gesamte Weltwirtschaftssystem der Märkte beruht. Der wirtschaftliche Markt trägt jetzt bereits die Demokratie, es gilt ihn in allen möglichen Formen in die politische Ordnung hinein fortzusetzen, und dies kann vor allem gelingen mit Blick auf, mit dem Ziel der Einung. Die wirtschaftlichen Märkte erwachsen aus der kurzfristigen, grundsätzlich punktuellen Einung des Austauschs. Sie ziehen gerade daraus ihre belebende Kraft, die sie sogar der Staatsordnung weitergeben, in Geld und Freiheit. Auch die Staatseinung muss daher überall in solcher Punktualität und Kurzfristigkeit grundsätzlich gehalten werden. Die Auflösung von Bindungen, die morgen erneut geknüpft werden, in der Wiederholung derselben Kontakte, mehr in Übungen als in Gewohnheitsrecht - all dies muss das Ziel der Staatseinung stets bleiben, nicht die Verfestigung der Bindungen zu unwiderruflichen Institutionen. Wenn der Markt einen Grundsatz nicht kennt, so den der endgültigen Stabilität; für das Staatsrecht mag es 59*

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Buch 4: Staatseinung

eine Lästerung sein: Auch der Staat, und all seine Organisationen dürfen sich nicht weiter aus Unwiderruflichkeit definieren. Spekulation schließlich ist das unverzichtbare, überall wirkende, das „gute" Zentralprinzip der wirtschaftlichen Mächte, hier hat der Marktbürger seinen Frieden mit der Unvorhersehbarkeit der Zukunft gemacht. Der Kampf der Politik gegen die Spekulation bedeutet eine verhängnisvolle Verkennung der menschlichen Dynamik im Wirtschaftlichen; noch verheerender wäre die Übertragung solcher Ängste auf die Politik: Sie würde dann nichts anderes anstreben als die letzte Steigerung eines Institutionenstaates, der nichts der Schätzung überlassen will. Staatseinung dagegen, Kontakte und Kooperationen außerhalb festgefügter Formen, selbst Vertraglichkeiten und Organisationen, sind nur dann politisch zukunftsträchtig, wenn sie den Raum bieten, in welchem sich politische Spekulation im weiten Sinne entfaltet, wo sie auf Unvorhergesehenes sogleich mit Gegenspekulationen zu reagieren vermag. Markt bedeutet wirtschaftliches Risiko - Einung muss die Kraft zum politischen Risiko in ihren Formen nicht nur gestatten, sondern laufend hervorbringen, in den Parteien ohne allzu festes Programm, in der Verwaltungskooperation ohne allzu dicht schon formierte Planung - eben „Einung als Programm", in der Form der „Verwaltungskooperation, die als solche Planung ist". Die Spekulantenangst einer statisch-blockhaften Staatsvergangenheit muss, nach der privaten Wirtschaft, nun auch endlich dem öffentlichen Recht genommen werden.

e) Einungskräfte

- „öffentlicher

Mehrwert"

Unter dieser These ist zu verstehen: Der beschriebene „Markt der Einung" entbindet aus sich laufend „öffentliche Wohlfahrtskräfte", wie die ökonomischen Märkte der sicherste Weg des privaten Weifare stets gewesen sind. So wie der Staat, in Steuern und Arbeitsplatzeffekten, in Versorgungssicherheit und kultureller Vielfalt, von den Märkten aller Art profitiert, an privater Einung partizipiert, so setzt erst recht die ins Öffentliche hinein fortgeführte Staatseinung laufend Wirkungen frei, die mehr sind als Nutzen des Regierens: Kräfte des Herrschens selbst. Der Vorgang ist hier derselbe wie in der kraftspendenden Wirkung der privaten Märkte in die politische Ordnung hinein: Staatliche Herrschaftsanstrengungen werden ersetzt durch die Einungskräfte, welche sich selbst zu ordnen vermögen, die Verwaltungseinung ersetzt - ein ganz deutliches Beispiel - die lastenden, hochgebauten Hierarchien. Wie die Wirtschaftslenkung von den ökonomischen Märkten weithin übernommen worden ist, welche der Staat mit seinen östlichen Riesenbürokratien nie voll hat leisten können - so kann und muss sich Vergleichbares auch im politischen Bereich vollziehen: der Rückzug der staatlichen Befehlsmacht auf die „äußersten Rahmen", innerhalb derer sich die politische Selbstlenkung in Einungsvorgängen vollzieht; und die ständigen Ängste der „Fehlentwicklungen",

C. Einung - Kraft zum Staat

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die es zu „korrigieren" gilt, sollten endlich durch die Erfahrungen der großen wirtschaftlichen Märkte genommen werden. Zeitweise politische Fehlentwicklung ist Risiko und Preis, den die Staatseinung ebenso zahlen muss wie die Märkte der Ökonomie, sicher, dass das Ordnungsergebnis am Ende gut sein wird. Doch ein solcher „öffentlicher Mehr-Wert", welchen die Einungsvorgänge nach außen, nach oben in den politischen Raum hinein abgeben, beschränkt sich nicht auf derartige Entlastung von Herrschaft, von mühsam sich durchsetzendem Befehl, wo Einung natürlich wachsen kann: So wie die wirtschaftlichen Märkte, nach aller Erfahrung, am Ende ein Mehr an Gütern und Dienstleistungen hervorbringen, vor allem aber den Marktbürgern bereitstellen, aus der Verdichtung und Intensivierung der Kreisläufe heraus - ebenso muss all dies aus den „Märkten der Staatseinung" zu erwarten sein, ein „Mehr an öffentlichen Gütern", von dem gemischten privatöffentlichen Bereich bis hin zu den Räumen der alten Staatlichkeit, etwa der „Sicherheit und Ordnung" als öffentlichem Gut. Dies ist weit mehr als irrationale Hoffnung, gerade aus der Sicht des öffentlichen Kernbegriffs der Ordnung: Wenn sie sich aus den in Einung teilgeordneten Bereichen aufbaut, nicht ständig von oben durchgesetzt werden muss, so ist insgesamt ein Mehr von ihr vorhanden, mit weniger Mitteln durchgesetzt - der Föderalismus hat es immer wieder bewiesen. Einung als Verbindung von Schwach und Stark, als Austausch vielfältiger „politischer Güter", als „politische Bedürfnisbefriedigung", bis hin zu einer marktähnlichen Verallgemeinerung von Staatseinungen - wäre dies nicht ein Quell politischer Kraft?

3. Potenzierung des Menschen in der Doppelrolle Individuum - Einungsbürger „Einungskräfte zum Staat" entbinden sich, wie dargestellt, aus den Vorgängen der Zusammenschlüsse, betrachtet in der objektiven Wirkung solcher Mechanismen. Nun aber muss der Blick sich auf die Einungssubjekte richten, zuallererst auf den Bürger, dann aber auch auf die Gewalt- und Verwaltungseinheiten, die sich zusammenschließen. Werden sie darin „stärker", so wird es dadurch auch ihr Staat. Die These dieses Abschnitts lautet: Einungssubjekte werden durch Staatseinung potenziert, darin, dass sie in solcher Einungsstaatlichkeit leben, ständigen Zwängen des Zusammenschlusses unterliegen - damit aber vor allem auch dem Zwang zur Bewahrung der eigenen Individualität in den Kontakten und Bindungen mit anderen. Kraft aus ständigem demokratischen Kontakt, vor allem in der laufenden Bewährung der politisch geforderten eigenen Persönlichkeit - die Schweizer Föderalerfahrung hat das stets eindrucksvoll bewiesen. Dies alles sei unter dem Wort von der kraftspendenden „Doppelrolle" zusammengefasst; deutlich sichtbar wird sie beim Einungsbürger, Realität ist sie, wo immer sich Einheiten zusammenschließen.

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Buch 4: Staatseinung

a) Die grundlegende Doppelrolle: der Mensch als Grundrechtsträger und Einungsbürger Das demokratische Staatsrecht hat die wesentliche Doppelrolle derer stets gesehen, auf denen es sich letztlich aufbaut: „der Menschen" und „der Bürger". Doch nur unvollständig hat es sie unterschieden, in der staatsgrundsätzlichen Trennung von Menschen- und Bürgerrechten, die, dem so schönen Zusammenklang der Worte folgend, oft allzu rasch zur Einheitsrolle zusammengefasst worden sind, eben weil die Staatseinung nicht voll im Blick lag. Ausgangspunkt ist, dass politische Rollenvielfalt, wie jede andere, nicht zu Konfusion und Verflachung führt, sondern, richtig verstanden, zur Potenzierung menschlicher Kräfte in allen Bereichen. So gilt es denn, grundsätzlich streng zu trennen, zum einen jenen „Menschen", der seine Individualität bewahren, der in ihr unauflöslich, undurchdringlich sein und bleiben muss, will er zum anderen den „laufenden Einungsvorgang" in der „zweiten Rolle" des Bürgers tragen - ertragen. Staatsrechtlich bedeutet dies die grundsätzliche Notwendigkeit des unbedingt geschützten Individuums als Grundrechtsträger, damit dann diese selbe feste Einheit als Einungsbürger wirken kann. Demokratischer Kosmopolitismus, politisch gut gemeint, mehr noch: gut klingend, wird hier zur schweren Gefahr, jeder Mensch gleich - daher „jeder Mensch Bürger", Menschenrechte als Bürgerrechte und umgekehrt - dies ist ein wahrhaft schicksalhaftes Missverständnis aus der Sicht des Einungsstaates, der damit die „Kraft aus der Doppelrolle" verfehlt, mehr noch: seinen eigentlichen Zentralbegriff, die Einung selbst, aufhebt, weil er deren Subjekte in ihr auflösen will. Der alte gute, französisch-revolutionäre Sinn der Unterscheidung der Menschenund Bürgerrechte war es doch nie, beide gleichzusetzen, damit sie dann beide „vom Staat ausgestaltet" würden, letztlich zu seiner Disposition stünden. Unverletzlich und geheiligt sollten die Menschenrechte sein, Grundlage aller Sozialvertraglichkeit, ihr Kernwort lautet „inaliénable" - unveräußerlich, keiner Einung je zugänglich, weil eben deren Grundlage, ihr Kraftquell, stets unverändert bestehen bleiben muss. In den Freiheitsräumen der Bürgerrechte dagegen begab sich der Mensch in Einungen mit anderen, hier musste er ganz wesentlich seine Freiheit veräußern, um andere, „öffentliche" Güter in Einung daraus wieder zu gewinnen. Doch sogleich begannen die staatsrechtlichen Missverständnisse, eben weil nicht hinreichend in Staatseinung gedacht wurde: Als Bürgerrechte erschienen bald nicht nur die Ansprüche aus dem Status activus, jenes Wahlrecht vor allem, auf das allzu rasch die Einungsrechte des Bürgers beschränkt wurden. Seine wirtschaftliche Tätigkeit, Gewerbe- und Berufsfreiheit, wurden vollständig in jene Bürgerräume verlegt, wo sie letztlich der Egoismus der nationalen Gemeinschaften dem Zugriff der Staatlichkeit vorbehalten, andere Menschen von ihnen ausnehmen wollte. So ist es zu einem unsystematischen Konglomerat von „Bürgerrechten" selbst noch im Grundgesetz gekommen, wo das Eigentum „dem Menschen" vor-

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behalten wird, die Berufsfreiheit nur dem Bürger, während die Meinungsfreiheit wieder jedermann in Anspruch nehmen darf. Erkannt werden muss dagegen aus der Sicht der Staatseinung: Die zentralen Freiheitsrechte stehen dem Menschen zu, es gilt, sie systematisch abzugrenzen von denjenigen, deren er zu Einungen bedarf, welche wesentlich staatsbezogen, staatsgeöffnet sind - dies nur sind wahre Bürgerrechte. In diesem Sinne kann die politische Demonstrationsfreiheit doch nur ein Bürgerrecht sein, ebenso jene Koalitionsfreiheit, welche längst den Raum der rein ökonomischen Betätigung verlassen hat, von einem Sozialismus aber, der hier die Flagge des Internationalismus nicht einholen will, zu Unrecht als Menschenrecht propagiert wird. Ähnliche, nicht geringere Gefahren bringt die Konfusion zwischen Menschenund Bürgerrechten darin hervor, dass nun auch alle fundamentalen Rechte des Status activus volle Grundrechtsqualität erhalten sollen. Die erste Folgerung ist dann sogleich eine Relativierung des Schutzes jener Grundrechtlichkeit, die selbstverständlich in den politisch akzentuierten Einungsprozessen, beim Wahlrecht insbesondere, keine absolute sein kann. Der nächste, folgerichtige Schritt ist die Anerkennung des Wahlrechts für jedermann, der es, mehr oder weniger zufällig, im Staatsgebiet ausüben kann. Warum sollte dies nur auf den lange Ansässigen beschränkt werden, wenn es doch ein Grund- und damit, nach der beschriebenen Rechte-Konfusion, zugleich ein Menschenrecht ist? Überall werden dabei die Doppelrollen zuerst falsch zugeschnitten, sodann zusammengefasst und schließlich gemeinsam relativiert, dem staatlichen Zugriff geöffnet. Staatseinung muss hier mit einer anderen Dogmatik ansetzen: Die volle grundrechtliche Sicherung „des Menschen als solchen", seine unveräußerlichen Rechte, gilt es wieder neu zu entdecken. Dann erst kann „der Bürger" mit seinen Einungsberechtigungen bestimmt werden, welche immer „die anderen", mit denen er sich zusammenschließt, mitdefinieren dürfen - sie stehen deshalb auch, in Grenzen, zur Disposition des Staates, der so in Einung entstehen soll, auf seine eigene Genesis einen, begrenzten, Einfluss ausüben darf. Hier weisen die europäischen Einungen den richtigen Weg: Sie erzwingen für den Gemeinschaftsbürger als Menschen die, auch ökonomischen, Menschenrechte überall, die Regelung der politischen Bürgerrechte, der Einungsrolle des Menschen, behalten sie noch immer den Staaten vor. Insgesamt verlangt also diese neue Rollentrennung einen großen Mut zur Liberalisierung, Anerkennung von uneinschränkbaren Grundrechten als Ausgangspunkt späterer Einung - und eine ebenso große Flexibilisierung der Einungsrechte, die es weithin erst zu entdecken und zu verrechtlichen gilt.

b) Einungsrolle - „übertragener Wirkungskreis"? Denn eine noch größere Gefahr für die grundrechtliche Freiheit und den Einungsstaat steht ja vor der Tür: Wenn in kosmopolitisierendem Demokratismus

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Menschen- und Bürgerrechte zusammengefasst werden in einer großen, vom Staat einschränkbaren Kategorie der Grundrechte, so mag dies durchaus als der „eigene Bereich" des so konstituierten „Menschen als Bürger" erscheinen. Doch da er allzu weit gezogen wird, muss er alsbald weithin reglementiert werden, oder, was noch gefährlicher erscheint, er verfällt einer wesentlichen Kollektivierung, weil Einungskategorien schon in die Grundrechtlichkeit hineingenommen, in ihr „mitgedacht" werden. Dieser Weg wird bereits dort beschritten, wo Grundrechtsdogmatik immer mehr ungeschriebene „Gemeinschaftsschranken" der Grundrechte entdeckt, weil diese „ja nur zusammen mit anderen ausgeübt" werden könnten - dies sollte dem Einungsbereich eigen sein, doch es wird bereits der individualistische Kern in Einungskategorien aufgelöst, dynamisiert. Und dann kann folgerichtig auch der regelnde Staat in diesen „eigenen", den Grundrechtsbereich eindringen, dessen feste Sicherungsräume in Verhältnismäßigkeit relativieren. Dieser große Rechtsverlust des Individualbereichs muss zum Energieverlust für die Einungen führen, die bereits in den Kern der Persönlichkeit jener Einungsträger vorverlegt werden, der doch unveräußerlich, unauflöslich geschützt sein sollte im Individualismus, fern von jeder Einung. Um es deutlich zu wiederholen: Der Einungsstaat hat keine Chance, wenn er nicht bei dem isolierten Individuum beginnen und dieses in seiner Freiheit, wenn auch begrenzt, belassen will. Allein die entscheidende zweite Phase, in der dieser Mensch heraustritt aus sich, mit anderen sich verbindet, führt zur Staatseinung, zum Staat; dieser liegt nicht schon „im Herzen des Menschen", der „gar nicht ohne Gemeinschaft gedacht werden kann", wie es sinngemäß das Bundesverfassungsgericht in bedenklicher Soziologisierung formuliert hat. Staatseinung bedeutet anderes und mehr als rechtliche Festschreibung (angeblicher) soziologischer Erkenntnisse von dem unauflöslichen Miteinander von Gemeinschaft und Individuum: Sie will gerade beides trennen, damit der Einzelne im kontrollierten Fusionsvorgang der Einung erst recht Kräfte an die Gemeinschaft abgebe. Nicht geringer ist die weitere Gefahr: Auf die Auflösung des Individualkreises des Menschen in die Kollektivierung immanenter Gemeinschaftsbindungen folgt die Umwandlung der Bürgerrolle, dessen, was hier als Einungsbereich verstanden wird, in eine Art von übertragenem Wirkungskreis, in dem der Staat Einungs- und Wahlrechte nicht an-, sondern zuerkennt, verleiht. Dann aber ist die gesamte Bürgerrolle nurmehr Staatskonzession, die Einung nicht mehr Bürgerwerk, sondern Staatsorganisation, Staatseinung findet nicht mehr statt, weil der Staat von der Doppelrolle die eine Seite kontrolliert, die andere sich appropriiert. Demokraten mögen auf der Hut sein: Im Zentrum des Verwaltungsrechts der Staatsorganisation stehen die Begriffe des eigenen und des übertragenen Wirkungskreises, sie gelten gerade für jene Selbstverwaltungskörper, denen hier auch Einungskraft zuerkannt (werden) wird. Werden sie in Zusammenhang gebracht mit den Menschen- und Bürgerrechten, so droht unter dem schönen Schein der Erweiterung der Grundrechtlichkeit in Wirklichkeit die Renaissance des gewichtigen In-

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stitutionenstaates, der heute Konzessionen vergibt, morgen Aufgaben dem Bürger stellt - zuallererst dann natürlich nicht die Aufgabe, seinen Staat in freier Einung zu bilden, sondern ihm als Teil seiner Organisation zu gehorchen. Die Doppelrolle des Menschen und Bürgers wird heute allzu rasch zusammengefasst und in diesem Sinne gesehen: dass er als Wähler letztlich Staatsorgan sei. Für Demokraten muss dies ein Sakrileg sein und bleiben: In den Wahlen und allen anderen politischen Einungen findet Staatsgenesis statt, nicht Staatstätigkeit.

c) Die Doppelrolle - Stärkung der Persönlichkeitsidentität des Einungssubjekts Was hier darzustellen ist, gilt letztlich für den Einungsbürger wie für die Organisationseinung, mag es auch beim Menschen besonders deutlich in Erscheinung treten: Als Einungssubjekt wird er stärker in der Erkenntnis der beiden Rollen, welche er zusammen und doch getrennt zu spielen hat; sie potenzieren sich gegenseitig, stärken den Einungsträger in der Verantwortung der Staatseinung wie in der Abwehr von deren Übermacht. Staatseinung schließt ein „Dahinleben der Bürger" wie auch ein sich selbst befriedigendes bürokratisches Dahinexistieren der Organisationseinheiten aus. Bereits in der Gegenüberstellung der beiden Rollen, welche zu spielen sind, im Eigenbereich wie auch immer wieder in Einung, intensiviert sich laufend deren Bewusstwerdung, vor allem die der Bedeutung der Individualität als Quell und Grundlage der Einung. Einungskategorien wirken hier bis in persönliche, ihnen unzugänglich erscheinende Bereiche hinein, ohne diese jedoch zu vergewaltigen: In der Abgrenzung der Rollen wird vor allem der private Bereich auch als „menschliche Befugnis", nicht nur als negativ-ausgegrenzte „Geheimnis-Privacy", verstanden, so wie eben der Mensch und Bürger in seinen „Rechten und Befugnissen gegen sich selbst" als ein Ausgangspunkt der Staatseinung von der großen Philosophie seit Piaton stets gesehen worden ist. Die vielfachen Einungs-Mechanismen, in welche sich der Bürger, und auch die Verwaltungseinheit, eingebunden sieht, strahlen notwendig auch auf deren Verhaltensweisen im eigentlichen Individualbereich aus: Weil dieser ebenfalls als Befugnis erkannt wird, gegen sich selbst, zur Erhaltung der Individualität als Grundlage der Einungen, erwächst daraus jene eigentümliche, letztlich undefinierbare Verantwortlichkeit, welche die Demokratie im Bürger voraussetzt; er muss sich hier zuallererst „mit sich selbst einig werden", indem er sich zur Persönlichkeit schließt, wie er sich dann mit anderen in Einung zusammenfindet. In dieser Fernwirkung der Einungen in den individuellen Bereich hinein, der ihre Grundlage darstellt, erscheint aber die Staatseinung von Anfang an nicht als Fremdbestimmung, gegen welche sich der eigene Wille abschließt. Der Bürger, die

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Einungseinheit, „hält sich" vielmehr in einer Art von Parallelisierung von privatem und öffentlichem Verhalten; beides, nicht nur das Private, wird letztlich als Eigenbestimmung gefühlt und sodann geübt. Darin liegt eine Erweiterung, eine Potenzierung, nicht eine Verengung der Privatsphäre des Bürgers, des Innenraumes der einungsbereiten Verwaltungseinheit: Sie werden in Richtung auf die öffentliche Einungssphäre geöffnet, erweitert, gewinnen von dort laufend Informationen, welche im Innenraum der Privatheit umgesetzt werden zu rein internem Nutzen. Präzision wird gelernt in einem Denken in Kontrollkategorien, welche in der Einung mit anderen notwendig zum Tragen kommen - aber nicht in den Formen einer Fremdüberwachung, die Individual- oder Verwaltungs-Privacy entziehen will, sondern in einer Einung, in der man sich selbst öffnet, so wie es auch die Partner tun und verlangen. Wer die Rolle des Einungsbürgers zu spielen hat, wird aus dieser Verantwortung heraus immer wieder auch sein eigenes, ganz privates Leben einungskonform gestalten. Der in seinem Verband zusammengeschlossene Gewerbetreibende oder freiberuflich Tätige ist dafür ebenso ein Beispiel wie eine Verwaltungseinheit, welche nur in Verwaltungskooperationen der Bürokratiegefahr entgehen kann, weil die Kooperationsöffnungen schon in ihren Innenräumen ein ganz anderes, kontrolliertes, später in Einung rechenbares Verhalten erzwingen. Der Einungsbürger „ist nie mehr ganz allein". Nicht nur, dass er sich, wie dargestellt, laufend „mit sich selbst zu einen hat", damit er sich eine feste Grundlage für seine Zusammenschlüsse erhalte - das Unternehmen, die Verwaltungseinheit, welche sich in engere verbandliche Bindungen begeben will, muss, darf nicht ein „Reich sein, das in sich zerfällt". Wenn die Einung eintritt, so wird ja ständig neues „Miteigentum im Zusammenschluss" begründet, das es mitzuverwalten gilt. Damit erweitert sich die Verantwortung - wiederum muss sich die Persönlichkeit als Einungsträger darin verstärken. Vor allem aber wird die Individualität als Grundlage der Einung eben immer stärker bewusst - und dass sie vor allem nicht in Einheit aufgelöst werden, untergehen darf. Den Einungsbürger, der sich ständig in der Spannung zwischen Zusammenschluss und Individualität sieht, lässt diese Einheitsgefahr die Einungschance laufend fühlen, der großen virtuellen Gefahr der Einungsrolle wird er dann die besonders starke Individualrolle entgegensetzen. Der Bürger in der Volksgemeinschaft wird immer lauter rufen, Durchsetzung erlernen, der wirtschaftliche Verbandsbürger seine Unternehmensposition ausbauen wollen, auf dass er etwas bedeute in seinem Zusammenschluss. Dass der eigene Betrieb den Eitelkeiten der Verbandsfürstenrolle geopfert werde, ist sicher weder Ideal noch Regel der Einungen. Und ausruhen kann sich der Bürger in der erdrückenden Einheit, nicht in fordernder Einung. Nicht zuletzt aber erfolgt eine „Persönlichkeitspotenzierung durch Einung" schon dadurch, dass die beiden Rollen überhaupt gespielt werden müssen, dass ein Zwang zu ihrer beider Ausfüllung entsteht, ständig wirkt.

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Als „Mensch" und als „Bürger", als „Gestalterin von Land und Heimat" und als „Teil des Gesamtstaats" zugleich steht die Einungseinheit laufend im Rampenlicht, dem Zwang unterworfen, sich zu öffnen, voll sich darzustellen in allem und jedem - und sich, vor all dem, all dessen bewusst zu sein. Einung als Mechanismus, als Spiel in Doppel-, Mehrfachrollen ist ein eminent rationaler Vorgang; nicht Staatsromantik entfaltet sich hier, sondern Staatsmathematik. Staatseinung aber vollzieht sich ganz wesentlich in solchem Rampenlicht, da die Bewusstwerdung der verschiedenen Rollen in immer weiterer Öffentlichkeit erfolgt; hier wird das Wesen der Staatseinung als demokratischer Vorgang der Veröffentlichung einsichtig.

d) Doppelrolle, Rollenwechsel, Rollenverbindung:

Einungskräfte

Der Bürger agiert nicht in der einheitlichen Rolle des „Individuums in der Gemeinschaft", sondern in der Doppelrolle und Spannungslage des Menschen einer-, des Einungsbürgers andererseits. Der Verwaltungsträger, welcher „eigene" und „übertragene" Aufgaben erledigt, ist, bei aller organisatorischen Einheit, letztlich zwei Herren verpflichtet. Die gleichzeitige Doppelrolle der Individualitätsbewahrung einer-, des Einungsvollzugs andererseits ist überall sichtbar, und sie potenziert, wie noch nicht hinreichend erkannt worden ist, allenthalten die Persönlichkeit der Einungsträger. Wer ständig eine zweite Rolle üben und ausfüllen muss, erwirbt auch eine weitere „Kompetenz" - gerade im heutigen Verständnis drückt das Wort die Erweiterung der Fähigkeiten durch Aufgabenerfüllung aus. Zwei Befugnisbereiche einem Träger zugeordnet, „zwei Personen in einer" - darin liegt, zumindest, eine quantifizierende Erweiterung der Persönlichkeit, des Bürgers, der eben Eigenes verwaltet und Gemeinsames mit anderen, der Verwaltungseinheit, die für einen Hoheitsträger tätig ist und doch, über dessen Kompetenzgrenzen hinaus, mit einem anderen kooperiert, darin den „absoluten Verwaltungsindividualismus" der strengen rechtsstaatlichen Befugnisordnung überwindet. In der Person der Einungsträger kommt es dann notwendig und ständig zum Rollenwechsel, bis hin zum Rollenparallelismus von Identitätsbewahrung und Einung, damit aber zu einer weiteren und wesentlichen Persönlichkeitspotenzierung. Dass Mehrfachrollen an sich schon, laufender Rollenwechsel erst recht, besondere Kraft verlangen, dass die Spannung nicht übersteigert werden darf, entspricht soziologischer Erkenntnis; all dies verleiht aber auch immer neue Kräfte, so wie die Schauspielerpersönlichkeit am Reichtum der Rollenvielfalt wächst. Der Blick, verengt im Bereich der kleineren, wahrhaft „eigenen" Zuständigkeiten, weitet sich, das Größere, zu dem sich jene zusammenschließen, verliert nicht an Raum, es gewinnt an Tiefe und Basisverbindung - dies ist das große Dogma und die insgesamt gute Erfahrung des Föderalismus. Der heute vielberufene Begriff der „Basis" hat im Öffentlichen Recht überhaupt nur aus der Sicht dieser Doppelrolle der Einungsträger eine fassbare Bedeutung,

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nur dann, wenn sie durch ständige Einungen in den Staat hinein- und hinaufwirkt; anderenfalls zerfällt die Gemeinschaft entweder in Anarchie, oder „Basis" ist ein Alibiwort für Akklamationen zu Vorentschiedenem. Informationsaustausch, ja wahrer „Rollendialog" findet im Bereich jedes Einungsträgers statt, deutlicher, weil kompetenzmäßig fassbar, tritt er gerade bei Verwaltungseinheiten in Erscheinung, die nicht nur ihre „eigenen Aufgaben" erfüllen, sondern sich im Zusammenschluss mit anderen potenzieren; die kommunale Kooperation hat gemeindlicher Sterilisierung entgegengewirkt. Denn Doppelrolle und Rollen Wechsel führen ja notwendig und rasch zur Rollenverbindung, damit erst recht zu einer starken Aktivierung der Einungssubjekte: Der Mensch sieht seine Privatinteressen zugleich als Bürgerpflichten in Einungsbezügen, so wie er umgekehrt seine Bürgerrechte, im Zusammenschluss mit anderen, rasch zugleich als private Berechtigungen empfindet - der Umweltschutz ist ein deutliches Beispiel. Und keine Gemeinde wird ihre eigenen Aufgaben anders erfüllen als mit ständigem Blick auf jene Verbundkompetenz, welche sie in Verbindung mit gleich- oder übergeordneten Einheiten, letztlich eben immer in Einung, zu erfüllen hat, so wie dies sich heute ja auch im Verhältnis zwischen „übergeordnetem Staat und kontrollierten Kommunen" immer mehr durchsetzt. Die beiden Rollen fallen eben in einer Trägerpersönlichkeit, in deren einheitlichem Bewusstsein zusammen; daraus entsteht vor allem, und ganz natürlich, wiederum eine laufende, starke Publizierung der Räume reiner Privatheit, nicht erzwungen durch lastenden Befehl, sondern aktiviert durch die Einungsaufgabe. Gerade in der Doppelrolle „Mensch - Einungsbürger" gibt das Individuum viel von seiner Kraft ab, und bewusst, in der Sicherheit, dass ihm ein eigener Rollenkern bleiben wird, dass ihm eben nicht der Staat gegenüber-, dass vielmehr „seine Einungen neben ihm stehen", ihm ganz nahe. Den öffentlichen Bediensteten, den Beamten vor allem, ist eine solche Doppelrolle stets bewusst gewesen: Einerseits sind sie Sachwalter der Staatlichkeit, andererseits selbst, als private Bürger, Gewaltunterworfene, mit deren Interessen ihre Sachwalterstellung laufend kollidiert. Im reinen, statischen Institutionenstaat ist diese Rollentrennung immer schwerer durch- und auszuhalten; Probleme der Staatstreue und des außerdienstlichen Verhaltens zeigen es. Mag die rechtliche Abgrenzung noch gelingen - im Bewusstsein des Beamten verstärkt sich ständig die Schizophrenie, dass er als Amtsträger jene Befehle laufend geben, hinter ihnen stehen soll, die er als Bürger abwehren möchte, ablehnt. Überhöhen lässt sich dies nur, in neu erfasster demokratischer Staatlichkeit, wenn der Beamte zugleich als Bürger und als Repräsentant sich einender Staatlichkeit verstanden wird. Wird sein Staat immer mehr gleichgesetzt mit einer Bürgerföderation, dann kann er in seine Einungsbefehle zugleich auch etwas von seinen eigenen Bürgerinteressen mit einfließen lassen; er gibt nicht mehr nur fremdbestimmende Befehle, er handelt wie ein Bürger, der den Zusammenschluss mit anderen in einer besonderen Rolle fördert. Ein solcher bürgernaher Beamter, wie

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er heute überall gepriesen wird, ist dann „einer von uns", weil er im Grunde nur hilft, dass wir uns einen. Je mehr dies im Beamtenbereich gelingt, desto näher ist dieser Bürgerstaat der Einungen; bürgernahe Beamtenschaft ist ein Kriterium für gelungene Einung. Der Staat erscheint dann hier geradezu als eine sich selbst verwaltende Genossenschaft, die eben hoheits- und damit auch beamtenfähig ist, doch ihre Amtsträger sind letztlich Genossen wie alle anderen, und eben darin deren Organe.

e) Das Schweizer Modell: Staatsstärkung durch einende Rollenvielfalt Das Wesen der zu Recht viel bewunderten Schweizer Staatlichkeit liegt nicht nur in ständigen Wahlen und Abstimmungen, der Einheit von Staats- und Verwaltungsrecht durch quasi-totale Demokratisierung; dies ist ein voll demokratischer Einungsstaat, der seine starke Staatlichkeit aus Rollenvielfalt laufend gewinnt. Die Bürger werden ständig als Individuen angesprochen und als Genossen zum Staat in Einung gefordert - aktiviert zum Öffentlichen hin durch das Ziel der Einung, nicht durch die Macht der Befehle. Daraus hat sich ein besonders starkes individual-liberales Privatbewusstsein nicht nur erhalten, sondern gerade erst entwickelt, zugleich aber auch eine Publizierung privater Verantwortung. In ständig ablaufenden Einungen überall, zwischen den Eidgenossen als Einungsbürgern, aber auch den einungsgeneigten Organisationen der Föderalschweiz, ist bewiesen worden, dass Föderalismus nicht eine mögliche Ausdrucksform der Demokratie ist, diese letztere vielmehr nur eine Organisationsform des höheren Föderalprinzips, des Einungsstaats. Die Bürger und ihre Verwaltungseinheiten - wobei letztere stets voll von jenen getragen werden, eben wieder konstituiert in deren Einung sie alle sind nicht Sachwalter einer „Gemeinschaft", der dogmatisch-juristischer Selbstwert zukäme, sondern „reine Genossenschafter". Ganz bewusst setzt dieser kleine, sich darin enorm erweiternde Staat auf das Zusammenspiel der Mehrfachrollen auf allen Ebenen, weit noch über die rechtlichen Bezüge hinaus: auf die Spracheinungen aus Sprachvielfalt, gelebter Mehrsprachigkeit der einen Persönlichkeit, auf die kulturellen und politischen Vielfachbezüge, in denen er seine Bürger und Verwaltungseinheiten nicht nur belässt, in die er sie geradezu drängt. Das Schweizer Modell zeigt schließlich, wie sich die Doppelrollen zu Mehrfachrollen steigern, und wie sich insbesondere Einungen vervielfältigen lassen, in kombinierten Stufungen. Alle persönlichkeitssteigernden Einungseffekte können dann, nahezu beliebig, organisatorisch vervielfältigt und, föderal gestuft, potenziert werden in der Verklammerung selbst,»höherer" und „niederer" Einungen. Hier erweist sich, wie bedeutsam es für eine Staatlichkeit ist, wenn in ihr das Einungsprinzip an der Staatsbasis voll bejaht wird; sie ist dann überall, auf allen Ebenen, einungsoffen und einungsgeneigt, vom Bergbauern bis zum Bundesrat. Auch die Schweiz

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hat ihr strenges Öffentliches Recht, doch es ist dort in einem Reichtum entfaltet, der fast die Fülle des vielfachstufenden privaten Gesellschaftsrechts erreicht.

f) Von der Einungsrolle zum Staatstheater Staatseinungen entfalten - die Schweiz zeigt es täglich - eine schier unbegrenzte Variationskraft, eine bürgerpotenzierende Dynamik zur ständig werdenden Staatlichkeit. Institutionelle Verfestigungen müssen nicht endgültig eintreten, können stets und sogleich wieder „umgeeint" werden, so wie die Rollen des Theaters geschaffen werden, aufgesagt und beendet, in denen sich die „Personae" des Theaters, die für Stunden geeinte Truppe, stets von neuem begegnen - und wieder auseinandergehen. Die wesentliche Auflöslichkeit der Einungen, als Gewolltes „auf Zeit", ohne lastende Institutionalisierung - sie hat etwas von Akten eines Staatstheaters, dessen Kontinuität allein darin liegt, dass es aufhört und dann immer neu beginnt. Viel ist neuerdings die Rede vom Staatstheater, dass es allzu viel davon noch gebe, oder dass mehr davon sein sollte. Dass es, irgendwie, zur Staatlichkeit gehört, sie belebt, wenn nicht konstituiert, kann keine Frage sein. Ein Recht, welches das „Verfahren" als Wesen des Staatsrechts entdeckt hat, kann von dem Begriff des Staatstheaters nicht Abschied nehmen, immer mehr muss es den Staat als Vorgang erfassen, nicht als statisches Bauwerk der Institutionen. Diese Vorgänge heißen Staatseinungen, sie beginnen und enden, wenn eben die Rollen abgespielt sind, von jenen Personae, welche sie tragen - und die dann wieder beginnen, als neue Schauspieler in neuen Rollen zu erneutem Staatstheater. Denn die Einungssubjekte bleiben - sie beginnen ihre dynamischen Vorgänge von neuem, dies gilt auch für Verwaltungsträger als Einungssubjekte, etwa Kommunen. Einem „Organisations-Staatstheater" dagegen sind Grenzen gezogen: Ein „Institutionenstaatstheater" wird es nur schwerlich geben, feste, einungsneutrale Einrichtungen eignen sich nicht dazu „gespielt zu werden", oder gar „sich zu spielen", sie sind in rechtlichen Systemen zusammengeordnet, treten zueinander nicht in bewegte Beziehungen. Staatstheater, wie immer verstanden, muss mit Kontakten beginnen, zu Kooperationen sich entfalten, in Prozeduren - wirksam werden kann es letztlich nur in der Staatseinung. Reine Institutionen dagegen werden in Staatsgeometrie zueinander in Verbindung gebracht. Und käme dem Staat nicht besondere Kraft daraus, dass er auch enden kann, dass Staatstheater zu Ende gespielt worden ist? Der Institutionenstaat dagegen postuliert nicht nur die eigene Absolutheit, sondern die eigene Unsterblichkeit. Eine Staatlichkeit, welche auch einmal die Überschrift hervorkehren kann, „La comedia è finita" - er allein kann ein neues „Stück Staat" beginnen, letztlich darin überdauern.

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4. Überwindung des Staats-Neides in Einung a) Neid - Staatshemmung Invidia temporum stürzt die Gebäude der Institutionen, invidia civium die Staatlichkeit. Die politisch schöpferische Politik des Neides wird stets dort gelobt, wo alle „Herrschaft" negativ gesetzt wird, sich dann eben nur in Misstrauen beschränken lässt. Dies alles sind die Hinderungs- und Beschränkungskategorien der gewaltenteilenden Institutionen-Staatlichkeit; nichts sagen sie darüber aus, wie man zur Gemeinschaft komme und ihrer notwendigen Macht. Hier werden lediglich, antithetisch, äußerliche Mechanismen der Machtbeschränkung eingesetzt, ausgehend vom Dogma, dass es nur um eines gehe: die eben stets „an sich" bestehende Macht zu begrenzen, nicht, sie erstmals hervorzubringen - doch gerade dies ist das Problem einer anarchiebedrohten Epoche. Der Neid muss ebenso notwendig aller Macht entgegentreten, wie die Vielen den „Herrschenden", den Fürsten, Bourgeois, Kapitalisten. Fürsten sind Vergangenheit, Expropriateure ziehen sich in die Unfassbarkeit der Multi-Gesellschaften zurück - letztlich ist diese ganze Denkweise Vergangenheit, jene Antithetik, welche die Denkformen des niedergehenden Absolutismus fortschleppt. Zuwenig wird untersucht, ob Gefahr denn überhaupt noch von Mächten droht, welche durch Kollektivneid zu brechen sind, ob sich nicht der immer neu beschworene und entbundene Neid nun in ein bellum omnium contra omnes verwandelt. Sucht sich nicht vielleicht gar das nun „gegnerlos übriggebliebene Neidprinzip" neue Feinde, bald nurmehr Feindbilder, Fassaden, hinter denen es bereits alles eingeebnet hat, in Anarchie? Wer den Neid kurzerhand als schöpferisch dekretiert, der muss ihn ja steigern, immer weiter systematisieren, bis hinein in die Utopie konstruktiver Anarchie. Dann wird notwendig der Versuch der Institutionalisierung der Invidia selbst unternommen, in der Förderung aller Einrichtungen, die sie bringen, mit ihren Regungen nur funktionieren können. Doch es bleibt immer die machtreduzierende Wirkung dieser Grundhaltung, und so kann sich all dies nur zur systematischen Staatsverkleinerung hinunterentwickeln, in unauflöslichem Gegensatz zu all dem, was gleichzeitig der Institutionenstaat an Verfestigungen immer von neuem versucht. Soll diese systematische Antithetik, dieser ständige innere Krieg das letzte Wort einer erneuerten demokratischen Staatsdogmatik sein, kann die Demokratie wirklich nur in den alten Formen des Volksaufstands und des Streiks weiterdenken, in denen sie immer wieder ihren Frieden mit bestehen bleibenden Fürstlichkeiten, mit „den Herrschenden" schließen muss?

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b) Neid - gegen Institutionen, nicht nur gegen Menschen Soweit wird es nicht kommen, lautet der Einwand, gerade nicht im entpersönlichten Institutionenstaat, der über die Staatseinung hinwegsehen kann und ihre persönlichen Träger. Wird Gewalt nämlich in Einrichtungen aufgelöst, so wird aller Neid abprallen an ihrem Rocher de bronze. Dieses Ideal des späten Liberalismus und seiner Staatstheorie der Herrschaft der Institutionen, der Auflösung des menschlichen Willens in Gesetze, war ein wahrhaft großer, aber eben doch ein historischer Irrtum. Hinter den Säulen dieser antik erscheinenden Staatstempel haben sich immer die Persönlichkeiten der auch demokratisch Herrschenden versteckt, stets von neuem sind sie hinter ihnen hervorgetreten, um ihr ganz personifiziertes Herrschaftstheater zu spielen. Die Einrichtungsträger sind in ihren Institutionen stets geblieben - und wenn es nicht so hätte sein sollen, so wäre es dem Argwohn eines Neides so erschienen, dessen Kreativität in der Tat in seiner unerschöpflichen Feindbilder-Phantasie liegt. In der Politik wird er immer glauben, dass Gesetz und Institution ein Alibi sei für persönlichen Herrschaftswillen, oder dass doch die Organträger sich die abstrakten, hohen Namen und Befugnisse der bestehenden Einrichtungen appropriieren wollten, bis hin zu den Gesetzen, die eben „die ihren, die der Stärkeren", seien. Sieht man denn nicht, wohin der Blick auch fällt, „nur appropriierte Gesetze"? Durch die Institutionen hindurch richtet sich der Neid stets auf die Menschen, und immer wieder findet er rasch, dass Einrichtungen aneigenbar sind, zu persönlichen, wenn nicht zu erblichen Pfründen sich verdichten, vor allem dort, wo Unabhängigkeit gewährt wird im Namen von Demokratie und Freiheit, vom Abgeordneten bis zum Notar, vom Professor bis zum Richter. Überall dort, wo in Unabhängigkeit sich die statische Institution besonders verfestigt, greift der politische, durchaus nicht nur der soziale Neid sie an; vermag er sie nicht zu zerstören, was ihm meist in Kürze gelingt, so verkleinert er sie, nimmt ihr Wirkungs- und Integrationskraft. Die „Flucht in die Institutionen" aus dem Neid, in welcher der zerfallende Spätfeudalismus sich hatte retten wollen, sie hat ihn nicht zu restaurieren vermocht. Doch dabei bleibt es nicht: Neid richtet sich nun geradezu „gegen die Institutionen selbst" auf einer weiteren Stufe, wo diese Haltung wahrhaft staatsgrundsätzlich wird. Selbst wenn da keine Person mehr wäre, welche sich eingerichtete Macht aneignen wollte - gegen die Majestät des Staates selbst, gerade einer derart abstrakten Konstruktion, richten sich, erstaunlicherweise, immer heftiger die Angriffe, bis hin zum Spott, in den hier der Neid umschlägt. Darf man denn nicht erwarten, dass Ehren, Uniformen und Embleme wenigstens dort, wo sie nichts mehr anderes bedeuten als Staatssymbole, sich retten könnten vor den zersetzenden Wirkungen des Neides? Das Gegenteil ist, erstaunlicherweise, eingetreten; gerade dann, wenn all dies „hohl" erscheint, weil dahinter nicht mehr die lebendige Persönlichkeit steht, welche es sich anzueignen vermag - eben dann wird es ange-

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griffen in einer Haltung, die sich hier nun wirklich zum systematischen „Staatsneid" steigert. Er richtet sich selbst gegen (vermeintlich) allzu feierliche Verfahrensformen, von den Ernennungen bis zur Gesetzgebung, auch wenn niemand daraus wirklichen Profit ziehen kann, die Akteure eher darunter leiden. Die Entwicklung ist bereits bis zu einer Verselbständigung des politischen Neides zum Staatsneid vorgedrungen, die Erhebungen überhaupt nicht mehr zu dulden scheint - wie erträgt sie dann aber jenen Staat, der da doch „stehen" muss, aufrecht und um einiges höher?

c) Gegen Staatsneid - nur Staatseinung Dies ist wohl die stärkste staatskonstruktive Kraft, welche Einung (nicht Einheit) dem Staat verleiht: Sie läuft am Neid vorbei. Einheit mag wohl, „als Ergebnis", noch misstrauisch betrachtet werden, Vorgänge kann man nicht beneiden. Wenn sie sich in Zusammenschlüssen vollziehen, sind sie zugleich groß und klein, weil immer wieder auflösbar, weil neu begonnen werden muss; Einung ist „im Ergebnis" wesentlich noch nicht verfestigt - Neid braucht zu seinem Feindbild immer etwas Endgültiges. Der politische Neid sucht das Gegenüber, den Gegner, und darin etwas Fremdes, das Wort vom Konsens der Richtungen und Parteien kann dies nicht verdecken; die Demokratie ist schon zufrieden, wenn der politische Gegner „ein wenig weniger fremd ist als der Fremde". Einungen dagegen binden zugleich und von Anfang an alle Neider ein, wenigstens im Prinzip, sie stellen ihnen keine eigene Einheit gegenüber. Was das Misstrauen an staatskonstruktiver Kraft je mitbringen kann, das wird in Einungsvorgängen kanalisiert, entfaltet nunmehr positive Kräfte. Neid richtet sich ganz wesentlich, auch im politischen Bereich, gegen das, was wenigen zusteht, am stärksten stets gegen eine Person, dies war die historische Schwäche der Monarchien. Die Auflösung aller politischen Vorgänge in etwas, das zwischen „mehreren" stattfindet - daher die Verteilung möglicher Macht auf diese Zahlreicheren - ist aber Wesen der Einung, darin bereits Kraft gegen das Machtmisstrauen. Einungsträger bilden ganz wesentlich keinen numerus clausus. Gegen Organisationen, die wenigstens ansatzweisen Institutionalisierungen, wie sie auch die Staatseinung braucht, kann sich dann der politische Neid leichter wenden, wenn sie blockhaft-objektiviert, sozusagen einungs-abgelöst, in Erscheinung treten, damit als mögliches oder bereits appropriiertes Machteigentum - weit weniger gegen solche, denen die Geschlossenheit fehlt, in denen der Einungsvorgang, entsprechend dem Bedürfnis der Zeit, laufend wahrhaft transparent bleibt. So sind Präsident und Kanzler dem Machtmisstrauen des Neides stärker ausgesetzt als das Parlament als solches, das eben „in Einung lebt", immer wieder in Zwieträchten zerfällt, der Bürgermeister, ja sogar die Gemeinde als solche stärker als deren zweckbedingte Zusammenschlüsse. 60 Leisner

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Neid richtet sich stets primär gegen etwas, das als statisches Eigentum erscheinen könnte, nicht gegen die dynamisch wirkende Freiheit, die ja auch riskiert, bevor sie gewinnt, und verliert, aufhört, wie sie begonnen hat. Einung steht immer näher an der Freiheit als beim Eigentum, weiter daher entfernt vom destruktiven Misstrauen. Neid erwächst stets in erster Linie aus Abstand, er richtet sich gegen das unerreichbar Scheinende. Wo die Distanz vermindert wird, schwächt er sich ab, in erster Linie in jenen Einungen, welche ein Miteinander wenn nicht immer erreichen, so doch stets zum Ziel haben. Mitsprache als Verfahren genügt nicht, mag dies auch heute gängiger Illusion entsprechen; es muss mit entschieden werden können, im Sinne einer Einung, welche Gemeinsamkeiten weiterträgt, hinter der nicht nur Angehörte stehen, sondern eingebundene Genossen. Nur zu oft begnügt sich auch der politische Neid mit dem Schein, entzündet sich an ihm, die Wahrheit bleibt gleichgültig. So kann er denn auch mit einem Gegenschein - nicht allerdings mit reinen Fiktionen - zurückgedrängt werden, mit einer „möglichen Wirklichkeit, die alle integriert", mit der Vorstellung, dass der Misstrauische mitwirken kann in der Einung, wenn er auch tatsächlich nicht immer kooperiert. Diese Möglichkeits-Dimension der Einung ist besonders wichtig gegenüber einem Neid, der überall mehr mögliche als tatsächliche Gefahren sieht. Die durchaus in Kauf genommene Unbestimmtheit des Gewichts, welches der Einungsträger - Bürger oder Verwaltungseinheit - in die Einungsvorgänge tatsächlich einbringen kann, entspricht der Unbestimmtheit, mit welcher der Neid politische Kraft nicht aus Wissen zieht, sondern aus Argwohn vor allem. Neid erwächst schließlich, die politische Szene zeigt es laufend, aus dem Gefühl einer Chancenlosigkeit des Mitkommens - in ihrem „Einungsmarkt", von dem bereits die Rede war, eröffnet die Staatseinung die große Möglichkeit, „mit anderen zusammen etwas zu werden". Der Negativspekulation der Vereinzelung setzt sie die Positivspekulation des künftigen Einungsgewinns entgegen. Darin nicht zuletzt ist Staatseinung nicht nur die Heilung, sondern geradezu das Gegenmittel des politischen Neides. Er begleitet die Demokratie seit ihren attischen Anfängen gerade deshalb, weil diese Staatsform immer fürchtet, um ihr Zentrum, die Einung der Vielen, betrogen zu werden. Die Volksherrschaft kann diese Mitte nicht darin finden, dass in ihren Einungen wieder nur jener Neid zu Wort kommt, der zum Ostrazismus führt - wo sie ihn doch durch Einung gerade überwinden sollte. Wem ständig ein „Mach mit!" zugerufen wird, der kann nicht mehr neidisch sein, ausgrenzungslose Staatseinung allein macht aus der Herrschaft des immer neidischen Volkes den Staat. Dies alles mag aus der Sicht des Bürgers gedacht scheinen, doch es gilt ebenso, in vielem noch mehr, im Verhältnis zwischen jenen Organisationseinheiten der Staatlichkeit, die sich ebenfalls in Föderalgemeinschaften zusammenschließen müssen. Derartige bürokratische Organismen sind des Neides fähig wie die Menschen, welche sie zusammenschließen, die von ihnen beherrscht werden. Der Län-

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derneid tritt nicht erst bei der Geldverteilung in Erscheinung, Behördenrivalitäten sind eine wenig beschriebene, viel praktizierte Realität; der Neid der europäischen Partnerstaaten kann nur durch immer neue Einungsanstrengungen überwunden werden, indem soviel von Zusammenschluss die Rede ist, dass „keine Zeit mehr bleibt für den Neid", der sich in einungsfreien Räumen sogleich einrichtet. Wie sich im Organisationenneid so oft nur Enttäuschung und Misstrauen der Organwalter, aus deren privaten Bereichen heraus, potenzierend fortsetzen, so kann dies auch nur in der Verstärkung der Organisationseinung überwunden werden.

d) Die Lehre: Überall weite Einungsräume Der Kampf gegen den staatsverhindernden Neid muss immer im Einungsbewusstsein der Bürger und ihrer Organisationen lebendig sein. Dies ist nicht ferne Sozialtheorie, sondern praktische Anleitung zu konkreter Gestaltung: - Höchst begrenzte Einungen, wie sie vor allem noch in der Form der Abstimmungen Gegenstand der Betrachtung sein werden, genügen nicht immer zur Neidvermeidung; hier erscheint nur zu oft der augenblickliche Zusammenschluss als Fiktion, das Ergebnis ist wichtig, nicht der Einungsvorgang. Dieser erweckt häufig neue Abneigung bei denen, welche eben darin deutlich erkennen, dass „es nicht weitergeht", gehen kann - dies ist etwa eine Gefahr der Mitbestimmung, welche das fremde Eigentum häufig nur noch mehr als etwas Unerreichbares bewusst werden lässt. - „Einungen nur zum Gespräch" genügen nur selten zur Neid Vermeidung; reine „Diskussionseinrichtung" ist politische Illusion, mag sie auch manches abschäumen lassen, im Grunde gibt sie Worte statt Brot. Noch deutlicher sogar zeigt sie, in den ausgetauschten Erklärungen, „worum es eigentlich geht", die ganze Dimension des zu Entscheidenden, des Neidgegenstandes. Dieser aber und seine Macht muss irgendwie etwas Gemeinsames werden, nicht nur kontrolliert, sonst wächst nur noch der Neid gegen das zwar zu überwachende, im Letzten aber nicht zu brechende Gegenüber. Wie oft wird nicht solches Misstrauen erst durch Kontrollen geweckt, nicht überhöht. - Über dem Einungsvorgang darf sich nicht allzu viel an Staatsmacht etablieren, ihn kanalisieren, manipulieren. Der Grundsatz lautet: „Einungen stehen nicht unter Genehmigungsvorbehält"; nicht überall mag er durchzuhalten sein, letztlich ist er ein Dogma der „Demokratie von unten nach oben", zu fordern ist zumindest die Minimierung der Einungs-Genehmigungen. Zu starke Genehmigungsbedürfnisse stauen Enttäuschung der Einungsträger erst recht zum Neid gegen die „höhere Einheit", die in dieser Form, nicht in Teilnahme am Einungsvorgang, in Erscheinung tritt. Deshalb sollte Genehmigung, soweit irgend möglich, wiederum als Form der Einung konstruiert werden. Die Verfassungsgeschichte zeigt die Probleme jener konstitutionellen Monarchie, welche die originären Einungskräfte aus der Volksvertretung mit königlichen Sanktionen kanalisieren 60*

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wollte, am Ende damit scheitern musste. Bürgerversammlungen brauchen nicht überall und immer den genehmigenden Bürgermeister. Verwaltungseinheiten schließlich sollten mehr unter dem bestätigenden Notariat der „übergeordneten Behörde" zu Einung finden als in deren genehmigendem Sanktions-Befehl. - Dies führt zu Forderungen: „Nicht allzu viel Vorbehalt zugunsten der höheren Einungen", sollen nicht die Zusammenschlüsse auf niederer Ebene entwertet, die höhere und die niedere Ebene dann als institutionell zusammengeordnetes System ihrer Einungskräfte beraubt werden. Örtliche, und damit notwendig partielle, Selbstverwaltungen werden heute überall gefördert, Bürgerversammlungen und -komitees, neue gemeinsame Ebenen kleiner Verwaltungsträger. Doch nur zu oft entfaltet sich hier erst recht der Neid der Bürger und anderen Einungsträger, die allzu rasch an ihre Grenzen stoßen, denen nichts bleibt, als der Schein eines kleinen letzten Wortes unter höherem Genehmigungsvorbehalt. Lebendig ist hier zwar das zentrale Stufenprinzip aller Einung, aber eben nicht hinreichend gleichgewichtet zwischen „unten" und „oben"; am Ende steht dann der Misserfolg jener Sowjet-Einungen, die, als Einungssystem fast perfekt konzipiert, in der Praxis zu genehmigungsgestuften Organisationseinrichtungen degeneriert sind, an deren Spitze, im obersten Sowjet, letztlich allein, praxisund bürgerfern, entschieden wurde. Dies beweist übrigens, wie weit der genehmigungsfreie Einungsraum gerade auch beim Zusammenschluss von Verwaltungseinheiten eröffnet werden muss, damit diese sich nicht „nach oben" schieben, sich zugleich bürokratisch abkapseln und dann alles um sich nur mehr staatszerstörend beneiden, aus der Staatlichkeit selbst heraus. - In den Einungen liegt viel Rollenspiel, Staatstheater - doch es darf nicht ein Spiel der Machtlosen sein, echte „Macht muss im Spiel" sein, das nie ohne Einsatz stattfinden darf. Die Disproportion zwischen lauttönendem Einungsmechanismus und bescheidenen Einungsergebnissen wird immer mehr die Regel in einer Staatsform, welche Volksherrschaft spielt, Interessenherrschaft meint. Die Einungsmechanik ist als solche noch nicht Einungskraft; Zugeständnisse, wie die immer komplizierteren Einungsverfahren von Bürgern und Verwaltungen, genügen hier nicht. Machtlos Spielende möchten aus ihrem großen Mechanismus mehr gewinnen; die Forderung nach mehr Befugnissen für das Europäische Parlament ist eine Bestätigung. Und allzu viel Machtenttäuschung schlägt gerade hier rasch in Machtneid um. - Insgesamt muss Einung also stets weit, sie darf nie allein punktuell eingesetzt werden zum Staat, sonst entbindet sich aus ihr nur die Sprengkraft enttäuschter Freiheiten, welche ganze Systeme in Neid zerstören. Freiheit und Einung sind große Worte und gehören untrennbar zusammen; doch punktuelle Einung schafft nur die kleine Freiheit, aus ihr kommt punktueller Neid auf die Macht der anderen, auf den fremden Besitz. Wenn Staatspotenzierung durch Staatseinung gelingen soll in Neidvermeidung, so müssen politische Zusammenschlüsse überall, systematisch, flächendeckend

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den Staat überziehen; in engen, institutionell verfestigten Einungsräumen entsteht immer nur die kleinere enttäuschte Kraft, die nicht in die Staatlichkeit hinaufwachsen kann, sie schon deshalb in Neid bekämpft und verhindert.

5. Staatskraft aus „gemeinsamem Einsatz" a) Bewunderung - ein totes politisches Wort Die Bewunderung, aus der Kraft des Erstaunens geboren, war in der politischen Geschichte stets eine mächtige Gegenkraft wider den staatszerstörenden Neid. Die ökonomisch-sozialen Angleichungen der Gegenwart geben diesem Hinaufschauen zu den Qualitäten, zur Überlegenheit anderer kaum mehr Raum. Mit der Bewunderung von Menschen ist sogar die Kraft vergangen, menschliche Gedanken, politische Institutionen zu bewundern, diese großen Menschenwerke. Bewunderung hat der Staatlichkeit, ihren Erscheinungen und Trägern, stets Kraft gegeben, wenn der Blick nach oben die Bürger einte. In ihnen wirkte Einung zwischen dem Betrachter und dem Gegenstand seiner Bewunderung, jener wurde von diesem wahrhaft aufgenommen, mitgerissen. In solcher Weise ist heute Staatlichkeit nicht mehr zu bauen, zu erhalten. Nur noch distanzierend wirkt Bewunderung, rasch schlägt sie in politischen Neid um. Die „ganz große Gestalt", und eben auch die „ganz große Institution", sie sind gestorben im Geist der Bürger, spätestens im politischen Rationalismus und der Verweltlichung des Religiösen. Früher konnte der geliebte und gefürchtete unendliche Gott selbst in den Reichen dieser Welt Bewunderung wecken für seine politischen Werke, Staatskraft in eine Civitas Dei verwandeln, und sei es auch nur in der Mächtigkeit der bestaunten Fassaden. Vor allem ist Bewunderung nun kein Einungsvorgang mehr, auch nicht im weitesten Sinne, sie entrückt vielmehr ihren Gegenstand, hebt seine politische Akzeptanz auf. Es ist wie ein Besuch in Staatsmuseen, deren Schätze der kleine Bürger nicht besitzen kann, gar nicht aufnehmen möchte; wandelt sich diese Haltung zu einer lebendigeren menschlichen Anteilnahme, fühlt sich der Bürger angesprochen von politischer Größe, so steht der Umschlag in Staatsneid schon in der Tür. Bewunderung fördert Einung nicht mehr, sie schließt sie aus - mit dem Bewunderten einigt sich niemand, allenfalls noch in betrachtender Distanz bleibt man vor ihm stehen. Notwendig überträgt sich dies gerade auf die demokratischen Institutionen des Staates; wie könnten sie bewundert werden, da sie nicht getragen sind von einigen großen Persönlichkeiten, sondern nur die Verkörperung der vielen kleinen Bürger darstellen? In der permanenten Parlamentskrise wird es ganz deutlich: Entweder diese Versammlung ist volksnah - dann wird niemand sie bewundern; oder sie will sich zu ruhiger Würde und Weihe erheben - dann ist sie kein Volksforum mehr.

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Einst mögen selbst Organisationen der Bewunderung, untereinander und für Höheres, fähig gewesen sein, in Ehrungen und Umzügen, im vielfachen Pomp des alten Staatstheaters trat dies hervor. Der Handwerker lernte die Bewunderung seiner Zunft, in ihr die der anderen Corporationen, der Teile des imperialen Wunderwerks, dessen Verehrung in derartigen Kollektiven damals so oft zum Ausdruck kam. Wo sollte nur etwas von solcher Akzeptanz aus Erstaunen - um es mit heutigen Worten zu sagen - noch in den voll versachlichten gegenwärtigen Verwaltungsstuben gefunden werden, sollten sie andere Bürokorridore verehren? Dahin trägt sie auch kein Adler mehr, kein Behördenstempel.

b) Der Verlust der Begeisterung Dass Jugend sich von Idealen entfernt, haben ältere Generationen stets beklagt die ihrerseits oft allzu spät erst sie zu ersehnen begannen. Doch wird heute nicht der Verlust der Ideale, damit das Ende der Begeisterungen, in ganz anderer Dimension mit Recht bedauert, in einer Zeit, die dies gerade als Antithese zu ihren steigenden Rationalismen brauchte, deren große, immer größere Aufgaben den Schwung eines Enthusiasmus verlangen, welcher nicht aus Rechenbarkeit allein erwächst? Wirkt nicht der Verlust der Bewunderung gerade dann wahrhaft staatsgefährdend, wenn nur in dieser Haltung Begeisterungen zu wecken wären? Selbst das streng institutionelle Denken früherer Generationen hat auf Begeisterungen gesetzt, auf die Erwärmung der Herzen vor dem großen, kalten Staatsverfahren sogar, auf den Enthusiasmus aus geistig Geschaffenem zu noch größer zu Bauendem. So wirkten stets die Kräfte der Staatsrenaissancen, die bereits betrachtet wurden, begeisternd in der Einmaligkeit der Wiedergeburt großer guter Staatsformen; so beeindruckte der Monumentalstaat, die Staatlichkeit als große Lösung, selbst noch in distanzierender, riesiger Ferne. Dies alles ist noch immer Realität, nicht nur mit der Kraft von Traditionen, die in ihrer pyramidalen Größe unzerstörbar werden. Doch nun kann dies nicht mehr genügen, es gilt, neue Begeisterungen zu schaffen, und wo die Kraft der Bewunderung versagt, bietet sich nur eine Quelle: das große, allgemeine Miteinander, die Einung zum gemeinsamen begeisternden Einsatz.

c) Neue Staats große: Miteinander Geschaffenes Wo Viele zusammenwirken - nicht nur „dabei gewesen sind" - wo vielfältige Kräfte kooperieren, da ist doch „etwas Großes im Lauf 4 , da gilt es mitzulaufen; und wer möchte einen solchen Mitläufer-Staat gering achten? Im Begriff des Zusammenschlusses bereits liegt Staatsgröße, bis hin zu einer neuen Monumentalstaatlichkeit, in ihm vor allem, heute vielleicht allein. Nun gibt es offenbar nur mehr diese „personale Größenkategorie", die in dynamischen Vorgängen in wahre

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C. Einung - Kraft zum Staat

Transpersonalität hinaufwächst, darin staatslegitimierend wirkt. Und war es so nicht auch schon früher, im Zusammentreten zum großen Triumphzug, der staatstheaterhaft gespielten Rückkehr des früher erreichten großen Sieges, diesem Zusammenklang von Triumphalität und Monumentalität? Konnten je denn Monumente anders als in Einung geschaffen werden, war der Monumentalstaat nicht immer in Erz gegossene Einung? Und wirkten Monumente, auch die der Staatlichkeit, je anders auf den Bürger und seine Zusammenschlüsse als in gemeinsamer Verehrung, dadurch noch weit mehr zum Rocher de bronze werdend? Doch nun vollzieht sich eben die große Wende, der Blick auf das Fieri, nicht mehr auf das Faktum. Als ein Imperium in fieri lässt sich vielleicht die ganz große, verbreiterte Staatseinung eines Tages begreifen, als das neue Wunder einer Begeisterung ohne Bewunderung, die eben ganz dynamisch wird, von der all jene Statik abfällt, der und in der man nur - gegenübersteht in schwer verhohlenem Neid. Diese Zeit, im Team entwickelt, ist nicht mehr die Epoche der begeisternden einsamen Einsätze der Pour-le-mérite-Flieger; sie muss versuchen, die Begeisterungskräfte der Levée en Masse vom militärischen gemeinsamen Sturm-Einsatz zu übertragen auf die begeisternde Zusammenarbeit an großen Projekten, die wieder ein Gefühl gibt für das größte gemeinsame Vorhaben - den Staat. Verwaltungen spielen täglich Staatlichkeit in Großprojekten, darin wirken sie zusammen, und dazu sind die Bürger gefordert. Wenn irgendwo die Administration der Begeisterung fähig werden kann, so wird es hier erlebt, wenn die Administratoren die Enge ihrer Stuben verlassen, mit anderen zusammen wahrhaft „hochrechnen dürfen". Dies kann gerade jener Bürger lernen, der in der staatlich und privat geförderten, ja angeheizten Welt der Spiele und Einsätze reine Spekulationen wahrhaft begeisternd mit denen der anderen verbindet. Rationalisierte Begeisterungen - könnte es sie anderswo geben als in Einung?

d) ... und sich verströmen in den Einungskräften

der Hingabe

Einung wirkt letztlich stets nur in einer Art der Hingabe, bis in die Geheimnisse hinein, in denen der Gläubige die Einung mit seinem Gott sucht. Sie ist der Ausdruck dessen, was heute überall verehrt wird, in Gemeinschaft und menschlicher Nähe: des ganz großen Altruismus, dessen weitestes Gefäß die Staatlichkeit sein soll. Nicht zu einem Nächsten - zu den vielen Anderen soll es den Bürger hinziehen, in Diskussionen, Versammlungen, Gemeinsamkeiten der geheimnisvollen Basis, in deren Suche alle überall unterwegs sind. Aus dem Miteinander erfolgt in Einung der Umschlag in das höhere Füreinander, in dem der Altruismus letztlich auch die vielen Egoismen wieder befriedigt, in sich verströmender Begeisterung, und weil neuer, höherer, eben staatlicher Nutzen zurückkommt. Bei diesen großen Staats-Spielen ist dann doch Dabeisein alles, nicht nur „irgendwann gewesen sein".

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Begeisternd könnte Staatseinung auf allen Ebenen wirken, in der Entfaltung transpersonaler Kräfte aus und in bleibender Personalität, die sich nicht an sich wichtig nimmt, die gewichtig wird in der Aktion, zusammen mit - für andere. Großer Räume bedarf diese Begeisterung, in welche die Einung hineinwirkt, darin bestätigt sich eine schon gewonnene Erkenntnis. Von Mensch zu Mensch, von ihnen zu den Organisationen und zwischen diesen muss ein großer einender Strom fließen, der sogar fähig ist, sich in Einungen aufzugeben - zu verströmen. Nur in Einung wächst dann auch die staatliche Organisation, die der Verwaltungen und Gemeinden, der Korporationen und Gliedstaaten, über sich selbst hinaus, dreht sich nicht mehr in bürokratischer Selbstbefriedigung um sich, sie entwächst den Vorwürfen des Organisationsegoismus. In Einungen wird wahrhaft, weil begeisternd, „offen" gehandelt, dieses neue Kernwort der Staatsdogmatik gewinnt dort Sinn, wo sich der Einungsträger in diesen Vorgängen geradezu verströmt, „weil eben alles möglich ist" in diesem Vorgang. Erst dann wird Offenheit wahrhaft ein gutes Wort des Staatsrechts, mehr als eine Vokabel für Entscheidungsschwäche. In dieser Staatseinung kann dann wieder ein begeisterndes politisches Recht entstehen, zwischen politischen Einheiten, die wirklich mehr fortschreiten als herrschen, die von Gottes Gnaden sind in republikanischer Bewegung, nicht in goldgekrönter Statik. In allen heutigen Aufschwüngen zu Staatlichkeiten des Altruismus, zu einem Herrschen in Hingabe, wird im Letzten ein „Also auch auf Erden" gesucht - die sichtbar-irdische Bewährung einer Drei-Einigkeit: vom alles schaffenden und haltenden Schöpferstaat zum sich verströmenden Liebesstaat der Dienste, der Civitas Charitatis, aus dem dann der Dritte Staat, das Dritte Rom der Geistigkeit kommen soll, der Kultur, der Kunst und des Denkens: Dies spätestens wird dann göttlich begeistern in einem staatlichen Pfingstwunder, und es wird wieder nur - sich Einenden geschenkt. Nicht Staatsromantik ist all das, Staatsdithyrambik - es ist heutige Sehnsucht unzähliger Bürger, die über ihren Staat hinausstreben in Hingabe für andere. Doch nur in ihm, in Staatseinung, werden sie letzte politische Erfüllung finden, eine Staatsmoral, wie der Bürger sie in seinen besten Momenten sucht.

I I . Einung - Der Staat der Kernfusionen Diese Zeit steht im Zeichen der Kernspaltungen und -fusionen, von dort ist sie aufgebrochen zur Suche nach den unendlichen Energien, die sich in kleinsten Vorgängen, Zusammenschlüssen und Teilungen entfalten. Sollte es ihr nicht aufgegeben sein, derartige Denkmodelle in eine Staatlichkeit zu übertragen, in welcher schon allenthalben von Kettenreaktionen gesprochen wird, Ausbrüche befürchtet werden, die es zu kanalisieren - eben zu fusionieren gilt? Diese faszinierenden

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Kategorien werden die Menschen so rasch nicht loslassen, ständige Stöße sich wiederholender wirtschaftlicher „Fusionitis" zeigen es; sie führen, nach Generationen des Energieverlustes im politischen Bereich, nach verheerend zerstörenden Ausbrüchen und Zertrümmerungen, auf eine Suche nach neuen politischen Energien, mit denen es die demokratische Staatsform wahrhaft aufzuladen gilt. Welcher Begriff stünde näher bei all dem als die Staatseinung?

1. Staatslehre wie Naturwissenschaften: von der „Konstruktion" zur „Ausnutzung natürlicher Kräfte" a) Naturwissenschaftliche Denkmodelle für Politik und Staatlichkeit Die Denkkategorien der exakten Wissenschaften haben von jeher die Staatslehre befruchtet, vor allem in mathematischen Kategorien ist Staatsorganisation seit den Anfängen ihrer Vertiefung stets gedacht worden. Wahre Staatsgeometrie ist das Ideal des platonischen Wächterstaats, ganz bewusst mathematisch erfasst, so wie Sokrates schon die Staats-Techne entdeckt hatte, die spätestens mit Aristoteles zur Staatstechnik sich zusammenschloss. Das große Staatsmodell des römischen Reiches entsprach dem Denken seiner Ingenieure und Architekten, welche es weltumspannend ausweiten konnten; stets wurde hier exakt mathematisch gedacht und geteilt, vom verfassungsrechtlichen System der Dekurien bis zu den Stadtplanungen. In Staatsrenaissance ist dies immer wieder gekommen, in der spanischen Imperialität des 16. Jahrhunderts wie in der geographischen und administrativen Staatsgeometrie der französischen Departement· Verfassung. Kaum war schließlich der Schritt zur mathematischen Integration vollzogen, da wurde auch schon staatsrechtlich in Grenzwerten und Integrationslehren gedacht. In Zusammenfassungen war naturwissenschaftliches Denken ebenso fruchtbar wie in rationalen Teilungsvorgängen, von der statischen Staatsgeometrie zur integrativen Staatsmathematik folgte das Staatsdenken der eigentlich exakten Wissenschaft. Stets aber waren es in erster Linie ordnende Teilungen, die so erstrebt wurden, eine statische Übersichtlichkeit, in welcher die Einheiten der institutionellen Staatskonstruktion gesetzt werden konnten.

b) Von der mechanistischen Konstruktion zur Energie gewinnung In physikalischen Kategorien ist in der Staatslehre auch stets gedacht worden. Diese Geistigkeit trug das platonische Denken zur Gravitation der Sterne und zu den Kreisen der Politeia. Die Faszination der Astronomie, die Entdeckung des

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ganz Großen und seiner Wirkungsgesetze hat immer die Reichsdogmatik bereichert, getragen, in der Gleichgewichtigkeit zentrifugaler und zentripetaler Kräfte, in denen uns Heinrich Mitteis unvergesslich den Staat des Hohen Mittelalters geschildert hat. Heute noch, kleiner geworden, sucht das Staatsrecht in seiner Kernbereichsdogmatik für vieles Erklärungen, welche - eine symbolische Wende vom Denken in Makrogrößen in die Mikrokosmen der Bürgerfreiheiten und der Verwaltungsstaatlichkeit herabsteigen. Doch bisher überwogen eben stets doch die Teilungs- und Ordnungskategorien der statischen, der euklidischen Naturwissenschaften. Nun kommt jedoch die Zeit des Denkens in Energien und ihrer Freisetzung herauf, die der Hervorbringung es ist die Epoche der Demokratie, deren belebende Volksfeuer sich wie Steppenbrände, in Kettenreaktionen ausbreiten sollen, im Inneren der kleinen Staaten, sie zu Größerem zusammenfügend - und über die Welt. Der Geometriestaat war die Ordnung der Institutionen und ihrer Teilungen, die alte, große Dogmatik kulminierte in der Gewaltenteilung, welche gar nicht zur Gewaltenverbindung führen wollte. Nun ist neue Dogmatik angesagt: Machtschaffung als paraphysikalische Energieentbindung in Vorgängen von geradezu naturwissenschaftlicher Natürlichkeit - eben in Demokratie; und darin wird diese Staatsform etwas „ganz anderes" - oder sie wird nicht sein. Das ist ihr Weg der Staatseinungen.

c) „Natürlichkeits- und Machbarkeitsüberzeugung" Zusammenklang zur Demokratie

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Heutiges politisches Denken ist nicht mehr ruhig gegründet auf dem von jeher Seienden, dem traditionell Geschaffenen, den Notwendigkeiten seiner Ordnung; es nimmt seinen Ausgang von der Notwendigkeit der Erkenntnis und des Einsatzes „natürlicher" Kräfte. „Natürlich" sind diesem Denken Einheiten und Vorgänge, die es in einer Art von „Naturzustand" vorfindet, vor allem der Mensch in seiner natürlichen Würde, das Volk in seiner natürlichen Gemeinsamkeit - beides ist zu erkennen, anzuerkennen, nicht zu schaffen. In einem état de nature werden diese politischen Wesenheiten und Kräfte vorgefunden, irgendwie bleiben sie letztlich immer in ihm, eben „in Natur", physei, im Sinne der griechischen Philosophie, und in wahrhaft physikalischen Vorgängen finden sie dann, ballen sie sich zusammen; die Einung im Sozialvertrag muss auch als physikalischer Vorgang verstanden werden. So allein begreift man Rousseaus Begeisterung für die „Entbindung des Natürlichen" in der Pädagogik, die er in die Staatspsychologie des Sozialvertrags hinein fortsetzt, immer als eine Freisetzung von natürlichen, zuallererst menschlichen Kräften. Dieser Zeit, in ihrer Umwelt-Rückkehr zur Natur, bleibt die Aufgabe, derartige Natürlichkeiten staatsrechtlich fortzudenken, in einer Art von Staats-Biologistik, so wie der Staatsmacht auch die natürlichen Groß- und Kleinstvorgänge zum größten Problem werden, von der Kernphysik bis zur Gentechnik. Überall ist rechtlich aufgegeben,

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„Natürliches" zu entdecken, physikalische Denkkategorien werden sich darin aufzwingen. Doch zugleich herrscht der Gedanke der quasi-totalen Machbarkeit, der Chance, all diese als natürlich erkannten Kräfte auszunützen, zu dominieren, domestizieren. In ihren schier unbegrenzten Möglichkeiten entfaltet sich nicht nur ein naturwissenschaftliches, sondern zugleich ein „neues staatliches Amerika", mit all seinen politischen Begeisterungen. In Natürlichkeiten hat auch die politische Welt immer mehr zu erkennen gelernt, nicht in dem einen Konstruierten, sondern in rechtlich noch ungeformten Energien von Bürgern und Völkern, die sich aufzwingen. Die unbegrenzten Möglichkeiten der Naturwissenschaften rufen nach einem Denken in ebensolchen Kategorien im Recht - es muss zu einer Staatseinung finden, wo der Bürger, das „rechtlich unbekannte Wesen", sich zusammenfindet, bis hinauf in die Einung des Volkes. In diesen Teilungen und Zusammenschlüssen gilt es, die politischen Energien zu erkennen, zu nutzen, vor allem aber zu kanalisieren. So fließen politische Natürlichkeit und Machbarkeit zusammen - im Staat als dem größten politischen Kraftwerk. Diese neuen demokratischen Energien werden gebraucht, weil die alten der schimmernden Kerzen, der goldenen Monarchien sich erschöpft haben. Man will im gleißenden Licht der Kontakte stehen, im zündenden Funken der Zusammenschlüsse. In dieser höheren Einheit von geisteswissenschaftlichem und politischem Denken schließt sich noch einmal eine ganz große, übergreifende Philosophie zusammen, in ihr steht die Staatseinung. 2. Staatliche Kernteilungen und -fusionen als Kraftquellen historische Erfahrungen a) Politische Kraft aus Staatszerfall? Nach politischen Energien ist zu suchen, welche freigesetzt werden in staatseinendem Zusammenschluss, in kanalisierten Staats-Kernfusionen. Doch kommt vor all dem nicht immer die Kernteilung, lässt sie sich für den politischen Bereich anders vorstellen denn als ein Staatszerfall, der positiv nie wirken kann, immer nur abbaut und zerstört? Mag Kernfusion im Politischen noch Kräfte bringen - ist Kernteilung denn in diesem Zusammenhang überhaupt der Betrachtung zugänglich, wert? Auch solche Vorgänge sind zu betrachten, am Anfang sogar, weil gerade sie historisch stets, allzu rasch vielleicht, meist als Dekadenzen, als Verfall negativ gewertet werden. Wurden nicht in ihnen bereits neue Kräfte frei, gibt nicht der Blick auf sie heute Kraft, vermeintliche Niedergänge zu ertragen, noch in ihnen über sie hinwegzusehen in eine stärkere, aus ihren Energien aufgeladene Zukunft hinein?

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Die historische Dekadenzphilosophie, von größeren und kleineren Autoren häufig beschrieben, von Montesquieu und Gibbon bis Oswald Spengler, hat politisches Denken wohl unwiderruflich geprägt, kategorisiert und katalogisiert wird in Aufstiegen und Niedergängen. Von den Diadochen-Reichen, vor allem vom Niedergang des römischen Imperiums, gehen Verwesungsängste aus, vom monstro simile des Alten Deutschen Reiches. In den Gewaltsamkeiten des Faschismus und Nationalsozialismus sollte das Rad der Geschichte über sie zurückgedreht werden; diese Zerfallsphobien und ihre überstürzten Gegenreaktionen werden weiter verfolgen, schon erreichen sie die Imperien des Westens und Ostens. Ein Denken wird hier gelehrt, welches die Historie in Dekadenzen zu verwandeln droht; „und neues Leben blüht aus den Ruinen" - es ist fast schon die einzige positive Antwort auf die Verwesung der Staatsniedergänge: Oft scheint es, als müssten diese politischen Einheiten völlig zerfallen, lange Zeit dahinmodern, bis sich dann ganz Neues entbindet - und sollte man heute solange politisch denn warten können? Gibt es nur Staatskräfte aus alten Ruinen? Schon Deutschland 1989 lehrt anderes. Die Historia magistra, zu der sich diese Betrachtungen bekennen, weiß es eben anders. In den Niedergängen griechischer Geistigkeit selbst, nicht erst nach ihnen, mitten im Zerfall ihrer geistigen Elemente, entwickelte sich bereits das große Neue, von der römischen Staatlichkeit, welche die Nachfolge Alexanders antrat, bis hin zur Lehre des Christentums und seines Gottesstaates. Germanische politische Zusammenschlüsse haben sich nicht in römischen Ruinen eingerichtet, in ihre neuen Staatskräfte haben sich römische Einheiten weithin bruchlos aufgelöst; immer mehr entdeckt die Historie das, was sie Kontinuität nennt, worin im Grunde nur Energieentwicklung durch politische Kernteilungen laufend wirksam war. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation schien nicht explosiv zerfallen zu können - wo wäre sein kraftspendender Kern denn gewesen - und doch, als es von Napoleon zertrümmert wurde, war auch dies ein Vorgang riesiger staatsrechtlicher Explosion, aus welcher sich die ganzen Kräfte des neuen Deutschland, des wiedergeborenen Italien und die anderer Staatlichkeiten mit geringer Phasenverschiebung entfalten konnten. Staatsverfall, politische Dekadenz sind also keine Beweise gegen die lebendige, dauernde Freisetzung politischer Energien im Auseinanderbrechen und WiederSich-Zusammenschließen politischer Einheiten; der säkularen Phasenverschiebung bedarf es nicht zur Vorbereitung neuer Fusionen. Denn in der Zerstörung selbst liegt nicht nur Auflösung, sondern bereits die neue Einung, welche die alte, institutionell verkrustete, ersetzt. Die beiden größten politischen Vorgänge der neuesten Zeit sind zugleich die größten Beispiele für „Staatseinung aus Staatszerstörung".

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b) Die Französische Revolution Kernexplosion stärkster Staatlichkeit zur Freiheit Die Große Revolution war das Ende eines lang dauernden Niedergangs monarchisch-feudaler Staatlichkeit - und doch nicht nur ein Zusammenbruch erschütterter Gemäuer, Beendigung eines Verwesungszustandes, sondern eine wahre Kernexplosion. Über aller Abschwächung der staatslegitimierenden religiös-aristokratischen Ideen lebte damals in Frankreich noch immer die stärkste Staatlichkeit, welche Europa seit dem Ende des Römischen Reiches gekannt hatte. Sie aber explodierte im Ganzen, löste sich als Einheit endgültig auf, mochten auch große Teile dieser Ordnung, blockhaft erhalten, rasch wieder in neue Ordnungen eingefügt werden. Für den historischen Betrachter war dies nun nicht „neues Leben aus den Ruinen", sondern eine totale Erneuerung durch einen Zusammenbruch, der als solcher unbekannte, wahrhaft riesige Kräfte freisetzte, welche Europa erschüttern konnten. Dies war denn auch die Einmaligkeit des historischen Schauspiels: die Schnelligkeit des Heraufkommens jener neuen Zeit, welche mit der Kanonade von Valmy begann, für Zeitgenossen und Spätere, die eben nur an „Erneuerungen nach langen Dekadenzen", durch „Stöße von außen" gewohnt waren, ein völlig unbekanntes Spektakel; nicht zuletzt dies hat die Einmaligkeit der Großen Revolution begründet. Hier zerbarst ja auch, im wahren Sinne des Wortes, der Kern des Staates: das Volk im Bürgerkrieg aller gegen alle, von der Selbstausrottung der Revolutionäre bis in die Volkskriege der Vendée. Trotz dieser kaum vorstellbaren Energieverluste wurde darin noch immer ein Mehr an nicht nur „physischen" und militärischen, sondern wahrhaft staatsgewendeten Kräften freigesetzt, die nicht neue Einheiten, „Teil-Völker", zusammenfassten, sondern im Gesamtbereich der alten Staatlichkeit sogleich zu einem ganz neuen, noch stärker geschlossenen Kern fusionierten: zum Volk der Bürger in Freiheit. Dies war die ungeheure Kraft, welche der Vorgang abstrahlte, die von ihm aufgeladenen Einungselemente, die wahrhaft kleinsten Staatsteilchen: die Bürger. Sogleich schloss sich diese zertrümmerte Bevölkerung wieder zusammen, diesmal als ein Volk, als eine ganz neue, andere Einheit, um die Waffen und gegen die Tyrannen, wie es der Ruf der Marseillaise wollte. Der dramatisch-historische Vorgang war Staatsexplosion, aus härtesten früheren Bindungen und Staatsfusionen zugleich, Staatseinung im größten Stil, aus alter Staatlichkeit heraus; deshalb wird dies stets das große Symbol der Staatseinung bleiben. Und diese Staatseinung hat sich nicht vollzogen in einem Zwangszusammenschluss durch etwas wie „übergeordnete Mächte, irgendwie doch von außen". Im letzteren Sinne haben viele Napoleon zu deuten versucht, als habe er die wilden Wasser der Revolution in imperiale Ströme zurückgestaut - oder Kanäle - ihre

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Kraft, in seine militärischen Turbinen gelenkt. Doch weder diese Deutung wird der Größe der Revolution gerecht, noch der Versuch, sie in den späteren Institutionen der republikanisch-revolutionären Staatlichkeit der Dritten Republik endgültig kanalisiert zu sehen. Das Wesentliche ist, bis auf den heutigen Tag, die Einung geblieben - oder wenigstens die mächtigere Teil-Einung der revolutionären Kräfte gegen die konservativen Kreise der Nation. Sie hat immer von neuem berauscht, die Erinnerung an sie, ihre Wiederholung, hat laufend Kraft gespendet, im Bewusstsein des einstigen Zusammentretens zu den Waffen. Vom „französischen Volk" mochte man später allerdings bald nicht allzu viel mehr hören, es war auch nur die erste und eine grausame Einungskraft gewesen. Institutionalität legte sich bald über diese sich einenden Bürger, es entstand die Grande Nation; im Namen dieser Nation, der Verbindung von Bürgern, ihrer Kultur und staatlichen Tradition, hat sich die Einung erhalten und fortgesetzt, immer aber ist sie, aus der Großen Revolution heraus, empfunden worden als eine ganz große, überall wirkende Einung. Mit Blick auf diesen historischen Vorgang müsste Staatseinung, wäre sie nicht tägliche Wirklichkeit, heute erfunden werden.

c) Die Russische Revolution - kupierte Kernexplosion Auch 1917 explodierte eine Staatlichkeit, die ganz groß war, weniger in der französischen Intensität der Organisation, als in ihrer räumlichen, integrativen Ausdehnung. Auch sie entlud sich zuallererst in eine riesige, neue, geradezu in eine anarchisch-individuelle Freiheit. Noch weit mehr als in Frankreich wurde hier das Volk atomisiert, bis in die Anarchie hinein zerbrach das Imperium in seine Völkerschaften, weil die Revolution den Föderalismus auf ihre Fahnen schrieb, nicht sogleich das neue Einungsziel der République une et indivisible. Die gesamten ökonomischen Kräfte brachen, aus ihren Scherben sollten im Trotzkismus kleine Spontaneinheiten in einer wirtschaftlichen Anarchie aufgebaut werden, die sich dann vielleicht zusammengeschlossen hätten. Frankreich hat die neue Einung sogleich postuliert, sich daher in langen späteren Jahrzehnten immer wieder von neuem auf sie zubewegen können, in ständiger Einung. In Russland war die Explosion so stark, derart erschreckend, dass ihre Riesenkräfte sofort wieder zusammengeballt wurden zu einer neuen Einheit - mit staatlicher Befehlsgewalt, in lastenden Institutionen. Sogleich nach dem Zerfall des Staatskerns, ja aller gesellschaftlichen Kerne, wurde die neue Einheit überall nicht nur staatsrechtlich postuliert, sondern politisch in Erz gegossen, im einmaligen Gewaltakt des Rätesystems. Dies war im Grund der größte Aufschwung, den je eine Staatlichkeit unternommen hat: sich selbst in allen Bereichen horizontal, und zugleich bis in die letzten Tiefen hinab, eine Einungs-Verfassung zu geben, die Kräfte der laufenden Übereinstimmung nach oben abstrahlen zu lassen, in die Spitze. Doch eine Erbsünde stand am Anfang: die völlige Vernichtung der Individualität der Einungseinheiten, der Bürger wie der organisierten Teile der Staatlich-

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keit, welche jenen überkommen waren, oder in die sie sich zusammenschließen wollten. Freiheiten wurden vernichtet, die kraftspendende private Individualität aufgelöst; Zwischengewalten durften nicht entstehen, an die Stelle der gesellschaftlichen Verbandlichkeit trat der zweite, der eigentliche Staat, die Partei. Herkömmliche Verwaltungsstrukturen wurden bis in die Fundamente vernichtet, neue administrative Einungen mochten sich hier zwar bilden, doch in ihnen standen immer nur die entindividualisierten Bürger, durch sie hindurch wirkte der individualitätszerstörende Parteiapparat. Deshalb hat hier die Staatseinung sich nur zu einer gewaltigen leeren Staatsfassade empor bauen können, hinter der nichts war als reine Gewalt; geblieben ist letztlich nur eine riesige Reformruine der Staatseinung, in der Perversion einer der großartigen Gedanken des Staatsrechts, der einenden Räteidee, die so auf immer, als Vernichterin der Freiheit, ihre legitimierende Kraft verlor. In den Jahren des „Vaterländischen Krieges" brach noch einmal etwas wie eine revolutionär-anarchisierende Freiheit aus, sie setzte Energien frei, mit denen niemand gerechnet hatte, in Deutschland oder im Westen. Die Partisanenverbände wurden zu neuen Volkseinungen, doch die eine große Partei kupierte diese Kernexplosion erneut in ihrer eisernen, lastenden, paramilitärischen Befehlsorganisation. Zum zweiten Mal wurde die Staatsexplosion zur Freiheit unter-, gebrochen. Die historischen Lehren aus den Groß-Revolutionen im Westen und Osten belegen die ungeheuren Staatseinungskräfte der in Staatsexplosion freigesetzten Freiheiten - zugleich aber auch die ebenso großen Gefahren eines Rückfalls in den tönernen, kolossalen Institutionenstaat, wird solche Explosion zu rasch, zu gewaltsam in alten, zaristischen Staatsbefehlen nicht fusioniert, sondern kupiert. Gefordert ist eben immer bei der Staatseinung, im Großen wie im Kleinen, der Mut, Explosionen zu ertragen, Trümmer weit fliegen zu lassen in eine freie Landschaft.

3. Die amerikanische Staatlichkeit als Staatseinung - Uniting United States Vom „amerikanischen Staat" ist kaum je die Rede - aus gutem staatsrechtlichen Gespür; dies ist nicht eine gelungene Einung, sondern ein noch immer längst nicht beendeter Einungsvorgang - wahrhaft Uniting States. Durfte das Erste und Zweite Rom, die gewaltigen Auftürmungen der Staats- und Kircheninstitutionen, über ihre Gebäude schreiben „Feliciter perfectum" - hier wird ein Staat in glücklicher Unvollendung sichtbar. Am Anfang dieses Amerika steht eine ganz große staatliche Kernexplosion, nicht herumirrende Kolonisten und Siedler. Volker und Staaten des alten Europas zerbrachen innerlich, in den entscheidenden Jahrhunderten der amerikanischen Einwanderung. Im wahren Sinne des Wortes vermochten ihre staatlichen Gefäße den Druck des Volkes nicht mehr zu halten, dessen aktive Teile so über den Atlan-

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tik geschleudert wurden - als einzelne und auch schon in ihren gesellschaftlichen Gruppierungen, als Familien, als religiöse und professionelle Gruppen. Die große Chance der Staatseinung haben die Vereinigten Staaten in dieser Vielfalt der Auswanderungsformen gefunden, vom völlig isolierten Individuum bis hin zur fest oder lose gefügten Einwanderungsgruppe, sie alle wurden zu Einungseinheiten. Hier zeigt sich, dass nicht lange Dekadenzen, vermodernde Staatlichkeiten diese Kräfte freisetzten, dass sie vielmehr überschäumten, aufbrachen aus berstenden Staatsstrukturen, die erst 1789 vor aller Augen endgültig zerbrachen. Und so ist Amerika geblieben - eine permanente Einung virtuell stets ein- oder weiterwandernder Bürger, die sich immer wieder eine neue Heimat suchen, mit anderen sich an anderen Orten zusammenschließen, in einem großen Land der unfertigen Bürgereinung. Die so freiwerdenden Kräfte wendeten sich zunächst in etwas wie einen praepolitischen Einungsraum, in jene Wirtschaft, welche im Reichtum der amerikanischen Einungen des Gesellschaftsrechts emporwuchs. Hier wurde Gesellschaftseinung - aber immer mit Öffnung, mit Blick auf den Staat, die Wirtschaftsführer waren oder wurden bald staatliche Einungsführer. Und die politischen Bürgereinungen wuchsen von unten empor, in vielfachen Verschlingungen ins Ökonomische hinein, von dort in die Staatlichkeit zurück, in unzähligen, immer erneuten ökonomisch-politischen Kernfusionen. Die Größe des Landes, die fortwährend neu auftretenden Einungsträger mochten diese Vorgänge immer wieder unterbrechen, verlangsamen - dies gerade bedeutete Kanalisierung der Einungsvorgänge, ihre Verwandlung in einen laufenden, säkularen Vorgang, in der Einmaligkeit einer jahrhundertelang werdenden Staatlichkeit. Es ist, als müsse hier mit jeder Präsidentenwahl ein neues Staatsbündnis geschlossen werden, eine große Staatseinung über das ganze Land hinweg, welches immer wieder, in Individualismus und Föderalismus, auseinanderbrechen darf. Organisationseinungen finden hier ebenfalls statt, ständig sich erweiternd, nicht nur Zusammenschlüsse von Bürgern. Die örtlichen Verwaltungen, in ihren Bürgern verankert, nehmen über die Distanzen des großen Landes Kontakt auf miteinander, schließen sich in zahllosen Einungsformen zusammen, mit den rechtlichen Instrumenten des privaten Vertrags- und Gesellschaftsrechts, in gesundem, unbewusstem Misstrauen gegen die gleichschaltenden Formen einer öffentlichen Befehlsordnung. Administration - das ist die Gesamtregierung, der politische Rahmenhalt der großen sich einenden Staatlichkeit, sie ist nicht, sie wird in der Föderalgemeinschaft der örtlich verwurzelten Verwaltungen. Den zentripetalen Kräften der Union tritt ständig sich erneuernde Zentrifugalität entgegen, heute etwa in der Entfaltung neuer Kraftzentren am Pazifik und im Süden; hier erneuert sich der Föderalismus in seinen alten Rahmenformen. Staatseinung wirkt schließlich in der immer stärkeren Bewusstwerdung der amerikanischen Weltmachtstellung, in der sich die Bürger auf neuen, nationalen

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Bewusstseins-Ebenen zusammenfinden; nicht nur als Soldaten und Touristen im Ausland haben sie das große Staatserstaunen der gemeinsamen Bürgerschaft in einem weltmächtigen Staat gelernt. Aus diesen Vorgängen des laufenden Zusammenwachsens kommt dieser Staatlichkeit, die noch kein Staat ist, es zu ihrem Glück noch lange vielleicht nicht werden kann, die ständige Energie des Imperium in fieri. Den Europäern aber bleibt nur der neidische Blick auf die Unwiederholbarkeit der großen Einungen dieses und anderer Einwanderungsländer, der eigentlichen Einungsländer der neueren Geschichte. Immer wieder wird man versuchen, dort auch Staatlichkeit zu erlernen - zurückkehren wird man, aus diesem Bologna der Staatseinung, mit dem Gepäck der rechtlichen und ökonomischen Formen der privat-wirtschaftlichen Zusammenschlüsse; und wäre es wenig, Vorformen der Staatlichkeit zu lernen in den Uniting United States? Moderne Ideologien haben Staatskräfte aus der permanenten Revolution entbinden wollen; Amerika hat die größere Kraft der permanenten Union gezeigt.

4. Der schwere Weg zur Einung formierter Staaten a) Europa: Staaten-Einung oder Staatseinung? In einem neuen Europa will man auf den Einungsspuren der Vereinigten Staaten wandeln, so wie in anderen politischen Großräumen, in der Dritten Welt; es ist ein mühsamer, enttäuschender Weg. Das große Hindernis ist bekannt und unübersehbar: die alten, völlig verfestigten Staatlichkeiten des Alten Kontinents, in ihrer traditionellen Institutionalität kaum aufzubrechen. Hier liegen die Prototypen des in sich geschlossenen, nur selten aufgesprengten öffentlichen Rechts, in Frankreich, Spanien und England. Können sie sich zusammenschließen, wenn vorher „nichts politisch explodiert" ist, nicht unfertige, zerschlagene Staatstrümmer in großem Zerbrechen oder Zerfallen entstanden sind, nunmehr nach Einung suchend, so wie die Bürger, welche neu beginnen wollen? Steht man hier nicht nur vor Einheiten, die nicht wissen, in denen niemand so recht weiß, warum er sich eigentlich einen sollte, sucht man nicht in Europa ständig zuallererst einmal nach guten Gründen für Einung, liegt darin etwas von der Notwendigkeit staatsgründender Vorgänge? In Deutschland fehlt, so scheint es, nahezu vollständig jene Dynamik, deren die Einung bedarf, die Kernexplosion des Weltkriegs - ist sie nicht im allzu rasch gelungenen Wiederaufbau kanalisiert worden, können die Vorgänge der Kernspaltung und Kernfusionen im staatlichen Bereich kraftspendend ablaufen, wo nicht genug gespalten, vor allem geschwächt worden ist? Dies ist - noch immer - das Bewusstseinsdefizit der Nach weltkriegsdeutschen; sie schließen von ihrer Kernteilungslage, von ihrer quasi totalen politischen und geistigen Zerstörung und deren staatskonstruktiven Kräften, die sie glücklich 61 Leisner

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erfahren durften, auf vergleichbare Bedürfnisse in anderen Ländern, wie sie sich vielleicht gerade noch im ebenfalls hart geschlagenen Italien finden können, das nach dem Kriege rasch zu seiner alten, glücklich-unfertigen Staatlichkeit der Staatskombinationen zurückkehren konnte. Man muss sich der ernsten Frage stellen, ob in allen Aufschwüngen zu Europa letztlich eines Tages mehr liegen wird als der Versuch, „Staatenverbindungen" zu schaffen, nicht aber Staatseinung; und beides ist völlig verschieden. Die Staatenverbindungen, jenes heute wieder interessante Überraschungsfeld international-rechtlicher Dogmatik, haben seit Generationen über die Müdigkeit der gelehrten Rechtsdogmatik politisch nicht hinauswachsen können. Wann waren sie schon etwas anderes als mehr oder weniger funktionierende, vorübergehende, „nach außen gewendete" Zustände? Überstaatlichkeit - das gilt es ganz neu zu schaffen; kann dies überhaupt gelingen allein aus international-rechtlichen Kategorien heraus, ist hier nicht die größere dogmatische Kraft und Einheit des gesamten öffentlichen Rechts gefordert, in dem sich Völkerrecht, Staatsrecht und Staatslehre, bis „hinunter" in das Verwaltungsrecht, wieder finden müssen? Immer mehr wird heute wieder gefühlt, dass die Staatseinung Europas ihre eigentlichen Probleme nur findet - wie ihre wirklichen Kräfte - , wenn die Dogmatiker des Staats- und Verwaltungsrechts eingreifen, aber in Einungskategorien hinauswachsen über den eigenen Staat. Doch die große Gefahr bleibt: dass hier nur Super-Institutionalisierungen versucht werden, dass allein in rechtlichen Formeln und Organisationen gedacht wird, nicht in „natürlichen Einheiten", in Bürgern und ihren Einungen, die immer wieder durchschlagen. Das schlechte Gewissen gegenüber dem machtarmen europäischen Parlament hat hier besonders gute Gründe, nicht nur aus demokratischem Denken heraus: Dies müsste ein Raum der Kerneinung von Bürgern werden, nicht eine von vielen Teil-Einungs-Institutionen. Einung weist auch hier den Weg: Diese fertigen Staaten, die sich zusammenschließen wollen, müssen zuallererst „unfertig werden", sich in sich selbst desinstitutionalisieren, darin Einungsbedürfnisse entstehen lassen, eine Art von kontrollierter, geradezu institutionalisierter Kernspaltung in sich durchführen; dann werden sie zur energiespendenden Kernfusion einer europäischen Einung finden - es sei denn, sie würden „natürlich enteint", durch Kriege und Krisen gebrochen. Die Europäische Einung hätte keine Chance, fänden sich diese Staaten nicht heute schon auf solchen Wegen, selbst wenn es in ihnen mehr gefühlt als klar bewusst ist. Die große grenzübergreifende Wirtschafts-Liberalisierung hat diese Staatlichkeiten aufgebrochen, geradezu amerikanisiert, im guten wie im bedenklichen Sinne; sie ist dabei, sie zu in sich unfertigen, oft geradezu hilflosen Einungseinheiten umzuformen, die sich dann eben deshalb zusammenschließen können und müssen.

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Die Unmöglichkeit einzelstaatlicher Verteidigungssicherheit lässt die alten Staaten als Schutzmächte fragwürdig werden, die Wehrtechnik hat ihre Autarkien zerstört und erzwingt technologische Einungen. Kulturelle Kräfte haben, nach Generationen nationalstaatlicher Verengung, zur großen Grenzüberschreitung wieder gefunden, die quasi-zoologischen Kunstkatalogisierungen der „französischen" oder „deutschen" Malerschulen wird man bald belächeln. Der nationale Kulturstaat wird den nationalen Wehr-Staat ebenso wenig ablösen, wie es nationale Umwelt-Staatlichkeit geben kann; solche Worte nur in nationale Verfassungen zu schreiben, ist in dieser Phase der grenzüberschreitenden Staatsaufgaben antiquiert. Die Feier- und Ferienbürger schließlich vollziehen eine laufende Staatsauflösung auf Zeit in jenem Verreisen, in dem sie ihre Kreise und ihren Staat wahrhaft „aussteigend" verlassen; und „mehr Freizeit" bedeutet auch mehr Freiheit vom Staat, wie allzu wenig erkannt wird. Beginnt eine „Auflösung des Staatsvolks" in Kosmopolitisierungen, eine Auflösung der Staatsgebiete in Grenzdurchlässigkeiten, so sind dies alles nur Erscheinungen der Beendigung des Institutionenstaates, der hier alles „Natürliche", Einungsgeneigte in seinen Rechtsformen wollte erstarren lassen. Folgen wird schließlich die Auflösung der Staatsgewalt des europäischen Typs, des dritten und am meisten resistenten Staatselements, wenn Bürger immer mehr ausbrechen aus den Grenzen des Staates, sich auf Zeit oder endgültig fremder Staatsgewalt unterwerfen, die sich dann eben darin abschwächen wird, wenn Wirtschaftseinheiten über Grenzen hinweg kooperieren, und keine Staatsinstitution sie mehr wirklich halten kann. Der Liberalismus des Staats-Rückzugs bedeutet Staatsauflösung in Europa; dies ist die große Chance der Einung von in neue Freiheiten grenzüberschreitend, geradezu revolutionär entbundenen Einungssubjekten.

b) Einungsprobleme der Dritten Welt Ganz anders wieder stellt sich das Einungsproblem in den Ländern der Dritten Welt, Südamerikas und Afrikas vor allem, wo Staatlichkeit zunächst nur ein Relikt europäischer Etatistik bedeutet - oder wo man deren Gespenster in fortdauernden kolonialen Belastungen glaubt umgehen zu sehen. Spanien hat einer ganzen Welt Gebäude voll formierter Staatlichkeit hinterlassen, wenigstens in den Institutionen, wenn schon nicht überall in einer kaum zu durchwirkenden Realität. War in Nordamerika wenig Institutionalität, viel Einungsdrang und -zwang, alles in Bewegung und Dynamik, von Anfang an etwas von der Freude der englischen Experimentalstaatlichkeit, so hatte im Süden die Super-Institutionalität der staatlichen Könige und Vizekönige alles in den Fiktionen rechtlicher Voll-Einung erstarren lassen: Einung - von Anfang an beendet. Selbst eine mexikanische Revolution hat nur in diesen Kategorien denken können 61*

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und daher bald alle Revolution, als endgültig stattgefunden, als beendet proklamiert. Daraus erklären sich dort die ständigen, geradezu notwendigen Revolutionen, Stöße, welche „durch die Institutionen hindurch" neue Einungschancen bringen sollen - und immer wieder sogleich in der vollen neuen Einung einer weiteren Verfassung erstarren. Die Einungsbürger werden in die Anarchie getrieben, sodann in die Totaleinheit gestürzt - und wieder zurück. Einung und Demokratie lägen, in laufenden „Kontakten der sich Zusammenschließenden", in jener angelsächsischen Geduld, welche Einungsvorgänge abwarten kann, nicht in einer lateinischen „formalen Ungeduld", welche immer wieder allzu rasch falsche Ruhe in Institutionen findet. Vielleicht müssen diese Länder durch permanente, jedenfalls lang dauernde Revolutionszustände leidvoll hindurchgehen, bevor sie das Gefühl für eine auch lateinischem Staatstemperament mögliche Staatseinung entwickeln können, welches sich Italien in seiner flexibilisierten und doch stabilen politischen Ordnung gewinnen konnte. Bisher war jenseits des Atlantik meist etwas wie „Revolution als Institution" - Einung als Vorgang muss gelernt werden. Wo aber noch das geistige Erbe der früheren Kolonialmächte lebendig ist, mag eben darin eine Chance der Einung liegen: Die alten Institutionen der europäischen Herren werden laufend verfallen, eigene sich entwickeln; dies kann nur in Einungsvorgängen geschehen, und seien es auch afrikanische Stämme, die in typisch unfertiger Staatlichkeit die große Chance des Zusammenschlusses finden. Überall begegnet man dort unfertiger Staatlichkeit, unvollständig nur kann die europäische Tradition sich fortsetzen, noch nicht verfestigt sind die eigenen Formen der Staatlichkeit. In der Einung dieser beiden Unvollkommenheiten und der hinter ihnen stehenden Kräfte liegen Staatschancen einer Welt, die vielleicht staunen machen wird, wenn sie sich auch der wirtschaftlichen Einung fähig zeigt. Die Einungs-Lehren aus Amerika, Europa und der Dritten Welt aber laufen in einem Wesentlichen zusammen, das in seiner Einfachheit nur die großen Schwierigkeiten andeutet: Teilung muss sein im Staat, bis hin zur Explosion, damit neue Einung werde; Unfertiges lässt sich, auf solche Weise entbunden, binden, damit es in Einung die Perfektion suche; laufend müssen diese Vorgänge, über Generationen hinweg, sich vollziehen, sollen sie ständige, wahrhaft in Kernfusionen kanalisierte Staatskräfte abgeben. Und in all dem zeigt sich nur die totale letzte Antithese zur alten, großen, institutionellen Staatlichkeit: Sie kennt Teilungen, nicht Ausbrüche; sie will stets „fertig" bleiben in ihren Institutionen, nicht verlaufen, sondern sein. In all dem mag sie zum Monument werden, als solches bestaunt auch manches überdauern - aber nur in den Kräften der Staatseinung kann sie dauern.

5. Einung als politischer Kraftquell in Kettenreaktionen Wie Staatseinung in vielen und vielfältigen Einungsvorgängen zusammenwächst, wurde bereits deutlich, insbesondere vom „gesellschaftlichen" in den Staat-

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liehen Raum hinüber. Hier soll noch ein besonderer Aspekt der „Einungs-Kräfte zum Staat" betrachtet werden: nicht wie friedliche private Einungen zu Staatlichkeit hinaufwachsen, sondern wie das, was hier Staatsexplosion und -fusion genannt und in seinen großen historischen Beispielen betrachtet wurde, bis in die staatsferneren Bereiche der Gesellschaft hinein wirkt, wie sich damit die politischen und öffentlich-rechtlichen Effekte ins Gesellschaftliche fortsetzen und verbreiten. Der Grundgedanke ist dabei: Aus dem politischen Raum findet etwas statt wie eine „Kettenreaktion der Ent-Einungen oder Einungen von oben", welche die Kräfte dieser Bewegung vervielfacht, und dies in vielförmiger Berührung, wenn nicht Verbindung von „Staat und Gesellschaft" - bis hin zu Erscheinungen, welche man geradezu als Einung von Staat und Gesellschaft verstehen könnte.

a) Staatsexplosion als Kettenreaktion Wo staatliche Ordnungen in politischer Explosion auseinanderbrechen, in revolutionären Anarchismen vor allem, werden nicht nur staatlich-institutionelle Bindungen auseinandergerissen, es lösen sich auch zahllose „gesellschaftliche", parainstitutionelle Beziehungen - im familiären und beruflichen Bereich, im Privatwirtschaftlichen, und dies wird sich in Zukunft in dem Maße noch verstärken, in dem der Staat auch in diese Räume ordnend eingreift; sein ungeordneter Rückzug lässt auch dort überall Formen der Ent-Einung zurück. All das, was einst der christliche und faschistische Korporativismus, was schon die Weimarer Verfassung in ihren para-staatlichen Einungs-Bindungen regeln, ja für die Gemeinschaft fruchtbar machen, eben „verfassungsrechtlich fusionieren" wollte, jene „politiknahen Lebensbereiche" - sie werden zwar von den Explosionen der Staatlichkeit nicht völlig aufgelöst, sie vermögen ihr sogar eine gewisse Kontinuität zu sichern; im Gefolge enteinender Staatsumwälzungen kommt es jedoch auch dort zu Ent-Bindungen, welche im Ergebnis die Folgen der Staatsexplosionen noch verstärken. Ein Beispiel bieten wieder die Veränderungen der gesellschaftlichen Basis im Gefolge der Französischen Revolution. Das Auseinanderbrechen der „Verfassung", des Ancien Régime, konnte rasch durch immer neue Revolutionsverfassungen notdürftig institutionell gekittet werden - der Privatbereich folgte nicht, er blieb entbunden aus seinen alten Ordnungen, insbesondere seine gewohnheitsrechtlichen Verfestigungen ließen sich nicht in wenigen Jahren wiederherstellen; es bedurfte schon der gewaltsamen „privatrechtlichen Institutionalisierung" des Code Civil. Und in dieser „gesellschaftlichen Kernfusion" wurden übrigens wieder mächtige staatseinende Kräfte freigesetzt. Die staatlich-politischen Auflösungs-, Ent-Einungsvorgänge setzen sich zwar im außerstaatlichen Bereich fort, vertiefen sich sogar, zugleich aber tritt hier auch, aus vielfachen bestehen bleibenden Einungen heraus, eine Verlangsamung dieser Kernexplosionen der Staatlichkeit ein. Etwas wie eine geordnete Kraftentfaltung aus dem Zerbrechen der Staatlichkeit wird so „in der Gesellschaft" ermöglicht - es sei

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denn, eine einzige Riesenexplosion zerstöre, im Rundumschlag, alle Bindungen der Politik und außerhalb von ihr. Die Russische Revolution hat dies, aus ihrer Ideologie der Einheit von Staat und Gesellschaft heraus, einmalig versucht: Die Kernexplosion der Zarenherrschaft sollte sich zugleich im Zerbrechen der bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, der Familien und der religiösen Bindungen fortsetzen. In diesem gewaltigen Ausbruch, in der Eindimensionalität und Gleichzeitigkeit dieser mächtigen politisch-gesellschaftlichen Explosion ging jedoch dann auch die Kraftentbindung zu neuen Einungen, zu sich integrierender Staatlichkeit allzu rasch zu Ende, eine sich in die Gesellschaft hinein verlangsamende enteinende und wieder zusammenschließende Kettenreaktion konnte nicht stattfinden. Jede politische Revolution setzt auf die Einmaligkeit ihres Schlages. Und doch ist es eine List der hier desintegrierenden Vernunft, dass solche Ent-Einungen erst langsam ihre tieferen Kräfte in der Gesellschaft entfalten, wenn „die Revolution wirklich ganz und überall dort bewusst wird". Die Soziologie könnte wohl den Nachwirkungen und Nebeneffekten politisch-verfassungsrechtlicher Basisveränderungen nachgehen: Sie würde auf viele gesellschaftliche Ent-Bindungen stoßen, in denen dann schon neue „Lösungen" - und eben auch Einungen - für die Zukunft angelegt sind, für Gesellschaft und Staat.

b) Ketten-Fusionen - vom Staat in die Gesellschaft Dieselben Vorgänge, welche in Staatsexplosion, sich verlangsamend, die Gesellschaft erfassen, dort neue Isolierungen und folglich Einungsnotwendigkeiten hervorbringen, zeigen sich erst recht im „positiven Sinne" einer Kettenreaktion von Kernfusionen der Staatseinung. Ihr ist eine grundsätzliche Grenzenlosigkeit eigen, eine virtuelle Globalität, die vor keinem Ordnungsbereich halt macht, deren Dynamik frühere Grenzen verschwinden lässt, die gerade darin „nie ganz fertig" wird mit ihrem zugleich Staats- und gesellschaftspolitischen Werk. Da ist zunächst etwas wie eine horizontale Kettenreaktion von Einungen, die immer neue Bereiche erfasst: Der eine Kontakt, die eine Kooperation ruft die andere, wie ein Teppich breiten sich Zusammenschlüsse aus, immer weiter werden sie geknüpft. Eine Gemeinschaftsaufgabe wird zum Modell der anderen, nur schwer lässt sich, die Erfahrung lehrt es, hier der enteinende Rückweg antreten, der doch, aus der Sicht der Dynamik, auch wieder so nötig wäre. Was sich in Verwaltungskooperation, im kommunalen Bereich vor allem, bewährt hat, verbreitet sich in stets neue Bereiche; es zeigt sich der notwendige Experimentcharakter jeder Kooperation. Da hier auch im Staatsbereich vielfach in den Kategorien des Zivilrechts gedacht wird, kommt es zur Entfaltung immer weiterer Nebenpflichten, Vorwirkungen und Sekundärbindungen, die sich um jede punktuelle Vertragsbindung herum flächendeckend ausbreiten - von der Bindungsstatik der Kontraktes zur Dynamik vielfach einender Bindungen in contrahendo.

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Vertikal entfalten sich Kettenreaktionen der Einungen, gestuft nach Intensität und sich verdichtend in Spezialität, die hinabreichen bis in staatsferne, private Bereiche. Hier findet etwas statt wie ein „Sich-Herabsenken der politischen in die gesellschaftlichen Einungen", der Abstieg aus den Höhen des öffentlichen Rechts in den Reichtum des Privatrechts. Hier wirkt Zwangsverbandlichkeit und setzt sich in den Einungen der Spontanverbandlichkeit fort, hier läuft die „private Vor-Diskussion der Gesetze" in zahllosen Vor-Einungen und Arbeitsgemeinschaften ab. In dieser vertikalen Kettenreaktion der Einungen, aus zusammenwachsender Staatlichkeit in sich zusammenschließende Privatheit, findet der Verbändestaat seinen Raum als eine Erscheinung, die nicht nur gefahrvoll-okkupierend hinaufwächst in die Staatlichkeit, in welcher der Einungsstaat vielmehr zuallererst hinabwächst aus der politischen Einungs-Plafondierung in die Verbandseinungen der Gesellschaft. Verbandlichkeit als gesellschaftliches Fortsetzungs-, als Kettenreaktions-Ergebnis der Staatseinung, das ist die Erfahrung im freien Deutschland nach 1945; „die unfertige Staatseinung von Bonn" hat dorthin die Verbände in ihrer Lobby nachgezogen, sie meist darin erst wirklich hervorgebracht. In all dem mag etwas erkennbar sein wie die Umkehrung der marxistischen Überbaulehre: eine Staatlichkeit, die sich nicht nur aus der Gesellschaft entwickelt, sich mit all deren Veränderungen wandelt, überhaupt nichts ist als jene, sondern eine politische Ordnung, welche ihrerseits durch ihre politischen Einungen in ihren unpolitischen Unterbau hinabwirkt - und wäre er nicht, gerade für Demokraten, im Grunde eher der „geistige Überbau der freien Bürger"? Vor allem aber wirkt diese einende Kettenreaktion, aus dem staatlich-politischen in den gesellschaftlichen Raum hinab, in der Schaffung vielfacher, insbesondere rechtlicher Einungsrahmen für die freien Zusammenschlüsse der Bürger; so entstehen die politischen Einungsgefäße, in welchen die Einungsphantasie der Bürger sich voll entfalten kann. Darin wird und muss Staatseinung immer liberal bleiben. Sie lässt ihren Bürgern und Organisationen, gerade im gesellschaftserfassenden Vorgang der Kettenreaktion von Einungen, die Freiheit der Einungssuche im Einzelnen, Entdeckung der Einungsmaterien und Einungsformen. Dort schlägt nun die Deduktion aus dem staatlichen wieder in die Induktion aus dem Bürgerbereich um: Das öffentliche Recht füllt sich auf in den flexiblen Gefäßen des privaten, es entsteht materielles Einungs-Staatsrecht in privatrechtlichen Formen, in Umweltvereinigungen und Jugendbewegungen, in mächtigen Wirtschaftsverbänden und Gesellschaften. Unmittelbare Vorformungen für eigentliche politische Einungen bilden sich, „Parteien für neue Einungsmaterien", für Mieten, Steuern und Umwelt, oder doch „Arbeitsgemeinschaften" dafür, Strömungen, Teileinungen in den Parteien. Oft noch ganz unbekannte Einungsmaterien werden darin entdeckt, hervorgebracht auf dem Boden bisheriger Einungen, nicht nur in deren quantitativer Steigerung, sondern auch in ihrer qualitativen Wandlung. Vielfache Kettenreaktionen laufen so ab, vom Staat in die gesellschaftlichen Einungen hinein - und zurück; es ist wirklich, als einten sich hier laufend Staat und Gesellschaft.

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c) Die Gefahr der organisatorisch vorweggenommenen Globaleinung das „ Volkspartei-Problem " Die Kettenreaktion der Einungen aus der Staatlichkeit heraus in die Gesellschaft wird immer zunächst in der Bereitstellung rechtlicher Rahmen für dort zu vollziehende Zusammenschlüsse erfolgen; der Einungsstaat lebt dann eben aus der Hoffnung, dass „sich diese Rahmen ihre Einung suchen", in ihr ausgefüllt werden, dass daraus Einungskräfte wieder in die Staatlichkeit zurückfließen. Gut ist diese beraten, wenn sie nicht allzu viel rahmenmäßig vorgibt, mehr und in erster Linie Freiheiten, nicht Organisationsstrukturen; und so ist ein Gewerkschaftsgesetz ein Einungsfehler, ebenso wie eine normative Ordnung privater Verbände. Einung wächst gerade in den Staat hinauf, grundsätzlich „materiell", wenn auch immer über formalisierte Organismen; aber sie treiben nicht als solche zur Einung, sie sind umgekehrt nur Folge von Einungswillen und Einungsbedürfnissen. Eine große Gefahr tritt auf, wenn der an sich kraftspendende Kettenvorgang, vor allem aus der Staatlichkeit in die Gesellschaft hinein, sich in rechtlich „postulierten Einungen" erschöpft, in ihnen die eigentlichen Zusammenschlüsse sozusagen organisatorisch vorwegnehmen will, in der Hoffnung, dass etwas die dynamische Verbindung der Bürger hervorruft, das im Grunde doch nur ihre institutionalisierte Vorwegnahme, allenfalls Verfestigung ist. So kommt es dann zur institutionellen Vorweg-Besetzung der Einungsräume, am deutlichsten bei den demokratischen Parteien, in der beklagenswerten Parteiengesetzgebung. In einer Demokratie kann sie nur toter Buchstabe bleiben oder lebendige Einung behindern; ein gutes Zeichen ist das erstere für die deutsche Republik. Von den Parteiengesetzen aber führt der Weg rasch weiter zur rechtlichen Vorformung jener politischen Erscheinungen, aus denen heraus all dies im Grunde gedacht ist: die bedeutenden, wesentlich überall etablierten, die „Volksparteien". Sie verstehen sich als große Sammlungsräume im Übergang von der Gesellschaft der Bürger zum Staat; Einungen außerhalb ihrer Mauern verbannen sie in die Partikularität des Unpolitischen oder „Extremistischen". Stets von neuem müssen sie aber erleben, dass sich die eigentlich politisch lebendigen Zusammenschlüsse außerhalb von ihnen formieren - oder in ihnen, in den dann zu Unrecht vielbeklagten „Strömungen", die doch nur ihre Überlebenschance in Einung bedeuten, wie es die Democrazia Cristiana und ihre Nachfolger bewiesen haben. Die Volkspartei als solche ist ein Einungs-Monster, nichts als eine institutionell postulierte, vorweggenommene Staatseinung; hier ist nur mehr ein allzu großer Einungsraum, lediglich die Möglichkeit, nicht mehr die nahe Wirklichkeit, der Zwang der Zusammenschlüsse. Der Raum der Volksparteien wird so groß, dass sich in ihnen niemand mehr begegnet; dort müssten wahre Mammutverbindungen laufend eingegangen werden, sollten sich die Parteibürger auf die nahezu grenzenlos weiten politischen Programm-Prämissen einigen; in Wahrheit bleiben sie weithin in den Formelkompromissen dieser Programmatik nebeneinander stehen - bis

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sie „neue Einungen von außen", gleich welcher Farbe, wieder zum Zusammenrücken in inneren Kreisen zwingen.

d) Daher: Einung stets in engeren Räumen Trotz aller notwendigen Erweiterungsdynamik, einer Staatseinung, die „über die Grenzen stets wesentlich drängt": Gerade wer in den politisch kraftspendenden Kategorien der Kerneinungen denkt, muss fordern, dass die Staatseinung induktiv in kleinen Einungsbereichen stets beginne, in jenen gedanklich engsten Kernen recht eigentlich, in denen auch die physikalischen Vorgänge ablaufen, aus ihnen heraus erst Kraft spendend. Die allzu breite gesellschaftliche Einung wird sogleich „organisiert", institutionalisiert, an ihren nicht mehr einungskräftigen Rändern schlechthin fingiert; darin verliert sich ihre Effektivität, die Kraft zu einer neuen, ganz natürlich ins Recht hineinwirkenden Dogmatik. Nur in der engeren Einung kann sich schwerpunktmäßig der unauslöschliche Herrschaftswille der Bürger und Organisationen mit dem anderer treffen und verbinden, so wie das physikalische Kernmodell nicht funktioniert, wo die Kerne beliebig aufgeblasen werden. Nur aus diesen engeren Einungen heraus, über konkrete Fragen und Materien, können auch die größeren Einungsräume laufend aufgeladen werden, die Volksparteien aus ihren „Arbeitsgemeinschaften" für vieles, immer Neues. Der vielberufene politische Pragmatismus, der letztlich doch nur ein Spiegelbild einer naturwissenschaftlichen Experimentalität sein will, findet darin seine staatsgrundsätzliche Legitimation, dass er immer wieder in neuen, kleinen Sachfragen die Einung, die Lösung dann aus ihr sucht. Wenn dies nicht gelingt, so wird der vorweggenommene, der fingierte Zusammenschluss zur „angeblich abgelaufenen" Einung, die in Institutionalisierung all ihre Kräfte verliert. Dies ist ein Grundproblem der Staatseinung, in der Sphäre der Bürger wie in der der einungsoffenen Organisationen: Der allzu sehr „interessengelöste Bürger", der nurmehr in „Kategorien allgemeiner Politik" denken soll, ist einungsunfähig, in seinen kleinen Interessenverfolgungen, in seinen Partikularismen muss er zuallererst Bürger sein dürfen, er darf nicht sogleich als profitgieriger Individualist verdammt werden, wenn er sich zuallererst zu deren Verfolgung zusammenschließt; auch darin weht schon etwas vom Geist der Staatlichkeit. Die politischen Parteien müssen sich zurückbesinnen auf ihre Ausgangspunkte: die öffentliche Vertretung partikularer Bürgerinteressen - durchaus auch Staatsbesetzung zum Bürgerprofit, wie es in Amerika noch immer unbekümmert und in großer Staatlichkeit praktiziert wird. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Anstalten, Verwaltungseinheiten überhaupt dürfen nicht bei der Globalität ihrer Kompetenzen stehen bleiben, die sie sich so gerne erhalten und erweitern, damit sie in ihrer grenzüberschreiten-

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den Unbestimmtheit herrschen können. Ihr rechtlicher Prototyp, die Allzuständigkeit der Gemeinden, ist Chance zugleich und große Gefahr für die Staatseinung dann, wenn die Kommune nurmehr als Globaleinung von ständig gemeinwohlbewussten Gemeindebürgern erscheint, wenn in ihren Mauern nicht ständig Kommunalpolitik abläuft in lebendigen Einungen um kleinere, „partikuläre" - und doch darin zugleich auch allgemeine Interessen. Die Gemeinde als Einung privater Interessenpartikularismen zum allgemeinen Wohl darf nie ihre Basis ausdünnen, ihre „eigenen Angelegenheiten" ; dort findet weit mehr Staatseinung statt - wo das institutionelle Denken der Großstaatlichkeit nurmehr partikulare Korruption wittert - als in jenen Riesenkommunen, die in bürger- und einungsfernem Bürokratismus erstarren. Eine Grundforderung der Staatseinung lautet daher: In den großen staats- und verwaltungsrechtlichen Einungshallen müssen stets Räume der engeren, der Partialeinungen bereitgestellt werden, in sie ist immer neue, quasi-privatrechtliche Verbandlichkeit einzubauen. Zu groß werdende Einungen sind stets von neuem zu verengen, allzu große Zusammenfassungen rückgängig zu machen oder zu spezialisieren. Erweiternde Verwaltungszusammenschlüsse markieren nur eine Bewegungsrichtung, in materienmäßiger Spezialisierung muss dem wieder entgegengewirkt werden. Staatlichkeit kann nicht in Einung lediglich immer weiter „vergrößert", sie muss in deren immer wieder auch kleineren Räumen gleichmäßig intensiviert - sozusagen „verbandlich reprivatisiert" werden. Neben der erweiternden Veröffentlichungs-Einung, welche dem Staat Kraft aus der Gesellschaft zuführt, muss stets auch der wiederverengenden „Privatisierungseinung" gedacht werden, welche den individualistischen Pol der Privatheit kräftigt. Und überall kann Kettenreaktion letztlich nur aus Kleinem in Größtes hinaufwachsen, von der kleinen Bürgerbewegung zum großen Staat.

6. Ein Staats-Geheimnis: die irrationale Dimension der Einung a) Einung: Rationalität,

Überraschung, Passion

Das öffentliche Recht jener Demokratie, die hier als die eigentliche Form der Staatseinung erkannt wird, ist geprägt von durchgehender, kaum zu übertreffender Rationalität ihrer Elemente und Abläufe, von ihren historischen Anfängen an. Alles erscheint geometrisch abgezirkelt, Berechenbarkeit ist Staatlichkeit. Dies alles aber würde gerade verarmen, erstarren, käme nicht politisches Leben in diese berechneten Gefäße in jener Einung, die immer zuallererst Möglichkeit ist, Virtualität, es stets bleibt, dort am stärksten wirkt, wo am meisten von ihr bewusst ist. Wie viel von ihr sich ergeben wird, bleibt zu Beginn ihrer Vorgänge stets unklar, worüber sie stattfindet ebenso wie die Form der Zusammenschlüsse. Einungen haben, mögen sie auch wesentlich rechtliche Rahmen ausfüllen, stets ihrerseits

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Rahmencharakter, wie die Verträge, die eine ihrer wesentlichen Formen darstellen. Hier ist nicht alles „vorzudenken", es bleibt ein Inhalt von Überraschung. In den zu fordernden „engen Einungen" kann diese Überraschung Grenzen finden, aufhebbar ist sie nie voll, irgendwo läuft sie immer über Schranken hinweg. Am gewaltigsten wirkt die überraschende Spontaneinung: 1989 ist es in Deutschland erlebt worden. Die Dogmatik des öffentlichen Rechts der Volksherrschaft akzeptiert denn auch diese wesentlich überraschenden Inhalte demokratischer Einungen in ihrer Kraftspendung. Jenseits aller Berechenbarkeit für den Bürger ist sich dieses Staatsrecht doch im Letzten seiner Offenheit bewusst, in eine Zukunft hinein, die nicht durch heutige Werte vor-zementiert werden kann, weil sie eben aus dem künftigen, unabsehbaren Einungswillen der Bürger erwächst, in politischer Weisheit das Unvorhersehbare der Kräfte - und Machtwechsel - einzukalkulieren sucht. Das Staatsrecht der Demokratie bedeutet die politische Hinnahme selbst des heute undenkbar Erscheinenden, darin ist sie für Wiedervereinigung immer offen geblieben. Darin öffnet sie sich jener Einung, die die Kraft der Überraschung in sich trägt, aber auch die „Kraft des sich Einstellens, auf das Unerwartete", das stets in der Begegnung mit anderen Personen liegt. Ein Einungssubjekt, sei es der Bürger oder die Verwaltungseinheit, hat zunächst einmal andere in ihrer Globalität zu akzeptieren; in deren Willensäußerung, mit der es sich sodann einen muss, bleibt stets ein großer Rest von Unerwartetem, Überraschendem, das dem Einungsbereiten die Kraft abverlangt, es aufzunehmen. Die Faszination der Einung liegt im Nicht-Wissen, wie und worüber sie sich letztlich ergeben wird; etwas von ihr begeistert im Gesetzgebungs-Rund der Parlamente wie am runden Tisch der Verwaltungs-Planer, der europäischen Staats-Einer; dieser Satz wurde vor den Runden Tischen des Ostens geschrieben. Hier ist etwas lebendig von der tiefen Passionalität des Politischen, das im Einungsvorgang wirklich als Freund-Feind-Verhältnis erkennbar wird, im Zusammenschluss wie im enteinenden Gegensatz, der wieder Notwendigkeit und Kraft des Miteinander hervorbringt. Diese Spannung, das Wesen des Politischen, wirkt nirgends stärker als in Einungsvorgängen, wo nur mehr die Leidenschaft das unerwartet Begegnete bewältigt. Eine hohe Verbindung vollzieht sich hier, zwischen der Rationalität der demokratischen Rechtsformen und einer Einung, die nicht nur irrationalisiert, sondern passionalisiert - im tiefsten Sinne politisiert.

b) Zusammenschluss als „ Ereignis " Einung ist Vorgang, doch immer auch mehr: gerade darin Ereignis; sie ist es von der Kulmination des Zusammenschlusses in der Vertragsverfestigung, die sich heraushebt aus der laufenden, privaten Geschäftlichkeit, über Gesellschaftsabschluss

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und Ehe - diese bereits als öffentliche Einung zweier Bürger zur Fortsetzung privater und im Letzten auch staatlicher Gemeinschaft - bis in das Zentrum der Staatlichkeit: Der Staatsvertrag ist das mythische Groß-Ereignis der Demokratie, jeder ihrer Staats-Akte, von der Gesetzgebung bis zum Staatsvertrag, bedeutet Einung als Ereignis; in einem anderen Sinne als dem des Zusammenschlusses kennt die Volksherrschaft dieses Wort nicht. Selbst außerhalb ihrer Räume, vor ihr, waren ja bereits die machtvollsten Einungen zugleich die größten, die eigentlichen StaatsEreignisse, bis hin zum symbolhaften Vorgang der Kaiserproklamation in Versailles. Und in der Wahl hat schon die Kirche stets auch das allerhöchste Ereignis sehen können; etwas von einem afflatus Spiritus Sancti weht denn auch in jeder gemeinsamen Kür. In solchem Zusammenschluss bei der Bündelung paralleler Willen, virtuell stets in eine Unendlichkeit gerichtet - da ist „etwas geschehen", ein Faktum gesetzt worden, das nun eigene Kräfte entfalten wird, sich in Bahnen um die Einungsträger dreht, in Selbstlauf, mehr Kraft entfaltend als ihre addierten Willen. Es ist dann als würden die Willenskräfte überhöht durch etwas wie eine gemeinsame „Geschichte", von den kleinsten Vertragsparteien bis zu den Staatsgründern, nicht in kalkulierbarer Institutionalität und doch in einer eigenartigen Objektivierungswirkung, welche die Einung entfaltet. Sie hebt ihre Subjekte, die ganz fest bleiben, zugleich in eine neue Ebene hinauf, wo ihnen etwas wie eine gemeinsame Kraft von oben zuwächst, die nicht nur „von unten" kommt, aus ihnen selbst allein.

c) Staatseinung - ein politisches Pfingsterlebnis Diese Betrachtungen haben sich nie gescheut, selbst die höchsten Inhalte des Geglaubten und seine Bilder in die tieferen Ebenen irdischer Staatlichkeit zu tragen, mit der man sie immer in einer großen Analogia entis verbunden sehen muss - solange sich im Staatsrecht noch, historisch und geistig, Theologie mit anderen Mitteln fortsetzt. Staatseinung darf daher im Letzten als Abglanz der größten christlichen Kraftspende verstanden werden, als ein politisches Pfingsterlebnis, in welchem die Geister der Menschen - ein schönes Bild - nach oben entflammt, von oben erleuchtet werden. So hat die ganze christlich geprägte Staatskultur „ut omnes unum sint" verstanden, sie hat es mitgefeiert. Dieses Geheimnis liegt im Letzten darin, dass hier, in Staatlichkeit wie im göttlichen Geist, mehr in Einung angenommen wird, als sich in ihr voraussehen, in sie hinein voraussetzen lässt. Sie bringt eben stets noch „die andere", die gemeinsame, die Dritte Dimension des Dritten Rom, die Kraft der geistigen Verbindung der Menschen, die über sie hinauswächst, über ihr politisches Vermögen wie ihr gemeinsames Beten.

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Staatseinung setzt darin eine letzte, wahrhaft überrationale Kraft frei, in dem Sich-werfen in etwas ganz anderes hinein; und etwas davon wirkt bis in die kleinste Vertraglichkeit, in der mehr liegt als reiner Austausch, bis in die loseste Begegnung, in der schon einendes gegenseitiges Erstaunen verbindet. Das moderne Staatsrecht der Demokratie, jene im atomisierenden Rationalismus der Aufklärung wahrhaft entzauberte Materie, es findet in der Staatseinung zurück in staatsschaffende, geradezu mystische Verbindung. Nicht umsonst hat die dynamische Politik alle Rationalismen immer wieder überrollt; Demokratie war dort am größten, wo sie gerade dies sogar rechtlich noch angenommen hat, den Staat als Revolution sehend und feiernd. In den vielfachen Kontakten der Bürger und Machtträger, in der Gemeinsamkeit dieses „Raumes von Pfingsten", werden in Einung alle dauernd staatsschaffenden Kräfte zusammengefasst, bis sie dann in Triumphen gemeinsam zum Staatszentrum ziehen, in Staatsrenaissance die Brücken zu früherer Staatlichkeit schlagen, sich in der Monumentalität der großen Lösungen - zusammenfinden. Alle diese Erscheinungen, in denen frühere Betrachtungen bereits die Kraftquellen des Institutionenstaats sahen, in dessen irrationalen Grundlagen, finden ihren einheitlichen und nunmehr dynamischen Ausdruck im Geheimnis der Staatseinung. All dies, der große Erfolg, die wiederentdeckte Staatlichkeit und die Größe der staatlichen Lösung, wird erst in Einung zur neuen Staatsdogmatik der Demokratie. Sie muss nicht auf Siege warten, auf wiederentdeckte vergangene Schätze, nicht Statuen errichten: Alles liegt schon im täglichen Zusammenschluss ihrer Bürger und Staatsmächte. Und der kraftspendende Zauber kommt nicht von außen, aus Glück und Geschichte, sondern ganz einfach von innen, aus denen, welche dem Wunder im tieferen Sinn glücklich „unterworfen" sind - aus den Subjekten, welche der moderne Staat als einzige kennt, weil sie ihn in Einung tragen.

I I I . Von Herrschaftsobjekten zu Einungssubjekten 1. Subjektivierung - Kraftquell der Staatlichkeit Die geheimnisvollen politischen Kräfte, welche Staatlichkeit hervorbringen und tragen, kann man nicht einfach im definierenden dogmatischen Zugriff erfassen, man muss sich ihnen - gerade wenn man von der bisherigen Dogmatik des Staatsrechts ausgeht - in vielfachen Begriffsannäherungen, immer wieder von anderer Seite, zuwenden. In diesem Sinne wird im Folgenden der Begriff der Herrschaft betrachtet, und wie er sich wandeln kann, von einem objektiven Institutionensystem hin zu dem Miteinander der Einungssubjekte.

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a) Die odiose Herrschaft

- Macht von Subjekten über Objekte

Herrschaft - und damit letztlich auch der Staat - ist spätestens seit der Aufklärung ein politisch odioses Wort, weil sie seither als ein objektiver Begriff der institutionalisierten Macht erscheint, welche über „Objekte" ausgeübt wird. Der Einzelmensch wird, so scheint es doch, „als solcher vom öffentlichen Recht gar nicht zur Kenntnis genommen", aus der Sicht dieses Instrumentariums gibt es nur „Herrschaftsgegenstände", so „objektiv" wie es eben die Herrschaft auch sein soll. Folgerichtig war dies, solange man von einer Ordnung ausging, welche letztlich nicht von Menschen geschaffen und gehalten war, die nicht human, sondern übermenschlich, transzendent begründet erschien. Selbst wo man sie aufgehängt sah in einer Sphäre „höheren aristokratischen Menschentums", blieb sie doch, aus der Sicht der Beherrschten, selbst darin noch eine objektive, dass sie gerade nicht, wie es dann die Aufklärung polemisch wendete, „von Menschen über Menschen", sondern letztlich von Menschen über jene „menschlichen Sachen" ausgeübt wurde, die, als Hintersassen oder einfach „Leute", doch noch immer etwas von der Sächlichkeit des römischen Sklavenbegriffs an sich trugen. Man hat nicht hinreichend beachtet, dass eine voll „objektivierte Ordnung", die nicht auf Konsens beruht und Einung, nicht allein den transzendenten Halt braucht, sondern auch, ja vor allem, ihre „Basis in Herrschaftsobjekten", nicht in Subjekten, finden muss. Der Mensch verschwindet dann hinter größeren Ordnungen, dem Clan, der Familie, der Kirchengemeinde, oder er wird als Subjekt hinauf-, damit aber im staatsrechtlichen Sinn letztlich aufgehoben in dieser göttlichen Ordnung. Aus ihr kann gleichermaßen ein „Recht der Personen", wie ein „Recht der Sachen", nebeneinander, fließen, das öffentliche Herrschaftsrecht ist, im Letzten, stets als ein Sachenrecht zu begreifen, so wie man noch spät im Staats- und noch später im Völkerrecht sagen konnte: Quidquid est in territorio, est etiam de territorio - eben die Herrschaftsobjekte. Nachdem nun der göttliche Halt sich löste, diese Herrschaft „nach oben aneigenbar", damit auf einer Seite subjektiviert erschien, hätte dies eigentlich auch auf der „anderen Seite" der Herrschaftsbeziehung geschehen müssen, bei den Beherrschten; doch sie blieben „Gegenstände" wie bisher. Der Subjektivierungsübergang auf der Herrschaftsseite, von den höheren Mächten zum persönlichen Gott, von dort zur irdisch personifizierten Führung, ihrer familiären Institutionalisierung in der Aristokratie - auf der „Objektseite" fand er nicht statt. Dann aber musste Herrschaft odios werden, wurde sie doch von Subjekten über andere Subjekte ausgeübt, die aber von jenen als Objekte gesehen wurden, in einer nunmehr voll bewussten, diskriminierenden Versachlichung des Menschen. Darin liegt, bei all seiner Größe, das Wesen des Institutionenstaats, der sich deshalb auch bruchlos aus der Civitas Dei entwickeln konnte, welche so rasch ihrerseits als reiner fürstlicher Transzendenz-Staat verstanden, vielleicht missverstanden worden ist,

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obwohl in dem Begriff der Civitas doch so viel mitschwingt von Gemeinschaft und Einung.

b) „ Herrschaftsobjekte

" - selbst noch in der Demokratie

Die Demokratie hat, aus der Aufklärung heraus, nicht sogleich die totale Umwertung der Subjektivierung bringen können; zunächst und für lange Zeit hat sie nicht so sehr auf der Adressatenseite subjektiviert, als auf der Staatsseite objektivieren wollen. Ihr Irrtum lag darin, dass sie die Subjektivierung der Bürger schon vollzogen glaubte, wenn sie die Herrschaft der Normen und Institutionen errichtete. Abgesehen von dem Misstrauen der Beherrschten, es könnten hinter diesen Institutionen doch immer noch und sehr persönlich „die Herrschenden stehen" - und wie sehr war es nicht stets begründet! - das Hauptproblem blieb unverändert: der Mensch als Herrschaftsobjekt, unerträglich letztlich in der Volksherrschaft. Davon aber hat die Demokratie generationenlang nicht Abschied nehmen können, weil in ihr die objektivierende Institutionalität fortwirkte. Daraus erklärt sich das Demokratisierungsstreben der Gegenwart, bei dem so mancher traditionelle Demokrat sich fragt, ob man denn wesentlich demokratisch Neues postuliere oder fordere. Doch dies ist etwas Neues: die Einungsdemokratie, und deshalb wird sie auch mit dem oft primitivierend erscheinenden amerikanischen Schwung vertreten, in einer Grundstimmung „aussteigender" und einwandernder Bürger. Denn dies gilt eben noch immer: Eine Ordnung, welche primär als normativ institutionalisiert verstanden wird, in der kann, als solcher, überhaupt nicht mehr subjektiviert (fort)gedacht werden, sie muss den Bürger und seine Einungen als Objekte sehen, gerade wenn sie selbst objektiviert worden ist. Allmacht muss sie sich daher über diese Objekte im Letzten ganz natürlich zuschreiben, über alle Organisationen, denen keine natürlichen, eigenen Rechte zustehen dürfen, aber auch über jenen Bürger, den sie im Letzten nur als ihr rechtliches Geschöpf betrachten kann. Und in der Tat: Was ist denn das Rechtssubjekt anderes als ein Geschöpf der Rechtsordnung? Wie lange wird die Verfassungsrechtsprechung noch brauchen, bis sie die eigenartige letzte Undurchdringlichkeit des Menschen wirklich durchsetzt, wird es ihr je gelingen, wo sie doch auf den Wegen der ständig abwägenden Verhältnismäßigkeit sich bewegt, und wer anderes sollte diese Waage denn halten als, eben doch, der objektivierte Staat, die Göttin Roma der Gerechtigkeit? Blind ist sie, ohne Subjektkontakt, die Rechtssubjekte bleiben ihre Kreaturen. Objektive religiöse Kategorien werden weitergetragen, hinter allem steht, nach wie vor, der Institutionen- und damit der Transzendenzstaat. Die Zeiten des großen, systematischen Naturrechts ließen diese Natur und ihre natürlichen Rechte nicht nur bei den Menschen erkennen, sondern zugleich auch, ja potenziert, in ihren natürlichen Organisationen, die dann nur als Einungen gedacht werden konnten, so stark sie auch durch lange Tradition verzunftet sein mochten. Aus solcher Sicht war selbst das, was man heute Verwaltungseinheiten

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nennt, noch der Subjektivität fähig, unvordenklich, außerstaatlich entstanden, entwickelte es sich in voller Autarkie weiter, in menschenähnlicher Individualität. In tiefem Missverständnis hat die Demokratie dies gebrochen, in ihrem französischen Krieg gegen die Zwischengewalten im Namen der einen, unteilbaren Republik. Je mehr nun „organisiert" wird, desto mehr wird objektiviert, die Organisation ist nicht nur Herrschaftsinstrument, sie ist Herrschaftsgegenstand par excellence; der voll eingerichtete Staat ist voll entsubjektiviert. Gleichheit wird hier durchgesetzt, ohne Ansehen der Person - was kann dies anderes bedeuten als den „objektiven" Blick auf die vielen, gleichen HerrschaftsSachen, die in ihrer Egalität austauschbar werden, beraubt der Unverwechselbarkeit geheimnisvoller Subjektivität? Totale Nivellierung ist stets als Entmenschlichung bekämpft worden; wann wird man erkennen, dass schon in ihrem Anfang, der großen, allgemeinen Gleichheit, diese Keime der Versachlichung liegen? Das Ideal der Institutionendemokratie ist doch letztlich etwas wie ein verallgemeinertes „Anstaltsdenken" im öffentlichen Recht, nicht ein Körperschaftsdenken; das Grundmodell bleibt die Zusammenfassung sächlicher und „persönlicher Mittel" auf Staatszwecke hin, je mehr von diesen letzteren heute die Rede ist, desto stärker schreitet diese Veranstaltlichung der Staatsgewalt voran. Wo früher der Dienst für König und Vaterland die härteste, die militärische Herrschaft in höchst persönliche Beziehungen umsetzte, wird nun an der großen Kriegsvermeidungs-Maschine gebaut, in welcher Bomber und Piloten in einem riesigen, objektivierten technischen Mechanismus zusammengefügt werden. Selbst Geist und Bildung, das zutiefst Subjektiv-Persönliche, sehen sich in objektivierte, damit eben angeblich „unparteiliche" Räume einer Kulturstaatlichkeit gesetzt, deren Ideal so oft das Staatsmuseum als Anstalt bleiben wird - die voll objektivierte, die tote Kultur. Im eigentlichen Staatszentrum, in der Verwaltung, ist und bleibt der Mensch stets zuallererst ein Gestaltungsobjekt, zu dessen Ordnung die herrschaftlichen Mittel des öffentlichen Rechts eingesetzt werden, auf das sie unmittelbar und endgültig einwirken, wenn der Bürger nicht aus diesen Verwaltungsbeziehungen ausbricht, Schutz dagegen sucht beim „letzten Wort einer personifizierten Staatsgewalt", beim Richter. Administration wird stets auch die Verwaltung von Menschen als Sachen bedeuten, ganz natürlich, welch große Humanisierungsworte man immer darüberwerfen will; und die Angst vor der Bürokratie hat ihren realen Hintergrund in dem Gefühl, heute schon weithin im Bewusstsein des Bürgers, in dieser Verwaltung letztlich doch immer - wie perfektioniert sie auch sein mag, vielleicht gerade darin - einem Apparat zu begegnen, der Objekte behandelt und ordnet. Verwaltungsgerichtsbarkeit, sicher im Grunde verstanden auch als ein Ausbruch aus diesen objektivierten Bezügen in das „Staatsgespräch zwischen Menschen im Gerichtssaal", wird diese Mauern der Objektivierung, welche auch heute den Bürger umschließen, nicht versetzen.

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c) Grundrechte - subjektivierende

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Umkehr der Staatlichkeit?

Die Freiheitsrechte als Grundlage der Staatlichkeit wurden von Anfang an als die große subjektivierende Wende gefeiert, die in der Anerkennung der Menschenwürde als Grundrecht nunmehr ihre Vollendung gefunden habe. Doch gerade dies letztere stimmt nachdenklich. Was ist aus diesem neuartigen, höchsten Grundrecht geworden, mit welchem die Kommentatoren rascher fertig werden als mit jeder anderen traditionellen Verbürgung? „Menschen nicht mehr als Objekte" - das Thema dieses Kapitels soll hier mit einem wuchtigen Grundrechtsschlag gelöst sein, doch man könnte die große Menschenrechtserklärung fortdenken: „und doch liegt er überall (noch immer) in Ketten" - als Herrschaftsobjekt. In jedem Augenblick ist er noch immer, in demokratischem Privat-, Straf- und öffentlichem Recht, zuallererst Gegenstand fremden Willens, auch wenn er diesen in Grenzen zurückdrängen kann. In dem Augenblick, in welchem ihm letztlich der Richter das subjektive Abwehrrecht gegen seinesgleichen oder den Staat abspricht, fällt er voll in die Objektstellung zurück, und schon der Streit über seine subjektiven Rechte findet immer in den Räumen des objektiven Rechts statt, welches allein subjektive Rechtsstellungen verleihen kann, so will es die alte große Dogmatik. Und „wie viel Subjekt" der Mensch sein, stets bleiben müsse, das eben sagt auch der Eingangsartikel des Grundgesetzes nicht. Mehr hat man damit also kaum leisten können als die Vergangenheitsverurteilung von Unmenschlichkeiten. Ist es nicht unmenschlich, dass sie überhaupt normativ erforderlich ist? Die Subjektivierung der Grundrechte hat sich zunächst im Negativen vollzogen, weithin sich darin erschöpft: Dem Bürger werden staatsfreie Räume gesichert, und, schon sehr sparsam, einigen der von ihm geschaffenen Organisationen. Darin darf er Subjekt sein - sonst nirgends, und wie wenig interessiert dies das Recht de tous les jours, das eben Institution ist, nicht plébiscite; für die „großen Richter des Bürgers", die der Obersten Bundesgerichte, sind diese Grundrechte fast immer nur Gegenstand vorsichtig abwehrender Randbemerkungen, wie könnte es anders sein in der bewundernswerten Tradition der „Institutionen des deutschen Privatrechts"? Wenn der Bürger in seinem Status negativus nur in ganz engen Räumen als Subjekt anerkannt werden kann, so wird ihm, im größeren, unendlichen „rechtlichen Weltraum", in dem der demokratische Gesetzgeber wirkt, erst recht die volle Objektstellung beschert; dort kann er vom Herrschaftsstaat verplant und administriert, dort kann ihm gesetzlich befohlen werden, und wann stößt diese Staatsgewalt schon an die grundrechtlichen „äußersten Grenzen" ihres Sonnensystems. Je härter diese, je absoluter sie durch rechtliche Schranken bestimmt werden sollen, desto größer wird die Versuchung der Staatsgewalt, überall bis an sie vorzurücken; dies ist die von allen Betroffenen und ihren Anwälten stets zu Recht befürchtete notwendige Negativwirkung verfassungsgerichtlicher Freiheitssicherungs-Entscheidungen: Sie zeigen dem Staat erst, in obiter dictis, was er noch alles dürfte. Der Status activus, die verfassungsrechtliche Quelle des Einungsstaates, wird nur in engen Grenzen in die Grundrechtlichkeit emporwachsen können, im Wahl62 Leisner

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recht vorsichtig als „grundrechtsgleich" bezeichnet. Vor allem aber ist dort der staatsorganisatorische Vorbehalt, die Regelbarkeit durch den Gesetzgeber, stets erhalten und groß geschrieben worden; dies ist eben traditionelles Staatsorganisationsrecht im Sinne objektivierter Institutionen, nicht die Anerkennung einer eigenartigen menschlichen Subjektivierung als Staatsgrundlage. Langsam erst, aber nunmehr doch immer stärker, entwickelt sich in der Verfassungsrechtsprechung das Bewusstsein, dass es hier gilt, eine eigenartige Subjektivierung des Staatsrechts zu vollziehen, in der weit mehr vom Staat zu achten ist als nur eine verwaschene, allgemeine, gleiche, geheime Wahlberechtigung. In der „Wesentlichkeitstheorie" des Bundesverfassungsgerichts trägt dies auch schon erste allgemeinere Ergebnisse, die bis ins materielle Recht, aus der reinen Staatsprozedur heraus, hinüberreichen: dass das Wichtigste der Staatsgewalt in Einung wachsen müsste, in Subjektivierung. Hier liegen Ansätze der neuen Dogmatik des Staatsrechts.

d) Das grundrechtliche Ablenkungsmanöver die Befriedigungsfreiheit im Forderungsstaat Die eigentlichen Kraftanstrengungen heutiger Demokratizität gelten vor allem dem Ausbau und der grundrechtlichen Sicherung des Status positivus, der Verrechtlichung der Forderungsstaatlichkeit. In einer Begründung, die durchaus auch aus der Sicht der Staatseinung ernst genommen werden muss, heißt es, so allein könne man die „Subjekte erhalten", die Existenzgrundlage der Bürger sichern; wie sollen sie sich unter Brücken einigen, wenn sie dort nur sterben können? Doch abgesehen davon, dass es die Geschichte anders erzählt, dass sich eben diese Proletarier ohne Status positivus unter ihren Brücken machtvoll zusammengeschlossen haben, weil ihre eigentliche Kraft das Wahlrecht war, der Status activus der Einung - was nützt es diesen Subjekten, wenn sie sodann „nichts Wesentliches weiter rechtlich vermögen", abgespeist werden mit einem Platz in der Staatsschlange? Das große Wort, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, ist hier in den Staat hineingesprochen: Und nicht die Brotverteilung war das entscheidende Wunder, sondern jene Brotvermehrung, der im Irdischen die Entfaltung der Staatsmacht in einer Einung entspricht, welche mehr ist als Addition der einzelnen Bürgerwillen. Wann wird man, hoffentlich, in einer satteren Welt erkennen, dass der Mensch in der staatsorganisierten Bedürfnisbefriedigung erst recht zum Objekt wird, weil die Herrschaft bestimmt, wie viel er erhält, sich darin gerade festigt? Dass das Minimum flexibel bleibt, ständig nach oben sich verschiebt, wird heute als soziale Errungenschaft gepriesen; sollte nicht zu denken geben, dass feste Grundlagen einer Minimalexistenz nicht feststellbar sind, dass daher immer dort Herrschaft, Staatsdefinition sein wird, wo Bedürfnisse befriedigt werden, so wie heute schon das Eigentumsrecht in der Anerkennung der sozialen Berechtigungen als Grundrecht nicht verstärkt worden ist, sondern leerläuft?

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In diesen Austauschbeziehungen haben die Organisationen des Institutionenstaats nicht den Menschen als Partner, der sie trägt, diese Anstalten kennen nur den Nutzer, das konsumierende Rädchen ihres Mechanismus, welches ihr Brot - verarbeitet. Brot verteilt worden ist aber noch immer in der Geschichte in „Armenanstalten", an Arme von der größten der Anstalten, der Kirche, an die Geschöpfe ihres Gottes, nicht an die Bürger ihrer Gemeinde. Nur eine Vergrundrechtlichung des Status activus im Einungsstaat könnte also die Objektstellung des Menschen in der Herrschaft beenden, damit erst die Grundlagen der staatlichen Allmacht aufheben. Erst wenn der Bürger Kraft und Mut findet, die kreative, in diesem Sinne wahrhaft franziskanische Armut des Status activus der voll staatsbefriedigten Sattheit des Status positivus vorzuziehen, dann erst vollzieht sich eine wahre Subjektivierung der Staatsgewalt; und dahin sind immer wieder bedürfnislose, dadurch gerade staatsschaffende revolutionäre Basisgruppen auf dem Weg, welche die Verteilungsstaatlichkeit als Staatskorruption entlarven wollen. Und fasst man noch schärfer zusammen: Muss die Losung nicht heißen: Weg von der Abirrung des animalisierenden, Herrschaftsobjekte schaffenden Sozialstaats, hin zur Herrschaftssubjektivierung aus Einungsbürgern?

2. Repräsentation - ein Grundproblem subjektiver Staatlichkeit a) Subjektivierung

als Einheit von Herrschenden und Beherrschten

In der Staatseinung soll sich Herrschaft aus Subjekten zusammenfügen, aus Subjektivitätsfragmenten, welche ihr subjektives Wesen nicht verlieren, sondern im Zusammenschluss potenzieren. Diese Macht muss also ständig rückführbar sein auf den Einungsvorgang ihrer Träger, und nur deren Einungsergebnisse darf sie verwirklichen. Muss dies nicht mit Notwendigkeit in einer Radikaldemokratisierung enden, welche immer von neuem, hinab bis in die tiefsten Gründe der Basis, Diskussionen und Mehrheitsbeschlüsse verlangt? In solcher Vereinfachung wird es heute nur zu oft gesehen, ohne hinreichendes Verständnis für die Vielfalt der Einungsträger, der Einungsstufen und der Einungsmethoden, die sich durchaus nicht - dies wird noch zu vertiefen sein - in der Mehrheitsentscheidung erschöpfen lassen, so wie auch nicht nur der Bürger Einungssubjekt ist. Ein Problem aber stellt sich in der Tat aller Subjektivierung der Herrschaft: die Rückbindung der Machtausübung an die Subjekte, welche sie tragen, an die Menschen zuallererst, aber auch an alle Partner anderer, organisativer Zusammenschlüsse. Bisherige Betrachtungen haben Kontakte, Kooperationen und Vertraglichkeit als wichtige Stufen solcher Staatseinungen erkennen lassen; doch immer bleibt das Problem der traditionellen Dogmatik gestellt: Wie kann der Schritt „über 62*

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die Austauschebene hinaus" vollzogen werden, indem dann Vertraglichkeit umschlägt in Herrschaft? Zwar ist dies nicht die ganz korrekte Frage, denn schon im Vertrag findet Herrschaft statt, erfolgt ein solcher Umschlag; und im Grunde gibt die Antwort jenes Gesellschaftsrecht, das in seinen Organisationen ganz natürlich die Herrschaftsebene der in subjektiver Einung geschaffenen Organe hervorbringt. Die Problematik türmt sich also im öffentlichen, im Staatsrecht nicht so hoch und grundsätzlich anders auf, als es eine Institutionendogmatik annahm, welche eben den Staat stets zuerst als absolute „Herrschaftsmaschine von oben" sah, nicht als „sich einende Gesellschaft", und welche später die transzendenten göttlichen Kräfte der Fürsten durch eine ebensolche „Göttlichkeit von unten" ersetzen wollte. Doch dies vorausgeschickt, muss hier doch einiges über jenes Mandat des öffentlichen Rechts gesagt werden, über jene Repräsentation, welche nicht als Hindernis der Zusammenschlüsse, als Einungssklerose, alle neue Dynamik in die alten Formen der königlichen Institutionen zurücklenken darf.

b) Die Gefahr der Repräsentation: Verwandlung von Einungssubjektivität in Staatsobjektivität Von jeher bezeichnete dieses Wort eine Crux des Staatsrechts: Man fühlte in ihm die neuartige Dynamik von Einungskräften, welche die Ruhe der Staatsgeometrie, der Herrschaftsmechanik zu zerstören drohten. So sollte denn das öffentlich-rechtliche Mandat, von der privatrechtlichen Vertretung in voller Andersartigkeit getrennt, den Einbau der neuen, subjektivierenden Herrschaftsformen in die alten königlichen Institutionen ermöglichen: der Repräsentant als kleiner Teil-Einungs-König auf Zeit. Die Einungskräfte sollen nicht „in der Person des Mandatsträgers weiterwirken", ihr Dialog ihm nicht staatsgestaltend auf der Zunge liegen; die Einung, der er seine Stellung verdankt, soll wesentlich im Akt ihres Abschlusses geschehen, sich unaufbrechbar zur Individualität eines neuen Staatsorgans zusammenschließen. Zwar muss dessen Träger sich weiter einen mit anderen Repräsentanten, und darin wirken auch die Einungskräfte fort - immerhin doch ein großer Fortschritt aus der allein in objektivierenden Befehlen von oben wirkenden Staatlichkeit. Diesen Schritt sollte eine Betrachtung der herkömmlichen Repräsentationstheorien nicht übersehen, darin bereits das Neuartige einer beginnenden Staatseinung erkennen. Doch es bleibt bei dieser Theorie, die eben doch in die Objektivierung der Staatsinstitutionen zurücklenken will, ein schweres Defizit: „Die Einung wirkt im Repräsentanten grundsätzlich nicht mehr weiter", weil das „abstrakt gewordene Mandat" ihn von seiner Basis trennt. Muss dies nicht gerade anders werden, damit sich die vollen Kräfte dieser neuen Dogmatik entfalten können, und führt damit das Programm der Staatseinung nicht hinein in die Diskussion und Polemik um Rotation, vor allem aber imperatives Mandat?

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c) Imperatives Mandat und Staatseinung Das völlig befreite, basisgelöste Mandat des Parlamentsrechts kann nicht Prototyp dessen sein, was hier in Staatseinung gesucht wird; so erscheint es auch gar nicht in den vielfältigen Formen vor- und außerparlamentarischer Staatszusammenschlüsse, in den meisten Bereichen der Organisationseinungen. Dennoch könnte demokratisches Denken dazu verleiten, die Abgeordnetenstellung als Modell der Staatseinung überhaupt zu begreifen. Es wäre aber eine staatsobjektivierende Verwirrung, alles öffentliche Recht nach Parlamentsrecht ausrichten zu wollen, wo es im Gegenteil gilt, die Deputiertenstellung als Sondergestaltung historisch zu begreifen und sie, mit Blick auf andere Repräsentationserscheinungen des öffentlichen Rechts, eher in Richtung auf fortwirkende Basisverbindung zu entwickeln. Dahin geht, jenseits aller Polemik, heute letztlich der große politische Zug. Der Abgeordnete ist groß geworden als der kleine englische Popularkönig seines Wahlkreises, deshalb konnte es dort nur einen Repräsentanten geben. Die französische Repräsentationstheorie, im Anschluss an Sieyès, hat hier eine rechtsgrundsätzliche Wendung vollziehen wollen, in der Vertretung des von allen Einungsvorgängen gelösten Allgemeinen Willens im Sinne von Rousseau. Nie ist dies mehr gewesen als eine der Staatstheorie liebgewordene Fiktion, die nicht hat zugeben wollen, dass im Grunde dieser notablierte Priester der Volonté générale ebenfalls nichts anderes war als ein Klein-König auf Zeit, anders als seine englische Entsprechung nun sogar aufgrund eines geheimnisvoll-charismatischen Akts aus höherer, objektiver, letztlich geheimnisvoll-transzendenter Institutionenebene heraus. Staatsrechtlich blieb den Einungskräften nur die Kompetenz der Ernennung, sie traten an die Stelle des krönenden Kardinals von Reims. Für Demokraten von heute kann dies kein glückhafter rechtlicher Einfall sein; sie müssen prüfen, ob hier nicht der Einungsstaat unterlaufen, ja hintergangen wird, und kann er nicht zurückblicken, selbst in einer „Vergangenheit objektiven Rechts", auf eine reiche Tradition imperativer Mandate? Wo die in Einung übertragenen Staatsämter so kurzfristig waren wie die Feldherrnstellungen von Athen, für einen einzigen Feldzug gegeben, eine einzige Schlacht - was war dies anderes als die Repräsentation konkreter Befehle, die dann eben einer besonderen Lage noch weiter angepasst werden mussten, weil soweit die Einung des Volkes nicht reichen konnte? In ihren Konsularen und Präturen, in ihren Diktaturen auf kurze Zeit haben sich die Römer dieses grundimperative Mandatsdenken erhalten, schienen sie es auch in ungeheurer, kurzfristiger Machtkonzentration wieder aufheben zu wollen. Erst im großen Umbruch der augusteischen Imperialität auf Lebenszeit hat das römische Rechtsdenken Institutionalität hervorgebracht, spät vollendet. Die Ratsherrn der Städte als Träger zünftischer Einungsmandate, die Senatoren von Venedig als Repräsentanten der Familienmandate, die steuerbewilligenden Stände bei konkreten Vorhaben - waren all dies nicht ebenso Träger eines imperativen Mandats, wie sich dieses noch bis in die Anfänge der Französischen Revolution erhalten hat, in jenen cahiers de doléances, durch wel-

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che die Bürger den Umsturz angestoßen haben? Doch moderne Demokratizität meint es besser zu wissen, ihr steht das Schreckbild des Pöbels vor Augen, der auf den Rängen der französischen Revolutionsparlamente die wahren Volkstribunen niederschrie, sie schließlich guillotinierte. Und doch bleibt - so viel Mut zu demokratischer Grundsätzlichkeit gilt es aufzubringen - die Aufgabe der permanenten Staatseinung gestellt: möglichst viel weiterwirkende Einung, denn im voll basisabstrahierten Mandat nimmt, in institutionalisierender Objektivierung, der belebende politische Kräftefluss der Bürgereinung ab, beginnt bereits der viel kritisierte Zug zur neuen Herrschaftskaste der pensionsberechtigten Parlamentarier auf Lebenszeit, in der Fiktion, alles Notwendige an Einung sei bereits in der prästabilierten Einungsharmonie der Parteien abgelaufen. Wenn volle, laufende Basisrückbindung sich, gerade in ihren radikalen Formen, neuerdings selbst ad absurdum geführt hat, so regen eben diese Misserfolge zum Nachdenken an, ob Staatseinung nicht doch, selbst im Raum der parlamentarischen Repräsentation - und weit darüber hinaus mit ähnlichen Mitteln - verwirklicht werden könnte, in einer bescheidenen Mitte zwischen allzu fester früherer Objektivierung und zu starker neuer Dynamisierung.

d) Einungsfreiheit

im Parlament wider Abgeordnetenamt; Fraktionszwang

Die erste Forderung der Staatseinung für das Abgeordnetenmandat muss lauten: Je weniger in dem einzelnen Mandatsträger die Einung der Wähler weiterwirken kann, die ihn bestellt haben, desto stärker muss die Einung unter den Abgeordneten wirken, als politische Kraftquelle der Demokratie. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist durch die notwendige Vielheit der Mandatsträger geschaffen, die sich aber nicht bis zur Unübersehbarkeit steigern darf, wenn nicht wirksame Zwischen-Einungs-Körper eingebaut werden können, kleinere Fraktionen, Landesgruppen, Arbeitsgemeinschaften oder Ausschüsse. Die Vielfalt als weitere Grundvoraussetzung jeder Einheit erscheint hier ebenfalls weithin gesichert, solange im Parlament nicht zahlenmäßig einzelne Berufsgruppen so dominieren, dass sie die Einungsvorgänge der anderen geradezu beherrschen, wie dies im Falle der Lehrer in der französischen Nationalversammlung geschehen ist, Beamten gegenüber in Deutschland immer wieder befürchtet wird zu Unrecht: Hier fehlt jene einheitliche Grundmentalität, bei einem vielfach gestuften, in ganz unterschiedlichen Bereichen tätigen Berufsstand, dessen Angehörige gerade ihrerseits Einungsvielfalt einbringen. Umgekehrt kann gemeinsame professionelle Zugehörigkeit gerade eine jener Vor-Einungs-Formen sein, deren eine allzu zahlreiche Volksvertretung bedarf. Nicht darin liegt auch das Einungsproblem bei den Mandatsträgern, dass sie etwa nicht „Subjektives von unten mit in ihre Versammlungen trügen", in jene Herrschaft hinein, die sie als peuple en miniature in Einung ausüben sollen. Die

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politische Individualität, mit all ihrem subjektiven Reichtum der Persönlichkeit, ist im allgemeinen bei den Abgeordneten der Parlamente, höherer Ordnung jedenfalls, hinreichend, oft allzu sehr ausgeprägt; in Wahlkämpfen und Wahlkreiskontakten lädt sie sich auch immer wieder von der Basis her auf, trägt deren Einungen in die Volksvertretung insgesamt. Der Listenabgeordnete ist sicher nicht das Ideal der Staatseinung, trägt er doch nicht den Zusammenschluss seiner Wahlkreisbürger subjektivierend mit in die Herrschaft nach oben. Doch hier werden oft zumindest jene Einungskräfte wirksam, welche sich aus den politischen Zusammenschlüssen auf Parteiebene, innerhalb von diesen immer größeren Organisationen entbinden. Der Listen-Deputierte als Parteirepräsentant ist solange noch immer Einungsträger, wie er Partei-(Apparat-)Einungen subjektivierend zu verkörpern vermag. Das große Problem nicht für die Parlamente, sondern für die Repräsentanten, ist jedoch der Ersatz der Abgeordneteneinung durch Fraktionszwang, weit darüber hinaus noch durch die gleichschaltende Befehlswirkung der Parteiapparate. Die Schwäche der Weiterwirkung von Basiseinungen in der Person des Abgeordneten, der sie verkörpert, sollte ja kompensiert werden, das war hier die Ausgangsthese, durch möglichst starke und vielfache Einungen im Parlament selbst, zwischen den Mandatsträgern. Gerade dieser Kraftquell wird nun durch den Fraktionszwang verstopft, alle Einungen enden in den Parteizentralen. Parlamentarische Staatseinung darf aber nicht zum Abstimmungsmechanismus erstarren, in welchem nur mehr viele gegeneinander addiert, nicht mehr integriert werden. Die Krise der heutigen Parlamente liegt letztlich darin, dass sie weder mehr dem Bürger das große Schauspiel gemeinsamer Willensbildung bieten, noch in aller Regel das einer echten Union, mag diese auch nur auf Zeit geschlossen werden. Hier sind vielmehr jene Befehlsmechanismen der Mehrheitsentscheidungen am Werke, die noch vertiefend zu untersuchen sein werden auf ihre einende Kraft. Das große Parlamentsplenum ist heute endgültig nicht mehr in der Lage, solche Einungen zu verwirklichen, solange es „nur im Fraktionszwang funktionsfähig" zu halten ist. Immerhin sollte mit Blick auf die Staatseinung immer wieder und öfter der Mut aufgebracht werden, die Abstimmung freizugeben, so rechtzeitig, dass sich bereits im Vorfeld wirkliche, gerade in ihrer Interfraktionalität vielfältige Einungen entfalten können. „Funktionieren" - das ist eine Kategorie, mit der jede Gewaltsamkeit der Herrschaft begründet werden kann; sie wirkt wesentlich institutionalisierend, hier triumphiert das objektive Denken in den Staatsmechanismen, die sich zuallererst drehen müssen, hier hört Subjektivierung völlig auf. Ein oberstes Staatsorgan aber, das nur funktionieren kann, wenn es seiner tiefsten, staatsgrundsätzlichen Legitimation, der Einung, im großen Rund des Parlaments, entfremdet wird - das wird immer wieder Demokratie bestreitbar werden lassen. Staatseinung verträgt Repräsentationen, nicht aber die befohlene, vorweggenommene Einung der Mandatsträger. Und es ist einfach keine Utopie, dass auch dann noch regiert werden kann, wenn nicht immer eingepeitscht und zusammen-

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geschweißt wird in der Volksvertretung - das Regieren wird sich dann eben wandeln, selbst subjektiver werden, in Einungen. Eines Tages wird dies erreicht, wenn die subjektive Einungsverantwortung jedes einzelnen Abgeordneten stark genug entwickelt ist, so wie in jenen Vereinigten Staaten, in denen ja auch, bei so vielen Abstimmungen, mit wirklich freiem Mandat entschieden wird, weil hier eben eine Ordnung funktionierender Staatseinung wirksam ist.

e) Teil-Einungen von Repräsentanten mit Entscheidungsmacht Die Repräsentationsidee des herkömmlichen demokratischen Staatsrechts richtet sich am Gesamtparlament aus, ist untrennbar verbunden mit dessen grundsätzlich schrankenloser Globalzuständigkeit. Darin liegt, mit gewisser Notwendigkeit, ein Subjektivitätsverlust, der zur Abstraktion des Abgeordnetenamtes von einer wie immer bestimmten Basis führt: Einungen über alles und jedes zwischen seinen Wahlkreisbürgern, die Plattform der ihn bestellenden Parteigremien - sie kann der Abgeordnete als solche nicht hinauftragen ins große Hohe Haus. Er muss sie deshalb in seiner Person mediatisieren, erst neu formen, seine Entscheidungen unerwarteten Lagen anpassen, sie daher tatsächlich aus seiner „freien Persönlichkeit" gewinnen - soweit die Partei sie ihm nicht in Abstimmungszwängen vorschreibt. Je enger dagegen die Mandate ausgestaltet, je begrenzter die dort zu behandelnden Entscheidungsmaterien sind, desto mehr können, von der Basis her, Einungskräfte in den Gremien der Repräsentanten weiterwirken ; zu einzelnen Punkten melden sich diese dann ja wirklich mit jenem wenn nicht gebundenen, so doch orientierten Einungswillen zu Wort, transformieren diesen in die höhere Einung hinein. Dies ist die an sich so große, in Staatseinung fruchtbare Idee der Räte, die im Osten nur durch Überkonzentration an der Spitze und der von dieser ausgehenden objektivierten, alten Befehlsgewalt pervertiert worden ist. Staatsgrundsätzlich fruchtbar ist daher auch die Vorstellung von jenen Wirtschafts- und Sozialräten, die immer wieder in den demokratischen Ordnungen auftreten, stets von neuem in radikaldemokratischen Missverständnissen bekämpft werden - als konservativ notablierende oder gar korporativistische Staatselemente, welche nicht in die Parteienlandschaft passten. Staatseinung muss groß genug denken und weit, um auch diesen Gestaltungen wieder größeren Raum zu geben, selbst mit echter Entscheidungskraft, mögen sie auch stets den politischen Gremien nur zur Seite stehen, nachgeordnet bleiben. In ihnen wird nicht nur jene „engere Einung" Wirklichkeit, in welcher, wie eben gesagt, Repräsentation sich viel leichter in Staatseinungen binden kann. Dort, wo es politischen Fraktionszwang nicht gibt, professionellen nicht geben kann, stellen sich auch, mit weit größerer, subjektivierender Natürlichkeit, laufend Bindungen und Zusammenschlüsse her, in einem wahren Übereinstimmungs-Verfahren, in dem die Kraft des Einigseins lebt, über politische und andere Grenzen hinweg. Die

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große, leider allzu oft postulierte Globaleinung des Parlaments darf dies nicht ersetzen, wohl aber ergänzen, in neuer Vielfalt von Einungsformen. Und selbst ins Zentrum der politischen Repräsentation reichen solche Vorstellungen: Beschließende Ausschüsse - und mag ihnen auch nur tatsächlich, nicht rechtlich, das „erste Wort als letztes" zustehen - sind im Grunde nichts anderes als kleine Wirtschafts- und Sozialräte im Zentrum des Parlamentarismus, der letztlich nur durch sie, nicht durch Fraktionszwänge, „funktioniert". Hier werden diese letzteren überspielt durch Kontakte und „politische Momentanverträge" zwischen Parteienvertretern und auch einzelnen Abgeordneten, hier wird das große DebattenRund des Amphitheaters zum Runden Tisch der Einung. Nicht mit demokratischem Misstrauen sollte all dies betrachtet werden, in einer Haltung, welche nur die Massenschlachten der Abstimmung kennt; ein neuer Kommissions- und Rätepazifismus sollte jene kriegsähnlichen Massenzusammenstöße in Staatseinung mehr und mehr auflösen, in denen dann das Regierungssystem subjektivierend funktionsfähig würde, nicht im objektivierenden Einpeitschungs-Befehl. Parlamentarische Partialeinungs-Organe, in und um die Parlamente - dies bedeutet eine praktische und zugleich eine staatsgrundsätzliche Zukunft in subjektivierender Staatlichkeit.

f) Stufeneinung in Repräsentation In der Räteidee sollte das dort klar erkannte Subjektivierungsdefizit der Repräsentation aufgefüllt werden durch die Stufung der Einungsgremien, in welcher pyramidal Einung emporwachsen sollte - ein schönes Bild subjektivierender Natürlichkeit, belastet aber heute mit den Perversionen östlicher Kolossalstaatlichkeit. Gerade die östliche Reformbewegung der 80er Jahre hat dieses System nicht in Einung aufnehmen und emportragen können. In einem völlig erstarrten Apparat musste sie zugleich von oben befohlen und von unten in großen Massenbewegungen, in einer Kolossal-Solidarität, völlig unpyramidal, erzwungen werden. Ist damit nicht die Legitimation der Repräsentation als „ E i n u n g in Stufung" verloren? Diese Gefahren scheinen kaum zu bannen, denn auch in den westlichen Staatsordnungen haben die Parteien eine Durchgriffsmacht entwickelt, welche zu ähnlichen, und zudem noch polarisierenden Gleichschaltungen, „durch alle RäteStufungen hindurch", sehr rasch sich entwickeln kann, gelingt es diesen Parteien doch heute schon, autarke, wesentlich nebeneinanderstehende Körperschaften und ihre Abstimmungsgremien hierarchisch zu uniformieren, in Bund, Ländern, Gemeinden. So bleibt also der Stufeneinung, und in ihr der Repräsentation, wohl nur eine größere Chance: dass sich in solcher Form einigermaßen bereits verfestigte Organisationen zusammenschließen, von kommunaler Verbandlichkeit bis zum Zusammentreten der Länder im Bundesrat. Dort wirkt ja überall, von der demokratischen Staatslehre kaum bemerkt, eine Repräsentationsidee einend fort, die gerade nicht

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belastet ist von den EinungsVerlusten des freien Mandats und des Fraktionszwangs: Ein neuer Abgeordnetentyp deutscher Föderalstaatlichkeit ist der Vertreter seines Landes im Bundesrat, der dort auftritt in der Führung seiner im Landesparlament „instruierten" oder doch von einer diesem verantwortlichen Landesregierung gebildeten Stimme - und der stets im Bundesrat genug Einungsraum gefunden hat mit anderen, gleichermaßen orientierten Deputierten, um auch dort Staatseinung weiterzutragen. Darin entfaltet sich die eigentümliche Form einer Organisations-Repräsentation: Die Bürger sind nicht mehr direkt fassbar als die Vertretenen, wohl aber werden hier Körperschaften verkörpert - und wäre dies nicht Repräsentation, wie es diese Worte schon zeigen? Der Bürger-Abgeordnete steht in der Versuchung, seinen eigenen, menschlich-natürlichen Willen nicht aufgrund, sondern anstelle eines ebensolchen seiner Wahl-Bürger zu bilden, nicht deren Subjektivität in die Herrschaft hinein fortzutragen. Anders der Organisations-Deputierte: Mag er in seinen Einungsgremien noch so sehr rechtlich befreite Mandate wahrnehmen - Rechenschaft gibt er dann sogleich ab an seiner organisatorischen Ausgangsbasis, in Aktennotizen und Berichten, so wie er von dieser eben bereits, meist voll instruiert, entsandt worden ist. Solche Repräsentation durch Organisationseinung in Stufen wirkt subjektivierend nicht nur darin, dass die notwendige und stets mächtige Autonomie, ja Autarkie der Verwaltungseinheiten erhalten bleibt, sich in „organisatorischer Subjektivierung" nach oben zusammenschließt; in diesem Sinn gibt es eben auch eine „Subjektivierung in Organisationen". Die Kräfte des „natürlichen Subjekts", des Menschen als Organwalter und Organisations-Repräsentanten, werden ebenfalls zugleich eingesetzt, in Einung aktiviert. Der Gemeinde-Abgesandte, der dort seine Kommune, der Beamte, der in Planungseinheiten seine Behörde, der Ministerialvertreter, der im Bundesrat sein Land repräsentiert - sie alle schließen sich ja letztlich auch als Menschen zusammen, nicht nur als Amtsträger. Wie wichtig so entstehende „Amtsfreundschaften" sind, wie enteinend aber auch persönliche „AmtsGegnerschaften" sich auswirken, weiß jeder, der diese viel verschlungenen Einungsvorgänge kennt, die sich eben nicht im vollen Licht der Öffentlichkeit abspielen, gerade daraus große, auch menschliche Einungschancen gewinnen. So kann denn dieses Kapitel über die Repräsentation, das doch tiefere Einblicke in jene Staatseinung eröffnet, welche man in diesem Begriff nur zu oft und zu Unrecht als beendet zu erkennen glaubt, schließen mit einer wohl beruhigenden Feststellung: In Staatseinung verstandene und fortentwickelte Repräsentation ist nicht „etwas ganz anderes" gegenüber dem Grundmodell der privatrechtlichen Vertretung, sie lässt sich auf dieses in wirklichen Zusammenschlüssen hin zurückentwickeln - und zugleich fort, in eine Zukunft der Staatseinung hinein. Wo der Bürger nicht mehr als Einungsträger wirken, subjektivierte Herrschaft forttragen kann, muss sein Staat sich in Organisationsvielfalt selbst subjektivierend vervielfältigen, in Stufen nach oben in Einung zusammenschließen. Dann erst kann wirklich „in Einung von unten regiert werden".

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3. Subjektivierung überall - Staatsgefühl der Demokratie Diese Betrachtungen der zu subjektivierenden, sich selbst subjektivierenden Staatlichkeit können schließen in der Erkenntnis, dass herkömmliche objektive Befehlsordnung durch einen Herrscherwillen, der sich nur von oben kommen sieht, immer noch im äußersten Rahmen und für längere Zeit unausweichlich sein mag, bis hin zum Ideal des normgewordenen Amtsträgers. Es gilt jedoch, und es ist möglich, Kräfte der Einung in diese Organisationen hineinzutragen, im Gefühl, dass überall zugleich Träger und Adressaten von Einungen stehen: Beim Bürger entscheidet das Bewusstsein, dass er doch „noch dabei ist" bei den staatlichen Einungsvorgängen im Räume der Staatsgewalt, „mitgenommen" in sie hinein, mit all seinen Interessen und Sorgen, durch seine Repräsentanten. Der Wahl-Abgeordnete fühlt sich dann doppelt als Bürger, wenn er bei seiner Entscheidung nicht nur zugleich „auch eigene Interessen vertritt", wenn ihm vielmehr der Einungsvorgang, die Versammlung, aus der er gekommen ist, stets gegenwärtig bleibt. Der Partial-Repräsentant, der sich über engere Bereiche mit anderen Mandatsträgern zu einigen hat, sollte sich erst recht darin gleichzeitig als Bürger fühlen, dass er eben nur in abgrenzbaren Teilbereichen in die andere Rolle des Mandatsträgers tritt. Der Organisations-Repräsentant aber sieht sich selbst in dem doppelten Sinn „betroffen", darin „dabei" in seiner ganzen Subjektivstellung bei allen Einungen, dass diese zugleich auf seine Stellung als Amtsträger und als Bürger im Amt zurückwirken. Im Grunde ist es hier ein großes Betroffenheitsgefühl, aus dem die Subjektivierung der Staatlichkeit in Einungen hinaufwächst in die Herrschaft. Hier wird nicht nur die Doppelrolle als solche zur Quelle politischer Kraftspendung in der Staatlichkeit, von der bereits die Rede war; es wirkt fort die Kraft des in all seinen Interessen bestehen bleibenden, sich zur Staatlichkeit emporeinenden Subjekts. Im Beamten-Bürger findet auch dies sein fassbares Grundmodell: Die Demokratien verlieren die Angst vor dem „objektivierten", dem normgewordenen Amtsträger, den es im Grunde stets nur in politischen Fiktionen gegeben hat. Der Einungsstaat will den „Beamten als Bürger" wirken lassen, in maximaler Annäherung, ja Verbindung, nicht in künstlicher Trennung der beiden Sphären. Um dieses Subjektivierungsgefühl zu entfalten, nimmt demokratische Staatlichkeit selbst die Gefahren jener Korruption in Kauf, in welcher der Amtsträger sich allzu sehr als Bürger zu fühlen beginnt. Damit sich diese so schwer fassbare, politisch so wichtige Grundstimmung überall verbreite in der Staatlichkeit, muss die innerorganisatorische Beamteneinung der Personalräte als Zusammenschluss zugleich von Beamten als „Bürger-Subjekten" realisiert werden - und als etwas wie eine Einung von „Beamten als Macht-Eigentümern", auf dass sich die Demokratie nicht in einer Über-, in Wahrheit einer unmenschlichen Organisationseinung verliere. Vielfache Formen der Staat-Bürger-Einigung gilt es zu entwickeln, in denen sich dieses „Subjekt-Gefühl" erhält und entfaltet, jede Diskussion im Vorfeld ist dahin

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wirksam, in der sich das allzu sehr betonte Über-Unterordnungs-Modell des öffentlichen Rechts auf eine auch rechtliche Gleichordnungsebene transformiert. Verträge zwischen Bürger und Staat wirken in diese Richtung, in welchen die Hoheitsträger denen, die sie wirklich tragen, außerhalb ihrer Räume „begegnen", sich mit ihnen zusammenschließen. Alle Formen von Bürgereinung muss diese Einungsstaatlichkeit begünstigen, die zugleich mit Blick auf sie erfolgen, und hier ist jener Eigentumsartikel der deutschen Verfassung seit Weimar Ausgangspunkt und Mahnung, der eigenes und allgemeines Interesse zu verbinden befiehlt - wie könnte das im vermögensrechtlichen Bereich anders und besser geschehen als durch Verträglichkeit, in Einung, wo doch assoziativer Eigentumsgebrauch immer mehr die Regel wird? Dieser sollte nicht als „mediatisiertes" geringerwertiges Eigentum diskriminiert, er muss als Eigentums-Einung zum Staat von diesem favorisiert werden. Gesellschaftsrechtliche Zusammenschlüsse zwischen den Bürgern, mit Blick auf den Staat, im Subjektivitätsgefühl, dass hier eine Vorformung der Staatlichkeit abläuft, kennt das Aktienrecht seit langem, das dann ganz natürlich im Wort von der Staats-AG fortgedacht wurde - sie aber darf nicht als private Interessenanhäufung zur Profitmaximierung mit hoheitlichen Mitteln missverstanden werden. Nicht einer in Typen erstarrten Verbandlichkeit ist das Wort zu reden - in ihr würde das Subjektivitätsgefühl der Bürger sich verlieren - sondern einer Privilegierung aller Formen von Zusammenschlüssen. Sie darf aber nicht dahin führen wie es herkömmlicher Dogmatik entspricht - dass der Staat sogleich in Pflichten und Steuern wieder kassiert, was er in Vorrechten den Zusammenschlüssen gewährt; private Assoziation ist zu privilegieren als ein Modell zur Staatseinung, als ein Raum, in dem sie virtuell überall sein darf, damit sie sich - dies ist das Dogma des Einungsstaats - herausentwickle in Staatlichkeit. Grundrechte schaffen Subjektivitätsgefühle; eines der ersten Grundrechte sollte das der Vereinigungsfreiheit sein, nicht, wie heute, ein misstrauisch betrachteter, mit Mühe der ordnenden, objektivierenden Polizeigewalt abgerungener Freiheitsraum. Das Subjektivitätsgefühl, ohne welches Staatseinung nicht werden kann, erwächst im Letzten aus einem einheitlichen Bewusstsein, eben aus dem einen Subjekt, und deshalb muss es sich im vollen Reichtum der Verbandlichkeit, der Vereine entfalten, sonst kann es sich nie zum Staat schließen. Dies war die große Hoffnung eines Otto von Gierke, der den Genossenschaftsstaat der Deutschen aus einem mächtigen Subjektivitätsgefühl heraus wachsen, die Herrschaftlichkeit überwachsen sah. Gekommen sind die Gewaltsamkeiten einer objektivierenden Staats-Zwangs-Verbandlichkeit, welche die spontanen Subjektivitätskräfte zum Staat pervertiert hat. Die gängigen Forderungen nach „Demokratisierung überall", vor allem in Zusammenschlüssen und Verbänden, sind dort berechtigt, wo sie allenthalben das

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große subjektivierende Einungsgefühl erzeugen, aus ihm Kräfte der Staatlichkeit entbinden wollen, wo ihnen Teilung und Mehrheitsentscheidung nur eine erste Etappe des Weges bedeuten, der dann in Einung mündet. Staatsgefühl ist ein schönes Wort, es reicht weiter als der Mechanismus von Konsensen, beweist die emotionalen Kräfte des Staatsrechts. Doch es muss rational gepflegt werden, in vielen Institutionen und Schritten, damit es sodann dem Bürger geschenkt werde und seinem Einungsstaat.

IV. Das neue divìde et impera: Herrschen mit der Kraft geeinter Subjekte 1. Schwächung durch Teilung eine objektivierte Herrschaftsmaxime Die alte Herrschaftsweisheit der Teilung sucht die Maximierung der Gewalt in der Minimierung des HerrschaftsWiderstandes. Hier wird der Gegensatz von Herrschenden und Beherrschten nicht in einender Subjektivität aufgehoben, er erscheint als zuhöchst gesteigert. „Die Basis" soll möglichst geschwächt, aufgespalten, letztlich in Atomisierung ausgelöscht werden, damit Herrschaft sich über ihr, freischwebend halte. „Basis" - dies bedeutet überhaupt nur Herrschaftswiderstand für ein solches Denken, das sich in den Kreisen reiner Objektivierung abspielt; sie ist etwas, an das man im Herrschen stößt, das es zu überwinden gilt. Diese Teilungs-Herrschaft ist das Gegenteil einer Herrschafts-Teilung und zugleich die völlige, staatsgrundsätzliche Leugnung der Einung: Was stets geteilt bleiben soll, darf sich doch nicht zusammenschließen; was nur als Herrschaftsobjekt begriffen, gestaltet werden kann, vermag sich aus eigener Kraft schlechthin nicht zusammenzufinden, wie sollte es Kräfte nach oben in die Herrschaft abgeben, wo sich diese doch gerade in einer Einungs-Verhinderung ruhig einrichtet, Einungen nur als Widerstand fühlt? Mit dieser alten Maxime hat die objektive Institutionenstaatlichkeit bald und vollständig ihren Frieden gemacht, weil sie das Wort als Machtminimierung missverstanden hat, nicht erkennend, dass rasch über jeder - doch nie voll gelingenden - Gewaltenteilung sich wieder eine der angeblich geteilten Mächtigkeiten im Namen der alten Staatsweisheit herrschend etabliert. Wenn nun aber wirklich Herrschaft sich in der großen, systematisierten Einungs-Verhinderung verstärken kann, ist dies dann nicht gerade der Beweis, dass in aller Einung politische Kräfte sich entbinden? Divide et impera ist nichts als die negative Formulierung der Staatseinung. Die Teilungsmaxime ist auch darin die Antithese zu all dem, was hier entwickelt wurde, dass es dabei nicht um jene belebenden Kernspaltungen der Staatlichkeit geht, welche neue demokratische Kräfte freisetzt. Sie will nicht die Explosion,

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sondern die Staats-Geometrie, hier wird alles in eindimensionaler Mathematik gedacht, nicht in physikalischen Energie-Vorgängen. Dies ist eine kalte Begrifflichkeit, ihr fehlt all jene Wärme, die sich eben, im wahren Sinne des Wortes, im Zusammenrücken entwickelt, und sei es auch in dessen Reibungen. Diese Maxime ist Ausdruck der nie überwundenen machiavellistischen Macht-Berechnung, welche lebendige Kräfte in letzter Menschenverachtung verdrängen will. An diesem Gegenbild wird aber auch ganz deutlich, was Staatseinung erstrebt, nicht nur, welche Gefahren ihr aus dem demokratischen Missverständnis institutionenteilender Machtkonstruktion drohen, sondern auch und vor allem: in welchem neuen Sinn es gilt, divide et impera in den Ordnungen der Staatseinung einzusetzen.

2. Der neue Sinn einer „subjektivierten Herrschaft aus Teilung heraus" Divide et impera hat aber auch in der Staatseinung einen tieferen, Herrschaft konstituierenden Sinn: Zusammenschlüsse sind nicht vorstellbar, ohne dass vorher Teilung war, welche die Einungselemente als solche geschaffen hat. Doch dies ist nur der Ausgangspunkt, eine Voraussetzung, der Beginn der Staatseinung, nicht ihr kraftspendender Vorgang als solcher. Sie will zwar ihre Elemente, die Bürger, Staats- und Verwaltungseinheiten, zunächst getrennt halten, voll in Erscheinung tritt aber der Staat erst in ihrem Zusammenschluss, nicht in ihrem Geteilt-Halten durch objektive Herrschaft. In diesem Sinne heißt die Devise der Staatseinung „getrennt marschieren - vereint schlagen". Damit auf solchen getrennten Wegen zur Einung geschritten werde, muss Teilung dort, im Namen der Staatlichkeit, durchgeführt werden, wo deren Elemente noch nicht einungsfähig und -kräftig entstanden sind. Wenn nötig, ist sogar der Staat selbst aufgerufen, sich und die Bürger zu enteinen, damit sie sich dann auf neuer Ebene, zu ihm hin, wiederfinden können; die bereits in dieser Sicht untersuchte Dezentralisierung und Regionalisierung der Einheitsstaaten des lateinischen Europa - mit all ihren Einungsproblemen - ist dafür ein Beispiel. Divide et impera ist dann allerdings nicht, wie in der alten Staatsweisheit, als solches ein ruhig-dauernder Mechanismus, die Herrschaft liegt nicht objektiv in der Teilung, welche ihrerseits auch nicht die primäre Herrschaftsmaxime darstellt. Entscheidend ist nicht sie, sondern der aus ihr wachsende Zusammenschluss; der Akzent liegt nicht auf der ersten, sondern auf der zweiten Anweisung. Die Staatlichkeit wird subjektivierend wieder vom Kopf auf die Füße gestellt, die sie wirklich tragen.

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3. Divìde et impera - eine imperiale Kategorie Nach diesem Wort ist das Römische Reich gebaut worden, in seiner alten Geometrie der Teilung hat der Militärstaat immer getrennt marschieren, Herrschaftswiderstände minimieren können. So selbstverständlich war hier die Vorstellung vom Nebeneinander der Provinzen und militärischen Herrschaftsräume, dass darin noch die römische Spätzeit die Fortdauer des einen Imperiums suchen konnte: in Reichsteilung, so wie die Staatsmacht auch früher zwischen den Konsuln geteilt worden war. Auf subjektivierende Teilung und Staatseinung hat dieses Reich nicht gesetzt, jedenfalls auf seinen Höhen nicht mehr. So hat der aus ihm wachsende Institutionenstaat sein altes divide et impera von den Römern gelernt, verstanden, weitergegeben. Heute stellt dies die Frage, ob die neue demokratische Staatlichkeit der Staatseinung mit der Teilungsstaatlichkeit auch Abschied nehmen muss von aller Imperialität. Dies ist hier so wenig die These wie in früheren Betrachtungen. Wird die Maxime in Richtung auf Einung gesehen, so führt auch hier das Wort „impera" zum Reich. Darin liegt ja die Vorstellung von der nicht nur größeren, sondern von der höheren, gestuften Staatlichkeit. Wie könnte sie heute anders wachsen als heraus aus vielfachen Einungen, welche sie tragen und zugleich begrenzen - ist nicht immer höchste Herrschaft auch beschränkt? Befehlsempfänger spricht der Imperativ des „impera" an - nunmehr aber eben solche, die Subjekte sein und bleiben müssen. Liegt darin nicht, jedenfalls am Anfang der römischen Imperialität, eine gewisse Subjektivität, eine die Befehlsordnung erst konstituierende Gehorsams-Kraft unterhalb der Befehlsgewalt? Das Imperium ist im lateinischen Verständnis nicht zuallererst jene ruhige Herrschaft, in welcher spätere Teilungspolitik liegen, besitzen und schlafen wollte, wie der Herrschaftsdrache auf dem goldenen Schatz seiner versklavten Bürger. Das Imperium war, in den großen, imperial werdenden Anfängen des römischen Militärstaats, nichts anderes als die Zusammenfassung all jener Befehle, welche Soldaten gegeben wurden, die sie in Tapferkeit fortentwickeln sollten, in den Feind hinein, zum Triumph hinauf. Doch in diesem Nahkampf der kurzen römischen Schwerter war der Soldat im Letzten allein, wie sein Tribun, der ihm voranging; beide waren - wesentlich - Subjekte, die sich um einen Adler geeint hatten. Wachsende Imperialität verlangt so stets die „Subjekte unten"; in diesem Sinne gilt es, die Legionen neu zu schaffen, so wie es die Marseillaise demokratisch den Bürgern zuruft: „Formez vos bataillons!" Lernt man endlich, militärische Größe in zivile Imperialität umzuformen, dann werden nur die Adler dieses größeren divide et impera weitergetragen, zu neuen friedlichen Siegen in Bürgereinung, nicht in die Ermüdungen der objektiv-institutionell versteinerten Ordnung. Sie vermag allenfalls das einst lebendig aus Bürgereinung Entstandene für einige Zeit zu halten, und darauf mag am Ende dieser Betrachtungen noch ein Blick zu werfen sein.

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Man steht wohl noch am Anfang jener einenden, imperialen Demokratie, deren rechtliche Einungsräume sich nun aber öffnen. Sie nehmen auf und entfalten die Staatskräfte, welche dieses Kapitel gefunden hat. Hier aber bestätigt sich am Ende: nicht Einigkeit ist - Einung macht stark.

D. Das Recht der Demokratie Räume der Staatseinung Von der Staatseinung darf, in letzter Konsequenz, eines Tages jedenfalls, etwas wie eine neue Staatslehre erwartet werden - oder Volksherrschaft, wie immer verstanden, wird nicht mehr sein. Dies muss sich dann zu einer neuen Staatsdogmatik entfalten. Eingangs, und immer wieder, wurde der herkömmliche Institutionenstaat einer Staatlichkeit gegenübergestellt, welche, ganz andersartig, in solchen Vorstellungen wachsen muss. Sie darf nicht aus dem Grundverständnis der objektiven, selbstgewichtigen Staatsgewalt heraus, sie muss vielmehr aus Subjekten kommen, die sich in der Einung erhalten. Doch auch sie brauchen, zu solchen staatsbildenden Zusammenschlüssen, rechtliche Formen, welche ihre Einungsräume schaffen, begrenzen, mögen sie sich auch immer wieder höheren Zusammenschlüssen öffnen. Will man der Kritik an einem reinen staatstheoretischen Futurismus entgehen, bleibt die Aufgabe, Ansatzpunkte für eine solche dynamische demokratische Ordnung aufzuzeigen, sie weiterzuentwickeln, vor allem aber vor in reiner Institutionalität erstarrenden Fehlentwicklungen zu warnen. Dies alles könnte - und sollte wohl bald - auch aus dem Privatrecht heraus gedacht werden, in wahrhaft Gierkescher Nachfolge, als ein Staats-Privatrecht der Einungen. Der Vertreter des Öffentlichen Rechts beginnt bei den herkömmlichen Formen der Demokratie; sie darf nicht nur in Worten voranschreiten, in ihrem Recht aber zurücklenken zu den objektivierenden Staatsverfestigungen der Vergangenheit.

I. Die Mehrheitsdemokratie als Einung 1. Der Volkssouverän, die „vorausgesetzte Einung" a) Volk - Einheit oder Einung? Alle Demokratie, über alle institutionell bekannten Rechtsformen hinweg, geht von einem aus: von dem „vorher bestehenden Volk", welches zwar sodann rechtlich-institutionell kanalisiert werden darf, in einem gewissen Sinn aber jedenfalls präexistent ist - als Einheit, wie es das demokratische Staatsrecht lehrt. Was bedeutet dieser Ausgangspunkt für das Thema, lässt sich solche Einheit in Staatseinung fortsetzen? 63 Leisner

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Mit diesem ihrem „Volk" muss die Demokratie letztlich ausgreifen in außer-, vorstaatliche Räume, eine große „Rezeption der Gesellschaft ins Staatsrecht" vollziehen - keineswegs ein Gegensatz zur Idee der Zusammenschlüsse, wenn diese nur in der Gesellschaft vom Recht gesehen, als solche in seine Räume transformiert werden. Doch hier liegt ein Grundsatzproblem: Die demokratische Lehre will nicht etwas übernehmen wie außerrechtliche „Einungen in fieri", sie postuliert Einheit, die, schon außerrechtlich geworden, sich in den rechtlichen Räumen nur mehr verfestigt. Dies sieht denn auch das demokratische Staatsrecht allenthalben als seine erste Sorge und Aufgabe: dass sich die postulierte und oft so mühsam aufgefundene außerrechtliche Einung nicht sogleich in den Teilungen des Institutionen-Staates verliere, dass sie in ihm „erhalten bleibe", nicht primär „werde" gerade dies letztere aber verlangt die Staatseinung. Die herkömmliche DemokratieDogmatik stellt sich die Aufgabe der Aktivierung, der Aktions-Kanalisierung einer präexistenten Volks-Einheit; im Begriff dieses „Volkes" selbst liegt nach ihr keine sich zusammenschließende Dynamik, nur etwas bereits, seit langem sogar, groß Gewordenes, nichts was ständig „nach oben, in den Staat hinein, Kraft abgeben könnte". Mit Recht ist dieser demokratischen - letztlich Institutionen- - Lehre immer vorgehalten worden, dass sie das größte Programm der Demokratie verfehle: „Alle Gewalt geht vom Volke aus". Dieses schöne Wort will ja nicht, dass die Macht dort in Einheit liegen bleibe, ebenso wenig allerdings, dass das Volk sie abgebe, an seine demokratischen Organe verliere. „Ausgehen" soll sie stets von neuem von diesem „Wesen in Einung". Einungsbedenken kommen, solchen Vorstellungen gegenüber, auch noch aus anderen Gründen. Die Demokratie konzentriert sich wesentlich darauf, dieses ihr „Volk" in Mehrheitsentscheidungen, im Grunde nur in ihnen und möglichst immer nur einmal, sprechen zu lassen. Ist dies nicht nur reine Addition gleicher Individuen, nicht aber ihr Zusammenschluss? Vertiefend wird zu fragen sein, was an Einungskraft liegt in der Wahl. Diesem Volk ist nichts „Aristokratisches" eigen, doch gerade solche Elemente haben sich in der Geschichte immer wieder als besonders einungsträchtig erwiesen, in vollem, vertragsähnlichem Zusammenschluss haben Oligarchien, in den Republiken von Rom, Venedig und anderswo, oligarchische Staatseinung demonstriert - zelebriert. Das Volk der Demokraten ist ein riesiger, wesentlich geradezu als unübersehbar verstandener „personaler Raum" - wie sollte sich in ihm ein einziger, ebenso großer Integrationsvorgang als eine Einung vollziehen, die sich doch stets wesentlich aus kleinen Räumen hinausentwickelt? Ist dieser Souverän nicht „von Anfang an zu groß für Staatseinung"? Der Demos ist in der Staatslehre nicht ein dynamischer Kreations-, er ist zu etwas wie einem Superbegriff der Institutionalität geworden, in welchem sich deren rechtliche Formen bis zu postulierenden Fiktionen verdichten. Einungsdog-

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matik würde wohl diese „wesentlich unendliche Zahl" erst einmal teilen, in Partialeinungen zusammenfügen, sodann sie wieder, in weiteren Stufungen, integrieren wollen, diese ganzen Vorgänge aber wesentlich in etwas wie einem Übergangsraum der soziologischen Faktizität zur rechtlichen Integralität sehen, gerade nicht im Reich der juristischen Fiktionen. Will man also das präexistente Volk bewahren, so ist es in Staatseinungen grundlegend umzudenken; es darf nicht bereits in der vorstaatlichen Staatsmythologie zur Institution erstarren.

b) Das Volk - „ Gesellschaft in Einung zum Staat geöffnet "? Chancen und Grenzen der Soziologie Wenn das eine, „große Volk" schon allzu sehr „Einheit" ist in seiner außerrechtlichen Präexistenz, als dass in ihm noch Einungen lebendig gedacht werden könnten, wie steht es mit jener „Gesellschaft", welche die neuere Staatslehre stets als Gegenbild zum Staat zu erfassen - oder in ihn hineinzunehmen versucht? Entwickeln sich hier nicht bereits jene Kategorien, in denen sich Vielheiten, vielfach fluktuierend, in Einung auf den Staat hin hochtürmen können? In soziologischen Einungen, welche dem Staat vorausliegen, lässt sich sicher ein wichtiger, vielleicht entscheidender Ansatz für eine neue Einungsdogmatik finden. Und dort wird sie sogleich fruchtbar, wo vorsichtig Einzelerscheinungen analysiert, ihre Einungsmechanismen und -kräfte erfasst werden. In diesem Sinne sind die Studien Max Webers ein wahrhaft klassischer Anfang eines neuen EinungsStaatsrechts gewesen, weit über jede Soziologie hinaus. Seine Analyse der Beamten- und Abgeordneten-Professionalisierung hat das neue, quasi-korporativistische Einungsdenken gezeigt, in den alten Zentren der Staatsmacht. Parteien- und Mediensoziologie haben hier in den letzten Jahrzehnten entscheidend weitergeführt. Die Gesetze staatsferner Zusammenschlüsse und Entbindungen wurden deutlich, aber all dies hat das Staats- und Verwaltungsrecht bisher nur in allzu mediatisierter, vielfach gebrochener Form erreicht. Man öffnete ihm weite Räume des Rechts, die einzige Antwort auf die große Vielfalt der soziologischen Ergebnisse war jedoch letztlich ein staatsrechtlicher Liberalismus, in dem sich das Recht zurückzog auf äußerste Rahmen, die es aber nach wie vor nicht nach den neu gefundenen Einungsgesetzlichkeiten der Gesellschaft, sondern in eigener Traditionalität der Befehle bestimmen wollte. Der große Versuch der Übernahme soziologisch bekannter Einungsgesetzlichkeiten ins Recht ist mit dem Korporativismus gescheitert, verschüttet von einer Demokratie, welche hier nur mehr faschistische Perversionen zu sehen glaubte. Auf breiter Front begann alsbald eine verhängnisvolle Fehlentwicklung, in welcher „die Gesellschaft dem Staat" gegenübergestellt wurde, oft nur in unbewusster spätmarxistisch gedachter Antithetik, oder allenfalls noch auf den Spuren des klassi6*

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sehen Liberalismus, der staatsbildende Soziologie stets argwöhnisch betrachtet hat, eben nur als Fortsetzung eines Staats- durch den Gesellschaftsdirigismus. Die „Gesellschaft" des Bürgertums ist heute kein Einungsphänomen mehr, sie ist der staatsrechtlichen Gleichheit der Demokratie zum Opfer gefallen. Ihr Kern, die bürgerliche Familienstruktur, löst sich auf, Staats- und Privatrecht vollziehen dies in der Reduktion auf die Kleinstfamilie nach. Hier ist nichts mehr von Kernteilung und -einung, aus denen Kraft zum Staat sich entbinden könnte, eher Entwicklungen totaler Privatisierung, in der sich das, was noch übrig ist von der Gesellschaft, nunmehr abwendet vom Staat: Es entsteht die eine, große, staatsferne „Gesellschaft" als Inbegriff der Privacy - im Grunde nichts mehr anderes als die Negation der Staatlichkeit, kein Kraftquell für diese. Wird „Gesellschaft" so verallgemeinert, zur großen außerstaatlichen Einheit umgeformt, so lässt sich hier nicht mehr in Staatseinung denken, die Soziologie hat keine Chance mehr, „hin zum Staatsrecht". Die „gesellschaftlichen Einheiten", das große Potential der Staatseinung, werden nun immer weniger in ihren einenden Vorgängen betrachtet, welche sich in der Staatlichkeit wiederholen, fortsetzen könnten. Der Übergang von ihnen in den Staat hinein wird mit demokratischem Misstrauen gesehen, das gesellschaftliche Aneignung von Staatsgewalt wittert, im Grunde eben doch nicht in Bürgereinungen, sondern in Staatsgewalt denkt, wie sich hier deutlich zeigt. Nachdem die bürgerliche Freiheit dann nur mehr zu retten ist in der Erhaltung der „staatsfernen Gesellschaft" - wenn eben deren private Einungsformen vom Staat nicht gesucht, übernommen, fortgesetzt werden - muss das Staatsrecht wohl mit Notwendigkeit seinen Selbstand suchen in eigenen, konzentrierten Einungsformen - und so kommt es zu den engen Kanälen der Wahl, jenen Nadelöhren, durch welche der ganze Reichtum der Gesellschaft eingehen soll in das Reich der Demokratie. So wie der Begriff des präexistenten „Volkes" umgedacht werden muss in Staatseinung, so gilt es, im Staatsrecht auch die Soziologie neu zu entdecken, welche die Vielfalt der gesellschaftlichen Einungsformen erschließt, die Möglichkeiten ihres Fortdenkens in die Staatlichkeit hinein nahe bringt. Einstweilen aber bleibt es, nach solchen Prämissen aus den Grundvorstellungen der Demokratie heraus, die doch nachdenklich stimmen, bei dem Ergebnis: Demokratie hat sich ihr Volk geschaffen, dieses spricht in ihr nun allein in den Formen, welche sie sich ebenfalls entwickelt hat, in einer gewissen Ausschließlichkeit: Mehrheitswahlen und -abstimmungen, was bedeuten sie aus der Sicht der Staatseinung? Aus ihrer Volk-Staat-Ideologie als solcher hat die Demokratie wohl noch wenig für das Grundthema der Einung gewinnen können. Es gilt daher, erst recht im Namen der Staatseinung, die bereits im Staatsbereich geübten Formen der Zusammenschlüsse zu entfalten, zugleich kritisch über ihre Einungskräfte nachzudenken.

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Vielleicht könnte sich hier eine Bewusstwerdung heute noch wenig beachteter Einungskräfte vollziehen.

2. Politische Parteien - Teileinungen zum Staat a) Parteien als „Gegen-Einungen" Das Grundmodell demokratischer Willensbildung ist ein Zweitakt: Teileinungen zuerst auf mehrere, letztlich zwei kontradiktorische Thesen - Sieg der Mehrheit sodann, diese als Einung im allgemeinen Willen. So sehr hat diese Volonté générale immer wieder fasziniert, dass der erste Schritt, die Teileinung davor, kaum mehr gesehen wurde. Das Kontradiktorische des zweiten Schrittes dominiert stets das Bewusstsein, hier wird in Kampf und Sieg gedacht, nicht in jener Einung, deren Wesen doch die befriedende Einbeziehung (möglichst) aller stets war, wie sie sich in ihren großen historischen Modellen, im Ideal der Eidgenossenschaft, immer vollzogen hat. Für die einen war dann eben Einung hier zu vernachlässigen, als nicht bedeutsamer Vor-Vorgang; andere, den Zusammenschluss letztlich nur im Ideal der Einstimmigkeitseinung erblickend, mochten diese Art der „kontradiktorischen Einung" eben doch nur mit Resignation als eine schlechte, notwendige Einungsform anerkennen, so wie der Aristokratismus Churchills die Demokratie als beste der schlechten Staatsformen gelten ließ. Doch es gilt, selbst in dieser von Kontradiktorietät bestimmten politischen Welt Einung zu entdecken, zunächst schon in den politischen Parteiungen. Sie bedeuten zuallererst zwar Opposition zu anderen politischen Kräften, aber sie sind es in den Formen einer „Gegen-Einung". Hier wiederholt sich die historische Erfahrung, dass Einung zunächst stets mehr gegen etwas als für einen Wert stattfindet, dass sich aus Angst- und Abwehreinungen die ersten, stets besonders starken Kräfte der Zusammenschlüsse entbinden, in jener „Wehrhaftigkeit nach außen", welche Integrationskraft verleiht, auch den Gruppen im Inneren der Gemeinschaft. Im Begriff der politischen Parteien liegt daher ganz wesentlich die Vorstellung von den dauernden Partial-Zusammenschlüssen, in die sich die nach außen durchgesetzte und befriedete Gemeinschaft wieder teilt, in solchen Zusammenschlüssen ständige politische Kohäsionskräfte findend, im Freund-Feind-Verhältnis des Politischen zugleich Kernteilungen und -einungen in der demokratischen Gemeinschaft entdeckend. In den politischen Parteien, welche noch nicht in der Fiktion der Volksparteilichkeit erstarrt sind, die bereits kritisiert wurde, liegt, nach aller Erfahrung, gerade jene außerordentliche Flexibilität, ein Kombinationsreichtum möglicher, wechselnder Einungen, der zwar immer wieder Tiefe und Festigkeit der Zusammenschlüsse opfert, darin aber stets von neuem die dynamischen Kräfte der Einung gewinnt. An den demokratischen Parteien ist heute fast alles kritikabel, kaum Gutes zu entdecken, blickt man auf sie mit den Augen einer in Staatsmoral festgefügten Ord-

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nung. Unordnung wogt dort - doch sie findet sich immer wieder zusammen, dies ist das einzig Gute: die ständig wiederholt sich entbindende Einungskraft der Parteiung in der Unübersehbarkeit ihrer Strömungen und Verbindungen. Parteienreichtum, neue Gruppierungen - das bedeutet neue Kräfte zur Staatseinung, die nicht in Parteieninstitutionalisierungen aufzusaugen sind.

b) Oppositionspartei als Einungsform Die Kontradiktorietät der parteipolitischen Gegeneinungen scheint all dieses Zusammenschließen zu beenden, nichts mehr zu hinterlassen als Teilungen, die Staatsmechanik der Waagen und Gegengewichte. Das Gegenteil trifft zu: Gerade an der Parteienfront werden diese flexiblen Einungskörper immer von neuem, nie aber endgültig, zu Einheiten zusammengeschweißt, unter dem Druck des ebenfalls, des stärker bereits geeinten politischen Gegners. Die Gegensätzlichkeit setzt in der Parteienlandschaft das Einungsziel, hier werden die Adler aufgestellt, um welche die Parteiführer ihre Truppen versammeln, militärische Worte werden übrigens darin häufiger gebraucht als irgendwo sonst in der befriedeten Volksherrschaft. Was sodann in der verlorenen Abstimmungsschlacht nicht umwirft, macht die Einung nur stärker, die immer wiederholte Niederlage, die in der Opposition so ermüdend wirkt, oft zum langweiligen Staatstheater der Negationen entartet - sie verbindet in dem immer neuen Bewusstsein, die nächste oder doch eine ferne Schlacht gewinnen zu können. So muss wohl die Theorie der Opposition auch aus der Sicht der Staatseinung neu überdacht werden, als Einungschance der permanenten Niederlage, welche den periodischen Machtwechsel nicht nur durch Machtabnutzung auf der Herrschaftsseite, sondern in immer stärkerem Zusammenschluss der Kräfte der scheinbar ewig Unterlegenen bringt. Der endliche Sieg, die Eroberung der politischen Macht - was wäre er schließlich anderes als ein eigentümlicher Einungsvorgang, in dem einer der politischen Pole, schwächer bisher, sich immer mehr anbinden kann an Bürgerkräften, an Überzeugungskraft in Parlamenten und Gremien? Machtwechsel muss eben, in erster Linie, als Um-Einung gedacht werden.

c) Parteienkoalitionen Dies ist eine Einungserklärung für das grundsätzliche demokratische Modell der zwei Parteien, auf das diese Staatlichkeit letztlich angelegt ist; doch es trägt weiter bis in dessen Verfeinerung im Mehrparteienregime: Dort treten die verschiedenen Parteien erst recht in Erscheinung als Teileinungen auf spätere Einung hin, nicht mehr nur in der „Um-Einung der Bürgerbasis auf die Ziele der Gegenpartei", sondern zugleich noch im interparteilichen Einungsvorgang der Koalitionen. Mehrheitsbildung in ihnen bedeutet den kraftspendenden demokratischen Einungsvor-

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gang außerhalb des Runds der Parlamente, und doch bereits im politischen Raum, sie ist vorweggenommene staatliche Global-Willensbildung in Einung. Hier findet dieser Begriff seine volle Ausformung, bis hin zu jener Einstimmigkeit, die stets das Ideal der Staatseinung sein wird, wie sie sich im Koalitionsregime fortsetzt, in die tägliche Parlaments- und Regierungsarbeit hinein. Das Mehrparteienregime ist wesentlich auf Einung angelegt, wie sie dort stets in virtueller Einstimmigkeit möglich ist, nach dem Dogma, jeder müsse mit jedem koalitionsfahig sein. Notwendig ist dies und die bessere politische Ordnung dort, wo es nicht interfraktionelle Einungen gibt, wo weitgehende Einstimmigkeiten sich nicht im ständigen, fraktionszwanglosen Gespräch in den Parlamenten herstellen lassen; und deshalb vor allem können die Vereinigten Staaten das Mehrparteienregime entbehren. Es bedeutet ja den Ersatz der Mehrheits-Einung in Wahlen durch eine Parteien-Einung, die Vergrößerung der Oppositionschancen zum Machtwechsel durch neue politische Zusammenschlüsse und damit die Flexibilisierung der Herrschaft. Wenn die institutionalisierte Demokratie zum plébiscite de tous les jours nicht voll zu werden vermag - Koalitionsdemokratie der Parteien bewährt sich als deren union de tous les jours.

d) Die politischen Parteien als staatsunabhängige Einungsträger Auf eines muss die Demokratie stets setzen: dass der Vorgang der Staatseinung, in Form von Gegen- und Teileinungen in den Parteien, geordnet und kontinuierlich ablaufe, dass diese Zusammenschlüsse „Einungsvorgänge an sich" bedeuten, mit einem gewissen Selbstand gegenüber jener Staatlichkeit, welche sie besetzen wollen - auch nachdem ihnen dies gelungen ist. Darin liegt eine doppelte Erkenntnis: Die politische Partei, welche ihre staatseinende Funktion erfüllen soll, muss ganz wesentlich, in ihrer Organisation schon, nicht nur in ihren Programmen, Staatskräfte in Einung entbinden; und dies muss in einem gewissen Selbstand dieses Zusammenschlusses gegenüber der Staatsgewalt erfolgen, darf sich nicht in Staatsidentifizierung auflösen. Aus der ersteren These ergeben sich Erkenntnisse für die Bedeutung von Organisation und Programmatik für die politischen Parteien. Sie müssen zuallererst gesehen werden als Einungsorganisationen, der Blick darf nicht allein auf ein vermeintliches oder wirkliches Einungsergebnis fallen, auf das Parteiprogramm. Starke politische Parteien - das sind Menschen, die in Einung wirken, Organisationen, die sich ständig integrieren, vielleicht auch noch gemeinsam gesprochene Worte wiederholen, nicht Thesen, die sie auf Papier geschrieben verteilen. Parteiprogramme müssen nur, dürfen letztlich allein Einungsziele bezeichnen, ihre Allgemeinheit ist nicht Schwäche, sondern wesentlich Einungsstärke, wenn sie sich nicht in Unbestimmtheit verliert. Auf solche Einungsteleologie hin müssen die Parteien organisiert werden, stets wesentlich und zuallererst politische Organisationen der Einung bleiben. Dies hat noch immer am stärksten die Bürger angezogen: die

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dynamische, einungsstarke Organisation, nicht die leeren Worte, die jeder für sich sprechen kann. Die Partei - das sind nicht „Sachfragen", hinter denen sich die machthungrigen Führer schamhaft verbergen, politische Parteien stellen ihrem Wesen nach Personalfragen, in Einung. Darin bewähren sie sich zuallererst als Träger der Staatseinung, nicht in der falschen Einheit statischer Parteiprogramme. Doch nun ist ihnen auch noch Selbstand gegenüber ihrem Ziel abgefordert, der zu besetzenden Staatlichkeit. Hier lässt sich das Problem nicht aus dem Lippenbekenntnis der politischen Parteien als „gesellschaftlicher, staatsferner Zusammenschlüsse" lösen, das ohnehin schon in ihrer Etablierung durch Staatsfinanzierung unglaubhaft wird. Die Schwierigkeit liegt weit tiefer, wie gerade eine Betrachtung aus Sicht der Staatseinung zeigt. Die politischen Parteien sind eben doch letztlich voll auf den Staat hin konzipiert. Auf ihn, auf die Besetzung seiner Macht, einigen sich die Bürger in ihnen und die Verbände - auch dies übrigens ein schönes Beispiel von Einungsvielfalt. Welches Eigenleben führen sie dann noch extra muros, außerhalb jener Macht, auf die hin sie unterwegs sind? Gibt es etwas wie eine Parteienföderalgemeinschaft, wirkliche Parteienverträge, die Selbstgewicht hätten, sich nicht immer rasch wieder, wie Koalitionsvereinbarungen, in den Staat hinein auflösten? Einung hin zum Staat - dies entspricht dem Grundmodell der Staatseinung. Das Grundproblem für die Parteien wird es immer sein, wie sie „auch außerhalb des Staates überleben können", in Machtferne, gerade dort sich ihre Identität bewahrend. Denn allein aus bewährter, ja potenzierter Identität heraus ist Staatseinung letztlich möglich. Die Antwort kann nur lauten: Auch die machtferne, machtlose politische Partei muss sich ihre Identität als Einungsträger bewahren, die mächtige sollte den Staat nur besetzen dürfen, wenn auch sie dazu fähig ist, wenn ihre Legionen nach dem Sieg immer auch noch extra muros stehen bleiben. Nur ein Einungsträger, der dazu die politische Kraft findet, ist der Regierungsgewalt würdig. Denn es gilt:

e) Die staatsgewordene Partei - Ende demokratischer Einung Die Staatspartei der Kommunismen und Faschismen ist ursprünglich geworden und angetreten als eine Kraft unter mehreren, und dies wollte sie auch, wie es ihr beibehaltener Name aussagt, weiter bleiben: ein Teilzusammenschluss von Bürgern und Organisationen, welcher die Einungskräfte laufend, dynamisch, ohne Hierarchie und Bürokratie, in die Staatlichkeit trägt, als Transformator gesellschaftlicher Einungen in einen Staat hinein, der erst darin sich mit der Gesellschaft nicht ein für allemal, sondern laufend neu verbindet. Aus diesem mehr Gespür als Bewusstsein heraus zögerten dann Parteiführer sogar anfänglich, Staatsämter zu übernehmen, ja ein Abgeordnetenmandat, das ihnen von den lebendigen Kräften dieser ständigen politischen Zusammenschlüsse abgekoppelt erschien. In der Idee der Staatspartei liegt also, im Grunde, eine Einsicht in das Wesen der Staatseinung, der Versuch, zu dynamisieren, was in objektiven Institutionen-Ord-

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nungen verkrustet erscheint. Die Parallelität von Partei und Staat in Italien, Deutschland und den östlichen Staaten war im Grundsatz nicht als spiegelbildliche Verdoppelung des Staatsapparats gedacht, sondern als dessen stets neue, belebende Konstituierung in Staatseinung. Doch die Institutionalität war überall, zuallererst im faschistischen Italien, stärker, das sich römischer Institutionen-Monumentalität verpflichtet fühlte. Gerade dort hatten Staatsparteien und ihre Führerpersönlichkeiten eine Chance, wo eine besonders mächtige Staatsinstitutionalität gebrochen oder doch neu belebt werden sollte, im früheren Russland der Zaren, in der Nachfolge des deutschen Obrigkeitsstaats. Die westlichen Länder fühlten dieses Bedürfnis schon deshalb nicht in vergleichbarer Stärke, weil dort Demokratie seit langem bereits jenes Minimum an Einung von unten in den Staat trug - ein Maximum in den Einwanderungsländern - welches neue, gewaltsame Dynamisierung solcher Art entbehrlich machte. Denn dahin kam es nun eben rasch mit den Staatsparteien: Sie konnten die Staatlichkeit zwar durchdringen, wurden aber von deren stärkerer, traditioneller Institutionalität aufgesogen, gleichgeschaltet. Eine Ironie der Worte liegt darin, dass jene „Gleichschaltung", welche die nationalsozialistische Partei bringen sollte, sie bei den deutschen Ländern wenigstens, mit anfänglichem Schwung, auch noch verwirklichen konnte, sich dann in einer Wechselwirkung vollzog, eher mit stärkeren Effekten auf der Parteiseite: Die „Bewegung" wurde in preußisch-deutscher Militärstaatlichkeit gleichgeschaltet. Immer von neuem wurde damals im Deutschen Reich, wurde später noch im Osten, in oft dramatischen Appellen zur Renaissance der Staatseinungskräfte der Einheitspartei aufgerufen - vergeblich, wie schon ihr Name sagt: Sie ist Einheit geworden wie der Staat, nicht nur mit ihm. Gerade dann, wenn sie auf dessen bürokratische Mechanismen mit neuen ideologischen Kräften einwirken will, ist sie erst recht, schon von ihrer Geburt an, stets mehr prästabilierte Einheit als werdende Einung, weil eben die Ideologie nur als vorgedachtes System in vollendeter Einheit vorgestellt werden kann. Den Rückzug versuchten die Staatsparteien dann noch einmal anzutreten, meist schon an ihrem Ende, wenn sie sich nur mehr als „beherrschende politische Kraft" verstanden, sich mit anderen politischen Kräften einen wollten, wie es in Russland versucht wurde. Im Grunde war dies kein Wunder, kein Abfall von den Ursprüngen einer Arbeiterpartei, es lag darin der Versuch eines ad fontes, eine Wieder-Verparteilichung staatsgewordener Organisationen. So sind die Staatsparteien ein Kapitel groß versuchter und gewaltig gescheiterter Staatseinung, die sich selbst darin noch als mächtige Kraftanstrengung, als Chance zum Staat zeigt. Eine weitere Lehre noch geben sie den demokratischen Zusammenschlüssen mit: dass hier nicht nur Menschen zusammengeschlossen werden in Bürgereinung, denn stets hat die Organisationeneinung zum Programm der Staatsparteien gehört, die sich als Zusammenschlüsse von Bürgern und gesellschaftlichen Einungen verstanden; ihre Staatsgewerkschaften etwa waren ursprünglich

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nicht als jene gleichgeschalteten Einungsfiktionen gesehen, die sie am Ende geworden sind. f) Und die ... „ Dauerregierungspartei

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Die freien Demokratien kennen vielfache Annäherungen an Staatsparteilichkeit, am deutlichsten in der Erscheinung der Dauerregierungspartei, welche von der regimetragenden politischen Kraft zur Regimeverkörperung emporwächst. Wenn eine Partei wesentlich „staatstragend" wird, kurz ist dann der Weg zur Staatsverkörperung. Die italienische Democrazia Cristiana wird die Geschichte hier kaum nennen. Diese Gruppierung hat es verstanden, sich von einem Bewusstsein der Staatsmonopolisierung zurückzuentwickeln zu einer beherrschenden Teil-Kraft in der Gemeinschaft, die aber lange Zeit in doppelter Einung vital regierte: in Koalitionen mit anderen Parteien, denen sie etwas an wirklicher Macht zu opfern bereit war, und in den laufenden inneren Teilungen und Zusammenschlüssen ihrer sprichwörtlichen correnti. Doch andere und wirkliche Dauerregierungsparteien, Gruppierungen, in denen sich ein solches Bewusstsein entwickelt, weil sie eben den politischen Gegner in Daueropposition zurückdrängen, sie können der Gefahr einer Verstaatsparteilichung nicht auf Dauer entgehen. Darum sollten sie sich mühen, in inneren Einungen politische Kräfte ständig „in den Staat hinein" zu entbinden, nachdem dieser doch bereits durch ihren Zusammenschluss besetzt ist. Ihre Dauerherrschaft bedeutet Machtabnutzung und einen Kraftverlust; sie werden stets versucht sein, diesen aus den institutionellen Befehlskräften der von ihnen regierten Staatsmaschine zu kompensieren. Ihre Aufgabe können sie dann nur mehr darin sehen, als Einheit gewordene Macht zu regieren, nicht diese in Einung zu konstituieren, denn das staatsgeometrische Firmament ist ihre Konstellation, nicht ein himmlischer Wirbel, der neue Himmelskörper aus sich hervortreibt. Der Staat leiht ihnen, zur Machterhaltung, seine institutionellen Verfestigungskräfte, in jenem hierarchischen Denken vor allem, das dort, trotz aller Verwaltungs-Einungen, immer beherrschend sein wird. Darin organisiert sich eben auch die Dauerregierungspartei, nicht mehr in einer vom Bürger „in Privatheit" durch sie strömenden Einungsdynamik. Sie wird dann zuallererst vom „Parteichef 4 sprechen - den Regierungschef der Staatlichkeit in ihre Strukturen übertragend, ihre Organisation wird sich auf Dauer entföderalisieren, weil hierarchisieren, denn die alten, großen Modelle entfalten Anziehungskraft gegenüber dem - ursprünglich so glücklich - Unfertigen der Einung. Schließlich will man doch Macht in solchen Parteihänden, man will sie gebrauchen; so entsteht eine Grundstimmung des Zwingens, nicht des Einens. Nicht zuletzt deshalb sind in Lateinamerika gestürzte diktatoriale Staatlichkeiten immer wieder durch demokratische Gruppierungen abgelöst worden, welche sich

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dann zu wahren Dauerstaatsparteien entwickeln konnten, Mexiko vor allem als Beispiel. Primär bleibt eben der spanische Königsstaat, den keine Kraft indianisch verwalten kann, die immer wieder in Anarchie zerfallen würde. In dieser Gefahr stehen auch die europäischen Groß-, Volksparteien, denen schon mehrmals eine Kritik aus der Sicht der Einung gegolten hat, die auch hier wiederholt werden muss: Das traditionelle Staatsdenken in ihren Ländern belastet sie mit ständigen institutionenablagernden Sklerosen. Opposition als Chance - das ist immer noch zuallererst ein Selbsttrost der Verlierer. Doch hier ist eine für die Demokratie glückliche Bewusstseinsveränderung im Lauf: Der Machtwechsel wird als eine Notwendigkeit nicht mehr nur der Machtverkleinerung gesehen, sondern der neuen Machtschaffung, aus sich erneuernden parteipolitischen Einungen heraus. Wenn der Rückweg in die Opposition das große „ Z u r ü c k in die Einung" bläst, dann ist die nächste politische Schlacht schon gewonnen. Und die Dauerregierungspartei allerdings wird sich auch noch auf den harten Bänken des parlamentarischen Widerstands über Jahre hinweg als eine Neben-Regierungspartei aufführen, nicht führen, damit ebenso lange Zeiten neuer Regierungschance verlieren; Christ- und Sozialdemokraten haben das in der Bundesrepublik Deutschland vorgeführt. Staatseinung verlangt den Machtwechsel, sie wird ihn, in immer bewussterer Demokratizität, zunehmend erzwingen. Das pseudo-demokratische, im Grunde nur obrigkeitliche Lob, hier werde ja, durch Dauerregierungsparteien, im Grunde stabil regiert wie in früheren Zeiten - die Bürger werden es vergessen, solche Parteien verlassen, die sie nicht immer wieder umeinen wollen.

3. Mehrheitsentscheidung als Einung Der Einungsvorgang der freiheitlichen Demokratien kann jedoch nicht bei dem ersten Takt der Einung in Parteien verharren, am wenigsten dort, wo jene Einungsgefahren noch lauern, die vorstehend beschrieben wurden. Der zweite, größere Takt demokratischer Staatswillensbildung ist daher nun als Form der Staatseinung zu betrachten, der Sieg der Mehrheit in Einung und Wahl, der große demokratische Mechanismus der Zwangseinung zum allgemeinen Willen. a) Abstimmung - Einung oder Sieg? Mehrheitswille - allgemeiner Wille: dieses Wort des Propheten der Volksherrschaft, um welches sich die repräsentative Demokratie gebildet hat, zeigt die Schwere der Frage: Seine Volonté générale ist in der Staatslehre stets und unbekümmert als Fiktion bezeichnet worden, als die wirkmächtigste, die das Recht überhaupt kenne. Wird dies aber nicht einer Einungsstaatlichkeit tödlich, welche gerade ihr Wesen nicht in der Begrifflichkeit herkömmlicher Dogmatik sucht, diese vielmehr zu beleben unternimmt? Darf der Einungsstaat sich wirklich, in seinem letzten Grund, als Fiktionsdemokratie verstehen?

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Und noch als eine wirklichkeitsfremde Fiktion: Ist der Überstimmte denn nicht in der Regel doch geschlagen - nicht „aufgesogen" von der Mehrheit, „in sie hinein geeint"? Bedeutet Abstimmung nicht wesentlich einen Teilungs-, nicht einen Integrationsvorgang? Wenn es in der Mehrheitsdemokratie und ihren Oppositionsordnungen zu Dauer-Niederlagen einer Gruppierung kommt, wenn die Opposition dadurch geradezu an den Rand der Staatlichkeit, ja der Gemeinschaft sich gedrängt sieht, wenn ihre Vertreter letztlich fernbleiben könnten jenen immer gleich verlaufenden Abstimmungsschlachten, in denen sie doch verlieren müssen wo ist da noch Einung? In grundsätzlicher Betrachtung bietet sich dasselbe Bild: Hier wird ein politischer Wille durch den anderen gebeugt, das Wesen der Vertraglichkeit, die doch in aller Einung stets gegenwärtig bleiben sollte, scheint sich völlig im Mehrheitsbefehl zu verlieren; auf Seiten der Überstimmten ist keine Freiwilligkeit, keine Willigkeit mehr - daher auch nichts von einem allgemeinen Willen. Parteipolitische Gruppierungen, die hier unterliegen, mögen noch Einungen in sich sein, Einungsträger daher; Mehrheit und Minderheit aber können als solche überhaupt nicht mehr als dem Abstimmungsvorgang gegenüber präexistente und nach ihm weiter existierende Elemente der Einung erkannt werden, mit auch nur einigem Selbstand; es gibt sie nur mit Blick auf den Abstimmungsvorgang, mit ihm sind sie als solche aufgehoben. Wirkt darin nicht reine Institutionalität, ein ad hoc geschaffener Einrichtungs-Mechanismus der Staatlichkeit zur Ordnung ihrer Willensbildung? Bringt der Mehrheitsgedanke nicht nur, in diesem Sinne, deduktive Staatlichkeit zum Tragen? Wird hier nicht ganz wesentlich geherrscht, aus einer objektiven Herrschaftsmaxime heraus, die ständig in größere und kleinere Fraktionen teilt, vollzieht sich nicht das Gegenteil der Einung, ein ständiges Beugen durch Teilungen und nach ihnen? Fast ist man versucht, darin ein Gegenprinzip aller Einung zu erkennen, die sich, im ersten Takt der demokratischen Willensbildung noch deutlich erkennbar, auf deren zweiter Stufe verliert, auf welcher eben nicht „aristokratische" Einheiten mit außerstaatlichem Selbstand oligarchisierend geeint, sondern Bürgermonaden addiert und gewogen werden - bis sie überwiegen. Wenn dies aber eine Gegenform der Einung bedeutet, so kann es diese Staatskraft nicht vollenden. Gehalten wird ja im Letzten, Rechtsverbindlichkeit gewinnt dieses demokratische Gralswunder der Volonté générale durch den höheren Befehl einer objektiv-normativen Verfassung, die eben anordnet, welche Mehrheit den Staatsbefehl erzeugen darf. Dies mag dann eine ferne Grundnorm sein im Sinne von Kelsen, doch die gesamte Staatlichkeit bleibt von ihr her wesentlich normatiert von oben, nicht uniert von unten. Doch Rousseau sah es eben anders, die Fiktionsdeutung seines allgemeinen Willens wird ihm übrigens nicht voll gerecht, dem großen Dogmatiker der Einung. Für ihn war die Mehrheitsabstimmung doch nichts als ein Einungsvorgang, in dem sich die Minderheit, nach dem anfänglichen Widerstand ihrer Gegenstimme, mit den Stimmen der siegreichen Mehrheit schließlich zusammenschließt. Eine solche

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Vorstellung ist unvollziehbar für denjenigen, welcher hier nur in Freund-Feind-Kategorien denkt, nicht das übergeordnete Einungsstreben sieht, das zur Abstimmung führt, sie trägt. Rousseaus Grundgedanke ist vielmehr: „Lasst uns doch abstimmen - in Freundschaft - damit aus dem Zusammenschluss unseres Zusammensitzens etwas Konkretes noch in Einung werde!" Der Runde Tisch ist das Entscheidende, ein Sozialvertrag wird vor jeder Abstimmung geschlossen, eine Föderalgemeinschaft mit den später, aber nur punktuell, vorübergehend, Besiegten. Eine solche Deutung ist jenen nicht verständlich, welche Demokratie nur in den feindlich gegeneinander stehenden Bürgerhaufen der in Anarchie zerfallenden Französischen Revolution sehen; Rousseau liegt vor ihr, nicht aus ihr heraus ist er verständlich, sondern aus der aristokratischen Grundstimmung jenes Ancien Régime, das er nur demokratisierend fortdenken wollte. Zwei Grundvorstellungen müssen ihn dabei geleitet haben: zum einen das Staatsgeheimnis der Föderalimperialität jener Römer, deren klassische Staatswerdung der beginnende Neoklassizismus des 18. Jahrhunderts zum politischen Allgemeingut gemacht hatte: Sieg und dann sogleich Staatsvertrag mit den Besiegten, der sie in das gemeinsame Imperium aufnimmt, wenn er sie nicht grausam vernichtet. Nur eines gibt es nie: ein Stehenlassen der Geschlagenen in ständiger Gegenposition. Nicht minder wichtig ist die zweite Rousseau'sche Grundstimmung: Die französische VerfassungsWirklichkeit des 18. Jahrhunderts mit ihren Grands Corps de l'Etat, zuallererst den Parlements der Regionen dieses Reiches. Hier saßen, wie in allen Zünfteversammlungen, den Räten der Städte, jene Notabein am wesentlich Runden Tisch - nicht auf den Bänken von Regierung und Opposition - um den sie sich bei Abstimmungen immer wieder und von neuem einten. Das Entscheidende war eben hier der Corps-Geist, er vor allem lässt Abstimmung vom Sieg zur Einung stets von neuem werden; Seinesgleichen besiegt ein solcher - im Letzten eben doch - Aristokrat nicht, er bietet ihm sogleich nach der Abstimmung die Hand - im Grunde schon in ihr. Erst die Parteiendemokratie, welche Mehrheit und Minderheit fortbestehend verfestigte, hat Rousseau, in unseren Augen, zum Zauberer eines unbegreiflichen „Allgemeinen Willens" werden lassen. Aus diesem wesentlich aristokratischen Corps-Denken heraus muss jener allgemeine Wille neu verstanden werden, der allein die Demokratie in Einung halten kann. Der Abstimmungsbürger, der Mandatsträger in Parlamenten und Gremien, in Verwaltungseinungen - überall muss er eben aristokratisiert werden, etwas vom kleinen und größeren Corps-Geist in sich lebendig werden lassen. Dahin - dies ist ein bereits durch viele Erscheinungen bestätigter demokratischer Optimismus sind die Gesellschaften der entwickelten Demokratien allenthalben auf guten Wegen, nicht zuletzt in der steigenden kulturell-geistigen Verehrung einer Vergangenheit, welche ihnen diesen Aristokratismus in Schönheit und Geist nahe bringt, den sie dann in ihrer Politik fortdenken können.

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Dies ist vielleicht die größte Herausforderung der Staatseinung an die Demokratie: dass sie in Bürger-Aristokratisierung Rousseau und seine Volonté générale neu entdecke.

b) Wahl als Einung? Wahlakte heben sich aus den Mehrheitsentscheidungen der Volksherrschaft und ihrer demokratisierten Gesellschaft heraus, gerade mit Blick auf die Staatseinung. „Der Gewählte bleibt", in jener Individualität, in welcher er der Wahl präexistent war, er tritt dann aber in ihr über all seine Wähler empor. Gleich nach der Kür kann er beginnen, mit solchen Einungskräften die Gegner an sich zu ziehen, selbst jenen Gegenkandidaten, der ihm die staatseinende Hand der Gratulation bietet. Von nun an mag er sagen und laufend beweisen, dass er auch „Vertreter der Geschlagenen" sei. Viel leichter lässt sich eben jene Wahl als Zusammenschluss erfassen - nicht als Aktivierung politischen Kampfes - in der etwas wie eine personale Inkarnation von Gemeinsamkeiten stattfindet, wo es ja oft einen Gegenkandidaten nicht gibt, weil die Opposition in Voreinung bereits ihren gemeinsamen Willen mit der Mehrheit gebildet hat. Dies sollte nicht in der demokratischen Sünde eines „Wir brauchen euch nicht" zurückgestoßen, als Unterstützung nur der siegreichen Bataillone der Mehrheit ironisiert werden: Die Wahl ohne Gegenkandidaten ist ein großartiger Akt der Staatseinung, auf sie in ernsthaften Vorgesprächen hinzuwirken, die nicht nur Resignation bedeuten, ist höchste demokratische Pflicht; aussichtslose Kampfabstimmung bleibt oft nur undemokratische, demagogische Pflichtübung. Entsteht denn über Menschen eben nicht so leicht Uneinigkeit wie über „Sachen", bei Interessenentscheidungen, gibt es nicht eine „besondere Struktur der Personalentscheidungen", die weit eher einungsgeneigt erfolgen, ihrem Wesen nach es von Anfang an sind? Interessen mag man nie ohne Kampf opfern wollen, im Gegenkandidaten lässt sich doch stets noch der Mensch achten, der Freund vielleicht, jenseits aller Interessengegensätze. Demokraten sollten daher stets versuchen, ihre Mehrheitsentscheidungen zu personalisieren in Wahlen, aus der oft allzu harten Sachopposition in die Gemeinsamkeiten des Menschlichen nicht auszuweichen, sondern hinaufzusteigen. Doch die nicht nur ent-einenden, die wahrhaft entstaatlichend-teilenden Kräfte der Mehrheitswahl sollten darüber nicht vergessen werden. Der Wahlvorgang selbst trägt immer diese Gefahr des Zerreißens in sich, der Belastung für den Corpsgeist und eine aus ihm erwachsende Gleichheit, in der eigentlich niemand „mehr" sein dürfte, auch nicht ein Gewählter. Wenn er sodann integrativ befriedet, über die Parteigrenzen hinweg, ist nicht dann dies erst die Einung, wie sie eben seine Persönlichkeit schafft, nicht seine Wahl? Und wenn er in ein „hohes Amt" gewählt wird, beim Staatsoberhaupt vor allem, liegen dann im Wahlakt als solchem überhaupt noch integrative Kräfte, ist es nicht das Amt selbst, das später den „Verstand" gibt, vor allem den zur Einung? Gewählte sind auch, gerade in politi-

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sehen Gremien, oft nichts anderes als Repräsentationen von Sachentscheidungen, deren personale Verkleidung. Dann mag sich in ihnen auch all das zusammenballen, was die Abstimmenden je entzweit hat, der Wahlkandidat wird als solcher zum Stein des Anstoßes, er teilt noch weit mehr, als es je eine Sachentscheidung vermöchte; die Bundesrepublik Deutschland hat es zumindest einmal erlebt. Die Wahl kann also zur Potenzierung der Gegensätze führen, in Personalisierungen der Teilung, die dann geradezu „persönlich berühren, beleidigen". Dann schlägt dieser an sich integrativ konzipierte Akt in Staatsbelastung um, nicht in Paktieren, sondern in Fraktionieren der Gemeinschaft. Dann bringt die politische Wahl dies alles mit „einem großen Schlag", der die Gemeinschaft in mehrere Führer und Gefolgschaften zerreißt. Aufgabe der Demokraten ist es - und sie wird schon überall gesehen - zuallererst eines vom Kandidaten zu fordern, auf allen Ebenen: die Einungskraft, welche hier, in seltener Klarheit, schon heute das Gebot ist. Das noch höhere Prinzip aber lautet in der Volksherrschaft: Lasst Abstimmungen zu Wahlen werden, personalisiert die Sachentscheidungen, damit sie Einung weitertragen!

c) Das Abstimmungsgeheimnis - Schutzschild oder Verschüttung der Einung? Die einungsfeindlichen Kräfte der Abstimmungen werden immer gefühlt, daher soll möglichst niemand „offen verlieren", stets sein Gesicht darin noch wahren dürfen, als habe er eben gewonnen. Das Wahlgeheimnis ist zuerst wohl ein menschliches Zugeständnis an die Eitelkeit der Abstimmenden, die sich dann nicht erst dem allgemeinen Willen anzuschließen brauchen, die behaupten dürfen, sie seien schon beim Willen der Mehrheit dabei gewesen. So verstärkt sich die integrative Kraft der Abstimmungsvorgänge, vor allem wenn sie sogleich, nach gelungener Wahl, dem Sieger Einungschancen eröffnen sollen - wo wären sie größer als dort, wo er seine Gegner nicht zu kennen braucht? Einungen allein in Ehrlichkeit hat es nie und nirgends gegeben, gerade auch aus Zusammenschlüssen mit Überläufern entsteht eine Staatlichkeit, welche sich, seit ihren antiken Anfängen, stets vor allem auf Opportunismen und Schmeichelei gestützt hat. Dies alles bindet ein Wahlgeheimnis zur Einung zusammen, mit dem die Demokratie nicht nur politische Klugheit zeigt, sondern vor allem ihre Einungen nicht belasten, die politische Tapferkeit des frontalen Zusammenpralls nicht erzwingen will; in der Volksherrschaft ist die politische Feigheit vor dem Feind kein Verbrechen. Doch Demokraten sollte stets auch dieses Abstimmungsgeheimnis als Zugeständnis an menschliche und politisch-organisatorische Schwäche bewusst bleiben. Es zeigt, wie tiefe - auch persönliche - enteinende Wunden in Abstimmungs-

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schlachten geschlagen werden können. Wird über sie das Geheimnis gebreitet, so wird dadurch sicher nicht nur die Möglichkeit eröffnet, sich mit ihnen versöhnend abzufinden. Ein schwärendes Kryptodasein kann das Gegensätzliche nun führen, als Belastung der eben nur scheinbar entstandenen Kräfte. Das Abstimmungsgeheimnis verhindert weithin jene Vor-Einungen, in denen so oft das Wesen des Sich-Zusammenschließens liegt, wenn eben in Kontakten und Vereinbarungen schon Einungskräfte erkannt werden, im Vorfeld Interessengegensätze wirklich überhöht werden können, was im dramatischen Abstimmungsaugenblick so schwer nur gelingen wird. Die Dramatisierung einer Einung ohne Vor-Dialog, welche das Abstimmungsgeheimnis begünstigt, kann Chancen des Zusammenschlusses eröffnen, der über den eigenen politischen Schatten springen lässt, sie kann solche aber auch, und so oft, zerstören, die Abstimmung zum Formelkompromiss entleeren. In Demokratien sollte bewusst sein, dass Einung grundsätzlich stets in einer gewissen Öffentlichkeit stattfindet, dass die offene Abstimmung im Halbrund des Parlaments eben doch ihr großes Modell bleibt, wo sich der Abgeordnete mit seinem vielgerühmten Gewissen nicht verstecken muss. Gegen politische Geheimverträge zwischen den Mächten hat sich seinerzeit gerade ein Vertreter der Einungsdemokratie gewendet in seinen Vierzehn Punkten, weil das demokratische Bewusstsein in ihnen nicht Einung sah, sondern wesentlich Kriegsvorbereitungen. Stets von neuem mögen sie nötig sein, gerade zur Kriegsverhütung, damit keine der Mächte ihr Gesicht verlieren müsse, doch dies sollte auch eine Lehre des Völkerrechts für die politischen Staatseinungen innerhalb der Demokratie sein: Ihre Abstimmungen und Wahlen dürfen nicht zu odiosen Geheimverträgen werden; wer Zusammenschluss sucht, muss sich öffnen - sich zeigen. Vom Abstimmungsgeheimnis darf nicht der Weg führen in die vermummte Demonstration, in die Demokratie der Maskierten. Und wahrhaft in der Demokratie wird man dann sein, wenn eines Tages selbst offen gewählt werden kann. 4. „Demokratisierung" - überall Mehrheitsentscheidung a) Demokratisierung

- nur Majorisierung

Selbstverständlich ist, dass die Demokratie ihr Grundprinzip, die Mehrheitsentscheidung, in alle staatlichen Räume tragen, und weit darüber hinaus selbst in der staatsfernen „Gesellschaft" verbreiten will; dies geschieht mit der allgemeinen Notwendigkeit der gesellschaftsprägenden Staatsform, sie ist eine von deren wichtigsten rechtlichen Wirkungen. Auf die Staatsspitze kann eine Gestaltung der Willensbildung nicht beschränkt werden, die als „an sich gut" erkannt worden ist, welche gerade dort, im parlamentarischen Raum, zwischen Persönlichkeiten geübt wird, die sich als Vertreter gesellschaftlicher Gruppen fühlen; sie können eben gar nicht anders denken als in Mehrheiten, müssen geradezu versuchen, dieses Grundmuster, in der Erfüllung ihrer privatrechtsgestaltenden Aufgabe, „in die Gesellschaft" hineinzutragen.

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Ein solcher Zug, wie er heute im Schlagwort der „Demokratisierung" ebenso aggressiv propagiert wie kritisiert wird, ist letztlich allen Staatsgrundprinzipien eigen; der Führerstaat wollte seine Struktur ebenso bis ins Gesellschaftsrecht hinein durchsetzen, wie sich die Spätmonarchie den Familien- und Wirtschaftspatriarchen in strenger Ruhe angliederte. So greift denn die Mehrheits-Demokratisierung immer weiter um sich, von den staatsinkorporierten zu den staatsnahen Verbänden, die hierarchisch aufgebaute Kirche kann sich ihr nicht verschließen; sie erfasst selbst die Zentren der Staatsgewalt, die Verwaltungseinheiten in Teamwork und Gruppenführung, mit der Macht der Parteien wirkt sie hier und auf alle anderen Bereiche. Die Entfaltung dieser „durchgehenden Herrschaftsform der Mehrheit" birgt sicher die Gefahr der Gleichschaltung aller Gruppenbezüge, nach dem Modell der Ersten Staatsgewalt und ihrer Entstehung. Mit Recht wird dies dort kritisiert, ja belächelt, wo natürlich konstituierte, eng gefügte Einheiten, wie die Familie, eigene Strukturen aufweisen, oder es wird als eine Gefahr für jene privatautonome Freiheit bekämpft, die eben auch andere Gestaltungen soll vorsehen dürfen, bis hin zum autoritären Befehl. Aus der Sicht der Staatseinung ist aber nicht diese Demokratisierung an sich zu verurteilen, sondern allenfalls die Verabsolutierung ihrer einen Form der Mehrheitsentscheidung. Dass dieses eine Willensbildungsprinzip alles durchwirken soll, entspricht dann dem Grundmuster der hier beschriebenen Demokratizität, wenn und soweit in Mehrheit Einung gefunden werden kann, so wie es vorstehend beschrieben wurde, wenn diese Entscheidungsform den dort beschworenen Gefahren nicht erliegt. Dann bedeutet der Ruf nach „überall Mehrheit" nichts anderes als die Forderung nach durchgehender, allenthalben gleichmäßig in Lauf gesetzter Einung. Dass sie auf den Staat hin wirke, sich in die politische Gemeinschaft hinein fortsetze, steht dann schon deshalb zu hoffen, weil dieselben Verhaltensmuster in Familie und Verbandlichkeit, in Kirche und Führung „eingeübt" werden, welche die politische Demokratie an der Spitze tragen. Ein „Interesse an ihr", an der eigentlichen, höchsten Macht, wird der „kleine Bürger" nie als solches entwickeln; zu klar sieht er, wie sich immer wieder Eliten oder Cliquen hier die eigentlichen Entscheidungen aneignen, wie weit er von all dem doch entfernt ist. Die Demokratie setzt in ihrer „Erziehung zu dieser Staatsform" weit eher darauf, dass überall Praktiziertes mit Selbstverständlichkeit auch in der Politik fortgesetzt werde, nicht aus einer stets bestreitbar bleibenden Qualitätsbegeisterung für diese Staatsgestaltung. Von der Demokratisierung wird aber auch mehr verlangt als lediglich die Einübung einer Willensbildungs-Technik: Sie soll zum selbstverständlichen Verhalten, zum materiell- und verfahrensmäßig geprägten Lebensraum werden in ihren laufenden Mehrheitsentscheidungen, dadurch, dass das überall Geübte gerade jene Schwäche einer Punktualität verliert, welche dem Abstimmungsvorgang wesentlich eigen ist. Gefährliche Demokratisierung droht aus der Monopolisierung gerade dieser Majoritätsform als Einung. Demokraten muss bewusst sein, sie müssen es ertragen können, dass es andere Einungsformen gibt als die der Mehrheit, von der Einstim64 Leisner

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migkeits-Einung, dem Urbild aller Zusammenschlüsse, bis hin zu Spontaneinungen, wie sie manchmal auch die Macht einer Persönlichkeit hervorbringen kann, ohne die Freiheit zu gefährden. Wenn die Mehrheit nicht mit flächendeckender Systematik, mit ideologisch-charismatischem Anspruch - vor allem aber nicht „als solche", sondern nur als eine der Einungsformen durchgesetzt wird, hat sie eine Chance zur Konstituierung größerer, vielfältiger Staatlichkeit, die nicht alle Bürger nur als kleine Parlamentarier leben lassen will. Einung über Vielfalt, durch sie, verlangt auch Liberalität in der Durchsetzung einer Demokratisierung, die eben nicht in der Mehrheit das höchste Gut erblicken, diese vielmehr als ein Mittel zum höheren Zweck der Einung stets sehen muss. b) Demokratisierung der Gesellschaft Einungschance und Gefahr Die Chance demokratisierter Gesellschaft zur Staatseinung liegt vor allem darin, dass die politischen Mehrheitsgestaltungen hier auch staatsfernere Einheiten ergreifen, welche, den politischen Strukturen gegenüber präexistent, auch jenseits von deren Zerbrechen weiter bestehen bleiben, immer wieder in Einung zu sich erneuernder Staatlichkeit wirken können. Dies gilt selbst für Verwaltungseinheiten, auf die hier in einem besonderen Sinne das Wort Otto Mayers zutrifft, dass „Verwaltungsrecht besteht", für jene Verwaltung, welche die von ihr praktizierten Einungskräfte auch dann weiter wird abstrahlen können, wenn es zu politischen Zusammenbrüchen des Staates kommt; so hat revolutionäres und napoleonisches Staatsdenken in Frankreich die Restauration überdauert. Noch mehr trifft dies aber für die wahrhaft staatsfernen Einheiten der Verbände und Familien zu, die von politischen Kettenreaktionen zwar erfasst und langsam umgeprägt werden können, zugleich aber auch die Biegsamkeit - und die Kleinheit - haben, politische Sintfluten zu überdauern, nach diesen wiederum „Demokratie" in erneuerte Staatlichkeit hineinzutragen. Hier liegt eine staatliche Kontinuitätschance der Staatseinung, die noch beschäftigen wird. Gefahr aber droht der Einungsstaatlichkeit aus einer überzogenen Demokratisierung ihrer „Gesellschaft", vor allem im familiären, verbandlichen und administrativen Bereich, die alles in einem antithetischen Denken von Mehrheitsentscheidungen als „Siegen und Niederlagen" auflöst. In einer Familie darf es keine Unterlegenen geben, gerade wenn man aus den patriarchalischen Ordnungskräften des Befehls flüchten will. Die Mischung von bündischen und herrschaftlichen Formen des Gemeinschaftslebens im Gierkeschen Sinn, von Aristokratismen und Demokratismen im Verständnis der aristotelischen Kategorien, all dies immer wieder gewendet auf eine Staatseinung hin - dieses reiche Geflecht darf nicht in ständigen, harten Mehrheitsentscheidungen durchbrochen werden, die mehr teilen als sie dann wieder einen könnten. In der „Gesellschaft" wird es nie gelingen, durch rechtlich verfestigte Rahmen die trennenden Kräfte der Mehrheitsentscheidung doch wieder zur Einheit zurückzuführen, wie dies an der Spitze des Staates ge-

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schieht; ohne derartige rechtliche Steuerungsmöglichkeiten kann aber die Mehrheit leicht in endgültige Teilung degenerieren. „Politisierung" nicht zuletzt, im weiteren Sinne, wird der „demokratisierten" Gesellschaft dann zur Gefahr, wenn in ihren „Abstimmungen überall" die Antithetik eines Freund-Feind-Modells sich systematisch durchsetzt, Parteiungen erzwingt, sich verfestigende Vor-Einungen, die es aber vor allem in den flexibleren, laufend sich zusammenschließenden und enteinenden Formen der Verbandlichkeit nicht geben muss. „Opposition innerhalb der Verbände" mag eine Notwendigkeit werden im Raum staatsähnlicher Großzusammenschlüsse, die schon in den Staat hineinwachsen, der Gewerkschaften vor allem. Dies in jede kleinere Verbindung hineintragen wollen, hieße nur, deren Einungskräfte zu brechen, die sich dort ohne weiteres auch in Einstimmigkeiten bewähren können. Diese ganz ursprüngliche Einungsform ist eben in der kleineren Einheit keine Utopie, wie meinst in den Großgremien der Parlamente; dort aber sollte „diese volle Einung" stets erhalten werden, wo sie noch möglich bleibt. „Demokratisierung" ist eine breite Straße zur Staatseinung - sie darf aber nicht dadurch ihre Festigkeit verlieren, dass auch noch ihre gesellschaftlichen Ränder durch die schweren Panzer der durchbrechenden politischen Mehrheitsentscheidung befahren werden.

5. Minderheitenschutz als Vertrags-Einung die Kraft der großen Mehrheiten a) Minderheitenschutz

- nur Verlust von Staatskräften?

Minderheitenschutz wird in der Demokratie viel gefordert und wenig geübt. Diese Staatsform hat, seit ihren französisch-revolutionären Ursprüngen, einen wesentlichen Zug zur Zentralisierung, der vielleicht noch den Föderalismus anerkennt, absolute Rechte kleiner politischer Gruppen aber nur an seinen ethnischen Rändern - mehr duldend als fördernd. Minderheitenschutz wird eben vor allem gesehen in seinem natürlichen Spannungsverhältnis zum Grundmodell der Mehrheitsentscheidung; wenn sie allein Staatskräfte verleihen soll, so muss jede, vor allem die politische Minorität, zunächst als ein Kraftverlust, als demokratische Schwäche betrachtet werden, als eine aufgeschobene, vielleicht schon sich in übersteigernder Autonomie auflösende Staatseinung. Ist dann die Staatsgewalt nicht „in sich uneins", gerade indem sie der Minderheit entgegenkommt, insoweit eben nicht durchbrechend in Mehrheit entscheidet? Wird in diesen Einungsdefiziten, in diesen Enklaven im Mehrheits-Reich, nicht auf Dauer „ausgeklammert", was doch in Einung entschieden werden sollte? Der Radikaldemokratismus hat immer die Minderheiten bekämpft, sie als bleibende Antithetik in der Staatlichkeit abgelehnt, eben als Einungsverlust. In Staatseinung muss man dies grundsätzlich anders sehen: Minderheit bedeutet die Not6*

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wendigkeit des „laufenden Staatsvertrags", der Einung mit der Mehrheit. Hier zuallererst wird das Grundmodell der Majoritätsentscheidung ergänzt in einer zweiten Grundform der Staatseinung, der Vertrags-, der Einstimmigkeits-Einung. Dies sind, ebenso wie die Mehrheitsentscheidung, weite Grundausprägungen der Staatseinung, die ihrerseits wieder in eine Vielfalt rechtlicher Formen zerfallen können, wie die Mehrheitsentscheidung etwa in die der gesteigerten Majoritäten, von denen noch die Rede sein wird. Hier zeigt sich Staatseinung als der Oberbegriff, nicht die Mehrheitsdezision. Im Minderheitenschutz werden wichtigste Voraussetzungen der Staatseinung geschaffen und befestigt, deren Verfahren perfektioniert. In der politischen Minderheit wird eine Einungseinheit in ihrer überdauernden Individualität bewahrt, die, vorstaatlich entstanden, in laufenden Sozialverträgen mit der Mehrheit sich zusammenschließt. Hier wird jene politische Toleranz geübt, die nicht „beziehungslos nebeneinander stehen lässt", sondern Zusammenschlüsse vorbereitet. Es erfolgt eine Verlangsamung des Einungsvorganges, welche ihn nur vertieft, kontinuierlicher werden lässt. Die Vertraglichkeit tritt hier wieder voll in ihre Rechte, diese wichtige Vorstufe der Staatseinung, die nicht in ständiger, letztlich zum Befehl degenerierender Mehrheitsentscheidung gebrochen werden darf. Staatseinung verleiht Kraft, verlangt aber auch deren Mut von Demokraten gerade hier: dass sie Minoritäten ertragen, weil sie sich mit ihnen zusammenschließen können. Für die Staatseinung gilt: Wenn es in einer Gemeinschaft keine Minderheiten gäbe, so müssten sie vom Einungsstaat erfunden, geschaffen werden.

b) Hohe Mehrheiten - Einungsformen Beziehungslos stehen aber Einungsformen der Mehrheitsentscheidung und der Vertrags-Einung gar nicht nebeneinander im demokratischen Staatsrecht; in dessen qualifizierten Mehrheiten verbindet sich beides, sie werden darin zum deutlichen Ausdruck der Staatseinung als des höheren Begriffs über beiden. Hier setzt die Demokratie auf einen ganz natürlichen Einungszwang, aus den zu lösenden Problemen, der den Konsens verbreitern wird - wenn nicht, so hat sie den Mut, auf eine dann falsche Sieges-Einung zu verzichten. Der Prototyp der höheren Mehrheit ist, von Gesellschaften und Verbänden bis in die Spitze des Staates, die gemeinschaftskonstituierende Verfassunggebung. Je höher hinaufgebaut werden soll in gemeinschaftlicher Willensbildung, desto breiter muss notwendig die Basis werden, nach den Urgesetzen einer Pyramiden-Staatlichkeit, welche allein Staatsgröße wirklich erreichen kann. Die kleinere Minderheit wird noch immer geopfert, doch dies ist ein Abmilderungssystem der harten Mehrheits-Demokratie, es beruht auf der Überzeugung, dass Grundlegendes mehr an Einungskräften braucht als die leichter wieder zu lösende Entscheidung in Kurzfristigkeit. Hohe Mehrheiten für Endgültiges - ist dies nicht schon ein Abbild für einen Staat, der die höchste Mehrheit seiner Bürger für seine souveräne Endgültigkeit in Einung benötigt? Dann werden eben auch jene Willenskräfte zusam-

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mengefasst, die sonst selbständig bleiben, sich ihre weiteren Einungen vorbehalten wollen. In dieser Einung der hohen Mehrheiten, der Verbindung von Mehrheitsund Einstimmigkeitsdemokratie, ist diese Staatsform gewachsen, mit Recht ist immer angenommen worden, dass sie erst in den Augenblicken ihrer selbst sich voll bewusst wurde, als es um die Verfassungsrevisionen ging. Sollte es aber nicht zu denken geben, dass diese Problematik heute an den Rand des positiven Staatsrechts gerückt ist, das eben Verfassungsänderungen ständig politisch praktiziert sieht, sie deshalb nicht mehr in ihrer Theorie zu untersuchen braucht, deren so wichtiger Gegenstand sie doch in naher Vergangenheit stets gewesen waren? Solche Bedenken verstärkt noch ein Blick auf das private Gesellschaftsrecht, in dem sich gegenwärtig vor allem, unter Entbindung mächtiger wirtschaftlicher Kräfte, Einung vollzieht: Der Begriff der Sperrminorität hat dort eine ganz andere, gesteigerte Bedeutung, er ist zum zentralen Gestaltungsinstrument der ökonomischen Zusammenschlüsse geworden, ohne seinen ständigen flexiblen Einsatz gäbe es nur wenige von ihnen. Der tiefere Grund dafür ist, dass damit eben die Einung selbst flexibilisiert, ihre Grundmuster der Mehrheits- und der Vertragseinung vielfach verwoben, ein Gleichgewicht zwischen bestehen bleibender Individualität und sich zusammenschließender Gemeinsamkeit hergestellt wird, wie der Moment es befiehlt. Man muss wohl wieder mehr zu einem Staat der Sperrminoritäten kommen, selbst auf die Gefahr angeblicher politischer Reibungsverluste hin, und in einem Rückweg in vielfältige Gestaltungsformen früherer Staatseinungen, wie sie zünftischen und aristokratischen Veto-Rechten eigen waren. Doch der Zug scheint noch, und gefahrvoll für die Staatseinung, in die Gegenrichtung zu gehen: Höhere Mehrheiten bleiben immer mehr die Ausnahme, theoretische politische Marginalie, demokratische Dynamik wird gerade darin gelobt, dass die Mehrheit keinen Widerstand mehr findet. Was im Gesellschaftsrecht kaum möglich ist - im Verfassungsrecht geschieht es laufend: Die höheren Mehrheiten werden in schrittweiser Verfassungsverbiegung unterlaufen, wo die offene Änderung Mehrheiten nicht finden würde; und dies ermöglicht gerade die notwendige Allgemeinheit der grundlegenden Normen. Zu groß sind die Ängste vor den politischen Blockaden, und so droht die qualifizierte Mehrheit aus einer wirklichen Zusammenfassung von Grundformen der Staatseinung zu einem Fremdkörper im demokratischen System zu werden, das dann eben nicht mehr auf Einung setzt, sondern auf Sieg und Herrschaft. Die große Schwäche der höheren Majoritäten liegt in ihrer „fehlenden staatsmathematischen Notwendigkeit": Warum denn zwei Drittel verlangen, drei Viertel gar, wenn die Mehrheit doch dem Einundfünfzigsten schon zufällt? Wo ist die regime-notwendige Grenze, wann entsteht, an welchem mathematischen Punkt erfolgt der Umschlag vom Teil des Volkes, das nicht genügt, in die Gesamt-Demokratie? Diese Schranke kann nur in einem normativen Befehl gesetzt werden, der immer bestreitbar bleiben wird, und ergehe er auch auf der Höhe der Verfassung. Willkürlich gegriffen erscheinen solche Mehrheiten nur dann nicht, wenn sie als

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Annäherungen verstanden werden an die Einstimmigkeits-Einung, um so höher mit Notwendigkeit, je fundamentaler, dauernder die Gemeinsamkeit befestigt werden soll auf Dauer. So fordert Staatseinung denn mehr qualifizierte Mehrheiten - darin qualifiziert sich Demokratie.

6. Dauerzusammenschluss oder „Lösungseinung?" a) Das Kontinuitätsproblem

der Staatseinung

Im Wort von der Staatseinung scheint ein Kontinuitätsstreben der Staatlichkeit zu liegen, die eben nicht, im Plebiszit täglich erneuter Sozialvertraglichkeit, entsteht und stirbt. Etwas von diesem letzteren wirkt dagegen sicher in den politischen Mehrheitsentscheidungen, in jener Gesetzgebung vor allem, bei welcher stets schon die auflösende Befugnis zum actus contrarius mitgedacht ist. Die Mehrheitsentscheidung ist das wesentlich Auflösliche, darin vor allem, wenn nicht allein, sehen viele Demokraten die dynamische Kraft ihrer Staatsform, in der Antwort auf das ewige il faut que cela change, die im Bekenntnis zur stets möglichen GegenGesetzgebung erfolgt. Wird Staatseinung allein in Mehrheitsentscheidung gesehen, so steht sie allerdings unter einem Vorbehalt, der viel weiter geht als Klauseln es vermöchten, die in irgendeinen Vertrag einzufügen wären. Eine Chance ist es für den Einungsstaat, dass er auch so gesehen werden kann, gerade nicht in einer übersteigerten Kontinuitätssuche, wie sie dann nahe liegt, wenn dort eben nicht in Einungen, sondern in bleibenden Einheiten vor allem gedacht wird. Mehrheitsentscheidung ist daher mehr als eine Notlösung für Fälle, in denen Einstimmigkeit nicht herzustellen ist; in ihr werden immer wieder Einheiten in Einungen zurückdynamisiert, eben weil sie auch zugleich in Entzweiungen aufgelöst werden. Eine Absage muss jenem falschen demokratischen Kontinuitätsstreben erteilt werden, das nur dort Staatlichkeit anerkennen will, wo sich eine solche in der Vertraglichkeit aristokratisch sich treffender Häuser spätfeudalistisch gibt. Unter diesem Kontinuitätskomplex haben Demokraten im 19. Jahrhundert lange gelitten, sie erschienen als Parvenüs, die ihre Gewalt, entgegen ihrer Ankündigung, nicht in Gemeinsamkeit, sondern nur in den Gewaltsamkeiten der Mehrheit befestigen könnten. Staatseinung muss über solche Kritik hinwegsehen. Sie kann einen gewissen Kontinuitätsverlust in den Mehrheitsentscheidungen hinnehmen, denn es wirken in ihr kontinuierliche Kräfte mit Dauereffekt: in der Präexistenz und im Bestehenbleiben vieler, der meisten ihrer Einungsträger, in der kommunalisierten und föderalisierten Staatlichkeit ebenso wie im Zusammenschluss ihrer Verwaltungsträger; all dies trägt eben in sich - und bewährt gerade in seinen Zusammenschlüssen - stets eine wirkliche Para-Vertraglichkeit. Auch der Bürger ist in ihr, in diesem Sinne, als präexistent zu denken, als ein Vertrags-Subjekt, das bleibt und überdauert; so lässt

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sich eine Aristokratisierung des Bürgers fordern, der sich eben dann in ruhigerer, bleibender Einung zusammenschließen wird, wenn er den Corps-Geist der früheren adligen Träger der Staatlichkeit übernimmt. Organisations-Einungen, wie sie noch in der Verwaltung und im Föderalismus der Demokratie begegnen werden, stehen darin dem Prototyp früherer zünftischer und aristokratischer, dauernder Vertrags-Einungen nahe, dass hier etwas sogar sich verbindet wie präexistente und zugleich bleibende Staats-Gewalten, ähnlich den feudalen Mächten und wie sie in Einungen auf Dauer. Mögen diese die Festigkeit der dynastischen Familienverträge nicht erreichen - in ihnen liegt die Kraft einer weiterlaufenden Verwaltung, die eines nie sein darf: diskontinuierlich. So sind denn dem Einungsstaat die Kräfte jener begrenzten Kontinuität eigen, deren er bedarf, als Grundlage immer weiterer Zusammenschlüsse.

b) Machtwechsel und Kontinuität in der Einungsstaatlichkeit Machtwechsel als Grundprinzip der Mehrheitsdemokratie wurde bereits betrachtet als kraftspendende Chance ständiger Um-Einung. Hier soll er nochmals beschäftigen als Kontinuitätsproblem der Einung. Zunächst erscheint der Machtwechsel als Kontinuitätsgefahr und zugleich als Risiko für jede Einung. Mag es ihn überall geben, auch in monarchischen und oligarchischen Regimen - in der Volksherrschaft ist er zum Prinzip der Machtausübung gesteigert, anders sind ihre ständigen Mehrheiten politisch gar nicht erträglich. So nur wird ja die Teilung in Sieger und Unterlegene kompensiert, rückgängig gemacht durch eine andere; in diesem Mechanismus der Teilungen, nicht in Einungen, die darin liegen könnten, sieht herkömmliche Demokratietheorie vor allem die Qualität und Größe dieser Staatsform. Wird darin aber nun nicht, aus der Sicht der Einung, erst recht laufend gesündigt, ständig geteilt, nicht geeint, wo doch sogar bisherige Einungen immer wieder zusammenbrechen sollen, bleibt von der früheren Gemeinsamkeit mehr, als dass man sich erneut treffen und weiterentscheiden will? Stellt diese Demokratie etwas anderes dar als ein verfassungsgarantiertes Begegnungs-Forum für Mehrheitsentscheidungen, ist da doch mehr an Kontinuität und Einung als die Teilnahme am gemeinsamen Abstimmungsvorgang? Einungsneigung hatten diese Betrachtungen gefordert, überall im Staat, ja selbst in den Zusammenschlüssen der Gesellschaft; wirkt hier nicht jeder Zusammenschluss zuallererst diskontinuitäts-, dynamisch-auflösungsgeneigt? Staatseinung lehrt, dies anders zu sehen. Im demokratischen Machtwechsel liegt zuallererst die gesteigerte Wiederholbarkeit der Abstimmungen, die Chance zur dynamischen, laufenden Umeinung der Bürger, ihrer Zusammenschlüsse und Organisationen. Der Machtwechsel ist hier aber nicht Selbstzweck, sondern Einungsinstrument der Demokratie: Er setzt, ideal gedacht, in jener Periodizität der EntEinungen immer wieder ein, die es geben muss, soll Staatseinung ein kontinuierli-

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cher Vorgang bleiben. Aus der Sicht der Staatseinung schafft der Machtwechsel eine Diskontinuität nur auf jener tieferen Ebene, auf der nicht mehr primär in Einungen, sondern in Abstimmungen gedacht wird. Doch es verliert sich das Einungsdenken nicht völlig, weil die vielfachen Machtträger über allem Machtwechsel stets bleiben, die Bürger, ihre privaten und öffentlichen Organisationen. Sogar als Befestigung dieser Kontinuität der Einungsträger, auf der die Kontinuität des Einungsstaates ruht, kann dann der Machtwechsel erscheinen, weil er Einungseinheiten in ihrer Identität verstärkt. Da sie ihn überdauern, aushalten müssen im wahren Sinne des Wortes, ist ihnen Festigkeit abgefordert, die der Bürgerpersönlichkeit, der Verbände und Organisationen, die alle dann eben wieder bereitstehen zu neuer Einung. Verlorene Mehrheiten mögen als politische Katastrophen erscheinen, doch nur aus der Sicht täglicher Machtnutzung, die nicht die der Staatlichkeit sein darf. Dies ist ja nur das Sterben eines Königs, in dem schon der neue gegrüßt wird, eine andere Einung. In diesem Le Roi est mort, vive le Roi hat sich ja auch früher nur - neue Staatseinung vollzogen. Eine Mahnung aber bringt die Kontinuitätsbetrachtung für alle Staatseinung: Die Bürger-Demokratie hat ihre Schwergewichte stark, bedenklich vielleicht, in Richtung auf Mehrheiten und ihre Entscheidungen verlagert. Die früher so mächtigen aristokratisch-kirchlichen, einungsgeneigten Mächte sind vergangen, mit ihnen viel von Vertrags-Einung, Einstimmigkeit der Zusammenschlüsse. Kann Staatlichkeit allein fortgesetzt werden in den so leicht auflöslichen Mehrheitsentscheidungen der Bürger und ihrer Mandatsträger? Ist die Mehrheitsdemokratie der einzige, der eigentliche Einungs-raum? Wichtig bleibt er, unabänderlich vorgegeben. Doch nun führt die Betrachtung zu anderen Formen der Staatseinung, welche sie erweitern zugleich und befestigen: zu jenen Verwaltungseinungen und Föderalismen, in denen die Staatsgewalt selbst zur Föderalgemeinschaft sich laufend um-eint und wieder zusammenschließt. Bürgereinungen und Gewalteneinungen im Staat - erst dann ist sie ganz besetzt, die Place de la Concorde.

II. Staatseinung durch Einung der Staatsorganisationen: Verwaltungs-Einung Die parlamentarische Mehrheitsentscheidung bedeutet nicht nur Einung von Staat und Gesellschaft an der Spitze des Staates, sondern auch Staatseinung im Staatszentrum der Ersten Gewalt, begreift man die Mandatsträger als Staatsorgane. Gerichtsentscheidungen fallen, von einer untersten Stufe abgesehen, in der Einung der Kollegien, in höherer Gerichtsbarkeit unter immer zahlreicheren Entscheidungsträgern. Da ist also überall „Staatseinung innerhalb der Staatsgewalten", Einung ihrer einzelnen Träger. Wie aber steht es mit jener Exekutive, die für den Bürger zuallererst den Staat bedeutet, diesen in seinen tagtäglichen Aktionen verkörpert? Gelingt es dem demo-

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kratischen Staat, auch hier, wo die Verbindung zur „Gesellschaft" wohl am engsten wird, etwas wie Föderalgemeinschaften zur Einung aus seiner eigenen Staatsgewalt hervorzubringen, zusammenzuschließen, dort, wo die eigentliche, und immer auch die letzte Macht liegt, die manus militaris - in der Administration? Dieser Staatsbereich ist von jeher durch Hierarchien und Bürokratien besetzt und geprägt, und doch schließen sich jene Organisationseinheiten und ihre menschlichen Träger, die sich in vertikalen Befehlen zu erschöpfen scheinen, immer mehr und gerade in der Gegenwart zusammen, entbinden aus solcher „Organisationen-Einung" heute weithin noch kaum erkannte Staatskräfte. Auf der Ebene des Föderalismus, der ja zuallererst, vor allem in Deutschland, als Verwaltungserscheinung gesehen werden muss, ist dies allgemein anerkannt, es wird aber, weil allzu selbstverständlich erscheinend, noch zu vertiefen sein. Doch der staatsrechtliche Föderalismus ist nicht die einzige Erscheinung der Administrativ-Einung; seine Verwaltungsverankerungen werden erst dann voll sichtbar, dieser Prototyp der institutionell verfestigten Einungsstaatlichkeit wird nur dann nicht absterbend in die Ecken der Vergangenheit gestellt werden, wenn er als ein „SpitzenPhänomen" erkannt wird, in dem eine breitere Verwaltungseinung in die Verfassungsebene hinaufwächst. Verwaltung ist tägliche Staatlichkeit - ist sie auch „unification de tous les jours"?

1. Verwaltungseinheiten als Einungsträger „Verwaltungseinheiten" kennt das Staatsorganisationsrecht seit langem, diesen als „Behörden" bezeichneten Untergliederungen früherer objektivierter Staatseinheitlichkeit werden immer mehr, selbst am geltenden Recht vorbei, Eigenständigkeiten zuerkannt; im Personalvertretungsrecht beginnen sie ein besonders deutliches organisatorisches Eigenleben zu führen. Damit werden, übrigens gerade in immer neuen Einungen sich praktisch entfaltend, die Voraussetzungen für „Administrativeinung" geschaffen.

a) Das Ende der „ Verwaltung als einheitlicher Staatsgewalt " Die demokratische Gewaltenteilung ging, in der Französischen Revolution und weit über diese hinaus, ganz selbstverständlich von der Einheit einer Verwaltung aus, die sie sodann in der pyramidalen Verwaltungsgeometrie, durchgreifend im wahren Sinne des Wortes, konstituierte. Mehr noch: Diese Administration, in Frankreich grundsätzlich als Einheit aufgefasst, sah sich dort verfassungsrechtlich mit dem Gouvernement zur höheren und grundsätzlich vollständigen rechtlichen Einheit der „Exekutive" zusammengefasst. Darin setzte sich der konzentrische Aufbau um die königliche Administration der Intendanten, im Grunde die Person

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des Monarchen fort, schloss sich staatskonstruktiv zusammen. Letztlich war sie nicht erst das Abbild jener Monarchie, deren nahezu volle Staatlichkeit sie verkörperte, sondern ein Spiegelbild des Monarchen selbst, der sie ganz dirigierte - eines Führers in personifizierter Staatlichkeit. In der Figur des Präsidenten der Französischen Republik sollte dies, noch nach 1871, durchgehalten werden, doch es schwächte sich ab; die Einheit der Exekutive löste sich auf zwischen Staatshaupt und Regierung, innerhalb letzterer wieder in parteipolitisch begründeter und durch sie erzwungener Kollegialität. Diese Entwicklung läuft weiter in der zunehmenden, parteipolitisch zwar angestoßenen, nun aber auch aus der Selbstgewichtigkeit und Verschiedenheit der einzelnen Verwaltungszweige gesteigerten Ressort-Aufspaltung der einen Administration. Es wächst der politische Regierungsfeudalismus der kollegialen Exekutivspitze, der die einzelnen Verwaltungen als Hausmächte betrachtet und einsetzt, sie im Namen strenger Kompetenztrennung voneinander isoliert. Als gewaltminimierende Kompetenzklarheit wird dem Bürger gegenüber dies alles gerechtfertigt, aber es entsteht nur zu oft etwas wie „Verwaltungsstaaten im Staat". Doch nicht nur mit parteipolitischen Kräften vollzieht sich dieser Auflösungsvorgang der Exekutive auf Verfassungsebene, wirkt von dort in die Administration hinein; verwaltungstechnische Notwendigkeiten gliedern den früheren, „klassischen", in diesem Sinn aber auch als sich ergänzende Teile konzipierten Verwaltungszweigen immer neue an, die als solche nicht nur selbständige Annexe der bisherigen darstellen, vielmehr, von Gesundheit bis Arbeit und Kultur, sehr bald ein Eigenleben entfalten. Im Namen der Rechtsstaatlichkeit emanzipieren sie sich zunehmend vom alten Zentralbegriff Polizey, in welcher einst die Verwaltung ihre wohlfahrtsstaatliche Einheit gefunden hatte. Dem Bürger tritt die Verwaltung als eine vielgliedrige Macht gegenüber, darin gerade soll er sie abgeschwächt sehen, sich in Freiräumen zwischen diesen neuen Einheiten einrichten können in neuartigen, heimlichen Freiheiten, welche die Flächendeckung des zwischen diesen Trägern immer enger geknüpften Netzwerks erträglich machen. Die Gesetzgebung zeigt nicht nur, in zunehmender Spezialisierung, ein Spiegelbild solcher aus Verwaltungspraxis geborener Entwicklungen, sie treibt diese mit politisch motivierten Stößen mächtig voran. Das allgemeine Verwaltungsrecht, in dem sich noch vor einem halben Jahrhundert ganz selbstverständlich die Einheit der Administration als Polizey rechtsstaatlich-normativ fortsetzte, zerbricht immer mehr. Spezialgesetzgebungen des besonderen Verwaltungsrechts bringen, obgleich meist aus parlamentarischem Gleichheitsstreben erwachsend, stets von neuem und massiv Sonderverwaltungen hervor. Jedes neue Gesetz ruft sich ja bald seine neue Verwaltung, zumindest sein Referat, es entstehen bisher unbekannte administrative Einheiten. Mit der Kraft des größten Zuges hat sich dies nach 1945 fortgesetzt, der aus der Verfassung heraus Verwaltung und Gesellschaft erreichte: im Namen jener Sozialstaatlichkeit, welche nicht nur immer weitere schwächerenschützende Gesetze braucht, sondern in dieser Normenflut auch ständig neue Verwaltungseinheiten

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heranführt, oft von außen sogar an den Staat, in „gesellschaftlicher Selbstverwaltung". Die „Verwaltung als einheitliche Staatsgewalt", wie sie noch Hans Peters nach 1945 zu restaurieren hoffte, hat keine Chance mehr. Größere und kleinere Verwaltungs- und Behördenblöcke sind so entstanden, ohne Rücksicht auf bestehende Ressorteinteilungen in der Regierung; diesem oder jenem Geschäftsbereich werden sie oft wie zufällig zugeordnet - und ihnen wieder entzogen, nach politischer Notwendigkeit, wenn es eben eine „neue Einung an der Spitze" verlangt. Zu politischen Gewichten werden sie in einer Opportunität, die letztlich nur Ausdruck sich dynamisierender Staatseinung im kollegialen Regierungsbereich ist. Landes- und Bundesämter, Ministerialabteilungen erscheinen als politische Tauschobjekte in einer neuen Regierungs-Vertraglichkeit. Der RessortBegriff selbst wird „von unten her flexibilisiert", von seiner alten Verfassungs"Klassik" bleibt nur mehr eine Fassade. All dies vollzieht sich in einem in staatsgrundsätzlicher Sicht nahezu unbemerkten Wildwuchs, den man einer vom Verfassungsrecht allzu weit abgekoppelten Verwaltungslehre überlassen will. Obwohl im Zuge solcher Behördenbildungen, die ganz unbekümmert auch über föderale Grenzen hinweggehen, meist eine „Unmittelbarkeit der Verwaltung zur Regierung" sich verstärken soll, die wiederum konzentrierend wirken könnte - die Ministerialkontrollen, das zentrale Instrument früherer Verwaltungseinheit, schwächen sich in der Schaffung immer neuer rechtlich oder faktisch „ministerialfreier Räume" laufend ab. Verstärkt wird dies noch durch die rasche Politisierung der Administrationen in ihren Ministerialspitzen, die zunehmend, und nicht mehr nur mit einem Auge, „hinauf 4 blicken in jenen politischen Regierungsbereich, aus dem ihnen die Chancen neuer Stellen, der Hebung ihrer früheren, winken, weit mehr eben als „hinunter in die Verwaltung" ; diese gilt es vor allem „politisch ruhig zu halten", in einer Art von „hierarchischer Kontrolle als Arbitrage", welche die Verwaltungsschwierigkeiten an der Basis glätten will, bevor sie zum politischen Problem hinaufwachsen. Hier wird das alte divide et impera gespielt, nicht mehr zuallererst Verwaltungspyramidalität durch Vorgesetzte befestigt. Und trägt man nicht auf solche Weise glücklich antiautoritäre Demokratismen unter die zu Mitarbeitern erstarkten Untergebenen, die nur ein gelegentlicher punktuell-harter politischer Befehl von oben daran erinnert, dass sie noch Vorgesetzte haben? In der Tat: Hier vollzieht sich, wenngleich meist nicht bewusst oder gar gewollt, eine große Verwaltungs-Demokratisierung, in der organisationsrechtlichen Schaffung oder doch Förderung einer Vielfalt immer neuer Verwaltungseinheiten, im Raum der Gesetze und an ihnen vorbei - überall entwickelt damit die Administration selbst die Voraussetzung vieler, vielfacher Verwaltungseinungen und deren Notwendigkeit. Von der Einheit der Verwaltung zur Vielfalt der Verwaltungseinheiten - dies ist der erste Schritt zur Administrativeinung.

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b) Von den Verwaltungskontakten

zur Verwaltungskooperation

Mit diesen Einheiten entwickeln sich, ganz natürlich und notwendig zugleich, aus praktischen Zwängen wie aus legislativen Vorgaben - und an diesen vorbei zahllose, meist informelle Kontakte zwischen den Verwaltungseinheiten. Erzwungen werden sie vor allem durch eine legislative Über-Spezialisierung, welche Zusammenhänge der Wirklichkeit zerreißt, die dann erst durch gemeinsames Handeln verschiedener Verwaltungsträger und -zweige wieder hergestellt werden müssen. Mit herkömmlichen Begriffen wie Amtshilfe waren sie nie voll erfassbar, Kategorien wie das „Konzentrationsprinzip der Entscheidungen", die „Federführung" oder die behördliche Einheit bei Verwaltungsakt-Erlass gegenüber dem Bürger haben sie nie organisationsrechtlich im Innenbereich zu befestigen vermocht, all dies hat aber innerorganisatorische Einungszwänge verstärkt. Die neuen Büromittel und -kräfte der Verwaltung, Fernsprecher und Kopiermaschinen, vor allem aber neuerdings die Datenbanken, haben all dies geradezu einbruchsartig noch vertieft. Hier rufen die Verwaltungsmittel nicht nur den Verwaltungskontakt, sie steigern ihn zur Kooperation; diese allein macht jenen erst effizient, lässt ihn wirtschaftlich vertretbar erscheinen, Technik erzwingt im Staat ebenso Kooperation wie überall in der Gesellschaft. Unabhängig davon führen bereits seit langem enthierarchisierende Tendenzen, verstärktes Teamwork, die zahllosen, sich intensivierenden gemeinsamen Besprechungen, deren Quasi-Institutionalisierungen mit Kontinuität in Arbeitsgruppen, zu jenem neuen Kern unformalisierter Verwaltungsorganisation und Verwaltungseinung: Kooperation. Denn in all dem läuft zuerst die Information ab über die unterschiedlichen Praktiken und Politiken, sodann führt, in bruchlosem Übergang, die daraus notwendig folgende Abstimmung, aus der Parallele in die Verschränkung konvergierend, zur Zusammenarbeit auf allen Ebenen; und dass der Beamte damit den harten Einzelschreibtisch mit dem gefälligeren runden Tisch vertauschen kann und mit immer zahlreicheren Dienstreisen, ist nur eine angenehme Nebenerscheinung, eine Humanisierung der Arbeitswelt in kollegialisierender Einung. Kaum vorstellbare, sicher durch keine Untersuchung voll erfassbare Querverbindungen ergeben sich hier, Zusammenschlüsse bis zur bürokratischen HorizontalVerfilzung. Die generalisierte Praxis der Ausschreibungen tut ein übriges; der Bedienstete muss sich nun auskennen in seiner Umgebung, aber auch in fernen Räumen, um sich in sie hinein bewerben zu können. Parteipolitische Einflüsse, die mit den Belohnungen der Ämterpatronage wirken können, bauen ebenso, bis hin zur Gleichschaltung, zahllose Querverbindungen auf, nicht weniger die großen Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes. Dies alles steigert sich nicht nur vom Verwaltungskontakt zur Verwaltungskooperation, es verfestigt sich in einer immer einheitlicheren, laufenden Verwaltungspraxis, in der, wie es dieses Wort ja überall bezeichnet, ein typisch verwal-

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tungsmäßiger Selbstand erreicht wird, an allen Gesetzen vorbei. Diese Verwaltungseinheiten schließen sich als Träger eines riesigen Netzwerks zusammen, welches der Administrativeinung eine gewisse Stabilität und Dauer sichert.

c) Administrativeinung in fortlauf ender organisatorischer Selbständigkeit - „ Verwaltungsföderalismus

"

Doch in all dem wirkt eben nicht ein notwendig konzentrierender Zug zur „Verfestigung in neuen Einheiten", sondern es entsteht etwas wie ein Verwaltungsföderalismus. Die Verwaltungseinheiten können sich meist gar nicht einfach unieren, gesetzliche Vorgaben, parteipolitische Balancen, personal- und lokalpolitische Organisationsnotwendigkeiten stehen dem entgegen. Ämter, Behörden, Abteilungen bleiben, als mehr oder minder selbständige Einheiten, bestehen, in ihre Räume ziehen sich jene Abgesandten und Vertreter immer wieder zurück, welche aus ihnen in die Verwaltungskooperation delegiert wurden. So stark ist die behördliche Selbständigkeit noch immer, dass ein echtes do ut des stattfindet, im Austausch von Informationen insbesondere, wo wahre Börsen im Entstehen sind. Kommunalisierung und Föderalisierung der Verwaltung verstärkt diesen Selbstand der administrativen Einungsträger, sichert zugleich deren letzte Unabhängigkeit ab, horizontal und vertikal, bis ins Verfassungsrecht hinein. Ohne diese noch zu betrachtenden höheren Formen der Verwaltungseinungen möchte dies wohl „reine Praxis" bleiben, selbst dann allerdings noch mit dem großen Gewicht dieses Wortes für die Verwaltung. Hier ist schon etwas wie der Beginn einer Institutionalisierung der Administrativeinungen erkennbar, aber dem entsprechend, was bereits als das Wesen neuer Einungsformen erkannt wurde: dass hier vor allem Räume eröffnet und gegen objektivierende Befehlsstaatlichkeit „nach außen" abgesichert werden. Der große, nicht aufzuhaltende Hierarchieverfall von den Verwaltungsspitzen her schwächt „Koordinierungen nach unten", wenn man „oben" immer mehr mit politischer Koordination auf Verfassungsebene belastet wird. Dieser „Rückzug der Hierarchien nach oben" schafft den Verwaltungseinungen nicht nur immer neue materielle Einungsräume, er zwingt sie gerade zu solchen Zusammenschlüssen; aus ihnen allein kann den einzelnen Trägern jener para-hierarchische Halt kommen, den sie nun eben in sich selbst finden müssen, da er ihnen von oben nicht mehr gewährt wird. Und wie oft zieht sich nicht der inspizierende Vorgesetzte zurück, nur mit der einen Anordnung: sich zu arrangieren. Die systematisierte Verwaltungsgerichtsbarkeit hat diesen Rückgang der alten Hierarchie nicht nur durch den Verfall der Aufsichts- und Dienstaufsichtsbeschwerden verstärkt, über welche früher doch auch verwaltungs-koordinierend gewirkt werden konnte. Angegriffen vor diesen Schranken wird ja doch nicht, allen juristischen Formalismen zum Trotz, „der Bund" oder „der Freistaat Bayern", sondern die konkrete Behörde; sie muss sich wehren, in bestehen bleibendem, ja noch

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verstärktem Selbstand, darauf wird sie sich, in Zusammenarbeit mit anderen Verwaltungseinheiten - und Entlastung auf sie - stets rechtzeitig und ganz systematisch vorbereiten. Nicht nur die Selbständigkeit der Verwaltungseinheiten wird so bewahrt und verstärkt, der Ausgangspunkt ihrer verwaltungsföderalen Einungen; es kommt sogar zu vertragsähnlichen Formen einer Verkehrung des hierarchischen Untereinander in ein Nebeneinander derselben: Nachgeordnete Dienststellen treten in eigentümlicher Arbeitsteilung neben die höheren, welche es noch dankbar begrüßen, dass sie an ihren Spitzen nicht, auf nicht mehr wirkende „Befehle" beschränkt, machtmäßig, verwaltungspolitisch verkümmern. Die vertikale Kooperation wächst auch im Bewusstsein der Mitarbeiter der verschiedenen Ebenen. Unterordnung wird zu einem in der Demokratie unerträglichen Wort, auch der Bedienstete der nachgeordneten Einheit wird wirklich zum Mitarbeiter der höheren. Landräte und Regierungspräsidenten arbeiten nicht nur zusammen, wo diese letzteren „draußen" eine politische Basis sich erhalten wollen; neue paravertragliche Dauerkooperationen schaffen jenen Einungsraum, der dann, in immer neuen Konferenzen, erfüllt wird - „in Einung". Kooperation ist immer mehr alles, „ k o o p e r a t i v e s Verhalten" wird zum „guten" Zentralwort der Administration, aller Beamten und Angestellten, die durch keine andere Bezeichnung besser beurteilt werden können. Diese „Behördenverträge" bleiben rechtlich unverbindlich, faktisch werden sie nie gebrochen, kaum je gekündigt, eine „Exekution" braucht gegen den Einungsbrecher ebenso wenig stattzufinden wie der stets theoretisch bleibende Bundeszwang. Länderföderalismus setzt sich eben fort in Verwaltungsföderalismus.

d) Die Ministerialkooperation

als Beispiel

Nirgends wohl hat sich die Verwaltungskooperation stärker entwickelt als in jenem Ministerialbereich, der doch eigentlich, durch hierarchische Spitzen-Befehle, die Einheit der Ressorts sichern, nicht ihre Einung „oben" widerspiegeln sollte. Die Quasi-Institutionalisierungen dieser Zusammenarbeit, die in schon festgefügten Räumen ständig zu Zusammenschlüssen führen, wird im Zusammenhang mit dem Föderalismus, auf dessen sogenannter Dritter Ebene, noch vertiefend zu betrachten sein. Doch selbst innerhalb eines Landes oder des Bundes ist dies eine wirkmächtige Realität, getragen zuallererst von den führenden Vertretern dieser Behörden. Das Ministerialpersonal fühlt sich als Aristokratie der Verwaltung, aus fachlicher, oder, immer mehr, aus offen bekannter parteipolitischer Leistung. Hier kennt man sich, bleibt sich, über gelegentlichen Wechsel in „tiefere" Verwaltungspraxis hinweg, seit den Jahren der erfolgreichen gemeinsamen Studien verbunden. Der ENAEffekt ergibt sich in Deutschland auch ohne die große, einheitliche Verwaltungsschule der Franzosen. Wahre Verwaltungs-Feuda entstehen, zwischen ihnen wird

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der Einungszwang stärker, weil sie sich nahe an der politischen Spitze etablieren. Auf dem, auch persönlich gemeinsamen, „Ministerialniveau" bleibt all dies stets einungsgeneigt in einem administrativen Corps-Geist; die Zuordnung zu einzelnen Ressorts der einen Regierung fordert immer weiter, auch parteipolitisch, „übergreifende" Einungsarbeit. Den Außenstehenden erstaunen die verwaltungstranszendierenden Personalkenntnisse und -beziehungen dieser Beamten, ihre Kontakte hinein in die Gesellschaft und deren Verbände. Organisationsrechtlich wird dies noch vielfach zusammengefasst, in Presse-, Organisations-, Personal- und Rechtsabteilungen; dort wird Ministerialeinung im eigenen Haus und darüber hinaus systematisch gepflegt. In gemeinsamen parteipolitischen Zuordnungen sieht sich dieses Führungspersonal der heutigen Demokratie meist schon vor-geeint, bevor es solche Höhen erreicht; dort spätestens wird es, in Karrierenotwendigkeit, von der Parteipolitik erfasst - und wie sollte man dies aus der Sicht der Staatseinung schelten, wo doch Parteien hier als Einungszentren in die Zweite Gewalt des Staates laufend hineinwirken, mit ihren parteipolitischen Arbeitsgemeinschaften der Spitzenbeamten, oder auch nur in deren losem „gesellschaftlichen" Kontakt, der eben auch und vor allem durch die Partei vermittelt wird? Zugleich bewahren sich diese hochqualifizierten Beamten ja auch ihren Selbstand als Einungsträger, in ihrer fachlichen und behördlichen Kompetenz; sie gehen nicht einfach wieder unter mit der Parteipolitik, mag sie diese auch empor getragen haben. Stets werden sie zugleich auch, ja vor allem, die Interessen jenes „Ministeriums als Einheit" vertreten, in einer Paravertraglichkeit ihres Verwaltens zäh verteidigen, die ihnen ihren besonderen Wert erst verleiht, ihre wahrhaft verwaltungspolitische Macht.

e) Staatseinung durch Verwaltungseinung In dieser Administration sind also alle Voraussetzungen der Staatseinung erfüllt, welche schon aufgezeigt wurden: Präexistente Einungs-Einheiten finden zueinander, die, schon aus dem Wesen der konstituierten Organisationsgewalt heraus, etwas von einer de facto-Selbständigkeit gegenüber jeder rechtlich normierten Befehlsstaatlichkeit mitbringen. In sich einen sich diese Träger ebenso in Behördenhierarchien wie untereinander in der Horizontalen. Ein laufender Vorgang findet hier statt, in der Stetigkeit der großen Verwaltungspraxis. Die administrativen Gemeinsamkeiten liegen in deutlichen Kontaktbereichen, vielleicht noch in den mehr oder weniger großen Marginalien sich überschneidender Kompetenzkreise, doch sie genügen, um diese aneinander zu binden. Eine para-aristokratische Gruppenmentalität herrscht hier, bis hin zu einem großen „Familiengefühl", in dem sich die einungsgeneigten Oligarchisierungstendenzen früherer Feudalaristokratien wiederfinden. Zu fehlen scheint nur jene wesentliche Staatsferne, welche den Einungsträgern ihre Identität erhält, immer neue Kräfte entbindet. Doch auch sie findet sich, para-

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dox mag es scheinen, in der bestehen bleibenden letzten Politikferne dieser Spitzenbürokratien, in der Undurchschaubarkeit ihrer Bindungen etabliert sich geradezu etwas wie „Staatsferne im Zentrum der Staatsgewalt". Dies ist Spitzen-Staatlichkeit in vertragsähnlicher, parafeudaler Form einer neuen Aristokratie, die sich als Meritokratie fühlt, daraus einen noch stärkeren CorpsGeist entfaltet. Institutionell ist sie gehalten, aber nur wenig von außen durch „objektivierende Befehle" gesteuert. In einem eigenartigen Verbundsystem wird hier tatsächlich regiert, an den wichtigsten Schalthebeln der Staatsmacht. So entstehen auch die Gesetze über jene Ministerialbürokratie, welche in der Vorbereitung des Gesetzgebungsverfahrens das wesentliche Organ legislativer Vor-Einungen darstellt, sodann die Parlamentsgesetze fortdenkt in Verordnungen und Verwaltungsvorschriften. Hier transzendiert Verwaltungseinung in die Legislativeinung. Und gerade dort, wo es noch etwas normativ zu „gestalten" gibt, wo die Einung noch nicht im lastenden Gesetz zur Einheit in Gleichheit zusammengeschweißt worden ist, dort wirken die Kräfte dieser Administrativeinung par excellence. In mächtiger, geradezu undurchschaubarer Vielfalt läuft darin Staatseinung direkt in diesen Staat hinein, dem sich doch jeder Ministerialbeamte „unmittelbar", „an der Spitze", zugeordnet fühlt. So subjektiviert sich diese Staatlichkeit über die Ministerien in solchen Persönlichkeiten, die ihre Organe in reinerer Form sind als je ein Abgeordneter, der aus der Gesellschaft kommt. Die eine demokratische Herrschaft löst sich in Beamteneinungen auf, die sich den Staat appropriieren - ein Skandal für die Dogmatik objektiver Institutionen-Staatlichkeit, hier nur ein Zeichen der Staatseinung.

2. Die „personalisierte Verwaltung": in Einung der /mit den Bediensteten a) Betriebliche Mitbestimmung - Einung in Gesellschaft und Staat Der große Gedanke der Rätedemokratie war ursprünglich die ständige Einung der Basis zum Staat, Staatlichkeit in Stufeneinung. In der Weimarer Reichsverfassung ist dies als die Betriebsrätedemokratie grundgelegt, bald darauf durch das Betriebsrätegesetz unverlierbar in der deutschen Demokratie verankert worden. Dies wollte weit mehr sein als eine Wirtschaftsgesetzgebung zur Betriebsverfassung; die Räteverfassung sollte auf diese Weise von unten, aus der Wirtschaft, in Einung in den Staat hinaufwachsen - Wirtschaftsrecht der Einung als Staatsrecht war gewollt. Folgerichtig sollte dies eine Grundnorm der neuen Verfassung sein, in der Staatsorganisation sich fortsetzen, nicht als deren Besonderheit, sondern als Folge der privat-betrieblichen Mitbestimmung. Dass hier sozialistische Grundideen vom Staat als dem durch die Wirtschaft nur getragenen und ihr daher immer entsprechenden Überbau mitschwangen, ändert nichts an der großen Einheit von

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Staat und Gesellschaft, die damals als Einung - als Staatseinung eben - gewollt war. Die verfassungsrechtliche Dimension dieser Idee ist in Weimar bald verloren gegangen, versandet in der einfach-gesetzlichen Umsetzung einer Verfassungsbestimmung, die zum Programm verkümmerte. In der abgekürzten Verfassung von Bonn wurde das Betriebsverfassungsgesetz ein bedeutsames, aber doch ein Wirtschaftsgesetz unter vielen anderen, sein Name erinnert noch an die Höhe der Verfassung. Erhalten geblieben ist aber, über allen Einzelunterschieden der Beschäftigtenvertretung in der privaten Wirtschaft und in den staatlichen Organisationen, eine letzte Einheit dieses Rechtsbereichs, die auf seiner Grundidee beruht: der laufenden Einung der wirtschaftenden Menschen in ihren konkreten Bereichen, mit dem Fernziel, hier etwas wie Einung der größeren politischen Demokratie vor-zuspielen. Dass dies vor den Toren der staatlichen Verwaltungsorganisationen nicht Halt machte, dass sich insoweit doch eine große Gleichschaltung von staatlicher und privater Betrieblichkeit vollziehen konnte, das ist nur im Namen und mit den Kräften einer Einung möglich gewesen, zu der eben die Bürger überall aufgerufen sind, auch in einer Administration, die aus der anonymisierten Anstalt zur personalisierten Verwaltung durch diese Betriebs- und Personalvertretung werden wollte. Darin hat die Körperschaftsidee über das Anstaltskonzept nicht nur an der Staatsspitze gesiegt, im Parlament und der von ihm abhängigen Regierung, sondern bis hinein in die tiefen Schichten der in Verwaltung institutionalisierten Staatlichkeit. In der Geschichte der Betriebs- und Personalvertretungen mag vieles vom ursprünglichen Schwung verlorengegangen sein, eines hat sich erhalten: die Grundentscheidung zum ständigen Gespräch auf allen Ebenen, zur laufenden Einung in „vertrauensvoller Zusammenarbeit". Diese Betriebsrätedemokratie sollte ja von ihren Anfängen an - und sie wird heute nicht anders verstanden - kein Ableger jener „Vertragseinung" der Sozialpartner sein, in welcher die ständigen, geradezu institutionalisierten Antagonismen und die Arbeitskampfmentalität das doch zugrundeliegende vertragliche Einungsstreben in Kriege und Waffenstillstände an größeren Fronten verwandelt haben. In den Betrieben und Verwaltungen ticken nicht die Uhren der immer kürzerfristigen Tarifverträge, hier ist wesentlich nicht die „Gegen-Einung" um die beiden Pole der Tarifparteien. Hier geht es vielmehr um echte Herrschaftseinung in laufender Zusammenarbeit, nicht zur Abwicklung des in vorübergehender Einung kurzfristig Beschlossenen. Betriebsverfassung und Personalvertretung bieten Modelle laufender Organeinungen, im privaten wie im öffentlichen Raum; in diesem letzteren subjektivieren, personalisieren sie den Staat, machen aus dieser großen Institutionen-Maschine die personalisierte Verwaltung, in der man sich einen kann, ständig sich einen muss.

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b) Personalvertretungsrecht

- Form der Staatsorganeinung

Das Ziel allen Beschäftigten-Vertretungsrechts, in der privaten Wirtschaft wie in staatlichen Behörden, ist nicht primär die Herstellung einer Gewaltenteilung, in der Macht minimiert werden soll. Hier muss es ja überall diese Entscheidungsmacht geben, an der Spitze der Betriebe, auf allen Stufen der Exekutive, sonst zerfällt die ohnehin schon so tief geteilte Staatlichkeit, sonst sind die Wirtschaftseinheiten nicht mehr schlagkräftig, konkurrenzfähig. Nicht um Herrschaftsverminderung kann es also gehen, sondern um Herrschaftsschöpfung - aber eben zusammen, in Einung. Grunddogma des Beschäftigtenvertretungsrechts ist die laufende Einung, nicht die grundsätzliche Teilung von Gewalt. In den staatlichen Verwaltungen wird dies besonders sichtbar, daraus erklären sich auch die Besonderheiten des Personalvertretungsrechts, das noch zusätzliche Einungszwänge vorgesehen hat. Hier muss sich ja ständig Einung im Bereich der Herrschaft, der Staatsgewalt selbst vollziehen. Sie soll in jener „vertrauensvollen Zusammenarbeit" erfolgen, welche die wirksame Macht und damit den effizienten Vollzug des parlamentarischen Willens nicht hindern, sondern stärken soll. Betrachtet man dieses Vertretungsrecht im Lichte historischer Kategorien des Staatsrechts, so vollzieht sich hier durchaus etwas wie eine Feudalisierung der Staatsorganisation, eine eigenartige Privatisierung geradezu dieser institutionellen Machtstrukturen. Dies geschieht nun aber nicht in den historischen Formen jenes Feudalismus, der meist gedeutet wird als ein „in die Herrschaft Hinein-Zusammenwachsen privater Mächtigkeiten", als eine Aneignung der heiligen, anonymen Institutionenstaatlichkeit. Hier wird vielmehr der „Bedienstetenfeudalismus" - denn um Derartiges handelt es sich ja - geschaffen, in einer Entbindung von Kräften aus der einen Staatsgewalt heraus, die dann wieder in Einung zu ihr zusammenwachsen sollen. Grundvorstellungen dezentralisierender Selbstverwaltung sind hier durchaus lebendig. Einen Gegensatz zu feudalistischen Konzepten muss dies übrigens nicht darstellen, wie oft hat sich nicht, gerade im deutschen Raum, Feudalismus aus größerer institutioneller Staatlichkeit des Reiches heraus entwickelt, sich dann wieder einend zu ihm zusammengeschlossen. Dass sich hier Beamte und Angestellte, über ihre Vertreter, verständigen und einigen mit ihren Vorgesetzten - dies ist ein allgemeines Grundmodell für die wichtigste Staatsgewalt, die Exekutive, in welcher so Hierarchie in Einung aufgeladen wird. Und dieses Modell schreitet ständig fort, mit den Kräften einer sich selbst verstärkenden Einungsdynamik, unter dem katalysatorischen Druck des laufenden, täglichen Einungszwangs in den Behörden. Dieser feinere Einungsraster schiebt sich noch über die bereits vollzogenen politischen Groß-Einungen der Sozialpartner, er „partikularisiert" diese, spezialisiert sie durch kleinere Einungen in den Raum der Behörden hinein, in Vorgängen, welche durchaus häufig die größeren, politischen und gewerkschaftlichen Frontstellungen - und ihre Auflösung in Einungen - im Kleinen nachvollziehen.

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Nahe mag es liegen, darin nur eine privatisierende Demokratisierung der Staatsorganisation zu sehen, welche letztlich nichts anderes bringt als Formen der „Betroffenendemokratie" - macht nicht die Personalvertretung allein die privaten Interessen der Bediensteten geltend? Doch dies wäre zu dürftig gedacht vom Personalvertretungsrecht: Bei diesen Einungen der Bediensteten und ihrer Vorgesetzten geht es ständig auch, ja vor allem, um die „Sache Staat", um das Interesse am funktionierenden Staats-Betrieb, das die Beschäftigten im eigenen Namen, doch auch im Interesse des Staates, als wahre Treuhänder desselben, laufend geltend machen. Die Betriebsräteidee geht hier, im Staat wie in der privaten Wirtschaft, letztlich doch über die „Gegengewalt-Konzeption" der Tarifvertraglichkeit hinweg, sie bringt eben nicht nur private Belange der Beschäftigten zum Tragen, sondern vor allem deren Interesse an der funktionierenden Staatlichkeit, die sich aus ihrer Einung aufbaut; und im Interesse am Arbeitsplatz findet all dies zusammen. Damit steht dieses Denken letztlich ebenso nah beim Föderalismus wie bei Formen der Betroffenen-Demokratie, hier finden laufend inner-staatliche Einungen statt, in denen sich die Bürger mit dem Staat und untereinander in seinem Namen zusammenschließen.

c) „ Bürgereinung innerhalb der Staatsgewalt " Bedeutung und Grenzen Ist nicht von diesem Personalvertretungsrecht eine vollständige Veränderung der Grundstrukturen staatlicher Herrschaft zu erwarten, viel mehr noch als im Bereich privaten Wirtschaftens? In ihm wird ein Bürgerzusammenschluss zu gemeinsamer Produktion wie zum kooperierenden Vertrieb von Gütern laufend praktiziert, die daraus sich ergebende Betriebs-Herrschaft mag eher als ein spätkapitalistischer Kompromiss erscheinen, und das Gesellschaftsrecht hat ja in diesem Bereich an sich schon zahlreiche Einungsformen vorgegeben, nahezu alles rechtlich in Einung bereits vorkonstruiert. Anders in den staatlichen Verwaltungen: Dort herrschen Hierarchie und Befehl unverändert, gerade im Namen jener Volkssouveränität, deren Willen es unbedingt auszuführen gilt. Werden damit nicht durch das Personalvertretungsrecht in Staatseinung Kategorien in das Zentrum dessen gerade getragen, wo sonst kaum Einung stattfindet, wo nichts sein darf als Befehl? Die Personalvertretung wird allgemein gewertet als die Vertretung von Bürgerinteressen innerhalb der Staatsorganisation, weil eben die Bediensteten in einer Demokratie nicht nur als deren Rädchen, sondern zugleich als selbstwerte Subjekte der Staatsgewalt überall gesehen werden. Denkt man dies fort, erweitert man, wie es ja heute den Anschein hat, laufend das Personalvertretungsrecht im Namen des Schutzes privater Bediensteteninteressen - wird dann nicht die „reine Bürgereinung" bis in das Zentrum der Herrschaft und der Befehle getragen? Dieser institutionelle Raum der früheren Staatlichkeit - wird 6*

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er nicht durch das Personalvertretungsrecht „von außen", durch die bereits erwähnten steigenden organisatorischen Sachzwänge „von innen", in immer mehr Einungsnotwendigkeit reduziert, so dass es sich dann fragt, wo überhaupt noch einungslos „Herrschaft an sich" stattfindet, ob sie sich nicht jedenfalls zurückziehen muss in die immer engeren und noch mehr bestrittenen Räume des Direktionsrechts über die Beschäftigten? Im Namen eines so verstandenen Personalvertretungsrechts als Interessenwahrung betroffener Bürger im staatlichen Raum werden heute immer neue Anläufe zur Ausweitung dieser Einungen unternommen, bis hin zu einer Verwandlung der Herrschaft in Einung der Bediensteten mit deren und über ihre eigenen Vertreter. Den Repräsentanten dieser wirklichen Staatsidee mag deren Grundsätzlichkeit nicht immer klar sein; sie gehen aber mit einer Überzeugungskraft zu Werke, welche eigentlich nur in einer „Herrschaft in Bediensteteneinung" sich vollenden könnte. Doch dem sind noch immer schwer verrückbare Grenzen gerade in jener Demokratie gesetzt, in deren Namen all dies sich vollziehen soll. Dieses Personalvertretungsrecht zielt ja weit mehr auf etwas wie eine Vertrags-Einung zwischen „Unten und Oben" als auf jenen „Herrschaftsaufbau in Einung von unten", in dem hier das Wesen der Staatseinung erkannt wurde. Diese beiden Erscheinungen müssen jedoch unterschieden werden; auch die vertikale Vertragseinung innerhalb der Staatsorganisation bleibt zwar wesentlich Einung, auch durch sie wird eine Form von „Einung der Subjekte" in höhere Herrschaft hineingetragen. Eine volle Subjektivierung der Herrschaft als solcher findet jedoch nicht statt, „der Befehl einigt sich hier immer mit den Befehlsempfängern". War es nicht, in unterschiedlichen Graden, immer und überall schon so, fand nicht stets diese Art von „Mitwirkung der Befehlsausführenden am Befehl" statt? Hier wird gewiß eine „Einung von befehlenden Befehlsempfängern" systematisiert und kanalisiert, der Befehl damit auch in seine Grenzen gewiesen. Doch die Hierarchie bleibt als solche, sie wird durch Einung begrenzt, nicht ersetzt. Und gerade wo dies letztere sich anbahnt, in immer stärkerer Auflösung behördenleitender Autorität, tritt eine durchaus antidemokratische Gefahr für die Staatseinung zutage: Im Personalvertretungsrecht vollzieht sich ja lediglich eine Teilgruppen-Einung, hier finden sich, oft in wenig überzeugenden Einungsformen, nur die Kleingruppen der Beamten und Angestellten bestimmter Behörden zusammen, ihre Einung allein wird gegebenenfalls in die Herrschaft, in die Hierarchie hinein transformiert, damit aber gewinnt die kleine Gruppe der Bediensteten Macht über die größere der Bürger. Dies ist dann die Gefahr einer solchen „Einung innerhalb der Herrschaft": Die Einung selbst wird zum Herrschaftsinstrument der Staatsbediensteten über die Staatsbürger, es findet eine bedenkliche „Gegeneinung wider die Bürger" statt. Diese stehen dem Staat, nach wie vor, als Befehlsunterworfene gegenüber; gleich ob nun diese Befehle von der Behördenleitung oder von einer mit ihr sich einigenden - oder gar konspirierenden - Bedienstetenvertretung ausgehen, eine solche „Gegen-Gruppen-Einung" schafft letztlich neue Herrschaft von oben.

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Mehr noch: Jene Formen der personalen Einungen innerhalb der Verwaltungen, welche durch Personalvertretung günstigenfalls bewirkt werden, können geradezu als Alibi wirken für eine, durchaus im Interesse dieser Bürger-Kleingruppen ausgeübten, Macht über die große Zahl der anderen Bürger; in ihrem Namen werden eben die Schalter immer früher geschlossen, Beschwerden gegen Bedienstete erst recht rasch mit dem Segen des Personalrats zurückgewiesen. Damit wird diese Einigung zur Verbrämung der Macht der Bedienstetengruppe über andere Gruppen der Gesellschaft. Solche Gefahren der Organ-Einung für die Bürgerfreiheit, die sich hier immer mehr konzertierter Staatlichkeit gegenübersieht, gibt es wohl überall, und deshalb möchte utopistischer Radikaldemokratismus ja all diese Formen verdammen und in reine Bürgereinungen auflösen. Im Personalvertretungsrecht aber treten sie besonders ins Blickfeld, tritt dieses doch an im Namen von etwas wie einer „Bürgereinung innerhalb der Staatsgewalt", welche damit den erwähnten Antagonismus von Staatsorganeinung und Bürgereinung überhöhen, letztlich aufheben könnte es kann auch hier nicht voll gelingen. Zwar findet diese Bürgereinung in den Räumen der Staatlichkeit statt, deren typische Befehlsinstrumente bleiben jedoch erhalten, sie werden nicht selbst in allgemeinerer Bürgereinung verwandelt. Deshalb liegt im Personalvertretungsrecht auch immer eine Feudalisierungsgefahr der Staatlichkeit, welche unter dem Deckmantel eines Demokratisierungsprozesses nur um so härtere, undurchdringlichere Formen der Herrschaft hervorbringt. Nicht zu vergessen schließlich: Hier gerade wird Einung weit häufiger behauptet als wirklich vollzogen; sie findet statt zwischen geübten Funktionären, Machttechnikern der Beschäftigtenvertretung einerseits, technisch spezialisierten Behördenleitungen als Vertretung der staatlichen Hierarchie auf der anderen Seite. Wie oft bringen die Personalvertretungen nichts anderes zum Tragen als eine wenn nicht behauptete, so doch vorweggenommene Einung der Bediensteten, die ihre Personalvertreter kaum kennen, von deren Einungen wenig wissen. So ist dies denn nicht der Stein der Weisen zur Verwandlung der Staatshierarchie der Befehle in laufende Bürgereinungen; nur zu oft mag es, aus der Sicht der Bediensteten, bei etwas bewenden wie einer Verdoppelung der Behördenleitung. Doch die Grundidee gilt es zu bewahren und weiterzuentwickeln: Das personale Substrat der Staatlichkeit und ihrer Herrschaft rückt immer mehr ins Blickfeld, aus dem blockhaft-anonymen Befehl wird auch hier, wie in allen anderen Formen der Verwaltungseinung, eine konzertierte Aktion der Staatlichkeit zwischen Personen, Subjekten, Bürgern. Im Personalvertretungsrecht zeigt eine Materie, über welcher der Bürostaub praktischer Tagtäglichkeit zu liegen scheint, Bedeutung und Grenzen zugleich der Organeinungen: Kräfte führen sie der Staatlichkeit zu in der Effizienzsteigerung durch höhere Akzeptanz der hierarchischen Befehle - und zugleich schwächt sich in ständigen Gesprächen und Kompromissen die Autorität ab, eine der Grundlagen der gesamten Staatsorganisation. Eines aber bleibt: der Durchbruch zur Öffnung

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der institutionell-anstaltlichen Staatlichkeit zur laufenden Befehlswerdung in Einung, und sei es auch nur an all jenen Rändern, an denen Staats- und Beschäftigteninteressen sich überschneiden. Erkauft ist all dies aber mit der Demokratiegefährdung durch sich innerstaatlich-feudal zusammenschließende Träger der Staatsgewalt, welche zur Herrschaftseinung gegen die Bürger werden könnte, in neuen, bedenklichen Formen der Bürokratisierung. Doch sind nicht dies Gefahren aller Organeinung?

3. Der Staat-Bürger-Vertrag - die „Verwaltungseinigung" a) Der Zug zur Verwaltungsvertraglichkeit Die Demokratie sucht heute die Einung der Bürger zur Staatsgewalt - und die Einigung der Bürger mit dieser. In parlamentarischen Anhörungen wird die verbandsmediatisierte Bürgerschaft, auf den Vorstufen der Gesetzgebung, in den Prozess der Bildung des allgemeinen Willens mit hineingenommen; dessen Ausführung in der Verwaltung soll nun ebenfalls bürgernah, in ständigen Kontakten und Gesprächen erfolgen, bis hin zum Verwaltungsvertrag der Bürger mit ihrem Staat. Dies soll hier nicht Einung genannt werden, welche ja Staatsgewalt wesentlich konstituiert, sondern Verwaltungseinigung der Bürger mit den Vertretern jener in Staatseinung bereits demokratisch konstituierten Gewalt. Der Durchbruch zum demokratischen Denken hat, vor einem Jahrhundert, eine Renaissance der verwaltungsrechtlichen Vertraglichkeit gebracht - gerade in jenem Frankreich, das, wieder 100 Jahre vorher, die volle Verhoheitlichung einer Verwaltung durchgesetzt hatte, welche sich nurmehr in einseitigen Verwaltungsakten bewegen zu können schien. Jener Institutionenstaat, der, nach seinem Sieg über die Fiskustheorie und alle privatrechtlichen Konstruktionen der Staatlichkeit, im 19. Jahrhundert seine Spitze erreicht hatte, entdeckte in der französischen Demokratie den Bürger neu und musste ihn auch in seine Verwaltung einführen - als Vertragspartner. Lange hat dieser Verwaltungsvertrag, dort wie in Deutschland, trotz allem ein Schattendasein geführt, neben den autoritären Befehlsformen der Verwaltungsaktlichkeit. Nun aber scheint sich die Grundstimmung auch hier zu wandeln: Die neueren Verwaltungsverfahrensgesetze haben den verwaltungsrechtlichen Vertrag aufgewertet, ihn grundsätzlich gleichberechtigt neben die hoheitlichen Befehlsäußerungen gestellt. Dies mag ohne Blick auf prinzipielle Hintergründe geschehen sein, aus Zweckmäßigkeitserwägungen leichterer Durchsetzung der von den Betroffenen vertraglich angenommenen Entscheidung, in Aufwertung der Bürger als Partner, aus Flexibilisierungsstreben. Getragen wird es ersichtlich durch eine Demokratisierungswelle, welche in Verwaltungseinigung das Zentrum der Staatshoheit, die Verwaltung, erreicht hat.

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Verwaltungsverträge sind hier nur die Spitze eines Eisberges, unter ihr und auch dort, wo letztlich der Verwaltungsakt die Entscheidung bringt, entfalten sich allenthalben verstärkt Gesprächsnetze, Informationsflüsse zwischen der Administration und den primär Betroffenen. Mag es dann auch nicht zum Vertrag kommen - seine „Vorstufen", im Sinne des Bürgerlichen Rechts, sind überall wirksam, mächtige, verwaltungsprägende Realität. Das Vehikel des rechtlichen Gehörs transformiert, wenigstens auf allen, oft so entscheidenden Vorstufen, alle größeren Befehle in Verwaltungseinigung. Bedeutendere, flächendeckende Entscheidungen mit vorgreiflichem Gewicht für viele Bürger trifft kaum eine Verwaltung anders als nach einem Gespräch, in ihm vielleicht, mit Vereinigungen und Verbänden. Sie stellen, dies zeigte sich schon, Voreinungen der Bürger „auf die Staatsgewalt hin" dar, und nun werden sie in die paravertragliche Verwaltungseinigung, auf einer weiteren Stufe, einbezogen. Was Information und Gespräch in sich trägt an Voreinigungskraft, das fließt aus allen diesen Kanälen in das tägliche Verwaltungshandeln ein. Wenn ein Wort Zukunft hat, so die „Bürgernähe" - in ihrem Namen wird sich all dies in den nächsten Jahrzehnten unabsehbar verstärken. Das heute besonders betonte „rechtliche Gehör" gegenüber der Verwaltung ebnet die Wege.

b) Verwaltungseinigung - Fortsetzung der Staatseinung mit anderen Mitteln Die demokratische Staatseinung will Staatlichkeit im Zusammenschluss konstituieren, Verwaltungseinigung mit dieser Staatlichkeit sodann kooperieren. Hier findet nicht eine Einigung über Staatsgewalt und ihre Träger statt, sondern über die Erfüllung konkreter Staatsaufgaben, Betroffene einigen sich mit dem Staat, nicht Bürger auf ihn. Man mag darin etwas sehen wie eine „Einung auf einer zweiten Stufe": Auf der ersten schließen sich Gruppen zum Staat zusammen, als dem Träger des Allgemeinen Willens, nun sollen sich mit ihm die Betroffenen einigen; und hier ist vielleicht der eigentliche Platz für die vielberufene „Betroffenendemokratie", die sich stets als Weg der Einigung mit dem Staat, nicht der Einung zu ihm verstehen sollte, damit noch etwas vom öffentlichen Interesse bei den Trägern der Staatsgewalt erhalten bleibt, das über die Berücksichtigung konkreter Individualinteressen hinausgeht. Dennoch - bei all diesen wichtigen Unterschieden bleibt auch die Verwaltungseinigung etwas wie Staatseinung, eine Fortsetzung jedenfalls derselben. Sie ist ja vielgestaltig möglich und auf mehreren Stufen; überall will sie die Kräfte des SichZusammenschließens freisetzen, und in der Verwaltungvertraglichkeit geschieht dies, wenn nicht in der Schaffung, so doch in der Ausübung von Staatsgewalt, in der Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Ohne also die Entwicklung der Verwaltungsvertraglichkeit einfach als eine Erscheinung der Staatseinung sehen zu wollen -

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aus deren größerer Entfaltung kann sie, als ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln, nicht ausgeklammert werden. Damit ist zumindest entschieden, dass nicht deshalb vertragliche Einigungen mit der Verwaltung ausgeschlossen sind, weil diese ja, als Vollzieherin des Allgemeinen Willens, das Recht des unbedingten Befehls zum Tragen bringen müsse. Befehl überall in der Verwaltung ist nicht die notwendige Folge der demokratisierten Normgebung, hier geht der Bürgeroptimismus der Demokratie selbst über die strenge staatstheoretische Ableitung Kelsens hinweg. Es gibt keinen Grundsatz, dass sich die Staatlichkeit der Zusammenschlüsse nur in gesellschaftsrechtsähnlicher Genossenschaftlichkeit vollziehe. Sie darf den Bürger auch in seiner konkreten Interessen-Partnerschaft sehen. Der Herrschaftsvertrag im weitesten Sinne des Wortes wird nicht nur multilateral geschlossen, im Zusammentreten aller, sondern auch bilateral in der Einigung mit den Betroffenen. Zu ihr aber gehören, schon nach allgemeiner zivilrechtlicher Dogmatik, auch alle Vorstufen der Informationen, Kontakte, Gespräche, welche die Verfassung mit ihrem Recht auf Gehör auch der Verwaltung zur Pflicht macht. Klar zeigt sich, dass dies nicht nur Grundrechtsschutz bringt, sondern zugleich eine Grundnorm der gesamten Staatsorganisation setzt, die in Einung werden und in Einigung handeln muss. In den so technisch erscheinenden Formen der verwaltungsrechtlichen Verträge liegt also doch eine Staatsgrundentscheidung der neuen Demokratie.

c) Hoheitsgewalt subsidiär gegenüber Verwaltungseinigung Im Licht dieser Erkenntnis von der Bedeutung der Verwaltungseinigung als Fortsetzung der Staatseinung gilt es, im Namen der Demokratie im Verwaltungsrecht ein „System der rechtsgeschäftlichen Staatsakte" im Sinne der Ideen Kormanns zu entwickeln. Alle vorvertraglichen und vertragsähnlichen Kontakte mit den hoheitlichen Verwaltungsinstanzen müssen in einem derartigen System ihren - systematisch gestuften - Platz finden. Auf allen Stufen gilt es sodann, diese Einigungen zu systematisieren und zu potenzieren. Ziel muss eine verwaltungsrechtliche Ordnung sein, in welcher der verwaltungsrechtliche Vertrag nicht eine Gestaltungsform ist, die der Verwaltung nach ihrem freien Belieben neben dem verwaltungsaktlichen Einsatz der Hoheitsgewalt zur Verfügung steht; diese letztere sollte vielmehr grundsätzlich hinter der Verwaltungseinigung zurücktreten, letztlich nur als eine „Vertragsaufzwingung" gegenüber dem Bürger verstanden werden. Eine solche grundsätzliche Subsidiarität der einseitigen Hoheitsgewalt, gegenüber der einigenden Zusammenfassung privater und öffentlicher Interessen, war bereits eine frühdemokratische Vision zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, noch auf den Höhen des Obrigkeitsstaats. In ihr hatten sich Grundkonzepte der alten Fiskalstaatlichkeit erhalten, der selbst die Enteignung nichts anderes war als ein Zwangskauf, in der die Beamtenernennung vertragliche Züge trug.

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Es genügt aber nicht die Vertragsfiktion, die Umwandlung der einseitigen Staatsgewalt in Verwaltungseinigung durch rechtliche Kunstgriffe, Vermutungen. Grundsätzlich sollte versucht werden, verwaltungsrechtliche Verträge, soweit Dringlichkeit und Unbedingtheit der Durchsetzung öffentlicher Interessen anzuerkennen sind, zur notwendigen Vorstufe des verwaltungsaktlich aufgezwungenen Staatswillens werden zu lassen. Im Enteignungsrecht, beim Umweltschutz sind die ersten Schritte schon getan, die Versuche des freihändigen Erwerbs der von der Verwaltung benötigten Grundstücke und anderen Güter, die vorgängige Pachteinigung - all dies kann noch weit ausgebaut werden. Dahinter mag und muss vielleicht stets die letzte Zwangsgewalt des Staates stehen; doch der erzwungene Vertrag als „letztes Mittel" sollte immer noch, in seinen Einzelheiten wenigstens, Züge einer Verwaltungseinigung tragen, in der der Bürgerwille mit dem der Verwaltung konvergiert, nicht von ihr gebrochen wird. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit aber wird ihre letzte Bedeutung erst erreichen, wenn sie aus der Beurteilung von Hoheitsakten in die höheren Gefilde der klassischen, zivilrechtsähnlichen Beurteilung von Vertragsverhältnissen wertend hinaufwächst. Weit mehr als es bei oberflächlicher Betrachtung scheinen mag, ist dies heute bereits in diesem Sinne im materiellen Verwaltungsrecht wie in der Verwaltungsgerichtsbarkeit geschehen - Verwaltungsakte werden weniger als Befehle, denn als Gestaltung von Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat verstanden, an denen der Gewaltunterworfene immer mehr als Bürger mitsprechenden Anteil hat. Doch irgendwann sollte der Weg nicht stets nur aus der Hoheitsgewalt des Staates verständnisvoll hin zum Bürger, er sollte auch von diesem in Einigung zum Staat gegangen werden. Viel ist hier noch in Einzelausgestaltungen zu tun, es sollte nicht immer nur aus Praktikabilitätserwägungen geschehen, sondern mit Blick auf die Grundentscheidung der Staatseinung, welche sich bis in die letzte bilaterale Verwaltungseinigung hinein fortsetzt.

d) „ Vertragsgrundstimmung " im Hoheitsbereich Wege zum Herrschaftsvertrag Die Erkenntnis, dass Verwaltungseinigung, wie die höhere Staatseinung, nicht Mittel, sondern Zweck ist im demokratischen öffentlichen Recht, wird kaum irgendwo deutlicher als in den täglichen Berührungen des Bürgers mit den Äußerungen einer Verwaltung, die es eben gilt aus Hoheitsbefehl in Verwaltungseinigung umzuformen. In unzähligen kapillaren Wirkungen kann hier etwas wie eine Vertragsgrundstimmung in die gesamte Staatlichkeit hineingetragen werden. Überall wird dann sicher das Zentralproblem der „staatlichen Druckmittel" auf den Vertragsabschluß hin sich stellen, doch es wird als solches gesehen, nicht sogleich zum Befehl vergröbert werden. Diese Problematik ist ja auch der bilateralen Verwaltungseinigung und der konvergierenden Einung zur Herrschaft gemeinsam:

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Wie lässt sich der Einungs- und Einigungsdruck erzeugen, in einem äußersten institutionellen Rahmen, auf den auch die Einung nicht verzichten kann? Einer der großen verwaltungsrechtlichen Kategorien-Würfe der letzten Jahrzehnte war jene Zweistufentheorie, in welcher die Zulassung des Bürgers zur Verwaltungsleistung, zum Service-Staat, rechtlich bewältigt wurde. Ihr Grundkonzept könnte wohl auch in größerem Zusammenhang der Verwaltungseinigung, bis in die hohen Formen der Staatseinung, fruchtbar gemacht werden: Regelung des „Ob" im hoheitlichen Befehl, des „Wie" in Verwaltungseinigung, mit einer Tendenz, diesen letzteren Bereich immer mehr auszuweiten. Soweit hat das deutsche Verwaltungsrecht in den letzten Jahrzehnten noch nicht gehen wollen, vertragliche oder hoheitliche Ausgestaltung wurden den Verwaltungsträgern überlassen; dieses unsystematische, in der Rechtsstaatlichkeit kaum zu rechtfertigende Wahlrecht der Verwaltung muss fallen, überführt werden in notwendige Formen der Verwaltungseinigung. Überall werden heute Brücken gebaut vom privaten zum öffentlichen Recht, denn dieses kann nur in den klassischen Feinheiten der zivilrechtlichen Abwägung als Recht überhaupt überleben, in einer auf personale Rechtsträger gestützten Ordnung. Ein Durchbruch zur allgemeinen Verwaltungseinigung wäre ein entscheidender Schritt zu dieser Annäherung von privatem und öffentlichem Recht, in der endlich die Demokratie wieder die Einheit einer Rechtsordnung herstellen könnte, welche sie vor zwei Jahrhunderten im Namen ihrer absoluten Volkssouveränität zerbrochen hat. In ihren spätabsolutistischen Herrschaftsgelüsten hat die Demokratie, bis in die Gegenwart, eine Sünde gegen ihren Heiligen Geist begangen, den der Bürgereinigung, der Verträglichkeit. Ähnlich wie später der Kommunismus, eine ihrer Entartungen, wollte auch sie zuallererst mit hoheitlichem Befehl eine Gleichheitsordnung herstellen, in der sich dann Verträglichkeit entfalten sollte - diese zweite Zeit der Demokratie ist nun endgültig angebrochen. Wer sich überall von Verträgen umgeben sieht, in ihnen lebt, täglich sie mit anderen, und vor allem mit der Verwaltung, mit dem Staate selbst schließt, der wird auch leichter ein Herrschaftsmandat in Einung mit anderen geben, ist doch auch dieser Gesellschaftsvertrag nichts als eine höhere Stufe bilateraler Vertraglichkeit. Wer über öffentliche Dinge Verträge schließt, wird auch mit leichterem Herzen den „Gesamtakt Konvergenzvertrag zur Staatlichkeit als solcher" abschließen, andere, seine Verbände, seine Vertreter mit täglichem Abschluss beauftragen. Der bilaterale Vertrag muss also letztes Modell für alle Staatseinung bleiben, er wird es in der Verwaltungseinigung. Immer steht er am Anfang, schafft er doch jene wesentliche Gleichordnungsstimmung, in der auch die Höhen der Hoheit abgetragen werden. Dies bedeutet im Letzten das Wort vom Herrschaftsvertrag: Es fasst einen Grundgegensatz zusammen und will ihn in einer Landschaft auflösen, in der nicht die schroffen Felsen der Befehle aufragen, in denen es nur die weichen Hügel gibt, auf denen sich Bürger im Namen der Gemeinschaft treffen.

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Überall wo Verträglichkeit neu entdeckt und verstärkt wird, ist auch ein Schritt zur Verwaltungseinigung und, über sie hinaus, zur Staatseinung getan. „Vertrag" ist heute ein gutes, konsensgetragenes Wort der Demokratie geworden, wie Markt und Wettbewerb, die über ihn allein funktionieren. Und dass nicht wieder der Markt zum Kuhhandel werde, der Vertrag nur als lösungsschwacher Kompromiss erscheine - sonst steht der einende Befehl in der Tür; gegen ihn muss nun das Wort stehen: das Beste ist doch ein Vertrag!

4. Kommunalisierung als Organisationseinung a) Die Gemeinde - ein Grundtyp der Einungsstaatlichkeit Kommunale Selbstverwaltung ist weit mehr als ein romantisches Fortspinnen historischer Relikte, welches gegenwärtige Effizienz geheiligt hat. Hier trägt eine systematisch-dezentrale Ordnung von unten die gesamte Staatlichkeit, befriedigt die elementaren, jeweils die nächsten Bedürfnisse der Bürger. In Deutschland ist es nach 1945, mitten in den Trümmern einer alten Institutionenstaatlichkeit, erlebt worden, wie der Staat von unten aufgebaut wurde, von Kommunen zu Ländern, von Ländern zum Bund, in immer höheren Zusammenschlüssen. Eine Grundstimmung ist davon in der ganzen deutschen Verwaltung geblieben: die Gemeinde nicht nur als die allzuständige, sondern als die allgegenwärtige demokratische Verwaltungsgewalt. Flächendeckend wirkt sie, in all ihren vielfachen Teilungen, die hier aber nicht entscheidend sind; als solches ist das kommunale System keine Ordnung der einungsauflösenden Gewaltenteilung. Die Gemeinde ist überall, in ihrem Namen sind allenthalben Einungen der Bürger, ganz unten, ganz basisnah. Die Einungsdemokratie kann auf die Gemeinden nie verzichten, sie sind weit mehr als rein effizienzorientierte, beliebig verschiebbare, aus der einen Staatlichkeit heraus dezentralisierte Machtträger in Bürgernähe; ihre Macht kommt von unten, nicht aus den „höheren Aufträgen" übertragener Wirkungskreise, dies ist die Bedeutung ihrer „Ursprünglichkeit". Dass die Gemeinden wesentlich „unten wirken", mag aus der Sicht einer Institutionenstaatlichkeit, die das ganze Staatsgebäude von seinen krönenden Dächern und Giebeln her sieht, eine Abwertung bedeuten, aus einem Verständnis, das alles immer „oben aufhängen" will, in normativen Ermächtigungen und Grundnormen. Das Gegenteil zeigt die Perspektive der Staatseinung: die Gemeinden als Vorformung des Einungsstaats, als „kleinere Einungen im Staat und zu ihm". Stets hat sich darin Demokratie an der Basis erhalten, Staatseinung hier weitergewirkt in Zeiten, wo sie sich „oben", in den glänzenden Höhen von Parlament und Regierung, in einer Selbstzweckhaftigkeit der Herrschaft von der Bürgerebene abheben wollte. Der Sinn der Gemeinde kann nur im Zusammenschluss ihrer Bürger liegen,

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sie ist Einung - ihr Name sagt es - oder sie ist nichts anderes als eine beliebige Behörde. Diese Gemeinde ist nicht nur selbst Einungsträger, sie stellt auch den am deutlichsten fassbaren Einungsraum an der Basis dar; in ihren kulturellen und gesellschaftlichen Einrichtungen kommen die Bürger wirklich zusammen, sie ist der wesentliche Raum ihrer Vereine, die weit mehr als die Verbände auch gesellschaftlichen Zusammenschluss bedeuten, und sie bleibt stets deren erster Gesprächspartner. Entscheidend aber für den gesamten Staatsaufbau ist es, dass diese Stärke wesentlich aus der Einungsbezogenheit der gemeindlichen Organisation und Aktivität gerade im Bereich der Exekutive kommt, jener in Wahrheit Ersten Staatsgewalt, wo das Zentrum der Befehlsstaatlichkeit liegt. Es wird nicht nur in den bereits beschriebenen vielfachen Formen der allgemeinen Verwaltungseinigungen aufgelöst, in Zusammenschlüssen aufgelockert; an der Basis der Exekutive geschieht dies ganz grundsätzlich, durch jene Kommunalisierung, welche wahrhaft eine Staatsgrundentscheidung darstellt. Würde dies nur Demokratisierung im Sinne der Wahl-Staatlichkeit bedeuten, so müsste sich in der Tat ein in der staatsrechtlichen Dogmatik bisher noch nie zu bewältigendes Problem der Gewaltenteilung stellen wie kann es gerade an der Basis der Exekutive, der im Namen der Normausführung streng hierarchisierten Gewalt, doch wieder zu solcher Gewaltenkonfusion kommen? Die Antwort lautet: Die letzte Grundentscheidung ist nicht die Demokratisierung - sie ist nur ein Instrument - , sondern die Staatseinung, und sie muss gerade an der Basis der zentralen Staatsgewalt sichtbar werden, in der Gemeinde.

b) Gemeindliche Verwaltungsabläufe

in Einungsformen

Der Institutionenstaat der Befehle wirkt vor allem durch die Einheitlichkeit der hierarchisierenden Exekutivmacht „von oben". In der Kommune läuft dagegen die Verwaltung, selbst die der Befehle, überall in maximaldemokratischen Einungsformen ab. Die (beschränkte) Öffentlichkeit, Voraussetzung aller Einung, prägt hier in ganz anderer Weise die Verwaltung als im staatlichen Bereich, zunächst schon im allgemein zugänglichen Forum der Gemeinderäte, das eine an sich unerhörte Erscheinung ist, da wichtige Verwaltungsentscheidungen diskutiert werden, welche beim Staat Akten und Dienstgeheimnisse decken. Hinzu kommt eine faktische kommunale Öffentlichkeit; in den kleinen Kreisen herrscht erhöhte Sach- und Personalkenntnis auch dort, wo nicht in Gemeindeöffentlichkeit diskutiert wird. Die Repräsentation im Gemeinderat ist mit nationalen Abgeordnetenmandaten nicht vergleichbar, sie bringt einen viel stärkeren, weiterwirkenden Einungsgehalt zum Tragen. Der Wähler kann täglich seine Beauftragten am Werke sehen und, was mehr bedeutet, selbst in großen Kommunen: Es geht um Sachverhalte, die er weit besser, weil näher beurteilen kann als die immer fernen nationalen Interessen. Die Gemeinderäte tragen auch, anders als Abgeordnete, eine wahrhaft „volle" Einung ihrer Wähler weiter, in den Stadtrat hinein. Dort sitzen lokal Bekannte,

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nicht fern Notablierte, man bestellt sie wirklich in Kenntnis ihrer Person, soweit dies überhaupt in der Demokratie noch möglich ist. Einungen finden hier statt auf alle Befehlsträger hin, deutlich aber auch bei den Spitzen der Verwaltung, die in einem Maße im paraelektoralen Rampenlicht stehen, wie es die größere nationale Demokratie nicht kennt, in ihren dunkleren Regierungskorridoren. In der Kommune wird auch, anders als sonst im Bereich der Exekutive, versucht, „Verwaltung", im Sinne einer „technischen Ablaufsteuerung", auf „laufende Geschäfte" zu beschränken, auf das also, was „von selbst", ohne größere „Einungsanstöße von außen" abläuft. Alles andere in der Gemeinde bedarf des typischen öffentlichen, eben des Einungsschubs - daher fallen wichtigere Verwaltungsentscheidungen in den Gremien, welche die Zusammenschlüsse der Bürger nicht nur fiktiv repräsentieren, sondern sichtbar widerspiegeln. So läuft wirklich Verwaltung in Einungsformen dort ab, wo sie Entscheidung bedeutet, nicht rein technisches Ordnen. Aus der Sicht der gewaltenteilenden Institutionen-Demokratie ein Ärgernis, ist dies in Wahrheit das Grundmodell der Einungsstaatlichkeit, in der sich die Staatseinheit in Verwaltung erhalten hat. Den viel beklagten, beklagenswerten Interessenverbindungen, bis hin zur Verfilzung, die sich nie werden entwirren lassen, solange es Gemeinden gibt, mag man aus dieser Sicht sogar noch Positives abgewinnen können: Sie sind letztlich nur Ausdruck eines laufenden, sehr intensiven Gesprächs der Verwaltenden mit den Bürgern, des Versuchs, nun wirklich alle Interessen irgendwie doch noch einzubeziehen, ohne deren Berücksichtigung man eben im Kleinen nicht zusammen-, sondern nur gegeneinander leben könnte. Strenger Staatsmoral ein Ärgernis, ist dies wohl letztlich nur einer jener Reibungsverluste, welche die Demokratie mit größeren Einungskräften ausgleicht. Selbst die Pervertierungen wirtschaftlicher NotabelVerfilzungen, die anderswo mächtiger, nirgends aber häufiger auftreten als in den Kommunen, sind nur Ausdruck des grundsätzlichen kommunalen Versuches, alles und alle einzubinden, zusammenzuschließen, alle Mächtigkeiten in der Gemeinde - und da werden vor der vereinigten Interessenmacht selbst dort die Augen geschlossen, wo sie sich gegen die Gesetze wendet. Dies alles beweist erneut: Kommunalisierung lässt sich längst nicht nur als „Demokratisierung an der Basis" erfassen; hier finden viel allgemeinere Einungsanstrengungen statt; diesem Kraftquell aller Staatlichkeit, der oft im Trüben sprudelt, müssen politische, menschliche, moralische Opfer gebracht werden.

c) Kommunen - „zusammenschlussgeneigte " Organisationsträger „In den Staat hineinwachsende Bürger-Zusammenschlüsse" - das ist das Wesen der Staatseinung und ihre demokratische Kraft. Bei den Kommunen ist dies institutionell nie verfestigt worden; Autonomie wollte ihnen der Institutionenstaat wohl

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geben, gebündelte Autonomien in seinem Raum aber nicht institutionell zulassen. Deshalb konnte es nicht zu „Kommunalkammern" kommen, zu einer Art von Bundesrat auf niederer Ebene, etwa neben den Länderparlamenten. Die Zusammenschlüsse sollten auf gemeindlicher Ebene gehalten werden, diese Einungsbewegung blieb dort institutionell kupiert. Gerade die Gliedstaaten im Föderalismus wachen stets eifersüchtig darüber, dass sich ihr Föderalismus nicht noch weiter „nach unten" fortsetze, er soll auf ihrem Niveau einmalig bleiben, auf Gliedstaaten-Ebene monopolisiert. Selbstverständlich ist dies in einer Staatsordnung, welche Staatseinung nicht als durchlaufenden, allgegenwärtigen Kraftquell der Demokratie anerkennt. Und käme nicht die viel gelobte vertikale Gewaltenteilung in Gefahr, wollte man sie nach unten fortsetzen? Doch diese Ströme der Einung lassen sich nicht aufstauen. Auf vielen Wegen wachsen Kommunaleinungen in die Staatlichkeit hinein, nicht institutionalisiert, eher spontan, oft in der Form nicht gelenkter, manchmal geradezu privatrechtsähnlicher Zusammenschlüsse: Überall zeigt sich die Kommune als der wesentlich „zusammenschlussgeneigte Organisationsträger", vor allem in der Verwaltung. Nirgends ist bereits Organisationseinung so weit fortgeschritten wie in diesen Räumen, in ihrem kaum mehr durchschaubaren Netz der Zweckverbandlichkeit. Hier vollziehen sich überall individuell flexibilisierte Einungen, selten nur endgültig, deutlich gegenwartsbezogen, im „ständigen Ablauf 4 wirksam und veränderbar. Hier bringt die sozusagen „kollektiv individualisierte Gemeinde" ihre unauswechselbaren Interessen in den Verbund mit ähnlichen Belangen anderer Träger, in einer Vielfalt, welche der Staat weder hervorbringen, noch befriedigend lenken könnte; Zweckverbandsgesetze bleiben so stets äußerster Rahmen, sie legen nur einen Einungsraum fest. Diese biegsame Zweckverbandlichkeit sollte zum Modell für flexible Organeinungen in der Verwaltung überhaupt werden, findet sie doch ganz wesentlich im Bereich des Administrativen, nicht in den Räumen der gemeindlichen Normsetzung statt. In den Zweckverbänden und allem, was sich um sie rankt, in Zusammenarbeit der Gemeinden auf weiteren, höheren Bereichen, entwickeln sich Kommunen und Landkreise zu faktischen Groß-Regionen, sie wachsen gewissermaßen „lokal in die Staatlichkeit hinauf. Dass die Kommunen ihrem Wesen nach flexible Gebilde sind, eben aus ihrem Einungscharakter heraus, der auch Um-Einungen zulässt - das hat die höhere Staatlichkeit längst erkannt, und so greift sie hier, weit mehr als bei Ländern und anderen autonomen Körperschaften, umgestaltend ein, in immer erneuten Kommunalreformen, Umgemeindungen - Zusammenschlüssen vor allem. Was die Kommunen aus ihrer eigenen traditionell-lokalen Beharrungskraft heraus nicht vermögen, schafft in Zusammenschlüssen der größere Staat; doch dabei muss er neuartige Formen eines Kommunal-Föderalismus hinnehmen, begünstigen: Innerhalb dieser Großgemeinden bleiben die Ortschaften und Gebietsteile, zum Teil wenigstens, selbständig, es wird nur ihr laufender Zusammenschluss zur GroßKommune institutionell erzwungen. Dies ist die positive Seite der kommunalen

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Gebietsreformen, dass der Staat den letztlich doch enteinenden Partikularismus der allzu kleinen Einheiten überwindet, sie in größere Zusammenschlüsse zwingt, die dann für ihn wirkliche, wenn auch oft gerade unbequeme Gesprächs- und Verhandlungspartner sein werden. Zusammen mit der Zweckverbandlichkeit liegt in all diesen Gebietsreformen sicher ein großer „kommunaler Zug nach oben", hin zur größeren, in sich aber ständig sich einenden Einheit. In Ermangelung staatsrechtlicher Formen kommunaler Zusammenschlüsse sind die Gemeinden weithin auf spontane Einungen angewiesen, wollen sie auf den höheren Ebenen der Staatlichkeit Einfluss gewinnen. So haben sich denn traditionell Städte- und Gemeindetage gebildet, laufend an Einfluss zugenommen, eine machtvolle Organisations-Lobby entwickelt, welche bis in die Spitzen des Staates hinein immer wirksam ist, dorthin die gebündelten, ständig neu zusammengefassten Interessen der stark subjektiviert bleibenden Kommunen hinaufhebt. Ganz natürlich hat man sich an diese Gemeinde-Lobby gewöhnt, welche auch ohne bundesratliche Formen „Föderalismus von unten" dauernd zum Tragen bringt. Die Parteien haben dem eine entscheidende politische Schubkraft verliehen: Auf kommunaler Ebene finden sie ihre ersten und wichtigsten Kraftquellen, werden sie von der gemeindlichen Macht abgeschnitten, so kann dies für sie den Anfang vom Ende bedeuten. Hier lag stets eine der Kraftquellen sozialistischer Gruppierungen. So sind es denn die politischen Parteien, welche die Kommunaleinungen, über die mächtige Kommunallobby, in die Parlamente transformieren. Diese in ihrer Zusammensetzung flexiblen und daher in ihrer Wirkkraft schwer abzuschätzenden Kommunalfraktionen erstarken oft zu Formen eines „Parlaments im Parlament". Dies hat man bisher stets als tatsächlich-politische Entwicklungen hingenommen, es gilt aber, hier ein wichtiges Rechtsphänomen von unten nach oben laufender Staatseinung zu erkennen. Die kommunalen Staatseinungen auf unterer Stufe bleiben dort jedoch schon deshalb nicht isoliert, weil sie über den Finanzbedarf der Verwaltungsträger laufend mit den größeren Einungsthemen der Gesamtstaatlichkeit verbunden sind. Dies ist die wichtige Funktion des Gemeindefinanzrechts als eines Kanals der Einungsstaatlichkeit. Gerade um solche Themen sind die Parlamente von Bund und Ländern, in sich und untereinander, mit ihren Regierungen und dem Bundesrat, ständig zu vielfältigen Kooperationen gezwungen, welche überdies meist parteiübergreifend ablaufen, in eigenartigen Formen innerstaatlicher Organeinungen. Hier muss auch entschieden werden, was an Finanzhoheit, damit an wirklicher Staatsmacht, den gemeindlichen Einungsträgern auf unterer Ebene verbleibt, wie weit sie von höheren Einungen nicht völlig abhängen sollen. Aus der Sicht der Staatseinung kann es nur eine Lösung geben: Auch „unten" müssen Einungsmaterien bleiben, von wirklichem politischen Gewicht, in erster Linie daher auch eine gewisse Finanzhoheit der Kommunen, ohne welche diesen wesentliche Einungsmaterien entzogen würden. Wo finanziell nichts mehr zu entscheiden ist, da könnten solche basisnahen Einungen leicht leer laufen, politisch uninteressant werden, in ,/einer, selbstlaufender Verwaltung" sich erschöpfen. Kommunale Finanzhoheit ist

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daher zugleich ein Mittel, die für die Einungsstaatlichkeit wesentliche Subjektivität der Einungsträger zu potenzieren und diese in die größeren Staatsdiskussionen ständig einzuführen.

d) Kommunalrecht als Modell der Staatsorganeinung Das Gemeinderecht bleibt, auch im Blick dieser Untersuchung, Verwaltungsrecht, es wird nicht zu einem staatsrechtlichen Modell der Einung. Ihm lassen sich aber Formen und Konzepte vor allem der Verwaltungseinung entnehmen, der Integration autonomer Verwaltungsträger, einer sich eben darin ständig in sich einenden Staatsgewalt. Die Staatsaufsicht ist es zuallererst, in welcher die autonomen Einungen im Gemeindebereich rechtlich „verbunden" werden. Alle verwaltungsrechtliche Aufsicht hat hier ihr Grundmodell stets gefunden, und diese Aufsicht ist die wesentliche institutionelle Form des „Einungszwangs von oben", in die Autonomien hinein. Im Namen der Demokratie hat sich hier vor allem der Liberalismus, von der Staatsspitze her, voll innerhalb der Exekutivgewalt durchgesetzt: Das Laissez-faire der Aufsichtsinstanzen des Staates hat weithin nicht nur die eigenen, sondern auch die übertragenen Angelegenheiten in den Kommunen zu deren laufender, basisnaher Einungsmaterie werden lassen. Politisch hat sich geradezu eine teilweise Transformation der übertragenen in eigene Angelegenheiten vollzogen, im Namen eben einer liberal-zurückhaltend überwachenden Behördenaufsicht; in ihr läuft viel von vereinheitlichender nationaler Gesetzgebung an der Basis faktisch wieder in Vielfalt auseinander. Der nationale Gesetzgeber selbst, in dessen Raum zwar ständig politische Einungen ablaufen, der aber doch immer wieder institutionelle Einheit schaffen will, zieht sich hier vor laufenden Einungsvorgängen des Kommunalbereichs zurück, welche im Ergebnis sogar den staatlichen Bereich erfassen. Die Kommunen - Verwaltungsträger und Gesetzgeber zugleich - beginnen in sich und untereinander mit Formen der Verwaltungseinung, doch hier gewinnen die Zusammenschlüsse zugleich gesetzgeberische Dimensionen; in der Gewaltenkonfusion an der Basis wird die institutionelle Gewaltenteilung der Spitze der Staatlichkeit immer mehr unterlaufen, weil sich dort die vereinheitlichende Kraft der Staatseinungen durchsetzt. Wenn diese in ihrer Macht und ihrer demokratischen Legitimation voll erkannt ist, so kann sich Ähnliches in anderen Bereichen fortsetzen: Autonomie in der Verbindung von gesetzgeberischer und verwaltungsmäßiger Selbständigkeit, unter einer liberalen, nur äußerste Rahmen setzenden Staatsaufsicht, die alles andere der internen Einung und dem Zusammenschluss derartiger Träger untereinander überlässt. In gewissem Sinne mag es dann zu einer wirklichen „Kommunalisierung der Staatlichkeit" kommen, zu völlig neuartiger Staatseinung von unten. In Großstadt-Kommunen ist dies bereits im Lauf, denn hier läuft Einungsstaatlichkeit in weitem Rahmen ab, für die solchen Instanzen schon ferneren Bürger ist

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dies wirklich ein Staat im Staat. In den größeren Kommunen, mehr noch in den Stadt-Staaten, verwischen sich bereits die Grenzen der kommunalen und föderalen Bereiche, der „Föderalismus senkt sich nach unten", jenes Grundkonzept der Staatlichkeit, welches im Folgenden auch als Grundmodell der Einungsstaatlichkeit zu erkennen sein wird. Ein letztes Wort zur Kommunaleinung: Gemeinden bleiben, in all ihren Aktivitäten, stets wesentlich „nach innen gewendet", sie kreisen immer um den Kern ihrer eigenen Angelegenheiten. Dies verleiht ihnen, dem gesamten kommunalen Bereich, eine wesentliche „Friedlichkeit", welche nach außen gewendete Aggressionen weit weniger kennt als die zusammengeballten Kräfte der nationalen Ebene, die stets doch auch politisch „nach außen wirken wollen". Hier also zeigt sich die nach innen gekehrte Staatseinung als wesentliche Ordnung des Friedens.

III. Föderalismus: Grundmodell der Staatseinung 1. Föderalismus - Idee vielfaltiger Einungen Aus den Niederungen der Verwaltung nun wieder hinauf in die Höhen der Verfassungsgrundsätzlichkeit. Auch dort waren ja Staatseinungen festzustellen, in zahlreichen Formen der Organeinung als solcher, vor allem im Raum der ,greinen Staatsadministration". All diese Erscheinungen finden sich in jeder entwickelten Staatlichkeit, sie mögen sogar jenseits der Demokratie noch etwas herstellen, was die harten autoritären Befehle in Gemeinsamkeiten einbettet. Doch nun erreichen die Betrachtungen jenes geistige Zentrum der Theorie der Staatseinung, welches der Föderalismus am klarsten bietet, voll formiert und als Grundlage der gesamten politischen Ordnung. Wo es ihn nicht gibt, mag das Letzte, das Höchste stets Institution sein und Befehl; der föderale Staat allein schreibt nicht die Einheit, die République une et indivisible, über den Eingang seiner Hallen, sondern die Einung, den ständig gelebten Staats- und Staatenvertrag seiner Bürger.

a) Föderalismus - Idee, nicht historischer Zufall Föderalismus ist stets zuallererst als historisches Phänomen betrachtet worden. Hat er sich nicht im Zentrum Europas, ganz wesentlich im deutschen Raum im weitesten Sinne, entwickelt aus dem Zerfall der größeren Reichs-Staatlichkeit, allenfalls noch verständlich als gewandelte Form früherer Feudalität? Erklärt sich nicht seine andere große Erscheinungsform, die amerikanische Bundesstaatlichkeit, ebenfalls aus einem geschichtlich bedingten, wenn nicht geradezu einmaligen Zusammentreten und Zusammenwachsen von Bürgern und Gemeinschaften, die von überall her kommend sich fanden? 66 Leisner

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Dieser historische Charakter der beiden großen föderalen Erscheinungen unserer Welt hat stets die föderale Staatstheorie belastet, weithin die klare Erkenntnis allgemeinerer Grundsätzlichkeit der föderalen Idee verhindert: Sie erschien als einmalig-unübertragbar, ja sogar nur als ein vorübergehender, sich immer mehr zur Einheit wandelnder Zustand: - Entwicklung und Niedergang des Römisch-Deutschen Kaiserreichs, die Geschichte größerer Staatlichkeit auf deutschem Boden im weitesten Sinne, ist sicher eine einmalige historische Erscheinung, nicht übertragbar auf andere Länder und Kontinente. Hier ging es nicht um Bewältigung von Gesetzgebungs- und Verwaltungsaufgaben, sondern zuallererst um die Schaffung einer Staatsgewalt, ja von Staatlichkeit überhaupt. Was sich hier abspielte in der föderalen Lockerung - und doch noch immer Verbindung - unterschiedlicher Gemeinschaften, das waren Lösungsversuche ganz anderer Probleme als derjenigen, welche in der bereits voll formierten Staatlichkeit Englands, Frankreichs oder Spaniens zu bewältigen waren. Der Föderalismus mag so als eine staatskonstitutive, nicht als eine staatsorganisative Lösung erscheinen; als letztere hat er sich erst spät, in Deutschland seit 1870, in Amerika mit dem verfeinerten Funktionieren der amerikanischen Föderalverfassung nach dem Bürgerkrieg, bewähren können. - Nicht erstaunlich ist es also, dass diesseits wie jenseits des Atlantik die föderale Konstruktion als etwas historisch Zufälliges erschien, das die Staatstheorie weit mehr als ein Curiosum zu analysieren, denn als tragende, allgemeinere Idee zu verbreitern, zu exportieren vermochte. Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Grundrechte haben universellen Charakter, nicht nur als Freiheits-, sondern als Organisationsprinzipien sind sie grundsätzlich in jeder höher entwickelten Staatlichkeit einsetzbar - immer unter der Voraussetzung, dass diese bereits als eine einheitliche konstituiert ist, so wie es im Frankreich von 1789 seit langem der Fall war, und letztlich auch unter der über „natürlichen" feudalen Autonomien schwebenden englischen Krone. Eine Theorie des universellen Föderalismus dagegen - wer hätte 1789 an Derartiges denken können und noch Generationen später? Waren dies nicht deutsche und amerikanische Besonderheiten, liebevoll gepflegt in Staaten, welche keine natürliche Einheit hatten finden können, die zu zerbrechen drohten, wo man ihnen diesen laufenden staatsrechtlichen Kompromiss nahm? Der Nationalsozialismus war folgerichtig darin, dass er mit einem Gewaltakt diese föderale Kontingenz für beendet erklären wollte, die föderale Theorie hatte ihm nicht sagen können, was darin an Grundsätzlichkeit eingeschlossen war. Erst als man nach ihm die Freiheit überall suchte in der Staatsorganisation Deutschlands, fand man sie auch in jener vertikalen Gewaltenteilung des Föderalismus, der nun aber nicht aus Einung, sondern allein aus Freiheit legitimiert wurde; doch auch darin konnte man den tiefsten Sinn jener Idee nicht erfassen. Im Föderalismus ist so, fast bis in die Gegenwart, etwas von der Provinzialität romantischer Kirchturm-Landschaften überkommen; Sozialisten beklagen seinen

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konservativen Traditionalismus, die Rechte seine nationale Schwächlichkeit. Kann dies wirklich ein universelles Staatsprinzip sein, eine wahre Staatsidee? - Doch die Schwäche der föderalen Theorie liegt nicht nur in dieser vermeintlichen historischen Zufälligkeit der bundesstaatlichen Konzeptionen; diese erscheinen geradezu als etwas staatsrechtlich Vorübergehendes, als Ausdruck von Entwicklungszuständen, nicht von bleibender, größerer Staatlichkeit. So hat es bisher immer nur Randkapitel über den Föderalismus in Staatslehren gegeben, keine große Staatstheorie dieser Ordnung selbst. Im deutschen Raum war die föderale Ordnung generationenlang nur die Beschreibung eines langsamen Zerfallzustandes aus einer zwar nicht voll, aber immerhin doch stärker geeinten Ordnung heraus, welche aus der Einheitsidee des Reiches lebte, mochte diese auch nie ganz verwirklicht worden sein. So ist denn dem Föderalismus in Deutschland stets etwas geblieben vom Odium eines Abfalls von größerem Staatsdenken, das der Nationalsozialismus mit einem Schlag wieder restaurieren wollte. Seine antiföderale Grundstimmung wirkt heute noch nach, aus vermeintlichen historischen Erfahrungen gespeist wird sie so bald nicht verschwinden. Dem Bund bleibt in Deutschland immer etwas vom Rheinbund, der gestärkt werden muss, und nur größere staatliche Erschütterungen, wie die Wiedervereinigung, können solchen negativen Grundkonsens nachhaltig verschieben. Als dann nach 1870 Fürsten- und Staatenbund im Deutschen Reich sich zu neuer Staatlichkeit vereinten, war letztlich all dies fast schon ein Föderalismus auf Abruf, der in Weimar nur nicht erfolgte, weil man nicht stark sein durfte, nach 1945 von den Siegern aus ähnlichen Gründen, und nicht nur um Freiheit zu schaffen, in Deutschland aufgeschoben wurde. Aber nicht aufgehoben: Denn seit mehr als einem Jahrhundert vollzieht sich, über Regime und Ideologien hinweg, eine langsame, aber sichere, geradezu unaufhaltsam erscheinende Erosion der föderalen Strukturen. Ihre Erkenntnis ist Gemeingut und sie stellt die Grundfrage an die Bundesstaatlichkeit: Ist diese wirklich eine in sich ruhende, bleibende Ordnung, ist sie nicht stets auf Zerfall oder auf Einheit hin unterwegs? Selbst in den Vereinigten Staaten finden Kritiker Phänomene, die auf stärkere Einheit, auf Konzentration hindeuten; wie könnte auch anders, so meinen viele, die große Sozialreform dieses Staates eines Tages verwirklicht werden? Mag es in seinen Weiten langsam vorangehen - ist aber nicht auch hier der Föderalismus „auf dem Weg", nicht eine ruhige, wesentlich zeitlose Staatsordnung? Historische Zufälle mögen Ideen gebären, ihre Phänomene sind noch keine solchen. Wo findet sich „die föderale Idee"?

b) Bundesstaat - zur Freiheit Die Legitimation des Föderalismus wird heute überall und ganz überwiegend in der Freiheit gefunden, welche er den Bürgern vermittelt. Neben der horizontalen 6*

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soll diese vertikale Gewaltenteilung als organisatorische Freiheitssicherung den individualrechtlichen, den unmittelbaren grundrechtlichen, gerichtlichen Schutz ergänzen. In der Verfassungsgerichtsbarkeit scheint geradezu eine institutionell notwendige Verbindung der beiden Schutzinstrumente sichtbar zu werden: Wesentlich in den Föderalstaaten Amerikas und des deutschen Raumes entwickelt, als Staatsgerichtsbarkeit zwischen den Mitgliedsstaaten entfaltet und legitimiert, haben diese Gerichtsinstitutionen ihre Kompetenzen auf den Grundrechtsbereich immer mehr erweitert, im Namen und aus der Staatsgerichtsbarkeit ist Verfassungsgerichtsbarkeit geworden, als zentraler Beitrag des Föderalismus zur Freiheit der Bürger. Diese historische Analyse trifft zu, die Wirkungen der organisatorischen Freiheitssicherung, in der Schaffung immer neuer Gegengewichte und Reibungen zugunsten des Bürgers, sind unbestreitbar. Dies ist heute die Stärke des Föderalismus, der im Namen der überall verehrten Freiheit erstmals grundsätzliche Dimensionen erreicht. Es kann dies aber auch zu einer Schwäche der Bundesstaatlichkeit dann werden, wenn diese nur mehr als ein Instrument zum Zweck der Freiheit erscheint, nicht mehr als Selbstzweck in sich. Dann läuft die Föderaltheorie die Gefahr der Lehre von der Gewaltenteilung, die auch als solche nie Selbstzweck sein, immer nur ihre Legitimation in der in Teilung gesicherten Freiheit finden konnte: Der Föderalismus steht dann eben, in seinen Einzelausprägungen, vielleicht in seinem Kern, doch zur Disposition der obersten Staatsgewalten, welche hier verschränken, verbinden, ausgestalten können, bis die eigentlichen Grundzüge des Föderalismus verschwimmen. Diese Ordnung hat noch nicht einmal jenen fest greifbaren, letztlich unantastbaren Kern, den man in der Gewaltenteilung doch noch feststellen kann, jedenfalls zum Schutz der Judikative; was muss denn bleiben vom Föderalismus - das Grundgesetz spricht es aus: die Existenz von mehr als einem Land und die Teilnahme dieser beiden oder mehreren Einheiten an der Gesetzgebung, in nicht näher bestimmten Formen. Ist dies eine Garantie wahrhaft föderaler Ordnung? Die Mehrparteien-Wahl-Demokratie zeigt demgegenüber, aus sich selbst heraus, weit mehr an Legitimationskraft. Auch ihr letztes Ziel ist die organisatorische Sicherung der Bürgerfreiheit, doch deren Ausdruck in der freien Wahlentscheidung hat für jedermann Selbstwert und Selbstgewicht. Damit kann sich die föderale Organisation nicht vergleichen; Demokratien gelten auch dort als legitim, wo es in ihnen föderale Strukturen nicht gibt. Wer also Freiheit meint, der muss nicht Föderalismus wollen, schon das große historische Beispiel Frankreichs zeigt es; ihm steht der direkte Weg offen, die Wahl. Und dies gilt für alle Aspekte, in denen heute Freiheit gesehen wird, auch für die Freiheit des Forderns staatlicher Leistungen - sie erreicht den Souverän unmittelbar in der Einheits-Demokratie - mehr noch für den Aktiv-Status der Wahl, der einheitlich und direkt im „einstufigen", nicht föderalen Staat verwirklicht wird.

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Selbst dort aber, wo noch immer das geistige und politische Zentrum der Freiheit liegt, in der Abwehr der öffentlichen Gewalt, in der Ausgrenzungsfreiheit, ist der Föderalismus nicht eine Garantie schlechthin, mit Blick auf diese Freiheit kann man mit ihm sehr wohl auch ins Gericht gehen: Senkt nicht seine sich kapillar nach unten verfeinernde Organisation die Staatsmacht bis in die letzte Hütte hinab, nähert er sich nicht bedrohlich, durch seine bürgernahen Strukturen, den Menschen in freiheitsvernichtender Allgegenwart? Wirft er sie nicht ständig und überall in die Politik, in unablässigen, gestuften Wahlen, bis sie „nirgends mehr alleingelassen werden" von Macht und Demokratie? Die schlimmste Freiheitsbedrohung durch Staatlichkeit ist deren Allgegenwart, am nächsten kommt ihr ein föderales Regime. Föderalismus bedeutet, ernst genommen, den Schachtel-Staat, den wahren Staat im Staate. Auf der Ebene der Gliedstaaten vermag er echte Staatlichkeit, mit all ihren Attributen und Mächtigkeiten, nur aufzubauen, wenn sich „viel an organisierter Macht auch unten konzentriert", von dort aus „noch weiter hinunter wirkt". Bayern, gewiss ein Hort des Föderalismus in Deutschland, konnte diese Rolle nur spielen auf der Grundlage eines innerbayerischen Zentralismus, bis hin zur zeitweiligen Aufsaugung und Verarmung regionaler Strukturen in Franken und Schwaben. Ein glückliches politisches Temperament mochte diese Gefahr in Grenzen halten - dass der bürgernahe Föderalismus nicht nur zur Allgegenwart, sondern zur Vervielfältigung, ja zur Intensivierung der Gewalt führen könnte, ist ein ernstes Problem. „Staat überall" - das ist die freiheitsbedrohende Gefahr eines Föderalismus, der sich nur als Gewaltenmechanismus legitimieren, lediglich als „organisatorische Freiheitssicherung" wirken soll, als weitere Form einer Gewaltenteilung, die doch oft nur eine verschleierte Vervielfältigung der Staatsgewalt gewesen ist. Die große französische Republik wollte sich immer als eine unteilbare Herrschaft verstehen; der Föderalismus, alle Formen von Zwischengewalten waren stets ihr Todfeind. Hier haben diese Bedenken - „Föderalismus gegen Freiheit" die Staatspraxis seit zwei Jahrhunderten geprägt, auch ohne dass dies, soweit ersichtlich, je staatstheoretisch vertieft worden wäre, wenn nicht an einem zentralen Punkt: Föderalismus erschien als die wesentlich antiegalitäre Ordnung; wem aber Gleichheit das zentrale, ja ein überstaatliches Grundrecht ist, wie könnte er Föderalismus als Freiheit begreifen, wo sie doch Vielfalt nicht nur zulässt, sondern fordert? Nie wird man zu einer vollen Legitimation des Föderalismus allein aus Freiheit finden; hervortreten muss vielmehr, was wesentlich hinter ihm steht: die Staatseinung, Freiheit in der Gemeinsamkeit der Zusammenschlüsse. Der föderale Weg der Legitimität führt letztlich über die Einungsidee. Dies allein zeigt auch die ganze Größe des föderalen Gedankens: Er ist mehr als nur ein organisatorisches Mittel zur Freiheit.

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c) Föderalismus - Vervielfältigung

der Einungskräfte

Bundesstaatliche Strukturen werden nur dann die königliche Straße moderner Staatlichkeit tragen, wenn sie erkannt werden als Formen der Vervielfältigung der Demokratie in dem, was auch diese hält: die Zusammenschlüsse und ihre Kraft. Föderale Herrschaft findet wesentlich auf mehreren Stufen statt, auf jeder von ihnen ist Einung. Das politische Spiel der Zusammenschlüsse auf Bundesebene wiederholt sich in Länderparlamenten und -regierungen, die einenden Wahlkräfte werden nicht in der historischen Einmaligkeit des Oberstaats, sondern in der Permanenz der föderalen Wahlbefragungen wirksam. Fast wichtiger noch als die lokale ist heute die temporale Flächendeckung der demokratischen Einungen im Bundesstaat, sie bieten „mehr Einungsgelegenheiten", dem täglichen Plebiszit nähert sich so der Bundesstaat. Nicht allein eine Vervielfältigung der Einungsräume tritt ein, auch die Einungsträger werden, ganz bewusst, multipliziert. Nicht nur, dass nun das eine Volk in verschiedene, in regionaler Vielfalt bestimmte Einigungsvölker aufgespalten wird, der Schwerpunkt aller Föderalismen liegt bei jener Verwaltung, deren wesentlich staatliche Einheit auch noch in Gliedstaatlichkeit - zergliedert wird. Alle bisher beschriebenen Phänomene der Organisationseinung finden darin immer neue Akteure; die Bühne belebt sich, wo sie alle sich ständig um die Herstellung der wichtigsten Einheit des Staates, der Einheit seiner Administration, bemühen - und doch ihren Selbstand nie gänzlich aufgeben dürfen. Der Bundesstaat ist der eigentliche Raum der Organisationseinungen. Bis hinab in den parastaatlichen Gesellschaftsbereich setzt sich dies fort; Landesverbände entstehen allenthalben, in laufender Einung wachsen sie zu Bundesverbänden zusammen und wahren doch einen Selbstand „unten", der jene „oben" erst permanent legitimiert. Der Bundesstaat wird so zu einer Herrschaft, die nie ans Ziel der Einheit kommen darf, stets auf dem Wege dahin aber ihre Einungskräfte freisetzt, in einem Gefühl elastischer Zusammengehörigkeit, das sich täglich in immer neuen Formen der Einung bewährt. Denn nicht nur die quantitative, vor allem die qualitative Vervielfältigung dieser Verbindungs- und Entbindungsvorgänge ist nirgends stärker. Wohlverstandener Föderalismus verbietet die Homogenität von Verfassungen und Einungsformen „oben" und „unten". Jede Form der Gleichschaltung, die nicht nur einen alleräußersten Rahmen vorgegebener Gemeinsamkeit wahrt, ist dabei von Übel. Mit Recht verlangt das Grundgesetz von den Ländern nur demokratische Selbstverständlichkeiten, und es muss liberal, elastisch im Sinne der Anerkennung auch unterschiedlicher Staatsgrundprinzipien in den Ländern verstanden werden, soll der deutsche Föderalismus auf Dauer mehr sein als eine Dezentralisierung von Verwaltung und nachgeordneter Gesetzgebung. Funktionierender Föderalismus akzeptiert qualitative Unterschiede nicht nur im kulturellen, „unpolitischen" Bereich, er muss sie auch in politischen Grundentscheidungen der Gliedstaaten hinnehmen, und darin war das zweite deutsche Reich der Fürsten und Freien Hansestädte, der

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unterschiedlichen monarchischen und parlamentarischen Herrschaftsformen, der Bundesstaatlichkeit näher als heutige, notwendig immer schematisierende Demokratie. Parteienvielfalt sollte eigentlich auch hier herrschen, die Zentralisierung dieser faktischen Herrschaftsgewalten in fast allen Bundesstaaten entlegitimiert den Föderalismus als Einungsraum.

d) Die föderale Stufeneinung Föderalismus ist wesentlich die Form der Staatseinung in Stufen, die einzige innerstaatliche Konstruktion in diesem Sinne. Wenn auch „oben" etwas wie Staatlichkeit entstehen soll, in einer Bündelung von Einungen, die mehr ist als vielfältiges Vertragswerk, wenn die Ausstrahlungen der Zusammenschlüsse, im Spiegel des Föderalismus zusammengebunden, einen neuen Funken höherer Staatlichkeit entzünden sollen, so müssen sie „gerichtet" werden nach „oben", den weiten institutionellen Rahmen dazu schafft die pyramidale Einung im Bundesstaat. Dadurch hat sie sich in der Vergangenheit dem Rätesystem überlegen gezeigt, dass sie die Vielfalt der Einungsträger achtete, ja bewusst potenzierte, sie nicht in Staats- oder parteigeometrischer Homogenität verkümmern ließ. Durch solche Formen ist dagegen im Rätestaat der „Umschlag von unten nach oben" erfolgt, seine föderale Ordnung verwandelte sich in Perfektionierung der Macht von der Spitze her. Nur eine Pyramide der qualitativen Verschiedenartigkeiten aber ist wahrer Föderalismus - weil eben Einung, welche unterschiedliche, daher nicht gleichzuschaltende Träger voraussetzt. Und die große Gefahr des Regionalismus liegt gerade darin, dass er Gleichartiges übereinander baut, die öden Fassaden des Einheitsstaates nur mit wenigen, äußerlichen Putzgesimsen verziert. Stufenbau der Staatsordnung - das mag einen organisatorischen Selbstwert leichterer Überschaubarkeit aufweisen, besser den Bürger erreichen, Herrschaft potenzieren - Staatskräfte spenden auch hier nicht die Teilungen, sondern die Integration von unten nach oben. Im Föderalismus versteht sich der Gesamtstaat als Einung bleibender Vielfalt, er nimmt die Herausforderung der Stufenpyramide an - dass ihre Spitze brechen könnte, die unteren Schichten dann auseinanderfallen, dass dies aber nicht geschehen wird, weil sich jeder Bürger, jede Organisationseinheit der Gemeinschaft in dieser Spitze wiederfindet, sie bejaht und trägt. Die letzte Legitimationskraft des föderalen Stufenstaates liegt aber darin: Hier wird die Staatsgenesis im Staatsaufbau selbst transparent, in Organisation wird dem Bürger das Werden und damit das Wesen seines Staates dauernd vorgespielt. Entschlossen setzt die Demokratie darin die rationale Entzauberung des unerklärlichen Phänomens Staat fort, der nicht nur in seinen Vertretern, sondern in seinem Werden und täglichen Leben greifbar wird - zum Anfassen. „Staat als Verfahren" - das ist zuwenig; „Staat in Einungsvorgängen" muss es heißen, und hat nicht immer die Rationalisierung von Geheimnissen ihre letzte Höhe erreicht in Kategorien der Einung? Davon weiß jene Geistigkeit etwas, wel-

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che Demokratie und Freiheit hervorgebracht hat: die große Gottesidee, in Dreieinigkeit symbolisiert. Steigt man nun herab aus der staatsidealen Ebene des Föderalismus in seine politischen Verfassungs-Ausprägungen, vor allem in Deutschland, dem großen Modellstaat dieser vielfältigen Bundesstaatlichkeit, so begegnet man der Staatseinung auf all jenen Stufen, welche das Wesen des deutschen Föderalismus stets ausgemacht und verdeutlicht haben, dieser pyramidalen Ordnung der Staatseinung.

2. Die Gliedstaaten-Ebene: echte „andere" Staatlichkeit a) Die Chance der „machtfernen Einungen " Die Bundesstaatlichkeit definiert zuallererst die Bundesmaterien; doch sie lebt davon, dass es wesentliche Landesmaterien gibt - „Länder", hier und im Folgenden immer als wahre „Gliedstaaten" der Föderation verstanden. Regionalismus wird sich zu verfassungskräftig, endgültig gesicherten Föderalmaterien entwickeln müssen, oder er wird nichts sein als dezentralisierende Perfektionierung des Einheitsstaates. Die Subsidiarität der Bundeszuständigkeiten - die aber so weit gefasst sind sollte die Länder sichern, sie ist zur schweren Gefahr für sie geworden. Dass im Grundgesetz von ihren Zuständigkeiten nicht die Rede ist, sollte sie, nach dem Willen der Besatzung, als eigentliche Träger der Staatsgewalt ausweisen - es hat ihnen die Legitimation der Verfassungsproklamation ihrer eigenen Zuständigkeiten genommen. Dieses scheinbare Zurücktreten des Bundes bereitet dann rasch den Weg aller Subsidiarität, der immer die große Schwäche dieser Begrifflichkeit war: von der hilfsweisen zur allgegenwärtigen, „nach Bedarf 4 immer mehr primären Zuständigkeit. Sollten aber Einungsräume nicht stets fest abgesteckt sein und bleiben, damit man sich endgültig einrichten könne und müsse, damit dadurch gerade der Einungsdruck erzeugt werde? Wird heute nicht ständig in Deutschland „Einung aus der Länderebene heraus nach oben, in den Bund verlagert", von allen möglichen Kräften, die „unten" den dornigen Weg der vielfachen Zusammenschlüsse nicht gehen und daher von oben befehlen wollen, mit einem Schlag? Wo aber die Basisebene der Gliedstaatenkompetenzen in Gefahr ist, verliert, im wahrsten Sinne des Wortes, der ganze Bundesstaat seine Grundlage, und dann genügt es nicht, politisch ausgezehrte Organismen durch gelegentliche, wohlwollend dezentralisierende Spritzen zu revitalisieren. Gewiss werden die Länder von der Schwerkraft des Traditionellen „nach unten getragen", dort gehalten, im verfassungsrechtlichen Bodensatz: Was noch nie Sache des Zentralstaats war, bleibt eben im Zweifel den Ländern - bald könnte es heißen: was er bisher noch nicht leisten konnte. Es sind dies die Bereiche der Verwaltung und ihrer Organisation, immer weniger aber Sachmaterien, von denen nurmehr Kernbereiche der vielberufenen Kulturstaatlichkeit und der „lokale" Service"

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wirklich der Regelung und Administration der Gliedstaaten verblieben sind. Die Tendenz dahin wird sich kaum umkehren, sondern eher verstärken und verfeinern; daraus sollten die Folgerungen dafür gezogen werden, was dann einem auf dieser Basis ruhenden Föderalismus an Einungsrahmen und Einungskräften noch bleibt. Von föderalen Klagemauern sollte man in die engeren Räume der „Staatseinung unten" ziehen, diese dann aber bewusst besetzen. Es gilt, sich zunächst auf das zu besinnen, was heutigen Landesmaterien gemeinsam ist: Es ist wesentlich der engere, lokale Bezug der Zuständigkeiten, damit stehen die Länder in Provinzialisierungsgefahr, in einer Zeit immer größerer Zusammenschlüsse, aus deren Perspektive sie kaum noch in ihrer Eigenständigkeit sichtbar bleiben. Doch „dort unten" findet sich auch eine Kraft, auf welche sie sich heute stützen dürfen: Ihre verbliebenen Materien haben etwas „wesentlich Unpolitisches" an sich, im Sinne der nationalen politischen Interessen, um die sich im Bunde so trefflich und spektakulär streiten lässt. Nie werden sich also wieder in den deutschen Ländern, es sei denn ganz an ihrer Spitze und mit Blick auf den Bund, jene machtbewussten und machtgierigen Persönlichkeiten befriedigen lassen, in deren Bewunderung Politikromantik so oft ihre Führungsängste verdrängt. Auf Einfacheres muss in den Ländern gesehen werden, was doch aber Einungskräfte auch in einem weiteren politischen Sinn freizusetzen vermag: auf die Einungskraft des (scheinbar) „Unpolitischen", des „Staatstechnischen" und „KulturellGeistigen". Als politologische Erkenntnis wurde, vor allem im Gefolge der Entwicklungen um 1968, die These gefeiert, dass „alles in der Gemeinschaft wesentlich politisch" zu verstehen sei, „politische Wirkungen" zeitige; das Ende des Unpolitischen schien eingeläutet. Die demokratische Verfassung und das traditionelle öffentliche Recht haben es immer anders gesehen: Dort ist von den „politischen", eben den „hochpolitischen" Verträgen die Rede, stets wurden „politische" Wahlen, nach französischer staatsrechtlicher Terminologie, unterschieden von den „élections administratives", Politik in den Kommunen bleibt, trotz allem, Verwaltung. Eine letzte Scheu, „Kulturpolitik" im Wortsinne wahrzumachen, hat die deutsche Staatlichkeit bisher nicht verloren, sie will nicht zu den Pervertierungen früherer Kunstlenkung zurückführen. Es gibt eben doch mehrere Politikbegriffe, viele vielleicht, und nur in einem weiten Sinn sind die typischen, traditionellen Ländermaterien noch dazu zu rechnen, während die Bereiche der „hohen Politik", in der klassischen Trias der „pragmatischen Materien" Äußeres, Finanzen und Krieg, niemals im Kern nach unten verlegt werden können. Dann aber sollten die Länder ihre Chance erkennen: Ihre Ebene schafft „Einungsräume des Unpolitischen", in einem weiteren Sinne, Einungsbereiche der heute immer wichtigeren Staatlichkeit der Dienstleistungen. Dass dieser ServiceStaat dem hoheitlichen Eingriffsstaat gegenübergestellt bleibe, verlangt gerade wohlverstandener Föderalismus, auch und gerade dort, wo die Länder zu Kultur-

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trägem werden wollen: Die Freiheit setzt voraus, dass dies in Hilfestellung, nicht in Macht geschehe, deshalb findet die Kulturhoheit der Länder ihre Legitimation nicht nur in der angeblichen Regionalisierung des Geistigen, die es ganz nie gegeben hat. Auch und gerade nationale Kultur muss vom Staate dienend gefördert werden, dazu aber können grundsätzlich nicht die machtbewussten Entscheidungsträger des Gesamtstaats, es können dazu nur die „weniger politischen Einungsinstanzen unten" taugen. Eine ähnliche „Entpolitisierung" vollzieht sich in der Verwaltungsorganisation, im Verhältnis zu den größeren gesetzgeberischen Entscheidungen, welche sie durchzuführen hat: Deutsche Chance war es stets, dass die Machtdezisionen der nationalen Spitze in den Kanälen technisierter Verwaltungen, die durch Einungen auf niederer Stufe bestimmt waren, die mitreißende und zerstörende Kraft des Hochpolitischen verloren. So völlig unterschiedlich erscheinende Materien wie Kulturhoheit und Staatsorganisationskompetenz finden in diesem Begriff eine letzte, entscheidende Verbindung; sie begründet sachlich, warum hier nicht Einungen an der machtpolitischen Spitze, sondern an der sachpolitischen Basis gefordert sind. Wenn die Länder ihren „Sach-Staat" dem Bund als wesentlichem „Macht-Staat" überzeugt gegenüberstellen, gewinnen sie nicht nur die Chance, sich feste, eben im technischen Servicedenken „unpolitische" Materien zu bewahren, oder doch „die Politik auf ihrer Ebene zu entpolitisieren"; sie können auch an- und dem Machtstreben des Bundes entgegentreten mit der noch immer und wohl auch lange Zeit noch wahrhaft mächtigen „Legitimation des Unpolitischen", der „Machtferne", die jedenfalls politische Kraft nicht in jenen schneidenden Konfrontationen einsetzt, die der Kälte der Spitzenpolitik auf Bundesebene entspricht. Gerade in Deutschland - und auch in anderen europäischen Ländern - gibt es den „völlig durchpolitisierten Bürger" immer weniger, er setzt den Versuchen der Parteien zu einer „totalen Politik" die Schwerkraft einer, wie immer von ihm verstandenen, „Sachlichkeit" oder einfach die Antithese der Politikmüdigkeit entgegen. Wenn die Länder in der Lage sind, dies für sich zu nutzen, Landespolitik als „primären Einungsvorgang" mit einem Zug zur Einstimmigkeit zu betreiben, nicht als ein kleines, notwendig verzerrtes Spiegelbild der größeren Konfrontationspolitik des Bundes, so werden sie in diesem selben Maße den Föderalismus an einer Basis fest verankern, wo eben die Staatseinung „in anderen Formen", näher bei der Einstimmigkeit, abläuft, als „oben", wo sie nur aus ständiger Konfrontation erwächst. Das mag man durchaus auch als eine Rückkehr in die Landschaft beruhigender Kirchtürme sehen.

b) Landeseinung - im Raum des „ natürlich Gewachsenen " Der eigentliche Bereich des Dezisionismus ist die Staatsspitze des Bundesstaats. Dort fallen Einungsentscheidungen, dort wird Einung durch Entscheidung erzwun-

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gen, in Dezision nur zu oft fingiert. Für den Bürger ist es eine Selbstverständlichkeit, dass er auf der Suche nach Entscheidungen auf seine gesamtstaatliche Hauptstadt blickt; im Lande erwartet er den Gaufürsten, den Landesvater, mit dem für ihn die Rückkehr der Könige wieder beginnt, eine Regierung, die lässt, nicht zwingt. Für die Länder gilt das Wort, dass zusammenwachse, was zusammengehört; an der Spitze des Bundes muss Entscheidungskraft dies treiben, die deutsche Wiedervereinigung hat es gezeigt. Deshalb ist auch der Regierungswechsel an der Spitze letzte demokratische Notwendigkeit, die Länder können Jahrzehnte gleicher politischer Konstellationen unbeschädigt überstehen, auch sie werden dann eben zu jenem „Natürlichen", das sie in eine unpolitische Selbstverständlichkeit hinaufwachsen lässt. So findet denn in den Ländern wesentlich das statt, was man eine „stärker situationsgebundene Einung" nennen könnte, hier ersetzen wirklich Traditionen Dezisionen, über Parteiungen hinweg. Hier findet statt, was stets vornehmste Aufgabe aufgeklärter Monarchen war: den Verwaltungsapparat organisatorisch möglichst unpolitisch fortzuentwickeln, Kultur zu umhegen, nicht zu bewegen. In der Langphasigkeit der Kulturentfaltungen wie der Entwicklung der Verwaltungspraxis, welche auf der Landesebene mehr zu orientieren als wirklich zu lenken sind, entfalten Traditionen sogar ihre staatseinende Kraft: Was sich hier fortsetzt, fortgeschleppt wird zuzeiten, sind Einungen von gestern, aus langer Vergangenheit vielleicht her, Tradition wird mächtig als Einung in der Zeit für beschränkte Räume. Da sie schon früher erfolgte ohne die Turbulenzen der „hohen Politik", kann sie beharren, ohne von ihr allzu sehr gestört zu werden, und solche Stöße von oben abzuwehren, ist auch eine zentrale Aufgabe der Landesstaatlichkeit. Aus der Sicht dieser natürlichen Tradition liegt in jeder Landespolitik etwas von wesentlichem Verwalten, das der Kontinuität ganz anders verpflichtet ist als die doch stets diskontinuierliche Bildung des parlamentarischen Volkswillens. Deshalb ist es kein föderales Unglück, wenn die Landesparlamente vor allem „in Gesetzesform zu administrieren haben", in Planungen und Haushaltsentscheidungen. Die Demokratie lehrt, dass alles und überall entschieden werden müsse, dies allein legitimiert ihren Mehrheitsmechanismus. Ein Denken in Staatseinungen verlangt, auch darin die Kraft des Zusammenschlusses zu erkennen, vor allem aber, zugleich und in ganz anderer Form, auf Landesebene „Staatseinung im Zusammenwachsen" zu bewahren. Landes-Ordnung - das ist ein Zustand, in dem weniger gemeinsam entschieden als gemeinsam Gewachsenes bewahrt, eben verwaltet wird. Hier wird das schöne Wort von den „gewachsenen Strukturen" der Staatlichkeit in seine Rechte gesetzt; es ist das seit langem Gemeinsame, das auch nur in solcher Einungs-Liberalität, nicht in der Unruhe geschichtsträchtiger Dezisionen, erhalten werden kann.

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c) „ Genug Raum für die Länder " Wo die Verantwortungsräume eng werden, droht Einungsdenken zu ersticken. Daher müssen den Ländern Zuständigkeiten von Gewicht nicht nur deshalb bleiben, damit sie nicht zum „unnötigen Apparat" degenerieren, sondern vor allem, weil sie sonst wahre Einungskräfte nicht entfalten, nach „oben" abgeben können, der Föderalismus daher überhaupt seinen Sinn verliert. Für eine Zeit mag er die Kraft haben, Landesorganisationen selbst als weithin hohle, kompetenzarme Hülsen zu erhalten; dann wird Föderalismus nur noch weitergespielt in der Erhaltung von Organisationsstrukturen ohne Organisationsaufgaben. Auch dies stirbt auf Dauer ab, wenn es nicht gelingt, auf dieser Ebene Wirkungskreise von Gewicht zu halten, und gerade die Staatseinung verlangt, dass der Bundesstaat die Größe habe, sie sogar neu zu schaffen, in einer Weise, als hätte es sie von Anbeginn gegeben. Zur Disposition des Oberstaates dürfen sie nicht in allem und jedem stehen, bis hin an die Grenze der formalen Existenz der Länder; hier hat die traditionelle Föderaltheorie in Deutschland eine Todsünde gegen ihren Geist begangen. Bringt dagegen der Oberstaat die Kraft auf, seinen Gliedstaaten ihre Kernräume unangreifbar zu garantieren, so sind sie mit diesem letzten Wort stärker als in dem immer prekären ersten der Kompetenzvermutung. Zwei entscheidende Kriterien haben für die Bestimmung der Landesmaterien die bisherigen Darlegungen ergeben: - Es müssen jedenfalls den Ländern die „politikferneren Materien" zur Verwaltung und auch zur Gesetzgebung verbleiben, all das also, worin traditionelle Einungsergebnisse gewachsen sind, oder wo moderne Technik politikferne Einungen erzwingt. Hier müssen die Staatsaufgaben einer Neubewertung unterzogen werden, welche auch säkulare Entwicklungen wieder umzukehren den Mut hat: Die „Polizey", ihrem Wesen nach eine politikferne Sicherheitsveranstaltung, ist, in der Auseinandersetzung zwischen Konservativen, Liberalen und Sozialisten im 19. Jahrhundert, entscheidend und zu ihrem Schaden politisiert worden. Im Landesbereich wird sie sich überzeugend nur dann halten lassen, wenn sie nicht immer als virtuelle Feindin politischer Freiheiten erfasst wird; und gerade diese letzteren kann sie nur in einer Liberalität schützen, welche dann allein eine wahre ist, wenn sie sich politikfern bewährt. Um die - heterogenen - traditionellen Zentralbereiche von Kultur und Organisation können sich neue, verwandte Aufgabenbereiche als ausschließliche Zuständigkeiten der Länder entwickeln. Die Bekämpfung der Kriminalität setzt jedenfalls ein Einungsdenken voraus, das sich auf Landesebene weit besser entfalten lässt als in den hohen Bereichen des Bundes, wo immer etwas von Staatspolizei leben wird, mit einem Zug zum Geheimen. Die hier so notwendige „Flächendeckung" gewährleistet nicht so sehr die „hohe Politik" als vielmehr die bürgernahe Einung. - So viel muss von all diesen Kompetenzen den Ländern erhalten bleiben, dass stets der Umschlag solcher Quantität des Verwaltens in die „ganz andere" Qualität des Regierens, in eine, wenn auch weithin entpolitisierte, Staatlichkeit hinein

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doch noch gelingen kann; denn sonst sind die Länder doch nichts anderes als entpolitisierte Kommunen. Hier muss die Aufgabe ernst genommen werden, die wesentlichen Einungsträger der Bundes-Staatlichkeit auf ihrer untersten Ebene organisatorisch zu erhalten und zu stärken - als wirkliche Staaten. Bisher ist es nie gelungen, zwischen staatlichen und kommunalen Strukturen eine volle Zwischenschicht „typischer Landesgewalt" zu entwickeln; diese aber ist eine staatliche, oder sie ist nicht. Der Oberstaat muss daher die virtuelle Vollstaatlichkeit dieser Gebilde akzeptieren, die von ihm einerseits das Zugeständnis breiter Zuständigkeiten, zum anderen die Hinnahme wahrhaft staatlicher Strukturen, Autoritäten und Würden verlangt. Will er all dies bei sich monopolisieren, so schafft er das Gefährlichste, was eine Staatlichkeit kennt: autonomisierte und doch nicht staatliche Verwaltungen; dann drohen die Landesverwaltungen zu zunftähnlichen Gebilden zu entarten, die nur ihre eigenen Interessen mehr verwalten, gegen alle Staatlichkeit verteidigen. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind für die Länderstaatlichkeit auch symbolträchtige Einrichtungen von den Orden bis zu den auswärtigen Beziehungen der Gliedstaaten. Um all dies findet weithin politikferne Einung statt; die Länder haben die Aufgabe, das in jedem Staat notwendige Maß an Notablierung an der Basis zu sichern, gerade damit es nicht allzu sehr hinauf wirkt in jene „hohe Politik", die von den Volkstribunen der Demokratie beherrscht wird. Auch hier treten die Gliedstaaten in die Spuren der Monarchen der einstigen Territorialstaaten, auch sie sind, wie jene, neue fontes honorum. Vielleicht ist es wahr, dass man sich nicht auf Ehrungen „über der Politik" einigt, sondern unterhalb des Niveaus dieser Kämpfe, wo noch mehr an dauernder Einung erhalten ist. Die klassische Föderaltheorie blickt, vor allem in Deutschland, meist nur „nach oben", zur gemeinsamen Länder- und zur Bundesebene hinauf, die sie angeblich beschränken will, während sie dadurch in Wahrheit nur aufgewertet wird. Es gilt, den Pyramidenbau wieder von unten zu beginnen, dort, wo er immer einsetzen musste, 1871 in Macht, 1945 in Ohnmacht: bei jenen Ländern, die sich durch nichts stärker legitimieren als durch die eigenartigen Formen und Gegenstände der hier laufenden Staatseinung.

3. Von der Landeseinung zur Ländereinung a) Die „Dritte Ebene" - ein föderales Ärgernis? Die föderale Theorie muss wohl doch neu geschrieben, denn sie muss zuallererst „von unten" gesehen werden. Dann aber ist das ganz natürliche Fortschreiten der Landeseinung, über die Grenzen hinweg, zur Ländereinung nicht eine „Dritte", sondern, in der Staatsgenesis, die „Zweite Ebene"; sie zwängt sich nicht zwischen die gegenüberstehenden Mächte der Landes- und Bundesstaatlichkeit, sie ist nicht prekär und mit Skepsis zu betrachten, in ihr wirkt die Staatseinung ganz entschei-

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dend „in das Ganze hinein", auch außerhalb der organisatorischen Strukturen des Bundes. Noch immer wird ja diese „Dritte Ebene" konvergierender Landesentscheidungen, in einem Zweifrontenkrieg, vom Bund wie von den Ländern her, mit Sperrfeuer belegt: Die Bundesgewalten sehen hier eine Beeinträchtigung ihrer ausschließlichen Kompetenzen zur Wahrnehmung politischer Entscheidungen für das Ganze, etwas wie eine Schattengewalt des Bundes; entschiedene Föderalisten aus den Ländern befürchten eine Gleichschaltung derselben, welche ihre eigenstaatliche Existenz auf Dauer überflüssig werden lässt, jedenfalls ihre Bedeutung zunehmend in die gemeinsamen Einrichtungen verlagert. Beide Befürchtungen sind sicher nicht unbegründet, aber eben nur dann, wenn man vom kontrapunktischen Bundesstaat ausgeht, der sich in einem Gegenüber von Bund und Ländern erschöpft. In Wahrheit gibt es auch, heute vor allem, seine „Mitte", er findet sie gerade auf der gemeinsamen Ebene der Länder ohne katalysatorische Wirkungen der Bundesgewalten. Die Staatseinung öffnet den Weg zum Verständnis des staatsgrundsätzlichen Wesens dieser „Dritten Ebene". Sie ist nicht ein Zugeständnis der Länder an „notwendig übergreifende Aufgabenerfüllung", ebenso wenig Ausdruck einer Liberalität des Bundes, der sich in Subsidiarität aus an sich von ihm zu erledigenden Aufgaben zurückzieht. Dass hier solche bewältigt werden, unterliegt keinem Zweifel; dass es in diesen Formen der „Dritten Ebene" gerade geschieht, und eben nicht in zentralistischer Bundesentscheidung, das wird nur in der Erkenntnis deutlich, dass sich darin Staatseinung in besonderen, weder „unten" noch „oben" praktizierten Formen entfaltet. Dieses Phänomen allein legitimiert die weitere Entfaltung der „Dritten Ebene", die unausweichlich erscheint, und zwar als eine selbständige Erscheinungsform des Föderalismus, in welchem dabei die Eigenstaatlichkeit der Länder nicht pervertiert, sondern gerade bestätigt wird.

b) Einstimmigkeits-Einung Einstimmigkeit ist das Ziel, mehr noch der wesentliche Mechanismus, in dem auf der „Dritten Ebene" Staatseinung sich vollzieht. Radikaldemokraten ist es wohl ein Ärgernis, dass hier staatsgrundsätzliche Entscheidungen nicht durch Mehrheitsbildung fallen, dass auch das kleinste Land noch einbezogen werden, dass solange verhandelt werden muss, bis dies gelingt. Ein fast noch größerer Skandal muss es für den Demokraten sein, dass solches in der Staatspraxis sehr viel rascher - und lautlos - geschieht, als in den spektakulären Mehrheitsschlachten an der Bundesspitze. Hier vollzieht sich öffentlichkeitsferne, medienunwirksame und doch höchst effiziente Staatseinung im engsten Sinne des Wortes: dass alle eins seien. In diesen Ministerkonferenzen, vorbereitet durch zahllose Referentenkommissionen, laufen fast unbemerkt ständige Einungsvorgänge permanent ab, auch nicht durch Parlamentsferien unterbrochen; Telefoneinung der Staatlichkeit geradezu wird hier praktiziert. Für den Bürger aber ist dies weithin die unbekannte Staatlichkeit, die

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doch so viel für ihn entscheidet. Dieses staatsgrundsätzliche Phänomen hat man oft beschrieben, kaum je in seiner antidemokratisch erscheinenden Grundsätzlichkeit gewürdigt - sie lässt sich nur erkennen im Namen der Einung, welche hier zur Staateneinung der Glieder des Bundes wird. Demokraten schrecken noch immer die polnischen Spuren der Einstimmigkeit: Kann man wirklich Wesentliches in der heutigen Staatlichkeit derart abgeschirmten Konferenzmechanismen anvertrauen, deren „Geheimdiplomatie" noch nicht einmal, wie doch schon lange im Völkerrecht, unter öffentlicher Kritik steht? Die Wirklichkeit hat die Wirksamkeit bewiesen. Hier wird eben nicht im luftleeren Raum, ohne Schranken und Grenzen, gehandelt und kompromittiert, sondern im „Rahmen" einer Oberstaatlichkeit, die aus ihrer Subsidiarität stets verfassungsregelnd heraustreten könnte. Dieser Einungszwang, mag er auch höchst allgemeinpolitischer Natur sein, genügt in einer funktionierenden Föderalordnung, er wirkt weithin extrainstitutionell. Fassbar werden hier Staatseinungen, die sich wirklich „aus der Natur der Sache heraus" vollziehen, unterstützt durch die „organisatorischen Vorgaben", die in der Landesstaatlichkeit wirksam sind. Was in den Parlamenten stets als Ausdruck eines Willens geschieht, tritt hier als ein Vorgang „sich einender Sachen" hervor. So vollziehen sich Einungen in etwas wie einem „extrainstitutionellen Föderalismus", es zeigt sich, dass Einungen Institutionen weithin ersetzen können; hier laufen sie nicht nur außerhalb von deren Räumen ab, oft geradezu gegen sie, mehr noch: Hier hat die föderale Staatseinung sich ihre eigenen Institutionen geschaffen, jenseits von Bundes- und Landesverfassungsrecht. Zu diesen Praktiken, die eine schon oft institutionalisierte Verfestigung erreicht haben, gehören vor allem die durchaus nicht immer parteipolitisch motivierten Teileinungen unter den Ländern, die sich als laufende Vorstufen notwendiger Kompromisse entwickelt haben. Hier gelingt erneut eine „Entpolitisierung der Parteipolitik", die als bedeutsam für Existenz und Wirken der Länder erkannt wurde. Gerade eine Allgemeinheit, welche nichts weiß von den verschlungenen Wegen der Vorverständigungen und Verhandlungen, reagiert in Schärfe, wenn das Ziel einer wie immer gearteten Einung verfehlt wird; und hier zeigt sich, dass es weit weniger wichtig ist, ob ,»richtige" Einung stattfindet, als dass sie sich vollzieht, um ein gefährliches früheres Wort abzuwandeln, das dies von der Entscheidung glaubte sagen zu können. Ganz praktisch wirkt sich dies auch aus: Jede Einstimmigkeit, und sei sie auch noch so lascher Kompromiss, führt zusammen, bereitet den Weg zu weiteren, unter dem Druck der Umstände dann vielleicht härteren und doch gemeinsam getragenen Entscheidungen. Darin wird die Dritte zur schiefen Ebene, auf der die Kugel der Entscheidung immer rascher mit der Schwerkraft der Einung rollt. c) „ Regierungseinung " Auf der „Dritten Ebene" findet in der Ländereinung eine Überwindung des Repräsentativsystems statt: Nicht die Bürger oder ihre Vertreter schließen sich zu-

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sammen, sondern die „Träger vorläufiger Staatsgewalten", die ihren Parlamenten jedenfalls Rechenschaft schulden, so dass ihre Einung grundsätzlich stets nur vorläufigen Charakter trägt. Politisch sind ja alle diese Absprachen stets „ad referendum" konzipiert, in dem Sinne, dass sie die Billigung politischer Entscheidungsgremien im jeweiligen Lande finden müssen. Dies prägt den gesamten Verhandlungs- und Einungscharakter, weil auf diese Weise an die Stelle des Druckes einer medienerregten Öffentlichkeit das tempus reflexionis tritt, Zeit zum Nachdenken über die Bedeutung solcher Einungen und ihre weitere Perfektionierung. Die wesentliche Geheimhaltung der gesamten Vorgänge im Regierungs- und Verwaltungsbereich, ihre nur sehr teilweise und umrisshafte Veröffentlichung, ist ein weiterer charakteristischer Zug, der aber gerade Einung auch über politischen Gegensätzen ohne Gesichtsverlust erst möglich macht. Die starre Gegensätzlichkeit der Parlamentsdebatten, wo Widersprüchlichkeit zur Legitimation gehört, wandelt sich hier, in abgeschirmten Beratungszimmern, zu ganz anderen Formen der Einung, und mit oft doch gleichen Wirkungen. Wesentlich ist also für diese „Dritte Ebene" unter Einungsgesichtspunkten nicht, auf welcher Höhe und worüber ein Zusammenschluss hergestellt wird, sondern dass sich hier ganz neue Mechanismen, extrainstitutionell, wie bereits dargelegt, entwickeln: Weder die Bürger noch ihre Repräsentanten, auch nicht staatsmachtlose Landes-, sondern Regierungsvertreter, nicht Staats-, sondern Staatenvertreter müssen zueinander finden. Hier wird also Staatseinung einerseits in besonderen Formen einer Para-Diplomatie betrieben, zum anderen zwischen Einungsträgern, die sich als solche in keiner Weise gewalt- oder aufsichtsunterworfen fühlen. Damit entstehen Mechanismen und Grundstimmungen, welche weithin der reinen Verwaltungseinung unbekannt sind, in jener eigenartigen Mischung von Politik und Sachlichkeit, welche eben das Wesen der Regierungsarbeit ausmacht. Zwischen der Sacheinung der Verwaltungen und der politischen Einung im Parlament besteht hier eine neue - und nun wirklich eine „dritte" - Ebene, aber eben eine solche der Staatseinung. Dass sich auf ihr alles langsamer bewegt, ist ein Preis, den die Demokratie für Endgültigkeiten zu entrichten hat, welche sie sonst nicht kennt. Die Föderaltheorie ist heute weithin hilflos in ihren Versuchen der Bewältigung dieser „Dritten Ebene" - und doch bewährt sich gerade hier der Föderalismus in jenen „freien Ländereinungen", wo die Partner etwas von ihrer eigenen, ganz ursprünglichen Staatlichkeit wiederfinden, sich ihrer auch dann bewusst bleiben, wenn sie in Zustimmung anderen folgen, nicht von diesen majorisiert.

d) Modell der „Einung von Staatlichkeiten" Die Entwicklungen der „Dritten Ebene" erschöpfen sich aber in ihrer Bedeutung nicht in der Befestigung von Landeskompetenzen, die wenigstens hier noch übergreifend auch den Ländern bleiben. In Grundstimmung und Verfahren entsteht

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dabei etwas wie ein Modell der Einung von Staatlichkeiten überhaupt, diesmal nun nicht im bekannten völkerrechtlichen Kontext, sondern im föderalen Koordinatensystem. Weil auf dieses internationale Rechtsprinzipien grundsätzlich nicht Anwendung finden können, sind hier andere Einungskategorien zu entwickeln, eben typisch solche der Bundesstaatlichkeit. Nicht nur Regierungsvertreter fassen auf diesem Niveau gemeinsame Beschlüsse, nach gleichen oder ähnlichen Spielregeln vollziehen sich Einungen auf interkommunaler Ebene, aber auch zwischen Landesämtern und anderen Landesbehörden, die dabei jedoch grundsätzlich nicht in ihrer „technisch geprägten Amtsstimmung", sondern als Landesinstanzen, als Vertreter der Landesstaatlichkeit, sich gegenüber- und sodann zusammentreten. Die von den Landesregierungen in den Ministerkonferenzen repräsentierte gemeinsame Landeshoheit setzt sich in den Einungen der herausgehobenen Landesinstanzen und der Träger staatlicher Gewalten in den Ländern fort. Legitim werden damit ganz allgemein Einungen von Regierungsinstanzen im weiteren Sinne in einem elastischen, aber doch durch ständige Praxis - und hier in wahrer Einstimmigkeit - perfektionierten Rechtsrahmen. Die Übergänge zur Verwaltungseinung mögen fließend sein; doch von einer gewissen Ebene an wird bewusst, dass es dabei nicht um die Einung von Beamten geht, von irgendwelchen Zuständigkeitsträgern, sondern von Staatlichkeiten. Der Bundesstaat ist hier angetreten in der Nachahmung völkerrechtlicher Staatenverhandlungen - nun hat er etwas entwickelt, was bei den neuen, supranationalen Zusammenschlüssen überall eingesetzt werden kann, wo völkerrechtliche Kategorien versagen, weil dort eben schon ein weiterer, quasi-föderaler Rahmen in der Entstehung begriffen ist. Entwicklungen auf der „Dritten Ebene" sollen und werden also stets genutzt werden im Europäischen Einungsprozess. Dann aber ist ein Größeres festzustellen: Das Europarecht wird nicht zur Magd des Völkerrechts, es findet gerade hier den Anschluss an die Zentralmaterie allen öffentlichen Rechts, an das Staatsrecht. Wenn das „Europa der Vaterländer" noch lange bleiben wird, so ist gerade den Deutschen aufgegeben, aus ihrer „Dritten föderalen Ebene" heraus nachzuweisen, dass Staatseinung sich nicht nur vollzieht „in Europa oder zuhause", dass sie überall, auf vielen Ebenen Wirklichkeit werden kann. Im Namen der Staatseinung sollte man erkennen, dass diese einen dreifaltigen Souverän fordert: den Bund, das Land - die Länder.

4. Der „Bund" - ein Einungsraum a) Bundesteilhabe der Länder ein gefährdetes Wesenselement des Föderalismus Seit langem lehrt die herrschende Bundesstaatsdoktrin: Dies ist nur eine Staatsform, wenn ihre Verfassung wesentlich bestimmt wird von der „Teilhabe der Glieder an der Willensbildung des Ganzen". Deutsche und nordamerikanische Ent67 Leisner

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Wicklungen - im Letzten eine einheitliche Tradition aus dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches - haben darin stets das Entscheidende jeder föderalen Konstruktion gesehen, was im Grunde allein sie abhebt von allen Regionalismen: In ihnen wirken Autonomien, und seien sie noch so hoch entwickelt, nicht mehr „weiter nach oben", in die Zentren der hohen Staatspolitik. Aus der Sicht der Staatseinung wird damit der Föderalismus zu deren geradezu typischer Regierungsform, seine Grundforderung ist hier so klar wie nirgends sonst verwirklicht: dass „Einung unten", auf der Ersten und Zweiten Stufe des Staatsaufbaus, nun auch ihre Kräfte abgebe, „hinein in den Oberstaat". Doch die Lehre von der „Teilhabe" - in Wahrheit ist es kaum mehr als ein Wort - hat die Erkenntnis des Staates als Einung im Ganzen wohl mehr behindert als gefördert. Nachdem hier ein praktikables Kriterium des Föderalstaates gefunden zu sein schien, konnte eine andere bündische Wahrheit in den Hintergrund treten: dass es stets etwas wie Staaten sein müssen, die sich dabei zusammenfinden. Wenn es allein darauf ankommt, dass diese Gebilde „in den Oberstaat hineinwirken", so könnte solches auch über Kommunalkammern geschehen, morgen mag es sich im Regionalismus allenthalben entfalten. Nur auf die Aktion der Einungsträger wird dann hier gesehen, nicht auf deren Selbstand, der Föderalismus könnte damit aber eine Grundidee der Staatseinung verfehlen: die volle Subjektivierung der Einungsträger. „Teilhabe" ist ein sehr allgemeines Wort, bringt wenig Klarheit darüber, welche notwendige Mitwirkung der Föderalismus verlangt. Feste Grenzen für eine solche Teilhabe lassen sich aber kaum bestimmen; die „Ewigkeitsgarantie" des Grundgesetzes beweist es, wenn hier die Aktion der Länder unaufhebbar nur auf Teilnahme an der Gesetzgebung beschränkt wird, ohne dass, quantitativ oder qualitativ, die Grenzen solcher Mitwirkung näher bestimmt werden. Überdies bleibt Teilhabe stets ein wesentlich quantitativer Begriff, gerade deshalb auch nahezu beliebig einschränkbar: Als qualitatives Moment könnte allenfalls die Mitwirkung an der Gesetzgebung des Oberstaats anerkannt werden; doch dann drängen sich sogleich wieder quantitative Teilungen in „Gesetzgebungskatalogen" auf, wie sie eben den typischen Bundesstaaten wesentlich sind. Auch hier aber kann dann nahezu beliebig die Teilhabe eingeschränkt werden. „Teilhabe" hat also bisher nicht zu leisten vermocht, was aber von einem Grundsatzbegriff des Föderalismus zu erwarten wäre: dass hier sein Wesen erfasst, sein Kern gesichert würde - die Staatseinung. Gefahr droht bei der „Länderteilhabe als Wesen des Föderalismus" aber vor allem daraus: In der „Teilhabe" liegt eben auch, unterschwellig jedenfalls, der Begriff der „Teilung" der Gewalt des Oberstaates, und hier findet diese Doktrin zu dem herkömmlichen Schema der Gewaltenteilung zurück: Ihm geht es in erster Linie um deren Fortsetzung, bis hinein in die Strukturen jener Zentralstaatlichkeit, welche bereits gewaltenteilend den Ländern gegenübergestellt wird. Soll sich denn hier nicht wesentlich nur die Aufteilung der Staatsgewalten fortsetzen, weshalb denn auch der Staatsqualität der Länder, und ihnen als einem Einungsraum, nicht

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allzu viel Beachtung geschenkt werden muss? Entscheidend bleibt dann der Freiheitsgewinn im Nebeneinander und in den Reibungsverlusten immer zahlreicherer verschiedenartiger Mächte. So weit ist die Teilhabe-Doktrin in dieser ihrer gewaltenteilenden Grundstimmung fortgeschritten, dass das „Bündische", die Mechanismen eines Miteinander, nahezu aus dem Blickfeld verschwinden: Da der Oberstaat ja nun in vielfacher Weise gewaltenteilend, freiheitssichernd regiert wird, mögen die Länder auch verkümmern, erhaltenswert erscheinen sie letztlich nur mehr als Kreationsorgane von Bundesgewalten - und als Verwaltungsautonomien; und in einer Zusammenschau dieser beiden, nun nicht mehr Verantwortungsbereiche, sondern lediglich engen Kompetenzen sieht auch eine verbreitete Föderalauffassung in Deutschland das Wesen des Bundesstaates. Darin kann sie dann leicht ihren Frieden mit der stets misstrauisch betrachteten Vielfalt der Länder machen, nachdem diese letztlich nur mehr wirken ad maiorem gloriam der République une et indivisible. Was die Länder hatte sichern sollen, wird zur Legitimation ihrer Kommunalisierung. Und da dies der Grundzug des Föderalismus sein soll, bleibt ihnen keine andere Begründung ihrer Staatlichkeit heute mehr, wenn sie nun nicht endlich wieder gefunden wird - in Staatseinung.

b) Der Bund als Ländergemeinschaft In der föderalen Theorie in Deutschland, wie in der Verfassungswirklichkeit dieses Bundesstaates, hat sich eine wahrhaft erstaunliche Veränderung einer an sich doch so klaren Wortbegrifflichkeit vollzogen: „Bund" - das sollte gerade das Miteinander, das Zusammenwirken der sich einenden Ländergewalten bezeichnen heute steht es im Bewusstsein der Bürger fast ausschließlich nur mehr für geronnene Einung, für abgeschlossene Einigkeit, für mehr noch: für den Oberstaat, für die eine, einheitliche, in sich letztlich geschlossene Zentralstaatlichkeit. Der junge Bürger, der beim „Bund" seinen Militärdienst ableistet, denkt wohl keinen Augenblick daran, dass er hier in einer „Streitmacht vereinigter Staaten" ein „Vaterland deutscher Länder" verteidigen soll; für Bundespost und Bundesbahn waren die Länder Verwaltungsbezirke wie für ihre Nachfolgeorganisationen, ihre Aufgabe besteht darin, über sie hinwegzuwirken, sie verkehrstechnisch einzuebnen. Überall wo Bundesministerien und Bundesämter eingreifen, wird die „hohe Hand" des einheitlichen Zentralstaats fühlbar, nicht ein Zusammenwirken einzelner Träger. Außer Personalquotierungen nach Ländern und Sitzverteilung der Bundesverwaltungen unter sie ist kaum etwas geblieben vom Bündischen, Bund - ist das nicht lucus a non lucendo? Das Zweite Deutsche Reich, mit seinen Armeen und Eisenbahnen der Gliedstaaten, stand hier viel näher bei der föderalen Grundidee: dass die Einung der Länder nicht nur in den Bund hineinwirke, dass sie sich auch in seinem Raum laufend vollziehe, dass die Länder Bundesorgane nicht nur hervorbringen und sie dann in zentralistische Selbständigkeit entlassen. 6*

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Diese alte, längst verschüttete Wahrheit gilt es wieder zu befreien: Der Bund ist nicht Einungsergebnis, sondern laufender Einungsvorgang, nicht nur im Bundesrat - in allen Bundesveranstaltungen müssen Ländereinungen ständig wirksam bleiben. Dies verlangt zuallererst einen bewussten und systematischen Ausbau der Kooperation von Bundes- und Landesinstanzen; im „kooperativen Föderalismus" müssen sich die Bundesgewalten mehr als orientierende Katalysatoren der Einung des Länderwillens verstehen denn als selbständig, landesunabhängig Befehlende. Weit mehr als nur um organisatorische Einzelheiten geht es hier um eine Änderung der Grundstimmung, vor allem bei den zentralen Bürokratien: Die Länder sollten ihre Beamten dorthin entsenden, nicht damit diese sich dann als Bataillone von Staatskommissaren verstehen, wenn möglich gegen die Länder; sie sollten aus ihren Landeserfahrungen heraus im Bunde wirken, durchaus dort, und auch bewusst, weiter Länderinteressen vertreten, sich in deren Namen im Bundesraum laufend einigen. Und es würde dem Bund wohl anstehen, mit den Ländern einen ständigen lebendigen Austausch des Personals nicht nur auf Führungsebene zu vollziehen, sondern auch in „unteren Rängen". Aus dieser Sicht ist eine bundesdeutsche Staatspraxis wahrhaft föderal: dass die Mitglieder der Bundesregierung alle, parteipolitisch und bis in ihren persönlichen Bereich, in den Ländern verwurzelt bleiben, dass sie die Hauptstadt bereisen, nicht bewohnen. Wer im Bundeskabinett sein Landesbewusstsein verliert, ist ablösungsreif. In tausend kleinen organisatorischen und bewusstseinsbildenden Schritten muss der Weg zurückgegangen werden vom Zentralstaat zum bündischen Oberstaat. Am Anfang muss wieder die Erkenntnis und am Ende die Realität stehen: Der Bund steht nicht den Ländern gegenüber, er ist die hochgesteigerte Einung der Länder, nichts als eine andere Form ihres laufend sich bewährenden Zusammenschlusses. Er ist letztlich auch nur ein Raum der Ländereinung in besonderen Formen. Und die alte, nie zu Ende geführte Diskussion über den zwei- oder dreigliedrigen Bundesstaat sollte zu ihren professoralen Vätern versammelt werden: Glieder sind immer nur die Länder in der Föderation; diese Theorien müssen ersetzt werden, im Namen der Staatseinung, durch die Erkenntnis, dass es hier nur um Formen, um Verfahren der Staatseinung geht, auf drei Ebenen: in den Ländern, zwischen ihnen in Einstimmigkeit und in ihrem vollorganischen Zusammenwirken innerhalb der Bundesinstanzen. Wie gleitend hier die Übergänge sind, zeigt gerade, für den letzteren Bereich, die Institution des Bundesrates, in dem die „Dritte Ebene" in die gemeinsame Vollorganisation des Bundes hinaufführt. Entscheidend aber ist: Überall muss Einung sein, nur dies legitimiert auch den Bund. Er erschöpft sich nicht im Zusammenwirken der Länder, denn er steht auf der zweiten, mindestens gleichgewichtigen Säule der direkten Volkswahl. Auch sie ist im Letzten nichts als eine Form der Bürgereinung zum Staat, doch sie vollzieht sich anders als in „länder-bündischen Formen". Darin wird, neben dem festeren organisatorischen Rahmen des Landeszusammenwirkens im Bundesbereich, das

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Wesen des Bundes als Oberstaat zu finden sein: dass er nicht nur die Länder in den eigentümlichen Formen der einheitlichen Bürokratie „zusammenfasst", sondern dass er in der Gesetzgebung neben Ländereinungen auch Bürgereinungen mindestens gleichgewichtig zum Tragen bringt. Darin allein liegt das Wesen des Bundes und seine hier nun aus dem Einungsbegriff zu gewinnende und zu differenzierende „Gewaltenteilung": zwischen Ländereinung und Bürgereinung. Eines aber muss stets wahr bleiben: Der Bund - das sind wesentlich seine Länder, die Bürger in ihnen.

c) „Mehr Macht den Ländern " - dem Bund gegenüber, in ihm „Ein Bund aus Bürgern und Ländern, in ihren Einungen" - das hat nur eine Chance, in auch nur annähernder Gleichgewichtigkeit, wenn die Bundesverwaltung föderalisiert wird - davon war schon die Rede - und wenn auch der Bundesrat ganz zum Föderalorgan wird, dies bleibt noch zu vertiefen. Doch vorher gilt es nochmals zu betonen, dass einer solchen „Föderalisierung des Bundes" keine staatsgrundsätzlichen Bedenken entgegenstehen, dass sie in Staatseinung nur neue Kraft spenden würde. Mehr Gewalt den Ländern in ihren Bereichen - vielleicht sollte es endlich nicht mehr „unten" heißen, denn dieses Wort weckt Hierarchievorstellungen, wie sie der Föderalstaat gerade vermeiden sollte. Dies wird sich nicht durchhalten lassen, wenn immer weiter die antiföderale Priorität des im Gesamtstaat verkörperten Volkswillens betont wird. Hier ist versteinerte Staatsromantik, zumal in Deutschland. „Deutschland über alles" ist zwar in diesem Sinne stets friedlich gesungen worden, doch auch hier darf nichts in historisierender Begeisterung übersteigert werden. Aus der Sicht der föderalen Staatseinung kann keine Rede sein von der Höherwertigkeit des Bundesparlamentarismus. Die Landesgewalten sind in genau derselben Weise demokratisch legitimiert wie die Bundesinstanzen, bei ihnen finden nur andere Einungsvorgänge, mehrstufige statt, von der Bürgerwahl der Landesparlamente bis zur Bundesratseinung. Die Einung der Länder erfolgt weniger spektakulär als die Mehrheitsbildungen des Bundestages, aber sie ist nicht weniger „demokratisch", hat sie doch eher mehr als weniger Einungsgehalt. „Voller Föderalismus", stärkere Föderalisierung des Bundes wäre kein nationales Unglück, sondern eine moderne Entwicklung, unter der Devise „alles aus Einung von unten, nichts aus Befehl von oben". Gewiss - der Föderalismus geht geduldig einen langen Weg durch die Institutionen - sein Credo aber ist es, dass dieser kürzer sein kann als die direkte Straße vom Bürger zum Bundestag, dass auf jenen Bahnen jedenfalls die Entscheidungen stärker aufgeladen werden in Einung. Und dass der direkte Weg staatsrechtlich nicht der kürzeste sein muss, das beweist der repräsentative Umweg über die Abgeordneten anstatt des demagogischen Volksentscheids. Quantitativ mehr an Macht muss der Bund den Ländern überlassen, nicht nur ihre qualitative Selbständigkeit im Entscheidungsmonopol über gewisse Materien

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achten. Bei den Gesetzgebungsmaterien findet seit Jahrzehnten, langsam aber sicher, eine quantitative Reduktion der Länder zugunsten des Bundes statt. Eine entscheidende Niederlage haben seinerzeit die Länder vor dem Bundesverfassungsgericht erlitten, als dieses dem Bund eben doch die Kompetenz-Kompetenz zur Bestimmung der „einheitlichen Lebens Verhältnisse"; und nichts Wesentliches haben daran nun die „gleichwertigen Lebensverhältnisse" geändert, über die eben doch dem Bund das Bestimmungsrecht zusteht, überließ. Gerichtliche Kontrolle mag hier überfordert sein, aus der Sicht des Föderalismus bleibt problematisch, dass einheitliche Lebensbedingungen nicht bündisch wachsen, sondern von oben diktiert werden dürfen. „Rechtseinheit" ist zu einem tabuisierten Wort in Deutschland geworden, seit man über ihre „Verlustliste" vor einem Jahrhundert zu klagen begann. Dafür, dass diese Rechtseinheit sich unitarisch entwickle, sind unglückliche Weichen im allgemeinen Bewusstsein mit dem Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch gestellt worden, in einem Absterbeetat von Landeszuständigkeiten. Wie wenig dies notwendig war, hat Amerika uns gelehrt: Auch mit seinem vielfältigen Zivilrecht hat es die ganze Welt beeinflussen, zunehmend vereinheitlichen können. „Aushöhlung" ist die richtige Kategorie, um das Schicksal der Länder in Deutschland zu beschreiben, von ihr sind sie weiter bedroht, in schrittweisen, langsamen, quantitativen Verminderungen ihrer Kompetenzen. Sollte nicht umgekehrt einmal mit der Aushöhlung des Oberstaates begonnen werden, damit sich dann auch dort, in diesen seinen Höhlen, Einung bewusster entfalte?

d) Instruktion der Bundesrats stimmen „ Politikverlagerung nach unten " Wenn es denn wahr ist, dass politisches Interesse heute nur mehr für Hochpolitisches besteht, so dürfen die Länder in ihren Bereichen nicht mehr auf „niedere Politik", auf die Verteilung kleiner Münzen an den Bürger beschränkt bleiben; und da dies nach dem Wesen der Sache in ihren ausschließlichen Bereichen nicht möglich ist, muss deren Potenzierung sich verbinden mit einer Verstärkung ihres Einflusses nicht nur gegenüber dem Bund, sondern in ihm selbst. Wege stehen durchaus offen, um solche bundesrelevanten Ländereinungen aus der Landesebene in die Ebene des Oberstaates zu heben, man denke nur an die „Instruktion der Bundesratsstimmen". Diese heilsame, früher noch oft geübte Praxis der Diskussion und Vor-Entscheidung in Landesparlamenten ist heute so weitgehend aufgegeben worden, dass damit ein entscheidender Kraftquell der Staatseinung im Föderalstaat zu versiegen droht: Als die Wiedervereinigung kam, da erwachten die Länder aus ihrem Dornröschenschlaf, sie verlangten mit einem Mal eine Mitsprache in hochpolitischen Angelegenheiten, die sie aber gerade selbst sich in parlamentarischer Enthaltsamkeit seit Jahrzehnten genommen hatten, und deshalb erschienen sie auch hier nun nicht als „voll legitimiert", die höchste nationale Frage mitzuent-

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scheiden. Die Länder sprechen im Bundesrat mit den Stimmen ihrer Regierungen, zuwenig aber wird deutlich, wie diese Worte, wie dieser Wille nun in Einung auf unterer Ebene gebildet wird. Dass dies in Regierungsgremien geschieht, sollte als Einungsform nicht gering geachtet werden; doch gerade in der Demokratie bedürfte es noch der „höheren", der parlamentarischen Weihe. Nur dann also wird sich eine wirkliche Aufwertung der Länder im Bundesbereich, allenthalben, vollziehen, wenn im Bundesrat, aber nicht nur dort, Landesworte gesprochen werden, die in Landesparlamenten vorentschieden worden sind, bis in Einzelheiten hinein. Und warum sollten dort nicht auch Finanzentscheidungen, ja außenpolitische und militärische Dezisionen fallen? Können sich die Landesabgeordneten nicht als parlamentarische Miliz fühlen, welche den Berufssoldaten, -beamten und -Parlamentariern des Bundes gegenüber - mit ihnen zusammentritt? Wenn es schon „pragmatische Materien" hier geben muss, die den Landesentscheidungen entrückt sind - können Länderstimmen nicht im Konzert der hohen Politik vernehmbar werden, beladen mit den ganzen Einungskräften des Wegs vom Landtag zum Bundesrat? Die Vielfalt der politischen und rechtlichen Länderkonstellationen können hier fruchtbar werden, in dieser Instruktion der Bundesratsstimmen, und, über sie hinaus, bei allen Landesäußerungen im Bundesbereich: in der Kabinettseinung, in der Parlamentseinung der Mehrheiten, ja sogar noch in plebiszitären Formen eines Volksentscheids, der hier weniger unter Demagogiebedenken steht, nachdem er nur immer eine von mehreren Stimmen zu modulieren vermag. In den Bundeseinungen - dies ist eine allgemeine Forderung - muss wieder weit mehr an Voreinung der Landesbereiche sichtbar werden, sonst wird die politischdemokratische Legitimation der Länder auf Dauer ausgezehrt, ihre Einungskräfte sehen sich auf lokale Technik beschränkt, die Kommunalisierung ist nicht abzuwenden. In der Instruktion der Bundesratsstimmen muss etwas wie eine „Politikverlagerung der nationalen Anliegen nach unten" sich vollziehen, gerade wenn wesentlich „politikfernere Materien", wie Kultur und Staatsorganisation, eigentlicher, ausschließlicher Landesbereich sind. Das für die Staatseinung gefährliche „Montgelas-Syndrom" - harte Zentralisierung auf Landesebene, Abbruch der Einungspyramide unter dieser, zugleich sich abkapselnde Selbstbeschränkung der Landesgewalt - kann nur verhindert werden, wenn den Landesgewalten „nach oben" etwas Wesentliches, Hochpolitisches zu tun bleibt, indem sie „in den Bund hinein" ihre vor allem parlamentarischen Einungskräfte abgeben - die sie dann „von unten" wieder aufladen. Landtagswahlen hat man zu Unrecht kritisiert - und nur betrachtet - als Erscheinungen einer permanenten, sich vielleicht „zu Tode wählenden" Demokratie. Hier ist nur der einungsfeindliche Primat des spektakulären Mehrheitsschlages am Werk. Demokraten müssen den Mut zur permanenten Volksbefragung aufbringen, weil nur sie Einung - nicht Einheit - gewährleistet; und die Landtagswahlen können durchaus verstanden werden als „indirekte Bundeswahlen". Wenn dadurch

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allzu sicher regierende Zentralstaatsmehrheiten destabilisiert wurden, so hat gerade immer darauf die Legitimation der Bonner Demokratie beruht. Doch diese Wahlen müssen mehr sein als offizielle Meinungsumfragen in besonderer Form, als ein Stimmungsbarometer. In ihnen müssen Vorentscheidungen fallen, Staatseinung auf anderer Ebene. Der Wechsel von Bundesratsmehrheiten hat diese Chance bewusst werden lassen, sie darf allerdings nie in rein parteipolitischer Konfrontation verspielt werden; es gilt, hier vielfältige Länderverantwortlichkeit zu beleben, die sich zu höchsten Bundesentscheidungen zusammenschließen. Die Doktrin der „Teilhabe am Bund" musste kritisiert werden, in ihren bisherigen antiföderalen Auswirkungen. Doch wirkt auch hier eine wesentliche BundesWahrheit: Es gilt, diese Teilhaben neu zu bestimmen, zu verallgemeinern, aber auch zu vertiefen. Dies nun kann - es zeigte sich schon bei der Instruktion der Bundesratsstimmen - vor allem über den Bundesrat geschehen, hier wirken „die Länder als Bund", in eigentümlichen Einungsformen.

5. Der Bundesrat - eine eigenständige föderale Einungsform a) Keine Zweite Kammer parlamentarischer

Einungsformen

Der Begriff des „Zweikammersystems" hat in den vergangenen zwei Jahrhunderten eine wenig bemerkte Entwicklung genommen, die aber für den Föderalismus fatal sein könnte: Der politische Primat des allgemeinen Wahlrechts hat dazu geführt, das Parlament und seine Legitimation letztlich gleichzusetzen mit dem volksgewählten „Unterhaus". Diese englische Entwicklung, welche die Erste Kammer zur Zweiten, ja zu einem parlamentarischen Ärgernis degenerieren ließ, hat in das Zweikammersystem eine politische Grundstimmung getragen, welche es in einer gleichgewichtigen Form nur dort voll legitim erscheinen ließ, wo auch die „andere Kammer auf allgemeine(re) Wahlen zurückgeführt werden kann". Frankreich und Italien haben daraus dann Anregungen für ihre Senate gezogen - ein Zweikammersystem mit verschiedenen Wahlrechten. Nachdem sich ähnliche Entwicklungen auch in den Vereinigten Staaten vollzogen haben, ist es fraglich, ob das föderale Zweikammersystem, das dieser Staatsform eigen und wesensgemäß ist, sich in einer anderen Konzeption überhaupt noch halten lässt, ob es nicht nur an der Unmittelbarkeit gemessen wird, mit der seine Zusammensetzung auf den nationalen Wählerwillen zurückzuführen ist. Diese Grundstimmung hat sich - unterschwellig - auch in Deutschland durchgesetzt, deshalb wird seit langem dem Bundestag eine, wenn auch nicht näher definierte, geschweige denn begründete, Vorrangstellung im deutschen Parlament eingeräumt, und nicht nur aus geringeren Kompetenzen des Bundesrates heraus, die heute eher als eine Folge von dessen geringerer Legitimität verstanden werden. Hier gilt es völlig umzudenken. Die Legitimation der Zweiten föderalen Kammer - die hier eigentlich ein Oberhaus, also die Erste sein sollte - ist in keiner

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Weise geringer als die der unmittelbar volksgewählten Versammlung, sie ist lediglich von anderer Art, weil eine andere Form der Staatseinung. Hier treten nicht Menschen, sondern Staatlichkeiten zusammen, andere Einungs- und Entscheidungsmechanismen wirken als die harte Mehrheitsbildung in den volksgewählten Parlamenten. Es muss daher zu einer Aufwertung des Bundesrates kommen, im Grundsatz kann es im Bundesstaat nur ein volles Zweikammersystem geben. Und die Länder, welche im Bundesrat in Staatseinung zusammentreten, repräsentieren eben nicht nur außerstaatliche, „rein gesellschaftliche" Mächte oder Traditionen, was man dem Britischen Oberhaus vorhalten mochte, das sich allerdings früher in ähnlicher Weise legitimierte wie heute der Bundesrat: als ein Organ des staatstragenden Feudalföderalismus des englischen Adels, und damit auch nur als ein eigenartiger Raum, als eine besondere Form der Einung. Zu betrachten sind nun die Eigenarten des Einungsprozesses im Bundesrat.

b) Die Regierungseinung Wenn Staatlichkeiten durch ihre Vertreter sich einigen, so ist dies ein „ganz anderer" Vorgang, als wenn Vertreter der Bürger zusammenkommen; bei der Betrachtung der „Dritten Ebene" hat sich bereits gezeigt, was es bedeutet, dass Regierungsvertreter hier gefordert sind. Bei zwischengliedstaatlichen Einungen läuft dies einerseits in paradiplomatischer, völkerrechtsähnlicher Freiheit ab, zum anderen wird diese Ebene vom Grundsatz der Einstimmigkeit beherrscht. Im Bundesrat dagegen gilt jenes Majoritätsprinzip, das zwischen eigentlichen Staaten eine begrenzte Ausnahme sein muss, nur vorstellbar in einem engeren institutionellen Rahmen, der allerdings hier durch dieses „Bundesorgan" geschaffen wird, welches eigentlich doch nichts ist als ein Organ der Länder, als welches der Bürger es auch versteht. Dennoch bleiben wichtige besondere Formen der Staatseinung zwischen diesen Regierungsvertretern deutlich. Die verhandlungspolitische Grund-Stimmung ist schon eine völlig andere. Hier beraten und stimmen Amtsträger, die schon auf der „Dritten Ebene", in zahllosen informellen Kontakten, an Einung gewöhnt sind, nicht an Einstimmigkeit. Dies sind Minister und Regierungschefs, die sich als solche eben „zuhöchst" fühlen, untereinander und mit ihresgleichen wesentlich auf einer paradiplomatischen Gleich-ordnungsebene zu verhandeln gewohnt sind; „Abgeordnetengleichheit" im Bundestag ist demgegenüber weder politisch noch rechtlich ein vergleichbares Phänomen. Als Regierungschefs und -mitglieder sind sie häufig, fast schon in der Regel, daran gewöhnt, „in ihren Ländern in Einungen zu entscheiden", unter dem Zwang von Koalitionsverhandlungen oder in der Notwendigkeit, Strömungen der eigenen Parteien und Fraktionen zu bündeln. Von vergleichbaren Zwängen befreit das „freie Mandat" weitestgehend den Abgeordneten, der zwar auch an seinen Wahlkreis und seine Partei gebunden bleibt, dennoch aber

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„Einungen nicht vergleichbar in seinem politischen Gepäck mitbringt". Die tägliche Arbeit, der Erfahrungshorizont eines Regierungsvertreters sind in ganz anderer Weise von festgefügten Kollegialitäten bestimmt als die eines Abgeordneten: Im Zentrum der politischen Wirksamkeit stehen die Kabinettssitzungen, außerhalb von ihnen die ständigen Einungsnotwendigkeiten mit den Kollegen. Nicht vergleichbar ist dies mit jenen Ausschuss- und Fraktionssitzungen, in denen, in großem Rahmen und in wechselnder Besetzung, weit weniger die Einung der Kollegialität wirkt. Erster Beruf des Regierungsvertreters ist stets die Wahrung der Landessouveränität in seinem Bereich, auch wenn er Stimmen im Bundesrat führt. Damit tritt er als Vertreter „politisch vorgeeinter Einungsträger" in die Arena des Bundesrates, nicht nur als Repräsentant von innerparteilichen Einungen, denen stets weit größere Flexibilität, ja Wechselhaftigkeit eigen ist. Deshalb findet auch im Bundesrat nicht zuallererst Einung zwischen Parteien statt, sondern eben doch zwischen den Gliedstaaten des Bundes. Dies ist auch heute noch Realität in Deutschland, obwohl es Parteipolitik immerhin, zum Unglück des Föderalismus, vermocht hat, auch dort die „Länderfraktionen" wirksam werden zu lassen, obwohl es manchen heute nur darum zu gehen scheint, aus ihren Parteizentralen die Frontstellungen auch in die Zweite Kammer zu tragen, die sie dann wirklich zu einer solchen degradieren, als Totengräber einer föderalen Idee. Der Bundesrat muss eine „Landesfürsteneinung" bleiben oder wieder werden, sonst verliert er entscheidend an Legitimation; ein „neues Oberhaus" ist hier gefordert, und durchaus auch mit etwas von einer „demokratischen Aristokratie", die heute so not tut. Über alle Stimmenmajorisierung hinweg kommt es daher in einem föderal funktionierenden Bundesrat zu einer eigenartigen Verbindung von Einstimmigkeit und Mehrheitsprinzip, wie in so manchen internationalen Organisationen, in denen die stärkere ablaufmäßige Verfestigung, bis hin zu den Abstimmungen, doch nicht die völkerrechtliche Grundstimmung der Vertraglichkeit völlig aufhebt. Der Bundesrat ist eine Dauerinstitution, doch das politische Gravitationszentrum seiner Akteure liegt nicht in der Hauptstadt, sondern in den Hauptstädten - in den Bundesgliedern. Darin bereits kommt dies zum Ausdruck, dass hier „Stimmen über Personal geführt" werden, dass nicht Persönlichkeiten „ihre" Stimme abgeben. Sie sind eben, als solche, verwurzelt in Ländern, daher grundsätzlich austauschbar im Bundesrat, es fehlt jene Höchstpersönlichkeit, die den Abgeordneten in allem und jedem auszeichnet. Höchstpersönlich unentbehrlich sind diese Gestalten nur dort, wohin sie im Grunde gehören: in ihren Staaten. Auch Abgeordnete befahren die Hauptstadt, auch sie haben ihre Basis in Ländern, doch dies ist eben etwas anderes, als wenn dort ein Regierungsamt mit seiner ganzen Verantwortung wartet. Die „ganze Persönlichkeit", mit welcher der Abgeordnete in seiner Versammlung wirkt, bringt der Akteur des Bundesrates - denn mehr ist er nicht - erst in seiner Hauptstadt zum Tragen, am gemeinsamen Regierungsort führt er nur eine Stimme;

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darin liegt etwas von einer geradezu transpersonalen Amtlichkeit des Handelns eben für einen anderen Einungsträger. In der Zeit kommen die vertretbaren Regierungsmitglieder auch nicht laufend, nicht kontinuierlich zusammen. Zu einem basisgelösten Corpsgeist im Sinne der Abgeordnetenkollegialität kann es daher nicht kommen, jedenfalls wird das Corps, der Bundesrat, organisatorisch nicht übermächtig; ganz natürlich entspricht dem der wechselnde Vorsitz, welcher die Zeitflexibilität der Einung zwischen den Regierungsmitgliedern widerspiegelt. Nicht zuletzt aber: Hier treffen wesentliche Befehlsträger zusammen, nicht gewaltunterworfene Bürger, die sich im Rund des Parlaments einmal am Machtspiel beteiligen dürfen. Außerhalb seines Mandates ist der Abgeordnete doch nur ein Bürger wie alle anderen, fast stets in die Passivität des Befehlsempfangs gedrängt. Jene „Barone" im alten feudalen Sinne, welche sich im Bundesrat zu einigen haben, vergessen aber nie, dass sie auch außerhalb dieses Raumes einen Staat vertreten, der ihnen Würde und Gewicht verleiht. Ebenso deutlich ist ihnen stets, dass sie sich nicht als Personen, sondern für ihre Staatsapparate einigen, in die hinein sie ihre gemeinsamen Befehle weiterleiten. Es sind schon ganz andere Vorgänge, wenn sich Befehlshaber geeinigt haben - oder die stürmende Truppe, selbst wenn nur diese dann die Entscheidung bringt.

c) Die Einung der kleinen Zahlen Dass wenige sich leichter und anders zusammenschließen können als große Versammlungen, die eben in aller Regel nur der Mehrheitsbildung fähig sind, ist eine wenigstens plausible These. Die geringe Zahl der Akteure im Bundesrat hat von den Anfängen einer zweiten föderalen Kammer an deren Effizienz gesichert, vor allem aber ihr Einungsverfahren bestimmt. Hier treffen Persönlichkeiten zusammen, die sich in aller Regel eben auch persönlich kennen, die untereinander aus vielen anderen Einungskontakten, vor allem der „Dritten Ebene", bekannt sind. Dass dies ein gänzlich anderer Ausgangspunkt für das Einungsverfahren im Bundesrat ist als die Anonymität der Großfraktionen des Bundestages, liegt auf der Hand. Es ist hier im besonderen auf seine Einungsaspekte zu untersuchen. Alle Akteure werden in vollem Umfang einbezogen in Einungsvorgänge des Bundesrates, es wirken oft, aber doch nicht immer die für die großen Abgeordnetenparlamente typischen Formen einer „Voreinung auf Fraktionsebene", in welcher bereits, mehr oder weniger formalisiert, gewisse Personen oder Gruppen majorisiert, damit von der eigentlichen Einung ausgeschlossen werden. In Diskussionen und Abstimmungen wird denn auch jeder Stimmführer, virtuell jedenfalls, voll integriert. Die Grundstimmung der Einung weniger verbietet bereits als solche die Isolation einzelner Personen und Meinungen, bei so wenig Zahlreichen lässt sich niemand ausschließen, es gilt, ganz anders als im Bundestag, ein Prinzip der Inklusivität. Qualitative oder quantitative Macht- und Einflussunterschiede treten viel

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weiter zurück. Die kleine Zahl der bereits vorgeeinten Stimmenführer, und selbst der parteipolitisch gemeinsam geprägten Träger derselben Auffassungen, entfaltet die erhöhte „Selbstintegrationskraft der kleinen Gruppe", die sich nicht in politischer Exklusivität zusammenschließen muss. Das Phänomen des Hinterbänklers ist unbekannt, Einpeitscher braucht es nicht zu geben, auch die letzte Stimme kann noch bei der Einung mitwirken, wird zu ihr häufig gebraucht. Was die Föderalkammer an Festigkeit verliert in der Diskontinuität ihrer Akteure, in der Notwendigkeit, bei Kompromissen stehen zu bleiben, Entscheidungen immer wieder zu flexibilisieren, das gewinnt sie an Festigkeit wieder durch jenes Abänderungsverbot, unter dem erfahrungsgemäß gerade die kleine Gruppe steht: Was unter wenigen, wohl vorbereitet, ausdiskutiert worden ist, unterliegt nicht der aufbrausenden Änderungsversuchung der großen Zahl. Vor allem aber läuft das Einungsverfahren hier ab in einer Chambre de réflexion, die sich zuallererst das tempus reflexionis stets bewahren kann, weil eben nur unter Wenigen nachgedacht wird, alle aber auch einzubeziehen sind. Die Zeit kann hier sinnvoll verwendet und aufgeteilt werden, unter Hunderten von Abgeordneten wäre sie zum Nachdenken nur vergeudet. Derartige Besonderheiten der kleinen Zahlen prägen das Einungsverfahren, sie sollten bewusst immer mehr entwickelt werden. Vor allem aber unterscheidet sich dies von anderen, institutionalisierten Staatseinungen durch die so einungswichtige besondere Vorbereitung des Zusammenschlusses. Hinter den wenigen Stimmführern steht eine unübersehbare Bürokratie, unter ihnen werden Spezial-Pyramiden von Staatsexperten laufend tätig, die sich ebenfalls untereinander seit langem kennen, vor allem auf der „Dritten Ebene" in ständigen Kontakten stehen. Für sie ist die Bundesratseinung nur eine herausgehobene Form vieler anderer Zusammenschlüsse der Länder, deren Ministerien beschäftigen sich damit wie mit einem besonders wichtigen Handelsobjekt unter vielen. Miteinbezogen werden also hier, in Kompromisse und Gemeinsamkeiten, auch alle anderen zwischenstaatlichen Einungsbereiche, der Bundesrat zeigt nur einen besonders herausragenden Teil des Einungsmechanismus der Länder. Bei solcher Vorbereitung ist Vorsicht die notwendige Folge, weil fast alle Konsequenzen hier nun wirklich vertiefend durchdacht werden können, von den „technischen Verwaltungen" im Einzelnen geprüft werden. Hinter den Bundesratsstimmen stehen Faktenerfassungs- und Planungspotentiale von unverhältnismäßig größerem Gewicht und ganz anderer Vielfalt, als sie dem Bundestag, trotz all seinen wissenschaftlichen Diensten und Hilfsmitteln, je zur Verfügung stehen können. Daraus entfaltet sich ein völlig anderes „Planungsdenken" in dieser Kammer, welche mit der Überschaubarkeit der Reaktionen vergleichbar weniger Partner stets rechnen muss, aber auch kann. Zufallseinungen kennt dieser Föderalismus kaum, Emotionen verlieren sich in bürokratischer Kühle. Aus all dem folgt letztlich eine gewisse Entpolitisierung der Einungsvorgänge, eine Flexibilisierung jedenfalls der Parteiengrenzen, trotz - zunehmender - Teilung und Vor-Einungen in „A und Β "-Länder.

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Dass Vernunft bei wenigen stets gewesen, stellt die föderale Kammer der Nachdenklichkeiten eindrucksvoll seit langem unter Beweis. Ihre Stimmführer geraten immer mehr unter den politischen Legitimationsdruck, den die vielen direktgewählten Abgeordneten, die massierte Repräsentanz des Volkes, auf sie ausüben. Auf diesen föderalen Bänken müssen sich daher Argumente entwickeln gegen verdrängende politische Macht. Nicht selten findet der Bundesrat zu Haltungen, die als Bremsungen erscheinen, hinter denen in Wahrheit aber etwas wie ein Anti-Dezisionismus der wenigen, vergleichsweise politisch Machtlosen steht, die aus der „unteren" Ebene der Länder vor allem durch ihr Räsonieren in die hohe Politik hineinwirken. Die vielen, allzu vielen Vertreter der zahlreichen souveränen Bürgerschaften werden letztlich nie anders entscheiden als in einem stat pro ratione voluntas - über dem Bundesrat steht ein stat pro voluntate ratio. Allein die Integrationskraft der Sachargumente kann die Komplexität der Ländergewalten zusammenführen, nicht der Blick auf einen gemeinsamen Gegner. Den Wahlparlamenten sind solche Einungsformen durchaus nicht völlig unbekannt, Vergleichbares findet dort in den Parlamentsausschüssen statt. Doch beim Bundesrat ist dies Systemgrundlage, er tagt als „commission en permanence", mit allen rationalen Vorteilen dieser Arbeitsweise für die Einung; und er bleibt sogar insgesamt doch etwas wie ein „Ausschuss ohne Plenum", braucht sich von dessen Aufschwüngen nicht „aus der Vernunft werfen zu lassen". Etwas noch bringen schließlich die Wenigen in diese Einungsprozesse zwischengliedstaatlicher Vernunft ein: Von allen Seiten werden hier, virtuell jedenfalls, alle Interessen vertreten, um deren Ausgleich es in Einungen geht, Interessenvertretung im parlamentarischen Sinn findet im Bundesrat nur abgeschwächt statt. Zwischen interessenvertretenden Abgeordneten gegenläufiger Belange sind Diskussionen und Abstimmungen stets die Regel, Einungen die Ausnahme. Im Bundesrat sitzen, im wahren Sinne des Wortes „wenige Gleiche" zusammen - die beste Voraussetzung für wirklichen Zusammenschluss, nicht vielleicht für schneidende Entscheidung. Minister und Regierungschefs der Länder sprechen, über parteipolitische Grenzen hinweg, die gleiche Sprache, weil sie Träger von einerseits natürlichen, zum anderen von in ihren Ländern bereits politisch vorgebündelten, aber meist von gleichen Interessen sind. Sie können ganz anders zusammenfinden als Vertreter von industriellen oder Arbeitnehmer-Interessen im Parlament. Wenn deshalb irgendwo in der heutigen Demokratie die Chance ideologiefreier Einung besteht, so in diesem Bundesrat, der die „kleine Ideologie" zuhause in seinen Hauptstädten lassen, die große dem volksgewählten Parlament überlassen darf.

d) Die Bundesrats-Einungs-Materien Dem Bundesrat kommt heute keine allgemeine Mitentscheidungsbefugnis zu, obwohl eben dies die Folge eines wahren Föderalismus wäre, diesen auch aus den Ländern heraus wohl entscheidend aufwerten könnte. Geht man von dieser Grund-

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entscheidung der deutschen Verfassungstradition aus, die nur solange gerechtfertigt ist, wie den Ländern, jenseits des Bundes, ein wirkliches Eigengewicht bleibt, so gilt es nun, in der Verfassung die „Bundesratsmaterien zu bestimmen". Hier eröffnet sich eine entscheidende staatsrechtliche Problematik, die Lösung darf kein verfassungsrechtlicher Zufall sein. Ausgewählt werden müssen insbesondere jene Komplexe, welche den Einungsträgern und ihrem Verfahren im Bundesrat in besonderer Weise entsprechen. Dies können nur die wahrhaft staatszentralen, die „ganz hohen" Bereiche der hohen Politik sein, diejenigen Komplexe, auf die sich auch Staaten noch auf Dauer verständigen können, unbeschadet ihrer Souveränität - denn diesen Begriff sollte es auch wieder für die Gliedstaaten geben. Materien, in denen sich auch souveräne Staatlichkeiten zusammenschließen können, ja müssen, muss eine grundsätzliche und dauernde Bedeutung eigen sein, Instrumente großer, dauernder Herrschaft allein können hier Entscheidungsgegenstand werden, wo alle staatlichen Einungsformen, von der Wahl bis zur Bundesratseinung, zusammenwirken. Eine Überordnung der „hohen" Bundespolitik über landespolitische Einungen ist nur hinnehmbar, wenn über den „einfachen Bundesentscheidungen" wiederum solche stehen, in welche auch die Länder eingebunden sind. Eines allerdings widerspricht dem Grundgedanken der Staatseinung: Die heute weithin gebilligte Kompensation von Eigenrechten der Länder durch Zustimmungsrechte des Bundesrates: Verschiedenartige Einungen können nicht gegeneinander aufgerechnet werden, und ein Verlust der Selbständigkeit der Einungsträger „unten" ist immer zugleich auch eine Schwächung ihrer typisch einzelstaatlichen Einigungskräfte im Bundesrat; dessen Majoritätsverfahren ist nicht ein Minus, sondern ein schwächeres aliud gegenüber der Eigenbestimmung in den Ländern. Sinn der Zustimmung des Bundesrates ist es nicht nur, die Länder und ihre Rechte zu schützen; dadurch sollen Entscheidungen herausgehoben werden aus der parlamentarischen Zufälligkeit. Die Normstufe der „einfachen Gesetze" wird auf diese Weise nochmals, und politisch sehr wirkungsvoll, untergliedert. Aus der Sicht der Staatseinung legitimiert sich dies zwanglos: Diese Entscheidungen sollen von einer anderen, stabileren Qualität der Einung getragen werden als sie in den wechselnden Mehrheiten der Volksvertreter zu erwarten ist. Daher muss dies die Schicht von Normen und Maßnahmen sein, die wahrhaft den bundesstaatlichen Staatsrahmen im Ganzen bestimmen, nicht nur eine Abgrenzung zwischen Bund und Ländern leisten. Die notwendige Aussagearmut der Verfassung ist nur hinnehmbar, wenn sich materielles Verfassungsrecht, grundsätzliches Rahmenrecht des Gesamtstaates, in den Zustimmungsgesetzen entfaltet. Abschied ist zu nehmen von der herkömmlichen Vorstellung, der Bundesrat solle nur in Aktion treten, wo die Länder bedroht sind: Er ist gefordert, wo der Staat gerade durch diese besondere Einung getragen sein muss. Deutlich weist den Weg das Grundgesetz in jener Bestimmung, die auch die „politischen Verträge" des Bundes der Zustimmung der Zweiten Kammer vor-

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behält. Diese Kategorie gilt es, in entschiedenem Föderalismus, ausdehnend zu interpretieren, sie muss für alle völkerrechtlichen Vereinbarungen von politischem Rang gelten, so ist sie gewollt, dies allein entspricht der Einschaltung gerade des Bundesrats: In ihm findet ein völkerrechtsähnlicher Einungsvorgang im Bundesstaat statt, damit setzen sich, ganz natürlich, die völkerrechtlichen Einungsmechanismen der internationalen Verträge ins innerstaatliche Recht hinein fort; die gesamtabwägenden Einungsgrundstimmungen entsprechen sich.

e) Staatsfinanzen Entscheidende Bundesratsmaterien sind von jeher die Finanzen, und dies, gerade aus der hier dargestellten Einungstheorie heraus, mit besonders gutem Grund. Verteilungsschlüssel zwischen den Trägern der Staatlichkeit können nur mit Zustimmung derjenigen beschlossen werden, um deren Staatlichkeitsgrundlage es dabei so wesentlich geht. Dass hier einzelne Länder im Bundesrat majorisiert werden können, war noch nie ein entscheidendes Gegenargument: Die Front der Gliedstaaten pflegt sich sogleich zu formieren, wo typische Staatlichkeitsinteressen berührt werden, die dann eben allen notwendig gemeinsam sind. Eine stillschweigende „Voreinung auf Wahrung der Staatlichkeit" kann jeder Bundesratsmehrheit unterstellt werden. Darüber hinaus aber begründet der Verteilungsschlüssel der Staatsfinanzen zwischen Bund und Ländern die Notwendigkeit zu einer wahrhaft dauernden Einung, die stabil bleiben muss, niemanden ausschließen darf. Mögliche Kläger gilt es von vornherein in den Einungsprozess einzubinden, damit nicht der hier wahrhaft staatshemmende Gang zum Bundesverfassungsgericht der einzige Ausweg bleibe, der als ferne Einungsdrohung, nicht aber zu laufendem Einungszwang eingesetzt werden kann. Aus der Sicht der Staatseinung lassen sich die Finanzen noch in anderer Hinsicht als geradezu notwendige Föderalmaterie erweisen, mit tieferen Einsichten in das Wesen des Föderalismus wie der Finanzverfassung. In besonderem Maße „einungsgeneigt", und daher typische Bundesratsmaterie, sind Finanzentscheidungen in ihrer „wesentlich zustimmungsbedürftigen" Fundamentalität wie in jener Autonomie, welche sie den Geförderten zu weiteren Einungen schaffen. Ihrem Wesen nach bedeuten Beschaffung und Verteilung von Mitteln Vorentscheidungen nicht nur für vieles, sondern grundsätzlich für alles, was aus den finanzierten Haushalten heraus geschieht. Vergabebedingungen mögen die Allseitigkeit der Wirkungen einschränken, sie bleibt schon deshalb bestehen, weil damit andere, nicht näher determinierte Finanzbereiche entlastet werden. Grundsätzlich erfolgt über die Finanzentscheidung eine rahmenmäßige Bestimmung der gesamten Aktivitäten eines Rechtsträgers, alle werden dadurch berührt, die geben, alle die empfangen. Der alte Betroffenheitsgrundsatz quod omnes tangit ab omnibus decidetur gilt auf der Geber- wie auf der Empfängerseite; bei der Mittelaufbringung war Steuererhebung

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historisch von jeher eine typische Einungsmaterie, die erste, lange Zeit die einzige, welche bereits dem ausgehenden Mittelalter als solche voll bewusst war, über alle Feudalismen hinweg. Nirgends hat das staatsrechtliche Einungsdenken früher und stärker Wurzeln geschlagen als bei jener „Contribution" Finanzdezisionen sind auch, in einem weiteren Sinne, Verfahrensentscheidungen, darin organisatorische Vorfestlegungen, „wer wem was gestattet". Nur selten fällt hier die detaillierte Vollentscheidung, wie es im Einzelnen weitergeht bestimmt weithin der Geförderte. Finanzen grenzen Aktionsräume ab, in gewissem Sinn handelt es sich hier um Rahmenbestimmungen. Gerade darin aber ist ihnen jene Grundsätzlichkeit eigen, welche nur von einem „Zusammenschluss aller" getragen sein kann. In diesem Rahmencharakter der Finanzentscheidungen sind diese auch Autonomieöffnungen zu weiterer Einung. Die Finanzentscheidungen, gerade im Bereich des Bundes, gelten gemeinhin als Prototyp der harten, zentralstaatlichen Dezision, als Formen befehlender Lenkung. Zuwenig ist bewusst, dass die hier in aller Regel fallende „isolierte Finanzentscheidung" zuallererst Autonomie bringt- derjenigen, welche nun mit diesen Pfunden wuchern dürfen. So entfaltet sich die Einung auf der Empfängerseite: Wer über Finanzen entscheidet, stellt die Verwendungsfrage, die er aber nicht selbst beantwortet; so ordnet er denn mehr allgemein als er dirigierend im Einzelnen befiehlt, seinem Wesen nach ist das Finanzressort der Hort staatsrechtlicher Liberalität. Jene Rechtsträger, welche nun die Finanzen spezialisierend einsetzen, die Länder zuallererst, hinter ihnen die Gemeinden, bleiben in autonomem Selbstand, werden darin gerade gestärkt, in ihrer Qualität als Einungssubjekte. Denn Zusammenschlüsse müssen nun auch innerhalb von ihnen stattfinden, damit jeder, den es berührt - und alle trifft es - sein Stück aus der Bundesbeute erhalte. Der Finanzausgleich, stets ein Kernstück föderaler Finanzverfassung, erzwingt die Staatseinung innerhalb der so gestützten Staatlichkeiten der Länder, er führt wesentlich zu einer Pyramide der Staatseinungen, vom Geber zum Nehmer. Zugleich aber fasst er die Empfänger, die Länder zumal, zusammen in einem gemeinsamen Finanzrahmen, der ihre Einung auch „oben", im Bundesrat, erzwingt, sie weiter in ständiger Einungsnotwendigkeit zusammenhält. Dieses Geld riecht nicht nach Einung, doch es trägt die Idee der gemeinsamen Entscheidungen vom Bundesrat bis in die letzten Verästelungen der Landes- und Kommunalverwaltungen; darüber ist dort zu entscheiden, wo alle Einungsformen moderner Staatlichkeit gebündelt werden, also (auch) in den Zustimmungsformen des Bundesrates.

f) Verwaltung

in Bundesratseinung

Verwaltung als Länder-, damit auch als Bundesratsmaterie, hat in Deutschland staatsrechtliche Tradition, dies findet in einer Gewaltenteilung neue Begründung, welche sich hier in einer vertikalen Form der Trennung von Erster und Zweiter Gewalt zu bestätigen scheint. In dieses Schema passt allerdings nicht die Zuord-

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nung grundsätzlicher Verwaltungsentscheidungen zu jenem Bundesrat, der damit zu einem eigenartigen Zwittergebilde wird zwischen Gesetzgebung und Administration, dessen legislatorische Legitimität darunter auch entscheidend gelitten hat. Neue Legitimität gewinnt jedoch „Verwaltung als Bundesratsmaterie" in der Erkenntnis, dass hier in besonderer Form Einung gefordert ist - in der der Bundesratsentscheidung; die Tradition hat hier, wie so oft, Staatsprinzipien vorweggenommen. Im Bundesrat schließen sich Verwaltungen als solche zusammen, nur sie können über Verwaltung entscheiden. Der Bundesrat bewährt sich hier als eine Form der Verwaltungseinung. Entscheidungen über Verwaltung betreffen immer wesentlich „Verfahren", auch in jenem weiteren Sinn, in welchem eben Organisation nichts ist als „vorweggenommene oder geronnene Prozedur". Verfahrensentscheidungen aber sind in besonderem Maße einungsbedürftig, schaffen sie doch den bleibenden Rahmen für viele, verschiedenartige Sachentscheidungen, über welche volle Konsensbildung nicht immer möglich ist, so dass der Zusammenschluss bereits in der Verfahrenseinung vorweggenommen wird. Deshalb sollte über Verfahren immer „nahe der Einstimmigkeit" entschieden werden - und so geschieht es im Bundesrat. Verwaltung verlangt, wie keine andere Staatsgewalt, Kontinuität, in ihrer Verwaltungspraxis schafft sie diese über alle Gesetze hinweg, denen dieses einst sie bestimmende Wesen längst verlorengegangen ist in der Demokratie. Ganz selbstverständlich muss hier also die „Kammer der Kontinuität" eingeschaltet werden, in welcher die Träger der staatlichen Dauer zusammensitzen, was sich schon in ihrer permanenten, nicht in Wahlperioden unterbrochenen Tätigkeit ausdrückt. Hier ist weniger politischer Wille, mehr staatliche Vernunft, weniger Dezision, mehr dauernde Union. Verwaltung ist wesentlich vielschichtig, im Bundesstaat vielartig, und über sie ist daher nicht in der scharfen Einheitlichkeit der Mehrheit zu entscheiden, sondern durch eine „Rahmensetzungsinstanz", welche diese Grenzen in möglichst voller Einung mitbestimmt. Gerade der Bundesrat kann sich der Abwägung dieser Verschiedenheiten öffnen, er ist in seiner Zusammensetzung nicht ein Organ dualer Konfrontation, sondern ein Konvent der Verschiedenartigkeiten. Administration steht immer und ganz wesentlich in einer Zerfaserungsgefahr nach unten, bis hin in Formen der Verwaltungsanarchie, in welcher Verwaltungsegoismus nur die eigene Einheit mehr kennt. Dies lässt sich nicht in harten, rein parteipolitisch oder gar ideologisch motivierten Mehrheitsentscheidungen „gleichrichten", diese vielfachen Strömungen müssen, auf Landesebene „vorgebündelt" - mit Modellcharakter auch für den Bund - sodann in einem Gremium aufgefangen werden, in welchem Verständnis herrscht für das wesentliche Autonomiestreben aller Verwaltung, in einem Konvent von Machtträgern, die aus dem Selbstbewusstsein (begrenzter) Souveränität heraus handeln. Die unitarisierte Verwaltung könnte das Ideal einer Gewaltenteilung sein, die sie nur als Vollstreckungsinstanz des Volkswillens sieht. In Wahrheit ist Verwaltung etwas ganz anderes: lebendige organisatorische Staats68 Leisner

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kontinuität in der Vielfalt aller Herrschafts- und Gestaltungsformen, und dies kann nur ein Gremium föderaler Einung zusammenordnen. Verwaltung ist schließlich der Kern des Staates, Staatlichkeit par excellence. Gerade weil hier stets wesentlich befohlen werden wird, kann ihr nur von den vereinigten Vorgesetzten grundsätzlich befohlen werden, dort, wo es nicht um den Gegenstand, sondern um die Form des Verwaltens geht - und daran allein ist stets wesentlich formalisierte Verwaltung letztlich wirklich interessiert. Die vereinigten Befehlgeber aber treten in Einung über den Befehl - im Bundesrat.

6. Die föderale Staatsgrundstimmung der Einung a) „ Mehr Föderalismus " - „ mehr Einung " Der Föderalismus ist die optimale Staatsform allseitiger Staatseinung, er vervielfältigt und potenziert Bürgereinungen ebenso wie staatsorganisatorische Zusammenschlüsse, bis in das Zentrum der Staatsgewalt. Mit den anderen Staatsformbestimmungen, den Staatsgrundsatznormen des Grundgesetzes, ist ihm gemeinsam die Annäherungsdynamik: Föderalismus ist ebenso wenig je wirklich „erreicht" wie Sozial- oder Rechtsstaatlichkeit, vor allem aber Demokratie. Seine grundsätzliche Dynamik ist bisher weithin verkannt worden, er erschien als verkrustetes, aufzubrechendes Relikt von Tradition und Historie - wirken kann er nur, wenn er begriffen wird „immer auf den Wegen zu mehr Einung". Darin liegt das Wesen, die typische Wirkungsweise von Staatsgrundsatznormen, dass sie ein staatsrechtliches Grund-Kapital darstellen, das laufend sich einen Mehrwert zuordnen will: mehr Föderalismus, Föderalismus überall. Gerade in der deutschen neueren Staatsentwicklung ist derartiges, in verschiedenen Richtungen, mehrmals durchlebt und durchlitten worden: Der Führerstaat des Nationalsozialismus wollte seine Autoritäts- und Befehlsstrukturen überall hintragen, bis hinein in private Gesellschaften und in die Familie; nicht anders ist die „Demokratie" angetreten mit der Forderung, überall mehr von ihr zu wagen, ihre Diskussionen und Mehrheiten auch dorthin zu bringen, wo es dies nie gab - wiederum bis hinein in die Familien der Bürger. Nun gilt es, im Namen und mit dem Schwung der Staatseinung, und damit zugleich mit der Kraft der Demokratie, diese Forderung für den Föderalismus zu verwirklichen: Mehr Zusammenschluss überall, mehr Einung, auf der ganzen Skala von der harten Mehrheitsdezision bis zur Einstimmigkeit. Nach Freiheit und Gleichheit muss sich nun die Brüderlichkeit verbreiten, vom Staatsgrundsatz zur Staatsgrundstimmung; und eine Chance hat dies heute nur dann, wenn die Einung begriffen wird als ein formalisierter Aspekt der Freiheit. Mehr als Normen ist hier gefordert, mehr als seelenlose Praxis; diese Grundstimmung muss in einer Selbstverständlichkeit alle Ausprägungen der Staatlichkeit, ja der Privatheit der Bürger umfassen, aus welcher gerade der föderale Staat

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herauswächst. Von Erziehung zu Demokratie war viel die Rede - wann wird man endlich zu Föderalismus erziehen, zu jener Grundhaltung, die stets gerade in Deutschland Frieden gebracht hat und staatliches Glück? Gefühle will das Recht nicht kennen, doch schon der Staat ist nichts ohne Staatsgefühl. In einem föderalen Staatsgefühl muss Staatseinung wachsen, überall.

b) Die Überwindung der „Staat-im-Staat"-Ängste Nichts hat wohl der föderalen Grundstimmung mehr geschadet als die traditionelle Angst, hier entstünde oder erhielte sich „Staat im Staat". Gerade wenn der Staat aus seiner konkreten, feudal-monarchischen Greifbarkeit heraustritt in die unfassbare Abstraktion der vergeistigten Organisation - muss dann deren Idee nicht eine sein, müssen nicht ihre äußeren Wirkungen auf einen Bezugspunkt hin zusammenlaufen? „Die Staaten" - es gibt sie im Völkerrecht, nicht im allgemeinen staatsrechtlichen Bewusstsein. Staat ist geborene Einzahl. Hier muss die kopernikanische Wende der Staatseinung einsetzen: der Staat in der Mehrzahl, der „wahre Staat" nur aus Staaten in föderalem Zusammenschluss. Allein in dieser Grundstimmung lässt sich diese mächtige Maschine auf Dauer bedienen, als Rocher de bronze müsste sie in Kolossalität veröden - nicht in Monumentalität - die ganz großen Monumente sind Gruppen in Einungsbewegung. Die „Staat-im-Staat"-Ängste erwachsen aus einer eigenartigen Verbindung von konservativem und liberalem Denken, dabei aber aus einer gemeinsamen Grundvorstellung: aus dem Gegenüber von Bürger und Staat. So wie der Bürger eine unaufhebbare Einheit in seiner Persönlichkeit bildet, darin Träger der ihn zuhöchst legitimierenden Menschenrechte ist, wie er also nicht „aufgespalten" werden darf, muss so nicht Gleiches auch für seinen Kontrapunkt gelten, jenen Staat, den ein bestimmtes konservatives Denken entscheidend geschwächt sieht, wenn er in Staatenvielfalt besteht? Liberales Denken braucht einen klaren, eindeutigen Gegenspieler, der nur in seiner Einheitlichkeit in die Grenzen der Freiheit gewiesen werden kann, nicht als eine vielköpfige föderale Staats-Hydra, die nicht mit dem einen Schlag des Schwertes der Freiheit zu besiegen ist. So erklären sich letztlich antiföderale Grundhaltungen von Liberalen, die eigentlich im geteilten Staat die größere Freiheit sehen müssten. Der Staat darf aber nicht nur aus der Konfrontations-Perspektive zum Bürger gesehen, er muss aus diesem heraus betrachtet werden, als Fortsetzung, als höhere Form der Bürgereinung. Dann wird seine Vielfalt selbstverständlich, „Staat-imStaat" ist weder Kraftverlust noch Machtverschleierung. Auch die Demokratie trägt ihre Schuld an solchen Missverständnissen. In der französischen Tradition vor allem hat sie, mit mächtigen Wirkungen nach Deutschland, stets zuallererst auf den Volkssouverän gesehen, die Unteilbarkeit des Volkes gerade in einem Land gefordert, wo die Menschen stärker Individualisten sind als 68*

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irgendwo sonst. In diesem Volk, oder doch in seiner Großen Nation, wurden diese Menschen in eine mächtige, unaufbrechbare Einheit zusammengeschweißt, welche sodann, in einer zweiten Fiktion, mit dem Staat einfach gleichgesetzt wurde. Dieser konnte selbstverständlich nichts sein als eine République une et indivisible, so unteilbar wie das souveräne Volk. So entschieden hat sich diese französische Tradition der Volkssouveränität entwickelt, dass sie sogar über die Garantie der Menschenrechte lange völlig hat hinwegsehen wollen. Heute gilt es, zuerst auf den Menschen, dann auf das Volk zu sehen. So wie dieses nicht in Menschen zerfällt, sondern aus ihnen sich aufbaut - genauso wächst die Staatlichkeit nicht in Spaltungsängsten, sondern in föderaler Grundstimmung.

c) Vom „Föderalgefühl"

zum Reich

In welchen Grundüberzeugungen wächst das, was man getrost „Föderalgefühl" nennen darf, aus welchen Quellen fließt es zusammen, in einer Einung von Stimmungsströmen? Wo Föderalismus die höchste Ausprägung der Staatseinung ist, wird er von deren Grundüberzeugung getragen: dass der Staat entsteht aus Einungen von Menschen, von Organisationen, von Staatsgewalten; dahinter aber steht die größere Erkenntnis einer Gleichartigkeit von Menschen und Staatsorganismen, nicht in einer Verstaatlichung des Bürgers, sondern in einer Vermenschlichung des Staates, hinter dem nichts anderes sichtbar wird als seine Bürger. Die Spitzenvertreter der demokratischen Staatlichkeit, Mandatsträger wie leitende Beamte, sind zugleich auch Träger solcher Einungsgefühle, weil bei diesen vielen kleinen ,3ürgerkönigen" das Erlebnis staatlicher und gesellschaftlicher Einung ständig in derselben Persönlichkeit zusammenfällt. Nur wer die Vermenschlichung des Bürgerstaates ernst nimmt, kann Staatseinung begreifen, er muss sie dann aber auch überall fordern. Gemeinschaft wird heute nicht mehr empfunden als das statisch Erreichte, sondern das in ständiger Dynamik immer neu zu Schaffende; so allein wird all dies von der Freiheit angenommen, die sich nicht mehr in endgültigen Sozialverträgen binden will. Wenn aber die stete Widerruflichkeit des Herrschafts Vertrags zur Staatsgrundstimmung der Demokratie geworden ist, so kann das Kontinuitätsminimum des Staates nur in immer neuer Einung gefunden werden, und sie ist ebenso allgegenwärtig zu fordern, wie allenthalben ständig ihre Auflösungstendenzen wirksam sind. Breiteste Basis dafür schafft der Föderalismus. In der „Basis" ist der Volksherrschaft ein neuer Gott geboren; nur die Berührung mit dieser Mutter Erde scheint wahre demokratische Kraft zu verleihen. Keine Staatlichkeit aber ist basisnäher als die des Föderalismus, die den „Staat an sich" nicht kennt, ihn immer nur in Einungen erkennt, welche sie letztlich auf die Basis zurückführt, möglichst nahe jedenfalls an sie verlegt. Anarchische Auswüchse der

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Betroffenheits- und Basisdemokratie kann wohl auf Dauer nur diese Staatsform vermeiden; sie kanalisiert rechtzeitig und entschärft in Zusammenschlüssen bereits „unten", was sonst in Mehrheitsforderungen revolutionär empor brandet bis in die Spitzen der Staatsmacht. Föderalismus ist Basisdemokratie als Basisentscheidung, nicht als Basisforderung. Einung kann, als „reine Forderung" verstanden, zum Anarchiebegriff entarten; der Föderalismus bietet am klarsten die Ordnung der Einung, in den Formen von herkömmlichem, konsensgetragenem Recht. Hier gelingt die Jurifizierung des Politischen bis in die Staatsspitze hinein, wenn sich Individuen ebenso föderalisieren wie die Träger der Staatsgewalt, ja wie echte Staaten. Hier wird das Recht, die Einungsform, wirklich „der Staat", wie es Hans Kelsen wollte, nicht nur sein Gefäß; denn Staatlichkeit ist wesentlich Einung, diese wiederum rechtliches Verfahren. Der Staat kann nicht Recht sein im Sinne von Grundentscheidungen für bestimmte Werte, deren dauernde Akzeptanz heute weniger gesichert ist denn je; Recht „ist" er aber als Einungsverfahren und Einungszwang, nirgends systematischer als in der föderalen Ordnung. Der Föderalismus ist derart elastisch, dass er nicht nur längere Staatlichkeit halten, sondern wahrhaft imperiale Strukturen aufbauen kann. Jedes Reich, das diesen Namen verdient, trägt föderale Züge, das große römische Vorbild hat es, in der Selbständigkeit der Städte, Provinzen und Völkerschaften gelehrt; ihr Zusammenschluss allein, ihr föderales Zusammengehörigkeitsgefühl ließ die Lasten der Militärstaatlichkeit erträglich erscheinen - und hat sie um Jahrhunderte überlebt. In diesem Sinne ist das Reich auch stetige föderale Erneuerung, ein wahres Imperium in fieri, wie es in früheren Betrachtungen schon einmal genannt wurde, weil eben seine Einheit stets in föderalem Werden zu denken ist. In der föderalen Grundstimmung schwingt vieles mit, was Gemüt und Gefühl anspricht, hier werden manche rechtlichen Definitionsschwächen des Föderalismus zu seiner politischen Wirkkraft: in der allseitigen Lebendigkeit, der Unbestimmtheit, der geradezu ins Unendliche geöffneten Dynamik des Einungsbegriffes. Mit dem Staatsgrundsatz der Brüderlichkeit macht der Staat selbst ernst, in einer „fraternité des états", in der wiederum die sonst allzu rationale Staatsmaschinerie der Demokratie vermenschlicht wird. „Staatsgefühl" ist bisher nie dogmatisiert, vielleicht kann es, als staatsrechtliche Kategorie, nur umschrieben werden. Hier wird es als Föderalgefühl fassbar, wie es in der Schweiz begegnet: Der Staat der sich einenden Vielfalt lastet nicht; die Einung hebt seine Spannungen immer wieder, auf allen Ebenen auf; keine Staatsgewalt bedrückt, die „nach oben offen ist", zu höheren Einungen, der ein Zug eigen ist „von unten nach oben". Der Föderalstaat bleibt „ganz Basis", und doch ist er „nach oben unterwegs", aber zu etwas, das nicht lasten, sondern ihn schließen soll, in Einung. Dies alles kann man fühlen, lieben vielleicht, weil man sich ganz darin wiederfindet. Das sind nicht voll rationalisierbare Kategorien, aber sie sind erfühlbar, vor allem symbolfähig.

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d) Föderale Symbolik: Der Kuppelstaat Staatseinung will zum Gewölbe emporwachsen, nirgends wird es fester gebaut und klarer als im Bundesstaat. Zunächst muss wohl auch hier empor gezogen werden, Stein auf Stein in staatlichem Befehl. Doch dann setzt die einende Konvergenz ein, die Kräfte beugen sich hin zueinander, nähern sich steil an, wieder Stein für Stein im Einungsprozess, bis sie sich treffen, zusammenschließen. Immer haben die Menschen von schwebenden Gewölben gesprochen, fast ist es, als bewege sich diese Einung in Stein immer noch weiter, öffne sich in den gotischen Kathedralen zur Transzendenz, schließe sich wieder über den Menschen. Das Auge folgt dem Spiel der steigenden Bewegungen, nicht der Statik der abschließenden Kräfteverteilung. Und in der vollendeten Form des Gewölbes, in der Kuppel wird dies alles ganz bewusst nach oben gerichtet, der Abschluss wirkt wie eine abgekürzte Unendlichkeit. Nie wird jemand diesen Bau begreifen, wenn er ihn lasten, nicht schweben sieht. Darin liegt die Symbolik der Staatseinung, deren mächtigstes Gebäude wird im föderalen Kuppelstaat betreten: Hier ist nichts aufgetürmt, wo das Unterste nur trüge, in diesem Gewölbe findet sich der vertikale mit dem horizontalen Halt, geht in ihn über, vom Befehl zum Zusammenschluss, Steinkranz auf Steinkranz, in aufsteigenden Einungen sich haltend. In diesem Gewölbe ist die letzte Einstimmigkeit der Staatseinung symbolisiert; jeder Stein ist wichtig, fällt einer aus, bricht das Gebäude, und die Schichten schon müssen sich untereinander halten, in stufenförmiger Einung, damit hier die Festigkeit entstehe, die neue, höhere Kränze zu halten vermag. Die Kuppel als Staatsidee ist sichtbar geworden in Rom, wo ein föderales Reich das Pantheon hinterlassen hat. Dies ist nicht ein ägyptisches Imperium, das mit monumentalen Turmsäulen zum Himmel ragt, die - so empfindet man es heute sich eigentlich gar nicht schließen müssen, weil Diesseits und Jenseits eins sind im König. Dies sind auch nicht die griechischen Säulenreihen, diese großen Häuser der menschlichen Götter, diese Geometrien in Steinen. Nicht Denker und Künstler haben die römische Kuppel geschenkt, sondern Konstrukteure, Ingenieure der Staatsgewalt - was könnte heute mehr wert sein? Hier wird ganz bewusst gebaut um des Abschließens willen, auf die Einheit zu - und dann kann das oberste Rund wohl offen bleiben; wichtig ist allein die konzentrische, einende Bewegung. Zwischen der voll vertikalisierten göttlichen Befehlsmacht der Ägypter und dem voll horizontalisierten weiten Zusammenleben griechischer Menschen und Städte steht das föderale Reich der Römer, dessen Erbe, in seinem föderalisierenden Feudalismus, für ein Jahrtausend Deutschland war. Unter dem großen Rund mögen alle Bürger kleinere Kuppeln bauen, in ihren Gesellschaften und Staaten, ihr einender Gefühlsstrom verletzt sich an keiner Kante. Wenn es denn einen Schlussstein gibt in diesem imperialen Kuppelbau des Föderalismus, kann dort nur die Gestalt eines gütigen Vatergottes mit ausgebreiteten Händen gedacht werden, der irdische Macht wieder - verteilt unter seine Kinder, die sie zu ihm in Einung empor getragen haben.

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Die Angst vor dem Einsturz hat den großen Kuppelbauer bis an sein Ende verfolgt, der Föderalismus ist auch eine unsichere Staatsgewalt - aber glücklich verunsichert. Immer wieder müssen ihre einenden Ringe nachgeprüft, neu befestigt werden. In ihrer größten Katastrophe haben die Deutschen erlebt, dass die Kuppel zum Turm von Babel wird, wenn ihre Grundlagen aus der föderalen Einung in die himmelstürmenden Befehle gezwungen werden; nun haben sie in Dresden eine Kuppel neu gebaut - in einer der alten Hauptstädte des Föderalismus. Ein Staatssymbol ist es auch, dass man so lange über die größte aller Kuppeln nachgedacht, an ihr weitergebaut hat: Äußerlich ist sie perfekt, nach innen zu allem geöffnet zu immer neuen Begegnungen, Einungen. Am Sozialvertrag nehmen im Föderalismus auch Staaten teil, wie Menschen, vermenschlicht in ihrer Bedingtheit durch höhere Einung. Und doch ist dem Föderalismus, gerade in der schier unendlichen Vielfalt seiner elastischen Spannungen, insgesamt etwas eigen von einer Unwiderruflichkeit abgerundeter Konstruktion, von einem äußersten Rahmen, der alles hält - denn auch dies symbolisiert die Kuppel - der als solcher aber die Dimension der Ewigkeit erreicht. In diesem Staat der föderalen Einungen kommt etwas auf die Erde von dem größten Kuppelbau, dem gestirnten Himmel, der die Menschen in seiner Ruhe hält, sie dennoch bewegt. Denn sie empfinden: „Und er bewegt sich doch", in einer sich selbst haltenden Einung. Möge etwas von der Kraft dieser Symbolik auch den Föderalstaat erreichen, in dem so viel ineinander sich bewegt und sich doch, gerade darum, auseinander, übereinander aufbaut!

E. Europa - eine neue Staatseinung Jüngste Vergangenheit war geprägt von Enteinungen im Osten - unwahre Föderal-Staaten brachen auseinander - im Westen durch neue spektakuläre Formen der Staatseinung: Die deutsche Wiedervereinigung als Staatseinung einer Nation und die Einung Europas - Europa als Einung, nicht als Einheit. Hier werden nicht nur neue Dimensionen der Zusammenschlüsse erreicht, Einung wird zum beherrschenden, erregenden Staatsvorgang. Wenn überhaupt einmal ein Denken in solchen Kategorien eine historische Chance hat, dann in dieser Zeit.

I. Der europäische Zusammenschluss das große Neue 1. Supranationalität - Zusammenschluss auf einer tabula rasa Von den Einungsproblemen des alten Europa war schon bei der Schwierigkeit die Rede, feste, in Jahrhunderten zur Selbstgenügsamkeit gewachsene Kerne zusammenzuführen, der Notwendigkeit vielleicht, alte Staatlichkeiten zuerst aufzubrechen - mit ihrer Erschütterung immerhin hat 1945 Europa begonnen. Dieses Europa kann nicht so frei, so ungezwungen in Weiten seine Zusammenschlüsse beginnen, zunächst einmal seine Einungsträger bestimmen, wie einst die Nordamerikaner, und diese historischen Vorgaben allzu fester Einungsträger sind heute, im allgemeinen politischen Bewusstsein, das größte Problem des alten Kontinents. Dennoch ist auch den Europäern die Gnade der ersten Stunde, der tabula rasa geschenkt worden, nicht in den Trägern, wohl aber im Verfahren ihrer Einung. Insgesamt hat sich diese europäische Einungsbewegung nach 1945 rechtlich wie politisch weit ab von allen bisherigen staatsrechtlichen Strukturen entwickelt, damit allein konnte sie über die Verfestigungen der Vergangenheit hinauswachsen. Europa als Rechtsbegriff und seine juristischen Instrumente sind nicht gewachsen aus Kategorien des Staatsrechts, aus innerstaatlichen politischen Kräften, aber auch nicht in den Begrifflichkeiten des Völkerrechts, in dessen allzu elastischen Begegnungen, mehr als Zusammenschlüssen. Gerade weil zwischen so vielen Gebäuden - und Ruinen - neu gebaut werden musste, wurde hier ganz unbelastet die Chance eines wirklichen Dritten Weges genutzt, in jene Supranationalität, der es noch lange im Interesse Europas erhalten bleiben möge, dass man sie weder dem innerstaatlichen Föderalismus, noch den völkerrechtlichen Staatenverbindungen voll zu-

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rechnen kann. Diese letzteren haben mit dem Niedergang der fürstlichen Staatenwelt ihre politische Ordnungskraft weithin verloren, von ihnen aus werden sich die europäischen Entwicklungen nicht mehr bewältigen lassen. Den Formen der klassischen Föderaleinung aber stehen Jahrhunderte alte Rivalitäten der Staaten entgegen, über denen die römische Reichsidee allzu weit schon verdämmert ist. So wurde denn zunächst einfach einmal „politisch gehandelt", wie ad hoc haben sich die heute bereits vertrauten Formen der europäischen Organisation in ihrer Wirksamkeit entfaltet, selbst bestätigt, lange Zeit unberührt fast von vertiefender Theorie. Hier bleibt auch gerade heute noch, im organisatorischen Europarecht, viel zu schaffen: die Entwicklung einer spezifisch demokratischen Lehre von den engeren Staatenverbindungen, von den Einungen der Verfassungsstaaten, deren Probleme ganz andere sind als sie bei Zusammenschlüssen der fürstlichen Staaten auftraten, wo sich die Verbindungen in den Personen und Familien der Herrschenden vollzogen. Heute sind dogmatische Grundstrukturen gefordert in Europa, die nur jenseits von Völkerrecht und Staatsrecht beginnen und ansetzen können. Sie müssen den allenthalben hoch, aber doch verschieden entwickelten Formen der Rechtsstaatlichkeit und ihrer Normativität in den einzelnen Einungsträgern Rechnung tragen, hier stellen sich Souveränitäts- und Durchgriffsfragen in ganz neuem Licht. In all dem aber liegen gerade die großen Herausforderungen, die Chancen zugleich eines Droit public de l'Europe, das es eben nun nicht, wie vor zwei Jahrhunderten, nur in Verträgen und gemeinsamen Praktiken geben kann, das andererseits auch kein Hegemonialföderalismus dem Erdteil aufzuzwingen vermag. Eine der geistigen Grundlagen, die es nun zu schaffen und zu entwickeln gilt, findet sich wohl auch in der Erkenntnis, die hier beschäftigt: Dies ist eine Staatseinung im engsten Sinn dieses Wortes, in einer Form der Staateneinung, der höchsten Stufe der Organisationseinung, in einer - vorläufig noch - „nach oben offenen" Form der Fortsetzung des Föderalismus nach Europa hinauf. Alle bisherigen Einungsformen, von Majoritätszusammenschlüssen der nationalen Parlamente bis zum regionalen und Staatenföderalismus, treten damit in einen neuen Kontext, werden um- oder aufgewertet. Zu unfertig ist heute noch dieses Gebilde - nicht Gebäude - als dass man es im Einzelnen mit jenen Kategorien analysieren könnte, die bisher diese Untersuchungen geleitet haben. Eines nur ist sicher: Es kann nur in Formen dessen entstehen, was hier Staatseinung genannt, mit den Chancen ganz neuer Formen derselben, die nicht vorhergesehen werden können und auch gar nicht vorausgeahnt werden sollen, gerade um diesem Europa nicht die Chance seiner eigenen Staatseinung der ersten Stunde zu nehmen. Dies alles vorausgesetzt, müsste nun eigentlich die Betrachtung hier schließen. Es mag dennoch ein vorsichtig vertiefender Blick gestattet sein, mit den alten europäischen Augen der Staatseinung, damit gerade das Neue klar hervortrete.

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2. Sui generis - oder Neues an Altem zu messen? Das Öffentliche Recht muss mit der Frage beginnen, was ihm diese neuen Entwicklungen an dogmatischen Formen bescheren, welche Chancen und Gefahren sich daraus ergeben, wie diese Formen in Europa wirken - vor allem von dort aus auf die bestehenden Staatlichkeiten hinüber. Eine Lehre von der staatsrechtlichen Staatseinung wird man also bald nicht mehr schreiben können ohne einen Blick auf Europa, das alles unter sich verändert. Die europäische tabula rasa scheint hier nur den bequemen Pseudo-VerständnisBegriff eines sui generis anzubieten; doch mit einer Lehre, die all dies laufend mehr beschreibt als staatsgrundsätzlich vertieft, ist es nicht mehr getan. Die bisherige Dogmatik des Europarechts tut sich wohl schwer: Sie setzt an mit den Mitteln nicht einer in den Mitgliedstaaten bereits entfalteten Staatseinungsdogmatik, sondern mit den Kategorien der alten Institutionenstaatlichkeit, die aber gerade das hier ablaufende „Werden" mit all seinen Unfertigkeiten nicht zu bewältigen vermag. Eine neue Dogmatik jedoch, allein aus politischen Vorgängen geboren, ohne stützende Hilfe früherer dogmatischer Vorstellungen, hat sich bisher kaum je entfalten lassen, so reizvoll sie auch sein könnte. Das größte Problem der rechtlichen Erfassung der europäischen Einung liegt wohl in der bereits ihrerseits herkömmlichen Lehre von der „Unfertigkeit", von dem immer wieder zu Beginnenden dieser Einung, das nicht mit der Kraft dogmatischer Kategorien, sondern, wie es scheint, nur mit mächtigen politischen Stößen überwunden werden kann, welche Neues hineinzwingen in die alten Gefäße. Aus der Sicht der Staatseinung lässt sich dies aber auch anders und rechtlich durchaus positiv sehen: Unfertigkeit ist selbstverständlich für dieses Rechtsverständnis der Einung, eine Chance für die Entfaltung einer neuen juristischen Dogmatik bietet eben das Unvollendete, noch nicht in Einheiten Geronnene dieser Einungen, von dort aus können neue Erkenntnisse sogar für die festeren Formen des innerstaatlichen Rechts gewonnen werden. Wahrhaft faszinierend ist es, hier etwas wie Staatsgenesis juristisch mitzuerleben, welche aus sich selbst heraus, in fieri, ihre eigenen, neuen Formen entwickelt, und dies alles noch bewusst als etwas Neues, bewusst in Einung. Das neue Europarecht der Einungen sollte, soweit es „fertig" werden mag, nicht nur als ein neues rechtliches Spezialgebiet neben anderen erfasst werden, das sich seinen Selbstand allein mit den leeren Worten sui generis sichert; gerade in Rückbindung an die traditionellen Formen der Staatseinung, wie sie hier beschrieben wurden, kann sich das Neue ganz zeigen, für die alten Staatlichkeiten fruchtbar werden. So sollen denn hier doch vorsichtig Brücken geschlagen werden von den bekannten Formen innerstaatlicher Einungen zu denen der europäischen Zusammenschlüsse, mag auch deren dramatische Neuheit vielleicht stärker hervortreten, wenn sie nicht in das Prokrustesbett des Staatsrechts gezwängt werden. Wenn jenen aber wesentlich ist, dass sie von „unten nach oben" erfolgen, so muss sich

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der Blick auf Europa aus dem nationalen Staatsrecht und seinen Einungsformen heraus richten, in ihrer Weiterentwicklung liegen zugleich auch Chancen für den einen Kontinent. Die volle Neuheit tritt wohl nur gemessen an alten, in Staatseinungsdenken schon erneuerten Betrachtungsformen hervor. Im Vordergrund müssen also doch Versuche einer Erfassung aus der Sicht des staatsrechtlichen Föderalismus stehen, denn auf seine Formen bewegt sich Europa zu, in all seinen Unfertigkeiten. Sodann gilt es, die europäischen Institutionen zu betrachten unter dem Gesichtspunkt der dort - wenngleich vielleicht noch unfertigen - Einung. Darüber hinaus noch führen Gedanken zur Integrationskraft europäischer Zusammenschlüsse in die „Gesellschaftseinung" hinein.

II. Europäische Einung als Super-Föderalismus 1. Europa - gemessen am föderalen Modell Die Europäische Gemeinschaft ist etwas Neues, sie will es auch in ihrer weiteren Entwicklung bleiben - in eigenartig akzentuierender Aufwertung dessen, was man bislang unter „Staatenbund" verstanden hat, aber auch in Erweiterung des innerstaatlichen Föderalismus in die größere Einung hinein. Gerade aus der Sicht der Lehre von der Staatseinung kann es hier durchaus gleitende Übergänge, eine Verbindung von beidem, geben. Dann aber gilt es zunächst, die Anreicherung zu betrachten, welche dies für Idee und Theorie des Föderalismus im Staatsrecht bedeutet; an ihm gemessen wird die europäische Einung in ihrer Neuheit deutlicher. Gerade eine deutsche Aufgabe ist hier gestellt; der am längsten und weitesten ausgebaute Föderalismus kann Stütze werden - aber auch durch die größere, „überholende Einung Europas" in Gefahr geraten. Föderale Defizite in anderen Mitgliedsstaaten könnten leicht die europäische Einungsbalance brechen - mit dem Streben nach zuviel „Macht oben", oder, was noch näher liegt, indem sie zentral geballte Staatsmacht aus der alten Zeit in einen losen Staatenbund hinüberretten wollen; und beide Entwicklungen können, so paradox es scheint, zugleich ablaufen. So ist nun die Verwirklichung föderaler Grundstrukturen im neuen Einungsprozess zu betrachten.

a) „Ein Europa der Staaten" Die Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft werden, noch für lange Zeit, echte Staaten bleiben, als solche, in voller Geschlossenheit, finden sie in Europa zusammen; dies ist nicht Staats-, es ist wahrhaft Staateneinung. Man mag es mit schönen Worten verbrämen - die „Europe des patries" wird eine „Europe

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des Etats" sein, soweit sich jetzt denken lässt. Vielen ist dies ein Ärgernis, vor allem in Deutschland: Wenn diese Einungsträger möglichst rasch „Länder" werden oder gar Regionen - und dann in politische Bedeutungsschwäche absinken wie die deutschen Länder auch - wäre dies nicht ein „deutsches Modell ad maiorem Europae gloriam"? An diesem deutschen Staats-Wesen wird Europa wohl so schnell nicht genesen; die Einheitsstaaten des Westens und Südens wissen, was Regionalisierung bedeutet - oder was sie, wie in Spanien, an Anarchiegefahr mit sich bringen kann. Hier sind daher entscheidende nationale Widerstände gerade gegen eine solche Föderalkonzeption zu erwarten. Gerade die nationalen staatlichen Mächte, welche ihre Regionalismen nach innen gebrochen haben, werden nun, nach außen, zu Verteidigern der Gliedstaatlichkeit in Europa, so wie es einst Montgelas in Bayern gelehrt hat. All dies bedeutet vielleicht Einheitsschwäche - zugleich aber kann es zur Einungsstärke werden, zu einer Rückbesinnung auch der Föderalismen auf das, was sie stets zuallererst trägt: die Staatsqualität der Glied-Staaten. Eine Staatsqualität, ein Gefühl dafür, das sich in den Vereinigten Staaten schon ganz natürlich erhalten konnte, das aber gerade in den kleineren europäischen Nationalstaaten immer mehr in Gefahr gerät - hier kann all dies europäisch wieder wachsen, in einer nationalstaatlichen Festigkeit europäischer Einungsträger, in einer „Statalisierung des Föderalismus aus der Supranationalität" heraus, mit Rückwirkungen in die Mitgliedstaaten hinein. Dieser Weg ist vorgezeichnet, nicht nur durch die politische Geschlossenheit der alten Einheitsstaaten, sondern vor allem in jenem Begriff der „Nation", der in demselben Maße aufgewertet werden wird, in dem der jeweilige Staat rechtliche Kompetenzen abgeben muss: Schon vor dem deutschen Wiedervereinigungsprozess und in ihm war dies ein gerade in seiner Unbestimmtheit und Virtualität politisch mächtiges Wort. In Europa wird es bereits über die nationalen Sprachen nicht verschwinden, in der französischen Tradition verbindet sich mit ihm nicht nur politischer Selbstand, sondern kulturelle, geistige, menschliche Zusammengehörigkeit ganz allgemein, über die Geschichte hinweg. Gestellt bleibt aber die Grundfrage: Werden die Mitgliedsländer weiterhin wahre Staaten sein - oder wird ihre Staatsqualität in einen, vielleicht breiten, Zuständigkeitskatalog zerfallen? Aus der Sicht der Staatseinung wäre das erstere nicht eine europäische Einheitskatastrophe, sondern sogar eine europäische Einungschance, eine Hoffnung zugleich für den innerstaatlichen Föderalismus, zumal in Deutschland: Wenn „Einungseinheiten" fester zusammengeschlossen bleiben, dann kommt es immer wieder zu jenem „Rückfall der Entscheidungen in ihren staatlichen Bereich", der die Dynamik der Einung von unten bestimmen muss, welche eben nie feste, endgültige „Einheit oben" bringen darf. Die große europäische Herausforderung liegt darin, dass die europäische Einung nicht zu einer institutionellen Vollverfestigung an der Spitze führt, sondern dort nur haltende Rahmen bereitstellt,

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aus denen immer wieder Einungsprobleme in die Staaten „zurückfallen", dort, und in ihrem Zusammenschluss, gelöst werden müssen. Ein Absinken der europäischen Staaten auf die Stufe schwacher Länder würde, auf längere Sicht, eine neue, lastende europäische Institutionenstaatlichkeit hervorbringen, damit würde sich bis in die Mitgliedstaaten hinein die große, hier kopernikanisch genannte Wende doch wieder umkehren - aus dem Einungsstaat würde der Super-Institutionen-Staat, nicht ein Super-Föderalismus. Die Festigkeit der europäischen Staaten als Einungsträger sollte auf lange Zeit, endgültig vielleicht, diesen Zusammenschluss als eine Stufenintegration begreifen lassen, die dann auch nicht durch „radikal durchlaufende Bürgereinungen" in einem gesamteuropäischen Parlamentarismus überspült werden darf. In den Mitgliedstaaten Europas ist der Föderalismus weithin dem Parlamentarismus zum Opfer gefallen, zurückgedrängt wurde die Organisationseinung durch die Bürgereinung. Jenes Gleichgewicht von Föderalismus und Parlamentarismus, welches einst das Grundgesetz schaffen wollte - Europa bietet eine neue Chance dafür, diesmal aber im vertikalen Sinne: dort „oben" der Primat der Organisationseinung - Parlamentsprimat auf der niederen Ebene der Gliedstaaten. Eine komplizierte Balance - doch dies ist stets das System ausgewogener Einungsformen gewesen.

b) Absterben nationaler Föderalismen? Im Bundesstaat ist immer versucht worden, was man die „föderale Mediatisierung" nennen könnte, in einem wesentlich eben nur zweistufigen föderalen Aufbau: Die „niederen Einungen", die Kommunen zumal, werden „nach oben abgesperrt", sie sollen nicht in den „Oberstaat hineinwirken" - und eben dies wird auch jetzt versucht, wie wenn es sich ganz natürlich ergäbe. Dieser „Sperrföderalismus" scheint geradezu traditionell, mit Notwendigkeit, mehr nicht tragen zu können als die zweistufige Staatlichkeit, weil in ihm eben doch noch die Grundidee der Staatseinheit nicht aufgegeben ist, zugunsten einer durchgehenden Staatseinung. Aus ähnlichen stillschweigenden Überzeugungen heraus ist es ja auch korporativen Gestaltungen in Deutschland nicht mehr gelungen, die Länderebene zu überwinden, auf der allein sich Ansätze berufsständischer Ratsbildungen halten konnten. Die „niederen Einungen" werden abgedrängt in technische Verwaltung - oder in die „Gesellschaft". Die Widerstände auf europäischer Ebene gegen Einflüsse der gliedstaatlichen Regionalismen und Föderalismen, in welcher Weise immer, das Misstrauen also gegen eine Aufstufung zu einem „Föderalismus der dritten Dimension", erwachsen nicht nur aus zufälligem politischen Egoismus nationaler Führungsschichten, sie kommen aus dem föderalen Denken schlechthin, sind aber schwer nur zu überwinden. Vor allem betroffen sind die deutschen Gliedstaaten, weil sie in jenen Regionen der anderen Mitgliedstaaten nur schwache Partner finden, welche die im Föderalis-

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mus traditionelle Teilhabe am Oberstaat kaum ansatzweise sich erkämpfen konnten. So ist denn diese Gefährdung des nationalen Föderalismus durch den europäischen Super-Föderalismus vor allem ein deutsches Problem, in seiner ganzen Grundsätzlichkeit: Hier müssen die Groß-, die Grundstrukturen eben des deutschen Föderalismus durchbrochen oder fortgedacht werden in eine Dreistufigkeit hinein - dies aber kann nur in der Erkenntnis gelingen, dass in all dem durchgehende Staatseinung wirkt, die dann auch möglichst weit durchlaufen soll, von der Basis bis in die europäische Spitze hinein. Der Föderalismus erscheint als eine perfekte Form der Staatseinung - doch Antieinungskräfte hat er immer als Sperrföderalismus entwickelt, in dieser gebremsten Dynamik gerade ist er in den Augen vieler zur verkrusteten Institution geworden. Mit seinen grundsätzlichen Teilhabegedanken am Oberstaat wird er sich auch in Deutschland nur bewähren können, wenn er entschieden bereit ist, die Einungen nach oben fortzuführen - sich ihnen also auch „unten" wesentlich stärker noch zu öffnen, hin zu Kommunen, parastaatlichen Organisationen und bis in den gesellschaftlichen Bereich hinein. Europa ist hier für den deutschen Föderalismus die Chance der großen Dynamisierung, welche die liberalen Sperren überwindet.

c) „ Sprungföderalismus

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Auf staatlichen Wegen wird es schwer sein, diese Barrieren zu überspringen, auf politischen kann es angestoßen werden, mit dem Schwung der allgemeineren Einungsidee dann sich fortsetzen. Anfänge sind gemacht worden in den Zusammenschlüssen gesellschaftlicher Verbände und der Kommunen, wie bisher im Landesbereich, so jetzt bei den Europäischen Gemeinschaften. Der Lobbyismus, hier wie auch sonst oft zu Unrecht kritisiert, erweist sich als eine weitere Form solcher politischer „Sprungeinung", über institutionelle Schranken hinweg: Bei Kommission und Parlament werden diese Interessenvertretungen zur Transformation von Einungen auf niederer Stufe unmittelbar in die höchsten Spitzen hinein. Die Sprungeinung ist bisher stets mit einem Misstrauen im innerstaatlichen Föderalismus gesehen worden, das auch in Europa nicht leicht zu überwinden sein wird. Die „übersprungenen Instanzen" sehen sich gefährdet, in einer Klammerbewegung von nach oben getragenen Basiseinungen und Zentralgewalten, welche die eigentliche Staatsgewalt der Partner gefährden, ja verkümmern lassen könnte. Dagegen kämpfen seit langem, meist in der Stille, auch die deutschen Länder an: So wie sie Kommunalkammern beim Bund nicht dulden können, so werden sich auch die Nationalstaaten Europas gegen eine Regionalkammer wenden, welche diesen Namen wirklich verdient. Gesellschaftliche Sprungföderalisierungen, welche unmittelbar von der Basis, unter Vernachlässigung des nationalen Bereichs, sich nach Brüssel wenden, sind heute ein Gegenstand mitgliedstaatlichen Misstrauens. Hier kann nur abgeholfen werden in der Erkenntnis der durchgehenden Einungsdynamik, ihrer legitimierenden Bedeutung. Aus ihrer Sicht darf es kein föderales

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Dogma geben, das nur zwei Stufen vorsähe, deren Überspringen nicht gestattet wäre, weil sie beide in fester Institutionalität durchlaufen werden müssten. Die Demokratie hat die Einungsidee bereits in der größten aller Sprungeinungen vorgedacht - über alle Zwischengewalten hinweg trägt sie unmittelbar die Bürgereinung ins nationale Parlament, in die Staatsspitze. Diese darf nicht verkümmern als Informationsempfänger der niederen Einheiten, die großen Bundesbürokratien finden in dieser Forderung des „Selbstandes der Spitze" ebenso ihre Legitimation wie der Verbandslobbyismus bei ihnen und beim nationalen Parlament. Gliedstaaten - das ist etwas, das übersprungen, nicht übergangen werden darf; und die deutschen Länder werden gerade dann entscheidend aufgewertet, wenn sie in Einungen auch den Bund überspringen dürfen - vielleicht ist dies ihre letzte föderale Chance. Die harte Stufung im Föderalismus, welche den „Sprung der Basis-Einungsträger nach oben" verhindern will, erwächst letztlich aus einer gefährlichen Administrât! vierung des Föderalismus: Das strenge Denken in Stufen, die sich gegenseitig abschließen, alle durchlaufen werden müssen, ist ein Kennzeichen nicht von Einungen, sondern von Verwaltungs-Hierarchien. Europa ist als gemeinsame Agentur, als Verwaltung geboren worden, die von Politik überwacht wird; wenn sie diese Hierarchie nun in allen ihren Strukturen durchsetzen will, kann es zu der notwendigen Sprungföderalisierung nicht kommen, wie sie hier aus der Sicht der Einung beschrieben wurde. Doch gerade Brüssel hat gezeigt, dass die Administration zum „Sprung nach unten" durchaus bereit ist: Sie geht in ihren DurchgriffsEntscheidungen über nationale Instanzen hinweg. Selbst wenn nun aber in Verwaltungskategorien gedacht werden sollte - und in Europa wird dies noch lange der Fall sein, dort, wo wirklich Macht ausgeübt wird so steht gerade dies, aus der Sicht der Staatseinung jedenfalls, einem sprungföderalen Hinaufwirken niederrangiger Einungen in die europäische Spitze nicht entgegen. Die Verwaltungseinung als Organisationszusammenschluss ist im innerstaatlichen Bereich, dies zeigte sich bereits, keineswegs auf strenge, hierarchische Stufungen festgelegt; vielmehr ist sie ein Weg, diese zu überwinden, starre Befehlsstrukturen zu flexibilisieren, gerade daraus zieht sie ihre Legitimation, ihre ständige überpolitische Kraft. Verwaltungseinheiten können auch aus verschiedenen Stufen heraus zusammenarbeiten, in einer einungsbestimmten „Horizontalisierung" vertikaler Kräfte, wie sie sich selbst über die streng hierarchisierten Stufen der Landratsämter, Bezirksregierungen und Landesministerien hinweg entfaltet. Entscheidend ist eben die Maximierung der Einungskräfte, nicht ihre Hierarchisierung, und dies kann auch im Sprung gelingen, belebend gerade in ihm. Er bringt jene Vielfalt besonders zum Tragen, aus welcher die Staatseinung lebt, darin nimmt diese die Chance der heute überall gesuchten Flexibilität wahr. Aus solchem Denken heraus könnte denn auch in Europa die Chance einer „Durchföderalisierung" in der Schaffung einer wahren Föderalkammer wahrgenommen werden, in welcher Länder und Regionen unmittelbar ihre Einungen an

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der Spitze bewähren. Alle anderen Formen des Hinaufwirkens werden auf politische Zufälligkeiten beschränkt bleiben, auf Beziehungen und Intrigen. Denn wenn es nicht zu einer Gliedstaateninstitution auf der super-föderalen Ebene kommt, so wird diese mit eben solcher Leichtigkeit bei sich die föderale Legitimation monopolisieren, wie dies der Bund mit Erfolg versucht, mit einer eingängigen Begründung: Wirken denn die Föderalkräfte nicht dort ohnehin weiter - sei alles auch noch so zentralisiert - wie es eben schon der Name sagt? Staatseinung steht dem im Namen eines recht verstandenen Föderalismus entgegen, sie fordert die „Länderkammer als Kammer der Länder", als ihren Einungsraum, nicht als Organ des europäischen Oberstaates, in einer echten europäischen Gemeinschaft.

d) „ Teilhabe am Super-Staat Europa " Teilhabe am Oberstaat ist ein entscheidendes Kriterium des Föderalismus. Dass Europa auf solchen Wegen sich bewegt, zeigt sich schon darin, dass diese Frage sich auch gegenüber der europäischen Super-Staatlichkeit klar stellt; und bereits die eben behandelte Mediatisierungsproblematik der Länder ist davon ja bereits ein Teilbereich. Die heutigen europäischen Strukturen, die Gewichtverteilung vor allem zwischen Kommission und Rat, tragen dieser föderalen Grundforderung durchaus, und wohl noch auch für lange Zeit, in einer Weise Rechnung, welche im deutschen Föderalismus bereits gefährdet ist: Europa wird wesentlich gestaltet durch die dauernde Einung der Mitgliedstaaten; der Rat bringt weit mehr als nur beschränkte Teilhabe zum Tragen, die Staaten-Einung ist noch immer übergeordneter Motor. Ausgangspunkt war hier die „volle Einung", die Einstimmigkeit. Man sollte nun nicht sogleich, in Radikaldemokratisierung, das Mehrheitsprinzip, und nichts als dieses, grundsätzlich auch im Rat verlangen, es in allen Bereichen durchsetzen wollen. Die Parlamentarisierung föderaler Teilhabeorgane am Oberstaat kann, aus der Sicht der vielgestaltigen Staatseinung, durchaus eine Fehlentwicklung sein. In Europa ist die Chance geboten, die volle, laufende Einstimmigkeits-Einung beizubehalten - und doch, eben unter den politischen Einungszwängen, zu einer Gemeinsamkeit zu finden, die gerade darin flexibel bleibt. Hier wird und muss sich zeigen, ob sich das ständige Konfrontationsdenken überwinden lässt, das bisher nur in Befehlen überhöht werden kann. Der deutsche Föderalismus hat die Volleinung der Einstimmigkeit in seinen Teilhabegremien seit über einem Jahrhundert stets, wenn nicht juristisch verfestigt, so doch politisch praktiziert: Im Zweiten Reich beherrschte weithin Einstimmigkeit den Bundesrat, in seinem HegemonialFöderalismus, und Fürsten pflegten ohnehin ihresgleichen nur in äußersten Fällen zu majorisieren. Der Bundesrat von Bonn hat sich in ministerialtechnischer Zusammenarbeit diese Grundstimmung weithin erhalten. Warum sollte sie nicht zwischen den europäischen Staaten gehalten werden können? Die tiefe Weisheit der Staatsräte an der Staatsspitze lag doch stets nicht zuletzt darin, dass hier nicht stän-

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dig in Öffentlichkeit abgestimmt werden musste, dass hinter verschlossenen Türen so viel von „innerstaatlicher Staatsdiplomatie auf höchster Ebene" bewahrt werden konnte - sollte dies nicht auch in einem Europäischen Rat gelingen, der das Mehrheitsprinzip nicht braucht, weil er zu einer Stimme finden kann? Und etwas von einer Grundstimmung der Staatsdiplomatie an der Spitze stünde einer Großmacht Europa wohl an. Ein föderaler Vorteil der europäischen Einungsentwicklung liegt auch darin, dass hier die Teilhabe der Mitgliedstaaten nicht von vornherein auf gewisse Materien eingeschränkt werden könnte, dass vielmehr die konsensuale Grundstimmung des Rates grundsätzlich alle Materien erfasst. Auch die Verwaltung ist nicht, wie im innerstaatlichen Bereich, Schwerpunkt solcher Teilhabe, vielmehr wirkt diese gerade im Gesetzgebungsbereich; hier gibt es Legislativ-Einungen im früheren Sinn eines stärker ausgebildeten Föderalismus, der sogar im Zweiten Deutschen Reich noch dem Bundesrat die Gesetzgebungs-Sanktion allgemein vorbehalten hatte. In diesem Sinne mag sich also aus den Vorstellungen der Staatseinung durchaus eine Warnung ergeben vor allzu viel Parlamentarisierung in Europa, vor einer Demokratisierung im europäischen Staaten-Rat, die mit ihren Majorisierungen nur für ständige Spannung sorgen würde. Die Teilhabe der Mitgliedstaaten an der Gewalt der Super-Staatlichkeit kann auch gar nicht auf den institutionalisierten Organbereich beschränkt werden, jedenfalls wirkt sie weit über diesen hinaus: Nicht nur, dass auch die Exekutivspitze vom Vertrauen der Föderalinstanz, des Rates, getragen sein muss, in der Person der Kommissare wirkt die Eigenstaatlichkeit der Mitglieder dauernd, allseitig, wenn auch schwer im Einzelnen definierbar, in die Eurokratie hinein: Kommissare werden noch lange als Franzosen handeln oder als Griechen, vielleicht auch als Deutsche, selbst wenn sie, in ihrem äußeren Gewohnheitsbild, völlig „europäisiert" erscheinen; immer wird sich hier etwas wie ein unausgesprochener Organ-Lobbyismus unterschwellig fortsetzen. Nichts anderes gilt für die nationalen Abgeordnetengruppen im Europäischen Parlament, bei denen sich nationale und parteipolitische Interessen und Einflüsse eine komplizierte Waage halten. Im Ganzen bleibt diese europäische Gemeinschaft also in Stufeneinung noch auf lange Zeit geordnet, Einungskräfte wirken wesentlich von unten nach oben, und nur wer von degenerativen Formen eines bestimmten innerstaatlichen Föderalismus ausgeht, kann darin einen Abfall von der Grundidee der Bundesstaatlichkeit sehen.

2. Das europäische Fazit für die Entwicklung der föderalen Idee Europa ist für viele die begeisternde Durchbruchs-Idee zu neuen Ufern, von anderen wird es, ebenso emotional und total, als Gefahr für alle Staatlichkeit abgelehnt. Im Grunde kommen hier nur die Denkweisen der herkömmlichen Institutio69 Leisner

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nenstaatlichkeit des öffentlichen Rechts zum Ausdruck, mit ihnen aber kann die europäische Entwicklung nicht erfasst werden, die man, ganz anders als staatsrechtliche „Vereinigungen", mit vollem Recht als „europäische Einung" bezeichnet hat. Weder sollte sie den Durchbruch zu einer neuen Institutionalität bringen, zu einem Super-Staat der Institutionen, noch wäre es ein Unglück, wenn die herkömmliche Institutionenstaatlichkeit, unter dem Druck einer neuen Dynamik, in den Ländern sich zur laufenden Staatseinung wandelte. Das Fazit dieser Entwicklung, soweit sie sich heute absehen lässt, muss aus der Sicht der Staatseinung vorsichtig und differenzierend gezogen werden; am deutlichsten wird es wieder mit Blick auf die föderalen Strukturen des Staatsrechts, welche in Europa, und vor allem in Deutschland, bereits Tradition sind. Was sie zu revitalisieren vermag, ist im Sinne der Staatseinung auch in Europa gut getan, nur wenn dies sich heute schon abzeichnet, stehen die Wetten günstig, dass sich in der europäischen Einung ein neues Staatsdenken entwickeln, dass nicht nur „noch eine neue Schicht Staat" auf dem Bürger lasten wird.

a) Europa - nur „föderal zu denken " Soviel ist heute wohl schon erkennbar: Bei allem „sui generis" in der Bewertung von Erreichtem und Gewolltem - völlig extraföderal zu beurteilende Gestaltungen gibt es dort nicht, der Föderalismus hat wirklich die Chance, die Supranationalität auf Dauer zu besetzen; alle europäischen Phänomene lassen sich zumindest „föderal umdenken", umsetzen auch in den innerstaatlichen Bereich. Vor allem gilt dies mit Blick auf die völkerrechtlichen Kategorien; nur am Anfang Europas standen sie Pate, heute ist dieser Zustand überwunden . Die Europäische Union ist vielleicht nicht „mehr" als ein Staatenbund, aber sie ist, und das sollte wichtiger sein, jedenfalls etwas anderes als ein solcher: weder eine Interessengemeinschaft, noch, vor allem nicht, eine nur punktuelle Interessenberührung von Staaten. Ob der Staatenbund als völkerrechtliche Kategorie wieder so revitalisiert werden kann, dass er gar ins innere Staatsrecht hineinreicht, lässt sich heute kaum absehen; noch immer erscheinen solche Kategorien eher als Beschreibung von Auflösungszuständen größerer, imperialer Ordnungen im Osten. Sie bedeuten auch aus der Sicht der Staatseinung nichts Entscheidendes - hier war bisher immer allzu viel Diplomatie, zuwenig nach oben getragene Einung. In der Europäischen Gemeinschaft stehen denn auch die letzten unföderalen Gestaltungsformen allseits sichtbar auf dem Absterbeetat: Kaum mehr eine der heute wahrhaft souveränitätstragenden Materien wird aus der Gemeinsamkeit ausgeklammert bleiben, überall wird sich die supranationale Einung bewähren müssen, wahre „Souveränität unten" kann es auf Dauer nicht geben. Dies aber begründet eine - gewiss schwere - Grundentscheidung für den Föderalismus; sie wird nur dann leichter, wenn Einung an einer Spitze wahrhaft lebendig ist, an der nun - über alles Entscheidende entschieden werden kann.

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Dass die Landesverteidigung eines Tages, wenn auch die früheren Weltmächte ihre Provinzialisierung erkennen, nur mehr im gemeinsamen Haus Europas gesichert werden kann, wird schon für die Föderalisierung Europas entscheidend sein; denn keine bundesstaatliche Ordnung ist denkbar, welche diesen letzten Selbstand den Gliedern gänzlich überlässt. Dieser Umschlag in die Gemeinsamkeit wird eines Tages, das ist schon jetzt abzusehen, aus der Eigendynamik der Verteidigung heraus notwendig kommen, dann wird er nicht mehr als bitterer nationaler Verzicht empfunden werden. Dies kann auch ohne Gefahr für den Föderalismus der Spitze zugeordnet werden, denn die Armee bleibt stets ein „Staat im Staat", eine Befehlsstruktur außerhalb und über allen zivilen Einungen; ihre Grundlage aber, die Finanzen, werden gerade in Europa stets wesentliche Föderalmaterie, Mitgliedstaatenentscheidung in Einung bleiben. Dann wird die - hier im schlechten Sinn antikisierende Überschätzung der Waffen ein Ende haben, es kann waffenlose Staaten geben, die eben nur in Einung durch Waffen geschützt sind. Der Weg in die gemeinsame Sozial-, und damit, im ursprünglichen Sinne des Wortes, eben auch Gesellschaftsordnung der Mitgliedstaaten ist schon eröffnet, hier werden die Partner durch die Föderalisierung der Finanzen mitgerissen werden in eine Einung, welche nicht die der Proletarier aller Länder sein wird; mag sie sich revolutionäre Begeisterung dann auch ohne Klassenkampf bewahren können! Vor allem aber verblasst das große Souveränitätswort am Eingang Europas: dass die vitalen Interessen der Staaten ein letzter Vorbehalt höherer Einung seien. Der Begriff des intérêt vital selbst ist heute überholt; stets unklar, sollte er immer nur einen letzten Trotz-Raum der Souveränität umhegen, einer Begründung weder bedürftig noch zugänglich. Er fällt nun zusehends der Rationalisierung zum Opfer, die in der Supranationalst mit föderalen Kategorien am Werke ist: Vitale Interessen eines Landes kann es im Bundesstaat nicht gegen den Bund geben, deshalb eben ist „Einung überall", vielleicht definiert sich der Bundesstaat gerade dadurch. „Vital" sind im übrigen gerade die zentralen europäischen Einungsmaterien, zuallererst die wirtschaftlichen Bezüge, und hier ist die große Wette der Europäer der ersten Stunde aufgegangen, ihre Mitreißungs-Theorie hat gesiegt: Die mächtigsten Waffen, die stärksten Arme der sozialen Akteure haben vor diesen Kräften kapituliert. So kann denn heute, wie vorsichtig man sich auch der Supranationalität und ihrem sich fortschleppenden „sui generis" nähert, in Europa nirgends mehr außerhalb föderaler Kategorien gedacht werden, selbst die durchaus noch einungskonform zu verstehende Phase eines „Vertrags-Föderalismus", wie er die vergangenen Jahre charakterisieren mochte, dürfte bald überwunden sein. Für die überzeugten Europäer aber mag, in weiterer Vorsicht, mit Blick auf den Föderalismus gelten: Immer daran denken, nie davon sprechen.

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b) Europäischer gegen nationalen Föderalismus? Europäischer Föderalismus wird immer mehr Wirklichkeit - sind deshalb nun die nationalen Föderalismen zum Tode verurteilt, vielleicht noch bevor sie ihre Geburt überstanden haben? Auch dazu ein Fazit, aber eines vorweg: Die Föderalisierung der Spitze, eines Super-Staates Europa, kann niemals die Entföderalisierung in den Mitgliedstaaten kompensieren. Dies ergibt sich eindeutig aus der hier entfalteten Theorie der Einungsstaatlichkeit, sie fordert einen Aufbau der Föderalismen aus- und übereinander, nicht eine Monopolisierung föderaler Wirkkräfte und Legitimationen auf irgendeiner Stufe; der Föderalismus ist eben ein allgemeines, kein punktuell oder sektoral wirkendes Staatsprinzip. Soviel Föderalismus nur wird es in den europäischen Einrichtungen geben, wie unten an Einungspraxis, an föderalen Strukturen, Grundstimmungen, ja Gefühlen lebendig sich erhält, die Spitze in Gleichartigkeit stützt. Jede andere Konzeption schafft den lastenden Ober-Staat der Befehle und Institutionen in Europa, in einer Vielfalt vernichtenden Kolossalität, die dann auch durch isolierte Föderaldiplomatie an der Spitze nicht zu retten ist. Was „unten" also verloren ist an bündischer Wirklichkeit, entföderalisiert das europäische Haus. Gefahren in diesem Sinne haben sich bereits gezeigt, vor allem die bisher immanente föderale Tendenz zur Mediatisierung niederer Einheiten und ihrer Einungen. Damit es nicht zu einem Verlust politischer Einung „unten" komme, muss diese Sperre gebrochen werden. Doch nicht minder gefahrvoll wirkt ein Zug, der die europäischen Institutionen seit ihrem Anbeginn begleitet hat: die Tendenz zum harten, nicht nur staatlichen, sondern hier im wahren Sinne des Wortes super-staatlichen Befehl in Kommissionsentscheidungen, ohne dass dies durch ein offenes, in welchem Sinn auch immer föderales Einungsverfahren begleitet, getragen würde. Die Kommission konnte sich wohl kaum anders durchsetzen, als in der Anwendung der alten Verwaltungsmaxime schwächerer Administrationen: flächendeckend flexibel - hart an einzelnen Punkten. In einem Schwall diplomatischer Wortformen verstecken sich zunehmend härtere Einzelentscheidungen; die Kommission administrativiert sich zusehends, trotz aller politischen Auflockerungsversuche, kann sie doch ihren eigentlichen Selbstand letztlich nach wie vor nur in Technokratie finden. Das Problem der Technokratien für die Demokratie mag ihre mangelnde Politizität sein - aus der Sicht der Einungsstaatlichkeit ist es ihr notwendiger Befehlston, so unbedingt, wie Technik eben nur „wahr sein kann", jedenfalls von dieser Überzeugung lebt. Verständlich ist daher der Ruf nach dem historischen Gegengift, nach der Parlamentarisierung der europäischen Strukturen, sie allein kann vielleicht Einungszwänge in die europäische Exekutive zurückbringen, wo die Kollegialität dazu nicht voll in der Lage ist. Doch bewusst muss dabei immer bleiben, dass auf diese Weise die abgekürzte, vielleicht kupierte Einungsform der parlamentarischen Mehrheitsbildung eingesetzt wird, dass damit auch ein Verlust an föderaler Kollegialeinung über das „letzte Wort", in der Kommission, verbunden ist, darin aber letztlich doch ein Verlust föderaler Werte.

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In der vielkritisierten Bürokratisierung setzt sich all dies in Brüssel zur Zeit noch immer fort, sie muss für jeden überzeugten Föderalisten geradezu der Prototyp einer Antibundesstaatlichkeit sein, in ihren zusammengefassten Strukturen. Auch hier könnten sich gefährliche Tendenzen nach „unten" fortpflanzen, wenn die nationalen Regierungen diesem Partner täglicher Gespräche eine immer mehr in sich geschlossene nationale Bürokratie entgegensetzen wollen, die mit einer Verwaltungsstimme sprechen soll, in der also nichts mehr von föderaler, nach „unten" geöffneter Vielfalt offen bleiben darf. Die Entbürokratisierung der europäischen Exekutive ist daher nicht nur ein Anliegen der parlamentarischen Demokratie in Europa; hier geht es zuallererst um jenen Föderalismus, der noch immer versucht hat, die festen Geflechte der Bürokratie in Einungen zu entzerren, von innen. Die größte Gefahr droht wohl dem innerstaatlichen Föderalismus, dem Einungsdenken überhaupt, aus einer wiedereinsetzenden Übersteigerung der Selbständigkeit der Mitgliedstaaten, bis etwa gar die föderale Einungsspannung in Europa auseinanderbricht in ein loses Nebeneinander verschiedener, mehr geteilter als kooperierender Mächte. Dies wäre nicht nur das Ende eines geeinten, es wäre auch das eines sich einenden Europas, für die Staatseinung schlechthin: Denn solange sie in den Einzelstaaten lebendig bleibt, sich dort immer mehr föderal entwickelt, wird eine Grundstimmung wirksam sein, welche auch „oben", in einer pyramidalen Analogia entis, dazu hindrängt. Wird die Spitze dieses Föderalismus gebrochen, so gibt es keinen Grund, auf unteren Ebenen solche Strukturen beizubehalten, ganz abgesehen davon, dass eine solche Entwicklung nur durch einen ganz harten Zusammenschluss auf der Ebene von Mitgliedstaaten möglich wäre, der dort zu einer Verkümmerung föderaler Strukturen führen müsste - und in der Tat droht eine solche Entwicklung ja auch von den früheren Einheitsstaaten des Westens. Diese Gefahren erkennen, heißt sie überwinden - nicht letztlich in Diplomatie, noch in Befehl, sondern in Staatseinung.

c) Selbststärkung des Föderalismus von Europa her Viel und immer wieder war von den antiföderalen Gefahren der europäischen Einung die Rede, vielleicht aus der einfachen staatspsychologischen Stimmungslage heraus, dass eine föderalisierte Spitze „schon genug an Bündischem bringe", aber auch aus Angst vor der Überkomplexität allzu hoch durchgezogener Einungsstrukturen. Demgegenüber setzt die Lehre von der Staatseinung, fortgesetzt nach Europa, auf ein Grundstreben nach Homogenität bei Bürgern und Regierenden aller Stufen: Kann grundsätzlich „unten" schlecht sein, was „oben" eingesetzt wird? Hier muss zunächst ein staatsgrundsätzlicher Gedanke stehen: Die so entwickelte Lehre ist getragen von der letzten Überzeugung, dass die Analogia entis sich als stärker erweisen wird als eine Antithetik von Föderalismus „oben" - Staatlichkeit „unten"; sie setzt dabei vor allem auf zwei Triebkräfte: auf den stets bewährten staatsorganisatorischen Nachahmungstrieb und auf ein Vereinheitlichungsstreben,

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das auf Dauer zwar komplizierte Vielfalt, nicht aber Gegenläufigkeiten erträgt. Dabei mag nun auch durchaus hegelianisch gedacht werden: Wer in Europa föderal, in den Einzelstaaten aber zentralistisch denken möchte, verwechselt die Synthese, die doch die Supranationalität bringen soll, mit der Antithese: Antithetisch stehen sich nicht Föderalismus und Zentralismus gegenüber, sondern die einzelnen Mitgliedstaaten, in ihren unterschiedlichen historischen, durchaus auch mehr oder weniger zentralistischen Ausprägungen. Der föderale Gegensatz besteht hier etwa zwischen der Ordnung Deutschlands und der Frankreichs oder Englands - und darüber muss nun die Synthese gefunden werden. Dass sie näher bei föderalisierten Thesen steht, ist nicht eine Niederlage, sondern ein Vorteil für die Zentralstaatlichkeit: Gerade auf diesem Wege vermag sie sich, nach innen, noch zu erhalten. Der Föderalismus aber kann als solcher auch ohne Schwierigkeit stufenmäßig in hegelianischen Kategorien fortgedacht werden, gerade er: Dann wölbt sich eben über den Antithesen der innerstaatlichen Ordnungen der Einungsträger die mitgliedstaatliche Gewalt, über deren, politisch, sozial und wirtschaftlich sicher ja stets antithetischer Vielheit die große, erst recht föderale Synthese Europas. Und gerade Hegel hat doch, über seinen höchst potenzierten Staat hinaus, die Türe zur höheren Weltstaatlichkeit geöffnet. Doch nicht nur in Philosophie kann innerstaatlicher Föderalismus Stärkung aus Europa erwarten, noch deutlicher in täglicher Praxis. Die geborenen Gegenspieler der deutschen Länder sind jene Bundesinstanzen, die nun ihrerseits im europäischen Raum zu Landesinstanzen werden. Ihre Vertreter werden besser verstehen, was ihre Einzelstaaten zuhause bedrückt, wenn sie sich selbst in einer analogen Rolle im Europäischen Hause zur Wehr setzen müssen. Hier lernen sie, im wahren Sinne des Wortes, liberale Einung. Doch über dieses föderale Verständnis hinaus können die Länder nun auf eine laufende Schwächung ihres Bundes-Partners rechnen, in welcher die Konzentrationstendenz des Föderalismus nach oben gebrochen, jedenfalls nach oben verlagert wird. Selbst wenn es dem Bund gelingen sollte, die Länder weithin nach oben abzusperren - er selbst wird durch den Durchgriff europäischer Instanzen auf Dauer entscheidend geschwächt, und es wird ihm auch nicht immer möglich sein, die den Mitgliedstaaten noch vorbehaltenen Freiräume allein zu verwalten. Gerade die notwendige Flexibilität der Einungsmaterien und der Einungsentscheidungen in Europa, die angesichts der großen Vielfalt immer bleiben wird, erzwingt eine neuartige Kooperation von Bund und Ländern in der Verwaltung dieser ihnen gebliebenen Freiheit, die der Bund nicht allein wird befehlend ordnen können. Zwar müssen die Länder wohl Versuche einer „Kaskadenstaatlichkeit" befürchten, welche sie durch Zwischenschaltung von normausführenden Bundesentscheidungen erst recht einengt und niederdrückt, doch auf Dauer wird der Föderalismus „oben" voll nach „unten" durchschlagen, auch mit seinen Freiräumen. In diesem Sinne werden schon, selbst wenn es zu einer Regionalkammer nicht kommt, die vielfachen Einflussmöglichkeiten wirken, welche sich die Länder, in den Formen eines Staats-Lobbyismus, in den europäischen Institutionen eröffnen. Sie werden dort, gerade wenn sich in diesem Bereich politisches Macht-

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bewusstsein verfestigt, offene Türen finden, der heute so übermächtige Bund kann durchaus in einen Zweifrontenkrieg verwickelt werden, in welchem ihm die Länder eben das entgegenhalten, womit er seine Position in Europa stützen will föderale Eigenständigkeit. Und in einer - wenn auch bescheidenen - sogar institutionell verfestigten Stärkung der Länderkompetenzen im Europäischen Einungsprozess ist dies im Grundgesetz bereits gelungen. Gerade eine Stärkung des europäischen Parlamentarismus kann der Wiederherstellung eines echten föderalen Gleichgewichts in Deutschland nur förderlich sein. Das Bundesparlament, der große Gleichschalthebel der deutschen Entwicklung, wird auf Dauer Kräfte an das Europäische Parlament abgeben müssen und Kompetenzen; gerade im Namen der höchsten, absoluten Einung kann es dann nicht mehr sprechen, es wird zu einer mediatisierten Föderalinstanz unter anderen. Die Gesetzgebung eines Europäischen Parlaments aber muss, notwendig, soviel an Freiräumen für Einungen auf tieferer Stufe offen lassen wie sie kein Bundesparlament je gewähren würde. Diese Freiheit wird durch eine „weitere Ebene von Durchführungsverordnungen" - auf der dann der Bund tätig wird - auch nicht wesentlich mehr beschränkt, denn die auszufüllenden Räume werden eben schon viel weiter sein; und hier schlägt darum auch die Stunde der Länder. Nicht anders wird sich, mit Notwendigkeit, die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeiten vollziehen. Auch sie haben, gerade in der Auslegung der Grundrechte, so unitarisierend gewirkt, wie dies schon zu Beginn des Zweiten Deutschen Reiches mit Recht befürchtet worden war. Deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit wird im Rahmen der Europäischen Gerichtsbarkeit ihren grundsätzlichen Standort behalten, langsam aber auf die Stufe der jetzigen Landesverfassungsgerichtsbarkeit zurückgeführt werden, während die Europäische Gerichtsbarkeit sich notwendig auf viel allgemeinere, flexiblere Formeln beschränken muss, als man dies heute aus Karlsruhe gewohnt ist. Harte, letzte Worte, die im Grunde stets einungsfremd und antiföderal sind, wird es also auch hier in Deutschland immer weniger geben. Am wichtigsten ist aber wohl wieder die föderale Grundstimmung: Sie wird sich im Bund wie in den Ländern verbessern, überall muss man bereit sein, miteinander zu sprechen, wenn Einungen auf europäischer Ebene ständig geübt werden müssen. Ins Haus steht dann eine entscheidende psychologische Föderalisierung der Bundesgewalt. Gerade wenn sich Deutschland als Mitgliedstaat, als Einungsträger, enger im europäischen Dialog zusammenschließen, mit einer Stimme sprechen muss, kann dies auf Dauer nur eine Aufwertung nicht allein des Dialogs, sondern auch der Einungsanstrengungen zwischen den Ländern, vor allem aber zwischen Bund und Ländern zur Folge haben; daraus entsteht dann eine Horizontalisierung vertikaler Bezüge, die schon als ein Wesen wahrhaft flexibler Staatseinung erkannt wurde, in einer Kooperation, die bisher immer wieder, im Namen der strengen Trennung von Bund und Ländern, kupiert worden ist. Mit anderen Worten: Der Föderalismus

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wird sich dann vor allem als eine Staatsform der Einungen, nicht der Gewaltenteilungen, der Gewaltendistanzen bewähren. Die wichtigste föderale Grundstimmung einer europäischen Einung liegt aber darin: Europa wird, für alle heute absehbare Zeit, näher, und auf allen seinen organisatorischen Ebenen, bei der Einstimmigkeit stehen als bei jener Mehrheitseinung, die sich in den nationalen Parlamenten bereits übermächtig durchgesetzt hat, mit ihren Majoritätsschemata auch die föderalen Kammern prägt. Föderalismus aber ist, in seinem tiefsten Wesen, eine Staatsform der Einstimmigkeit. Bleibt etwas von ihr im Europäischen Haus, so wird sich auch in dessen nationalem deutschen Raum nicht immer stärker majorisierend regieren lassen; denn stets hat das Modell einer „höheren Staatlichkeit" nicht sogleich, wohl aber auf Dauer, die „untere" geprägt. In Europa wird man sich, bei neuen Problemen und Materien, immer zunächst in virtueller Einstimmigkeits-Einung aufeinander zubewegen, erst in späteren Phasen vielleicht zu dem letzten Wort der Majorität übergehen. Deren eben doch wesentlicher Befehlscharakter über Unterlegene - Unterworfene - wird dann dorthin vor allem abwandern, wohin er stets gehört: in die Administration, während die rahmenschaffende Normsetzung sich in der Nähe der Einstimmigkeit bewegen wird; oder wäre es vorstellbar, nationale Gruppen im Europäischen Parlament, Vertreter in der Kommission, einfach zu majorisieren? Diese Grundstimmung einer einstimmigkeitsnahen Entscheidung wird nicht nur die europäischen Inhalte, sie wird vor allem das Verfahren prägen, von diesem aus in die Gliedstaaten hineinwirken. Wenn die europäische Gemeinschaft als ein großer Föderalismus entsteht, aus dessen Kategorien allein bestimmbar ist, wenn sich dort Staatseinung nicht abkapselt, sondern vollendet, so kann sie nur zum Kraftquell des deutschen Föderalismus werden. Die rechten Vorbilder müssen gefunden werden für dieses Europäische Haus, und es ist nicht nur das Amphitheater des Parlamentarismus, in dem heute so viele das alleinige Ziel Europas sehen, nach der Einzelstaaten Bild und Gleichnis. Auch dies ist ein Weg, doch er muss parallel, im Letzten dann konvergent mit anderen gegangen werden, näher an der Einstimmigkeit verlaufen, in unterschiedlichen oder gar nicht formalisierten Gestaltungen. Hinter ihnen, über ihnen allen muss die Staatseinung als höchster, Vielfalt bejahender und vielfältig ordnender Grundsatz bewusst bleiben. Das vereinte Europa hat seine Chance nicht im hegemonialen Befehl institutioneller Staatlichkeit gefunden, sondern im Zusammenschluss nicht gleicher, aber doch gleichberechtigter Partner. Der uralte Föderalismus der Deutschen straft Lügen denjenigen, der in diesem Lande nur Befehl und Gehorsam wittert. Europa soll an ihm nicht genesen, wohl aber sollte seine Neueinung gerade die Deutschen dahin führen, dass sie sich auf ihr altes Erbe besinnen. Europa, das große Feld der Schlachten, hat nun die Chance seiner Staatseinung, nicht aus gewonnener Schlacht, sondern in der amerikanischen Natürlichkeit der gemeinsamen Einwanderung - in eine neue, friedliche Zeit. Hier wird dann Einung

E. Europa - eine neue Staatseinung

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wirklich überall sein, in vielfältigsten, zum Teil ganz neuen, nach diesen weiter erneuerten organisatorischen Formen. Die Europäische Gemeinschaft wird zur höchsten Steigerung der Organisationseinung und des Föderalismus. Sie wird sich in die Gesellschaft der Europäer hinein fortsetzen, mit der größten Chance der Staatseinung: der lang dauernden staatlichen Unfertigkeit. Diese Betrachtung soll schließen mit einem Blick auf den europäischen Bürger, der die letzte Einungs-Einheit hier darstellt, wie in den Staaten. Er darf in der Staatlichkeit des europäischen Superföderalismus nicht verdrängt, mediatisiert werden, er muss gekräftigt werden, an der ihm gemäßen Basis. Er muss der letzte Träger des Einungsgefühls sein, dieses auch in sich aufnehmen, aus den vielfach gestuften Einungen, die sein Leben bestimmen. Einungsluft muss er atmen, nicht nur ihre Kräfte abgeben. In seinen vielen, vielstufigen Einungen ist dieser Einungsbürger zugleich die letzte, in sich geschlossene Einheit, mit der alle Einung beginnt - unfertig zugleich, wie dieser Vorgang, als soziales Wesen. Doch mit jeder Einung kommt er Europa näher, wie einem Stern, den er letztlich in seinem Go West erreicht.

F. Die Wiedervereinigung Deutschlands: Einung der Deutschen Die deutsche Wiedervereinigung ist eines der größten historischen Phänomene einer Staatseinung. Wer den Titel dieser Betrachtungen liest, wird zugleich und zuallererst daran denken, wenn auch viele der grundsätzlichen Gedanken, die dahinter stehen, längst vor der Wende vom November 1989 gedacht wurden. Gerade weil niemand dies alles voraussehen konnte, sehen sie sich heute darin bestätigt. Die Geschichte hat bewiesen, dass gerade die Gegenwart berufen ist, über ein neues Staatsrecht der Einung nachzudenken. Doch im Überschwang des Zusammenbruchs von Mauern, die dem Zusammenkommen der Menschen im Wege standen, darf nicht in der Wiedervereinigung vereinfachend Einigkeit und Einung gleichgesetzt, das Grundanliegen dieser Betrachtungen als gerade hier verwirklicht angesehen werden. Der nüchterne Tatbestand war nichts als ein Zusammenschluss zweier voll formierter Staatlichkeiten zu einer neuen Staatseinheit, wie dies nicht täglich, wohl aber in jeder Generation geschieht, einfach als Lauf der politischen Geschichte. Ein einmaliges Beispiel von Staatseinung ist das auch nicht darin, dass sich hier der deutsche Föderalismus stärken, jedenfalls verbreitern konnte - dies ist eben der traditionelle staatsrechtliche Raum der Deutschen, in keinem anderen kann sich ihr Zusammenschluss vollziehen. Der Beitritt bedeutete ja auch zuallererst einen Sieg der bereits traditionellen Institutionen der Bonner Rechtsstaatlichkeit, in der Erweiterung des Geltungsbereichs des Grundgesetzes lag zunächst nichts anderes als ein Weiterbau institutioneller Gewölbe. Vollzogen werden sollte vor allem Einheit, nicht Einung. Möglichst rasch und fest sollte sich das neue Gesamtdeutschland, bei all seiner föderalen Vielfalt, der Welt als eine neue, geschlossene Einheit zeigen, die Trennung verdrängt werden. In diesen Kategorien, nicht in denen des dynamischen Zusammenschlusses der Einung, musste hier, schon zum Besten europäischer und internationaler deutscher Politik, zuallererst gedacht werden. Seiner geschlossenen, in jahrzehntelanger Tradition bereits geronnenen Wertvorstellungen musste sich dieses aufnehmende Mutter-Gemeinwesen von Bonn in jenen Tagen klar und entschieden bewusst werden, es konnte sich nicht in Fluten der Bewegung öffnen, wollte es so ganz andersartige Staatlichkeit in sich aufnehmen, überhöhen. Vertragsverhandlungen, Übergangslösungen wurden zunächst als schleppendes Hemmnis gesehen, bald aber in der gemeinsamen Einheit vergessen, möglichst rasch jedenfalls verdrängt. Das alte Haus sollte in der Wiedervereinigung fester werden, durch sie nicht zur Disposition gestellt werden in laufender Erneuerung.

F. Die Wiedervereinigung Deutschlands: Einung der Deutschen

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In all dem war die Wiedervereinigung, die in anderen Formen kaum hätte Wirklichkeit werden können, vor allem ein Bekenntnis zu einer staatsrechtlichen Kontinuität und Statik, welche diese schlimme Zwischenzeit möglichst rasch aus dem Denken der Deutschen herausnehmen, dort nichts mehr übriglassen wollte als Einigkeit und Recht und Freiheit - die alte, neue deutsche Staatlichkeit als etwas Beendetes. Die deutsche Einigkeit in Einung verzögern - das hätte ihr Ende bedeuten können. Doch die Wiedervereinigung war auch ein mächtiger Einungsschub, der Wirkungen noch zeigen wird. Unvergessen wird doch bleiben, wie es begann: im völlig unorganisierten, wahrhaft zwanglosen Zusammenkommen von unzähligen Gruppen und Zirkeln, in freier Einung, mitten in einer Welt von Zwang und Gewalt. Hier, im Widerstand gegen das kommunistische Regime, hat der Sieg begonnen in den ersten Spontaneinungen, die sich außerhalb jeder Staatlichkeit gebildet, nein: die als solche ständig weitergewirkt, in dieser Weise die mächtigste bekannte Staatlichkeit unterminiert haben. Darin war das, was hier als Staatseinung beschrieben wurde, ganz Wirklichkeit: in ihrem Ausgang von einer nicht vorbestimmten Basis, in der Allgemeinheit der Einungsmaterien, der Vielfalt, ja Unbestimmtheit aller Einungsformen, vor allem aber in ihrer Dynamik und Dauer war dies die eindeutigste Staatseinung, die wohl je erlebt wurde; sie hat dieses Wort vor allem in ihrem großen Zug zu einer neuen Staatlichkeit voll verdient, die sie angestoßen hat. In diesen losen Zusammenschlüssen wollte man keine neue Einheit primär, vor allem wendete man sich gegen jene Über-Einheit, in welcher eine gewaltige und gewaltsame Staatlichkeit völlig erstarrt war. Freizügigkeit und Geistesfreiheit, Markt und Wohlstand - all dies waren nur Worte, Speerspitzen vielleicht für eine ganz neue Einung, die nichts mehr gelten lassen wollte als das, was sich vor ihrem strengen Gericht, eben auch als gesellschaftliche Spontaneinung oder durch ihren Konsens getragen, legitimieren konnte. Dies war der Aufstand der Einung nicht nur gegen den sozialistischen Einheitsstaat, sondern gegen die Einheit in Deutschland. Und dann erfolgte die wahrhaft nationale Erweiterung dieser Einungsdimension, vom Zirkel zur Nation ohne Hammer und Zirkel. Was sich in den Tagen von Leipzig und an der Mauer dann abspielte, war nichts als eine einzige wahrhaft gigantische Spontaneinung der Deutschen. Dem Betrachter schien es, als sei alle Staatlichkeit für diese Menschen vergessen, in Ost wie in West, und deshalb war bald ihr Ruf nicht der nach neuer Einheit, sondern nach der Wiedervereinigung; und so mancher historisch Denkende mag damals unter den Ängsten vor einer großen Anarchie gelitten haben, als Deutschlands Mauern da brachen, wo sie am festesten, in ideologischer Ewigkeit, gebaut zu sein schienen. Prekäre Staatlichkeit ist in diesen Tagen erlebt worden, doch nicht ihr Ende - ihre Erneuerung war gewollt, in dieser Spontaneinung. Bewiesen wurde damit eines wohl für immer: dass die Staatseinheit selbst dann, wenn sie durch die härtesten Institutionen, durch Mauern und Panzer gesichert scheint, nichts ist, ins Nichts fällt, wird sie von den Kräften der Einung verlassen. Diese historische Lehre aus dem geöffneten Brandenburger

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Tor sollten Politik und Staatsrecht in Deutschland nie mehr vergessen. Hier ist bewiesen worden, dass außerhalb von dynamischer Einung kein Staat auf Dauer sein kann. Wenn es einmal möglich war, dass Spontaneinungen derartige Umwälzungen bewirkten, so ist endgültig der Beweis für die „Grundnorm einer neuen Staatlichkeit" erbracht, die nicht an ihrer Spitze, sondern an ihrer Basis, als Grundstein, eingemauert ist: dass alle Staatlichkeit aus jener Einung nur erwachsen kann, die allein auch die Kraft hat, sie völlig zu zerstören. Von diesen Augenblicken an muss der deutschen Staatlichkeit bewusst sein, dass sie sich stets auf einem Vulkan bewegen wird. Möge ihr damit die Gnade der Angst geschenkt werden! Diese Revolution war - einmalig - nicht Zerstörung, sondern Einung, doch wie jede Revolution, so hat auch sie ihre Kinder gefressen - oder doch vergessen. Die ersten Träger der Spontaneinung hatten bald nur noch die Kraft zu nostalgischen Beschwörungen der ersten Stunde, als die Einung in der deutschen Einheit zu gerinnen begann und daher auf den alten Blöcken doch wieder aufbauen musste. In Runden Tischen und anderen institutionellen Improvisationen mochte dieser Anfang sich noch fortsetzen, er wird sich bald in Institutionen verlieren. Die Novemberakteure mochten das Versanden ihrer Dynamik in der Institutionalität des im Grundgesetz vorformierten Beitritts betrauern, bald haben sie sich wohl eingerichtet in den vorgefertigt angelieferten Häusern neuer Staatlichkeit; und sie hatten Verständnis dafür aufzubringen, dass die Deutschen des Westens sich nicht mit all ihren Errungenschaften, und auch ihren Einungen, sogleich voll zur Disposition eines ganz neuen Einungs-Aufbruchs stellen konnten. Dennoch muss sich nun die Mahnung an dieses Gesamtdeutschland wenden: Mit dem Beitritt ist der November nicht zu Ende gegangen, er kann nur verdrängt werden, dann aber bis in anarchisierende Formen, unterschwellig weiterbrennen. Dem ganzen Deutschland sollte man diese Glut lassen, sie nicht auslöschen in endgültigen Ordnungen. Der Aufruf zur permanenten Spontaneinung darf nicht verhallen, die Erinnerung an diese Tage muss täglich die Bereitschaft zum „Runden Tisch" neu wachsen lassen, der sich aus unzähligen kleinen runden Tafeln zusammensetzt. In dieser großen Lockerung sollten in Zukunft Beamte gestalten, Richter entscheiden, Politiker sich zusammenfinden, denn täglich muss auch in Zukunft schlimmes staatliches Erbe in Spontaneinung überwunden werden, nur so kann es gelingen. Dies ist die große November-Forderung an die deutsche Staatlichkeit: dass überall Raum bleibe auch für außerinstitutionelle, für wahrhaft außerordentliche Begegnungen, Einungen, Entscheidungen; dass aber innerhalb der Institutionen des Staates diese Dynamik sich fortsetze, jeden Einungsraum dort nutze und erweitere; und dass schließlich die Einung spontan möglichst ganz von unten komme, dadurch das „ganz Oben" erreiche. Diese deutsche Revolution war ein Einungszug durch die ganze Staatlichkeit hindurch, ihre Kräfte mögen kanalisiert werden, sie müssen weiter fließen.

F. Die Wiedervereinigung Deutschlands: Einung der Deutschen

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Als der Zyklus des Nachdenkens begann, der nun in den Betrachtungen zur Staatseinung sich schließt, mag manch einer die Beschwörung eines großen gemeinsamen Erfolges belächelt haben, als einen Triumphalismus der Vergangenheit. Den Deutschen ist nun ein solcher Triumph geschenkt worden, in unblutigem Glück, und in Staatseinung. Mögen sie diese Wellen weitertragen, in der doppelten Beziehung dieser Worte, damit die Einheit in Einung stets erstrebt, aber nie erreicht werde! Wirklich zusammenschließen auf Dauer kann sich wohl nur, wer dies in Einung ständig fortsetzen will, damit ihm das Glück der ersten Stunde erhalten bleibe. Der deutsche Föderalstaat hat die Gefäße dafür bereitgestellt, er kann, wie kein anderer, die neue Bewegung fassen, die ihn im November erfasst hat. Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Staatlichkeit in Einung weit geöffnet, sie wird diese Einheit nur in einem langen Prozess des Zusammenschließens von Menschen, Organisationen und Gliedstaaten vollziehen können, dies wird das Thema der nächsten Jahrzehnte in Deutschland sein. Die Wende in Deutschland treibt in die kopernikanische Wende des Staatsdenkens, erst recht und unausweichlich: Mit der deutschen Einheit muss deutsche Einung wachsen.

Epilog: Das Reich Einung und über sie hinaus . . . Die vier Betrachtungen „Triumph - Das große Erfolgsdenken als Staatsgrundlage", „Staatsrenaissance - Die Wiederkehr der guten Staatsformen", „Der Monumentalstaat - Staatlichkeit als „große Lösung" und diese Blätter sollten Erscheinungsformen einer großen, dauernden Staatlichkeit beschreiben und ihre Dogmatik vertiefen: Dies wurde „Das Reich" genannt, so wie viele Jahrhunderte in Deutschland es genannt haben. Wenn es je unzeitgemäße Betrachtungen gegeben hat, so sind es diese; doch wen das Wort nur an dunkle Zeiten erinnert, der hat es nicht verstanden. In diesem Land sind leidvoll all die Grundkräfte ertragen worden, die eine Imperialität tragen, an der Übersteigerung der Triumphe, Renaissancen und Monumentalitäten ist das Reich der Deutschen zerbrochen. Hier wurden nicht die Zerstörer bewundert, sondern die Trümmer. Am Ende dieser Betrachtungen steht noch immer der Glaube: Wie es einen Kreislauf der Demokratie gibt, von ihren selbstzerstörerischen Ansätzen über die niederdrückende Gleichheit zum Ausbruch in Anarchismen und zur Rettungssuche in der Personalen Gewalt - er wurde im Buch „Demokratie" beschrieben - , so gibt es auch einen Kreis der imperialen Kraftquellen, der sich in einer Staatseinung schließt, welche Erfolgsgefühle, geschichtliche Wiederkehr und Größenerlebnis zusammenfasst. Die Blätter über die Staatseinung liegen schon außerhalb der drei kantischen Kategorien, die im kausalen Staatsanstoß des Triumphalismus, in der Zeitdimension der Staatsrenaissance und in dem großen Raum der Monumentalität gefunden wurden: Hier wandert der Blick aus transpersonalen Höhen wieder zurück zu den Menschen, die sich, unter der Einheit ihres nationalen und europäischen Himmels, heute immer mehr, zusammenschließen. Und in diesem Sinne ist das alles wie ein Anruf der praktischen Vernunft zur überzeugten Aktion der Staatseinung, die immer bewegen sollte, weit über die Statik des normativen Seins hinaus. Dies ist Sinn und Rechtfertigung des Titels „Das demokratische Reich" - denn keine Staatsform hat größere Chancen zu einem solchen Reich, gerade in den Formen der Staatseinung. Grundsätze der großen, dauernden Herrschaft konnten entdeckt werden, und alles hier Dargestellte spricht dafür, dass sie gerade auch, ja vor allem, demokratischer Staatseinung in ständiger Dynamik bedarf. Doch nun gilt es, am Ende noch über die Schranken ihrer Wirksamkeit hinauszudenken - und auch dort trägt sie noch weiter, in wahrhaft imperialem Denken. Wenn dieses Wort einen Sinn hat, so kann er nur liegen in der Ermöglichung, der Erleichterung des Herrschens von oben durch Vielfalt unten, in Formen der

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Epilog: Das Reich - Einung und über sie hinaus.

Verfeinerung des Divide et impera. Dieser herkömmliche Grundsatz des Institutionenstaats wurde hier scharf einer Staatseinung gegenübergestellt, die integrieren sollte, nicht teilen will. Ein römisches Imperialgeheimnis bereits war es, Vielheit und Vielfalt der Beherrschten nicht nur zu belassen, sondern hervorzubringen, damit das Reich sich über ihnen halte, überschaubar gegliedert, durch die vielfachen Spannungen der Beherrschten entlastet. Dies war die Kunst wahrhaft imperialer Liberalität, von der Antike bis zu Ludwig XIV. und zum Englischen Weltreich. Systematisiert und ausgebaut kann dies werden, es wird stets ebenso wirksam wie selbstverständlich bleiben. Und ein Weg dahin führt auch aus der Staatseinung. Ihr schicksalhaftes Ende liegt, dies zeigte sich allenthalben, in der Erstarrung zur Staatseinheit; in dieser Gefahr steht ausgebaute Institutionenstaatlichkeit tagtäglich. Doch auch dann noch, über das Ende ihrer Dynamik, über ihr eigenes Sterben hinaus, wirkt die Staatseinung, im Sinne des imperialen Denkens: Sie kann die Größe des Herrschens noch weiter erhalten, selbst wenn sie nicht mehr Einung schafft, sondern nur mehr Einungsträger stehen lässt am Rande ihrer Via imperialis: Die Herrschaft fällt dann wieder zurück in das alte Divide et impera, in die Verfeinerung des Institutionenstaats, aus ihm gewinnt sie Kraft, wenn auch bereits in einer Skleroseeinung: Die Herrschaftssubjekte wirken nicht mehr dynamisch nach oben, doch ihre Vielzahl und Vielfalt bewirkt eine Minimierung des Herrschaftswiderstands. Große Räume werden in Teilen leichter überschaubar, es siegt die Staatsgeometrie, reibungsfreie Herrschaft über sich aufreibende Herrschaftsobjekte. Dann wird der Rückweg angetreten aus der Staatseinung in die erstarrte Vielfalt, und damit in das Staatswunder der alten römischen Imperialität, der Herrschaft über Vieles und Vielfältiges, nicht damit es sich in immer neuen Herrschaftskräften emporeine - dazu war es am Ende in Rom nur mehr in der „Militäreinung" des Basisaufstands von Legionen fähig - sondern damit „isolierte Mächte unten die Herrschaft oben in Ruhe wirken lassen". Die Staatseinung ist also ihres historischen Umschlags in eine große Antithese mächtig, in ein Teilen und Herrschen, in dem sich ihre Strukturen, ihres dynamischen Einungssinns beraubt, noch über Generationen, Jahrhunderte vielleicht, im Staat halten. Die früheren dynamischen Einungsträger werden notabliert, verzunftet, sie spielen nicht mehr Staat, nur mehr Staatstheater; doch auch in dieser Illusion wirkt noch die größere Vergangenheit wahrer Zusammenschlüsse. Dieser Zerfallszustand, und er mag, wie viele solcher Perioden, ein glücklicher sein, hat in Rom lange gedauert, er hat sich im Römischen Reich Deutscher Nation, in der Sklerose des Feudalismus, im Großen nochmals wiederholt, nicht so eindrucksvoll und blockhaft allerdings wie am Ende der Antike. Die Römer haben damals, aus der Dynamik ihres in seinen Anfängen durchaus in vielen Richtungen föderal geprägten Denkens, ihr Imperium in einer wahrhaft ägyptischen Imperialität letzter erstarrender Statik weitergetragen, als es nur mehr darum ging, durch Größe das Ende zu vertagen, und immer größer und starrer müssen die Statuen werden, wenn der Hauch der Einung sie nicht mehr belebt. Jene Monumentalität, der frühere Betrachtungen galten, sollte eigentlich nur den

Epilog: Das Reich - Einung und über sie hinaus.

Raum, die Dimension der Staatseinung erweitern; an deren Ende gelingt es mit ihren Kategorien sogar, ihre schwindenden Kräfte noch für eine Zeit durch erstarrte Größe zu kompensieren. Es gibt eben doch wohl diese beiden Formen des imperialen Denkens: Eine frühe, stärkere, in ihr wird in Einung gedacht, dort bedeutet Vielheit und Vielfalt nur die Chance sich zusammenballender Kraft, die Chance demokratischer Dynamik - und die spätere, müde und weise gewordene, welche dies alles getrennt hält, über Antithesen allein eine freischwebende Synthese sucht, nicht in der belebenden Verbindung. Es ist dies wie eine Doppelgesichtigkeit verschiedener Alter der staatlichen Vielfalt und ihrer Bewältigung - hier wurde eine Jugend beschrieben, der gerade die Wiedervereinigung Deutschlands neue Hoffnung gab. Denn es sollten ja stets Kräfte zur großen, dauernden Herrschaft gesucht werden - nicht nur zu deren Überdauern. Die ganz große Staatskraft bewährt sich aber auch in ihm, im Umschlag in ein „Überdauern in Vielfalt". Die Staatseinung vermag selbst, und gerade in dem von ihr unbewusst vorbereiteten Umschlag in ihr Gegenteil, ins Teilen und Herrschen, noch imperial weiterzuleben, große Räume, Mächte und Zeiten in Teilung beherrschbar zu machen. Darin liegt jenes Hinauswirken über sich selbst, die typische überschießende Kraft wahrer Quellen der Staatsmächtigkeit, die allem eigen ist, was in diesen vier Betrachtungen beschrieben wurde: Der große Staatserfolg setzt sich nicht nur in Kettenreaktionen triumphal fort, er wirkt selbst noch in der Erinnerung, in Fiktionen, historischen Lügen. Das kleiner Gewordene hält er in einer Größe, der es aus sich heraus nicht mehr fähig wäre. Staatsrenaissance wirkt ganz wesentlich weiter, nicht nur weil in ihr die Toten wiederkehren, sondern auch darin, dass in dieser Wiederkunft stets die Hoffnung liegt, sie werde sich nochmals vollziehen, unabsehbare Male. Diesen Ketteneffekt trägt auch ein Monumentalstaat in sich, der mahnt zu immer weiterem Hinaufbauen, dessen Dynamik zur Größe auch dann noch wirkt, wenn die Kräfte versagen: Napoleons Erbe in Frankreich beweist es. In all diesem Hinaus- und Hinüberwirken über sich selbst liegt im Grunde jener Umschlag ins Gegenteil, in welchem auch die Staatseinung in Staatsteilung noch imperial fortwirkt: Der Triumph kann noch in der Niederlage gefeiert werden, was eigentlich nur Staatswiederkehr ist, als das große Neue, Staatsgröße noch im Machtverlust; in diesem Geist haben noch vor kurzem die einstigen Kolonialmächte in strammer Haltung ihre Fahnen eingezogen. Wenn es eines Beweises bedürfte, dass auch in der Staatseinung ganz große Staatskräfte wirksam sind - er liegt gerade darin, dass sie, im Umschlag in die Teilungsstaatlichkeit, in der Erhaltung eines Imperiums in der Überschaubarkeit getrennter Vielfalt, weit über sich hinauswirkt; und vielleicht laufen diese Effekte parallel zueinander, in Mannesjahren der Staatlichkeit. Diese Kräfte beweisen aber noch mehr: dass der Staat, den sie tragen, stets zu Größerem unterwegs ist; dass in jeder, in der kleinsten Staatlichkeit, die Bejahung der Reichsidee liegt, schon im platonischen Sinn, das wird durch die Existenz die70 Leisner

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Epilog: Das Reich - Einung und über sie hinaus.

ser Kräfte in der politischen Wirklichkeit bewiesen. Sie konstituieren diesen Staat, jede von ihnen, zugleich aber weisen sie über ihn hinaus auf das ersehnte größere Reich, in ihrer überschießenden Kraft und in ihrer immanenten Mächtigkeit des Überdauerns, sei es auch im Umschlag ins Gegenteil. Heute ist all das gerade Wirklichkeit, wird es erlebt in Europa: im großen Staatserfolg des Zusammenschlusses, in der ständigen Staatsrenaissance europäischer Traditionen, in den großen europäischen Wirtschaftsräumen, vor allem aber im unbeirrt laufenden Einungsvorgang. In all dem liegt viel Kleines, vieles, das klein bleiben will - es ist dennoch dabei, die Imperialität zu erreichen. Werden nicht die eigentlichen, die ganz großen Reiche unbewusst geschaffen? Nach dem Römischen Imperium und der Römischen Kirche wird in jedem neuen, imperialen Anlauf gedacht an das Dritte Rom, in den napoleonischen wie russischen Machtträumen. Wenn es auch nicht in Macht geschenkt werden wird - bleibt es immer als ein Reich des Geistes zu erstreben, diese Imperialität vergeistigter Staatlichkeit als Ziel staatlicher Tagtäglichkeit. Dass alle eins sind, dekretierte mit militärischer Selbstverständlichkeit das Erste Rom; das alle Eins seien, darum betete das Zweite. Nur darauf lässt sich bauen, diese Bitte in Staatseinung auf die Erde zurücktragen, in der Hoffnung, dass auch hier unten der Weg vom Schwert zum Geist weitergegangen werde, in der Einung der Menschen, in der Sicherheit, dass sie auf ein Imperium hin unterwegs sind, das den Staat wahrhaft vergeistigt. Jedes Reich trägt etwas Heiliges in sich, so wird es angebetet von Vergil bis Dante. Den Deutschen war lange die Fackel dieser Heiligkeit anvertraut, sie sind den Kreuzweg des Reiches am schwersten gegangen. An seinem Ende hat ihnen ein letzter Vertreter verlorener Imperialität zugerufen, in der hoffnungsvollen Verzweiflung des sicheren Todes: „Es lebe das heilige Deutschland!" In den Formen der Staatseinung, in „Einigkeit und Recht und Freiheit" müssen Deutsche diese Reichsidee weitertragen nach Europa, so wie alle großen Nationen dorthin ihr nationales Vermächtnis bringen. Man mag Gedanken zum Reich Träume nennen, und auch diesen; hier wurde es gerne geträumt, dieses Somnium Scipionis vom Reich. Und vielleicht kommt doch ein Erwachen in den Mauern des Hohen Rom, in einer Staatseinung, die endgültig den Obelisk des Reiches aufstellt auf einer Place de la Concorde.

Sachregister der Rechtsbegriffe Abgeordnete 760 f., 981 ff., 1066 f. Abstimmung 243 Abstimmungsgeheimnis 1007 Absolutismen 430 f. Absolutismus 204 ff., 677 Abwägung 408 f., 773 Amnestie 249 ff. Amt 511 ff. Analogie 625 Anreiz 95 f. Anstalt 713 ff., 835, 976, 1025 Anwaltschaft 929 Arbeitsordnung 271 ff. Arkangewalt 747 f. Ausnahme 710 ff. Ausnahmezustand 73 f., 484 Außenpolitik 238, 596 f., 607 ff., 612 Autonomie 892 ff., 1040 siehe auch Selbstverwaltung Beamte 742, 810 - als Bürger 940 f., 987 Beamtenethos 474 Beamtenschaft - Parteipolitisierung 1023 Beamtentum 281 f. siehe auch Amt Begründungspflicht 736 ff. Bestimmtheit 776 Betroffenheitsdemokratie 811 Bildung 153 ff., 252 ff. - politische 265 f. Bundesrat 768, 985 f., 1062 ff. - Regierungsvertreter im 1065 f. - Zustimmung 1069 ff. Bundesratsstimmen, Instruktion 1062 f. Bundesstaat siehe Föderalismus Bundestag 1064 ff. siehe auch Parlament 70*

Brüderlichkeit 700 f. Bürger 280 ff., 515, 577, 581, 620, 628 ff., 637 ff., 644 f., 654 f., 658 ff., 688, 696 f., 815 f., 821 ff., 829 ff., 934 f., 969 Bürokratie 472 f., 667,709,734 f., 779 - in der EU 1093 Dekadenz 277 ff., 388 ff. Demokratie, passim siehe auch Betroffenheitsdemokratie Direkte Demokratie Parlament Volk Volkssouveränität Demokratisierung - der Gesellschaft 1008 ff. - Dezentralisierung 763 f., 889 ff. Diktatur 485 Direkte Demokratie 505 ff. Dritte Ebene 1053 ff. Dritte Welt 344 f., 963 f. Drittwirkung 703 Effizienz 317 f. Ehrungen, staatliche 668 f., 944 f. Eigentum 753, 901,988 - Umverteilung 515, 716 f. siehe auch Verteilung Eingriffsgewalt 487 Einheitsstaat 880 ff. Einung 764 ff. Erbrecht 276 ff. Ermessen 237 f., 469 ff., 535 ff. Errungenschaft, soziale 799 ff., 903 Europa, Ein(ig)ung 347 ff., 961 ff., 1080 ff. - Einstimmigkeit 1088 ff., 1096 f. - und Föderalismus 1080 f., 1083 ff., 1090 ff. - und Kommunalisierung 1085 ff. - und Souveränität 1091

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Sachregister der Rechtsbegriffe

- und Verfassungsgerichtsbarkeit 1095 - und Verwaltung 1087 f. - sui generis 1082 f. - Verteidigung 1091 Europäische Kommission 1088 ff., 1092 f. Europäisches Parlament 962, 1089,1092 ff. Europe des patries 1083 ff. Exekutive 235 ff., 10177 f., 697 f. Existenzminimum 978 Experimentierklauseln 416 ff. Fahnen 217 f. siehe auch Hoheitszeichen Familie 274 ff., 866, 892, 899, 907 Feudalismus 869 f., 930 Finanzverfassung 1071 f. Finanzverwaltung 717 Föderalismus 763 ff., 897, 907,1041 ff. - allgemeines Prinzip 1042 f. - und Europäische Ein(ig)ung 1085 ff. - Finanzverfassung 1071 f. - und Freiheit 1043 ff. - als Gewaltenteilung 1058 f. - Homogenität 1046 f. - kooperativer 913, 1060 - Verwaltung 1072 ff. Folgelast 806 f. Fraktionszwang 982 f. Französische Revolution 569, 687 f., 792 ff., 821 f., 957 f. Freiheit 129 ff., 201 ff., 315 f., 537 ff., 569 ff., 613 ff., 752 ff., 793 f., 847, 861, 892 f. - als Abwehranspruch 538 ff. - in Einung 916 f. - Gegenstand der Erkenntnis 441 - Persönliche 541 ff. - Transpersonal 832 - Wiederkehr der 440 ff. Freiheitsschutz, organisatorischer 509 ff. Friede 184 ff., 885 f. Funktionsfähigkeit 620 Fusionen 952 ff. Geeignetheit 776 f. Gefahrenabwehr 835 Gegenzeichnung 758 Gemeinde 240, 794, 940, 970,1035 ff., 794 siehe auch Kommunalisierung

Gemeindefinanzen 1039 f. Gemeinderat 1036 f. Generalklauseln 533 ff. Generationenvertrag 93 f. Gerechtigkeit, soziale 179 ff. Gerichtsbarkeit 245 ff., 330, 495 ff., 698, 976 f. - Gesetzesbindung 497 f. - Unabhängigkeit 497 Gesellschaft 995 ff. siehe auch Staat und Gesellschaft Gesellschaftsrecht 910 f. Gesetz 451 ff., 530 ff., 706 ff. Gesetz und Verwaltung 531 f. - und Verfassung 451 ff., 532 f. Gesetzesflut 453 ff., 498, 707 f. Gesetzgebung - Technizität der 459 Gewaltenteilung 1036,1044 f. Gewaltmonopol 575, 774 Gewerkschaften 501 f., 662, 673, 918 f. Gewohnheitsrecht 913 f. Gleichheit 60 f., 132 ff., 252 f., 626 ff., 701 ff., 867, 882, 976 - und Gesetz 706 ff. - und Öffentlichkeit 734 f. - Steuer-716 ff. - transpersonale 832 Globalität 729 ff. Gnadenerweis 249 ff. 844 Grundrechte 363, 539 ff., 752 ff., 934 f., 977 ff. Grundrechtskatalog 544 ff. Härteregelungen 712 Haushaltsgesetz 727 f. Herrschaft 973 ff. Herrschaftsvertrag 528 f., 1033 f. Hierarchie 516 ff., 816 f., 1021 Hochschule 261 ff. siehe auch Universität Hoheitsgewalt 836 f., 1032 f. Hoheitszeichen 838 Ideologie 337,455 ff. Imperatives Mandat 981 f. Institutionen 862 ff., 1002 ff. Institutionelle Garantie 545, 753

Sachregister der Rechtsbegriffe Integration 813 f. Integrationslehre 96 f., 698 ff. Juristische Person des Öffentlichen Rechts 836

Machiavellismus 308 ff. Machtwechsel 434 ff., 998, 1003, 1015 f. Mandat 980 ff. Markt 142 ff. Marktwirtschaft 886,930 ff. Marxismus siehe Kommunismus Maßnahmegesetz 706 f. Medien 84 f., 229 ff., 743 ff. Mehrheit 646 f. - qualifizierte 1012 ff. Mehrheitsentscheidung 1003 Mehrheitsprinzip 831 Menschenrechte 537, 610 f., 934 f. Menschenwürde 977 Militär 75 ff., 822 f. - als Ausnahmegewalt 485 f. Militärstaat 606 Ministerialbereich 1022 ff. Minderheitenschutz 1011 ff. Mitbestimmung 917 ff., 947 - betriebliche 1024 f. Mittelstandsförderung 724 f. Monarchie 480 ff. Monokratie 480 ff. Moral 433

Kabinett siehe Regierung Kammern 916 f. Kernbereich 813 f. Kirche 72 ff., 136 ff., 196 f., 206 f., 567 f., 677 Kodifikation 460 ff., 708 f. Kollegialität 492 ff. Kommunalisierung 767, 1035 ff. - und Europäische Ein(ig)ung 1085 ff. siehe auch Gemeinde Kommunalreformen 1038 f. Kommunalverwaltung 1036 f. Kommunismus 172 ff., 367 ff. siehe auch Überbaulehre Rätesystem Russische Revolution Kompilation 475 ff. Kompetenz siehe auch Zuständigkeit Kompromiss 647 Konsens 398 ff., 873 f., 902 - Verfassungs-435 Konsulat 482 f. Kontinuität 326 ff. 332 ff., 956, 1014 ff. - und Machtwechsel 434 ff. Konzentration in der Wirtschaft 729 ff. Korporativismus 984 f. Kulturhoheit der Länder 1049 f. Kulturstaat 153 ff., 252 ff., 678 Kunst 155 ff., 199 Kunstförderung, staatliche 160 f. Kunstfreiheit 159 ff.

Nation 1084 Nationalfeiertag 215 f. Nationalhymne 216 f. Naturrecht 312 f., 392 ff. Normative Kraft des Faktischen 796 Normen 54 ff., 299 ff. siehe auch Gesetz Normflut 389 Notstand siehe Ausnahmezustand Notwendigkeit I I I

Länder, Staatlichkeit 768 f., 1053, 1057 f. Länderkompetenzen 1048 ff. Ländermaterien 1052 f., 1061 f., 1070 Lebensverhältnisse, gleichwertige 1062 Legalität 235 ff. - und Legitimität 327 ff. siehe auch Gesetz Literatur 163 ff.

Öffentliche Einrichtung 713 f. Öffentlicher Dienst 780 Öffentliches Interesse 575, 616, 772 f. Öffentliches Recht - und Privatrecht 825 Öffentlichkeit 733 ff. - und Gleichheit 734 f. Offene Staatlichkeit 952, 971

Sachregister der Rechtsbegriffe Ombudsmann 499 ff. Opposition 797 f. Oppositionspartei 998 Orden 218 f. siehe auch Ehrungen Organisationen - Einung von 908 ff. Organisatorischer Freiheitsschutz 544 f., 1044

538,

Pandektistik 373, 389 f., 475,496, 530 Parlament 241 ff., 697, 727 f., 760 ff. - als Ausnahmegesetzgeber 711 - Ausschüsse 761 f. - Beschließende 985 - Plenum 761 f., 983 Parteien 501, 889, 997 ff., 983 ff. - Finanzierung 666 f. - Koalitionen 998 f. Parteiengesetz 968 Parteiprogramm 999 f. Personalismus 828 ff. Personalvertretung 735, 1026 ff. Planung 239,470 f., 775 f., 932 Plebiszit 506 Pluralismus 903 ff. Politische Vertträge 1070 f. Polizei 520, 823 ff. Polizeirecht 774 Präsidentialismus 758 f. Privatautonomie 885 Privatrecht 372 ff., 785, 825 ff., 902 - und öffentliches Recht 528, 967 Privatsphäre 937 f. Privatwirtschaft 729 ff. Protokollpräsident 757 f Prozessrecht 225 f. Prüfungen 270 f. Rätesystem 958 f., 984 ff. Rechtsanwendung 468 ff. Rechtskraft 795 Rechtsstaatlichkeit 540, 615 ff., 737, 831 Rechtstechnik 407 ff., 575 f., 619 ff. Rechtsvergleichung 346 ff. Rechtswissenschaft 474 ff. Regierung - Bereich der 698 - Kollegialität 492, 1018

Regierungsprogramm 693 f. Regionalismus 766, 990 Repräsentation 979 ff. Republik 685 f. Restauration 357 ff. Revolution 123 ff., 429 ff., 791 ff. Rentendynamisierung 799 ff. Richter siehe Gerichtsbarkeit Richterrecht 496 ff. Rezeption 457 ff. Römisches Recht 91 f., 462 ff., 465, 474, 488 ff., 508, 516, 567 ff. Russische Revolution 74, 821 f., 958 f., 965 f. Schweiz, Staat(srecht) 598, 765, 769 f., 782, 794, 941 f. Schule 154 f., 259 ff. Schwächerenschutz 502 f., 632, 924 ff. Selbstverwaltung 386, 516 f. siehe auch Autonomie Gemeinden Kommunalisierung Senat 488 ff. Souveränität 102 ff., 484 f. - äußere und innere 593 ff. - und Europäische Ein(ig)ung 1091 Sozialstaat 628, 700,1018 f. Sozialversicherung 628, 819 f., 884 Sozialvertrag 183 f., 868 ff., 926 f. Sparsamkeit 719 f. Spekulation 932 Sperrminorität 1013 Staat 92 f., 657 ff., 682 ff. - Persönlichkeit 836 - Service- 886 f. - als Verfahren 900 - Wesen 862 ff. Staat und Gesellschaft 473 f., 826 f., 995 ff. Staatenbund 1083 ff., 1090 Staatenverbindungen 962 f. Staatsaufgaben, wesentliche 834 Staatsausgaben 722 f. Staatsbauten 227 f., 361 f., 714 f., 722 f. Staatsfinanzen 716 ff. Staatsformen 310 ff., 507, 681 Staatsgebiet 586 ff.

Sachregister der Rechtsbegriffe Staatsgeheimnis 107 f., 747 f. Staatsgesellschaftsrecht 910 f. Staatshaushalt 721 ff. - Einheit 720 Staatskunst 158 f., 201, 226 ff. Staatsoberhaupt 233 ff., 757 ff. - kollektives 482 f. Staatsorganisation 749 ff. Staatspartei 999 f. Staatssekretär 668 Staatssouveränität 867 f. Staatstheater 62 f., 215 ff., 942 Staatsverschuldung 636 Staatsziel 902 f. Steuern 633 Steuerkomplikation 721 Steuerrecht - Progression 705 Steuerrechtfertigung 720 Steuerreform 798 Steuerstaat 716 ff. Strafrecht 248 f. Subsidiarität 617, 893 ff., 1048 Subventionen 667 f., 723 ff. Supranationalität 1080 ff. System 90 ff., 353 ff. Tarifvertrag 918, 1025 Teamarbeit 816 f. Teilhabe 810 ff. Terrorismus 81, 612, 823 Todesstrafe 861 Toleranz 888 Trial and error 438 f. Tradition 66 ff., 133 ff., 326 ff., 589, 671, 1051 Transpersonalismus 827 ff., 865 f. Typisierung 773 Überbaulehre 150 ff., 365 ff., 658 f., 967 Umverteilung 515, 716 f. siehe auch Verteilung Umweltrecht 393,444,473, 745, 780, 835 Universität 166, 845 f. Verbände 920 ff., 967 Verordnung 706 Vereinigte Staaten 343 f., 959 ff.

- Demokratie 689 f. - Präsidentialismus 759 Vereinigungsfreiheit 988 Vereinte Nationen 611 Verfahren 362 f., 901 Verfassung 447 ff., 750 ff. - als Rahmen 448 - als Verfahren 447 - materielle 458, 751 - Systematik 508 Verfassunggebung 439 ff. Verfassungsänderung 444 f. Verfassungsgerichtsbarkeit 251 f., 499, 754 ff., 978 - und Europäische Ein(ig)ung 1095 Verfassungsgesetzgebung 443 ff. Verfassungsinterpretation 445 ff. - historisch/subjektive 446 f. Verfassungsrisiko 449 ff. „Verfassungsväter" 442 f. Verfassungswandel 450 f. Verhältnismäßigkeit 777 Verteidigung 113 ff., 725 f., 815 f. siehe auch Militär Verteilung 82, 149 f., 177 f., 304 f., 631 ff. 728 f. siehe auch Umverteilung Vertrag 528 ff., 914 f. - verwaltungsrechtlicher 529, 837, 1030 ff. Vertrauen 914 Verwaltung 61, 464 ff., 481 f., 513, 519 ff., 525 ff., 742 f., 770 ff.. - als Staatsgewalt 1017 f. - Ein(ig)ung von Organisationen 1016 ff. - Kooperation in der 1020 - Mittelstufe 779 - Politisierung 767 f. - und Bundesrat 1072 ff. - und Europäische Ein(ig)ung 1087 f. Verwaltungsakt 803, 1033 Verwaltungseinheiten 1017 f. Verwaltungsgerichtsbarkeit 467 Verwaltungsorganisation 471 f. siehe auch Bürokratie Verwaltungsrecht 465 f., 624, 772 ff. Verwaltungstätigkeit 464 ff.

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Sachregister der Rechtsbegriffe

Verwaltungsrechtlicher Vertrag siehe Vertrag, verwaltungsrechtlicher Verwaltungsverfahren 471 Völkerrecht 594, 609, 914 Volk 304,503 ff., 576 ff., 644 ff., 669,684 f., 695 ff.,993 ff. Volkspartei 922, 968 f., 1003 Volkssouveränität 432, 504 f., 577, 645, 684 ff., 696 f., 867 f. Volkstribun 500 f. Vorhersehbarkeit 756 Wahlen 79 f., 742,760, 1006 f. Wahlrecht 935, 978 Wahrheit 83 ff., 263,422 ff., 740 - und Richtigkeit 422 Weimarer Verfassung 56

Wesentlichkeitstheorie 978 Werte 383 f., 408 f., 901 - Verfassungs-446 Wettbewerb 79,730 f., 886 Wiedervereinigung, deutsche 1098 ff. Wirtschaftsverwaltung 732 f. „Wirtschaftswunder" 137 ff. Wissenschaft(sfreiheit) 165 ff. Zeit und Recht 300 f., 336 ff., 377, 588 ff. Zentralisierung siehe Dezentralisierung Zuständigkeit 362, 511 f. Zwangsverband 916 f. - kommunaler 1038 Zwischengewalten 661 f., 673 f., 976