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German Pages [808] Year 2011
QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR HÖCHSTEN GERICHTSBARKEIT IM ALTEN REICH HERAUSGEGEBEN VON FRIEDRICH BATTENBERG, ALBRECHT CORDES, ulrich eisenhardt, peter oestmann, Wolfgang Sellert
Band 26 Teil I
DAS REICHSKAMMERGERICHT UND SEINE RICHTER Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich Teil I: Darstellung von SIGRID JAHNS
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
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Für Martin zum 3. Juni 2011
Inhalt von Teil I und II Teil I: Darstellung Verzeichnis der Tabellen, Präsentationsschemata, Karten, Abbildungen und Verwandtschaftstafeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII I.
Einführung ................................................... .
1.1.
Die Erforschung des "kaiserlichen und des Heiligen Römischen Reichs Kammergerichts": doch noch eine Erfolgsgeschichte ..
1.2.
Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
II.
Funktion und Besetzung des Kammergerichts . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
II.l.
Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches.
38
11.1.1. 11.1.2.
Das Kammergericht im Gefüge der Reichsverfassung . . . . . . . . . Die rechtswissenschaftliche Bedeutung des Kammergerichts: vom Vorreiter zur Nachhut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normative Zuständigkeit und faktische Wirksamkeit des Kammergerichts: Kontinuität und Funktionswandel........... Funktionsbestimmung in der Spätzeit: Das Kammergericht zwischen Schwäche und Bedeutung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
90
11.2.
Das Personal des Kammergerichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
11.2.1. 11.2.2. 11.2.2.1. II.2.2.2. 11.2.2.3.
Das Personal insgesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kameralkollegium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kammerrichter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Präsidenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Direktorialämter als Objekte kaiserlicher Besetzungsund aristokratischer Akquisitionspolitik....................... Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen.....
98 104 106 119
Die Besetzung der Assessorate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Präsentationssystem: Geschichte und Funktion im politischen System des Alten Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entstehung und Interpretation eines Prinzips: 1495-1555 . . . . . .
168
11.1.3. 11.1.4.
11.2.2.4. Il.3. 11.3.1. 11.3.1.1.
60 74
135 142
168 169
VIII
11.3 .1.2 11.3 .1.2.1. 11.3.1.2.2. 11.3 .1.3. 11.3.1.3.1. 11.3 .1.3 .2. 11.3 .1.3 .3. 11.3 .1.4. 11.3 .1.4.1. 11.3.1.4.2. 11.3.1.4.3. 11.3.2.
Inhalt von Teil I und II
Der Kampf um Paritätisierung des Präsentationssystems: 1555-1648/54................................................. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: die Zäsur von 1648/5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ideal und Wirklichkeit nach 1648/54.. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . Besoldungsmangel und Unterbesetzung....................... Die Problematik des Paritätsprinzips. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strittige Kreispräsentationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Modifikationen des Präsentationssystems im 18. Jahrhundert............................................. Der Reichsschluß von 1719/20 .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. Der Reichsschluß von 1775 und seine Realisierung............ Epilog: 1802-1806............................................. Das Präsentationssystem: ein Scharnier zwischen Verfassungsund Sozialgeschichte..........................................
210 210 234 262 264 269 286 297 297 313 325 327
III.
Das Gruppenprofil der Assessoren und der erfolglos Präsentierten in der Spätphase des Alten Reiches . . . . . . . . . . . . . . 343
III.1.
Geographische Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
Die Norm...................................................... Die Realität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten. . . . . . Einzugsbereich und Rekrutierungsmuster einzelner Präsentationen................................................. III.1.2.2.1. Kurbraunschweig und Kursachsen............................. III.1.2.2.2. Brandenburg-Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.1.2.2.3. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.1.2.3. Das Reich als Herkunftsraum..................................
111.1.1. III.1.2. III.1.2.1. III.1.2.2.
343 368 369 397 397 406 418 434
111.2.
Das Ausbildungsprofil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
111.2.1. 111.2.2. 111.2.3.
Die normative Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Studium........................................................ 473 Juristische Praktika............................................ 521
111.3.
Assessorat und soziale Mobilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
111.3.1. 111.3.2.
Der normative Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 7 Soziale Herkunft............................................... 550
544
Inhalt von Teil I und II
IX
111.3.3. 111.3.4. 111.3.5. 111.3.6. 111.3.7.
Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiraten....................................................... Beziehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akademische Grade und Nobilitierungen...................... Stufen der Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
561 566 570 581 599
IV.
Die Personalverfassung unter Anpassungsdruck...............
601
IV.l.
Ein Normensystem "im Kreislauf der Natur"...................
601
IV.2.
Die Situation im 18. Jahrhundert...............................
611
IV.2.1. IV.2.2.
611
IV.2.2.1. IV.2.2.2. IV.2.2.3. IV.2.3. IV.2.3.1. IV.2.3.2. IV.2.3.3.
Rahmenbedingungen........................................... Fallbeispiele aus dem Bereich der fachlichen Eingangsvoraussetzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mindestalter................................................... Zweite Proberelation........................................... Terminus ad quem der vollen richterlichen Qualifikation....... Fallbeispiele aus dem Bereich sozialer Merkmale.............. "Ehrliche Geburt".............................................. "Aut nobilis aut graduatus" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "Nahe Sipp- oder Schwägerschafft". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V.
Schluß: Das Kammergericht- ein höchstes Gericht im Reich.. 672
Anhang:
Liste der zwischen 1648 und 1806 am RKG amtierenden Kammerrichter und Präsidenten...............................
676
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
681
I. II. III. IV. V. V.1.
681 690 699 754 763
V.2. VI. Vl.l. Vl.2.
Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen und Literatur erschienen vor 1815 . . . . . . . . . Gedruckte Quellen und Literatur erschienen nach 1815........ Nachschlagewerke und andere Hilfsmittel..................... Universitätsmatrikeln und Promotionsverzeichnisse........... Bibliographien und Nachschlagewerke zur Universitätsgeschichte..................................................... Einzelne Universitäten und sonstige Hochschulen............. Leichenpredigten.............................................. Leichenpredigten-Sammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leichenpredigten-Kataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
614 614 617 623 632 633 643 656
763 764 769 769 769
X
Inhalt von Teil I und II
Personenregister zu Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
771
Abkürzungen und Siglen s. in Tl.II, Bd.l, S.XLIX-LXII.
Teil li: Biographien Band 1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Vorbemerkung zu den Biographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der erfaßte Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Schema der Biographien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX IX XII
Wegweiser I zu den Biographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIII Wegweiser II zu den Biographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXVIII
Sachregister.......................................................... XXXIII Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLIX Die kurmainzischen Präsentationen (Biogr. 1-5) ...................... . Die kurtrierischen Präsentationen (Biogr. 6-13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
Die kurkölnischen Präsentationen (Biogr. 14-17)......................
121
Die kurböhmischen Präsentationen (Biogr. 18-20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
Die kurbayerischen Präsentationen und die kurpfälzischen Präsentationen wegen der altpfälzischen 5. Kur (Biogr. 21-24).........
209
Die kursächsischen Präsentationen (Biogr. 25-28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
Die kurbrandenburgischen Präsentationen (Biogr. 29-37)..............
287
Die kurpfälzischen Präsentationen wegen der neupfälzischen 8. Kur (Biogr. 38-40)..................................
369
Die kurbraunschweigischen Präsentationen (Biogr. 41-47).............
415
Die altemierenden evangelischen Kurpräsentationen (Biogr. 48-49)....
463
Die kaiserlichen Präsentationen (Biogr. 50-52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
483
Die Präsentationen des Österreichischen Kreises (Biogr. 53-56)........
513
Inhalt von Teil I und II
XI
Die Präsentationen des Burgundischen Kreises (Biogr. 57-62) . . . . . . . . .
551
Die Präsentationen des Fränkischen Kreises evangelischen Teils (Biogr. 63-68)....................................
637
Band2 Die Präsentationen des Fränkischen Kreises katholischen Teils (Biogr. 69-76)......................................
699
Die Präsentationen des Bayerischen Kreises I (kurbayerische Nomination) (Biogr. 77-81)............................
803
Die Präsentationen des Bayerischen Kreises II (salzburgische Nomination) (Biogr. 82-87).............................
891
Die Präsentationen des Schwäbischen Kreises evangelischen Teils (Biogr. 88-92).....................................
981
Die Präsentationen des Schwäbischen Kreises katholischen Teils (Biogr. 93-98).......................................
1033
Die Präsentationen des Oberrheinischen Kreises evangelischen Teils (Biogr. 99-10 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1093
Die Präsentationen des Oberrheinischen Kreises katholischen Teils (Biogr. 102-1 03). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1115
Die Präsentationen des Niederrheinisch-Westfalischen Kreises evangelischen Teils (Biogr. 104)..............................
1143
Die Präsentationen des Niederrheinisch-WestfaJischen Kreises katholischen Teils (Biogr. 105-107)...........................
1155
Die Präsentationen des Obersächsischen Kreises I (Biogr. 108-1 09). . . .
1193
Die Präsentationen des Obersächsischen Kreises II (Biogr. 110-119)...
1223
Die Präsentationen des Niedersächsischen Kreises I (Biogr. 120-123)..
1347
Die Präsentationen des Niedersächsischen Kreises II (Biogr. 124-12 7)..
1407
Die alternierenden evangelische Kreispräsentationen (Biogr. 128) . . . . .
1451
Zu Tl.II CD-ROM mit "Biographien.pdf" für Volltextsuche und "Wortliste.exe" mit Stichwortindex in Rückentasche von Tl.II, Bd.2.
Verzeichnis der Tabellen, Präsentationsschemata, Karten, Abbildungen und Verwandtschaftstafeln Tabellen Tabelle I:
Das RKG-Personal in Zahlen .. .. . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . .
102
Tabelle 2:
Nähe oder Ferne des Präsentierten zum Kreis des Präsentanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
375
Tabelle 3a: Praktika am RKG, Reichshofrat oder Reichstag I............
533
Tabelle 3b: Praktika am RKG, Reichshofrat oder Reichstag II . . . . . . . . . . .
535
Präsentationsschemata Katholisches Präsentationsschema von 1654. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
252
Evangelisches Präsentationsschema von 1648 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Doppelschema von 1648/54 nach der Rangordnung der Präsentanten und Assessorate................................................................
260
Gangbare und nicht gangbare Präsentationsberechtigungen 1719/201775/82 nach der Rangordnung der Präsentanten und Assessorate.........
304
Präsentationsschema von 1781/82 nach der Rangordnung der Präsentanten und Assessorate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
323
Karten Karte I a:
Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller RKG-Assessoren und sonstigen Präsentierten des Untersuchungszeitraums 17401806, die Kurbraunschweig im Rahmen der Kurpräsentation sowie der Niedersächs. Kreispräsentation rekrutierte.......... 399
Karte I b:
Geburtsorte aller RKG-Assessoren und sonstigen Präsentierten des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die Kurbraunschweig im Rahmen der Kurpräsentation sowie der Niedersächs. Kreispräsentation rekrutierte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
Karte 2a: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller RKG-Assessoren und sonstigen Präsentierten des Untersuchungszeitraums 17401806, die Kursachsen im Rahmen der Kurpräsentation, der alternierenden ev. Kurpräsentation sowie der Obersächs. Kreispräsentation rekrutierte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
XIV
Verzeichnis der Tabellen
Karte 2b: Geburtsorte aller RKG-Assessoren und sonstigen Präsentierten des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die Kursachsen im Rahmen der Kurpräsentation, der altemierenden ev. Kurpräsentation sowie der Obersächs. Kreispräsentation rekrutierte . . 403 Karte 3a: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller RKG-Assessoren und sonstigen Präsentierten des Untersuchungszeitraums 17401806, die Brandenburg-Preußen im Rahmen der Kurpräsentation, der altemierenden ev. Kurpräsentation, der ev. Fränk. Kreispräsentation, der ev. Niederrhein.-Westfäl. Kreispräsentation, der Obersächs. Kreispräsentation sowie der Niedersächs. 413 Kreispräsentation rekrutierte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karte 3b: Geburtsorte aller RKG-Assessoren und sonstigen Präsentierten des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die BrandenburgPreußen im Rahmen der Kurpräsentation, der altemierenden ev. Kurpräsentation, der ev. Fränk. Kreispräsentation, der ev. Niederrhein-Westfäl. Kreispräsentation, der Obersächs. Kreispräsentation sowie der Niedersächs. Kreispräsentation rekrutierte........................................................... 414 Karte 4a: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller RKG-Assessoren und sonstigen Präsentierten des Untersuchungszeitraums 17401806, die Österreich im Rahmen der kurböhmischen Präsentation, der kaiserlichen Präsentation, der Österr. Kreispräsentation sowie der Burgund. Kreispräsentation rekrutierte . . . . . . . . 420 Karte 4b: Geburtsorte aller RKG-Assessoren und sonstigen Präsentierten des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die Österreich im Rahmen der kurböhmischen Präsentation, der kaiserlichen Präsentation, der Österr. Kreispräsentation sowie der Burgund. Kreispräsentation rekrutierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Erläuterungen zu den Karten 5a-5c...........................
437
Karte 5a: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller 92 im Untersuchungszeitraum 1740-1806 amtierenden RKG-Assessoren . . . . . . . . . . 438 Karte 5b: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller 36 sonstigen im Untersuchungszeitraum 1740-1806 auf ein RKG-Assessorat präsentierten, jedoch nicht aufgeschworenen Juristen sowie Dienstort eines späteren RKG-Assessors zur Zeit seiner erfolglosen ersten Präsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
Verzeichnis der Tabellen
Karte 5c:
XV
Dienstorte zur Zeit der Präsentation sämtlicher 128 im Untersuchungszeitraum 1740-1806 amtierenden RKG-Assessoren und sonstigen auf ein RKG-Assessorat präsentierten, jedoch nicht aufgeschworenen Juristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Erläuterungen zu den Karten 6a-6c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
441
Karte 6a:
Geburtsorte aller 92 im Untersuchungszeitraum 1740-1806 amtierenden RKG-Assessoren................................ 442
Karte 6b:
Geburtsorte aller 36 sonstigen im Untersuchungszeitraum 1740-1806 auf ein RKG-Assessorat präsentieren, jedoch nicht aufgeschworenen Juristen sowie Geburtsort eines späteren RKG-Assessors mit erfolgloser erster Präsentation . . . . . . . . . . . . 443
Karte 6c:
Geburtsorte sämtlicher 128 im Untersuchungszeitraum 17401806 amtierenden RKG-Assessoren und sonstigen auf ein RKG-Assessorat präsentierten, jedoch nicht aufgeschworenen Juristen....................................................... 444
Karte 7:
Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller 16 am 1.1.1740 amtierenden RKG-Assessoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
457
Karte 8:
Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller 37 RKG-Assessoren des Amtsjahrzehnts 1780-1789 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
458
Abbildungen Abb. 1:
Präsentationsberechtigungen und gleichzeitig zu besetzende bzw. besetzbare RKG-Assessorate (für den Zeitraum 1719/201775/82) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
Abb.2:
Universitätsbesuch der 61 evangelischen Assessoren und sonstigen Präsentierten (am RKG tätig bzw. präsentiert 17401806)......................................................... 482
Abb. 3:
Universitätsbesuch der 67 katholischen Assessoren und sonstigen Präsentierten (am RKG tätig bzw. präsentiert 1740-1806) . 483
Verwandtschaftstafeln Gemmingen- Fleckenbühl gen. Bürgel- Frantz
557
Verwandtschaftstafel 11: Broich- Esch- Steinhausen- Schütz- Sachs Coll- Gaerz- Cramer v. Clausbruch- GehlerHammer- Seckendorff- Stein . . . . . . . . . . . . . . . . .
558
Verwandtschaftstafel 1:
XVI
Hinweis zu den Anmerkungen und Querverweisen
Hinweis zu den Anmerkungen und Querverweisen: Die Anmerkungen innerhalb der Abschnitte I, 11.1, 11.2., 11.3, 111.1., 111.2., 111.3., IV.l. und IV.2. haben jeweils eine eigene Zählung. Querverweise auf andere Anmerkungen innerhalb ein und desselben Abschnitts nennen in der Regel nur die betreffende Anmerkungsziffer (z.B.: s.u. Anm.15, s.o. Anm.328); Querverweise auf Anmerkungen in einem anderen Abschnitt nennen vor der Anmerkungsziffer das betreffende (Unter-)Kapitel (z.B.: s. Kap.ll.l.l. Anm.6).
Vorwort Wissenschaftliche Untersuchungen werden im allgemeinen nicht in der Absicht begonnen, ein Lebenswerk zu schaffen. Auch mir lagen solche Zukunftspläne fern, als ich 1975 nach Promotion, Auslandsaufenthalt und Referendarzeit an einem Bad Hornburger Gymnasium freudig das Angebot annahm, nochmals "für ein paar Jahre" in die Forschung zurückzukehren. Im Rahmen des von den Professoren Peter Moraw und Volker Press (damals beide Gießen), Karl Otmar Freiherrn von Aretin (damals Mainz/Darmstadt) und Hermann Weber (Mainz) geleiteten, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsschwerpunkts "Deutsche Sozial- und Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit" übernahm ich als Wissenschaftliche Mitarbeiterin von Volker Press das Teilprojekt "Zusammensetzung und Sozialbeziehungen des Reichskammergerichtspersonals 1548-1806". Daß diese Arbeit auch nach Auslaufen des Forschungsschwerpunkts (1981) und einer anschließenden, von der DFG großzügig gewährten zweijährigen Einzelförderung noch nicht abgeschlossen war, hing zum einen mit dem ursprünglichen Umfang des Themas und den Tücken prosopagraphischer Forschung in den räumlichen und zeitlichen Dimensionen des Alten Reiches zusammen (dazu siehe Näheres in der Einleitung). Zum anderen wurde die Fertigstellung der Habilitationsschrift und ebenso die anschließende Drucklegung durch eine unglückselige Verkettung lebensgeschichtlicher Ereignisse und Konstellationen immer wieder verzögert oder sogar für längere Zeit unterbrochen. Alle, die mich auf diesem langen Weg begleitet haben, wissen um die Gründe. Die Arbeit, bestehend aus Darstellung (Teil I) und Juristenbiographien (Teil II), wurde im Wintersemester 1990/91 vom Fachhereich Geschichtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen als Habilitationsschrift angenommen und von den Professoren des Historischen Seminars Peter Moraw, Heinz Schilling Getzt Berlin), Helmut Herding und Gerd Althoff Getzt Münster) sowie von dem damals ebenfalls in Gießen lehrenden Rechtshistoriker Diethelm Klippel Getzt Bayreuth) innerhalb weniger Wochen eingehend begutachtet- angesichts des Umfangs der Habilitationsschrift mitten im Semester eine Leistung, für die ich den Gutachtern noch heute dankbar bin. Der darstellende Teil I hätte gleich nach der Habilitation in Druck gehen können. Dem stand allerdings damals mein
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Vorwort
Wunsch entgegen, Darstellung und Einzelbiographien gleichzeitig zu veröffentlichen. In Teil II mußten jedoch zuvor noch fünfzehn Juristenbiographien nachgetragen werden, was sich nach Antritt meiner Münchner Professur unerwartet lange hinzog. Um die seit Jahren bereitgestellte Druckbeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht verfallen zu lassen, wurden schließlich die beiden Bände des ergänzten und zugleich vollständig überarbeiteten zweiten Teils mit den Biographien der Juristen, die im engeren Untersuchungszeitraum 1740-1806 am Reichskammergericht amtierten oder dieses höchste Richteramt anstrebten, 2003 vorweg publiziert. Die inhaltliche und formale Überarbeitung des nunmehr vorgelegten ersten Teils, der eine übergreifende verfassungs- und sozialgeschichtliche Analyse des am "kaiserlichen und des Heiligen Römischen Reichs Kammergericht" tätigen Richtergremiums enthält, gelang nach mehreren Anläufen erst nach Beendigung meiner Tätigkeit als Professorin für Neuere Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für den Druck wurde die seit der ersten Niederschrift des darstellenden Teils (1989/90) auf den wichtigsten einschlägigen Forschungsfeldern erschienene Literatur gesichtet und eingearbeitet, was sich vor allem in den Anmerkungen niederschlägt. Im Text selbst mußten nur wenige Abschnitte auf Grund neuer Forschungsergebnisse und Quelleneditionen modifiziert werden. Die Einleitung wurde in weiten Teilen neu geschrieben. Im übrigen wurden sämtliche Kapitel redaktionell überarbeitet und an einigen Stellen um zumeist nur kurze Passagen ergänzt. Eigene neue, zwischenzeitig schon an anderer Stelle veröffentlichte Forschungen hatten allerdings einen größeren Einschub zur Folge: Gegenüber der 1990 als Habilitationsschrift eingereichten Version, welche die Geschichte des Präsentationswesens in der Reformationszeit sowie im Konfessionellen Zeitalter nur ganz kursorisch auf anderthalb Seiten abgehandelt hatte, wurden der Zeit von 1521 bis 1555 mehrere Seiten gewidmet und für die Jahre 1555 bis 1645 ein eigenes Unterkapitel hinzugefügt. Während des überlangen Entstehungs- und Überarbeitungsprozesses habe ich von vielen Seiten auf ganz unterschiedliche Weise Anregungen, Förderung, Unterstützung und Zuspruch erhalten. Dem von 1971 bis 1980 in Gießen lehrenden Frühneuzeitler Volker Press, der 1993 allzufrüh verstarb, verdanke ich das tiefere Verständnis für das politisch-soziale System des Alten Reiches und für die Spielregeln der altständischen Gesellschaft. Von dem 2003 emeritierten Gießener Spätmediävisten und Landeshistoriker Peter Moraw habe ich viel über Kontinuität und Wandel in der älteren deutschen Geschichte sowie über Relevanz und Methodenprobleme personengeschichtlicher Forschung gelernt. Peter Moraw schulde ich größten Dank dafür, daß er sich nach dem Wechsel vonVolkerPress nach Tübingen ein frühneuzeitliches Kuckucksei ins spätmittelalterliche Nest legen ließ, sich intensiv mit der Thematik meiner Arbeit auseinandersetzte und
Vorwort
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die skrupelhafte Autorin schließlich energisch zur Habilitation trieb. Helmut Berding, bis zur Emeritierung 1998 Professor für Neuere Geschichte in Gießen, sorgte Anfang der 1980er Jahre in einer denkwürdigen Sitzung dafür, daß die Zahl der Juristenbiographien, die auf der Basis des bereits gesammelten Materials für Teil II ausgearbeitet und in den sozialgeschichtlichen Kapiteln des ersten Teils analysiert werden sollten, drastisch reduziert wurde, wodurch die Vollendung der Habilitationsschrift doch noch in erreichbare Nähe rückte. Allen Professoren, die in den 1980er und frühen 1990er Jahren am Gießener Historischen Seminar tätig waren, bin ich noch in der Rückschau dankbar dafür, daß sie mich auch nach Auslaufen des DFG-Projekts trotz meiner jahrelangen freischwebenden Existenz als dem Institut zugehörig behandelten. Ganz besonders fühle ich mich immer noch meinen damaligen beiden Gießener Assistentenkollegen Rainer Christoph Schwinges (bis 2008 Professor für Mittelalterliche Geschichte in Bem) und Hans-Peter Ullmann (Professor für Neuere Geschichte in Köln) verbunden, denen ich viele anregende Diskussionen, inhaltlich-methodische Ratschläge und drängelnde Ermunterung verdanke und deren Freundschaft mir über manche kritischen Phasen des langen Entstehungsprozesses hinweggeholfen hat. Große Dankbarkeit erfüllt mich gegenüber dem 1994 emeritierten Frankfurter Rechtshistoriker Professor Bernhard Diestelkamp, dem Nestor der Reichskammergerichtsforschung und langjährigen Mentor des vorliegenden Werkes. Von seinen Publikationen, Vorträgen und Diskussionsbeiträgen konnte ich nicht nur unendlich viel über die rechtshistorischen Aspekte kammergerichtlicher Existenz lernen. Er gab mir auch immer wieder die Gelegenheit, auf Tagungen der von ihm mitbegründeten Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung meine Forschungsergebnisse einem Publikum von historisch und rechtshistorisch versierten Fachleuten vorzustellen. Seiner steten Ermutigung und seinem Verständnis für den primär verfassungs- und sozialgeschichtlichen Ansatz meiner Forschungen verdanke ich viel. Als Mitherausgeber sorgte Bernhard Diestelkamp schon in den frühen 1990er Jahren dafür, daß diese Arbeit ungekürzt in die im Böhlau-Verlag erscheinende Reihe "Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich" aufgenommen wurde. Daß er dann so lange auf die Veröffentlichung warten mußte, bedauere ich ganz besonders. Danken möchte ich an dieser Stelle auch dem bis 1999 in Frankfurt lehrenden Frühneuzeitler Notker Hammerstein, der meine wissenschaftlichen Werdegang seit meiner Zeit als Hilfskraft und Doktorandin am Frankfurter Historischen Seminar verfolgt hat. In den Jahren der Überarbeitung durfte ich mit ihm in seinem oder meinem Bad Hornburger Arbeitszimmer viele ebenso lehrreiche wie unterhaltsame Gespräche über Studium und Universitäten im Alten Reich führen. Im Kapitel über das Ausbildungsprofil haben diese Privatlektionen ihre Spuren hinterlassen. Stefan Ehrenpreis (zur Zeit Lehr-
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Vorwort
stuhlvertreter am Historischen Seminar in München) und Bernhard Ruthmann (früher München), beide Kenner von Reichshofrat und Reichskammergericht im Konfessionellen Zeitalter, haben mir während der Überarbeitung des ersten Teils wertvolle Hinweise gegeben. Gerne denke ich auch an die freundschaftlichen "aufgeklärten" Diskussionen mit meinem langjährigen Münchner Frühneuzeitkollegen Eckhart Hellmuth, die meinen Blick fiir die Janusgesichtigkeit des 18. Jahrhunderts geschärft haben. Während meiner jahrelangen Arbeit in deutschen und Wiener Archiven haben mich viele hilfsbereite Archivare bei den Recherchen unterstützt. Zahlreichen Forschern, Kirchenbucharchiven und Pfarrämtern verdanke ich personengeschichtliche Auskünfte. In einer Zeit, als man von zeitsparenden Neuerungen wie Personal Computern (die ersten paar Dutzend Biographien wurden noch mit drei Durchschlägen auf der elektrischen Schreibmaschine getippt!), MikroficheEditionen von Gelehrtenlexika (DBA/DBI) und vor allem dem Internet mit Online-Katalogen, digitalisierten Nachschlagewerken und Google Buchsuche nur träumen konnte, haben die Mitarbeiter der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unzählige Fernleiheaufträge fiir mich bearbeitet, wofiir ich mich noch im nachhinein vielmals bedanke. Während meiner Zeit als Privatdozentin und Lehrstuhlvertreterin in Gießen und dann vor allem während meiner Münchner Professorentätigkeit haben mir studentische Hilfskräfte immer wieder bei der Überarbeitung des ersten Teils geholfen. Namentlich danke ich vor allem Alexandra Dunkel M.A. und Christina Seidl M.A. (beide München) fiir ihre sorgfaltige Mitarbeit bei der Vorbereitung des Personenregisters, der Neubezifferung der Anmerkungen sowie der Verwaltung der Querverweise. Vor allem bin ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu großem Dank verpflichtet. Sie hat nicht nur ungewöhnlich lange meine Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin finanziert, sondern dank einer großzügigen Druckbeihilfe auch die gesamten Druckkosten fiir die beiden Bände des biographischen Teils II getragen. Der Böhlau-Verlag mußte lange warten, bis er 2003 endlich Teil II und nun erst auch Teil I zum Druck bringen konnte. Ganz besonders danke ich Johannes van Ooyen (bis 2010 Köln, jetzt Wien) fiir seine verständnisvolle, stets hilfsbereite Betreuung und fiir den Langmut, den er überall die Jahre hinweg aufgebracht hat. Dank des Einsatzes von Susanne Kummer (Köln) konnte das Buch im Frühjahr 2011 überaus rasch in die Produktion gehen. Mein herzlicher privater Dank gilt all meinen Freundinnen und Freunden, die mich seit über drei Jahrzehnten nur mit "der Arbeit" kennen und nie den Glauben an ein gutes Ende verloren haben.
Vorwort
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Mein Mann Martin Jahns (bis 1986 Professor für Botanik in Frankfurt, dann in Düsseldorf) hat maßgeblich an der Herstellung der reprofähigen Druckvorlage auch dieses nun vorliegenden Bandes mitgewirkt - durch Anfertigung der Tabellen, Karten, Abbildungen und Verwandtschaftstafeln, durch die manchmal nervenaufreibende Besorgung des Seitenumbruchs sowie durch die Einfügung der Kolumnentitel. Aber sein Anteil an dieser Arbeit ist unendlich viel größer: Er hat sie unter vielen Opfern über alle Höhen und Tiefen hinweg mitgetragen und ertragen. Ohne seine jahrzehntelange Unterstützung wäre mir die Vollendung dieses ungeplanten Lebenswerks schwerlich gelungen.
"Dixi et liberavi animam" 1•
Bad Homburg, im Februar 2011
1 JOHANN
Sigrid Jahns
STEPHAN PÜTTER, Patriotische Abbildung des heutigen Zustandes beyder höchsten Reichsgerichte, o.O. 1749, S.122.
I. Einführung Dieses Buch handelt von einem Gericht. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen jedoch nicht seine rechtsprechenden Funktionen und Leistungen, sondern seine Verfassung und seine Richter. Es geht um das "Collegium camerale" des "kaiserlichen und des Heiligen Römischen Reichs Kammergerichts" (RKG), also um den Spruchkörper des einen der beiden höchsten Gerichte im Alten Reich 1. Sein hoher Rang im Reichssystem und seine Prägung durch dieses System machen das Kameralkollegium zu einem verfassungsgeschichtlich höchst bedeutsamen Sozialkörper. Daher ist dieses Buch über die Verfassung des Kameralkollegiums, über den Modus seiner Besetzung und über sein Sozialprofil sowie über die Biographien der ihm angehörenden Richter eine Studie zur Verfassungs- und Sozialgeschichte des Alten Reiches.
1. Die Erforschung des "kaiserlichen und des Heiligen Römischen Reichs Kammergerichts": doch noch eine Erfolgsgeschichte Um die einzelnen Aspekte kammergerichtlicher Existenz zu erforschen, bedarf es der verschiedensten Zugangsweisen. Es liegt in der Natur des Untersuchungsgegenstands, daß sie im Falle des Kammergerichts besonders zahlreich sind. Vor allem der Rechts- und Verfassungsgeschichte, der Sozialgeschichte, der politischen Geschichte einschließlich der konfessionspolitischen Problematik, der Wirtschaftsgeschichte, aber auch der Mentalitäts- und Wahrnehmungsgeschichte sowie der Kulturgeschichte bietet das Gericht ein weites Untersuchungsfeld, wobei eine strikte Arbeitsteilung zwischen diesen Zugangsweisen in den meisten Fällen weder möglich noch wünschenswert ist. Dabei vervielfachen sich die Forschungsgegenstände noch, je nachdem ob eine der Teildisziplinen sich stärker dem Gericht als Institution der Reichsverfassung und seinem Personal, seiner Prozeßpraxis und den normativen Grundlagen von Verfahren und Rechtssprechung oder den Prozeßparteien als gesellschaftlich-politischen Gruppen widmet. Seit sich die ältere Kameralliteratur das RKG im Laufe des 16. Jahrhunderts als Objekt wissenschaftlicher Publikationen zueigen machte, wurden die verschiedenen Blickwinkel und Methoden seiner Erforschung - abhängig von 1 Zum zwar umständlichen, jedoch korrekten, weil der dualistischen Verfassungskonstruktion des Gerichts gemäßen Titel "kaiserliches und des Reichs Kammergericht", zu verschiedenen anderen zeitgenössischen Betitelungen sowie zur heute bedauerlicherweise eingeschliffenen Bezeichnung "Reichskarnmergericht" mit dem davon abgeleiteten Kürzel RKG s. Kap.II.l.l. Anm.6.
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I. Einführung
neuen Ansätzen und Interessenlagen der jeweiligen Forschergeneration sowie vom Stand der Quellenerschließung - ungleichmäßig genutzt. So erweiterten, um nur Beispiele zu nennen, sozialgeschichtliche Aspekte das Forschungsspektrum erst seit den 1970er Jahren2 . Seit Mitte der 1970er Jahre machte die technische Entwicklung quantitative Analysen des kammergerichtliehen Prozeßaufkommens mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung möglich3 • Mentalitäts- und wahrnehmungsgeschichtliche Fragestellungen kamen seit den 1990er Jahren hinzu4 • Nach 2000 setzte eine intensivere Bearbeitung wirtschaftshistorisch relevanter Prozeßmaterien ein5 , und seit jüngstem finden auch innovative Ansätze der "neuen" Kulturgeschichte Eingang in die Kammergerichtsforschung6. 2 Sozialgeschichtliche Fragestellungen können sich je nach Untersuchungsgegenstand mehr mit politik-, rechts-, wirtschafts- oder kulturgeschichtlichen oder- wie in der vorliegenden Untersuchung - vorwiegend mit verfassungsgeschichtlichen Aspekten verknüpfen. Sie können sich entweder an die Prozeßmaterien und Prozeßparteien oder an das Personal des RKG richten; zu letzterem s. die weitere Darstellung. 3 Die Habilitationsschrift von F. RANIERI, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 2 Tlbde., Köln- Wien 1985, entstand laut Vorwort in den Jahren 19751983; s. auch die weiteren, in Kap.II.l.3. Anm.l16 u. 117 zitierten Arbeiten Ranieris, Baumanns und anderer zur Auswertung der überlieferten Masse kammergerichtlicher Prozeßakten mit Hilfe statistisch-quantitativer Methoden.
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S. in Auswahl W. SCHULZE, Zur Ergiebigkeit von Zeugenbefragungen und Verhören, in: ders. (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S.319-325; R.-P. FUCHS, "Soziales Wissen" in der ländlichen Lebenswelt des 16. Jahrhunderts: Ein kaiserlich-kommissarisches Zeugenverhör, in: Westfälische Forschungen 48, 1998, S.419-447; DERS., Protokolle von Zeugenverhören als Quellen zur Wahrnehmung von Zeit und Lebensalter in der Frühen Neuzeit, in: A. Baumann- S. Westphal- St Wendehorst- St Ehrenpreis (Hgg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Köln- Weimar- Wien 2001, S.l41-164; DERS., Erinnerungsschichten: Zur Bedeutung der Vergangenheit ftir den "gemeinen Mann" der Frühen Neuzeit, in: ders. - W. Schulze (Hgg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der Frühen Neuzeit, Münster- Harnburg- London 2002, S.89-154; DERS.- W. SCHULZE, Zeugenverhöre als historische Quellen- einige Vorüberlegungen, in: ebd., S.7-40. 5
Hier sind vor allem die Arbeiten von A. AMEND-TRAUT zu nennen, s. zuletzt DIES., Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht Praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit, Köln- Weimar- Wien 2009; DIES., Brentano, Fugger und Konsorten- Handelsgesellschaften vor dem Reichskammergericht, Wetzlar 2009; DIES., Zivilverfahren vor dem Reichskammergericht Rückblick und Perspektiven, in: F. BATTENBERG- B. SCHILOT (Hgg. ), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozeßakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Köln- Weimar- Wien 2010, S.125-155. Der Sammelband zu der Tagung "Geld und Gerechtigkeit im Spiegel höchstrichterlicher Rechtsprechung des Alten Reiches", die im September 2010 in Göttingen stattfand, soll ca. 2012 erscheinen. 6
Im Rahmen der von Barbara Stollberg-Rilinger (Universität Münster) geleiteten LeibnizProjekts "Vormodeme Verfahren" bearbeitet Maria von Loewenich ein kurz vor dem Ab-
I.l. Die Erforschung des Kammergerichts
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Dieser hier nur angedeutete Facettenreichtum, der sich parallel zu einem auch quantitativ beachtlichen Zuwachs an Einzeluntersuchungen ausbildete, ist ein Indiz dafür, daß das RKG inzwischen "zu einem bevorzugten Objekt der reichsgeschichtlichen Frühneuzeitforschung" geworden ise. Nachdem auch die lange zurückstehende Untersuchung des kaiserlichen Reichshofrats (RHR) seit einiger Zeit zur Kammergerichtsforschung aufschließt8 , stellen "Forschungen zu Fragen der 'Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich' ... gegenwärtig eines der dynamischsten Forschungsfelder der Frühneuzeitforschung dar" 9, von dem aus grundlegende Phänomene, Strukturen, Funktionsweisen und Problemzonen des Alten Reiches, seines politisch-rechtlichen Systems und seiner Gesellschaft, in den Blick genommen werden. Die Forschungsberichte, die vor allem seit Mitte der 1990er Jahre in relativ dichter Folge über neue Arbeiten zum RKG, zum RHR oder zu beiden Höchsten Gerichten im Reich informieren, sind ein beredter Ausdruck dieses expandierenden Forschungsfelds, auf dem Rechtshistoriker, Historiker und Archivare kooperieren 10 . schluß stehendes Dissertationsprojekt mit dem Titel "Amt und Prestige. Die Kammerrichter in der ständischen Gesellschaft (1711-1806)"; s. auch die in Anm.31 zitierten Arbeiten von B. Stollberg-Rilinger. 7 ST. EHRENPREIS, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt Der Reichshofrat unter Rudolfll. 1576-1612, Göttingen 2006, S.13. 8 S. vor allem die in Kap.II.l.l. Anm.29 u. Kap.II.1.3. Anm. 111 u. 120 zitierte Literatur zum RHR; s. auch die in Anm.lO zitierten Forschungsberichte, soweit sie (auch) den RHR betreffen.
9 G. HAUG-MORITZ, Die kaiserliche Gerichtsbarkeit in der Deutung der Protestanten der Reformationszeit, in: L. Auer- W. Ogris- E. Ortlieb (Hgg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, Köln- Weimar- Wien 2007, S.215. 10
Teils handelt es sich um eigenständige Forschungsberichte, teils um Einleitungen in Dissertationen, Habilitationsschriften und anderen Monographien, in denen der aktuelle Forschungsstand referiert wird; s. in Auswahl: K. HÄRTER, Neue Literatur zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in: Ius commune 21, 1994, S.215-240; B. DIESTELKAMP, Tendenzen und Perspektiven in der Erforschung der Geschichte des Reichskammergerichts, in: Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, hg. von I. Scheurmann, Mainz 1994, S.453-456; S. WESTPHAL, Zur Erforschung der obersten Gerichtsbarkeit des Alten Reiches. Eine Zwischenbilanz, in: Jb. der hist. Forschung in der Bundesrepublik Deutschland Berichtsjahr 1999, München 2000, S.l5-22; DIES.- ST. EHRENPREIS, Stand und Tendenzen der Reichsgerichtsforschung, in: A. Baumann u.a. (Hgg.), Prozeßakten als Quelle, S.l-13; R.P. FUCHS, The Supreme Court ofthe Holy Roman Empire: The State ofResearch and the Outlook, in: The Sixteenth Century Journal 34, 2003, S.9-27; P. OESTMANN, Höchstrichterliche Rechtsprechung im Alten Reich- einleitende Überlegungen, in: A. Baumann- P. Gestmann - St. Wendehorst- S. Westphal (Hgg.), Prozeßpraxis im Alten Reich. Annäherungen- Fallstudien- Statistiken, Köln- Weimar- Wien 2005, S.l-15; E. ORTLIEB- S. WESTPHAL, Die Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich: Bedeutung, Forschungsentwicklung und neue Perspektiven, in: ZRG GA 123, 2006, S.291-304; s. ferner B. RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555-1648). Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse, Köln Weimar- Wien 1996, S.l-9; R. SAILER, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht
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I. Einführung
Als die Verfasserin für die vorliegenden Untersuchung 1975 den ersten Schritt ins Archiv tat, nahm diese Entwicklung gerade erst ihren Anfang, und es war noch keineswegs abzusehen, daß daraus binnen weniger Jahrzehnte eine Erfolgsgeschichte werden würde. Die 1911 erschienene Monographie von Rudolf Smend über Geschichte und Verfassung des Gerichts wird erst seit den 1960er/1970er Jahren im Zuge der Neubewertung des RKG und seiner Wiederentdeckung als Forschungsgegenstand sozusagen posthum als "der erste Meilenstein in der Forschungsgeschichte zum RKG" gewürdigt". Bis dahin hinterließ sie jahrzehntelang keine wissenschaftlichen Spuren, sondern stand wie ein erratischer Block in einer historiographischen Landschaft, die noch lange geprägt war von der am zentralen National- und Machtstaat orientierten kleindeutschpreußischen Geschichtsschreibung mit ihrer Geringschätzung des Alten Reiches und seiner Institutionen. Als der Frankfurter Rechtshistoriker Bernhard Diestelkamp im Sommersemester 1968 seine Antrittsvorlesung über "das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts" hielt, "war die Geschichte des Reichskammergerichts ein - trotz einiger Ausnahmen - vernachlässigtes Forschungsfeld". Als Diestelkamp diese Antrittsvorlesung 1976 in erweiterter Form publizierte, konnte er immerhin eine "mittlerweile intensiver gewordene Forschung" konstatieren 12 • Sie wurde in den 1960er und bis in die frühen 1970er Jahre hinein zunächst fast durchweg von Rechtshistorikern getragen und beruhte noch weitgehend auf einer eher statischen und isolierten Betrachtungsweise des
Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Köln- Weimar - Wien 1999, S.l-9, auch S.IO ff.; E. ÜRTLIEB, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (16371657), Köln- Weimar- Wien 2001, S.7-14; S. WESTPHAL, Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648-1806, Köln- Weimar- Wien 2002, S.8-23; E.-0. MADER, Die letzten "Priester der Gerechtigkeit". Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Berlin 2005, S.27-35; S. ULLMANN, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564-1576), Mainz 2006, S.l-14; EHRENPREIS, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt, S.ll-19. -Ein Großteil der seit den 1960er Jahren erschienenen Untersuchungen zum RKG wird in den Anmerkungen der folgenden Kapitel (vor allem zu Großabschnitt II. Funktion und Besetzung des Kammergerichts) an einschlägiger Stelle zitiert; s. auch das Verzeichnis der nach 1815 erschienenen gedruckten Quellen und Literatur. Im übrigen wird auf die oben genannten Forschungsberichte verwiesen. 11 R. SMEND, Das Reichskammergericht, Tl.l: Geschichte und Verfassung, Weimar 1911 (Neudr. Aalen 1965); das Zitat bei SAILER, Untertanenprozesse, S.7; zu Smends Werks. ausführlicher die folgende Darstellung mit Anm.52-55. 12 B. DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: H.-J. Becker u.a. (Hgg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschr. f. Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, Aalen 1976, S.435-480, hier S.435 Anm.*.
1.1. Die Erforschung des Kammergerichts
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RKG 13 . Einen qualitativen Sprung bedeuteten erst diejenigen rechtshistorischen Arbeiten, die das RKG in das Verfassungsgefüge und politische System des Alten Reiches einbetteten und das Gericht neben Reichstag, Reichskreisen, Kaisertum und kaiserlichem RHR als eine der "Verfassungseinrichtungen" begriffen, "in denen sich die Wirklichkeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, eines lockeren, ungefügen Verbandes vielfältiger geistlicher und weltlicher Territorien, sichtbar darstellte" 14 . Neben der hier zitierten knappen, aber treffsicheren Einleitung des Rechtshistorikers Adolf Laufs zu seiner Neuedition der Kammergerichtsordnung von 1555 und der ebenfalls historisch-politisch argumentierenden Dissertation von Jürgen Weitzel 15 ist vor allem der bereits erwähnte Aufsatz von Bernhard Diestelkamp zu nennen, der in einem ersten Abschnitt das RKG "im Verfassungsleben des Reiches" behandelt und in einem zweiten Abschnitt die Rechtsprechung des RKG sowie deren Wirksamkeit im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts untersucht. Diestelkamp ging es 1968/76 in dieserneuen Positionsbestimmung darum, "in kritischer Auseinandersetzung mit tradierten Urteilen unter Berücksichtigung moderner Fragestellungen neue Problemhereiche abzustecken" und "neue Perspektiven und Schwerpunkte für die Erforschung der Geschichte des Reichskammergerichts aufzuzeigen" 16 • Obwohl die kammergerichtliehen Prozeßakten damals noch kaum erschlossen waren, ist die Bandbreite der Erkenntnisse und Anregungen, die dieser Aufsatz - auch für das 17./18. Jahrhundert und auch für sozialgeschichtliche Aspekte - enthält, 13 Typisch für die rechtshistorischen Arbeiten dieser Zeit ist die Dissertation von H. WIGGENHORN, Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des alten Reiches, Diss. iur. Münster 1966, die sich in erster Linie mit dem seit 1654 geltenden 'jüngeren' Kameralprozeß beschäftigt; Wiggenhom in seiner Einleitung ebd., S.l: "Der prozeßrechtliche Gang, nicht das Ergebnis der Streitigkeiten, stand im Vordergrund. Geschichtliche Entwicklungen wurden nur soweit berührt, als es zum Verständnis der Abhandlung notwendig erschien". Als weitere Beispiele für rechtshistorische Untersuchungen der 1960er/70er Jahres. auch die im Verzeichnis der nach 1815 erschienenen Quellen und Literatur aufgeführten Untersuchungen von Bross (1973), Hafke (1972), Hinz (1966, 1973 u. 1977) und Sellert (1965 u. 1973). 14 A. LAUFS (Hg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, Köln- Wien 1976, Einleitung, S.l. Diese kritische Edition war für die Verfasserirr ein wichtiges Hilfsmittel. Dasselbe gilt für die von Laufs betreute Dissertation von B. DICK, Die Entwicklung des Karneratprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555, Köln- Wien 1981. 15 J. WEITZEL, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht, Köln - Wien 1976. Die von B. Diestelkamp betreute rechtshistorische Dissertation trägt den bezeichnenden Untertitel: Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland. Weitzel ebd., S.3, über das Ziel seiner Untersuchung: "Eine bestimmte Art von Konfliktsituationen zwischen Reich und Ständen wird zusammengefaßt und im Hinblick auf die zwischen beiden Lagern bestehenden Machtverhältnisse in ihren Zusammenhängen und Bezügen grundsätzlich interpretiert". 16
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DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.438 u.
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I. Einführung
selbst aus der rückblickenden Distanz mehrerer Jahrzehnte immer noch bemerkenswert17. Zwar wurden einige dieser Anregungen seitdem in Spezialstudien konkretisiert, jedoch sind sie von der jüngeren Kammergerichtsforschung noch keineswegs ausgeschöpft. Vor allem aber war in dieser Untersuchung und ebenso in den weiteren Arbeiten Diestelkamps die Verknüpfung von rechtshistorischer und historischer Betrachtungsweise wegweisend. Hier konnten sich historisch denkende Rechtshistoriker mit Historikern begegnen, die sich zögernd noch in den 1960er, zunehmend dann seit den frühen 1970er Jahren aus primär historischer Perspektive mit dem RKG und überhaupt mit Geschichte und Verfassung des Alten Reiches beschäftigten 18 • Dies alles stand im größeren Kontext einer umfassenden Neuorientierung der sich damals gerade als eigenes Teilfach ausbildenden Frühneuzeitforschung, die unter dem Etikett "Umwertung und Aufwertung des Alten Reiches" inzwischen selbst Teil der Forschungsgeschichte geworden ist 19 . In diesem historiographisch folgenreichen Prozeß, der in den 17 Auch die vorliegende Untersuchung hat diesem Aufsatz viel zu verdanken. Das gilt vor allem für Kapitel 11.1. über das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches. Aber auch sozialgeschichtliche Fragestellungen wurden von Diestelkamp in diesem Aufsatz bereits formuliert; dazu s. die folgende Darstellung.
18 Die Rolle des RKG in der Reformationszeit war in den 1960er und 1970er Jahren eines der ersten Themen, das neben Rechtshistorikern wie G. Dommasch (1961), H. Buck (1964) und R. Schelp (1965) auch Historiker und Kirchenhistoriker zur Beschäftigung mit dem RKG veranlaßte. Hier sind vor allem die Arbeiten von Ekkehart Fabian zu nennen; s. die von Fabian 1961 edierte, in Kap.II.l.l. Anm.21 zitierte Quellenedition zu den Reformationsprozessen; dazu mit weiteren Literaturhinweisen DERS., Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes und seiner Verfassung 1524/29-1531/35, 2., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen 1962. Als Beispiel für die Aufarbeitung der Reformationsprozesse einer Reichsstadt s. die 1972 als Dissertation eingereichte Untersuchung von S. JAHNS, Frankfurt, Reformation und Schmalkaldischer Bund. Die Reformations-, Reichs- und Bündnispolitik der Reichsstadt Frankfurt am Main 1525-1536, Frankfurt a.M. 1976. Vgl. auch H. RABE, Der Augsburger Religionsfriede und das Reichskammergericht 1555-1600, in: H. Rabe u.a. (Hgg.), Festgabe f. E. W. Zeeden, Münster 1976, S.260-280.- Zu den 1970 einsetzenden Publikationen Heinz Duchhardts, die sich personen-und besetzungsgeschichtlichen Aspekten des RKG widmeten, s. die folgende Darstellung. 19 Dieser von mehreren Historikergenerationen getragene Prozeß der Überwindung des am National- und Machtstaat Bismarckscher Prägung orientierten Geschichtsbildes "vom ewig morschen Reich" (Aretin) durch eine unvoreingenommenere Erforschung und Neubewertung des Alten Reiches ist inzwischen mehrfach beschrieben worden, so daß ich mich hier auf eine knappe Skizze beschränken kann; s. in Auswahl: V. PRESS, Das römisch-deutsche Reich- Ein politisches System in verfassungs- und sozialgeschichtlicher Fragestellung, in: G. Klingenstein- H. Lutz (Hgg.), Spezialforschung und »Gesamtgeschichte«. Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frühen Neuzeit, München 1982, S.221-242; wieder abgedruckt in: V. PRESS, Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, hg. von J. Kunisch, Berlin 1997, S.1841; A. SCHINDLING, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden, Mainz 1991, Einleitung, S.3-13; DERS., Kaiser, Reich und Reichsverfassung 1648-1806. Das neue Bild vom Alten Reich, in: 0. Asbach- K. Malettke- S. Externbrink (Hgg.), Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und
1.1. Die Erforschung des Kammergerichts
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1960er Jahren einsetzte und vor allem seit den 1970er Jahren Schubkraft gewann, ging es den Historikern darum, das aus dem späten 19. Jahrhundert überkommene, nach den Erfahrungen zweier Weltkriege diskreditierte Geschichtsbild Treitschkescher Manier einer grundlegenden Revision zu unterziehen und dagegen ein "neues Bild vom Alten Reich" zu zeichnen (Schindling) - ein Bild, das dem dynamischen, zwischen Wandel und Beharrung, Stabilität und Krisen, Kooperation und Konflikt oszillierenden Kräftespiel eines hierarchisch strukturierten vielgliedrigen Reichsverbands und den darin lebenden politisch-sozialen Formationen samt ihren vormodernen Spielregeln gerechter wurde und das die Leistungen dieses Reiches in den über drei Jahrhunderten seiner Existenz würdigte, ohne die Schwächen schönzumalen20 •
18. Jahrhundert, Berlin 2001, S.25-54; H. NEUHAUS, Das Reich in der Frühen Neuzeit, 2. Aufl. München 2003, darin S.57-63: Das frühneuzeitliche Heilige Römische Reich in der deutschen Historiographie; kurz H. CARL, "Schwerfälligen Andenkens" oder "das Recht, interessant zu sein"? Das Alte Reich inderneueren Forschungsliteratur, in: ZHF 37, 2010, S.73-97, hier S.73 f.; s. auch schon Vorwort und Einleitung in K.O. FRH. v. ARETIN, Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, Tl.l: Darstellung, Wiesbaden 1967 (ebd., S.V: "Bild vom ewig morschen Reich"). Der 1975 begründete Forschungsschwerpunkt "Deutsche Sozial- und Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit", aus dem die vorliegende Untersuchung hervorgegangen ist, war Ausdruck und Motor dieser Neubewertung des Alten Reiches aufseitender Historiker; dazu s. ausfUhrlieher die folgende Darstellung. 20 Unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung setzte in den 1990er Jahren eine erneute Diskussion über das Alte Reich ein, die unter anderem um die Frage nach der Staatlichkeit des Alten Reiches und nach den Wurzeln der deutschen Nation kreiste; dazu s. vor allem G. SCHMIDT, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München 1999. Laut Schmidt wurde mit den Wormser Reformen von 1495 die "Staatswerdung des Reichs" eingeleitet (S.37), der "Weg des Reichs deutscher Nation in staatliche Bahnen gelenkt" (S.40). Ebd., S.44, ebenfalls zu 1495: "Als politisches System komplementärer Staatlichkeit wurde das Reich zur staatlichen Konkretisierung Deutschlands". Schmidts nationalgeschichtlich orientierte Neudeutung des "auf Deutschland bezogenen Alten Reiches" (S.42) in der seit 1495 existierenden Gestalt als "komplementärer Reichs-Staat" (S.44 u.ö.) bzw. "verstaates Reich deutscher Nation" (S.40), so wie es Schmidt ebd., vor allem S.33 ff. im Kapitel "Komplementärer Reichs-Staat und deutsche Nation", näher ausführte, stieß bei Heinz Schilling und anderen, darunter auch der Verfasserin, auf entschiedene Kritik, fand aber auch Zustimmung; vgl. die einschlägigen Beiträge in dem Sammelband von M. SCHNETTGER (Hg.), Imperium Romanum - Irregulare Corpus - Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002 (ebd. v.a. die Aufsätze von G. Schmidt und H. Schilling mit weiteren Literaturhinweisen; s. auch die Einleitung von M. Schnettger). Diese Neu- und Umdeutung, auf die hier nur kurz verwiesen werden kann, sollte man auf keinen Fall als "in direkter Ableitung aus den Ansätzen von Moraw und Press entwickeltes Konzept" interpretieren (so WESTPHAL, Kaiserliche Rechtsprechung, S.3). Die vorliegende Arbeit, die vor der "Wende" konzipiert und geschrieben wurde, nimmt auch in der überarbeiteten Version expressis verbis an dieser Kontroverse nicht teil, liefert jedoch vor allem in ihren verfassungsgeschichtlichen Teilen sehr wohl einen Beitrag dazu.
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I. Einführung
Die Kammergerichtsforschung und - bezieht man den Reichshofrat mit ein die Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich profitierte von dieser Neuorientierung und leistete ihrerseits ihren Beitrag dazu. Ein wichtiger Motor war und ist die 1985 in Wetzlar gegründete Gesellschaft flir Reichskammergerichtsforschung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die wissenschaftliche Erforschung der zentralen Gerichtsbarkeit im Reich zu fördern und deren Funktion und Leistungen auch einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln21 . Seit 1983 ermöglichen regelmäßig abgehaltene wissenschaftliche Kolloquien den Austausch von Forschungsergebnissen und setzen Impulse für weitere Untersuchungen22. Dasselbe gilt für das 1996 von Nachwuchsforschern gegründete "Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit" 23 • Neben dieser Institutionalisierung war es vor allem das seit 1978 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte und inzwischen weitgehend abgeschlossene Langzeitprojekt zur Neuverzeichnung der seit Mitte des 19. Jahrhunderts über zahlreiche Archive verstreuten kammergerichtlichen Prozeßakten, das sowohl in thematischer und methodischer als 21 Die Broschüre Selbstverständnis und Perspektiven, hg. von der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, erarbeitet von I. Scheurmann u. H. Schmidt, Wetzlar 1992, informiert über die Ziele der Gesellschaft, das 1987 errichtete Reichskammergerichtsmuseum sowie die 1991 in Wetzlar eingerichtete Forschungsstelle; dazu noch ausführlicher: G. SCHMIDT-VON RHEIN, Die friedensstiftende Funktion des Rechts: Eine Idee bestimmt Entstehung und Entwicklung der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, in: F. Hattenberg- F. Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschr. f. Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Weimar- Köln- Wien 1994, S.457-464. Die seit 1984 in Wetzlar regelmäßig stattfindenden öffentlichen Vorträge, die einem interessierten Publikum neue Forschungsergebnisse vermitteln, werden in einer eigenen Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskarnrnergerichtsforschung publiziert; als Heft 1 erschien: B. DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Wetzlar 1985, als Heft 2: S. JAHNS, Die Assessoren des Reichskammergerichts in Wetzlar, Wetzlar 1986. 22 Von diesen Kolloquien, die neben dem RKG bald auch den RHR in das Tagungsprograrnrn miteinbezogen, hat die Verfasserin, wenn auch erst in einem späten Stadium ihres Projekts, sehr profitiert. Vor der 1987 in Wetzlar veranstalteten, als "1. Wissenschaftliches Kolloquium" gezählten Tagung über "Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven", deren Referate 1990 von B. Diestelkamp herausgegeben wurden, fand bereits 1983 eine ebenfalls von Diestelkamp geleitete Tagung in Königstein/Taunus über "Forschungen aus Akten des Reichskarnrnergerichts" statt. In dem 1984 erschienenen Sammelband zu diesem gerrau genommen ersten Kolloquium s. den Beitrag von S. JAHNS, Juristen im Alten Reich- Das richterliche Personal des Reichskammergerichts 1648-1806. Bericht über ein Forschungsvorhaben (S.l-40). 23 S. die von A. Baumann und anderen herausgegebenen Sarnrnelbände zu den interdisziplinären Netzwerk-Tagungen, zuletzt A. AMEND- A. BAUMANN - ST. WENDEHORST- S. WESTPHAL (Hgg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung, Köln- Weimar- Wien 2007. Der Sarnrnelband zu der im Oktober 2009 vom Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit veranstalteten Tagung "Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis" erscheint demnächst.
I.1. Die Erforschung des Kammergerichts
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auch in quantitativer Hinsicht zu einem beachtlichen Aufschwung der Kammergerichtsforschung führte. Denn dank dieses Großunternehmens wurde die Quellenbasis für weitere Forschungen außerordentlich verbreitert24 • Indiz hierfür ist auch die Entwicklung der Reihe "Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich" (QFHG), dem wichtigsten, wenn auch nicht einzigen Publikationsorgan für Tagungsbände und Monographien seit dem Erscheinen des ersten Bandes 1973. Als die Verfasserin 1975 mit der Arbeit an der vorliegenden Untersuchung begann, umfaßte diese "Grüne Reihe" erst zwei Titel, 2010 waren es bereits 57. Neben dieser wissenschaftlichen Erfolgsgeschichte gibt es noch eine andere: Die rege Öffentlichkeitsarbeit der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung hat das RKG unter dem Motto "Frieden durch Recht" inzwischen zum Gegenstand einer eigenen Erinnerungskultur werden lassen, die eine traditionsstiftende Brücke zu den heutigen obersten Bundesgerichten geschlagen hat und die sich vor allem bei Ausstellungseröffnungen und Jubiläumsveranstaltungen in Wort und Bild äußert25 . 24 Die Neuverzeichnungen werden von den beteiligten Staatsarchiven in Repertorien publiziert und so der Forschung zugänglich gemacht. Zu dieser von der DFG seit 1978 finanzierten, nach einheitlichen Richtlinien erfolgten Inventarisierung der massenhaft überlieferten RKG-Prozeßakten s. die in Kap.II.1.3. Anm.117 zitierten Aufsätze von F. Battenberg, B. Diestelkamp, J. Hausmann und J. Weitzel; ebd. s. auch die Arbeitsberichte von B. Schildt über das auf dieser Inventarisierung beruhende computergestützte Projekt einer virtuellen Zusammenftihrung und quantitativ-statistischen Analyse des überlieferten Prozeßmaterials. Zum Abschluß dieses DFG-Inventarisierungsprojekts fand im April 2008 in Berlin eine Bilanztagung statt. Die dort gehaltenen Referate und Kommentare erschienen 2010 in HATTENBERGSCHILOT (Hgg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozeßakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung; darin S.3-9: B. DIESTELKAMP, Rückblick auf das Projekt zur Inventarisierung der Prozeßakten des Reichskammergerichts; ebd., S.35-60: B. SCHILDT, Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten. Vom gedruckten Inventar zur Online-Recherche in der Datenbank.- Mit der Verzeichnung der RHR-Akten wurde vor einigen Jahren ebenfalls begonnen. 25
Dazu programmatisch G. SCHMIDT-VON RHEIN, Die friedensstiftende Funktion des Rechts, in: Hattenberg- Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz, S.457-464; ebd., S.457: "Das Ziel der Gesellschaft [erg.: für Reichskammergerichtsforschung] ist eine Rückbesinnung auf die friedensstiftende Funktion des Rechts. Sie will die Tatsachen freilegen, auf denen unsere Gerichtsorganisation und unser demokratisches rechtsstaatliches System wachsen konnten. Sie möchte den Versuch einer Darstellung wagen, wie es zur Entwicklung einer deutschen Justizorganisation mit unabhängigen Gerichten gekommen ist und wie im Laufe der Zeit die Herausbildung von Grundrechten der Bürger durch diese Justizorganisation mitgetragen worden ist". Besondere Würdigung verdient der mit anschaulichem Bildmaterial und wissenschaftlichen Texten hervorragend ausgestattete, von der damaligen Leiterin der Wetzlarer Forschungsstelle Ingrid Scheurmann anläßtich des 500jährigen Gründungsjubiläums herausgegebene Ausstellungskatalog "Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806", Mainz 1994. Zur Traditionsbildung und Erinnerungskultur s. ferner (in Auswahl): B. HEUSINGER, Vom Reichskammergericht, seinen Nachwirkungen und seinem Verhältnis zu den heutigen Zentralgerichten, Karlsruhe 1972; R. HERZOG, Reichskammergericht und Bundesverfassungsgericht (Festvortrag des damaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts zur Eröffnung des Reichskammergerichtsmuseums in Wetzlar 1987), Wetzlar 1989;
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I. Einführung
Für die Verfasserin war es spannend, seit 1975 aus der Perspektive der Frühneuzeithistorikerin an der Entwicklung der neueren Kammergerichtsforschung zu verfolgen, wie sich die alten Schranken zwischen "Geschichte" und "Rechtsgeschichte" immer mehr öffneten, wie die einzelnen Forscher als Rechtshistoriker oder Historiker vom jeweils gewählten Ansatz aus bei aller fachspezifischen Schwerpunktsetzung Grenzen überschreiten und die Ergebnisse der jeweils anderen Disziplin nutzen26 • Auf diese Weise wird die neuere Forschung in ihrer Gesamtheit zunehmend der Kompliziertheit und Komplexität kammergerichtlicher Existenz und Wirksamkeit gerecht. Sie rehabilitiert damit ein Gericht, das als zentrale Institution des Alten Reiches mit diesem Reich nach 1806 lange Zeit weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen oder ein Opfer abfalliger Pauschalurteile geworden war27 • Sie vermag durch einen unbefangeneren Umgang 300. Jahrestag der ersten Audienz des Reichskammergerichts in Wetzlar, hg. von der Gesellschaft f. Reichskammergerichtsforschung, Wetzlar 1993 (darin Festvortrag des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts R. Herzog); mit den 1995 auf den Festakten in Karlsruhe und Wetzlar gehaltenen Reden: 500 Jahre Reichskammergericht, hg. von ders., Wetzlar 1996 (darin u.a. Festvorträge des Präsidenten des Bundesgerichtshofs W. Odersky und des Bundespräsidenten R. Herzog). 26 Das gilt gerade auch für die Verfasserin, die sich vor allem im darstellenden Teil I immer wieder auf rechtshistorisches Terrain begeben mußte. Die rechtshistorischen Arbeiten, von denen sie dabei profitieren konnte, sind in den folgenden Kapiteln an einschlägiger Stelle zitiert.
27 Exemplarisches Beispiel für eine pauschal negative Sicht wenige Jahre nach der Bismarckschen Reichsgründung und kurz vor der Errichtung des 1877 vom Reichstag beschlossenen Reichsgerichts in Leipzig (1879): 0. STOBBE, Reichskammergericht und Reichsgericht. Rede des antretenden Rectors, in: Rectoratswechsel an der Universität Leipzig am 31. October 1878, Leipzig 1878, S.22-44; ebd., S.30: "In Wetzlar hat das Gericht denn bis zur Auflösung des deutschen Reichs seine ruhmlose Existenz gefristet. Ich sage: ruhmlose Existenz. Denn in der That: es hat nach keiner Richtung hin seine Aufgabe erfüllt. Wie das heilige Römische Reich deutscher Nation allgemein verspottet und verhöhnt seinem sichern Untergange entgegen ging, so war auch das Kammergericht nicht geeignet, Respekt vor den Institutionen des Reichs einzuflössen, und unbetrauert ist es zu Grabe gegangen". Faktenreicher, aber ebenfalls von abwertenden Vorurteilen auf der Linie des propreußisch-protestantischen, auf den National- und Machtstaat fixierten Geschichtsbildes durchsetzt: F. THUDICHUM, Das vormalige Reichskammergericht und seine Schicksale, in: Zs. f. deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft 20, 1861, S.148-222; Thudichums Schlußbilanz S.222: "daß am Kammergericht so wenig zu bessern war, als am Reiche selber, nach dessen Verfassung es gebildet war. Beide konnten nur ein Schicksal, das des Untergangs, haben; und das deutsche Volk wird sich wohl nie überreden lassen, den Fall des heiligen römischen Reichs, die Zerstreuung des zu Wetzlar aufgehäuften Actenwusts, und die Einbuße eines solchen obersten Gerichts ernstlich zu betrauern". Thudichum beklagte die "vielfach mindere Tüchtigkeit" der Beisitzer (S.195, vgl. S.208). Von Verfassung und Verfahren des Gerichts hätten sie "meist unvollkommene Kenntniße" besessen (S.196). Die Mehrzahl von ihnen habe zwar seit dem 17. Jahrhundert aus Doktoren des Rechts bestanden, "aber doch fand sich noch mancher Ritter ein, der sein Leben lang mehr die Jagd als das Recht geübt und getrieben, höchstens sich eine Zeitlang in Hof- oder Heerdiensten zu schaffen gemacht hatte" (ebd.). Das "verkehrte Prozeßverfahren" des RKG "beruhte auf oberflächlicher, von unkundigen Leuten herrührender Gesetzge-
1.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
II
mit dem RKG dessen Leistungen und Schwächen nunmehr ins rechte Verhältnis zu setzen und nicht nur die friedensstiftende Funktion seiner Existenz und Wirksamkeit im Reich, sondern auch seine über die Rechtsprechung hinausreichende Bedeutung sowie seine tiefe Verankerung im politisch-verfassungsrechtlichen und sozialen System des Alten Reiches als Quelle vielfältiger Erkenntnis zu nutzen. Dieneuere Kammergerichtsforschung leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Geschichte in den drei Jahrhunderten der Frühen Neuzeit, wobei es sowohl die spätmittelalterlichen Wurzeln des Gerichts als auch seine Nachgeschichte gebieten, über die für das Kammergericht markanten Zäsuren von 1495 und 1806 zurück bzw. nach vorn zu blicken28 •
2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte In die oben skizzierte Entwicklung reiht sich die vorliegende Untersuchung ein. Sie befaßt sich freilich mit einem anderen Aspekt kammergerichtlicher Existenz und beruht auf einer völlig anderen Quellenbasis als der weitaus größte Teil der neueren Kammergerichtsforschung. Die überwiegende Mehrheit der seit den 1960er/1970er Jahren erschienenen Untersuchungen beschäftigt sich naheliegenderweise mit Funktion und Leistung des RKG als Rechtsprechungsorgan, mit seiner Judikatur und deren Wirkungen, seinem Verfahren und seiner Rechtsanwendung, seiner Inanspruchnahme und seinem Verhältnis zur territorialen Gebung" (S.197).- Ebenfalls im ausgehenden 19. Jahrhundert erschienen allerdings auch Aufsätze und Vorträge, deren Autoren ungleich informierter und sachlicher waren als Thudichum und Stobbe. Das gilt vor allem ftir W. ENDEMANN, Von dem alten Reichskammergericht, in: Zs. f. deutschen Civilprozeß 18, 1893, S.l65-227; s. auch R. BRINKMANN, Aus dem Deutschen Rechtsleben. Schilderungen des Rechtsganges und des Kulturzustandes der lezten drei Jahrhunderte auf Grund von Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Akten des kaiserlichen Kammergerichtes, Kiel 1862; H. FRH. v. REITZENSTEIN, Das Reichskammergericht, in: Annalen des Deutschen Reichs f. Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik 27, 1894, S.42-57. 28 Im Katalog zum neueröffneten Reichskammergerichtsmuseum publizierte B. DIESTELKAMP 1987 einen einführenden Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel: Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, in: Das Reichskammergerichtsmuseum in Wetzlar, hg. von der Gesellschaft f. Reichskammergerichtsforschung, Wetzlar 1987, S.7-16 (2., erw. Aufl. Wetzlar 1997, S.5-14). Auch der Titel eines 1990 von DIESTELKAMP herausgegebenen Sammelbands, in dem die Ergebnisse eines 1987, unmittelbar vor der Museumseröffuung, in Wetzlar durchgeführten wissenschaftlichen Kolloquiums vorgelegt wurden, lautet: Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven, Köln- Wien 1990.- Unter demselben Titel erschien in der Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung (H.3) ein 1986 in Wetzlar vorgetragener historischer Überblick von V. PRESS, Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, Wetzlar 1987.
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I. Einführung
richtsbarkeit. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich dagegen auf das Richtergremium, das die ihm von Kaiser und Reichsständen zugewiesene Aufgabe als Spruchkörper eines höchsten Gerichts im Reich zu bewältigen hatte und mit dessen Niveau Qualität und Ansehen der kammergerichtliehen Rechtsprechung letztlich stand und fiel, auf das "Collegium camerale". Sie nimmt dieses Kameralkollegium als Ganzes, als eine vielgliedrige Einheit, ins Visier. Sie fragt nach seinem sozialen und professionellen Profil sowie nach den Mechanismen seiner Besetzung. Sie betrachtet dieses Richtergremium vorrangig aus den Blickwinkeln der Verfassungs- und Sozialgeschichte, und - das eigentlich Innovative sie verschränkt beide Ansätze miteinander. Für eine konsequente Kombination und Integration verfassungs- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen ist das Kameralkollegium des RKG, bestehend aus Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren, in hohem Maß geeignet; es macht sie geradezu zwingend erforderlich. Eine rein institutionen- und verfassungsgeschichtliche Interpretation dieses Gremiums würde ebenso zu kurz greifen wie eine rein sozialgeschichtliche Analyse. Dies gilt ganz besonders fiir das eigentlich rechtsprechende Element innerhalb des Kameralkollegiums, fiir die Assessoren oder Beisitzer, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen. Das Scharnier, das die verfassungs- und sozialgeschichtliche Erforschung der Assessorengruppe miteinander verbindet und die Verschränkung beider Aspekte unabdingbar macht, ist das sogenannte Präsentationssystem. Bei diesem Mechanismus zur Besetzung der RKG-Assessorate handelte es sich um ein reichsgesetzlich geregeltes Vorschlagsverfahren, an dem der Kaiser, sämtliche Kurfiirsten und fast alle Reichskreise beteiligt waren. Ein zentraler Teil der Arbeit dient dazu, diesen komplizierten Besetzungsmodus in seiner Abhängigkeit von der Reichsverfassung zu erläutern und seine doppelte Prägewirkung auf Verfassung und Sozialprofil des Kameralkollegiums sowie seine Auswirkungen auf die Lebensläufe der präsentierten Juristen plausibel zu machen. Erst diese verfassungsgeschichtliche Leitplanke ermöglicht es, das Kameralkollegium und speziell die Assessoren nicht einfach nur als eine zufallig zusammengewürfelte Gruppe mehr oder weniger qualifizierter Juristen zu sehen, sondern, wie bereits eingangs formuliert, als einen verfassungsgeschichtlich höchst bedeutsamen Sozialkörper mit prominenter Position im Gefuge des Alten Reiches. Was den sozialgeschichtlichen Blickwinkel betrifft, bietet die Arbeit erstmals die Einzelbiographien sämtlicher Juristen, die in einem bestimmten Zeitraum auf ein Assessorat des RKG (das Richteramt im modernen Sinne) präsentiert wurden, und wertet sie im Rahmen einer Kollektivbiographie aus. Zwar hat sich zwischen Beginn und Drucklegung der vorliegenden Untersuchung unversehens ein ganzes Erwachsenenleben geschoben, währenddessen sich in der deutschen Geschichtswissenschaft mehrfach ein Wechsel der "for-
!.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
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schungsleitenden Orientierungen" vollzog29 : Seit den späten 1960er Jahren gewann die sozialgeschichtlich orientierte Forschungsrichtung immer mehr an Boden, und bis in die späten siebziger Jahre hinein stand die Debatte um theoretische Fundierung, Methoden, Inhalte und Deutungsanspruch der von der Bielefelder Schule geprägten "modernen deutschen Sozialgeschichte" sowie deren Verhältnis zu den systematischen Sozialwissenschaften noch im Vordergrund30 • Aber schon als die vorliegende Untersuchung 1990 als Habilitationsschrift eingereicht wurde, hatte die deutsche Geschichtswissenschaft und mit ihr auch die Frühneuzeitforschung - damit endgültig Anschluß an westeuropäisch-amerikanische Trends gewinnend- seit gut einem Jahrzehnt neue Fragestellungen entwickelt und neue Ansätze ausprobiert. Der Bogen spannt sich seitdem von der Alltags- und Mentalitätsgeschichte sowie der Mikro-Historie und Geschlechtergeschichte über die facettenreiche "neue" Kulturgeschichte bis hin zu einer innovativen kulturalistischen Variante von Verfassungsgeschichte, die das "Symbolsystem" oder die "Symbolsprache" des Alten Reiches als konstitutives Element der Reichsverfassung begreift, das heißt "die Gesamtheit der Symbole, Gesten, Rituale und Verfahren, in denen sich die Ordnung des Reiches handgreiflich verkörperte" 31 . Trotz solcher Verschiebung bzw. Ausweitung und Auffacherung der Forschungsinteressen gehört die Zusammenfiihrung und Verschränkung von Verfassungs- und Sozialgeschichte nach wie vor zu den zentralen Anliegen bei der Erforschung des Alten Reiches. Sie kann sich auf die verschiedensten Gruppen 29 Hierzu und im folgenden s. in Auswahl mit weiterführender Literatur: J. KocKA, Sozialgeschichte. Begriff- Entwicklung- Probleme, 2., erw. Aufl. Göttingen 1986 (1. Aufl. 1977), darin v.a. der in der 2. Auflage hinzugefUgte Abschnitt IV, S.132-176: Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Entwicklungen seit Mitte der 70er Jahre; W. SCHULZE (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, Einleitung, S.6-18 (Zitat S.11 ). 30 H.-U. WEHLER, Moderne deutsche Sozialgeschichte, 5. Aufl. Köln 1976 (1. Aufl. 1966); J. KocKA, Sozialgeschichte; W. SCHIEDER- V. SELLIN (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd.1: Die Sozialgeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1986 (darin v.a. die Beiträge von D. Langewiesche, H.-U. Wehlerund J. Kocka); s. auch Anm.34.
31 Für diese kulturgeschichtliche Aufladung der frühneuzeitlichen Reichs- und Reichsverfassungsgeschichte steht vor allem die Münsteraner Frühneuzeithistorikerin Barbara Stollberg-Rilinger; s. zuletzt DIES., Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, bes. die programmatische Einleitung S.7-22 (Zitate ebd., S.7 u. 8); s. auch schon DIES., Die zeremonielle Inszenierung des Reiches, oder: Was leistet der kulturalistische Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte?, in: Schneitger (Hg.), Imperium Romanum, S.233-246; DIES., Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe- Thesen- Forschungsperspektiven, in: ZHF 31, 2004, S.489-527; DIES., Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: dies. (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S.9-24.
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und Institutionen im Reich, in den Territorien und Reichsstädten richten, und das Potential dieses doppelten Ansatzes ist noch keineswegs ausgeschöpft, vor allem wenn man ihn um eine vergleichende Perspektive erweitert. Bei aller fortdauernden Aktualität einer "wechselseitigen Unterstützung von Verfassungsund Sozialgeschichte" 32 ist hier aber zugleich - nicht zuletzt als Information für jüngere Forschergenerationen - festzuhalten, daß die Geburtsstunde einer um sozialgeschichtliche Fragestellungen und Methoden erweiterten Erforschung von Geschichte und Verfassung des Alten Reiches in der Zeit um 1970 lag und daß dieser Ansatz bis in die 1990er Jahre hinein seine Hauptkonjunktur hatte. Spätestens in den frühen siebziger Jahren hatte die "Forderung nach mehr Sozialgeschichte"33 auch die westdeutsche Mediävistik und Frühneuzeitforschung erreicht. Die polarisierende Debatte über das Verständnis von Sozialgeschichte34 oder über die "Bestimmung der Geschichtswissenschaft als historische Sozialwissenschaft"35 wurde auch hier geführt, wenngleich nicht mit der Schärfe wie bei den Vertretern der Neuesten und Zeitgeschichte. Auch in der Frühneuzeitforschung, die sich damals an deutschen Universitäten gerade als eigenes Teilfach etablierte, herrschte Aufbruchstimmung und Entdeckerfreude angesichts der Möglichkeiten sozialgeschichtlicher bzw. sozialgeschichtlich grundierter Untersuchungen - durchaus verständlich angesichts der Tatsache, daß die in den frühen siebziger Jahren forschenden Frühneuzeithistoriker während ihrer akademischen Ausbildung größtenteils noch eine primär "staats-und politikbezogene deutsche Historiographie" 36 kennengelernt hatten und der Verfassungsgeschichte in Gestalt einer relativ statisch verstandenen, auf die Institutionen und ihre normativen Grundlagen eingeengten Teildisziplin begegnet waren. Wichtig 32 PRESS, Das römisch-deutsche Reich, S.242. 33 KOCKA, Sozialgeschichte, S.132. 34 In diesen Kontroversen ging es um die Frage, ob Sozialgeschichte nur als "Sektorwis-
senschaft" zu verstehen sei, das heißt als Teilbereichsdisziplin, die sich zumeist mit anderen historischen Teildisziplinen wie der Politik-, Wirtschafts-, Verfassungs- oder Kulturgeschichte verband, oder vielmehr - und das war die heftig umstrittene Gegenposition - als "Gesellschaftsgeschichte" mit umfassendem Deutungsanspruch, das heißt "als sozialgeschichtlicher Zugriff zur Analyse der allgemeinen Geschichte", s. KOCKA, Sozialgeschichte, S.4 f. (ebd. Zitat), ausführlicher ebd., S.82 ff., S.97 ff., S.l33 ff.; D. LANGEWIESCHE, Sozialgeschichte und Politische Geschichte, in: Schieder- Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd.l, S.9-32, hier S.lO ff. ("Aspektwissenschaft" - "Integrationswissenschaft"); H.-U. WEHLER, Sozialgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, ebd., S.33-52.
35 R. RüRUP (Hg.), Historische Sozialwissenschaft. Beiträge zur Einführung in die For-
schungspraxis, Göttingen 1977, hier ders., Zur Einführung, S.9 (Zitat); zur "historischen Sozialwissenschaft" s. ausführlicher mit weiteren Literaturangaben KocKA, Sozialgeschichte, S.l62 ff.
36 LANGEWIESCHE, Sozialgeschichte und Politische Geschichte, S.14.
1.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
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war aber für die Frühneuzeithistoriker die Erkenntnis, daß die Methoden, Begrifflichkeiten und Schichtungsmodelle, welche die oben erwähnte "moderne deutsche Sozialgeschichte", zum Teil in Anlehnung an die systematischen Sozialwissenschaften für die moderne Industriegesellschaft entwickelt hatte, nicht oder nur mit Vorsicht für die Erforschung vormoderner Gesellschaften wie der ständischen Gesellschaft des Alten Reiches übernommen werden durften. Etwa zeitgleich mit der sozialgeschichtlichen Wende in der deutschen Geschichtswissenschaft und speziell auch in der Frühneuzeitforschung wurden seit den späten 1960er und vor allem seit den frühen 1970er Jahren auch die Konturen jenes oben bereits skizzierten "neuen Bildes vom Alten Reich" stärker gezogen. Die Öffnung der Verfassungs- und Politikgeschichte hin zur Sozialgeschichte wurde als Chance gesehen, das von der älteren Verfassungsgeschichte konstruierte anstaltsstaatliche Modell vom Alten Reich und seinen Institutionen aufzubrechen. Statt dessen sollte im Rahmen einer "Strukturanalyse des Reichskörpers" ein dynamisches, differenzierteres Bild dieses nunmehr als vielgliedriges politisch-soziales "System" begriffenen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reiches gezeichnet werden. Unter anderem sollte die personengeschichtliche Analyse von Höfen, zentralen Behörden und kirchlichen Institutionen, Universitäten und verfassungsrechtlich relevanten sozialen Korporationen dazu verhelfen, die Rolle sozialer Gruppen und Netzwerke, sozialer Beziehungen und informeller Spielregeln für das Funktionieren des Reichsverbands aufzudecken. Dies war eines der zentralen Anliegen jenes umfassenden Forschungsprojekts, aus dem die vorliegende Arbeit hervorgegangen ist: Anfang 1975 genehmigte die Deutsche Forschungsgemeinschaft den Forschungsschwerpunkt "Deutsche Sozial- und Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit", der von den Professoren Peter Moraw und Volker Press (damals beide Gießen), Karl Otmar Freiherrn von Aretin (damals Mainz/Darmstadt) und Hermann Weber (Mainz) beantragt worden war und insgesamt sechs Teilprojekte umfaßte. Wie Moraw und Press in ihren dem Antrag zugrundeliegenden prinzipiellen Überlegungen betonten37 , konnte "ein so weites Arbeitsgebiet", wie es die anvisierte Strukturanalyse des Alten Reiches war, vorerst nur "in einzelnen exemplarischen Längs- und Querschnitten in Angriff genommen werden, 37
Eine erweiterte Fassung dieser den Einzelanträgen beigefugten grundsätzlichen Überlegungen wurde 1975 publiziert, s. P. MORAW- V. PRESS, Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (13.-18. Jahrhundert). Zu einem Forschungsschwerpunkt, in: ZHF 2, 1975, S.95-108 (die folgenden Zitate ebd., S.99; "Strukturanalyse des Reichskörpers": ebd., S.95); wieder abgedruckt in: PRESS, Das Alte Reich, S.3-17. Aus der dort vorgestellten Gesamtkonzeption können hier nur einige Überlegungen herausgegriffen werden, die ftir das eigene Teilprojekt relevant waren; ähnlich programmatisch kurz nach Auslaufen des Forschungsschwerpunkts 1981: PRESS, Das römisch-deutsche Reich.
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so daß eindringende Einzelforschung vor der Zusammenschau stehen wird". Die beantragten Einzelprojekte verband jedoch eine Vision: "Gleichwohl ist der Kerngedanke des Projekts eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Synthese mit dem letzten, wohl noch fernen Ziel einer einheitlichen Gesamtauffassung vom Heiligen Römischen Reich. Verfassungs- und Sozialgeschichte in ihrer Verbindung sind daher stets auf das ganze Reichsgefüge bezogen, im Ineinandergreifen von Institutionen und Personen, Strukturen und Ereignissen". Von den sechs seit 1975 von der DFG geförderten Teilprojekten dieses Forschungsschwerpunkts übernahm die Verfasserin das Thema "Zusammensetzung und Sozialbeziehungen des Reichskammergerichtspersonals 1548-1806" 38 • Der Beginn des von den Antragstellern anvisierten Untersuchungszeitraums war durch die große Kammergerichtsordnung von 1548 und deren überarbeitete Fassung von 1555 markiert, die auch für das RKG nach den wechselvollen Schicksalen der Gründungsphase und nach den Konflikten des Reformationszeitalters eine lange Phase der Stabilisierung einleiteten. Laut Erstantrag sollte dieses gefestigte Gericht "mittels einer Analyse seiner sozialen Grundlagen und politischreligiösen Beziehungen prosapographisch untersucht werden. Durch die Erforschung von Herkunft und Bildung der Gerichtspersonen sollen Konstanten und Variablen des territorialen und sozialen Ursprungs sowie der wechselnde Einfluß einzelner Juristenfakultäten herausgearbeitet werden". In den Kreis der in dieser "sozialgeschichtlichen Analyse" zu untersuchenden Gerichtspersonen sollten außer dem richterlichen Personal auch die am RKG tätigen Anwälte - Advokaten und Prokuratoren- einbezogen werden. "Als Fernziel" war laut Erstantrag "ein Vergleich mit der Sozialstruktur des Reichshofrats denkbar" 39 • Auch der Einbau des RKG-Personals in die Wirtsstädte Speyer und Wetzlar sollte erforscht werden.
38 Die anderen fünf Teilprojekte und ihre Bearbeiter waren: 1. Prosopographische Untersuchungen zu Kontinuität und Struktur königsnaher Führungsgruppen im spätmittelalterlichen Reich (Peter Moraw); 2. Deutsche Universitätsbesucher im 14. bis 16. Jahrhundert (Rainer Chr. Schwinges); 3. Schwäbische Reichsprälaten: Soziale Zusammensetzung und politische Funktion (Armgard von Rheden-Dohna); 4. Formen und Instrumente kaiserlicher Politik im Reich 1648-1806 (Volker Press); 5. Organisation, Arbeitsweise und systembildende politische Funktionen des Reichstags 1648 bis 1806 (Anton Schindling). Von den beiden Monographien, die neben zahlreichen Aufsätzen bereits vor Jahren aus diesem Forschungsschwerpunkt hervorgingen, verfolgt die eine einen sozialgeschichtlichen, die andere einen primär verfassungsgeschichtlichen Ansatz; s. R. CHR. SCHWINGES, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches, Stuttgart 1986; SCHINDLING, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg; s. auch die Beiträge der Projektteilnehmer in H. WEBER (Hg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, Wiesbaden 1980. 39
Alle Zitate sind dem Anfang 1975 bei der DFG eingereichten Erstantrag entnommen.
I.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
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Quellenlage und forschungsökonomische Gründe führten schon in der Allfangsphase der Arbeit zu einer ersten Reduktion von Personenkreis und engerem Untersuchungszeitraum - mit 'engerem Untersuchungszeitraum' ist hier und im folgenden derjenige Zeitraum gemeint, in welchem die biographischen Daten der damals amtierenden Kameralpersonen als Basis für Einzelbiographien und Kollektivbiographie erfaßt werden sollten. Die wichtigsten personengeschichtlich relevanten Quellengruppen des sogenannten "Untrennbaren Bestands" des ehemaligen Kameralarchivs, vor allem die Präsentationsprotokolle und Präsentationsakten (d.i. Korrespondenzen), setzen abgesehen von einigen älteren Fragmenten erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges ein, weil die älteren Konvolute dieser Serien im Speyerer Brand von 1689 vernichtet wurden40 . Die von Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des Alten Reichs überlieferten Bände besitzen allerdings wegen ihrer Informationsdichte einen hohen Quellenwert. Die Entscheidung, die sozialgeschichtliche Analyse auf die Zeit von 1648 bis 1806 (statt 1548-1806) einzugrenzen, wurde aber auch durch die Bedeutung der Zäsur von 1648 für die Geschichte des RKG gestützt: Die Bestimmungen des Westfälischen Friedens brachten für das RKG eine institutionelle Verfestigung mit sich und leiteten nach dem Tiefstand im Dreißigjährigen Krieg allmählich eine wenngleich zunächst bescheidene Konsolidierung ein. Vor allem wurde - für die soziale Zusammensetzung des Kameralkollegiums folgenreich - als Konsequenz aus den allgemeinen konfessionsrechtlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens das Präsentationswesen des RKG neu geordnet, und nach dem personellen Schwund während der Kriegsjahre umfaßte das Gericht erstmals seit längerer Zeit wieder einen größeren Personenkreis. Der Westfälische Frieden gliedert also nicht nur die institutionelle, sondern auch die personelle Geschichte des RKG in zwei große Phasen, die beide trotz der Kontinuität bestimmter Phänome ihr eigenes Gesicht haben und die wegen der unterschiedlichen Quellenlage ein jeweils anderes methodisches Vorgehen zur Rekonstruktion der Sozialstruktur erfordern. Zugleich mit dieser (erstmaligen) Begrenzung des engeren Untersuchungszeitraums auf die Zeit von 1648 bis 1806 wurde der untersuchte Personenkreis unter V erzieht auf die Analyse des Anwaltspersonals beschränkt auf das Kameralkollegium, das heißt aufKammerrichter, Präsidenten und Beisitzer des RKG41 • Zusätzlich zu den Assessoren wurden nun aber aus 40 Zu den benutzten archivalischen Quellen s. ausfiihrlicher die folgende Darstellung; s. auch das Verzeichnis der ungedruckten Quellen. 41
Für die meisten der in der späten Speyerer sowie in der Wetzlarer Zeit am RKG tätigen Advokaten und Prokuratoren wurden aber die Generalexamina mit ihren Personalangaben aus den Präsentationsprotokollen aufgenommen. Die aufgeschworenen Advokaten und Prokuratoren bildeten am RKG eine eigene Gruppe, die sich nach sozialer Rekrutierung und geographischer Herkunft, Ausbildung und Qualifikationsanforderungen, Stellenzugang und Karriereverlauf sowie Sozialstatus vor allem in der Wetzlarer Zeit des Gerichtstrotz mancher Querver-
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unten noch zu erläuternden Gründen auch diejenigen Juristen mit in die Untersuchung einbezogen, die zwar auf ein RKG-Assessorat präsentiert worden waren, ihr Richteramt jedoch aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht antraten. Während also einerseits der engere Untersuchungszeitraum sowie der Personenkreis im Laufe des ersten Bearbeitungsjahres gegenüber der ursprünglichen Themenstellung des Erstantrags eingegrenzt wurden, ergab sich andererseits schon früh eine inhaltliche Ausweitung des Themas. Wie die obigen Zitate aus dem Erstantrag zeigen, war ursprünglich eine rein prosopographische Untersuchung, eine "sozialgeschichtliche Analyse" des Gerichtspersonals anvisiert. Eine verfassungsgeschichtliche Dimension, die tiefer in die Binnenstrukur des vom RKG als Ganzem gebildeten institutionellen Gehäuses eindrang, war noch nicht angedacht. Beim Studium der Präsentationsakten und -protokolle wurde jedoch rasch die fortlaufende und unauflösliche Verquickung von sozial- und besetzungsgeschichtlichen Informationen deutlich, genauer: bei der Quellenlektüre traten schnell der sozial- und verfassungsgeschichtliche Doppelcharakter sowie die reichspolitische Relevanz des bereits erwähnten Präsentationssystems entgegen, welches weit mehr war als nur ein technisches Hilfsmittel zur Besetzung des Kameralkollegiums, speziell der Assessorate 42 • Über diesen für die Richterstellen des RKG charakteristischen Besetzungsmodus war das Gericht in der gesamten Reichsverfassung 'aufgehängt', er spiegelte die politisch-verfassungsrechtlichen und sozialen Strukturen des Reiches wider, so wie er Personalverfassung und Sozialstruktur des Kameralkollegiums seinen Stempel aufdrückte 43 • Die Entwicklung des Präsentationssystems in seiner Abhängigkeit von reichsund konfessionspolitischen Veränderungen sowie die Besetzungspolitik der Präsentationsberechtigten- Kaiser, Kurfürsten und Reichskreise-spielten fortan in der Untersuchung neben und in enger Verflechtung mit der von diesem Präsentationssystem geprägten Sozialstruktur des Kameralkollegiums sowie bei der Erstellung der Einzelbiographien eine gleichgewichtige Rolle. Zu Beginn der 1980er Jahre war die Archivarbeit für Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren sowie sonstige Präsentierte im Zeitraum 1648-1806 abgeschlossen, so daß mit der Niederschrift der Einzelbiographien - Voraussetzung für die besetzungs- und sozialgeschichtliche Gruppenanalyse des darstelbindungen deutlich vom richterlichen Personal unterschied; s. dazu kurz Kap.II.2.1. mit Anm.ll; ebd. die neuere Literatur zum Anwaltspersonal des RKG, das in den letzten Jahren von Baumann, Klass, Stein und Weitzel besser erforscht wurde. 42 Bei der Besetzung der Kammerrichter- und Präsidentenstellen, die abgesehen von Besonderheiten in der Frühphase des RKG allein dem Kaiser zustand, ist der Begriff "Präsentation" genau genommen nicht angebracht, er bedeutet jedenfalls etwas anderes als bei den Beisitzern; dazu s. genauer Kap.II.2.2.1. und 1!.2.2.2.
Dazu s. ausführlicher Kap.II.3. über die Besetzung der Assessorate, bes. Kap.II.3.1.: Das Präsentationssystem: Geschichte und Funktion im politischen System des Alten Reiches. 43
1.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
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lendenTeils-begonnen werden konnte. Bei der Abgleichung des gesammelten Materials zeigte sich jedoch, daß bei der Erstellung dieser Einzelbiographien in der eigengewichtigen Form, wie sie in Teil II dieses Werkes abgedruckt sind, noch ein unerwartet hoher Arbeitsaufwand erforderlich war, denn die bisher aus archivalischen und zum Teil auch schon aus gedruckten Quellen gesammelten biographischen Angaben waren lückenhaft und widersprüchlich und bedurften der Verifizierung und Ergänzung durch zusätzliche gedruckte Quellen wie Universitätsmatrikeln, familiengeschichtlich-einzelbiographische Literatur und Kameralliteratur sowie durch Beiziehung von Hilfsmitteln wie historischen Ortslexika und genealogisch-biographischen Sammelwerken. Angesichts dieses voraussehbaren zusätzlichen Zeit- und Arbeitsaufwands wurde Anfang der 1980er Jahre (bald nach Auslaufen des DFG-Forschungsschwerpunkts) der ebenso schmerzhafte wie unvermeidliche Entschluß gefaßt, die Zahl der Kameralpersonen, deren Einzelbiographien als Grundlage für die Kollektivbiographie ausgearbeitet werden sollten, und damit auch den 'engeren' Untersuchungszeitraum nochmals drastisch, und zwar um mehr als die Hälfte zu reduzieren. Auf die Ausarbeitung der Einzelbiographien der Kammerrichter und Präsidenten, die als Direktorialpersonen innerhalb der Kameralkollegiums nach Emennungsmodus, Funktion und Sozialstatus eine eigene Gruppe bilden, wurde fortan gänzlich verzichtet. Das über sie gesammelte Material floß aber, wie unten bei der Beschreibung der Gliederung näher ausgefiihrt wird, in drei Unterkapitel (11.2.2.1.11.2.2.3.) des Großabschnitts 11.2. ein. Die Ausarbeitung der Einzelbiographien und damit auch die Kollektivbiographie des darstellenden Teils konzentrierte sich von nun an auf das eigentliche richterliche Element des Kameralkollegiums, auf die Assessoren, sowie zusätzlich auf die auf ein Assessorat präsentierten, jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht ins Amt gelangten Juristen. Um die Zahl der Assessorenbiographien auf ein einigermaßen handhabbares Maß zu reduzieren, wurde als Stichdatum fiir den Beginn des neuen 'engeren' Untersuchungszeitraums das Jahr 1740 gewählt. In der Geschichte des RKG bildet dieses Jahr keine markante Zäsur - das sind zwischen 1648 und 1806 vielmehr die Jahre 1689/93 mit dem Wechsel des Gerichts von Speyer nach Wetzlar und 1711, das Jahr seiner Wiedereröffnung nach siebenjährigem Stillstand. Dagegen gilt in der allgemeinen Reichsgeschichte das Jahr 1740 mit dem Regierungsantritt Maria Theresias und Friedrichs II. als griffiges, zeichenhaftes Wende-Jahr, das nicht nur den österreichisch-preußischen Dualismus, sondern auch die Spätphase des Alten Reiches einleitete44 . Diese Spätzeit des Reiches tritt in den Präsentationsakten und -protokollen als eine besonders spannende, von Umbrüchen 44 Vgl. H. NEUHAUS, Hie Österreichisch- hier Fritzisch. Die Wende der 1740er Jahre in der Geschichte des Alten Reiches, in: ders. (Hg.), Aufbruch aus dem Ancien n\gime. Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts, Köln- Weimar- Wien 1993, 8.57-77.
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und Konflikten, Reformbemühungen und Erstarrungserscheinungen gekennzeichnete Phase in der Besetzungs- und Sozialgeschichte des Kameralkollegiums entgegen, die auch über den damaligen Zustand des Reichssystems viel aussagt. Deswegen wurde bei der aus arbeitsökonomischen Zwängen geforderten nochmaligen Eingrenzung des engeren Untersuchungszeitraums nicht die späte Speyerer und frühe Wetzlarer Zeit des RKG gewählt, sondern die mit den Stichjahren 1740 und 1806 umrissene Spätphase. Von den insgesamt 128 Juristen, die zwischen dem Stichdatum 1.1.1740 und der Auflösung des RKG 1806 als Assessoren amtierten (92) oder erfolglos auf ein RKG-Assessorat präsentiert wurden (36), waren allerdings 21 schon zwischen 1710 und 1739 auf ein RKGAssessorat präsentiert worden, 23 (davon 21 Assessoren) waren zwischen 1665 und 1699 geboren, mehrere von ihnen hatten bereits vor 1700 studiert (frühester Studienbeginn 1680 und 1681 ), zwei sogar schon 1685 ihre Vorkarriere begonnen. Der engere Untersuchungszeitraum, der von den 128 ausgearbeiteten Einzelbiographienund der daraufberuhenden Gruppenanalyse abgedeckt wird, verweist daher weit über das Stichdatum 1.1.1740 zurück in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts45 • Fluchtpunkt der Arbeit ist also das 18. Jahrhundert- sieht man von den Allfangsjahren ab, die "Wetzlarer Zeit" des RKG. Jedoch wird diese Spätzeit eingebettet in die gesamte dreihundertjährige Geschichte des Gerichts seit seiner Errichtung im Jahre 1495. In allen Kapiteln werden die verfassungsrechtlichen, reichs- und konfessionspolitischen Entwicklungen und speziell die normativen Grundlagen der Personalverfassung in chronologischen Durchgängen ab 1495 beschrieben. Ab etwa 1648 erhält die Darstellung in allen Kapiteln mehr Tiefenschärfe auf Grund der genauen Kenntnis der erst ab Mitte des 17. Jahrhunderts erhaltenen Präsentationsprotokolle und -akten sowie anderer fiir Besetzung und Sozialstrukur des Kameralkollegiums wichtiger Quellengruppen. Für das 18. Jahrhundert bilden die präsentations- und sozialgeschichtlichen Daten, die in den ausgearbeiteten 128 Einzelbiographien zusammengestellt und kommentiert sind, die Hauptgrundlage. Diese Staffelung der Untersuchungszeiträume mit der Fokussierung auf die Spätphase des Reiches macht es möglich, das RKG und sein Richterkollegium nicht nur unter dem Aspekt von Kontinuität und Wandel, sondern mehr noch in einem Spannungsfeld zwischen anfänglicher Modernität und späterem Veralten, zwischen Vorreiterfunktion und unterlassenen Anpassungsleistungen zu betrachten. Dieser Ansatz kann über das RKG hinaus auch der weiteren Erforschung des Alten Reiches im Ancien Regime neue Impulse verleihen und dazu beitragen, die Strukturprobleme des Reichsverbands im Jahr45 Die Großeltern der beiden Assessoren mit den frühesten Geburtsdaten (1665 bzw. 1667) waren schon Ende des 16. bzw. Anfang des 17. Jahrhunderts geboren worden waren; s. Biogr. 38 (Ludolf), Biogr. 63 (Frantz).
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hundert vor seiner Auflösung sowie die reichsinternen Gründe für sein Ende noch besser zu erhellen. Welche Forschungssituation fand die Verfasserin 1975 bei Beginn ihres Projekts zur Verfassungs- und Sozialgeschichte des RKG vor? Das Kameralkollegium selbst hatte sich sogar in der Spätzeit seiner Existenz, als es auf eine traditionsreiche, inzwischen 250- bis 300jährige Vergangenheit zurückblicken konnte, noch nicht als Objekt einer kombiniert verfassungs- und sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise oder auch nur historisch-biographischer Untersuchungen betrachtet46 • Es hatte stets ein nur rein berufliches Interesse an den sozialen und im engeren Sinne professionellen Eigenschaftenall jener Juristen, die neu auf ein Assessorat präsentiert wurden. Diese persönlichen Daten wurden vor der eigentlichen Fachprüfung in einer Befragung zur Person, dem sogenannten Generalexamen, erkundet47 • Selbst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als die gesamte Kameral- und speziell auch die Personalverfassung samt dem Präsentationswesen mehr denn je zu einem beliebten Objekt fiir geschichtsbewußte Kameralschriftsteller und Reichspublizisten geworden war, gab es aus dem Kameralkollegium heraus keine Initiative, etwa auf der Basis der überlieferten Generalexamen das eigene - historische und aktuelle - Sozialprofil nachzuzeichnen, und sei es in offiziösen Kurzporträts, gleichsam als erläuternder Kommentar zu der von Johann Wolfgang v. Goethe gewünschten "charakteristischen", muteinflößenden Bildergalerie jener "würdigsten Männer", 46 Das Bundesverfassungsgericht und der Bundesgerichtshof waren schneller als seinerzeit das Kameralkollegium; s. die materialreichen Autobiographien der Richter des Bundesverfassungsgerichts in: Das Bundesverfassungsgericht 1951-1971,2., völlig neubearb. u. erw. Aufl. der vom Bundesverfassungsgericht aus Anlaß seines zehnjährigen Bestehens herausgegebenen Informationsschrift, Kar1sruhe 1971, S.211-254; 25 Jahre Bundesverfassungsgericht 19511976. Festakt aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichtsam 18. November 1976, Heidelberg- Karlsruhe 1976, S.45-60; s. ferner die mit biographischen Daten angereicherten Personallisten in: 25 Jahre Bundesgerichtshof am 1. Oktober 1975, hg. von G. KRÜGER-NIELAND, München 1975, S.353-383; Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof, Bundesanwaltschaft und Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, hg. von K. Geiß - K. Nehm- H.E. Brandner- H. Hagen, Köln- Berlin- Bonn München 2000, S.787-847: Personalien (= Mitgliederlisten mit biographischen Angaben 1950-2000); Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, hg. von P. Badura u. H. Dreier, Bd.2: Klärung und Fortbildung des Verfassungsrechts, Tübingen 2001, S.913-930: Anhang I. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts 1951 bis 2001. Vgl. auch J. FEEST, Die Bundesrichter. Herkunft, Karriere und Auswahl der juristischen Elite, in: W. Zapf (Hg.), Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, 2., erw. Aufl. München 1965, S.95-113 mit Anm. S.155f. 47 Zum Generalexamen, das auf der Basis eines 11, seit 1770 12 Punkte umfassenden standardisierten Fragekatalogs in lateinischer Sprache durchgeführt und protokolliert wurde, s. Kap.II.3.2. mit Anm.360 ff.
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die über drei Jahrhunderte hinweg als Beisitzer tätig waren3 48 . Nur zu den letzten amtierenden Diektorialpersonen und Assessoren wurden von dem langjährigen Protonotar des RKG Joseph Anton VahlkampfKurzbiographien publiziert, und auch dies erst Ende 1806, unmittelbar nach der Auflösung des Reiches - ein letztes Gruppenbild vor dem Auseinandergehen49 • Die Kameralschriftsteller und Reichspublizisten des ausgehenden 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts beschrieben zwar entweder separat oder im Rahmen der gesamten, auch Zuständigkeit und Prozeßrecht einschließenden Kameralverfassung eingehend die Personalverfassung des Kameralkollegiums. Neben den sozialen und im engeren Sinne berufsspezifischen Eingangsvoraussetzungen fiir das RKG-Assessorat wurde dabei immer auch das Präsentationswesen behandelt, die historische Entwicklung des Schemas ebenso wie die einzelnen Präsen48 JOHANN WOLFGANG V. GOETHE, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Tl.3, 12. Buch, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd.9: Autobiographische Schriften I, 12., durchges. Aufl. München 1994, S.529. -Angesichts der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts besonders üppig sprießenden Gattung der sogenannten Gelehrten-Lexika (Jöcher, Jugler, Meusel, Strieder, Weidlich u.a.), die auch die Kurzbiographien einzelner, zumeist durch schriftstellerische Tätigkeit bekannt gewordener RKG-Assessoren enthalten, hätte ein biographisches Lexikon der verstorbenen und lebenden RKG-Beisitzer durchaus nahe gelegen. Zum Beispiel gab J. J. MosER heraus: Neueste Geschichte der Teutschen StaatsRechts-Lehre und deren Lehrer, Frankfurt a.M. 1770. Er konnte dabei aber aus verschiedenen bereits vorliegenden Gelehrten-Lexika abschreiben, was für die Mehrzahl der Beisitzer nicht möglich gewesen wäre. E.J.K. v. FAHNENBERG, Litteratur des Kaiserlichen Reichskammergerichts, Wetzlar 1792, porträtierte mit zumeist nur knappen Angaben auch einige Assessoren, aber nur solche, die sich als Kameralschriftsteller betätigt hatten. 49 J.A. VAHLKAMPF (Hg.), Reichskammergerichtliche Miscellen, Bd.2, H.5, GießenWetzlar 1806, S.487-513: Biographische und literarische Notizen über das zum hohen Reichskammergerichts-Collegium gehörige, jetzt lebende Personale. Interessanterweise meinte Vahlkampf, seine Publikation von Kurzbiographien der letzten amtierenden Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren begründen zu müssen: "Diese biographische Notizen scheinen mir in mehr als einer Rücksicht eine Stelle in dieser Sammlung zu verdienen. Nicht blos in literarischer, sondern auch in so mancher anderer Hinsicht; indem es interessant ist, die näheren Verhältnisse der Staatslaufbahne derjenigen Männer kennen zu lernen, deren Händen Teutschlands Fürsten die oberste teutsche Gerechtigkeitspflege mit so grosem als gerechtem Zutrauen anvertrauet hatten, - deren ... Werk der hohe Ruf dieses Gerichts größtentheils ist, deren edles und wohlthätiges Wirken in einer so eminenten, so gemeinnützigen Sphäre durch die plötzliche Veränderung der teutschen Verfassung gehemmt wird" (S.487). Daß Vahlkampf sich- außer einigen vermutlich von den Porträtierten selbst eingeholten Angaben- auf die von diesen abgelegten Generalexamen stützte, die er als Protonotar protokolliert hatte, ergibt sich aus einem Vergleich zwischen Vahlkampfs Kurzbiographien und den zugehörigen Generalexamen. Die 24 Mitglieder des Kameralkollegiums - Kammerrichter, zwei Präsidenten und 21 Beisitzer - , die 1806 das Ende des Alten Reiches erlebten, bilden die prosopographische Grundlage für die 2005 erschienene Dissertation von E.-0. MADER, Die letzten "Priester der Gerechtigkeit". Mader konnte die in Teil II des vorliegenden Werkes enthaltenen Einzelbiographien der betreffenden Kameralpersonen benutzen; ebd., S.40 ff., s. jetzt auch zu Vahlkampfs "Biographischen und literarischen Notizen".
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tationsbefugnisse50 • Jedoch ging es dabei ausschließlich um das Präsentationssystem als ein Institut der Kamera!- und Reichsverfassung. Beschrieben und interpretiert wurden die normativen sowie durch Kameralobservanz eingespielten Regeln und eventuell noch ihre Bewährung in der Praxis. Keiner der Autoren räsonierte darüber, daß und wie sich dieser einzigartige Zugangsmodus sowie die übrigen personenbezogenen Normen auf das Sozialprofil des Kameralkollegiums auswirkten und ob die vom Präsentationssystem intendierte möglichst reichsweite geographische Rekrutierung der Assessoren auch der sozialen Realität entsprach. Solche Fragen lagen diesen Spezialisten der Reichs- und Karneratverfassung noch ebenso fern wie den Beisitzern selbst. Einzig der Göttinger Reichspublizist Johann Stephan Pütterbewies ein wenn auch nur ganz punktuelles statistisches Interesse am Sozialprofil des Kameralkollegiums, als er im Interesse einer günstigen, nämlich gemischten Zusammensetzung der einzelnen Senate nach der Dienstalterstruktur der 1776 amtierenden Assessorenriege fragte. Pütter bedauerte, nicht auch das Lebensalter der damaligen Beisitzer zu kennen, und wünschte sich, daß der jährlich erscheinende Kameralkalender zu jeder Kameralperson ihr Geburtsjahr vermerken würde 51 . Ein Jahrhundert nach dem Ende des Alten Reiches befaßte sich Rudolf Smend (1882-1975) in seinem bereits erwähnten grundlegenden, in seiner Art unersetzlichen Werk über Geschichte und Verfassung des RKG unter anderem recht ausführlich mit der Besetzung der Assessorate, von der Aus- und Fortbildung sowie der Funktion des Präsentationswesens bis zu den Qualifikationsanforderungen an die Präsentierten und den Dienstaufgaben der Assessoren. Dabei flossen manche sozialgeschichtlich relevanten, allerdings häufig nur auf allgemeinen Eindrücken oder nichtrepräsentativen Einzelfällen beruhenden Beobachtungen mit ein. Smend lieferte neben einer eingehenden Darstellung der Geschichte des RKG und "seiner Stellung im Ganzen der Reichsverfassung" im zweiten Abschnitt über die Gerichtsverfassung einen Beitrag "zur allgemeinen Behördenund Kanzleigeschichte" 52 • Eine sozialgeschichtliche Untersuchung des Personals wollte und konnte Smend seinem ganzen Forschungsinteresse nach niemals bieten. Er wertete weder die Präsentationsakten und -protokolle des ehemaligen Kameralarchivs in einer in seinem Werk irgendwie ersichtlichen Weise aus noch 50 S. die unten in Kap.II.3.l.l.-II.3.1.4. zitierte, vor 1806 publizierte Literatur zum Präsentationswesen; s. auch das Verzeichnis der vor 1815 erschienenen Quellen und Literatur. 51 J. St. PüTTER, Neuester Reichsschluß über einige Verbesserungen des kaiserlichen und Reichs-Cammergerichts, mit einer Vorrede zu näherer Erläuterung des cammergerichtlichen Präsentationswesens, Göttingen 1776, Vorrede, S.41 ff. 52 SMEND, Reichskammergericht, Vorbemerkung, S.XII. In einem geplanten, aber niemals erschienenen zweiten Teil hatte sich Smend vor allem dem Kameralprozeß, der Zuständigkeit und den Leistungen des Gerichts widmen wollen.
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betrieb er eigene prosopagraphische Studien zu einzelnen Kameralpersonen oder einer bestimmten Gruppe von Amtsträgern wie den Assessoren 53 . Der Zusammenhang von Präsentationssystem und Gruppenprofil des Richterkollegiums wurde von ihm auch theoretisch nicht konsequent zu Ende gedacht. Der Schwerpunkt seines geschichtlichen Überblicks (S.1-242) lag auf der Gründungs- und Aufbauphase, "während das Wesentliche über die Verhältnisse des 17. und 18. Jahrhunderts mit wenigen Worten zu sagen war" 54 . Smend brauchte fiir die Geschichte des RKG nach dem WestHilisehen Frieden bis zum Reichsende nur 30 Seiten (S.212-242)55 . Seit den 1920er und vor allem seit den 1930er Jahren nahm sich die Familienkunde des RKG-Personals an. Mit ihrem vorrangigen Interesse an Fragen der Genealogie und "Versippung" bildete sie gleichsam einen Kontrapunkt zu der älteren Kameralliteratur sowie zu der primär verfassungs-und ämtergeschichtli-
53 Smend benutzte nach den Angaben in seiner Vorbemerkung (S.XIII) unter anderem auch "die in Betracht kommenden Archivalien" des preußischen Staatsarchivs in Wetzlar, wo damals der "Untrennbare Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs aufbewahrt war. Seine Fußnoten und auch seine Darstellung selbst geben jedoch keinen Hinweis darauf, daß er die vielbändigen Serien der Präsentationsakten und-protokollebenutzt und dabei auch die Generalexamen inhaltlich ausgewertet hätte. 54 Ebd., S.XII. Diese Ungleichgewichtigkeit schlägt sich auch in den folgenden ämtergeschichtlichen Kapiteln nieder.
Ungeachtet dessen und trotz aller Kritik an Einzelergebnissen, einseitigen Interpretationsmustern und Ausblendungen bleibt Smends Leistung bewundernswert, vor allem wenn man den von ihm vorgefundenen Forschungsstand und das geringschätzige Urteil des späten 19. Jahrhunderts über das RKG bedenkt (vgl. oben Anm.27). Die obigen Bemerkungen über Smends Werk, das man in der ganzen Breite seiner Thematik zumindests in einer Monographie heute nicht noch einmal schreiben könnte, sollen deshalb auch nicht Smends Gesamtleistung mindern, sondern auf die Unergiebigkeit seines Buches für sozialgeschichtliche Untersuchungen sowie auf eine merkliche Disproportionalität im chronologischen Durchgang hinweisen. - Kurz bevor Smend seine Arbeit über Geschichte und Verfassung des RKG 1908 in Kiel als Habilitationsschrift einreichte, veröffentlichte er einen Aufsatz über BrandenburgPreußen und das Reichskarnmergericht, in: FBPG 20, 1907, S.161-199 (465-501). Nach dem Erscheinen seiner Monographie 1911 spielte das RKG in Smends Forschungen keine Rolle mehr. Aber auch seine späteren Arbeiten zum Staats-, Verfassungs- und Kirchenrecht wurzelten in einem ausgeprägten historischen Denken; s. mit weiterer Literatur: A. FRH. v. CAMPENHAUSEN, Rudolf Smend (1882-1975). Integration in zerrissener Zeit, in: F. Loos (Hg.), Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, Göttingen 1987, S.510527; s. ferner die biographischen Artikel über Rudolf Smend in: M. STOLLEIS (Hg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, S.584586 (M. Stolleis); NDB 24, 2010, S.510 f. (P. Landau). Mit dem RKG beschäftigte sich Smend erst wieder, als er 1965 eine Vorbemerkung zur Neuausgabe seiner Monographie verfaßte. Angesichts der damaligen deutschen Spaltung gab Smend der jüngeren Forschung den Auftrag, durch Beschäftigung mit den Wurzeln des RKG, der Reichsreform von 1495, "in neuer historischer Besinnung ... nach diesen geschichtlichen Voraussetzungen des Problems deutscher Einheit" zu fragen; s. SMEND, Reichskammergericht, S.X. 55
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chen Darstellung Smends56 • Aus Kirchenbüchern, kammergerichtliehen Personalverzeichnissen und anderen Quellen bis hin zu den in den Präsentationsakten enthaltenen Generalexamina trugen diese Genealogen und Archivare einiges personengeschichtliches Material fur die Speyerer und Wetzlarer Zeit des RKG zusammen, allerdings ohne auch nur annähernd Vollständigkeit anzustreben und den Versuch einer systematisch-wissenschaftlichen Auswertung zu unternehmen. Bei aller Einseitigkeit der Blickrichtung leisteten diese Forscher doch erstmals prosapographische Kleinarbeit und nahmen das RKG-Personal in seiner Gesamtheit als einen fur sozialgeschichtliche (und das hieß aus ihrer Sicht vor allem: genealogisch-familienkundliehe) Fragestellungen geeigneten Sozialkörper wahr. Der verfassungsgeschichtlich-institutionelle Kontext, speziell auch das kammergerichtliche Präsentationssystem, wurde von ihnen allerdings ganz oder weitgehend ausgeblendet, jedenfalls in keine Beziehung zu den personen- und familiengeschichtlichen Befunden gesetzt. Der weite Einzugsbereich des RKGPersonals lag ihnen zwar vor Augen. Das Präsentationssystem als Matrix fur die Sozialstruktur des Kameralkollegiums kommt in diesen Arbeiten jedoch nicht vor. Als sich im Zuge einer gewandelten Einstellung zur Geschichte des Alten Reiches seit den 1960er Jahren zunächst vor allem die Rechtshistoriker wieder stärker der Erforschung des RKG zuwandten, stand bei ihnen naturgemäß die rechtsprechende Funktion und Wirksamkeit des Gerichts im Vordergrund des Interesses 57 • Vor allem Bernhard Diestelkamp erhob aber schon früh (1968/76) die Forderung nach einer "genaueren prosopagraphischen Analyse der Berufswege des Kammergerichtspersonals", um rechtsgeschichtlich relevanten Phäno56 H. GLOEL, Die alten Wetzlarer Grabsteine und Epitaphien, in: Mittlgn. des Wetzlarer Geschichtsvereins H.9, 1925, S.3-80; W. SCHMIDT-SCHARFF (Hg.), Die Matrikel der Praktikanten am Reichskammergericht in Wetzlar 1693-1806, in: Archiv f. Sippenforschung und alle verwandten Gebiete Jg.ll, 1934, H.IO, S.297-317, hier bes. S.297-299; 0. PRAETORIUS, Die Juristen am alten Reichskammergericht (1495-1806), masch. Mskr. von 1934 (in Form einer alphabetischen Liste) mit hs. Ergänzungen (vorh. im Sta We.); DERS., Juristen-Sippen am alten Reichskammergericht, in: Familiengeschichtliche Blätter- Deutscher Herold 35 (68), 1937, Sp.67-78; TH. KAUL, Kleine Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichtes in Speyer in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Mittlgn. des Hist. Vereins der Pfalz 51, 1953, S.l81-212; A. PFEIFPER (t), Beiträge zum Personalstand des Reichskammergerichts zu Speyer 1581-1689, in: ebd., S.213-230; G. GROH, Das Personal des Reichskammergerichts in Speyer, Tl.l: Familienverhältnisse, in: Pfälzische Wappen- und Familienkunde Bd.2, 1956/57, S.IOI111, 129-141, 150-162, 163-194; dazu Nachtrag in: ebd. Bd.4, 1961-1963, S.65-73; DERS., Das Personal des Reichskammergerichts in Speyer (Besitzverhältnisse). Mit Nachträgen zu den Familienverhältnissen, Ludwigshafen a.Rh. 1971; K. DEMETER, Das Bundesarchiv Abteilung Frankfurt/M. in genealogischer Sicht, in: Hessische Familienkunde 3, 1956, Sp.595-598; DERS., Der Personenkreis um das Reichskammergericht, besonders in Wetzlar, in: Genealogie Bd.6, Jg.ll/12, 1962/63, S.201-206. 57
S.o. Anm.13.
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I. Einftihrung
menen wie zum Beispiel der wechselseitigen Beeinflussung zwischen den obersten Gerichtsinstanzen im Reich und denen der Territorien auf dem Weg über die Träger solcher Prozesse auf die Spur zu kommen und dabei auch mehr über die Ausbildung der juristischen Funktionselite im frühneuzeitlichen Reich zu erfahren58. Das Verdienst, auf dem Hintergrund eines neuerwachten Forschungsinteresses für das Alte Reich und seine Institutionen Teile des RKG-Personals erstmals unter sozial- und verfassungsgeschichtlichen sowie besetzungspolitischen Aspekten untersucht zu haben, gebührt dem Historiker Heinz Duchhardt. Er betonte in verschiedenen, seit 1970 publizierten Einzelstudien wiederholt die Notwendigkeit einer "Erforschung der persönlichen, sozialen, standesmäßigen Zusammensetzung des Gerichtes", der Bildungswege und Vorpositionen der Kameralpersonen, der bei der Präsentation von Kammerrichtem, Präsidenten und Assessoren wirksamen Auswahlkriterien und politischen lnteressen59 . Was die Beisitzer betraf, behandelte Duchhardt in einem historisch-systematischen Überblick die Präsentationen eines einzelnen, in der Reichsverfassung besonders exponierten Reichsstands, des Kurfürsten von Mainz, ohne allerdings ergänzend Einzelbiographien zu erstellen. Duchhardt, der die Präsentationsakten und -protokolle aus dem "Untrennbaren Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs nur als punktuelle Ergänzung zu den intensiv ausgewerteten Akten des heute im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien befindlichen Mainzer Erzkanzler-Archivs benutzte, war das Ausschnitthafte, Nichtrepräsentative seiner Vorgehensweise bewußt60 • Jede längsschnittartige Untersuchung einer einzigen Kur- oder Kreispräsentation, welche die übrigen Präsentationsberechtigungen und die von ihnen vollzogenen Präsen58 DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, hier S.452-457 der Abschnitt über "Personelle Osmose zwischen dem Reichskammergericht und territorialen Instanzen" (Zitat ebd., S.453); ebd. auch die Forderung nach einer Erforschung der Ausbildungsfunktion des RKG im Rahmen des RKG-Praktikums sowie der sich um das RKG bildenden familiären Netzwerke.
59 H. DUCHHARDT, Kurmainz und das Reichskammergericht, in: BDLG 110, 1974, S.181217, hier S.182 (Zitat); DERS., Die kurmainzischen Reichskammergerichtsassessoren, in: ZRG GA 94, 1977, S.89-128, hier S.90; s. auch schon DERS., Reichskammerrichter Franz Adolf Dietrich von Irrgelheim (1659/1730-1742), in: Nassauische Annalen 81, 1970, S.l73-202, hier S.173 f.; ferner sind hier zu nennen: DERS., Mainzer Professoren am Reichskammergericht, in: Tradition und Gegenwart. Studien und Quellen zur Geschichte der Universität Mainz unter besonderer Berücksichtigung der Philosophischen Fakultät, Tl. I: Aus der Zeit der kurfürstlichen Universität, Wiesbaden 1977, S.I00-117; DERS., Die Wiederbesetzung eines Speyerer Kammergerichtsassessorats 1611112, in: Jb. f. westdt. Landesgeschichte 3, 1977, S.229-236; DERS., Reichsritterschaft und Reichskammergericht, in: ZHF 5, 1978, S.315-337; DERS., Nicht-Karrieren. Über das Scheitern von Reichskammergerichts-Kandidaturen und -Präsentationen, Wetzlar 1989; s. auch die weiteren, im Verzeichnis der nach 1815 erschienenen Quellen und Literatur zitierten Aufsätze Duchhardts. 60
DUCHHARDT, Die kurmainzischen Reichskammergerichtsassessoren, S.91.
I.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
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tationsakte ausklammert und zudem vorrangig auf dem Archiv des betreffenden Präsentanten fußt, betrachtet das Kameralkollegium notwendig aus der Frosch-, nicht aus der Vogelperspektive. Die längsschnittartige Aufarbeitung aller einzelnen Kur- und Kreispräsentationen (der kurmainzischen, der kurtrierischen, der kurkölnischen usw.) aus der Sicht der einzelnen Präsentationshöfe ist ein wichtiges, zusätzliche Erkenntnisse versprechendes Desiderat, das auch in der vorliegenden Untersuchung nur zum Teil erfüllt wird61 . Jedoch würde selbst die Summe all solcher Einzelsegmente nicht das Ganze ausmachen. Auch Duchhardt konnte deshalb das Kameralkollegium als eine Vielheit präsentationsrechtlicher Einheiten und sozialer Bezüge nicht in den Blick rücken. Das Präsentationssystem in seiner komplizierten Verquickung mit dem V erfassungsgefiige des Reiches einerseits, in seiner doppelten Prägewirkung auf Verfassungs- und Sozialstruktur des Kameralkollegiums andererseits wird nur aus der - in diesem Buch gewählten- Vogelperspektive sichtbar62 • Als Folge der Verknüpfung von verfassungs-und sozialgeschichtlichem Zugriff auf das Kameralkollegium sowie der Kombination von Einzelbiographien und Gruppenanalyse beruht die Studie auf einer breiten Quellengrundlage. Dies zeigt schon ein Blick auf den Belegapparat der in Teil II enthaltenen Einzelbiographien, die wiederum als Quelle fiir den darstellenden Teil I dienten. Die 61 S. Kap.II.3.2. Anm.346.- Der methodische Zugriffvon "unten", aus der Perspektive eines einzelnen Präsentationsberechtigten, ist auch gewählt in: S. JAHNS, Brandenburg-Preußen im System der Reichskammergerichts-Präsentationen 1648-1806, in: Weber (Hg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, S.169-202. Über die vom König von Schweden als Landesherr in einigen 1648 erworbenen Reichsterritorien im Rahmen verschiedener Kreispräsentationen ausgeübten Präsentationen s. jetzt N. JöRN, Die Präsentationen der schwedischen Krone an das Reichskammergericht, in: A. Baumann u.a. (Hgg. ), Reichspersonal. Funktionsträger ftir Kaiser und Reich, Köln- Weimar- Wien 2003, S.209-245. 62 Die in den letzten Jahren erschienenen Arbeiten befassen sich entweder mit der Vita einzelner RKG-Assessoren oder mit den Präsentationen eines einzelnen Reichsstands, oder sie nehmen das Kameralkollegium als Ganzes in einem kurzen Zeitabschnitt und unter einer bestimmten Fragestellung in den Blick, s. M. NEUGEBAUER-WÖLK, Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten, Wetzlar 1993; B. RUTHMANN, Das richterliche Personal am Reichskammergericht und seine politischen Verbindungen um 1600, in: W. Sellert (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht Ein Konkurrenzverhältnis, Köln- Weimar- Wien 1999, S.l-26; N. JöRN, Stockholm-Greifswald- Wetzlar: wichtige Stationen im Leben des schwedischen Reichskammergerichtsassessors Christian von Nettelbladt, in: Schwedenzeit, hg. vom Stadtgeschichtlichen Museum Wismar, Wismar 1998, S.87103; DERS., Johann von Ulmenstein und Christian von Nettelbla: Zwei Assessoren aus Norddeutschland am Wetzlarer Reichskammergericht, in: N. Jöm- M. North (Hgg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich, Köln- Weimar- Wien 2000, S.143-184; DERS., Die Präsentationen der schwedischen Krone; K.H.L. WELKER, Johann Wilhelm Riedesel zu Eisenbach. Zur Persönlichkeit eines Reichskammergerichtsassessors, in: Baumann u.a. (Hgg.), Reichspersonal, S.199-207; MADER, Die letzten "Priester der Gerechtigkeit".
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I. Einführung
Recherchen gestalteten sich aus drei Gründen, die mit Gegenstand und Ansatz der Untersuchung eng zusammenhängen, besonders aufwendig und langwierig: 1. Infolge des Präsentationssystems kamen die RKG-Assessoren aus fast sämtlichen Regionen des Alten Reiches. Die prosapographischen Nachforschungen mußten sich deshalb auf das gesamte Reichsgebiet erstrecken - dies im Gegensatz zu vielen anderen sozialgeschichtlichen Untersuchungen, die sich auf soziale Gruppen mit engerem Einzugsbereich (Landschaft, Territorium, Stadt, Dorf) beschränken und daher nicht in sämtlichen Territorien und Reichsstädten die Hebel ansetzen müssen, um bei der Identifizierung von Personen und Ortsnamen sowie bei der Rekonstruktion von Herkunftsfamilien, Heiratsverbindungen und sonstigen sozialen Netzwerken, Ausbildungsgängen, Vor- und Nachkarrieren voranzukommen63 • 2. Voraussetzung fur die Kollektivbiographie in ihren sozialen und präsentationsrechtlichen Aspekten war die Erstellung der Einzelbiographien der auf ein RKG-Assessorat präsentierten Juristen. Hier war Grundlagenarbeit zu leisten, wobei das äußerst kleinteilige prosopagraphische Material aus einer Fülle verschiedenster, zumeist ungedruckter Quellengattungen herausdestilliert wurde. Auch fur die hier vorgelegten Juristenbiographien gilt, daß Personenforschung "Arbeit mit unzähligen ganz winzigen Mosaiksteinehen und Splitterchen" be63 Vgl. zum Beispiel die in Kap.III.3. Anm.2 zitierten neueren Untersuchungen zur sozialen Zusammensetzung territorialer Regierungs- und Justizbehörden sowie reichsstädtischer Obergerichte (v.a. von M. Lanzinner, W. Herborn- P.A. Heuser, H. Noflatscher, K.H. Marcus; auch St. Brakensiek, B. Dölemeyer). Eine Personengruppe mit reichsweitem Einzugsbereich wird auf der Basis von gedruckten Quellen (Reichstagsakten und Universitätsmatrikeln) sowie biographisch-behördengeschichtlicher Literatur untersucht von B. KOCH, Räte auf deutschen Reichsversarnmlungen. Zur Entwicklung der politischen Funktionselite im 15. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 1999. All diese Arbeiten gelangen über kürzere Einzelbiographien zur Gruppenanalyse.- An dem Aufwand, den es bedeutet, ein Nachschlagewerk mit Kurzbiographien der "graduierten Juristen des Alten Reiches" (Vorwort) zu erarbeiten, scheiterte die Fertigstellung des von F. RANIERI unter Mitarbeit einer Arbeitsgruppe herausgegebenen, nur bis zum Buchstaben E gediehenen Biographischen Repertoriums der Juristen im Alten Reich, 16.18. Jahrhundert, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1987-1991; s. dazu die um den Buchstaben B erweiterte CD-ROM-Version von 1997. -Auch Untersuchungen, die sich mit der Sozialgeschichte von Universitätsbesuchern (an sämtlichen Universitäten bzw. an einer bestimmten Universität im Reich) befassen, haben es mit einem reichsweiten und eventuell sogar über die Grenzen des Reiches hinausreichenden Einzugsbereich zu tun. Dementsprechend groß ist der Arbeitsaufwand, der bei der Identifizierung von Namen und Orten in den Matrikeleinträgen zu betreiben ist. Ziel solcher prosopagraphischen Untersuchungen kannjedoch nicht eine mehr oder weniger umfassende Datenerhebung pro Universitätsbesucher zur Erstellung von Einzelbiographien sein; sondern hier geht es um die Erfassung und Aufbereitung der in den Matrikeln enthaltenen massenhaften (wenn auch pro Person immer nur wenigen) Daten, um die Universitätsbesucher mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung als statistische Masse in den Griff zu bekommen und das Material für eine Kollektivbiographie bereitzustellen, die mit ungleich größeren Quantitäten zu tun hat; s. exemplarisch SCHWINGES, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert.
1.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
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deutet, die in mühevoller Puzzletechnik zusammengesetzt werden müssen64 • Zwar haben Zahl und Auskunftsfreudigkeit der Quellengattungen, die für prosopographische Forschungen in Frage kommen, in der Frühen Neuzeit im Vergleich zum Spätmittelalter beträchtlich zugenommen, und dasselbe gilt nochmals für die zweite Hälfte der Frühen Neuzeit gegenüber der ersten. Aber die angesprochenen Probleme der Identifizierung und Verifizierung, der Rückübersetzung latinisierter Namens-, Orts- und Karriereangaben sowie der Kleinteiligkeit des diffusen Quellenmaterials haben sich trotz oder gerade wegen dieser Quellenfülle eher noch potenziert. 3. Das Präsentationsrecht von Kaiser, Kurfürsten und Reichskreisen sowie das komplementäre Prüfungsrecht des Kameralkollegiums haben das ungedruckte Quellenmaterial, das für eine zugleich verfassungs- und sozialgeschichtliche Analyse des Kameralkollegiums heranzuziehen ist, beträchtlich vergrößert. Zwar konnten, wie bereits erwähnt, die Akten, die in den Archiven der Präsentanten erwachsen sind, nicht vollständig, sondern nur für einige ausgewählte Präsentationshöfe einbezogen werden65 • Trotz dieser quellenmäßigen Beschränkung galt es aber immer noch, den massenhaften Aktenniederschlag einer der zentralen Institutionen des Alten Reiches aufzuarbeiten, soweit er das RKG-Personal und speziell das Kameralkollegium betraf. Der "Untrennbare Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs, der von der Verfasserin noch in der 2000 aufgelösten Außenstelle Frankfurt des Bundesarchivs (BAF) benutzt wurde, ist die zentrale Quellenbasis dieser Studie. Neben anderen Teilbeständen des "Untrennbaren Bestands" wurden vor allem die umfangreichen Präsentationsakten und -protokolle, d.h. die Korrespondenzen zwischen dem RKG und den Präsentationshöfen sowie die Plenarprotokolle über Personaldebatten, für den gesamten Zeitraum zwischen dem Westfälischen Frieden und der Auflösung des Gerichts im Jahre 1806 erstmals vollständig ausgewertet66 • 64 P. MORAW, Personenforschung und deutsches Königtum, in: ZHF 2, 1975, S.7-18, hier S.8; wieder abgedruckt in: ders., Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, hg. von R. Chr. Schwinges, Sigmaringen 1995, S.l-9, hier S.2.
65
Es handelt sich um kaiserlich-österreichische, kurmainzische, kurbayerische, kurpfälzische und pfalzbayerische, hzgl. württembergische (= ev. Schwäb. Kreis) sowie fstbfl. konstanzische (= kath. Schwäb. Krei~) Präsentationsakten; s. auch Kap.II.3.2. Anm.346. 66 Die Quellengruppen aus dem "Untrennbaren Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs, die größtenteils in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre im Bundesarchiv Außenstelle Frankfurt (BAF) benutzt wurden, sind am Ende des vorliegenden Bandes im Verzeichnis der ungedruckten Quellen in Rubrik A mit Angabe von Umfang und Laufzeit ausführlich beschrieben. Die Außenstelle Frankfurt wurde 2000 aufgelöst. Zusammen mit den anderen bisher in Frankfurt gelagerten Beständen wurde der "Untrennbare Bestand" 2000 nach Koblenz in die Hauptstelle des Bundesarchivs und Anfang 2010 in die Dienststelle Berlin-Lichterfelde überführt. Die vorliegende Arbeit zitiert die aus dem "Untrennbaren Bestand" benutzten Archivalien
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I. Einftihrung
Um noch mehr Aufschluß über die Präsentationsvorgänge zu gewinnen und um das prosopagraphische Material zu vervollständigen, wurden ergänzend zu dem Frankfurter Getzt Berliner) "Untrennbaren Bestand" gezielt Bestände anderer Archive mit in die Untersuchung einbezogen, vor allem solche der Reichshofkanzlei, des Reichshofrats, der Staatskanzlei und des Mainzer Erzkanzlerarchivs im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, ferner Bestände im Verwaltungsarchiv Wien (Adelsakten), im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt (reichsritterschaftliche Rezeptionsakten), im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, im Generallandesarchiv Karlsruhe sowie im Hauptstaatsarchiv Stuttgart67 • Außerdem wurden systematisch die lutherischen, reformierten und katholischen Kirchenbücher der Stadt Wetzlar ausgewertet sowie zu den recht zahlreichen aus Mainz stammenden Kameralfamilien die katholischen Kirchenbücher der kurfiirstlichen Residenzstadt Mainz68 . Viele
noch mit der alten Bestands-Sigle RKG sowie mit den alten Bezeichnungen und Signaturen, welche die von der Deutschen Bundesversammlung eingesetzte Archivkommission 18471852 vergeben, in Repertorien fixiert und auf den Faszikeln selbst vermerkt hatte. Während der langen Entstehungs- und Überarbeitungsgeschichte des vorliegenden Werkes wurden jedoch vom Bundesarchiv an den Archivalien des "Untrennbaren Bestands" in zwei Schüben Umsignierungen und Umstrukturierungen vorgenommen, das erste Mal noch in der Frankfurter Zeit, das zweite Mal nach 2000 in Koblenz. Damit Benutzer dieses Werkes die betreffenden umsignierten Akten aus dem "Untrennbaren Bestand" bei ihren eigenen Archivrecherchen identifizieren können, werden im Verzeichnis der ungedruckten Quellen in Rubrik A hinter den hier noch zitierten alten Signaturen in eckigen Klammem die nunmehr gültigen neuen aufgeführt, wo nötig ergänzt durch zusätzliche Erläuterungen. 67 Die zusätzlich zum "Untrennbaren Bestand" in den oben genannten und einigen weiteren Archiven benutzten Quellen werden im Verzeichnis der ungedruckten Quellen in den Rubriken B- U aufgelistet. 68 Die lutherischen und reformierten Kirchenbücher der Reichsstadt Wetzlar befinden sich heute in der Evangelischen Archivstelle Boppard, die katholischen Wetzlarer Kirchenbücher im Kirchenbucharchiv Limburg, die älteren katholischen Kirchenbücher der Stadt Mainz samt einer alphabetischen Verkartung im Stadtarchiv Mainz; s. die Rubriken L, Mund N im Verzeichnis der ungedruckten Quellen (in der Rubrik N s. auch weitere im Stadtarchiv Mainz benutzte Quellen). Da, wie oben erläutert, der engere Untersuchungszeitraum dieser Arbeit ursprünglich die Zeit von 1548 bis 1806 und nach einer erstmaligen Reduzierung die Zeit von 1648 bis 1806 umfaßte, wurden auch die katholischen und lutherischen Kirchenbücher der Reichsstadt Speyer ausgewertet, soweit diese ftir das späte 16. und 17. Jahrhundert noch erhalten sind (s. auch die oben in Anm.56 zitierten Arbeiten von G. Groh). Nach der nochmaligen Eingrenzung des engeren Untersuchungszeitraums auf das 18. Jahrhundert, gerrauer auf die Stichjahre 1740-1806, fanden aber die in den Speyerer Kirchenbüchern ermittelten Namen und Daten in den Einzelbiographien (Teil II) und der übergreifenden Darstellung (Teil I) keine Verwendung mehr. Sie sind daher nicht im Verzeichnis der ungedruckten Quellen aufgeführt.- Einzelne archivalische Quellen und Kirchenbücher aus verschiedenen, im Verzeichnis der ungedruckten Quellen nicht eigens aufgeführten Archiven, die nur ftir einzelne Personen oder Familien herangezogen wurden, sind nur in Teil II in den Anmerkungen der betreffenden Einzelbiographien zitiert.
1.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
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weitere Archive, Kirchenbucharchive und Pfarrämter, Wissenschaftler und Familienforscher erteilten schriftliche Auskünfte. Der Vervollständigung der prosapographischen Daten dienten ferner mehrere große Leichenpredigtensammlungen, sämtliche deutsche und einige ausländische Universitätsmatrikeln, die einschlägigen Adels- und Gelehrtenlexika sowie genealogische Handbücher, Einzelbiographien und Familiengeschichten, Dienerbücher, Behördengeschichten und sozialgeschichtliche Untersuchungen zu einzelnen Städten und Territorien69 • Auf der Grenze zwischen Quelle und Forschungsliteratur steht die ältere, bis 1806 erschienene Kameralliteratur, die für die gesamte Verfassung des RKG, vor allem aber für das Präsentationswesen und die Personalverfassung des Kameralkollegiums herangezogen wurde 70 • Das Werk besteht aus zwei großen Teilen. Teil I enthält die übergreifende Darstellung, Teil II die einzelnen Juristenbiographien. Die Komposition des nunmehr vorgelegten ersten Teils spiegelt den doppelten Ansatz dieser Arbeit wider: den verfassungsgeschichtlichen und den sozialgeschichtlichen sowie die Verschränkung beider Zugangsweisen. Im stärker verfassungsgeschichtlich orientierten Großabschnitt II über Funktion und Besetzung des Kammergerichts wird in einem ersten Abschnitt (II.l.) über das RKG als zentrale Institution des Reiches zunächst der Ort bestimmt, den das Gericht seit seiner Gründung im Verfassungsgefüge des Alten Reiches einnahm. Der institutionalisierte Dualismus von Kaiser und Reichsständen, seit der sogenannten Reichsreform endgültig ein Wesenszug der Reichsverfassung, prägte seit der Reorganisation des Gerichts im Jahre 1495 dessen dualistische Verfassungskonstruktion mit einer komplexen Anhindung an Kaiser und Reichsstände. In dieser eigentümlichen Position war in der Gründungs- und Aufbauphase die verfassungspolitische Modernität des RKG, von Anbeginn aber auch seine Existenzproblematik begründet, die sich in der Spätzeit zunehmend verschärfte. Auf dieser Folie werden auch die rechtswissenschaftliche Bedeutung des RKG sowie seine Funktion als oberstes Rechtsprechungsorgan im Wandel dreier Jahrhunderte beschrieben, um den primären Aufgabenbereich des Kameralkollegiums und vor allem der Assessoren zu umreißen. In diesem Abschnitt klingt bereits ein Thema an, das die späteren Kapitel über Präsentationswesen und Personal-
69 S. die Verzeichnisse der Nachschlagewerke und anderen Hilfsmitteln, Universitätsmatrikeln und Promotionsverzeichnisse sowie Leichenpredigteu-Kataloge am Ende dieses Bandes, ergänzend ebd. auch das Verzeichnis der nach 1815 erschienenen Quellen und Literatur. 70 S. das Verzeichnis der bis 1815 erschienenen gedruckten Quellen und Literatur am Ende dieses Bandes.
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I. Einfiihrung
verfassung wie ein roter Faden durchzieht: das RKG im Spannungsfeld zwischen anfänglicher Modernität und späterer Reformbedürftigkeit Der folgende Abschnitt über das Personal des RKG (II.2.) wendet sich nach einem Überblick über sämtliche Kameralämter zunächst den Direktorialpersonen des Kameralkollegiums zu, dem Kammerrichter und den Präsidenten. Genese, Funktion, Ernennungsmodus, soziales und professionelles Profil dieser zumeist aus dem alten Adel rekrutierten, allein vom Kaiser besetzten Spitzenpositionen sowie deren Rolle als Objekt kaiserlicher Vergabe- und aristokratischer Akquisitionspolitik bilden einen kontrastierenden Bezugspunkt für die Assessoren, um die es im weiteren Verlauf der Arbeit vorrangig geht. Dienstrecht, Richterethik und Funktionen der Beisitzer werden in einem letzten Kapitel dieses Abschnitts dargestellt. Die Prägung der gesamten Kameralverfassung durch die Verfassung des Reiches hatte auf der Ebene der Assessorenämter seine Entsprechung in dem sogenannten Präsentationssystem. Der Abschnitt über die Besetzung der Assessorate (II.3.) führt dieses Vorschlagsverfahren, das an die Stelle des bisher ausschließlichen Ernennungsrechts durch den spätmittelalterlichen Herrscher trat, in seiner engen Verquickung mit dem Reichssystem vor, dessen Strukturmerkmale (Dualismus von Kaiser und Reichsständen, Territorialisierung, Hierarchisierung und Machtgefälle zwischen seinen Gliedern, seit 1648 auch konfessionelle Parität) es seit seiner Ausbildung in der Frühphase des RKG widerspiegelt. Neben den verschiedenen Funktionen des Präsentationssystems, seinen Konstanten und Veränderungen werden vor allem die problematischen Folgen sichtbar gemacht, die sich aus der unauflöslichen Allkoppelung des Präsentationsschemas an das Reichssystem im Konfessionellen Zeitalter71 , seit dem Westfälischen Frieden und im 18. Jahrhundert ergaben. Alle Veränderungen im politisch-konfessionellen Gefüge des Reiches setzten das Präsentationssystem einer Zerreißprobe aus -eine Situation, die im 18. Jahrhundert das Präsentationswesen zum Prüfstein für die Anpassungsfähigkeit der gesamten Reichsverfassung und letztlich trotz nochmaliger Reformanstrengungen in den 1770er/1780er Jahren zum Beweis ihrer Erstarrung machte. Das am politisch-verfassungsrechtlichen, regionalen und konfessionellen Proporz orientierte Präsentationssystem mit seiner reichsweiten Streuung der Präsentationsrechte mußte nicht nur die verfassungsrechtliche Binnenstruktur, son71 Gegenüber der 1990 als Habilitationsschrift eingereichten Version, welche die Geschichte des Präsentationswesens in den Jahren 1521-1555 sowie im Konfessionellen Zeitalter nur ganz kursorisch auf anderthalb Seiten abgehandelt hatte, wurden in der für den Druck überarbeiteten Fassung der Zeit von 1521 bis 1555 am Ende von Kapitel 11.3.1.1. (Entstehung und Interpretation eines Prinzips: 1495-1555) mehrere Seiten gewidmet, und für die Zeit von 1555 bis 1645 ein eigenes Unterkapitel 11.3 .1.2.1. über Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens hinzugefügt.
1.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
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dem auch das Sozialprofil der Assessorengruppe prägen. Am Ende des Abschnitts über die Besetzung der Assessorate wird der dieser Untersuchung zugrundeliegende Ansatz, das Präsentationssystem als ein "Scharnier" zwischen verfassungs- und sozialgeschichtlicher Betrachtungsweise zu interpretieren, noch einmal eingehender begründet. In der Komposition der ganzen Darstellung hat das betreffende Kapitel (11.3.2.), das auch über das kammergerichtliche Präsentations- und Prüfungsverfahren informiert, seinerseits die Funktion eines Scharniers zwischen den bisherigen mehr verfassungsgeschichtlichen und den folgenden mehr sozialgeschichtlichen Abschnitten. Die These von der prägenden Wirkung des Präsentationssystems auf die Sozialstruktur des Kameralkollegiums ist eine der Leitschienen in dem nächsten Großabschnitt (III.), der für das 18. Jahrhundert das Gruppenprofil des richterlichen Personals untersucht. Als Basis hierfür dienen in erster Linie die in Teil II zusammengestellten Einzelbiographien aller 128 Juristen, die zwischen 1740 und 1806 als Assessoren amtierten oder in diesem Zeitraum erfolglos auf ein Assessorat präsentiert wurden. Jedoch fließt, wie oben schon erläutert, die Kenntnis der Biographien aus der Zeit ab 1648 in die Analyse mit ein, so daß längerfristige Konstanten und Wandlungen für die Epoche zwischen dem Westfalischen Frieden und der Reichsauflösung eingeschätzt und nachgezeichnet werden können. Nur ein kleiner Teil des in den Einzelbiographien zusammengetragenen prosopographischen Materials kann im Rahmen dieses Buches in Form der Kollektivbiographie ausgewertet werden. Dabei geht es vor allem um diejenigen Segmente der 128 Juristenbiographien, die schon die Kammergerichtsordnungen und andere Karneralgesetze im Blick hatten: geographische Herkunft (111.1. ), theoretisch-praktische Ausbildung (111.2. ), soziale Herkunft und sozialer Status sowie Verwandtschaftsbeziehungen (111.3.) 72 • Dabei tritt innerhalb der ausgewählten Untersuchungsaspekte stets die große Vielfalt der territorialen, politischen und sozialen Bezugssysteme entgegen. Diese durch das Präsentationswesen verursachte strukturelle Besonderheit verleiht dem Sozialprofil des Kameralkollegiums im Vergleich zu anderen verfassungsgeschichtlich bedeutsamen Personenverbänden des Alten Reiches ein besonders großes Maß an Beziehungsreichtum und damit einen hohen Erkenntniswert für reichsweite soziale Phänomene in der deutschen Gesellschaft des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts. Damit vermag diese Gruppenanalyse einen Beitrag zur Erforschung der gesamten juristischen Funktionselite des Alten Reiches zu leisten, wobei es genau genommen 'die' eine juristisch qualifizierte Funktionselite im Reich nicht 72 Ergänzende Studien zu den Karriereverläufen s. in S. JAHNS, Durchgangsposten oder Lebensstellung? Das Kammergerichtsassessorat in den Karriereverläufen frühneuzeitlicher Juristen, in: Battenberg- Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz, S.271-309; DIEs., JuristenkarriereninderFrühenNeuzeit, in: BDLG 131,1995, S.113-134.
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I. Einführung
gab: Ähnlich wie das ausschließlich vom Kaiser besetzte Reichshofratskollegium bzw. zusammen mit ihm und den am Reichstag wirkenden Diplomaten bildete das Kameralkollegium auf der obersten Ebene des Reiches eine 'Funktionselite über den Funktionseliten', d.h. über den in sozialer und konfessioneller Hinsicht stark segmentierten Zirkeln der "highest legally trained jurists" in den Territorien und Reichsstädten, aus denen sich die Assessoren des RKG rekrutierten73. Verwoben in die Kollektivbiographie der Assessoren und sonstigen Präsentierten ist die Frage nach den Problemen, die sich auch fiir die kammergerichtliehe Personalverfassung durch die Verkehrung der Eingangsvoraussetzungen von ursprünglicher Modernität in späteres Veralten inmitten einer Zeit politischen und sozialen Wandels ergaben und die auch das Kameralkollegium selbst immer wieder spalteten. Diese Thematik, die an frühere Kapitel anknüpft74 , steht im letzten Großabschnitt über die Personalverfassung unter Anpassungsdruck (IV.) im Vordergrund. Die Art und Weise der Problemlösung bis hin zum Schleifenlassen überfälliger Reformen durch die fiir das RKG verantwortlichen Gesetzgeber - Kaiser und Reichsstände - wird als weiterer Beleg fiir den konservierenden Charakter der Reichsverfassung und fiir Erstarrungserscheinungen sowie schwindende Anpassungsfähigkeit bzw. nachlassenden Reformwillen in der Spätzeit des Alten Reiches gewertet75 • Die Belastung, die daraus auf die Länge des 18. Jahrhunderts gesehen ftir das Kameralkollegium erwuchs, war so groß, daß sie durch die punktuellen Reformerfolge der 1770er/1780er Jahre nicht mehr aufgewogen werden konnte. 73
Den Begriff "Reichspersonal", der vor einigen Jahren von 8t. Wendehorst, 8. Westphal und anderen für die auf der obersten Ebene des Reiches tätigen Amtsträger kreiert wurde, lehnt die Verfasserin aus gutem Grund ab; s. dazu Kap.II.3.1.1. mit Anm.51.- Den Versuch eines ersten Überblicks auf der Basis bereits vorliegender Untersuchungen von juristischen Funktionseliten in einigen Territorien und Reichsstädten unternimmt der Beitrag von R. V. FRIEDEBURG u. W. MAGER, Learned Men and Merchants: The Growth of the Bürgertum, in: 8h. Ogilvie (Hg.), Germany. A New 8ocial and Economic History, Vol.2: 1630-1800, London u.a. 1996, 8.164-195, hier 8.169-177: Learnedjurists (Zitat ebd., 8.177). 74
Vor allem an Kap.II.1.4., II.3.1.3. und II.3.1.4.
75 Zu dieser Bewertung, die in Großabschnitt IV näher ausgeflihrt und mit Beispielen aus dem Bereich der kammergerichtliehen Personalverfassung belegt wird, ist die Verfasserin auf Grund eines intensiven, große Zeiträume umspannenden Quellenstudiums gekommen. Zu einer entsprechenden Einschätzung gelangt eine der neueren Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Alten Reiches; s. B. 8TOLLBERG-RILINGER, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 2006; ebd., 8.120, heißt es in Punkt 11 der abschließenden Bilanz (Noch einmal: Was war das Alte Reich?): "Das Reich war in den verschiedenen Phasen seiner Geschichte in unterschiedlichem Maße dazu in der Lage, sich an veränderte Umstände anzupassen"; .... und: "Erst im 18. Jahrhundert war der Gesamtverband der staatlichen Entwicklungsdynamik seiner mächtigsten Glieder nicht mehr gewachsen", und das Reich fiel "am Ende seiner eigenen Reformunfähigkeit zum Opfer".
1.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
35
Der bereits 2003 in zwei Bänden erschienene Teil II der Arbeit enthält die Einzelbiographien sämtlicher 128 RKG-Assessoren und sonstigen Präsentierten des engeren Untersuchungszeitraums 1740-1806. Unter ihnen waren 92 Juristen, die zwischen den Stichtagen 1.1.1740 und 6.8.1806 als Beisitzer amtierten (20 von ihnen wurden schon vor 1740 präsentiert), und weitere 36, die in diesen Jahrzehnten auf ein Assessorat präsentiert wurden, deren Aufnahmeverfahren aber in einem früheren oder späteren Stadium vor dem Amtsantritt abgebrochen wurde. Diese 36 Juristen, die über den Status eines "praesentatus" aus den unterschiedlichsten Gründen nicht hinauskamen, waren potentielle Assessoren, geben also über das Rekrutierungsverhalten der Präsentanten und über das Sozialprofil sämtlicher Kandidaten ebenso Aufschluß wie die Biographien der dann wirklich amtierenden Beisitzer. Darüber hinaus sind diese "sonstigen Präsentierten" als Forschungsgegenstand vor allem deshalb interessant, weil flir sie gilt, was auch in anderen Bereichen den irregulären, von der Norm abweichenden Erscheinungen immer einen hohen Erkenntniswert verleiht: Schwachstellen im System, dadurch das ganze System überhaupt, seine Funktionsweisen und seine Rahmenbedingungen, werden schärfer konturiert oder überhaupt erst sichtbar gemacht. So treten auch an den gescheiterten Präsentationen bestimmte Aspekte des Präsentationswesens häufig klarer zutage als an den erfolgreich und vor allem an den problemlos verlaufenen. Die Einzelbiographien sind nach einem identischen Gliederungsschema strukturiert, das zu Beginn von Teil II in der "Vorbemerkung" näher erläutert wird. Sie liefern nicht nur die Bausteine flir die Gruppenanalyse, sondern sind darüber hinaus ein eigenständiger, komplementärer Teil des Gesamtwerks. Diese Einzelbiographien stellen eine neue Gattung biographischer Darstellung dar, flir die es praktisch keine Vorbilder gibt. Sie unterscheiden sich grundsätzlich vom erzählenden, unsystematischen Typus der "Lebensbilder" 76 • Sie gehen aber auch weit über die schematischen, zum Teil mit narrativen Elementen durchsetzten Kurzbiographien hinaus, die vielen ämter- und behördengeschichtlichen Untersuchungen im Anhang beigefUgt sind77 . Das gilt neben dem größeren Umfang 76 Die inzwischen in großer Zahl vorliegenden Sammelbände der in mehrere regionale Reihen untergliederten "Lebensbilder" präsentieren in bunter Folge die Lebensbeschreibungen von Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Berufen und Zeitepochen. 77 Neuere Untersuchungen territorialer, reichsstädtischer bzw. reichsweiter Funktionseliten mit angehängten Kurzbiographien (in Auswahl): W. Bernhardt (1972), M. Lanzinner (1980), B. Dölemeyer (1993), W. Herborn - P.A. Heuser (1998), B. Koch (1999); K.H. Marcus (2000), St. Ehrenpreis (2006); s. die vollständigen Titel im Verzeichnis der nach 1815 erschienenen gedruckten Quellen und Literatur. - Eine andere Variante flir die Präsentation von Kurzbiographien bietet ST. BRAKENSIEK, Fürstendiener - Staatsbeamte - Bürger. Amtsflihrung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750-1830), Göttingen 1999, der "zahlreiche biographische Streiflichter mit narrativem Charakter" in seine Darstellung hineinwebt (S.23). "Die biographischen Miniaturen wurden in die analytische Dar-
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I. Einführung
der aufgelisteten Daten vor allem für deren Kommentierung in darstellenden, mit weiteren Forschungsergebnissen angereicherten Passagen - durch Nachzeichnung und Interpretation des Sozialprofils der betreffenden Familien, der Vor- und Nachkarrieren, der Präsentationsverläufe sowie des wissenschaftlichen Oeuvres. Jede dieser mit dem Wort "Einzelbiographien" ganz unzulänglich umschriebenen Darstellungseinheiten ist ein sozialer Mikrokosmos. Indem zu jedem der 128 Assessoren und sonstigen Präsentierten sowie ihren Ehefrauen zumindest vier Generationen (von den Großeltern bis zu den Kindern) vorgefiihrt werden, kann man diese "Biogramme" 78 als Tiefenbohrungen in die Gesellschaft des Alten Reiches verstehen. Phänomene des sozialen Aufstiegs, der Akademisierung und Professionalisierung, der sozialen Verflechtung und Verdichtung, der Selbstrekrutierung und Ausgrenzung, der Entstehung und Nutzung sozialer Netzwerke sowie der geographischen Mobilität lassen sich so ganz konkret erfassen. Sieht man von den unterbäuerlichen und unterbürgerlichen Schichten einerseits, dem reichsständischen Adel andererseits ab, geraten mit den auf Reichsebene und in den Territorien tätigen juristischen Funktionseliten und deren Muttergruppen alle dazwischenliegenden Schichten und sozialen Welten der ständischen Gesellschaft von der erhöhten Warte des Kameralkollegiums aus in den Blick: der reichsritterschaftliehe und landsässige alte Adel mit der ganzen Skala der Adelstitel bis hin zum Grafen und mit einer breiten Palette standesgemäßer Berufe, der in beruflicher und sozialer Hinsicht besonders dynamische Briefadel - im 18. Jahrhundert der soziale Ort vieler Geheimer Räte, Hof- und Regierungsräte und auch RKG-Assessoren, die Welt der zumeist bürgerlich bleibenstellung hineinmontiert, um jeweils einige besonders wichtige Aspekte der Untersuchung am Beispiel von einzelnen Schicksalen gebündelt vorzustellen" (S.24). Allerdings können und sollen diese biographischen Einschübe "nicht den gesamten individuellen Werdegang eines Amtsträgers minutiös nachzeichnen, sondern sind jeweils auf ein bestimmtes Moment hin zugespitzt geschrieben" (S.25).- Das weiterhin nicht durch eine moderne sozialgeschichtliche Analyse des Reichshofrats ersetzte klassische Werk von 0. v. GSCHLIESSER, Der Reichshofrat Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942 (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1970), besteht abgesehen von zwei vorangestellten systematischen Kapiteln zum größten Teil aus einer Aneinanderreihung der unterschiedlich langen Kurzbiographien von Reichshofratspräsidenten, Reichshofräten und Bewerbern, die in der Reihenfolge ihrer Amtseinführung bzw. Bewerbung erzählt werden. - Beispiel für eine konsequente Verschlüsselung der nach einem einheitlichen Raster angeordneten Daten von allerdings 1545 Personen: W. REINHARD (Hg.), Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosapographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 15001620, Berlin 1996. 78 Als "Biogramme" bezeichnet Christoph Weber die im 2. Halbband seiner Untersuchung zusammengestellten Kurzbiographien der 124 Kurien- und Kirchenstaatskardinäle zur Zeit Pius' IX.; s. DERS., Kardinäle und Prälaten in den letzten Jahrzehnten des Kirchenstaates. Elite-Rekrutierung, Karriere-Muster und soziale Zusammensetzung der kurialen Führungsschicht zur Zeit Pius' IX. (1846-1878), 2 Halbbde., Stuttgart 1978.
1.2. Das Kameralkollegium als Gegenstand der Verfassungs- und Sozialgeschichte
37
den Universitätsgelehrten und der evangelischen Pfarrhäuser, alle Abstufungen des städtischen Bürgertums vom patrizischen Bürgermeister, rechtsgelehrten Syndikus und wohlhabenden Kaufmann bis zum Bierbrauer, Sattler und Maurer, Unternehmer im Hüttenwesen und sogar wohlhabendere bäuerliche Kreise. Dank des kammergerichtliehen Präsentationssystems findet sich diese generationendicke soziale Vielfalt in einem geographischen Raum, der das Alte Reich in seiner ganzen Ausdehnung und in seiner ganzen politischen Vielgliedrigkeit umfaßt, allerdings - ebenfalls bedingt durch das Präsentationssystem - mit Zonen unterschiedlicher Rekrutierungsdichte, die zu beschreiben sind79 . In ihren sozialgeschichtlich relevanten Teilen liefern die 128 Einzelbiographien daher zusammen mit den darauf beruhenden gruppenbiographischen Analysen des ersten Teils einen Beitrag zu einer Sozialgeschichte des Alten Reiches in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit80 . Und was bieten diese Einzelbiographien dem Rechtshistoriker oder Historiker, der sich mit der eigentlichen Funktion des RKG als oberstem Rechtsprechungsorgan befaßt? Die Referenten und Senatsmitglieder, deren Namen in der kammergerichtliehen Überlieferung der Wetzlarer Zeit auftauchen, haben nun mehrheitlich ein 'Gesicht' bekommen, die sozialen und professionellen Profile der Senate, die in einer bestimmten Prozeßsache zu Gericht saßen, können nun nachgezeichnet werden. Mit der von Johann Wolfgang v. Goethe gewünschten "charakteristischen Galerie" mit Bildern jener "würdigsten Männer", die sich in einem unvorstellbar langen Zeitraum von mehr als 300 Jahren unter nicht immer rosigen Arbeitsbedingungen der Rechtsfindung und Rechtsprechung am RKG widmeten, ist damit immerhin ein Anfang gemacht81 • Ob diese Bildergalerie freilich "noch jetzt Anteil erregen und Mut einflößen" würde, muß der Betrachter entscheiden- vor allem aber der Forscher, der mit professionellem Respekt zugleich die Relationen und Voten jener "würdigsten Männer" studiert und, wann immer es die Quellen erlauben, auch einen Blick hinter die Kulissen des Gerichtsbetriebs wirft.
79 Dazu s. jetzt auch zusammenfassend S. JAHNS, Die Erfassung des Raumes durch das Reichskammergericht Kommentar, in: Hattenberg - Schildt (Hgg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozeßakten, S.385-399, hier S.392-397. 80 Bisher liegt der oben in Anm. 73 zitierte, 1996 von Sheilagh Ogilvie herausgegebene Sammelband vor. 81
Zu den Zitaten aus Goethes "Dichtung und Walrrheit" s.o. Anm.48.
II. Funktion und Besetzung des Kammergerichts 1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches Der Hauptdaseinszweck des "kaiserlichen und des Reichs Kammergerichts" war die Rechtsfindung und Rechtsprechung, die Sicherung von Frieden und Recht im Reich. Qualität und Effizienz eines Gerichts sind stets zu einem wesentlichen Teil, wenn auch nicht ausschließlich, von den Personen abhängig, die mit der Judikatur betraut sind. Von dem richterlichen Personal des RKG, den Assessoren, soll in der vorliegenden Arbeit in erster Linie die Rede sein. Der Zugriff auf dieses Richtergremium erfolgt jedoch von Aspekten her, die mit seiner eigentlichen Funktion als Rechtsprechungsorgan zunächst und unmittelbar nichts zu tun haben. Es geht um Modalitäten und Bedingungen der Besetzung, um das soziale und im engeren Sinne professionelle Profil der Assessoren, also um personenabhängige Vorgaben und Rahmenbedingungen ftir die Judikatur des RKG. Es geht dagegen nicht um tagtägliche Arbeitslast und Arbeitsleistung auf dem Feld der Gerichtsbarkeit, nicht um Quantität und Qualität der Urteile, nicht um Zuständigkeit und Beanspruchung, nicht um Prozeßgattungen und Prozeßverfahren, nicht um Theorie und Praxis der Rechtsanwendung, auch nicht um Entfaltungsmöglichkeiten oder Beeinträchtigungen der justiziellen Tätigkeit je nach verfassungs- und machtpolitischen Konstellationen im Reich. Eine Arbeit, die sich also mit einer Institution beschäftigt, ohne deren primären Aufgabenbereich zum Thema zu machen, muß diese Funktion dennoch ständig mitdenken. Im folgenden sollen daher Wesen und Wirken des RKG als eines höchsten Gerichts im Reich konturiert werden, wobei es vor allem um die Bestimmung des Ortes geht, den dieses Rechtsprechungsorgan im Verfassungsgefüge des Alten Reiches einnahm.
1. Das Kammergericht im Gefüge der Reichsverfassung Selbst skizzenhafte Überlegungen zu Funktion und Bedeutung des RKG sowie zu seiner reichsverfassungsrechtlichen Fundierung führen zwangsläufig dazu, weithin in Kategorien von Gegensätzen und Inkonsequenzen, ja Antinomien zu denken. Dies drängt sich besonders auf, wenn man dieses Gericht von der Spätphase seiner Existenz her betrachtet, als die Kluft zwischen verfassungsrechtlich zugeschriebenen Wirkungsmöglichkeiten und realer Funktionsschwäche besonders groß geworden war. Dasselbe gilt jedoch für die gesamte dreihundertjährige Geschichte des RKG seit seiner Gründung. Es hängt aufs engste mit der spezifi-
II.l.l. Das Kammergericht im Geflige der Reichsverfassung
39
sehen Einbettung dieser Institution in die Verfassung des Alten Reiches zusammen, einer Verfassung, die ihrem Wesen nach ein Zusammenspiel divergierender Kräfte war. Im Widerstreit eines sich verfestigenden Dualismus von König und Reichsständen war das RKG 1495 auf dem Wormser Reichstag, einem "Kulminationspunkt" der sogenannten Reichsreform 1, errichtet worden. Die Umstände seiner Entstehung aus einem "dramatischen Ringen" gegenläufiger Interessen2 beein1 "Kulminationspunkt": H. ANGERMEIER, Die Reichsreform 1410-1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984, S.173, 184. -Zur Reichsreform, speziell zum Reichstag von Worms 1495 und seinen Reformleistungen, s. außer Angermeiers Monographie in Auswahl folgende weitere neuere Darstellungen (mit weiteren Literaturhinweisen): A. LAUFS, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 3., erg. Aufl., BerlinNew York 1984, S.70-82; DERS., Artikel Reichsreform, in: HRG 4, 1990, Sp.732-739; P. MoRAW, Die Reichsreform und ihr verwaltungsgeschichtliches Ergebnis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hg. von K. G. A. leserich u.a., Bd.l: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, Kap.I § 4, S.58-65. Wie schon ebd., S.60, die Problematik des Begriffs "Reichsreform" betonend: DERS., Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, Berlin 1985, S.416 ff.; DERS., Fürstentum, Königtum und "Reichsreform" im deutschen Spätmittelalter, in: BDLG 122, 1986, S.117-136, hier S.132 ff.; seitdem wiederholt in weiteren Aufsätzen Moraws, so DERS., Reichsreform und Gestaltwandel der Reichsverfassung um 1500, in: ders., Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, hg. von R. Chr. Schwinges, Sigmaringen 1995, S.277-292, bes. S.292 (als kritische Rezension des oben zitierten Buches von H. Angermeier, Die Reichsreform, zuerst erschienen in: Göttingisehe Gelehrte Anzeigen 244, 1992, S.277-296); DERS., Der Reichstag zu Worms von 1495, in: 1495- Kaiser· Reich· Reformen. Der Reichstag zu Worms. Ausstellung ... zum SOGjährigen Jubiläum des Wormser Reichstags von 1495, Koblenz 1995, S.25-37, hier S.34 f.- Forschungsstand und unterschiedliche Forschungspositionen zur Reichsreformbewegung referieren: K.-F. KRIEGER, König, Reich und Reichsreform im Spätmittelalter, München 1992, S.ll4-118, dazu S.49-53; CHR. ROLL, "Sin lieb sy auch eyn kurfurst ... " Zur Rolle Bertholds von Henneberg in der Reichsreform, in: P.C. Hartmann (Hg.), Kurmainz, das Reichserzkanzleramt und das Reich am Ende des Mittelalters und im 16. und 17. Jahrhundert, Stuttgart 1998, S.S-43, hier S.5 ff.: Zur Forschungslage (mit wichtigen kommentierenden Anmerkungen); Rolls Fazit ebd., S.l2 Anm.17: "Insgesamt erscheint die Diskussion um die Reichsreform als keineswegs abgeschlossen". Zuletzt knapp, aber prägnant: A. KüHLER, »Kaiseridee« und »Reichsreform«, in: H. Schilling - W. Heun- J. Götzmann (Hgg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806, Bd.2: Essays, Dresden 2006, S.33-41, hier S.37 ff. - Zur Chronologie des Reichstagsgeschehens sowie zu Beratungsformen und Verhandlungstechnikauf dem Wormser Reichstags. die Gießener Dissertation von CHR. GöBEL, Der Reichstag von Worms 1495 zwischen Wandel und Beharrung. Eine verfassungs- und institutionengeschichtliche Ortsbestimmung, masch. Diss. Gießen 1992, Vervielf. u. Mikrofiche-Ausg. Marburg 1996. 2 V. PRESS, Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, Wetzlar 1987, S.ll f.; s. auch H. LIEBERICH, Frühe Reichskammerprozesse aus dem baiensehen Reichskreis, in: H. Lentze- P. Putzer (Hgg.), Festschr. f. Ernst Carl Hellbling zum 70. Geburtstag, Salzburg 1971, S.419-446, hier S.419, 446. H. DUCHHARDT, Das Reichskammergericht im Verfassungsgeflige des Alten Reiches, in: Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, hg. von I. Scheurmann, Mainz 1994, S.35-39, spricht S.37 von "der ständischen Gründung von 1495, deren 'Philosophie' im Contra zur Königsgewalt bestand"; s. ebs. schon
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II.l. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
flußten von Anfang an sowohl seine verfassungsrechtliche Konstruktion als auch Art und Umfang seiner justiziellen Zuständigkeit und sollten fur sein weiteres Schicksal bis hin zu seiner Auflösung durchschlagende Prägekraft behalten. Bei dem am 31. Oktober 1495 in Frankfurt von König Maximilian I. persönlich eröffneten RKG3 handelte es sich nicht um eine traditionslose Neugründung, "keinen primären Schöpfungsakt"\ sondern um die Reorganisation des 1415 urkundlich zuerst bezeugten königlichen Kammergerichts. Mit diesem spätmittelalterlichen Organ königlicher Gerichtsbarkeit, das Mitte des 15. Jahrhunderts das noch ältere königliche Hofgericht ersetzt hatte und dann seinerseits am Ende der Regierungszeit Friedrichs III. funktionsschwach geworden war, war das Gebilde von 1495 durch mehrere Kontinuitätsstränge verbunden5 • Diese parDERS., Das Reichskammergericht, in: B. Diestelkamp (Hg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit, Köln- Weimar- Wien 1996, S.l-13, hier S.l. Zum politischen (vor allem außenpolitischen) Kontext der Wormser Reformverhandlungen s. jetzt detailliert P. SCHMID, Die Reformbeschlüsse von 1495 und ihre politischen Rahrnenbedingungen, in: B. Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451-1527), Köln- Weimar- Wien 2003, S.l17 -144. Fokussiert auf den Zusammenhang von Rechtsreform und Gerichtsreform, absolutem Fehdeverbot und Neuorganisation der obersten Gerichtsbarkeit werden die Wormser Reformen und vor allem deren längerfristige, weit ins Spätmittelalter zurückreichende Vorgeschichte untersucht in der 2002 vorgelegten Göttinger rechtshistorischen Dissertation von M. G. FISCHER, Reichsreform und "Ewiger Landfrieden". Über die Entwicklung des Fehderechts im 15. Jahrhundert bis zum absoluten Fehdeverbot von 1495, Aalen 2007; ebs. DERS., Reichsreform im Reichsinteresse? Die Diskussion über eine Reorganisation der Reichsjustiz und die Gründung des Reichskammergerichts im Spannungsfeld kaiserlicher und reichsständischer Interessenpolitik, in: A. Bauer- K.H.L. Welker (Hgg.), Europa und seine Regionen. 2000 Jahre Rechtsgeschichte, Köln- Weimar- Wien 2007, S.263-286. Fischers durchaus ertragreiche Perspektivenwahl fUhrt allerdings dazu, daß der verfassungspolitische Aspekt, der bei dem Ringen um eine Gerichtsreform 1495 und schon in den Jahrzehnten zuvor ebenfalls eine gewichtige Rolle spielte, stark in den Hintergrund tritt. Keinerlei neue Erkenntnisse bietet der z.Tl. auf veralteter Literatur beruhende, wichtige neuere Forschungen dagegen ignorierende Aufsatz von M. THIEL, Der Reichstag zu Worms im Jahre 1495 und die Schaffung des Reichskammergerichts. Kamprarniß eines kriegsbedrängten Kaisers oder friedensbringende Rechtssetzung?, in: Der Staat 41, 2002, S.551-574. 3 Zur Eröffnung in Frankfurt am Main s. SMEND, Reichskammergericht, S.68-70; J. HAUSMANN, Die wechselnden Residenzen des Reichskammergerichts bis Speyer, in: Diestelkamp (Hg.), Gründung, S.145-159, hier S.148 f. (mit weiteren Nachweisen). 4
LIEBERICH, Frühe Reichskammerprozesse, S.419.
5 Zu
diesen hier und im folgenden erwähnten Kontinuitätssträngen zwischen königlichem Kammergericht und RKG, aber auch zu den Unterschieden zwischen beiden Gerichten sowie überhaupt zur Vorgeschichte s. SMEND, Reichskammergericht, S.67 ff.; LIEBERICH, Frühe Reichskammerprozesse, passim; A. LAUFS (Hg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, Köln- Wien 1976 [im folgenden zitiert: LAUFS, KGO 1555], Einleitung, S.lO; J. WEnZEL, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland, Köln - Wien 1976, S.96; grundlegend vor allem B. DIESTELKAMP, Vom Königlichen Hofgericht zum Reichskammergericht Betrachtungen zu Kon-
II.l.l. Das Kammergericht im Gefüge der Reichsverfassung
41
tielle Bruchlosigkeit des Übergangs zeigte sich vor allem auf dem Gebiet der inneren Gerichtsorganisation und der 1495 zunächst wenig veränderten Verfahrensweise, d.h. des Prozeßrechts, in der Fortfiihrung von Sessionsprotokollen tinuität und Wandel der höchsten Gerichtsbarkeit am Übergang zur frühen Neuzeit, in: G. Dilcher- B. Diestelkamp (Hgg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie. Symposion für Adalbert Erler, Berlin 1986, S.44-64; s. auch DERS., Die höchste Gerichtsbarkeit in England, Frankreich und Deutschland zwischen Absolutismus und Aufklärung, in: Högsta domsmakten i Sverige under 200 är, Del 1: F öreläsningar vid ett intemationellt symposium 16-18 maj 1989 ... , Lund 1990, S.19-45, hier S.35 ff.; DERS., Verwissenschaftlichung, Bürokratisierung, Professionalisierung und Verfahrensintensivierung als Merkmale frühneuzeitlicher Rechtsprechung, in: Frieden durch Recht, S.ll0-117, hier S.112 ff.; DERS., Rechtsfalle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, München 1995, darin S.ll-38: Das Reichskammergericht Eine Einftihrung in seine Geschichte, hier S.ll ff.; R. SEYBOTH, Kaiser, König, Stände und Städte im Ringen um das Kammergericht 1486-1495, in: B. Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven, Köln- Wien 1990, S.5-23; DERS., Kontinuität und Wandel. Vom mittelalterlichen Reichshofgericht zum Reichskammergericht von 1495, in: Frieden durch Recht, S.6874; s. auch ebd., S.77-87; s. neuerdings zu diesem Thema auch verschiedene Aufsätze in Diestelkamp (Hg.), Gründung, bes. J. MAURER, Das Königsgericht und sein Wirken von 1451 bis 1493, ebd., S.79-115; A. BAUMANN, Die Prokuratoren am Reichskammergericht in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens, ebd., S.l61-196, bes. S.l65 ff.; M. KORDES, Der Nordwesten des Reiches und das Prozeßaufkommen am Reichskammergericht in den ersten fünf Jahren seines Bestehens. Zugleich einige Beobachtungen zur Frage der Kontinuität zwischen königlichem Kammergericht und Reichskammergericht, ebd., S.197-219. Zur Frage von Kontinuität und Wandel in der spätmittelalterlichen zentralen Gerichtsbarkeit s. auch die anregende Einleitung in der Aufsatzsammlung von F. BATTENBERG, Beiträge zur höchsten Gerichtsbarkeit im Reich im 15. Jahrhundert, Köln- Wien 1981, S.l ff.; s. auch DERS., Von der Hofgerichtsordnung König Ruprechts von 1409 zur Kammergerichtsordnung Kaiser Friedrichs III. von 1471, in: ebd., S.21-81. Zum königlichen Hofgericht (auch: Reichshofgericht) und zum königlichen Kammergericht s. ferner (mit Nachweis der älteren und neueren Literatur): G. GUDIAN, Die grundlegenden Institutionen der Länder, in: H. Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd.l: Mittelalter ( 11001500), München 1973 [im folgenden zitiert: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.l], S.401-466, hier S.404-408; W. D. RÄBIGER, Artikel Kammergericht, königliches, in: HRG 2, 1978, Sp.576580; P. MORAW, Die königliche Verwaltung im einzelnen, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.l, Kap.I § 2, S.31-53, hier S.46-49; DERS., Rechtspflege und Reichsverfassung im 15. und 16. Jahrhundert, Wetzlar 1990; DIESTELKAMP, Vom Königlichen Hofgericht, bes. S.48 ff., 52 ff.; BATTENBERG, Beiträge, bes. S.l ff., 21 ff.; DERS., Wege zu mehr Rationalität im Verfahren der obersten königlichen Gerichte im 14. und 15. Jahrhundert, in: D. Sirnon (Hg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages Frankfurt am Main 1986, Frankfurt a.M. 1987, S.313-331; DERS., Artikel Reichshofgericht, in: HRG 4, 1990, Sp.615-626; DERS., Artikel Kammergericht, in: Lexikon des Mittelalters 5, 1991, Sp.890 f.; DERS., Artikel Reichshofgericht, in: ebd. 7, 1995, Sp.622 f.; K.-F. KRIEGER, Rechtliche Grundlagen und Möglichkeiten römisch-deutscher Königsherrschaft im 15. Jahrhundert, in: R. Schneider (Hg.), Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich, Sigmaringen 1987, S.465-489, hier S.482 ff.; P.-J. HEINIG, Kaiser Friedrich III. Hof, Regierung und Politik, 3 Tle., Köln- Weimar- Wien 1997, hier Tl.l, S.95-141. Zur Wirksamkeit des königlichen Kammergerichts s. jetzt: F. BATTENBERG- B. DIESTELKAMP (Hgg.), Die Protokoll- und Urteilsbücher des Königlichen Kammergerichts aus den Jahren 1465 bis 1480. Mit Vaganten und Ergänzungen, 3 Bde., Köln- Weimar- Wien 2004.
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II.l. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
sowie in der Wiederaufnahme von bereits vor 1495 am königlichen Kammergericht anhängig gemachten Prozessen, ferner in der Personalkontinuität der wenigen Kanzleipersonen, mehrerer Prokuratoren sowie des Kammerrichters Eitel Friedrich von Zollern und nicht zuletzt in der Beibehaltung des Namens "Kammergericht"6. Dagegen kam der entscheidende Wandel, der dem Geschehen von 1495 bei aller Kontinuität zum königlichen Kammergericht und bei aller Unfertigkeit und Vorläufigkeit der in Worms beschlossenen Änderungen doch zu-
6 M. DRESSEL, Graf Eitelfriedrich li. von Zollern (1452-1512). Kaiserlicher Rat Maximilians I. und erster Richter am Reichskammergericht, Wetzlar 1995.- In der endgültigen Fassung der Kammergerichtsordnung von 1495 wird das Gericht am häufigsten schlicht als "camergericht" bezeichnet, sechsmal als "unser kgl. oder ksl. camergericht" und einmal, nämlich in der Präambel, als "unser und des Hl. R. camergericht"; s. die neueste Edition dieser KGO in: Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian 1., Bd.5: Reichstag von Worms 1495, Bd.I, Tl.l: Akten, Urkunden und Korrespondenzen, bearb. von H. ANGERMEIER, Göttingen 1981 = Deutsche Reichstagsakten Mittlere Reihe Bd.5/I,l [RTA MR 5/I,l], nr.342/IV, S.380-428 (bes. S.383-420), hier S.384. Angesichts dieses Befunds kann keine Rede davon sein, daß die Bezeichnung "unser und des Heiligen Reichs camergericht", wie Seyboth schreibt, bereits "in der Wormser Ordnung zur offiziellen Titulatur des Gerichts wurde", s. SEYBOTH, Kaiser, König, Stände, S.21. Diese in der KGO von 1495 nur einmal vorkommende Doppelformel wird anfangs noch stark im tautologischen Sinne verwendet. Mit der dualistischen Bedeutung lädt sie sich, hinter dem tatsächlichen Verfassungscharakter des reformierten Kammergerichts hinterherhinkend, in der Folgezeit erst allmählich auf. Überhaupt schiebt sich die Bezeichnung "kaiserliches und des Reichs Kammergericht", häufig vereinfacht zu "kaiserliches Reichs Kammergericht" bzw. "kaiserliches Reichskammergericht" (so noch im Reichsdeputationshauptschluß 1803 §§ 86 u. 88) erst seit dem Westfälischen Frieden und dem Jüngsten Reichsabschied, nun eindeutig dualistisch gemeint, stärker in den Vordergrund. Im 18. Jahrhundert wird sie vorherrschend, ohne den älteren Terminus "kaiserliches Kammergericht" zu verdrängen. Die Bezeichnung "Reichskammergericht" kommt in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zwar ebenfalls vor, jedoch quantitativ nur in geringem Maße und praktisch nie in offiziellen Dokumenten sowie nur selten in der Kameralliteratur. Die seit dem späten 19. Jahrhundert (F. Thudichum, 0. Stobbe, W. Endemann, H. Frh. v. Reitzenstein u.a.) und endgültig seit Rudolf Smend (1911) eingebürgerte Bezeichnung "Reichskammergericht" sowie das darauf beruhende, auch in dieser Arbeit mit viel Unbehagen verwendete moderne Kürzel "RKG" sind also ganz irreführend, sowohl was die Begriffsgeschichte als auch was die Verfassungskonstruktion des Kammergerichts betrifft. Wenn auch die vorliegende Untersuchung entgegen besserer Einsicht im Buchtitel die Bezeichnung "Reichskammergericht" verwendet, dann um einer nicht mehr ausrottbaren und zumeist unreflektierten Gewohnheit Rechnung zu tragen und um Verwechslungen z.B. mit dem preußischen Kammergericht in Berlin zu vermeiden. Wenn P. Moraw konstatiert: "Die heute noch übliche Bezeichnung 'Reichskammergericht' ist Vereinbarung der Historiker und nicht quellentreu, da man eigentlich weiterhin vom Kaiserlichen Kammergericht reden müßte", dann ist der Kritik zuzustimmen, nicht jedoch der im Nachsatz gelieferten, ebenfalls einseitigen Begründung, s. DERS., Der Reichstag zu Worms von 1495, S.33; vgl. auch schon DERS., Reichsreform, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.l, S.62: "... sein Name, der bis 1806 offiziell stets Königliches/Kaiserliches Kammergericht lautete, weil es eine andere Legitimierung als die herrscherliehe nicht gab". Einige treffende Bemerkungen zur Begriffsgeschichte s. schon bei F.J.D. V. BosTELL, Grundsätze der kammergerichtliehen Praxis, Tl.l, Lemgo 1784, S.69 mit Anm. q) aufS.70.
II.1.1. Das Kammergericht im Gefüge der Reichsverfassung
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gleich den Charakter einer Zäsur, eines "entschlossenen Neubeginns" 7 verlieh, vor allem in einer Loslösung des RKG von der Person des Königs zum Ausdruck sowie in der Umschichtung bisher königlicher Rechte zugunsten der Reichsstände, ohne daß der König seine Eigenschaft als oberster Gerichtsherr im Reich preisgegeben hätte8 • Während das königliche Hofgericht und das königli7 ANGERMEIER, Reichsreform, S.176; ebenso - stellvertretend ftir viele andere - B. DIESTELKAMP, Zur Krise des Reichsrechts im 16. Jahrhundert, in: H. Angermeier (Hg.), Säkulare Aspekte der Reformationszeit, München- Wien 1983, S.49-64. Auch laut Diestelkamp, ebd., S.51 f., war die Errichtung des RKG im Jahre 1495 trotzaller Kontinuitätsstränge "ein entscheidender Übergang zu einerneuen Qualität"; s. auch die in der folgenden Anmerkung zitierte Literatur.
8 Zu den im folgenden aufgeführten reichsverfassungsrechtlich-organisatorischen Neuerungen, die sich im RKG der Gründungs- und Aufbauphase verkörperten und die von allen rechtshistorischen, verfassungsgeschichtlichen und allgemeinhistorischen Handbüchern im Zusammenhang der Reichsreform mehr oder weniger ausführlich erwähnt werden, s. immer noch grundlegend die Darstellung von SMEND, Reichskammergericht, S.1 ff. Bei aller anfänglichen Unklarheit der verfassungspolitischen Bedeutung jener 1495 eingeleiteten Neuerungen kann jedoch Smends Interpretation, bei der Gerichtsreform von 1495 handele es sich "um einen Abschnitt in einer lediglich behördengeschichtlich-technisch, nicht verfassungsrechtlich zu verstehenden Entwickelung" (ebd., S.47), vor allem angesichts der längerfristigen Entwicklung nach 1495 nicht überzeugen. Dieselbe These vertritt Smend auch in DERS., Zur Geschichte der Formel "Kaiser und Reich" in den letzten Jahrhunderten des alten Reiches (zuerst erschienen 1910), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2., erw. Aufl., Berlin 1968, S.9-18, hier S.11: "Die Reform wollte weder an dem formal-staatsrechtlichen Charakter der Reichsverfassung überhaupt noch an der Reichsjustiz insbesondere irgend etwas ändern, sie war im Gegenteil in dieser Hinsicht so konservativ wie nur möglich, und so ist auch das Kammergericht seit 1495 seiner staatsrechtlichen Stellung wie seiner Bezeichnung nach durchaus identisch mit dem älteren sogenannten königlichen Kammergericht"; dazu vgl. auch WEITZEL, Kampf, S.94 f. mit Anm.206 u. 207. -Als wichtigste neuere, die hier zunächst in Rede stehenden reichsverfassungsrechtlich-organisatorischen Gerichtsreformen von 1495 sowie der folgenden Aufbauzeit behandelnde Darstellungen seien in Auswahl genannt: H. CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd.2: Neuzeit bis 1806, Karlsruhe 1966, S.158 ff., bes. 161 ff. (unter denneueren rechts- und verfassungsgeschichtlichen Hand- und Lehrbüchern besonders materialreich); LIEBERICH, Frühe Reichskammerprozesse, passim; P. L. NEVE, Het Rijkskamergerecht en de Nederlanden. Competentie- Territoir- Archieven, Assen 1972, hier S.8 ff., 41 ff.; LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.l ff. (kürzere Fassung dieser Einleitung: DERS., Die Reichskammergerichtsordnung von 1555. Ihre Entstehung und Bedeutung. EinfUhrende Notizen und Literaturhinweise, in: consilium magnum 1473-1973, Brüssel 1977, S.239-248); LAUFS, Rechtsentwicklungen, S.78; H. CoiNG, Le Reichskammergericht, in: consilium magnum 1473-1973, S.41-53; DICK, Entwicklung, S.ll ff., bes. S.16 ff.; DIESTELKAMP, Krise, bes. S.51 ff.; MüRAW, Reichsreform, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.l, bes. S.62 f.; G.-CHR. v. UNRUH, Die Wirksamkeit von Kaiser und Reich, in: ebd., Bd.1, Kap.III, S.268-278, hier S.271 ff. (sehr fehlerhaft); ANGERMEIER, Reichsreform, bes. S.170184; DIESTELKAMP, Vom Königlichen Hofgericht, bes. S.54 ff.; PRESS, Reichskammergericht, bes. S.8 ff.; LAUFS, Artikel Reichskammergericht, in: HRG 4, 1990, Sp.655-662; im Rahmen einer breit angelegten Institutionengeschichte des Reiches: H. MOHNHAUPT, Die Institutionen der Staaten, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.2: Neuere Zeit (1500-1800). Das Zeitalter des Gemeinen Rechts, Tlbd.3: Die Institutionen der Staaten und der Kirchen, die Einflüsse des Gemeinen Rechts in Rechtsgebieten anderer Tradition (erscheint demnächst), 1. Abschnitt, hier II.: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, bes. II.C.2.a) Das Reichskammergericht; s.
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
ehe Kammergericht mit dem Hof gewandert waren, wurde dem neuorganisierten Gericht ein fester Sitz im Reich zugewiesen9 . Zur Ortsfestigkeit kam als weiteres Element der Dauer die ständige Tätigkeit des Gerichts. Dessen Urteilergremium sollte ein Kollegium möglichst lange im Amt bleibender, also eingearbeiteter Fachleute sein, es wurde nicht mehr wie noch am königlichen Kammergericht von Fall zu Fall neu zusammengesetzt. Auf Personalkontinuität, Spezialisierung und richterliche Unabhängigkeit zielte auch das Verbot jeglicher Nebentätigkeit- also auch königlicher Ratsdienste- für Kammerrichter und Urteiler10. In den solcherart durchgesetzten reichsständischen Reformforderungen nach Stetigkeit des Gerichts hinsichtlich seines Orts, seines Gerichtsbetriebs und seiner personellen Zusammensetzung schlug sich die aus den Funktionsschwächen des Vorgängergerichts gewonnene Erfahrung nieder, daß die Qualität einer obersten Gerichtsinstanz abgesehen von der professionellen Kompetenz seiner Richter in hohem Maße mit der Herstellung von Kontinuität und das heißt: mit einem erheblichen Fortschritt an Institutionalisierung und Bürokratisierung zusammenhing''. Dies mußte zumal in einer Zeit gelten, in der Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung sowie das Überhandnehmen des Fehdewesens größte Herausforderungen an die Rechtsprechung darstellten. Zu den genannten Neuerungen kamen weitere, die der Emanzipation des obersten Gerichts im Reich von der Person des Königs bzw. Kaisers dienten, so die Übertragung der bisher dem Reichsoberhaupt vorbehaltenen Ächtungsgewalt auf den Kammerrichter, d.h. dessen Befugnis, kraft seines Amtes, wenn auch im Namen des Herrschers, ein neuerdings auch SEYBOTH, Kaiser, König, Stände, S.17 ff.; DERS., Kontinuität und Wandel, S.73 f.; KRIEGER, König, Reich und Reichsreform, S.52 f.; P.-J. HEINIG, Die Vollendung der mittelalterlichen Reichsverfassung, in: R. Mußgnug (Red.), Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 1993, S.7-31, hier S.27 f.; MORAW, Der Reichstag zu Worms von 1495, S.33; DIESTELKAMP, Die höchste Gerichtsbarkeit, S.37 ff.; DERS., Rechtsfälle, S.13 ff.; DUCHHARDT, Das Reichskammergericht (1996), S.3 ff.; NEUHAUS, Das Reich in der Frühen Neuzeit, S.48 ff.- Zu dem ursprünglich von Berthold von Henneberg 1495 in Worms verfolgten Modell einer ständisch-zentralistischen Justizreform und den Gründen für ihr Scheitern s. neuerdings die- allerdings mit vielen Mängeln behaftete und in den Wertungen z.Tl. problematische- Dissertation von H.-M. GöTTE, Der Jüngste Reichsabschied und die Reform des Reichskammergerichts, München 1998, hier S.l91 ff. in Kap.E: Ursachen der Erfolglosigkeit der Justizreform 1654. 9 KGO 1495 § 18 (RTA MR 5/1,1, S.402); dazu§ 5 der Handhabung Friedens und Rechts (ebd., nr.356, S.447-467, hier S.455 f.); HAUSMANN, Residenzen, S.147 f.
10 KGO 1495 § 1 (RTA MR 5/1,1, S.384 f.).
11 Dazu besonders eindringlich: DIESTELKAMP, Krise; DERS., Vom Königlichen Hofgericht; s. auch DERS., Verwissenschaftlichung, bes. S.115 f. Zum engen Zusammenhang von Verwaltungsqualität und Verwaltungskontinuität s. - im Hinblick auf ungünstige Kontinuitätsverhältnisse für die zentrale Verwaltung im Spätmittelalter- generell auch P. MORAW, Die Verwaltung des Königtums und des Reiches und ihre Rahmenbedingungen, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.1, Kap.I § 1, S.21-31, hier S.23.
II.1.1. Das Kammergericht im Gefüge der Reichsverfassung
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vom RKG erkanntes Achturteil auszusprechen 12 , oder die Anordnung, im Interesse einer unabhängigen Rechtsprechung dem RKG "seinen gestrakten lauf" zu lassen, womit auch kaiserlichen Eingriffen in die Rechtsfindung des RKG ein Riegel vorgeschoben werden so1lte 13 • In al1 den bisher genannten 1495 getroffenen Regelungen zur Objektivierung der obersten Rechtsprechung kam der Sieg ständischer Reformbestrebungen, die Durchsetzung ständischer Mitsprache massiv zum Ausdruck. Das verfassungspolitische Novum einer ständischen Teilhabe auch auf dem Gebiet der zentralen Gerichtsbarkeit äußerte sich jedoch 1495 direkter in zwei anderen Bereichen: zum einen in der ergänzenden Mitfinanzierung des reorganisierten RKG durch die Stände mit Hilfe des zunächst auf vier Jahre befristeten "Gemeinen Pfennigs"14, zum anderen in der Beteiligung der Reichsstände an der Besetzung des Urteilergremiums. Dabei manifestierte sich die erhebliche Schmälerung des bisher ausschließlich königlichen Besetzungsrechts weniger in der betreffenden Formulierung der KGO 1495 als in der Praxis der auf dem Wormser Reichstag vorgenommenen Richterauswahl 15 . Das in Worms praktizierte Besetzungsver12
KGO 1495 § 23 (RTA MR 5/1,1, S.407).
KGO 1495 § 25 (RTA MR 5/1,1, S.408); dazu DICK, Entwicklung, S.75; W. SELLERT, Richterliche Unabhängigkeit am Reichskammergericht und am Reichshofrat, in: Recht und Verfassung in Hessen- Vom Reichskammergericht zur Landesverfassung -, Wiesbaden 1995, S.39-47, hier S.41; DERS., Artikel Unabhängigkeit des Richters (der Justiz), in: HRG 5, 1998, Sp.443-451, hier Sp.443. Über Eingriffe Ks. Sigmunds und Ks. Friedrichs III. in die Rechtsprechung des Reichshofgerichts bzw. des kgl. Kammergerichts s. KRIEGER, Rechtliche Grundlagen, S.482 ff. 13
14 Zum "Gemeinen Pfennig" s. vor allem P. SCHMID, Der Gemeine Pfennig von 1495. Vorgeschichte und Entstehung, verfassungsgeschichtliche, politische und finanzielle Bedeutung, Göttingen 1989, bes. S.142 ff., 257 ff., 566 ff.; auch schon DERS., Reichssteuern, Reichsfinanzen und Reichsgewalt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: H. Angermeier (Hg.), Säkulare Aspekte der Reformationszeit, München- Wien 1983, S.153-198; s. ferner H. ANGERMEIER, Artikel Gemeiner Pfennig, in: HRG 1, 1971, Sp.1503-1506; E. lSENMANN, Reichsfinanzen und Reichssteuern im 15. Jahrhundert, Tl.l u. 2, in: ZHF 7, 1980, S.1-76, 129-218, hier S.190 ff.; ANGERMEIER, Reichsreform, S.178 f.; MORAW, Reichsreform, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.1, S.63 f.; DERS., Der "Gemeine Pfennig". Neue Steuern und die Einheit des Reiches im 15. und 16. Jahrhundert, in: U. Schultz (Hg.), Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer, München 1986, S.130-142, 277, bes. S.138 ff.; Quellenedition der Ordnung des Gemeinen Pfennigs von 1495: RTA MR 5/1,1, nr.448, S.537-562; vgl. auch KGO 1495 § 19 (ebd., S.403 f.).
15 KGO 1495 § 1 (RTA MR 5/I,1, S.384): "Zum ersten, das camergericht zu besetzen mit einem richter ... und 16 urteilern, die alle wir mit rate und willen der samblung itzund hie kiesen werden aus dem ReicheT. N .... "; zu der in Worms tatsächlich praktizierten Richterauswahl s. eingehend SMEND, Reichskammergericht, S.24 ff., mit Beilagen nr.5 und 6, S.388397; diese Listenjetzt auch abgedruckt in: RTA MR 5/I,1, nr.351, S.438-443, nr.353, S.444 f.; zutreffend auch schon C.CHR.A. H. v. KAMPTZ, Darstellung des Präsentations-Rechts zu den Assessoraten am Kaiserlichen und Reichs-Kammergerichte, Göttingen 1802, S.18 f. Zur Diskussion um die Besetzung der Assessorate auf dem W ormser Reichstag sowie zu dem dort
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
fahren erfiillte zudem nicht nur das Verlangen nach ständischer Beteiligung überhaupt. Es trug überdies durch die komplizierte Verknüpfung regionaler und ständischer Auswahlkriterien in verfeinerter Form der Territorialisierung des Reiches, der Binnenstruktur des politischen Dualismus Rechnung. Zwar war über das Ausmaß der ständischen Teilhabe am reorganisierten RKG, über die Gewichtung der mehr monarchisch-monistischen und der mehr ständischen Strukturelemente angesichts des Übergangscharakters der Wormser Beschlüsse noch keineswegs das letzte Wort gesprochen 16 . Die Entwicklung nach 1495 zeigte vielmehr, wie labil die aus dem Ringen zwischen Königtum und Ständen hervorgegangene verfassungspolitische Konstruktion des Gerichts noch war, offen sowohl für eine zeitweilig erfolgreiche Revision im monarchischen Sinne als auch- im Zusammenhang des letztlich gescheiterten Experiments zweier Reichsregimente - fiir Bestrebungen zur Ausweitung ständischer Positionen. So sollte das sogenannte Präsentationssystem, das die primär ständische Besetzung der RKG-Assessorate sicherstellte, erst zwischen 1507 und 1555 seine Ausformung und reichsgesetzliche Fixierung erhalten 17 • Auch die dauernde Übernahme der Besoldungen fiir Kammerrichter, Präsidenten und Beisitzer des RKG durch die Reichsstände in Gestalt der Kammerzieler verfestigte
tatsächlich praktizierten Besetzungsverfahren s. im übrigen ausfiihrlicher Kap.II.3.1.1.; hierzu und zum Folgenden s. außer der in Anm.8 zitierten Literatur zur Neuorganisation des Kammergerichts 1495 auch schon S. JAHNS, Die Personalverfassung des Reichskammergerichts unter Anpassungsdruck Lösungen im Spannungsfeld zwischen Modernität und Überalterung, in: Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, S.59-109, hier S.75 f. 16 So schon SMEND, Reichskammergericht, S.3, 73. Die Unfertigkeit der Schöpfung von 1495 und den Prozeßcharakter der gesamten Gerichtsreform, deren 1495 angelegtes dualistisches Gepräge noch keineswegs sofort voll entwickelt und festgelegt war, betonen auch LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.4; MüRAW, Reichsreform, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.1, S.60, 62 u. bes. S.63; ANGERMEIER, Reichsreform, S.164, 173, 175, 183 f.; DIESTELKAMP, Vom Königlichen Hofgericht, S.55, auch S.60; vgl. auch DERS., Krise, S.52; s. auch MüRAW, Der Reichstag zu Worms von 1495, S.33-35.- Zu den Details der im folgenden angesprochenen Entwicklung nach 1495, vor allem zu den verschiedenen Pendelausschlägen zugunsten mehr ständischer bzw. mehr monarchischer Gewichtung s. weiterhin SMEND, Reichskammergericht, bes. S.73 ff.; zu einer Phase monarchischer Revisions. auch H. GüLLWITZER, Unbekannte Versuche einer Erneuerung des Königlichen Kammergerichts in den Jahren 1505-1506, in: HZ 179, 1955, S.255-271; zu monarchischen Revisionsversuchen s. kurz auch SEYBOTH, Kaiser, König, Stände, S.22 f.; DERS., Kontinuität und Wandel, S.74; DIESTELKAMP, Rechtsfälle, S.16.
17 Zu dieser Fortentwicklung des Präsentationssystems s. hier als letzten der Karneralschriftsteller KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.25 ff., 55 ff.; ferner weiterhin SMEND, Reichskammergericht, S.99 ff., 265 ff.; s. im übrigen mit weiteren Nachweisen ausführlich Kap. II.3.1.1.
II.1.1. Das Kammergericht im Gefuge der Reichsverfassung
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sich nach verschiedenen finanziellen Experimenten während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts endgültig erst 1548/55 18 • So sehr sich also die Ausformung des RKG zu einem Organ des "institutionalisierten Dualismus" 19 ebenso wie die gesamte Reichsreform als ein längerfristiger, keineswegs planmäßig gesteuerter Prozeß darstellt, dessen verfassungshistorische Relevanz erst rückblickend vom Ergebnis her voll ins Licht rückt- die Weichenstellung dafür war 1495 erfolgt. Sie sollte sich in den nächsten Jahrzehnten trotz vielerlei Beeinträchtigungen und Unterbrechungen der gerichtlichen Aktivität als immer weniger reversibel erweisen- trotz des immer neuen Tauziehens zwischen Kaiser und Reichsständen um die verfassungsrechtlich brisanten Punkte des Gerichtsorts20 , der Besetzung und der finanziellen Unterhal18 RA 1548 § 30 (RTA JR 18/3, S.2661; ebs. CJC, S.102; NVSRA Tl.2, S.533); KGO 1548 Tl.l Art.40 (RTA JR 18/2, S.1303 f.); RA 1555 § 113 (CJC, S.l13; NVSRA Tl.3, S.34); KGO 1555 Tl.l Tit.40 § 1 (LAUFS, KGO 1555, S.138); dazu s. G.M. V. LUDOLFF, Historia sustentationis Judicii Supremi Camerae Imperialis, Das ist: Gründlicher Unterricht von dem Unterhalt des Kayserl. und Reichs Cammer-Gerichts, Frankfurt a.M. 1721, S.37 ff.; J.H. FRH. V. HARPPRECHT, Abdruck von dem an eine höchstansehnliche Kaiserliche Commission und hochverordnete Reichs-Visitations-Deputation erstattetem gehorsamstem Bericht das UnterhaltungsWerk des Kaiserlichen und Reichs-Cammergerichts betreffend, Frankfurt- Leipzig 1768, S.5 § 10; SMEND, Reichskammergericht, S.173 ff.; LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.l9; !SENMANN, Reichsfinanzen, T1.2, S.l95; zur grundsätzlichen Problematik s. SCHMID, Reichssteuern, Reichsfinanzen und Reichsgewalt; zu den Diskussionen, Problemen und Lösungen im Zusammenhang mit der Finanzierung des zweiten Reichsregiments sowie des Kammergerichts seit 1521, einem "der zentralen Probleme der Reichsverwaltung in den zwanziger Jahren", welches "niemals befriedigend gelöst werden" konnte, s. sehr aufschlußreich CHR. ROLL, Das zweite Reichsregiment 1521-1530, Köln- Weimar- Wien 1996, S.93-119 (Zitate S.93); s. auch F.-W. HENNING, Artikel Kammerzieler, in: HRG 2, 1978, Sp.590-592; TH. ÜTTW. SCHULZE, Artikel Wormser Matrikel, Reichsmatrikel, in: HRG 5, 1998, Sp.1530-1536, hier Sp.l534. 19 Zur Entstehung des "institutionalisierten Dualismus" im Zuge des Strukturwandels der spätmittelalterlichen Reichsverfassung s. MORAW, Von offener Verfassung, S.416-421; seitdem spielt dieser Begriff, der die seit 1495 im RKG angelegten verfassungsrechtlichen Wesensmerkrnale gut auf den Punkt bringt, eine zentrale Rolle in Moraws Arbeiten zu diesem Themenkomplex; s. seine oben in Anm.l zitierten Aufsätze; kritische Einwände zu dieser "zentralen Kategorie Moraws" bei ROLL, "Sin lieb sy auch ein kurfurst ... ", S.l1 f. Anm.l7. 20
Zu den häufigen Ortswechseln des Gerichts in den ersten drei Jahrzehnten seiner Existenz als Ausdruck des Machtkampfes zwischen Herrscher und Reichsständen bis zur Etablierung des RKG in Speyer 1527 s. zuletzt HAUSMANN, Residenzen, bes. S.148 ff.; s. auch schon DERS., Die Städte des Reichskammergerichts, in: ders. (Hg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts, Köln - Weimar - Wien 1995, S.9-36; ferner SMEND, Reichskammergericht, S.76 ff. u. passim bis S.135 u. 139; LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.5; PRESS, Reichskammergericht, S.18 ff.; SEYBOTH, Kaiser, König, Stände, S.23; DIESTELKAMP, Rechtsfalle, S.l6; I. SCHEURMANN, Die Installation des Gerichts in Frankfurt und die Speyerer Zeit, Einleitung, in: Frieden durch Recht, S.89 f.; s. auch die materialreiche "Geschichte der Verlegung des Cammergerichts und der Ursachen, die solche veranlassen können: nebst einem wohlerwogenen Gutachten des Catholischen Theils des Kayserlichen Cammergerichts Advocaten und Procuratoren, zu unterthänigster Folgleistung des Höchstverehrlichen Conclusi Pleni vom 25. September 1770", o.O., o.J., S.3 ff.
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tung, trotz der zeitweiligen Umfunktionierung des RKG zum Instrument kaiserlicher Konfessionspolitik während des in der Reformationszeit gegen die Protestanten gefiihrten "rechtlichen Kriegs" und auf dem "Geharnischten" Augsburger Reichstag von 1547/4821 • Im Gegenteil wurden in das reichsverfassungsrechtliche Fundament des RKG schrittweise weitere ständische Elemente eingefügt. So war das Gericht seit der Einrichtung jährlicher Visitationen im Jahre 21 Zum "rechtlichen Krieg" der altgläubigen Seite gegen die Protestanten in Form der Reformationsprozesse s. SMEND, Reichskammergericht, S.137 ff.; neuerdings außer den allgemeinen Darstellungen zur deutschen Geschichte im Reformationszeitalter (in Auswahl, mit weiteren Literaturhinweisen): E. FABIAN (Bearb. u. Hg.), Urkunden und Akten der Reformationsprozesse am Reichskammergericht, am Kaiserlichen Hofgericht zu Rottweil und an anderen Gerichten, Tl.l: Allgemeines 1530-1534, Tübingen 1961; G. DoMMASCH, Die Religionsprozesse der rekusierenden Fürsten und Städte und die Erneuerung des Schmalkaldischen Bundes 1534-1536, Tübingen 1961; G. SCHLÜTTER-SCHINDLER, Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis, Frankfurt a.M. - Bem- New York 1986; M. HECKEL, Die Reformationsprozesse im Spannungsfeld des Reichskirchensystems, in: B. Diestelkamp (Hg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts, Köln- Weimar- Wien 1993, S.940, zu den eigentlichen Reformationsprozessen in den Jahrzehnten vor dem Augsburger Religionsfrieden ebd., S.ll-14; B. RUTHMANN, Die Religionsprozesse als Folge der Glaubensspaltung, in: Frieden durch Recht, S.231-240, hier S.232-235; Ruthmann weist ebd., S.240 Anm.2, auf die sinnvolle Unterteilung der Religionsprozesse in Reformationsprozesse (vor 1555) und Religionsprozesse im engeren Sinne (ausgelöst durch die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens) hin; ebenso auch DERS., Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555-1648). Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse, Köln- Weimar- Wien 1996, S.lO. Jetzt neue Akzente setzend: G. HAUG-MORITZ, Der Schmalkaldische Bund 1530-1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002, zum "rechtlichen Krieg" bes. S.l93-204, 277-287, 381; DIES., Die kaiserliche Gerichtsbarkeit in der Deutung der Protestanten der Reformationszeit, in: L. Auer- W. Ogris- E. Ortlieb (Hgg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, Köln- Weimar- Wien 2007, S.215-232. A. GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004, spricht S.220 ff., 367 f. u. passim vom "Prozeßkrieg" des RKG gegen die protestantischen Reichsstände. Im Zusammenhang der Reformationsprozesse s. auch H. BRÖHMER, Die Einwirkungen der Reformation auf die Organisation und Besetzung des Reichskammergerichts, Diss. iur. Heidelberg, Speyer o.J. [1932], bes. S.6 ff.; P. L. NEVE- R. M. SPRENGER, Das Plenum des Reichskammergerichts als Spruchkörper. Zwei Jahre während des "rechtlichen Krieges": 1535-1537, in: N. Achterberg u.a. (Hgg.), Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschr. f. Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, Berlin 1983, S.145-159; R.M. SPRENGER, Viglius van Aytta und seine Notizen über Beratungen am Reichskammergericht (1535-1537), Nijmegen 1988, hier S.61-96; G. DOLEZALEK, Die Assessoren des Reichskammergerichts und der Nürnberger Religionsfriede vom 23. Juli 1532, in: Dilcher- Diestelkamp (Hgg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey, S.84-96; DERS., Die juristische Argumentation der Assessoren am Reichskammergericht zu den Reformationsprozessen 1532-1538, in: Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, S.25-58.- Zur Behandlung der RKG-Materie auf dem "Geharnischten" Reichstag 1547/48 s. außer der seit 2006 vorliegenden Edition der Reichstagsakten (RTA JR 18/1-3) vor allem H. RABE, Reichsbund und Interim. Die Verfassungs- und Religionspolitik Karls V. und der Reichstag von Augsburg 154711548, Köln- Wien 1971, bes. S.200f., 206f., 221, 232, 303 ff.; P. SCHULZ, Die politische Einflußnahme auf die Entstehung der Reichskammergerichtsordnung 1548, Köln- Wien 1980, passim.
11.1.1. Das Kammergericht im Gefüge der Reichsverfassung
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1507 der gemeinsamen Kontrolle von Kaiser und Reichsständen unterworfen22 . Auch wurde der 1486/87 mit dem kurfiirstlichen Entwurf einer Kammergerichtsordnung erstmals erhobene und 1495 mit der Verabschiedung der ersten KGO auf dem Wormser Reichstag durchgesetzte Anspruch der Reichsstände, auf Verfassung, Zuständigkeit und Prozeßgang des RKG maßgeblich Einfluß zu nehmen, bis zum Ende des Alten Reiches nie mehr in Frage gestellt23 • Alle das RKG betreffenden Probleme waren hinfort Gegenstand gemeinsamer Beratung und Beschlußfassung durch Kaiser und Reich bis hin zur außerordentlichen Reichsdeputation von 1802/3 24 • Für das Heilige Römische Reich bedeutete die Errichtung eines obersten Gerichts mit ständiger Tätigkeit und festem Amtssitz unabhängig von den wechselnden Aufenthalten des Königs einen Modemisierungsschub, der sich in die 22 KGO Konstanz 1507 Tit.14 (als Teil des RA Konstanz 1507, CJC, S.23); die erste Visitation fand 1508 statt; dazu SMEND, Reichskammergericht, S.99 f.; LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.l3; DICK, Entwicklung, S.8, 26, 80; vor allem, allerdings nur auf gedrucktem Material beruhend, d.h. ohne Auswertung der in den Archiven liegenden Visitationsakten: K. MENCKE, Die Visitationen am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Rechtsmittels der Revision, Köln - Wien 1984, bes. S.6 ff., 13 ff.; s. auch kurz W. SELLERT, Das Verhältnis von Reichskammergerichts- und Reichshofratsordnungen am Beispiel der Regelungen über die Visitation, in: Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, S.111-128, hier S.115 ff.; B. DIESTELKAMP, Der Reichserzkanzler und das Reichskammergericht, in: P. C. Hartmann (Hg.), Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler. Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des zweiten Mannes im Alten Reich, Stuttgart 1997, S.99-11 0, hier S.1 06 ff.; DERS., Ungenutzte Quellen zur Geschichte des Reichskammergerichts. Unbearbeitete Forschungsfelder, in: Een Rijk Gerecht. Opstellen aangeboden aan prof. mr. P. L. Neve, onder redactie van B. C. M. Jacobs en E. C. Coppens, Nijmegen 1998, S.115-130, hier S.116 ff.; zum "Zusammenspiel zwischen Visitationen und Reichsversammlung" in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Visitationen ab 1556 bis 1588 mit Ausnahme weniger Jahre jährlich in Speyer stattfanden, s. auch die informative Skizze von M. LANZINNER, Reichsversammlungen und Reichskammergericht 1556-1586, Wetzlar 1995, hier S.20 ff. 23 Über den kurfürstlichen Entwurf einer KGO von 1486 (modifiziert 1487) als Keimzelle der seit 1495 tatsächlich realisierten Gerichtsreform s. SMEND, Reichskammergericht, S.3 ff., bes. S.5 ff.; DICK, Entwicklung, S.14 ff; neuerdings vor allem SEYBOTH, Kaiser, König, Stände, S.8 ff.; danach kurz DERS., Kontinuität und Wandel, S.72; Druck dieses Entwurfs in: Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd.1: Reichstag zu Frankfurt 1486, Tl.I, bearb. von H. Angermeier unter Mitwirkung von R. Seyboth, Göttingen 1989 = Deutsche Reichstagsakten Mittlere Reihe Bd.1/l [RTA MR 1/l], nr.329, S.347-365.
Schon J. ST. PÜTTER, Patriotische Abbildung des heutigen Zustandes beyder höchsten Reichsgerichte, o.O. 1749, bes. S.39, 58 f., pries die maßgebliche ständische Beteiligung an den Karneralgesetzen und an den RKG-Visitationen als kostbare ständische Errungenschaft. Zu den verfassungsrechtlichen Beziehungen zwischen Reichstag und RKG, hier speziell zu der vom Reichstag ausgeübten "Funktion einer allgemeinen Rechtsoberaufsicht" s. auch K. HÄRTER, Der Rekurs des Fürsten Friedrich Kar! von Wied-Neuwied. Zum Verhältnis von Reichskammergericht undReichstagam Ende des Alten Reiches, in: H. Mohnhaupt- D. Simon (Hgg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd.2, Frankfurt a.M. 1993, S.245-284, hier S.247 ff. (Zitat S.250, mit Beispielen aus der Endphase des Alten Reiches). 24
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
allgemeine spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Entwicklung hin zu vermehrter Institutionalisierung und Bürokratisierung einordnet25 • Gemessen an den V erhältnissen in den westeuropäischen Staaten, besonders in England und Frankreich, wo sich entsprechende ortsfeste Zentralgerichte schon viel früher ausgebildet hatten, gelangte das Reich jedoch erst mit Verspätung zu einer derartigen höchsten Gerichtsinstanz26 • Diese Verspätung forderte ihren Tribut: Zwar wurde 1495 entgegen anderslautenden früheren Reformvorschlägen wieder ein zentrales oberstes Gericht ftir das ganze Reich errichtet27 • Aber diese Entscheidung konnte nun nicht mehr im monarchischen Sinne eines ausschließlich vom König 25 So auch DIESTELKAMP, Krise, bes. S.51 ff.; DERS., Vom Königlichen Hofgericht, S.47 f., 54 ff.; DERS., Verwissenschaftlichung, bes. S.115 ff.; vgl. auch SMEND, Reichskammergericht, S.2, 66 f.; I. SCHEURMANN, "Iustitia in toto virtutum maxima mundo". Zur Konzeption von Ausstellung und Katalog, in: Frieden durch Recht, S.17-22, bes. S.18 ff., kurz DUCHHARDT, Das Reichskammergericht im Verfassungsgefüge, in: ebd., S.36; im größeren Zusammenhang des Wormser Reformreichstags auch MüRAW, Reichsreform, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.1, S.61 ff.; ANGERMEIER, Reichsreform, S.170 ff. 26
Für den europäischen Vergleich s. den nach Ländern gegliederten informativen Überblick von G. GUDIAN, Die grundlegenden Institutionen der Länder, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.1, S.401-466 (mit weiteren Literaturhinweisen); ferner J.PH. DAWSON, The Oracles ofthe Law, Ann Arbor/Michigan 1968 (Reprint 1978); jetzt vor allem die Aufsätze über die höchste Gerichtsbarkeit im Reich sowie in verschiedenen europäischen Staaten in: B. DIESTELKAMP (Hg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit, Köln- Weimar- Wien 1996; L. AUER- W. 0GRIS- E. ORTLIEB (Hgg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, Köln- Weimar- Wien 2007; s. ferner die Einzelbeiträge und Objektbeschreibungen im Abschnitt "Höchste Gerichtsbarkeit im europäischen Ausland der frühen Neuzeit", in: Frieden durch Recht, S.345-450; zur verspäteten deutschen Entwicklung im Bereich der zentralen Gerichtsbarkeit des Reiches s. auch kurz F. WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2., neubearb. Aufl. Göttingen 1967, S.105; H. CoiNG, Epochen der Rechtsgeschichte in Deutschland, 3. Aufl. München 1976, S.60; vgl. auch MORAW, Die Verwaltung des Königtums und des Reiches, in: Deutsche V erwaltungsgeschichte, Bd.1, S .25, 26; DERS., Die königliche Verwaltung im einzelnen, in: ebd., S.34; DERS., Rechtspflege und Reichsverfassung, S.27 f. 27 Über die von Nikolaus von Kues 1433 in seinem Werk "De concordantia catholica" vorgeschlagene dezentrale Lösung einer Gerichtsreform durch Einteilung des Reiches in zwölf Gerichtssprengel mit jeweils eigenen, als Obergerichte fungierenden Spruchkörpern s. in Auswahl (mit weiteren Nachweisen) B. TöPFER, Die Reichsreformvorschläge des Nikolaus von Kues, in: Zs. f. Geschichtswissenschaft 13, 1965, S.617-637, hier S.627 f.; H.-J. BECKER, Artikel Nikolaus von Kues, in: HRG 3, 1984, Sp.1014-1019, bes. Sp.1017; MoRAW, Reichsreform, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.1, S.59 f.; KRIEGER, König, Reich, und Reichsreform, S.50 f.; T. STRUVE, Kontinuität und Wandel in zeitgenössischen Entwürfen zur Reichsreform des 15. Jahrhunderts, in: J. Miethke- K. Schreiner (Hgg.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, S.365-382, hier S.368; FISCHER, Reichsreform und "Ewiger Landfrieden", S.84 f.- Auf der Reichsversammlung in Regensburg 1471 schlugen die Reichsstände die Einrichtung von vier neuenGerichten aufReichsebene vor, die ausschließlich für Klagen wegen Landfriedensbruch zuständig sein sollten, s. FISCHER, Reichsreform im Reichsinteresse?, S.278.
11.1.1. Das Kammergericht im Gefüge der Reichsverfassung
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getragenen Gerichts gefällt werden, sondern mußte der Territorialisierung des Reichsverbands durch Beteiligung der Reichsstände Rechnung tragen. Am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit war die erneute Zentralisierung der obersten gerichtlichen Aktivität im Reich, wenn sich ihr auch die Reichsstände unterwerfen sollten, nur noch auf der Basis des sich immer mehr verfestigenden Dualismus von Kaiser und Reichsständen möglich28 . Wie sehr das RKG in der Gestalt, die es 1495 und in der darauffolgenden Konsolidierungsphase bis 15 55 erhalten hatte, trotz aller auch weiterhin essentiellen monarchischen Strukturelemente ein vorwiegend ständisch geprägtes Gericht geworden war, zeigt sich am deutlichsten im Vergleich zum kaiserlichen Reichshofrat29. Nachdem Maximilian I. und seine Nachfolger dem Drängen der Stände 28 So vor allem auch DIESTELKAMP, Vom Königlichen Hofgericht, S.54 f.; vgl. auch Mo-
RAW, Die Verwaltung des Königtums und des Reiches, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.l, S.25; DERS., Reichsreform, in: ebd., S.62 f.; UNRUH, Wirksamkeit, in: ebd., S.272; PRESS, Reichskammergericht, S.ll; ähnlich DUCHHARDT, Das Reichskammergericht (1996), S.3.
29 Das Folgende nach S. JAHNS, Das Ringen um die Reichsjustiz im Konfessionellen Zeitalter- ein Kampf um die Forma Reipublicae (1555-1648), in: H. Boockmann (t) u.a. (Hgg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Tl.2, Göttingen 2001, S.407472, hier S.412-414; kurz auch schon DIES., Die Reichsjustiz als Spiegel der Reichs- und Religionsverfassung, in: K. Bußmann- H. Schilling (Hgg. ), 1648 · Krieg und Frieden in Europa, Textband I zum Ausstellungskatalog: Politik, Religion, Recht und Gesellschaft, München 1998, S.455-463, hier S.456. Zu der hier nur in groben Strichen skizzierten Entstehungsgeschichte des RHR s. jetzt die quellengestützte, differenziert argumentierende Detailstudie von E. ORTLIEB, Vom Königlichen/Kaiserlichen Hofrat zum Reichshofrat Maximilian 1., Karl V., Ferdinand 1., in: Diestelkamp (Hg.), Gründung, S.221-289; s. auch DIES., Die Formierung des Reichshofrats (1519-1564). Ein Projekt der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: A. Amend - A. Baumann - St Wendehorst- S. Westphal (Hgg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung, KölnWeimar- Wien 2007, S.17-25; zur Neubewertung des Verhältnisses von RKG und RHR in dessen Formierungsphase s. auch M. SENN, Der Reichshofrat als oberstes Justizorgan unter Karl V. und Ferdinand I. (1519-1564), in: ebd., S.27-39. Zum RHR weiterhin grundlegend, wenn auch durch neuere Forschungen im einzelnen überholt: 0. v. GSCHLIESSER, Der Reichshofrat Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942 (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1970), hier S.l ff.; ftir den folgenden Abschnitt außer GSCHLIESSER benutzte wichtigsteneuere Publikationen: W. SELLERT, Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Aalen 1965, zur Entstehungsgeschichte ebd., S.8 ff.; DERS., Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtliehen Verfahrens, Aalen 1973, hier S.60 ff.; DERS. (Hg.), Die Ordnungen des Reichshofrates 15501766, 1. Halbbd. bis 1626 (ebd., S.29: RHRO 1559 § 2), 2. Halbbd. bis 1766, Köln - Wien 1980 u. 1990 [im folgenden zitiert: SELLERT, RHRO I u. II]; DERS., Der Reichshofrat, in: Diestelkamp (Hg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit, S.lS-44, hier S.17 f.; DERS., Der Mainzer Reichserzkanzler und die Reichshofratsordnungen, in: Hartmann (Hg.), Kurmainz, das Reichserzkanzleramt und das Reich, S.153-171, hier S.154 ff.; s. auch DERS., Projekt einer Erschließung der Akten des Reichshofrats, in: ders. (Hg.),
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II.l. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
nach Teilhabe im Bereich der obersten Gerichtsbarkeit hatten nachgeben und damit dem Tatbestand eines dualistisch gegliederten Reichsverbands hatten Rechnung tragen müssen, schufen sie sich im Gegenzug noch in der Gründungs- und Aufbauphase des RKG mit dem RHR wiederum ein Organ, das - wenn auch bald in modernerer, weil institutionalisierter und bürokratisierter Form- ein ungeschmälerter Ausdruck der königlichen bzw. kaiserlichen Gerichtsgewalt war. Die Anfänge dieser Entwicklung reichen bis in das Jahresende 1497 zurück, als Maximilian I. daranging, durch Errichtung eines ständigen Hofrats zur Erledigung von Regierungs-, Verwaltungs- und Justizangelegenheiten verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Aber erst unter König Ferdinand 1., dem Bruder und Statthalter Karls V. im Reich, nahm dieses Projekt eines königlichen Hofrats mit justizieller Zuständigkeit nicht nur für die habsburgischen Erblande, sondern auch für das Reich konkrete Formen an. Und sooft Karl V. im Reich weilte, fungierte analog ein kaiserlicher Hofrat, unter anderem ebenfalls als oberstes Gericht für das Reich. Mit der Nachfolge Ferdinands I. im Kaisertum wurde sein bisher königlicher Hofrat zum ständig tätigen kaiserlichen Hofrat. Dieser übte neben seinen Regierungs- und Verwaltungsfunktionen außer seiner gerichtlichen Zuständigkeit für die Österreichischen Erblande von Anfang an ganz selbstverReichshofrat und Reichskammergericht Ein Konkurrenzverhältnis, Köln- Weimar- Wien 1999, S.199-210; P. MORAW, Artikel Reichshofrat, in: HRG 4, 1990, Sp.630-638; V. PRESS (t), Der Reichshofrat im System des frühneuzeitlichen Reiches, in: F. BaUenberg- F. Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschr. f. Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Weimar - Köln- Wien 1994, S.349-363, hier S.350 ff.; zum Aufbau des RHR in Konkurrenz zum RKG und über den Dualismus auf der Ebene der höchsten Reichsgerichtsbarkeit s. neben vielen anderen auch DIESTELKAMP, Krise, S.52 ff.; DERS., Die höchste Gerichtsbarkeit, S.39 f.; DERS., Rechtsfälle, S.l5 f.; zu den zusätzlichen Regierungs- und Verwaltungsfunktionen s. U. EISENHARDT, Der Reichshofrat als kombiniertes Rechtsprechungs- und Regierungsorgan, in: J. Hausmann- Th. Krause (Hgg.), »Zur Erhaltung guter Ordnung«. Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz. Festschr. f. Wolfgang Sellert zum 65. Geburtstag, Köln- Weimar- Wien 2000, S.245-267; über den Einfluß des kaiserlichen Geheimen Rats und auch des Kaisers selbst auf die Rechtsprechung des RHR s. speziell für die Regierungszeit Rudolfs II. ST. EHRENPREIS, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576-1612, Göttingen 2006; s. auch schon DERS., Der Reichshofrat im System der Hofbehörden Kaiser Rudolfs II. (1576-1612). Organisation, Arbeitsabläufe, Entscheidungsprozesse, in: Mittlgn. des Österr. Staatsarchivs 45, 1997, S.l87205, hier S.l92 f., auch S.200; DERS., Die Tätigkeit des Reichshofrats um 1600 in der protestantischen Kritik, in: Sellert (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht, S.27-46, bes. S.31 f.; zur Einflußnahme des Kaiserhofs auf die reichshofrätliche Rechtsprechung, speziell im 18. Jahrhundert, s. P. RAUSCHER, Recht und Politik. Reichsjustiz und oberstrichterliches Amt des Kaisers im Spannungsfeld des preußisch-österreichischen Dualismus (1740-1785), in: Mittlgn. des Österr. Staatsarchivs 46, 1998, S.269-309.- J. J. MosER, Von der Teutschen Justiz-Verfassung, Tl.2, Frankfurt- Leipzig 1774 (Neudruck Osnabrück 1967), der S.3 ff. ausfuhrlieh den RHR behandelt und bes. S.l9 ff. immer im Kontrast zum RKG die besondere Herrschernähe des RHR herausarbeitet, bezeichnet ebd., S.20, den RHR als "Augapfel" des Kaisers.
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ständlich eine mit dem RKG konkurrierende Jurisdiktion in Justizangelegenheiten aus dem Reich aus und wurde von Rechtsuchenden aus dem Reich in Anspruch genommen - wenn auch zunächst in viel geringerem Umfang als das RKG. Mit der von Ferdinand I. 1559 erlassenen Hofratsordnung fand dieser Prozeß seinen Abschluß. Der kaiserliche Hofrat wird hier in § 2 erstmals auch als "unser reichshofrath" bezeichnet- kein Signal fiir irgendeine Mitträgerschaft der Reichsstände, sondern Ausdruck seiner justiziellen Zuständigkeit fiir das Reich. Endgültig seit den späten fiinfziger Jahren des 16. Jahrhunderts entwickelte sich also neben dem von Kaiser und Ständen gemeinsam getragenen RKG in Konkurrenz zu diesem ein zweites oberstes Gericht im Reich. Die Reichsstände hatten an dieser Entwicklung keinerlei Anteil genommen, aber sie hatten offenbar auch nicht dagegen protestiert. In Gestalt des RHR hatten sich die Kaiser als Gegenstück zum überwiegend ständisch geprägten RKG eine Art kaiserliches Reservatgericht geschaffen, das aufs engste an Person und Residenz des Herrschers gebunden und dem Einfluß der Reichsstände in jeder Hinsicht entzogen war. Zu allen oben aufgefiihrten Wesensmerkmalen, die fiir die Distanzierung des RKG von der Person des Reichsoberhaupts und fiir die Teilhabe der Reichsstände an der höchsten Gerichtsbarkeit als konstitutiv genannt worden waren, stellte der RHR als Ausfluß unbeschränkter kaiserlicher Gerichtshoheit das monarchische Gegenstück dar: Genau wie bei den spätmittelalterlichen Zentralgerichten fielen auch die Besetzung des RHR und seine Finanzierung ausschließlich in die Kompetenz des Kaisers, mit dessen Tod die Tätigkeit des RHR-Kollegiums erlosch. Die Rechtsprechung des RHR lag durchaus kaiserlicher Einflußnahme offen, vor allem politischer Beeinflussung seitens des kaiserlichen Hofes. Die gesetzlichen Grundlagen des RHR wurden ausschließlich vom Kaiser erlassen ohne jede ständische Mitsprache. Auch einer gemeinsam mit den Reichsständen durchgefiihrten Kontrolle des RHR analog den Visitationen des RKG verweigerten sich die Kaiser konsequene 0 • So verkörperte sich der der Reichsverfassung immanente Dualismus von Kaiser und Reichsständen, "die Einheit des Ganzen in der Zweiheit von Kaiser und Reich" 31 , auf der Ebene der obersten Gerichtsbarkeit in zweifacher Weise: zum einen in der beschriebenen verfassungsrechtlichen Konstruktion des RKG selbst, 30 Laut IPO Art. V § 56, worauf sich auch die RHRO von 1654 Tit.VII § 25 bezog, sollte allein der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler den RHR in Abständen visitieren, wozu es aber in der Praxistrotz wiederholter Zusagen in den Wahlkapitulationen des 18. Jahrhunderts niemals kam. Zum Tauziehen zwischen Reichsständen und Kaiser um Zustandekommen und Modus einer RHR-Visitation s. besonders ausführlich MasER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.255265; neuerdings detailliert mit weiteren Quellennachweisen SELLERT, Verhältnis, S.lll ff., bes. S.117 ff.; auch DERS., RHRO II, S.l2 ff. (zur Entstehungsgeschichte der RHRO 1654), S.255 f.; DERS., Mainzer Reichserzkanzler, bes. S.168 ff. 31
MüRAW, Reichsreform, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.l, S.62.
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zum anderen im Nebeneinander von RKG und RHR. Die Tatsache, daß das RKG die charakteristischen Strukturmerkmale des Reiches in viel höherem Maße und auf viel komplexere Art verkörperte als der RHR, zeigte sich auch darin, daß sich das RKG als Konsequenz aus dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 durch Zulassung von Anhängern der Augsburgischen Konfession dem neuen konfessionellen, den älteren politischen Antagonismus von Kaiser und Reichsständen hinfort überlagemden Dualismus viel eher öffuete als der RHR32 • Auch wurde das lange umstrittene Prinzip der konfessionellen Parität, das seit seiner Fixierung im Westfälischen Frieden für die Reichverfassung konstitutiv war, 1648 sofort auch für die konfessionelle Zusammensetzung des Kameralkollegiums maßgebend, während die Kaiser für das RHR-Kollegium aller Proteste der evangelischen Reichsstände zum Trotz nie eine wirkliche konfessionelle Parität, sondern nur die Aufuahme einiger weniger evangelischen Reichshofräte zugestanden33 . 32 Der Ausgsburger Reichsabschied von 1555 sowie die 1555 revidierte KGO konzedierten, daß "hinführo der Cammer-Richter [erg.: die Präsidenten] und Beysitzer sämbtlich und sonderlich, desgleichen alle andere Personen des Cammer-Gerichts, von beyden, der alten Religion und der Augspurgischen Confession, präsentiert und geordnet werden mögen", s. RA 1555 § 106, in: CJC, S.112 (danach hier zitiert), ebs. in: NVSRA Tl.3, S.33; entsprechend KGO 1555 Tl.l Tit.3 § 3, in: LAUFS, KGO 1555, S.76, sowie ebd., Einleitung, S.22. Diese Freistellung bedeutete aber noch keine numerische Gleichheit der beiden Konfessionen im Kameralkollegium; hierzu s. ausftihrlicher den Schluß von Kap.II.3 .1.1. 33 Das 1648/54 revidierte, fiir die Zusammensetzung des Kameralkollegiums maßgebliche Präsentationsschema achtete- abgesehen von den beiden 'überhängenden' kaiserlichen Assessoraten- auf strikte numerische Parität zwischen katholischen und evangelischen Beisitzerstellen. Es sah nämlich 26 katholische (davon 2 vom Kaiser zu besetzende) und 24 evangelische Assessorate vor; s. IPO 1648 Art. V § 1, §53, dazu ebd. §57; JRA 1654 § 29, § 169. Zur Einflihrung des Paritätsprinzips in das kammergerichtliche Präsentationsschema s. ausfUhrlieh mit Belegen Kap.II.3.1.2., bes. Kap.II.3.1.2.2.- Die allein vom Kaiser erlassene RHRO von 1654 Tit.1 § 3 (nach älterer Zählung: § 2) sah dagegen nur 6 evangelische von insgesamt 18 Reichshofräten (einschließlich des RHR-Präsidenten) vor, s. SELLERT, RHRO II, S.56-60; s. auch RHRO 1654 Tit.2 § 7, ebd., S.119 f. Selbst die Zahl von 6 evangelischen Reichshofräten wurde jedoch in der Folgezeit keineswegs immer realisiert. Auch die in IPO Art. V §54 und nochmals in RHRO 1654 Tit.1 § 3 fixierte Zusicherung, daß bei der Erörterung und Entscheidung von geistlichen und weltlichen Rechtssachen, die zwischen Parteien verschiedener Konfession strittig waren, eine paritätische Anzahl von Reichshofräten aus beiden Bekenntnissen herangezogen werden sollte, wurde in der Folge zur bloßen "paritas ficta"verwässert. Zu dieser Unterrepräsentation evangelischer Richter im RHR sowie zu dem am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, während des Krieges selbst (seit 1634/35) und vor allem auf dem Westfälischen Friedenskongreß vorausgegangenen vergeblichen Kampf der protestantischen Stände um zahlenparitätische Besetzung nicht nur des Kameralkollegiums, sondern auch des RHR-Kollegiums s. mit weiteren Nachweisen Kap.II.3.1.2.1. u. II.3.1.2.2.; auch schon JAHNS, Ringen, S.446 ff., 452 ff., 458 ff., 470 f.; auch SELLERT, Zur Entstehungsgeschichte der RHRO 1654, in: ders., RHRO II, S.29 ff., 33 ff. (ebd, S.35, fehlerhafte Interpretation von IPO Art.V §54), 41, ferner S.55-62 Anm.363-371 (ebd., S.57 u. 61, z.Tl. mißverständliche Verwendung des Begriffs "Religionsparität" für die Zeit nach 1648); s. auch schon MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.41 ff.; GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.55 ff., 74 ff.; L. WEBER, Die Parität der
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Schon auf Grund seiner dualistischen Verfassungskonstruktion mit einer erheblichen, wenn auch nicht völligen Loslösung vom Kaiser und einer um so stärkeren, wenn auch nicht ausschließlichen Anhindung an die Reichsstände hätte das RKG gerade angesichts der Konkurrenz des kaiserlichen RHR das "Kleinod" der Reichsstände sein müssen34 • In eben dieser freischwebenden Position, die das RKG im Verfassungsgefüge des Alten Reiches einnahm, war jedoch in der Umbruchphase der Reichsreform nicht nur die verfassungspolitische Modernität, sondern von Anbeginn an auch die Existenzproblematik des RKG begründee5. Die- im Vergleich zum RHR- bemerkenswerte formale Autonomie des RKG barg in sich zugleich den Keim größter Gefährdung. Denn zum einen wurde eine Institution, die auf so komplizierte Weise ein Spiegelbild der Reichsverfassung geworden war, auch in besonderer, gleichsam seismographischer Weise von Veränderungen und Krisen eben dieses politischen Systems betroffen. Zum anderen stand und fiel die Lebens- und Leistungsfähigkeit des RKG damit, ob seine Gründerväter nicht nur ihre partikularen Interessen verfolgten, sondern sich- um in der Sprache des 18. Jahrhunderts zu reden- als "Patrioten" verhielten, die sich dem Reichsganzen und seinen Institutionen in konstruktiver Weise verpflichtet fühlten 36 • Macht- und konfessionspolitische Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Reichsständen mußten auch das RKG einer Zerreißprobe Konfessionen in der Reichsverfassung von den Anfängen der Reformation bis zum Untergang des alten Reiches im Jahre 1806, Diss. iur. Bonn 1961, S.124 ff., 181 ff; H.CHR. HAFKE, Zuständigkeit in geistlichen Streitigkeiten und konfessionelle Besetzung der höchsten Reichsgerichte nach dem Westtalischen Friedensschluß, Diss. iur. Frankfurt a.M. 1972, S.179 ff., 185 ff.; kurz MORAW, Artikel Reichshofrat, in: HRG 4, 1990, Sp.634 f.; zusammenfassend SELLERT, Der Reichshofrat, S.34 f.; JAHNS, Die Reichsjustiz als Spiegel, S.459 ff. 34 PüTTER, Patriotische Abbildung, S. 40, 41 u.ö., nach einer Quelle von 1643, zit. ebd., S.37 f. Anm.y). 35 Hierzu und zum Folgenden s. auch schon JAHNS, Personalverfassung, S.65, 108 f. Die hier skizzierte Problematik wird auch kurz angesprochen von DUCHHARDT, Das Reichskammergericht (1996), S.4 f.; danach DERS., Das Reichskammergericht im Verfassungsgefüge, S.37 f.
36 Diese "patriotische Gesinnung" vor allem der Reichsstände war 1749 für PüTTER, Patriotische Abbildung, bes. S.82 f., 110, 119, die Voraussetzung ftir die Reform des RKG und überhaupt der höchsten Reichsgerichtsbarkeit und damit ftir die Rettung des Reiches. In diesen Kontext gehören auch: N. HAMMERSTEIN, Das politische Denken Friedrich Carl von Mosers, in: HZ 212, 1971, S.316-338, bes. 319 ff., 332 ff.; K.O. FRH. v. ARETIN, Reichspatriotismus, in: G. Birtsch (Hg.), Patriotismus= Aufklärung Jg.4, H.2; 1989, S.25-36, bes. S.28 ff.; s. auch ebd., S.3-5, die Einleitung von G. BIRTSCH, Erscheinungsformen des Patriotismus. Über den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ungemein häufigen Gebrauch der Wörter "Patriot", "patriotisch", "Patriotismus" und deren Bedeutungen s. die begriffsgeschichtliche Analyse von R. VIERHAUS, "Patriotismus" - Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung (zuerst 1980), wieder abgedruckt in: ders., Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1987, S.96-109, bes. S.104 ff.
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II.l. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
aussetzen. Desinteresse und mangelnde Fürsorge, ja Mißachtung vor allem seitens der Mächtigeren im Reich mußten das RKG in seinem Lebensnerv treffen. Für diese beiden eng miteinander korrelierenden Tatbestände ist die dreihundertjährige Geschichte des RKG eine fast permanente Illustration. Sie beeinflußten das Schicksal des Gerichts sicher nicht durchgehend in gleicher Intensität und wurden zweifellos in der Spätphase des Reiches besonders wirksam, als die zentrifugalen Kräfte den Reichsverband immer mehr zu sprengen drohten und damit auch die mit der Einheit des Reiches symbiotisch verbundene Existenzform des RKG in Frage stellten. Sie durchziehen jedoch von Anfang an wie ein roter Faden - im Sinne einer negativen Kontinuität- die Geschichte des RKG und überschatten auch seine Glanzperioden. Die konkrete historische Ausformung der genannten Sachverhalte im Wandel dreierJahrhundertekann im Rahmen dieser Analyse, in der es um die Darlegung der prinzipiellen, strukturbedingten Existenzproblematik des RKG geht, im einzelnen nicht nachgezeichnet werden. Nachdrücklich hingewiesen sei nur noch einmal darauf, daß die Gefahrdung dieses zentralen Rechtsprechungsorgans vor allem von jenen oben aufgeführten verfassungspolitischen Modemisierungsleistungen ausging, die das RKG weitgehend von der Person des Königs lösten und bei aller bis 1806 bestehenden Doppelbindung zu einem primär ständischen Gericht machten: Die im Dreißigjährigen Krieg einreißende, dann chronisch werdende Unterhaltsmisere des Kameralkollegiums und seine daraus resultierende Unterbesetzung mit all den negativen Auswirkungen auf die Leistungskraft des RKG waren das traurige Gegenstück zu jener in der Reichsreformphase durchgesetzten ständischen Errungenschaft, im Interesse einer Zurückdrängung des kaiserlichen Einflusses die Finanzierung des Kameralkollegiums zu übernehmen und die meisten RKG-Assessorate durch die Territorialgewalten zu besetzen. Die Zuständigkeit des Reichstags und seiner Deputationen für die gesetzlichen Grundlagen des RKG und deren Fortentwicklung- ebenfalls ein ständischer Erfolg der Reformzeit- wirkte sich im 17. und noch mehr im 18. Jahrhundert zunehmend nachteilig auf die Geschicke des RKG aus. Denn Reichstag bzw. Reichsversammlung, paralysiert durch konfessions- und machtpolitische Kontroversen und konzentriert auf ganz andere Interessen als auf das Engagement für eine wirksame unabhängige Reichsgerichtsbarkeit, waren - abgesehen von eher stoßweisen Novellierungen in Teilbereichen-trotz offenkundigen Änderungsbedarfs weder in der Lage noch willens, wirklich grundlegende, umfassende und zeitgemäße Reformen des gesamten Kameralwesens zu bewerkstelligen37. Die seit 1507 vorgesehene Kontrolle der kammergerichtliehen Tätigkeit 37 Dazu s., demonstriert an einzelnen Teilaspekten der Kameralverfassung und vor allem der Personalverfassung, schon die Ausftihrungen von JAHNS, Personalverfassung; vgl. auch WEITZEL, Kampf, S.342, 346, 352; zum allgemeinen Abflauen des "legatorischen Schwungs"
II.1.1. Das Kammergericht im Geftige der Reichsverfassung
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durch eine vom Kaiser und von einer repräsentativen Auswahl der Stände gemeinsam beschickte jährliche Visitation wäre flir die rasche Beseitigung von Mißständen, flir die flexible Anpassung der Kameralverfassung an gewandelte Verhältnisse und flir die Aufarbeitung der sich anhäufenden Revisionen höchst nötig gewesen. Sie fiel nach einer langen Serie regelmäßiger Visitationen Ende des 16. Jahrhunderts den konfessionspolitischen Spannungen zum Opfer, die auch das RKG belasteten und 1588 die ordentliche Visitation zum Erliegen brachten38 • Die beiden außerordentlichen Visitationen des 18. Jahrhunderts in der Reichsgesetzgebung seit Ende des 16. Jahrhunderts bis hin zur Stagnation s. DIESTELKAMP, Krise, S.57 f. (Zitat ebd., S.58), 63; LAUFS, Rechtsentwicklungen, S.133 f.; H. MOHNHAUPT, Gesetzgebung des Reichs und Recht im Reich vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: B. Dölemeyer- D. Klippe! (Hgg.), Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin 1998, S.83-108, hier S.102 f.; ebs. demnächst auch DERS., Die Institutionen der Staaten, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.2/3, Kap.II.B.2.d).- Wenn in der obigen Bewertung die von Kaiser und Reich zu verantwortenden Reformdefizite stärker herausgestellt werden als die phasenweisen Reformschübe, dann hat die Verfasserin die gesamten rund 150 Jahre seit 1648/54 bis zum Ende des Alten Reiches im Blick. Die im Kontext der beiden letzten außerordentlichen RKG-Visitationen im zweiten Jahrzehnt sowie vor allem in den siebzigerund achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts durchgeführten Kameraireformen sollen dadurch keinesfalls in ihrem Wert geschmälert werden; vgl. die kritischen Einwände zu JAHNS, Personalverfassung, S.107 ff., von K. HÄRTER, Neue Literatur zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in: Ius commune 21, 1994, S.215-240, hier S.223; s. auch DERS., Rekurs, S.250 ff. Aber selbst die im Zuge eines wiedererwachten Interesses an der Reichsverfassung und speziell an der Reichsjustiz erbrachten beachtlichen Reformleistungen in der Spätphase des Reiches betrafen nur einzelne Sektoren der Kameralverfassung, waren gerade im Bereich der kammergerichtliehen Personalverfassung ganz lückenhaft und kamen angesichts des säkularen Reformstaus, der das Kameralkollegium als Folge der vorausgegangenen gesetzgeberischen Unterlassungssünden viele Jahrzehnte lang belastet hatte, viel zu spät. Reformleistungen und Reformdefizite in den anderthalb Jahrhunderten nach dem Westfälischen Frieden, vor allem im 18. Jahrhundert, werden in den folgenden Kapiteln mehrfach erörtert. 38 Zur Lahmlegung der ordentlichen, seit 1556 abgesehen von wenigen Ausnahmen jährlich in Speyer zusammengetretenen RKG-Visitation ab 1588 s. SMEND, Reichskammergericht, S.190 ff.; MENCKE, Visitationen, S.111 ff. (mit Nachweis der älteren Kameralliteratur); mit weiteren Literaturhinweisen: JAHNS, Ringen, S.423 f. mit Anm.43.- Die 1984 veröffentlichte Arbeit von K. Mencke über die im 16. Jahrhundert durchgeführten regulären Visitationen des RKG hat zwar die ältere Kameralliteratur sowie gedruckte Quellen, jedoch keinerlei archivalisches Material ausgewertet und ist, was Arbeitsweise, Beschlüsse, soziale Zusammensetzung und reichspolitischen Kontext dieser Visitationen betrifft, dementsprechend unvollständig. Dasselbe gilt ftir die Dissertation von GöTTE, Der Jüngste Reichsabschied, welche in Kap.B.II.2.1. (S.32 ff.) über die RKG-Visitationen des 16. Jahrhunderts eine Reihe überprüfungsbedürftiger Aussagen über die Arbeit der Visitationskommissionen enthält (in den vervielfältigten Belegexemplaren fehlen die Seiten 33-38 dieses Kapitels; vgl. das Typoskript). Eine auch auf die im HHStA W (in den RKG-Visitationsakten der Reichskanzlei und im Mainzer Erzkanzlerarchiv) sowie in reichsständischen Archiven liegenden Visitationsakten gestützte gründliche Aufarbeitung der RKG-Visitationen in der Aufbau- und Blütezeit des RKG bleibt daher weiterhin ein Forschungsdesiderat; s. auch B. DIESTELKAMP, Tendenzen und Perspektiven in der Erforschung der Geschichte des Reichskammergerichts, in: Frieden durch Recht, S.453-456, hier S.455; DERS., Ungenutzte Quellen, S.116 ff.; LANZINNER, Reichsversammlungen, S.20 ff., bes. S.22 f.; H. DUCHHARDT, Das Reichskammergericht des
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
(1707-1713 und 1767-1776) waren trotz beachtlicher, allerdings auch längst überfalliger sektoraler Reformleistungen aufs Ganze gesehen nicht in der Lage, der am RKG aufgelaufenen Probleme im Sinne wirklich durchgreifender, zeitgemäßer Reformen Herr zu werden. Im Gegenteil zeigten gerade diese Visitationen und vor allem die letzte, wie leicht das RKG auf Grund seiner komplizierten Einbettung in die Reichsverfassung zu seinem eigenen Schaden zur Spielwiese für politische Konflikte werden konnte, sei es zwischen einem neuerstarkten, wieder aktiv ins Reich ausgreifenden habsburgischen Kaisertum und den Reichsständen, sei es zwischen konfessions- und machtpolitischen Fraktionen innerhalb der Fürstengruppe selbse 9 • konfessionellen Zeitalters als "Sozialkörper" - forschungsstrategische Anmerkungen, in: Chr. Roll (Hg.), Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschr. f. Horst Rabe, Frankfurt a.M. u.a. 1996, S.387-395, hier S.390 f.- Eine erste Durchsicht der einschlägigen RKGVisitationsakten in HHStA W, MEKA - RKGA sowie RK- RKG-Visit.A., ergab, daß die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts fast jährlich in Speyer tagenden Visitationskommissionen zügig, sachbezogen und reibungslos arbeiteten und in den wenigen Wochen ihrer Tätigkeit in Form von Visitationsabschieden und -memoralien äußerst positiv im Sinne einer raschen Abstellung von Mißständen sowie einer Fortentwicklung der Kameralverfassung wirkten, bevor dieses von Kaiser und Reich 1507 im Interesse einer funktionierenden Reichsjustiz geschaffene Kontrollorgan ein Opfer des sich verschärfenden konfessionellen Gegensatzes wurde. 39 V gl. auch SMEND, Reichskammergericht, S.232; PRESS, Reichskammergericht, bes. S.37ff.; RAUSCHER, Recht und Politik, S.303. -An einer umfassenden, modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Aufarbeitung der beiden außerordentlichen RKG-Visitationen des 18. Jahrhunderts fehlt es bisher, wasangesichtsder Komplexität der Materie, der reichspolitischen Verwicklungen sowie der ungeheuren Aktenmassen, welche vor allem die letzte Visitation von 1767-1776 hervorgebracht hat, kaum verwunderlich ist; s. zuletzt (mit Nachweis der älteren Literatur) K.O. V. ARETIN, Kaiser Joseph II. und die Reichskammergerichtsvisitation 1766-1776, in: ZNR 13, 1991, S.l29-144 (weitgehend identische, jedoch mit Anmerkungen versehene Fassung von DERS., Kaiser Joseph II. und die Reichskammergerichtsvisitation 1767-1776, Wetzlar 1991); DERS., Reichshofrat und Reichskammergericht in den Reichsreformplänen Kaiser Josephs II., in: B. Diestelkamp- I. Scheurmann (Hgg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn - Wetzlar 1997, S.51-81; s. auch DERS., Das Alte Reich 1648-1806, Bd.2: Kaisertradition und Österreichische Großmachtpolitik (1684-1745), Stuttgart 1997, S.175-178 (kursorischer, nicht auf eigenen Forschungen beruhender Abriß der äußeren Geschichte der Visitation 1707-1713), dazu S.500 f.; sowie vor allem DERS., ebd., Bd.3: Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus (1745-1806), Stuttgart 1997, S.l35-159 (Visitation 1767-1776), dazu S.560-567. Aretin arbeitet in seinen Studien zur letzten Visitation von 1767-1776 deren reichspolitischen Kontext (Reformabsichten Josephs II., Obstruktionspolitik fUhrender Reichsstände usw.) auf, wobei er außer der älteren Literatur politisch-diplomatische Akten der Wiener Reichskanzlei sowie der Staatskanzlei heranzieht. Dementsprechend betrachtet er das Tauziehen um die Reform der Reichsjustiz und speziell des RKG vorrangig aus der Perspektive des Wiener Hofes. Die von der Visitation selbst produzierten Akten bleiben von ihm unberücksichtigt, dementsprechend spielen die Beratungen und Beschlüsse der Visitation in seinen Untersuchungen nur eine geringe Rolle. Auch die detaillierte Arbeit von B. HETTFLEISCH, Politische Geschichte der Reichskammergerichtsvisitation unter Kaiser Joseph II., masch. Diss. Wien 1929, untersucht auf der Basis ein-
II.1.1. Das Kammergericht im Gefüge der Reichsverfassung
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Am Schicksal der Visitationen offenbart sich am deutlichsten das Paradox, daß das RKG einerseits wegen seiner ausschließlich gerichtlichen Funktion und seiner Isoliertheit in Speyer bzw. Wetzlar, fern von den Machtzentren des Reiches, viel stärker entpolitisiert war als der RHR mit seinen zusätzlichen Regierungs- und Verwaltungsaufgaben im Dienste einer europäischen Großmacht. Verstärkt wurde diese Entpolitisierung noch dadurch, daß die politisch wirklich brisanten Prozesse im Zuge der Überflügelung der Kameraljudikatur durch die Wiener Konkurrenz seit dem 17. Jahrhundert immer mehr und schließlich nahezu völlig an den RHR gezogen wurden40 . Auf der anderen Seite war das RKG wegen seiner komplexen Anhindung an Kaiser und Reichsstände und infolge seiner Abhängigkeit von einem konstruktiven Zusammenwirken aller das Reich tragenden Gewalten in hohem Maße, wenn auch auf sehr passive Weise, politisierbar. Denn es konnte jederzeit in das Spannungsfeld jener Kräfte geraten, die es etabliert hatten und fiir ein ungestörtes, wirkungsvolles Funktionieren ihrer Schöpfung hätten Sorge tragen sollen. Das Hauptuntersuchungsfeld dieser Arbeit, das kammergerichtliche Präsentationswesen, bietet vielfältige Varianten fiir die beschriebene widersprüchliche Problematik. schlägiger Wiener Akten den politischen Hintergrund dieser letzten RKG-Visitation. Dasselbe tut die auf kurkölnische Quellen gestützte Dissertation von TH. ROHR, Der deutsche Reichstag vom Hubertusburger Frieden bis zum Bayerischen Erbfolgekrieg (1763-1778), Bonn 1968. Zur zentralen Rolle der Reichsjustizreform in der josephinischen Reichspolitik in den ersten Regierungsjahren Josephs II. sowie zur letzten RKG-Visitation als "reichspolitisches Spielfeld" (S.303) auf einem Höhepunkt des österreichisch-preußischen Dualismus s. zusammenfassend auch RAuscHER, Recht und Politik, S.297 ff.- Zukünftige Forschungen müßten, was den reichspolitischen Rahmen dieser Visitation betrifft, nicht nur die archivalische Überlieferung anderer führender Reichsstände, vor allem derjenigen Kurbraunschweigs und Preußens als der Hauptgegenspieler der josephinischen Reformabsichten, heranziehen und das politisch-soziale Profil der Visitationssubdelegierten untersuchen. Sie müßten vor allem auch das weiterhin größte Forschungsdesiderat in Angriff nehmen: die systematische Aufarbeitung der internen Vorgänge in den vier Klassen der Visitation, vor allem deren Leistungen und Unterlassungen im Hinblick auf eine zeitgemäße Reform der Kameralverfassung. Entsprechendes gilt für die vergleichsweise unkompliziertere außerordentliche Visitation von 1707-1713. Die vorliegende Untersuchung kann diese Forschungslücken nur punktuell schließen. 40 Dazu s. zuletzt M. HUGHES, Law and Politics in Eighteenth Century Germany. The Imperial Aulic Council in the Reign ofCharles VI, Woodbridge 1988; PRESS, Reichskammergericht, S.28 ff.; DERS., Reichshofrat, bes. S.356 ff., DIESTELKAMP, Rechtsfälle, 8.15 f.; vgl. auch MOSER, Justiz-Verfassung Tl.2, S.ll; GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.42; SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.125 f.; F. HERTZ, Die Rechtsprechung der höchsten Reichsgerichte im römisch-deutschen Reich und ihre politische Bedeutung, in: MIÖG 69, 1961, S.331-358, hier S.333; F. RANIERI, Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar. Kontinuität und Diskontinuität im Vergleich zur Speyerer Zeit, Wetzlar 1988; s. neuerdings auch das Kapitel über den zeitlichen Verlauf des Geschäftsanfalls im 17. und 18. Jahrhundert in der Untersuchung von A. BAUMANN, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert, KölnWeimar- Wien 2001, hier S.17-31.
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
So wurde die ursprüngliche reichsverfassungsrechtliche Modernität des RKG, je länger es mit dem Reich existierte und alterte, desto mehr zu seinem Schicksal41.
2. Die rechtswissenschaftliche Bedeutung des Kammergerichts: vom Vorreiter zur Nachhut Die beschriebene, aus der dualistischen Verfassungskonstruktion von Reich und Gericht resultierende Existenzproblematik des RKG rührte aus dem - der gesamten frühneuzeitlichen Reichsverfassung immanenten- Widerspruch, daß vor allem die größeren Reichsstände schon in der Reichsreformphase zwar einerseits das Reich in seinen verschiedenen Funktionen hatten mitgestalten wollen und dadurch zur stärkeren Verdichtung des Reiches beigetragen hatten, daß sie aber andererseits "die größere Bewegungsfreiheit eines weniger verdichteten Reiches" vorzogen42 und "möglichste Freiheit vom übergreifenden Verband" anstrebten43. Dasselbe grundlegende Paradoxon kam ebenso in der justiziellen Zuständigkeit und Wirksamkeit des RKG zur Geltung, und zwar um so intensiver, je mehr sich das politische System des Reiches zugunsten der partikularen Kräfte verfestigte 44 . Hier sind aber vor allen Schwächen und Beeinträchtigungen zunächst Aufgaben und Bedeutung des RKG als Rechtsprechungsorgan zu beschreiben. Der innovativen Anpassungsleistung, die Kaiser und Reich 1495 mit der Errichtung eines von ihnen gemeinsam getragenen obersten Gerichts für die Reichsverfassung vollbrachten, lief in der Aufbau- und Konsolidierungsphase des RKG ein Modernisierungsvorgang auf dem Gebiet der justiziellen Zuständigkeit sowie im engeren Bereich der Rechtswissenschaft parallel. In diesen beiden einander überlappenden Wirkungsfeldern konnte das RKG von einem zentralen Ort her auf vielfältige Weise aktiv zu jenem Verdichtungsprozeß beitragen, der für die Verfassungsentwicklung im Heiligen Römischen Reich am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit charakteristisch ist45 . 41 Dazu schon JAHNS, Personalverfassung. 42 MORA w, Reichsreform, in: Deutsche V erwaltungsgeschichte, Bd.1, S. 61. 43 LAUFS, Rechtsentwicklungen, S.80; DERS., Artikel Reichsreform, in: HRG 4, 1990,
Sp.737. 44 45
Vgl. DIESTELKAMP, Krise, 8.63.
Zu diesem Verdichtungsprozeß s. grundsätzlich die von P. Moraw verfaßten §§ 1-4 des I. Kapitels in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.1, 8.21-65, bes. S.25 ff., 61 ff.; programmatisch schon im Titel und leitmotivisch in der Darstellung: DERS., Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung; zusammenfassend auch DERS., Königliche Herrschaft und Verwaltung im spätmittelalterlichen Reich (ca. 1350-1450), in: R. Schneider (Hg.), Das spätmit-
II.1.2. Die rechtswissenschaftliche Bedeutung des Kammergerichts
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Zunächst sei hier die rechtswissenschaftliche Bedeutung des RKG, seine "ebenso beträchtliche wie nachhaltige Wirksamkeit im Dienste ... einer wissenschaftlich fundierten, professionellen Rechtspflege" 46 , skizziert. Die Pionierleistung des RKG für die Rezeption des gelehrten Rechts in Deutschland ist von der neueren rechtshistorischen Forschung nachdrücklich hervorgehoben, wenn auch noch nicht in allen Einzelheiten genau erforscht worden47 • Dieser Rezeptionsvorgang, der "bedeutungsvollste Vorgang der modernen kontinentaleuropäischen Rechtsgeschichte" 48 , wird heute nicht mehr nur als Übernahme materiellrechtlicher und verfahrensrechtlicher Normen und Institute aus dem von der mittelalterlichen italienischen Rechtswissenschaft bearbeiteten römisch-kanonischen Recht verstanden, sondern viel umfassender als ein säkularer Prozeß der "Verwissenschaftlichung" und Rationalisierung des gesamten Rechtswesens, als eine tiefgreifende Veränderung der Rechtskultur49 • Zu diesem komplexen Modernitelalterliehe Königtum im europäischen Vergleich, Sigmaringen 1987, S.185-200, hier S.194 f.; seitdem wiederholt in weiteren Aufsätzen P. Moraws (s.o. Anm.1). LAUFS, Artikel Reichskammergericht, in: HRG 4, 1990, Sp.655; ähnlich DERS., KGO 1555, Einleitung, S.4. 46
47 Unabhängig von solchen noch offenen Einzelaspekten besteht aber in der rechtshistorischen Forschung Übereinstimmung in der Bewertung des RKG als "Pionier des gelehrten Rechts in Deutschland" bzw. als "Schrittmacher der praktischen Rezeption" im Reich, s. WIEACKER, Privatrechtsgeschichte, S.l 05, 175 ff., 182 ff. (Zitate ebd., S.l 05, 177); s. auch LAUFS, Rechtsentwicklungen, Kap.III, S.41-69: Die Rezeption des römischen Rechts, hier S.60 ff.; DERS., Artikel Reichskammergericht, in: HRG 4, 1990, Sp.658; PRESS, Reichskammergericht, S.17 ("Motor der Professionalisierung und der Romanisierung") sowie die informative Einführung in den Problemkreis: Rezeption im Reich und in den Territorien von K. KROESCHELL, Die Rezeption der gelehrten Rechte und ihre Bedeutung für die Bildung des Territorialstaates, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.1, Kap.IV § 1, S.279-288, bes. S.279-285; F. RANIERI, Artikel Römisches Recht, Rezeption, in: Lexikon des Mittelalters 7, 1995, Sp.1014-1016, bes. Sp.1015 ("einen ersten Kulminationspunkt und einen zentralen Beschleunigungsfaktor"); ebs. DERS., Rezeption und Prozeßrecht am Reichskammergericht, in: Frieden durch Recht, S.l70-173, bes. S.171; DIESTELKAMP, Rechtsfälle, S.30; W. SELLERT, Zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in Deutschland von den Anfängen bis zum Beginn der frühen Neuzeit: Überblick, Diskussionsstand und Ergebnisse, in: H. Boockmann u.a. (Hgg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Tl.l, Göttingen 1998, S.115-166, hier S.136; zur Rolle des RKG im Rezeptionsvorgang nur sehr allgemein: T. REPGEN, Ius Commune, in: H.-P. Haferkamp- T. Repgen (Hgg.), Usus modernus pandectarum. Römisches Recht, Deutsches Recht und Naturrecht in der Frühen Neuzeit. Klaus Luig zum 70. Geburtstag, Köln- Weimar- Wien 2007, S.157-173, hier S.163; s. auch die in den folgenden Anmerkungen zitierte weitere Literatur. 48 B. DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: H.-J. Becker u.a. (Hgg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschr. f. Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, Aalen 1976, S.435-480, hier S.438. 49 Zum Verständnis der Rezeption als Prozeß der Verwissenschaftlichung und Rationalisierung des Rechtslebens s. grundlegend WIEACKER, Privatrechtsgeschichte, S.131 ff., 225 ff., 243 f. u.ö.; im Anschluß daran die neuere rechtshistorische Forschung einschließlich der Hand- und Lehrbücher, so W. TRUSEN, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
sierungsprozeß gehörte als wesentliche personelle Komponente die Entstehung eines gelehrten Juristenstandes, der durch ein Universitätsstudium in den gelehrten Rechten sowie in der wissenschaftlichen, logisch-begrifflichen und rational überprüfbaren Methode ihrer praktischen Anwendung geschult war50 • Die Beitrag zur Geschichte der Frührezeption, Wiesbaden 1962, S.3, 237; COING, Epochen, S.52 f.; DERS., Einleitung, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.1, S.1-35, hier S.25 ff.; s. auch die weiteren Einzelbeiträge in diesem Handbuch; KROESCHELL, Die Rezeption der gelehrten Rechte, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.l, S.284; LAUFS, Rechtsentwicklungen, darin Kap.III: Die Rezeption des römischen Rechts, S.41-69, hier bes. S.43; H. COING, Europäisches Privatrecht, Bd.l: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), München 1985, S.7 ff., bes. S.37 f.; H. KIEFNER, Artikel Rezeption (privatrechtlich), in: HRG 4, 1990, Sp.970-984, bes. Sp.971; D. GIESEN, Artikel Rezeption fremder Rechte, in: ebd., Sp.995-1004, bes. Sp.995 f.; DIESTELKAMP, Verwissenschaftlichung, bes. S.l16; RANIERI, Artikel Römisches Recht, Rezeption, in: Lexikon des Mittelalters 7, 1995, Sp.1014-1016 (mit weiteren Literaturhinweisen); DERS., Rezeption und Prozeßrecht, S.l70-173; SELLERT, Rezeption, S.l17 u. passim; s. auch REPGEN, Ius Commune, S.l60 f., 169 f. 50 Hierzu und zum Folgenden s. aus der Fülle der Literatur über die gelehrten Juristen und ihr Eindringen in immer mehr Tätigkeitsfelder bis hinein in die oberste weltliche Gerichtsbarkeit im Laufe des Spätmittelalters: TRUSEN, Anfange; H. CoiNG, Römisches Recht in Deutschland, Mailand 1964, bes. S.77 ff.; WIEACKER, Privatrechtsgeschichte, S.69 f., 93 ff., 152 ff.; H. LIEBERICH, Die gelehrten Räte. Staat und Juristen in Baiern in der Frühzeit der Rezeption, in: ZBLG 27, 1964, S.120-189; DERS., Artikel Gelehrte Räte, in: HRG 1, 1971, Sp.l4741477; G. BUCHDA, Artikel Gelehrte Richter, in: ebd., Sp.1477-1481; K.H. BURMEISTER, Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich, Wiesbaden 1974, bes. S.7 ff.; RÄBIGER, Artikel Kammergericht, königliches, in: HRG 2, 1978, hier Sp.578 f.; H. COING, Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.1, S.39-128, hier S.85-90: Berufund soziale Stellung der Juristen, dazu Bibliographie S.96 f.; N. HORN, Die legistische Literatur der Kommentatoren und der Ausbreitung des gelehrten Rechts, in: ebd., S.261-382, hier bes. S.264-268: Ausbreitung des gelehrten Rechts, S.268 ff.: Länderübersicht, darin bes. S.283-287: Deutschland; W. TRUSEN, Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche, in: ebd., S.467-504; N. HORN, Soziale Stellung und Funktion der Berufsjuristen in der Frühzeit der Europäischen Rechtswissenschaft, in: G. Dilcher- N. Horn (Hgg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd.4: Rechtsgeschichte, München 1978, S.l25-144, bes. S.l29 ff.; H. BooCKMANN, Zur Mentalität spätmittelalterlicher gelehrter Räte, in: HZ 233, 1981, S.295-316; KROESCHELL, Die Rezeption der gelehrten Rechte, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.1, S.279-288, bes. S.283, 285 ff.; DIESTELKAMP, Krise; DERS., Vom Königlichen Hofgericht; kürzer DERS., Verwissenschaftlichung; CoiNG, Europäisches Privatrecht, Bd.l, bes. S.l1 f.; P. MORA w, Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Könige des späten Mittelalters (1273-1493), in: R. Schnur (Hg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986, S.77-147; s. auch die weiteren Aufsätze dieses Sammelbandes, bes. D. STIEVERMANN, Die gelehrten Juristen der Herrschaft Württemberg im 15. Jahrhundert, ebd., S.229-271; I. MÄNNL, Die gelehrten Juristen in den deutschen Territorien im späten Mittelalter, masch. Diss. phil. Gießen 1987 (auch als Mikrofiche-Ausg.); s. jetzt vor allem R.CHR. SCHWINGES (Hg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, Berlin 1996, darin u.a. D. WILLOWEIT, Juristen im mittelalterlichen Franken. Ausbreitung und Profil einer neuen Elite, ebd., S.225-267; I. MÄNNL, Die gelehrten Juristen im Dienst der Territorialherren im Norden und Nordosten des Reiches von 1250 bis 1440, ebd., S.269-290; R.A. MÜLLER, Zur Akademisierung des Hofrates. Beamtenkarrieren im Herzogtum Bayern 1450-1650, ebd., S.291-307; W. REINHARD (Hg.), PowerElitesand State Building, Oxford 1996 (franz. 1996); P.-J. HEINIG,
II.1.2. Die rechtswissenschaftliche Bedeutung des Kammergerichts
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in diesem umfassenden Sinn verstandene Umwälzung der europäischen Rechtskultur hatte im deutschen Rechtsleben lange vor 1495 begonnen. Sie wurde vorbereitet im 12. Jahrhundert, trat im 13. Jahrhundert zunächst in der Rechtsprechung der geistlichen Gerichte zutage, dann in Diplomatie und Verwaltung und schließlich seit Mitte des 15. Jahrhunderts im Bereich der weltlichen Gerichtsbarkeit. Auch an der Praxis des königlichen Kammergerichts läßt sich im Laufe des 15. Jahrhunderts der Rezeptionsfortschritt ablesen. Er äußerte sich in der Anwendung einzelner römisch-kanonischer Prozeßgrundsätze und materiellrechtlicher Normen sowie vor allem in der wachsenden Zahl gelehrter Urteiler, dieneben den weiterhin tätigen ungelehrten Urteilern herangezogen wurden. Das 1495 reorganisierte RKG stellte also auch im Hinblick auf die Rezeption des gelehrten Rechts keineswegs etwas prinzipiell Neues dar, sondern stand nur in der Kontinuität einer lange vorher begonnenen Entwicklung. Das RKG wurde nun aber zum Kristallisationskern all dieser Veränderungen und verlieh damit der Rezeption des römischen Rechts im Reich enorme Schubkraft und Breitenwirkung. Als oberstes Gericht mit Appellationszuständigkeit, und das hieß: als Kontrollorgan fiir die territorialen Gerichtsinstanzen war es auf einheitliche Rechtsanwendung und auf ein einheitliches V erfahren angewiesen. Dafür stand angesichts der extremen Territorialisierung und Zersplitterung des altdeutschen Rechts das 'ius commune' bereit51 . So wurden durch die Wormser KGO von 1495 und mehr noch durch deren Nachfolgeordnungen, die sich in "Wachstumsringen" um die noch sehr fragmentarische, Neues mit Altem vermischende erste Ordnung herumlegten52 , das Verfahren nach römisch-kanonischen Prozeßgrundsätzen sowie eine am gemeinen Recht orientierte Rechtsprechung zur reichsgesetzlichen Norm erhoben. Das als Kameralprozeß bekannt gewordene kammergerichtliche Prozeßverfahren und das vom RKG angewendete materielle Recht wurden im Sinne der Romanisierung stufenweise weiterentwickelt und systemaGelehrte Juristen im Dienst der römisch-deutschen Könige des 15. Jahrhunderts, in: Boockmann u.a. (Hgg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Tl.l, S.167-184; I. MÄNNL, Gelehrte Juristen im Dienst der deutschen Territorialherren am Beispiel von Kurmainz (1250-1440), in: ebd., S.185-198; B. KocH, Räte auf deutschen Reichsversammlungen. Zur Entwicklung der politischen Funktionselite im 15. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 1999; s. auch SELLERT, Rezeption, in: ebd., bes. S.133 ff.; in etwas anderem Kontext: S. JAHNS, Juristenkarrieren in der Frühen Neuzeit, in: BDLG 131, 1995, S.113-134, hier S.119 ff.; Forschungsbericht und Forschungsbilanz mit zahlreichen weiteren Literaturangaben: P. MORAW, Über gelehrte Juristen im deutschen Spätmittelalter, in: J. Petersohn (Hg.), Mediaevalia Augiensia, Stuttgart 2001, S.125-147. 51
WIEACKER, Privatrechtsgeschichte, S.105, auch S.111 f., 133, 177, 182 f. u.ö.; s. auch TRUSEN, Anfange, S.182 f.; DICK, Entwicklung, S.220; DIESTELKAMP, Krise, S.59 ff.; SELLERT, Rezeption, S.148, 157. 52 Das treffende Bild von den "Wachstumsringen" bei: LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.9; DICK, Entwicklung, S.32, auch S.221.
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II.l. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
t1s1ert, bis dieser ganze Rezeptionsvorgang in der großen KGO von 1548/55, dem "größten, vollständigsten Civilprozeßgesetz, das vom heiligen römischen Reiche deutscher Nation zu Wege gebracht wurde", seinen Höhepunkt und Abschluß fand 53 • Konsequenterweise wurde dem reorganisierten RKG auch die Tätigkeit gelehrter, d.h. im römischen Recht und in den wissenschaftlichen Methoden seiner Anwendung geschulter Urteiler zur Vorschrift gemacht. Zunächst galt diese Forderung nur für die Hälfte der 1495 auf 16 festgesetzten Assessoren. Jedoch wur53
Die hier und auch von anderen neueren Autoren gern zitierte, schon geradezu klassisch gewordene Bewertung der KGO von 1548/55 stammt von J. CHR. SCHWARTZ, Vierhundert Jahre deutscher Civilprozeß-Gesetzgebung. Darstellungen und Studien zur deutschen Rechtsgeschichte, Berlin 1898, S.87; vgl. CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd.2, S.456; LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.21; DICK, Entwicklung, S.57; W. SELLERT, Artikel Prozeß des Reichskammergerichts, in: HRG 4, 1990, Sp.30.- Über den hauptsächlich aufrömisch-rechtlichen Verfahrensgrundsätzen basierenden Kameralprozeß s. die weiter unten folgenden Ausführungen mit weiteren Nachweisen.- Ausgangspunkt für die in diesem Kontext nicht erforderliche Untersuchung der Rolle, die das reorganisierte RKG bei der Rezeption materiellrechtlicher Normen aus dem ius commune spielte, ist der bekannte § 3 der KGO von 1495, der dem Richterkollegium des RKG die Anwendung des gemeinen Rechts neben den deutschrechtlichen partikularen Rechtsquellen zur Vorschrift machte. Danach wurden Kammerrichter und Beisitzer in ihrem Amtseid darauf verpflichtet, "nach des Reichs gemairren rechten, auch nach redlichen, erbernund leydenlichen ordnungen, statutenund gewonheiten der Ftt., Hftt. und gericht, die fur sy bracht werden, ... zu richten" (RTA MR 5/1,1, S.388). Als Folge dieser Rechtsanwendungsvorschrift wurde die Rechtsprechung des RKG zu einer wichtigen Einbruchstelle für die Romanisierung der Rechtspraxis im Reich. Das von der bisherigen rechtshistorischen Forschung auf der Basis der zeitgenössischen gelehrten Literatur konstruierte Rechtsanwendungsmodell ging allerdings davon aus, daß die in KGO 1495 § 3 enthaltene und in den Ordnungen von 1548, 1555 und 1613 wiederholte Rechtsanwendungsvorschrift mit der Vorbringensklausel "die fur sy bracht werden" trotzder an sich nur subsidiären Geltung des ius commune wegen der auf dem heimischen Recht lastenden Beweispflicht in der Praxis der kammergerichtliehen Rechtsanwendung zu einem Anwendungsvorrang des gemeinen Rechts und zu einer Zurückdrängung des Partikularrechts geführt habe (Zusanlffienfassung dieser bisherigen Forschungsmeinung mit Nachweis der einschlägigen Literatur bei RANIERI, Artikel Römisches Recht, Rezeption, in: Lexikon des Mittelalters 7, 1995, Sp.1014-1016; mit kritischen Akzenten, eine Analyse der Prozeßpraxis einfordernd, auch schon DERS., Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 2 Tlbde., Köln- Wien 1985, hier Tlbd.l, bes. S.173 f. mit Literaturübersicht in Anm.59, S.238 ff.). Demgegenüber zeigt jetzt die neueste rechtshistorische Studie zum Problem der frühneuzeitlichen Rechtsanwendung anhand einer Analyse von RKG-Prozessen, daß das Partikularrecht in der prozessualen Praxis des RKG dem römisch-kanonischen Recht zwar keineswegs gleichgestellt war, daß in der Prozeßwirklichkeit partikulare Rechtsquellen neben den Rechtssätzen des ius commune aber dennoch eine vielfaltige Rolle spielten; s. P. ÜESTMANN, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, Frankfurt a.M. 2002. Zu der von Oestmann eingehend referierten bisherigen Forschungsmeinung und zu den von ihm vorgelegten neuen Ergebnissen zum frühneuzeitlichen Rechtsanwendungsproblem s. in anderem Zusanlffienhang etwas ausführlicher Kap.III.l.l. mit Anm.2 ff., vor allem Anm.3. Ungeachtet dessen steht die wichtige Rolle, die das RKG in seiner Gründungs- und Aufbauzeit bei der materiell-rechtlichen Rezeption des gemeinen Rechts im Reich spielte, aber außer Frage.
II.1.2. Die rechtswissenschaftliche Bedeutung des Kammergerichts
65
de auch diese Professionalisierung der RKG-Beisitzer in der Folge immer weiter fortgetrieben und von der Reichsgesetzgebung auch auf das ritterbürtige Element ausgedehnt54 • So stand das RKG seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, am Ende seiner Aufbau- und Konsolidierungsphase, als ein voll romanisiertes und professionalisiertes, und das hieß auf dem Hintergrund der damaligen Rechtsentwicklung im Reich: modernes und vorbildhaftes Gericht da. Als solches verhalf es kraft seiner Funktion als oberstes Gericht der Rezeption endgültig zum Siegeszug auch in der weltlichen Gerichtsbarkeit, zunächst im Rahmen des Reiches und von dort ausstrahlend auch in den Territorien. Damit leistete das RKG an exponierter Stelle einen nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag zur Schaffung einer die regionale Rechtsvielfalt übergreifenden Rechtsordnung und damit zur Förderung von Rechtseinheit sowie Rechtssicherheit im Reich, dievermittelt über die Tätigkeit dieser höchsten Gerichtsinstanz- in einem allmählichen Überformungs- und Assimiliationsprozeß anstelle der bisherigen Rechtszersplitterung und Rechtsunsicherheit traten. Die konstruktiven Kräfte des Reiches hatten, indem sie 1495 das reorganisierte RKG errichteten und bis 1555 seine gesetzlichen Grundlagen, besonders sein Verfahren und seine Kompetenzen, jenseits allen Streits um verfassungspolitisch brisante Fragen geduldig und konsequent weiterentwickelten, den Weg zur Überwindung der spätmittelalterlichen Rechtskrise geebnet55 • Das RKG selbst schritt dann auf diesem Weg kraft seiner Existenz und- aktiv- kraft seiner justiziellen Tätigkeit, seiner Rechtsanwendungspraxis sowie seiner maßgeblichen, praxisbezogenen Mitwirkung an der stufenweisen Ausgestaltung des Kameralprozesses erfolgreich weiter. Die Art und Weise, wie das RKG als Zentralgericht die Ausbreitung der Rezeption nach unten in das territoriale Rechts- und Gerichtswesen förderte, war 54 Die betreffende Bestimmung von 1495 in: KGO 1495 § 1 (RTA MR 5/1,1, 8.384); zu den Einzelheiten der hier nur kurz angesprochenen weiteren Entwicklung nach 1495 hin zu einer immer intensiveren Professionalisierung der gesamten Assessorengruppe s. mit weiteren Quellennachweisen Kap.III.2.1; vgl. auch Kap.III.3.1.; s. hier vorerst 8MEND, Reichskammergericht, 8.296 ff., bes. 8.298 ff.; H. DUCHHARDT, Die kurmainzischen Reichskammergerichtsassessoren, in: ZRG GA 94, 1977, 8.89-128, hier 8.92-95; kurz auch DERS., Das Reichskammergericht im Verfassungsgeftige, 8.36; DIESTELKAMP, Krise, bes. 8.54; DERS., Vom Königlichen Hofgericht, bes. 8.56 ff.; auch DERS., Rechtsfälle, 8.19; DERS., Verwissenschaftlichung, 8.115; JAHNS, Personalverfassung, 8.71 ff.; kurz auch 8ELLERT, Rezeption, 8.136.Daß sich ebenso wie in den anderen Bereichen des kammergerichtliehen Normensystems auch hinsichtlich des Leistungsprofils der Assessoren die anspruchsvolle, eine Idealität umschreibende Norm und die weniger ideale Wirklichkeit nicht immer deckten, ist selbstverständlich und muß gerade ftir die Übergangs- und Entwicklungszeit des 16. Jahrhunderts berücksichtigt werden. Zeitgenössische Klagen über mangelnde Qualifikation von RKG-Beisitzem legen davon ein beredtes Zeugnis ab; vgl. dazu auch 8MEND, Reichskammergericht, 8.300 f.; DUCHHARDT, "8ozialkörper", 8.390 f. 55
Dazu s. im einzelnen DIESTELKAMP, Krise.
66
11.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
äußerst komplex, teils direkt, teils indirekt56 • Diese Förderung reichte von der Durchsetzung römisch-kanonischer Prozeßgrundsätze, der subsidiären Anwendung des materiellen ius commune und der wachsenden Dominanz gelehrter Richter in den territorialen Ober-, dann auch Untergerichten über die komplette Einrichtung landesherrlicher Oberinstanzen nach dem unmittelbaren Vorbild der Kammergerichtsordnung bis hin zur Aufzeichnung von partikularen Gewohnheitsrechten. Letzteres erfolgte meist im Sinne einer mehr oder weniger starken Romanisierung und diente damit- bei aller noch verbleibenden Pluralitätebenfalls der Rechtsangleichung und der Verwissenschaftlichung des Rechtslebens auch in den Territorien. Wichtigster Motor in dem skizzierten Übermittlungs- und Assimilationsvorgang war die Appellationszuständigkeit des RKG. Sie veranlaßte auch die territorialen Vorinstanzen- und zwar zum Teil auch ohne entsprechende direkte Vorschrift- zur Anwendung des gelehrten Privat- und Prozeßrechts und zwang zur Einrichtung eines geordneten Instanzenzugs innerhalb der Territorien57 • Aber nicht nur kraft seiner aktiven Rolle als Berufungsgericht, sondern sogar infolge seiner Beschränkung durch 'privilegia de non appellando' förderte das 56 Hierzu und zum Folgenden s. vor allem CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd.2, S.286-290, 340, 363-373; WIEACKER, Privatrechtsgeschichte, S.l76-179, 182 f., 189-203; DAWSON, Oracles, S.l91 ff.; DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.449-452; s. auch G. BUCHDA, Artikel Gerichtsverfahren, in: HRG I, 1971, Sp.l551-1563, hier Sp.1557; DICK, Entwicklung, S.70, 223; R. ScHULZE, Artikel Reformation (Rechtsquelle), in: HRG 4, 1990, Sp.468-472; LAUFS, Artikel Reichskammergericht, in: ebd., Sp.659; KIEFNER, Artikel Rezeption (privatrechtlich), in: ebd., Sp.976, 978 f.; RANIERI, Artikel Römisches Recht, Rezeption, in: Lexikon des Mittelalters 7, 1995, Sp.l015 f.; DERS., Rezeption und Prozeßrecht, bes. S.l73; SELLERT, Rezeption, S.l36 u. passim; Beispiele flir den modernisierenden Einfluß des RKG auf die territoriale Gerichtsbarkeit im Verlauf des 16. Jahrhunderts: H. GABEL, Der Einfluß des Reichskammergerichts auf territoriale Rechtsordnungen im Spiegel der Personengeschichte, in: Diestelkamp (Hg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts, S.75-104 (u.a. betr. die von dem ehemaligen Kammerrichter Fstbf. Johann v. Hoya 1571 durchgeflihrte, am Kameralprozeß orientierte Justizreform im Hochstift Münster); D. STRAUCH, Das Hohe Weltliche Gericht zu Köln, in: D. Laum u.a. (Hgg.), Rheinische Justiz. Geschichte und Gegenwart. 175 Jahre Oberlandesgericht Köln, Köln 1994, S. 743-831, hier S.817 ff. - Zur Rolle des Subsidiaritätsprinzips bei der Anwendung des materiellen gelehrten Rechts s. schon oben Anm.53.
57 Zu dieser Wirkung der reichskammergerichtliehen Appellationszuständigkeit s. vor allem G. BUCHDA, Artikel Appellation, in: HRG 1, 1971, Sp.l96-200, hier Sp.l97 f.; LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.43 f.; WEITZEL, Kampf, S.341 ff.; DICK, Entwicklung, S.70, 223; DIESTELKAMP, Krise, S.55 f.; RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.l, S.l73, 179 u. passim; kurz DERS., Rezeption und Prozeßrecht, S.173; LAUFS, Artikel Reichskammergericht, in: HRG 4, 1990, Sp.659; auch DAWSON, Oracles, S.l91 ff.; zur spätmittelalterlichen Vorgeschichte dieser Entwicklung zur Zeit des königlichen Kammergerichts s. B. DIESTELKAMP, Die Durchsetzung des Rechtsmittels der Appellation im weltlichen Prozeßrecht Deutschlands, Stuttgart 1998, bes. S.l9 ff.- Zur Appellationszuständigkeit selbst s. die weiter unten folgenden Ausführungen zur Zuständigkeit des RKG.
II.1.2. Die rechtswissenschaftliche Bedeutung des Kammergerichts
67
RKG den Aufbau eines modernen Gerichtswesens; denn unbeschränkte Appellationsprivilegien wurden nur bei Errichtung oder Erneuerung eigener Appellationsinstanzen im Territorium des begünstigten Landesherrn erteilt. Diese passive Rolle spielte das RKG- ebenso wie der RHR- nicht nur in der Aufbauphase des 16. Jahrhunderts, sondern bis zum Ende des Alten Reiches, wie die im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 (§ 33) erteilten letzten illimitierten Appellationsprivilegien und ihre gerichtsorganisatorischen Wirkungen zeigenss . Einen großen Einfluß auf die Rezeption gewann auch die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von den RKG-Assessoren Joachim Mynsinger v. Frundeck (1514-1588) und Andreas Gaill (1526-1587) begründete Kameraljurisprudenz, die sogenannte 'Kameralistik', welche die vorwiegend römisch-rechtlich orientierte Rechtsprechung des RKG wissenschaftlich verarbeitete und publizierte. Sie trug auf diese Weise wesentlich zur Bekanntheit und Verbreitung des Kameralprozesses bei59 • Dadurch erhielten das 'ius camerale' sowie der am RKG gewohnheitsrechtlich praktizierte 'stilus curiae ', damit verbunden Rechtsdenken 58 Dazu CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte Bd.2, 8.287 f.; WIEACKER, Privatrechtsgeschichte, 8.177 f.; G. BUCHDA, Artikel Appellationsprivilegien, in: HRG 1, 1971, 8p.200 f.; DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, 8.452; U. ErSENHARDT (Hg.) Die kaiserlichen privilegia de non appellando, Köln- Wien 1980, darin die einleitende Abhandlung 8.1-65: Die Bedeutung der kaiserlichen privilegia de non appellando für die Entstehung der deutschen Territorialstaaten, hier bes. 8.54 ff., 57 ff.; kürzere Fassung dieser Einleitung: DERS., Entstehung, Entwicklung und Bedeutung der kaiserlichen privilegia de non appellando, in: consilium magnum 1473-1973, Brüssel 1977, 8.319-341, hier bes. 8.338 ff.; RANIERI, Rezeption und Prozeßrecht, 8.173. 59 Zur 'jurisprudentia cameralis' in der zweiten Hälfte des 16. und in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts sowie zu deren berühmtesten Vertretern Mynsinger (1548-1555 RKG-Ass. des Oberrhein. Kreises) und Gaill (1558-1568 kurtrier. RKG-Ass.) s. vor allem R. v. 8TINTZING, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 1. Abt., München- Leipzig 1880, 8.481-521, bes. 8.485-495 (Mynsinger), 495-502 (Gail); ferner WIEACKER, Privatrechtsgeschichte, 8. 174, 177; W. 8ELLERT, Artikel Gail, Andreas, in: HRG 1, 1971, 8p.13711373; H. GEHRKE, [Rechtsprechungs- und Konsiliensammlungen, 5.:] Deutsches Reich, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.2/2, München 1976, 8.1343-1398, hier I. Rechtsprechungssammlungen, 8.1343-1372, bes. 8.1360 f.; LAUFS, KGO 1555, Einleitung, 8.4; 8. 8CHUMANN, Joachim Mynsinger von Frundeck (1514-1588). Herzoglicher Kanzler in Wolfenbüttel- Rechtsgelehrter- Humanist. Zur Biographie eines Juristen im 16. Jahrhundert, Wiesbaden 1983; DIESTELKAMP, Krise, 8.56 f.; B. KOEHLER - W. 8ELLERT, Artikel Mynsinger, in: HRG 3, 1984, 8p.810-812; M. 8TOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd.1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, München 1988, 8.135 ff.; K. v. KEMPIS, Andreas Gaill (1526-1587). Zum Leben und Werk eines Juristen der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. u.a. 1988; DERS., Andreas Gaill (1526-1587), in: Rheinische Lebensbilder Bd.l5, Köln 1995, 8.65-80; K. NEHLSEN-V. 8TRYK, Andreas Gaill, in: Laum u.a. (Hgg.), Rheinische Justiz, 8.701-715; J. ÜTTO, Artikel Gaill, Andreas, in: M. 8tolleis (Hg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, 8.228 f.; DERS., Artikel Mynsinger von Frundeck, Joachim, in: ebd., 8.462; Frieden durch Recht, 8.159 ff.; s. auch DUCHHARDT, Das Reichskammergericht (1996), 8.8 f.
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
und Methodik gelehrter Juristen sehr früh eine "bedeutende Strahlkraft" fiir das ganze Reich60 . Das RKG diente somit auch auf der Ebene der Rechtswissenschaft und der Rechtsfortbildung der fortschreitenden Integration des Reichsverbands. Überhaupt leisteten Spruchpraxis und Prozeßgrundsätze des RKG und die darauf fußende umfangreiche Kameralliteratur bis zum Ende des Alten Reiches einen bedeutenden Beitrag zur "politisch-juristischen Kultur" in Deutschland61 . In dieser Hinsicht war die Breitenwirkung des RKG um vieles größer als die des RHR, dessen Judikatur und Verfahren erst mit erheblicher Verspätung im 18. Jahrhundert Gegenstand wissenschaftlicher Publikationen und Erörterungen wurden62 . Auch im Zusammenhang der Frage nach der Leistung des RKG fiir die deutsche Rechtswissenschaft stößt man auf eine der vielen Antinomien, die zur Existenz dieser Institution gehören: Die Entwicklung des RKG zu einem "juridischen Meinungsforum" hing auch mit der zum Ende hin immer sichtbarer werdenden Schwäche und Ohnmacht dieser im Verfassungsgefiige des Reiches gleichsam freischwebenden Institution zusammen. Diese Isoliertheit und Machtlosigkeit des Gerichts, die besonders hohe Abhängigkeit seines reibungslosen Funktionierens von der Akzeptanz seiner Jurisdiktion durch die politischen Kräfte im Reich "zwang die Kameralen zu stärkerer Reflexion und besserer juristischer Begründung" ihrer Urteile. Umgekehrt war die Entscheidungspraxis des RHR als Folge seiner engeren Anhindung an das Reichsoberhaupt und seiner dadurch bedingten stärkeren Ausrichtung an den Interessen des Wiener Hofes weniger von wissenschaftlich-normativem als von politisch-praktischem Denken geprägt. Infolgedessen war der RHR bei seiner Urteilstindung zwar pragmatischer und beweglicher als das RKG; sein Beitrag zur Rechtsentwicklung wurde dadurch jedoch gemessen an demjenigen des RKG geschmälert63 • Die Geltung des vorwiegend auf dem römischen Recht beruhenden ius commune dauerte in Deutschland allen Modifikationen und Gegenströmungen zum Trotz bis in die späte Neuzeit fort, sie wurde endgültig erst durch das Bürgerli-
60 LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.4 (ebd. Zitat); ähnlich B. HEUSINGER, Vom Reichskammergericht, seinen Nachwirkungen und seinem Verhältnis zu den heutigen Zentralgerichten, Karlsruhe 1972, S.22; vgl. auch PRESS, Reichskammergericht, S.40 f. 61
STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd.l, S.l38.
62
SELLERT, Prozeßgrundsätze, S.39 ff.; GEHRKE, Deutsches Reich, I. Rechtsprechungssammlungen, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.2/2, S.l346; DIESTELKAMP, Krise, S.56 f.; SELLERT, Der Reichshofrat, S.42 ff.; s. auch PRESS, Reichskammergericht, S.41. 63 Der hier angestellte Vergleich zwischen RKG und RHR in Anlehnung an PRESS, Reichskammergericht, S.42 (Zitat ebd.); zum RKG als "juridisches Meinungsforum" ebd., S.41.
II.1.2. Die rechtswissenschaftliche Bedeutung des Kammergerichts
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ehe Gesetzbuch von 1900 beendet64 • Der aktive Part, den das RKG als Schrittmacher der Rezeption bei der Verbreitung dieses gelehrten Rechts übernommen hatte, war jedoch schon mit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts im wesentlichen ausgespielt. Im 17. und 18. Jahrhundert kann von einer solch nachhaltigen Beeinflussung des Zivil- und Prozeßrechts durch die Kameraljurisprudenz, wie sie für das 16. Jahrhundert zu konstatieren ist, keine Rede mehr sein. Der das 17. und noch das 18. Jahrhundert beherrschende 'usus modernus pandectarum' relativierte den bisher unangefochtenen reichsrechtlichen Geltungsanspruch des römischen Rechts wieder stärker zugunsten der Partikularrechte, denen er "auch in der Judikatur der gelehrten Territorialgerichte zu neuer Bedeutung verhalf' 65 • In der Spätphase des usus modernus bemühte sich dann das aufgeklärte Naturbzw. Vernunftrecht schon um die innere Überwindung des römischen Rechts 66 • An diesen neueren, primär von den Territorien ausgehenden Rechtsentwicklungen nahm das RKG, das sich im Zeitalter des Absolutismus einer neuen Flut von Partikularrechten aus den erstarkenden Territorialstaaten gegenübersah, keinen eigenständigen, mitgestaltenden Anteil mehr. "Es verlor damit zwangsläufig seine im 16. Jahrhundert unangefochten ausgeübte Funktion als richtungweisendes Gericht in Deutschland. Nunmehr war es nur noch ein gelehrtes Gericht unter anderen, wenn es auch weiter in besonderem Ansehen stand" 67 • Wie in anderen Bereichen verlor das RKG also auch auf rechtswissenschaftlichem Gebiet in der Spätphase seiner Existenz seine ursprüngliche Modernität 64 H. SCHLOSSER, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Ein Studienbuch, 3., völlig überarb. u. erw. Aufl. Heidelberg- Karlsruhe 1979, S.3, 49 f.; auch THIEME, Artikel Gemeines Recht, in: HRG 1, 1971, Sp.1506-1510, hier Sp.1507 f. 65 DIESTELKAMP, Krise, S. 62 f. (Zitat ebd., S.62); vgl. DERS., Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.474; zu der hier angesprochenen Erschütterung des bisherigen Geltungsverhältnisses von gemeinem und partikularem Recht vgl. auch BECKER, Artikel Partikularrecht, in: HRG 3, 1984, Sp.l523-1525, sowie die in der folgenden Anmerkung zitierte Literatur zum usus modemus. Zur deutlichen Aufwertung des Partikularrechts auch in der kammergerichtliehen Prozeßpraxis im weiteren Verlauf der Frühen Neuzeit s. in anderem Zusammenhang auch unten Kap.III.l.l. mit Anm.3 ff. (ebd. Belege). 66 Zumusus modemussowie zur Epoche des Natur- bzw. Vernunftrechts s. die einschlägigen Hand- und Lehrbücher zur allgemeinen deutschen Rechts- sowie zur Privatrechtsgeschichte, so WIEACKER, Privatrechtsgeschichte, S.204 ff., 249 ff.; A. SöLLNER, Die Literatur zum gemeinen und partikularen Recht in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.211, München 1977, S.501-614 (mit umfangreichen weiteren Nachweisen), zum usus modemus bes. ebd., S.501-511; SCHLOSSER, Grundzüge, S.32 ff., 38 ff.; s. auch COING, Europäisches Privatrecht, Bd.l, bes. S.69 ff. (zum rationalistischen Naturrecht und seinem Einfluß auf das ius commune); jetzt (mit weiteren Nachweisen): K. Luro, Artikel Usus modemus, in: HRG 5, 1998, Sp.628-636; DERS., Artikel Vernunftrecht, in: ebd., Sp. 781-790; HAFERKAMP- REPGEN (Hgg.), Usus modemus pandectarum, darin bes. T. REPGEN, Ius Commune, S.164 ff.. 67
DIESTELKAMP, Krise, S.62.
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II.l. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
und Vorreiterrolle, es wurde auch in dieser Hinsicht ein Opfer jener "Beharrsamkeit'', die für die frühneuzeitliche Reichsverfassung so charakteristisch ist68 . Die Leistung des RKG für die Verbreitung des gelehrten Zivil- und Prozeßrechts und damit für Rechtsvereinheitlichung und Verwissenschaftlichung der Rechtspflege im Alten Reich wird durch diese Einsicht keineswegs gemindert. Die Tatsache, daß das RKG im 18. Jahrhundert in rechtswissenschaftlicher Hinsicht in einem anderen Umfeld arbeitete als im 16. Jahrhundert, ist für die Fragestellungen dieser Arbeit von Bedeutung: Wenn RKG-Assessoren in der Spätphase des Reiches nicht mehr wie noch im Aufbaujahrhundert Träger eines modernen und gefragten, aber noch wenig verbreiteten Fachwissens waren, sondern 'nur' noch eine kleine herausragende, weil im 'ius camerale' besonders bewanderte Gruppe in einem großen Heer gemeinrechtlich geschulter Juristen, dann mußte sich dies auch auf die späteren Karriereverläufe dieser Beisitzer auswirken. Denn ihr 'Wert' für territoriale Gerichts- und Verwaltungsbehörden stellte sich im 18. Jahrhundert anders dar als in früheren Zeiten69 . So gewinnt die Frage nach Kontinuität und Wandel in der rechtswissenschaftliehen Bedeutung des RKG auch sozialgeschichtliche Relevanz. Die hier für die einzelnen Dimensionen kammergerichtlicher Existenz verfolgte Entwicklung von anfanglieber Modernität hin zu Bedeutungsverlust und Veralten ist für den prozessualen Bereich noch etwas genauer nachzuzeichnen. Der weitgehend auf kanonischer und römischer Prozeßtradition beruhende, seit den Kammergerichtsordnungen von 1548 und 1555 voll ausgebildete sogenannte 'ältere' Kameralprozeß war ein für damalige Verhältnisse modernes und modellhaftes Verfahren, das auch auf dem Gebiet der Prozeßtechnik dem Bedürfnis der Zeit nach Verwissenschaftlichung und Rationalität der Rechtspflege entsprach70. Im gelehrten Prozeß und damit auch im Kameralprozeß ging es nicht 68 LAUFS, Rechtsentwicklungen, 8.81; DERS., Artikel Reichsreform, in: HRG 4, 1990, Sp.738 f.
69 Dazu s. bereits die sich auf die gesamten dreihundert Jahre kammergerichtlicher Existenz erstreckende Studie von S. JAHNS, Durchgangsposten oder Lebensstellung? Das Kammergerichtsassessorat in den Karriereverläufen frühneuzeitlicher Juristen, in: BaUenberg Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz, 8.271-309, hier 8.277-280, 283 ff., bes. 287 f.; kurz auch DIES., Juristenkarrieren, bes. 8.120, 126 f.; vgl. im anderen Kontext Kap.IV.2.3.3. ("Nahe Sipp- oder Schwägerschafft") mit Anm.ll2. Zur Verweildauer und Altersstruktur der 92 RKG-Beisitzer, die im engeren Untersuchungszeitraum 1740-1806 amtierten und in Teil II der vorliegenden Untersuchung mit Biographien vertreten sind, s. mit gerraueren Zahlenangaben Kap.II.2.2.4. (Dienstrecht, Richterethik und Funktionen) mit Anm.123 ff.
70 Zu dem in Teil3 der KGO von 1548 und 1555 reichsgesetzlich fixierten Normensystem des im folgenden kurz charakterisierten älteren Kameralprozesses, seiner Genese und seinen verfahrensrechtlichen Einzelheiten sowie seinen Wirkungen s. grundlegend DICK, Entwicklung; einen guten Überblick bietet W. SELLERT, Artikel Prozeß des Reichskammergerichts, in: HRG 4, 1990, Sp.29-36 (beide mit ausführlicher Bibliographie); dazu ferner (in Auswahl): CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte Bd.2, 8.456 ff.; WIEACKER, Privatrechtsgeschichte,
II.1.2. Die rechtswissenschaftliche Bedeutung des Kammergerichts
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mehr wie noch im mündlichen altdeutschen Verfahren um Rechtsfindung, sondern um Rechtsanwendung. Die von den Parteien vorgetragenen rechtserheblichen Tatsachen wurden nach vorgegebenen Rechtsnormen beurteilt. Die starke Formalisierung des Verfahrens, sein Ablauf nach einem System komplizierter prozessualer Vorschriften machten Tatsachenerhebung und Beurteilung für Fachleute überprüfbar 71 . Diesen Zielen dienten die charakteristischen Prozeßgrundsätze des Kameralprozesses, vor allem seine weitgehende Schriftlichkeit72 , das Terminsystem, die Verhandlungs- und Dipositionsmaxime sowie das Artikelverfahren, das sogenannte 'Artikulieren' des Prozeßstoffs in den Schriftsätzen der Parteien. Zugleich sollten die Verfahrensgrundsätze des Kameralprozesses auch der Prozeßkonzentration und -beschleunigung dienen. Gerade hier verkehrten sich die guten Absichten der Gesetzesväter aber in ihr Gegenteil: Die immer wieder beklagte allzu lange Dauer der am RKG geführten Prozesse hing neben S.182 ff.; G. BUCHDA, Artikel Artikelprozeß, in: HRG 1, 1971, Sp.233-235; DERS., Artikel Gerichtsverfahren, in: ebd., Sp.1551-1563, bes. Sp.1557 f.; SELLERT, Prozeßgrundsätze; LAUFS, KGO 1555, Einleitung, passim, bes. S.44 ff.; G. WESENER, Artikel Prozeßmaximen, in: HRG 4, 1990, Sp.55-62, bes. Sp.57 f.; DERS., Artikel Prozeßverschleppung, in: ebd., Sp.68-70; LAUFS, Artikel Reichskammergericht, in: ebd., bes. Sp.658 f.; kurz SELLERT, Artikel Zivilprozeß, Zivilprozeßordnung, in: ebd. 5, 1998, Sp.1742-1750, hier Sp.1744; Frieden durch Recht, S.147 ff; s. auch K.W. NöRR, Ein Kapitel aus der Geschichte der Rechtsprechung: Die Rota Romana, in: Ius commune 5, 1975, S.192-209 (u.a. S.202-204 über den Einfluß der Rota auf Verfassung und Verfahren des RKG); J. JACOBI, Besitzschutz vor dem Reichskammergericht Die friedenssichernde Funktion der Besitzschutzklagen am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert, dargestellt anhand von Kameralisten, Frankfurt a.M. u.a. 1998, hier S.55 ff. Die Dissertation von H. WIGGENHORN, Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des alten Reiches, Diss. iur. Münster 1966, beschäftigt sich in erster Linie mit dem seit 1654 geltenden 'jüngeren' Kameralprozeß; s. dazu die weiteren Ausführungen.- RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, S.195 ff., weist zu Anfang des 6. Kapitels über "Verfahrensrecht und Prozeßrealität" völlig zu Recht darauf hin, daß die gesetzlichen Grundlagen des kammergerichtliehen Prozeßverfahrens samt allen rechtstechnischen Einzelheiten durch die Arbeit von B. Dick und andereneuere Untersuchungen zwar jetzt weitgehend untersucht seien. Die "Realität des kammergerichtliehen Verfahrens in der prozessualen Praxis" sei dagegen heute noch kaum erforscht. Die Frage, wieweit die in den Kammergerichtsordnungen fixierten reichsgesetzlichen Vorschriften zum Prozeßverfahren in der Gerichtspraxis tatsächlich angewendet worden seien, könne nur durch eine eingehende Analyse der Prozeßakten selbst geklärt werden (ebd., S.196 f.). Um dieses Verhältnis zwischen formal gültigen Verfahrensnormen und Verfahrenswirklichkeit geht es hier aber nicht, sondern um die Einsicht, daß die das RKG tragenden Kräfte, Kaiser und Reich, in enger Kooperation mit den Kameraljuristen in der Aufbauphase alles daransetzten, auch im verfahrensrechtlichen Bereich für das reorganisierte RKG ein für damalige Verhältnisse modernes und modellhaftes Normensystem zu entwickeln. 71
In enger Anlehnung an DIESTELKAMP, Krise, S.55; vgl. auch DERS., Rechtsfälle, S.29 f.; DERS., Durchsetzung, S.23; WIEACKER, Privatrechtsgeschichte, S.188. 72 Relikt der Mündlichkeit waren die Audienzen; dazu s. auch B. DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskammergerichts, in: J. Hausmann (Hg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts, Köln- Weimar- Wien 1995, S.91-124, hier S.97, 114 ff.
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Il.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
anderen, nicht prozeßimmanenten Ursachen auch mit den genannten Verfahrensgrundsätzen zusammen, die den Kameralprozeß starr, schwerfällig und unflexibel gestalteten und den das Verfahren beherrschenden Parteien vielfältige Möglichkeiten zur Prozeßverschleppung gaben73 • So modern und zukunftsweisend der Kameralprozeß also vor allem in der Frühphase des RKG war, so stark er die Entwicklung des Zivilprozesses in Deutschland bis in die Moderne hinein prägte, so sehr er und die von ihm beeinflußten territorialen Verfahrensordnungen eine rationale, versachlichte Rechtsprechung förderten - für das RKG wurde sein Prozeßrecht wegen seiner hier nur knapp skizzierten Mängel zugleich zu einer Schwachstelle, die ihm bis zum Ende des Alten Reiches erhalten blieb. Zwar beschlossen Kaiser und Reich 1654 eine Reform des Kameralprozesses, die als "Ruhmestitel" des Jüngsten Reichsabschieds, als das neben der KGO von 1555 "bedeutendste Prozeßgesetz des alten Reiches" gerühmt wird 74 . Mit dieser reformierten Verfahrensordnung hatte das RKG in der zweiten Hälfte seines Bestehens wesentlichen Anteil an der Ausbildung des sogenannten gemeinen Zivil73 Dazu s. die bereits zitierte Literatur zum Kameralprozeß.- RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.l, S.211 ff., setzt sich kritisch mit der vor allem bei älteren Autoren ebenso beliebten wie unbesehenen Tradierung der Klage über die endlose Dauer der RKG-Prozesse auseinander und fordert demgegenüber, das Problem der Prozeßdauer differenzierter zu behandeln. Sein Weg, anhand des Aktenmaterials zeitliche Differenzierungen aufzuspüren, fuhrt ihn zu dem Ergebnis, daß die Verfahrensdauer in den allerersten Jahren der reichskammergerichtliehen Tätigkeit kurz war, dann aber seit den dreißiger Jahren ständig zunahm, so daß in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, vor allem zu seinem Ende hin, die überlange Dauer der RKG-Prozesse dann tatsächlich und auch flir die nächsten zwei Jahrhunderte ein großes Problem darstellte; dazu s. auch DIESTELKAMP, Rechtsfalle, S.33, 35 f. Diestelkamp gibt ebd., S.36, zu bedenken, daß als Ursache für die lange Prozeßdauer "das Desinteresse vieler Parteien an der Fortflihrung des Verfahrens mindestensgenauso wichtig war" wie andere Faktoren. 74 "Ruhmestitel": A. LAUFS, Vorwort, in: ders. (Hg.), Der jüngste Reichsabschied von 1654, Bem- Frankfurt a.M. 1975 [im folgenden zitiert: LAUFS, JRA 1654], S.3; "das bedeutendste Prozeßgesetz des alten Reiches": SMEND, Reichskammergericht, S.211; danach auch LAUFS, Artikel Jüngster Reichsabschied (JRA), in: HRG 2, 1978, Sp.468-472, hier Sp.470; DICK, Entwicklung, S.62 f. Zu dem auf den Reformen des JRA 1654 basierendenjüngeren Kameralprozeß und seiner Bewertung sowie zu dem im folgenden erwähnten gemeinen Zivilprozeß s. ferner die bereits oben zum älteren Kameralprozeß aufgeflihrte Literatur, vor allem WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß; auch CoNRAD, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd.2, S.459 f.; SELLERT, Artikel Prozeß des Reichskammergerichts, in: HRG 4, 1990, hier Sp.33 f.; vgl. auch H. SCHLOSSER, Situation, Zielsetzung und Perspektiven der rechtshistorischen Forschung zum Zivilprozeß, in: ZNR 4, 1982, S.42-51, hier S.49; neueste, in einzelnen Passagen korrekturbzw. ergänzungsbedürftige Untersuchung der 1654 in Regensburg verabschiedeten Prozeßreform und ihrer späteren Auswirkungen s. in der Dissertation von ÜÖTTE, Der Jüngste Reichsabschied, bes. S.134 ff., 181 ff. Die Dissertation von A. MüLLER, Der Regensburger Reichstag von 1653/54. Eine Studie zur Entwicklung des Alten Reiches nach dem Westfälischen Frieden, Frankfurt a.M. u.a. 1992, widmet den im JRA enthaltenen Kameraireformen unter Berufung aufweitgehend veraltete Literatur nur eine knappe Seite (S.232 f.).- Eine informative und anschauliche Schilderung der Verfahrenschritte (vor allem im Rahmen des jüngeren Kameralprozesses) s. bei DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskammergerichts.
11.1.2. Die rechtswissenschaftliche Bedeutung des Kammergerichts
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prozesses. Trotz aller Verbesserungen zugunsten einer Prozeßkonzentration und -beschleunigung änderten jedoch auch diese Neuerungen des Jüngsten Reichsabschieds am eigentlichen Wesen des mit Formalitäten überladenen Kameralprozesses, an der Schwerfalligkeit und Starrheit des Verfahrens und den ihm innewohnenden Möglichkeiten zur Prozeßverschleppung wenig. Im 18. Jahrhundert unternahm dann die Reichsversammlung keinen Versuch mehr zu einer an sich überfalligen, umfassenden und zeitgemäßen Reform des Kameralprozesses. Das Desinteresse gerade der mächtigeren Reichsstände am RKG führte also auch auf diesem Gebiet zu einer fatalen Passivität der Reichsgesetzgebung 75 . Die neue Geschäftsordnung, die der Reichsschluß von 1775 dem Wetzlarer Gericht zudiktierte, erwies sich sogar als "Schwabenstreich": Sie hemmte den Geschäftsablauf, statt die Effizienz zu erhöhen76 • Während man im aufgeklärten Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits mit einer vom naturrechtliehen Denken geprägten grundlegenden Reform des gemeinen Zivilprozesses experi-
75 WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, S.257, mit Nachweis der zeitgenössischen Autoren Moser, Häberlin und Pütter; vgl. WEITZEL, Kampf, S.354.- Auch der RKG-Assessor Johann Heinrich Frh. v. Harpprecht konstatierte 1767, der ganze dritte, den Kameralprozeß behandelnde Teil der KGO 1555 müsse "fast ganz und gar umgearbeitet werden, wozumahlen viele Stellen des Reichs-Abschieds 1654 puncto Justitiae eine anderweite Einrichtung nach geänderten Zeit-Umständen ebenmässig erfordern wollen", s. DERS., Geschichte des Kaiserlichen und Reichs-Cammer-Gerichts unter der Glorwürdigsten Regierung Kaisers Carl des Fünften als eine Fortsetzung des Cammergerichtlichen Staats-Archivs, T1.5, Frankfurt a.M. 1767, Vorbericht, S.(29) § 41. Die letzte RKG-Visitation gab 1767/68 einigen Assessoren den Auftrag, die drei Teile des Konzepts der KGO von 1613 (eine damals wegen der konfessionspolitischen Lähmung des Reichstags nicht verabschiedete Revision der KGO von 1555) auf der Grundlage der neueren Reichsgesetze, vor allem des Jüngsten Reichsabschieds, zu ergänzen und zu verbessern. Die daraufhin vorgelegten Überarbeitungen, darunter die von dem kurpfalzischen RKG-Assessor Johann Wilhelm Riedesel Frhn. zu Eisenbach verfaßte Revision des dritten Teils über den Kameralprozeß, wurden jedoch von der 1776 scheitemden RKGVisitation bzw. vom Reichstag als letztlich zuständigen Gesetzgeber nicht in den Rang einer neuen KGO erhoben; dazu s. mit weiteren Nachweisen Biogr. 39 (J.W. Riedesel), Abschnitt VIII/IX. 76 K.O.
FRH. v. ARETIN, Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, Tl.l: Darstellung, Wiesbaden 1967, S.102 ("Schwabenstreich"); s. auch SMEND, Reichskammergericht, S.239 f.; Druck des erst 1782 am RKG realisierten Reichsschlusses von 1775 in: J. ST. PüTTER, Neuester Reichsschluß über einige Verbesserungen des kaiserlichen und Reichs-Cammergerichts mit einer Vorrede zu näherer Erläuterung des cammergerichtlichen Präsentationswesens, Göttingen 1776; auch in: J. J. SCHMAUSS, Corpus Juris Publici, hg. von G. Sehnmann und H. G. Franken, verm. Aufl. Leipzig 1794 (Nachdr. Bildesheim- New York 1973), S.l528-1539.- Die Hauptmängel der im Reichsschluß von 1775 verordneten neuen Geschäftsordnung wurden erst durch einen weiteren Reichsschluß von 1788 behoben; s. dazu Kap.II.2.2.4.; eingehende neueste Studie zu diesem Thema: W. SELLERT, Verfahrensbeschleunigung am Reichskammergericht durch Reformen seiner Spruchkörperstruktur, in: Ulrich Wackerbarth u.a. (Hgg.), Festschrift für Ulrich Eisenhardt zum 70. Geburtstag, München 2007, S.139-153, bes. S.l43 ff.
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
mentierte77 , mußte man in Wetzlar trotz mancher Lockerungen im einzelnen noch nach den starren Regeln des Kameralprozesses verfahren. Man schleppte ganz in Übereinstimmung mit den "konservierenden Tendenzen" der Reichsverfassung78 auch in prozeßrechtlicher Hinsicht an einem Ballast, der zu der ursprünglichen Modellfunktion dieses Gerichts in Widerspruch stand. Die Verkehrung anfänglicher Modernität des RKG in spätere Funktionsschwäche begegnet also auch auf prozeßrechtlichem Gebiet. Die wachsende Bevorzugung des RHR vor dem RKG beruhte neben anderen Gründen darauf, daß jener dank seines flexibleren Verfahrens schneller war als das in das Prokrustesbett des Karneralprozesses eingezwängte RKG79 . 3. Normative Zuständigkeit undfaktische Wirksamkeit des Kammergerichts: Kontinuität und Funktionswandel Dem Schicksal, während seiner dreihundertjährigen Existenz in einem Spannungsfeld von widersprüchlichen Tatbeständen und gegenläufigen Entwicklungen agieren zu müssen, entging das RKG auch im Rahmen seiner justiziellen Zuständigkeit und Wirksamkeit nicht. Da es sich hier um den eigentlichen Daseinszweck des RKG im Dienste der Öffentlichkeit handelte, lagen den Zeitgenossen als den eigentlichen Betroffenen die Spannungsverhältnisse auf dem Gebiet der kammergerichtliehen Judikatur noch deutlicher vor Augen als die weiter oben skizzierten Antinomien, die aus der verfassungsrechtlichen Konstruktion des RKG und seinem rechtswissenschaftliehen Standort herrührten. Wenn Johann Stephan Pütter 1749 das Justizwesen des Alten Reiches und speziell das RKG, "wie es seyn sollte?", konfrontierte mit der Erfahrung, "wie es würklich ist?", brachte er die hier gemeinte Problematik programmatisch auf einen Nenner80 . Im einzelnen geht es, um nur die Hauptpole dieses Spannungsfelds abzustecken, um das Verhältnis von formaler, d.h. durch die reichsgesetzlichen Normen zugeschriebener Zuständigkeit und tatsächlicher Wirksamkeit 77 Dazu (mit weiteren Nachweisen) SCHLOSSER, Grundzüge, S.55; auch DERS., Situation, Zielsetzung und Perspektiven, S.49; SELLERT, Artikel Zivilprozeß, Zivilprozeßordnung, in: HRG 5, 1998, hier Sp.1744 f.; s. auch CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte Bd.2, S.466-469; BUCHDA, Artikel Gerichtsverfahren, in: HRG 1, 1971, hier Sp.1560 f.
78 PRESS, Reichskammergericht, S.17. 79 Zum flexibleren RHR-Verfahren s. GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.40, 45; SELLERT, Zu-
ständigkeitsabgrenzung, S.125 ff.; DERS., Prozeßgrundsätze, S.47 ff.; DERS., Artikel Prozeß des Reichshofrats, in: HRG 4, 1990, Sp.22-29 (mit umfangreichen Nachweisen, vor allem auch der vor 1806 erschienenen Literatur), bes. Sp.24; DERS., Der Reichshofrat, S.40 ff.; kurz MORA W, Artikel Reichshofrat, in: HRG 4, Sp.634.
80 PüTTER, Patriotische Abbildung, S.7.
II.l.3. Normative Zuständigkeit und faktische Wirksamkeit
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der Kameraljudikatur, um Kontinuitäten und Funktionswandel eben dieser faktischen Wirksamkeit durch die zeitlichen Schichtungen dreier Jahrhunderte hindurch bis hin zur Auflösung des RKG. Es geht um die Janusköpfigkeit von realer Leistung und Bedeutung seiner justiziellen Tätigkeit für das Rechts- und Verfassungssystem des Alten Reiches einerseits, ebenso realen Funktionsschwächen, Beeinträchtigungen und tendenziellen Bedeutungsverlusten andererseits. Und es geht auch hier letztlich um die enorme Spannung zwischen anfänglicher Modernität und ausgreifender Aktivität sowie späterem Veralten und Defensive. Schon für sich allein betrachtet gehört das normative Regelwerk über die justizielle Zuständigkeit des RKG zu einem der kompliziertesten Themenbereiche, denen man sich bei der Beschäftigung mit diesem höchsten Gericht gegenüber sieht. Ein ebenso schlecht überschaubares und schwer zu durchdringendes Normendickicht stellen nur noch diejenigen Vorschriften dar, die das Präsentationswesen, also die Besetzung der RKG-Assessorate, regelten 81 . Diese Entsprechung ist nicht ohne Grund: Sowohl in den Zuständigkeitsbestimmungen als auch im präsentationsrechtlichen Normensystem spiegelt sich die komplizierte, von den Gestaltungsprinzipien Dualismus und Territorialisierung beherrschte Struktur der gesamten Reichsverfassung mitsamt der hierarchischen Gliederung von Reichsständen und Territorien. Im Rahmen dieses Überblicks kann die formale Zuständigkeit des RKG, sein gesetzlich vorgegebener Kompetenzrahmen, hier nur in groben Zügen dargestellt werden82 • 81
Dazu s.u. Kap.ll.3.1.1.-Il.3.1.4. Die Kompliziertheit dieser auf das Präsentationswesen bezogenen Normen offenbart sich vor allem dann, wenn man zu den einschlägigen Reichsgesetzen die kreisinternen Bestimmungen hinzunimmt, die den Präsentationsmodus innerhalb der einzelnen Kreise regelten. 82 Die folgenden Ausführungen über die formale, d.h. reichsgesetzlich zugeschriebene räumliche sowie sachliche Zuständigkeit des RKG, die in Teil2 der KGO von 1548 und 1555 (und entsprechend in Teil2 des Konzepts der KGO von 1613) geregelt wird, stützen sich, soweit nicht anders vermerkt, vor allem auf die ausführlichen, weitere Nachweise enthaltenden Darstellungen von SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung; WIGGENHORN, Reichkammergerichtsprozeß, S.57 ff., bes. S.62 ff.; DICK, Entwicklung, S. 65 ff.; B. SCHILDT, Die Entwicklung der Zuständigkeit des Reichskammergerichts. Von der Kayserlichen Cammer-Gerichts-Ordnung Anno 1495 zum Concept der Cammer-Gerichts-Ordnung vom Jahr 1613, Wetzlar 2006; kürzere Zusammenstellungen der Zuständigkeitsregeln s. bei CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte Bd.2, S.158 ff., 164 f.; HEUSINGER, Vom Reichskammergericht, bes. S.l4 ff.; LAUFS, KGO 1555, Einleitung, bes. S.39 ff.; K.-P. SCHROEDER, Das Reichskammergericht, in: Juristische Schulung 18, 1978, H.6, 8.368-372, hier S.371 f.; B. DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Wetzlar 1985, S.13 ff.; DERS., Rechtsfälle, S.27 ff.; LAUFS, Artikel Reichskammergericht, in: HRG 4, 1990, Sp.659 f.; zur Zuständigkeit bzw. zu einzelnen Zuständigkeitsbereichen s. ferner in größerem Zusammenhang WEITZEL, Kampf; EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia de non appellando; RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.l, bes. S.200. Auf diese Literatur wird ftir das Folgende verwiesen.
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
In räumlicher Hinsicht sollte sich die Jurisdiktion auf das gesamte Reichsgebiet erstrecken. Bei dieser Zuständigkeitsregelung sind die zahlreichen Grenzveränderungen zu berücksichtigen, die das Reichsgebiet im Laufe der Frühen Neuzeit als Folge von Verselbständigungen und Eroberungen immer mehr reduzierten, bis hin zum einschneidenden Verlust des linken Rheinufers im Frieden von Luneville 1801. Ferner wurde die formale territoriale Zuständigkeit des RKG seit seiner Gründung bzw., was den Burgundischen Kreis betrifft, seit 1548 beschnitten durch die Exemtionsprivilegien für die Österreichischen Erblande, für Böhmen mit seinen Nebenländern sowie für die im Burgundischen Kreis vereinigten habsburgischen Gebiete 83 . In sachlicher Hinsicht war dem RKG seit der ersten KGO von 1495 eine doppelte Funktion als erstinstanzliebes Gericht sowie als Berufungsinstanz zugewiesen84. Diese doppelte Zuständigkeit des RKG kam vor allem in den folgenden vier Hauptbereichen zur Geltung: 1. Das RKG war erst- und zugleich letztinstanzlieh zuständig bei Klagen wegen Bruch des Land- und Religionsfriedens. Im Rahmen dieser Zuständigkeit übte das RKG Strafgewalt aus. In seiner Eigenschaft als zentrales Landfriedensgericht war das RKG die organisatorische Konsequenz aus dem 1495 in Worms verkündeten Ewigen Landfrieden, der die Fehde vollständig und für alle Zeiten verbot und die Kontrahenten anstelle gewaltsamer Selbsthilfe zum Austrag von Streitigkeiten auf den Weg der gerichtlichen Entscheidung verwies. Damit sollten nach dem Willen der Reformer von nun an "in Deutschland Rechtsordnung und öffentlicher Friede identisch" werden85 . Die Entscheidung, 83 Zur Exemtion dieser Gebiete von der Rechtsprechung der höchsten Gerichtsbarkeit im
Reichs. CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd.2, S.109 f., 160, 164; SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S. 22-36, 39 f., 45; WEITZEL, Kampf, S.3, 43 f., 59 ff. (differenzierter als Sellert über die Österreichischen Exemtionsansprüche ); zur jurisdiktioneilen Situation in den Niederlanden vor und nach dem Burgundischen Vertrag von 1548 s. NEVE, Rijkskamergerecht; weitere Literatur zur Exemtion Böhmens und des Burgundischen Kreises s.u. Kap. III.l.2.2.3. Anm.162. Nach WEITZEL, Kampf, S.43, befreite ein Exemtionsprivileg "seinen Inhaber und das privilegierte Gebiet von der Gerichtsbarkeit des Reiches schlechthin, verleiht ihm also völlige Justizhoheit Es schließt die Lücken, die selbst ein illimitiertes Appellationsprivileg läßt".
84 Auch die Zuständigkeitsregeln von 1495 wurden in der Aufbauzeit weiter ausgestaltet und ausdifferenziert, bis sie in der KGO von 1548/55 weitgehend in der Form, wie sie bis zum Ende des Alten Reiches galten, vorlagen. Bestimmte Zuständigkeiten wie der Mandatsprozeß wurden erst nach 1555 voll entwickelt.
85 H. ANGERMEIER, Artikel Ewiger Landfriede, in: HRG 1, 1971, Sp.1 030-1032 (Zitat Sp.1030 f.); s. hierzu und zum Folgenden auch DERS., Reichsreform, S.174; DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.442; DERS., Vom Königlichen Hofgericht, S.54; MORAW, Reichsreform, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.1, S.62; neuerdings ausführlich J. WEITZEL, Die Rolle des Reichskammergerichts bei der Ausformung der Rechtsordnung zur allgemeinen Friedensordnung, in: Frieden durch Recht, S.40-
II.1.3. Normative Zuständigkeit und faktische Wirksamkeit
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die Landfriedensgerichtsbarkeit nicht mehr wie bisher dezentral, sondern zentral zu organisieren, stellte eine der großen Modernisierungsleistungen des Reiches am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit dar. Dem RKG als "unentbehrlichem Rechtsorgan des Landfriedens" 86 wurde in diesem damals auch auf Reichsebene unternommenen Anlauf zur Ausbildung frühmoderner Staatlichkeit eine entscheidende Rolle übertragen. Die Funktion als zentrales Landfriedensgericht wurde nach den Wirren des Reformationszeitalters 1555 in Augsburg ergänzt durch die ebenso erstinstanzliehe Zuständigkeit bei Religionsfriedensbruch87. Im Gegensatz zu den folgenden drei Kompetenzbereichen galt die unmittelbare Zuständigkeit des RKG bei Klagen wegen Bruch des Land- und Religionsfriedens sowie in sonstigen Fällen "dringenden, eilbedürftigen Rechtsschutzes"88 bei Klagen gegen jedermann, d.h. unabhängig davon, ob die Beklagten reichsmittelbar oder reichsunmittelbar waren. In den Bereich dieser unbedingten erstinstanzliehen Zuständigkeit fielen auch alle fiskalischen Sachen, d.h. Fälle, in denen der kaiserliche Fiskal- zum Teil in Überschneidung mit den genannten Kompetenzen des RKG - unter anderem wegen V erstäßen gegen Reichssatzungen, wegen Majestätsbeleidigung oder wegen Säumigkeit bei der Zahlung von Reichsanschlägen Klage erhob 89 . 48, bes. S.43 ff.; FISCHER, Reichsreform und Ewiger "Landfrieden", S.218 ff., 236 f., 239 ff.; s. auch DERS., Reichsreform im Reichsinteresse?, bes. S.284 f.
86 LAUFS, Artikel Reichsreform, in: HRG 4, 1990, Sp. 736; s. auch schon DERS., Die Reichsreform, in: Juristische Schulung 6, 1966, H.2, S.45-49, hier S.47; DERS., Rechtsentwicklungen, S.78. 87 Dazu s. vor allem SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.79-81.- Zur rechtlichen Pro-
blematik der Religionsprozesse, die nicht nur aus umstrittenen Einzelbestimmungen des Augsburger Religionsfriedens, sondern als Folge eines gespaltenen Rechtsdenkens auch aus einem grundlegenden Dissens der beiden Konfessionsparteien über das "Gesamtverständnis des Friedenswerkes" resultierten, s. die grundlegenden Aufsätze von M. HECKEL, Die Religionsprozesse des Reichskammergerichts im konfessionell gespaltenen Reichskirchenrecht, in: ZRG KA 77, 1991, S.283-350; DERS., Die Religionsprozesse des Reichskammergerichts vor 1648, in: H.R. Guggisberg- G.G. Krodel (Hgg.), Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten, Gütersloh 1993, S.575-590; DERS., Reformationsprozesse, bes. S.25 ff.; auch schon DERS., Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 2. Aufl. Göttingen 2001, S.55 ff. u. passim (Zitat ebd., S.57). Die Wirklichkeit solcher Religionsprozesse untersucht anhand von ca. 30 typischen Streitfällen beispielhaft RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht; weitere Nachweise ebd. sowie bei JAHNS, Ringen, bes. S.420 ff.; s. auch den Überblick bei RUTHMANN, Die Religionsprozesse als Folge der Glaubensspaltung, bes. S.235 ff.; zum gesamten Problemkreis s. auch Kap. II.3.1.2.1.
88 DICK, Entwicklung, S.65. 89 Zu diesen Fiskalsachen s. detaillierter SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.82 ff.;
DICK, Entwicklung, S.66 f.; auch LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.34 f., 42 f.; zum Amt des RKG-Fiskals vgl. auch SMEND, Reichskammergericht, S.359 ff.; U. KNOLLE, Artikel Fiskalat, in: HRG 1, 1971, Sp.1134 f.; SCHULZ, Einflußnahme, S.89 ff., 198.
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Il.l. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
In engem Zusammenhang mit der erstinstanzliehen Zuständigkeit des RKG als Vollzugsorgan des Landfriedens stand der sogenannte Mandatsprozeß, ein außerordentliches summarisches Verfahren, das sich seit 1555 neben dem schwerfälligen ordentlichen Zitationsverfahren herausbildete. Diese in verschiedene Dringlichkeitsstufen aufgefächerte Verfahrensart setzte das RKG unter anderem im Sinne einer einstweiligen Verfugung in die Lage, in schwerwiegenden Konfliktsituationen, so bei akuter Gefährdung des Besitzstands oder sonstigen offenkundig rechtswidrigen Handlungen bis hin zu drohenden Landfriedensbrüchen, über ein Mandat rasch und wirksam Anordnungen zur Gefahrenabwehr zu treffen, und zwar auch dann, "wenn der zugrunde liegende Streit der Parteien normalerweise nicht zur erstinstanzliehen Zuständigkeit gehörte". Insofern trugen die reichsgesetzlichen Normen über den Mandatsprozeß - zumindest nach der Intention der Gesetzgeber- "insgesamt zur Stärkung der kammergerichtliehen Autorität mehr bei als alle anderen Zuständigkeitsvorschriften" 90 • Da der Mandatsprozeß noch mehr als die Kompetenz in Fällen bereits vollzogenen Landfriedensbruchs zur frühzeitigen "Überleitung der Konfliktregulierung in verfahrensgelenkte Bahnen" diente 91 , wird in dieser erstinstanzliehen Ausnahmezuständigkeit des RKG die von ihm übernommene Rolle im Dienst der allgemeinen Verrechtlichung besonders deutlich. In den weiteren hauptsächlichen Kompetenzbereichen war ausschlaggebend, ob der Beklagte reichsunmittelbar war oder nicht92 : 2. Das RKG war erste und letzte Instanz in Zivilprozessen, in denen Reichsunmittelbare gegeneinander oder Untertanen gegen reichsunmittelbare Obrigkeiten klagten. Die erstinstanzliehe Zuständigkeit war allerdings stark eingeschränkt durch die sogenannten Austräge, aus der mittelalterlichen Schiedsgerichtsbarkeit 90 M. HINZ, Der Mandatsprozeß des Reichskammergerichts, Teildruck der Diss. iur. Berlin 1966, bes. S.l6 ff. (Zitate ebd., S.21, 19); s. ferner DERS., Der Mandatsprozeß des Reichskammergerichts. Studien zur Entwicklung oberstrichterlicher Gefahren- und Unrechtsabwehr, masch. Habil. iur. Berlin 1973; DERS., Der Mandatsprozeß des Reichskammergerichts als Instrument zur Sicherung des Suspensiveffekts der Appellation und zum Schutze der reichskammergerichtliehen Appellationszuständigkeit, in: consilium magnum 1473-1973, Brüssel 1977, S.343-352; DERS., Artikel Mandatsprozeß, in: HRG 3, 1984, Sp.232-240; WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, S.82 ff., auch S.221 ff.; DICK, Entwicklung, bes. S.93 ff.; DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.20; DERS., Von der Arbeit des Reichskammergerichts, S.ll6 f.; WEITZEL, Die Rolle des Reichskammergerichts, S.45 f.; kurz LAUFS, Artikel Reichskammergericht, in: HRG 4, 1990, Sp.660; vgl. M. UHLHORN, Der Mandatsprozeß sirre clausula des Reichshofrats, Köln- Wien 1990; L. SEDATIS, Artikel Summarischer Prozeß, in: HRG 5, 1998, Sp.79 f.; zum Mandatsprozeß s. neuerdings auch JACOBI, Besitzschutz, bes. S.ll5 ff. 91 DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.20. 92 Nur auf den Status des Beklagten, nicht auch auf den des Klägers kam es an, s. SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.4 7.
II.1.3. Normative Zuständigkeit und faktische Wirksamkeit
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hervorgegangene vorinstanzliehe Sondergerichte. Bis auf einige in der Natur des Streitgegenstands oder in einer bestimmten Konstellation von Kläger und Beklagtem begründete Ausnahmefalle, bei freiwilligem V erzieht auf vorherige Anrufung der Austräge oder bei Verweigerung der Benennung von Austrägalrichtem seitens des Beklagten mußten bei Zivilklagen gegen Reichsunmittelbare zunächst diese Austrägalinstanzen angerufen werden, bevor nach ergangenem Urteil an das RKG appelliert werden konnte. Die fallweise Besetzung dieser Austrägalgerichte war in einem ausgeklügelten und komplizierten System von Vorschriften geregelt, die sich am Stand des Beklagten und seines Klägers orientierten. Als Kläger im Austragsverfahren konnten auch Bürger, Bauern und andere Untertanen auftreten. Die Austrägalgerichtsbarkeit war ein Zugeständnis an die Reichsunmittelbaren, durch das sie von der Jurisdiktion des RKG im Moment seiner Errichtung auch schon wieder zu einem wesentlichen Teil befreit wurden. Das Austrägalsystem setzte "spätmittelalterliche Gewohnheiten des Einungswesens mit seinen Standesvorbehalten und seiner Personenbezogenheit" fort und zog damit "auch der Rationalität der Rechtsfindung im Zeitalter der Rezeption" mit Rücksicht auf die Unabhängigkeitsbestrebungen vor allem der mächtigeren weltlichen Reichsstände Grenzen93 . In die erstinstanzliehe Zuständigkeit des RKG war dadurch jedenfalls von Anfang an eine große Lücke gerissen. Sie macht die bereits oben im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Konstruktion des RKG konstatierte Antinomie zwischen dem Willen zur Schaffung einer leistungsfahigen zentralen Gerichtsbarkeit im Reich einerseits, der parallelen Tendenz vor allem der größeren Partikulargewalten zur weitestmöglichen Befreiung vom Reich andererseits ein weiteres Mal auch im Bereich der justiziellen Zuständigkeit deutlich94 . Diese Bewertung gilt unabhängig davon, wieweit das Privileg der Austräge später tatsächlich die Wirksamkeit des RKG beschränkte. 3. Einen dritten großen Funktionsbereich besaß das RKG ebenfalls seit 1495 kraft seiner Zuständigkeit als Appellationsinstanz in Zivilrechtsstreitigkeiten, in denen der Beklagte reichsmittelbar war. In dieser Eigenschaft kontrollierte das RKG die Spruchpraxis der partikularen Gerichtsbarkeit und wirkte der völligen
93 LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.41; zu den Austrägen s. außer der bereits zitierten Literatur zur Zuständigkeit des RKG (darunter vor allem SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.50 ff.; DICK, Entwicklung, S.71 ff.): F. MERZBACHER, Austrägalinstanz (instantia austregalis), in: HRG 1, 1971, Sp.273 f.; G. FRÜHAUF, Die Austrägalgerichtsbarkeit im Deutschen Reich und im Deutschen Bund, Diss. iur. Harnburg 1976, bes. S.29 ff.; W. SELLERT, Artikel Schiedsgericht, in: HRG 4, 1990, Sp.1386-1393, hier Sp.1389 f. 94 V gl. auch ANGERMEIER, Reichsreform, S.176.- Dasselbe Fazit ist auch flir die Appellationsprivilegien zu ziehen; s. die weiteren Ausführungen.
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
Territorialisierung des Gerichtswesens im Reich entgegen95 . Angefochten werden konnten allerdings nur die Urteile solcher Instanzen, die dem RKG unmittelbar nachgeordnet waren, d.h. Urteile der territorialen oder reichsstädtischen Obergerichte sowie der kaiserlichen Hof- und Landgerichte. Im Interesse der reichsständischen Gerichtshoheit mußte der Instanzenweg genau eingehalten werden. Sprungappellationen, d.h. die Auslassung von Zwischeninstanzen, waren verboten. Voraussetzung fiir die Berufung an das RKG war ferner das Erreichen einer bestimmten Appellationssumme, die angesichts der rasch einsetzenden Arbeitsüberlastung des RKG durch eine Flut von Appellationsprozessen sowie als Folge der Geldentwertung zwischen 1521 und 1654 stufenweise von 50 Gulden auf 400 Reichstaler(= 600 Gulden) angehoben wurde 96 • Ferner waren bei Klagen gegen Reichsmittelbare bestimmte Streitfälle wie Kriminalsachen von vornherein inappellabel97 • Die formale Zuständigkeit des RKG als Berufungsgericht fiir alle reichsmittelbaren Beklagten wurde von Anfang an und im Laufe seiner dreihundertjährigen Geschichte in immer weiterem Umfang beschränkt durch 'privilegia de non appellando', welche die Kaiser den meisten Landesherren und Reichsstädten verliehen, sei es in aufbestimmte Geldsummen oder Streitgegenstände beschränkter (limitierter), sei es in unbeschränkter (illimitierter) Form98 • 95 So DIESTELKAMP, Vom Königlichen Hofgericht, S.55; DERS., Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.13; DERS., Rechtsfalle, S.28; LAUFS, Artikel Reichskammergericht, in: HRG 4, 1990, Sp.659; vgl. auch EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia de non appellando, S.10 f.; DIESTELKAMP, Durchsetzung, S.20. Zur Funktion als Appellationsinstanz s. im übrigen die bereits in Anm.82 zitierte Literatur zur Zuständigkeit des RKG; einen Spezialaspekt behandelt S. BROSS, Untersuchungen zu den Appellationsbestimmungen der Reichskammergerichtsordnung von 1495, Berlin 1973. 96 Zur stufenweise erhöhten Appellationssumme s. vor allem (mit Quellen- und weiteren Literatumachweisen) BUCHDA, Artikel Appellation, in: HRG 1, 1971, Sp.198; SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.38; WEITZEL, Kampf, S.34 mit Anm.37; EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia de non appellando, S.22; DICK, Entwicklung, S.69 mit Anm.589 u. 590; RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, S.230 mit Anm.38. 97 Aufzählung einiger grundsätzlich inappellabler Streitsachen bei WEITZEL, Kampf, S.34 mit Anm.38; zu der seit 1530 geltenden Inappellabilität von Strafsachen- wobei jedoch in Fällen von Nichtigkeit, Justizverweigerung oder -Verzögerung auch in solchen peinlichen Sachen appelliert werden durfte, s. den im folgenden beschriebenen vierten Kompetenzbereichs. ausftihrlicher SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.73 ff.
98 Dazu bes. EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia de non appellando, bes. S.12 ff., zum Charakter der beschränkten bzw. unbeschränkten Appellationsprivilegien bes. ebd., S.19 ff.; s. auch SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.37 ff.; WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, S.92 ff.; BUCHDA, Artikel Appellationsprivilegien, in: HRG 1, 1971, Sp.200 f.; auch DERS., Artikel Appellation, in: ebd., Sp.198; WEITZEL, Kampf, S.36 ff.; DICK, Entwicklung, S.69. Daß hinter dem Streben der Reichsstände, mittels kaiserlicher Appellationsprivilegien "das von ihnen selbst mitgetragene Reichskammergericht mit seiner Jurisdiktion aus dem eigenen Territorium möglichst weit herauszuhalten", das Streben nach Stärkung der reichsständischen Libertät steckte, betont B. DIESTELKAMP, Reichskammergericht und Reichshofrat im
II.1.3. Normative Zuständigkeit und faktische Wirksamkeit
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Die Zuständigkeit des RKG als Appellationsinstanz in Zivilklagen gegen Reichsunmittelbare, die vorinstanzlieh vor Austrägalgerichten verhandelt und entschieden worden waren, wurde oben bereits erwähnt. Sie unterlag denselben Voraussetzungen und Einschränkungen wie die vorerwähnten Berufungen. 4. Als vierter und letzter hauptsächlicher Kompetenzbereich ist die Zuständigkeit bei Klagen wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung durch die an sich zuständigen vorinstanzliehen Gerichte sowie bei Beschwerden wegen Nichtigkeit vorinstanzlieber Urteile als Folge eines Verstoßes gegen fundamentale Rechtsgrundsätze zu nennen. In alldiesen Fällen war der Rechtsweg an das RKG unabhängig vom Streitwert und vom Streitgegenstand eröffnet99 . Selbst limitierte oder sogar illimitierte Appellationsprivilegien standen der Klage eines Untertanen wegen Justizverweigerung oder -Verzögerung sowie wegen unheilbarer Nullität nicht entgegen, so daß bis zum Ende des Alten Reiches "jeder Landesherr und jede Stadt noch einen Richter über sich" hatte 100 • Auch in Strafsachen gegen Reichsmittelbare, in denen sonst nicht an das RKG appelliert werden durfte, konnte sich der Beklagte wegen Rechtsverweigerung bzw. Rechtsverzögerung oder wegen Nichtigkeit des gegen ihn ergangenen Urteils an das RKG wenden 101 • Klagen wegen 'justitia denegata vel protracta' sowie NichtigSpannungsfeld zwischen reichsständischer Libertät und habsburgischem Kaisertum, in: H. Duchhardt- M. Sehnetiger (Hgg.), Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum, Mainz 1999, S.185-194, hier S.l87 ff. (Zitat S.l90) - Selbst die unbeschränkten Appellationsprivilegien konnten jedoch den Rechtsweg an das RKG in allen Fällen von Rechtsverweigerung, Rechtsverzögerung und Nichtigkeit nicht abschneiden; dazu s. auch die weiteren Ausführungen. 99 Zu diesem Kompetenzbereich s. die bereits zitierte Literatur zur Zuständigkeit des RKG, besonders (mit weiteren Nachweisen) WEITZEL, Kampf, S.44 ff., 46 ff.; DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.442 ff.; EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia de non appellando, S.25 ff.; DICK, Entwicklung, S.67 ff.; RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, S.207 ff.; W. SELLERT, Artikel Nichtigkeitsklage, Nichtigkeitsbeschwerde, in: HRG 3, 1984, Sp.974-978. 100 EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia de non appellando, S.27; s. auch schon den emphatischen Ausruf von A. L. SCHLÖZER, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, Göttingen 1793, S.l07: "Glückliches Deutschland, das einzige Land der Welt, wo man gegen seine Herrscher, ihrer Würde unbeschadet, im Wege Rechtens, bei einem fremden, nicht ihrem eigenen Tribunal, aufkommen kan". 101 Zu dieser Ausnahme im Bereich der Strafrechtspflege, die z.B. in Hexenprozessen gravierende Fehlurteile der Vorinstanzen korrigieren konnte, s. (mit weiteren Nachweisen) vor allem SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.74 f.; WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, S.67, 180; HEUSINGER, Vom Reichskammergericht, S.15 ff., bes. S.17; WEITZEL, Kampf, S.34 Anm.38; DICK, Entwicklung, S.69; DIESTELKAMP, Rechtsfälle, S.27 f.; SELLERT, Artikel Nichtigkeitsklage, Nichtigkeitsbeschwerde, in: HRG 3, 1984, Sp.976.- Über Hexenprozesse, die im Rahmen von Nichtigkeitsklagen vom RKG bearbeitet wurden, s. (mit weiteren Nachweisen) vor allem R.-P. FUCHS, Hexerei und Zauberei vor dem Reichskammergericht Nichtigkeiten und Injurien, Wetzlar 1994; DERS., Der Vorwurf der Zauberei in der Rechtspraxis des Injurienverfahrens. Einige Reichskammergerichtsprozesse westfälischer Her-
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keitsbeschwerden bildeten "eine wichtige Nahtstelle zwischen der Reichsgerichtsbarkeit und der sich ständig stärker konsolidierenden Gerichtsbarkeit der Territorialgewalten" 102 . In alldiesen Fällen diente die Kompetenz des RKG der "Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes" aller Reichsangehörigen gegen Justizwillkür103. Insofern nahm das RKG hier "unverzichtbare Grundwerte im Bereich der Rechtspflege wahr" 104 . Die betreffenden Zuständigkeitsregelungen gaben dem RKG noch umfassender als im Rahmen seiner Funktion als Appellationsinstanz ein Instrument der Kontrolle über die territorialen und reichsstädtischen Gerichte an die Hand. Hier bestand als Gegengewicht zum immer größer werdenden Geltungsbereich der Appellationsprivilegien fiir das RKG die Chance, "das allmähliche Abdichten weiter Teile der territorialen Gerichtsorganisation im Reich gegenüber der Kontrolle durch die zentrale Reichsinstanz wenigstens partiell zu überwinden" 105 . Außer den skizzierten hauptsächlichen Kompetenzbereichen des RKG sind seine Zuständigkeit in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie seine Jurisdiktion über Kameralpersonen zu nennen 106 . In den oben umrissenen gesetzlich zugeschriebenen Kompetenzbereichen konkurrierte das RKG mit dem anderen höchsten Gericht im Reich, dem kaiserlichen Reichshofrat, der darüber hinaus auf einigen weiteren Gebieten die ausschließliche Zuständigkeit hatte 107 . Trotz dieser partiellen Beschränkung bekunft im Vergleich, in: ZNR 17, 1995, S.l-29; P. ÜESTMANN, Hexenprozesse am Reichskammergericht, Köln- Weimar- Wien 1997; s. auch W. SELLERT- P. ÜESTMANN, Hexenund Strafprozesse am Reichskammergericht, in: Frieden durch Recht, S.328-335.
102 DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.442. 103 DICK, Entwicklung, S.67. 104
HEUSINGER, Vom Reichskammergericht, S.17.
DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.447; s. auch DERS., Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.13; DERS., Rechtsfälle, S.28. 105
106 Zur Zuständigkeit in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Testamentssachen, Vormundschaftsbestellungen usw.) s. am ausführlichsten SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.98 ff.; WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, S.76 f.- Über das RKG als privilegierten Gerichtsstand für das RKG-Personal, dessen Rechtsstreitigkeiten ohne weiteres und ausschließlich in erster Instanz vor das RKG gehörten, s. WIGGENHORN, ebd., S.55 f., 65; DICK, Entwicklung, S.75, 77; auf der Basis der einschlägigen Prozeßakten: J. HAUSMANN, Prozesse des Reichskammergerichtspersonals beim Reichskammergericht im 18. Jahrhundert, in: B. Diestelkamp (Hg.), Forschungen aus Akten des Reichskammergerichts, Köln- Wien 1984, S.97-113; vor allem DERS., Die Kameralfreiheiten des Reichskammergerichtspersonals. Ein Beitrag zur Gesetzgebung und Rechtspraxis im Alten Reich, Köln- Wien 1989, S.l25 ff.
107 Zur konkurrierenden Zuständigkeit von RKG und RHR s. vor allem (mit weiteren Nachweisen) SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung; zur ausschließlichen Zuständigkeit des RHR s. ebd., passim, bes. S.64-72 (in Reichslehenssachen), 90-97 (in Strafsachen gegen Reichsunmittelbare ausgenommen Land- und Religionsfriedensbruchs- sowie Polizeisachen
II.l.3. Normative Zuständigkeit und faktische Wirksamkeit
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saß das RKG eine ungemein große formale Kompetenzfiille. Im Widerspruch dazu stand allerdings die Tatsache, daß das RKG über keine eigenen Machtmittel zur Vollstreckung seiner Urteile verfiigte 108 • Nachdem zentrale Lösungen des Exekutionsproblems gescheitert waren, wurde die Exekution der reichsgerichtliehen Urteile seit 1512 und endgültig seit der Reichsexekutionsordnung von 1555 den Reichskreisen übertragen. Infolgedessen mußte das RKG- und ebenso der RHR- je nach Rechtsstatus des Verurteilten die zuständigen Landesherren oder Reichskreise um Vollstreckung seiner Urteile ersuchen. Es hatte also nur mittelbare Exekutionsgewalt und war bei der Rechtsdurchsetzung vom guten Willen der partikularen Machthaber abhängig, was das Exekutionsverfahren schwerfällig und langwierig gestaltete, wenn nicht sogar ins Leere laufen reichsunmittelbarer Beklagter, in denen auch das RKG zuständig war), 107-111 (in bestimmten Fällen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, z.B. betr. kaiserliche Reservatrechte wie die Erteilung von Privilegien oder Standeserhöhungen, Volljährigkeitserklärungen Reichsunmittelbarer usw.). In Fällen einer Konkurrenz zwischen RKG und RHR wurde die Zuständigkeit nach dem Grundsatz der Prävention geregelt, d.h. der betreffende Rechtsstreit sollte bei demjenigen Gericht belassen werden, an welchem er zuerst anhängig gemacht worden war; dazu ausführlich SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.ll2 ff.; s. auch kurz DERS., Der Reichshofrat, S.l7 ff., bes. S.l9 ff. 108
Zu den folgenden Ausführungen über das Exekutionsproblem s. vor allem WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, S.245-250; DICK, Entwicklung, S.211-215; A. KüHLER, Die Sicherung des Landfriedens im Reich. Das Ringen um eine Exekutionsordnung des Landfriedens 1554/55, in: Mittlgn. des Österr. Staatsarchivs 24, 1971, S.140-168; DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.478-480; DERS., Krise, S.53; DERS., Vom Königlichen Hofgericht, S.64; kurz auch DERS., Von der Arbeit des Reichskammergerichts, S.l23 f.; ANGERMEIER, Artikel Ewiger Landfriede, in: HRG I, 1971, bes. Sp.l 031 f.; J. MIELKE, Artikel Reichsexekution, in: HRG 4, 1990, Sp.564 f., DERS., Artikel Reichsexekutionsordnung, ebd., Sp. 565-567; LAUFS, Artikel Reichskreise, in: ebd., Sp.681687, bes. Sp.682 f.; DERS., Artikel Reichsregiment, in: ebd., Sp.739-742, bes. Sp.742; auch LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.49 f.; besonders eingehend und problemorientiert: W. SELLERT, Vollstreckung und Vollstreckungspraxis am Reichskammergericht und am Reichshofrat, in: W. Gerhardt u.a. (Hgg.), Festschrift ftir Wolfram Herrekel zum 70. Geburtstag am 21. April 1995, Berlin- New York 1995, S.817-839 (Sellert spricht ebd., S.828 u. 830, im Hinblick auf die Durchsetzbarkeit von RKG-Urteilen von der "miserablen" bzw. "insgesamt trostlosen Vollstreckungspraxis" ); s. auch DERS., Die Bedeutung der Reichskreise für die höchste Gerichtsbarkeit im alten Reich, in: P. C. Hartmann (Hg.), Regionen in der Frühen Neuzeit, Berlin 1994, S.l45-178. Auf der normativen Ebene verfolgt das Exekutionsproblem, den Bogen von 1654 zurück in die Gründungs- und Aufbauphase des RKG schlagend: GöTTE, Der Jüngste Reichsabschied, S.60 ff., 132 f., 203 f., 212 ff., 224 ff., 236 ff.; eher vordergründige Erwähnung der Vollstreckungsproblematik auch in der allgemeinen Literatur zu den Reichskreisen und ihrer Stellung im Verfassungsgefüge des Reiches, s. (in Auswahl) H. MoHNHAUPT, Die verfassungsrechtliche Einordnung der Reichskreise in die Reichsorganisation, in: K. 0. Frh. v. Aretin (Hg.), Der Kurfürst von Mainz und die Kreisassoziationen 1648-1746. Zur verfassungsmäßigen Stellung der Reichskreise nach dem Westfälischen Frieden, Wiesbaden 1975, S.l-29; W. DOTZAUER, Die deutschen Reichskreise in der Verfassung des Alten Reiches und ihr Eigenleben (1500-1806), Darmstadt 1989, hier S.12 ff.; DERS., Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998, bes. S.464 ff.
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ließ. Zwar mußte sich dieser mittelbare, dezentralisierte Vollstreckungsmodus in der Praxis keineswegs durchgängig negativ auswirken 109 • Die spektakulären Fälle, in denen die Durchsetzung eines RKG-Urteils scheiterte, haben aber vor allem in der Spätphase des Reiches das düstere Bild von der Schwäche und Ineffizienz der RKG-Judikatur zu Lasten der kammergerichtliehen Autorität geprägt- mehr als die vielen Fälle reibungsloser Urteilsvollstreckung 110 • Festzuhalten ist jedenfalls der hier ausschlaggebende verfassungspolitische Tatbestand, daß Kaiser und Reich zwar eine zentrale oberste Gerichtsinstanz errichtet und mit großer normativer Kompetenzfülle ausgestattet hatten, nicht jedoch auch mit einem eigenen Exekutivorgan. Im Hinblick auf die zugunsten des Territorialitätsprinzips verlaufende Entwicklung im Reich war dies nur konsequent. Das RKG wurde dadurch jedoch mit einer weiteren jener Antinomien belastet, die für seine Existenz so typisch sind 111 • 109 Hierzu und zum Folgenden s. die wichtigen Differenzierungen im Hinblick auf die Rechtspraxis bei DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.478 ff. Diestelkamp betont ebd., S.478 f., daß der am RKG erwirkte Urteilsspruch in vielen Fällen "zunächst nur einen weiteren Schritt auf dem Wege zur außergerichtlichen Erledigung" gebildet habe. Die Urteilsvollstreckung sei "unter diesen Umständen wirklich nur als ultima ratio anzusehen, zu der man erst greift, wenn alle anderen Mittel versagt haben"; vgl. auch DERS., Vom Königlichen Hofgericht, S.64; dazu ergänzend SELLERT, Vollstreckung, S.839: "Allein die tatsächliche Möglichkeit und damit die drohende Gefahr einer Vollstrekkung dürfte viele Parteien entweder zur Urteilserfüllung veranlaßt oder vergleichsbereiter gemacht haben"; ebs. DERS., Reichskreise, S.l77. Diestelkamp weist in diesem Zusammenhang auch wiederholt eindringlich darauf hin, daß die von SMEND, Reichskammergericht, augewandte Metl!ode, die Effizienz des RKG am Verhältnis von Neuzugängen und ergangenen Endurteilen pro Jahr zu messen, ein untaugliches Instrument zur Bestimmung der reichskammergerichtliehen Wirksamkeit sei. Schon die Erlangung eines Endurteils sei häufig gar nicht das primäre Prozeßziel der Parteien gewesen, sondern nur als letzte Möglichkeit angesehen worden, wenn nämlich z.B. nicht schon vorher die pazifizierende Wirkung des laufenden Verfahrens zu einem gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich oder zum Nachgeben bzw. Dulden des Kontrahenten geführt hatte; dazu s. ausführlicher DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.474 ff.; DERS., Vom Königlichen Hofgericht, S.63 f.; DERS., Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.9 f.; DERS., Von der Arbeit des Reichskammergerichts, S.123; am Beispiel der Religionsprozesse s. jetzt auch RUTHMANN, Religionsprozesse. 110 Als Beispiel für eine zeitgenössische Klage über die Exekutionsschwäche der Reichsjustiz s. PüTTER, Patriotische Abbildung, S.9 § 10, S.13 f. §§ 22-24, auch S.23 f. §55. 111 Von der Exekutionsproblematik war auch der RHR betroffen, er zog daraus jedoch in seiner Spruchpraxis andere Konsequenzen als das RKG: "Im Gegensatz zum RKG vermied der RHR die stets schwierig zu vollstreckenden Endurteile und begnügte sich mit dem Erlaß von 'Conclusa ', die durch allgemeinere und nicht endgültige Anordnungen den Streit zwischen den Parteien beenden sollten", s. SELLERT, Prozeßgrundsätze, S.341; auch DERS., Reichskreise, S.160 ff.; DERS., Vollstreckung, S.832 f. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Reichshofratskommissionen hinzuweisen, die unter anderem die Funktion der gütlichen Vermittlung und Schlichtung streitiger Verfahren hatten, dazu s. jetzt grundlegend: E. ÜRTLIEB, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637-1657), Köln- Weimar- Wien 2001; zusammenfassend
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Der normative Kompetenzrahmen, wie er in der Gründungs- und Aufbauphase des RKG geschaffen worden war, blieb bis zu seiner Auflösung unverändert, "so daß das täuschende Bild gleichbleibender Wirkung in der Rechtsordnung des Alten Reiches entstehen konnte" 112 . Dieser Eindruck einer eher statischen, im ganzen Reichsgebiet sowie innerhalb der sachlichen Zuständigkeitsbereiche einigermaßen gleichmäßigen Funktion des RKG während der drei Jahrhunderte seiner Existenz wurde vor allem von denjenigen rechtshistorischen Darstellungen genährt, die über einer Beschreibung und Analyse der formalen Zuständigkeitsregeln einschließlich der legalen Kompetenzbeschränkungen die Frage nach der tatsächlichen Geltung und praktischen Umsetzung all dieser Normen in der jeweiligen Realität allzu kurz kommen ließen 113 • Das Tor zu der kritischen Erkenntnis, daß man aus der Kontinuität der formalen Funktionszuweisung nicht auf ebenso jahrhundertelange Kontinuitäten der tatsächlichen Wirksamkeit schließen dürfe, sondern daß man Aussagen über die Praxis des Gerichts durch das Aufsuchen von Diskontinuitäten und Wandlungen differenzieren müsse, wurde vor allem von Bernhard Diestelkamp aufgestoßen. Er zog nach einem ersten quantitativen Zugriff auf einen Teil der überlieferten Masse an RKG-Prozeßakten programmatisch den Schluß, "daß es offenbar einer sorgfältigen neuen Funktionsbestimmung des Reichskammergerichts fiir die verschiedenen Phasen seines Wirkens bedarf" 114 • Für die daraus folgende Aufgabe, längerfristige Tendenzen und Strukturen der kammergerichtliehen Tätigkeit sichtbar zu machen und zu zuverlässigen, generalisierbaren sowie zeitlich und räumlich differenzierenden Ergebnissen zu gelangen, reichte eine noch so eingehende Untersuchung einzelner RKG-Prozesse nicht mehr aus 115 • Um die gewünschte schon DIES., Reichshofrat und kaiserliche Kommissionen in der Regierungszeit Kaiser Perdirrands III. (1637-1657), in: Sellert (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht, 8.47-81; S. ULLMANN, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximi1ian II. (1564-1576), Mainz 2006. 112
DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.12 f.; s. auch ebd., S.14. 113 Eine prinzipielle Kritik an dieser Überbewertung der formalen Geltung von Zuständigkeitsnormen und der Vernachlässigung ihrer tatsächlichen Verwirklichung s. bei RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.l, bes. S.59 f., 62, 147, 155 ff., bes. 8.156, 158, 196 ff. u. passim.- Für einen Teilaspekt, nämlich den der Appellationszuständigkeit des RKG, wurde der Frage nach dem Unterschied zwischen formaler und tatsächlicher Wirksamkeit des RKG 1495-1806 bereits in den 1970er Jahren nachgegangen von WEITZEL, Kampf. 114 115
DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, 8.464.
S. die entsprechenden kritischen Einwände gegen die Methode der Einzeluntersuchungen bei DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, 8.460 mit Anm.109; und besonders bei RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, S.52 ff., 56 ff., 65, 156; kurz auch DERS., Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar, S.7.- Der Wert von Analysen einzelner RKG-Prozesse soll damit keineswegs geschmälert werden. Sie haben nur
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stärkere Annäherung an die tatsächliche Wirksamkeit des RKG über den unglaublich langen Zeitraum dreier Jahrhunderte hinweg bemühte sich als erster Filippo Ranieri. Den Ansatz Diestelkamps aufgreifend und weiterentwickelnd, analysierte er anhand von Stichproben die Gesamtheit der überlieferten Masse kammergerichtlicher Prozeßakten mit Hilfe statistisch-quantitativer Methoden unter bestimmten Fragestellungen für das ganze 16. Jahrhundert, in Teilaspekten bzw. in gröberen Umrissen auch schon für das 17. und 18. Jahrhundert. Auf diese Weise konnte Ranieri eine dynamische, d.h. zeitliche und räumliche Verschiebungen einbeziehende "Funktionsbestimmung des Gerichts im Strukturgefüge des Alten Reiches" vomehmen 116 . Unter Verwendung der von Ranieri entwickelten Kategorisierungen dehnte Anette Baumann kürzlich dessen Forschungen auf das 17. und 18. Jahrhundert aus und untersuchte anhand einer großen und breit gestreuten Stichprobe das gesamte flir den Zeitraum 1600 bis 1806 überlieferte Prozessaufkommen am RKG. Dabei konnte sie von der inzwischen weitgehend abgeschlossenen Neuverzeichnung der RKG-Prozeßakten profitieren117. einen anderen Aussagewert als die Analyse des gesamten Prozeßaufkommens oder doch eines statistisch repräsentativen Teils davon, die eine möglichst umfassende Funktionsbeschreibung des RKG zum Ziel hat. 116 RANIERI, Recht und Gesellschaft (Zitat ebd., Tlbd.l, S.61 f.); vorweg erschien auch schon DERS., Versuch einer quantitativen Strukturanalyse des deutschen Rechtslebens im 16.18. Jalrrhundert anhand einer statistischen Untersuchung der Judikatur des Reichskammergerichts. Ein Arbeitsplan, in: ders. (Hg.), Rechtsgeschichte und quantitative Geschichte, Frankfurt a.M. 1977, S.1-22; DERS., Die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts in den ersten Jalrrzehnten seiner Tätigkeit. Versuch einer sozialgeschichtlichen Analyse der Reichsjustiz zur Zeit der Rezeption, in: ZNR 4, 1982, S.113-131; DERS., Die Tätigkeit des Reichskammergerichts und seine Inanspruchnahme während des 16. Jalrrhunderts, in: Diestelkamp (Hg.), Forschungen aus Akten des Reichskammergerichts, S.41-73; zuletzt DERS., Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar; DERS., Geschäftsanfall und Prozeßfrequenz am Reichskammergericht in Wetzlar (1693-1806). Kontinuität und Diskontinuität im Vergleich zur Speyerer Zeit, in: Miscellanea Forensia Historica, hg. von J. M. I. Koster-van Dijk u. A. Wijffels, Amsterdam 1988, S.251-262; kritische Überprüfung der von RANIERI, Recht und Gesellschaft, augewandten Methode und der daraufberuhenden Ergebnisse zu einem Teilaspekt M. HÖRNER, Anmerkungen zur statistischen Erschließung von Reichskammergerichtsprozessen, in: Baumann u.a. (Hgg.), Prozeßakten als Quelle, S.69-81.- Neue methodische Ansätze zur Untersuchung der RKG-Judikatur in der Speyerer Zeit entwickelt P. ÜESTMANN, Die Rekonstruktion der reichskammergerichtliehen Rechtsprechung des 16. und 17. Jalrrhunderts als methodisches Problem, in: ebd., S.l5-54.
117 BAUMANN, Gesellschaft; Vorstellung dieses Folgeprojekts auch in: DIES., Die quantifizierende Methode und die Reichskarnmergerichtsakten, in: Baumann u.a. (Hgg.), Prozeßakten als Quelle, S.55-67. -Über Ziele, Richtlinien und Stand der von B. Diestelkamp initiierten und von der DFG seit 1978 finanzierten Neuverzeichnung der in deutschen Archiven überlieferten RKG-Prozeßakten s. (mit Nachweis früherer Berichte) F. BATTENBERG, Reichskammergericht und Archivwesen. Zum Stand der Erschließung der Reichskammergerichtsakten, in: Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, S.173-194; J. HAUSMANN, Die Verzeichnung von Reichskammergerichts-Akten. Ein Erfahrungsbericht,
II.1.3. Normative Zuständigkeit und faktische Wirksamkeit
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Die in Ranieris und Baumanns Untersuchungen sichtbar gewordenen Details sind so mannigfaltig und komplex, daß sie hier auch nicht annähernd wiedergegeben werden können. Entscheidend ist hier das prinzipielle Resultat, daß sich in keiner Phase der dreihundertjährigen Existenz des RKG Inanspruchnahme und räumlicher Wirkungsbereich mit der oben beschriebenen formalen Zuständigkeit deckten. Vielmehr war die Spannung zwischen den gesetzlich zugeschriebenen Wirkungsmöglichkeiten und ihrer realen Umsetzung zu allen Zeiten ungemein groß. Dieses Spannungsverhältnis stellte sich in den aufeinanderfolgenden Zeitschichten jeweils anders dar, d.h. die tatsächliche Wirksamkeit des RKG war einem langfristigen Wandel unterworfen. Zu keinem Zeitpunkt wurde das RKG aus den verschiedenen Regionen des Reiches gleichmäßig in Anspruch genommen, sei es was den Geschäftsanfall insgesamt betrifft, sei es differenziert nach den oben beschriebenen hauptsächlichen Zuständigkeitsbereichen. Ebenso wenig blieben das Muster der Streitgegenstände sowie die soziale Zusammensetzung der Prozeßparteien konstant, sei es absolut, sei es im Verhältnis zur jeweiligen Verfahrensart oder in bezugauf die einzelnen Territorien und Reichskreise. Als Folge dieses aus vielen Einzelprozessen resultierenden, höchst komplexen Funktionswandels hatte das RKG trotz seines gleichbleibenden Kompetenzrahmens, was seine faktische Inanspruchnahme und Bedeutung anging, im 16. Jahrhundert einen grundlegend anderen Charakter als im 17. und 18. Jahrhundert, wobei sich die entscheidenden Entwicklungsbögen vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis in die Jahre vor und nach 1600 und von dort bis in die Spätphase des Alten Reiches spannen 118 • Inanspruchnahme und Leistungsfähigkeit der RKG-Judikatur in den einzelnen Zeitabschnitten sowie der langfristige Funktions- und Bedeutungswandel waren das Resultat zahlreicher und qualitativ sehr unterschiedlicher Faktoren. Zu ihnen in: Sellert (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht, 8.241-251; J. WEITZEL, Das Inventar der Akten des Reichskammergerichts, in: ZNR 21, 1999, 8.408-416; B. DIESTELKAMP, Verzeichnung der RK.G-Prozeßakten und Wissenschaftsgeschichte, in: N. Jöm- B. Diestelkamp- K. A. Modeer (Hgg.), Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653-1806), Köln- Weimar- Wien 2003, 8.319-327; B. SCHILDT, Inhaltliche Erschließung und ideelle Zusammenführung der Prozessakten des Reichskammergerichts mittels einer computergestützten Datenbank, in: ZNR 25, 2003, 8.269-290, hier bes. S.269 ff., 284 ff.; s. auch DERS., Virtuelle Zusammenführung und inhaltlich-statistische Analyse der überlieferten Reichskammergerichtsprozesse, in: Rainer Hering u.a. (Hgg.), Forschung in der digitalen Welt. Sicherung, Erschließung und Aufbereitung von Wissensbeständen, Harnburg 2006, 8.125-141; kurz auch BAUMANN, Gesellschaft, S.4 ff., dazu ebd., S.l13 ff. 118 Dazu und zum Folgenden s. im einzelnen RANIERI, Recht und Gesellschaft; DERS., Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar; DERS., Geschäftsanfall und Prozeßfrequenz; auf Ranieris Ergebnissen fußend: DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.ll ff., bes. S.14 ff.; DERS., Rechtsfälle, S.30 ff.; ftir die Zeit ab 1600: BAUMANN, Gesellschaft, bes. S.17 ff.
88
II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
gehörten die aus der spätmittelalterlichen Reichsgerichtsbarkeit hinsichtlich Prozeßklientel, territorialer Wirksamkeit, Prozeßgattungen und Streitgegenständen über 1495 hinausreichenden Kontinuitätslinien und ihr allmähliches Auslaufen ebenso wie das im 16. Jahrhundert gesamteuropäische Phänomen der Verrechtlichung von Konflikten und die damit eng zusammenhängende rapide wachsende Akzeptanz des RKG 119 • Kriege, Nachkriegszeiten und konfessionelle Auseinandersetzungen zählten zu solchen Einflußfaktoren ebenso wie interne Krisen, Stillstände und Ortsverlegungen des Gerichts sowie die seit dem Dreißigjährigen Krieg chronisch werdende Unterhaltsmisere und die damit zusammenhängende personelle Unterbesetzung des Kameralkollegiums. Die sich mehrenden Appellationsprivilegien und illegalen Appellationsbeschränkungen gehörten dazu ebenso wie die zunehmende Konkurrenz des Wiener Reichshofrats. Dieser war für den seit Ende des 16. Jahrhunderts und vor allem seit den zwanziger, mehr noch seit den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts stark absinkenden Geschäftsanfall am RKG ebenso mitverantwortlich wie für die Tatsache, daß sich der Schwerpunkt des kammergerichtliehen Wirkungsbereichs von den mehr zum RHR hin orientierten königsnahen Landschaften Oberdeutschlands immer stärker in die westlichen und- etwas weniger ausgeprägt- auch in die nördlichen Territorien des Reiches verlagerte, die schließlich im 17. und 18. Jahrhundert das Haupteinzugsgebiet kammergerichtlicher Prozesse darstellten 120 • Neben diesen genannten Faktoren trugen ganz entscheidend wirtschaftliche und soziale Entwicklungen sowie Veränderungen im V erfassungsleben des Alten Reiches zum langfristigen Funktions- und Bedeutungswandel der RKG-Judikatur bei. Zu nennen sind hier zum Beispiel in der Frühzeit des RKG die Blüte der oberdeutschen Reichsstädte mit ihrer ausdifferenzierten Geldwirtschaft und ihr Niedergang in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts oder der weitere Ausbau der Territorialstaaten im Zeitalter des Absolutismus samt den daraus entspringenden territorialpolitischen Konflikten zwischen Reichsständen um einzelne Hoheitsrechte sowie den sogenannten Untertanenprozessen. Auch die wachsende Verschuldung des niederen 119 Zu diesem Zusammenhang s. mit weiteren Nachweisen RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.l, S.146 ff., bes. S.l51 ff. 120
Zur skizzierten Rolle des RHR s. jetzt die auf einer repräsentativen Datengrundlage beruhende Studie von E. ORTLIEB- G. PoLSTER, Die Prozeßfrequenz am Reichshofrat (15191806), in: ZNR 26, 2004, 8.189-216, bes. S.215 Graphik 3; auch schon RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, S.142 mit Anm.60, 181; DERS., Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar, S.l2, 15; DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.l6; DERS., Rechtsfälle, S.33; s. auch BAUMANN, Gesellschaft, S.17 u. passim, bes. S.24 ff., 30, 34 und 64. Zur unterschiedlichen Entwicklung der territorialen Inanspruchnahme des RKG im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts s. jetzt die detaillierten Angaben ebd., S.32-60. Danach wies der Niederrheinisch-Westfälische Kreis in den letzten beiden Jahrhunderten kammergerichtlicher Existenz das weitaus höchste Prozeßaufkommen auf, s. mit weiteren Nachweisen ebd., S.35 ff., auch S.l08.
II.1.3. Normative Zuständigkeit und faktische Wirksamkeit
89
Adels, die in der Wetzlarer Zeit des RKG zu einem Ansteigen der Schuldenprozesse mit hohen Streitwerten führte, hatte Einfluß auf die sich wandelnde Inanspruchnahme des RKG, ebenso innerstädtische Umstrukturierungen am Beginn der Protoindustrialisierung, welche die städtischen Zünfte im 18. Jahrhundert vor dem RKG um ihre alten Privilegien kämpfen ließ 121 . Versucht man, die vielfältigen Aspekte, in denen sich das RKG der Spätphase hinsichtlich seiner Funktion und Bedeutung von dem RKG des 16. Jahrhunderts unterschied, auf einen Nenner zu bringen, so kommt man, dabei zwangsläufig vereinfachend, zu folgendem Resultat: In seiner Aufbau- und Blütezeit, die mit dem 16. Jahrhundert zu Ende ging, gelang es dem RKG sukzessive und mit beträchtlichem Erfolg, den ihm zugeschriebenen normativen Kompetenzrahmen durch seine tatsächliche Inanspruchnahme und Wirksamkeit immer mehr auszufüllen. So spielte die erstinstanzliehe Zuständigkeit in Landfriedensbruchsachen eine große Rolle bei der Durchsetzung des Landfriedens und damit von Rechtssicherheit im Reich, was erst Jahrzehnte nach der Errichtung des Ewigen Landfriedens endlich erreicht wurde 122 . Die Bedeutung der RKG-Judikatur bei der zunehmenden V errechtlichung von Konflikten spiegelt sich in der zunächst beträchtlichen und noch ansteigenden Zahl von Klagen wegen gewaltsamen Landfriedensbruchs ebenso wider wie in der deutlichen Abnahme solcher Prozesse in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und in dem gegenläufigen Anstieg erstinstanzlicher Prozesse zwischen konkurrierenden Reichsständen um "staatlichhoheitliche Rechtspositionen", die bis dahin oft Anlaß zu gewaltsamen Landfriedensbrüchen gewesen waren 123 • Eine ähnliche Leistung vollbrachte das RKG im Laufe des 16. Jahrhunderts mit der völligen Durchsetzung seiner Appellationszuständigkeit im Reich. In dieser Kompetenz konnte es sich im Kampf gegen Appellationsverbote und andere Hindernisse endgültig ebenfalls erst seit Ende 121 Zu allem RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1 (mit weiteren Literaturhinweisen); DERS., Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar, S.17 ff. Zu Veränderungen im sozialen Status der Prozeßparteien und zur Entwicklung der Streitgegenstände im 17. und 18. Jahrhundert s. jetzt, differenziert nach Regionen und Zeitabschnitten, die aufschlußreiche statistische Analyse bei BAUMANN, Gesellschaft, S.65 ff., 84 ff. Geweils mit Nachweis einschlägiger Spezialuntersuchungen z.B. zu Untertanenprozessen, Konflikten um Zunftprivilegien usw.). 122 Hierzu und zum Folgenden RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.l, bes. S.237, 240243; DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.18 f.; WEITZEL, Die Rolle des Reichskammergerichts, S.47 f. 123 Dazu RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.l, S.243 ff. (Zitat ebd., S.244) u. passim; danach DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.l9; WEITZEL, Die Rolle des Reichskammergerichts, S.48; zum Anteil von Prozessen um Jurisdiktionsrechte, staatlich-hoheitliche Rechte und (sehr gering) Landfriedensbruch im Verlaufdes 17. und 18. Jahrhunderts s. im einzelnen BAUMANN, Gesellschaft, S.91 ff.
90
11.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
des 16. Jahrhunderts behaupten 124 . In engem Zusammenhang damit stand drittens die gleichzeitig verlaufende Ausdehnung des tatsächlichen kammergerichtliehen Wirkungsbereichs auf die nördlichen Regionen des Reiches, die anfangs als königsferne Landschaften die RKG-Judikatur kaum beansprucht hatten, im Laufe des 16. Jahrhunderts aber zunächst über Landfriedensbruchsklagen, dann vor allem über Appellationsprozesse "in das Rechtsschutzsystem des Reiches" eingebunden und damit überhaupt erst stärker dem Reich zugeführt wurden 125 . In all diesen Aufbauleistungen, für die schon rein äußerlich der frappierende Anstieg des Geschäftsanfalls bis auf einen Scheitelpunkt gegen Ende des 16. Jahrhunderts symptomatisch ist, war das RKG nicht bloß Indikator, sondern gerade im ersten Jahrhundert seiner Existenz ganz wesentlich ein "eigenständiger Faktor des historischen Prozesses", den es "mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auf seine Weise durchaus wirkungsvoll" mitgestaltete 126 . 4. Funktionsbestimmung in der Spätzeit: das Kammergericht zwischen Schwäche und Bedeutung
Im 18. Jahrhundert, dem Fluchtpur!kt der vorliegenden Untersuchung, konnte das RKG diese überragende Rolle seiner Aufbau- und Blütezeit nicht mehr spielen. Dabei waren die Weichen für diese grundlegende Funktions- und Bedeutungsveränderung schon am Ende des 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts gestellt worden. Alles in allem läßt sich den beeindruckenden Leistungen, die das RKG im 16. Jahrhundert für das Reich erbracht hatte, in seiner Spätphase nichts Entsprechendes zur Seite stellen. Angesichts der fortschreitenden Verfe124 RAN1ER1, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, bes. 175 ff; s. auch WEITZEL, Kampf, passim, so S.124, resümierend S.345. 125 DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.17 (Zitat ebd.); auch DERS., Rechtsfälle, S.32 f., vorher schon RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, bes. S.165 ff., 175 ff.; zu diesem Thema s. neuerdings auf breiterer Basis die Spezialstudie von T. FREITAG- N. JöRN, Zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495-1806, in: N. Jörn - M. North (Hgg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich, Köln- Weimar- Wien 2000, S.39-141 (zur Entwicklung des gesamten Geschäftsanfalls aus diesen nördlichen Regionen und zum hohen Anteil der Appellationen s. anschaulich die Graphiken ebd., S.80 u. 88); vgl. auch B. DIESTELKAMP, Die Reichsgerichtsbarkeit in den Ostseeländern, in: ebd., S.13-38. 126 DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.457 u. 459. Zum rapiden Anstieg des Geschäftsanfalls seit Mitte des 16. Jahrhunderts bis zu einem später nie mehr erreichten Höhepunkt in den neunziger Jahren s. mit eindrucksvollen Zahlenwerten RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, S.125 ff., bes. S.137 ff.; dazu die Abbildungen und Tabellen in Tlbd.2, S.295 ff.; zum immer noch hohen gesamten Prozeßaufkommen in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts s. jetzt gerrauere Angaben bei BAUMANN, Gesellschaft, S.18 f., dazu S.133 ff., 136.
II.1.4. Funktionsbestimmung in der Spätzeit
91
stigung der Verfassungsstrukturen zugunsten der Territorialgewalten konnte dies auch nicht anders sein. In spiegelbildlicher Verkehrung der Anfangssituation mußte das Gericht nun seine normativen Zuständigkeiten immer mehr gegen die Aushöhlungstendenzen der nach Quasi-Souveränität strebenden Reichsstände verteidigen. Diesen stand im 18. Jahrhundert "eine zwar geschwächte, ihre Positionen aber gerade deshalb eifersüchtig bewachende Reichsgerichtsbarkeit gegenüber"127. Symptomatisch hierfür ist die hochsensible Reaktion des RKG auf illegale Behinderungen seiner Appellationszuständigkeit, die im 18. Jahrhundert vor allem auch von den kleinen und mittleren Territorien als bevorzugtes Kampfinstrument in ihrem Bestreben um größere Unabhängigkeit von der Reichsjustiz eingesetzt wurden 128 • Weitere Indizien für die zunehmende Schwächung der Wirksamkeit des RKG und für die Unterminierung seiner Autorität waren neben solchen ungesetzlichen Beschränkungen sowie der nicht aufhörenden Vergabe kaiserlicher Appellationsprivilegien zum Beispiel die mißbräuchliche Praxis der Rekurse an den Reichstag 129, die Mißachtung kammergerichtlieber Urteile bis hin zur Behinderung ihrer Exekution sowie überhaupt die verächtliche Behandlung, der das RKG vor allem von seiten der mächtigeren Reichsstände ausgesetzt war, den Kaiser in seiner Eigenschaft als Landesherrn nicht ausgenommen 130 . Dem RHR erging es in vieler Hinsicht nicht besser als 127 WEITZEL, 128
Kampf, S.315, ähnlich S.323.
WEITZEL, Kampf, S.323 u.ö.
129 Die
Rekurse an den Reichstag gehörten neben der Restitution, der Revision durch die RKG-Visitationskommission und der Syndikatsklage zu den- auf bestimmte Fälle beschränkten- Rechtsmitteln gegen RKG-Urteile, die ja generell nicht mehr durch Appellation angefochten werden konnten; dazu s. CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte Bd.2, S.164 f.; WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, S.233-244; DICK, Entwicklung, S.215-219; W. SELLERT, Artikel Recursus ad comitia, in: HRG 4, 1990, Sp.446-449. Zur Häufung und zum Mißbrauch der Rekurse im Laufe des 18. Jahrhunderts s. ebd.; ferner z.B. PüTTER, Patriotische Abbildung, S.18 ff. § 37 ff., S.61 f. §§ 138 u. 139; DERS., Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Tl.3, 3. Aufl. Göttingen 1799, S.47 ff.; H. CONRAD (Hg.), Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- und Völkerrecht sowie im Deutschen Staatsund Lehnrecht, Köln- Opladen 1964, S.559 f. §§ 9 u. 10; WIGGENHORN, Reichskarnmergerichtsprozeß, S.242; SELLERT, Prozeßgrundsätze, S.411 f.; vgl. auch WEITZEL, Kampf, S.357. Demgegenüber hält jedoch neuerdings K. Härter angesichts der Verfassungswirklichkeit "eine differenziertere Beurteilung der Rekursproblematik" für angemessen. Denn tatsächlich sei die Möglichkeit der Rekursbeschwerde nicht besonders häufig genutzt worden und noch seltener habe der Reichstag durch eine politische Entscheidung in ein Verfahren eingegriffen. Man könne folglich "kaum pauschal behaupten, durch die Rekurse wäre die Reichsjustiz insgesamt blockiert oder gar [so Sellert, die Verf.] 'die Reichsgerichtsbarkeit in Frage gestellt' worden", s. HÄRTER, Rekurs, S.263 f. Im oben skizzierten Kontext ist allerdings die verbreitete zeitgenössische Wahrnehmung vom Mißbrauch der Rekurse in der Spätphase des Reiches nicht unerheblich. 130 Zu dieser Mißachtung "anmaßlicher" RKG-Urteile auch von habsburgischer Seite als ein Beispiel: der Österreichische Staatskanzler Wenzel Anton Fst. Kaunitz-Rietberg an den
92
II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
dem RKG, er war jedoch wegen seiner stärkeren Anhindung an den Kaiser und seiner viel intensiveren Inanspruchnahme insgesamt weniger verletzlich als das isoliert in Wetzlar agierende RKG. Alles in allem waren in der Spätzeit des Reiches die Beeinträchtigungen der RKG-Judikatur so offenkundig, daß sie leicht den Blick auf seine immer noch vorhandene Wirksamkeit versperren konnten. Äußerlich ablesbar waren Funktions- und Bedeutungsverlust an dem schon seit Anfang des 17. Jahrhunderts stark gesunkenen GeschäftsanfalL Er blieb im 18. Jahrhundert weit unter den eindrucksvollen Zahlen jährlicher Neuzugänge, die in der Blütezeit zu Ende des 16. Jahrhunderts erreicht worden waren. Während sich die vielfach als allzu niedrig bemängelte Erledigungsrate, d.h. die Aufarbeitung alter Prozesse, zum Schluß erhöhte, war das RKG bei seiner Auflösung mit weniger Neuzugängen konfrontiert als in seiner Anfangszeit 131 • Angesichts der vielfältigen Einengungen der kammergerichtliehen Wirkungsmöglichkeiten seitens derjenigen Kräfte, die Jahrhunderte zuvor dem Reichsoberhaupt ein von ihnen wesentlich mitgetragenes zentrales Gericht im Reich abgetrotzt hatten, zog der RKG-Assessor Pranz Dietrich v. Ditfurth 1782 im Kameralkollegium verbittert den Schluß, "das gar kein Gericht besser seye als ein solches - und in unserer aller Macht stehet es nicht, den Verfall zu hindern". Und er fuhr mit tiefem Gespür fiir historische Umbrüche fort: "Dieses Höchste Reichsgericht stehet nun in dermaliger Hauptverfassung 287 Jahr. Es ist bekannt, daß sich seit Maximiliarli, dessen Stifters, Tode die Reichsverfassung in dieser ungeheuren Zeitperiode dergestalt verändert hat, daß man die alte, die wir in der Geschichte erblicken, gegen die heutige nicht mehr kennet; und was könnte ich dagegen, warm die gesetzgebende Macht die Existenz eines in alten Zeiten nöthig gefundenen Gerichts der heutiger[!] Verfassung nicht ar~gemessen
Kammerrichter Franz Gfn. Spaur, Wien, 20.4.1782, Kopie: RKG IV B 2/21 fol.34/1782; pessimistischer Kommentar dazu: Votum Ditfurth 2.5.1782, in: ebd., fol.42b u. s.f./1782; zu all diesen Aspekten äußerst kritisch auch PüTTER, Patriotische Abbildung; s. auch die weitere Darstellung. Über geringschätzige Behandlung des RKG durch mächtigere Reichsstände in Präsentationskonflikten des 18. Jahrhunderts s. die in Tl.II enthaltenen Biographien von RKGAssessoren und sonstigen Präsentierten (s. Tl.II, Sachregister, S.XXXIX, unter dem Stichwort Präsentanten/Präsentationshöfe - Ausübung von Druck/Androhung von Repressalien/Geringschätzung des RKG usw.). 131 Präzise Angaben zur Entwicklung des Geschäftsanfalls im 18. und auch schon im 17. Jahrhundert s. jetzt bei BAUMANN, Gesellschaft, S.17 ff., bes. S.23-31, dazu Tabelle und Graphik S.133 ff., 136; s. auch schon RANIERI, Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar, S.11-15; DERS., Geschäftsanfall und Prozeßfrequenz, S.254 ff.; DERS., Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, S.139, 141 ff. (zur Entwicklung im 17. Jahrhundert bis zum Ende der Speyerer Zeit), dazu Tabellen und Abbildungen in Tlbd.2, S.295 ff.; s. auch DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.14; DERS., Rechtsfälle, S.31.
II.1.4. Funktionsbestimmung in der Spätzeit
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fände, solches aufheben und für die Justitz andere Vorkehrungen machen wollte"'32. Ditfurth, der die Kluft zwischen der normativen Kompetenzfülle des RKG und seiner tatsächlichen Funktionsschwäche viel deutlicher sah als manche seiner Assessorenkollegen, charakterisierte damit ein Vierteljahrhundert vor der Auflösung des Gerichts zweifellos zutreffend die eine, deprimierende Seite seiner in Wetzlar gesammelten Erfahrungen. Bei der Betrachtung nur dieser einen Seite kann allerdings der schwierige V ersuch, die damalige Position des RKG im Rechtsleben und überhaupt im Verfassungsgefüge des Reiches zu bestimmen, nur halbwegs gelingen. Auch Bemhard Diestelkamp konstatiert, "daß es für die Einschätzung der Bedeutung des Reichskammergerichts auch in seiner Endphase nicht ausreicht, die Verringerung der Prozeßfrequenz und Intrigen unter den Richtern zu beklagen. Seiner Tätigkeit kam offenbar eine größere Bedeutung zu, als sich in Zahlen und Skandalen ausdrückt" 133 • Tatsächlich erfüllte das RKG auch im 18. Jahrhunderttrotz aller Schmälerung seiner Jurisdiktion durch die weit fortgeschrittene Territorialisierung und trotz aller immer deutlicher zutage tretenden institutionellen Mängel weiterhin wichtige Funktionen. Dies galt zum einen für die Rechtspflege im engeren Sinne. Zwar war die Inanspruchnahme des RKG drastisch zurückgegangen, aber auch die gesunkene Anzahl der jährlichen Neuzugänge stellte immer noch einen deutlichen Vertrauensbeweis für die Kameraljustiz dar, wobei es den streitenden Parteien, wie schon erwähnt, keineswegs immer nur um die rasche Erlangung eines Endurteils ging 134 • Auch im letzten Drittel seiner Existenz leistete das RKG weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Verrechtlichung von Konflikten und damit zur Wahrung bzw. Herstellung des inneren Friedens, auch wenn diese bedeutsame Funktion im 18. Jahrhundert andere Züge annahm als in den früheren Jahrhunderten. Damals war die Kameraljudikatur neben Zivilklagen zunächst stark mit Prozessen wegen gewaltsamen Landfriedensbruchs, nach deren Abklingen dann zunehmend mit Konflikten zwischen Reichsständen um strittige Bereiche der Landeshoheit befaßt gewesen. Diese auf dem Rechtsweg ausgetragenen territorialpolitischen Streitigkeiten nahmen in der Wetzlarer Zeit des RKG- darin die Konsolidierung der Landeshoheit widerspiegelnd- ab. Dage132
Votum Ditfurth 2.5.1782, in: RKG IV B 2/21 fo1.42b u. s.f./1782.
133
DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.24. 134 Zur Inanspruchnahme des RKG als Vertrauensbeweis s. DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, S.462; DERS., Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.7; DERS., Rechtsfälle, S.38; vgl. auch RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, S.127 mit Anm.5, S.145 mit Anm.68.Zum Stellenwert des Endurteils s. schon oben Anm.109.
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II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
gen spielte das RKG im 18. Jahrhundert offenbar eine zentrale Rolle bei der Verrechtlichung der Konflikte der bäuerlichen Bevölkerung, die damals in weitaus größerer Zahl als früher ihre Klagen wegen Verletzung alter Rechtspositionen seitens ihrer Grundherren am RKG - und auch am RHR- anhängig machte. Statt gewaltsam gegen ihre Obrigkeiten vorzugehen, nahmen bäuerliche Beschwerdeführer das von der Reichsjustiz verkörperte Angebot zum rechtlichen Konfliktaustrag wahr, wobei es auf einem anderen Blatt steht, daß diese Klagen nur zum Teil zum erhofften Erfolg flihrten 135 • Auch sonst konnte das RKG selbst noch im Zeichen weitgehender Abschottung der territorialen Gerichtsbarkeit den Rechtsschutz der Untertanen, und zwar nicht nur in den kleineren Territorien, weiterhin sichern, was die in der Wetzlarer Zeit ansteigenden Klagen wegen Rechtsverweigerung oder Nullität signalisieren136 . 135 Zu der (im Vergleich zur Speyerer Zeit) beträchtlichen Zunahme von Prozessen bäuerlicher Untertanen vor dem RKG in der Wetzlarer Zeit s. RANIERI, Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar, S.20 ff.; W. TROSSBACH, Die Reichsgerichte in der Sicht bäuerlicher Untertanen, in: Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, S.129-142, bes. S.142; eine gerrauere statistische Analyse solcher RKG-Prozesse, in denen bäuerliche Untertanen im 17. und 18. Jahrhundert in Konflikten um Probleme der Grundherrschaft, um die Nutzung des Waldes usw. als Kläger oder Beklagte auftraten, s. jetzt bei BAUMANN, Gesellschaft, S.72 ff., bes. 74 ff., S.96 ff., dazu S.145 Abb.8, S.156 Abb.7; Nachweis einschlägiger neuerer Forschungen ebd., S.73 Anm.227 u. ff. Als grundlegende Untersuchung verschiedener Typen von kollektiven bzw. kommunalen und individuellen Untertanenprozesseil aus dem bäuerlichen und städtischen Milieu liegt jetzt vor: R. SAILER, Untertanenprozessevor dem Reichskammergericht Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Köln- Weimar- Wien 1999; s. ebd., S.467 ff., die Zusammenfassung und abschließende Wertung Sailers, u.a. S.467: "Im Untersuchungsbereich zeigt sich gerade am Ende des Alten Reiches die höchste Zahl von Untertanenprozessen seit Bestehen des Reichskammergerichts. Offensichtlich zogen die Untertanen den Rechtsweg der Revolution vor, in der Erwartung, beim RKG würden ihre rechtlichen Interessen respektiert und geschützt". Sailer legt allerdings auch die Hemmnisse und Nachteile offen, die sich Untertanen in RKG-Prozessen gegen ihre Obrigkeitenangesichts des "faktischen Ungleichgewichts zwischen Obrigkeit und Untertanen" in den Weg stellten: "Es ist jedoch festzuhalten, daß es die Untertanen waren, die das Lehrgeld fiir den Lemprozeß der 'Verrechtlichung' zahlten" (ebd., S.469); einschlägige Fallbeispiele von Untertanenprozessen s. auch bei DIESTELKAMP, Rechtsfälle. Zu der- im Zusammenhang allgemeiner Verrechtlichung von sozialen Konflikten zu sehenden- quantitativen Entwicklung dieser Untertanenprozesse im Laufe des 16. Jahrhunderts s. (mit weiteren Nachweisen) RANIERI, Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, S.152, 193 mit Anm.116, 233 f. mit Anm.48-51; kurz auch DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.22 f.- Gute Einfiihrung in die Thematik: H. GABEL, "Daß ihr künftig von aller Widersetzlichkeit, Aufruhr und Zusammenrottierung gänzlich abstehet." Deutsche Untertanen und das Reichskammergericht, in: Frieden durch Recht, S.273-280; s. auch B.DIESTELKAMP, Reichskammergericht und deutsche Rechtsstaatskonzeption, in: ders. - I. Scheurmann (Hgg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung, Bonn- Wetzlar 1997, S.131-142, hier S.134-136. 136 RANIERI, Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar, S.18; zur Rechtsschutzfuriktion s. DIESTELKAMP, Rechtsstaatskonzeption; im spezielleren Kontext DERS., Reichskammergericht und Rechtsstaatsgedanke. Die Kameraljudikatur gegen die Kabinettsjustiz, Heidelberg 1994; J. WEITZEL, Das Reichskammergericht und der Schutz von Freiheitsrechten
Il.1.4. Funktionsbestimmung in der Spätzeit
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Zu solchen im engeren Sinne rechtspolitischen Leistungen des RKG, die maßgeblich zur deutschen Sonderentwicklung eines "Rechtswegstaates" beitrugen 137 , kam auch in seiner Spätzeit seine Integrationsfunktion im Rahmen der Reichsverfassung. Diesen Beitrag zur Reichseinheit meinte der RKG-Assessor Ignaz Friedrich v. Gruben, als er 1797 mitten in den Stürmen der Revolutionskriege und unmittelbar nach Abschluß des ftir die Reichsintegrität so bedrohlichen Friedens von Campo Formio das RKG "als die erste Grundsäule der Constitution" Deutschlands rühmte, als "das Band der Einigkeit, welches die Fürsten und ihre glückliche Unterthanen unter dem Schutze des allerhöchsten ROherhaupts" seit drei Jahrhunderten vereint habe 138 • Auch heute besteht rückblickend Konsens darüber, daß trotz aller Einschränkungen seiner Wirksamkeit "sich auch im 18. Jahrhundert noch im Kammergericht das ganze Reich repräsentierte"139. Für das RKG mußte dies wegen seiner dualistischen und im Geftige des Reiches gleichsam freischwebenden Verfassungskonstruktion sehr viel mehr zutreffen als ftir den RHR, der eindeutig dem Reichsoberhaupt zugeordnet war. In diesen Zusammenhang gehört auch Pütters Beobachtung, daß es angesichts der zentrifugalen, den Reichsverband sprengenden Tendenzen oft schwerfalle, die Einheit des Reiches überall wahrzunehmen. Sie sei unmittelbar eigentlich nur noch am kaiserlichen Hof, am Reichstag und am RKG, also an den drei Orten Wien, Regensburg und Wetzlar sichtbar 140 . Und nach einem Vergleich mit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Diestelkamp (Hg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts, S.l57-180; K. HÄRTER, Das Reichskammergericht als "Reichspoliceygericht", in: Hattenberg- Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz, S.237-252. 137 DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.25; grundsätzlich DERS., Rechtsstaatskonzeption, S.131 ff., 141 f.; DERS., Rechtsstaatsgedanke, bes. S.31; vgl. auch kurz DERS., Rechtsfälle, S.33. 138 Grubens Reden vom 23.10.1797 anläßlich der Introduktion des neuen Kammerrichters Philipp Kar! Gfn. von Oettingen-Wallerstein in: RKG IV B 2/28 fol.172 u. s.f., hier Rede nr.5, s.f.; ähnlich Rede nr.2, fol.172v; über das RKG und überhaupt die in den beiden höchsten Reichsgerichten verkörperte Reichsjustiz, zumindest wie sie sein sollte, als einigendes Band aller Territorien und Einwohner "unter dem Schutze und Ansehen eines allgemeinen allerhöchsten Oberhaupts" s. auch PüTTER, Patriotische Abbildung, S.6 f. §§ 5 u. 6 u.ö.; danach auch BOSTELL, Grundsätze, Tl.l, S.77 f. § 84; s. auch DIESTELKAMP, Rechtsfälle, S.33. 139 DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, S.5. Vgl. auch ARETIN, Heiliges Römisches Reich, Tl.l, S.97 f., wonach die Frage, ob die Reichsverfassung am Ende des 18. Jahrhunderts noch ihren Zweck erfüllte, nicht nur ein staats- und verfassungsrechtliches Problem war. Von entscheidender Bedeutung sei auch die Frage nach der Rechtsordnung und ihrem Funktionieren. "Denn das Reich in seiner letzten Phase kann nicht so sehr als Verfassungs-, sondern als Rechtszustand begriffen werden. Hier geht es wirklich um das Wesen des Reiches, also insbesondere darum, wieweit das Reich als Rechtsordnung intakt war". 140 PüTTER, Historische Entwickelung, Tl.3, S.215; vgl. ebd., S.245; s. auch DERS., Patriotische Abbildung, S.29 § 66.
96
II.1. Das Kammergericht als zentrale Institution des Alten Reiches
Wien - unter anderem auch dem Sitz des Reichshofrats - und Regensburg kam Pütter zu dem Schluß, es lasse sich "ungleich lebhafter ... die Reichsverfassung noch endlich zu Wetzlar in der beständig fortgehenden Thätigkeit des Cammergerichts erkennen" 141 • Allerdings stand diese über eine zentrale gerichtliche Aktivität hergestellte Bindewirkung, kraftderen das RKG im 16. Jahrhundert wesentlich zur Durchdringung und Verdichtung des Reiches beigetragen hatte, im 18. Jahrhundert doch eher unter umgekehrtem, nämlich defensivem Vorzeichen. In seiner Aufbau- und Blütezeit hatte das RKG die Reichsgerichtsbarkeit fiir manche Regionen und Zuständigkeiten überhaupt erst hergestellt. Im 18. Jahrhundert dagegen wurde es "mehr und mehr zum Hüter der Gerichtsverfassung, zum Verteidiger desstatusqua gegen Auflösungserscheinungen" 142 • Symptomatisch fiir diese verfassungspolitische Bedeutung, die der RKG-Jurisdiktion in der Spätphase innewohnte, war das Tauziehen um die Offenhaltung bzw. Schmälerung der reichsgerichtliehen Appellationszuständigkeit Schon aufmerksame Zeitgenossen sahen gegen Ende des 18. Jahrhunderts "in der Appellationszuständigkeit der Reichsgerichte - und in deren Zuständigkeit fiir Rechtsverweigerungsbeschwerden- die letzten effektiven Kriterien, an denen die Unterordnung der Reichsglieder unter die Reichsgewalt noch augenfallig wurde. Anders ausgedrückt: Das Reichsprozeßrecht hatte Funktionen des Staatsrechts übernommen, welche das Reichskammergericht schützte, weil sein Selbsterhaltungsinteresse identisch war mit dem Fortbestand jener Rechtsordnung des Reiches, als deren Hüter sich die Wetzlarer Richter denn auch verstanden'" 43 • Alles in allem kann eine Funktionsbestimmung des RKG gerade in der Spätzeit seiner Existenz nicht anders als ambivalent sein. Unübersehbare institutionelle Schwächen, Leistungsminderungen und Beeinträchtigungen der RKGJudikatur und die dennoch fiir Rechtsordnung und Verfassungssystem des Reiches weiterhin essentiellen Leistungen stehen am Ende nebeneinander, ohne ge141
PÜTTER, Historische Entwickelung, Tl.3, 8.232.
WEITZEL, Kampf, 8.353; vgl. auch auch PüTTER, Patriotische Abbildung, bes. 8.29-34, der angesichts des Verfalls der Reichsgerichtsbarkeit zu der düsteren Prognose kam, mit den Reichsgerichten und mit der höchstrichterlichen Gewalt des Kaisers gehe auch "die Einheit des Teutschen Staatskörpers" unter: "Teutschland bleibt nicht mehr ein Reich" (8.29). So hoch setzte er also die verfassungspolitische Bedeutung von RKG und RHR für den Fortbestand der Reichseinheit an! 142
HINZ, Der Mandatsprozeß des Reichskammergerichts als Instrument, 8.352 (im Anschluß an eine 1780 erschienene Darstellung Christian Gottlob Bieners); vgl. auch WEITZEL, Kampf, 8.351, der zu Recht darauf hinweist, daß die Beeinträchtigung der Appellationszuständigkeit "im wesentlichen politisch, nicht aber für die Qualität der Rechtspflege relevant" gewesen sei, weil"das RKG dem Arbeitsanfall ohnehin nicht gewachsen war". Dagegen habe "die Vielzahl der Appellationsbehinderungen den Reichsgedanken auf breiter Front" gefahrdet. 143
II.l.4. Funktionsbestimmung in der Spätzeit
97
geneinander aufgewogen werden zu können 144 . Weder einseitige Verdammung noch einseitige Idealisierung ist am Platz, sondern eine realistische Einbeziehung beider Seiten. In diesem Spannungsfeld zwischen Niedergang und Bedeutung lebten und arbeiteten die im 18. Jahrhundert am RKG amtierenden Juristen. Auch die moderne Forschung, die sich mit dem RKG als einer der "spezifischen und weit wirkenden Reichsinstitutionen des alten Reichsverbandes" befaßt, hat . h.m d'1esem K oord'matensystem zu b ewegen 145 . s1c
144 Vgl. auch DIESTELKAMP, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, 8.25 f.; DERS., Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, in: Das Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar (Museumskatalog), 2., erw. Aufl. Wetzlar 1997, 8.5-14, hier 8.13; PRESS, Reichskammergericht, 8.49. 145 Zitat: PRESS, Reichskammergericht, 8.49.
11.2. Das Personal des Kammergerichts 1. Das Personal insgesamt
Im vorausgegangenen Kapitel wurde den RKG-Assessoren ein erster Rahmen gesetzt durch die Lokalisierung des verfassungsrechtlichen Orts jenes Gerichts, an dem sie tätig waren, durch die Beschreibung seiner rechtswissenschaftliehen und gerichtsorganisatorischen Bedeutung sowie seiner jurisdiktionellen Funktion und Akzeptanz im Wandeldreier Jahrhunderte. Der folgende Abschnitt unternimmt eine Annäherung anderer Art: durch Einbettung der Assessorengruppe in das gesamte Personal des RKG. Denn die Beisitzer bildeten zwar nach Funktion und Rang eine herausragende Gruppe, zusammen mit Kammerrichter und Präsidenten galten und gelten sie häufig als das RKG schlechthin. Aber sie waren doch nur ein Schwungrad im Räderwerk des kammergerichtliehen Betriebs. Das gesamte Personal des RKG, das seit der Verlegung nach Wetzlar im Jahre 1690 der Gesellschaft dieser kleinen Reichsstadt gleichsam übergestülpt war, stellte sich von außen und aus größerer Feme gesehen auf den ersten Blick in mehrfacher Hinsicht als Einheit dar. Verbindendes Element war die Gemeinsamkeit in der Exklusivität. Diese Sonderstellung des RKG-Personals als Ganzes resultierte vor allem aus drei komplementären Faktoren: Erstens ergab sie sich aus der gemeinsamen Tätigkeit im Dienste einer obersten Reichsbehörde, die ihren Sitz, wie die zahlreichen Verlegungen und Translokationspläne zeigen, auch an einem anderen Ort des Reichs hätte haben können und der Verfassungs- und Verwaltungstruktur ihrer Wirtsstadt für ihr eigenes Funktionieren nicht bedurfte. Zweitens standen sämtliche Kameralpersonen vom Kammerrichter bis hinunter zu den Kammerboten in einem besonderen, als "Reichsunmittelbarkeit" definierten Rechtsverhältnis zu Kaiser und Reichsständen, den gemeinsamen Schöpfern dieser obersten Gerichtsinstanz, die in ihrer Gesamtheit vom RKG repräsentiert wurden I. Alle Funktionsträger des Gerichts mußten Kaiser I Im Begriff der "Reichsohnmittelbarkeit" werden die Rechtsverhältnisse der Karneralpersonen zusarnmengefaßt in JRA 1654 § 167. JRA § 165 spricht von "Unserm und des Heiligen Reichs Kammergericht, als welches Uns samt Kurflirsten und Ständen des Reichs repräsentiert" (Zitate nach LAUFS, JRA 1654, S.SO, 77); vgl. auch Vis.A. 1713 § 22 (CJC, S.967): "beym Gericht (welches überhaupt Ihre Kayserl. Majestät und das Reich allein repraesentiret)".- Mit dem besonderen Verhältnis des RKG-Personals insgesamt zu Kaiser und Reich befaßt sich die ältere Karneralliteratur in ihren verfassungsgeschichtlichen Teilen, meist vor der Beschreibung der einzelnen Karneralämter; s. in Auswahl MaSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.335 ff., bes. 338 ff.; F. W. TAFINGER, Institutiones Iurisprudentiae Carneralis, Sectio I. et II., 2., verm. Aufl. Tübingen 1775, S.243 ff.; J. St. PüTTER, Anleitung zum Teutschen Staatsrechte, Tl.2, Bd.1, Bayreuth 1792, S.89 f. (Anm.5 zu S.86); W.A.F. DANZ, Grundsäze des Reichsgerichts-Prozesses, Stuttgart 1795, S.60 f.- [G. G. BALEMANN], Beiträge zur Revision und Verbesserung der fünf ersten Titeln des Concepts der Kaiserlichen Karnmergerichtsord-
II.2.1. Das Personal insgesamt
99
und Reich zusätzlich zu ihrem speziellen Amtseid Treue und Gehorsam schwören2 und standen ihrerseits zur Gewährleistung ihrer Sicherheit im besonderen Schutz und Schirm von Reichsoberhaupt und Ständen3 . Drittens und damit eng zusammenhängend erfreuten sich die Kameralpersonen samt ihren Familien und ihrer Dienerschaft reichsgesetzlich der sogenannten Kameralfreiheiten, die ihnen gegenüber der Reichsstadt-Bürgerschaft eine exemte Stellung verliehen und ständigen Anlaß zu Reibereien und Mißgunst seitens der in ihrer eigenen Stadt zu Einwohnern zweiter Klasse degradierten Einheimischen in Wetzlar (bzw. vorher in Speyer) gaben. Im wesentlichen handelte es sich um die folgenden Immunitäten: Religionsfreiheit, privilegierter Gerichtsstand - nämlich in zivilen und Strafsachen ausschließlich vor dem RKG selbst- sowie eine fast völlige Befreiung von steuerlichen Abgaben einschließlich Ungeld und Zöllen auf eingeführte Güter des eigenen Bedarfs4 • nung, Lemgo 1778, S.2, bemerkt zu Recht, daß im ersten Teil der KGO 1555 und des Konz. KGO 1613, der von den am RKG angestellten Personen und damit von der inneren Gerichtsverfassung handelt, verschiedene wichtige Materien ausgelassen worden seien, unter anderem das Verhältnis des RKG gegenüber Kaiser und Reich.- Die in KGO 1555 Tl.l enthaltenen Normen betreffend das Personal des RKG, speziell betreffend Qualifikation, Funktion, Rechte und Pflichten von Kammerrichter, Präsidenten und Beisitzern, beruhen - abgesehen von den 1555 modifizierten religionsrechtlichen Regelungen- fast vollständig und wörtlich auf Tl.l der KGO von 1548, die dann wenige Jahre später durch die bis 1806 gültige KGO von 1555 ersetzt wurde. Um den Anmerkungsapparat dieses Kapitels II.2. zu entlasten, werden im folgenden in der Regel nur die einschlägigen Regelungen in KGO 1555 Tl.l (LAUFS, KGO 1555, 8.73-165) nachgewiesen, die zugrunde liegenden Bestimmungen in KGO 1548 Tl.l dagegen nur in Ausnahmefällen; Druck von KGO 1548 Tl.l: RTA JR 18/2, 8.1242-1330, leider ohne Unterteilung der Artikel (Titel) in Paragraphen). 2 Spezielle Amtseide in: KGO 1555 Tl. I Tit.57 u. passim bis Tit.85 (LAUFS, KGO 1555, S.151 ff.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.71-84 (CJC, S.657 ff.); der zusätzlich von allen Kameralpersonen zu schwörende Eid, Kaiser und Reich ("Ihrer Kayserl. Majestät und dem Reich") getreu und gehorsam zu sein, wurde auf Grund eines entsprechenden Passus im Dep.A.1557 §§ 16-17 alias §§ 20-21 (CJC, S.227) nachgetragen in: Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.85 (ebd., S.661 f; danach zit.). 3 KGO 1555 Tl.l Tit.49 §4 (LAUFS, KGO 1555, S.146); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.63 § 12 (CJC, S.651); JRA 1654 § 167 (LAUFS, JRA 1654, S.79 f.). 4 Reichsgesetzliche Grundlage für die Kameralfreiheiten: KGO 1555 Tl. I Tit.49 § 1 (in § 2 Ausdehnung auf die RKG-Praktikanten; LAUFS, KGO 1555, S.145); Konz. KGO 1613 Tl. I Tit.63 Vorwort u. passim (CJC, S.650); JRA 1654 § 141 (LAUFS, JRA 1654, S.68 f.); zu diesen Kameralfreiheiten, wozu auch die Verschonung von militärischen Einquartierungen und anderen Kriegslasten sowie die Briefportofreiheit für die Mitglieder des Kameralkollegiums, den Kanzleiverwalter und den Reichspfennigmeister gehörte, s. vor allem MosER, JustizVerfassung, Tl.2, S.571 ff.; TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et Il., S.250 ff.; J.F. MALBLANK, Anleitung zur Kenntniß der deutschen Reichs- und Provinzial-Gerichts- und Kanzleyverfassung und Praxis, Tl. I: Anleitung zur Kenntniß der Verfassung des Höchstpreißlichen Kaiserlichen und Reichskammergerichts, Tl.l, Nümberg- Altdorf 1791, S.267 ff.; SMEND, Reichskammergericht, S.370 ff.; maßgeblich jetzt die ausfuhrliehe Darstellung von HAUSMANN, Kameralfreiheiten. Über die vielen konfessionellen, wirtschaftlichen und jurisdiktioneilen
100
II.2. Das Personal des Kammergerichts
Der durch Tätigkeitsfeld, rechtliche und ökonomische Sonderstellung definierte und von der Wetzlarer Bürgerschaft abgegrenzte Sozialkörper des gesamten RKG-Personals war jedoch in sich keineswegs homogen, sondern nach Funktion, Bildung, Konfession und sozialem Status, nach Ernennungsmodus und Besoldungsart stark differenziert sowie außerordentlich hierarchisch gegliedert eine ständische Gesellschaft im Kleinen. Die gedruckten Personalverzeichnisse der Wetzlarer Zeit, die dem Kammerrichter, den Präsidenten und den Assessoren- bereits in abgestufter Form- verschnörkelte Initialen, sehr große bis große Konflikte, die aus den - häufig auch noch mißbräuchlich ausgedehnten - Kameralfreiheiten zwischen den Kameraleu und den Wirtsgemeinden in Speyer und Wetzlar entstanden, s. SMEND, Reichskammergericht, S.371-374; speziell für Wetzlar: F. W. FRH. V. ULMENSTEIN, Geschichte und topographische Beschreibung der Stadt Wetzlar, Tl.2, Wetzlar 1806; H. RAu, Geschichte der Reichsstadt Wetzlar vom Westfälischen Frieden bis zum Kommissionsvergleich zwischen Rat und Bürgerschaft (1648-1712), Wetzlar 1928, S.78 ff.; K. WATZ, Die Reichsstadt Wetzlar vom Kommissionsvergleich zwischen Rat und Bürgerschaft bis zum Beginn des ?jährigen Krieges (1712-1756), Wetzlar 1929, S.l91 ff., 206 ff., 216 ff.; F. BILL, Die Reichsstadt Wetzlar vom Beginn des siebenjährigen Krieges bis zum Reichsdeputationshauptschluß (1756-1803) (masch. Mskr. im Hist. Archiv der Stadt Wetzlar, 1938), S.213 f.; A. SCHOENWERK, Geschichte von Stadt und Kreis Wetzlar, 2., überarb. u. erw. Aufl. von H. Flender, Wetzlar 1975, S.263 f.; V. PRESS, Wetzlar- Reichsstadt und Reich im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Mittlgn. des Wetzlarer Geschichtsvereins H.31. Herbert Flender zum 70. Geburtstag, Wetzlar 1985, S.57-101, hier S.82 ff.; HAUSMANN, Prozesse, S.98 f., 111 ff.; DERS., Kameralfreiheiten, passim; H.-W. HAHN, Von der "Kultur der Bürger" zur "bürgerlichen Kultur". Veränderungen in der Lebenswelt des Wetzlarer Bürgertums zwischen 1700 und 1900, in: R. van Dülmen (Hg.), Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a.M. 1988, S.l44-185 mit Anm. S.287-291, hier 153 ff.; DERS., Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689-1870, München 1991, bes. S.42 f., 64, 67, 91 ff., 102; kurz auch DERS., Reichskammergericht und Stadtentwicklung: Wetzlar 1689-1806, Wetzlar 1991, S.24 f. -Das Recht der freien Religionsausübung fiir die Kameraleu aller drei christlichen Konfessionen erschwerte in der offiziell lutherischen Reichsstadt Wetzlar mit ihren bis 1689 rechtlich benachteiligten katholischen und reformierten Minderheiten schon die Aufnahmeverhandlungen und provozierte dann im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer wieder erbitterte Auseinandersetzungen. Dies vor allem, weil die in den Aufnahmeverhandlungen zugestandene konfessionelle Gleichberechtigung in der Folgezeit mit kaiserlicher, kurmainzischer und kurtrierischer Rückendeckung zu einem Übergewicht der katholischen Kameraleu und zu einer katholischen Expansion in der ihrem Selbstverständnis nach lutherischen Reichsstadt führte. Zum einen ging es dabei, wie PRESS, Wetzlar, S.90, zu Recht betont, um die Konfession des Kaisers, repräsentiert im ebenfalls katholischen Kammerrichter. Zum anderen mußte allein schon die Tatsache, daß der Reichserzkanzler und Kurfürst von Mainz die RKG-Kanzlei entgegen dem Paritätsgebot des Westfälischen Friedens bis 1806 ausschließlich mit katholischen Personen besetzte, ein quantitatives Übergewicht des katholischen Elements im Kreis der Kameraleu erzeugen und damit den immer weitergehenden katholischen Forderungen entsprechendes Gewicht verleihen. Immerhin waren von den 141 Personen, die im Jahre 1805 am RKG amtierten (ohne Doppelzählungen infolge Ämterkumulation), nach Ausweis des Kameralkalenders 89 katholisch und nur 52 evangelisch- Zahlenverhältnisse, die auch für die früheren Jahrzehnte anzusetzen sind; zum ganzen Problemkreis s. jetzt ausfUhrlieh HAHN, Altständisches Bürgertum, S.43, 47 u. bes. Kap.II.2.1., S.91-98: Die "erzwungene Toleranz" und die "lutherische Identität" des Wetzlarer Stadtbürgertums.
II.2.1. Das Personal insgesamt
101
Drucklettern und viel Platz fiir Namen und Titulaturen einräumen, den folgenden Amtsträgem dagegen immer weniger bis hin zu den kleintypigen, zusammengedrängten Namen der Kammerboten, sind ein sprechendes Abbild dieser Hierarchie 5 • Diese Verzeichnisse fiihren dem Rang nach 23 verschiedene Karneralfunktionen auf, die schon seit der Neugründung 1495 existierten oder in den folgenden Jahrzehnten der Aufbauphase hinzukamen und seitdem nur noch in der Zahl der Amtsinhaber variierten6 • Die folgende Tabelle I enthält fiir vier ausgewählte Amtsjahrgänge der Wetzlarer Zeit die Zahl der pro Funktion amtierenden Personen (S = Supemumerarius f Die Rubrik flir 1693 verdeutlicht den durch Unterhaltsmangel und Flucht 5 Von den gedruckten Verzeichnissen des RKG-Personals, betitelt "Judicii Camerae Imperialis Personae", existieren im "Untrennbaren Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs (in: RKG Mise. 597) noch ein Speyerer Jahrgang von 1686, dann ab 1690 in lückenhafter Folge verschiedene Jahrgänge aus der Wetzlarer Zeit bis Ende des 18. Jahrhunderts. Die entsprechenden Personalverzeichnisse in den seit 1738 erschienenen Kameralkalendern sind im Druckbild nicht ganz so eindrucksvoll, staffeln aber die Lettern ebenfalls nach der Rangfolge der Amtsträger. Zur gleichsam ständischen Struktur der Karneralgeseilschaft s. auch HAHN, Altständisches Bürgertum, S.61 ff.
6 Die 23 Funktionen verstehen sich ohne den Kameralkutscher, der bis ins zweite Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in einigen RKG-Personalverzeichnissen, so auch für 1703, aufgeführt ist. Dabei handelte es sich aber um kein echtes Kameralamt. - Von den aufgeführten 23 Funktionen wurden Kammerrichter, Präsidenten, Assessoren, der Kanzleiverwalter als Boten-Deputatus, der Generalfiskal (auch: Fiskal bzw. Fiskalprokurator), der Fiskaladvokat, die Karneralärzte (erst seit 1736 zwei), der Pfennigmeister, der Botenmeister, die Leserei wegen der Gegenschreiberei, die Pedellen sowie die 12 reitenden Boten aus den von den Reichsständen zu zahlenden Kammerzielern besoldet; s. RKG Pfennigmeister-Rechnungen; s. auch die Besoldungslisten in: HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.114, 123. 7 Quellen für die vier ausgewählten Amtsjahrgänge: RKG-Personalverzeichnis "Judicii Camerae Imperialis Personae" für 1693 (enthält den Personalstand vom Ende des Jahres), 1703 und 1740 (gedruckt im Februar; der am 1.2.1740 verstorbene Assessor Georg Melchior v. Ludolfist darin schon nicht mehr verzeichnet); Kameralkalender 1805 (ein Kameralkalender für 1806 war im BAF nicht vorhanden; die Assessorenzahl hatte sich bei Auflösung des RKG im August 1806 auf 20 - gegenüber 23 zu Beginn des Jahres 1805- reduziert). - Bei den in der folgenden Tabelle 1 für die Jahre 1693, 1703, 1740 und 1805 angegebenen Zahlen handelt es sich um Ist-Zahlen, die vor allem bei den Assessoren den Soll-Zahlen nicht entsprechen. Der Buchstabe S hinter einigen Ziffern kennzeichnet "Supernumerarien", die ohne Gehalt arbeiteten, um sich so eine besoldete Planstelle zu erdienen. Weitere Erläuterungen zu Tabelle 1: Advokaten, Prokuratoren, Protonotare und Kameralmedici gehörten derselben Ranggruppe an, wobei sie in den Personalverzeichnissen nach der Zeit ihrer Aufschwörung, also nach ihrem Dienstalter, aufeinanderfolgten. - Der Notarius Fisci wird in den Personalverzeichnissen "J udicii Camerae Imperialis Personae" bis 1714 gesondert vor den Lesern, ab 1715 gemeinsam mit ihnen in einer Ranggruppe in der Reihenfolge des Dienstalters aufgeführt.- Die endgültigen Summen in der letzten Zeile jeder Spalte (Personen total) ergeben sich nach Abzug von Mehrfacherwähnungen einiger Personen in den nachgeordneten Rängen, die zwei oder drei Ämter in Personalunion ausübten. Wenn HAUSMANN, Prozesse, S.98, für das Jahr 1703 insgesamt 113 am RKG tätige Personen angibt (statt wie hier in Tabelle 1 errechnet: 107), dann hat er in seiner Zählung vermutlich die Mehrfachnennungen einiger Personen nicht berücksichtigt. Außerdem zählt er den Kameralkutscher mit.
102
II.2. Das Personal des Kammergerichts
Tabelle 1: Das RKG-Personal in Zahlen 1693
1703
1740
1805
Fean1n1errichter Präsidenten
1 2 9 1
1 2 15
1 2
Assessoren Feanzleiverwalter Generalfiskal
1 2 12 1
1
1
Fiskaladvokat Advokaten
1
1
5
Prokuratoren Protonotare Feameralärzte Notare Fiskalnotar
23 1 1
1 1
1
10
1 22
13
21
24
27
30
2 1
3 -
3 1 4
5 1 4
5 2 3+5S 1 4+3S
3+2S 2 4+1S
1
1
1
1
Taxeinnehmer
1
Feompletoren
-
1 1
1 1+ 1s
Botenmeister Ingrossisten
1 2
1 3
1 3+2S
1 1 1
Feopisten Feanzleidiener Pedellen Holzanschneider
3 1 2
6 1 2
14 1 2+1S
5 1 2+2S
1
1
1
1
Leser Pfennigmeister
Feammerboten -zu Pferd -zu Fuß
12
Personen total:
88-4 = 84
12
12 12 + 5
s
12 12 + 9
111-4 = 107 155-3
=
s
1 4+3S
-
12 12 + 12
s
152 143-2 = 141
geschrumpften Personalbestand von insgesamt 84 Amtsträgem unmittelbar nach der offiziellen Wiedereröffnung in Wetzlar am 25. Mai 1693 neuen Stils. Der Anstieg auf insgesamt 107 Personen im Jahr 1703 signalisiert eine erste Stabilisierung, bevor der Gerichtsstillstand in den Jahren 1704-1711 den Fereis der
103
II.2.1. Das Personal insgesamt
Kameralen erneut stark verkleinerte. Die Rubriken fiir 1740, das erste Jahr des engeren Untersuchungszeitraums, und fiir 1805, das letzte volle Amtsjahr vor der Auflösung des RKG, veranschaulichen dann mit ihren Gesamtzahlen von 152 bzw. 141 Personen den konsolidierten Zustand in der Spätphase des Alten Reiches, fiir die durchschnittlich 140-150 Amtsträger pro Jahr anzusetzen sind8 . Zu diesen Kameralpersonen im engeren Sinn kamen neben den in ihren Haushalten lebenden Familienangehörigen und Bediensteten als Karnerale im weiteren Sinn die beiden Gruppen der RKG-Praktikanten und Sollizitanten. Dieser gesamte Personenkreis machte im 18. Jahrhundert etwa ein Fünftel der Wetzlarer Einwohnerschaft aus. Eine Zählung von 1805 ergab bei einer Gesamtbevölkerung von 5.162 Einwohnern insgesamt 901 Funktionsträger und sonstige Angehörige des RKG9 • Schon dieses quantitative Verhältnis zwischen Reichsstadt-Bürgerschaft und privilegierten Kameralen verweist darauf, wie sehr die Reichsstadt Wetzlar im Lauf des 18. Jahrhunderts immer mehr zur "Kammergerichtsstadt" geworden war 10• Zurück zu den Kameralämtern, die unter dem Dach dieser stark arbeitsteilig organisierten frühneuzeitlichen Großbehörde vereinigt waren. Die meisten der oben aufgefiihrten 23 Funktionen ordnen sich den drei bekannten Großgruppen des RKG-Personals zu: dem Kameralkollegium, den Parteivertretern und den Angehörigen der Kanzlei 11 . Von diesen drei Funktionsbereichen steht das Ka8 Vgl. auch F. W. ULMENSTEIN, Wetzlar, Tl.3, Wetzlar 1810, S.192, der die Zahl der zum RKG gehörigen Familien, eingeschlossen die Familien der kammergerichtliehen Witwen und Domestiken, richtig auf "wenigstens 150" schätzte. 9 Die Daten dieser in der Dalberg-Zeit veranstalteten Volkszählung von 1805 s. bei F. W. ULMENSTEIN, Wetzlar, Tl.3, S.192 Anm. a); vgl. auch die Berechnungen zur Bevölkerungsentwicklung Wetzlars im 18. Jahrhundert bei WATZ, Wetzlar, S.171 ff.; BILL, Wetzlar, S.170 ff. Danach stieg die Einwohnerzahl einschließlich der Kameralen bis Mitte des Jahrhunderts zeitweise bis aufca. 6.000 (1731/41) und betrug 1761 noch ca. 5.800, bevor sie gegen 1800 allmählich wieder absank. S. jetzt auch die eingehende Analyse der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung Wetzlars unter dem Einfluß des RKG bei HAHN, Altständisches Bürgertum, S.45 ff., der ebd., S.45 Anm.17, die von Watz geschätzten Zahlen fiir die Mitte des 18. Jahrhunderts mit höchstens ca. 5.500 Einwohnern etwas nach unten korrigiert. 10 ••
••
•
Uber diesen Prozeß der Uberlagerung und weitgehenden Aufsaugung des Gememwesens "Reichsstadt" durch das RKG und über die komplizierte, zwischen Distanz und Symbiose pendelnde Koexistenz zwischen beiden Systemen s. eindrucksvoll HAHN, Altständisches Bürgertum, bes. Kap.II, S.41 ff.; kürzer auch schon PRESS, Wetzlar, S.82 ff., bes. S.96 f. 11 Über die Parteivertreter am RKG, die Advokaten und Prokuratoren, s. auf der Basis der Karneralgesetze sowie der älteren Kameralliteratur SMEND, Reichskammergericht, S.341-358; über den RKG-Fiskalprokurator und den Fiskaladvokaten ebd., S.359-363; über die RKGKanzlei und ihr Personal ebd., S.311-341. Der Überblick über das Personal des RKG bei WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, S.11-56, so S.36 ff. über die Advokaten und Prokuratoren, S.45 ff. über das Kanzleipersonal, ist unbefriedigend und fällt weit hinter SMEND zurück; eine anschauliche Skizze der Funktion von Advokaten, Prokuratoren und Fiskalprokurator s. bei DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskammergerichts, S.95 ff. Als
104
II.2. Das Personal des Kammergerichts
meralkollegium, der Arbeitsplatz der Assessoren, nicht nur in den späteren Kapiteln, sondern auch schon in diesem Überblick über das gesamte RKG-Personal naturgemäß im Vordergrund der Betrachtung.
2. Das Kamera/kollegium Das "collegium camerale" nahm entsprechend seiner Eigenschaft als "iudicium proprie sie dictum" 12 , als Gericht im eigentlichen Sinne, denranghöchstenPlatz ein. Es setzte sich zusammen aus den "personis dirigentibus", dem Kammerrichter und den Präsidenten, sowie aus den "personis lites decidentibus", den Beisitzern oder Assessoren 13 • Den dirigierenden Personen oblag allein die Gedie vorliegende Untersuchung 1990 als Habilitationsschrift eingereicht wurde, lagen neue Forschungen zu den am RK.G tätigen Parteivertretern nicht vor. Seitdem hat sich die Forschungssituation zu dieser Großgruppe des RK.G-Personals deutlich verbessert; s. (mit weiteren Nachweisen) J. WEITZEL, Anwälte am Reichskammergericht, in: Hattenberg - Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz, S.253-269; DERS., Damian Ferdinand Haas (1723-1805) -ein Wetzlarer Prokuratorenleben, Wetzlar 1996; DERS., Die Anwaltschaft an Reichshofrat und Reichskammergericht, in: L' assistance dans la n!solution des conflits - Assistance in Conflict Resolution, Tl.4: L'Europe medievale et moderne (suite) - Medieval and modern Europe (Continuation), Brüssel 1998, S.197-214; A. BAUMANN, Das Reichskammergericht in Wetzlar (1693-1806) und seine Prokuratoren, in: ZRG GA 115, 1998, S.474-497; DIES., Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht in Speyer (1495-1690): Berufswege in der Frühen Neuzeit, in: ZRG GA 117, 2000, S.550-563; DIES., Anwälte am Reichskammergericht Die Prokuratorendynastie Hofmann in Wetzlar (1693-1806), Wetzlar 2001; DIES., Die Prokuratoren am Reichskammergericht in Speyer und Wetzlar- Stand der Forschungen und Forschungsdesiderate, in: A. Baumann u.a. (Hgg.), ReichspersonaL Funktionsträger für Kaiser und Reich, Köln - Weimar- Wien 2003, S.179-197; DIES., Die Prokuratoren am Reichskammergericht in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens, in: Diestelkamp (Hg.), Gründung, S.161-196; als Synthese liegt jetzt vor: DIES., Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690-1806), Köln- Weimar- Wien 2006. Methodisch und inhaltlich nicht unproblematisch ist die auf 210 Einzelbiographien beruhende Gruppenanalyse von A. KLASS, Standes- oder Leistungselite? Eine Untersuchung der Karrieren der Wetzlarer Anwälte des Reichskammergerichts (1693-1806), Frankfurt a.M. u.a. 2002. 'Nebentätigkeiten' widmet sich A. STEIN, Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht in Wetzlar (16931806) als Rechtslehrer und Schriftsteller, Berlin 2002. -Zur Rechtsstellung der an den Mainzer Kurfürsten und Reichserzkanzler angebundenen Kanzlei, deren paritätische Besetzung von Kurmainz bis zum Ende des Alten Reiches erfolgreich verweigert wurde, sowie zur Sozial- und Besetzungsgeschichte des Kanzleipersonals s. unter Auswertung der einschlägigen Akten des Mainzer Erzkanzlerarchivs H. DUCHHARDT, Kurmainz und das Reichskammergericht, in: BDLG 110, 1974, S.l81-217, hier S.183 ff.; zur historischen Entwicklung der erzkanzlerischenRechte an der RK.G-Kanzlei s. auch SCHULZ, Einflußnahme, S.130-148; DIESTELKAMP, Reichserzkanzler; vgl. auch H. DUCHHARDT, Ein Dissertationsprojekt zur Reichskammergerichtskanzlei, in: Hattenberg- Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz, S.311316, bes. S.313 f. 12 TAFINGER, 13
Institutiones, Sectio I. et II., S.244.
TAFINGER, ebd., S.259, 306 u. passim; vgl. auch S.244; zur Sache auch SMEND, Reichskammergericht, S.243 f.
II.2.2. Das Kameralkollegium
105
schäftsleitung und die Repräsentation nach außen. Für die Urteilsfindung waren dagegen in der Regel ausschließlich die Beisitzer zuständig, was auch in der älteren Amtsbezeichnung "Urteiler" deutlich zum Ausdruck kam. Mit dieser Trennung der Funktionen in Gerichtsvorsitz einerseits, Rechtsfindung andererseits stand das Kameralkollegium in der Tradition der von der Rezeption noch unbeeinflußten mittelalterlichen deutschen Gerichtsverfassung. Sie hatte auch das königliche Hofgericht und das königliche Kammergericht geprägt, wurde 1495 in der ersten Ordnung des reorganisierten RKG fortgeschrieben und blieb seitdem für dessen Verfassung - ebenso wie für den bald darauf entstehenden RHR- bis zum Ende des Alten Reiches konstitutiv 14 • Die Mehrköpfigkeit des kammergerichtliehen Direktoriums, wie sie in der späteren Speyerer und während der Wetzlarer Zeit in der Trias von Kammerrichter und zwei Präsidenten ganz selbstverständlich entgegentritt, bildete sich allerdings erst in den Jahrzehnten nach 1495 als Folge eines Ausdifferenzierungs- und Umschichtungsprozesses aus. Zunächst konzentrierten sich, wie die Wormser KGO und die weiteren frühen Ordnungen zeigen, die Funktionen des ständigen Gerichtsvorsitzenden nur in einer einzigen Person, eben dem Kammerrichter. Die wichtigsten normativen Bestimmungen über die Ämter des Kammerrichters und der Präsidenten sowie einige mit diesen Spitzenfunktionen zusammenhängenden Probleme werden im folgenden etwas ausfiihrlicher behandelt, um einen Bezugsrahmen für die Analyse der Assessorengruppe zu gewinnen. Denn an die Kammerrichter und Präsidenten sind zwar in verfassungs-, sozial- und besetzungsgeschichtlicher Hinsicht im Prinzip dieselben Fragen zu stellen wie an die Assessoren. Entsprechend der Andersartigkeit des verfassungsrechtlichen Charakters, der Funktionen und des Besetzungsmodus sowie unterschiedlicher Anforderungen an Standes- und berufliche Qualifikation fallen aber die Antworten für die Kammerrichter und Präsidenten wesentlich anders aus. Der folgende Überblick über die Direktorialämter hat daher nicht nur den Zweck, über diese "personas cameram dirigentes" 15 zu informieren. Er soll vor allem auch eine Folie liefern, von der sich die Besonderheiten der Assessorengruppe um so deutlicher abheben. Die soziale Realität, die hinter den statischen Normen steht und diese über dreihundert Jahre hinweg mit Dynamik erfiillt, kann allerdings in dieser primär auf die Beisitzer konzentrierten Untersuchung für die Kammerrichter und Präsidenten nur streiflichtartig beleuchtet werden, und dies im wesentlichen auch nur für die Zeit nach dem Westfälischen Frieden 16 • 14
G. BUCHDA, Artikel Gelehrte Richter, in: HRG 1, 1971, Sp.1477-1481 (mit weiterfUhrender Literatur); s. auch schon SMEND, Reichskammergericht, S.244 ff., 264. 15 16
TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., 8.285.
Diese soziale Realität kann nur durch eine systematische und vor allem aus den ungedruckten Quellen geschöpfte sozial- und besetzungsgeschichtliche Darstellung der Kammer-
106
II.2. Das Personal des Kammergerichts
1. Der Kammerrichter Zunächst zum Amt des Kammerrichters, der entwicklungsgeschichtlich älteren der beiden Direktorialfunktionen. Der Kammerrichter verkörperte im Karneralkollegium am stärksten das monarchische Element in der dualistischen Reichsverfassung. Er war, auch nach dem Hinzutreten ständiger Präsidenten, das "fürgesetzte haupt" des RKG, der Repräsentant der kaiserlichen Gerichtshoheit 17 • Seine herausgehobene Stellvertreterfunktion äußerte sich am sichtbarsten in den symbolischen Inszenierungen der Installationsakte sowie im Zeremoniell der öffentlichen Gerichtsaudienzen, denen der Kammerrichter, den Gerichtsstab führend, auf einem von einem Baldachin überwölbten Thronsessel vorsaß. Zwar mußte auch der Kammerrichter bei seiner Installation einen Eid auf Kaiser und
richter-und Präsidentengruppe rekonstruiert werden. Dazu wurde von der Verfasserirr bereits viel Material gesammelt. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind in den folgenden Überblick über diese Direktorialfunktionen und ihre Träger eingegangen, auch wenn die Quellen im einzelnen nicht zitiert werden konnten. 17
Bezeichnung des Kammerrichters als "haupt" bzw. "fürgesetztes haupt": KGO 1555 Tl.l Tit.7 § 5, Tit.9 (LAUFS, KGO 1555, S.81 f.); Vis.Mem. ftir Kammerrichter und Beisitzer 1577 § 8 (CJC, S.345); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.8 § 13, Tit.lO Anfang u. § 1 (CJC, S.584 f.); s. auch die formelhaften Wendungen, mit denen der Kaiser in den Präsentationsschreiben an Präsidenten und Beisitzer des RKG einen neuen Kammerrichter ernannte; Orr. dieser Präsentationsschreiben (ab 1652 erhalten) in: RKG IV B 1/2.- Bester institutionengeschichtlicher Abriß des Kammerrichteramts immer noch bei SMEND, Reichskammergericht, S.244-257; systematische, weitgehend die Karneralgesetze zum Kammerrichteramt ausschreibende Darstellungen älterer Kameralschriftsteller (in Auswahl): MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.353374; TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.260-285; BüSTELL, Grundsätze, Tl.l, S.l7 f., 32 ff.; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.42-64; DANZ, Grundsäze, S.l59-162; weniger systematisch, weil der Gliederung des Konz. KGO 1613 Tl.l folgend, und nicht vollständig: BALEMANN, Beiträge, S.7-9, 34-37, 164, 199-204. Auf diese älteren Autoren sowie auf Smend wird ftir den folgenden Abschnitt über die Kammerrichter, soweit nicht anders vermerkt, verwiesen. Fehlerhaft und kaum problemorientiert ist der Überblick über das Kammerrichteramt und die letzten Kammerrichter am Ende des Alten Reiches bei WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, S.l1 ff. Ausführliche, vor allem auch die einschlägigen ungedruckten Akten auswertende biographische Skizze eines Kammerrichters und vorherigen RKG-Präsidenten: H. DUCHHARDT, Reichskammerrichter Franz Adolf Dietrich von Irrgelheim (1659/17301742), in: Nassauische Annalen 81, 1970, S.173-202. Die Studie enthält über den Einzelfall hinaus viel Material über Kammerrichter und RKG-Präsidenten generell. Über Funktion, Rang und Attribute des Kammerrichters s. jetzt auch die informative Zusammenfassung bei DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskammergerichts, S.98, 101, 103 f.; über die in der Wetzlarer Zeit für den Kammerrichter zur Kennzeichnung seines herausgehobenen Ranges in der Audienz ("Thron"), im Plenum und im ersten Senat benutzten Armlehnsessel s. I. SCHEURMANN, «Mit rothem Sammet und goldenen Borden». Die Ausstattung des Reichskammergerichts im 18. Jahrhundert, in: Hausmann (Hg.), Fern vom Kaiser, S.77-90.- Zum Folgenden s. ergänzend im Anhang die Liste der zwischen 1648 und 1806 amtierenden Kammerrichter.
II.2.2.1. Der Kammerrichter
107
Reich schwören 18 . Dem Rechtscharakter des Amtes entsprechend, kam aber "seine Ernennung mit viel höherer Notwendigkeit dem Könige zu als die der Beisitzer" 19 • Tatsächlich verloren sich Spuren ständischer Mitwirkung, die sich in Form eines ständischen Vorschlagsrechts auf dem Höhepur!kt der Reichsreformbewegung bis 1521 hin und wieder nachweisen lassen, nach dem Scheitern des zweiten Reichsregiments sehr rasch. De facto seit 1536 und reichsgesetzlich seit 1548 lag die Kompetenz zur Ernennung des Kammerrichters von der Kandidatenauswahl bis hin zur formellen "Präsentation" exklusiv beim Kaiser, was auch das Westfälische Friedensinstrument als Reaktion auf erneute ständische Mitwirkungsansprüche nochmals und definitiv festschrieb. Wenn daher der RKG-Assessor Georg Melchior v. Ludolf 1735 schrieb: "Inter primaria Imperii officia esse Judicis in Camera", dann ist diese Formulierung angesichts des beschriebenen Charakters des Kammerrichteramtes, um Mißverständnisse zu vermeiden, korrekterweise nicht mit "unter den höchsten Reichsämtern" zu übersetzen, sondern mit "unter den höchsten Ämtern im Reich" 20 • In engem Zusammenhang mit dieser ausschließlich kaiserlichen Verfügung über die Besetzung des Kammerrichteramts als einer Emanation der oberstrichterlichen Gewalt stand auch die Tatsache, daß die Kaiser bis zum Ende des Alten Reiches durchweg nur Personen ihrer eigenen Konfession zu Kammerrichtern ernannten. Zwar hatten die protestantischen Stände seit 1576 und vor allem 18 Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.85 (Eidesformel fiir alle Kameralpersonen, CJC, 8.661 f.); vgl. auch ebd. Tit.71 (CJC, 8.657) und ebs. schon KGO 1555 Tl.l Tit.57 (spezieller Amtseid für Kammerrichter - ergänze: Präsidenten - und Beisitzer, LAUFS, KGO 1555, 8.151).Quellennachweise für die symbolträchtigen feierlichen Akte anläßlich der Introduktion eines neuemannten Kammerrichters s.u. Anrn.20 u. 43. 19 20
So schon richtig SMEND, Reichskammergericht, 8.245.
[G.M. V. LUDOLF], Modestini et Pomponii in colloquiis familiaribus de statu Cameralis Judicii ... meditationes acroamaticae, Wetzlar 1735, 8.35.- Zur historischen Entwicklung des ausschließlich kaiserlichen Ernennungsrechts s. außer der oben in Anrn.l7 genannten älteren Kameralliteratur SMEND, Reichskammergericht, 8.245 ff.; Verankerung dieses Rechts in: KGO 1548 Tl.l Art.l, Art.4 (RTA JR 18/2, 8.1242, 1245); RA 1548 §23 (RTA JR 18/3, 8.2659; auch CJC, 8.101; NVSRA Tl.2, 8.532); KGO 1555 Tl.l Tit.l § 3, Tit.4 § 1 (LAUFS, KGO 1555, 8.73, 77); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l § 2, Tit.5 Einltg. (CJC, 8.577, 579); IPO 1648 Art.V §53. Die wichtigsten Akten im Zusammenhang der Ernennung und Introduktion von Kammerrichtern s., soweit erhalten, in: RKG IV B 1/2 (Präsentationsakten); RKG IV C 1 ff., RKG IV B 211 ff. (Plenarprotokolle); HHStAW, RK- RKG-Visit.A.; HHStAW, MEKARKGA; zur Rolle des Mainzer Kurfürsten und Reichserzkanzlers bei der Introduktion des Kammerrichters s. außer diesen Archivbeständen auch DUCHHARDT, Kurmainz und das Reichskammergericht, 8.204 ff.; zum nie voll durchgesetzten Anspruch der Reichsvikare, während eines Interregnums bei Vakanz des Amtes einen neuen Kammerrichter (und ebenso einen RKG-Präsidenten) zu ernennen, s. E.J.K. V. FAHNENBERG, Entwurf einer Geschichte des kaiserlichen und Reichs-Kammergerichts unter den Hohen Reichs-Vikarien, 3 Bde., Lemgo 1790 u. 1791, Wetzlar 1795, bes. Bd.2, 8.207 ff.; ferner BALEMANN, Beiträge, 8.37; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, 8.44 f.; SMEND, Reichskammergericht, 8.247 f.
108
II.2. Das Personal des Kammergerichts
seit den frühen achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts, im Zuge der sich damals zuspitzenden konfessionspolitischen Konflikte um die Auslegung des Augsburger Religionsfriedens, ihre Forderung, dem nunmehr bikonfessionellen Charakter des Reiches auch durch Alternation zwischen einem katholischen und einem evangelischen Kammerrichter Rechnung zu tragen, "zu einem Thema der großen Reichspolitik" gemacht21 . Dieses Verlangen war jedoch, anders als die seit 1648 reichsgesetzlich fixierte paritätische Besetzung der Präsidenten- und Assessorenstellen, nicht durchsetzbar. Die Kaiser konnten- durchaus im Einklang mit ihrer eigenen Position im Verfassungs- und Konfessionsgefüge des Reiches die ausschließliche Katholizität des Kammerrichteramtes auch über die Zäsur des Westfälischen Friedens hinweg und während der ganzen W etzlarer Zeit des RKG behaupten. Beim Amt des Kammerrichters handelte es sich um eine "fiirstenmäßige Bedienung"22. Nach der Vorschrift der bis 1806 gültigen, auf der KGO von 1548 beruhenden Ordnung von 1555, die auch in das revidierte Konzept der KGO von 1613 übernommen wurde, sollte der Kammerrichter ein geistlicher oder weltlicher Fürst oder wenigstens ein Graf oder Freiherr sein23 . Dieses Standeserfordernis entsprach nicht nur dem Stellvertretercharakter des Amtes und sicherte den Amtsinhabern Autorität und Respekt. Es war vor allem auch die logische Konsequenz aus dem Ebenbürtigkeitsprinzip des alten Fürstenrechts, wonach die höheren Reichsstände nur durch ihre Standesgenossen zu richten waren. Dazu genügte auch Standesgleichheit des vorsitzenden Richters. Die KGO von 1495 trug 21 Dazu s. bereits ausfUhrlieh H. DUCHHARDT, Der Kampf um die Parität im Kammerrichteramt zwischen Augsburger Religionsfrieden und 30jährigem Krieg, in: ARG 69, 1978, S.201-218 (Zitat S.209); neuerdings im größeren Kontext und mit weiteren Ergebnissen JAHNS, Ringen, S.427 ff., bes. S.429 ff. u. passim bis S.469 (ebd. Quellen- und Literaturnachweise); s. kurz auch schon DIES., Die Reichsjustiz als Spiegel, S.458, 462; s. auch unten Kap.II.3.1.2.1. In einem im Dezember 1645 auf dem WestHilisehen Friedenskongreß vorgelegten besonders radikalen Justizreformprojekt hatten die evangelischen Reichsstände statt der bisher zwei nunmehr insgesamt vier völlig paritätisch besetzte oberste Reichsgerichte mit getrennten Gerichtssprengeln vorgesehen. Um das Ärgernis eines katholischen Kammerrichters aus der Welt zu schaffen, hatten sie sich in diesem Projekt sogar zu der Forderung erkühnt, daß die je zwei Präsidenten dieser nunmehr vier Gerichte (davon je einer katholisch, einer evangelisch) "zu Erspahrung vergeblicher Unkosten zugleich die Cammer-richterliche Stelle vertreten können"; s. J.G. V. MEIERN, Acta pacis Westphalicae publica. Oder Westphälische Friedens-Handlungen und Geschichte, Tl.2, Hannover 1734, S.535; dazu s. JAHNS, Ringen, S.458 ff., hier S.460, sowie unten Kap.II.3.1.2.2. mit Anm.153 ff. 22 MosER, Justiz-Verfassung, T1.2, S.364; MALBLANK, Anleitung, Tl.1, S.62. 23 KGO 1555 Tl.l Tit.l § 1 (LAUFS, KGO 1555, S.73), beruhend aufKGO 1548 Tl.l Art.1
LAbsatz (RTA JR 18/2, S.1242); ebs. Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l Anfang (CJC, S.577); vgl. auch schon KGO 1495 § 1 (RTA MR 5/I,l, S.384); zum Folgenden betr. die Standesqualifikation der Kammerrichter: HARPPRECHT, Staats-Archiv, T1.2, S. 74 f.; MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.358-362; BALEMANN, Beiträge, S.7; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.48-51; SMEND, Reichskammergericht, S.248 f.
11.2.2.1. Der Kammerrichter
109
diesem Prinzip in § 1 eindeutig Rechnung mit der Vorschrift, daß in Prozessen gegen Kurfiirsten, Fürsten oder Fürstenmäßige nur der Kammerrichter selbst oder ein von ihm eingesetzter anderer Fürst, Graf oder Freiherr dem Gericht vorsitzen solle. Nach der Logik dieser Verordnung und überhaupt nach dem gesamten Sprachgebrauch jener Zeit konnte daher nur der reichsständische Adel bis hinunter zum alten Herrenstand das Standeserfordernis eines Fürsten oder zumindest eines Grafen oder Freiherrn erfiillen, wie es die KGO von 1555 fiir das Amt des Kammerrichters endgültig zur Norm erhob. Der Besetzungspraxis des 16. und 17. Jahrhunderts lag diese Interpretation offenbar ganz selbstverständlich zugrunde. Der späteren Zeit ging das Gefiihl fiir den ursprünglichen Sinnwie bei manch anderen Formulierungen der nun veraltenden KGO- verloren. Das Fehlen eines qualifizierenden Adjektivs "reichsständisch" in der Ordnung von 1555 und ihren Vorläufern bahnte im 18. Jahrhundert auch zwei TitularFreiherren bzw. -Grafen aus reichsritterschaftliehen Geschlechtern sowie einem landsässigen Grafen den Weg ins Kammerrichteramt24 . Die Frage, ob Kammerrichter (und ebenso RKG-Präsidenten) selbst "status imperii" oder doch Mitglieder reichsständischer Häuser sein müßten oder ob auch Kandidaten aus der Reichsritterschaft und aus landsässigem alten Adel Zugang zu diesen Spitzenämtern hätten, gehörte in der Wetzlarer Zeit des RKG im Kameralkollegium selbst und in der interessierten Reichsöffentlichkeit zu den vieldiskutierten Streitfragen, welche die Normen der alten KGO unter Veränderungsdruck setzten25. 24 Die Schneise hierzu war schon seit längerem durch hundert Jahre früher einsetzende entsprechende Entwicklungen bei der Besetzung der Präsidentenstellen geschlagen worden; dazu s. den folgenden Abschnitt über die RKG-Präsidenten. Bei den drei erwähnten nicht-reichsständischen Kammerrichtern handelte es sich um Franz Adolf Dietrich Freiherrn (Grafen) v. Ingelheim; Franz Grafen zu Spaur (aus altem Tiroler Adel), s. die Biographie seines Sohnes Joseph Philipp (Tl.II, Biogr. 85); Heinrich Aloys Freiherrn (Grafen) v. Reigersberg (Biogr. 86); zur Diskussion um die mangelnde Standesqualifikation Irrgelheims und generell zu dieser Problematik s., wenn auch noch nicht erschöpfend, DUCHHARDT, Ingelheim, S.180 ff., 197.
25 Diese Diskussion, zu der die ungedruckten Quellen reiches Material enthalten, spiegelt sich wider in kontroversen Deduktionen, s. J.A. KOPP, Tractatus juris publici de insigni differentia inter S.R.I. comites et nobiles immediatos, 2. Aufl. Straßburg 1728, darin als Supptementum Nr.68, S.51 0-536: Extract Rechtlichen Bedenckens über die Frage: Ob die jeweilige Cammer-Gerichts-Präsidenten nothwendig solche Graffen und Freyherren seyn müssen, welche Votum et Sessionern in Comitiis Imperii et circularibus hergebracht, mithin Status sind; Oder ob es genug ist, wann ein Praeses nur den Character eines Graffen oder Freyherrn von Kayserl. Majestät erlanget hat?; wieder abgedruckt in: Harpprecht, Staats-Archiv, Tl.2, S.464-486; ST. CH. v. HARPPRECHT, Gründliche Gegen-Demonstration, daß nicht nur die Herrn Mitglieder der ohnmittelbahr Freyen Reichs-Ritterschafft, sondern auch der Landsässige Adel zu Erlangung der Cammer-Richters- und Praesidenten-Stellen am hochpreißlichen Kayserlichen und Reichs-Cammer-Gericht fahig seyen, in: Harpprecht, Staats-Archiv, Tl.2, S.486518; Kurtzgefassete Beweiß-Gründe, daß nach denen Reichs-Gesetzen und Herkommen die Cammer-Richter-Stelle mit einem Sitz und Stimme auf dem Reichs-Tag habenden, oder doch
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
Die letzte RKG-Visitation erkannte, daß die Frage der kammerrichterlichen Standeseigenschaft angesichts der widersprüchlichen Besetzungspraxis des Wiener Hofes in den vergangenen Jahrzehnten einer Überprüfung bedurfte, und brachte diesen Punkt 1775 zur näheren Erläuterung an Kaiser und Reich26 • Wie bei so manch anderen offenen Fragen der Kameralverfassung unterblieb jedoch auch in diesem Punkt eine Präzisierung oder Korrektur der alten Norm durch die Reichsgesetzgebung, sicherlich auch, weil sich der Wiener Hof den Spielraum seiner Besetzungspolitik nicht einengen lassen wollte. Der Fall des allerletzten, 1803 ernannten Kammerrichters Heinrich Freiherrn v. Reigersberg, der aus einer erst im 17. Jahrhundert nobilitierten und in die Reichsritterschaft rezipierten Familie stammte und dem zur Wahrung des Scheins unmittelbar vor seiner Ernennung zum Kammerrichter als Abkömmling einer angeblich uralten Grafenfamilie flugs noch durch kaiserliches Diplom der Titel eines Reichsgrafen verliehen wurde, zeigt, wie sehr auch das höchste, die oberstrichterliche Gewalt des Kaisers darstellende Amt am RKG in der Spätphase des Reiches Verwerfungen ausgesetzt war27 . Obwohl entsprechend einer seit 1521 in der KGO verankerten Vorschrift bei der Besetzung des Kammerrichteramts möglichst einem weltlichen vor einem geistlichen Kandidaten der Vorzug gegeben werden sollte28 , rekrutierten sich zwischen 1495 und 1806 von den insgesamt 27 Kammerrichtern acht aus dem geistlichen Stand, davon sieben Bischöfe, zwei zugleich Trierer Kurfürsten und Erzbischöfe29 • Der Schwerpunkt dieser Rekrutierungsart lag in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhundert. Damals spielte sich auch die Personalunion zwischen dem Amt des Kammerrichters und der geistlichen Würde des Bischofs von Speyer ein, die zwischen 1569 und 1711 mit zwei Unterbrechungen insgeaus einem solchen zu dem hohen Adel gehörigen Reichs-Ständischen Hause entsprossenen Geist- oder Weltlichen Fürsten oder Grafen zu besetzen sey, Neuwied 1763; originelle und pragmatische, wenn auch nicht normentreue Stellungnahme zum Problem der kammerrichterlichen Standesqualifikation: [CH. J. v. ZWIERLEIN], Vermischte Briefe und Abhandlungen über die Verbesserung des Justizwesens am Kammergerichte, mit patriotischer Freimütigkeit entworfen, Tl.3, Berlin 1767, S.l90-196. 26 Gesammelte Original-Briefe, in welchen die mehresten Handlungen der am ien May 1767 ausgerückten Extraordinari-Kammergerichts-Visitations- und Revisions-Deputation beleuchtet werden, Tl.l, o.O. 1777, S.253 ff., 266 ff.; BALEMANN, Beiträge, S.7; SMEND, Reichskammergericht, S.249. 27 VAW, RA Reigersberg 1803 (mit Gesuch und Konz. des Grafendiploms d.d. Wien, 3.9.1803); s. auch Biogr. 86 (Reigersberg), dort bes. die Abschnitte Ilb u.Vlb.
Jedenfalls bei sonstiger Standesgleichheit der Kandidaten; s. KGO 1521 Tit.l (CJC, S.44; RTA JR 2, S.270); KGO 1555 Tl.l Tit.l § 1 (LAUFS, KGO 1555, S.73); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l Anfang (CJC, S.577). 28
29 SMEND, Reichskammergericht, S.250 mit Anm.2, dazu die Namensliste aller Kammerrichter ebd., S.245 Anm.3.
II.2.2.1. Der Kammerrichter
111
samt viermal praktiziert und noch häufiger angestrebt wurde. Im Jahre 1677 wurde mit dem Trierer Kurfürsten und Fürstbischof von Speyer Johann Hugo v. Orsbeck ( 1634-1711) noch einmal auf dieses Besetzungsmuster zurückgegriffen. Aber Orsbecks fast 34jährige Amtszeit als Kammerrichter enthüllte endgültig auch die schweren Nachteile dieser Personalunion: Seine geistlichen Ämter und seine Aufgaben als Landesherr zweier von Kriegswirren schwer heimgesuchter Territorien hielten den in Ehrenbreitstein residierenden Kurfürsten fast permanent vom Ort des RKG fern und hinderten ihn somit an der Erfüllung seiner kammerrichterlichen Amtspflichten30 . Dieser chronische Mangel an richterlicher Oberaufsicht war eine der Hauptursachen für die internen Querelen, die um 1700 den Kameralfrieden aufs schwerste erschütterten und schließlich 1704 zum siebenjährigen Stillstand des Gerichts führten. Ohnehin war mit der Verlegung des RKG von Speyer nach Wetzlar das Hauptargument für diese Ämterverbindung, die Nähe der fürstbischöflich speyerischen Residenz zum Gerichtsort, hinfällig geworden. Zwar wurde 1711 während des Reichsvikariats, nach dem nur viermonatigen Intermezzo eines weltlichen Kammerrichters3\ ein erneuter Vorstoß zur Installation eines geistlichen Kandidaten unternommen. Kurpfalz und Kursachsen präsentierten im Oktober 1711 in ihrer Eigenschaft als Reichsvikare einen Bruder des pfälzischen Kurfürsten, Pranz Ludwig von Pfalz-Neuburg (1664-1732), der damals zugleich Hoch- und Deutschmeister, Koadjutor von Mainz, Bischofvon Worms und Breslau sowie Propst von Ellwangen war. Die Einsicht in die praktische Unvereinbarkeit dieser kirchlichen Würden mit dem Kammerrichteramt, dazu die von protestantischer Seite öffentlich geäußerten Bedenken gegen einen wiederum geistlichen Kammerrichter ließen den Hoch- und Deutschmeister jedoch 1712 auf die Realisierung seiner Präsentation verzichten32. Alle bis 1806 folgenden Kammerrichter waren weltlichen Standes, was 30 Die neueren Biographien über Orsbeck erwähnen seine Tätigkeit als Kammerrichter be-
zeichnenderweise nur beiläufig in einem Satz; s. M. BRAUBACH, in: NDB 10, 1974, S.540542; F. SCHORN, Johann Hugo von Orsbeck. Ein rheinischer Kirchenfürst der Barockzeit Erzbischof und Kurfürst von Trier, Fürstbischof von Speyer, Köln 1976, S.20; W. SEIBRICH, in: E. Gatz (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1803. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1990, S.329-331. 31 Pranz Alexander Fürst von Nassau-Hadamar (* 1674, Kammerrichter von seiner Aufschwörung am 28.1.1711 bis zu seinem Tod am 27.5.1711).
32 Dazu kam ein weltlicher Konkurrent in Gestalt des damaligen kaiserlichen Administrators in Bayern Maximilian Karl Grafen (seit 1711: Fürsten) zu Löwenstein-Wertheim-Raehefort (1656-1718), der dann 1712 von Wien zum Kammerrichter ernannt wurde, dieses Amt aber ebenfalls nicht antrat; s. das offizielle Verzichtschreiben Pranz Ludwigs von Pfalz-Neuburg an den neuen Kaiser Kar! VI., Breslau, 15.2.1712, Kopie: StA Werth., Best. R, Lit. A Nr.189c; inoffiziell stand dieser Verzicht schon Ende 1711 fest, s. das Schreiben des Reichsvikars Kf. Friedrich August von Sachsen, Kg. von Polen, an Präsidenten und Beisitzer des RKG, Lüssow b. Stralsund, 9.12.1711, Or.: RKG IV B 111 fol.72 f.; s. auch A. FABER, Euro-
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
nicht nur dem Gerichtsbetrieb zugute kam und im protestantischen Interesse lag, sondern generell auch den trotz aller weiterhin bestehenden konfessionellen Gegensätze veränderten Anschauungen des von der Aufklärung mitgeprägten 18. Jahrhunderts entsprach. Aber auch weltliche Aspiranten auf das Kammerrichteramt wurden nach den schlechten Erfahrungen mit der Orsbeck-Ära darauf verwiesen, daß der Vorsitz an diesem höchsten Gericht keine lukrative und standesgemäße Nebenbeschäftigung zu sein hatte, sondern daß entsprechend der seit 1495 aufgestellten Norm der Kammerrichter ebenso wie die Präsidenten und Beisitzer frei von anderen Tätigkeiten und unbelastet von Kommissionen "alleyn dem cammergericht außwarten" sollte33 . Aus dieser hier nur knapp umrissenen Problematik wird deutlich, daß ein Kammerrichter, wenn er seine Amtspflichten ernstnahm und den ihm gesetzlich zugemessenen Handlungsspielraum nutzte, keineswegs eine bloße Gallionsfigur zu sein brauchte34 • Der Kammerrichter sollte wie die übrigen Gerichtsmitglieder deutscher Herkunft sein und neben dem im Reich geltenden Herkommen sowie "Begriffen von dem Verhältnis des Kammergerichts gegen das Reich und von denen Verhältnissen des Reichs unter sich" 35 vor allem eine genaue Kenntnis der Kammergerichtsordnung besitzen. Er mußte zur Oberaufsicht über das ganze Gericht, zur obersten Leitung aller Geschäfte, speziell zum "Dirigieren" der Propäische Staats-Cantzley, Tl.18, 1712,8.383 f., 403-407, 407-409; FAHNENBERG, Reichs-Vikarien, Bd.l, 8.42 f., 92-96; DUCHHARDT, lngelheim, 8.192 f. 33 KGO 1555 Tl.l Tit.6 (LAUFS, KGO 1555, 8.80); ebs. Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.7 (CJC, 8.582 f.); s. auch schon KGO 1495 § 1 (RTA MR 5/I,l, 8.385).- An dieser seit 1711 wieder rigoroser eingeforderten Amtsauffassung scheiterte 1714 auch der Plan des damaligen kaiserlichen Prinzipalkommissars am Reichstag, Maximilian Kar! Fürsten zu Löwenstein-Wertheim, seine Regensburger Stellung mit dem Kammerrichteramt in Wetzlar zu verbinden, auf das er krafteines kaiserlichen Ernennungsdekrets vom 29.8.1712 einen Anspruch besaß. Löwenstein wurde also entgegen anderslautenden Darstellungen nie als Kammerrichter introduziert; s. dazu den umfangreichen Aktenbestand in: StA Werth., Best. R, Lit. A, Nr.l89a-189c; ergänzend ebd. Lit. D Nr.437; Lit. St Nr.664; zu 1714 ergänzend: HHStA W, MEKA Korr. 93; fehlerhaft: CH. HUTT, Maximilian Carl Graf zu Löwenstein-Wertheim-Rochefort und der fränkische Kreis 1700-1702, 2 Bde., Diss. phil. Würzburg 1969, hier Bd.l, 8.223, 237. 34 Die im folgenden referierten wichtigsten Verordnungen betr. die Qualifikationen und Aufgaben des Kammerrichters in: KGO 1555 Tl.l Tit.3 § 1, Tit.9-ll (LAUFS, KGO 1555, 8.75, 82-92), alles beruhend auf KGO 1548 Tl.l Art.3 I. Absatz, Art.9-ll (RTA JR 18/2, 8.1243 f., 1250-1260; Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.3 Anfang, Tit.I0-17 (CJC, 8.578, 585-596); dazu die oben in Anm.l7 genannte ältere Kameralliteratur sowie SMEND, Reichskammergericht, 8.253 ff.
35 Die zitierte Passage steht nicht in der KGO, sondern bei ZWIERLEIN, Vermischte Briefe, Tl.3, 8.179. Zwierleins Abhandlung ebd., 8.179-189: Von einigen allgemeinen Eigenschaften des Kammerrichters, ist lesenswert.
II.2.2.1. Der Kammerrichter
113
zesse befähigt sein. Er hatte für einen ununterbrochenen Gerichtsbetrieb, für die Einhaltung der Kameralgesetze, für Ordnung und Einigkeit am Gericht, im Kameralkollegium, in den einzelnen Senaten und in der Audienz, für Arbeitsdisziplin und für die Wahrung der "arcana iudicii" zu sorgen und Pflichtverletzungen einzelner Gerichtspersonen im Zusammenwirken mit den Assessoren disziplinarisch zu ahnden. Er führte den Vorsitz in den öffentlichen Audienzen, in denen die Parteivorträge gehört und Urteile sowie sonstige Bescheide verkündet wurden. Er hatte ferner das Direktorium in einem der Justizsenate sowie im Plenum des gesamten Kameralkollegiums, wo auf seine Proposition hin nichtjustizielle Themen wie Präsentations- und sonstige Personalangelegenheiten oder in Sonderfällen auch Prozeßsachen zur Beratung kamen. Entsprechend der oben erwähnten strikten Scheidung von vorsitzendem Richter und Urteilern leitete der Kammerrichter im Plenum sowie in dem von ihm dirigierten Senat die Abstimmung, ohne ein eigenes Votum zu haben. Die Frage, ob ihm bei Stimmengleichheit der Beisitzer ein 'votum decisivum' zustehe- in der KGO von 1495 noch vorgesehen -, war in späteren Zeiten Gegenstand heftiger, vor allem konfessionspolitischer Kontroversen. In Präsentationsangelegenheiten machten die Kammerrichter während der Wetzlarer Zeit einige Male von einem solchen 'votum decisivum' Gebrauch36 • Was die Geschäftsverteilung im einzelnen betraf, war der Kammerrichter für die Aufteilung der Assessoren auf die einzelnen Senate, für die Zuteilung von Prozeßakten an die von ihm zu Referenten ausersehenen Beisitzer sowie für die Kontrolle ihrer Referiertätigkeit zuständig. Ferner entschied der Kammerrichter über Zurückstellung, Beschleunigung oder Bevorzugung bestimmter Prozesse je nach Gegenstand oder bekundetem bzw. nichtbekundetem Parteiinteresse am Fortgang einer Streitsache. Diese "diskretionäre Gewalt" 37 machte ihn zur Anlaufstelle für nach Wetzlar gereiste Kläger und Beklagte und ihre Vertreter, vor allem aber für die zahlreichen Sollizitanten. Auf dem Gebiet der Geschäftsverteilung lag die eigentliche Bedeutung des Kammerrichteramtes, besonders wenn es sich um Prozesse politischen Gewichts handelte. Dieser Kompetenzbereich barg aber auch am ehesten die Gefahr der Amtswillkür. Diesbezügliche Beschwerden der Reichsstände, die sich speziell auf die Amtsführung des Kam36 Dazu s. außer den einschlägigen Präsentationsprotokollen BALEMANN, Beiträge, S.345 f.; als ein Beispiel aus dem Jahre 1718 s. Biogr. 29 (Brand), Abschnitt V; generell zum Problem des kammerrichterlichen 'votum decisivum': ZWIERLEIN, Vermischte Briefe, Tl.3, S.201-209; SMEND, Reichskammergericht, S.252 f. (mit Nachweis der älteren Kameralschriftsteller). RUTHMANN, Religionsprozesse, S.214 ff., belegt ftir die konfessionspolitisch brisanten Fälle, in denen es in seinem Untersuchungszeitraum (1555-1648) zu Stimmengleichheit in den Senaten kam, daß der Kammerrichter statt eines 'votum decisivum' zur Entscheidungstindung weitere Senate deputierte. 37
SMEND, Reichskammergericht, S.256.
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
merrichters Spaur bezogen, führten dazu, daß der Ermessensspielraum des Kammerrichters bei der Einrichtung der Senate, der Referentenbestellung und sonstigen prozeßrelevanten Entscheidungen durch die letzte Visitation und durch den Reichsschluß von 1775 aufs äußerste eingeschränkt, umgekehrt dabei die Mitwirkung des Kameralkollegiums bzw. bestimmter Assessoren vorgeschrieben wurde 38 . Generell war der Kammerrichter angewiesen, sich in wichtigen Angelegenheiten mit den Präsidenten zu beraten39 • Die Tätigkeitsbeschreibung des Kammerrichters macht einleuchtend, daß in den Karneralgesetzen von den Inhabern dieses Spitzenamtes - ganz im Gegensatz zu den Assessoren - nirgendwo ausdrücklich eine juristische Vorbildung gefordert wird. Denn "nicht ein geschlagenes Quinquennium akademischer Jahre, nicht das, daß der Kammerrichter die Novellen im Grundtexte lese, wird zu seinem Amte erfordert" 40 . Eine sozialgeschichtliche Analyse zeigt jedoch, daß die Kammerrichter der Spätzeit bei krassen Niveauunterschieden im einzelnen und mit den standesüblichen Abstrichen durch Studium und Vorkarriere im Durchschnitt doch besser vorgebildet waren als ihre Amtsvorgänger der beiden früheren Jahrhunderte, und zwar um so mehr, je weiter das 18. Jahrhundert voranschritt. Das eine Extrem verkörperten die bereits erwähnten geistlichen Kammerrichter oder weltliche Landesfürsten wie Wilhelm Markgraf von Baden, der während des Dreißigjährigen Krieges als hoher Militär in kaiserlichen Diensten gefochten hatte, bevor er von 1652 bis 1677, durch seine Pflichten als Landesherr und seine zeitweilige Parallelfunktion als Prinzipalkommissar in Regensburg vielfach von Speyer femgehalten, als 58- bis 83jähriger das Amt des Kammerrichters bekleidete41 • Antipoden solcher Kammerrichter waren zwischen 38 MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.371; SMEND, Reichskammergericht, S.234 f., 255.Vor allem auf dem Höhepunkt des Konfessionellen Zeitalters könnten die kammergerichtliehen Kompetenzen im Bereich der Geschäftsverteilung in den Dienst konfessionspolitischer Interessen gestellt worden sein. Laut RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht, S.568 f. mit Anm.6, "ist eine noch nicht verifizierbare Einflußnahme des Kammerrichters auf einzelne Religionssachen denkbar, indem er über die Zuweisung von Religionssachen zu bestimmten Senaten deren Zustimmung beschleunigte oder hemmte". Vor allem sei "die wichtige Frage unbeantwortet", ob die seit 1569 fast ununterbrochene Besetzung des Kammerrichteramts mit geistlichen Reichsftirsten mitverantwortlich gewesen sei daftir, daß es in den Religionssenaten des RKG seit den frühen achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts gehäuft zu 'paria vota' kam; s. auch ebd., S.281.
Diese Kommunikation wurde nach den vorausgegangenen Querelen zwischen dem Kammerrichteramtsverweser Ingelheim und dem evangelischen Präsidenten Solms nochmals eingeschärft in Vis.A. 1713 § 4 (CJC, S.964); s. schon Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.lO § 1 (CJC, 8.585). 39
40 ZWIERLEIN, Vermischte Briefe, Tl.3, S.l79; s. auch die plastisch formulierte Fortsetzung ebd., S.l79 ff., so 8.187: "Er handelten gros, die Assessoren en detail". 41 Zu Wilhelm Mgf. von Baden-Baden (1593-1677) s. ADB 42, 1897, 8.697-699; danach BWdtG 3, 1975, Sp.3157; Akten zu seiner Ernennung und Tätigkeit als Kammerrichter in:
II.2.2.1. Der Kammerrichter
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1763 und 1806 die letzten drei Träger dieses Amtes: Pranz Graf zu Spaur (vgl. Biogr. 85), Philipp Karl Graf zu Oettingen-Wallerstein und Heinrich Aloys Graf v. Reigersberg (Biogr. 86), die während ihrer Vorkarriere in landesfiirstlichen Zentralbehörden sowie an den beiden obersten Reichsgerichten das juristische Handwerk des Referierens und Dirigierens erlernt hatten. Zwischen ihnen und den Kammerrichtern alten Typs lagen, was Sachkompetenz und Amtsverständnis betraf, Welten. Von den hier angedeuteten Professionalisierungstendenzen soll weiter unten im Zusammenhang mit entsprechenden Entwicklungen bei den RKG-Präsidenten noch etwas ausführlicher die Rede sein. Vor allem sorgte ein bestimmtes, im 18. Jahrhundert häufig wiederkehrendes Rekrutierungsmuster fiir die bessere Vorbereitung auf die kammerrichterlichen Direktorialfunktionen: Von den zehn Kammerrichtern der Wetzlarer Zeit hatten fünf, und zwar seit 1730 in fast ununterbrochener Serie, unmittelbar vorher als katholische RKGPräsidenten amtiert und dabei die fiir das Kammerrichteramt notwendigen Geschäftskenntnisse erworben42 • Für den kaiserlichen Hof war diese Besetzungspolitik eine sichere Methode, sich nicht nur der Loyalität, sondern auch der Amtseignung der solcherart Avancierten zu versichern. Da juristische Professionalität bei den Kammerrichtern nicht überprüft zu werden brauchte, mußten die Neuemannten vor ihrer Amtseinführung im Gegensatz zu den zukünftigen Assessoren kein fachliches Spezialexamen ablegen. Herkömmlicherweise wurde bei ihnen auch kein Generalexamen vorgenommen. Aus Respekt vor dem kaiserlichen Emennungsrecht, dem das Kameralkollegium kein Prüfungsrecht entgegenzusetzen hatte, sowie aus Reverenz gegenüber der zum Stellvertreter des Kaisers präsentierten hohen Standesperson, die fiir sich und ihre Familie einen allgemeinen Bekanntheitsgrad voraussetzen durfte, verbot sich eine derartige Erkundung der persönlichen Verhältnisse.
GLA Karlsr., Abt.46/2713 u. 2715; über das Ausmaß seiner Abwesenheit von Speyer s. die Aufstellung bei LUDOLF, Historia sustentationis, 1. Anhang, S.345-348.- Ein besonders krasses Beispiel für den Kammerrichter alten Typs war Franz Alexander Fürst von Nassau-Hadamar (1674-1711), der nach juristischen Studien und Kavalierstour ein im wesentlichen von Essen, Schlafen und Jagen ausgefUlltes Dasein als Landesherr eines Kleinterritoriums führte. Nachdem er sich zum Schaden seines Ländchens das Kammerrichteramt gegen teures Geld erkauft hatte, waren die täglichen Gerichtssitzungen in Wetzlar seiner "colossalen Leibesconstitution" derart unbekömmlich, daß er 1711 nach nur viermonatiger Amtszeit im Alter von 37 Jahren starb; s. J. WAGNER, Die Regentenfamilie von Nassau-Hadamar. Geschichte des Fürstenthums Hadamar, Bd.2, 2. Aufl. Wien 1863, S.lOl, 128-131 (Zitat S.l29). 42 Ingelheim, Virmont, Spaur, Oettingen-Wallerstein, Reigersberg. Der kath. RKG-Präsident Philipp Kar! Anton Freiherr v. Groschlag gehörte 1744/45 zu den erfolglosen Bewerbern um die Nachfolge im Kammerrichteramt nach dem Tode des bisherigen Amtsinhabers Ambrosius Franz Friedrich Christian Adalbert Grafen v. Virmont; s. die an den wittelsbachischen Kaiser Kar! VII. gerichteten Gesuche Groschlags in: HStA Mü., K. schw. 5670.
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
Nur die Frage anderweitiger eidlicher Verpflichtungen wurde - parallel zur Frage 11 im Generalexamen der Präsidenten und Assessoren- vor dem eigentlichen Installationsakt fast immer an die neuemannten Persönlichkeiten gerichtet, um nach Maßgabe der KGO ihre Unabhängigkeit im Kammerrichteramt sicherzustellen43. Diese Frage zielte primär auf die Würde eines kaiserlichen Geheimen Rats. Dabei sah man in dem Ratstitel allein nichts Anstößiges. Dieser bloße Charakter eines wirklichen kaiserlichen Geheimen Rats galt vielmehr in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schon ganz selbstverständlich als "Concomitans" der Kammerrichterstelle, denn er wurde den zukünftigen Kammerrichtern und ebenso den neupräsentierten RKG-Präsidenten während der Wetzlarer Zeit wie auch schon in früheren Zeiten observanzmäßig per Dekret der Wiener Reichshofkanzlei verliehen, falls die Betreffenden diesen Titel nicht schon vorher besessen hatten44 . Mehrere der im 18. Jahrhundert amtierenden Kammerrichter führten jedoch nicht nur das vornehmlich der Rangerhöhung dienende Ratsprädikat, sondern hatten schon längst vor ihrer Ernennung einen Eid als wirklicher kaiserlicher Geheimer Rat abgelegt. Diese Bindung erregte noch in den ersten Wetzlarer Jahrzehnten das Mißtrauen des Kameralkollegiums und war vor der eigentlichen Installationszeremonie regelmäßig Thema einer Befragung. Sie entwickelte sich jedoch im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr zum bloßen Ritual mit vorentschiedenem Ausgang. Denn schon gleich beim ersten Mal, im Jahre 1718, beugte sich das Kameralkollegium der von der Wiener Reichshofkanzlei soufflierten Auffassung des zum neuen Kammerrichter ernannten Frobenius Ferdinand Fürsten zu Fürstenberg-Meßkirch (1664-1741), daß der von ihm abzulegende Eid eines Kammerrichters mit seinen wirklichen Ratspflichten kompatibel sei, und präjudizierte damit das permissive Verhalten in allen noch folgenden derartigen Fällen45 . Bezeichnenderweise wurde die Frage der Kompatibilität von Kammerrichtereid und eidlicher Verpflichtung als wirklicher kaiserlicher Geheimer Rat 1770 43 Hierzu und zum Folgenden s. außer den einschlägigen Installationsprotokollen (RKG IV
C 1 ff. u. RKG IV B 211 ff.) sowie den das Kammerrichteramt betreffenden Korrespondenzen (RK.G IV B 112) die 1569 einsetzenden, für das aktuelle Forschungsfeld 'symbolisches Handeln- symbolische Rituale' sehr ergiebigen Protokollauszüge "Solennia Introductionis Dominorum Judicum in Camera Imperiali", abgedruckt im Anhang Lit.A von LUDOLF, Modestini et Pomponii ... meditationes, 8.323-350; ferner die historischen Überblicke in den Referaten der RKG-Beisitzer Leykam (2. u. 3.9.1763) und Hueber (20. u. 21.10.1797) in: RKG IV B 2113 fol.18 8 -18J u. 2/28 fol.166 u. s.f.
44 "Concomitans": RK.G IV B 2113 fol.25r/1763 (3.9.1763). - Die betreffenden Gesuche und Dekrete in: HHStAW, RK- Geheime Räte, Karton 1-7, Dekrete Lit. A-Z.
45 Zum Fall Fürstenberg: Postscripturn zur ksl. Instruktion für Fürstenberg, Wien, 19.4. 1718, in: HHStAW, RK - RKG-Visit.A. 335; Introduktionsprotokolle in: RKG IV B 2/1 fol.36v-40v u. 43r-45r (22.6. u. 27.6.1718). Fürstenberg war von 1718 bis 1722 Kammerrichter.
II.2.2.1. Der Kammerrichter
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während der letzten RKG-Visitation von den Delegierten protestantischer Reichsstände mit eindeutig verneinendem Akzent zur Diskussion gestellt und provozierte eine ebenso apologetische Replik von seiten der kaiserlichen Visitationskommission46. Zwar wurde die weitere Erörterung dieses Punkts von der Visitationsdeputation wie so viele andere Streitfragen bis zur Revision des Konzepts der KGO ausgesetzt und damit niemals endgültig entschieden. Aber allein die Tatsache, daß diese scheinbare Nebensächlichkeit ausreichte, innerhalb der Visitation die Gräben zwischen antihabsburgischen und habsburgischkaiserlichen Positionen weiter zu vertiefen, zeigt, welch verfassungspolitisch sensibles Terrain mit dieser Frage betreten wurde. Der Kammerrichter war einerseits der Repräsentant des obersten Gerichtsherrn im Reich und wurde deshalb ausschließlich vom Kaiser bestellt. Andererseits stand er an der Spitze einer Institution, die von Kaiser und Reichsständen gemeinsam errichtet und getragen wurde, bezog seine Besoldung aus dem von den Reichsständen aufgebrachten Kammerzielerfundus und mußte bei seinem Amtsantritt ebenso wie alle anderen Gerichtspersonen dem Kaiser und dem Reich Treue und Gehorsam schwören. Auf Grund dieser verfassungsrechtlich etwas schillemden Position47 konnte auch das Kammerrichteramt ähnlich dem der Präsidenten und Beisitzer sowie überhaupt das ganze RKG schon aus scheinbar nebensächlichen Fragen in das Sperrfeuer gegensätzlicher reichspolitischer Interessen geraten- in einer Zeit, in welcher der Wiener Hof nicht zuletzt über das RKG wieder verstärkt Positionen im Reich zurückgewinnen bzw. ausbauen wollte, während umgekehrt vor allem die größeren und davon besonders die protestantischen Reichsstände derartige Absichten bekämpften. Sicherlich hätte die Frage, ob der Eid eines Reichshofratspräsidenten mit dem eines wirklichen kaiserlichen Geheimen Rats vereinbar sei, im 18. Jahrhundert weder Diskussionen im Reichshofratskollegium veranlaßt noch die antihabsburgische Opposition im Reich auf den Plan gerufen. Dagegen entstanden auf Grund der anfangs beschriebenen komplizierten Einbettung des RKG in die dualistische Reichsverfassung in der Spätzeit des Reiches auch bei den Kammerrichtern - und ebenso bei den Präsidenten - trotz ihrer viel eindeutigeren Zuordnung zum Reichsoberhaupt doch Probleme, die bei aller inhaltlichen Andersartigkeit eine grundsätzliche Gemeinsamkeit mit derjenigen verfassungspolitischen Problematik aufweisen, die uns bei den über das Präsentationssystem rekrutierten RKG-Assessoren noch ausführlich beschäftigen wird.
46 Visitationsprotokolle in: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 70 (sessio 419 u. 420); dazu: Gesammelte Original-Briefe, Tl.2, 8.32-34, 58 f.
47 Vgl. auch die Charakterisierung der verfassungsrechtlichen Stellung des Kammerrichters bei MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.355 f.
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
Die Diskussion um die Kompatibilität von Kammerrichtereid und Eidesleistung als wirklicher kaiserlicher Geheimer Rat verschleierte offenbar den damals Beteiligten den Blick für die Tatsache, daß ein Kammerrichter in enger Verbindung zum Wiener Hof stehen konnte, ob er nun wirklich vereidigter kaiserlicher Geheimer Rat war oder nur den bloßen Titel eines solchen führte. Die Akten der Wiener Reichshofkanzlei enthalten viele Belege für einen derartigen "Repräsentationsgeist" mehrerer der im 18. Jahrhundert amtierenden Kammerrichter- eine Amtsauffassung, die bei den Assessoren durch gesetzliche Verbote mit mehr oder weniger Erfolg bekämpft wurde. Vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts traten die Kammerrichter verstärkt in Korrespondenz mit dem Wiener Hof und erstatteten Bericht über Judicialia, Personalien und andere RKG-Interna. Dabei ging es ihnen nicht nur um eine Förderung kaiserlicher Prärogativen, sondern mindestens ebenso sehr darum, die eigene kammerrichterliche Stellung und überhaupt die Position des in Wetzlar zunehmend isolierten Gerichts zu stärken sowie für dessen Probleme Interesse zu erwecken48 . Eine genauere Untersuchung sollte feststellen, wieweit und ob überhaupt der Wiener Hof diese Korrespondenz zwischen einzelnen Kammerrichtern und der Reichshofkanzlei dazu nutzte, diese Spitzenfunktion am RKG zum Vorposten kaiserlicher Reichspolitik zu machen, kaiserliche Rechte am RKG zu reaktivieren oder auszuweiten und ungesetzlichen Einfluß auf einzelne Prozeßsachen zu nehmenund wieweit in Wien in der Spätphase des Reiches überhaupt noch ein nicht nur eigennütziges Interesse am Schicksal des Gerichts vorhanden war49 • Die hier aufgezeigten Zusammenhänge, die über eine an den bloßen Normen orientierte Funktionsbeschreibung des Kammerrichteramtes weit hinausreichen, verweisen darauf, wo die eigentlichen Schwierigkeiten der kammerrichterlichen Amtsführung zumal in der Spätzeit des Reiches lagen. Zur Erfüllung der alltäglichen Amtspflichten, neben deren Komplikationen - Überhäufung des Gerichts mit unerledigten Prozessen, Unterhalts- und Personalmangel, Präsentationskonflikte, Interpretationsprobleme angesichts veralteter Karneralgesetze und anderes 48 Die betreffende Korrespondenz befindet sich, soweit vorhanden, in verschiedenen Faszikeln des Bestands RK- RKG-Visit.A. im HHStAW. Zum Beispiel stand hinter der ausführlichen Berichterstattung des letzten Kammerrichters und vorherigen kath. Präsidenten Reigersberg vor allem die Absicht, für die Existenznöte des RKG in der Auflösungsphase Verständnis zu erwecken und Hilfe zu bekommen, s. HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 378; Biogr. 86 (Reigersberg), VIII. 49 In diesem Zusammenhang wäre auch näher zu untersuchen, wieweit die von Duchhardt für die Wetzlarer Zeit formulierte These von der "Verkaiserlichung" des RKG für die Kammerrichter Gültigkeit hat. Für die Assessorengruppe als Ganzes ist diese Deutung so pauschal sicher nicht tragfähig; s. H. DUCHHARDT, Das Reichskammergericht zur Möser-Zeit, in: Möser-Forum 3/1995-2001, 8.117-126, hier S.122 f.; s. auch DERS., Das Reichskammergericht im Verfassungsgefüge, S.38; DERS., Das Reichskammergericht (1996), S.10 ff., hier S.l2.
II.2.2.2. Die Präsidenten
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mehr - die normativen Amtsvorschriften verblaßten, kamen Belastungen mehr atmosphärischer Art. Ein Kammerrichter, der sein Amt nicht nur als standesgemäße Versorgung verstand, mußte einen Balanceakt zwischen den verschiedensten Interessen und Kräftefeldern innerhalb und außerhalb des RKG vollbringen. Intern zum Beispiel sah er sich einer ebenso zusammengewürfelten wie selbstbewußten, von persönlichen, konfessionellen und politisch-reichsständischen Interessen durchsetzten Assessorenschaft sowie der auf Eigenständigkeit pochenden, an Kurmainz gebundenen Kanzlei gegenüber. Nach außen hin war der Kammerrichter der erste Prellbock für diskriminierende Klagen und Proteste prozeßinteressierter größerer Reichsstände gegen die kammergerichtliche Urteilstätigkeit Er war einerseits Repräsentant des Kaisers und als solcher mit dem Mißtrauen der antihabsburgischen Kräfte im Reich konfrontiert, andererseits sollte er die Unabhängigkeit des RKG auch gegenüber kaiserlich-habsburgischen Forderungen wahren. Schließlich mußte er gemeinsam mit dem übrigen Karneralkollegium die Bedürfnisse dieser Institution gegenüber Kaiser und Reich insgesamt durchzusetzen suchen und erlebte dabei angesichts der bei den Adressaten vorherrschenden gesetzgeberischen Lethargie gerade in der Spätphase des Reiches häufig genug Enttäuschungen. Angesichts einer solch heiklen Position, die hinter der glanzvollen Repräsentation leicht vergessen wird, nimmt es nicht wunder, wenn die Kammerrichter der Wetzlarer Zeit im Laufe des 18. Jahrhunderts stärkeren Rückhalt beim Wiener Hof suchten oder - wie der Kammerrichter und vorherige RKG-Präsident Philipp Karl Graf zu Oettingen-Wallerstein 1801- die nur scheinbar größere Unabhängigkeit ihres Wetzlarer Direktorialamts lieber mit dem nicht nur gleichrangigen, sondern auch wirklich kaisernahen Posten des Reichshofratspräsidenten in Wien vertauschten5°. 2. Die Präsidenten Im 18. Jahrhundert gehörte es zu den Selbstverständlichkeiten kammergerichtlieber Existenz, daß es außer dem Kammerrichter zwei weitere Direktorialpersonen gab: die im Rang unmittelbar folgenden Präsidenten. In dieser Zuordnung zum Direktorium des RKG war das Präsidentenamt genetisch betrachtet jünger als die schon lange vor 1495 bestehenden Funktionen des Kammerrichters und der Assessoren. Es hatte sich erst im Zuge einer längerfristigen Funktionsverschiebung von den Assessoren weg auf die Seite des Kammerrichters herausgebildet. Der Keim für diesen Ausdifferenzierungsprozeß war allerdings schon in 50 HHStA W, RHR u. RK- Verf.A., RHR Fasz. 26, I.: RHR-Präsidenten (Öttingen-Wallerstein 1801 ); über die Beschwerlichkeiten des Kammerrichteramts s. auch MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.58 f.
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
der KGO von 1495 gelegt. Danach wurde im Fall der Abwesenheit des Kammerrichters oder seines Todes einem der Urteiler, und zwar möglichst einem Grafen oder Freiherrn, "so einer unter ine were", die Vertretung übertragen51 . Das Standeserfordernis korrespondierte mit der ebenfalls 1495 fixierten Vorschrift, daß in Prozeßsachen der Kurfiirsten, Fürsten oder Fürstenmäßigen dem Ebenbürtigkeitsprinzip entsprechend auch im Fall der Abwesenheit des Kammerrichters an seiner Statt ein von ihm eingesetzter anderer Fürst, Graf oder Freiherr dem Gericht vorsitzen sollte 52 . Um die Vertretung des Kammerrichters auf jeden Fall sicherzustellen, wurde die Zahl der hierfür qualifizierten Beisitzer aus dem Grafen und Herrenstand, der "assessores illustres" bzw. "generosi", im Reichsabschied von 1498 und in der KGO von 1500 auf zwei erhöht53 . Mit der sich in der Folgezeit durchsetzenden, im Reichsabschied von 1530 festgeschriebenen Aufteilung der Beisitzer auf drei Senate übernahmen diese beiden "assessores generosi" zusätzlich und neben dem Kammerrichter die ständige Aufgabe des Senatsvorsitzes, aber zunächst immer noch unter Beibehaltung ihrer Urteilertätigkeit54. Im ersten Teil der KGO von 1548 und der daraufberuhenden 51 KGO 1495 § 1 u. 2 (Paragrapheneinteilung nach der Edition in RTA MR 5/1,1, S.386 f., Zitat ebd., S.387; nach der Textgliederung in CJC, S.2: KGO 1495 Tit.l § 2, Tit.2 § 2).Systematischer, an den Karneralgesetzen orientierter Abriß des RKG-Präsidentenamts einschließlich seiner Entstehungsgeschichte (zumeist mit ausruhrliehen Quellennachweisen) bei MasER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.375-381, auch schon 371-374; TAFINGER, lnstitutiones, Sectio I. et II., S.285-305; BOSTELL, Grundsätze, Tl.l, S.18, 34 ff.; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.64-77; DANZ, Grundsäze, S.162-167; weniger systematisch, weil der Gliederung des Konz. KGO 1613 Tl.l folgend, und nicht vollständig: BALEMANN, Beiträge, S.9, 38-40 (Entstehung), 165 f., 204-213; bester neuerer ämtergeschichtlicher Überblick immer noch bei SMEND, Reichskammergericht, S.257-263; zur Entstehungsgeschichte des RKG-Präsidentenamts s. auch HARPPRECHT, Staats-Archiv, Tl.2, S.129. Auf diese hier in Auswahl zitierte ältere Kameralliteratur sowie auf Smend wird flir den folgenden Abschnitt über die RKG-Präsidenten, soweit nicht anders vermerkt, verwiesen; zusammenfassend jetzt auch DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskammergerichts, S.104 u.106.- Ergänzend zu diesem Kapitels. im Anhang die Listen der zwischen 1648 und 1806 amtierenden katholischen und evangelischen Präsidenten. 52 KGO 1495 § 1, nach anderer Texteinteilung: Tit.l § 3 (RTA MR 5/1,1, S.386; CJC, S.2); noch deutlicher KGO 1500 Art.3 §§ 1 u.2 (NVSRA Tl.2, S.68); KGO 1555 Tl.l Tit.12 (LAUFS, KGO 1555, S.93); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l8 Anfang (CJC, S.596 f.).
53 RA 1498 § 24 (NVSRA T1.2, S.44); KGO 1500 Art.3 §§ 1 u. 2 (ebd., S.68); s. auch die chronologische Abfolge der zwischen 1495 und 1651 amtierenden "Adsessores praesides" in dem von G.W. Wormbser angefertigten Personalverzeichnis "Judicii Camerae lmperialis personae ... " in: P. DENAISIUS, Jus Camerale sive novissimi juris compendium, 7. Aufl. Straßburg 1652, S. 707-710, sowie den 1495 einsetzenden "Catalogus Personarum Collegii Cameralis" in: G.M. v. LUDOLF, De Jure Camerali commentatio systematica, neuesie Aufl. Wetzlar 1741, Appendix X, S.341 ff.
54 RA 1530 §76 (CJC, S.71; NVSRA Tl.2, S.318); vgl. etwas deutlicher KGO 1555 Tl.l Tit.lO §§ 1, 10, 13 (LAUFS, KGO 1555, S.82, 85 f.); über die zeitweilige Zwitterstellung der Assessoren aus dem Grafen- und Herrenstand als Urteilerund zugleich Direktorialpersonen s.
II.2.2.2. Die Präsidenten
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KGO von 1555 ist ihre nunmehr doppelte Direktorialaufgabe klar ersichtlich. Die Bezeichnung "Präsident" wurde darin allerdings nur an einigen Stellen verwendet55. Viel häufiger werden in diesem bis 1806 gültigen Reichsgrundgesetz und ebenso in dem darauf fußenden Konzept der KGO von 1613 - die dem Kammerrichter zugesellten beiden Direktorialpersonen in ganz konservativer Manier noch unter den Assessoren geführt und sind von den übrigen Urteilem, wenn überhaupt, nur durch den Zusatz "Grafen und (Frei-)Herren" abgehoben56 . Dieser Sprachgebrauch verschleiert, daß und seit wann genau die um 1530 noch existente Zwitterfunktion der "assessores generosi" in der Folgezeit beseitigt wurde zugunsten einer Konzentration auf die Direktorialaufgaben. Diese Punktionsverschiebung war in der Realität anscheinend schon in den Jahren vor 1555 57 , spätestens aber in den sechzigerund siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts beendet. Nach 1555 setzte sich in den Visitationsabschieden und -memorialien und auch in Äußerungen des Kameralkollegiums der Terminus "Präsident" in deutlicher Absonderung von den Beisitzern immer stärker durch. Daneben kommt allerdings die alte Bezeichnung "Beisitzer" für diese Direktorialpersonen aus dem Grafen- und Herrenstand noch längere Zeit vor, was die Erkenntnis der tatsächlich vollzogenen funktionellen Trennung- sowohl der Sache als dem Zeitpunkt nach- erschwert58 . z.B. auch BALEMANN, Beiträge, S.40; zur Geschichte der Senate am RK.G s. MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.311 ff.; DICK, Entwicklung, S.32, 37, 38 f., 42, 82 f.
55 KGO 1548 Tl.l Art.10 (RTA JR 18/2, S.1254, 1256); KGO 1555 Tl.l Tit.lO §§ 13-15, 23 (LAUFS, KGO 1555, S.86 ff.); s. auch Vis.A. 1550 § 8 (CJC, S.105). 56 Dazu BALEMANN, Beiträge, S.38 f.; s. auch SMEND, Reichskammergericht, S.262. -
Nach BALEMANN, Beiträge, S.2, gehörte die nur ansatzweise vollzogene Separierung der Präsidenten von den Assessoren zu den Unvollkommenheiten des Konz. KGO 1613 Tl.l, das ja auf KGO 1555 Tl.l basierte. Balemann konstatierte ebd. im Hinblick auf die damals (1778) immer noch ausstehende Fertigstellung und Publikation einer überarbeiteten KGO, das Amt der RKG-Präsidenten sei "zu unsern Zeiten so sehr von den Herrn Assessoren abgesondert, daß dessen Bestimmung einen eigenen Titel verdienen mögte". In den Revisionsvorschlägen der beiden Assessoren Harpprecht und Loskand, die im Auftrag der letzten RKG-Visitation den ersten Teil des Konz. KGO 1613 überarbeiteten, wurde der längst vollzogenen Trennung der Präsidenten von den Assessoren und ihrem Charakter als Direktorialpersonen tatsächlich deutlich Rechnung getragen, wenn auch noch nicht mit aller analytischen Schärfe; s. die Publikation dieser Revisionsentwürfe in: J. H. Chr. v. SELCHOW (Hg.), Concepte der Reichskammergerichtsordnung auf Befehl der jüngsten Visitation entworfen, Tl.1, Göttingen 1782, S.1 ff.
57 Diesen terminus ante quem sieht SMEND, Reichskammergericht, S.262 f. mit Anm.5,
durch einen ebd. zitierten, in der Zimmersehen Chronik enthaltenen Bericht des RKG-Präsidenten (1529-1541 od. 1542) und späteren Kammerrichters (1548-1554) Wilhelm Werner Grafen von Zimmern (1485-1575) aus seiner Präsidentenzeit belegt (über ihn s. ADB 45, 1900, S.302-306).- Schon die Kameralschriftsteller waren sich über den Zeitpunkt im unklaren und uneins; vgl. z.B. BALEMANN, Beiträge, S.39 (über Ludolf), 40; DANZ, Grundsäze, S.162f.
58 Vielfältige Belege sowohl für die konservative Wortwahl als auch für den moderneren Terminus "Präsident" nach 1555 in: CJC, S.199 ff. (1556 ff.); exemplarische Belege aus un-
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
Als Ergebnis des beschriebenen Ausdifferenzierungsprozesses stellten sich die Funktionen der RKG-Präsidenten bis zum Ende der Wetzlarer Zeit unverändert folgendermaßen dar: Neben dem Kammerrichter repräsentierten sie am gesamten Gericht und in den von ihnen dirigierten Senaten "praesidendo" den Kaiser, saßen dort an seiner Statt59 • Trotz dieser engen Zuordnung zum Reichsoberhaupt, die sich während der Wetzlarer Zeit regelmäßig zumindest im Titel eines wirklichen kaiserlichen Geheimen Rats äußerte, mußten aber auch die Präsidenten bei ihrem Amtsantritt Kaiser und Reich Treue und Gehorsam schwören60. Bei Anwesenheit des Kammerrichters hatten sie diesen in seinem Direktorialamt zu unterstützen und waren neben ihm für die Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung am Gericht zuständig. Im Interesse eines funktionierenden Gerichtsbetriebs und zur Abstützung seiner eigenen Entscheidungen sollte der Kammerrichter mit den Präsidenten in "vertraulicher Correspondentz" stehen und sie in allen von ihm als wichtig erachteten Angelegenheiten konsultieren, ohne aber an ihre Zustimmung gebunden zu sein61 . Ein förmliches Kondirektogedruckten Quellen finden sich fur die fünfziger, sechzigerund siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts in den das RK.G betreffenden Präsentations- und Visitationsakten der Reichshofkanzlei in: HHStA W, RK.- RK.G-Visit.A. 319a-322b. Seit Ende des 16. Jahrhunderts wurde im Zusammenhang der Resignation und Präsentation eines RK.G-Präsidenten von der Reichshofkanzlei in den kaiserlichen Schreiben an das RK.G durchweg nur noch der Ausdruck Präsident, Präsidentenstelle etc. verwendet; s. die ab 1595 erhaltenen "Praesentations-Acta pro Praeside Catholico" in: RK.G IV B 1/3 fol.1 ff. 59 Vis.Mem. ftir Kammerrichter, Präsidenten und Beisitzer 1571 § 5 (CJC, S.312); ebs. Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l 0 § 3 (CJC, S.585); Vis.A. 1713 § 16 (CJC, S.966).
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Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.85 (Eidesformel ftir alle Kameralpersonen; CJC, S.661 f.); vgl. auch ebd. Tit.71 (ebd., S.657) und ebs. schon KGO 1555 Tl.l Tit.57 (spezieller Amtseid ftir Kammerrichter- ergänze: Präsidenten- und Beisitzer; LAUFS, KGO 1555, S.151); die Dekrete betr. die Verleihung des Titels eines kaiserlichen wirklichen Geheimen Rats an RK.GPräsidenten und die zugrundeliegenden Gesuche befinden sich in HHStA W, RK.- Geheime Räte, Karton 1-7, Dekrete Lit.A-Z.- Noch zu Beginn der Wetzlarer Zeit hielt das Karneralkollegium - im Gegensatz zum bloßen Ratstitel ohne Eidesleistung - den tatsächlich abgelegten Eid eines wirklichen kaiserlichen Geheimen Rats ftir nicht kompatibel mit dem Amtseid eines RK.G-Präsidenten. Im 18. Jahrhundert wurde dann aber der Widerstand gegen diese Kombination von eidlichen Verpflichtungen offenbar noch schneller als im Fall der Kammerrichter aufgegeben.
61 "Vertrauliche Correspondentz": Vis.Mem. fur Kammerrichter u. Beisitzer 1577 § 8
(CJC, S.345); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l 0 § 1 (CJC, S.585); Vis.A. 1713 § 4 (CJC, S.964); hierzu und überhaupt zu den Funktionen der Präsidenten s. die oben in Anm.51 genannte ältere Kameralliteratur sowie SMEND, Reichskarnmergericht, S.261 f.- Die hier und im folgenden referierten wichtigsten Karneralgesetze betr. die Aufgaben der Präsidenten (aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen zumeist schlecht separiert von denen der Kammerrichter und Assessoren) s. in: KGO 1555 Tl.l Tit.3 § 2, Tit.4 § 1, Tit.lO (diverse §§;), Tit.12 (LAUFS, KGO 1555, S.75, 77, 82 ff., 93), alles beruhend aufKGO 1548 Tl.l Art.3, Art.4, Art.10 u. Art.12 (RTA JR 18/2, S.1244 f., 1251 ff., 1260 f.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.3 § 1, Tit.5 § 1, Tit.lO u. 11 (diverse §§), Tit.18 (CJC, S.578 ff., 585 ff., 596 f.); s. auch oben Kap.II.2.2.1. über die Funktionen des Karnmerrichters.
II.2.2.2. Die Präsidenten
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rium stand den Präsidenten also nicht zu. Daß ein gutes Einvernehmen zwischen Kammerrichter und Präsidenten tatsächlich ftir den Gerichtsbetrieb und fiir die Außenwirkung des RKG von höchster Bedeutung war, zeigte sich vor allem in Krisenzeiten, in denen dieses Zusammenspiel der Direktorialpersonen gestört war62 • Jeder der Präsidenten präsidierte- daher die Amtsbezeichnung- ebenso wie der Kammerrichter einem der Justizsenate, überwachte dabei das ordnungsgemäße Referieren und Votieren sowie den Arbeitsfleiß der Assessoren und leitete die Umfragen. Hier im Senatsvorsitz lag die wichtigste Dauerfunktion der Präsidenten. In dieser Direktorialeigenschaft waren auch sie ganz und gar Richter im mittelalterlichen Sinne: Im Gegensatz zu den mit der Urteilstindung befaßten Beisitzern fertigten sie keine Relationen an, und in den von ihnen dirigierten Senaten hatten sie kein Votum. Dagegen konnten sie in allen an das Plenum gelangenden Sachen, sofern sie nicht in Vertretung des Kammerrichters den Vorsitz fiihrten, genauso wie die Assessoren mitvotieren, und zwar nicht nur in den allgemeinen Verwaltungs- und Personalangelegenheiten, sondern auch in Justizsachen63 . Der zweite Hauptaufgabenbereich der Präsidenten lag in der Vertretung des Kammerrichters, wobei seit 1713 gesetzlich geregelt war, daß unabhängig von seiner Konfession stets der amtsältere der beiden Präsidenten und erst bei dessen Verhinderung sein nach ihm introduzierter Amtskollege in die kammerrichterlichen Direktorialfunktionen eintrat64 • Bei kurzzeitiger Abwesenheit des Kammerrichters geschah dies nur in eingeschränkter Form. Bei längerdauernder Abwesenheit, zum Beispiel während der Amtszeit des Trierer Kurfiirsten Johann Hugo von Orsbeck oder bei Vakanz des Kammerrichteramts, dehnte sich die Vertretung auf dessen gesamten Kompetenzbereich aus. Nur in diesem letzteren Fall fiihrte der stellvertretende Präsident offiziell den Titel eines KammerrichterAmtsverwesers. Da die Präsidenten bei Anwesenheit des Kammerrichters nicht die volle Last des Direktoriums trugen und viel weniger Repräsentationsauf62 Das war vor allem in der langen Amtszeit des Präsidenten (1698-1730), Kammerrichteramtsverwesers (1711-1718) und Kammerrichters (1730-1742) Irrgelheim der Fall; s. dazu außer den ungedruckten Akten DUCHHARDT, Ingelheim. 63 Dazu HARPPRECHT, Staats-Archiv, Tl.2, S.131; TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.303; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.70, 294; DANZ, Grundsäze, S.l65; SMEND, Reichskammergericht, S.262. - Justizsachen gelangten durch mehrfache Senatsadjunktion ans Plenum. 64 Vis.A. 1713 § 5 (CJC, S.965). Durch diese Verordnung wurde den vorausgegangenen heftigen Querelen zwischen den Präsidenten um die Ausübung der Vertretung, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und vor allem während der Irrgelheim- Solms-Zeit das Gericht erschüttert hatten, der Boden entzogen. - Bei Verhinderung der zwei (bzw. zeitweise drei) Präsidenten wurde das Direktorium dem ranghöchsten Beisitzer übertragen, s. KGO 1555 Tl.l Tit.l2 (LAUFS, KGO 1555, S.93); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l8 (CJC, S.596f.); dazu BALEMANN, Beiträge, S.206-208; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.73-75.
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
wand zu betreiben hatten, war ihr von den Reichsständen über die Kammerzieler finanziertes Gehalt zwar höher als das der Beisitzer, aber weitaus niedriger als das des Kammerrichters 65 • Mehrere auch noch während der ganzen Wetzlarer Zeit existente Besonderheiten des Präsidentenamts muß man als Zeugnisse seines Ursprungs aus dem Assessorat begreifen66 • So versprachen die Präsidenten bei ihrer Vereidigung nicht nur ebenso wie die Kammerrichter und die Beisitzer, ihr Amt mindestens sechs Jahre lang auszuüben. Außerdem mußten sie im Fall der Amtsaufkündigung im Gegensatz zum Kammerrichter, aber ebenso wie die Assessoren bis zum endgültigen Amtsabtritt ordnungs- und observanzgemäß noch sechs Monate im Amt bleiben67 • Verständlich wird diese bis 1806 in ganz konservativer Weise beibehaltene Verpflichtung auch der Präsidenten zum halbjährigen Nachdienst nur aus der Kenntnis ihrer ursprünglichen Urteilerfunktion. Denn während dieser sechs Monate zwischen erster Resignationsanzeige und endgültiger Amtsaufgabe sollten die resignationswilligen Beisitzer sämtliche von ihnen bearbeiteten Relationen fertigstellen und ablegen- eine Notwendigkeit, die spätestens seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts für die auf die Direktorialseite übergewechselten und damit von Relationen befreiten Präsidenten weggefallen war.
65 Seit dem Reichsschluß von 1719/20 (mit Rückwirkung ab Ende 1713) bis 1806 betrug die Besoldung des Kammerrichters jährlich 11.733 Rtlr. 30 Kr., die der Präsidenten 3.656 Rtlr., die der Beisitzer 2.666 Rtlr. 60 Kr. im 20 Gulden-Fuß (bzw. 21.120 fl., 6.580 fl. 48 Kr. u. 4.800 fl. rhein. Währung); s. RKG Pfennigmeisterrechnungen; auch MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.61, 76, 192; SMEND, Reichskammergericht, S.398-402. E. MADER, "Heilige Schulden" des aufgelösten Reichs. Das Problem der Entschädigung des Reichskammergerichtspersonals für den Verlust ihrer Stellen, in: B. Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert, Köln- WeimarWien 2002, S.105-142, hier S.l08 Anm.6, gibt als Jahresbesoldung eines einzigen Präsidenten mit "je 13.161 fl. 36 kr." (statt je 6.580 fl. 48 kr.) irrtümlich die Summe der Gehälter beider Präsidenten an. - Auch wenn ein Präsident den Kammerrichter kurzfristig oder sogar als Amtsverweser vertrat, bezog er dennoch nicht die kammerrichterliche Besoldung. 66 Mehrerer dieser Relikte sind zusammengestellt bei TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.303 f.; HARPPRECHT, Staats-Archiv, Tl.2, S.131.
67 Die Assessoren waren zum Sexennium, d.h. zur mindestens sechsjährigen Amtszeit, gesetzlich verpflichtet, s. RA 1566 § 78 (CJC, S.281; RTA Reichsvers. 1556-1662, RT 1566/2, S.1536); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.4 (CJC, S.579). Kammerrichter und Präsidenten verpflichteten sich observanzmäßig dazu; s. außer den Pierrarprotokollen über ihre Amtseinführung BALEMANN, Beiträge, S.194, 211; TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.276, 294 f., 302 f. Vom Sexennium konnte nur der Kaiser dispensieren.- Vorschrift betr. den sechsmonatigen Nachdienst der Assessoren: KGO 1555 Tl.l Tit.4 § 2 (LAUFS, KGO 1555, S.77); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 §2 (CJC, S.580); dazu BALEMANN, Beiträge, S.211-213, wonach sich dieser Artikel auch auf die Präsidenten bezieht. Dem entsprach nach Ausweis der Aufschwörungsprotokolle auch die Observanz.
Il.2.2.2. Die Präsidenten
125
Auf das Recht der Präsidenten, im Plenum des Kameralkollegiums ebenso wie die Beisitzer in Justiz- und anderen Sachen ein Votum abzugeben- ebenfalls ein Überbleibsel ihrer früheren Urteilereigenschaft -, wurde bereits hingewiesen. Als ein für die prosapographische Erforschung glücklicher Umstand erweist sich heute die Tradierung eines anderen Relikts: Bis zur Auflösung des RKG mußten die vom Kaiser ernannten zukünftigen Präsidenten anders als die Kammerrichter, aber ebenso wie die Assessoren und die im Rang nachfolgenden übrigen Kameralpersonen vor ihrer Amtseinführung ein Generalexamen ablegen- dies, obwohl sie dem Kameralkollegium als Standespersonen bekannt waren und obwohl bei ihnen seit ihrer Abspaltung von den Assessoren keine spezielle juristische Vorbildung erkundet werden mußte. In diesem Generalexamen hatten die designierten Präsidenten genau denselben Fragenkanon zu Herkunft, Konfession, Alter, Wohnsitz, juristischem Studium und Graduierung (!) sowie juristischer Praxis zu beantworten wie die Beisitzer68 • Dieses Abverlangen eines Generalexamens auch von den RKG-Präsidenten jüngeren Typs verweist ein weiteres Mal auf ihre Abstammung von den Assessoren. Zugleich ist es ein Indiz für die überaus lange Tradition dieses Generalexamens, das am RKG schon in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts praktiziert worden sein muß- als die "assessores generosi" noch den Zwitterstatus von Urteilern und Direktorialpersonen innehatten. Umgekehrt brauchten die Präsidenten ebenso wie die Kammerrichter, aber im Gegensatz zu den Beisitzern niemals eine Proberelation und ein mündliches Spezialexamen abzulegen. Als diese Probearbeit 1570 im Interesse eines höheren Leistungsniveaus für die zum Assessorat präsentierten Juristen reichsgesetzlich eingeführt wurde, waren die Präsidenten in der betreffenden Vorschrift schon nicht mehr inbegriffen69 . Aus der Entstehungsgeschichte des Präsidentenamtes beantwortet sich auch die Frage, von wem seine Träger ernannt wurden. Bei der Neukonstituierung des RKG auf dem Wormser Reformreichstag 1495 waren die Vorschläge zur Bestellung der 16 Urteiler, auch solcher vom Grafen- und Herrenstand, von sämtlichen Reichsständen gemacht worden, und auch die endgültige Auswahl erfolgte 68 Die in lateinischer Sprache zu Protokoll gegebenen Generalexamen der RKG-Präsidenten sind ab 1658 fast vollständig vorhanden in den Plenarprotokollserien RKG IV C 1 ff. und RKG IV B 2/1 ff. Zum Fragekanon und zur Genese des Generalexamens für die Präsidenten und Assessoren s. ausführlicher mit weiteren Nachweisen unten Kap.II.3.2. Das Generalexamen der Kameralpersonen gehörte zu den Kameralobservanzen; s. dazu BosTELL, Grundsätze, S.88 f. (§ 92) mit Anm. a). In den Karneralgesetzen gab es hierftir keine Regelung. 69 Einführung der Proberelation in: RA 1570 §55 (CJC, 8.306; RTA Reichsvers. 15561662, RT 1570/2, 8.1224 f.). Die dortige Formulierung schließt die Präsidenten aus, auch wenn sie damals häufig noch als Assessoren bezeichnet wurden. Außerdem sind die Aufnahmeprotokolle in RKG IV C 1 ff. und IV B 211 ff. für sich Beweis genug, daß die Präsidenten keine Proberelation abzulegen hatten.
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
durch die Reichsversammlung70 • Als logische Folge ihrer allmählichen Aussonderung aus dem Kreis der übrigen Urteiler sowie ihrer fast völligen Konzentration auf Direktorialfunktionen fielen die Beisitzer aus dem Grafen- und Herrenstand, die "assessores generosi" und späteren Präsidenten, frühzeitig aus dem sich endgültig seit 1507 formierenden Präsentationssystem, das zum bleibenden Mechanismus zur Besetzung der RKG-Assessorate werden sollte, heraus 71 . Bald nach dem Verfall des zweiten Reichsregiments konnte jeder Einfluß der Reichsstände auf Auswahl und Ernennung der beiden "assessores generosi" (ebenso wie auf diejenige des Kammerrichters) ausgeschaltet werden. In der KGO von 1548 und entsprechend in der KGO von 1555 wurde die ausschließlich kaiserliche Besetzungskompetenz nicht nur für den Kammerrichter, sondern auch für die Beisitzer vom Grafen- und Herrenstand, die nun auch schon als Präsidenten bezeichnet werden, reichsgesetzlich fixiert72 . Damit war dem Funktionswandel vom Urteiler mit Direktorialaufgaben hin zum ständigen Repräsentanten des Kaisers mit Direktorialstatus auch hinsichtlich des Besetzungsmodus Rechnung getragen. Als Folge dieser Entwicklung war seit etwa Mitte des 16. Jahrhunderts die Reichshofkanzlei bis zum Ende des Alten Reiches die allein zuständige Behörde für die Besetzung nicht nur der Kammerrichter-, sondern auch der Präsidentenstellen am RKG. In den von ihr konzipierten und expedierten Schreiben an das Kameralkollegium bediente sich die Reichshofkanzlei aber bezeichnenderweise bei der Neubestellung von Präsidenten bis zum Ende des RKG des Terminus "ernennen und präsentieren"- sicher auch ein Anklang an die ursprüngliche Assessorenqualität der Präsidenten. Dagegen wurde der Ausdruck "präsentieren" von Wiener Seite in den entsprechenden Schreiben zur Ernen70 Zur Vorschlags- und Auswahlpraxis von 1495 s. detailliert 8MEND, Reichskammergericht, 8.24 ff., dazu die Beilagen nr.5 u. 6, 8.388-397; diese Beilagen jetzt auch gedruckt in: RTA MR 5/1,1, 8.438-443 nr.351, 8.444 f. nr.353. Die Formulierung in KGO 1495 § 1 (ebd., 8.384) sagt über das 1495 wirklich praktizierte Verfahren wenig aus. Zur Ernennung der Präsidenten in der Frühphase des RKG bis 1555 samt den einschlägigen Quellenstellen s. die oben in Anm.51 genannte ältere Kameralliteratur (nicht immer klar und präzise) sowie 8MEND, Reichskammergericht, 8.258, 266 f. 71 Ebenso wie in bezug auf das Kammerrichteramt wurde auf dem Wormser Reichstag von 1521 zum letzten Mal reichsgesetzlich ein Zusammenwirken zwischen dem Kaiser und der Gesamtheit der Reichsstände zur Besetzung der zwei Beisitzer aus dem Grafen- und Herrenstand vereinbart, s. KGO 1521 Art.4, nach älterer Zählung Tit.4 § 1; RA 1521 § 7 (CJC, 8.45, 56; RTA JR 2, 8.271, 732). 72 KGO 1548 Tl.l Art.l, auch Art.4 (RTA JR 18/2, 8.1242, 1245); KGO 1555 Tl.l Tit.l § 3, auch Tit.4 § 1 (LAUFS, KGO 1555, 8.73, 77); ebs. Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l § 2, Tit.5 Einltg. (CJC, 8.577, 579); nochmals in IPO 1648 Art.V §53.- Über den nie voll durchgesetzten Anspruch der Reichsvikare, während eines Interregnums eine vakant gewordene Präsidentenstelle (und ebenso eine Kammerrichterstelle) wiederzubesetzen, s. vor allem FAHNENBERG, Reichs-Vikarien, Bd.2, 8.207-214.
Il.2.2.2. Die Präsidenten
127
nung eines Kammerrichters im Gegensatz zu früheren Zeiten während des ganzen 18. Jahrhunderts konsequent vermieden73 • Parallel zur Vermehrung der Assessoren auf 38 wurde 1570 eine dritte Präsidentenstelle geschaffen und in der Folge zumeist auch wirklich besetzt74 • Mit der Ausweitung des Präsentationsschemas auf 50 Assessorate im Westfälischen Friedensinstrument kam 1648 auf dem Papier eine vierte Präsidentenstelle hinzu. Damals konnten die evangelischen Reichsstände durchsetzen, daß das Prinzip der numerischen Konfessionsparität von nun an nicht nur auf die Assessoren des RKG, sondern auch auf die von einem katholischen Reichsoberhaupt zu bestellenden Präsidenten angewendet wurde. Da die Präsidenten zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus den Assessoren hervorgegangen waren und hinter dem Kammerrichter als Haupt und Repräsentanten des Kaisers im zweiten Glied standen, konnte der Kaiser dieses Zugeständnis verschmerzen75 . Die in den folgenden drei Jahrzehnten wiederholt unternommenen Vorstöße des Wiener Hofes, diese zwei katholischen und zwei evangelischen Direktorialposten auch wirklich alle zu besetzen, scheiterten am zähen Widerstand des Kameralkollegiums, das damals unter Hinweis auf den eklatanten Unterhaltsmangel und die dadurch bedingte Unterbesetzung der Assessorate mehrere Präsentationen auf dritte und vierte Präsidentenstellen zu Fall brachte76 • Seitdem beugte sich der Kaiser den 73 S. die Originale der "Präsentationsschreiben" in: RKG IV B 1/2 (Kammerrichter), 1/3 (kath. Präsidenten), 1/4 (ev. Präsidenten). Die Wiener Gegenakten zur Besetzung der RKGPräsidentenstellen (sowie der Kammerrichterstellen), einschließlich der Bewerbungsschreiben und der Korrespondenz mit dem RKG, befinden sich, soweit noch vorhanden, in: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 74
RA 1570 §51 (CJC, S.306; RTA Reichsvers. 1556-1662, RT 1570/2, S.l223).
Alle erwähnten Bestimmungen in: IPO 1648 Art.V §53; dazu s.u. Kap.ll.3.1.2.2. Über die seit dem späten 16. Jahrhundert erhobene Forderung der von Kurpfalz angeführten protestantischen Aktionspartei nach konfessionsparitätischer Besetzung nicht nur der RKG-Assessorate, sondern auch der Präsidentenstellen s. im einzelnen mit weiteren Nachweisen JAHNS, Ringen, S.427 ff., bes. S.429 ff. u. passim bis S.469; s. kurz auch schon DIES., Die Reichsjustiz als Spiegel, S.458, 462; s. auch unten Kap.ll.3.1.2.1. Die analoge Forderung nach Alternation zwischen einem evangelischen und einem katholischen Kammerrichter konnte dagegen auf dem Westfälischen Friedenskongreß nicht durchgesetzt werden. Die ausschließliche Katholizität der Kammerrichter, die als Haupt und Repräsentanten des Kaisersam RKG die kaiserliche Stellung im Verfassungsgefüge des Reiches symbolisierten, war verfassungs- und konfessionspolitisch ein zu hohes Gut, als daß der Kaiser sie preisgegeben hätte; dazu s. schon oben Kap.Il.2.2.1. mit Anm.21 sowie unten Kap.Il.3 .1.2.2. 75
76 Der hier nur angedeuteten, äußerst unübersichtlichen Geschichte der Besetzung der RKG-Präsidentenstellen in den flinfziger, sechzigerund siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts kann die knappe, nur aus gedruckten Quellen gewonnene Skizze bei SMEND, Reichskammergericht, S.259, nicht gerecht werden. Diese Besetzungsgeschichte läßt sich rekonstruieren durch eine kombinierte Analyse der einschlägigen Akten in: RKG IV B 1/3 (kath. Präsidenten), RKG IV B 1/4 (ev. Präsidenten) und der zugehörigen Pierrarprotokolle in: RKG IV C 1, 2 u. 2a sowie der Wiener Gegenakten in: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 329a u. b; ebd., MEKA- RKGA 42 u. 76b.
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
Realitäten und begnügte sich damit, daß immer nur je ein katholischer und ein evangelischer Präsident amtierte. Durch den Reichsschluß von 1719/20, der die im Westfälischen Frieden vorgesehene, aber nie realisierte Zahl von 50 Assessoraten auf 25 halbierte, wurde indirekt auch die Zweizahl der Präsidenten bestätigt. Dabei blieb es bis zur Auflösung des RKG 77 . An den ineinandergreifenden Bereichen der Standesqualifikation und sozialen Rekrutierung sowie der beruflichen Vorbildung soll im folgenden verdeutlicht werden, wie stark auch bei den RKG-Präsidenten der frühzeitig gezogene normative Rahmen im 17. und 18. Jahrhundert durch die soziale Realität ausgeweitet oder infolge zu starken Veränderungsdrucks sogar gesprengt wurde. So kam es hinsichtlich der Standesqualität der Präsidenten zu einer ganz ähnlichen Entwicklung wie bei den Kammerrichtern: Der ursprüngliche Sinn der alten Norm, daß die als ebenbürtige Stellvertreter des Kammerrichters fungierenden 11 assessores generosi 11 und späteren Präsidenten dem Grafen- oder (Frei-)Herrenstand angehören sollten, wurde später zunehmend ausgehöhlt. Dieses zwischen 1495 und 1555 und auch noch in der Folgezeit in den Karneralgesetzen mehrfach formulierte Standeserfordernis konnte sich nach der ganzen in der Entwicklungsgeschichte begründeten Funktion des Präsidentenamts sowie nach dem Sprachgebrauch des frühen 16. Jahrhunderts nur auf solche Grafen und Herren beziehen, die Reichsstände mit Sitz und Stimme auf dem Reichstag waren oder doch aus reichsständischen Häusern stammten, auch wenn eine entsprechende Definition in diesen frühen Kammergerichtsordnungen fehlte 78 . Wie die Abfolge der RKG-Präsidenten zeigt, wurde diese gesetzgeberische Intention bis ins 17. Jahrhundert hinein regelmäßig durch die Observanz bekräftigt. Schon hundert Jahre früher als bei den Kammerrichtern, anläßlich der Präsentation der aus landsässigen Adelsgeschlechtern stammenden Adolf Freiherrn v. Mylendonk und Moritz Freiherrn v. Büren zu RKG-Präsidenten in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts, setzte sich jedoch der Wiener Hof mit Hinweis auf die Definitionslücke in der KGO sowie auf sein exklusives Ernennungsrecht über die bis77 Der von 1641 bis 1664 amtierende Domherr Philipp Salentin Graf von ManderscheidGerolstein war nach 1648 der einzige und überhaupt der letzte kath. RKG-Präsident geistlichen Standes. 78
So auch HARPPRECHT, Staats-Archiv Tl.2, S.l29 ff.; MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.375 f., dazu S.359-362 (bes. Mosers Meinung S.362); SMEND, Reichskarnmergericht, S.259-261.- Belege ftir die im folgenden erwähnten Fälle betr. Präsentationen von RKG-Präsidenten mit umstrittener Standesqualifikation s. vor allem in: RKG IV B 1/3 (kath. Präsidenten), bes. fol.23 ff. (1628/29 ff.), RKG IV B 1/4 (ev. Präsidenten), bes. fol.32 ff. (1662 ff.), sowie in den zugehörigen Plenarprotokollen der Serien RKG IV C I ff. und RKG IV B 2/1 ff; ferner in: HHStAW, RK- RKG-Visit.A., bes. Fasz.329a u. b (1664-1672); ebd., MEKARKGA, bes. Fasz. 42 (1662-64), 76b (1664-71). AufEinzelbelege muß aus Platzgründen verzichtet werden.
II.2.2.2. Die Präsidenten
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herige Tradition und über die massiven Einwände des Kameralkollegiums hinweg. Der Ausgang des 1628/29 anläßlich des Falls Büren zwischen dem Wiener Hof und dem Kameralkollegium erfolgten Schlagabtauschs präjudizierte das Ergebnis der zweiten großen Runde, die 1662, 1664 und 1670 durch die Ernennung dreier Freiherren aus den reichsritterschaftliehen Geschlechtern Schmidtburg und Dalberg zu evangelischen bzw. katholischen RKG-Präsidenten eröffnet wurde. Auch in dieser erneuten Machtprobe focht das Kameralkollegium, aus naheliegenden Gründen öffentlich unterstützt von den Reichsgrafenkollegien, unter Hinweis auf die Intention der KGO, die alte Observanz und die notwendige Autorität dieses Direktorialamtes zugunsten der reichsständischen Qualität der RKG-Präsidenten, letztlich jedoch vergeblich79 . Der Wiener Hof saß am längeren Hebel. Dabei wurde seine Argumentation seit 1658 auch noch durch einen Analogieschluß mit Blick auf die Verhältnisse am Reichshofrat gestärkt: Die Wahlkapitulation Leopolds I. ließ ausdrücklich reichsunmittelbare oder mittelbare Fürsten, Grafen oder Herren als RHR-Präsidenten und RHR-Vizepräsidenten zu80 . Während die Reichsgrafenkollegien aus Furcht, standesgemäße Versorgungsstellen fiir ihre Mitglieder zu verlieren, im 18. Jahrhundert noch mehrfach ihren Kollektivanspruch auf die RKG-Präsidentenstellen (und ebenso auf den Posten des Kammerrichters) erhoben und sich um entsprechende kaiserliche Versicherungen bemühten, verzichtete das Kameralkollegium angesichts der Ergebnislosigkeit seines früheren Widerstands schon seit 1698, seit der Präsentation des ebenfalls aus der rheinischen Reichsritterschaft rekrutierten katholischen Präsidenten Pranz Adolf Dietrich Freiherrn v. Ingelheim, durchgängig darauf, erneut beim Kaiser gegen Präsidenten aus dem landsässigen oder reichs79 Johann Christoph Freiherr v. Schrnidtburg (ev., präs. 1662) und Johann Freiherr v. Dalberg (kath., präs. 1664) wurden letztlich wegen des Unterhaltsmangels nicht auf die dritte und vierte Präsidentenstelle introduziert. Philipp Pranz Eberhard Freiherr v. Dalberg (kath., präs. 1670) mußte 1671 vom Kameralkollegium zur Aufschwörung gelassen werden. 80 Und zwar als Erläuterung zur RHRO 1654 Tit.l § 1, wonach der RHR-Präsident ein Reichsfiirst, Graf oder Herr sein sollte; s. Wahlkapitulation Leopolds I. 1658 Art.40; ebs. Projekt einer beständigen Wahlkapitulation 1711 Art.24 sowie die folgenden Wahlkapitulationen des 18. Jahrhunderts; dazu SMEND, Reichskammergericht, S.261; GsCHLIESSER, Reichshofrat, S.66; SELLERT, RHRO II, S.50 f. mit Anm.348; Druck des Projekts einer beständigen Wahlkapitulation von 1711 in: A. BuscHMANN (Hg.), Kaiser und Reich. Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806 in Dokumenten, 2., erg. Aufl., Baden-Baden 1994, Tl.II: Vom Westfälischen Frieden 1648 bis zum Ende des Reiches im Jahre 1806, 8.273-316, hier S.307 (Ende von Art.24). Mit dem keineswegs unumstrittenen Analogieschluß von den Verhältnissen am RHR auf diejenigen am RKG argumentierten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang der Diskussion um die Standesqualifikation der Kammerrichter und RKG-Präsidenten vor allem ZWIERLEIN, Vermischte Briefe, Tl.3, S.193; Gesammelte Original-Briefe, Tl.l, 8.268-271.
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
ritterschaftliehen Adel zu protestieren81 • So schuf die Macht des Faktischen, wie sie sich in den Präzedenzfallen des 17. Jahrhunderts verkörperte, eine neuere Observanz, wonach der Kaiser während der Wetzlarer Zeit des RKG ohne Rücksicht auf etwaige Proteste nach Belieben Personen aus dem reichsständischen, dem reichsritterschaftliehen oder dem landsässigen alten Adel zu Präsidenten präsentierte 82 • Der Aufstieg des aus der hessischen, also landsässigen Ritterschaft gebürtigen und bis dahin noch nicht einmal mit dem Freiherrntitel ausgestatteten kurtrierischen Beisitzers Adolfv. Trott, der 1778 zum katholischen Präsidenten präsentiert wurde, erweckte bei seinen bisherigen Assessorenkollegen zumindest nach außen hin nur Stolz, offene Kritik wegen mangelnder Standesqualifikation läßt sich nicht feststellen. Wie so häufig bei Verletzungen der alten Karneralgesetze wurde aber auch in diesem Fall zumindest der Schein der Normentreue gewahrt, indem Trott unmittelbar vor seiner Präsentation zum RKGPräsidenten durch kaiserliches Diplom in den Reichsfreiherrnstand erhoben wurde- ein Titel, den viele alt- und neuadlige Assessoren mit ihm teilten83 • Daß trotz dieser augepaßten Haltung des Kameralkollegiums die öffentliche Diskussion um die Standesqualifikation der kammergerichtliehen Direktorialpersonen auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch nicht zur Ruhe gekommen war, zeigte sich nicht nur an langatmigen gedruckten Deduktionenpolemischen Auftragsarbeiten des reichsgräflichen bzw. reichsritterschaftliehen Lagers84 - oder an der unterschiedlichen Stellungname der späten Karneralschriftsteller zu diesem Thema. Es äußerte sich auch in der Tatsache, daß sich die letzte RKG-Visitation- direkt hinsichtlich der Kammerrichter, aber indirekt damit auch in bezugauf die RKG-Präsidenten- des Problems annahm und 1775 zur näheren Erläuterung an Kaiser und Reich brachte 85 . Eine gesetzliche Präzi81 Vgl. RKG IV C 4 fol.226v-228v (4.4.1698, zu Ingelheim); auch ausgewertet von DucHHARDT, Ingelheim, S.182 f.- Allerdings kam es trotz dieses Nachgebens in der Folgezeit noch hin und wieder zu internen kritischen Voten, s. RKG IV C 5 fol.13r (8.11.1701, zu Ingelheim), RKG IV B 2/8 fol.170v f. (Votum Gudenus 10.12.1742, zu Groschlag), RKG IV B 2112 fol.17v/1757 (Votum Harpprecht 23.6.1757, zu Spaur). Vgl. auch das Notifikationsschreiben an Franz I. vom 11.3.1757, worin das Kameralkollegium den Kaiser vom Tod des kath. Präsidenten Philipp Karl Anton Freiherrn v. Groschlag informierte und dabei seine Zuversicht ausdrückte, daß der Kaiser diese vakante Stelle nach Inhalt der KGO mit einer vornehmen Person aus dem Reichsgrafen- oder alten Herrenstand wiederbesetzen werde, Konz.: RKG IV B 1/3 fol.200. Die Hoffnung war vergeblich. 82 Dieseneuere Observanz wurde 1730 noch dadurch bekräftigt, daß der Kaiser in der Person Ingelheims erstmals sogar einen Kammerrichter ernannte, der nicht "status imperii" war; s. das vorige Kap.II.2.2.1. über die Kammerrichter.
83
Dazu s. mit weiteren Nachweisen Biogr. 10 (Trott), Ilb u. VI.
84
S. die oben in Anm.25 zitierten Deduktionen.
Vgl. Gesammelte Original-Briefe, Tl.l, S.253 ff., 266 ff.; BALEMANN, Beiträge, S.7; SMEND, Reichskarnmergericht, S.249. 85
II.2.2.2. Die Präsidenten
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sierung hätte jedoch den Spielraum der kaiserlichen Besetzungspolitik möglicherweise wieder eingeengt und zumindest jeweils einen Teil der kaiserlichen Klientel - entweder die reichsständischen Grafen oder aber den reichsritterschaftlichen und landsässigen alten Adel- verärgert. Infolgedessen blieb schon im kaiserlichen Interesse ein reichsgesetzliches Echo aus, und der Wiener Hof hielt sich weiterhin alle Optionen offen. Für das Standesprofil der Präsidentenstellen in der Wetzlarer Zeit bedeutete diese Entwicklung, daß die zweithöchste Direktorialposition nicht nur frühzeitiger als das Kammerrichteramt, sondern auch häufiger und im 18. Jahrhundert zunehmend auch mit Personen aus dem reichsritterschaftliehen und landsässigen Adel besetzt wurde. Die Frage nach der Standesqualität der RKG-Präsidenten war hier mit Rückgriff auf das entsprechende Phänomen bei den Kammerrichtern etwas ausführlicher zu behandeln, weil darin eine bemerkenswerte Parallele zu der im 18. Jahrhundert im Hinblick auf die Standeseigenschaft adliger RKG-Beisitzer ausgetragenen Kontroverse um die richtige Definition des Begriffs "Ritterbürtigkeit" liegt. In beiden Fällen entfernte sich die soziale Realität zunehmend vom ursprünglichen Sinn der alten Kameralgesetze. Beide Male ging es in der Spätzeit des RKG darum, wie mit derartigen Verwerfungen umzugehen sei, wobei das Problem bei den Assessoren, wie noch zu zeigen sein wird, weitaus kompliziertere Folgen zeitigte als bei den Direktorialämtern. Die Absenkung des durchschnittlichen Standesniveaus der RKG-Präsidenten förderte bei ihnen eine gegenläufige Bewegung, die im Laufe der Wetzlarer Zeit zu einer immer stärkeren Anhebung des fachspezifischen Leistungsprofils führte. Dasselbe Phänomen findet sich, wie schon erwähnt, in etwas schwächerer Ausprägung auch bei den Kammerrichtern des 18. Jahrhunderts, die seit 1730 fast durchweg vorher katholische RKG-Präsidenten gewesen waren- Veränderungen bei den Präsidenten mußten also auch auf das höchste Direktorialamt durchschlagen. Dieser Professionalisierungstrend der Spätzeit wurde nicht durch normative Korrekturen in der Kameralverfassung in Gang gesetzt, sondern hatte seinen Motor ausschließlich in der Realität. Durch diesen Prozeß wurden die alten, Mitte des 16. Jahrhunderts formulierten Karneralgesetze gleich auf doppelte Weise überholt. Denn aus den oben beschriebenen entwicklungsgeschichtlichen Gründen spiegelten die in der KGO von 1548 und entsprechend in der KGO von 1555 fixierten und dort nur mangelhaft systematisierten Eingangsvoraussetzungen noch die ursprüngliche Zwitterfunktion der späteren Präsidenten als Urteiler aus dem Grafen- oder Herrenstand mit zusätzlichen Direktorialaufgaben wider: Diese sollten demnach ebenso rechtsgelehrt sein wie die anderen Beisitzer und wie diese zum Referieren tauglich sowie außerdem noch dazu qualifiziert, in Vertretung des Kammerrichters Direktorialfunktionen auszuüben86 . 86 KGO 1548 Tl.l Art.3 (RTA JR 18/2, 8.1244); KGO 1555 Tl.l Tit.3 §2 1555, S.75 f.).
(LAUFS,
KGO
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Il.2. Das Personal des Kammergerichts
Vermutlich entsprach dieser Forderungskatalog schon 1548/55, als die Punktionsverschiebung der "assessores generosi" bzw. Präsidenten von den Urteilern hin zum Direktorium weitgehend abgeschlossen war, nicht mehr den wirklichen Verhältnissen und tat es in der Folgezeit, als der Ausdifferenzierungsprozeß endgültig abgeschlossen war, immer weniger. Daß das revidierte Konzept der KGO von 1613 diesen 1548/55 geschaffenen normativen Zustand unbesehen fortschrieb, ist nur ein weiterer Beweis für den kompilatorischen Charakter dieser Revisionsarbeit87 . In Wirklichkeit wiesen die Präsidenten damals längst dasselbe Leistungsprofil auf wie die Kammerrichter: Sie brauchten wie diese keine oder jedenfalls keine gründliche juristische Vorbildung, sondern nur dieselbe allgemeine Befähigung zu den Direktorialgeschäften zu besitzen88 . Noch in den letzten Jahrzehnten der Speyerer Zeit und bis in die ersten Wetzlarer Jahre hinein entsprachen die Präsidenten, bis auf die oben erwähnten ersten Ausnahmeerscheinungen noch durchweg Mitglieder reichsgräflicher Häuser, diesem klassischen Präsidententyp, der neben seiner hohen Standeseigenschaft und der richtigen Konfession nur ein sehr fragmentarisches juristisches Studium und keinerlei juristische Vorkarriere aufzuweisen hatte. Dagegen betrug die Studienzeit der im 18. Jahrhundert und bis 1806 amtierenden Präsidenten zwischen zwei und sechs Jahren, zumeist waren es vier. Deshalb kann man bei den meisten RKG-Präsidenten dieser Spätzeit von einem Vollstudium sprechen, welches in einigen Fällen sogar durch ein Praktikum am RKG oder am RHR ergänzt wurde 89 . 87 Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.3 § 1 (CJC, S.578 f.); dazu der zutreffende Kommentar bei BALEMANN, Beiträge, S.165 (s. auch die folgende Anmerkung). 88 So 1778 auch BALEMANN, Beiträge, S.165, der daher ebd. von einer damals anstehenden erneuten Revision der KGO bzw. des Konz. KGO 1613 forderte, der Absonderung des Präsidentenamtes von dem der Assessoren auch durch eine Korrektur der Eingangsvoraussetzungen Rechnung zu tragen und die in KGO 1555 Tl.l Tit.3 § 1 bzw. in Konz. KGO 1613 Tl.1 Tit.3 Einltg. von dem Kammerrichter geforderten Eigenschaften in einem speziellen Paragraphen auf die Präsidenten zu erstrecken. Dagegen sehr oberflächlich und falsch: MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.376 ("Wegen der Eigenschafften eines Präsidentens ist in denen Reichsgesezen nichts besonderes versehen: Sondern wie selbige in älteren Zeiten denen Beysizern gleich geachtet, auch also genennet wurden; also gilt auch das in Ansehung samdieher Beysizer verordnete nicht weniger von denen Präsidenten"). SMEND, Reichskammergericht, S.261, konstatiert zwar einerseits richtig, daß bei den RKG-Präsidenten "nur dieselbe allgemeine geschäftliche Befähigung vorausgesetzt" wurde wie beim Kammerrichter. Andererseits projiziert er diese für das spätere 16. und für das ganze 17. Jahrhundert zutreffende eindeutige (und eingeengte) Eignungsbeschreibung fälschlich schon in die KGO von 1555 Tl.l Tit.3 § 1 hinein und übersieht außerdem mangels sozialgeschichtlicher Forschungen, daß die RKGPräsidenten des 18. Jahrhunderts de facto weitaus mehr professionelle Fähigkeiten mitbrachten als nur die zur Geschäftsleitung erforderlichen. 89 Das ergibt sich aus den Angaben in den Generalexamen der betreffenden RKG-Präsidenten, die anhand der Universitätsmatrikeln überprüft wurden.- Die Generalexamen waren auch die Ausgangsbasis für die Feststellung der Vorkarrieren der in der späten Speyerer und der Wetzlarer Zeit amtierenden RKG-Präsidenten. Die dortigen Angaben wurden durch fami-
II.2.2.2. Die Präsidenten
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Noch wichtiger war, daß sich diesem Studium im 18. Jahrhundert fast durchweg eine der reichsgräflichen, reichsritterschaftliehen oder landsässig-altadligen Herkunft angemessene Vorkarriere in landestUrstliehen Zentralbehörden oder an den obersten Reichsgerichten anschloß. Der 1699 in Wetzlar aufgeschworene Friedrich Ernst Graf von Solms-Laubach eröffnete die bis zur Auflösung des RKG nur einmal unterbrochene Serie der evangelischen RKG-Präsidenten, die vorher Reichshofräte auf der Herrenbank gewesen waren90 . Für den Kaiser und die Wiener Reichshofkanzlei bot diese Rekrutierungsmethode offenbar eine Garantie dafur, nicht nur im Gerichtsbetrieb und sogar in der Referiertätigkeit erfahrene, sondern auch politisch loyale und konfessionell maßvolle Persönlichkeiten auf den einzigen evangelischen Direktorialposten in Wetzlar zu bekommen91. Auch die zumeist im landesfürstlichen Dienst durchlaufenen Vorkarrieren der katholischen RKG-Präsidenten, die nach der langen Ingelheim-Präsidentschaft von 1732 bis 1806 in Wetzlar amtierten, bürgtentrotzaller Niveauunterschiede insgesamt fur ein ausreichendes, wenn nicht großes Maß an Sachkompetenz und Amtseignung. Seit dem bemerkenswert gut vorgebildeten, 1743 installierten Präsidenten Philipp Karl Anton Freiherrn v. Groschlag begannen diese Vorkarrieren durchweg beim adligen Hof-, Regierungs- und Hofgerichtsrat und endeten- den Möglichkeiten der altadligen Herkunft entprechend- beim Hofgerichtspräsidenten, Hofrichter, Konferenzminister und Direktorialgesandten. Oder sie mündeten, statt solche Spitzenfunktionen in den territorialen Zentralbehörden anzuvisieren, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in zwei Fällen in die Richterlaufbahn eines ritterbürtigen RKG-Beisitzers ein, die dann Sprungbrett fur eine weitere Karriere an der Spitze des RKG wurde: Als erster stieg 1778 der kurtriedsehe Assessor Adolf v. Trott zum katholischen RKGPräsidenten auf, Ende 1797 wurde der kreisbayerische Beisitzer Heinrich Freiherr v. Reigersberg nach nur einjähriger Assessorenzeit katholischer Präsident und 1803 sogar Kammerrichter. In diesen beiden voll ausgebildeten Juristen, lien- und behördengeschichtliche Literatur sowie durch andere Aktenbestände, so durch die Personalakten des Reichshofrats in: HHStA W, RHR u. RK- Verf.A., RHR, verifiziert.
90 Außer Solms (1699-1723): Christian Albert Kasimir Burggrafv. Kirchberg (1765-1772), Johann Sigmund Karl Freiherr v. Thüngen (1772-1800) und Franz Paul Christoph Freiherr v. Seckendorff (1800-1806); eine Ausnahme war der 1724 auf Solms folgende ev. RKG-Präsident Karl Grafvon Wied (t 1764). Auch der 1662 zum zweiten ev. RKG-Präsidenten präsentierte, aber wegen Unterhaltsmangels nicht rezipierte Johann Christoph Freiherr v. Schmidtburg war Reichshofrat auf der Herrenbank -Auf seitender kath. RKG-Präsidenten wurde diese Rekrutierungsform 1791 mit der Ernennung des bisherigen Reichshofrats Philipp Karl Grafen zu Oettingen-Wallerstein ebenfalls einmal praktiziert.
91 Die Referiertätigkeit der Reichshofräte auf der Herrenbank entsprach zwar nicht derjenigen der die Hauptlast tragenden Reichshofräte auf der Ritter- und Gelehrtenbank (s. auch GscHLIESSER, Reichshofrat, S.79). Jedoch stellte sie im Hinblick auf die erforderlichen Amtseigenschaften der RKG-Präsidenten aufjeden Fall ein Übersoll dar.
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Il.2. Das Personal des Kammergerichts
die, wie erwähnt, nicht dem reichsständischen alten Grafen- und Herrenstand angehörten, personifizierte sich der beschriebene Professionalisierungsprozeß, in dessen Verlauf sich die fachliche Qualifikation der RKG-Präsidenten (und damit zum Teil auch der Kammerrichter) in der Wetzlarer Zeit immer stärker derjenigen der RKG-Beisitzer annäherte und hier sogar zweimal zur Deckung kam 92 • So vollzog sich im Laufe des 18. Jahrhunderts bei den kammergerichtliehen Präsidentenämtern eine Umkehrung dessen, was sich zu Anfang des 16. Jahrhunderts abgespielt hatte: Damals war bei den Assessoren aus dem Grafen- und Herrenstand die fiir ihre ursprüngliche Urteilerfunktion erforderliche fachliche Qualifikation allmählich abgebaut worden im Zuge ihrer Umwandlung zu ausschließlichen und hauptamtlichen Direktorialpersonen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts dagegen wurde das Leistungsprofil der RKG-Präsidenten, ohne daß sich an deren Funktionsbereich etwas geändert hätte, zunehmend von einer juristischen Professionalität geprägt, die der von den Assessoren geforderten immer näher kam. Es handelte sich um einen Wandel der Amtsauffassung von einem repräsentativen und standesgemäßen Ehrenamt fiir hohe Standespersonen ohne spezielle Vorbildung hin zu einem ausbildungsintensiven Beruf im modernen Sinn, wie ihn die Assessoren schon seit dem 16. Jahrhundert verkörperten93 • Zu der skizzierten Entwicklung trugen viele Gründe bei. Einer davon war sicher, daß die Direktorialämter des RKG in der Spätphase des Alten Reiches bei allem Fortwirken traditioneller Rekrutierungsmechanismen zwar nicht im normativen Bereich, wohl aber in der Realität immer mehr von Modernisierungstendenzen erfaßt wurden, in denen Sachkompetenz, Effizienz und Rationalität als Kriterien der Amtseignung eine immer größere Rolle spielten. Auch in diesem Bereich wurde die altständische Gesellschaft porös, der Blick öffnet sich auf die Zeit nach 1800, als die Reformstaaten auch fiir die höchsten Spitzenämter in Justiz und Verwaltung strikt leistungsbezogene Laufbahnvorschriften schufen und praktizierten. Der Typ des mittelalterlichen gerichtsvorsitzenden Richters, am RKG in Gestalt des Kammerrichters und der Präsidenten bis 1806 konserviert, verblaßte trotz des bis zuletzt unverändert gültigen Kompetenzbereichs noch 'zu seinen Lebzeiten' hinter den Personen, die mit ihrer Qualifikation dem alten Amt eine neue Prägung gaben.
92 S. Biogr. 10 (Trott) und Biogr. 86 (Reigersberg). Schon 1759 hatte sich der vom Niedersächsischen Kreis präsentierte Assessor Otto Heinrich v. Gemmingen (Biogr. 121) um die Nachfolge im Amt des ev. RKG-Präsidenten beworben, jedoch erfolglos. 93 Dieser Wandel fand in den von 1798 bis 1806 akribisch geführten Tagebüchern "über Amtsverrichtungen" des RKG-Präsidenten und Kammerrichters Reigersberg beredten Ausdruck; s. diese Diarien in: FN 11 (Nachlaß Reigersberg); dazu Biogr. 86 (Reigersberg), VIII.
II.2.2.3. Die Direktorialämter als Objekte kaiserlicher Besetzungspolitik
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3. Die Direktorialämter als Objekte kaiserlicher Besetzungs- und aristokratischer Akquisitionspolitik Die tendenzielle Professionalisierung der kammergerichtliehen Direktorialämter darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Rekrutierung der Amtsträger bis zuletzt nach den sozialen und politischen Spielregeln der altständischen Gesellschaft funktionierte. Die älteren, an den Kammergerichtsordnungen und sonstigen Kameralnormen entlangschreibenden Darstellungen der Kameralämter erscheinen deswegen so blutleer, weil darin solche Aspekte mangels eines entsprechenden Forschungsinteresses weitgehend unerkannt blieben94 • Zur sozialen Realität der kammergerichtliehen Spitzenfunktionen gehörte jedoch vorrangig auch der äußerst quellenintensive Komplex der Bewerbungs- und Besetzungspolitik, der hier abschließend wegen der Identität der Phänomene für Kammerrichter und Präsidenten gemeinsam beleuchtet werden soll. Eine solche quellennahe Bewerbungs- und Besetzungsgeschichte der kammergerichtliehen Direktorialämter ist eine eindrucksvolle Illustration für das Wirken zentraler sozialer Formationen und Verhaltensweisen wie Patronat und Klientel, Verwandtschaft, Protektion, Nepotismus und Ämterhandel, kurz für die überragende Rolle von sozialer Macht, Geld und Beziehungen. Es sind im Prinzip dieselben Grundregeln, nach denen auch bei der Erlangung und Vergabe der Beisitzerstellen gespielt wurde und die auf niedrigerem Niveau auch noch bei der Besetzung der nachgeordneten Kameralämter eine Rolle spielten. Durch die Kombination von ausschließlich kaiserlichem Ernennungsrecht und hocharistokratischem bis aristokratischem Standesniveau der für die Rekrutierung in Frage kommenden Muttergruppen im Verein mit der Tatsache, daß es kaum leistungsbezogene Zugangsbarrieren in Form fachjuristischer Eingangsvoraussetzungen gab, konnten diese sozialen Mechanismen allerdings bei der Rekrutierung der Kammerrichter und 94 Das gilt vor allem für die vor 1806 publizierenden Kameralschriftsteller (typisch: die Werke von Tafinger, Malblank, Bostell und Danz), aber auch noch für Smend, der auf der älteren Kameralliteratur und aufvorwiegend gedruckten Quellen fußt und keine systematische sozialgeschichtliche Studie liefern wollte. Auch noch WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, bietet S.11 ff. in seinem Überblick über die Kameralpersonen nur eine isolierte Amtsgeschichte. - Der folgende Abschnitt stellt eine konzentrierte Abstraktion von einer Fülle konkreter Fälle dar, für welche die Belege in den verschiedensten Archivbeständen gesammelt wurden. Dazu gehören außer zentralen Beständen wie den RKG-Visitationsakten der Reichshofkanzlei und den RKG-Akten des Mainzer Erzkanzlerarchivs im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien vor allem die einschlägigen Familienarchive. Diese dem folgenden Überblick zugrundeliegenden Quellen können hier im einzelnen nicht alle aufgeführt werden. Die offiziellen Präsentationsakten betr. Kammerrichter und Präsidenten in den Folianten RKG IV B 1/2, 1/3 und 1/4 enthalten für Vorgänge im Vorfeld einer Präsentation naturgemäß nur wenig Material. - Ergänzend zu diesem Kapitel s. im Anhang die Listen der zwischen 1648 und 1806 amtierenden Kammerrichter und Präsidenten.
136
II.2. Das Personal des Kammergerichts
Präsidenten vielleichter greifen. Sie erhielten zudem in viel höherem Maße eine politische Dimension, als dies bei der Vergabe der Assessorenpräsentationen möglich war, von den subalternen Kameralämtern zu schweigen. Aus der Perspektive des Reichsoberhaupts bedeutete all dies zusammengenommen, daß der Kaiser durch die Vergabe von Kammerrichter- und Präsidentenstellen die Möglichkeit hatte, alte Klientelverhältnisse zum Reichsfiirsten-, Grafen- und Herrenstand, später auch zum alten landsässigen sowie reichsritterschaftlichen Adel zu festigen und neue zu schaffen, bewährte Loyalitäten und Dienstleistungen fiir das Kaiserhaus zu honorieren sowie neue Verpflichtungen zu begründen95 • Es ist aufschlußreich, anhand der Namenslisten der Kammerrichter und RKG-Präsidenten durch die drei Jahrhunderte von 1495 bis 1806 hindurch zu verfolgen, wann die Namen bestimmter Adelshäuser gehäuft auftreten und wieder verschwinden, wann neue auftauchen und was solche Bewegungen über Herrschernähe und politischen Wert fiir den kaiserlichen Hof oder über das Absinken in politische Bedeutungslosigkeit aussagen96 . In manchen Fällen der quellenmäßig besser belegten Zeit nach der Mitte des 17. Jahrhunderts, vor allem bei den erwähnten umstrittenen Rekrutierungen aus dem reichsritterschaftlichen oder landsässigen alten Adel, war nicht der zum Kammerrichter oder Präsidenten Ernannte selbst der Klient des Kaisers. Er profitierte vielmehr von der Protektion eines mächtigen und einflußreichen Verwandten, zum Beispiel in Gestalt eines Kurfiirsten von Trier oder Mainz, dem der Kaiser durch Bevorzugung seines Schützlings eine- eventuell politisch verwendbare- Gefälligkeit erweisen wollte 97 • 95 Worin solche Bindungen und Verdienste im einzelnen bestanden, muß anhand der Biographie des jeweils Begünstigten, der Geschichte seines Hauses und seines angestammten Territoriums sowie der aktuellen reichspolitischen Situation konkretisiert werden. 96 Zum Beispiel schwor zwischen 1589 und 1649 fünfmal ein RK.G-Präsident aus dem Hause Fugger auf, nach der hauptsächlich durch Abwesenheit gekennzeichneten Amtszeit des 1672 verstorbenen Johann Eusebius Grafen Fugger dagegen kein einziger mehr- ein Signal für den Bedeutungsverlust dieser Familie. 97 So in den im vorigen Abschnitt II.2.2.2. im Zusammenhang mit der Standesqualifikation der RK.G-Präsidenten erwähnten FällenDalberg und Ingelheim; zur Protektion Johann Freiherrn v. Dalbergs (präs. 1664) und seines Schwiegersohns Philipp Franz Eberhard Freiherrn v. Dalberg (präs. 1670) durch Kurtrier s. vor allem einschlägige Akten in: HHStA W, RK.GVisit.A. 329a u. b (bis 1671 incl.); zu dem von Kurmainz protegierten Ingelheim s. entsprechend DUCHHARDT, Ingelheim (mit weiteren Nachweisen). Zur Bedeutung und Wirkung von Klientelverbänden s. A. Mf\CZAK (Hg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, hier vor allem P. MORAW, Über Patrone und Klienten im Heiligen Römischen Reich des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (S.l-18); V. PRESS, Patronat und Klientel im Heiligen Römischen Reich (S.19-46); neuerdings (mit weiterführender Literatur): H. DROSTE, Patronage in der Frühen Neuzeit - Institution und Kulturform, in: ZHF 30, 2003, S.555-590; dazu kritisch B. EMICH- N. REINHARDT- H. V. THIESSEN- CHR. WIELAND, Stand und Perspektiven der Patronageforschnung. Zugleich eine Antwort auf Heiko Droste, in: ZHF 32, 2005, S.233-265.
II.2.2.3. Die Direktorialämter als Objekte kaiserlicher Besetzungspolitik
137
Die Besetzungspolitik des kaiserlichen Hofes fand in der Akquisitionspolitik der zur Bewerbung priviligierten Muttergruppen ihr komplementäres Gegenstück. Durch Aufdeckung der verwandtschaftlichen Verflechtungen, die zwei oder mehr Amtsträger oder Amtsinhaber und Aspiranten miteinander verbanden, werden die Mechanismen deutlich, die der Abfolge der Kammerrichter und Präsidenten zugrunde lagen. So war, um nur Beispiele aus der Zeit nach dem Westfalischen Frieden zu nennen, das Amt des evangelischen RKG-Präsidenten zwischen 1653 und 1698 fünfmal nacheinander mit Angehörigen des Grafenhauses Leiningen besetzt98 • Der letzte in dieser Kette, der von 1688 bis 1698 amtierende Johann Anton Graf zu Leiningen-Westerburg, war ein Onkel mütterlicherseits des 1724 installierten evangelischen RKG-Präsidenten Karl Grafen von WiedRunkel. Der 1671 vereidigte katholische RKG-Präsident Philipp Pranz Eberhard Freiherr v. Dalberg gelangte dadurch ins Amt, daß die Präsentation seines wegen Unterhaltsmangels nicht zur Aufschwörung zugelassenen und inzwischen verstorbenen Schwiegervaters Johann Freiherrn v. Dalberg 1670 auf ihn transkribiert wurde 99 • Der von 1694 bis 1697 amtierende katholische RKG-Präsident Karl Ferdinand Grafvon Manderscheid-Gerolstein war Neffe und Schwiegersohn zweier früherer Inhaber dieses Amtes: Philipp Salentin Graf von ManderscheidGerolstein und Hugo Graf von Königsegg-Rothenfels. Philipp Karl Graf von Hohenlohe-Bartenstein und sein in den Fürstenstand erhobener Sohn Karl Philipp hatten das Kammerrichteramt zusammen fast 23 Jahre lang, von 1722 bis 1729 und von 1746 bis 1763, inne. Schon solche sozialen Vemetzungen zwischen den wirklichen Amtsinhabern lassen das familienpolitische Ziel kleinerer reichsständischer Häuser erkennen, die Direktorialstellen am RKG als ein prestigeträchtiges Ehrenamt und, vor allem was die Präsidentenposten betraf, auch als eine Form standesgemäßer Versorgung in die Familie zu holen und möglichst über mehrere Generationen hinweg zu vererben 100 • Es handelt sich um 98 Außerdem traten in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts einige andere Grafen zu Leinirrgen als erfolglose Bewerber um dieses Amt auf. Die auf die ev. RKG-Präsidentenstelle konzentrierte Familienpolitik der verschiedenen Zweige des Grafenhauses Leinirrgen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird breit dokumentiert durch ihre Korrespondenz in: HStA Wiesb., Abt.339/967; s. ergänzend RKG IV B 1/4 sowie HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 329a u. b. 99 Akten zu dieser Transkription in: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 329a, vgl. auch ebd. 329b; RKG IV B 113 fol.67 /68 u. ff. 100 Schon im Stadium der Projekte konnten Direktorialstellen am RKG zum Gegenstand von Erbämterdenken werden: Fürst Wilhelm Hyazinth von Nassau-Siegen (1666-1743), der 1700-1702 von Ludwig Wilhelm Markgraf von Baden-Baden dessen Kammerrichter-Expektanz im Wege eines Tauschhandels an sich bringen wollte, plante 1700 bereits ein Gesuch beim Kaiser um "survivance" auf die Kammerrichterstelle zugunsten seines Erbprinzen; s. HStA Wiesb., Abt.171/C 1530 (bes. zwei Stücke vom 28.2.1700 und 12.12.1700).- Was die Frage der materiellen Versorgung betraf, so war, wenn man entsprechenden Klagen glauben
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
nichts anderes als um eine weltliche Variante der Pfründenpolitik, die der stiftsfähige Adel an den Dom- und Stiftskapiteln betrieb. Ganz ähnlich den Praktiken, die im Wettbewerb um Dom- und Stiftskanonikate eingesetzt wurden, waren auch im Konkurrenzkampf um Kammerrichterund Präsidentenstellen am RKG die Resignation eines Amtsträgers zugunsten eines Verwandten 101 , Expektanzen sowie Ämterkauf und Ämterhandel die gängigen Methoden, um mit diesen standesgemäßen Spitzenpositionen erfolgreich Akquisitions- und Erbämterpolitik zu betreiben. So gab es in der Zeit zwischen dem WestfälischenFrieden und der Mitte des 18. Jahrhunderts kaum einen Kammerrichter oder Präsidenten, der nicht über eine Expektanz, d.h. über eine vom kaiserlichen Hof noch zu Lebzeiten des Amtsvorgängers erteilte Anwartschaft auf die Nachfolge, in das betreffende Direktorialamt gelangt wäre. Darüber hinaus finden sich im selben Zeitraum eine ganze Reihe vergeblicher Expektanzgesuche, unter anderem auch- zwecks Nachfolgesicherung- von Amtsinhabern für ihre Söhne 102 • Oder der kaiserliche Hof erteilte Expektanzen, die später nie zum Ziel führten, sei es weil der mit einer Anwartschaft Begünstigte vor dem noch amtierenden Kammerrichter oder Präsidenten starb oder weil der derzeitige Amtsträger so unerwartet lange lebte, daß der Inhaber einer Expektanz vorzeitig verzichtete und sich anders orientierte 103 . Die Ermittlung aller Personen mit erdarf, die Kammerrichterstelle trotz ihres höheren Gehalts wegen des damit verbundenen hohen Repräsentationsaufwands finanziell nicht unbedingt einträglich, sondern Zuschußgeschäft; vgl. z.B. die Zahlenangaben in: A. FABER, Europäische Staats-Cantzley, Tl.18, 1712, S.406 (zu 1711). 101
So resignierte der ev. RKG-Präsident Philipp Graf zu Leiningen-Westerburg 1665 sein Amt zugunsten seines Sohnes Ludwig Eberhard, um diesem zu seinen Lebzeiten die Nachfolge zu sichern. Kurz zuvor, 1664/65, hatte dieser Sohn aufBetreiben seines Vaters eine Expektanz und Präsentation auf dessen Stelle bekommen. Sofort nach der Resignation des alten Grafen Philipp, am 28.9.1665, schwor der Sohn Ludwig Eberhard Graf zu Leiningen-Westerburg noch am selben Tag als ev. RKG-Präsident auf. Durch diese vom Kameralkollegium unterstützte Transaktion wurde der schon 1662 zum ev. RKG-Präsidenten präsentierte, wegen zu niedriger Standesqualifikation und Unterhaltsmangels unerwünschte Johann Christoph Freiherr v. Schmidtburg ausmanövriert und gelangte nie zur Aufschwörung; s. Quellen dazu in: HStA Wiesb., Abt. 339/967; HHStAW, RK- RKG Visit.A. 329a; RKG IV B 1/4 fol.3955h; dazu Protokolle in RKG IV C 1. 102 Der letzte Kammerrichter, ftir den sich erfolglose Gesuche zugunsten der Nachfolge gleich zweier Söhne nachweisen lassen, war Karl Philipp Fürst von Hohenlohe-Bartenstein, s. Akten dazu in: HStA Mü., K. bl. 33/22 (zu 1757 u. 1761) u. K. schw. 5363 (zu 1762/63). 103 Zum Beispiel blieben die Expektanzen auf die Kammerrichterstelle, die in den sechzigerund siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts nacheinander zwei Söhnen, Ferdinand Maximilian (1625-1669) und Karl Bernhard (1657-1678) des von 1652 bis 1677 amtierenden Kammerrichters Wilhelm Markgrafen von Baden-Baden erteilt wurden, wegen des vorzeitigen Todes ihrer Empfänger wirkungslos. Zwar wurde die Expektanz für Karl Bernhard dann 1679 auf seinen Halbneffen Ludwig Wilhelm Markgrafen von Baden-Baden (1655-1707), einen Enkel des Kammerrichters Wilhelm, übertragen. Da der 1677 installierte, vor seiner Präsentation ebenfalls schon seit Jahren mit einer kaiserlichen Expektanz versehene Kammerrichter
II.2.2.3. Die Direktorialämter als Objekte kaiserlicher Besetzungspolitik
139
folglosen Expektanzgesuchen und mit wirklich erteilten Expektanzen sowie ihre verwandtschaftliche Vernetzung mit den tatsächlich ins Amt gelangten Kammerrichtern und RKG-Präsidenten wird in Gestalt mehr oder weniger großflächiger Verwandtschaftstafeln ein eindrucksvolles Bild von der Erwerbs- und Erbämterpolitik hochadliger Familienverbände vermitteln- eine auf der Direktorialebene angesiedelte Variante zu dem Verflechtungsmuster, das sich bei der Feststellung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen RKG-Beisitzern, Inhabern von gescheiterten Präsentationen auf Assessorate und glücklosen Aspiranten auf solche Präsentationen ergibt. Diese Sachverhalte machen plausibel, warum im Wettlauf um Kammerrichter- und Präsidentenstellen Ämterkauf und Ämterhandel eine große Rolle spielen konnten. Nicht nur mußten Expektanzen auf kammergerichtliche Direktorialstellen sowie die Ernennungsdekrete selbst am Wiener Hof gegen eine hohe Geldsumme ausgelöst werden 104 • Darüber hinaus wurden nicht verwendete Expektanzen und Präsentationen an den Meistbietenden verkauft, um auf diese Weise den eigenen Verlust auszugleichen. Der "Türkenlouis" Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden-Baden gab angesichts der endlos langen Amtszeit des 1677 introduzierten Kammerrichters und Kurfürsten von Trier Johann Hugo v. Orsbeck die Hoffnung auf Realisierung seiner 1679 erlangten Kammerrichter-Expektanz aufund trat seit 1698 mit kaiserlicher Billigung in Verkaufsverhandlungen mit verschiedenen Interessenten, um seine Expektanz so teuer wie möglich zu verschachern. Er veräußerte sie schließlich 1705/6 für 24.000 Gulden an Pranz Alexander Fürst von Nassau-Hadamar 105 . Der nach langen Bemühungen und Trierer Kurfürst Johann Hugo v. Orsbeck jedoch bis 1711 lebte und bis dahin einen Amtswechsel im Kammerrichteramt blockierte, verkaufte Ludwig Wilhelm Markgraf von Baden seine Expektanz später an einen anderen Interessenten, s. die folgende Darstellung; Akten zu dieser Expektanzen-Politik des Hauses Baden-Baden s. vor allem in: GLA Karlsr., Abt. 46/2713,2715 (nr.l17-119), 2745 u. 3608, sowie ergänzend in: HHStA W, RK- RKG-Visit.A. 329a (zu 1660) u. 329b (zu 1673 u. 1679). 104 Der 1712 zum Kammerrichter designierte Maximilian Kar! Graf (Fürst) zu LöwensteinWertheim-Rochefort bezahlte in Wien für sein Ernennungsdekret 2.000 fl.; Zahlungsbeleg d.d. Wien, 17.10.1712, in: StA Werth., Best. R, Lit. A Nr.189c (Vol.III); s. auch das Schreiben des kurmainzischen Kanzlers Johann Georg v. Lasser an den kurmainzischen Direktorialgesandten in Regensburg Ignaz Anton Freiherrn v. Otten, Mainz, 27.2.1714, Konz.: HHStA W, MEKA Korr. 93. 105
Zu den geplatzten Verkaufsverhandlungen mit Löwenstein-Wertheim 1698: StA Werth., Best. R, Lit. A Nr.189a (Vol.I), auch GLA Karlsr., Abt. 46/2713 nr.56; mit Nassau-Siegen 1700-1702: HStA Wiesb., Abt. 171/C 1530, ergänzend ebd., Abt. 171/W 1417, Z 1589; über den Verkauf der Kammerrichter-Expektanz an Nassau-Hadamar 1705/6: GLA Karlsr., Abt. 46/2713 nr.57 u. 58; vgl. auch WAGNER, Regentenfamilie Nassau-Hadamar, Bd.2, 8.128 (dort als Verkaufssumme: 26.000 rhein. Gulden). Franz Alexander Fürst von Nassau-Hadamar wurde dann 1711 nach dem Tod des bisherigen Kammerrichters Orsbeck zwar tatsächlich zum Kammerrichter präsentiert und als solcher installiert, starb jedoch, wie bereits erwähnt, noch im seihen Jahr nach nur viermonatiger Amtszeit.
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11.2. Das Personal des Kammergerichts
1712 durch ein kaiserliches Ernennungsdekret zum Kammerrichter designierte damalige kaiserliche Administrator in Bayern Maximilian Karl Fürst zu Löwenstein-Wertheim hatte, um zu diesem Ziel zu gelangen, über 10.000 Gulden aufgewendet. Als er 1714 zugunsten seines inzwischen erlangten Prinzipalkommissariats beim Reichstag in Regensburg auf den Amtsantritt in Wetzlar verzichten mußte, verlangte er von demjenigen, der nun zum Kammerrichter präsentiert werden würde, die Erstattung seiner immensen Auslagen 106 • Es zeugt von einer fehlenden personalpolitischen Konzeption für die Direktorialämter des RKG, daß der Wiener Hof solche Methoden der Selbstrekrutierung von Kammerrichtern und Präsidenten durch Erteilung von Expektanzen und durch Billigung des damit verbundenen Ämterhandels in der zweiten Hälfte des 17. und noch in den Anfangen des 18. Jahrhunderts ohne Rücksicht auf die Eignungs- oder auf die ebenso wichtige Präsenzfrage unterstützte - die Beichtväter Leopolds I. spielten bei solchen Aktionen als Vermittler eine große Rolle 107 • In den Personalquerelen, die 1704 fiir sechs Jahre zum Stillstand des RKG fiihrten, rächten sich nicht zuletzt auch solche jahrzehntelangen Versäumnisse der kaiserlichen Politik. Zwar erteilte der Kaiser auch in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts noch Expektanzen auf Kammerrichter- und Präsidentenstellen in Wetzlar, jedoch offenbar überlegter und unter stärkerer Berücksichtigung von Eignungskriterien108 • Seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch, nach dem 106 Über diese Angaben und Forderungen Löwenstein-Wertheims s. das Postscripturn zum Schreiben des Reichsvizekanzlers Friedrich Kar! Gfn. v. Schönborn an Kf. Lothar Franz von Mainz, [Wien], 28.2.1714, Or.: HHStA W, MEKA Korr. 93; s. auch weitere einschlägige Korrespondenz von 1714 ebd.; über den zum Kammerrichter designierten Maximilian Kar! Grafen (seit 1711: Fürsten) zu Löwenstein-Wertheim s. auch schon Anm.33. 107 Hierher gehört auch, daß Wien in den fünfziger bis siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts viel zu viele Expektanzen auf Präsidentenstellen erteilte - ausgehend von seit 1648 theoretisch vier existierenden Präsidentenstellen, ohne Rücksicht darauf, daß wegen des Unterhaltsmangels immer nur zwei Stellen besetzbar waren. Auch mit der Erteilung von Kammerrichter-Expektanzen war Wien in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überaus freigebig, wenn man die zeitgleiche Begünstigung einerseits der Markgrafen von Baden-Baden, andererseits der Fürstbischöfe von Speyer betrachtet. 108 Von den Konkurrenten um die Nachfolge des greisen Kammerrichters Ingelheim erlangte der kath. Präsident Virmont seit 1739 wiederholt eine Expektanz bzw. deren Bestätigung und wurde 1742 Ingelheims Nachfolger. Er konnte 1737 in seiner Bewerbung auf eine 23jährige Gerichtspraxis und vor allem auf eine damals bereits über flintjährige Tätigkeit als RKG-Präsident verweisen. Zu Virmonts Erfolg trug zudem erheblich bei, daß man aufkaiserlicher und kurmainzischer Seite im Fall von Ingelheims Tod unbedingt das Einrücken des amtsälteren ev. RKG-Präsidenten Wied in die Funktion des Kammerrichter-Amtsverwesers verhindem wollte. Außerdem wurde durch die Begünstigung Virmonts den Bestrebungen des noch amtierenden Kammerrichters Ingelheim, einem seiner Söhne über eine kaiserliche Expektanz die Nachfolge zu sichern, ein Riegel vorgeschoben; zu diesen schließlich erfolgreichen Bemühungen Virmonts s. vor allem RKG Mise. 624, 625 (dort über Ingelheims Absichten), 632, 645 u. bes. 706; RKG IV B 1/2 fol.90 ff.; auch DUCHHARDT, lngelheim, S.200 f.
II.2.2.3. Die Direktorialämter als Objekte kaiserlicher Besetzungspolitik
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Tod Karls VI., dem Interim des wittelsbachischen Kaisertums und dem Beginn des theresianischen Zeitalters, scheinen keine kaiserlichen Expektanzen auf Kammerrichter- und Präsidentenstellen mehr vergeben worden zu sein. Vor allem die im 17. Jahrhundert selbstverständliche Selbstrekrutierung der kammergerichtlichen Direktorialpersonen durch Ämtervererbung innerhalb eines Familienverbandes war spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts endgültig diskreditiert109. Zwar spielten Beziehungen und Protektion bei der Erlangung von Präsentationen zum Kammerrichter oder RKG-Präsidenten auch im Zeitalter des aufgeklärten Österreichischen Absolutismus weiterhin eine unübersehbare Rolle110. Aber der Wiener Hofbehielt sich nun die Entscheidung über die Person eines Amtsnachfolgers ftir den Fall der wirklich eingetretenen Vakanz vor und stellte, gemessen an den professionelleren Ausbildungsgängen und Vorkarrieren der Ernannten, die Frage der Amtseignung als Auswahlkriterium stärker in den Vordergrund. So flossen im Laufe der theresianischen Zeit drei Wandlungsprozesse zu einem in dieselbe Richtung strebenden Trend zusammen: relatives Absinken des durchschnittlichen Standesniveaus der Kammerrichter und Präsidenten, zunehmende Professionalisierung der betreffenden Amtsträger und Überlagerung bzw. Verdrängung älterer Rekrutierungsmethoden durch eine von rationaleren, vor allem stärker leistungsbezogenen Auswahlkriterien bestimmte Ernennungspolitik In seinem V erlauf nahmen die altertümlichen Direktorialämter des RKG zunehmend modernere Formen an. Daß dies nicht das Ergebnis einer gesetzgeberischen Steuerung war, sondern eher einem Vortasten in die Modeme gleichkam, zeigt sich daran, daß bis 1806 jede normative Anpassung an diese realen Veränderungen unterblieb. Die Untersuchung der RKG-Assessoren wird noch wiederholt Beispiele dafür bringen, daß sich die Schere zwischen veraltenden Kameralnormen und sozialer Wirklichkeit in der Spätzeit des Reiches immer mehr öffnete.
109 Über die erfolglosen Bemühungen der Kammerrichter Irrgelheim Ende der dreißiger Jahre und Hohenlohejunior Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre, Expektanzen flir je zwei ihrer Söhne auf die Amtsnachfolge zu erlangen, s.o. Anm.l 02 und 108. Auch anderen Mitgliedern des Hauses Hohenlohe gelang es 1763 nach dem Tod des Fürsten Philipp Kar! von Hohenlohe nicht, in der dritten Generation KammerriChter in Wetzlar zu werden; s. Akten zu ihrer Bewerbung in: HStA Mü., K. schw. 5363; HHStA W, MEKA- RKGA 254. 110 Bester Beleg dafür ist das familiär-berufliche Beziehungsfeld, dem der spätere Kammerrichter Franz Graf zu Spaur 1757 seine Präsentation zum kath. RKG-Präsidenten verdankte; dazu s. im einzelnen die Biographie seines Sohnes, des Bayer. Kreis-Assessors Joseph Philipp Grafen Spaur (Biogr. 85), bes. IIe.
142
II.2. Das Personal des Kammergerichts
4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen Was in den vorausgegangenen drei Abschnitten über die Direktorialämter des RKG dargelegt wurde, ist nun fur die Assessoren durch detailliertere Untersuchungen näher ins Blickfeld zu rücken. Vorangestellt wird ein kurzer Überblick über Dienstrecht, Richterethik und Aufgabenbereiche der Beisitzer. Dabei kann es hier nur um eine erste Orientierung gehen, denn eine detaillierte, die Karneralgesetze paraphrasierende Arbeitsbeschreibung des kammergerichtliehen Assessorenamts würde viele Seiten fullen 111 . Bereits die auf der KGO von 1548 beruhende, diese fast wörtlich fortschreibende Ordnung von 1555, welche die Aufteilung der Assessoren auf mehrere Senate nunmehr als selbstverständlich voraussetzt 112 , enthält in ihrem ersten Teil 111
Die vor 1806 erschienenen handbuchartigen Werke über die Verfassung des RKG befassen sich mit den dienstlichen Pflichten und Rechten der Beisitzer im jeweiligen Kapitel über die Assessoren, meist im Anschluß an die Beschreibung des Präsentationssystems, der Aufnahmeformalien und der erforderlichen Qualifikationen. Von den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts publizierenden Kameralschriftstellem sind am ausflihrlichsten und systematischsten: TAFINGER, lnstitutiones, Sectio I. et li., S.381 ff., 385-417; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.78, 154, 156 f., 185-204; auch DANZ, Grundsäze, S.181, 185-193; sehr knapp: BOSTELL, Grundsätze, S.l9, dazu 38 ff.; unsystematisch, unvollständig und fast ohne Quellenbelege: MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.429-435. In alldiesen Darstellungen sind aber fiir Funktionen und Dienstrecht der Assessoren außerdem die jeweiligen Kapitel über Plenum, Senate, Audienz und Deputationen heranzuziehen. Entsprechendes gilt fiir die 1966 erschienene Dissertation von WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß (dort S.16-28 zentral über die Assessoren). Das für die Personalverfassung des Kameralkollegiums wichtige, 1778 erschienene Werk von BALEMANN, Beiträge, deckt nur die ersten fünf Titel von Teil 1 des Konzepts der KGO von 1613 ab, kommt also nur fiir einige wenige der in diesem Kapitel behandelten Aspekte in Frage. SMEND, Reichskammergericht, behandelt zwar S.308-310 am Ende seines Kapitels über die Assessoren kurz die wichtigsten dienstrechtlichen Bestimmungen. Über die Funktionen der Beisitzer macht er jedoch S.244, 264 und 309 nur knappe Bemerkungen und verweist fiir Einzelheiten auf den geplanten, jedoch nie erschienenen Band 2 seines Werkes, der dem Geschäfts- und Prozeßgang am RKG, also auch der Tätigkeit der Beisitzer im Plenum, im Senat, in der Audienz und in den Deputationen vorbehalten war; vgl. SMEND, Reichskamrnergericht, S.XIII, S.309 Anm.3. Über die Assessoren s. jetzt auch die knappe Skizze bei DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskamrnergerichts, S.106 ff.- Auf die hier genannte ältere und neuere Literatur wird fiir den folgenden Überblick über Dienstrecht, Richterethik und Aufgaben der RKG-Beisitzer generell verwiesen. Von den einschlägigen Karneralgesetzen konnten nur die wichtigsten zitiert werden. Außerdem sind die aus den ungedruckten Quellen, vor allem den Präsentationsakten und -protokollen (RKG IV B 1, RKG IV B 2, RKG IV C) gewonnenen Erkenntnisse in dieses Kapitel eingeflossen, ohne daß diese Quellen im einzelnen nachgewiesen werden. 112 KGO 1555 Tl.l Tit.lO (darin bes. § 10, § 21), Tit.l3 (LAUFS, KGO 1555, S.82 ff., bes. S.85 f. u. 88, 93 ff.); entsprechend schon KGO 1548 Tl.l Art.10 u. Art.13 (RTA JR 18/2, S.l253 f., 1255, 1261 ff.). Ursprünglich tagten die Assessoren unter dem Vorsitz des Kammerrichters nur im Plenum. Das Senatsprinzip setzte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts durch und ist im Reichsabschied von 1530 § 76 gesetzlich festgelegt (CJC, S.71; NVSRA Tl.2, S.318); s. auch oben Kap.II.2.2.2. (mit Anm.54) über die Präsidenten.
II.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
143
die wesentlichen Bestimmungen über Dienstrecht, Funktionen, Arbeitstechniken und Berufsethos der Assessoren. Diese Verordnungen wurden in der legislatorisch fruchtbaren Phase der nachfolgenden drei Jahrzehnte in Reichsabschieden, Visitationsabschieden und -memorialien präzisiert und verfeinert. Die betreffenden Ergänzungen und Korrekturen gingen in das revidierte Konzept der Kammergerichtsordnung von 1613 ein. Weitere Ausfiihrungsgesetze brachte 1654 der Jüngste Reichsabschied im Rahmen einer grundlegenden Reform des Kameralprozesses. Der Visitationsabschied von 1713 enthielt einige weitere Zusätze, wiederholte aber vor allem die noch gültigen älteren Regeln und schärfte angesichts der vielen eingerissenen Mängel deren Befolgung ein. Ähnliches gilt fiir die einzelnen Visitationsschlüsse der letzten, von 1767 bis 1776 tagenden außerordentlichen Visitation 113 • Der Reichsschluß von 1775, ergänzt und verbessert durch den Reichsschluß von 1788, bescherte dem Kameralkollegium schließlich eine komplikationsreiche Senatsreform 114 . Alles in allem waren die Assessoren des 18. Jahrhunderts, auch wenn es um ihre dienstlichen Rechte und Pflichten ging, mit einem umfangreichen, historisch gewachsenen Regelwerk konfrontiert, das auch die beiden von der letzten RKG-Visitation mit der Revision des ersten Teils des Konzepts von 1613 beauftragten Assessoren Harpprecht und Loskand zu berücksichtigen hatten 115 • Zunächst zu den wichtigsten Vorschriften des fiir damalige Verhältnisse frühzeitig und weit entwickelten Dienstrechts 116 . Das Assessorat am RKG war ein 113 Orr. der an das Kameralkollegium gerichteten Dekrete der letzten RKG-Visitation in: RKG IV A 2-10; die meisten davon sind in systematischer Anordnung gedruckt in: [G. G. BALEMANN, (Hg.)], Visitations-Schlüsse die Verbesserung des Kaiserlichen Reichs-Kammergerichtlichen Justitzwesens betreffend, Lemgo 1779.
114 Quellennachweise zu den Reichsschlüssen von 1775 und 1788 s.u. in Anm.l51; dort auch kurz über den Inhalt der damaligen Senatsreform. 115 S. die kommentierten Ergänzungs- und Verbesserungsvorschläge Harpprechts und Loskands zu Konz. KGO 1613 Tl.1 in: SELCHOW, Concepte, Tl.l.
Einen Vergleich mit den gleichzeitigen dienstrechtlichen Verhältnissen in den Territorien ermöglicht immer noch der Überblick bei E. DöHRING, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953, S.65 ff., auch 75 ff.; s. auch D. WILLOWEIT, Die Entwicklung des öffentlichen Dienstes, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.l, S.346-360, hier S.352 ff.; zum Dienstrecht der Reichshofräte s. außer der RHRO von 1654 Tit.l, bes. § 4 [3] u. passim (SELLERT, RHRO II, S.62 ff.) ÜSCHLIESSER, Reichshofrat, S.77 ff.- Zur Wahrnehmung und Bewertung des ftir die RKG-Beisitzer geltenden Dienstrechts ist ferner eine Heranziehung derjenigen neueren Untersuchungen aufschlußreich, die sich auf dem Hintergrund des vorherigen Zustands mit der Reform des Beamtenrechts in den deutschen Territorien bzw. Einzelstaaten seit Ende des 18. Jahrhunderts, vor allem aber nach 1800 befassen, wobei besonders die bayerische Dienstpragmatik von 1805 vorbildhaft wurde. Dazu s. mit weiterfUhrender Literatur (in Auswahl): E. ARNDT, Vom markgräflichen Patrimonialstaat zum großherzogliehen Verfassungsstaat Baden. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte Badens zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Berücksichtigung der Verhältnisse in Bayern und Württemberg, in: ZGO 101 (NF 62), 1953, 8.157-264, 436-531, hier S.254 ff.; F.-L. KNEMEYER, Regierungs- und 116
I44
II.2. Das Personal des Kammergerichts
hochspezialisierter Vollzeitberuf. Der Charakter eines Berufsrichterturns wurde schon in der Wormser KGO von 1495- der Logik der gesamten damaligen Gerichtsreform folgend- begründet und bis 1806 strikt gewahrt. Im Interesse eines kontinuierlichen und effizienten Gerichtsbetriebs, einer qualitativ hochwertigen Rechtsprechung und richterlicher Unabhängigkeit war den Beisitzern- ebenso wie den Direktorialpersonen- jede anderweitige Dienstverpflichtung und jede Art der Nebenbeschäftigung von der Advokatur und Beratertätigkeit bis zur Übernahme kaiserlicher und sonstiger Kommissionen, außerdem natürlich jede Aktivität in Handel und Gewerbe gesetzlich untersagt 117 • Sogar die wissenschaftVerwaltungsreformen in Deutschland zu Beginn des I9. Jahrhunderts, Köln- Berlin I970, S.28I ff.; W. BLEEK, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im I8. und I9. Jahrhundert, Berlin I972, S.34 ff.; H. HATTENHAUER, Geschichte des Bearntentums, Köln- Berlin- Bonn- München I980, bes. S.I6I ff., I79 ff. (Hattenhauers Ausflihrungen über das RKG ebd., S.49-53, sind äußerst fehlerhaft); vor allem B. WUNDER, Privilegierung und Disziplinierung. Die Entstehung des Berufsbeamtenturns in Bayern und Württemberg (I780-I825), München- Wien I978; DERS., Die Reform der Beamtenschaft in den Rheinbundstaaten, in: E. Weis (Hg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, München I984, S.l8I-I92; DERS., Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt a.M. I986, S.27 ff.; W. DEMEL, Derbayerische Staatsabsolutismus I806/08-I8I7. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern, München I983, S.98 ff.; H. HENNING, Die deutsche Beamtenschaft im I9. Jahrhundert. Zwischen Stand und Beruf, Stuttgart I984, S.l7 ff.; zu Österreich: W. HEINDL, Gehorsam und Herrschaft- Zur Entwicklung des Beamtendienstrechts (I780-I8I5), in: Bericht über den sechzehnten Österreichischen Historikertag in Krems/Donau ... I984, Wien I985, S.328-34I; E. TREICHEL, Der Primat der Bürokratie. Bürokratischer Staat und bürokratische Elite im Herzogtum Nassau I806-I866, Stuttgart I99I, S.359 ff.; ST. BRAKENSIEK, Die Herausbildung des Beamtenrechts in Hessen-Kassel bis zum Staatsdienstgesetz von I83I, in: Hess. Jb. f. Landesgeschichte 48, I998, S.105-I46; s. auch die einschlägigen Beiträge in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.2: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart I983. 117 Im Generalexamen (Frage II) wurden die auf ein RKG-Assessorat präsentierten Juristen danach befragt, ob sie jemandem mit Eid und Dienst verpflichtet seien und ob sie davon entbunden werden könnten. Außerdem mußte ein neu einberufener Assessor vor seiner Aufschwörung ein Zeugnis über seine Dienstentlassung beibringen; zahlreiche Belege dazu s. in den Präsentationsprotokollen (RKG IV C I ff., IV B 2/1 ff.). Wichtigste Karneralgesetze zum Verbot anderweitiger Dienstverpflichtungen und Nebentätigkeiten der Assessoren: KGO I495 §I, nach älterer Zählung: Tit.l §§I u. 2 (RTA MR 5/I/1, S.385; CJC, S.I); KGO I555 Tl.l Tit.6, Tit.l3 §§4 u. 5, Tit.57 (Amtseid) (LAUFS, KGO I555, S.80, 94, I5I); Konz. KGO I613 Tl.l Tit.5 § 10, Tit.7, Tit.l9 §§ 3 u. 4, Tit.7I (Amtseid) (CJC, S.580, 582 f., 597, 657); Vis.A. I713 § 22 (Schluß),§ 45 (CJC, S.967 f., 97I); vgl. auch das Verbot der "Gastung oder Kauffmannschafft" für alle Karneralpersonen im Paragraphen über die Karneralfreiheiten: KGO I555 Tl.l Tit.49 §I (LAUFS, KGO I555, S.I45); Konz. KGO I613 Tl.l Tit.63 Einltg. (CJC, S.650, danach zit.); JRA I654 § I4I (LAUFS, JRA I654, S.69).- Das in der KGO I495 §I ausgesprochene generelle Verbot von Nebentätigkeiten wurde in der KGO I 52 I Art.28 (RTA JR 2, S.293), nach anderer Zählung Tit.XXV § 4 (NVSRA Tl.2, S.l88), ausdrücklich auch auf die Heranziehung zu kaiserlichen und sonstigen Kommissionen erstreckt, nachdem bis dahin RKG-Assessoren wiederholt und entgegen dem Sinn der KGO zu solchen Kommissionen und anderen Gesandtschaften, auch zur Vertretung auf dem Reichstag verwendet worden waren;
II.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
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liehe Buchproduktion der Assessoren wurde im Reichsschluß von 1775 eingeschränkt118. Insgesamt war das Berufsbild des RKG-Beisitzers nach dem Willen der Gesetzgeber und obersten Dienstherren- Kaiser und Reichsständen- in einer Ausschließlichkeit auf die Richterfunktion konzentriert, wie es auch noch im 18. Jahrhundert den verschiedenen Richtertypen in den territorialen Unter-, Mittel- und Obergerichten und selbst den Reichshofräten fremd war 119 . Voraussetzung für die Einhaltung des Nebentätigkeitsverbots durch die RKG-Beisitzer war die Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz in Form reichsgesetzlich festgestellter, regelmäßiger und fixer Gehälter, die durchweg aus Bargeld bestanden und von den Reichsständen in Form der Kammerzieler aufgebracht wurden. Wie sehr gerade dieser Punkt über lange Zeitspannen hinweg im argen lag, ist bekannt120. Über die Folgen wird noch zu reden sein. dazu SMEND, Reichskammergericht, S.308.- Alle Probleme im Zusammenhang mit dem Verbot anderweitiger Dienstverpflichtungen und Nebentätigkeiten, das natürlich auch Kammerrichter und Präsidenten betraf, werden ausführlich erörtert von BALEMANN, Beiträge, S.241265. R.Schl. 1775 § 27. in: J. J. SCHMAUSS, Corpus Iuris Publici S.R. Imperii Academicum, enthaltend des Heil. Röm. Reichs deutscher Nation Grund-Gesetze ... , hg. von G. Schumann u. H. G. Franken, verm. Aufl. Leipzig 1794 (Nachdr. Hildesheim- New York 1973), S.1536 f.; in der unten in Anm.151 zitierten Edition Pütters: S.lO, 23, 35; zu diesem bedingten Bücherschreib-Verbot s. MALBLANK, Anleitung, Tl. I, S.188 f.; SMEND, Reichskammergericht, S.309. 118
Bei den Reichshofräten war neben der- seit Ende des 17. Jahrhunderts allerdings zurücktretenden - Aufgabe als Berater des Kaisers die Übernahme kaiserlicher Kommissionen und sonstiger Gesandtschaften ein Bestandteil ihrer Tätigkeit; s. RHRO 1654 Tit.l §4 [3], § 17 [16] (SELLERT, RHRO II, S.64, 89); GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.77 ff., und die Kurzbiographien der Reichshofräte ebd., passim. - Die gelehrten Juristen in den territorialen Oberbehörden waren bekanntlich mit unterschiedlicher Gewichtung in einer Person zumeist Richter im engeren Sinne, Räte mit Regierungs- und Verwaltungsfunktionen sowie Gesandte. Zur Entwicklungsgeschichte des Richterberufs s. auch G. KOCHER, Artikel Richter, in: HRG 4, 1990, Sp.1033-1040. 119
120 Gemäß KGO 1495 § 19 (RTA MR 5/I,l, S.403 f.; nach älterer Zählung Tit.16: CJC, S.4) wurden die Bezüge der Assessoren (ebenso wie die der anderen Gerichtspersonen) ursprünglich aus den Gerichtssporteln sowie ergänzend aus dem Gemeinen Pfennig bestritten. Da sich dieses System rasch als untauglich erwies, wurden die Gehälter von Kammerrichter, Assessoren und einigen anderen Kameralpersonen zuerst 1507 und endgültig seit 1548 auf die reichsständischen Kammerzider fundiert. Seit der letzten, im Reichsschluß von 1719/20 rückwirkend ab 1713 gewährten Besoldungserhöhung betrug das Jahresgehalt der RKG-Assessoren 2.666 Rtlr. 60 Kr. oder 4.000 fl. im 20 Gulden-Fuß bzw. 4.800 fl. rhein. Währung. Dazu kamen noch die Neglekten, wegen unberechtigt versäumter Arbeitszeit erfolgte Abzüge vom Gehalt einzelner Assessoren und Präsidenten, die unter die anwesenden Assessoren und Präsidenten verteilt wurden. Zum Unterhaltungswerk des RKG und speziell auch zur Entwicklung der Assessorenbesoldung s. außer den im Untrennbaren Bestand des ehemaligen Kameralarchivs enthaltenen Pfennigmeisterrechnungen vor allem LUDOLF, Historia Sustentationis; HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk; auch MüSER, Justiz-Verfassung, T1.2, S.470-571; TAFINGER, lnstitutiones, Sectio I. et Il., S.l91-243, S.396 f.; BüSTELL, Grundsätze, S.95-108; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.192 f., Tl.2, S.486-590; DANZ, Grundsäze, S.186-190; SMEND, Reichskammergericht, S.19 ff., S.398-402 (mit Besoldungstabelle); Vergleich mit den Besol-
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
Zum allgemeinen Dienstrecht der RKG-Beisitzer gehörte ferner die sechsjährige Mindestamtszeit, zu der sich die Assessoren bei ihrer Amtsein:fiihrung, der 'Aufschwörung', verpflichten mußten. Dieses sogenannte 'Sexennium' wurde im Reichsabschied von 1566 eingeführt, um die Nachteile zu mildem, die dem Gerichtsbetrieb und der Judikatur des RKG durch die damals sehr starke Fluktuation auf den Assessoraten und die damit verbundene geringe Verweildauer der Beisitzer entstanden 121 • Nach derselben Vorschrift sollten Assessoren, die aus begründeten Ursachen ihr Amt vorzeitig aufgeben wollten, in logischer Konsequenz aus ihrer reichsverfassungsrechtlichen Anhindung an Kaiser und Reichsstände ihr Gesuch um Dispensation vom Sexennium bei den damals jährlich stattfindenden RKG-Visitationen einreichen. Nach deren Verfall Ende des 16. Jahrhunderts wurde der Kaiser der Adressat solcher Dispensationsgesuche, die er, soweit man sieht, immer bewilligte 122 • Im 18. Jahrhundert, weithin einer Phase geringerer Mobilität auf den Assessoraten, kündigten nur wenige Juristen ihr hohes Richteramt nach vorheriger Dispensation schon vor Ablauf der sechsjährigen Mindestamtszeit oder gleich nach Er:fiillung des Sexenniums wieder auf123 . dungsverhältnissen in den Territorien bei DöHRING, Rechtspflege, S.75 ff.; zur Entwicklung der Reichshofratsbesoldung s. vergleichend GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.82 ff. Seit einer letzten Besoldungserhöhung von 1716 bezogen die Reichshofräte auf der Herrenbank jährlich 2.600 fl., die Reichshofräte auf der Ritter- und Gelehrtenbank ebenso wie die RKG-Assessoren 4.000 fl. (im 20 Gulden-Fuß). 121
Einführung des Sexenniums: RA 1566 § 78 (CJC, S.281; RTA Reichsvers. 1556-1662, RT 1566/2, S.l536); wiederholt in Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.4 (CJC, S.579). Zu den Gründen ftir die starke Fluktion auf den RKG-Assessoraten im ersten Dreivierteljahrhundert nach der Reorganisation des RKG 1495 s. JAHNS, Durchgangsposten oder Lebensstellung?, S.274-279; zum Sexennium der Assessoren s. außer der oben in Anm.lll zitierten Literatur vor allem BALEMANN, Beiträge, S.l93 ff. Laut BALEMANN, ebd., S.l93, hatten die Auditoren der Rota Romana krafteiner von Papst Clemens VIII. (1592-1605) erlassenen Verordnung mindestens fünf Jahre im Amt zu bleiben. - In Analogie zum kanonischen Recht waren die RKG-Assessoren nach Amtseintritt observanzgemäß zu einer halbjährigen Residenz verpflichtet, um möglichst rasch mit ihrem neuen Amt vertraut zu werden und den Kameralstilus zu erlernen; dazu s. im einzelnen BALEMANN, Beiträge, S.368 ff.; Vis.Schl. 2.1.1775, in: BALEMANN, Visitations-Schlüsse, S.38 f.; auch MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.l57. 122 Zum Übergang des Dispensationsrechts von der ordentlichen Visitation auf den Kaiser s. auch BALEMANN, Beiträge, S.l96 f.; ein Teil der im 17. und 18. Jahrhundert eingereichten Gesuche von RKG-Beisitzem um Erlaß des Sexenniums sowie der entsprechenden kaiserlichen Bewilligungen befindet sich in: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 38lb; andere liegen in den RKG-Präsentationsakten und -protokollen der Serien RKG IV B I u. RKG IV B 2. 123 Von den 92 RKG-Beisitzern, die im engeren Untersuchungszeitraums 1740-1806 amtierten, quittierten vor der Auflösung des RKG 21 ihr Assessorat freiwillig im berufsfähigen Alter von 27 bis 65 Jahren. 19 von ihnen waren unter 55 Jahre alt, nur zwei ca. 58 bzw. 65 Jahre (Die beiden Assessoren Loskand und Frantz, die ihr Richteramt aus Alters- und Krankheitsgründen im Alter von 69 bzw. 75 Jahren freiwillig niederlegten, um bald darauf im unbesoldeten Ruhestand zu sterben, werden hier nicht mitgezählt; sie gehören eher zur Gruppe der 'lebenslänglichen' Assessoren, s. Biogr. 4 u. Biogr. 63). Von diesen 21 setzten 20 ihre Karrie-
11.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
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Einen anderen Sinn als das Sexennium hatte die schon 1548/55 gesetzlich verankerte Verpflichtung der Beisitzer zum sechsmonatigen sogenannten 'Nachdienstrl24. Assessoren, die freiwillig den Dienst quittieren, nach damaliger Terminologie 'resignieren' wollten, mußten dies sechs Monate vor ihrer endgültigen Amtsaufgabe dem Kameralkollegium mitteilen. In der halbjährigen Frist nach der ersten Resignationsanzeige hatte der betreffende Beisitzer neben seinen sonstigen Amtspflichten vor allem die von ihm ausgearbeiteten Re- und Korrelationen abzulegen, d.h. in seinem Senat vorzutragen, damit in den betreffenden Rechtssachen vor seinem Abgang noch das Urteil gesprochen werden konnte. Außerdem war während dieser sechs Monate die Präsentation und Prüfung eines Nachfolgers bereits so weit voranzubringen, daß er gleich nach dem Ausscheiden des Vorgängers auf dessen Stelle einrücken konnte. Durch den Nachdienst sollten also auch allzu lange Vakanzen auf freiwerdenden Assessoraten vermieden werden- eine Intention, die sich allerdings in der Folgezeit aus verschiedere auf einem anderen Posten fort; einer, obwohl bei der Resignation erst 37 Jahre alt (O.H. Gemmingen, Biogr. 121), widmete sich danach nur noch der Verwaltung der Familiengüter. Von diesen 21 fast durchweg zum Zwecke einer Nachkarriere resignierenden Assessoren kündigten nur vier ihr Assessorat schon vor Ablauf des Sexenniums nach einer Amtszeit von nur ein bis vier Jahren auf. Davon liegen für drei kaiserliche Dispensationen vor, s. Biogr. 25 (Burgsdorff), Biogr. 44 (Wenckstem), Biogr. 46 (Hammerstein), für Reigersberg (Biogr. 86), der 1797 nach nur einjähriger Amtszeit als Assessor vom Kaiser zum kath. RKG-Präsidenten ernannt wurde, dagegen nicht (nur eine kaiserliche Dispensation vom halbjährigen Nachdienst). Der kurbayerische Assessor Zillerberg (Biogr. 79) ließ sich zwar 1777 bei seinem Wechsel vom RKG zum Reichstag vom Kaiser nicht nur vom Nachdienst, sondern auch vom Sexennium dispensieren, weil er das kurbayerische Assessorat nur drei Jahre lang bekleidet hatte. Aber diese Dispensation von der Mindestamtszeit wäre an sich nicht erforderlich gewesen, weil Zillerberg zuvor, 1764-1774, 10 Jahre lang kreisbayerischer Assessor gewesen war. Bei seinem Weggang aus Wetzlar hatte er also insgesamt 13 Jahre lang als Beisitzer amtiert. Aus der oben definierten Gruppe der 21 vor 1806 Resignierenden verließen nur drei weitere Assessoren ihr Assessorat gleich nach Ablauf des Sexenniums, s. Biogr. 40 (Vulpius), Biogr. 114 (Preuschen), Biogr. 121 (O.H. Gemmingen). Insgesamt war im engeren Untersuchungszeitraum 1740-1806 die Zahl de:tjenigen Beisitzer, deren Assessorenlaufbahn unfreiwillig entweder durch den Tod oder durch die Auflösung des RKG 1806 vor Ablauf der sechsjährigen Mindestamtszeit beendet wurde, deutlich höher als die Zahl der oben namentlich genannten vier Juristen, die ihr hohes Richteramt schon nach ein bis vier Jahren freiwillig wieder aufgaben, um ihre Karriere am RKG selbst (Reigersberg) oder in reichsfürstlichen Diensten (Burgsdorff, Wenckstern, Hammerstein) fortzusetzen.
124 KGO 1555 Tl.l Tit.4 § 2 (LAUFS, KGO 1555, S.77), beruhend auf KGO 1548 Tl.l
Art.4 (RTA JR 18/2, S.1245 f.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 §§ 2 u. 3 (CJC, S.580); JRA 1654 § 140 (LAUFS, JRA 1654, S.68). In der sechsjährigen Mindestdienstzeit war der halbjährige Nachdienst inbegriffen. Ein Assessor, der gleich nach dem gesetzlichen Sexennium sein Assessorat verlassen wollte, konnte dies also schon nach fünfeinhalbjähriger Amtszeit anzeigen, um dann noch den halbjährigen Nachdienst zu leisten; zum sechsmonatigen Nachdienst und den Ausnahmen davon s. unter Berücksichtigung aller damit verbundenen Probleme sowie auf der Basis aller einschlägigen Verordnungen ausführlich BALEMANN, Beiträge, S.195 f., 211-225, bes. 216 ff.; s. ferner die oben in Anm.111 zitierte Literatur.
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
nen Gründen, zum Beispiel wegen der Säumigkeit der Präsentationshöfe oder wegen der Schwierigkeit, geeignete Kandidaten zu finden, nicht immer erfüllte. Umgekehrt standen im 18. Jahrhundertangesichts des Mißverhältnisses zwischen Präsentationsberechtigungen einerseits, wirklich finanzier- und besetzbaren Assessoraten andererseits fast immer bereits von anderen Kurfürsten oder Kreisen präsentierte und auch schon geprüfte Juristen zur Verfügung. Diese konnten, falls sie dieselbe Konfession wie der kündigungswillige Assessor hatten, aus der Warteschlange heraus sofort einberufen werden, so daß die absolute Zahl besetzter Assessorate unter Wahrung des Paritätsprinzips konstant blieb. Wenn ein zum Amtsverzicht bereiter Assessor all seine fertigen Relationen schon vor Ablauf seines Nachdienstes abgelegt hatte und außerdem ein Präsentatus zum Nachrücken vorhanden war, konnte der Nachdienst vom Kameralkollegium ganz oder teilweise erlassen werden. Andernfalls achtete man im Interesse der Justiz auf dessen strikte Einhaltung, wobei jedoch in Ausnahmefällen auf entsprechendes Gesuch vom Kaiser Dispensationen erteilt wurden 125 • Während die Mindestverweildauer im Amt geregelt war, zogen die Karneralgesetze der Assessorentätigkeit keine zeitliche Höchstgrenze. Jedoch fehlte auch der Grundsatz der Richterernennung auf Lebenszeit, Grundsäule moderner richterlicher Unabhängigkeit. Die für eine derartige Garantie erforderlichen Grundvoraussetzungen- staatlich normierte theoretische sowie praktische Juristenausbildung und staatliche Abschlußprüfungen sowie die Rechtsform des Richters auf Probe - waren unter den Bedingungen des Alten Reiches in der legislatorisch schöpferischen Gründungs- und Aufbauphase des RKG und auch späterhin 125 Seit die jährlichen Visitationen Ende des 16. Jahrhunderts als Adressaten von Dispensationsgesuchen ausfielen, dispensierte der Kaiser vom Nachdienst Solche kaiserlichen Dispensationen aus dem 17., 18. und beginnenden 19. Jahrhundert sowie die zugehörigen Gesuche befinden sich in: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 381 b; ferner in den RKG-Präsentationsakten und -protokollen der Serien RKG IV B 1 u. RKG IV B 2. - Kaiserliche Dispensationen vom gesamten oder restlichen Nachdienst erhielten nachweislich die Assessoren Trott (Biogr. 10), Leykam (Biogr. 19), Vulpius (Biogr. 40), Wenckstem (Biogr. 44), Hammerstein (Biogr. 46), Globig (Biogr. 48), Fahnenberg (Biogr. 60), F.J. Albini (Biogr. 75), Zillerberg (Biogr. 79), Reigersberg (Biogr. 86), Steigentesch (Biogr. 105) und Schüler (Biogr. 126); ungenutzt blieb die für den Assessor Waldenfels (Biogr. 84) ausgestellte kaiserliche Dispensation. Vom gesamten oder restlichen Nachdienst wurde vor allem immer dann ohne Schwierigkeiten dispensiert, wenn der kaiserliche Hof ein besonderes Interesse daran hatte, daß der betreffende RKG-Beisitzer rasch in sein neues Dienstverhältnis überwechselte, so als RKG-Präsident (Trott, Reigersberg), als Geheimer Reichsreferendar bei der Reichshofkanzlei in Wien (Leykam, F.J. Albini), als Reichshofrat (Vulpius), als Reichstagsgesandter (Globig, Fahnenberg, Zillerberg, Steigentesch), auf einen politisch wichtigen Gesandtschaftsposten (Wenckstem, Schüler) oder als zukünftiger Minister an einem befreundeten Hof (Waldenfels). Beispiele für Fälle, in denen das Kameralkollegium von sich aus den Nachdienst erließ und eine kaiserliche Dispensation für nicht erforderlich hielt: Loskand (Biogr. 4), Burgsdorff (Biogr. 25), Waidenfels (Biogr. 84); s. auch Dalwigk (Biogr. 36), Bremer (Biogr. 45).
II.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
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nicht gegeben 126 • De facto begann jedoch mit der Einberufung und Vereidigung ein lebenslanges Dienstverhältnis. Ein Assessor, der sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, konnte bis zum Tod im Amt bleiben, wobeiertrotz alters- und krankheitsbedingter Arbeitseinschränkung oder völliger Dienstunfähigkeit weiterhin sein volles Gehalt bezog. Dabei war der RKG-Beisitzer dank der besonderen verfassungsrechtlichen Konstruktion des RKG in einem Punkt privilegierter als sein Kollege am RHR, dessen Funktionen mit dem Tod seines kaiserlichen Dienstherrn erloschen, während das von Kaiser und Reich abhängende Dienstverhältnis der Kammerrichter, Präsidenten und Beisitzer am RKG durch Thronvakanzen nicht unterbrochen wurde 127 • Die hier als vorteilhaft dargestellte faktische Möglichkeit eines lebenslänglichen Verbleibs im Assessorenamt bedarf jedoch der Problematisierung. Diejenigen RKG-Beisitzer, die nicht nach einer Reihe von Amtsjahren ihr Assessorat zugunsten einer Nachkarriere wieder aufkündigten, waren nämlich mangels eines Rechtsanspruchs auf Pensionierung bei Dienstunfähigkeit oder bei Erreichen einer bestimmten Altersgrenze und mangels ausreichender Rücklagen für ihre Altersversorgung in der Regel sogar genötigt, bis zum Tod im Amt zu verharren, selbst wenn sie wegen Alter und Krankheit ihren Dienstpflichten nur noch mit Mühe oder gar nicht mehr nachkommen konnten 128 • Gnadengehälter, die diesen 126 Die Entwicklung hin zu einer staatlich normierten und kontrollierten Juristenausbildung setzte im Laufe des 18. Jahrhunderts erst allmählich in einzelnen größeren Territorien ein, ohne daß die Kameralgesetzgebung von solchen Experimenten noch profitiert oder umgekehrt darauf eingewirkt hätte; vgl. unten Kap.III.2. über das AusbildungsprofiL 127 Die Vorgänge beim Regierungswechsel von Kar! VI. auf den Wittelsbacher Kar! VII. und von Kar! VII. auf Franz I. zeigen, daß die Wiedereinstellung eines Reichshofrats nach einer Thronvakanz in ungünstigen politischen Konstellationen gefährdet war; dazu GsCHLIESSER, Reichshofrat, S.419 ff., S.431 ff., sowie als Beispiele die Biographien des RKG-Assessors J.U. Cramer (Biogr. 65) und des RKG-Präsentatus Schroff (Biogr. 78), beide ehemalige Reichshofräte Karls VII. Im allgemeinen übernahm aber ein neugewählter Kaiser die Reichshofräte seines Vorgängers. Unter dieser Voraussetzung konnte auch ein Reichshofrat ebenso wie ein RKG-Beisitzer de factobiszum Tod amtieren; s. GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.77. 128 Abgesehen von dem vorbildlichen Pensionssystem, welches das theresianische und josephinische Österreich ftir seine Zivilstaatsdiener einftihrte, war die Lage der Territorialbeamtenschaft im Ancien Regime vor der Einftihrung einer gesetzlichen Alters- und Hinterbliebenenversorgung im Zuge der Dienstrechtsreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht anders als diejenige der RKG-Assessoren und sonstigen besoldeten Kameralen, nur daß sich in einer Reihe von Territorien gewohnheitsrechtlich die Praxis des Gnadengehalts ftir verdiente Amtsträger ausgebildet hatte. Vgl. zu entsprechenden Verhältnissen in den Territorien DöHRING, Rechtspflege, S.69 ff.; sowie die oben in Anm.116 zitierte neuere Literatur, besonders (mit weiteren Nachweisen) BRAKENSIEK, Hessen-Kassel, S.118 ff. -Nach dem Tod eines RKG-Assessors oder RKG-Präsidenten erhielten dessen Witwe und Kinder noch drei Monate lang die bisherige Besoldung des Verstorbenen, das sogenannte Gnadenquartal; dazu Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.57 § 1 (CJC, S.647); Vis.A. 1713 §43 (CJC, S.971); RKG Pfennigmeisterrechnungen; vgl. auch Vis.Schl. 3.4.1775, Druck: BALEMANN, Visitations-Schlüsse, S.42 f.
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
"Dienern von Kaiser und Reich" nur der für das Kameralkollegium zuständige Gesetzgeber und Dienstherr, also Kaiser und Reichsstände gemeinsam, nicht jedoch ihr ehemaliger Präsentant, hätte gewähren können, gab es nicht. Die daraus resultierenden negativen Folgen für die Leistungsbilanz des Kameralkollegiums lassen sich aus der Altersstatistik erschließen: Von den 92 Assessoren des engeren Untersuchungszeitraums 1740-1806 starben vor der RKG-Auflösung 45, also knapp die Hälfte, im Amt. Davon erreichten 26 Assessoren nur ein Alter von 31 bis 65 Jahren (die meisten von ihnen, nämlich 18, starben mit 51 bis 65 Jahren). Aber die übrigen 19 dieser 45 bis zum Tod amtierenden Beisitzer wurden 66 bis 81 Jahre alt (davon 7: 66-70 Jahre; 6: 71-75 Jahre; 5: 76-80 Jahre; 1: 81 Jahre). Der Anteil derer, die im engeren Untersuchungszeitraum nach dem 65. Geburtstag trotz nachlassender Arbeitskraft im Richteramt verharrten, um weiterhin in den Genuß der Assessorenbesoldung zu kommen, erhöht sich noch, wenn man außer diesen 19 wirklich 'Lebenslänglichen' weitere neun Beisitzer mit in die Statistik einbezieht, die ebenfalls über die hier gezogene Grenze von 65 Lebensjahren hinaus ihr RKG-Assessorat beibehielten und eigentlich ebenfalls als 'Lebenslängliche' einzustufen sind, auch wenn sie nicht im Amt starben: die beiden Assessoren Loskand und Frantz, die im fortgeschrittenen Alter von 69 bzw. 75 Jahren aus Alters- und Krankheitsgründen schließlich doch noch ihr Richteramt aufkündigten, um in den wenigen Jahren bis zu ihrem Tod von eigenen Mitteln zu leben; zwei der drei 1773/74 wegen Korruption abgesetzten Beisitzer, die zur Zeit ihrer Amtsenthebung schon 68 bzw. 77 Jahre alt waren (Ph.H. Reuss und Nettelbladt); und schließlich von den insgesamt 21 Assessoren, die mit dem Ende des Alten Reiches und der Auflösung des RKG unfreiwillig auch ihr Richteramt verloren, jene fünf, die damals bereits 67 bis 73 Jahre alt waren (Hueber, F.J. Schmitz, J.F.A.K. Neurath, Ditfurth, Balemann). Zusammengefaßt bedeuten diese Angaben, daß von den 92 RKG-Beisitzern, die im engeren Untersuchungszeitraum 1740-1806 amtierten, 28, also fast ein Drittel (30,4 %) noch im Alter von 66 bis 81 Jahren im Amt waren (davon wurden 12 Beisitzer 66-70 Jahre; 9: 71-75 Jahre; 6: 76-80 Jahre, 1: 81 Jahre alt), unabhängig davon, ob ihre lange Assessorenlaufbahn schließlich durch den Tod oder auf eine der erwähnten anderen Weisen beendet wurde. Am Altersschicksal der beiden Assessoren Beaurieux (Biogr. 1) und Nettelbladt (Biogr. 109) wird exemplarisch deutlich, welche Einbußen an Arbeitskraft diese ungesunde Altersstruktur für das Kameralkollegium zur Folge hatte - gerade im 18. Jahrhundert mit seinem recht hohen Anteil an 'lebenslänglichen' Assessoren bei zugleich (zumindest bis 1782) recht schwacher Besetzung. Mit dem Fehlen einer förmlichen Ernennung auf Lebenszeit korrespondiert, daß die Karneralgesetze keine Klausel über die Unabsetzbarkeit der Assessoren enthielten. Die Beisitzer waren absetzbar, jedoch nach dem Buchstaben des Ge-
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setzes im Gegensatz zu ihren Kollegen in den Territorien vor willkürlicher Entlassung schon frühzeitig geschützt. Seit der KGO von 1521, die die Möglichkeit einer Amtsenthebung erstmals ausdrücklich feststellte, wurden wiederholt die verschiedenen Absetzungsgründe definiert und zugleich das V erfahren festgelegt, wodurch ein Beisitzer entweder nach mehrfacher Verwarnung durch Kammerrichter und Präsidenten im Zusammenwirken mit zunächst zwei bis drei, dann sämtlichen Assessoren oder aber durch eine RKG-Visitationskommission aus dem Amt entfernt werden konnte 129 • In den Territorien und auch am Reichshofrat setzte sich der Rechtsgrundsatz, daß ein Richter oder sonstiger Beamter nur nach vorausgegangenem ordentlichen V erfahren und Urteilsspruch entlassen werden dürfe, erst seit Ende des 18. Jahrhunderts durch 130 • Die Assessoren des 129
In der Frühphase des RKG vor 1521 enthielten die Ordnungen noch keinerlei Vorschriften über die Absetzung eines RKG-Assessors. In dieser Zeit beanspruchten sowohl der Kaiser als auch die Visitation das Recht dazu; s. SMEND, Reichskammergericht, S.310; zentrale Verordnungen betr. die Absetzung eines untauglichen Assessors ab 1521: KGO 1521 Art.8, nach älterer Zählung Tit.7 (RTA JR 2, S.275; CJC, S.46); KGO 1555 Tl.l Tit.5, ergänzend mit weiteren Absetzungsgründen ebd. Tit.lO § 14, Tit.13 § 3 (LAUFS, KGO 1555, S.79, 86, 94); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.6, ergänzend ebd. Tit.8 § 6, Tit.lO § 2, Tit.11 § 5, Tit.19 § 2 (CJC, S.582 f., 585 f., 597); Vis.A.1713 § 26, ergänzend§§ 2, 3, 6, 46, 72 (CJC, S.968, 964 f., 971 f., 978). Die verschiedenen Absetzungsgründe sowie der Modus der Amtsenthebung werden auf der Basis der einschlägigen Bestimmungen am ausfiihrlichsten referiert von MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.202 ff.; das Ermahnungs-und Absetzungsverfahren (anläßlich der Verbots ständiger Unpünktlichkeit oder Abwesenheit im Senat) nochmals festgeschrieben in: Vis.Schl. 16.5.1774, Druck: BALEMANN, Visitations-Schlüsse, S.72-74, bes. S.73. BALEMANN, Beiträge (1778), deckt nur Tit.l-5 des Konz. KGO 1613 Tl.l ab. Baiernarms noch ungedruckter Kommentar zu dem hier in Frage stehenden Tit.6 des Konz. KGO 1613 ("Von Untauglichkeit der Beysitzer, und wie die abgeschafft sollen werden", CJC, S.582) befindet sich als Manuskript in: HHStAW, Handschriften weiß 836. Die Frage der Kompetenz- des Kameralkollegiums, der RKG-Visitation und eventuell provisorisch auch des Kaisers allein- zur Suspendierung oder Absetzung von Präsidenten und Assessoren des RKG wird bereits ausführlich und umständlich erörtert von [PH. H. KREBS], Quinquertium Camerale, o.O. 1705, S.99-197 (2. Frage), S.l97-217 (3. Frage).- Für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die ordentlichen RKG-Visitationen die Zustände am RKG noch regelmäßig kontrollierten, verweist Duchhardt auf den Fall des RKG-Ass. Dr. Kaspar Cuno, der 1564 "wegen notorischer Nichterfüllung seiner Dienstpflichten zur Aufgabe seines Amtes gezwungen wurde", s. H. DUCHHARDT, Nicht-Karrieren. Über das Scheitern von Reichskammergerichts-Kandidaturen und -Präsentationen, Wetzlar 1989, S.26. Danach mußte der Betreffende gezwungenermaßen sein Assessorat resignieren- eine schonendere Form der Amtsentsetzung. Dr. Kaspar Cuno bzw. Kuen war seit 1548 Assessor extraordinarius, seit 1552 vom Schwäbischen Kreis präsentierter Assessor, s. DENAISIUS, Jus camerale, S.721, 726. 130 SMEND, Reichskammergericht, S.31 0; GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.77 mit Anm.58; SELLERT, Der Reichshofrat, S.32 f.; dazu Wahlkapitulation Franz' Il. 1792 Art.24 § 10 ("auch soll kein Reichshofrath seiner Stelle anders, als nach vorhergegangener rechtlichen Kognition und darauf erfolgtem Spruche Rechtens entsetzt werden", zit. nach SCHMAUSS, Corpus Juris Publici, S.1642); DÖHRING, Rechtspflege, S.65-68; ARNDT, Baden, S.259 ff.; BLEEK, Kameralausbildung, S.34 ff.; WUNDER, Privilegierung, bes. S.123 ff.; DERS., Reform der Beamtenschaft, S.184 f.; DERS., Geschichte der Bürokratie, S.30 ff.; HENNING, Beamtenschaft, S.18 ff.; BRAKENSIEK, Hessen-Kassel, S.109 ff.- Am Kampf gegen die willkürliche Entlassung von
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
RKG verdankten also ihrer verfassungsrechtlichen Sonderstellung, die sonst so viele Nachteile mit sich brachte, ein für frühneuzeitliche Verhältnisse relativ hohes Maß an persönlicher richterlicher Unabhängigkeit 131 • Insgesamt wurden in der Zeit von 1648 bis 1806 nur fünf RKG-Beisitzer, davon drei nach 1740, auf Dauer vom Amt suspendiert oder abgesetzt, und zwar in vier Fällen wegen Korruption132. Der in den Gesetzen immer wieder hervorgehobene Absetzungsgrund der fachlichen Inkompetenz, die sich trotz bestandener Prüfung im nachhinein,
Territorialbeamten beteiligte sich auch das Kameralkollegium im Rahmen seiner Rechtsprechung in Appellationsprozessen; dazu DöHRING, Rechtspflege, S.67 f. mit Anrn.88; WUNDER, Reform der Beamtenschaft, S.185; jetzt mit Fallbeispielen vor allem DIESTELKAMP, Rechtsstaatsgedanke, bes. S.4 ff., 17 ff.; DERS., Rechtsfalle, S.160 ff. 131 So auch SMEND, Reichskammergericht, S.310; SELLERT, Richterliche Unabhängigkeit, S.42; DERS., Der Reichshofrat, S.25; auch DERS., Artikel Unabhängigkeit des Richters (der Justiz), in: HRG 5, 1998, Sp.443 f.; vgl. DöHRING, Rechtspflege, S.67.- Allerdings konnte sich dies in Zeiten drastischen konfessions- und machtpolitischen Ungleichgewichts ändern, wie der Fall der beiden von Kurpfalz präsentierten reformierten Beisitzer Dr. Franz Jugert und Johann Georg von der Grün zeigt, die 1628 aufkaiserlichen Befehl ihr Amt resignieren mußten. Aber selbst hier wurde die Form gewahrt und vom Kaiser keine einseitige Absetzung vorgenommen; s. HHStAW, RK- RKG-VisitA. 327 (zu 1628/29); dazu kurz KAMPTZ, Präsentations-Recht, S. 71 f. mit Anrn.4; SMEND, Reichskammergericht, S.202 mit Anm.3, S.31 0 Anm.l (beide mit falschen Jahrezahlen). -Andererseits geht aus dem oben Gesagten deutlich hervor, daß es am RKG hinsichtlich der Rechtsstellung seiner Assessoren und hinsichtlich seiner Judikatur "eine echte richterliche Unabhängigkeit im heutigen Sinne natürlich niemals gegeben hat", s. R. HERZOG, Reichskammergericht und Bundesverfassungsgericht, Wetzlar 1989, S.l9. 132 Der kurmainzische Assessor Wilhelm Ignatius v. Schütz wurde wegen seiner Verwicklung in eine Korruptionsaffäre im Oktober 1687 vom Kameralkollegium vom Amt suspendiert und bis zu seinem Tod 1692 "pro Assessore suspenso" gehalten, weil er weder rechtskräftig freigesprochen noch verurteilt worden war und daher nicht "valide" resignieren konnte; über Vergehen und Suspensions. die Protokolle und Akten ab 1685 in: RKG IV C 2, 2a, 3, 3a; HHStW, MEKA- RKGA 79b; dazu auch BALEMANN, Kommentar zu Konz. KGO 1613 Tl.1 Tit.6 über die Absetzung untauglicher Beisitzer, Manuskript in: HHStA W, Handschriften weiß 836; knapp SMEND, Reichskammergericht, S.214; DUCHHARDT, Die kurmainzischen Reichskammergerichtsassessoren, S.l11 mit Anrn.96; DERS., Nicht-Karrieren, S.26. Der Korruptionsparagraph § 46 des Vis.A. 1713 nimmt, wenn auch ohne Namensnennung, auf den Fall Schütz Bezug.- Der vom kath. Schwäbischen Kreis präsentierte Assessor Johann Adam Ernst v. Pyrck wurde wegen seiner fatalen Intriganten- und Verleumder-Rolle während der vorausgegangenen Skandale am RKG entsprechend einem vorausgegangenen Reichsgutachten von 1705 mit Urteil vom 4.10.1709 von der RKG-Visitation abgesetzt; s. anstelle einzelner Aktenbelege zusammenfassend F. W. ULMENSTEIN, Wetzlar, T1.2, S.460 f., sowie zur Vorgeschichte ebd., S.325 ff.- Die drei Assessoren Nettelbladt (Biogr. 108), Papius (Biogr. 58) und Ph.H. Reuss (Biogr. 23) wurden wegen passiver Bestechung 1771 von der RKGVisitation vom Amt suspendiert und 1773 bzw. 1774 endgültig abgesetzt.- Der Beisitzer F.J. Schmitz (Biogr. 103) geriet 1803/4 unter Korruptionsverdacht, kam aber mit einem Verweis und einer Verwarnung des Plenums davon, s. dazu die Untersuchungsakten des Kameralkollegiums in: RKG Mise. 713 sowie die Berichte des Kammerrichters Reigersberg an den Reichsvizekanzler in: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 378.
11.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
153
nach der Aufschwörung, etwa hätte herausstellen können, wurde im 17. und 18. Jahrhundert niemals bemüht 133 . Die Verordnungen über das Dienstrecht, über die rechtsprechenden Funktionen und über die Organisation dieser Tätigkeit waren durchsetzt von Prinzipien richterlicher Berufsethik, die den RKG-Assessoren die Mentalität von "gerechten Richtern" 134 , von "sacerdotibus und getreuen Vorstehern der heilsamen Justiz" 135 abverlangte. Der Amtseid und zahlreiche Einzelbestimmungen verpflichteten die Beisitzer dazu, unter strikter Bindung an die Gesetze sowie ohne Ansehung der Person unparteiisch, gleichmäßig, gerecht und billig Recht zu sprechen, so daß sie "mit unverletztem Gewissen jederzeit Gott dem höchsten Richter davon Rechenschafft geben, auch gegen Ihro Kayserl. Majestät und das gesambte Reich es wohl verantworten" konnten 136 • Zur Verhinderung von willkürlichen Ermessensentscheidungen und unzulässigen Präjudizien wurden die Assessoren nicht nur an die im Reich und den Territorien geltenden Gesetze und Gewohnheiten, sondern auch an den am RKG herkömmlichen Kameralstilus gebunden, um so über den Wechsel der Personen hinweg die Kontinuität gleichmäßiger Rechtsprechung zu garantieren 137 • Die Wahrung des Beratungs-, Abstimmungsund Referentengeheimnisses sowie der sonstigen Gerichtsarcana wurde ebenso eingeschärft wie das Verbot eines allzu vertrauten und verdächtigen Umgangs mit Parteien, Advokaten, Prokuratoren und Sollizitanten. Angesichts der Enge und Indiskretion der Speyerer bzw. Wetzlarer Kameralgesellschaft sowie des Übels der Sollizitatur waren die Assessoren und andere nicht auf der Parteiseite stehende Gerichtspersonen in diesen Punkten allerdings vielfachen Anfechtun133
Dabei amtierten im engeren Untersuchungszeitraum einige nur sehr mäßig qualifizierte Beisitzer arn RKG; s. die Biographien Frohn (Biogr. 12), Dünwaldt (Biogr. 82) und Autenried (Biogr. 117). Die Geschichte ihrer Präsentation erklärt, warum diese Männer dennoch einberufen wurden. Auch der 1773 abgesetzte kurbayerische Assessor Philipp Heinrich v. Reuss gen. Haberkorn galt als "reichskündiger massen höchstunwissend", s. Biogr. 23, V c) mit Anm.9 (Nachweis des Zitats). 134
Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.19 § 1 (CJC, S.597).
135
JRA 1654 § 157 (LAUFS, JRA 1654, S.74).
Vis.A. 1713 § 46 (CJC, S.971); Amtseid: KGO 1555 Tl.l Tit.57 (LAUFS, KGO 1555, S.151); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.71 (CJC, S.657); auch schon KGO 1495 § 3 (RTA MR 5/1,1, S.388 f.; nach älterer Zählung Tit.l § 4: CJC, S.2); dazu vor allem KGO 1555 Tl.l Tit.13 § 2 (LAUFS, KGO 1555, S.93 f.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.14 §§ 8 u. 9, Tit.16 § 5, Tit.19 § 1, Tit.22 §§ 4 u. 5 (CJC, S.592, 594 f., 597, 601); JRA 1654 § 157 (LAUFS, JRA 1654, S.74); Vis.A. 1713 §§ 8, 66, 73, 84 (CJC, S.965, 976, 978, 980); Paraphrasierung der wichtigsten richterethischen Prinzipien bei MALBLANK, Anleitung, Tl.1, S.185 ff. 136 Zitat:
137 Verpflichtung auf den Karneralstilus: RA 1570 §§ 75 u. 76 (RTA Reichsvers. 15561662, RT 1570/2, S.1229 f.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.14 §§ 7-9, Tit.19 Einltg., Tit.22 § 4 (CJC, S.591 f., 597, 601); zu den sonstigen vom Kameralkollegium zu beachtenden Rechtsgrundlagen s.u. Anm.148.
154
II.2. Das Personal des Kammergerichts
gen ausgesetzt 138 • Dasselbe galt für das schon seit 1495 bestehende Verbot der Geschenkannahme, das im Visitationsabschied von 1713 aus gegebenem Anlaß und auf dem Hintergrund eines damals allgemein sehr weitherzigen Umgangs mit diesem Problem zum Gegenstand eines rigorosen Korruptionsparagraphen wurde 139 • Zum Komplex der Richterethik gehörten ferner alle Kameralgesetze, die der Rekusation (Ablehnung) eines Beisitzers wegen erwiesener oder besorgter Befangenheit vorzubeugen suchten. Sie gruppierten sich, modern ausgedrückt, um den Grundsatz, daß kein Assessor Richter in eigener Sache, in der seiner Verwandten und Verschwägerten, seines früheren Dienstherrn oder Klienten sein dürfe, was bei der Senatsbildung und Aktenverteilung zu berücksichtigen war 140 . Auch sollten Beisitzer, die "einige Affection zu einer Sachen ihrer 138
Verschwiegenheitspflicht: z.B. KGO 1555 Tl.l Tit.13 §§ 16 u. 17, Tit.57 (LAUFS, KGO 1555, S.97, 151); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.19 §§ 10-12, Tit.20 §2, Tit.71 (CJC, S.598, 657); Vis.A. 1713 §§ 69, 88, 89 (CJC, S.977, 981); Verbot allzugroßer Familiarität mit der Parteiseite: KGO 1555 Tl.l Tit.13 § 14 (LAUFS, KGO 1555, S.97); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.19 §§ 6 u. 7 (CJC, S.597 f.), Vis.A. 1713 § 44 (CJC, S.971); Vis.Schl. 11.7.1770, Or.: RKG IV A 6 fol.143, Druck: BALEMANN, Visitations-Schlüsse, S.74 f. 139 Vis.A. 1713 § 46 (CJC, S.971 f.); Verbot der Geschenkannahme schon im Amtseid der Kammerrichter (Präsidenten) und Assessoren: KGO 1495 § 3 (RTA MR 5/I,1, S.388); KGO 1555 Tl.l Tit.57 (LAUFS, KGO 1555, S.151); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.71 (CJC, S.657); vgl. auch die oben in Anm.132 erwähnten Korruptionsfalle der RKG-Assessoren Schütz, Nettelbladt, Papius, Ph.H. Reuss und F.J. Schmitz. Beispiele aus dem frühen 17. Jahrhundert für die Vermachung von "Gnaden- oder Ehrengeschenken" an RKG-Beisitzer in Form einer goldenen Kette oder eines wertvollen Trinkgeschirrs nennt B. RUTHMANN, Das richterliche Personal am Reichskammergericht und seine politischen Verbindungen um 1600, in: Sellert (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht, S.1-26, hier S.14 f. mit Anm.39. Zum gesamten Problemkomplex s. mit weiterfUhrenden Literaturhinweisen W. SELLERT, Richterbestechung am Reichskammergericht und am Reichshofrat, in: Hattenberg- Ranieri (Hgg.), Geschichte der Zentraljustiz, S.329-348, zum RKG bes. S.334-337; zum Problem der "Richterbestechung als Gegenstand der Berufsethik" in der Frühen Neuzeit unter Einbeziehung des RKG s. auch schon DöHRING, Rechtspflege, S.98-105; generell zum Korruptionsproblem: W. SCHULLER, Probleme historischer Korruptionsforschung, in: Der Staat 16, 1977, S.373-392; engerer, die an sich verbotene private Korruption einzelner Beamten nicht berücksichtigender Ansatz bei J. VAN KLAVEREN, Die historische Erscheinung der Korruption, in ihrem Zusammenhang mit der Staats- und Gesellschaftsstruktur betrachtet (Tl.l einer Aufsatzreihe), in: VSWG 44, 1957, S.289-324; DERS., Artikel Korruption, in: HRG 2, 1978, Sp.1163-1169; aus spezieller Perspektive (zum Verhältnis von Amt und Geschenk bei den Amtsträgern spätmittelalterlicher Städte): V. GROEBNER, Angebote, die man nicht ablehnen kann. Institution, Verwaltung und die Definition von Korruption am Ende des Mittelalters, in: R. Blänkner- B. Jussen (Hgg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998, S.163-184.
140 Die wichtigsten einschlägigen Verordnungen hierzu: KGO 1555 Tl.l Tit.13 §§ 13 u. 15 (LAUFS, KGO 1555, S.96 f.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l2 §§ 8 u. 15, Tit.19 §§ 5 u. 8 (CJC, S.589, 597 f.); Vis.A. 1713 §§ 44, 45, 61 (CJC, 971, 976); Vis.Schl. 16.1.1775, Vis.Schl. 13.1.1775, Druck: BALEMANN, Visitations-Schlüsse, S.75 f. Auch das erwähnte Verbot einer allzu engen und verdächtigen Familiarität mit Parteien, Parteivertretern und Sollizitanten diente der Vermeidung von Rekusationsgründen, s.o. Anm.138; zu den Rekusationsgründen, ihrer Vermeidung und den Formalien einer Rekusation s. auch MALBLANK, Anleitung, Tl.l,
II.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
155
Freund, Lands-Leuth oder anderer Verwandnuß halben" haben konnten, in der betreffenden Rechtssache nicht zu Referenten bestellt werden 141 . Der hier skizzierte Verhaltenskodex der RKG-Assessoren spiegelt die Norm. Er sagt wenig über das Bemühen um Einhaltung dieser Berufsethik, die dabei auftauchenden Schwierigkeiten oder über Verstöße aus 142 . Auch hier schafft allein die sozialgeschichtliche Analyse der Assessorengruppe die Voraussetzungen für weitere Forschungen auf dem Gebiet der Kameraljudikatur, wenn es zum Beispiel darum geht, persönliche Beziehungen zwischen Referenten und anderen Senatsmitgliedern einerseits, Parteien andererseits zu klären. Zu berücksichtigen ist auf jeden Fall, daß die Unabhängigkeit der kammergerichtliehen Rechtsprechung nicht nur von der Moral der Beisitzer abhing, sondern auch vom Willen der Parteien, diese richterliche Berufsethik zu respektieren. So sollten sich zwar die Assessoren nach der Vorschrift der Karneralgesetze an der Ausübung unparteiischer, gesetzmäßiger Justiz weder durch Furcht, Bedrohung noch Gewalt beirren lassen, auch nicht durch ein etwa von Kaiser oder Reichsständen einlaufendes "beschwerliches Schreiben in denen bey diesem Gericht Rechtshängigen Sachen" 143 - eine Warnung, die auch der RKG-Assessor Loskand um 1770 als "so vorsichtlich als weislich" bewertete. Angesichts des Drucks, dem die Kameraljudikatur in der Spätphase des Reiches vor allem seitens mächtigerer Fürsten ausgesetzt war, konstatierte Loskand jedoch auch: "besser aber würden die Partheien, von solchen Benehmungen abzustehen, durch die Ordnung S.187 f., 412 ff., 414 ff.; vgl. allgemein G. WESENER, Artikel Richterablehnung, in: HRG 4, 1990, Sp.1 040-1044. 141 Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l2 § 15 (CJC, S.589).- Interessant ist in diesem Zusammenhang der Fall des 1774 vom Obersächsischen Kreis präsentierten späteren RKG-Beisitzers Kar! Georg Riedesel Freiherrn zu Eisenbach (Biogr. 109). Riedesel hatte in seiner Proberelation eine Prozeßsache zu bearbeiten, in der darum gestritten wurde, ob ein bestimmter Hof dem Ortsherrn unterworfen und in dieser Eigenschaft zu den gemeinen Lasten verpflichtet oder aber reichsritterschaftlieh und daher lastenfrei sei. Riedesel, der selbst Mitglied der Reichsritterschaft war, hatte unter Übergehung von Gegenargumenten einseitig den letzteren Standpunkt vertreten und dabei "denen ordinibus equestribus dergleichen exorbitante rechten ex affectione" zugesprochen, daß 1775 der Zensor seiner Proberelation, der Assessor Loskand, scharf Riedesels "zu grosen Hang pro re equestri" kritisierte. Loskand malte in seiner Zensur aus, wie parteiisch Riedesel erst sein werde, wenn er nach seiner Rezeption als Assessor fest im Sattel sitze und tagtäglich Streitigkeiten, welche die Reichsritterschaft angingen, entscheiden solle; s. Loskands Zensur von Riedesels Probearbeit in: RKG VIII/72 fol.1-65 (Zitate ebd., fol.47v, 50r). 142 Zu den Schwierigkeiten gehörte zum Beispiel das gesetzlich nicht geklärte Problem, bis zu welchem Verwandtschaftsgrad Assessoren, die mit einer Partei verwandt oder verschwägert waren, in der betreffenden Rechtssache nicht Referenten oder Votanten sein durften; s. dazu unten Kap.IV.2.3.3. 143 Vis.A. 1713 § 8 (CJC, S.965); auch schon KGO 1555 Tl.l Tit.13 § 2 (LAUFS, KGO 1555, S.93 f.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.19 § 1 (CJC, S.597).
156
II.2. Das Personal des Kammergerichts
vermöget werden" 144 . In denselben Zusammenhang gehört auch der ganze Problemkomplex des "Repräsentationsgeistes" 145 oder die mehrfach geäußerte Erwartung der Reichsritterschaft, durch Rezeption von RKG-Beisitzem in das Rittercorpus den reichsritterschaftliehen Interessen in der Kameraljudikatur eine Lobby zu verschaffen 146 . Was die dienstlichen Funktionen der Beisitzer und die Organisation ihres Arbeitsumfelds betraf, enthielten die oben genannten größeren Gesetzeswerke und Einzelverordnungen in ihrer Gesamtheit genaue Detailvorschriften über die durch die Jahrhunderte hindurch stark variierende Zahl, Größe und Zusammensetzung der Senate, über die Austeilung der Akten an Referenten und Korreferenten und über sichere Aktenverwahrung 147 . Sie normierten den Aufbau der von den Assessoren anzufertigenden Re- und Korrelationen und regelten den Modus des Referierens und Korreferierens im Senat, des Umfragens durch den Senatsvorsitzenden und des Votierens durch die übrigen Senatsmitglieder bis hin zur Beschlußfassung, Formulierung und Aufzeichnung des Urteils. Die von den Assessoren zu beachtenden, sich im Laufe dreierJahrhundertenaturgemäß ständig erweiternden Grundlagen der Rechtsanwendung von der Kammergerichtsordnung und den Reichsabschieden bis hin zu territorialen Gewohnheiten sowie zum Stilus und zur Observanz des RKG selbst wurden immer wieder aufgezählt148. Hinsichtlich der öffentlichen Audienzen, in denen Urteile, Bescheide 144 SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.282.- Loskand war einer der Assessoren, die 1767 von der RKG-Visitation mit der Überarbeitung des Konzepts der KGO von 1613 beauftragt worden waren; s. Biogr. 4 (Loskand), VIII/IX. 145 Zum "Repräsentationsgeist", einer von den Präsentationshöfen an die von ihnen präsentierten Juristen herangetragenen und von diesen erfüllten Erwartung, die prozessualen und sonstigen Interessen des betreffenden Fürsten am RKG zu vertreten, s. vor allem Kap.II.3 .1.1. über Entstehung und Grundprinzipien des Präsentationssystems.
146 Diese Erwartungshaltung der Reichsritterschaft ist in den ausgewerteten Rezeptionsakten von RKG-Assessoren vielfach belegt; s. die Einzelnachweise aus StAD, F 1 (MRR) u. F 2 (ORR), in Abschnitt IIb der in Tl.II dieser Arbeit zusammengestellten Biographien; s. auch H. DUCHHARDT, Reichsritterschaft und Reichskammergericht, in: ZHF 5, 1978, S.315-337, hier S.325 ff.
147 Zu allen hier und im folgenden genannten Aspekten der Assessorentätigkeit s., zumeist mit Nachweis der einschlägigen Kameralgesetze, die oben in Anm.111 zitierten Werke von Tafinger, Malblank, Danz und Bostell, auch Moser und Wiggenhom.
148 Zentrale Bestimmungen über die vom Kameralkollegium zu befolgenden Gesetze, Gewohnheiten, Observanzen usw.: KGO 1495 § 3 (RTA MR 5/I,1, S.388), nach älterer Zählung Tit.l § 4 (CJC, S.2); KGO 1548 u. entsprechend KGO 1555 Tl.l Tit.l3 § 1, Tit.57 (Eid) (RTA JR 18/2, S.1261, 1316; LAUFS, KGO 1555, S.93, 151); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.19 Einltg. (dazu die Revisionsvorschläge der Assessoren Loskand und Harpprecht in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.275, 278 f., 280 f.), Tit.71 (Eid) (CJC, S.597, 657); ergänzend JRA 1654 § 105 (LAUFS, JRA 1654, S.53); Vis.A. 1713 §§ 1 u. 15 (CJC, S.964, 966). Diese Rechtsgrundlagen werden in der älteren Kameralliteratur zur Verfassung des RKG mehrfach systematisch abgehandelt, so von BosTELL, Grundsätze, Tl.l, S.79-95; DANZ, Grundsäze, S.124-147; weniger
II.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
157
und gerichtsinterne Verordnungen verkündet wurden, die Parteivertreter ihre Schriftsätze einbrachten und ihre formelhaften Parteivorträge hielten, schrieben die Karneralgesetze die- durch die Jahrhunderte hindurch übrigens immer mehr reduzierte - Zahl der Assessoren vor, die in der Audienz neben Kammerrichter oder Präsidenten turnusmäßig zur Präsenz verpflichtet waren. Die nur in Ausnahmefällen justiziellen und die sonstigen Verhandlungsgegenstände, die vor das Plenum des Kameralkollegiums - Kammerrichter, Präsidenten und sämtliche Assessoren - gehörten, waren genau definiert. Die mehrfach abgeänderten Vorschriften über Beginn, Dauer und Reihenfolge der Senats- und Plenarsitzungen, der Audienzen und anderen Geschäfte strukturierten den Dienstplan der Beisitzer. Immer wieder wurde zur strikten Einhaltung der Sitzungstermine ermahnt. Unbegründetes und unentschuldigtes Zuspätkommen oder Fehlen hatte einenin den Pfennigmeisterrechnungen verbuchten - Besoldungsabzug und eventuell noch einschneidendere Disziplinarmaßnahmen zur Folge. Dasselbe galt für das Überziehen des den Assessoren zustehenden sechswöchigen Urlaubs. Abstrahiert man von der Fülle der teils fortgeschriebenen, teils vielfach modifizierten Einzelbestimmungen, dann ergibt sich, daß sich die Arbeit der Assessoren seit der Aufteilung auf Senate zu Anfang des 16. Jahrhunderts bis hin zur Auflösung des Gerichts 1806 unverändert vor allem in vier Räumen - im konkreten und sozialen Sinne - abspielte: 1. in den vormittäglichen dreistündigen Senatssitzungen; 2. turnusmäßig in den nachmittäglichen Audienzen; 3. in den dazwischengeschobenen Plenarsitzungen des gesamten Kameralkollegiums und 4. im häuslichen Arbeitszimmer, dem "elaboratorio justitiae" des einzelnen Beisitzers, worin dieser in den sitzungs- und audienzfreien Stunden aus den ihm zugeteilten Akten seine Relationen ausarbeitete und zu dem außer den privaten Schreibern zu Ausbildungszwecken auch RKG-Praktikanten Zutritt hatten 149 . Zwei dieser Räume können im folgenden außer acht bleiben: die feierliche öffentliche Audienz, in der die jeweils präsenzpflichtigen Assessoren nur als passive Repräsentationsfiguren fungierten 150 , sowie das private Arbeitszimmer, in übersichtlich: MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, 8.607-625; s. auch die Zusammenstellung bei E.J.K. V. FAHNENBERG, Litteratur des Kaiserlichen Reichskammergerichts, Wetzlar 1792 (Neudr. Glashütten im Ts. 1972), 8.17-26. 149 RKG-Praktikanten, die mit Erlaubnis des betreffenden RKG-Beisitzers dessen privates Arbeitszimmer frequentieren wollten, mußten vorher einen Eid der Verschwiegenheit, "juramentum silentii", leisten. Dasselbe galt für die Schreiber der Assessoren; Protokolle solcher Eidesleistungen aus dem 18. Jahrhundert in: RKG Mise. 605 ("elaboratorium justitiae": ebd., fol.70v u.ö.).
Über die Audienz, ihre Geschichte, ihre Verfassung am Ende des 18. Jahrhunderts und die Funktion der Assessoren darin s. am ausführlichsten mit Quellennachweisen MALBLANK, Anleitung, Tl.l, 8.491 ff.; s. auch WIGGENHORN, Reichskammergerichtsprozeß, 8.99 ff. (z.Tl. fehlerhaft); DICK, Entwicklung, 8.83 ff.; DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskammerge150
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II.2. Das Personal des Kammergerichts
welchem jeder Assessor seine Arbeit- abgesehen von gesetzlichen Verordnungen zur sicheren Aktenaufbewahrung und Amtsverschwiegenheit- selbst organisierte. Dagegen sollen die beiden anderen Räume, Senat und Plenum, unter bestimmten Aspekten näher betrachtet werden. Herzstück der richterlichen Tätigkeit der Assessoren waren die Judizial- und Extrajudizialsenate, Kollegialgerichte im Kleinen 151 • An ihnen interessieren im Rahmen dieser Untersuchung die Kriterien, die bei der "Formierung", der Zusammensetzung und Abänderung der Senate, zu beachten waren. Danach sollten in einem Senat möglichst Fleißige und weniger Fleißige, dienstältere und erfahrene Assessoren mit den im Referieren und Votieren, in der KGO, den Zuständigkeitsregeln und im Kameralstilus noch unerfahrenen Neulingen im Assessorenamt zusammengesetzt werden. Nah miteinander verwandte Assessoren waren
richts, S.97 ff., 114 ff.; zur passiven Rolle der Assessoren in der Audienz kurz auch SMEND, Reichskammergericht, S.309. 151 In der Zeit zwischen der RKG-Visitation von 1713 und dem Reichsschluß von 1775 sollten die höchstens 13 bzw. 17 wirklich amtierenden Assessoren in vier Extrajudizialsenate eingeteilt werden, von denen je zwei einen Judizial- bzw. Definitivsenat bilden sollten. Verschiedene Mißstände führten aber in dieser Phase zu einer äußerst willkürlichen Formierung der Senate, die nicht, wie in den Karneralgesetzen gefordert, über längere Zeiträume hinweg stabil, sondern völlig zerrissen waren und bei fastjeder einzelnen Rechtssache neu zusammengesetzt werden mußten. Der erst 1782 realisierte Reichsschluß von 1775 versuchte, diese Mißstände durch eine umfassende, vor allem auf Stabilität und Ausschaltung von Willkür zielende Senatsreform zu beheben, deren Hauptmängel erst durch den Reichsschluß von 1788 beseitigt wurden. Seit dieser Senatsreform von 1775/82/88 waren die nunmehr 25 Beisitzer auf drei stabile Judizialsenate (zu je acht bis neun Assessoren) aufgeteilt, die in Sachen der Unmittelbaren in vier, in Sachen der Mittelbaren in sechs ebenfalls stabile Extrajudizialsenate auseinandertraten. Vor dieser Senatsreform entschied der Kammerrichter allein über die Zusammensetzung und Abänderung der Senate, was einer der Gründe fiir deren Instabilität vor 1775 war. Seit dem Reichsschluß von 1775 (§ 19) war er an die Mitwirkung der Präsidenten und einer religionsparitätischen Deputation aus acht Assessoren gebunden. - Die erwähnte Senatsreform und ihre unmittelbare Vorgeschichte hat eine umfangreiche, zum Teil sehr kontroverse zeitgenössische Kameralliteratur hervorgebracht; vgl. die einschlägigen Titel in: J. ST. PüTTER, Litteratur des Teutschen Staatsrechts, Tl.3, Göttingen 1783, S.427 f.; J. L. KLÜBER, Neue Litteratur des teutschen Staatsrechts. Als Fortsetzung und Ergänzung der Pütterischen, Erlangen 1791, S.347-353; FAHNENBERG, Litteratur, S.171-202 passim; guter Überblick über die Geschichte der Senate am RKG, über die Einzelheiten der Senatsreform von 1775-88 und über die Senatsverfassung seit 1788 auf der Basis von Spezialliteratur bei MALBLANK, Anleitung, T1.1, S.311 ff., bes. 327 ff., 342 ff.; neueste, sehr eingehende rechtshistorische Studie zu diesem Thema: SELLERT, Verfahrensbeschleunigung; Editionen der Reichsschlüsse von 1775 und 1788: SCHMAUSS, Corpus Juris Publici, S.1528-1539, 1554-1560; J. ST. PÜTTER, Neuester Reichsschluß über einige Verbesserungen des kaiserlichen und Reichs-Cammergerichts mit einer Vorrede zu näherer Erläuterung des cammergerichtlichen Präsentationswesens, Göttingen 1776; vgl. auch die ungedruckten Materialien zum Reichsschluß von 1775 und seiner Vollstreckung durch das Kameralkollegium in: RKG IV A 9 fol.166 ff., RKG IV A 10 fol.1 ff.; RKG Mise. 390-392; zu dieser Senatsreform s. jetzt auch HÄRTER, Rekurs, S.254 ff.
II.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
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auf verschiedene Senate aufzuteilen 152 • Hinsichtlich der konfessionellen Zusammensetzung schrieb der Westfälische Frieden zwar nur in bestimmten Fällen Ge nach Charakter der Streitsache und je nach Konfessionszugehörigkeit der Prozeßparteien) eine strikte Religionsparität des mit der betreffenden Sache befaßten Senats vor. Herkömmlicherweise wurde aber bei der Bildung der Judizial- und Extrajudizialsenate durchgängig in allen Fällen das Paritätsprinzip befolgt, auch in solchen, in denen die Konfessionsproblematik keinerlei Rolle spielte 153 • Entsprechend sollten bei der Bestellung von Re- und Korreferenten je ein katholischer und ein evangelischer, ein dienstälterer und ein neu hinzugekommener Assessor zu einer Prozeßsache verordnet werden 154 . Ferner waren bei der Aktenverteilung im Interesse einer Gleichbehandlung der Beisitzer deren Geschicklichkeit und Arbeitsbelastung sowie der Charakter der Prozeßsache selbst zu be-
152 Kriterien flir die Zusammensetzung der Senate: KGO 1555 Tl.l Tit.lO § 10 (LAUFS, KGO 1555, S.85 f.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.14 § 2, auch ebd. §§ 7 u. 8 (CJC, S.591 f.); Vis.A. 1713 § 34 (CJC, S.969); s. auch schon Vis.Mem. für den Kammerrichter 1560 Einltg.; Vis.Mem. flir Kammerrichter u. Beisitzer 1562 §§ 2 u. 5; Vis.Mem. flir den Kammerrichter 1562 § 5 (CJC, S.249, 261, 264); zur Dienstaltersstruktur in den Senaten vgl. auch PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.41 ff.- Über die Schwierigkeiten der Senatsbildung angesichts der sich im Laufe des 18. Jahrhunderts vermehrenden Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Assessoren s.u. Kap.IV.2.3.3. 153 IPO 1648 Art.V §54; dazu Vis.A. 1713 § 34 (CJC, S.969); Vis.Schl. 30.6.1775, Or.: RKG IV A 9 fol.46, Druck: BALEMANN, Visitations-Schlüsse, S.47 f.; s. auch JAHNS, Ringen, S.469. Wenn in den in IPO 1648 Art. V §54 definierten Fällen die geforderte absolute Religionsparität der Assessoren z.B. wegen Abwesenheit eines Senatsmitglieds nicht hergestellt werden konnte, trat "ficta paritas" ein, s. R.Schl. 1775 § 15, R.Schl. 1788 VI B (SCHMAUSS, Corpus Juris Publici, S.1533 u. 1559). Hierzu und zur herkömmlich in allen Fällen gewahrten Religionsparität s. MALBLANK, Anleitung, Tl. 1, S.358 ff.- Schon die KGO von 1555 hatte vorgesehen, daß die katholischen bzw. die (damals noch in der Minderheit befindlichen) protestantischen Assessoren möglichst "nicht zusamen in einen rhat" gesetzt, sondern auf alle Senate verteilt werden sollten, s. KGO 1555 Tl.l Tit.lO § 10 (LAUFS, KGO 1555, S.86). Um Majorisierungen in Religionssachen einen Riegel vorzuschieben, ordnete die RKG-Visitation von 1560 dann an, daß Senate, in denen aus dem Augsburger Religionsfrieden herrührende Streitsachen verhandelt würden, nach dem Prinzip der numerischen Religionsparität "so viel möglich jederzeit von beyderseits Religions-Verwandten in gleicher Anzahl[ ... ] besetzt und verordnet werden", s. Vis.Mem. flir den Kammerrichter 1560, Einltg. (CJC, S.249); s. auch Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.14 §§ 2 u. 8 (CJC, S.591 f.). Diese Regelung von 1560 sollte zukunftsweisend werden flir die Paritätsregeln des Westfälischen Friedens; dazu s. im größeren Kontext und mit weiteren Quellen- und Literaturhinweisen Kap.II.3.1.1. mit Anm.86-88; s. auch schon JAHNS, Ringen, S.418 f. 154 KGO 1555 Tl.l Tit.lO § 4 (LAUFS, KGO 1555, S.84); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.12 §§ 16 u. 17 (CJC, S.589); Vis.A. 1713 § 67 (CJC, S.977); MALBLANK, Anleitung, Tl. I, S.446. Die Bestellung eines Korreferenten war zum Beispiel in allen Definitivsachen (Sachen, in denen ein Endurteil zu fällen war) und sonstigen wichtigen Sachen erforderlich sowie immer dann, wenn der Referent ein Amtsneuling oder sonst im Referieren nicht sonderlich geübt war.
160
II.2. Das Personal des Kammergerichts
rücksichtigen 155 • Noch das Konzept einer revidierten Kammergerichtsordnung von 1613, das mit der opulenten Zahl von 38 wirklich besetzten Assessoraten operieren konnte, stellte zudem einen Zusammenhang zwischen der geographischen Herkunft der am RKG anhängig gemachten Prozesse und derjenigen der Re- und Korreferenten her: Danach hatte der Kammerrichter in Rechtssachen niederdeutscher und sächsischer Provenienz nach Möglichkeit einem Referenten oberdeutscher Herkunft einen aus Niederdeutschland stammenden Korreferenten oder umgekehrt einem niederdeutschen Referenten einen oberdeutschen Korreferenten zuzuordnen. Falls die Bestellung eines Korreferenten nicht erforderlich war, sollten Akten niederdeutscher bzw. oberdeutscher Provenienz möglichst jeweils "derselben Orten gebohmen" Referenten zugeteilt werden 156 • Diese Vorschriften korrespondierten im Bereich des Präsentationswesens mit der Forderung, daß die auf ein Assessorat präsentierten Juristen aus dem Gebiet des präsentationsberechtigten Standes oder Kreises oder zumindest aus einem benachbarten Gebiet stammen sollten 157 . All diese Regeln trugen der Tatsache Rechnung, daß das Reich in zwei große Sprachlandschaften, in Regionen mit andersartigem Verfahrensrecht 158 und unterschiedlichster Rechtsgeltung zerfiel- Tatbestände, die in der Judikatur des RKG kraft der herkunftsbedingten Kompetenz seiner Richter zu berücksichtigen waren. Von den aufgeführten normativen Vorgaben über die Senatsbildung sowie die Bestellung von Re- und Korreferenten, die über den engeren Kollegenkreis eines Assessors entschieden, läßt sich heute nur noch ein Teil objektivieren: Lebensund Dienstalter, Konfession, geographische Herkunft und Verwandtschaftsbeziehungen. Ob diese personenbezogenen Kriterien bei der Senatsbildung und -Veränderung immer beachtet wurden und damit die Qualität der Urteilstindung nach der Intention der Gesetzgeber positiv beeinflussen konnten, ist nur auf dem Weg über die biographischen Daten aller einem Senat angehörigen Assessoren 155 KGO 1555 Tl.l Tit.lO § 2 (LAUFS, KGO 1555, S.83); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l2 § 2 (CJC, S.588). 156
Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l2 § 17: "sonsten aber, wo keines Correferenten vonnöthen, daß die Niederländische Acta den Niederländischen und hinwiederum die Oberländische derselben Orten gebohrnen Persohnen, so viel sich nach Gelegenheit der Sachen thun lassen will, ad referendum gegeben werden" (CJC, S.589); s. auch schon Vis.Mem. für KammerrichterAmtsverweser und Beisitzer 1557 § 4; Vis.Mem. für Kammerrichter und Beisitzer 1559 § 2 (CJC, S.215, 240). Vgl. hierzu auch DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskammergerichts, S.l 09. 157
Dazu s. mit Quellenbelegen Kap.III.l. über die geographische Herkunft der Präsentierten; s. auch SMEND, Reichskammergericht, S.283. 158 Über den Sächsischen Prozeß, dem sich erst der "jüngere" Kameralprozeß seit der Reform des Kameralprozesses im JRA 1654 annäherte, s. W. SELLERT, Artikel Prozeß, sächsischer, in: HRG 4, 1990, Sp.36-39.
II.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
161
zu ermitteln 159 • Die sozialgeschichtliche Erforschung des kammergerichtliehen Urteilergremiums, wie sie in dieser Arbeit für das 18. Jahrhundert geleistet wird, ermöglicht es also auch, einen Teil der vielen noch offenen Fragen im Bereich der Kameraljudikatur zu beantworten, und zwar einmal nicht aus der Perspektive der Prozeßparteien oder der Prozeßmaterien, sondern ansetzend bei den rechtfindenden Assessoren. Die vorliegende Untersuchung wird noch einige Aufschlüsse darüber geben, welche Schwierigkeiten sich der Befolgung der gesetzlichen Richtlinien fiir die Zusammensetzung der Senate im 18. Jahrhundert schon alleinangesichtsder geringen Assessorenzahlen entgegenstellten, vor allem als nach der großen Senatsreform der Reichsschlüsse von 1775 und 1788 das Prinzip stabiler Senate wieder strikt befolgt werden mußte 160 • Das Plenum, der zweite der hier etwas näher zu betrachtenden Arbeits-Räume der Assessoren, war im 17. und 18. Jahrhundert der einzige Ort im regulären Gerichtsbetrieb des RKG, an dem noch das gesamte, Kaiser und Reich "in corpore" repräsentierende Kameralkollegium, bestehend aus dem Kammerrichter, den Präsidenten und allen Beisitzern, aus dienstlichen Gründen zusammentrat und so konkret sichtbar wurde 161 . Seit der Aufgliederung in Senate zu Beginn des 16. Jahrhunderts übten die Beisitzer ihr Richteramt nur noch selten im Rahmen des Plenums aus. Im Gegensatz zum RHR, der zeit seiner Existenz nur im Plenum agierte und Senate nicht kannte, gelangten am RKG Justizsachen nur in gesetzlich genau definierten Ausnahmefällen, vor allem bei fortdauernder rein numerischer oder konfessioneller Parität der Voten, über Senatsadjunktionen an den "vollen Rat" 162 • Aber auch außerhalb seiner nur fallweisen Funktion als großes, 159 Vgl. die Listen der Senatsmitglieder in den Judizial- und Extrajudizialsenatsprotokollen in: RKG I (1711-1806) u. II (1681-1687, 1711-1806). 160 Schon MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.446, konstatierte 1791 zu Recht, daß bei der Aktenausteilung die geographische Herkunft von Prozessen, Re- und Korreferenten nur so weit berücksichtigt werden konnte, als dies die damalige Senatsverfassung mit stabilen, d.h. nicht von Fall zu Fall neu zusammengesetzten Senaten zuließ. Umgekehrt wurde die Formierung stabiler Senate angesichts der immer zahlreicher werdenden Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Assessoren gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr erschwert; s. dazu Kap.IV.2.3.3. 161 Über das Kameralkollegium als Repräsentanten von Kaiser und Reich "in corpore" s. BüSTELL, Grundsätze, Tl.l, S.75; s. auch JRA 1654 § 165 (LAUFS, JRA 1654, S.77); Vis.A. 1713 § 22 (CJC, S.967).- Laut einer Verordnung des RA 1570 §59 war in den öffentlichen Audienzen schon seit 1570 aus Gründen der Arbeitszeitersparnis selbst während der Urteilsverkündungen nie mehr das gesamte Kameralkollegium anwesend (CJC, S.306; RTA Reichsvers. 1556-1662, RT 1570/2, S.1225 f.); s. entsprechend s. Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.26 § 1 (CJC, S.608). 162 Justizsachen nur in Ausnahmefällen ans Plenum: KGO 1555 Tl.l Tit.lO § 21, Tit.13 § 10 (LAUFS, KGO 1555, S.88, 95 f.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.15 Einltg. u. ff., Tit.25 §§ 3 u. 4 (CJC, S.592 f., 607); auch Vis.A. 1713 § 36 (CJC, S.970); über die verschiedenen Formen
162
II.2. Das Personal des Kammergerichts
aus allen Senaten zusammengesetztes Kollegialgericht war die Zuständigkeit des Plenums immer noch in einer Weise umfassend, wie es für moderne Gerichte undenkbar wäre. In Anlehnung an Malblank lassen sich die im Plenum zu verhandelnden Materien in vier Kategorien einteilen 163 : 1. Bei der ersten Kategorie handelt es sich um Angelegenheiten, die das Justizwesen im eigentlichen Sinne betrafen. Dazu gehörten außer den Rechtsstreitigkeiten, die, wie erwähnt, das Plenum nur in Ausnahmefällen beschäftigten, auch bestimmte Fragen der Senatsbildung oder -Veränderung, die Entscheidung über Gesuche zur Rekusation eines Beisitzers (Richterablehnung) oder die Verlesung der in den Senaten gefällten Urteile, die anschließend in der öffentlichen Audienz publiziert werden sollten. 2. In die zweite Kategorie fällt die noch von der Billigung oder Abänderung durch Kaiser und Reich abhängige provisorische Gesetzgebung des Kameralkollegiums, die sich etwa in Form von Gemeinen Bescheiden zum Verfahrensrecht und sonstigen, die Gerichtsorganisation betreffenden Pienarbeschlüssen und -dekreten niederschlug. 3. Die dritte Kategorie betrifft die gesamten Außenbeziehungen des Gerichts zu Kaiser und Reich sowie - vor allem in Kriegszeiten - zu auswärtigen Mächten. Die Themen, um die es in diesen Außenbeziehungen ging, waren so vielfältig wie der Kreis der Korrespondenz- und Verhandlungspartner. Abgesehen von den noch zu erwähnenden Präsentationsangelegenheiten und der personellen Besetzung des Kameralkollegiums reichten sie von der hohen Politik in ihren Auswirkungen auf das RKG bis hin zu existentiellen Fragen des Unterhalts, der Sicherheit oder der Verlegung an einen anderen Ort, von der Judikatur und Verfassung des Gerichts bis hin zu dem zumeist reibungsvollen Verhältnis zur Wirtsstadt. Wegen der komplizierten Rechtsstellung des RKG im Verfassungsgefüge des Reiches, einer Position, in der sich partielle Selbständigkeit mit vielfältiger Abhängigkeit verband, hatten sich die Beisitzer unter der Direktion des Kammerrichtersoder eines Präsidenten im Plenum mit einer viel größeren Bandbreivon Parität und sonstige Hindernisse, die in einem Senat die Beschlußfassung blockieren konnten, über Senatsadjunktionen und über die Behandlung von Justizsachen im Plenum s. ausfUhrlieh und systematisch MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.456 ff., 459 ff., 464 ff. 163 Die wichtigsten der im Plenum zu behandelnden nichtjustiziellen Materien werden aufgezählt in: Vis.Mem. für Kammerrichter und Beisitzer 1577 § 7 (CJC, S.345); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l5 § 5 (CJC, S.592 f.); s. auch ebd. die weiteren Paragraphen dieses Titels; Vis.A.l713 § 21 (CJC, S.967); systematische Zusammenstellung aller im Plenum des Kameralkollegiums zu behandelnden Materien bei MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.293 ff.; s. auch BOSTELL, Grundsätze, Tl.l, S.36 ff.; DANZ, Grundsäze, S.210 ff. Im übrigen bieten die verschiedenen Serien der im "Untrennbaren Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs befindlichen Plenarprotokolle den besten Einblick in Materien und Beratungsmodus innerhalb des Plenums.
II.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
163
te 'außenpolitischer' Themen zu befassen als der ausschließlich an die Person des Kaisers gebundene RHR, der zudem an eine größere politische und Verwaltungsbehörde, die Reichshofkanzlei, angelehnt war. 4. In die vierte Kategorie der im Plenum zu behandelnden Themen gehört schließlich die innere Verfassung, d.h. der ganze Bereich der Selbstverwaltung sowie die Annahme von Kameralpersonen. In diesen Sektor fielen zum Beispiel die Ausübung der Disziplinar- und Strafgewalt über Gerichtsangehörige wegen Dienstvergehen und sonstiger Delikte, die Prüfung und Bewilligung von Urlaubsgesuchen sowie die "zu dem Domestiko und Oekonomiewesen" des RKG gehörigen Sachen164 . Dieser letztere Teil der Selbstverwaltung war weitgehend mehreren ständigen Deputationen von zwei bis sechs Assessoren übertragen. Überhaupt konnte der Kammerrichter zur Entlastung des Plenums aus dem Kreis der Beisitzer entweder ordentliche, auf längere Dauer bestellte oder fallweise auch außerordentliche Deputationen ernennen. Sie mußten stets konfessionell paritätisch besetzt sein 165 . Mehrere dieser Deputationen verlangten von den abgeordneten Assessoren abgesehen von zusätzlichem Zeit- und Arbeitsaufwand eine ganz berufsfremde Sachkompetenz, so vor allem die für das Unterhaltswesen wichtige Kassendeputation, die den Einzug der Kammerzider und deren Verwaltung sowie die Rechnungsführung des Pfennigmeisters zu beaufsichtigen hatte 166 . Aufgabe des Plenums war es schließlich nach dem Willen des Gesetzgebers, "neue Beysitzer, Advocaten, Proeuratom oder andere Gerichts-Persohnen anzunehmen"167. Die Modalitäten dieses Annahmeverfahrens variierten je nach Kameralamt, ob es sich nun um die Introduktion eines Kammerrichters oder die Bestellung von Kameralärzten, um die Wiederbesetzung einer vakanten Stelle innerhalb des Kameralkollegiums, bei den Parteivertretem, in der RKG-Kanzlei 164 MALBLANK, Anleitung, Tl.l, 8.298; vgl. BOSTELL, Grundsätze, Tl.l, 8.42: "Domesticum camerale".
165 Zur Bestellung von Deputationen s. z.B. Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l5 § 7 ff. (CJC,
S.593); Vis.A. 1713 §§ 32 u. 33 (CJC, S.969); systematisch über die einzelnen ordentlichen und außerordentlichen Deputationen mit Nachweis von Verordnungen: BosTELL, Grundsätze, Tl.l, S.43 ff.; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.303 ff. Unter sozialgeschichtlichem Aspekt sind vor allem die Protokolle der Tutdardeputation interessant, die sich mit Vormundschafts-, Nachlaß- und Testamentssachen der Kameralpersonen befaßte. In der Spätphase des RKG fungierte einer der Justizsenate als Deputation in diesen Angelegenheiten; Tutelar-Protokolle von 1679-1806 befinden sich in der Protokollserie RKG VI 1-12.
166 Zwei als Kameralschriftsteller berühmt gewordene Kassendeputierte waren im 18. Jahrhundert die Assessoren Georg Melchior v. Ludolf (Biogr. 38) und Johann Heinrich Frh. v. Harpprecht (Biogr. 89). Aus ihrer langjährigen Deputiertentätigkeit gingen ihre Werke über das Unterhaltungswesen des RKG hervor.
167 Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l5 § 5 (CJC, S.592); basierend auf Vis.Mem. für Kammerrichter und Beisitzer 1577 § 7 (CJC, 8.345).
164
II.2. Das Personal des Kammergerichts
oder eines Postens außerhalb dieser drei Großgruppen handelte. Von solchen Differenzierungen abgesehen, wurden im Plenum alle an das Kameralkollegium gerichteten Schreiben verlesen, in denen der Kaiser einen neuen Kammerrichter, Präsidenten, Fiskalprokurator, Fiskaladvokaten oder Pfennigmeister ernannte, ferner Schreiben, in denen Kaiser, Kurfürsten oder Reichskreise auf ein Assessorat präsentierten, der Kurfürst von Mainz als Reichserzkanzler eine der höheren Kanzleichargen wiederbesetzte oder Juristen direkt beim Kameralkollegium um Zulassung zur Advokatur bzw. Prokuratur supplizierten. Auch mußten im Plenum alle anderen im Zusammenhang eines Wiederbesetzungsverfahrens an das Kameralkollegium gerichteten Schreiben verlesen und beraten, Antworten des Kameralkollegiums entworfen und beschlossen werden. Das Plenum entschied über die Zulassung zum Generalexamen, das der Kandidat vor zwei besonders dazu deputierten Assessoren abzulegen hatte, bevor es im Plenum verlesen wurde. Im positiven Fall beschloß das Plenum dann entweder sofort nach dieser Erkundung der persönlichen Verhältnisse über die Zulassung zur Vereidigung ("Aufschwörung") oder, falls das Amt eine Fachprüfung erforderlich machte, nämlich bei den Assessoren, Advokaten und dem Pfennigmeister, zunächst über die Zulassung zum schriftlichen und mündlichen Spezialexamen. Die Zensur der von den Aspiranten auf ein Assessorat oder auf eine Advokatur angefertigten Probearbeiten wurde nach vorheriger Prüfung durch einen zum Referenten bestellten Beisitzer wiederum im Plenum vorgenommen, welches anschließend über Rezeption oder Disqualifikation, über Zulassung zur Aufschwörung oder Nichtzulassung abstimmte. Neue Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren legten ihren Amtseid im Plenum ab. Advokaten und Prokuratoren, Fiskaladvokaten und Fiskalprokuratoren schworen in der öffentlichen Audienz auf. Die Verpflichtung des Kanzleipersonals und der übrigen Amtsträger, auch derjenigen unteren Chargen, die kein Generalexamen abzulegen brauchten, nahm zumeist eine kleinere Deputation aus Mitgliedern des Kameralkollegiums in oder außerhalb der Kanzlei vor. Insgesamt waren die Beisitzer also auf vielfältige Weise mit der Annahme von Kameralpersonen befaßt, vor allem als Votanten im Plenum, aber auch als Deputierte bei der Ablegung von Generalexamina oder bei der Abnahme von Eidesleistungen, ferner - ganz besonders zeitaufwendig-als Referenten bei der Zensur schriftlicher Probearbeiten sowie als Prüfer im mündlichen Spezialexamen von Anwärtern auf ein Assessorat oder eine Advokatur. Die Mitglieder des kaiserlichen RHR waren auch im Bereich solcher Personalangelegenheiten, die ihnen weitgehend die Reichshofkanzlei unter der Leitung des Reichsvizekanzlers abnahm, viel stärker entlastet als ihre Richterkollegen am RKG 168 • Deren Zeit wurde in den Plenarsessionen freilich 168
L. GRass, Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806, Wien 1933; GSCHLIESSER, Reichshofrat, 8.66-68, 86-88.
II.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
165
am stärksten beansprucht, wenn die Wiederbesetzung von Assessoraten auf der Tagesordnung stand. Dies hing generell mit der Kompliziertheit des Präsentationswesens zusammen, galt aber besonders fiir die Wetzlarer Zeit, als die ganze Präsentationsmaterie aus verschiedenen Gründen immer mehr Komplikationen aufwarf. Davon wird in den folgenden Kapiteln die Rede sein. Da die Plenarsessionen über nichtjustizielle Angelegenheiten zu Lasten der eigentlichen Aufgabe der Beisitzer, ihrer richterlichen Tätigkeit in den Senaten oder im häuslichen Arbeitszimmer, gingen, wurde reichsgesetzlich immer wieder angeordnet, diese Sitzungen nach Häufigkeit, Dauer und Beratungsgegenständen auf das Nötigste zu beschränken. Angesichts der Fülle der dem Plenum gesetzlich zugewiesenen Aufgaben war dies schon schwierig genug. Außerdem taten Kaiser und Reichsstände nach 1648 und besonders im 18. Jahrhundert das Ihre dazu, die Plenarsessionen aufzublähen. Zu nennen sind hier vor allem der chronische Unterhaltsmangel, die damit verbundene Unterbesetzung des Kameralkollegiums sowie die aus diesem doppelten Defizit resultierenden Irregularitäten im Präsentationssystem, ferner präsentationsrechtlich strittige oder aus anderen Gründen problematische Präsentationsfälle. Auch die Stagnation der ordentlichen jährlichen RKG-Visitationen sowie die daraus resultierende Notlage des Kameralkollegiums, angesichts einer reformbedürftigen Kammergerichtsordnung und weitgehender legislatorischer Passivität des Reiches mit Gesetzeslücken operieren oder unklare Gesetze auslegen zu müssen, verursachten in der Wetzlarer Zeit immer wieder langwierige Plenardebatten. Auch wenn in den Plenarsitzungen des Kameralkollegiums keine Rechtssachen erörtert wurden, verhielten sich die Beisitzer dort dennoch ganz wie in den Senaten und legten den professionellen Habitus eines Kollegialrichters selbst bei der Beratung justizfremder Materien nicht ab. Ihre im Plenum vorgetragenen Relationen und Voten zu Fragen der inneren und äußeren Verfassung des Gerichts, also auch zu Präsentationsangelegenheiten, waren ebenso aufgebaut und gingen methodisch ebenso vor wie ihre Referate und Voten in Justizsachen. Stimmabgabe und Beschlußfassung richteten sich nach denselben Regeln wie in den Senaten. Die Plenarsitzungen wurden mit der Proposition des Kammerrichters oder seines Stellvertreters über die anstehenden Tagesordnungspunkte eröffnet. Bei komplizierten Materien folgte dann- genau wie bei den Justizsachen - zunächst der Vortrag eines eigens vom Kammerrichter bestellten Referenten, eventuell auch eines Korreferenten. Anschließend hatten die Präsidenten und Beisitzer in der festgelegten Reihenfolge nacheinander ihre Voten abzugeben, notfalls in mehrfacher Umfrage, bis entweder "per majora" oder "per unanimia" das Plenarconclusum ("Conclusum Pleni") gefaßt wurde 169 . Der Kam169 Die
Votierordnung im Plenum wich von der Rangordnung im Kameralkollegium etwas ab; Einzelheiten dazu s. in Kap.II.3.l.l. mit Anm.62; zur Votierordnung s. außer den Plenar-
166
II.2. Das Personal des Kammergerichts
merrichter oder sein Amtsverweser sollte den Beisitzern im Plenum ein "freyes Votum ohne die geringste Einrede" und ohne Beeinflussung ermöglichen 170 • Die Beisitzer ihrerseits waren dazu angehalten, in ihren Voten knapp und präzise zu formulieren, "sonderlich auch in Praesentations-Sachen ohnbedingt und nicht zweydeutig ohne alle Neben-Absicht der Ordnung und ihren Pflichten nach die Stimm von sich zu geben" 171 • Da der Kammerrichter auf Anordnung des Visitationsabschieds von 1713 die in einer Plenarsitzung zu erörternden Themen vorher ankündigen lassen mußte, hatten die Präsidenten und Assessoren Gelegenheit, ihre Voten vorher schriftlich vorzubereiten und nach der Verlesung im Plenum zu Protokoll zu geben, wovon gerade in strittigen Präsentationsangelegenheiten häufig Gebrauch gemacht wurde 172 . Die Plenarsitzungen mußten durch den anwesenden Protonotarius Pleni genauestens protokolliert werden, und zwar Votum für Votum, ohne nachträgliche Eliminierungen oder Glättungen. Zusammenfassungen oder sogar nur ein Beschlußprotokoll unter Voranstellung der Formel "habito discursu" waren dem Protokollanten strikt verboten 173 • Tatsächlich sind die im 18. Jahrhundert angefertigten Plenarprotokolle in "Materia praesentationis", "Materia ordinaria", "Materia visitationis" und über andere Plenarmaterien mehr noch als die fiir die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts erhaltenen Plenarprotokolle Kunstwerke des Protokollierens. Zusammen mit den beigelegten schriftlichen Relationen und Voten der Assessoren erlaubten sie es schon der letzten großen, von 1767 bis 1776 tagenden RKG-Visitation, die internen Plenarvorgänge der vergangenen Jahrzehnte nachzuvollziehen und genauen Einblick in Mißstände und Fehlverhalten zu gewinnen 174 • Der modernen Forschung bieten diese Protokolle, nimmt man den für die Lektüre zu erbringenden hohen Zeitaufwand in Kauf, eine hervorragende Orientierung über Sach- und Personalprobleme, deren historische Dimension und zeitgenössische Problemlösungen. Darüber hinaus werden in den Protokollen nicht selten die Profile der Votanten, ihre politisch-sozialen Bindungen und Voreinstellungen greifbar, was besonders im sensiblen Bereich der Personalpolitik erhellend ist. Erst auf dem Weg über die Pleprotokollenselbst auch BosTELL, Grundsätze, Tl.l, S.36, mit anschließendem Schaubild "Das Plenum"; MALBLANK, Anleitung, Tl.l., S.294 f.; DANZ, Grundsäze, S.216. 170
Vis.A.l713 § 20 (CJC, S.967).
171
Vis.A. 1713 § 19 ( ebd. ).
172 Vis.A.
1713 § 18 (ebd.).
173
Genaue, ungeschönte Protokollfiihrung: Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.15 § 18 (CJC, S.594); Vis.A. 1713 §§ 27 u. 28 (CJC, S.968 f.); Vis.Schl. 30.1.1775 ("Von der Formul habito discursu"), Druck: BALEMANN, Visitations-Schlüsse, S.70 f. 174 Die Visitationsschlüsse bzw. -dekrete der Jahre 1767-1776lassen erkennen, daß die Visitationskommission die Plenarprotokolle genau durchforstet hatte; s. BALEMANN, VisitationsSchlüsse, passim.
II.2.2.4. Die Assessoren: Dienstrecht, Richterethik und Funktionen
167
narprotokolle, über die Relationen und Voten der einzelnen Assessoren läßt sich die komplizierte Präsentationsmaterie in all ihren Verwicklungen und Untertönen wirklich erschließen.
11.3. Die Besetzung der Assessorate 1. Das Präsentationssystem: Geschichte und Funktion im politischen System des Alten Reiches
Im Kameralkollegium des RKG besaß das Alte Reich drei Jahrhunderte lang in fast bruchloser Kontinuität eine adäquate Form der Selbstdarstellung, schuf es sich bis zu seinem Untergang immer aufs Neue ein Abbild seiner politisch-sozialen Strukturen. Dieses hohe Richtergremium, auf den ersten Blick nur eine Handvoll spezialisierter Juristen, wird bei richtiger Perspektivenwahl zum Spiegel der Reichsverfassung und ihrer Kraftfelder. Die in diesen Sätzen scheinbar enthaltene Übertreibung wird zur schlichten Selbstverständlichkeit, denkt man sich als Transformator zwischen Reich und Gericht das Präsentationswesen hinzu, jenen Mechanismus, über den die RKGAssessorate besetzt wurden. Dabei handelte es sich in seiner voll entwickelten Form um ein kompliziertesVorschlagsverfahren, an dem im Rahmen eines ausgeklügelten Proporzsystems der Kaiser, sämtliche Kurfiirsten und fast alle Reichskreise - und im Rahmen der Kreispräsentationen wiederum die meisten Fürsten sowie zahlreiche kleinere Reichsstände - beteiligt waren. In der Endphase des Reiches verfUgten Kaiser, Kurfiirsten und Reichskreise über zusammen 27 Präsentationsberechtigungen. Mit den Juristen, diekraftdieser einzelnen Präsentationsrechte dem Kameralkollegium vorgeschlagen, eben 'präsentiert', und von ihm nach vorgängiger Prüfung zum Assessor angenommen und einberufen wurden, konnten zuletzt, seit 1775/82, 25 Assessorate gleichzeitig besetzt werden. Das gesamte kammergerichtliche Präsentationswesen in seiner historischen Entwicklung, einzelne Präsentationsberechtigungen- vor allem die häufig sehr konfliktträchtigen Kreispräsentationen- sowie eine Reihe von Spezialfragen waren seit Mitte des 16. Jahrhunderts immer wieder Gegenstand der Darstellung, am intensivsten im 18. Jahrhundert. Damals widmeten sich dem Präsentationswesen des RKG nicht mehr nur Kameralschriftsteller, Verfasser von Dissertationen oder zumeist im Auftrag interessierter Reichsstände zur Durchsetzung oder Zurückweisung von Präsentationsansprüchen schreibende Räte. Auch bekannte Publizisten wie Maser und Pütter nahmen sich in Monographien sowie in umfassenderen Abhandlungen über das gesamte Reichsstaatsrecht oder über die reichsgerichtliche Verfassung dieses Themas an "und gaben durch diese Schriften der Lehre des Reichs-Kammergerichtlichen Präsentations-Wesens einen sehr vollständigen Grad der wissenschaftlichen Cultur" 1• Schon diese große 1 KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.lO; s. auch den literaturgeschichtlichen Überblick ebd., S.7 ff., 12 ff., sowie die von Kamptz zu den einzelnen Kapiteln zitierte Literatur.
II.3.1.1. Entstehung und Interpretation eines Prinzips: 1495-1555
169
publizistische Aufinerksamkeit weist darauf hin, daß das Präsentationssystem vor allem in der Spätzeit des Reiches nicht nur als ein bloßes technisches Hilfsmittel zur Besetzung der RKG-Assessorate, sondern als ein komplexes verfassungsrechtliches und politisches Phänomen begriffen wurde, welches aufs engste mit der gesamten Reichsverfassung verbunden, ja ein integraler Bestandteil dieses Reichssystems war. Schon den zeitgenössischen Kennern der Reichs- und speziell der Kameralverfassung erschien das Präsentationswesen wegen seiner Relevanz und Kompliziertheit im Sinne einer "Lehre" Vermittlungs- und erläuterungsbedürftig2. Um so mehr gelten die Worte des Göttinger Professors und Reichspublizisten Johann Stephan Pütter von 1776 noch heute, fast zwei Jahrhunderte nach der Auflösung des Alten Reiches: "Wenn aber eine Materie noch theoretische [!] Erläuterungen bedarf, so ist es gewiß das cammergerichtliche Präsentationswesen.... Hoffentlich wird es also nicht ganz übel angebracht seyn, wenn es mir gelingen sollte, diese an sich etwas verwickelte Materie hier in ein helleres Licht zu setzen" 3 • Für eine moderne Untersuchung, die eine kombiniert verfassungs- und sozialgeschichtliche Analyse des Kameralkollegiums zum Hauptgegenstand hat, wird Pütters selbstgestellte Aufgabe zur unabdingbaren Notwendigkeit. 1. Entstehung und Interpretation eines Prinzips: 1495-1555 Die Entstehung des Präsentationswesens fällt - ebenso wie die Reorganisation des ganzen RKG - in die Zeit der sogenannten Reichsreform und ist dementsprechend mit der sich damals verfestigenden dualistischen Struktur des Reichsverbands aufs engste verknüpft. Dabei gilt für die Ausbildung des Präsentationssystems dasselbe wie für den gesamten damaligen Veränderungsprozeß: Es handelte sich um eine langfristige Entwicklung, in deren V erlauf die anfangs durchaus noch weichen Formen stufenweise feste Gestalt annahmen und deren verfassungsrechtliche Relevanz erst im nachhinein, vom Ergebnis her, voll in den Blick rückt. Die KGO von 1507, die erstmals eine Präsentationsordnung enthält, wird meist an den Beginn dieses Prozesses gestellt. Die Wurzeln des Präsentationswesens reichen jedoch, wie schon einige Kameralschriftsteller erkannten und 2 Von
der "Lehre" des kammergerichtliehen Präsentationswesens, die er in seiner Monographie "in allen ihren Zweigen, Schicksalen und Modificationen" darstellen wolle, spricht wiederholt KAMPTZ, Präsentations-Recht, besonders in seiner Vorrede S.V f. (Zitat ebd., S.VI) sowie in seiner Einleitung S.l ff. 3 J. ST. PÜTTER, Neuester Reichsschluß über einige Verbesserungen des kaiserlichen und Reichs-Cammergerichts mit einer Vorrede zu näherer Erläuterung des cammergerichtlichen Präsentationswesens, Göttingen 1776, Vorrede (extra paginiert), S.4.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Smend 1911 eingehend nachwies, über diese erste normative Fixierung hinweg bis in das Jahr 1495, Vorstufen eingerechnet, sogar noch weiter zurück4 . Auf dem Wormser Reichstag von 1495 gehörte die Besetzung des neuzuerrichtenden Kammergerichts zu den strittigen Fragen. Der kurfürstliche Entwurf der KGO sah vor, daß von den zwölf Urteilern sechs von den Kurfürsten, "von ydem 1", verordnet werden sollten, die sechs anderen Urteiler von den Fürsten und Herren. Die Kurfürsten beanspruchten also damals, ihren Entwurf einer KGO von 1486 wieder aufgreifend, für sich ein separates Präsentationsrecht Nach dem fürstlichen Entwurf hätten dagegen der König und die Reichsversammlung die zwölfUrteiler "ytzo hie kysen sollen aus dem Reich" 5 • Die Differenz ermöglichte es dem König, formal seinen eigenen, stark das monarchische Element betonenden Standpunkt durchzusetzen. Nach der endgültigen Fassung der KGO von 1495 § 1 sollten für das Gericht 16 Urteilerbestellt werden, "die alle wir mit rate und willen der samblung itzund hie kiesen werden aus dem Rei4 SMEND, Reichskammergericht, S.18, 24; vgl. HARPPRECHT, Staats-Archiv, Tl.2, S.187 § 262; BALEMANN, Beiträge, S.96 ff.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.l8 f. Kamptz gibt ebd., S.19 Anm. *), im Anschluß an Tafinger einen Hinweis auf eine besonders frühe Vorstufe des späteren kammerrichtlichen Präsentationssystems aus dem Jahre 1467: In einem "Gutachten der Chur- und Fürsten in puncto des Türcken-Zugs und Land-Friedens" von 1467 wird in§ 7 empfohlen, ein in Nürnberg zu errichtendes ständiges "Keyserlich Gericht" mit 24 Urteilern zu besetzten, "die von allen teutschen Landen dorzu gegeben werden, also daß dieselben teutschen Land in sechs Teil getheilt und jeder Theil 1111 derzu orden sollt" (zit. nach NVSRA Tl.l, S.217). Einen interessanten Einblick in die Vorgeschichte des Präsentationssystems ermöglicht HEINIG, Kaiser Friedrich III., Tl.l, S.109 f.; ebs. DERS., Gelehrte Juristen, S.181 f. (danach im folgenden zit.). Gestützt aufpersonengeschichtliche Forschungen zur Zusammensetzung des königlichen Kammergerichts unter Friedrich III. in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts kann Heinig zeigen, daß nach den Zeiten der Pacht-Kammerrichter, "die die Beisitzerstellen überwiegend mit eigenen Gefolgsleuten besetzt hatten, ... diese Stellen nun wieder dem z.T. vom Kaiser aus integrativen und legitimatorischen Gründen geförderten Besetzungsinteresse reichsfürstlicher politischer Partner" wie z.B. Kurmainz, Kurköln, Kurtrier, Hessen und Tirol unterlagen. "Zur Zeit Friedrichs III. gab es daftir noch keinen normierten VerteilungsschlüsseL Aber die dem Kaiser politisch nahestehenden Kurfürsten und Fürsten sind zur längerfristigen Abordnung von gelehrten Beisitzern aufgefordert sowie gerade am Hof weilende Fürstengesandte hinzugezogen worden". Dieses in der Spätzeit Friedrichs III. praktizierte Modell der "Abordnung" bzw. "Entsendung" gelehrter (kur-)fürstlicher Juristen in das kgl. Kammergericht (den von Heinig benutzten Terminus "Präsentation" sollte man auf dieses informelle, keine dauerhaften ständischen Ansprüche begründende Verfahren noch nicht anwenden) hatte bereits eine "recht weite Streuung der Herkunft der Beisitzer" zur Folge - eine Intention, die dann auch dem ftir das RKG entwickelten Präsentationssystem zugrunde lag.- Für Einzelheiten des im folgenden erwähnten, 1495 in Worms beratenen und schließlich praktizierten Rekrutierungsmodus wird auf die Darstellung von SMEND, Reichskammergericht, S.18 ff., bes. S.24 ff., verwiesen. 5 Der kurfürstliche (1.) und der ftirstliche (III.) Entwurfvon 1495 sind neben der endgültigen Fassung der KGO (IV.) abgedruckt in: RTA MR 5/I, 1, nr.342, S.383 ff. (Zitate aus dem jeweiligen Artikel 1 ebd., S.384); dazu Einleitung des Herausgebers ebd., S.379; SMEND, Reichskammergericht, S.18 ff., 24 f.
II.3.1.1. Entstehung und Interpretation eines Prinzips: 1495-1555
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ehe T.N." 6 • Das Anfang August 1495 in Worms wirklich praktizierte Vorschlags- und Auswahlverfahren räumte der Beteiligung der Stände jedoch einen viel größeren Raum ein, als es die zitierte Formulierung in der KGO vermuten läßt. Dieses V erfahren stellte einen Kompromiß zwischen den kurfürstlichen, fürstlichen und königlichen Vorstellungen dar und kam im Ergebnis der ersten reichsgesetzlich fixierten Präsentationsordnung von 1507 schon sehr nahe. Aus verschiedenen kleineren Listen einzelner Stände wurde auf dem Reichstag zunächst eine größere Vorschlagsliste mit insgesamt 189 teils nach ständischen, teils nach geographischen Kriterien gruppierten Namen zusammengestellt. Auf Grund dieser größeren Liste traf die Reichsversammlung bzw. ein Ausschuß dann die endgültige Auswahl, deren Ergebnis an einer kürzeren Namensliste abzulesen ist. In ihr waren die insgesamt 16 Assessorate je zur Hälfte auf Adlige und auf Doktoren aufgeteilt. Von den ausgewählten Adligen entstammten zwei dem Grafen- und Herrenstand-Wurzelder späteren Präsidenten. Von den übrigen 14 Urteilerstellen lassen sich, wie aus den dafür ausgewählten Persönlichkeiten zu erschließen ist, sechs den sechs Kurftirsten, zwei den königlichen Erblanden und sechs einer Reihe regionaler Gruppierungen, in denen zum Teil schon die Kreiseinteilung von 1500 präfiguriert war, zuordnen7 • 6 KGO
1495 § 1, in: RTA MR 5/I, 1, S.384 (IV.). Vgl. die vorausgegangene königliche Stellungnahme vom 22.6.1495 zu den kurfürstlichen und fürstlichen Entwürfen, Druck: ebd., nr.348, S.435 f., hier S.435 § Ia: "Item das der Röm. Kg. mit rat ainen camerrichter und 12 urtailer ... zum furderlichisten setz und orden". Die spätere Wiederbesetzung eines vakanten Assessorais sollte nach der endgültigen Fassung der KGO 1495 § 2 ebenfalls vom König "mit rate und willen" der jährlich tagenden Reichsversammlung vorgenommen werden, s. ebd., S.387; dazu S.436 § 1b; vgl. dagegen ebd., S.387, die anderslautenden Pläne zur Ersetzung abgegangener Beisitzer in den Entwürfen der Kurfürsten und der Fürsten; dazu SMEND, Reichskammergericht, S.18 ff., 24 f.; s. auch SEYBOTH, Kaiser, König, Stände, S.19 f. 7 Druck
der größeren, 189 Namen umfassenden Vorschlagsliste: SMEND, Reichskammergericht, Beil. 5, S.388-396; RTA MR 5/I, 1, nr.351, S.438-443; Druck der endgültigen Auswahlliste: SMEND, Reichskammergericht, Beil. 6, S.396 f.;RTA MR 5/I, 1, nr.353, S.444 f.; gerraue inhaltliche Analyse beider Listen bei SMEND, Reichskammergericht, S.25 ff., kurz auch S.265 f -Daß diese engere Auswahlliste- ebenso wie das sich seit 1507/21 ausbildende Präsentationssystem - nicht von sieben, sondern nur von sechs Kurfürsten ausging und Kurböhmen nicht berücksichtigte, ist "im Zusammenhang mit der bis ins 14. Jahrhundert zurückreichenden Entfremdung dieser Krone vom sich verdichtenden Reichsverband" zu sehen. Es wurde seit dem Spätmittelalter "allmählich zur Observanz", daß sich Böhmen an den inneren Angelegenheiten des Reiches nicht beteiligte; dazu s. im einzelnen A. GüTTHARD, Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband, Tlbd. 1: Der Kurverein. Kurfürstentage und Reichspolitik, Husum 1999, S.172 ff., S.467 ff. (Zitate S.172 u. 467); vgl. neuerdings auch A. BEGERT, Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Studien zur Kurwürde und zur staatsrechtlichen Stellung Böhmens, Husum 2003. Begert untersucht unter anderem die "Folgen des böhmischen Desinteressesam Reich und der Reichspolitik unter den Jagiellonen" in der Frühen Neuzeit (bis zur Readmission der böhmischen Kur 1708), speziell auch die seit Ferdinand I. verfolgte Politik der Habsburger, "Böhmen von einer Einbindung in das Reich und seine Institutionen, nicht zuletzt von den Steuerzahlungen freizuhalten" (Zitate ebd., S.579 u. 583). Im Abschnitt über "Reichsge-
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II.3. Die Besetzung der Assesserate
Die Wormser Rekrutierungspraxis entfernte sich also weit von dem bisherigen Zustand, wonach im Einklang mit der spätmittelalterlichen Reichs- und Gerichtsverfassung zur Besetzung des königlichen Kammergerichts ausschließlich der König zuständig gewesen war. Andererseits war 1495 von separaten Präsentationsberechtigungen, wie sie schon 1486 und 1495 die Kurfürsten für sich forderten und wie sie dann ab 1507 wirklich verteilt wurden, noch keine Rede. Deutlich ist allerdings auch schon in dem 1495 praktizierten Besetzungsmodus das ihrer Präeminenz in der Reichsverfassung entsprechende Übergewicht der Kurfürsten - ein Charakteristikum, das dem ganzen Präsentationssystem über alle späteren Veränderungen hinweg erhalten blieb. Laut Smend soll sowohl in Projekten vor 1495 als auch auf dem Wormser Reichstag selbst "der maßgebende Gesichtspunkt für die Beteiligung der Stände an der Besetzung des Kammergerichts in erster Linie der des sachlichen Bedürfnisses der Gewinnung geeigneter Persönlichkeiten als Beisitzer gewesen" sein. Dagegen sieht Smend weder für 1495 noch für die folgenden Jahre einen Anhaltspunkt dafür, daß das damals praktizierte und allmählich in Normen gegossene Besetzungsverfahren zusätzlich auch verfassungspolitisch "im Sinne eines auf Kosten der königlichen Machtvollkommenheit geforderten Zugeständnisses an die Stände" zu verstehen sei 8• Aber auch wenn das Motiv der Bedarfsdeckung 1495 und in den folgenden Jahren im Vordergrund stand und das Präsentieren angesichts des knappen Juristenangebots noch lange mehr eine Pflichtübung als die Wahrnehmung eines Rechts war: Es ist schwer denkbar, daß das verfassungspolitische Motiv einer Schmälerung königlicher Rechte und ständischer Teilhabe am Reich sowie an der obersten Gerichtsbarkeit gerade im exponierten Bereich der Richterbestellung nicht auch schon in der Phase der Neugründung des RKG eine Rolle gespielt haben sollte. Für diese Vermutung spricht zum einen der gesamte Kontext der Reichsreformzeit, zum andereren deutet auch die recht dürftige Quellenlage in diese Richtung9 • richtsbarkeit" (8.254-259) verweist Begert jedoch nur auf das Fehlen Böhmens in der Karnmergerichtsmatrikel von 1507 und schildert den Ende des 15./Anfang des 16. Jahrhunderts ausgefochtenen Kampf des damals noch jagiellonischen Königtums gegen Eingriffe des neu errichteten RKG in die hergebrachte böhmische Gerichtsautonomie - mit dem Ergebnis einer dauerhaften Behauptung der völligen Exemtion Böhmens von der Reichsgerichtsbarkeit Die Nichtbeteiligung Kurböhmens an der erstmaligen Besetzung des Karneralkollegiums 1495 sowie an dem sich bald darauf ausformenden kammergerichtliehen Präsentationssystem wird dagegen von Begert nicht erwähnt. 8 SMEND, Reichskarnmergericht, S.39. Diese Interpretationslinie durchzieht Smends Darstellung an mehreren Stellen, s. ebd., S.34 u. passim bis S.40, 42-47, 279-282, 289 f. 9 Wenn der König die ständische Beteiligung im Interesse der Bedarfsdeckung in den Jahren vor 1495 und auf dem Wormser Reformreichstag selbst begrüßte und auch in der Folgezeit, wie Smend hervorhebt, immer wieder forderte, dann ist es nicht recht begreiflich, warum sich der König 1495 noch dagegen sperrte, diese Beteiligung- sei es in der praktizierten, sei
II.3.1.1. Entstehung und Interpretation eines Prinzips: 1495-1555
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Die Frage nach den 1495 bei der Besetzungsthematik mitspielenden Intentionen und Motiven kann vermutlich niemals erschöpfend beantwortet werden, schon deshalb nicht, weil es 1495 noch viel zu sehr im Interesse der Beteiligten selbst, vor allem des Königs, lag, umstrittene Fragen möglichst in der Schwebe zu halten und frühzeitige Festlegungen zu vermeiden. Fest steht aber, daß schon der 1495 praktizierte Vorschlags- und Auswahlmodus mit seiner komplexen Mischung königlicher und ständischer Anteile den sich damals verfestigenden Verfassungsstrukturell eines dualistisch gegliederten, auch vom Ungleichgewicht seiner Teile geprägten Reiches entsprach. Gemessen an dem vorherigen Besetzungsmonopol des Königs stellte bereits diese Vorform des späteren Präsentationssystems auf jeden Fall ein verfassungspolitisches Novum dar, an dem zukünftige weitergehende Rechtsansprüche im Sinne ständischer Prärogativen anknüpfen konnten. Bei der Wiederbesetzung vakant gewordener Assessorate muß in den folgenden Jahren ähnlich verfahren worden sein wie 1495 10 . Die für die endgültige Ausgestaltung des Präsentationssystems letztlich entscheidenden Entwicklungsschübe fielen in die Jahre 1507 und 1521. Nach einer Phase wiederholter Gerichtsstillstände und zum Teil erfolgreicher königlicher Versuche, das RKG in den verfassungsrechtlich brisanten Fragen des Gerichtsorts, der Besetzung und der Finanzierung im monarchischen Sinne zu restaurieren, erfolgte 1507 auf dem KonstanzerReichstag eine Konsolidierung des Gerichts in einer Form, die es in der damals von den Kurfürsten geforderten Form- schon in der ersten KGO zu verankern. SMEND, Reichskammergericht, S.33, vermutet äußerliche Gründe wie Zeitmangel. Aber möglicherweise überwogen 1495 einfach noch die königlichen Befürchtungen, durch normative Festlegungen zuviel wegzugeben.- Daß aus der Perspektive der Kurfiirsten die ständische Beteiligung schon 1495 auch als Anspruch verstanden wurde, zeigt folgender Quellenvergleich: Wie bereits oben erwähnt, hatten die Kurfürsten in Worms (wie schon 1486) in ihrem Entwurf einer KGO fiir sich ein individuelles Präsentationsrecht verlangt. Der Gegenentwurf Kg. Maximilians vom 22.6.1495 sah dagegen Erstbesetzung der Beisitzerstellen durch den König mit Rat der Stände vor (s.o. mit Anm.5 u. 6). Eine hiergegen Ende Juni/ Anfang Juli 1495 verfaßte Einrede, vermutlich der kurbrandenburgischen Räte, verwarf diese monarchische Konzeption, denn sie gebe den Kurfürsten keinen Vorteil: "dieweil die urtailer mitsambt demrichtervom Reich sollen versehn werden. Wereden Kff. unleidlich, das die irn auch nicht darbey wem". Auch der königliche Plan, vakant gewordene Assessorate später ebenfalls vom König mit Rat der Stände wiederzubesetzen, wurde in dieser Einrede abgelehnt, "der ursach, die Kff. wurden dann der nominacion iglich einen zu setzen mit derzeit ganz entsetzt"; Druck dieser aus dem kurfürstlichen Lager stammenden Einrede: RTA MR 5/1, 1, nr.349, S.437.- Zu den verschiedenen Funktionen des vollentwickelten Präsentationssystems s. nochmals weiter unten in diesem Abschnitt. 10 Einen reichsgesetzlichen Niederschlag fand die Besetzungsfrage erst wieder in der KGO von 1500. Sie stellt einen weiteren Schritt in der Ausformung des kammergerichtliehen Präsentationswesens dar, indem sie bereits deutliche Spuren des 1507 und 1521 fixierten Präsentationsrechts der Kurfiirsten und Kreise enthält; Zitat der einschlägigen Passage aus der Einleitung der KGO 1500 s.u. Anm.34.
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11.3. Die Besetzung der Assessorate
man als Anerkennung und Festschreibung der 1495 geschaffenen, aber zunächst durchaus noch labilen gemischten Verfassung des RKG begreifen muß 11 • Vor allem enthielt die KGO von 1507 erstmals eine reichsgesetzlich fixierte Präsentationsordnung und in dieser wiederum erstmalig eine teilweise Individualisierung der Präsentationsrechte. Von den damals 16 Beisitzerstellen wurden sechs den Kurfürsten, zwei den königlichen Erblanden Österreich und Burgund und acht den 1500 für die Besetzung des ersten Reichsregiments geschaffenen sechs Kreisen zugeteilt. Nur die Kurfürsten und im wesentlichen auch der König wegen seiner Erblande erlangten aber 1507 schon ein separates Präsentationsrecht. Die restlichen acht Urteiler, unter denen auch die beiden "assessores generosi" aus dem Grafen- und Herrenstand inbegriffen waren, wurden 1507 noch von der ganzen Reichsversammlung gewählt, sechs davon- die eigentlichen Kreispräsentationen - auf Vorschlag der Kreise 12 • Als nächsten Entwicklungs11 Vgl. auch SMEND, Reichskammergericht, S.lOO f.; zur allgemeinen Geschichte des Gerichts 1495 bis 1507 s. ebd., S.67 ff.- In der folgenden Darstellung werden für die Zeit von 1507 bis vor 1648 nur die Hauptentwicklungslinien verfolgt und die prinzipiellen Strukturmerkmale des bis zum Westfälischen Frieden geltenden Präsentationsschemas aufgezeigt. Für Details der in manchen Punkten noch nicht völlig geklärten Entwicklung ab 1507 wird hier generell auf die älteren Kameralschriftsteller und Publizisten verwiesen, auf die sich auch SMEND, Reichskammergericht, S.99 ff., 266 ff., stützt. Wichtigste, im 18. Jahrhundert verfaßte Darstellungen: J. Frh. v. ULMENSTEIN, Tractatus juris publici de jure praesentandi assessorem in Camera Imperiali, 2. Aufl. Wetzlar 1765, bes. S.16 ff. (die 1. Aufl. erschien 1728 in Rinteln unter dem Titel: Diss. de jure praesentandi usw.); HARPPRECHT, Staats-Archiv, Tl.2 (bes. S.l85 ff. zu 1507)- T1.6 (zu 1544-1558); TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.309 ff.; PÜITER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.5 ff.; BALEMANN, Beiträge (nicht chronologisch), bes. S.32 f., 40 ff., 96 ff.; MALBLANK, Anleitung, T1.1, S.86 ff.; DANZ, Grundsäze, S.167 ff.; letzte, 1802 erschienene und zugleich ausführlichste Monographie über das Präsentationswesen, welche die gesamte ältere Literatur und die wichtigsten gedruckten Quellen, jedoch kein ungedrucktes Material verarbeitet: KAMPTZ, Präsentations-Recht, bes. S.17 ff. (allg. Geschichte ab 1495), 25 ff. (ab 1507), 101 ff. (Geschichte der einzelnen Präsentationen der Kurfürsten, des Kaisers und der Kreise). Die beiden Werke von J.J. MüSER, Beytrag zu einem Tractat von denen Praesentationen zu denen Assessorat-Stellen bey dem Kayserlichen und Reichs-Cammer-Gericht, in: ders., Vermischte Schrifften über mancherley das Teutsche StaatsRecht betreffende Materien, Frankfurt- Leipzig 1733, S.1 ff., sowie DERS., Justiz-Verfassung, Tl.2 (vgl. S.396), übergehen die ältere Zeit vor 1648 fast völlig. DOTZAUER, Die deutschen Reichskreise (1383-1806), stützt sich in seinem Überblick über das kammergerichtliche Präsentationswesen (Kap.IV.2., S.456 ff.: Die Präsentationen der Reichskreise und das Reichskammergericht) vor allem auf KAMPTZ, Präsentations-Recht. Dotzauers Darstellung enthält leider wiederholt fehlerhafte bzw. schiefe Aussagen. 12 KGO 1507 Tit.l §§ 1 u. 2, dazu Tit.21 u. 22 (CJC, S.21, 26 f.); als Teil des RA Konstanz 1507: ebd. §§ 15 u. 16 (NVSRA T1.2, S.l13 f.), dazu Anhang zu diesem RA (gekürzt ebd., S.118 f. ). - Auf die Analogie dieses Besetzungsmodus zur Besetzung des ersten Reichsregiments wiesen schon die älteren Autoren hin, so PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.lO f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.26 ff.; ergänzend und korrigierend SMEND, Reichskammergericht, S.18, 24, 31, 265 f., 279 f.- Über die Parallelität zwischen der als Muster dienenden, im kanonischen Recht gegründeten Art der Präsentation zu geistlichen Pfründen und der Präsentation auf RKG-Assessorate s. PüTTER, Historische Entwickelung, Tl.l, 3. Aufl. 1798, S.311; DERS., Anleitung zum Teutschen Staatsrechte, T1.2, Bd.1, Bayreuth 1792,
II.3.1.1. Entstehung und Interpretation eines Prinzips: 1495-1555
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schritt brachte dann die KGO von 1521 eine konsequente Individualisierung nunmehr sämtlicher Präsentationsrechte, das heißt auch die sechs schon 1500 geschaffenen 'alten' Kreise präsentierten nunmehr direkt, ohne Zwischenschaltung des bis dahin noch als Wahlgremium fungierenden Reichstags. Die Zahl der Beisitzer wurde 1521 von 16 aufinsgesamt 18 erhöht, fiir die zwei zusätzlichen Stellen erhielt der Kaiser als Reichsoberhaupt das Präsentationsrecht 13 • Die Vermehrung der Assessorate um zwei hing mit der damals sich vollziehenden funktionalen Aussonderung der beiden Assessoren vom Grafen- und Herrenstand, der späteren Präsidenten, zusammen, die 1521 ebenso wie der Kammerrichter vom Kaiser im Zusammenwirken mit der Reichsversammlung ernannt wurden. Außer diesen beiden Stellen fiir die "assessores generosi" verteilten sich die übrigen 16 Assessorate 1521 folgendermaßen: 6 Kurfiirsten 14
je 1 = 6
Erzhzgt. Österreich u. Hzgt. Burgund
je 1 = 2
Kaiser als Reichsoberhaupt 6 Kreise (von 1500)
2 je 1 = 6
S.96 Anrn.l zu S.95; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.4.- Zur Entwicklung der Reichskreise und ihrer Funktionen s. DOTZAUER, Reichskreise in der Verfassung, S.8 ff.; DERS., Die deutschen Reichskreise (1383-1806), S.33 ff.; P.C. HARTMANN, Der Bayerische Reichskreis (1500-1803). Strukturen, Geschichte und Bedeutung im Rahmen der Kreisverfassung und der allgemeinen institutionellen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches, Berlin 1997, S.36 ff.; fragmentarische und z.Tl. fehlerhafte Skizze des Präsentationsrechts der Kreise bei SELLERT, Reichskreise, S.165-168. KGO 1521 Art.1, 4 u. 5 (RTA JR 2, S.270 ff.; nach älterer Zählung Tit.l u. 4: CJC, S.44f.; NVSRA Tl.2, S.180 f.); dazu RA 1521 Art.7-9 (RTA JR 2, S.732; nach älterer Zählung§§ 7-10: CJC, S.56; NVSRA Tl.2, S.205).- Die 6 'alten' Kreise von 1500 blieben auch nach der Erweiterung der Kreiseinteilung auf 10 Kreise, die 1512 im Zusammenhang mit der Reichsexekutionsordnung und Kriegsverfassung vorgenommen worden war, bis 1648 maßgeblich für das Präsentationsschema; über die Gründe s. vor allem PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.l0-12; auch MALBLANK, Anleitung, Tl.1, S.91; DANZ, Grundsäze, S.168 f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.36 f.; SMEND, Reichskarnrnergericht, S.267; kurz DOTZAUER, Die deutschen Reicheskreise (1383-1806), S.458.- Die nachträgliche Schaffung der kaiserlichen Präsentationen im Jahre 1521 ist wohl die Erklärung für die Merkwürdigkeit, daß die kaiserlichen Assessoren im Rang nach den- auf einem 'älteren' Präsentationsrecht von 1507 fußenden- kurfürstlichen Assessoren folgten, während sich der Kaiser die an das Haus Habsburg gebundenen erbländischen Präsentationen leicht im Rang nachsetzen konnte; dazu vor allem PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.9 f.; auch BALEMANN, Beiträge, S.86; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.73, S.133 ff., bes. S.137; zur Rangordnung der Assessoren s. im übrigen die folgenden Ausfuhrungen. 13
14 Kurmainz, Kurtrier, Kurköln, Kurpfalz, Kursachsen, Kurbrandenburg; über das Fehlen Kurböhmens s.o. Anrn.7. Kurböhmen übte sein Präsentationsrecht erst seit 1719 als Folge seiner Readmission in das Kurkolleg (1708) aus; s. unten Kap.II.3.1.4.1. sowie die Biogr. 18 des 1719 präsentierten kurböhmischen Assessors Speckmann.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Die sechs präsentationsberechtigten Kreise wurden erst sehr viel später namentlich benannt als: 1. Fränkischer, 2. Bayerischer, 3. Schwäbischer, 4. Oberrheinischer, 5. Niederrheinisch-Westfälischer, 6. Sächsischer Kreis 15 . Bald nach 1521 lösten sich die beiden Assessoren aus dem Grafen- und Herrenstand im Zuge ihrer Umwandlung zu reinen Direktorialpersonen endgültig aus dem Präsentationssystem heraus. Ihre weiterhin als 'Präsentation' bezeichnete Ernennung fiel hinfort ausschließlich dem Kaiser zu, dessen Besetzungsmonopol 1548/55 reichsgesetzlich bestätigt wurde 16 . Von dieser Aussonderung abgesehen blieb der Kreis derer, die zur Präsentation auf die Beisitzerstellen berechtigt waren, seit 1521 bis zu der großen Umstrukturierung des Präsentationsschemas 1648/54 konstant. Daran änderte auch die in der Folgezeit vorgenommene sukzessive Erhöhung der Assessorenzahl nichts. Denn es kamen keine neuen Präsentanten hinzu, sondern die zusätzlichen Assessorate wurden auf die 1521 definierten Präsentationsberechtigten verteilt 17 • Auch die Tatsache, daß die Österreichischen und burgundischen Erblande 1570 erstmals- und endgültig seit 1654 - auch im Rahmen des Präsentationswesens als Kreise bezeichnet wurden, stellte keine wirkliche Veränderung dar: Die Präsentationsberechtigungen wegen des Österreichischen und des Burgundischen Kreises waren weiterhin wie schon seit 1507 ausschließlich an die Person des Erzherzogs von Österreich und des Herzogs von Burgund geknüpft, nicht an eine ganze Gruppe von Kreisständen. Sie entsprachen daher auch nach dieser Umbenennung eigentlich dem kurfürstlichen Präsentationsrecht, nicht den 'echten', korporativen Kreispräsentationen18. 15 Noch in KGO 1555 Tl.l Tit.2 und in Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.2 werden die sechs Kreise von 1500 unter Aufführung der jeweils an der Präsentation partizipierenden Kreisstände nur durchnumeriert; s. auch die in einigen Aussagen allerdings recht parteiische Abhandlung des baden-durlachischen Hofrats J. J. REINHARD, Erläuterung des Rechts der Reichs-Crayße, einen Beysitzer des kayserlichen und des Reichs Cammergerichts zu präsentiren, überhaupt; besonders aber des Schwäbischen Crayßes, in: ders., Juristisch- und historische kleine Ausführungen, Tl.l, Gießen 1745, S.129-206, hier S.133 mit Anm.c); auch KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.29 mit Anm.5, S.37, 141. 16 Dazu s.o. Kap.II.2.2.2. über die Präsidenten (mit Anm. 72).
17 Über die weitere, in mehreren Schritten erfolgte Vermehrung der ordentlichen Assessorate seit 1530, über die seit demselben Jahr zur Erledigung der aufgelaufenen alten Prozeßsachen mehrfach befristet eingestellten außerordentlichen Assessoren, der Extraordinarien, und deren Zahl, ferner über die Verteilung dieser zusätzlichen ordentlichen und außerordentlichen- zuletzt seit 1570 insgesamt 38- Assessorate auf den bis 1648 feststehenden Kreis der Präsentanten s. mit Angabe der einschlägigen Gesetze vor allem BALEMANN, Beiträge, S.9 f., 61-65; KAMPTZ, Präsentations-Recht, 42 ff. bis 69 f.; SMEND, Reichskammergericht, S.267269; s. auch die weitere Darstellung.
18 Erstmalige Bezeichnung auch der Erblande Österreich und Burgund als präsentierende "Kreise": RA 1570 §54, mit §§52 f. (CJC, S.306; NVSRA Tl.3, S.295; RTA Reichsvers.
11.3.1.1. Entstehungund Interpretationeines Prinzips: 1495-1555
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In der 1521 reichsgesetzlich festgestellten Präsentationsordnung waren als Abschluß eines längeren Entwicklungsprozesses erstmals sämtliche prinzipiellen Strukturmerkmale vereinigt, die dem kammergerichtliehen Präsentationssystem bis zum Westfalischen Frieden und auch noch nach der umfassenden Neuordnung von 1648 Stabilität verliehen. Zu erkennen sind folgende langlebige Konstanten: 1. Die erste Konstante ergab sich aus der Individualisierung des Präsentationsrechts, das heißt: die Präsentationsberechtigten übten ihr Recht direkt und separat aus, ohne Zwischenschaltung eines aus Vorschlägen auswählenden Reichstags. 2. Die zweite Konstante bestand in der dauernden Festlegung auf einige wenige Haupttypen von Präsentationsberechtigten: a) den Kaiser als Reichsoberhaupt, b) die Kurfürsten sowie analog dazu den Erzherzog von Österreich und den Herzog von Burgund, c) die Reichskreise. Diese Festlegung bedeutete unter anderem, daß trotz wiederbalter Bemühungen die Freien und Reichsstädte, die erheblich zu den Kammerzielern beitrugen, kein korporatives Präsentationsrecht erlangten 19 • Dasselbe gilt vom Ergebnis her, wenn auch aus ganz anderen Grün1556-1662, RT 1570/2, S.1224); dazu KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.62-64. Ebenso wie in RA 1570 §§52 u. 53 ist auch in Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l § 2 u. § 6 (CJC, S.577 f.) noch einmal von den Österreichischen und niederburgundischen Erblanden bzw. von Österreich und Burgund in Abhebung von den sechs 1500 geschaffenen präsentationsberechtigten Kreisen die Rede. Seit dem in JRA 1654 § 169 (LAUFS, JRA 1654, S.81) verankerten katholischen Präsentationsschema werden die beiden Gebiete dann endgültig auch im Rahmen des kammergerichtliehen Präsentationswesens immer nur als Österreichischer und Burgundischer Kreis aufgeführt. - Über den den kurfürstlichen Präsentationen analogen Charakter der Österreichischen und Burgundischen Kreis-Präsentation s. vor allem PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.l3; BALEMANN, Beiträge, S.97-99; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.l53161; z.Tl. ungenau: DOTZAUER, Die deutschen Reichskreise (1383-1806), S.471; s. jetzt auch die knappen Hinweise zur Österreichischen Kreis-Präsentation im späten 16. und im 17. Jahrhundert bei A. K. MALL Y, Der Österreichische Reichskreis. Seine Bedeutung für die habsburgischen Erbländer, ftir Brixen, Trient und die anderen »Kreismitstände«, in: W. Wüst (Hg.), Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise, Stuttgart 2000, S.313-331, hier S.319. - Seit der Aufteilung des burgundisch-niederländischen Territorialkomplexes an die spanische Linie der Habsburger 1555 wurde die Präsentation wegen der burgundischen Erblande bzw. des Burgundischen Kreises vom König von Spanien ausgeübt, seit dem Spanischen Erbfolgekrieg und dem Übergang der spanischen Niederlande an Österreich war der Kaiser als nunmehriger Herzog von Burgund präsentationsberechtigt; über Einzelheiten s. die noch erhaltenen Präsentationsakten des Burgundischen Kreises in: RKG IV B 1/17 sowie die Biogr. 57 des 1741 zum Burgund. Kreis-Assessor präsentierten, jedoch nicht rezipierten Franz Valerius v. Hauer. 19 Über die seit 1495 und bis in die vierziger Jahre des 16. Jahrhunderts hinein wiederholten, aber immer vergeblichen Bemühungen des Reichsstädtecorpus um ein direktes Präsentationsrecht s. außer SMEND, Reichskammergericht, S.11 0 f., 278, neuerdings eingehend G. SCHMIDT, Der Städtetag in der Reichsverfassung. Eine Untersuchung zur korporativen Politik der Freien und Reichsstädte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1984,
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
den, für die sich seit Mitte des 16. Jahrhunderts formierende, aus dem Kreis der Reichs- und Kreisstände ausscheidende unmittelbare Reichsritterschaft20 . 3. Im Zusammenhang mit dieser zweiten Kategorisierung steht als dritte Konstante die 1507 und nochmals 1521 reichsgesetzlich fixierte Zuweisung von "virilen" und "Curiat-Präsentations-Rechten" sowie die dadurch hergestellte UnS.289-319. Schmidt bettet diese Bemühungen überzeugend in den damaligen reichsstädtischen Kampf um Stand, Stimme und Session auf dem Reichstag ein und weist ebenso wie schon SMEND, Reichskammergericht, S.278, auf den Kontrast hin, daß die Reichsstädte einerseits zwei Vertreter in das erste und zweite Reichsregiment entsenden durften, während ihnen andererseits in bezug auf das RKG ein direktes korporatives Präsentationsrecht verweigert wurde. Über die Beteiligung der Reichsstädte an der Aufbringung der Kammerzider bis 1542 s. detailliert SCHMIDT, ebd., S.412 ff.; über die Repräsentanz der Reichsstädte im zweiten Reichsregiment (insgesamt acht Reichsstädte, aufgeteilt in zwei Vierergruppen, sollten auf dem Wege der Rotation pro Quartal paarweise zwei Vertreter entsenden) s. ROLL, Das zweite Reichsregiment, S.52 ff. u. passim, S.564. - Die Reichsstädte partizipierten schließlich nur innerhalb einiger Kreise an den Präsentationen auf RKG-Assessorate, mußten aber auch hier ebenso wie andere mindermächtige Kreisstände um Tatsache und Art ihrer Beteiligung seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts lange Zeit schwer ringen, nicht zuletzt, weil die frühen Präsentationsschemata in den Kammergerichtsordnungen von 1507 und 1521 - und daran angelehnt auch die KGO von 1555 sowie das Konz. KGO von 1613- nur ftir den ersten (Fränkischen) Kreis die Beteiligung der dortigen Reichsstädte reichsgesetzlich ausdrücklich festgestellt hatten; s. den Überblick über die sehr unterschiedlichen Verhältnisse in den betreffenden einzelnen Kreisen bei KAMPTZ, Präsentations-Recht, S .161 ff.; danach DOTZA UER, Die deutschen Reichskreise (1383-1806), S.469 ff.; ftir die Zeit nach dem Westfiliisehen Frieden s. ergänzend die Kreispräsentationsakten in: RKG IV B 1/18-26; zur Problematik der reichsstädtischen Mitbeteiligung an den Kreispräsentationen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts s. generell auch SCHMIDT, Städtetag, S.311 f., 320; speziell zu den vergeblichen reichsstädtischen Bemühungen während des Ausgburger Reichstags 1547/48 um reichsgesetzliche Präzisierung ihrer Mitbeteiligung auf der Ebene der Kreispräsentationen s. SCHULZ, Einflußnahme, S.l13 ff., 165 f., 184, 190 f., 209 ff.; dazujetzt die in RTA JR 18/1-3 edierten einschlägigen Akten. 20 Über die im Vergleich zu den Reichsstädten ganz andere Rechts- und Interessenlage der nicht zu den Kammerzielern beitragenden Reichsritterschaft in bezug auf die Berechtigung zu Präsentationen auf RKG-Assessorate s. mit weiteren Nachweisen im einzelnen BALEMANN, Beiträge, S.llO f.; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.127 f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.142 ff.; SMEND, Reichskammergericht, S.278 f.; sowie neuerdings vor allem DUCHHARDT, Reichsritterschaft und Reichskammergericht, bes. S.315 ff., 322 ff. Da der niedere Adel in Schwaben, Franken und am Rhein irrfolge seines Zusammenschlusses im Reichsrittercorpus weder Reichs- noch Kreisstandschaft besaß, konnte er seit diesem Übergang in die Reichsunmittelbarkeit auch auf Kreisebene kein Mitpräsentationsrecht mehr beanspruchen. Deshalb wurde die alte Rittergesellschaft mit St. Jörgenschild in Schwaben, die in den Präsentationsordnungen von 1507 und 1521 noch unter den am Präsentationsrecht des dritten (Schwäbischen) Kreises beteiligten Kreismitgliedern aufgeführt worden war, in der Präsentationsordnung der KGO 1548 und der darauffußenden KGO 1555 Tl.l Tit.2 § 3 gestrichen (RTA JR 18/2, S.1243; LAUFS, KGO 1555, S.74). Seit Mitte des 17. Jahrhunderts und vor allem im 18. Jahrhundert, als das Reichsrittercorpus das RKG außerordentlich intensiv mit seinen Prozessen beanspruchte, wurde die Frage einer Hinzuziehung der Reichsritterschaft zum Unterhalt des RKG und im Gegenzug der Erteilung eines korporativen ritterschaftliehen Präsentationsrechts wiederholt diskutiert, stieß aber vor allem bei der um ihre exemte Stellung ftirchtenden Ritterschaft selbst auf Ablehnung.
II.3.1.1. Entstehung und Interpretation eines Prinzips: 1495-1555
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gleichheit zwischen den Reichsständen: Die Kurfiirsten sowie die Regenten der habsburgischen Erblande Österreich und Burgund übten bis 1806 ebenso wie der Kaiser als Reichsoberhaupt ihr Präsentationsrecht ohne Konkurrenz "iure singulari et proprio" bzw. "viritim" aus, die anderen Reichsstände im Rahmen der 'echten' Kreispräsentationen dagegen nur "iure circuli" bzw. "curiatim" 21 . 4. Die vierte Konstante war negativer Art: Seit den Anfängen des Präsentationswesens gelang es nicht, die internen Verhältnisse der Kreispräsentationen reichsgesetzlich genau zu regeln. Zwar zählten die beiden ersten Präsentationsordnungen von 1507 und 1521 namentlich die Kreisstände auf, die innerhalb der einzelnen Kreise am Präsentationsrecht partizipieren sollten, und diese Aufzählung wurde fast unverändert in die KGO von 1548 bzw. in ihre modifizierte Form von 1555 sowie in das revidierte Konzept der KGO von 1613 übernommen22. Jedoch entsprach diese Namensliste 1548/55 schon nicht mehr der Realität und noch weniger 1613. Einige der Aufgefiihrten wie das dem Schwäbischen Kreis zugeordnete Bistum Chur gehörten längst nicht mehr zum Reich; andere so die Bistümer Freising, Regensburg und Passau im Bayerischen Kreis- waren in der Praxis von mächtigeren Kreisständen aus ihrem reichsgesetzlichen Besitzstand verdrängt; andere Stände wiederum wurden in den Kammergerichtsordnungen bis 1613 niemals miterwähnt, waren aber de facto doch am Präsentationsrecht ihres Kreises beteiligt- so der Hoch- und Deutschmeister im Fränkischen Kreis. Oder aber eine Reihe der Übergangenen meldete Ansprüche auf Teilhabe und auf entsprechende nachträgliche Aufnahme in die KGO an23 . Noch 21 Harpprecht in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.27 ("Jure singulari et proprio"- "Jure Circuli als Crayß-Glieder"); ähnlich BALEMANN, Beiträge, S.32; KAMPTZ, S.l03 f., 139 f., 145 ("viritim"- "curiatim", "viriles"- "Curiat-Präsentations-Recht"); B. F. MOHL, Historisch-politische Vergleichung der beyden höchsten Reichsgerichte in ihren wichtigsten Verhältnissen, Ulm 1789, S.40 ("Viril-Stimmen"- "Curiat-Stimmen"); s. auch DOTZAUER, Die deutschen Reichskreise (1383-1806), S.466, 469 (z.Tl. fehlerhaft).
22 KGO 1507 Tit.21 (CJC, S.26), KGO 1521 Art.5 bzw. nach älterer Zählung Tit.4 §§ 2-7 (RTA JR 2, S.272; CJC, S.45); KGO 1548 u. KGO 1555 Tl.l Tit.2 §§ 1-6 (RTA JR 18/2, S.l243; LAUFS, KGO 1555, S.74 f.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.2 §§ 1-6 (CJC, S.578). Die einzige wesentliche Korrektur von 1548/55 stellte die Streichung der 1507 und 1521 noch unter den Mitpräsentierenden des dritten (Schwäbischen) Kreises aufgeführten Rittergesellschaft vom St. Jörgenschild dar; zu den Gründen s.o. mit Anm.20. 23 Über solche bis in das Konz. KGO von 1613 hinein fortgeschriebenen Mißverhältnisse
zwischen der dortigen Auflistung der mitberechtigten Kreisstände und der Realität in den einzelnen Kreisen s. pauschal auch BALEMANN, Beiträge, S.77.- Der Hoch- und Deutschmeister hatte seit 1538 Sitz und Stimme auf der Fürstenbank des Fränkischen Kreistags und besaß seitdem im Rahmen der Fränkischen Kreis-Präsentation ein unstreitiges Beteiligungsrecht Seit der KGO von 1548/55 hätte er deshalb unter den an der Präsentation dieses Kreises partizipierenden Kreisständen nachgetragen werden müssen, was nicht geschah; dazu s. Rarpprecht in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.32 (zu S.25 §7); BALEMANN, Beiträge, S.l03; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.l70 Anm.5 zu S.167.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
größer war das reichsgesetzliche Defizit von Anfang an hinsichtlich der Art und Weise, wie die zum Teil recht große Zahl vonKreisständen an der Ausübung des korporativen Präsentationsrechts des jeweiligen Kreises beteiligt werden sollte. Die Regelung dieser nur auf den ersten Blick rein technischen Frage blieb schon seit der ersten Präsentationsordnung von 1507 stillschweigend den Kreisen überlassen24. Die Folge war eine teils auf kreisinternen Verträgen, teils auf dem Kreisherkommen beruhende, auf jeden Fall mit vielen Unklarheiten verbundene und verwirrende Variationsbreite, was den Modus des Nominierensund Präsentierens in den einzelnen Kreisen betraf25 . Die beschriebenen Mängel in der reichsgesetzlichen Regulierung der Kreispräsentationen ließen von Anfang an Spielraum für innere Auseinandersetzungen. Schon in den zwanziger und dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts kam es in einigen Kreisen zu ersten Streitigkeiten, die von nun an die Geschichte des kammergerichtliehen Präsentationswesens bis in die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts hinein wie ein roter Faden durchzogen26 . Dabei waren diese Kämpfe um das Recht letztlich immer Ausdruck des Machtgefälles sowie ungeklärter Verfassungsverhältnisse innerhalb des betreffenden Kreises. Sie spiegeln nach Art und Ausgang der Konflikte die ständig sich verändernde politische Landkarte der Kreise und die regionalen Hegemonialsysteme des Reiches wider. Im übrigen sind diese früh einsetzenden kreisinternen Auseinandersetzungen ein weiterer Beleg dafür, wie stark schon in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts das Präsentationsrecht als ständische Prärogative, als Rangabzeichen interpretiert wurde, dessen exklusiven Besitz es gegen weitere Prätendenten zu verteidigen oder quasi als Aushängeschild für die eigene Reichs- und Kreisstandschaft zu erkämpfen galt. Wie die Vorgänge in Augsburg 1547/48 zeigen, war der Reichstag - genauer: die im Präsentationssystem privilegierten Kurien der Kurfürsten und Fürsten - schon damals nicht willens, die bis dahin in einigen Kreisen aufgekommenen Präsentationskonflikte auf Reichsebene beizulegen und 24 S. auch KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.29, 37 f., 42 f., 55 f., 148. 25 Nomination und Präsentation waren zwei verschiedene Rechtsakte, die allerdings bei
den "virilen" Präsentationsberechtigungen der Kurfürsten, des Kaisers sowie des Österreichischen und Burgundischen Kreises zusammenfielen. Bei den "curiaten" Präsentationsberechtigungen der anderen Kreise ist dagegen zwischen Nominations-und Präsentationsrecht klar zu trennen. Über den Unterschied zwischen Nomination und Präsentation und über die in den einzelnen Kreisen unterschiedlich ausgebildeten Möglichkeiten, im Turnus, gemeinschaftlich oder allein durch die Kreisdirektoren zu nominieren bzw. zu präsentieren, s.u. Anm.260; s. auch MOSER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, S.7 f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.l ff., 139 ff., bes. S.l46 ff., 162 ff.
26 Zum Einsetzen der kreisinternen Präsentationsstreitigkeiten in der Reformationszeit s. allgemein KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.43, und speziell seinen historischen Abriß der einzelnen Kreispräsentationen ebd., bes. S.l62 ff.
II.3.1.1. Entstehung und Interpretation eines Prinzips: 1495-1555
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den Ansprüchen solcher Kreisstände, die sich bisher übergangen fühlten, durch Präzisierungen in der normativen Präsentationsordnung Gesetzeskraft zu verleihen27. Die revidierte KGO von 1548 und die darauf beruhende KGO von 1555 wiederholten nur die schon 1507 und 1521 aufgeführten Namen der am Präsentationsrecht der sechs alten Kreise beteiligten Kreisstände. Alle weiteren Ansprüche wurden in einem Ergänzungsparagraphen mit dem Rechtsvorbehalt abgespeist, es solle "durch diese außtheylung der kreiß undbenennungder stendt niemandts nichts benommen sein, sonder in jedem der obgemelten kreyß diejenigen presentieren, die von rechts wegen zu presentieren haben oder dessen bißhero im gebrauch gewesen" 28 • Johann Jakob Moser lieferte dazu über zweihundert Jahre später den zutreffenden Kommentar, daß dieser Zusatz "aber die Sache gar nicht deutlich, sondern viimehr verwirrt macht" 29 • Dennoch wurde dieser unzulängliche Rechtsvorbehalt unverändert in das Konzept der KGO von 1613 übernommen 30 . Die Beilegung der kreisinternen Differenzen um den Teilnehmerkreis sowie um den Modus des Nominierensund Präsentierens wurde jedenfalls seit 1555 endgültig den einzelnen Kreisen zugeschoben, weiteren Präsentationsstreitigkeiten der Kreise war damit von Reichs wegen Tür und Tor geöffnet. Seit dem Westfälischen Frieden sollte sich das Defizit an genauen reichsgesetzlichen Normen zur Regulierung der Kreispräsentationen sogar noch verstärken. Festzuhalten ist aber schon für die erste, bis 1648 reichende Phase in der Geschichte des kammergerichtliehen Präsentationswesens, daß das jeweils gültige Präsentationsschema mit seiner Auflistung der präsentationsberechtigten Kurfürsten, des Kaisers und der Kreise sowie der ihnen zustehenden Anzahl von As1
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27 Über die vergeblichen Bemühungen der Reichsstädte, Prälaten, Grafen und Herren auf dem Reichstag in Augsburg 1547/48, in der damals überarbeiteten Fassung der KGO ausdrücklich unter den präsentationsberechtigten Mitgliedern der sechs Kreise mitgenannt zu werden, s. eingehend anhand der Quellen SCHULZ, Einflußnahme, S.113 ff., 165 f., 184, 190 f., 209 ff.; kurz auch schon RABE, Reichsbund und Interim, S.312 f.; dazu jetzt die in RTA JR 1811-3 edierten einschlägigen Akten. In den bisherigen Präsentationsordnungen von 1507 und 1521 waren nur für den ersten (Fränkischen) Kreis die Grafen, Freiherren und Reichsstädte als Teilhaber am kuriaten Präsentationsrecht mit aufgezählt, während sie in den Auflistungen der übrigen Kreise fehlten. Dabei blieb es trotz der Proteste der mindermächtigen Stände auch in der revidierten Fassung der KGO von 1548, die 1555 nur noch leicht modifiziert wurde. 28 KGO 1555 Tl.l Tit.2 §7 (LAUFS, KGO 1555, S.75); die Aufzählung der "sechs kreyß, die zu presentieren haben", sowie der an der Kreispräsentation mitbeteiligten Kreisstände s. ebd., Tl.l Tit.2 §§ 1-6; entsprechend schon KGO 1548 Art.2 (RTA JR 18/2, 8.1243). 29 MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.407; zu diesem Rechtsvorbehalts. auch BALEMANN, Beiträge, S.l58 f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.56; vgl. entsprechend zu 1548 auch SCHULZ, Einflußnahme, 8.191, 209 ff.
°Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.2 § 7 (CJC, S.578).
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
sessoraten die Kreispräsentationen sozusagen nur aus der Vogelschau, aus der Perspektive des Reiches erfaßt und über deren Binnenstruktur nichts aussagt. In seiner bis 1521 stufenweise entwickelten und seitdem voll ausgebildeten Form stellte das kammergerichtliche Präsentationssystem in dreifacher Weise eine adäquate Reaktion auf Erfordernisse der Zeit dar. Gleich mehrere Probleme im Bereich des Besetzungsmodus waren hier und auf Dauer in einer für die Struktur der Reichsverfassung sehr typischen Weise gelöst31 • 1. Die erste dieser von Kaiser und Reich erbrachten Anpassungsleistungen lag auf rechtspolitischem Gebiet: Die breite Streuung der Präsentationsrechte garantierte zumindest potentiell, daß Männer aus allen Regionen des Reiches auf die Richterstellen des RKG gelangten- Juristen, die nicht nur die Kenntnis des rezipierten römischen Rechts (ius commune), sondern auch der verschiedenen deutschrechtlichen partikularen Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten in das Kameralkollegium einbrachten. Schon in der Gründungsphase des RKG sahen es die Reichsstände als sinnvoll und notwendig an, daß - vermittelt über die Assessoren und eine breite Streuung ihrer Herkunftsregionen- eine Vertrautheit mit möglichst vielen partikularen Rechtsquellen im Kameralkollegium vorhanden war- nämlich für den Fall, daß sich das Gericht neben der als selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnis des gelehrten Rechts mit solchen partikularrechtlichen Normen in einem Verfahren von Amts wegen oder auf entsprechen-
31 Die im folgenden charakterisierten drei Hauptfunktionen des Präsentationssystems werden teilweise oder sämtlich, meist allerdings nur kurz und eher beiläufig auch schon von älteren Kameralschriftstellern erwähnt; treffend z.B. PüTTER, Historische Entwickelung, Tl.l, S.311 f.: "Bey der ersten Errichtung des Cammergerichts machte es nicht geringe Schwierigkeit, eine Anzahl Männer, die hierzu tüchtig waren und sich dazu verstehen mochten, zu finden. Man kiesete sie gleich damals auf dem Reichstage, konnte aber an statt sechzehn, worauf man die Anzahl in der Cammergerichtsordnung bestimmt hatte, nur zehn zusammenbringen. Bald hernach wurde die ganze Anzahl den Churfürsten, den kaiserlichen Erblanden und den übrigen in sechs Kreise vertheilten Ständen zur Präsentation zugetheilt, um auf gleiche Art, wie bey Präsentationen zu Pfründen und geistlichen Stellen, Männer zu diesem Posten vorzuschlagen. Durch dieses Mittel konnte man hoffen, Männeraus allen Gegenden des Teutschen Reichs zu bekommen, die der verschiedenen Rechte kundig seyn würden, deren Mannigfaltigkeit in Teutschland beynahe so groß als die Zahl der besonderen Staaten ist, woraus das Teutsche Reich besteht, über die doch das Cammergericht zur höchsten Instanz bestimmt seyn sollte. Zugleich erwuchs daraus das wichtige Vorrecht der Stände, daß sie es in ihrer Gewalt haben, tüchtige und rechtschaffene Männer zu Cammergerichtsbeysitzern zu präsentiren. Ein Umstand, der allein hoffen ließ, daß sich hier allezeit eine rechte Auswahl von tüchtigen Männern finden würde, da man wohl erwarten konnte, daß ein jeder Reichsstand zu der Gerichtsstelle, wo über ihn und sein Land in der höchsten Instanz gesprochen werden sollte, den tüchtigsten Mann, den er nur haben könnte, schicken würde". Zu den Funktionen des Präsentationssystems s. im Zusammenhang mit dessen Entstehungsgeschichte ferner eingehend, wenn auch zum Teil mit anderem Interpretationsansatz, SMEND, Reichskammergericht, S.24 ff., 279 ff.; s. auch JAHNS, Personalverfassung, S.75 ff.
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de Rechtsbeibringung der Parteien zu befassen und über deren Anwendung zu entscheiden hatte 32 • Diesem Zweck diente nachweislich bereits die 1495 in Worms praktizierte Heranziehung der Reichsstände zur Benennung und Auswahl von RKG-Urteilem "us den landen, die der gewonheit wusten" 33 • Als reichsgesetzliche Norm fand dieses schon auf dem Wormser Reformreichstag erkennbare, Richterauswahl und Rechtsanwendungspraxis verkoppelnde Prinzip erstmals in die KGO von 1500 Eingang, die eine weitere Vorstufe in der Entwicklung des kammergerichtliehen Präsentationswesens darstellt34 • Nach der endgültigen Ausbildung 32 Den Hintergrund für diese Intention bildete das Verhältnis von rezipiertem gemeinem Recht und partikularen deutschen Rechtsquellen, wie es sich in der gelehrten Rechtsanwendungsdoktrin und vor allem in der kammergerichtliehen Prozeßpraxis der Rezeptionszeit darstellt; dazu s. ausführlicher mit Literaturnachweisen unten Kap.III.l.l. mit Anm.3. Im selben Kapitel werden auch die weiteren Kameralnormen aufgeführt, welche im Anschluß an die im folgenden zitierten Bestimmungen von 1495 und 1500 nach der vollen Ausformung des Präsentationssystems den präsentationsberechtigten Kurftirsten und Reichskreisen seit Mitte des 16. Jahrhunderts im obigen Sinne Auflagen hinsichtlich der geographischen Rekrutierung der präsentierten Juristen machten. 33 S. die Einreden der Fürsten zum kurftirstlichen Entwurf der KGO, 21.5.1495, Druck: RTA MR 5/I, 1, nr.347, 8.433-435, hier S.433 f.: "Uf den 1. artikel im camergericht, berurnd die 12 urteyler, were die meynung, das man die us den landen, die der gewonheit wusten, ... darzu ordent". Dementsprechend wurde der Kurflirst von Mainz im Wormser Reichsabschied von der Reichsversammlung beauftragt, bei den für die 16 Urteilerstellen ausgewählten Personen zu erkunden, ob sie das Assessorat antreten wollten oder nicht, und falls nicht, "ander redlich, tuglich personen an derselben stat, von gemeiner samblung wegen zu erlangen, doch aus oder umb der land art, darin der yetzto benannt, der es abslahen wurd, burtig were"; s. RTA MR 5/I, 2, nr.l593, 8.1140-1150, hier S.1145 § 12; ebs. NVSRA Tl.2, S.27 § 48; dazu SMEND, Reichskammergericht, S.32 u. 266. S. auch schon KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.18 f.: "Dessen ungeachtet ist aber die Meinung, daß der Reichstag zu Worms, den schon 1467 gemachten Vorschlägen gemäß, beydieser Wahl darauf gesehen habe, diese Beysitzeraus allen Gegenden Deutschlands vorzuschlagen und zu wählen und dadurch am Reichs-Kammergericht Männer zu erhalten, welche der verschiedenen, in den einzelnen Ländern Deutschlands geltenden, so mannichfaltigen Rechte kundig sind, wohl gegründet und selbst durch die Kammergerichts-Ordnung von 1500 ... bestätigt". Zu den von Kamptz erwähnten ständischen Vorschlägen von 1467 s.o. Anm.4; auch unten Kap.III.l.l. Anm.6. Zur KGO 1500 s. die folgende Anmerkung. 34 KGO 1500 Vorrede, in: CJC, S.l2; ebs. NVSRA Tl.2, S.67 f. (danach zit.): "Es soll auch an denen, so vormahls am Cammer-Gericht gesessen sind, erlernet werden, ob sie wieder daran sitzen wöllen oder nicht. Und ob einiger oder mehr nicht sitzen wolt, so soll der Churftirst oder Landschafft, von oder auß den solche Assessores vormahlsgenommen worden sind, Uns und dem verordneten Reichs-Regiment hie zwischen und S. Michaelis Tag drey oder vier Assessores verzeichnet senden, darauß das Regiment einen zum Assessom an deß abgangenen statt kiesen soll. Ob auchjemands hie zwischen bestimpter Zeit an Uberschickung solcher V erzeichnuß säumig wird und die nicht thät, so sollen alsdann Wir oder der, so an Unser statt sitzen würde, und das verordnet Regiment nicht desto minder Macht haben, einen andern Assessorn auß derselben Landschafft zu wehlen und zu nehmen, damit das Cammer-Gericht vollkommentlieh besetzt werde"; dazu PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.5 mit Anm.f); KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.19, 22 f.; SMEND, Reichskammergericht, S.32, 266.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
des Präsentationssystems sollte sich dessen rechtspolitische Funktion bis 1806 auf die Sozialstruktur des Kameralkollegiums auswirken, indem daraus seit Mitte des 16. Jahrhunderts die Bestimmung floß, daß der zum Beisitzer Präsentierte aus dem Gebiet des präsentationsberechtigten Standes oder Kreises oder zumindest aus einem unmittelbar benachbarten Kreis stammen solle. In Kapitel III.1. über die geographische Herkunft der im 18. Jahrhundert präsentieren Juristen wird nach der Analyse der einschlägigen Kameralnormen zu untersuchen sein, ob sich die Präsentationshöfe in der Spätzeit des Reiches noch an dieser Intention der Kameralgesetzgebung orientierten oder ob das Kameralkollegium Anlaß hatte - und suchte -, die Rekrutierungspraxis der Reichsstände in diesem Punkt zu bemängeln. 2. In einer zweiten Anpassungsleistung lösten Kaiser und Reich das aus dem Spätmittelalter ererbte quantitative Problem der Bedarfsdeckung, das schon 1495 ein wichtiger Motor bei der ersten Erprobung eines neuen Besetzungsverfahrens gewesen war. Gerade in der Gründungs- und Anfangsphase des RKG sollte das Präsentationssystem in seiner zunächst noch embryonalen, dann seit 1507/1521 verfestigten Form auch und vorrangig dazu dienen, die Besetzung des Urteilergremiums, bekanntlich ein Schwachpunkt des allein vom König beschickten älteren Kammergerichts, sicherzustellen. Die Last, in einer noch dünn besiedelten Juristenlandschaft qualifizierte Personen ausfindig zu machen, die sich an dieses noch ganz instabile Gericht präsentieren lassen wollten, wurde auf die verschiedenen Glieder des Reiches verteilt. Das Recht zur Präsentation auf eine Urteilerstelle wurde daher in den Anfängen des RKG häufig mehr als leidige Pflicht denn als Vorzug angesehen35 . Erst im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts, mit steigendem Angebot an römisch-rechtlich geschulten Juristen, mit steigender Attraktivität der Assessorenkarriere an diesem nunmehr konsolidierten und florierenden obersten Gericht sowie mit zunehmendem Interesse der Reichsstände an einer Einwirkung auf dessen Rechtsprechung auf dem Weg der Präsentation, trat die Beschaffungs-Funktion des kammergerichtliehen Präsentationssystems im Bewußtsein der Beteiligten in den Hintergrund. Daß der Charakter einer Verpflichtung aber auch späterhin dem Präsentationsrecht immanent war, zeigt sich nicht nur an der fortbestehenden Gesetzgebung über das "auf verspürten Saumsal in praesentando" eintretende Devolutionsrecht des Kameralkollegiums36. Es äußerte sich vor allem immer wieder dann, wenn das Präsenta35 So schon SMEND, Reichskarnmergericht, S.35 ff., bes. S.39, 41, 265. 36 JRA 1654 § 22 (LAUFS, JRA 1654, S.20).- Das aus dem kanonischen Recht stammende
Devolutionsrecht des Karneralkollegiums diente dazu, bei Säumigkeit der Präsentierenden dennoch die Besetzung der Assessorate sicherzustellen, indem das Ernennungsrecht nach Ablauf der sechsmonatigen Präsentationspflicht anstelle des säumigen Reichsstands dem Kameralkollegium zufiel; s. außer JRA 1654 §22 schon KGO 1555 Tl.l Tit.4 §5 (LAUFS, KGO 1555, S.78 f.); Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 21 (CJC, S.581); zur Geschichte dieses De-
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tionsrecht zur Last wurde: in Zeiten politisch-militärischer Krisen des Reiches, die sich schnell auch zu Existenzkrisen des RKG auswuchsen- so in der Spätphase des Dreißigjährigen Krieges, als auch das Kameralkollegium völlig ausblutete, so in den Jahren nach dem Westfälischen Frieden, als zum Beispiel Kurbrandenburg 1649 allergrößte Schwierigkeiten hatte, wenigstens einen einzigen Kandidaten für das kurbrandenburgische Assessorat zu präsentieren, geschweige denn die an sich von der KGO geforderten zwei bis drei: Denn "bey izigen Leuften, da das ganze Reich so lange in Unruhe gewesen, finden sich der Leute, so hierzu zu gebrauchen, so wenig, daß Wir darzu nicht haben gelangen können" 37 . Nicht ein absoluter Mangel an qualifizierten Juristen oder eine prekäre Unterhaltssituation am RKG, sondern die nachhaltige Erschütterung des Reiches nach dem Verlust des linken Rheinufers und drohende Umwälzungen im Restreich zwangen den Erzbischofvon Salzburg 1798 dazu, beim Kameralkollegium um Fristverlängerung für die Präsentation auf ein vakant gewordenes Assessorat des Bayerischen Kreises nachzusuchen, weil es "in dem gegenwärtigen kritischen Augenblicke außerst schwer" war, einen fähigen und zugleich präsentationswilligen Juristen zu gewinnen. Der Erzbischof brauchte dazu zweieinhalb Jahre 38 • Die beiden 150 Jahre auseinanderliegenden Beispielsfälle illustrieren hier einmal aus der Perspektive der Präsentationspflicht den engen Zusammenhang von Reichs- und Kameralverfassung, von Reichssystem und Präsentationssystem, in seinen problematischen Aspekten. 3. Die dritte Anpassungsleistung, die das seit 1521 voll entwickelte kammergerichtliche Präsentationssystem darstellte, lag auf verfassungspolitischem Gebiet: Dieses Besetzungsverfahren sicherte auf Dauer die ständische Mitbeteiligung an der Richteremennung, wobei die Reichsstände in ihrer Gesamtheit sogar gegenüber dem Kaiser dominierten. Aus dieser Perspektive ist auch die hier nachgezeichnete Ausformung des für das Kameralkollegium so typischen Besetzungsmodus zu verstehen als eine in mehreren Schritten erfolgte Durchsetzung reichsverfassungsrechtlicher Errungenschaften durch die partikularen Kräfte. Auch innerhalb der Personalverfassung des RKG reagierten Kaiser und Reich volutionsrechts, das seit Mitte des 16. Jahrhunderts vom Kameralkollegium nicht mehr ausgeübt wurde, s. ausführlich BALEMANN, Beiträge, S.355 ff. 37 Kf.
Friedrich Wilhelm von Brandenburg an das RKG, Cleve, 20.5.1649, Or.: RKG IV B 1/12 fol.l. Kurbrandenburg präsentierte in diesem Schreiben als Verlegenheitslösung Dr. Jakob Jungmann zum RKG-Assessor. Über die durchaus generalisierbaren damaligen Schwierigkeiten Brandenburg-Preußens mit der Kandidatenbeschaffung s. ausführlicher JAHNS, Brandenburg-Preußen, S.l83 f. (mit weiteren Belegen). 38 Erzbf. Hieronymus von Salzburg an den Kammerrichter Oettingen-Wallerstein, Salzburg, 24.5.1798, Or.: RKG IV B 2/29 fol.23 u. s.f./1798. Salzburg nominierte schließlich im Sommer 1801 Kaspar Philipp Frhn. v. Spiegel zum Diesenberg für die Präsentation zum Bayer. Kreis-Assessor, s. dessen Biogr. 87.
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damit letztlich auf einen aus der spätmittelalterlichen Verfassungsentwicklung herrührenden Anpassungsdruck39 • Nicht nur in der gesamten Verfassungskonstruktion dieses seit 1495 weitgehend von der Person des Königs losgelösten reorganisierten Gerichts, sondern gerade auch im engeren Bereich der Richterbestellung äußerte sich als dauerhaftes Ergebnis der Reichsreformzeit eine Schmälerung bisher ausschließlich königlicher Rechte zugunsten ständischer Teilhabe am Reich, hier an der obersten Gerichtsbarkeit. Im Vergleich zu anderen damaligen Gerichtsreformen wie zum Beispiel der Trennung vom königlichen Hof, der Zuweisung eines festen Ortes und der ununterbrochenen Gerichtstätigkeit fand die Ausgestaltung des reorganisierten RKG zu einer "Einrichtung des institutionalisierten Dualismus" 40 im Präsentationssystem sogar seinen stärksten Ausdruck. Erstens garantierte es nicht nur die ständische Beteiligung an der Richterbestellung überhaupt (was auch schon bei fortdauernder Zwischenschaltung des als Auswahlgremium fungierenden Reichstags der Fall gewesen wäre). Seit der völligen Individualisierung und Diversifikation der Präsentationsrechte in den Kammergerichtsordnungen von 1507 und 1521 trug das Präsentationssystem überdies in vollem Maße den politisch-verfassungsrechtlichen Binnenstrukturen im Reich sowie dem Machtgefälle zwischen seinen Gliedern Rechnung. Zweitens wurde diese auf besetzungspolitischem Gebiet liegende ständische Errungenschaft 300 Jahre lang mit jedem neuen Präsentationsakt aufs neue aktiviert und im Bewußtsein gehalten. Seiner ganzen Grundkonzeption nach war das Präsentationssystem, welches das Kameralkollegium über die Schiene des Präsentationsrechts an fast sämtliche Reichsstände ankoppelte, in besonders hohem Maße dazu geeignet, das RKG zu einem "Kleinod" der partikularen Kräfte, "ihrer Reichsständischen Vorrechte und Gerechtsamen" zu machen41 • Die verfassungspolitische Funktion des Präsentationssystems, den Reichsständen eine maßgebliche Rolle bei der Besetzung des kammergerichtliehen Urteilergremiums zu sichern, hatte automatisch zur Folge, daß der Charakter des Präsentationsrechts als eines Rechtsanspruchs, einer Prärogative, schon in der Aufbauphase des RKG immer stärker in den Vordergrund trat und die beiden
39 Dazu s. bereits grundsätzlich und anhand mehrerer Beispiele auch für andere Bereiche JAHNS, Personalverfassung, S.63 ff., hier S.75 f.; s. ferner oben Kap.II.1. 40
MORA w, Fürstentum, Königtum und "Reichsreform", S.132.
"Kleinod": PÜTTER, Patriotische Abbildung, S.40 (Zitat), auch S.41 u.ö.; nach einem fstbfl. konstanzischen Votum auf dem Frankfurter Deputationstag Mai 1643, zit. ebd., S.37 f. Anm.y). Das betreffende Votums. in: J.G. v. MEIERN, Acta comitialia Ratisbonensia publica. Oder Regenspurgische Reichstags-Handlungen und Geschichte von den Jahren 1653 und 1654, T1.2, Göttingen 1740, S.78 [nicht: 76], wo das RKG als "höchstes Kleinod" des Reiches bezeichnet wird. 41
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bereits genannten anderen Funktionen des Besetzungsverfahrens aus der Sicht der Präsentationsberechtigten bald ganz in den Schatten stellte42 • Wie stark sich die Auslegung des Präsentationsrechts als einer Berechtigung nur wenige Jahrzehnte nach der Fixierung von 1507/21 bereits im allgemeinen Bewußtsein verfestigt hatte, zeigte sich auf dem "Geharnischten" Augsburger Reichstag 1547/48. Damals war das RKG nach mehrjährigem Gerichtsstillstand wiederzueröffnen und das Kameralkollegium vollständig neu zu besetzen. Auf dem Gipfel seiner Macht stehend, konnte Karl V. zwar damals den Ständen das Zugeständnis abringen, daß sämtliche Assessorate des RKG fiir dieses Malund zum allerletzten Mal- ausschließlich vom Kaiser besetzt wurden, um die durchgängige Katholizität des Kameralkollegiums sicherzustellen. Jedoch war dies trotz des damaligen machtpolitischen Ungleichgewichts zwischen Herrscher und Reichsständen nur noch unter ausdrücklichem und prinzipiellem Vorbehalt derjenigen reichsständischen Rechte möglich, "so sie sollicher presentation halben von alters[!] herpracht haben" 43 • Der Kaiser präsentierte 1548 nicht 42 Daß diese verfassungspolitische Funktion des Präsentationsrechts schon bald über die ihm immanenten anderen Intentionen dominierte, sieht auch SMEND, Reichskammergericht, S.41 u. 279-282. Für Smend ist allerdings in der Gründungszeit um 1495 der verfassungspolitische Impuls noch nicht existent; s. schon oben mit Anm.8. 43 RA 1548 § 28 (zit. nach RTA JR 18/3, S.2661; ebs. CJC, S.102; NVSRA Tl.2, S.533); s. auch ebd. § 21: "derwegen wir gmaine stende gnediglich ersucht, uns die besetzung unsers chammergerichts auf diesmal volkommenlich haimzustellen, doch irren, den stenden, so zu presentiren haben, ir gerechtigkait kunftiglich gentzlich vorbehalten" (zit. nach RTA JR 18/3, S.2659; ebs. CJC, S.101; NVSRA Tl.2, S.532). Dem in RA 1548 §§21-29 verankerten Beschluß zur diesmaligen ausschließlich kaiserlichen Besetzung der RKG-Assessorate gingen auf dem Augsburger Reichstag im September/Oktober 1547längere Verhandlungen zwischen Kaiser und Ständen voraus, die in RTA JR 18/1 dokumentiert sind; s. vor allem ebd., nr.33b, 40, 41, 43, 45c, 48, 49, 55 u. 56; dazu die Einltg. ebd., S.60 ff. Die betreffenden Aktenstücke sind ganz oder teilweise auch schon abgedruckt bei HARPPRECHT, Staats-Archiv, Tl.6, S.173200, dazu ebd., S.15 ff. Bereits in seiner Proposition vom 1.9.1547 verband der Kaiser seine Forderung, die Besetzung sämtlicher RKG-Assessorate für dieses Mal ihm zu überlassen, mit der Zusicherung, "doch also, daß den Kff., Ff. und stenden, so zu presentiem haben, ire gerechtigkait, dem sy sich ditsmals guetwilligclich begeben, hinftiran unbenomen" (RTA JR 18/1, S.220). In den anschließenden Verhandlungen verknüpften Kurfürsten- und Fürstenrat ihre Einwilligung nicht nur mit der Wahrung ihres prinzipiellen Präsentationsrechts, sondern stellten auch bestimmte Bedingungen hinsichtlich der Qualifikation und der geographischen Rekrutierung der für diesmal vom Kaiser zu benennenden RKG-Beisitzer; dazu s. etwas ausführlicher und mit weiteren Belegen Kap.III.l.l. (Geographische Herkunft- Die Norm) mit Anm.9-12. Zu der auf dem Augsburger Reichstag 1547/48 verhandelten Besetzungsfrage s. ausführlich SCHULZ, Einflußnahme; ferner (in Auswahl) KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.43 f., 49 ff.; SMEND, Reichskammergericht, S.173, 175, 267 f., 282; RABE, Reichsbund und Interim, S.200 f., 206, 216 ff., 221, 232, 312; DICK, Entwicklung, S.51.- Das Ringen um die Konfessionszugehörigkeit des Kameralkollegiums und des übrigen Gerichtspersonals - die katholische Seite bestand auf durchgängiger Katholizität- begann auf dem "Geharnischten" Augsburger Reichstag erst im November 1547 im Zusammenhang mit der Diskussion über den Entwurf einer revidierten Kammergerichtsordnung, nachdem die Stände bereits ihre Ein000
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
aus eigener Machtvollkommenheit, sondern, eine Bedingung der Reichsstände erfüllend, "in namen und von wegen, auch aus underthenigstem zulassen Kff., Ff. und gmainer stend" 44 • Entsprechend seiner im Augsburger Reichsabschied abgegebenen Erklärung wollte er die diesmal von ihm allein präsentierten Juristen auf Verlangen der Stände "aus den churfurstenthumben und kraysen nach gebrauch und herkommen des hl. Reichs, sover sie darin zu finden, gnediglich nemen und verordnen und alsbaldt einem jeden churfursten oder krais, welichem sollichs gepuert, seinen[!] assessorem benennen, anzaigen und zuaignen, damit ein jeder wissen möge, whann ime kunftiglich nach absterben oder abkommen seines benenten und zugeaigneten beysitzers widerumb zu presentiren gepueren und zusteen werde". Die unbehinderte Ausübung seines Präsentationsrechts bei zukünftiger Erledigung "seines" Assessorats wurde jedem Kurfürsten und Kreis vom Kaiser ausdrücklich garantiert45 • Gerade im Kontext des damaligen Machtgefälles konnte es keinen besseren Beweis als diese Konstellation von 1548 dafür geben, daß das Präsentationsrecht endgültig zum festen Bestandteil der Reichsverfassung geworden war - ein Recht, das den Reichsständen nicht ohne ihre Zustimmung und daher praktisch überhaupt nicht mehr genommen werden konnte. Je mehr die Auslegung des Präsentationsrechts als eines Rechtsanspruchs und Vorzugs, in dem sich Teilhabe am Reich, Rang und Einfluß manifestierten, die Oberhand gewann, desto mehr zeichneten sich künftige Konfliktlinien ab. Zum einen im Rahmen der "curiaten" Kreispräsentationen zwischen privilegierten und weniger begünstigten oder gar völlig vom Präsentationsrecht ausgeschlossenen Ständen eines Kreises: Die schon seit den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts einsetzenden Streitigkeiten über den Teilnehmerkreis und über den Modus des Präsentierens sollten im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert die meisten Kreispräsentationen schwer belasten und kurz- oder längerfristig blockiewilligung zu der diesmal ausschließlich kaiserlichen Besetzung der Assessorate gegeben hatten; dazu s. die weitere Darstellung. 44 RA
1548 §24 (zit. nachRTAJR 18/3, S.2660; ebs. CJC, S.lOl; NVSRA Tl.2, S.532).
RA 1548 § 25. Am Ende dieses § 25 heißt es weiter: "welcher presentation auch, so schirist sich die nach absterben oder abkommen der jetzt durch uns verordneten beysitzer zutragen wurdet, sich ein jeder, dem es gepuert, unser und meniglichs unverhindert geprauchen soll" (alles zit. nach RTA JR 18/3, S.2660; ebs. CJC, S.lOl; NVSRA Tl.2, S.532). Ebenso wird in KGO 1548 Tl.l Art.3 im letzten Abschnitt in einem Nebensatz vom Kaiser ausdrücklich betont, daß die Beisitzer des RKG "zu diesem mal durch uns allain, und hinfuro durch uns, die churfursten und kraisjederzeit presentirt und geordnet werden" (RTA JR 18/2, S.l244). Dementsprechend sind in dieser revidierten KGO von 1548 in Tl.l Art.l u. 2 über die Besetzung des Kameralkollegiums (RTA JR 18/2, S.l242 f.) alle Präsentationsberechtigten aufgeführt, wie sie schon in der KGO von 1521 und dann wieder in der KGO von 1555 genannt werden, also neben dem Kaiser als Reichsoberhaupt und für seine Erblande die sechs Kurfiirsten und sechs Kreise. 45
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ren. Zum anderen waren Konflikte absehbar zwischen den präsentationsberechtigten Reichsständen und dem prüfungsberechtigten Kameralkollegium, dessen Recht und Pflicht zur Prüfung der präsentierten Kandidaten mit dem Präsentationsrecht konkurrierte- und kollidieren mußte, je mehr die Präsentanten dieses Recht als einen Anspruch auf unbedingte Annahme des eigenen Kandidaten interpretierten. Über diese für das 18. Jahrhundert typische Situation wird an anderer Stelle ausführlicher zu reden sein. Obwohl das seit 1521 voll entwickelte Präsentationssystem aus verfassungspolitischer Sicht eine ausgesprochene Schmälerung bisher exklusiv königlicher Rechte darstellte, ist hier noch einmal festzuhalten, daß es falsch ist, das RKG ohne Einschränkung als ständisches Gericht zu apostrophieren. Das in seinen Grundstrukturen bis 1648 unverändert beibehaltene Präsentationsschema von 1521 und alle späteren Varianten zeigen deutlich, daß es sich zwar nicht mehr um ein rein königliches, aber eben auch nicht um ein rein ständisches, sondern um ein von König/Kaiser und Ständen gemeinsam, wenn auch zu unterschiedlichen Anteilen besetztes Gericht handelte. Angesichts des Verhältnisses von kaiserlichen und ständischen Elementen im Präsentationssystem kann man also nur von einem überwiegend oder primär ständischen Charakter des RKG und speziell des Kameralkollegiums sprechen und muß dies dann freilich auch tun. Denn hier lag in der Tat neben anderen charakteristischen Unterschieden die hervorstechende Differenz zum Kollegium des RHR, den sich die Herrscher im Laufe des 16. Jahrhunderts als eine Art kaiserliches Reservatgericht, als genaues monarchisches Gegenstück zu dem überwiegend ständisch geprägten RKG schufen: Aspiranten auf eine RHR-Stelle richteten ihre Bewerbung direkt an den Kaiser, der gestützt auf Gutachten des Reichsvizekanzlers, des RHR-Präsidenten und -vizepräsidenten den ihm genehmen Kandidaten auswählte und per Dekret ernannte. Die Besetzung des RHR war also ebenso wie schon die der spätmittelalterlichen Zentralgerichte ein Monopol des Herrschers, das sich die Kaiser auf Dauer zu erhalten wußten. Die Reichsstände blieben davon trotz wiederholter Bemühungen, bei der Ernennung der Reichshofräte zu konkurrieren, bis zum Ende des Alten Reiches ausgeschlossen46 . 46 Zur Besetzung des RHR: RHRO 1654 Tit.l (8ELLERT, RHRO II, 8.49 ff.); die Bewerbungs- und Ernennungsakten befinden sich in: HH8tAW, RHR u. RK- Verf.A., RHR 27-32, 35-42: dazu s. außer den älteren Reichspublizisten vor allem GSCHLIESSER, Reichshofrat, 8.66-68 u. passim; vgl. auch den Kommentar von MOHL, Vergleichung, 8.33, zu der unterschiedlichen Art der Besetzung von RHR-8tellen und RKG-Assessoraten: "Auch dieser Punct ist eine Anomalie in unserer Reichsverfassung".- Über das am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, auf dem Höhepunkt der Konfessionskonflikte im Reich, einsetzende, 1648 endgültig scheitemde Bemühen der protestantischen Aktionspartei, ebenso wie flir das Kameralkollegium auch ftir das RHR-Kollegium nicht nur Religionsparität, sondern auch Beteiligung an der Besetzung auf dem Wege reichsständischer Präsentation durchzusetzen, s. u. Kap.II.3 .1.2 .1. u. II.3.1.2.2., ausführlicher schon JAHNS, Ringen, 8.444 ff., bes. 8.447 ff. u. passim, 8.470.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Im Vergleich zu dem komplizierten Besetzungsmodus, den Kaiser und Reich im Tauziehen um verfassungspolitische Positionen zu Anfang des 16. Jahrhunderts für das RKG entwickelt hatten, wirkte der Modus zur Besetzung der RHRStellen, der die Reichsreformperiode gleichsam zu überspringen schien, archaisch-schlicht. Auf die Dauer sollte sich aber diese 'ältere' Technik als die flexiblere und reibungslosere erweisen. Dagegen wurde das kammergerichtliche Präsentationssystem mit seiner unauflöslichen Ankoppelung an das Reichssystem im 17. und noch mehr im 18. Jahrhundert für alle Beteiligten immer mehr zum sperrigen Ballast, der- anders als die RHR-Besetzung- die Effizienz des Kameralkollegiums als Justizorgan schwächte. Die Konsequenz aus dem kammergerichtliehen Präsentationssystem war auch dies muß im Rahmen dieser ersten grundsätzlichen Interpretation festgehalten werden- nicht ein Richtergremium, dessen einzelne Assessoren jeder für sich seinen Präsentanten, sei es den Kaiser, einen Kurfürsten, einen Kreis oder einen einzelnen Kreisstand, repräsentierten. Ein solcher besonderer "character repraesentativum" wurde den Assessoren im Interesse ihrer richterlichen Unabhängigkeit von Reichs wegen vielmehr ausdrücklich abgesprochen47 • Nach ihrer Aufschwörung standen die einzelnen Beisitzer in keinerlei rechtlichen Verbindung mehr zu ihren Präsentanten, weswegen sie vor ihrer Amtseinführung ein Zeugnis über ihre Dienstentlassung beibringen und in ihrem Amtseid während ihres Assessorats auf jede andere Dienstverpflichtung verzichten mußten48 . Ebenso wie der Kammerrichter, die Präsidenten und alle anderen Kameralpersonen schworen die Assessoren bei ihrer Introduktion dem Kaiser und dem Reich
47 "Character repraesentativum": zit. nach BALEMANN, Beiträge, S.372, aus§ 10 der Komitial-Deliberationspunkte von 1764 zur Vorbereitung der RKG-Visitation. Dort heißt es: "10. Nachdem ... es auch der Sachen Natur und Eigenschaft mit sich bringet, daß kein Kammergerichtsbeisitzer insonderheit einen Characterem repraesentativum habe ... "; ebs. MOSER, JustizVerfassung, T1.2, S.430; vgl. MOHL, Vergleichung, S.33.- Zur Bewertung dieser und der folgenden Ausflihrungen bietet sich als interessanter Vergleich die Diskussion über die verfassungsrechtliche Stellung der Regimentsräte des zweiten, 1521 etablierten Reichsregiments an. Der Gegensatz zwischen der ständischen und der kaiserlichen Position betr. das Verhältnis der Regimentsräte zu Kaiser und Reich äußerte sich vor allem in dem Tauziehen um die Formulierung ihres Amtseids; dazu aufschlußreich und mit viel Gespür für die zugrundeliegende verfassungsrechtliche Problematik: ROLL, Das zweite Reichsregiment, S.76 ff., bes.79 f., S.81 ff. 48 Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 10 (CJC, S.580); dazu BALEMANN, Beiträge, S.241 ff. Zahlreiche Belege für solche Dienstentlassungen befinden sich in den Präsentationsprotokollen RKG IV C 1 ff. und RKG IV B 2/1 ff. Schon im Generalexamen (Frage 11) wurden die Präsentierten danach befragt, ob sie jemandem mit Eid und Dienst verpflichtet seien und ob diese zurückgegeben werden könnten. Zum Verbot anderweitiger Dienstverpflichtungen neben dem Assessorat s. schon Kap. II.2.2.4. mit Anm.117.
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Treue und Gehorsam 49 , sie traten durch ihre Vereidigung "in das gesamt Verband mit K. Maj. und allen Reichsständen" über, waren nun Diener von Kaiser und Reich50 . Sie wurden Mitglied eines Kameralkollegiums und eines Gerichts, welches in seiner Gesamtheit Kaiser, Kurfürsten und übrige Stände des Reichs "in corpore" repräsentierte51 • Diese freischwebende rechtliche Stellung hatte auf 49 Zusätzlicher Amtseid für alle RKG-Personen in Konz. KGO 1613 Tit.85 § 1: "Weiter ist auch Kayserl. Majestät Befelch, daß ihr geloben und schwören solt, Ihrer Kayserl. Majestät und dem Reich getreu und gehorsam zu seyn" (zit. nach CJC, S.662).
50 Zitat: BALEMANN, Beiträge, S.374; zu dieser Rechtsstellung der Assessoren s. außer BALEMANN auch TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.407 f.; BüSTELL, Grundsätze, T1.1, S.71 ff., bes. S.75; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.185; MOHL, Vergleichung, S.44: "die Mitglieder werden mit ihrer Aufschwörung des Kaysers und Reiches Diener". 51 Gesetzliche Grundlage: JRA 1654 § 165 (LAUFS, JRA 1654, S.77); ebenso Vis.A. 1713 § 22 (CJC, S.967): "beym Gericht (welches überhaupt Ihre Kayserl. Majestät und das Reich allein repraesentiret)"; "in corpore": BosTELL, Grundsätze, Tl.l, S.75; s. auch BALEMANN, Beiträge, S.375, der darauf hinweist, daß nicht jeder einzelne Assessor Kaiser und Reich repräsentierte, sondern nur das ganze Kameralkollegium: "da doch das K.G. überhaupt K. Maj. und das Reich repräsentirt, und eine Vorstellungseigenschaft, die dem ganzen Corpori beigelegt wird, auf jedes individuelle Mitglied nicht passet". - SMEND, Reichskammergericht, S.286, wird dem oben erläuterten, den dualistischen Charakter der Reichsverfassung widerspiegelnden Sachverhalt nicht ganz gerecht, wenn er schreibt: "Formell waren die Beisitzer jedenfalls lediglich Reichsbeamte [Hervorhebung durch die Verf.] und von ihren Präsentanten in keiner Weise abhängig". Smends Formulierung setzt zumindest einen schiefen Akzent, der falschen Interpretationen vom Reich als Anstaltsstaat Tür und Tor öffnet; fast wörtlich nach Smend, ohne ihn zu zitieren: DOTZAUER, Die deutschen Reichskreise (1383-1806), S.457. Derselben Sichtweise leistet bedauerlicherweise ein 2003 erschienener Sammelband Vorschub, der sich vor allem in der Einleitung der Mitherausgeber Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal einer äußerst irreführenden Begrifflichkeit bedient und ein nicht tragfähiges Konzept verfolgt: A. BAUMANN- P. ÜESTMANN- ST. WENDEHORST- S. WESTPHAL (Hgg.), ReichspersonaL Funktionsträger für Kaiser und Reich, Köln- Weimar- Wien 2003, hier bes. die Einleitung S.l-20. Nicht nur ist es hochproblematisch, eine so inhomogene Gruppe wie RKG-Beisitzer, Kammerboten, kaiserliche Kommissare, Reichstagsgesandte, öffentliche Notare oder "poeta laureati" unter einem noch so weit verstandenen Begriff "Reichspersonal" (auch: "imperiales Funktionspersonal", "imperiale Funktionselite", "imperiale "Funktionsträger") zusammenzuzwingen und sie als "Träger eines imperialen Bewußtseins" (S.l9, vgl. S.ll) zu deklarieren. Auch die Aussage "Eine Gemeinsamkeit bildete die rechtliche Anhindung an das Alte Reich" (S.l9) ist, wenn man die Formulierung "rechtliche Anbindung" korrekt verwendet, in dieserundifferenzierten Form und gerade auch in Kombination mit dem falsche Assoziationen erweckenden Oberbegriff "Reichspersonal" nicht haltbar. Dies gilt aus ganz unterschiedlichen Gründen für sämtliche in dem Sammelband behandelten Personengruppen, speziell aber auch für die RKG-Assessoren, wie aus den obigen Ausführungen und anderen Abschnitten über die verfassungsrechtliche Konstruktion des Kameralkollegiums hervorgeht. Wenn Wendehorst und Westphal die von ihnen ins Visier genommenen Personengruppen einschließlich der RKG-Assessoren in Anlehnung an Christirre Roll (Das zweite Reichsregiment, S.l3) als "Reichsbeamtenelite, wie sie sich auch am Reichskammergericht finden läßt", bezeichnen (S.7), dann laufen sie Gefahr, eine Art von Reichsbürokratie zu konstruieren, die weder dem komplexen Wesen der Reichsverfassung noch den ganz unterschiedlichen dienstrechtlichen Verhältnissen dieser als "Reichspersonal" definierten Personengruppen gerecht wird. Speziell gilt dies auch für die oben beschriebene Doppelbindung der RKGAssessoren (als einzelne und als Kameralkollegium) an "Kaiser und Reich", wobei "Reich"
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
der ökonomischen Basis ihre Entsprechung in der Tatsache, daß die einzelnen Assessoren nicht aus den Kammerzielern ihrer jeweiligen Präsentanten besoldet wurden, sondern aus dem großen Topf des Sustentationsfundus, in den sämtliche Kammerzider einflossen52 . Das Erlöschen jedes Rechtsverhältnisses zwischen einem aufgeschworenen RKG-Beisitzer und seinem Präsentanten, der häufig auch noch sein bisheriger Dienstherr gewesen war, zog aus sozialgeschichtlicher Sicht durchaus negative Folgen nach sich, indem ein Assessor zum Beispiel aus seiner Präsentation später keinen Anspruch auf Rückübernahme in die Dienste seines Präsentanten oder auf Versorgung seiner Söhne mit einem Posten an seinem ehemaligen Präsentationshof ableiten konnte 53 • Der den Assessoren reichsgesetzlich abverlangte radikale Rollenwechsel vom Diener und Präsentatus eines bestimmten Reichsfürsten bzw. des Kaisers zum Diener von Kaiser und Reich an einem von Kaiser und Ständen gemeinschaftlich getragenen obersten Gericht war allerdings von Anfang an eine Idealforderung, auch wenn diese Rollendefinition des kammergerichtliehen Assessorenamts auf normativer Ebene immer wieder eingeschärft wurde. So sah sich die vorletzte RKG-Visitation 1713 in ihrem Abschied zu der Klarstellung veranlaßt "Wann nun der praesentirte zur Beysitzer-Stelle gelanget, soll derselbe unter dem unbegründeten Vorwand, als ob Er seinen Praesentanten beym Gericht (welches kein Abstraktum "Staat", sondern die Vielheit aller Reichsstände meinte und ohne die gleichzeitige Bindung an die Komponente "Kaiser" nicht denkbar war. S. jetzt auch die zutreffende kritische Rezension dieses Sammelbandes von B. STOLLBERG-RILINGER, in: ZHF 33, 2006, S.309 f., so S.31 0: "Die Begrifflichkeit suggeriert das Falsche, nämlich einen staatlichen Behördenapparat ... ",und: "Sollen wirklich die Fehler einer veralteten etatistischen Verfassungsgeschichte wiederholt werden?" 52
Diese Konstruktion hatte zur Folge, daß nach dem Ende des Reiches und der Auflösung des RKG 1806 unter den neuen souveränen Staaten eine jahrelange Debatte darüber geführt wurde, wer für den Unterhalt der ehemals über Kammerzider besoldeten Kameralpersonen aufzukommen hatte; dazu s. jetzt eingehend E.-0. MADER, Die letzten "Priester der Gerechtigkeit". Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Berlin 2005.Es war verboten, daß Präsentationshöfe ihre Kammerzider direkt an die von ihnen präsentierten Beisitzer zahlten, damit diese in Zeiten reduzierter Unterhaltsmittel in den vollen Genuß ihres Gehalts kamen. Entgegen diesem Verbot erhielt der kurbrandenburgische Assessor Mathias v. Zememarm während des RKG-Stillstands (1704-1711) seine Besoldung direkt aus dem Kammerziderkontingent seines Präsentanten; dazu Vis.A. 1713 § 107; KREBS, Quinquertium Camerale, 1. Frage§ 122 ff., S.64 ff.; LUDOLF, Historia sustentationis, S.llO, dazu S.ll8 Anm. b) mit dem Kommentar: "daß dergleichen besondere Zahlung das Systema Camerale völlig aufthebet"; kurz SMEND, Reichskammergericht, S.287.- Den Beisitzern war ferner die Annahme von sonstigen Gehältern oder Gnadengeldem seitens ihrer Präsentationshöfe oder anderer Reichsstände verboten; s. vor allem Vis.A. 1713 § 22; dazu s. mit Anführung weiterer einschlägiger Gesetze eingehend und strikt BALEMANN, Beiträge, S.375 ff. Außer Baiernarm erwähnt auch SMEND, Reichskammergericht, S.286 f., einige wenige Übertretungen dieses Verbots. 53
Dazu s.u. die weitere Darstellung, vor allem Kap.IV.2.3.3.
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überhaupt Ihre Kayserl. Majestät und das Reich allein repraesentiret) insonderheit repraesentire, keine Unruhe im Rath noch sonsten anfangen, weder einseitige Berichte vermittelst Entdeckung der Heimlichkeiten deß Collegii, so demselben oder der Visitation zu wissen gebühren, erstatten, vielweniger Geschencke oder Jährliche Bestallung von dem Praesentante [!] oder anderen bey Vermeydung der im § 3 enthaltenen Straffen ziehen, sondern nach beschehener Auffschwöhrung beym Gericht allein von Kayserl. Majestät und dem Reich dependiren ... "54 • Sechs Jahrzehnte später mußte der während der letzten RKG-Visitation erlassene Reichsschluß von 1775 jedoch erneut mißbilligend konstatieren, daß einige Assessoren entgegen dem schon im Visitationsabschied von 1713 ausgesprochenen Verbot "von einem Repräsentations-Geiste sich haben einnehmen lassen; dieser aber ... der Mittheilung einer unpartheyischen gleich durchgehenden Justitz in mehrfaltiger Art schädlich sey: so wäre solcher von denselben ganz abzulegen, und Kayserl. Majestät allerunterthänigst zu bitten, hierwegen geschärfte Verordnung an das Gericht ergehen zu lassen" 55 . Reichsgesetzlich war die Rollenzuweisung flir die RKG-Beisitzer also eindeutig, und man wird den meisten von ihnen unterstellen, daß sie auch guten Willens waren, diese neue Rolle zu übernehmen. Es gehörte jedoch zu den vielen aus der prinzipiellen Konstruktion dieses Gerichts herrührenden Antinomien, daß - je nach Erwartungshaltung des Präsentationshofs und nach Persönlichkeitsstruktur und zukünftigen Karriereplänen des Assessors - nach dessen Aufschwörung eine mehr oder weniger große Spannung zwischen seiner alten und seiner neuen Rolle aufrechterhalten blieb. Schon das polarisierende Konfessionelle Zeitalter war ein günstiger Nährboden flir Äußerungen von Repräsentationsgeist und flir entsprechende Erwartungen auf seiten der Präsentanten. Die Zeit nach dem Westfälischen Frieden und vor allem das 18. Jahrhundert, als die größeren Reichsstände bei gleichzeitigem Festhalten an allen reichsrechtlichen Prärogativen zugleich immer mehr aus dem Reichsverband herauswuchsen, bedeutete in dieser Hinsicht sicherlich noch einmal eine Steigerung. Schon in Gesuchen um die Erteilung einer Präsentation findet sich immer wieder die Versicherung des Bittstellers, daß er als RKG-Beisitzer die Belange des betreffenden 54 55
Vis.A. 1713 § 22 (CJC, S.967 f.).
R.Schl. 1775 § 26 (zit. nach der Edition von PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Textteil, S.l 0; dazu ebd., S.23, 35). Zur Problematik des Repräsentationsgeists, die 1764 im Zusammenhang der Vorbereitung der letzten RKG- Visitation in der Reichsversammlung sehr kontrovers diskutiert wurde, s. TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.408 ff.; MüSER, JustizVerfassung, T1.2, S.430 f., BALEMANN, Beiträge, S.372-375; MOHL, Vergleichung, S.39 f., 43 ff.; kurz BOSTELL, Grundsätze, Tl.l, S.75; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.l85; SMEND, Reichskammergericht, S.286 ff. Speziell diesem Thema widmete sich die Schrift von F.W. TAFINGER, Von der Frage: Ob und wieferne einzelne Beysizer des Reichs-Cammergerichts in einer besondem Verbindung mit ihren hohen Praesentanten stehen, Tübingen 1770.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Reichsstands um so besser vertreten könne. Nach der Aufschwörung gab es in einer Grauzone zwischen Legalität und Illegalität vielfältige subtile Möglichkeiten und Versuchungen fiir einen Assessor und seinen ehemaligen Präsentanten, über Korrespondenzen miteinander in Verbindung zu bleiben oder- was den Assessor betraf- sich auch ohne ausdrückliche Anweisungen als Vertreter seines früheren Präsentationshofs und Sachwalter oder zumindest als Sprachrohr von dessen Interessen zu verstehen. Dieser Repräsentationsgeist äußerte sich wohl am wenigsten in einer direkten Parteilichkeit der betreffenden Assessoren in den Prozeßangelegenheiten ihrer ehemaligen Präsentanten und/oder Dienstherren56. Abgesehen davon, daß eine derartige Gesetzesverletzung von Richterkollegen, Prozeßgegnem und interessierter Öffentlichkeit sofort aufs schärfste verdammt worden wäre und dienstrechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hätte, stand auch das Berufsethos der Assessoren solcher eklatanten Ausübung parteiischer Justiz entgegen. Jedoch gab es unterhalb dieser Ebene einen breiten Spielraum fiir Präsentanten, über die von ihnen präsentierten Assessoren bei entsprechender Bereitschaft Einfluß aufProzeßangelegenheiten- und sei es nur deren Beschleunigung-, auf den im Kameralkollegium immer hochsensiblen Bereich der Konfessionspolitik oder auf allgemeinpolitische Fragen zu nehmen und so das weite atmosphärische Feld von Meinungsbildung und Stimmungsmache zu bestellen57 . Für die Zeit des habsburgisch-preußischen Gegensatzes ist dieser Repräsentationsgeist sowohl fiir die von Berlin als auch von Wien präsentierten Assessoren archivalisch faßbar 58 . Aber auch bei Assessoren anderer Präsentan56 So, abgesehen von der Frühphase des Gerichts, auch SMEND, Reichskammergericht,
S.286 ff., bes. S.288. Allerdings wurde der von 1772 bis 1778 als Obersächs. Kreis-Assessor amtierende Georg Ernst Ludwig Preuschen seit Ende 1775 offenbar nicht ganz zu Unrecht verdächtigt, wegen der am RKG anhängigen Prozesse seines früheren badischen Dienstherrn auch noch von Wetzlar aus weiterhin mit dem Markgrafen und seinen Karlsruher Räten als Rechtsberater in Kontakt gestanden und die betreffenden Rechtssachen bei zuständigen Assessorenkollegen sollizitiert zu haben, s. Biogr. 114 (Preuschen), Vb. Weitere Nachforschungen in reichsständischen Archiven würden möglicherweise doch weitere Beispiele für eine derartige verbotene Beratertätigkeit zutage fördern, die natürlich von seiten des betreffenden RKG-Assessors sowie des von ihm in Prozeßsachen beratenen reichsfürstlichen Hofes so geheim wie nur möglich behandelt wurde.
57 Eindrucksvolle Beispiele für Repräsentationsgeist, aber auch für dessen Grenzen, in den spannungsgeladenen Jahrzehnten vor dem Dreißigjährigen Krieg finden sich bei RUTHMANN, Das richterliche Personal, bes. S.7 f., 14 ff. Zum Repräsentationsgeist der von BrandenburgPreußen präsentierten Beisitzer zugunsten der reformierten Konfession in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts s. mit weiteren Nachweisen JAHNS, Brandenburg-Preußen, S.l92 ff.
58 S. auf habsburgischer Seite: Biogr. 50 (Tönnemann); Biogr. 51 (de L'Eau); Biogr. 52 (Maurer); Biogr. 56 (Martini); Biogr. 65 (J.U. Cramer), Va, betr. den kurböhmischen Assessor Speckmann; auf preußischer Seite: Biogr. 29 (Brand); Biogr. 109 (K. G. Riedesel); vgl. Biogr. 63 (Frantz); s. ferner mit weiteren Nachweisen aus der Fürstenbundszeit JAHNS, Brandenburg-Preußen, bes. S.l97 ff. Die Akten brandenburg-preußischer Provenienz müßten unter
II.3.1.1. Entstehung und Interpretation eines Prinzips: 1495-1555
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ten läßt sich in den Plenarprotokollen immer wieder auf mehr oder weniger verdeckte Art ein Repräsentationsgeist aufspüren, und zwar gerade auch in Präsentationssachen. So war das Kameralkollegium trotz der Intention der Reichsgesetzgebung, dieses oberste Richtergremium aus allen territorialen Bezügen zu lösen, dennoch als Folge des Präsentationssystems von vielerlei sich überschneidenden und kollidierenden Interessen und Meinungen durchzogen, die sich gerade außerhalb des professionellen Bereichs der Urteilstindung auf vielfältige Weise äußerten. Der Reichspublizist Benjamin Ferdinand Mohl bilanzierte 1789 in seinem Vergleich zwischen dem vom Kaiser und vielen Ständen gemeinsam besetzten RKG und dem allein vom Kaiser bestellten RHR zutreffend: "Mit einem Worte, man sieht, daß der Repräsentationsgeist an dem Reichshofrath bey allen Mitgliedern nur eine Richtung, bey dem Cammergericht aber von allen Seiten nimmt" 59 • Die Vorstellung von einer fortbestehenden Verbindung zwischen einem Assessor und seinem ehemaligen Präsentationshof wurde allen entgegenlautenden Reichsgesetzen zum Trotz fortwährend dadurch genährt, daß der Rang der Beisitzer untereinander und damit ihre Sitzordnung im Plenum sich nach dem Rang ihrer Präsentanten bestimmte. Nur in den allerersten Anfängen des reorganisierten RKG läßt sich eine Aufgliederung des Richterkollegiums in zwei nach dem Stand der Assessoren unterschiedene Bänke - eine Ritter- und eine Gelehrtenbank - erkennen. Aus einer von Ende 1498/Anfang 1499 stammenden handschriftlichen Liste des damaligen RKG-Personals geht hervor, daß die- gleich hinter dem Kammerrichter zuerst aufgefiihrten, weil damals als ranghöher angesehenen- Doktoren (darunter auch zwei ritterbürtigen Standes) damals "zu der rechten seytten", die anschließend genannten Altadligen (ein Graf, sonst Ritter, darunter einer zugleich Doktor) "zu der lincken seitten" des Kammerrichters saßen60. Aber mit der Ausbildung des kammergerichtliehen Präsentationssystems diesem Aspekt noch gründlicher untersucht werden.- SMEND, Reichskammergericht, S.288 ff., der hauptsächlich preußische Akten benutzte, sieht m.E. den Repräsentationsgeist zu einseitig nur bei den Protestanten am Werke. 59 MOHL, Vergleichung, S.44. Der aus Stuttgart stammende spätere württembergische Staatsmann Benjamin Ferdinand Mohl (1766-1845), ein Enkel des berühmten Johann Jakob Maser, hatte sich nach Erlangung des juristischen Doktorgrads ab 1787 etwa zwei Jahre lang in Wetzlar, Regensburg und Wien aufgehalten, bevor er zum a.o. Professor der Rechte an der Karlsakademie in Stuttgart ernannt wurde. Wie seine 1789 publizierte "Historisch-politische Vergleichung der beyden höchsten Reichsgerichte" zeigt, kannte er sich mit den Verhältnissen am RKG und am RHR sehr gut aus; über ihn s. ADB 22, 1885, S.54 f.; SCHMIDT-SCHARFF, S.313 (imm. als RKG-Praktikant 1787).
60 Diese handschriftliche Personalliste unbekannter Provenienz von Ende 1498/Anfang 1499 befindet sich in: HStA Stuttg., A 41, Bü. 143. Die Datierung ergibt sich aus den Aufschwörungsdaten der dort aufgeführten RKG-Beisitzer, die aus DENAISIUS, Jus camerale, S.710 f., zu entnehmen sind: Der auf der Liste unter den zur Linken des Kammerrichters sit-
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
wurde die ursprüngliche, primär ständischen Kriterien folgende Sitzordnung paralysiert, und spätestens seit der ersten reichsgesetzlichen Präsentationsordnung von 1507 gehörte die andersartige Rangfolge und Sitzordnung der einzelnen Beisitzer entsprechend dem Rang ihrer namentlich mit aufgeführten Präsentanten dann ohne ausdrückliche normative Regelung bis zum Ende des Alten Reiches zu den Observanzen der Kameralverfassung61 . Es folgten also im Rang aufzenden ritterbürtigen Assessoren als letzter genannte Georg v. Hatzfeld schwor am 3.11.1498 auf; der unmittelbar nach ihm am 9.9.1499 introduzierte Dr. Wilhelm Luninck ist in der Liste noch nicht enthalten. Zu dieser ursprünglich dominierenden Aufgliederung der Assessoren nach dem Gelehrten- bzw. Ritterstand und dem Vorrang der graduierten Beisitzers. auch BALEMANN, Beiträge, S.60; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.l99; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.72.- Vgl. auch die auf dem Wormser Reichstag 1495 angefertigte endgültige Auswahlliste, welche die zur Erst-Besetzung des Kameralkollegiums in die engere Wahl gezogenen Personen aufführt, Druck: SMEND, Reichskammergericht, Beil. 6, S.396 f.; RTA MR 5/I, 1, nr.353, S.444 f.; genaue inhaltliche Analyse bei SMEND, Reichskammergericht, S.25 ff., bes. S.28 f. Darin werden zuerst die gemäß KGO 1495 § 1 für die eine Hälfte der 16 Assessorate vorgesehenen Altadligen (zwei aus dem Grafen und Herrenstand, sonst Ritterbürtige), danach ohne erkennbare optische Abgrenzung die für die andere Hälfte der Assessorate in Aussicht genommenen Doktoren aufgefiihrt. 61 SMEND, Reichskammergericht, S.30 mit Anm.l, beschreibt eine seinerzeit im Geheimen Staatsarchiv Berlin gefundene Liste des RKG-Personals von 1497, die mit der oben beschriebenen 'Stuttgarter Liste' zwar nicht identisch, ihr aber doch recht ähnlich ist. Dennoch interpretiert Smend diese 'Berliner Liste' bereits vom Endpunkt der Entwicklung her, denn sie ftihrt "zum ersten Male die Beisitzer in ihrer späteren Rangfolge auf" (S.30); noch deutlicher SMEND, S.274: "Das Rangverhältnis der Assessoren scheint von vornherein nach dem Rang der von ihnen vertretenen Stände bestimmt zu sein; jedenfalls liegt dem an anderer Stelle [ebd., S.30] erwähnten Verzeichnis der Beisitzer von 1497 schon unverkennbar diese Anordnung zugrunde. Seit 1507 war sie mit der Präsentationsordnung ausdrücklich festgestellt". Diese Auffassung Smends deckt sich nicht mit dem oben referierten Befund, wonach die 'Stuttgarter Liste' von 1498/99 noch deutlich eine Plazierung der Assessoren auf zwei Bänke zur Rechten und zur Linken des Kammerrichters erkennen läßt, aufgeteilt in die Gruppe der damals als ranghöher eingestuften Doctores und die Gruppe der Ritterbürtigen (mit den als assessores illustres fungierenden Grafen und Herren). In der älteren Kameralliteratur ist mehrfach zu lesen, daß die Rangordnung der RKG-Beisitzer nach dem Rang ihrer Präsentanten erst 1507 im Zusammenhang der ersten reichsgesetzlich fixierten Präsentationsordnung aufgekommen sei. Nur weitere Nachforschungen, vor allem nach weiteren handschriftlichen Personallisten dieser Übergangszeit, können Klarheit darüber verschaffen, ab wann die seit der KGO von 1500 (s.o. Anm.lO u. Anm.34) faßbare allmähliche, zunächst informelle Ausformung des Präsentationssystems auch zu einer Veränderung in der Rang- und Sitzordnung führte. Den Endpunkt dieser Entwicklung hin zu einer Rang- und Sitzordnung der Assessoren nach dem Rang ihrer Präsentanten müssen aber auf jeden Fall die zu Beginn dieses Abschnitts II.3.1.1. beschriebenen Präsentationsordnungen in den beiden Kammergerichtsordnungen von 1507 und 1521 gebildet haben. Eine am RKG angefertigte handschriftliche Liste des RKG-Personals von 1549 listet die Assessoren entsprechend dem damals voll entwickelten Präsentationsschema bereits nach dem Rang ihrer Präsentanten auf- von Kurmainz bis hinunter zum Sächsischen Kreis und den danach folgenden Extraordinarien-, auch wenn diese Besetzung 1548 ausnahmsweise der Kaiser anstelle der sonst präsentationsberechtigten Kurfürsten und Kreise vorgenommen hatte (zu der Situation von 1547/48 s.o. mit Anm.43, 44 u. 45); Or. dieser Liste in: Sta Speyer, 1 A 197; s. ebd. weitere handschriftliche, seit den späten siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts in Speyer entstandene Personallisten, die zumeist zu dem betreffenden As-
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einander: die von den geistlichen, dann die von den weltlichen Kurfürsten und erst danach- ein entwicklungsgeschichtliches Kuriosum- die vom Kaiser als Reichsoberhaupt präsentierten Assessoren, darauf die Präsentierten der habsburgischen Erblande Österreich und Burgund und schließlich die Präsentierten der echten Kreise, alles in genauer Entsprechung zu der in dem jeweils gültigen Präsentationsschema festgestellten Reihenfolge der Präsentanten62 . Diese parsessor auch seinen Präsentanten nennen. Entsprechende Listen von ca. 1585 und 1590 befinden sich in: HStA Stuttg., A 41, Bü. 144.- Angesichts der beschriebenen und quellenmäßig dokumentierten Entwicklung ist es um so merkwürdiger, daß das Visitations-Memorial ftir Kammerrichter-Amtsverweser und Beisitzer von 1557 in§ 5 anordnet, "in Umfragen solcher extraordinari Sachen ungefährliche Ordnung unter denen alten und neu ankommenen Beysitzern von beyden Bäncken" zu halten (CJC, S.215). Die einzige Erklärung fur diesen Anachronismus scheint mir zu sein, daß die damaligen Visitatoren des RKG, von auswärts nach Speyer gekommene und mit den Usancen am RKG noch nicht so vertraute kur-und fürstliche Räte, bei der Formulierung des betreffenden Paragraphen die Verhältnisse in den territorialen Obergerichten oder auch im sich damals konsolidierenden RHR vor Augen gehabt hatten. Statt von den Assessoren "von beyden Bäncken" hätten die RKG-Visitatoren des Jahres 1557, wie aus den in diesem § 5 sowie in dem vorherigen § 4 enthaltenen Anordnungen hervorgeht, wohl richtiger von den Assessoren in den Senaten sprechen müssen. Der zitierte Passus in Vis.Mem. 1557 § 5 wurde unkritisch in Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l5 § 15 (CJC, S.593) übernommen, was einmal mehr den kompilatorischen Charakter dieses Entwurfs einer neuen KGO belegt. Dagegen hat die unmittelbar darauf in Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.15 § 16 folgende, auf das Visitations-Memorial ftir Kammerrichter und Beisitzer von 1577 § 7 (CJC, S.345) zurückgehende Verordnung fur die Beratung im Plenum bereits die seit Jahrzehnten geltende Rangund Sitzordnung der Assessoren nach dem Rang ihrer Präsentanten vor Augen: "Hierauff sollen die Beysitzer einjeder in seiner Ordnung sitzen, einander ... anhören, darüber auch ... votiren" (CJC, S.593). Die auf Vis.Mem. 1557 § 5 beruhende Anordnung in Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l5 § 15 mit der oben zitierten anachronistischen Formulierung "Beysitzem von beyden Bäncken" (CJC, S.593) wurde bezeichnenderweise 1768/69 von Johann Heinrich Harpprecht, einem der beiden Revisoren des ersten Teils des Konzepts der KGO von 1613, völlig gestrichen und ersetzt durch eine Neufassung, wonach in Umfragen jeder Assessor "in seiner Ordnung insbesondere aufgerufen ... werden" solle, s. SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.230 (zu § 15). - Dieses fur das Kameralkollegium spezifische, am Rang der Präsentanten orientierte Ordnungsprinzip, das bis 1806 z.B. in den Pierrarprotokollen und in den Personallisten der Kameralkalender entgegentritt, war nirgendwo reichsgesetzlich festgestellt; BOSTELL, Grundsätze, Tl.l, S.88 f. mit Anm.a) und andere zeitgenössische Autoren fuhren die Rangordnung im Plenum daher zu Recht unter den kammergerichtliehen Observanzen bzw. dem hergebrachten Gebrauch in der Kameralverfassung auf. Zu dieser Rangordnung und ihren Besonderheiten s. MüSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.432; PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.9, 40 f.; BALEMANN, Beiträge, S.84; MüHL, Vergleichung, S.26 ff. (fehlerhaft betr. die ursprüngliche Rangordnung); KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.72 ff., 90, 100 mit Anm.*), 107, 114, 137, 141 f.; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.199 f.; SMEND, Reichskammergericht, S.274.- Wenn Bernhard Diestelkamp wiederholt konstatiert, die RKG-Assessoren seien in eine adlige und eine gelehrte Bank aufgeteilt gewesen, so gilt das, wie aus den obigen Ausführungen hervorgeht, nur für die Gründungsjahre des RKG vor der Ausbildung des Präsentationssystems, nicht mehr dagegen ftir die nachfolgenden knapp dreihundert Jahre kammergerichtlicher Existenz, s. DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskarnmergerichts, S.107, 110; vgl. DERS., Vom Königlichen Hofgericht, S.56; DERS., Verwissenschaftlichung, S.115. 62 Das
heißt, in dem ältesten vollentwickelten Präsentationsschema von 1521 rangierten nacheinander die Präsentierten von Kurmainz, Kurtrier, Kurköln (sie saßen in Plenarsitzungen
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
alleleRangfolgevon Präsentanten und Assessoren erklärt auch, warum sich Beisitzer, die zunächst ein rangniedrigeres Kreisassessorat innegehabt hatten, später gern auf ein kurfürstliches oder kaiserliches Assessorat präsentieren ließen. Bei diesem Geschäft auf Gegenseitigkeit gewann der betreffende Assessor einen höheren Rang in der Hierarchie der Assessoren, sein zweiter - kurfürstlicher oder kaiserlicher- Präsentant sicherte sich eine risikolose und rasche Wiederbesetzung seines Assessorats, während den betroffenen Kreisen - nicht selten zu deren Ärger - ein neues Rekrutierungs- und Präsentationsverfahren aufgebürdet und eine zumeist lange Vakanz ihres Assessorats zugemutet wurde. Im 18. Jahrhundert kamen solche Assessoratswechsel immerhin sechsmal vor63 • Anders als die Urteiler an den territorialen Obergerichten und am RHR waren die Assessoren des RKG also abgesehen von der Anfangsphase bis zum Ende des Alten Reiches nicht in eine adlige und eine Gelehrtenbank aufgeteilt und an der Stirnseite des Sitzungstisches rechter Hand des Kammerrichters), Kurpfalz, Kursachsen, Kurbrandenburg (die von den weltlichen Kurftirsten Präsentierten saßen linker Hand des Kammerrichters), Kaiser, Erblande Österreich und Burgund, Fränk., Bayer., Schwäb., Oberrhein., Niederrhein.-Westfäl., Sächs. Kreis. Die Rangfolge der zwischen 1648 und 1806 amtierenden Assessoren ist den in den folgenden Kapiteln II.3.1.2.2. und II.3.1.4. beschriebenen, in diesem Zeitraum gültigen Präsentationsschemata zu entnehmen. Zu den Besonderheiten der Rangfolge gehörte, daß der von Kurtrier und der von Kurköln präsentierte Assessor in den Plenarsitzungen von Monat zu Monat in Rang und Sitz alternierten. Daß die vom Kaiser präsentierten Beisitzer im Rang den kurftirstlichen nachstanden, war eine Folge der oben bereits erwähnten Tatsache, daß die kaiserliche Präsentationsberechtigung entstehungsgeschichtlich jünger war (1521) als die der Kurftirsten (1507). Die Rangfolge der Kreise untereinander (und dementsprechend diejenige der von ihnen präsentierten Assessoren) war nur innerhalb des kammergerichtliehen Präsentationssystems festgelegt, sonst aber in der Reichsverfassung nicht genau bestimmt; s. KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.l41 f. Bei doppelter oder mehrfacher Präsentationsberechtigung ein und desselben Präsentanten rangierte jeweils der dienstältere vor dem dienstjüngeren Assessor, d.h. nur in diesem Fall war zusätzlich das Datum der Aufschwörung ftir den Rang maßgeblich. Dieses Prinzip wurde auch angewendet, als seit 1648 die katholischen und evangelischen Stände der konfessionell gemischten Kreise je eine getrennte Präsentationsberechtigung erhielten, s.u. Kap.II.3.1.2.2.- Die Rangordnung im Plenum wich von der Reihenfolge bei Ablegung der Stimmen etwas ab, die Stimmabgabe folgte der realen Sitzordnung. Es votierten nämlich in Plenarsitzungen im Kreis herum nacheinander, linker Hand des Kammerrichters beginnend, zuerst der dienstjüngere Präsident, dann die von den weltlichen Kurfürsten präsentierten Beisitzer, darauf die vom Kaiser als Reichsoberhaupt, dann die von den Kreisen, danach erst die von den geistlichen Kurfürsten präsentierten Assessoren und zum Schluß der gleich rechter Hand des Kammerrichters sitzende dienstältere Präsident; dazu s. außer den Plenarprotokollen in RKG IV C 1 ff. und RKG IV B 2/1 ff.: MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.294 f.; DANZ, Grundsäze, S.216 f.; s. auch das Schema der Plenarsitzung von 1801 bei KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.313 (die dortige Bezifferung der Assessorate bezieht sich auf deren Rangordnung, nicht auf die Reihenfolge bei der Stimmabgabe, s. auch ebd., S.lOO Anm.*). 63 S. Biogrr. 38 (Ludolf), 65 (J.U. Cramer), 79 (Zillerberg), 88 (Glaubitz), 95 (K.A. Albini). Dazu kam sechstens der schon 1731, also vor dem Stichjahr 1740 gestorbene Philipp Friedrich v. Dresanus, der 1713-1722 als Assessor des kath. Fränkischen Kreises, 1722-1731 als kaiserlicher Assessor amtierte.
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auch nicht auf jeder dieser Bänke wiederum nach dem Dienstalter plaziert. Die flir das Kameralkollegium typische Ausrichtung des Assessorenrangs nach dem Rang ihrer Präsentanten stand aber in offensichtlichem Widerspruch zu dem oben beschriebenen, reichsrechtlich sanktionierten Grundsatz, wonach sich die Beisitzer nach ihrer Aufschwörung keinen besonderen "characterem repraesentativum" anmaßen, sondern allein von Kaiser und Reich insgesamt abhängen sollten. Wie so häufig in der Geschichte des Alten Reiches und speziell des RKG gerieten das Denken vom Ganzen und das Denken von den Teilen her miteinander in Spannung. Schärfer analysierende Reichspublizisten und Kameralschriftsteller erfaßten diese Problematik genau. So kommentierte der bereits zitierte Benjamin Ferdinand Mohl 1789 die herkömmliche Plazierung der Beisitzer nach dem Rang ihrer Präsentationshöfe mit der berechtigten Vermutung, "daß eben dieser vielleicht zufällige Umstand den Geist der Repräsentationen, der sich ohnehin, man mag es in den Reichsgesezen befehlen, so oft man will, nicht gänzlich verbannen läßt, noch mehr erhält, als sonst geschehen würde" 64 . Da das Präsentationssystem bis 1806 als Modus zur Rekrutierung der RKG-Assessoren beibehalten blieb, bedeutete es offensichtlich eine Überforderung aller Beteiligten- Präsentanten und Assessoren-, von eben dieser Matrix des Kameralkollegiums zu abstrahieren, wenn aus Präsentierten aufgeschworene Beisitzer geworden waren. Mohl sah keinen Grund, warum nicht auch im Kameralkollegium die Rang- und Sitzordnung nach dem Dienstalter der Assessoren bestimmt werden sollte, und auch bei Pütter scheinen ähnliche Überlegungen durch65 . Tatsächlich hätte eine neutralere Reihung neben anderen Vorteilen nicht nur dem Repräsentationsgeist eine seiner Wurzeln abgeschnitten, sondern im Karneralkollegium auch manchen diskriminierenden Argumenten gegen sozial mißliebige Präsentierte ranghoher Präsentationshöfe den Boden entzogen66 . Ebenso wie die gesamte Reichsverfassung war aber auch das kammergerichtliche Präsentationssystem und überhaupt die ganze Kameralverfassung schon viel zu versteinert, als daß eine solche Modernisierung der Rangordnung unter den RKGBeisitzern in der Spätphase des Reiches noch realisierbar gewesen wäre. Da der Modus zur Besetzung der RKG-Assessorate schon in seiner bis 1521 erreichten Gestalt die damalige Struktur des Reiches widerspiegelte, blieb die weitere Entwicklung des kammergerichtliehen Präsentationswesens von nun an 64 MOHL,
Verg1eichung, S.32.
65 MOHL,
Verg1eichung, S.32; vgl. PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.9, 40 ff.
66 Der 1753 von Kurrnainz präsentierte Johann Georg Neureuter und der 1752 von Kurböhmen präsentierte Pranz Georg v. Leykam wurden von einem Teil des Kameralkollegiums wegen ihrer niedrigen sozialen Herkunft flir unwürdig gehalten, den ersten Rang (Kurmainz) bzw. das erste Votum (Kurböhmen) unter den Assessoren zu führen; s. Biogr. 2 (Neureuter) und Biogr.19 (Leykam); s. dazu unten Kap.IV.2.3.1.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
aufs engste mit dem Schicksal der Reichsverfassung verknüpft, deren Emanation es seiner ganzen Genese nach war. So wie das größere politische System des Reiches als ein kompliziertes Zusammenspiel mit- und gegeneinander wirkender Teile "von Stabilität und Veränderung der einzelnen Glieder her bestimmt" wurde67, ist auch das Präsentationswesen in eben diesem Sinne als System zu begreifen. Stabilität in der Reichsverfassung in ihrem de jure-Zustand und möglichst auch im de facto-Zustand bedeutete auch Stabilität der kammergerichtliehen Präsentationsordnung. Die immer wieder als Blütezeit des RKG apostrophierte zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der zwar in pragmatischer Anpassung an die steigende Beanspruchung des RKG die Gesamtzahl der Assessorate erhöht wurde, am Kreis der Präsentanten aber nichts geändert zu werden brauchte, ist dafiir der beste Beweis. Umgekehrt mußten nach 1521 alle gravierenden Veränderungen im politisch-verfassungsrechtlichen Gefüge des Reiches früher oder später im Sinne von Anpassungsleistungen auch zu Veränderungen im Präsentationsschema und zu dessen erneuter Austarierung führen, sollte das Präsentationswesen nicht einer permanenten Zerreißprobe ausgesetzt werden. Es ist nicht ohne Grund, daß einige Reichspublizisten und Kameralschriftsteller mit Gespür für diese Zusammenhänge seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts neben dem bisher gebräuchlichen Begriff "Präsentationswesen" wahlweise auch den Terminus "Präsentationssystem" zu verwenden begannen68 . Damals war der Begriff "System" für sich allein oder in Verbindung mit anderen Substantiven ein beliebtes Modewort, das in der Kombination "Reichssystem" sowohl in der Publizistik als auch in ungedruckten Quellen aus der Feder politisch denkender Zeitgenossen häufig begegnet69 . Einige Autoren stellten in den letzten Jahrzehn67 V. PRESS, Das römisch-deutsche Reich- ein politisches System in verfassungs-und sozialgeschichtlicher Fragestellung, in: G. Klingenstein- H. Lutz (Hgg.), Spezialforschung und »Gesamtgeschichte«. Beispiele und Methodenfragen zur Geschichte der frühen Neuzeit, München 1982, S.221-242, Zitat S.226 f. (wiederabgedruckt in: DERS., Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, hg. von J. Kunisch, Berlin 1997, S.18-41, Zitat S.24). 68 "Präsentationssystem": so BALEMANN, Beiträge, S.77 f.; MOHL, Vergleichung, S.36, 40, 42, 49; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.36, 42, 55, 72, 75 f.
69 Zum Begriff des Systems als beliebter Figur in politischen Abhandlungen des 18. Jahrhunderts s. PRESS, Das römisch-deutsche Reich, S.226 mit Anm.19; auch B. ROECK, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion um die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1984, S.30 ff.- Dieselben Autoren, die vom Präsentationssystem sprachen, verwendeten den Terminus System auch in anderen Wortverbindungen, z.B. BALEMANN, Beiträge, S.18: "Unterhaltungssystem", ebd., S.32: "System der beständigen Senate"; MOHL, Vergleichung, S.47, im Zusammenhang des Repräsentationsgeists: "Repräsentations-System". Schon LUDOLF, Historia sustentationis, S.118, bezeichnet 1721 das von Kammerzielern finanzierte RKG-Unterhaltungswesen als "Systema Camerale". S. ferner Selchow in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, Vorrede§ 9: "System des Kameralprozesses". Loskand in: ebd., S.16, redet im Zusammenhang der einzelnen Kreispräsentationen und des (nicht genau festgelegten) Teilnehmerkreises in den Kreisen ebenfalls von
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ten des Alten Reiches expressis verbis den Zusammenhang zwischen Reichssystem und Kameralverfassung her. So sprach der spätere RKG-Beisitzer Georg Gottlob Balemann 1778 von einer "für die Erhaltung des K.Gerichts und des damit fest verknüpften Reichssystems" erforderlichen Reform des kammergerichtliehen Unterhaltungswesens zur Finanzierung der damals 25 Assessorate 70 . Der Assessor Karl Georg Riedesel Freiherr zu Eisenbach erhoffte 1786, während der Fürstenbundszeit, in seinem Entwurf eines kammergerichtliehen Glückwunschschreibens zum Regierungsantritt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. dessen "maechtigen Schutz für die Erhaltung des Reichssistems und mithin auch unsers damit so eng verknüpften Reichsgerichts" 71 • Speziell auf die Abhängigkeit des kammergerichtliehen Präsentationswesens vom Reichssystem verwies 1768/69 der mit der Revision des ersten Teils der Kammergerichtsordnung beauftragte Assessor Johann Heinrich Freiherr v. Harpprecht mit seiner Überschrift: "Wie die Präsentationen der Reichsstände und Reichs-Kreise nach gegenwärtiger Reichs-Verfassung geschehen sollen?" 72 Am deutlichsten brachte denselben Zusammenhang 1789 der Publizist Benjamin Ferdinand Mahl zum Ausdruck, als er im Vergleich mit dem ganz andersartigen Modus zur Besetzung des RHR konstatierte: "Das Präsentations-System an dem Cammergerichte hingegen hat viele Veränderungen erlitten, bis es in die jezige Ordnung gekommen ist, ja es kann sich, je nachdem sich einige noch nicht entwikelte Puncte unserer deutschen Politic auflösen, in kurzer Zeit noch stark verändern. Bey der Errichtung des Cammergerichtes wurden die Mitglieder auf dem Reichstage gewählt .... So wie sich aber überhaupt mit dem Cammergerichte die ständische TerritorialVerfassung bildete, und so wie sich gerade um diese Zeit das, wenn ich so sagen darf, völkerrechtlich nachbarliche System der deutschen Reichsstände immer mehr hob, so vertheilte man die Präsentationen unter die Stände nach einer gewissen, seitdem fast ganz beybehaltenen Ordnung" 73 . Mag Mahls Wortwahl zur Charakterisierung der für ihn fast 300 Jahre zurückliegenden reichsverfassungseinem zwar wünschenswerten, aber nicht realisierbaren festen "Sistem". B. F. MOHL schrieb eine Abhandlung mit dem Titel: Versuch eines Systemes der Gerichtsbarkeit des kayserlichen Reichs-Cammergerichtes, 2 Tle., Tübingen 1791. 70 BALEMANN,
Beiträge, 8.29.
Entwurf Riedesels vom 18.9.1786 mit nachträglichen eigenhändigen, auf Verlangen einiger kaiserlich gesinnter Assessoren angebrachten Korrekturen, in: RKG IV C 52 fo1.208b; s. auch Biogr. 109 (K.G. Riedesel), VIlla); zum Kontext dieses Entwurfs s. JAHNS, Brandenburg-Preußen, 8.198 ff., bes. 8.200 f.; zur Fürstenbundszeit s. vor allem ARETIN, Das Alte Reich 1648-1806, Bd.3, 8.299 ff. 71
72 Harpprechts Überschrift zu zwei Entwürfen einer Neufassung von Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.2, in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, 8.18 ff., 22 ff.; unter derselben Überschrift auch abgedruckt in: BALEMANN, Beiträge, 8.66 ff., 70 ff. 73
MüHL, Vergleichung, 8.36 f.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
rechtlichen Verhältnisse um 15 00 aus heutiger Sicht auch anachronistisch sein, seine Reflexion über die genuine Verknüpfung von Reichs- und Präsentationssystem - eine Erkenntnis, die andere Kameralschriftsteller dem Leser zumeist nur indirekt über die entwicklungsgeschichtliche Beschreibung des Präsentationswesens vermitteln- hat Bestand74 . Nur wenn man diese enge Symbiose ignoriert bzw. davon abstrahiert, kann man das kammergerichtliche Präsentationswesen als eine bloße Summe weitgehend formaler Regeln beschreiben (wieviele Assessorate gab es und wer war präsentationsberechtigt?), die zwar durchaus kompliziert, aber scheinbar relativ statisch und wenig konfliktträchtig wirken75 . Je mehr aber der komplexe Zusammenhang zwischen dem politisch-verfassungsrechtlichen Gefüge des Reiches und der ganzen Präsentationsmaterie ins Blickfeld gerät, um so deutlicher werden die vielfältigen Elemente der Bewegung, die - vom größeren System des Reiches herkommend- das Präsentationssystem über drei Jahrhunderte hinweg mit Dynamik und Spannung erfüllten und gegebenenfalls unter Veränderungsdruck setzten. Dieses Kräftespiel äußert sich nicht nur in einer an der politischen und Verfassungsgeschichte des Reiches orientierten Geschichte des normativen Präsentationsschemas, sondern ganz konkret auch in den vielen einzelnen Präsentationsverläufen, die sich aus einer Fülle von Vorakten der Präsentationshöfe, Korrespondenzen zwischen Präsentanten und RKG sowie den internen Plenarprotokollen des Kameralkollegiums rekonstruieren lassen76 • Nachdem die erste Entwicklungsstufe des Präsentationsschemas 1521 vollendet war, kamen die nächsten Impulse zur Anpassung des kammergerichtliehen Präsentationswesens an die Reichsverfassung vor allem von den tiefgreifenden Veränderungen, welche die Reformation im Gefüge des Reiches bewirkte. Spätestens seit dem Augsburger Reichsabschied von 1530, der das katholische Kirchenwesen unter den Schutz des Landfriedens stellte und jede reformatorische Neuerung als Landfriedensbruch definierte, ging von dem am RKG geführten 11 rechtlichen Krieg 11 wegen der drohenden Verhängung der Reichsacht die größte Gefahr für die protestantischen Reichsstände aus. Das gesamte Personal des 74 Auch SMEND, Reichskammergericht, der sich über den Zusammenhang von Reichsverfassung und Präsentationssystem im übrigen theoretisch nur wenig äußert, zieht S.294 den Schluß, daß "sich in der Kompliziertheit der Beziehungen, die für die staatsrechtliche Bedeutung des Präsentationsrechts in Betracht kommen, ein gutes Stück der Reichsverfassungsgeschichte der letzten Jahrhunderte spiegelt". 75 Exemplarisch für diese Art, das Präsentationswesen abzuhandeln, ist die im übrigen sehr faktenreiche handbuchartige Darstellung von MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.86 ff. 76 S. die Präsentationsverläufe der im engeren Untersuchungszeitraum 1740-1806 als RKGBeisitzer amtierenden bzw. auf ein RKG-Assessorat präsentierten 128 Juristen in den in Tl.II dieser Untersuchung zusammengestellten Biographien (dort jeweils Abschnitt V, z.Tl. auch Abschnitt VI, mit Kommentaren und Quellenbelegen).
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RKG wurde auf diesen reformationsfeindlichen Abschied und speziell auf seine Religionsbestimmungen verpflichtet und hatte auf entsprechende Klagen der altgläubigenSeitegegen die Protestanten zu verfahren77 • Da neben der Rechtslage auch die 1530 reichsgesetzlich verordnete rein katholische Besetzung des Kameralkollegiums eine Ursache für die Parteilichkeit des RKG in diesen Reformationsprozessen war, konzentrierten sich die evangelischen Stände neben vergeblichen Versuchen, die Prozesse zum Stillstand zu bringen oder die Zuständigkeit des Gerichts abzulehnen, seit den Stillstandsverhandlungen des Jahres 1532 auch darauf, durch eine "gleichmessige" Besetzung unparteiischere Verfahren und Urteile zu erlangen. Im einzelnen forderten die protestantischen Reichsstände unter anderem, daß sie Juristen ihrer Religion zu Beisitzern am RKG präsentieren und daß diese vom Kameralkollegium nicht abgelehnt werden dürften. Überhaupt dürfe kein Angehöriger des RKG wegen seiner Zugehörigkeit zur Augsburgischen Konfession seines Amtes entsetzt werden, und den Karneralpersonen solle es frei stehen, ihren Eid in der katholischen (zu Gott und den Heiligen) oder in der protestantischen Version (zu Gott und auf das Evangelium) zu schwören. Ein entsprechendes kaiserliches Zugeständnis, von Karl V. 1541 in seiner Regensburger Deklaration unter außenpolitischem Druck gemacht und im Speyerer Reichsabschied von 1544 gegen den Willen der katholischen Stände sogar reichsgesetztlieh sanktioniert, wurde jedoch nicht verwirkliche 8• Für die 77 RA 1530 § 91, dazu§§ 66 u. 67 (NVSRA T1.2, S.320, 316); dazu SMEND, Reichskammergericht, S.138 ff.; weiterführende Literatur zum "rechtlichen Krieg", den die altg1äubige Partei in Form der Reformationsprozesse gegen die Protestanten führte, s. Kap.II.l.l. mit Anm.21; s. auch JAHNS, Ringen, S.414 f. mit Anm.16 (ebd. weitere Literatur). 78 Zu den hier referierten protestantischen Bemühungen und nicht eingehaltenen Zusagen s. mit Quellenzitaten sowie Quellen- und Literaturnachweisen bereits JAHNS, Ringen, S.415 f. mit Anm.17 u. 18. Ergänzend sind jetzt die Akteneditionen zum Speyerer Reichstag von 1542 (RTA JR 12/1-2, 2003) sowie zum Speyerer Reichstag von 1544 (RTA JR 15/1-4, 2001) heranzuziehen, worin sich der Kampf der evangelischen Reichsstände um Zulassung von Juristen der Augsburgischen Konfession zum RKG-Assessorat sehr gut verfolgen läßt. Zu den 1542 vergeblich vorgebrachten Forderungen "wegen des gleichmessigen rechtens" s. vor allem RTA JR 1211, Einleitung, S.65 f.; RTA JR 12/2, S.717 ff., mit den Akten der Verhandlungen über Religion, Friede und Recht (Zitat S.762); zu 1544 s. vor allem RTA JR 1511, Einleitung, S.74 ff., 77 ff. (dort auch über die kaiserliche Regensburger Deklaration von 1541), 127 ff.; RTA JR 15/3, S.l319 ff., mit den Akten zum selben Verhandlungsgegenstand; sowie RTA JR 15/4, nr.565, mit dem Speyerer Reichsabschied von 1544. Ebd., S.2275, heißt es in RA 1544 § 92, daß der Kaiser und die präsentationsberechtigten Stände im Zuge der bevorstehenden Neubesetzung der RKG-Assessorate Personen präsentierten sollten, die qualifiziert seien, "unangesehen welches theyls religiondie sein". Diesen Beisitzern sollte "nach gelegenheyt eyns jeden, davon sie presentiert", ebenso wie allen anderen Gerichtspersonen freistehen, ihren Amtseid "nach dem alten brauch zu Gott und den heyligen oder zu Gott und auf das hl. evangelium zu thun". Dieses von den altgläubigen Ständen ohnehin nicht mitgetragene Zugeständnis wurde durch die unmittelbar nach dem Ende des Speyerer Reichstags im Juni 1544 erfolgte Auflösung des RKG sowie durch die veränderte militärisch-politische Situation im Gefolge des Schmalkaldischen Krieges hinfallig; s. die folgende Darstellung. - Die Quellen belegen,
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11.3. Die Besetzung der Assessorate
altgläubige Seite war eine Besetzung von RKG-Assessoraten mit den von ihnen als Ketzern verdammten Anhängern der neuen Lehre damals noch unvorstellbar, und das galt letztlich auch fiir den Kaiser. Auf dem Höhepunkt seiner Macht, nach dem Sieg über die Protestanten im Schmalkaldischen Krieg, konnte Karl V. 1547/48 auf dem "Geharnischten" Augsburger Reichstag im Interesse seiner religionspolitischen Ziele nicht nur erreichen, daß die präsentationsberechtigten Reichsstände die fällige Neubesetzung des gesamten Kameralkollegiums für dieses Mal ausschließlich ihm überließen. Außerdem setzten Kaiser und altgläubige Stände in den Verhandlungen über die Neufassung der Kammergerichtsordnung gegen den Widerstand der machtlosen evangelischen Fürsten durch, daß in der revidierten Ordnung die durchgehende Katholizität des gesamten Gerichtspersonals festgeschrieben wurde. Im Artikel über die Eigenschaften von Kammerrichter und Beisitzern heißt es in einer als Dauerregelung gedachten Religionsklausel, "das chammerrichter und beysitzer samentlieh und sonderlich, so zu diesem mal durch uns allain, und hinfuro durch uns, die churfursten und krais jederzeit presentirt und geordnet werden, dergleichen alle andere personen des chammergerichts sich der religion der gemainen catholischen, cristlichen kireben gemes halten und sich keiner sondern secten anhengich machen". Widrigenfalls wurde mit Amtsentsetzung gedroht. Entsprechend durften Kammerrichter und Beisitzer - in die Gruppe der letzteren waren die Präsidenten eingeschlossen - sowie alle übrigen Kameralpersonen in ihrem Amtseid nur in der katholischen Version zu Gott und den Heiligen schwören79 • Damit hatten die daß man die in der ersten Hälfte der 1540er Jahre erhobenen protestantischen Forderungen nach "gleichmessiger besatzung" (zit nach RTA JR 12/2, S.762; vgl. ebd., S.774) und das daraufhin vom Kaiser 1541 gemachte, im Speyerer Reichsabschied von 1544 sanktionierte Zugeständnis keinesfalls als paritätisch im Sinne numerischer Konfessionsparität deuten darf, wie es eine Formulierung bei SMEND, Reichskammergericht, S.171, nahelegt Der Begriff 'paritätisch' ist im Zusammenhang mit der personellen Besetzung des RKG ftir die Jahre vor dem Augsburger Religionsfrieden ebenso zu vermeiden wie dann ftir 1555, weil er die Bedeutung von zahlenmäßiger Gleichheit suggeriert. Es ging den Protestanten in den vierziger Jahren um gleichberechtigten Zugang von Angehörigen ihrer Religion zu den Kameralämtern, vor allem zum Beisitzeramt Sie forderten auf dem Speyerer Reichstag von 1542, "daß denen protestirenden Ständen frey bleibe, diejenige, so sie am Cammer-Gericht zu setzen haben, mit tauglichen Personen ihrer Religion zu besetzen", so HARPPRECHT, Staats-Archiv, Tl.5, S.141 (Harpprecht referiert hier offenbar aus der am 24.3.1542 überreichten "dritten Eingabe" der evangelischen Stände, Druck: RTA JR 12/2, nr.132, S.778-784, hier S.780). Diese Forderung, der das Prinzip der numerischen Parität noch nicht zugrunde lag, wurde nach der oben zitierten folgenlosen Zusicherung in RA 1544 § 92 schließlich 1555 im Augsburger Religionsfrieden erfüllt; s. die weitere Darstellung. 79 Druck der dreiteiligen revidierten KGO von 1548, die größtenteils unverändert in die KGO von 1555 übernommen wurde: RTA JR 18/2, nr.116, S.1231-1438. Die zitierte Religionsklausel befindet sich in Tl.1 Art.3 (letzter Absatz), die Eidesformeln in Tl.1 Art.57 ff. (ebd., S.1244, 1316 ff.). Der Verabschiedung der KGO von 1548, die auf einen Entwurf der beiden ehemaligen RKG-Assessoren Dr. Konrad Visch und Dr. Konrad Braun zurückging
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evangelischen Stände in der religionspolitisch hochbrisanten Besetzungsfrage, mit der aus evangelischer Sicht die Unparteilichkeit des Gerichts stand und fiel, vorerst eine Niederlage erlitten. Erst in einer grundlegend veränderten Situation erfüllten der Passauer Vertrag von 155280 und dann vor allem der Augsburger Reichstag von 1555, der dem lutherischen Bekenntnis im Religionsfrieden endlich die reichsrechtliche Anerkennung brachte, den Wunsch der protestantischen Stände nach Zulassung von Glaubensverwandten zum RKG. Der Augsburger Reichsabschied verpflichtete das RKG nicht nur auf das materielle Recht des Religionsfriedens. Er bestimmte außerdem, "daß hinführo der Cammer-Richter [erg.: die Präsidenten] und Beysitzer sammtlich und sonderlich, dergleichen alle andere Personen deß CammerGerichts von beyden, der alten Religion und der Augspurgischen Confession, präsentirt und geordnet werden mögen", eine Regelung, die auch in die 1555 revidierte KGO übernommen wurde 81 • Dieses Zugeständnis bedeutete keine numerische Konfessionsparität bei der Besetzung des Kameralkollegiums und der an(besonders letzterer galt den evangelischen Ständen als unnachgiebiger Katholik) gingen in Augsburg kontroverse Verhandlungen über die umstrittene Religionsklausel und die Eidesformel voraus, s. die einschlägigen Akten in RTA JR 18/2, S.997 ff.; dazu RTA JR 18/1, Einleitung, S.75 ff.; s. auch SMEND, Reichskammergericht, S.l73, 175, 267 f.; SCHULZ, Einflußnahme (nicht immer überzeugend, vgl. S.87 f.); differenzierter RABE, Reichsbund und Interim, S.303 ff., bes. 306 ff.- Über das vom Kaiser auf dem Augsburger Reichstag 1547/48 durchgesetzte Recht, anläßtich der bevorstehenden Wiedereröffnung und Neubesetzung des RKG außer dem Kammerrichter auch sämtliche RKG-Assessoren für diesmal allein ernennen zu dürfen, sowie über die an dieses Zugeständnis von den Reichsständen geknüpften Bedingungen s.o. mit Anm.43, 44 u. 45 sowie Kap.III.1.1. mit Anm.9-12. 80
Passauer Vertrag 1552 §§ 10-12 (NVSRA Tl.3, S.6; ebs. CJC, S.111). In den§§ 11 und 12 vereinbarten die Vertragspartner, auf dem nächsten Reichstag bei den endgültigen Friedensverhandlungen dafür Sorge zu tragen, daß künftig bei der Präsentation von Beisitzern "die Verwandten der Augspurgischen Confession am Kays. Cammer-Gericht nicht ausgeschlossen" würden; s. auch die entsprechenden Passagen in der völlig unübersichtlichen und auch sonst problematischen Edition von V.H. DRECOLL (Hg.), Der Passauer Vertrag (1552). Einleitung und Edition, Berlin- New York 2000, hier S.112-114. 81 RA 1555 § 106 (Zitat), dazu§§ 104, 105, 107 (NVSRA Tl.3, S.33; ebs. CJC, S.111 f.); dazu KGO 1555 Tl.l Tit.3 § 3, Tit.50 § 4 (LAUFS, KGO 1555, S.76, 148). Für die Eidesformel verglich man sich auf den von sämtlichen Kameralpersonen abzulegenden Schwur auf Gott und das Heilige Evangelium, s. ebd. Tit.57 ff. (LAUFS, KGO 1555, S.151 ff.); dazu (in Auswahl): BALEMANN, Beiträge, S.174-184; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S. 70 ff.; SMEND, Reichskammergericht, S.l79 f.; L. WEBER, Parität, S.119 ff., bes. 121 f.; H. RABE, Der Augsburger Religionsfriede und das Reichskammergericht 1555-1600, in: H. Rabe u.a. (Hgg.), Festgabe f. E. W. Zeeden, Münster 1976, S.260-280, hier 272 f.- In den Bestimmungen ist, soweit es um das Kameralkollegium geht, immer nur von Kammerrichter und Assessoren, nicht auch von den Präsidenten die Rede. Das hängt mit der oben in Kap.II.2.2.2. erörterten Tatsache zusammen, daß die Präsidenten ursprünglich aus der Gruppe der Assessoren hervorgegangen und erst im Zuge eines Funktionswandels zu Direktorialpersonen neben dem Kammerrichtergeworden waren. Dieser Prozeß war 1555 weitgehend, aber noch nicht restlos abgeschlossen, weswegen die Präsidenten 1555 noch unter den Beisitzern mitgedacht sind.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
deren Kameralämter82 . Eine solche zahlenmäßige Gleichheit war weder 1552/55 noch vorher von evangelischer Seite gefordert worden. 1555 erreichten die Protestanten nichts anderes, aber auch nicht weniger als die gleichberechtigte Zulassung von Anhängern der Augsburgischen Konfession zu - theoretisch - allen Kameralämtern, wie sie es schon in der ersten Hälfte der vierziger Jahre gefordert und zugesichert bekommen hatten. Analog zum 'ius reformandi', zur Religionshoheit innerhalb ihrer Territorien, hatten die Reichsstände der Augsburgischen Konfession seit 1555 ein gleiches Recht ("Gleichheit") wie der Kaiser und die katholischen Reichsstände, im Rahmen ihrer Präsentationsberechtigungen Angehörige ihrer eigenen Religion an das RKG zu entsenden. Insofern entsprachen die Bestimmungen von 1555 zur Besetzung des RKG ganz der protestantischen Rechtsauffassung, wonach die Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit der Konfessionen ein Grundzug des Augsburger Religionsfriedens waren. 83 Das bedeutete aber auch, daß der Kaiser und die katholischen Stände seit 1555 ihrerseits das Recht hatten, im Rahmen ihrer Präsentations- bzw. Ernennungsrechte weiterhin Personen ihrer Konfession für Kameralämter auszuwählen. Nur deshalb waren für sie die Bestimmungen von 1555, wonach Angehörige beider Konfessionen zu allen Kameralämtern vom Kammerrichteramt abwärts entsandt werden konnten, akzeptabel. Angesichts der Option des Kaisers und der Mehrheit der Reichsstände zugunsten des katholischen Glaubens war 1555 in der Pra82 So auch schon BALEMANN, Beiträge, S.183 f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.71; SMEND, Reichskammergericht, S.180; RABE, Augsburger Religionsfriede, S.272 f.; LAUFS, KGO 1555, Einleitung, S.22; RUTHMANN, Die Religionsprozesse als Folge der Glaubensspaltung, S.235; JAHNS, Ringen, S.417. Es ist irreführend, im Zusammenhang mit 1555 schon von "paritätischer Besetzung des Kammergerichts" zu sprechen, wie dies Hecke! 1959 tat, vor allem, wenn man dabei nicht klar von der erst später geforderten und noch später erreichten numerischen Konfessionsparität abgrenzt, s. M. HECKEL, Autonomia und Pacis Compositio. Der Augsburger Religionsfriede in der Deutung der Gegenreformation, in: ZRG KA 45, 1959, S.141-248, hier S.194; zu Heckeis Formulierung auch schon kritisch RABE, Augsburger Religionsfriede, S.273 mit Anm.26; jetzt auch GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, S.406 mit Anm.647. Einen falschen Eindruck von den protestantischen Intentionen erwecken auch die Formulierungen von BRÖHMER, Einwirkungen, S.18: "Der Augsburger Religionsfriede [... ] bedeutete für die Protestanten nach langem Kampfe um die Parität am Reichskammergericht den ersten größeren Erfolg"; sowie von L. WEBER, Parität, S.121: "Man unterließ es jedoch, den beiden Konfessionen je die gleiche Zahl von Beisitzern zuzugestehen". 83 In diesem Sinne "der Gleichwertigkeit und des Gleichranges beider Konfessionen" verwendet Martin Hecke! schon für den Augsburger Religionsfrieden den Begriff der "vollen Parität" oder "wirklichen Parität" bzw. spricht von "Parität des Gesamtsystems von 1555", s. HECKEL, Deutschland, S.62 f.; s. auch ebd., S.53 ("neue Gleichheit und Gleichwertigkeit der beiden Konfessionsparteien"). Von einer numerischen Konfessionsparität ist dieser weitgefaßte Paritätsbegriff Heckeis aber strikt zu unterscheiden. Überhaupt sollte man bei der Interpretation des Augsburger Religionsfriedens auf die - auf Rechtsgleichheit und nicht nur auf Chancengleichheit zielende - rechtliche Kategorie der Parität verzichten, wie zuletzt auch GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, S.162-170, in kritischer Auseinandersetzung mit Heckeis Paritätsbegriffbetont hat.
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xis sichergestellt, daß die Ämter des Kammerrichters und der Präsidenten sowie die Mehrheit der Assessorate weiterhin katholisch besetzt sein würden, ebenso die in kurmainzischer Hand befindliche RKG-Kanzlei. Im Kameralkollegium konnten die Protestanten nach dem Stand von 1555 nur mit einer wenn auch starken Minderheit von evangelischen Beisitzern vertreten sein84 . Mit der 1555 verabschiedeten Öffnung der Kameralämter auch für Angehörige der Augsburgischen Konfession - Pendant zur Verpflichtung des Gerichts auf materielle Rechtsanwendung gemäß dem Religionsfrieden - war dem im Friedenswerk sanktionierten Nebeneinander zweier Konfessionen im Reich sofort auch für das RKG Rechnung getragen. In dieser Modifikation der Kameralverfassung konnten sich beide Konfessionsparteien mit ihrem jeweiligen Verständnis von der Reichs- und Religionsverfassung 1555 wiederfinden und ebenso zunächst auch noch in den folgenden rund zwei Jahrzehnten eines einigermaßen funktionierenden Religionsfriedens. Was die Bedeutung dieser Bestimmungen für das kammergerichtliche Präsentationswesen betrifft, ist jedoch abschließend noch einmal zu betonen, daß die Entscheidung zugunsten der Präsentation eines katholischen Juristen oder aber eines Anhängers der Augsburgischen Konfession auf ein RKG-Assessorat 1555 nur erst in das Belieben der präsentationsberechtigten Stände gestellt wurde. Anders als hundert Jahre später im Westnilischen Frieden und im Jüngsten Reichsabschied wurde der konfessionelle Charakter der einzelnen Präsentationsberechtigungen 1555 reichsgesetzlich noch nicht festgelegt, und schon gar nicht schrieb das Augsburger Normenwerk schon eine zahlenmäßige Gleichheit von katholischen und evangelischen Assessoren vor. Folglich enthielt die KGO von 1555 ein einheitliches Präsentationsschema- genau wie die KGO von 1548, deren Religionsklausel natürlich gestrichen wurde. Auch was den Kreis der Präsentationsberechtigten betraf, konnte die KGO von 1555 voll und ganz der KGO von 1548 folgen, die in dieser Hinsicht die KGO 84 Die Formulierungen im Augsburger Reichsabschied und in der KGO von 1555 schlossen theoretisch allerdings auch nicht aus, daß sich die Konfessionsverhältnisse am RKG und vor allem bei den Assessoren in Zukunft doch noch stärker zugunsten der protestantischen Seite ändern könnten, wenn nämlich weitere weltliche und sogar auch geistliche Reichsstände der Augsburger Konfession zufallen würden. Die Entwicklung nach 1555 sollte zeigen, daß die protestantischen Stände derartige expansiven Bestrebungen sehr wohl verfolgten - vor allem auch durch Bekämpfung der Rechtsgültigkeit des Geistlichen Vorbehalts-, daß die katholische Seite sich einer solchen Entwicklung allerdings auch mit allen Mitteln entgegenstemmte. In der Praxis blieb es im Konfessionellen Zeitalter mit schwankenden Zahlen beim Minderheitenstatus der protestantischen Assessoren (im Schnitt rund ein Drittel; zu den lutherischen kamen seit dem späten 16. Jahrhundert immer auch einige wenige reformierte). Genaue Zahlenangaben zur Konfessionsverteilung bei den Assessoren vor und nach 1600 macht RUTHMANN, Das richterliche Personal, S.9 ff. mit S.25 f., Anhang 1 u. 2 (1593 u. 1610); auch schon DERS., Die Religionsprozesse als Folge der Glaubensspaltung, S.235 (1610 u. 1620); vgl. auch die Zahlenangaben bei SMEND, Reichskammergericht, S.270 Anm.2 (1608, 1620, 1643).
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
von 1521 fortschrieb. Nur ging die Ernennung der beiden Assessoren aus dem Grafen- und Herrenstand, der Präsidenten, seit 1548/55 nun auch reichsgesetzlich endgültig in die alleinige Regie des Kaisers über, und eine schon 1530 vorgenommene Erhöhung der ordentlichen Assessorate auf 22 (die beiden Präsidenten nicht mitgerechnet) wurde ebenso wie schon in der KGO von 1548 nun auch in der KGO von 1555 fixiert 85 . Während das abstrakte Prinzip der zahlenmäßigen Konfessionsparität (bzw. der Verfahrensparität), angewendet auf die Reichs- und Religionsverfassung als Ganzes und speziell auch auf das an das Reichssystem angekoppelte Kameralkollegium, 1555 noch nicht als unabdingbare Grundnorm im Verfassungsdenken der protestantischen Stände verankert war, kam eben dieses Prinzip schon im Umfeld des Augsburger Religionsfriedens in einem begrenzten, aber hochsensiblen Bereich zum Zuge, der für die Erfüllung des protestantischen Wunsches nach unparteiischer Justiz in Religionssachen damals der eigentlich entscheidende war, nämlich in der inneren Organisation und Judikatur des RKG. Schon der Passauer Vertrag von 1552 enthielt das Versprechen, daß auf dem nächsten Reichstag Kaiser und Stände anläßlich der Überarbeitung der KGO dafür Sorge tragen würden, "damit in Religions-Sachen kein Theil sich deß Uberstimmens 85 Gegenüber der auf insgesamt 16 (zusammen mit den zwei "assessores generosi" aus dem Grafen- und Herrenstand auf insgesamt 18) Assessorate ausgelegten Präsentationsordnung von 1521 (s.o. mit Anm.13) besaßen die sechs Kreise seit 1530 (RA Augsburg 1530 § 76, CJC, S.71, NVSRA Tl.2, S.318) eine doppelte Präsentationsberechtigung. Folglich gab es seit 1530 außer den beiden Beisitzern aus dem Grafen und Herrenstand, die noch unter den insgesamt 24 Assessoren mitgezählt wurden, 22 ordentliche Assessorate im en~eren Sinne, wovon je zwei dem Kaiser als Reichsoberhaupt sowie wegen seiner Erblande Osterreich und Burgund, sechs den sechs Kurfürsten (ohne Böhmen) und zwölf den sechs Kreisen zukamen. Diesen Zustand schrieben die KGO 1548 Tl.l Art.l (RTA JR 18/2, S.1242) und die darauffußende KGO 1555 Tl.l Tit.l §§ 1-4 (LAUFS, KGO 1555, S.73 f.) nochmals fest, nur daß die beiden nunmehr klarer als Präsidenten erkennbaren Assessoren aus dem Grafen- und Herrenstand seit 1548/55 ohne jede Mitwirkung der Reichsstände in die ausschließliche Besetzungskompetenz des Kaisers fielen; s. auch BALEMANN, Beiträge, S.9 f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.42, 55.- Auch das Konzept einer revidierten KGO von 1613 hatte nur eine bis 1570 in mehreren Stufen beschlossene weitere Vermehrung der ordentlichen und außerordentlichen Assessorate auf insgesamt 38 sowie deren Verteilung auf die präsentierenden Stände und Reichskreise nachzutragen; s. Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.l (CJC, S.577). Von den dort verordneten und auf die Präsentationsberechtigten aufgeteilten 41 Assessoren handelte es sich bei den dreien aus dem Grafen- und Herrenstand um die Präsidenten. Von den 38 Assessoraten im engeren Sinne waren 28 ordentliche und 10 eigentlich außerordentliche Stellen, die aber schon seit längerem unbefristet besetzt waren; s. im einzelnen BALEMANN, Beiträge, S.10, 33, 41, 63 ff.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.61 ff. (zu 1566, 1570 u. ff.), 69 f. (mit dem genauen PräsentationsSchema von 1613). Im übrigen aber brauchten die Bearbeiter des Konzepts der KGO von 1613 an dem 1507/21 festgestellten Kreis der Präsentationsberechtigten und an den konfessionsrechtlichen Bestimmungen von 1555 nichts zu ändern, weil die Protestanten damals ihre Forderung nach paritätischer Besetzung der Assessorate noch nicht durchsetzten konnten; dazu s. das folgende Kapitel.
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vor dem andem zu befahren, auch Partheylichkeit verhütet" werde 86 . Die drei Jahre später in Augsburg verabschiedete KGO von 1555, eine Neuredaktion der KGO von 1548, sah bereits vor, daß die Senate, also die eigentlichen Spruchkörper des RKG, nicht getrennt nach Konfessionen, sondern gemischtkonfessionell besetzt werden sollten87 . Einer Forderung der evangelischen Stände entsprechend, ordnete die RKG-Visitation von 1560 dann an, daß Senate, in denen aus dem Augsburger Religionsfrieden herfließende Streitsachen verhandelt werden würden, "so viel möglich jederzeit von beyderseits Religions-Verwandten in gleicher Anzahl ... besetzt und verordnet werden, damit einem jeden gleichmässig und billiges Recht mitgetheilt und kein Theil gegen den andem sich über Ungleichheit zu beklagen" habe. 88 Mit der Bestellung dieser paritätischen Religionssenate war für einen kleinen, jedoch politisch bedeutsamen Bereich der Kameralverfassung im Interesse unparteiischer Justiz das im Augsburger Religionsfrieden angelegte allgemeine Gleichheitsprinzip erstmals und für lange Zeit auch noch singulär zur numerischen Konfessionsparität gesteigert, um Majorisierungen in Religionssachen einen Riegel vorzuschieben. Das Zukunftsträchtige dieser Lösung - zukunftsträchtig sowohl für die Reichs- und Religionsverfassung als Ganzes als auch speziell für das kammergerichtliche Präsentationssy-
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Passauer Vertrag 1552 § 11 (NVSRA Tl.3, S.6; ebs. CJC, S.l11).
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KGO 1555 Tl.l Tit.lO § 10 (LAUFS, KGO 1555, S.86); s. auch Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.14 § 2 (CJC, S.591). 88
Vis.Mem. für den Kammerrichter 1560, Prooemium (CJC, S.249). Die Visitationsdeputation hatte bei der Befragung der Kameralpersonen festgestellt, "daß von wegen der Religion Ungleichheit in Erkantnuß der Proceß und Mandaten erfolgt" sei (ebd.). Die Forderung nach paritätisch besetzten Religionssenaten war von den Protestanten auf dem Augsburger Reichstag von 1559 erhoben worden, s. RTA Reichsvers. 1556-1662, Kfn.Tag 1558- RT 1559/3, S.l572 ("bei gleicher anzal bederseitz religion verwanten personen und beisitzern"). Die Anordnung der Visitationskommission von 1560 wurde in Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.14 § 8 (CJC, S.592) integriert. Hierzu s. auch SMEND, Reichskammergericht, S.l89; RABE, Augsburger Religionsfriede, S.272 f.; HECKEL, Religionsprozesse, 1991, S.331 (dort allerdings zu der Verordnung von 1560, den Religionsfrieden im Sinne von Heckeis weitgefaßtem Paritätsbegriff interpretierend: "Die Gerichtsverfassung des Reiches hat damit den Religionsfrieden im Sinne jener Grundentscheidung für die Parität verstanden und konkretisiert, die dem Friedenswerk insgesamt zugrunde lag"); ebs. DERS., Reformationsprozesse, S.28 f.; auch DERS., Religionsprozesse, 1993, S.583; RUTHMANN, Die Religionsprozesse als Folge der Glaubensspaltung, S.236; DERS., Die Religionsprozesse am Reichskammergericht, S.ll u. passim; DERS., Krisenjahre am Reichskammergericht 1612-1614, Wetzlar 1999, S.7; JAHNS, Ringen, S.418 f.; GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, S.406 mit Anm.649. W. SCHULZE, Kaiserliches Amt, Reichsverfassung und protestantische Union, in: H. Duchhardt - M. Schneitger (Hgg.), Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum, Mainz 1999, S.195-209, meint offenbar die Einrichtung der paritätisch besetzten Religionssenate, wenn er S.l96 davon spricht, daß man dem RKG im Umfeld des Augsburger Religionsfriedens eine "teilparitätische Struktur" verliehen habe.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
stem- sollte sich erst nach den blutigen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges auf dem Westfälischen Friedenskongreß erweisen. 2. Der Kampfum Paritätisierung des Präsentationssystems: 1555-1648/54 1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens Seit dem Augsburger Religionsfrieden brachte das RKG und speziell das Kameralkollegium nicht mehr nur den älteren Dualismus von Kaiser und Reichsständen, sondern auch den jüngeren Dualismus der Konfessionsparteien in einer dem damaligen Stand des Verfassungsdenkens adäquaten Weise zum Ausdruck. Dank der Regelungen von 1555 und 1560 schien das RKG bestens gerüstet, hinfort auch in Religionskonflikten Unparteilichkeit zu üben, in seinen Entscheidungen von Rechtsuchenden beider Konfessionsparteien akzeptiert zu werden und so seine friedenstiftende Wirkung zu entfalten. Diese Hoffnungen er:fiillten sich allerdings nur im folgenden Vierteljahrhundert, in den Jahrzehnten eines einigermaßen funktionierenden Religionsfriedens, als im Reich noch eine ausgleichsbereite Fürstengeneration das konfessionspolitische Klima prägte 89 . Spätestens seit den 1580er Jahren rückte das RKG- und dann auch der sich damals als zweites oberstes Reichsgericht etablierende RHR- ins Zentrum jener schweren Justiz- und Verfassungskrise, die mit fortschreitender Eskalation der konfessionspolitischen Spannungen zu einer weitgehenden Lähmung der Reichsjustiz und anderer zentraler Institutionen der Reichsverfassung :fiihrte. Im Zuge dieser Entwicklung geriet auch die personelle Besetzung des RKG und speziell das kammergerichtliche Präsentationswesen unter Veränderungsdruck Um Richtung und Auswirkungen dieses Drucks verständlich zu machen, der schließlich 1648 89 Dazu zusammenfassend JAHNS, Ringen, S.422. Trotz der erschwerten Rahmenbedingungen bemühte sich das RKG vor allem in der ersten Generation nach 1555, als der konfessionelle Gegensatz im Reich und im Kameralkollegium selbst noch nicht so verhärtet und der Konsensbereich noch größer war, nachweislich um Unparteilichkeit. Es konnte in vielen Fällen Übergriffe abwehren und den Schwächeren schützen (zum Beispiel in Prozessen um das 'ius emigrandi'), Frieden stiften oder wenigstens Konflikte mildem und Verständnis für gegnerische Positionen erwecken. Dabei stand keineswegs immer das Urteil selbst im Mittelpunkt. Eindrucksvolle Detailsanhand exemplarischer Prozesse jetzt bei RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht; s. auch SMEND, Reichskammergericht, S.l88 ff.; RABE, Augsburger Religionsfriede, S.268 ff., 273 f.; HECKEL, Religionsprozesse, 1991, S.298, 332 ff., 348; DERS., Reformationsprozesse, S.29; DERS., Religionsprozesse, 1993, S.576, auch S.584; neuerdings skeptischer GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, S.407 ff. Seiner Aufgabe vermochte das Kameralkollegium vor allem in jenen Fällen gerecht zu werden, wo der Religionsfrieden klare, unzweideutige Normen gesetzt hatte oder wo das RKG zentrale Streitfragen durch seine Prozeßftihrung mit Erfolg umschiffen konnte; s. HECKEL, Religionsprozesse, 1991, S.318 f., 334, 345 f.; DERS., Religionsprozesse, 1993, S.587 ff.; DERS., Reformationsprozesse, S.30, 36 ff.
II.3 .1.2.1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens
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zu einer tiefgreifenden Umstrukturierung des vorreformatorischen Präsentationssystems fiihrte, muß diese Justiz- und Verfassungskrise des Konfessionellen Zeitalters im folgenden zunächst in groben Zügen skizziert werden90 . Hauptursache hierfür war neben der fortschreitenden Konfessionalisierung im Reich eine Grundproblematik des Augsburger Religionsfriedens, der in zentralen Bestimmungen lückenhaft, unklar und mehrdeutig war, weil ohne dieses "juristische Dissimulieren" das Friedenswerk von 1555 angesichts fortbestehender theologisch-politischer Gegensätze nicht hätte zustande gebracht werden können91. Je unversöhnlicher jedoch in der Folge die konfessionellen Fronten im Reich aufeinanderprallten, um so mehr verdichtete sich der Streit um die Interpretation einzelner Normen des Religionsfriedens zum Grundsatzkonflikt um dessen "Gesamtverständnis" - ein geradezu fundamentalistischer Kampf, der zu einem gespaltenen Rechtsdenken der Konfessionsparteien führte und schließlich die 1555 mühsam austarierte Reichs- und Religionsverfassung in den Grundfesten erschütterte92 • Das Kameralkollegium des RKG, von Kaiser und Reichsständen seit 1555 mit 90 Bei dem gesamten Abschnitt II.3 .1.2.1. über Paritätsforderungen im Vorzeichen des
gespaltenen Rechtsdenkens, der in der 1990 als Habilitationsschrift vorgelegten Fassung noch nicht enthalten war, handelt es sich teils um eine wörtliche Übemalune, teils um Zusammenfassungen der entsprechenden Passagen in JAHNS, Ringen, S.420 ff.; kürzer schon DIES., Die Reichsjustiz als Spiegel, S.456 ff. Aus der Fülle der Literatur zu den reichs- und konfessionspolitischen Entwicklungen und Konflikten im Konfessionellen Zeitalter, speziell auch zur Rolle der Reichsjustiz in der sich seit den späten 1570er und vor allem seit den frühen 1580er Jahren verschärfenden Justiz- und Verfassungskrise können im folgenden nur diejenigen Untersuchungen zitiert werden, die für die behandelte Thematik unmittelbar einschlägig sind.
91 Zu diesem Grundproblem des Augsburger Religionsfriedens und der daraus in der Folge resultierenden, konfessionell bedingten Spaltung der Rechtsanschauungen bis hin zur Ausbildung zweier konkurrierender Interpretationssysteme der feindlichen Lager s. die maßgeblichen Arbeiten von MARTIN HECKEL, vor allem DERS., Religionsprozesse, 1991, S.311 ff. (Zitat S.314); ausführlich schon DERS., Autonomia, bes. S.167 ff., 185 ff.; DERS., Deutschland, S.33 ff., bes. S.42 ff., S.67 ff., bes. S.70 ff.; auch DERS., Religionsprozesse, 1993, S.582 ff.; DERS., Reformationsprozesse, S.23 ff., bes. S.25 ff.; DERS., Die katholische Konfessionalisierung im Spiegel des Reichskirchemechts, in: W. Reinhard- H. Schilling (Hgg.), Die katholische Konfessionalisierung, Gütersloh 1995, S.184-227, bes. S.194 ff., 211 ff.; ferner RABE, Augsburger Religionsfriede, S.260 ff. (Kampf "um das rechte Recht"), 271 f., 275 ff.; im Anschluß an Hecke!: RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht, S.3, 11, 22 f., 37, 364, 368, 569 u. passim; auch DERS., Die Religionsprozesse als Folge der Glaubensspaltung, S.236 u. passim; DERS., Das richterliche Personal, S.23 f.; DERS., Krisenjahre, S.5; M. LANZINNER, Das römisch-deutsche Reich um 1600, in: N. Hammerstein- G. Walther (Hgg.), Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen 2000, S.19-45, hier S.27 ff.; zuletzt eingehender GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, Kap.C.IV., S.386 ff.; s. auch kurz SCHULZE, Kaiserliches Amt, S.198. 92 HECKEL, Deutschland, S.57 (Zitat); ergänzend zu der obigen Passage JAHNS, Ringen, S.421.
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II.3. Die Besetzung der Assesserate
der Streitschlichtung in Religionssachen auf der Grundlage des Augsburger Religionsfriedens beauftragt und zur unparteiischen Rechtsprechung verpflichtet, war angesichts der konfessionell bedingten Spaltung der Rechtsanschauungen vor eine schier unlösbare Aufgabe gestellt, die der Quadratur des Kreises gleichkam. Da Katholiken und Protestanten im Streit um die 'richtige' Auslegung des Friedens unversöhnlich auf der absoluten Gültigkeit ihrer Rechtspositionen beharrten, mußte die unterliegende Prozeßpartei die Entscheidung des RKG selbst bei redlichem Bemühen des Kameralkollegiums um Unparteilichkeit zwangsläufig als parteiisch empfinden. Nur eine - politische - Bereinigung der aus dem Augsburger Religionsfrieden herfließenden Zweifelsfragen durch die verantwortlichen Gesetzgeber, Kaiser und Reichstag, seit den ausgehenden fünfziger Jahren vom Kameralkollegium wiederholt, aber vergeblich gefordert, hätte die Kameraljudikatur aus diesem Dilemma befreit93 . Die Zuspitzung der konfessionspolitischen Konfrontation im Reich schlug seit spätestens 1580 voll auf das RKG durch. Da auch die Assessorentrotz allen Bemühens um unparteiische Justiz im Rechtsdenken ihrer jeweiligen Konfession gefangen waren, verhärteten sich nun auch im Kameralkollegium die Fronten entlang den Konfessionslinien, der Konsensbereich über Fragen des Religionsfriedens verringerte sich zusehens. Die strittigen Einzelpunkte verdichteten sich zu zwei gegensätzlichen, sich gegenseitig ausschließenden Interpretationssystemen. Das führte seit 1580 in den mit Religionsprozessen befaßten konfessionsparitätisch besetzten Senaten gehäuft zur Stimmengleichheit ('paria vota') zwischen katholischen und protestantischen Beisitzern und damit zur Selbstblockierung - Kehrseite der seit 1560 ausgeschlossenen Majorisierung in Religionssachen94. Besonders die protestantische Seite sah sich durch diese Entwicklung 93 Hierzu etwas ausftihrlicher JAHNS, Ringen, S.421 f.; zum Rechtsauslegungs-Dilemma des RKG sowie zur Ergänzung und Fortbildung des Religionsfriedens und damit des in Religionsprozessen anzuwendenden materiellen Rechts als entscheidender, von der Politik zu leistender Aufgabe s. SMEND, Reichskammergericht, S.203; RABE, Augsburger Religionsfriede, S.278 f.; wiederholt auch Heckel, so DERS., Deutschland, S.93 ff.; DERS., Religionsprozesse, 1991, S.334 ff., 348 f.; DERS., Religionsprozesse, 1993, S.584 f.; DERS., Reformationsprozesse, S.30 f.; DERS., Katholische Konfessionalisierung, S.208; ferner RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht, S.364, 569 u. passim; vgl. neuerdings GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, S.404 ff.: Reichskammergericht und Religionsfrieden.
94 Vorzügliche quellengestützte Darstellung bei RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht, passim, bes. S.214 ff., 364 f., 483; treffend ebd., S.569: daß "das Gericht selbst ein Opfer des gespaltenen Rechtes wurde"; s. auch DERS., Die Religionsprozesse als Folge der Glaubensspaltung, S.236 f., DERS., Das richterliche Personal, S.23 f.; auch schon RABE, Augsburger Religionsfriede, S.271 ff., 275 ff.; kurz HECKEL, Religionsprozesse, 1991, S.334 f. Auch die Adjunktion mehrerer Senate führte nicht immer, wenn auch gelegentlich einen Konsens herbei, s. RABE, ebd., S.274 f., Prozeßbeispiel bei RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht, S.214-230, auch S.l1 f., 280 f. Vor allem politisch relevante Religionsprozesse wie der Streit um das Reformationsrecht der Reichsstädte, um die Geltung der Declaratio Ferdinandea oder um die Einziehung landsässiger Klöster durch prote-
II.3 .1.2.1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens
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benachteiligt, denn anders als vor etwa 1580 traten im Zuge der gegenreformatorischen Offensive nun vermehrt protestantische Kläger vor dem RKG auf, um sich gegenüber dem aus einer restriktiven Auslegung des Religionsfriedens resultierenden Vorgehen katholischer Stände Rechtsschutz (im Sinne des protestantischen Rechtsverständnisses) zu erstreiten95 • Die zunehmende Lähmung der religionsrechtlichen RKG-Judikatur durch häufigeres Eintreten einer Pattsituation in den Religionssenaten ging so in der Wahrnehmung der Protestanten hauptsächlich zu ihren Lasten und ließ ihr Vertrauen in eine unparteiische Justiz immer mehr schwinden. Die konfessionspolitische Polarisierung im Reich trieb gegen Ende des 16. Jahrhunderts auch die Justizkrise auf ihren Höhepunkt und führte zu einer tiefgreifenden Krise der gesamten Reichsverfassung. Wichtigste Etappen waren der Stillstand der als Revisionsinstanz fungierenden ordentlichen RKG-Visitation (1588), die von vielen Protestanten erbittert bekämpfte Rechtsprechung des RKG im sogenannten "Vierklosterstreit", die von ihnen herbeigeftihrte Sprengung der Reichsdeputation (1601), welche als Ersatz für die blockierte ordentliche Visitation die angehäuften Revisionsanträge gegen RKG-Urteile hatte erledigen sollen, und als Folge davon der weitere Anstieg unerledigter Revisionsanträge gegen RKG-Urteile- in Hunderten von Fällen konnten Urteile des RKG wegen des Zusammenbruchs der Urteilsüberprüfung nicht rechtskräftig werden. Als Folge dieser krisenhaften Entwicklung war die Judikatur des RKG seit Beginn des 17. Jahrhunderts zwar nicht völlig, aber doch in weiten Teilen und vor allem in politisch hochbrisanten Bereichen (nicht nur in Religionsprozessen) lahmgelegt96. stantische Reichsstände nach dem Passauer Vertrag von 1552 waren von dieser Lähmung durch Stimmengleichheit in den Religionssenaten betroffen; s. RABE, ebd., S.276 ff. Zu allem jetzt, eigene Akzente setzend, GüTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, S.412 ff. u. passim. 95 96
SMEND, Reichskammergericht, S.l90.
Mit dem Scheitern der Reichstage von 1608 und 1613- den letzten vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges - fiel darm im Streit um den Augsburger Religionsfrieden auch das oberste politische Entscheidungsorgan des Reiches aus, von dessen katholischer Mehrheit sich die protestantischen Stände ebenfalls bedroht fühlten. - Die Eskalation dieser Justiz- und Verfassungskrise karm hier nur grob skizziert werden; s. dazu (in Auswahl) SMEND, Reichskammergericht, S.l90 ff.; HECKEL, Deutschland, S.84 f., 89 ff., 95 ff.; DERS., Religionsprozesse, 1991, S.300 ff.; H. RABE, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600, München 1989, S.401 ff.; V. PRESS, Kriege und Krisen. Deutschland 1600-1715, München 1991, S.l61 ff.; kurz auch RUTHMANN, Krisenjahre, S.8; zusammenfassend JAHNS, Ringen, S.423 f.; jetzt nochmals eingehender GüTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, S.418 ff., 431 ff., 438 ff., 446 ff., 458 ff. Die ordentliche RKG-Visitation geriet 1588 über dem konfessionspolitisch hochbrisanten Magdeburger Sessionsstreit ins Stocken, s. dazu mit weiteren Literaturhinweisen die kleine Monographie von J. LEEB, Der Magdeburger Sessionsstreit von 1582: Voraussetzungen, Problematik und Konsequenzen für Reichstag und Reichskarnmergericht,
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Auch der seit Mitte des 16. Jahrhunderts zum zweiten obersten Gericht im Reich aufgestiegene kaiserliche RHR konnte das geschwundene Vertrauen der Protestanten in die Reichsjustiz nicht wiederherstellen. Ganz im Gegenteil rückte der RHR im ausgehenden 16. Jahrhundert fast mehr noch als das RKG ins Zentrum des protestantischen Bedrohungsszenarios. Infolge der zunehmenden Blockierung des RKG stieg seit den späten achtziger Jahren - also seit dem zweiten Regierungsjahrzehnt Rudolfs li. (1576-1612)- die Anzahl der am RHR anhängig gemachten Prozesse, und zwar gerade auch in reichspolitisch wichtigen Materien wie Religionssachen, in denen vor allem katholische Kläger auftraten97. Diese Entwicklung war primär zum Nachteil der Protestanten, denn in den Prozessen um die Auslegung des Augsburger Religionsfriedens verfocht der fast ganz mit Katholiken besetzte RHR eher die entschieden katholische Interpretationslinie98. Ob zu Recht oder nicht - in der Wahrnehmung der in die Defensive gedrängten Protestanten agierte der RHR als parteiisches Instrument der Gegenreformation, von dem - wie die spektakulären Fälle Aachen und DonauWetziar 2000, bes. S.26-32; auch schon MENCKE, Visitationen, S.III ff.; ebd., S.I32, Zahlenangaben zum Anstieg der unerledigten Revisionen nach I601. Speziell zum Vierklosterstreit s. D. KRATSCH, Justiz- Religion- Politik. Das Reichskammergericht und die Klosterprozesse im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert, Tübingen I990; ergänzend und z. Tl. korrigierend RUTHMANN, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht, S.553-556, 56I mit Anm.234, 579.
97 Hierzu und zum Folgenden s. vor allem die 2006 im Druck erschienene Dissertation von EHRENPREIS, Kaiserliche Gerichtsbarkeit, bes. S.I23 ff.: Religionsprozesse; s. auch DERS., Tätigkeit, bes. S.29 ff., 34 ff.; DERS., Die Rolle des Kaiserhofes in der Reichsverfassungskrise und im europäischen Mächtesystem vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: W. Schulze (Hg.), Friedliche Intentionen- Kriegerische Effekte. War der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges unvermeidlich?, St. Katharinen 2002, S.7I-I06, DERS., Religionsprozesse vor dem Reichshofrat I555-I620, in: A. Cordes (Hg.), Juristische Argumentation - Argumente der Juristen, Köln- Weimar- Wien 2006, S.97-I25; s. auch schon (in Auswahl) SMEND, Reichskammergericht, S.I95 f.; GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.52 ff.; KRATSCH, Justiz, S.l94 ff.; HECKEL, Religionsprozesse, I99I, S.303; JAHNS, Ringen, S.424 f.; GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, S.425 ff. -Nach einem in die zweite Hälfte der I580er Jahre fallenden Tiefpunkt stieg die Prozeßfrequenz am RHR seit I59I zwar wieder an, war jedoch gemessen an der rasanten Steigerung ab I620, als das Prozeßaufkommen des RHR dasjenige des RKG auf Dauer überholte, in den knapp drei Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges immer noch nicht besonders hoch. Dies sagt allerdings noch nichts über die reichspolitische Bedeutung der damals am RHR anhängig gemachten und verhandelten Prozesse, über den Anteil von Religionsprozessen am damaligen Prozeßaufkommen sowie über die Intensität der Beratung solcher brisanten Fälle aus; s. ORTLIEB- POLSTER, Prozeßfrequenz, S.I89-2I6, bes. S.2I2 ff. (Tabelle I, Graphiken I u. 3). 98 EHRENPREIS, Tätigkeit, S.32; DERS., Religionsprozesse vor dem Reichshofrat, bes. S.II5 ff., I23 ff.; DERS., Kaiserliche Gerichtsbarkeit, S.l25 ff., passim, so S.l33 f., I84 f., 243 f., 284 f.; ebd., S.III f., auch über Anzahl, Namen und Rolle der wenigen von Rudolf II. in seinen RHR berufenen protestantischen Mitglieder; dazu, Ergebnisse von Ehrenpreis referierend, JAHNS, Ringen, S.420 Anm.28.
11.3 .1.2.1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens
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wörth demonstrierten- eine existentielle Bedrohung ausging99 . Je mehr sich die Protestanten von den Religionsprozessen der Reichsgerichte bedroht fühlten, um so mehr verbanden sie ihre Angriffe und Beschwerden mit konkreten Forderungen, um der tatsächlichen oder vermeintlichen Parteilichkeit der Reichsjustiz ein Ende zu machen 100 • In den Jahrzehnten vor dem Dreißigjährigen Krieg waren die protestantischen Stände ebenso wie Kaiser und Katholiken in der überwiegenden Mehrheit noch wenig zu der Einsicht fähig, daß nur eine einvernehmlich durch Kaiser und sämtliche Reichsstände vorgenommene Klarstellung und Ergänzung des umstrittenen Augsburger Religionsfriedens und folglich eine Beseitigung des gespaltenen Rechtsdenkens die Problematik der Religionsprozesse hätte beseitigen können 101 . Zu einer solchen Revision der materiellrechtlichen Grundlagen künftiger Religionsprozesse sollte es nach Anläufen während des Krieges (Restitutionsedikt 1629, Prager Frieden 1635) jedoch erst auf dem Westtalischen Friedenskongreß kommen. Bis dahin konzentrierten sich die Protestanten - immer im Kontext ihrer sonstigen Religionsgravamina wegen parteiischer Justiz und Bruch des Religionsfriedens - darauf, die konfessionelle Besetzung der Reichsgerichte in ihrem Sinne zu verändern und die mit dem RKG konkurrierende Jurisdiktion des RHR zu bekämpfen. Bezeichnenderweise erweiterten und radikalisierten sich die protestantischen Forderungen, als seit den späten achtziger Jahren die calvinistische Kurpfalz zum Wortführer der protestantischen Aktionspartei wurde, während die von Kursachsen angeführte kaisertreue und gemäßigte Fraktion an Einfluß auf die Formulierung der protestantischen Beschwerden verlor 102 . 99 Bereits GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.51 f., weist zu Recht daraufhin, daß der von den Protestanten erhobene Vorwurf der konfessionellen Parteilichkeit nicht pauschal übernommen werden darf, sondern anhand der vor dem RHR geftihrten Religionsprozesse genauer überprüft werden muß. In vielen Fällen trifft der Vorwurf sicher zu. Entscheidend flir den obigen Zusammenhang ist aber, daß der RHR in der Wahrnehmung der protestantischen Seite parteiisch war - ein Vorwurf, der vor allem von Kurpfalz gezielt als politisches Kampfmittel benutzt wurde; s. auch EHRENPREIS, Tätigkeit, S.39; DERS., Kaiserliche Gerichtsbarkeit, bes. S.265 ff. 100 Die folgenden Ausflihrungen betr. den Kampf um paritätische Besetzung der Karneralämter und auch des RHR beruhen auf der z.Tl. ausflihrlicheren Darstellung bei JAHNS, Ringen, S.425 ff.; etwas kürzer JAHNS, Die Reichsjustiz als Spiegel, S.457 ff. 101
S.o. Anm.93.
102 Dazu M. RITTER, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555-1648), Bd.2 (1586-1618), Stuttgart 1895 (Nachdr. Darmstadt 1962), S.47-49 (1590), 118-122 (1594) u. passim. Daß die Kurpfalz mit ihrem Konfrontationskurs seit 1590 bei der Abfassung und Vertretung der protestantischen Beschwerden und Forderungen die Oberhand gewann, hieß nicht, daß die gemäßigtere kursächsische Fraktion der kämpferischen kurpfälzischen Linie von Anfang an und durchweg gefolgt wäre, ganz im Gegenteil; s. ebd.; vgl. dazu auch EHRENPREIS, Kaiserliche Gerichtsbarkeit, S.265 ff.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Als gemeinsamer Nenner der auf eine veränderte Besetzung der obersten Gerichte zielenden Forderungen schälte sich in den letzten zwei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ein neues Verständnis von 'Gleichheit der Religion' heraus, und zwar im Sinne von zahlenmäßiger Gleichheit, numerischer Parität. Dies ist auf dem Hintergrund allgemeiner Entwicklungen im Konfessionellen Zeitalter zu sehen. Das im Augsburger Religionsfrieden bereits angelegte, aber noch nicht konsequent ausgestaltete und zur programmatischen Grundnorm erhobene Prinzip der Religionsgleichheit wurde in den nächsten neunzig Jahren weitergebildet, wenn auch aus naheliegenden Gründen lange Zeit ausschließlich auf seiten der Protestanten. Aus dem älteren, sehr allgemeinen und unpräzisen Begriff von Gleichheit der Konfessionen im Sinne von Gleichrangigkeit, Gleichwertigkeit, allgemeiner Billigkeit und Gerechtigkeit wurde bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts in letzter Zuspitzung "eine auf strenger Gegenseitigkeit beruhende Gleichberechtigung selbst in nebensächlichen Dingen" 103 . In diesem Denkprozeß, der in den Erfahrungen der gegenreformatorischen Offensive und der tatsächlichen oder befiirchteten Bedrohung protestantischer Positionen wurzelte, nahm die Reichsjustiz eine wichtige Rolle ein. Mit der Forderung nach strikter konfessionsparitätischer Besetzung des Gerichtspersonals wurden RKG und RHR zum Experimentierfeld, auf dem die Protestanten fiir einen begrenzten, jedoch zentralen Bereich der Reichsverfassung zuerst die Möglichkeiten einer Ausdehnung und institutionellen Ausformung ihrer Gleichberechtigungsvorstellungen erprobten104. Daß im Zuge solcher Paritätsforderungen auch andere sensible Bereiche 103 F. DICKMANN, Das Problem der Gleichberechtigung der Konfessionen im Reich im 16. und 17. Jahrhundert, in: H. Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Darmstadt 1977, S.203-251 (zuerst in: HZ 201, 1965, S.265-305), hier vor allem S.210 f., 219 ff., 231 (Zitat) u. passim. Die Geschichte der Deutung des Gleichheits-Begriffs zur Zeit des Augsburger Religionsfriedens und des Ringens um seine Fortbildung bis zum Westfälischen Frieden ist kompliziert und kontrovers und kann hier nur oberflächlich berührt werden, s. außer Dickmann schon die einschlägigen Aufsätze von Martin Heckel, vor allem DERS., Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: ZRG KA 42, 1956, S.ll7-247, Forts. ebd. 43, 1957, S.202-308; DERS., Parität, in: ZRG KA 49, 1963, S.261-420; vgl. dazu oben Anm.83. Die an die kritische Auseinandersetzung mit den Paritäts-Begriffen Heckeis und Dickmanns anschließenden Darlegungen von GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, S.l67 ff., zum Bedeutungswandel des Quellenbegriffs "Gleichheit" im Konfessionellen Zeitalter (von Gleichheit im vagen Sinne von Billigkeit und Gerechtigkeit zu Gleichheit im strikteren Sinne von Zahlen- bzw. Verfahrensparität) decken sich mit der oben und auch schon bei JAHNS, Ringen, S.427, skizzierten Auffassung. 104 Vgl. auch H. DUCHHARDT, Kampf, S.214.- Der um 1580 einsetzende Diskurs um die Paritätisierung bestimmter Bereiche der Reichsjustiz fand bald (in Ansätzen schon 1582, verstärkt seit 1594) seine Parallele im Konflikt um die Gültigkeit des Mehrheitsprinzips im Reichstag; zu diesem Kampf um die Paritätisierung des Reichstagsverfahrens s. mit weiteren Literaturhinweisen K. SCHLAICH, Maioritas - protestatio - itio in partes - corpus Evangelicorum. Das Verfahren im Reichstag des Hl. Römischen Reichs Deutscher Nation nach der Re-
II.3 .1.2.1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens
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der Reichsverfassung berührt wurden, zeigt nur, wie sehr die konsequente Einforderung des Gleichheitsprinzips an den Grundfesten der Reichsverfassung rüttelte105. Die protestantischen Paritätsforderungen konzentrierten sich im späten 16. Jahrhundert zuerst auf das RKG, und zwar aus einem doppelten Grund. Zum einen war das RKG, wie oben geschildert, schon viel länger und intensiver mit Religionsprozessen beladen und folglich im Rahmen des Streits um die 'richtige' Auslegung des Augsburger Religionsfriedens schon viel eher ins Kreuzfeuer protestantischer Kritik geraten als der RHR. Zum anderen- und fast noch wichtiger- verkörperte das RKG als Ganzes und in der Binnenstruktur des Karneralkollegiums seit der Reichsreformzeit die Durchsetzung ständischer Ansprüche. Trotz gemeinsamer Trägerschaft und essentieller monarchischer Strukturelemente sahen die Stände im RKG doch primär ihr Gericht, die Konkretisierung ständischer Verfassungsvorstellungen. Nachdem es Kaiser und Reichsständen schon seit 1555 freigestellt war, zu allen Kameralämtem nach Belieben Katholiken oder Augsburgische Konfessionsverwandte zu präsentieren bzw. zu ernennen, war es nur folgerichtig, daß die protestantischen Stände mit ihrer zugespitzten Forderung nach strikter zahlenmäßiger Konfessionsparität zuerst beim RKG den Hebel ansetzten und erst später auch beim RHR, dessen Besetzung nach bisher unangefochtener Tradition allein dem Kaiser zustand. Dabei richtete sich die Forderung nach zahlenmäßiger Gleichheit zunächst formation, in: ZRG KA 63, 1977, S.264-299, ebd. 64, 1978, S.139-179; DERS., Die Mehrheitsabstimmung im Reichstag zwischen 1495 und 1613, in: ZHF 10, 1983, S.299-340; W. SCHULZE, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978, S.155-178, bes. 158 ff.; DERS., Der deutsche Reichstag des 16. Jahrhunderts zwischen traditioneller Konsensbildung und Paritätisierung der Reichspolitik, in: H. Duchhardt- G. Melville (Hgg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln- Weimar- Wien 1997, S.447-461; DERS., Majority Decision in the Imperial Diets of the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Journal of Modem History 58, Supplement, 1986, S.46-63; kurz auch DERS., Kaiserliches Amt, S.l99 f. 105 Allerdings darf man vor allem den frühen Forderungsschüben noch nicht jene konzeptionelle Klarheit, Zielgerichtetheit und Systematik unterstellen, die dann den späteren Gravamina eigen ist. Umfang und Schärfe steigerten sich nicht kontinuierlich, sondern in Sprüngen. Deutliche Forderungen eines Jahres wurden möglicherweise im folgenden Jahr wieder abgeschwächt oder unpräziser formuliert, um dann beim nächsten Mal doch wieder schärfer und eindeutiger gefaßt zu werden, je nach politischer Opportunität, Situation, Teilnehmerkreis und Standort derer, die die Gravamina formulierten. Auch die sprachliche Eindeutigkeit im Begriffsfeld 'Gleichheit' bildete sich nur langsam heraus. Man muß bei jeder Forderung anhand des Kontextes erneut überprüfen, ob wirklich Gleichheit im Sinne von numerischer Parität bzw. strikter Alternation gemeint war oder nur Gleichheit im Sinne von gleichberechtigtem Zugang beider Konfessionen zu einem Amt. Häufig verstellen ungenaue Regesten in Quelleneditionen den Zugang zur authentischen Quellensprache. In der Literatur findet man immer wieder eine zu früh ansetzende Interpretation im Sinne von zahlenmäßiger Gleichheit.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
nicht auf die mit der Rechtsprechung befaßten RKG-Beisitzer (die Parität in den Religionssenaten gab es ja schon) 106 , sondern auf diejenigen Ämter und Großgruppen des RKG, die- von wenigen Ausnahmen abgesehen- bisher durchweg mit Katholiken besetzt worden waren: Kammerrichter, Präsidenten und Kanzlei. Die seit 1576 geäußerte, auf den Augsburger Reichsabschied von 1555 gestützte Bitte, bei der Vergabe von Direktorial- und Kanzleifunktionen auch Protestanten zum Zuge kommen zu lassen, spitzte sich unter kurpfälzischer Federfiihrung seit den frühen achtziger Jahren zur Forderung nach strikter zahlenmäßiger Gleichheit beider Konfessionen im RKG-Direktorium und in der RKG-Kanzlei zu. Zur Realisierung dieser Forderung wurde auch die Doppelbesetzung des Kammerrichteramts ins Auge gefaßt, aber ebenso wie bei den (seit 1570) drei Präsidenten setzte sich der Gedanke der Alternation durch 107 • Kaiser und katholische Stände wiesen diese Forderungen von Anfang an entschieden zurück 108 . Für die 106 Die seit 1555 bestehende Möglichkeit, auch Augsburgische Konfessionsverwandte auf ein RKG-Assessorat zu präsentieren, führte dazu, daß von den seit 1570 insgesamt 38 RKGAssessoraten im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert im Schnitt rund ein Drittel (12-15) mit Protestanten besetzt war; Literaturnachweise dazu s.o. Anm.84. 107 Zum Kampf um Parität in Direktorialämtern und Kanzlei des RKG s. ausftihrlicher mit Quellen- und Literaturnachweisen JAHNS, Ringen, S.429 ff.; s. auch schon oben Kap.II.2.2.1. (betr. das Kammerrichteramt) mit Anm.21, Kap.II.2.2.2. (betr. die Präsidenten) mit Anm.75. Für den damaligen Kampf um die Parität im Kammerrichteramt ist weiterhin grundlegend die quellengestützte Studie von DUCHHARDT, Kampf; entsprechend zur Kanzlei DERS., Kurmainz und das Reichskammergericht - Der konkrete Anlaß ftir das Verlangen, Direktorium und Kanzlei des RKG konfessionsparitätisch zu besetzen, war seitens der protestantischen Stände die Unterstellung oder zumindest das Mißtrauen, Kammerrichter (seit 1569 fast ununterbrochen hohe geistliche Würdenträger), Präsidenten und Kanzleipersonal, obwohl mit der Rechtsprechung nicht befaßt, könnten im Rahmen ihrer Funktionen dennoch in Religionsprozessen zur Parteilichkeit des Gerichts zum Nachteil evangelischer Prozeßparteien beitragen; Quellenund Literaturnachweise dazu s. bei JAHNS, Ringen, S.432 Anm.69, auch ebd., S.429 Anm.60. 108 Begründet wurde die Ablehnung zum einen mit den kaiserlichen "iura maiestatis", zum anderen ganz legalistisch mit der KGO von 1555, wonach die Ernennung von Kammerrichter und Präsidenten allein dem Kaiser zustand, die Besetzung der Kanzlei allein dem Reichserzkanzler. Weder dem einen noch dem anderen dürfe man deshalb Vorschriften bezüglich der Religionszugehörigkeit der ernannten Personen machen. Auch aus dem Augsburger Reichsabschied von 1555 könne man keinen derartigen Zwang ableiten. Vor allem verbarg sich in der Forderung, das Kammerrichteramt auf dem Wege der Alternation konfessionsparitätisch zu besetzen, eine Zumutung an das kaiserliche Selbstverständnis. Denn der Kammerrichter repräsentierte dort den Kaiser, hatte den Gerichtsvorsitz an seiner Statt (dazu s.o. Kap. 1!.2.2.1 ). Die abwechselnde Bestellung von evangelischen und katholischen Kammerrichtern hätte aber dem Kaiser eine konfessionsneutrale, überparteiliche Rolle zugeschoben mit unvorhersehbaren und aus katholischer Sicht präjudizierenden Konsequenzen für die Interpretation des kaiserlichen Amtes und überhaupt der ganzen Reichsverfassung. Denn diese war aus damaliger katholischer Sicht trotz der Glaubensspaltung bis auf "eng umrissene Ausnahmepositionen" weiterhin katholisch; dazu wiederholt Martin Hecke!, so DERS., Deutschland, S.57, 59 f.; DERS., Religionsprozesse, 1991, S.322 f. (ebd. Zitat); DERS., Die katholische Konfessionalisierung, S.205 f.
11.3 .1.2.1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens
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seit 1648 theoretisch vier, in der Praxis seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert nur zwei Präsidentenämter sollten die protestantischen Stände ihre Forderung nach numerischer Konfessionsparität erst im WestHilisehen Frieden durchsetzen, für das Kammerrichteramt und ebenso für die in kurmainzischer Hand befindliche RKG-Kanzlei gelang dies nie. Der vergebliche Kampf der protestantischen Stände um die Paritätisierung der kammergerichtliehen Direktorial- und Kanzleiämter in den knapp vier Jahrzehnten vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges ist an anderer Stelle ausführlich behandelt worden. Hier sind nur einige in diesem Zusammenhang auf protestantischer Seite entwickelte Denk- und Argumentationsfiguren relevant, welche der Ausdehnung der Paritätsforderungen auf die Assessorengruppe den Weg bahnten. Seit den frühen achtziger Jahren wird aus den Gravamina als roter Faden ersichtlich, daß für die protestantischen Stände mit der konfessionsparitätischen Ämterbesetzung die Akzeptanz des RKG in Religionsprozessen stand und fiel 109 . Je mehr sich die protestantischen Stände, ob nun vermeintlich oder zu Recht, von der religionsrechtlichen Judikatur des RKG bedroht fühlten, um so mehr wurde für sie die Durchsetzung der zahlenmäßigen Religionsgleichheit des Kameralpersonals zu einer Art vorbeugender Sicherheitsmaßnahme, wenn denn Sicherheit nicht anders zu erlangen warll 0• Hand in Hand damit ging die oben erwähnte Fortbildung, die der Begriff "Gleichheit" im Konfessionellen Zeitalter im protestantischen Diskurs generell erfuhr. Das Sicherheitsbedürfnis sowie der verfassungsrechtlich relevante Anspruch auf strikte und durchgängige "aequalitas" bildeten das Doppelmotiv, das den Forderungen der Protestanten nach konfessionsparitätischer Besetzung des RKG zugrundelag. Es wurzelte in der Bedrohungswahmehmung der protestantischen Seite, gewann aber schon im ausge109
S. die entsprechende Argumentation in den protestantischen Gravamina bei CHR. LEHMANN (Hg.), De pace religionis acta publica et originalia, das ist: Reichs-Handlungen, Schrifften und Protocollen über die Reichs-Constitution des Religion-Friedens, Frankfurt a.M. 1707, S.190 (1582), 205 (1582), 220 (1594), 253 (1598), 258, 259 u. 261 (1613). JIO Natürlich war es ein Trugschluß, allein schon von der konfessionsparitätischen Besetzung aller Kameralfunktionen Unparteilichkeit der Kameraljustiz und zügige Prozeßabwicklung zu erhoffen, solange das Problem der konfessionell gespaltenen Rechtsauffassungen nicht durch Klarstellung des materiellen Rechts auf dem Wege politischer Verhandlungen gelöst war. Dies zeigt das oben erwähnte Schicksal der konfessionsparitätisch besetzten Religionssenate, die sich seit den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts- im Zuge der sich zuspitzenden Justiz- und Verfassungkrise - immer häufiger durch 'paria vota' selbst blockierten. Diese Tatsache hielt Kurbayern 1619 den Paritätsforderungen der Unierten mit einigem Recht entgegen: "Besagte Steckung der Justitia befind sich sogar am Kayserlichen Cammer-Gericht in dergleichen Religions-Sachen und gleicher Anzahl der Personen, ob gleichwohl allen Umständen nach es daselbst viel weniger als anderstwo zu besorgen seyn solt", s. LEHMANN, Acta publica, S.309; vgl. auch SMEND, Reichskammergericht, S.202 f.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
henden 16. Jahrhundert zunehmend an Eigendynamik: die Verfestigung der Paritätsforderungen und deren Ausdehnung auf immer weitere verfassungsrechtlich relevante Personengruppen entsprachen der inneren Logik dieses Doppelmotivs. Im Zuge dieses Denkprozesses wurde die Forderung durchgehender Religionsparität nur wenige Jahre vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges dann auch auf die gesamte Assessorengruppe ausgedehnt. Da die gleiche Anzahl der RKGBeisitzer beider Konfessionen in den Religionssenaten schon seit 1560 gesichert war, beschwerten sich die Protestanten zunächst nur darüber, daß bei der Wiederbesetzung vakanter Assessorate katholische Kandidaten, obwohl juristisch schlechter qualifiziert, evangelischen Konkurrenten vorgezogen würden, wodurch sich die Zahl der ohnehin in der Minderheit befindlichen protestantischen Beisitzer noch weiter verringere 111 • Aber 1612, im Vorfeld der Wahl eines neuen Reichsoberhaupts, dann ein Jahr später auf dem Rothenburger Unionstag und auf dem Regensburger Reichstag von 1613 wurde diese Klage zum Anlaß genommen, nun auch für die Gesamtheit der RKG-Assessoren und für sämtliche Senate (also nicht nur die Religionssenate) Juristen von beiden Konfessionen in gleicher Anzahl zu fordem 112 • Zugleich wurde der vieldeutige Begriff "Gleich111 Initiator dieses Beschwerdepunkts war offenkundig wieder die kurpfälzische Regierung; s. Briefe des Pfalzgrafen Johann Casimir, hg. von F. v. Bezold, 3 Bde., München 18821903, hier Bd.2, 8.339 (1586), Bd.3, 8.181 (1589), 8.275 (1590); Briefe und Acten (Akten) zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in den Zeiten des vorwaltenden Einflusses der Wittelsbacher, Bd.l-12, München bzw. München- Wien 1870-1978, hier Bd.2, 8.24, 64 (1608), Bd.9, 8.699, 702 (1611), Bd.lO, 8.578 (1612), Bd.11, 8.121 (1613); LEHMANN, Acta publica, 8.220 (1594), 8.259 (1613); vgl. auch SMEND, Reichskammergericht, 8.202 mit Anm.3. Tatsächlich hatte das mehrheitlich katholische Kameralkollegium bei der Prüfung und Auswahl der präsentierten Kandidaten entsprechende Möglichkeiten, wenn nämlich in gemischtkonfessionellen Reichskreisen Reichsstände evangelischer und katholischer Konfession ein gemeinschaftliches Präsentationsrecht hatten und dies durch Compräsentation mehrerer teils evangelischer, teils katholischer Juristen ausübten. Unter dem Schein der besseren Qualifikation konnte dann das Kameralkollegium katholische Kandidaten auswählen und damit die Zahl evangelischer Assessoren im Kameralkollegium niedrig halten. Ob solche Vorwürfe berechtigt waren, müßte an der Besetzungspraxis überprüft werden; erste Beispiele s. bei RUTHMANN, Krisenjahre, 8.17 f. Nachweislich waren aber katholische Reichsstände wie Bayern bestrebt, im Rahmen der gemischtkonfessionellen Kreispräsentationen katholische Kandidaten durchzusetzen, s. H. MORITZ, Die Wahl Rudolfs II., der Reichstag zu Regensburg (1576) und die Freistellungsbewegung, Marburg 1895, 8.426 Anm.3 (1576). Ferner findet sich in den protestantischen Klagen der Vorwurf, die katholischen RKG-Assessoren würden von Jesuiten beeinflußt- sowohl in Religionsprozessen als auch zugunsten der Bevorzugung katholischer Assessoratsanwärter vor besser qualifizierten protestantischen Mitpräsentierten, s. Briefe und Akten, Bd.2, 8.24, 64 (1608), Bd.9, 8.702 (1611), Bd.ll, 8.215 (1613). 112 S. die folgenden Belege. In den ausgewerteten gedruckten Quellen konnte ich ftir die Zeit vor 1612 in keiner dem Kaiser oder dem Reichstag vorgelegten protestantischen Beschwerdeschrift eine Forderung nach numerischer Konfessionsparität in der Gesamtheit der RKG-Assessoren entdecken; Näheres s. JAHNS, Ringen, 8.434 Anm.73.- Die Literatur setzt die Forderung nach Konfessionsparität im gesamten Urteilergremium des RKG (nicht nur in den Religionssenaten) zum Teil viel zu früh an, so z.B. DUCHHARDT, Kampf, 8.203.
1!.3.1.2.1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens
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heit" durch unmißverständliche, eindeutig die numerische Parität bezeichnende Termini ergänzt. Die Entwicklung der Forderungen und Konzepte zur Paritätisierung sämtlicher RKG-Assessorate seit 1612/13 wurde bereits in einer anderen Studie entsprechend dem bisherigen Kenntnisstand aus:fiihrlicher nachgezeichnet 113 • Im folgenden sollen nur einige markante Etappen auf diesem Weg näher ins Auge gefaßt werden, um zu zeigen, welche unterschiedlichen Modelle die protestantischen Stände am Vorabend und während des Dreißigjährigen Krieges zur Realisierung ihrer Forderung nach strikter numerischer Religionsgleichheit der RKGAssessorate entwickelten und welche Relevanz die jeweiligen Konzepte :fiir die gesamte Reichsverfassung hatten. Nach ersten Anläufen im Jahre 1612 wurde der Rothenburger Unionstag vom März/April 1613, auf dem die unierten Stände ihre Strategie :fiir den bevorstehenden Regensburger Reichstag absprachen, zu einem Markstein :fiir die V erfestigung und Präzisierung ihrer Forderung nach durchgehender Religionsparität am gesamten RKG einschließlich sämtlicher Assessorate. Abgesehen von der Schwierigkeit, ihre Paritätsforderungen reichsrechtlich zu legitimieren, standen die Protestanten bei der Festlegung der Verhandlungsziele zur Reform der Kameraljustiz unter anderem vor dem technischen Problem, wie die zahlenmäßige Religionsgleichheit der Beisitzerstellen in die Praxis umgesetzt werden könne. Bei den Direktorialämtern des RKG war die Paritätisierung rein technisch gesehen einfach, wenn denn die Zustimmung des ernennungsberechtigten Kaisers zu erlangen war: durch Alternation im Kammerrichteramt und durch Erhöhung der Anzahl der Präsidenten von bisher drei auf vier: je zwei protestantische und zwei katholische 114 • Demgegenüber verlangte die praktische Durch:fiihrung der konfessionsparitätischen Besetzung sämtlicher Assessorate von den Protestanten weitaus mehr konzeptionelle Kreativität. Denn da der Augsburger Reichsabschied von 1555 (§ 106) und die darauf beruhende KGO von 1555 (Tl.l Tit.3 § 3) die Konfessionszugehörigkeit der auf ein Assessorat präsentierten Juristen in das Belieben der Präsentationshöfe stellte, die Mehrheit der präsentationsberechtigten Reichsstände aber weiterhin katholisch war, konnte sich, wie die Vergangenheit 113 JAHNS, Ringen, S.434 ff.; dort auch mehr Quellenzitate sowie Quellen- und Literaturnachweise; kürzer auch schon DIES., Die Reichsjustiz als Spiegel, S.458 ff. Weitere Archivrecherchen zu der im folgenden beschriebenen Enwicklung würden das Bild zweifellos erweitern. 114 So die einer Anregung Württembergs folgende, vom Plenum gebilligte Empfehlung des Ausschusses, der auf dem Rothenburger Unionstag zur Vorberatung des Justizpunkts eingesetzt wurde und dem Plenum Anfang April 1613 detaillierte Vorschläge zur Reform des Justizwesens machte, s. Briefe und Akten, Bd.ll, S.324; dazu ebd., S.215 (Gutachten württembergischer Räte für ihren Herzog zum Rothenburger Unionstag); vgl. ebd., S.265 ff. (Protokoll des Unionstags).
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
gezeigt hatte, über das seit 1507/21 geltende Präsentationssystem ein numerisches Gleichgewicht zwischen katholischen und protestantischen RKG-Beisitzern aufkeinen Fall herstellen 115 • Ein innovativer Vorschlag zur Lösung dieses mehr als nur technischen Problems kam dieses Mal nicht von der kurpfälzischen Regierung in Heidelberg sonst Vordenker in allen protestantischen Reformanliegen -, sondern aus Stuttgart. Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen Württembergs zum Rotheuburger Unionstag konzipierte eine interne Aufstellung herzoglicher Räte im März 1613 den Standpunkt der Stuttgarter Regierung zu den Verhandlungsmaterien, die laut kurpfälzischem Ausschreiben in Rotheuburg beraten werden sollten, darunter auch zum Justizpunkt 116 • Was die angestrebte Reform des RKG betraf, verfolgte dieses Gutachten konsequent die Linie der konfessionsparitätischen Besetzung dieses Gerichts, speziell auch des Kameralkollegiums, um die als "servitut" beklagte Monopolstellung der katholischen Beisitzer zu brechen 117 • Bei ei115 Im Frühjahr 1613 waren von den insgesamt 38 Assessoraten denn auch nur 11 oder 12 mit Protestanten besetzt; s. das in der folgenden Anmerkung zitierte erste württembergische Gutachten zur Parität am RKG (12 von 38); darauf beruhend, aber im Quellenregest falsch wiedergegeben: Briefe und Akten, Bd.ll, S.215 (dort werden der Kammerrichter und die drei Präsidenten in die Zahl 38 mit eingerechnet); ebd., S.324 (11 oder 12); LEHMANN, Acta publica, S.259 (11 oder 12). 116 Dieses Gutachten württembergischer Räte befindet sich in: HStA Stuttg., A 90 A (Evangelische Union), Bü. 13, fol.429v-439r; die im folgenden zitierte Passage betr. die paritätische Besetzung des Kameralkollegiums s. ebd., fol.432v-434r (im folgenden zitiert: erstes württ. Gutachten zur Parität am RKG). Die Transkription dieses Auszugs und überhaupt den Hinweis auf diese wichtige Quelle verdanke ich Bernhard Ruthrnann. Im HStA Stuttg., C 10 (Schwäbischer Kreis), Bü. 196, befindet sich außerdem ein kurze Zeit später entstandenes, undatiertes und unfoliiertes weiteres Gutachten zur Einführung der Parität im Kameralkollegium, das wahrscheinlich ebenfalls von württembergischen Räten verfaßt wurde (im folgenden zitiert: zweites württ. Gutachten zur Parität am RKG). Es argumentiert im Prinzip wie das erste Gutachten, ist aber wesentlich ausführlicher und pointierter. Außerdem enthält es nicht nur das schon im ersten Gutachten konzipierte zweigeteilte Präsentationsschema für insgesamt 52 Assessorate (26 kath., 26 ev.; s. die folgende Darstellung), sondern es entwirft zwei weitere, ebenfalls am Paritätsprinzip orientierte Schemata für insgesamt 50 (25 :25) bzw. 48 (24 : 24) Assessorate, die sich entsprechend der verminderten Gesamtzahl geringfügig voneinander unterscheiden. Für den Hinweis auf dieses aufschlußreiche zweite Dokument und für die Überlassung der Transkription bin ich Bernd Ruthrnann ebenfalls zu großem Dank verpflichtet. Durch diese mir erst nachträglich bekanntgewordenen Quellen wird eine Passage bei JAHNS, Die Reichsjustiz im Spiegel, S.458 (betr. den Rothenburger Unionstag 1613) korrigiert; kurze Erwähnung dieser Gutachten schon bei RUTHMANN, Krisenjahre, S.18; DERS., Das richterliche Personal, S.12; vgl. auch SCHULZE, Kaiserliches Amt, S.207.- Im Rahmen eines inzwischen abgelaufenen Münchner Editionsprojekts "Die protestantische Union, das Reich und Westeuropa 1580-1621" hat Bernd Ruthmann diese und weitere Quellen für eine Edition "Reichskammergericht und Reichshofrat als Instrumente ständischer und kaiserlicher Reichspolitik, Teil A: Das Reichskammergericht" gesammelt. Leider ist diese Edition, die wichtige Aufschlüsse über die Rolle des RKG in den konfessionspolitischen Auseinandersetzungen am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges bringen würde, bisher nicht erschienen. 117
Erstes württ. Gutachten zur Parität am RKG, fol.432v.
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ner Beibehaltung der bisherigen Assessorenzahl (38) und der daran haftenden, im Präsentationsschema von 1521 festgelegten Präsentationsberechtigungen hätte die Konfessionsparität der Assessorate nur dadurch hergestellt werden können, daß katholische Präsentanten genötigt worden wären, auf 'ihr' Assessorat evangelische Juristen zu präsentieren, was dem Geist der Regelungen von 1555 zuwidergelaufen wäre 118 • Als Alternative bot sich den württembergischen Räten die anvisierte Erhöhung der Beisitzerzahl auf ca. 50 an, die der Kaiser in seinem Ausschreiben zum bevorstehenden Regensburger Reichstag selbst gefordert hatte. Ausgehend von einer neuen Gesamtzahl von insgesamt 52 Assessoraten, formierten die Verfasser des Gutachtens aus dem bisher einen Präsentationsschema zwei nach Konfessionen getrennte Schemata mit 26 Assessoraten für die katho: lische und 26 für die evangelische Seite 119 . Die 14 neugeschaffenen Beisitzerstellen kamen sämtlich den Protestanten zugute. Andererseits brauchte in die bisherigen Präsentationsberechtigungen der katholischen Stände nicht eingegriffen zu werden. Nur der Bayerische Kreis wurde zugunsten der Paritätsarithmetik von vier auf drei katholische Präsentationen reduziert. Das württembergische Paritätsmodell wies Kurfürsten und Reichskreise entsprechend ihrem damaligen Konfessionsstand mit einer bestimmten Anzahl von Präsentationsberechtigungen einem der beiden Schemata zu. Auch die beiden Präsentationen des Kaisers in seiner Eigenschaft als Reichsoberhaupt waren in das katholische Schema integriert und in die Gesamtzahl von 26 katholischen Assessoraten mit eingerechnet120. Die bisher in mehreren bikonfessionellen Kreisen praktizierten gemischtkonfessionellen Compräsentationen auf ein vakantes Assessorat - zum Ärger der protestantischen Stände für das mehrheitlich katholische Kameralkollegium eine Handhabe, katholische Compräsentati den evangelischen Mitpräsentierten im Prüfungs- und Auswahlverfahren vorzuziehen und dadurch die Gesamtzahl evangelischer Assessoren im Kameralkollegium niedrig zu halten - wurde in dem Stuttgarter Modell abgeschafft. Statt dessen erhielten evangelische und katholische Stände in allen gemischtkonfessionellen Kreisen getrennte Präsentationsberechtigungen, die auf die beiden Schemata verteilt wurden. Die Grundprinzipien dieses bikonfessionellen Doppelschemas waren ebenso 118 Dieser Gedankengang und die Erkenntnis, daß der bei dieser 'Lösung' absehbare Konflikt mittels einer Erhöhung der Assessorate verhindert werden konnte, wird in dem zweiten württ. Gutachten zur Parität am RKG deutlicher artikuliert als in dem ersten Gutachten. 119
In diesem ersten württ. Gutachten zur Parität am RKG ist die konfessionsparitätische Aufteilung der 52 Assessorate auf zwei nach Konfessionen getrennte Schemata optisch weniger gut sichtbar (sie erschließt sich erst durch Auseinanderdividieren der Präsentationsberechtigungen) als in den drei auf 52, 50 und 48 Assessoraten berechneten Entwürfen des zweiten württ. Gutachtens zur Parität am RKG. 120 Dies ließ sich auf dem Westfälischen Friedenskongreß nicht durchsetzen; s. die weitere Darstellung.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
simpel wie revolutionär: strikte Trennung und Gleichbehandlung beider Konfessionen, Zementierung der numerischen Konfessionsparität durch Fixierung des Konfessionscharakters jedes Assessorats. Das württembergische Paritätsmodell trug der Angst der Protestanten vor Majorisierung durch die feindliche Konfessionspartei sogar noch weitergehend Rechnung: Die Prüfung und Auswahl der um ein vakantes Assessorat konkurrierenden Compräsentati (damals meist zwei bis drei) sollte nicht vom gesamten Kameralkollegium vorgenommen werden, sondern nur von denjenigen Assessoren, welche derselben Religion anhingen wie die Präsentierten - eine Variante der 1648 für den Reichstag eingeführten 'itio in partes', die das Sicherheitsbedürfuis der Protestanten auf die Spitze trieb. Das 1613 von Stuttgarter Räten konzipierte Doppelschema wies nicht nur einen Weg zur technischen Umsetzung der Forderung nach numerischer Parität innerhalb der gesamten Assessorengruppe. Es war auch von erheblicher verfassungspolitischer Relevanz und ließ die Konturen eines durch die Glaubensspaltung angestoßenen Verfassungswandels erkennen. Der Umbau der Reichsverfassung nach konfessionsparitätischen Kriterien war durch die Paritätisierung des kammergerichtliehen Präsentationssystems weitaus stärker impliziert als durch die schon seit 1560 praktizierte Religionsgleichheit in den Religionssenaten des RKG. Denn im Gegensatz zu diesen mit Religionsprozessen befaßten Senaten, die nur einen Ausschnitt des Kameralkollegiums darstellten, war die durch das Präsentationssystem strukturierte gesamte Assessorengruppe wirklich ein Abbild des Reichssystems: Zusammen mit Kammerrichter und Präsidenten repräsentierte das Kollektiv der Assessoren Kaiser, Kurfürsten und Stände in ihrer Gesamtheit, eben Kaiser und Reich 121 . Die Umgestaltung dieses verfassungsrechtlich relevanten Spruchkörpers nach konfessionsparitätischen Prinzipien war ein unübersehbares Präjudiz für eine Neuinterpretation der Reichsverfassung, die der damaligen katholischen Sicht von einem bis auf Ausnahmen weiterhin katholischen Reich diametral entgegenstand 122 . Von den Stuttgarter Schöpfern des paritätischen Präsentationsmodus und von den Teilnehmern des Rothenburger Unionstags wurde der in diesem Doppelschema verborgene verfassungspolitische Sprengsatz noch kaum erkannt. Als Motiv für die Forderung nach konfessionsparitätischer Umgestaltung des RKG führten die Unierten immer wieder das Sicherheitsbedürfuis an: Die paritätische Besetzung des Kameralkollegiums, der Kanzlei und der Fiskalämter sollte protestantische Prozeßparteien vor parteiischer Rechtsprechung schützen, die Reli121 JRA 1654 § 165 (LAUFS, JRA 1654, S.77); Vis.A. 1713 § 22 (CJC, S.967); BALEMANN, Beiträge, S.375; s. auch-oben Anm.50 u. 51. 122 Zur Konzeption einer von den Unierten anvisierten zukünftigen Verfassungsordnung im Sinne einer "durchgehenden Paritätisierung der Reichsverfassung" s. auch SCHULZE, Kaiserliches Amt, S.l99 ff. (Zitat S.208).
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gionsgleichheit der Assessorate durch Paritätisierung des Präsentationssystems und die Beseitigung der gemischtkonfessionellen Kreispräsentationen sollten die einseitige Auswahl von katholischen Assessoratsanwärtem verhindem und der allmählichen Verdrängung der Protestanten aus dem Assessorenkollegium vorbeugen. Erst in Spuren findet sich damals auch eine verfassungsrechtliche Begründung fiir die paritätische Besetzung der Assessorate: Ein bald nach dem Rothenburger Unionstag offenbar ebenfalls in Stuttgart entstandenes weiteres Gutachten argumentierte, die Parität der Beisitzer sei "umb desto sterckher zu urgiren, auch von den römisch catholischen weniger zu sperren, dieweil die ksl. cammer ein gemein aller stendt gericht ist, von ihnen underhalten und zu solchem von den evangelischen, wo nicht mehr, iedoch sovil als den römisch catholischen würcklich dargeschossen würdt" 123 . Nur rudimentär war vorerst auch die rechtsphilosophische Begründung der Paritätsforderung ausgebildet: Die "paritet" oder "gleichheit zu allen thailen" diene nicht nur der Sicherheit der Protestanten und der Beseitigung allen Mißtrauens, sondern sei "nicht weniger der vemunfft und billigkheit gemess" 124 . Der innovative württembergische Vorschlag zur Paritätisierung des gesamten Kameralkollegiums einschließlich der Direktorialämter wurde nach Vorberatungen in einem Justizausschuß vom Plenum des Rothenburger Unionstags als Teil der protestantischen Verhandlungslinie auf dem bevorstehenden Reichstag genehmigt125. Auf dem Regensburger Reichstag vom Herbst 1613 brauchte das in Stuttgart kreierte konfessionsparitätische Doppelschema fiir die Besetzung der RKG-Assessorate allerdings noch nicht die Feuerprobe bikonfessioneller Verhandlungen zu bestehen, da der Reichstag gar nicht erst bis zu diesem Punkt gedieh. In ihren Mitte August 1613 in Regensburg übergebenen Gravamina forderten die von Kurpfalz angefiihrten Unierten und die meisten anderen anwesenden 123 Zweites württ. Gutachten zur Parität am RKG (s.f.). Parallel dazu wurde die Parität der
RKG-Kanzlei 1613 mit dem (älteren) Argument begründet, sie sei keine mainzische Kanzlei, sondern eine Kanzlei des Reiches und werde von allen Ständen unterhalten; s. Briefe und Akten, Bd.ll, S.216, 325.
124 Zweites württ. Gutachten zur Parität am RKG (s.f.). Auf dem Westfälischen Friedenskongreß sollte diese naturrechtliche Begründung in der protestantischen Argumentationslinie eine große Rolle spielen; s. die weitere Darstellung.
125 Endgültiges Gutachten Stuttgarter Räte für Hzg. Johann Friedrich von Württemberg zum Rothenburger Unionstag, in: Briefe und Akten, Bd.ll, 8.209-226, hier vor allem S.215 f.; Bericht des vom Unionstag eingesetzten Ausschusses zur Vorberatung des Justizpunkts, in: ebd., 8.320-328, hier 8.323-325 (auf das in Stuttgart konzipierte, in den Ausschußbericht aufgenommene konfessionsparitätische Doppelschema von zweimal 26 Assessoraten wird ebd., S.325, vom Herausgeber nur allgemein verwiesen- "umständlicher Vorschlag wegen der Präsentation der Assessoren" -, so daß Details und Relevanz dieses Vorschlags aus dem Regest nicht zu entnehmen sind); Protokoll des Rothenburger Unionstags, in: ebd., 8.233-284, hier S.267 f.; s. auch JAHNS, Ringen, S.438.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
protestantischen Stände den Kaiser nur ganz allgemein auf, auf dem Wege der Anordnung fiir durchgehende zahlenmäßige Religionsgleichheit im Kameralkollegium und ebenso in allen Senaten zu sorgen. Alle konkreten Verhandlungen über diese und andere Forderungen scheiterten an dem bekannten Verlauf des Regensburger Reichstags, der nach dem Auszug der protestantischen Stände aus den Reichstagskurien Ende Oktober 1613 mit dem Abbruch der Ausgleichsversuche und dem einseitig von der Reichstagsmehrheit beschlossenen Reichsabschied endete 126 • Die protestantischen Forderungen nach konfessionsparitätischer Besetzung aller Kameralämter sowie analog auch der RKG-Visitationen, der Revisionen und anderer Reichsdeputationen stießen nicht erst auf dem Regensburger Reichstag bei Kaiser und katholischen Ständen auf strikte Ablehnung. Dem auf protestantischer Seite aufgestellten Prinzip der Gleichberechtigung beider Konfessionen in der Reichs- und Religionsverfassung wurde ja damals sowohl in der katholischen Publizistik als auch im politischen Diskurs vehement widersprochen, es galt als "Figur ... illegitimen Rechts" 127 . Dementsprechend durfte dieses Prinzipnun gar in Form von numerischer Gleichheit oder Verfahrensparität- auch nicht in Institutionen des Reiches Eingang finden. Im Streit um die durchgängige Religionsparität des Kameralpersonals trafen schon vor dem Dreißigjährigen Krieg die katholische und die protestantische Konzeption vom Charakter der Reichsverfassung unversöhnlich aufeinander. Die Protestanten empfanden die Ablehnung ihrer Paritätsforderungen und das Festhalten der katholischen Stände am Mehrheitsprinzip (so bei Abstimmungen auf dem Reichstag) als "unerträgliches Joch" 128 , das konfessionelle Ungleichgewicht im RKG "als servitut, so den evangelischen per maiora uffgebunden" 129 • Die Gegenseite - hier Herzog Maximilian I. von Bayern- sah ihrerseits 1613 "der catholischen religiondas messer an die gurgel gesezt, weil die protestirnde sambtlich und entlieh entschlossen, den religionfriden auf ir weis zu erweitern ... , am cammergericht und reichstägen 126 Zum Regensburger Reichstag 1613 und den dort von den "Korrespondierenden" (den Mitgliedern der Union außer Pfalz-Neuburg sowie den übrigen auf dem Reichstag anwesenden protestantischen Reichsständen außer dem Haus Sachsen und Hessen-Darmstadt) erhobeneneu Paritätsforderungen s. etwas ausführlicher mit Quellenzitaten und -nachweisen JAHNS, Ringen, S.440 f.; vgl. GOTTHARD, Der Augsburger Religionsfrieden, 8.376 ff.; s. auch schon RITTER, Deutsche Geschichte, Bd.2, 8.384 ff.; A. HAAS, Der Reichstag von 1613, Diss. phil. Würzburg 1929; dazu LEHMANN, Acta publica, 8.256 ff., Briefe und Akten, Bd.ll, 8.571 ff. u. passim, Bd.12, 8.129. 127
HECKEL, Parität, S.264 (Zitat); vgl. DICKMANN, Gleichberechtigung, 8.232 ff.
128
LEHMANN, Acta publica, 8.285 (Zitat), auch 8.273 (1613).
129
Erstes württ. Gutachten zur Parität am RKG, fol.432v (s.o. Anm.116); die zitierte Stelle wurde nachträglich wieder durchgestrichen.
II.3 .1.2.1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens
227
paritatem votorum neben der freistellung mit gewaltund aufs eusserist hindurchzutringen", wodurch "die catholisch religion an der wurzl angriffen" 130 • Zwischen solchen konträren Positionen, die dem konfessionellen Feind letztlich Absichten zur Ausrottung der jeweils eigenen Religion unterstellten, schien ein Brückenschlag nicht denkbar. Der Widerstand der kaiserlich-katholischen Seite gegen die auf das RKG zielenden umfassenden Paritätsforderungen der Protestanten war um so heftiger, als ein Nachgeben in diesem Bereich zu unabsehbaren Weiterungen für die gesamte Justizverfassung und letztlich für das gesamte politische System des Reiches geführt hätte. Denn gleichzeitig wurde ebenso unversöhnlich um den kaiserlichen RHR gekämpft, der wegen seiner überwiegend katholischen Besetzung, seiner entschieden katholischen Interpretation des Augsburger Religionsfriedens, seiner von den Protestanten als äußerst bedrohlich wahrgenommenen Rechtsprechung in Religionsprozessen sowie wegen seiner Nähe zum kaiserlichen Geheimen Rat und der dadurch gegebenen politischen Einflußnahme durch die kaiserliche Hofpartei seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert ins Zentrum des protestantischen Feindbildes gerückt war 131 • Zum Forderungskatalog der protestantischen Aktionspartei gehörte zum einen die Beseitigung der Jurisdiktion des RHR, soweit dieser mit dem RKG konkurrierte- und damit wäre auch den Religionsprozessen des RHR ein Ende gemacht worden. Diese Forderung gipfelte 1613 sogar in dem mit konstruierten historischen Argumenten untermauerten Versuch, dem rein monarchisch geprägten RHR generell die Position eines zweiten obersten Gerichts im Reich neben dem überwiegend ständischen RKG abzusprechen und ihn durch Beschränkung auf einige wenige Kompetenzbereiche wie Reichslehenssachen an den Rand der Reichsjustiz zu verweisen. Zum anderen forderte die protestantische Aktionspartei nicht nur eine paritätische Besetzung des RHR-Kollegiums, sondern- um diese durchgängige Religionsgleichheit sicherzustellen - auch eine reichsständische Mitbeteiligung an der Ernennung der Reichshofräte. Damit wäre die in der Reichsreformzeit durchgesetzte dualistische Verfassungskonstruktion des Kameralkollegiums auch auf den bis130 131
Briefe und Akten, Bd.ll, S.21 (Jan. 1613); vgl. ebd., S.335 f. (Kurmainz Apri11613).
Zu den hier und im folgendenden nur in aller Kürze referierten protestantischen Beschwerden und Forderungen betreffend Jurisdiktion und Besetzung des RHR s. ausführlicher die quellengestützte Darstellung bei JAHNS, Ringen, 8.442-449 (ebd. Quellen- und Literaturnachweise); zum gesamten Problemkreis s. jetzt eingehend die 2006 erschienene Dissertation von EHRENPREIS, Kaiserliche Gerichtsbarkeit, dort vor allem S.265 ff. das auf aussagekräftigen Quellen beruhende Kapitel: Der Diskurs um Zuständigkeit und Kompetenzen des RHR 1590-1613; s. auch schon DERS., Tätigkeit. Im Rahmen eines inzwischen abgelaufenen Münchner Editionsprojekts "Die protestantische Union, das Reich und Westeuropa 15801621" hat Stefan Ehrenpreis Quellen für eine Edition "Reichskammergericht und Reichshofrat als Instrumente ständischer und kaiserlicher Reichspolitik, Teil B: Kaiserhof und Reichshofrat" gesammelt. Eine Publikation dieses Materials wäre sehr zu wünschen.
228
II.3. Die Besetzung der Assessorate
her ausschließlich vom Kaiser besetzten RHR übertragen worden 132 • Sowohl der Kampf gegen die konkurrierende RHR-Jurisdiktion als auch die Forderung nach religionsparitätischer Besetzung des RHR-Kollegiums, möglichst unter Beteiligung der Reichsstände, wurden von der kaiserlich-katholischen Partei und selbst von kaisertreuen protestantischen Ständen wie Kursachsen als Frontalangriff auf die kaiserliche Autorität und Gerichtshoheit verstanden und überhaupt auf die Stellung der Kaisers in der Reichsverfassung 133 . Am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges hatte die geschilderte Kontroverse zu einem Diskussionsstand gefiihrt, den man nur als paradox bezeichnen kann: Im Vorzeichen des oben geschilderten gespaltenen Rechtsdenkens und auf dem Hintergrund einer neuen protestantischen Vorstellung von Gleichheit versuchte die protestantische Offensivpartei der als existentiell wahrgenommenen Bedrohung durch den konfessionellen Gegner dadurch Herr zu werden, daß sie fiir die beiden obersten Reichsgerichte, fiir den Reichstag und andere Organe der Reichsverfassung Paritätskonzepte (im Sinne von numerischer oder Verfahrens11
11
Zur Forderung nach religionsparitätischer Besetzung des RHR unter reichsständischer Beteiligung s. ausführlicher mit Nachweisen JAHNS, Ringen, S.446 ff. Nach meinen bisherigen Quellenkenntnissen kam die Diskussion um die paritätische Besetzung des RHR bei einzelnen protestantischen Ständen schon gleich nach 1600 auf, also eher als flir die gesamte Assessorengruppe am RKG (1612113, s. die obige Darstellung), wohl weil in den Religionssenaten des RKG ja schon lange Parität bestand. Dabei wurden solche seit 1601 zunächst auf kurpfälzischer Seite nachweisbaren Paritätsforderungen für den RHR (s. Briefe und Akten, Bd.1, S.282 Anm.6) zweifellos angeregt durch die schon früher einsetzende Diskussion um die paritätische Besetzung der kammergerichtliehen Direktorial- und Kanzleiärnter. Vor allem stand hier aber die schon seit 1560 praktizierte Religionsgleichheit der Assessoren in den Religionssenaten des RKG Pate. Dabei mußte sich die Paritätsforderung sofort auf das gesamte RHR-Kollegium beziehen, denn anders als am RKG gab es dort keine Einteilung in Senate, Beratung und Urteilstindung des RHR fanden im Plenum statt. Nach den Erfahrungen am RKG hätten zwar wegen des konfessionell gespaltenen Rechtsdenkens auch in einem religionsparitätisch besetzten RHR-Kollegium die Religionsprozesse in 'paria vota', in Stimmengleichheit der Voten, stecken bleiben können. Aber eine solche Blockade wurde von den protestantischen Ständen offenbar gegenüber der parteiisch empfundenen Rechtsprechung eines fast ausschließlich katholischen RHR als das kleinere Übel angesehen. Die bereits im ersten Jahrzehnt nach 1600 einsetzende innerprotestantische Diskussion um möglichst paritätische Besetzung des RHR-Kollegiums und auch des kaiserlichen Geheimen Rats verlieh dann vermutlich ihrerseits der seit 1612113 erhobenen Forderung nach Religionsparität sämtlicher RKG-Beisitzer Impulse. Auf dem Regensburger Reichstag 1613 war die religionsparitätische Besetzung des RHR-Kollegiums zwar zunächst noch für den Forderungskatalog der Korrespondierenden mit eingeplant, wurde dann aber zurückgenommen, um wenigstens die sofortige Erledigung anderer Wünsche, so die durchgängige Parität des gesamten RKG, durchzusetzen; s. Briefe und Akten, Bd.ll, S.577 f. Anm.2, S.l007; dazu etwas ausführlicher JAHNS, Ringen, S.448. 132
133 Zusammenstellung solcher gegen die protestantische Aktionspartei erhobenen Vorwürfe z.B. bei LEHMANN, Acta publica, S.282 u. 283 (1613). Aus kursächsischer Sicht (1610) liefen die Attacken der kurpfalzischen Aktionspartei gegen die konkurrierende Jurisdiktion des RHR und damit gegen die kaiserlichen Jurisdiktionsrechte darauf hinaus, im Reich "die monarchia durch eine anarchia zu ersetzen", zit. nach EHRENPREIS, Tätigkeit, S.45 mit Anm.47.
II. 3.1.2 .1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens
22 9
parität der Konfessionen) entwickelten, die in letzter Konsequenz auf einen Umbau der Reichsverfassung hinausliefen. Aber während die Protestanten in der Erfüllung dieser Forderungen die Garantie für ihre Sicherheit und für die Gewährleistung von durchgehender "aequalitas" sahen, wurden umgekehrt eben diese Paritätsmodelle im Feindbild der katholischen Partei zu einem Schreckensszenario umgedeutet: die Unterdrückung oder sogar der Untergang der katholischen Religion, die willkürliche Beherrschung der Reichsjustiz sowie der ganzen Reichsverfassung durch die Protestanten- in summa der Umsturz des bisherigen Reichssystems und der Ruin des ganzen Reiches würden die unausweichliche Folge sein 134 . Angesichts dieses geradezu hermetisch abgeschlossenen Interpretationssystems nimmt es nicht wunder, daß die bayerische Regierung im nachhinein in der 1560 für das RKG verordneten Einrichtung paritätisch besetzter Religionssenate die Wurzel allen Übels sah - nämlich als Einfallstor für umfassendere Paritätsforderungen- und deshalb 1627 in den mit Religionsprozessen befaßten RKG-Senaten die Wiedereinführung des Majoritätsprinzips empfahl, wie es überall sonst in der Reichsverfassung gelte 135 • In den ersten beiden Phasen des Dreißigjährigen Krieges - dem böhmischpfalzischen und dem niedersächsisch-dänischen Krieg - brachten die Siege der kaiserlich-ligistischen Heere alle protestantischen Forderungen nach einer Umgestaltung der Reichs- und Religionsverfassung und damit auch der Reichsjustiz zum Schweigen. Das Restitutionsedikt von 1629, eine 'authentische' Interpretation des Augsburger Religionsfriedens aus kaiserlich-katholischer Sicht, schien die ganze Vorkriegsdebatte um die 'richtige' Auslegung des Religionsfriedens und um die lnstitutionalisierung des Paritätsprinzips mit einem Schlag zu beenden. Erst der Siegeszug Schwedens ermöglichte es den protestantischen Reichsständen in den frühen dreißiger Jahren, wieder auf ihre alten Konzepte zurückzugreifen. Ein im Frühjahr 1633 von der gemäßigten protestantischen Fraktion (Kursachsen, Kurbrandenburg und Hessen-Darmstadt) für zukünftige Friedensverhandlungen entwickelter, und zwar als gemeinsames Programm aller Protestanten konzipierter Forderungskatalog verlangte unter anderem: am RKG Religionsparität für sämtliche Assessoren (ein Vorschlag zur technischen Umsetzung im Rahmen eines neuen Präsentationsschemas wurde nicht unterbreitet), Bestellung von vier statt bisher drei Präsidenten, je zwei von jeder Religion, strikte Alternation im Amt des Kammerrichters, religionsparitätische und rein 134
Drastische Beispiele für dieses von der katholischen Partei gemalte 8chreckensgemälde: und Akten, Bd.l2, 8.386 f.; die betreffenden 133.
LEHMANN, Acta publica, 8.283 f. (1613); Briefe Zitate bei JAHNS, Ringen, 8.449 mit Anrn.132 u.
135 Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Neue Folge: Die Politik Maximilians I. von Bayern und seiner Verbündeten 1618-1651, Tl.2, Bd.3, 8.772 f.; s. auch JAHNS, Ringen, 8.442 mitAnrn.lOl.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
deutsche Besetzung des RHR-Kollegiums, Verweisung sämtlicher Religionsprozesse an das RKG; der RHR sollte hinfort für Religionssachen nicht mehr zuständig sein 136 . Eine 1632 (vor dem Tod Gustav Adolfs!) vom reformierten Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel projektierte Verfassungsreform atmete sogar noch einen weitaus radikaleren Geist. Sie sah in verfassungspolitischer Hinsicht unter anderem die Einstellung der gesamten Prozeßtätigkeit des RHR vor; Reichsstände dürften nur noch vor das RKG gezogen werden. Um dem Sicherheitsbedürfnis der Protestanten noch weiter Rechnung zu tragen, sollte das RKG durchweg mit "evangelischen hauptem und beisitzem" besetzt werden, wobei den präsentationsberechtigten katholischen Reichsständen auferlegt werden sollte, nur Protestanten zu Beisitzern vorzuschlagen. In einer Art Rachefeldzug gegen die einseitig katholische Auslegung der Reichs- und Religionsverfassung drehte Hessen-Kassel mit diesen Friedensbedingungen den Spieß buchstäblich um ("daß man itzo ... das gewehr umbwende") 137 . In letzter Konsequenz lief dieses überaus radikale, auf Konsensfähigkeit nicht angelegte Programm, welches das von den Protestanten so heftig bekämpfte Prinzip der Ungleichheit unter umge136 Für kursächsische Verhältnisse gingen diese Friedensbedingungen bemerkenswert weit, vermutlich in der Absicht, alle protestantischen Reichsstände dafür zu gewinnen. Druck dieses Forderungskatalogs "Summarische verzaichnus derjenigen praepetiten, auf welche der andere thail bei vorstehender fridshandlung gehen möchte" von Ende März 1633: Briefe und Akten N.F. Tl.2, Bd.8, S.l52 f. (Anlage zu nr.92 S.150 f.), hier S.l53 (Punkte 6-8, vgl. Punkt 10). Dieses "Summarische verzaichnus" gehört zu mehreren inhaltlich eng voneinander abhängigen Entwürfen, die Kurbrandenburg, Hessen-Darmstadt und Kursachsen 1632/33 erarbeiteten. In Gestalt der "Dresdener Punkte" wurden sie Grundlage für die protestantischen Forderungen auf den kaiserlich-kursächsischen Friedensverhandlungen in Leitmeritz, Pima und Prag 1634/3 5. Zur historischen Einordnung s. jetzt vor allem die 1997 erschienene ausführliche Darstellung der Vorgeschichte der Prager Friedensverhandlungen von Kathrin Eierther in: Briefe und Akten N.F. Tl.2, Bd.10: Der Prager Frieden von 1635, I. Teilbd. (Erschließungsband), S. *25 ff., hier S.*111 ff.; zum hier zitierten "Summarischen verzaichnus" ebd., S.*126 ff. Dieser protestantische Forderungskatalog von Ende März 1633, den Landgraf Georg von Hessen-Darmstadt alsbald dem Kaiser zur Kenntnis brachte, wurde von dem kurbayerischen Rat Wilhelm Jocher im Juni 1633 mit den alten Argumenten scharf abgelehnt, s. Jochers Gutachten zu diesen protestantischen Friedensbedingungen, in: Briefe und Akten N.F. Tl.2, Bd.8, S.190-209, betr. RKG u. RHR S.191, 193-195, 206-208. Eine Erfüllung der protestantischen Forderungen hatte in Jochers Feindbild weiterhin Rechtlosigkeit und "völlige extirpation" [!] der Katholiken zur Folge (S.l94). 137 Gutachten des Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel für Kg. Gustav Adolf von Schweden von Anfang März 1632, in: G. IRMER, Die Verhandlungen Schwedens und seiner Verbündeten mit Wallenstein und dem Kaiser von 1631 bis 1634, Tl.l, Leipzig 1888, S.l25133 (Beilage zu nr.47 S.l24), bes. S.l29 (Zitate); ferner sah das Gutachten unter anderem die Wahl des römischen Königs nur durch evangelische Kurfürsten und Fürsten vor; s. auch das nicht ganz so radikale, kurz zuvor angefertigte Gutachten der hessen-kasselischen Räte ebd., S.71-77, bes. S.75; dazu F. DICKMANN, Der WestHilisehe Frieden, 7. Aufl. Münster 1998, S.62.
II.3 .1.2.1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens
231
kehrtem konfessionellem Vorzeichen zementierte, Hand in Hand mit der Entmachtung des Kaisers auf eine protestantisch geprägte Reichsjustiz in einem protestantisch dominierten Reich hinaus. Der Tod Gustav Adolfs, die verheerende Niederlage der Schweden in der Schlacht bei Nördlingen, die Rückeroberung ganz Süddeutschlands durch den Kaiser und der Verfall der schwedischen Macht im Reich führten jedoch dazu, daß bei den kaiserlich-kursächsischen Friedensverhandlungen 1634/35 selbst die vergleichsweise maßvollen verfassungspolitischen Forderungen der gemäßigten Protestanten um Kursachsen kein Gehör fanden. Kursachsen hatte 1634/35 in Leitmeritz, Pirna und Prag die religionsparitätische Besetzung des RKG und des RHR verlangt 138 • Und zwar sollten am RKG das Kammerrichteramt alternierend besetzt und von den vier Präsidenten je zwei aus beiden Konfessionen bestellt werden. Zur Herstellung der Religionsgleichheit bei den Assessoren aber sollten der Kaiser sowie sämtliche präsentationsberechtigte Kurfürsten und Kreise so lange ausschließlich evangelische Juristen präsentieren, "biß die assessores beider religionen in numero pares sein". Danach sollte dann bei jeder eintretenden Vakanz das RKG den jeweils präsentationsberechtigten Kaiser, Kurfürsten oder Reichskreis darüber informieren, "von waß für religion zu erhaltung ainer gleichen anzahl die praesentandi sein müsten" 139 • Dieser politisch undurchsetzbare Modus zur Herstellung der Parität in der Assessorengruppe mutete den katholischen Präsentationshöfen also zu, bis zur Erreichung der Religionsgleichheit im Kameralkollegium und im Bedarfsfall auch noch danach im Rahmen ihrer Präsentationsberechtigung protestantische Juristen nach Speyer zu präsentieren. Damit wäre gegen die oben mehrfach zitierte Freistellungsregel des Augsburger Reichsabschieds ( § 106) und der Kammergerichtsordnung von 15 55 (Tl.l Tit.3 § 3) verstoßen worden. Auch war das Paritätsprinzip in diesem wenig transparenten Präsentationsmodus nicht konsequent zu Ende gedacht: Einerseits sollte die Parität der Assessorate realisiert werden, aber andererseits wurde das konfessionell neutrale Präsentationsschema von 1521 nicht angetastet. Im kursäch138 Zum Folgenden: Von Kursachsen proponierte Friedensbedingungen in Leitmeritz Juni 1634, in: Briefe und Akten N.F. T1.2, Bd.lO, 3. Teilbd. (Verhandlungsakten), nr.446-449, hier betr. den Justizpunkt nr.447, S.l022-1025. Dem RHR sollte die Jurisdiktion in Religionsprozessen entzogen werden, also keineswegs die gesamte mit dem RKG konkurrierende Gerichtsbarkeit. Hinsichtlich einer Aufnahme von Protestanten in den kaiserlichen Geheimen Rat wurden von Kursachsen- anders als vor 1618 von der protestantischen Offensivpartei keinerlei Forderungen erhoben; zu den Themen der Prager Friedensverhandlungen s. auch ebd., Bd.lO, 1. Teilbd., S.*237 ff.
139 Briefe und Akten N.F. Tl.2, Bd.lO, 3. Teilbd., S.l023; auch ebd., S.l213, 1278; dazu Punkt 10 des kaiserlichen Protokolls vom 17.-18.6.1643, ebd., S.l015. Diese kursächsische Forderung wird wörtlich in § 26 des Prager Friedens von 1635 wiederholt, s. ebd., Bd.lO, 4. Teilbd. (Vertragstexte), S.l613; entsprechend NVSRA T1.3, S.538 f.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
sischen Lager hatte man sich anscheinend keine Gedanken darüber gemacht, wie man das Präsentationssystem so umstrukturieren konnte, daß auch bei durchgehender Religionsgleichheit der Assessorate das konfessionelle Interesse der einzelnen Präsentationsberechtigten dennoch konstant gewahrt blieb. Auch entbehrte der von Kursachsen 1634/35 vorgeschlagene Modus zur Herstellung der Konfessionsparität bei den RKG-Assessoren im Hinblick auf die gesamte Reichsverfassung jeder verfassungspolitischen Radikalität. Der Gedanke eines konsequent paritätisch interpretierten Reichssystems stand nicht Pate. Ganz offenkundig hatten Kursachsen, Kurbrandenburg und Hessen-Darmstadt, die Anfang der dreißiger Jahre für die bevorstehenden Friedensverhandlungen mit dem Kaiser die protestantischen Friedensbedingungen formulierten, keinerlei Kenntnis von jenem strikt paritätischen Doppelschema mit fester Konfessionsbindung der Präsentationsberechtigungen, das 1613 im Kreise der protestantischen Union konzipiert worden war 140 . Angesichts der Weigerung des Kaisers, für RKG und RHR das Prinzip der Religionsparität zu akzeptieren, und angesichts anderer ungelöster Probleme war dieses Defizit eines reformierten Präsentationssystems allerdings 1634/35 noch zweitrangig. Die Frage der Besetzung des RKG wurde im Prager Frieden (§ 26) als eine Angelegenheit sämtlicher Reichsstände kurzerhand auf einen zukünftigen Reichstag verschoben. Die paritätische Besetzung des RHR wies der Kaiser als unzumutbar und nicht dem Reichsherkommen entsprechend zurück. Er erbot sich nur, so wie schon in der Vergangenheit, so auch in Zukunft qualifizierte Personen Augsburgischer Konfession vom RHR nicht auszuschließen. Im übrigen wurde dieser Punkt auf eine zukünftige Beredung zwischen Kaiser und Kurfürstenkolleg verschoben, "doch ohne einigenabbruchIhrer Ksl. Mt. authoritet, iurisdiction und hoheit" (§ 28) 141 • Zu einer grundlegenden Neugestaltung der Gerichts- und überhaupt der Reichs- und Religionsverfassung auf der Basis der Gleichberechtigung beider Konfessionen war zur Zeit des Prager Friedens die Zeit noch nicht reif. Auch auf dem von 1643 bis 1645 in Frankfurt tagenden Deputationstag, den der Regensburger Reichstag von 1640/41 mit der Beratung und Abstellung von Mängeln der Reichsjustiz beauftragt hatte, stieß das protestantische Verlangen 140 141
Dazu s. die obige Darstellung mit Anm.116 ff.
Zur umstrittenen Frage der Hofjurisdiktion wurde nur vereinbart, daß künftig keine bereits am RKG anhängigen und dorthin gehörigen Sachen an den RHR gezogen werden dürften (§ 30), s. Briefe und Akten N.F. T1.2, Bd.lO, 4. Teilbd. (Vertragstexte), S.l614 (§§ 28 u. 30), entsprechend NVSRA Tl.3, S.539. Zum Prager Frieden, vor allem betr. die Reichsjustiz, s. auch RITTER, Deutsche Geschichte, Bd.3, S.593; SMEND, Reichskammergericht, S.206; GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.55; kurz DICKMANN, Der WestHilisehe Frieden, S.70 ff., bes. 72; zum Kontexts. M. KAISER, Der Prager Frieden von 1635. Anmerkungen zu einer Aktenedition, in: ZHF 28, 2001, 8.277-297.
II.3 .1.2.1. Paritätsforderungen im Vorzeichen des gespaltenen Rechtsdenkens
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nach "paritas", "aequalitas" und "aequitas" in den Reichsgerichten bei der katholischen Mehrheit des Deputationstags wie in allden Jahrzehnten zuvor auf eine Mauer der Abwehr 142 . Bei der Forderung nach religionsparitätischer Besetzung des Kameralkollegiums und des RHR-Kollegiums beriefen sich die evangelischen Delegierten auf den Passauer Vertrag von 1552, den Augsburger Religionsfrieden bzw. den Augsburger Reichsabschied und die KGO von 1555 sowie auf den Prager Frieden, in dem die Erfiillung dieses Punkts zur Bedingung gemacht worden sei. In all diesen Reichsgesetzen sei die Paritätsforderung gut fundiert- eine aus Beweisnot geborene These, welche die katholische Mehrheit des Deputationstags mit Hinweis auf den genauen Wortlaut der angezogenen Reichsgesetze und Friedensschlüsse leicht widerlegen konnte 143 • Auch die naturrechtlieh argumentierende Berufung der protestantischen Delegierten auf eine höhere Instanz, die "natürliche Aequität und Vemunfft", fand kein Gehör 144 • Der Frankfurter Deputationstag ist nicht so sehr erwähnenswert wegen der zum wiederholten Male und wiederum vergeblich vorgetragenen Forderungen der protestantischen Seite nach Paritätisierung der obersten Reichsgerichte. Spannend sind die Frankfurter Debatten vor allem deshalb, weil der Konflikt um die Besetzung des RHR und dessen Jurisdiktion in Religionssachen einen verfassungspolitischen Schlagabtausch über die kaiserlichen Hoheitsrechte und über die staatsrechtliche Natur des RHR (ausschließlich Gericht des Kaisers oder aber von Kaiser und Ständen gemeinsam getragenes Gericht analog dem RKG?) auslöste, der zu einem Grundsatzstreit um die Machtverteilung zwischen Kaiser und Reichsständen und damit um die höchste politische Gewalt im Reich eskalierte 145 • Man sieht an dieser Kontroverse einmal mehr, wie sich der Kampf 142 Die Abhandlung von R. v. KIETZELL, Der Frankfurter Deputationstag von 1642-1645. Eine Untersuchung der staatsrechtlichen Bedeutung dieser Reichsversammlung, in: Nassauische Annalen 83, 1972, S.99-119, behandelt vorrangig die auf dem Deputationstag erörterte Frage der Beteiligung aller Reichsstände am zukünftigen Friedenskongreß, der Justizpunkt wird nur am Rande erwähnt; nur kurz auch SMEND, Reichskarnmergericht, S.206 f.; GscHLIESSER, Reichshofrat, S.55; DICKMANN, Der WestHilisehe Frieden, S.113 f.; etwas ausftihrlicher SELLERT in: ders., RHRO II, S.21 ff., bes. S.28 ff. Umfangreiche Aktenedition zu diesem Reichsdeputationstag in: J.G. v. MEIERN, Acta comitialia Ratisbonensia publica. Oder Regenspurgische Reichstags-Handlungen und Geschichte von den Jahren 1653 und 1654, Tl.2, Göttingen 1740, S.35-*344. Darauf stützen sich die folgenden Ausführungen; weitere Einzelheiten und Quellenzitate s. bei JAHNS, Ringen, S.454 ff. 143 Protestantische Interpretation dieser Reichsgesetze und Friedensschlüsse bei MEIERN, Acta comitialia, T1.2, S.118, *170, 161 f., 266, 268; Zurückweisung dieser Argumentation von Bayern ebd., S.120, 288; zu diesem Umdeutungsprozeß bzw. Vorstufen davon s. auch schon JAHNS, Ringen, S.432 mit Anm.68, S.437 mit Anm.80. 144
269. 145
MEIERN, Acta comitialia, Tl.2, S.268 (Pommern); s. auch Nürnbergs Voten ebd., S.163, Details dieser Kontroverse bei JAHNS, Ringen, S.455 ff.
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Il.3. Die Besetzung der Assessorate
um die Paritätisierung der Reichsgerichte und um die religionsrechtliche Judikatur des RHR zu einem Kampf um die Deutung der Reichsverfassung ausgewachsen hatte. Beide Seiten versuchten hier in durchaus doktrinärer Weise, Verfassungsgeschichtezuschreiben und die "Forma Reipublicae" in ihrem Sinne zu definieren. Die damaligen reichspublizistischen Extrempositionen - die einseitig monarchisch-zentralistische Verfassungsdeutung eines Dietrich Reinkingk und das eben damals von Bogislaw Philipp v. Chemnitz alias Hippolithus a Lapide konstruierte radikale Modell einer aristokratischen Reichsverfassung - bildeten dabei ganz offenkundig den staatstheoretischen Nährboden für diesen Frankfurter Verfassungsdiskurs 146 • Die Polarisierung ging auf dem Frankfurter Deputationstag so weit, daß die Kontrahenten den Ausgang des Streits um Paritätisierung und Judikatur der Reichsgerichte in gegenseitigen Schuldzuweisungen zu einer Frage von Krieg oder Frieden hochstilisierten147 • Die Unbeweglichkeit der Fronten zeigte, daß die Fragen der Religionsgleichheit in den Reichsgerichten, der mit dem RKG konkurrierenden Jurisdiktion des RHR, vor allem in Religionssachen, sowie andere verfassungspolitisch relevante Aspekte der Reichsjustiz nur im größeren Rahmen einer umfassenden Revision der Reichs- und Religionsverfassung zu lösen waren - sowie nur unter dem Druck der kriegsbeteiligten europäischen Mächte. 2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: die Zäsur von 1648/54 Daß die kammergerichtliche Präsentationsordnung ein Subsystem des größeren Systems "Reich" darstellte, zeigte sich endgültig während der Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück. Die Ergebnisse des Dreißigjährigen Krieges veränderten nicht nur die Verfassungsverhältnisse im Reich, sie machten als unmittelbare Folgewirkung auch eine tiefgreifende Umstrukturierung des Präsenta146 Dazu s. mit weiteren Nachweisen R. HaKE, Staatsräson und Reichsverfassung bei Hippolithus a Lapide, in: R. Schnur (Hg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, Berlin 1975, S.407-425; DERS., Hippolithus a Lapide, in: M. Stolleis (Hg.), Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, 3., erw. Aufl. München 1995, S.ll8-128; CHR. LINK, Dietrich Reinkingk, in: ebd., S.78-99; STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd.1, S.203 ff., 218 ff.; W. BURGDORF, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte flir das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, Mainz 1998, S.56 ff.
MEIERN, Acta comitialia, T1.2, S.114 u. 115 (Pommern), 123 (Pommern), 128 (HessenDarmstadt), 265 (Braunschweig-Lüneburg), 269 (Nümberg), 295 (Vorwurf der katholischen Fürstenratsdelegierten, daß die protestantischen Gesandten "nur immerfort das Mißtrauen continuiren und den Zunder des Krieges fomentiren wolten"). An der ganzen verfassungspolitischen Kontroverse auf dem Frankfurter Reichsdeputationstag fällt auf, daß die außerdeutschen und überhaupt die machtpolitischen Ursachen flir die Fortsetzung des Krieges völlig ausgeblendet werden. 147
II.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
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tionssystems notwendig. Der Westnilische Frieden eröffnete nicht nur generell ein neues Kapitel deutscher und europäischer Geschichte, er leitete auch die zweite große Periode in der Geschichte des kammergerichtliehen Präsentationswesens ein 148 • Diese zweite Epoche reicht von der großen Zäsur des Jahres 1648 bis zu der noch einschneidenderen Zäsur des Jahres 1806. Schon im Urteil des sehr geschichtsbewußten RKG-Assessors Harpprecht von 1769 bildete das WestHilische Friedensinstrument nicht nur "den eigentlichen Grundstein der gegenwärtigen teutschen Reichs-Verfassung" 149 • In seinen präsentationsrechtlichen Regelungen war es zusammen mit den Ergänzungsbestimmungen des Jüngsten Reichsabschieds von 1654 ebenso der "Grundstein" für das gesamte Präsentationssystem bis zur Auflösung des Reiches und damit auch des RKG 150 • Sämtliche Entwicklungen, Ansprüche und Probleme im Präsentationswesen dieser zweiten Periode wurzelten letztlich in den präsentationsrechtlichen Normen der auch für das RKG fundamentalen Reichsgesetze von 1648 und 1654. Alle späteren Revisionsvorschläge und tatsächlich durchgeflihrten Korrekturen zur Anpassung des Präsentationsschemas an neuere Veränderungen im übergreifenden Reichssystem mußten sich an diesem reichsgesetzlich sanktionierten Rahmen orientieren und sich darin einfügen. Ganz im Einklang mit dem konservierenden Charakter der gesamten Reichsverfassung lautete nach dem Westfalischen Frieden die Devise für das kammergerichtliche Präsentationswesen nicht mehr Neugestaltung, sondern Modifikation. Jede Untersuchung der präsentationsrechtlichen und der davon stark geprägten sozialen Strukturen des Kameralkollegiums in der Spätphase des Reiches muß daher das Jahr 1648 zum Fixpunkt nehmen. Die friedensvertragliehen Regelungen, die sich der Reform der Reichsjustiz widmeten, gehören zweifellos nicht zu denjenigen Leistungen des Westfälischen Friedenskongresses, die sich dem kollektiven Gedächtnis als historisch bedeutsam und erinnerungswürdig einprägten. Dennoch bildete der "Justizpunkt" ("Punctus Justitiae") über zweieinhalb Jahre lang ein heiß umstrittenes Thema, und die juristisch versierten Diplomaten waren sich der Relevanz des auszuhandelnden Ergebnisses überaus bewußt 151 • Gewinne und Verluste der Kontrahen148
Dieselbe Periodisierung der Geschichte des kammergerichtliehen Präsentationswesens findet sich auch schon in der älteren Kameralliteratur und Reichspublizistik, so ausdrücklich bei PüTTER, Anleitung, Tl.2, Bd.1, 8.95 f., dazu 8.98 Anm.3. 149
Harpprecht in: 8ELCHOW, Concepte, TL 1, 8.30.
150
Zur Bewertung der im IPO und im JRA verankerten Präsentationsschemata als "Grundstein" für Revisionsentwürfe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts s. BALEMANN, Beiträge, 8.81. 151 J.G. v. MEIERN, Acta Pacis Westphalicae publica. Oder Westphälische Friedens-Handlungen und Geschichte, Tl.l-6, Hannover 1734-1736, hier Tl.5, 8.498 §V (1648); s. das betreffende Zitat bei JAHNS, Ringen, 8.408 f.; das Folgende in enger Anlehnung an ebd., 8.409.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
ten auf diesem speziellen Terrain entschieden über nichts Geringeres als über die zukünftige Ausgestaltung der Reichsverfassung als Ganzes. In dem jahrelangen Tauziehen um Anzahl, Zuständigkeit und Besetzung der höchsten Reichsgerichte ging es tiefgründig auch um die Position des Kaisers im Reich, um das Verhältnis von Reichsoberhaupt und Ständen sowie der Konfessionsparteien zueinander. Auf dem Höhepunkt der Kontroversen um den Justizpunkt stand zeitweise sogar die Einheit des Reiches auf dem Spiel: Diese Einheit des Reiches als politisch-verfassungsrechtliches System galt es zu wahren. Die Einheit des Rechts, verlorengegangen in den Glaubenskämpfen des Konfessionellen Zeitalters, galt es wiederzugewinnen. Grundprinzipien des verbesserten Reichsreligionsrechts waren auch in der inneren Verfassung und Organisation der obersten Reichsgerichte zur Geltung zu bringen, sollte das zerstörte Vertrauen in deren Rechtsprechung wiederhergestellt und damit eine zentrale Voraussetzung fur die innere Befriedung des Reiches geschaffen werden. Im sensiblen Bereich der Justiz mußten Politik und Religion, Recht und Macht wieder miteinander versöhnt, politisch-verfassungsrechtliche und konfessionelle Strukturen des Reiches mußten endlich auch im Bereich der Gerichtsverfassung in Einklang gebracht werden. Daß die Friedensverhandlungen über den Justizpunkt mit einer solchen Bürde belastet waren, wird nur durch die Tatsache verständlich, daß die unversöhnlichen Streitigkeiten der Konfessionsparteien über Rechtsprechung, Besetzung und Zuständigkeit der beiden obersten Reichsgerichte seit dem späten 16. Jahrhundert im Zentrum jener oben skizzierten Verfassungs- und Vertrauenskrise standen, die schon in der Wahrnehmung der Zeitgenossen zu den innerdeutschen Konfliktursachen des Dreißigjährigen Krieges gehörte 152 • Das Ringen um die Paritätisierung des Kameralkollegiums kann nur im größeren Zusammenhang der gesamten Friedensverhandlungen über die Reichsjustiz behandelt werden, deren Einzelpunkte die Verhandlungsparteien in ihren Konzepten bis ins Jahr 1647 hinein stets zu einem Paket schnürten- logische Folge der Tatsache, daß hier über die strittigen Einzelaspekte hinaus um das zukünftige System der Reichsgerichtsbarkeit gerungen wurde und zugleich um das politisch-verfassungsrechtliche System des Reiches insgesamt. Erst in diesem größeren Kontext können die Lösungen gewürdigt werden, die schließlich 1648 ftir die Umstrukturierung des kammergerichtliehen Präsentationssystems gefunden wurden. In ihren im Dezember 1645 vorgelegten "Gravamina Evangelicorum" wiesen die Protestanten - die machtpolitisch-europäischen Kriegsgründe ganz ausblendend - nochmals darauf hin, daß die von ihnen schon so lange vorgebrachten und bisher unerledigt gebliebenen Justizbeschwerden eine Hauptursache ftir Zer152 S. die oben in Anm.147 zitierten, auf dem Frankfurter Deputationstag 1643/44 abgegebenen Voten; s. auch JAHNS, Ringen S.409 f. mit Anm.4.
II.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
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rüttung und Krieg im Reich und ein Haupthindernis für den Frieden gewesen seien. Ohne Schaffung einer unparteiischen Justiz und ohne Herstellung einer durchgehenden Gleichheit zwischen den Ständen beider Religionen (im Justizwesen wie in der Reichsverfassung überhaupt) sei der innere und äußere Friede nicht zu erlangen. Dann traten die evangelischen Stände mit einem Programm zur Reform der Reichsjustiz hervor, das an Radikalität alle früheren Projekte weit übertraf153 • Die aus den Religionsprozessen erwachsene jahrzehntealte Forderung nach paritätischer Besetzung der Reichsgerichte wurde kombiniert mit einer geradezu revolutionären Umgestaltung der äußeren und inneren Gerichtsverfassung. Neben dem RKG und dem RHR sollten zwei weitere Gerichte im Reich installiert werden 154 • Für die Vermehrung wurden ganz praktische und scheinbar harmlose Gründe angeführt: Entlastung der mit Prozessen völlig überhäuften beiden bisherigen höchsten Gerichte, Verkürzung der Reisewege und Senkung der Reisekosten für Prozeßparteien und Gerichtsboten. Der verfassungs- und religionspolitische Sprengstoff war jedoch unübersehbar. Die nunmehr vier Gerichte sollten "als Kayserliche und des Reichs [!] höchste Gerichte und UniversaHa dicasteria in gleicher Jurisdiction, Patestät und Dignität bestehen". Jedem von ihnen wurde ein Gerichtssprengel zugewiesen, in dem es konkurrenzlos zuständig war. Und zwar wurde der RHR auf den Österreichischen und den Bayerischen Kreis, das RKG auf die beiden Rheinischen Kreise sowie den Burgundischen Kreis beschränkt. Von den beiden neuzuschaffenden Gerichten wurden dem einen die beiden Sächsischen Kreise sowie der Westfälische Kreis, dem anderen der Fränkische und der Schwäbische Kreis zugeordnet. Ge153 Zum Folgenden: "Gravamina Evangelicorum", den kaiserlichen Gesandten und den Vertretern der katholischen Reichsstände zugestellt am 15.12.1645 st. vet., Druck: MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.2, S.522-537 (Justizpunkt ebd., S.532-537, daraus die folgenden Zitate); derselbe Justizpunkt gleichlautend schon ebd., Tl.l, S.744-749, 807-812. Zu diesem Justizreformprojekt s. kurz MasER, Justiz-Verfassung, Tl.l, S.298 ff.; SMEND, Reichskammergericht, S.207 f.; GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.55; K.A. MODEER, Gerichtsbarkeiten der schwedischen Krone im deutschen Reichsterritorium, I. Voraussetzungen und Aufbau 16301657, Stockholm 1975, S.267 ff.; K. RUPPERT, Die kaiserliche Politik auf dem Westfeilischen Friedenskongreß (1643-1648), Münster 1979, S.238 f.; vgl. Sellert in: DERS., RHRO II, S.33 f.; MüDEER, Der schwedische König als Richter im Ostseeraum. Das königliche Hofgericht und das königliche Tribunal in Wismar, in: Frieden durch Recht, S.435-444, hier S.440 (Sellert und Modeer erwähnen beide nur das erst im Juni 1646 vorgelegte reduzierte Modell mit nur einem weiteren Reichsgericht). - Im Folgenden können nur die Hauptlinien der Friedensverhandlungen über den Justizpunkt nachgezeichnet werden. Über die Erörterung des Justizpunkts während der Friedensverhandlungen, wozu immer auch die Besetzung des Karneralkollegiums gehörte, berichtet zusammenfassend, ohne auf Details einzugehen, DICKMANN, Der Westfeilische Frieden, passim. Die folgende Darstellung lehnt sich eng an JAHNS, Ringen, S.458 ff., an (s. dort auch weitere Quellenzitate und Nachweise); kürzer schon DIES., Die Reichsjustiz als Spiegel, S.460 ff. 154 Für einen solchen Plan gab es Vorläufer; Nachweise dazu aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bei JAHNS, Ringen, S.459 mit Anm.164.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
setzliehe Grundlage aller vier Gerichte sollte die (von Kaiser und Reichsständen gemeinsam beschlossene) KGO samt ihren Ergänzungsgesetzen sein. Die eigentlichen Richter dieser vier Reichsgerichte Geweils ungefähr 12 oder 16) sollten aus den Reichskreisen rekrutiert und von den Ständen dieser Kreise präsentiert und unterhalten werden. An allen vier Gerichten waren sämtliche Ämter von den Präsidenten und Urteilern bis hinunter zu den Kanzleibeamten und anderen Justizdienern mit Evangelischen und Katholiken in gleicher Anzahl zu besetzen. Eine zwischen evangelischen und katholischen Prozeßparteien strittige Sache sollte nur vor bzw. von religionsparitätisch besetzten Senaten und Kommissionen verhandelt, referiert und entschieden werden. In Zweifelsfällen oder bei Stimmengleichheit zwischen den Richtern beider Religionsteile war die Sache zur gütlichen Vergleichung auf den Reichstag zu verweisen. Zur Begründung dieser durchgängigen Religionsgleichheit fanden die protestantischen Stände programmatische Worte mit Grundrechtscharakter: Sie sei "der höchsten Noth, Vernunfft, natürlichen Billigkeit und aller Völcker Rechten" gemäß, sei stabilisierender Zusammenhalt "in Republica libera". Die Evangelischen partizipierten mit gleichem Recht wie die Katholiken an den Rechten des Staatswesens, sie seien alle, die Höchsten wie die Niedrigsten, gleichberechtigte Mitglieder des einen Reiches ("aequalia membra unius Imperii"). Diese "aequitas et naturae principia" erforderten, daß die Evangelischen wie die Katholiken "pari jure" zu den Ämtern des Staatswesens zugelassen würden. Das waren Prinzipien, die der bisherigen katholischen Interpretation vom Wesen des Reiches diametral entgegenstanden und die zu ihrer Legitimierung einer leicht widerlegbaren Umdeutung der bisherigen Reichsgesetze nicht bedurften. Zwar blieben dem Kaiser in diesem protestantischen Projekt einer Gerichtsreform einige Reservatrechte 155 • So hatte er das Recht zur Präsentation der Präsidenten Ge zwei an jedem der vier Gerichte, je einer aus beiden Konfessionen). Aber insgesamt wurde der Kaiser aus dieser neuen Gerichtsverfassung doch weitgehend verdrängt. Bezeichnend schon, daß die beiden Präsidenten der vier Gerichte zugleich die Funktion eines Kammerrichters -bisher Haupt und Repräsentant des Kaisersam RKG- "zu Erspahrung vergeblicher Unkosten" mit ausfüllen sollten. Vor allem wurde der RHR seines bisherigen Charakters als Bollwerk ausschließlich monarchischer Rechte entkleidet und statt dessen - wie schon 1495 das neuerrichtete RKG und wie nunmehr die anderen Gerichte dieses neuen Systems - den ständischen Prinzipien der Reichsreformzeit unterwor155 An den nunmehr vier höchsten und gleichen Gerichten sollten alle Zitationen, Mandate und Dekrete im Namen und unter dem Siegel des Kaisers ausgehen- so wie bisher schon an RKG und RHR. An seiner hergebrachten höchsten Jurisdiktion und Präeminenz, besonders an seiner ausschließlichen Zuständigkeit in Lehenssachen und an seiner konkurrierenden Zuständigkeit in Landfriedensbruchsachen sollte ihm (bzw. seinem RHR) nichts benommen sein.
11.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
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fen 156 . Es war ganz wesentlich ein konfessionsparitätisches, ständisch-aristokratisches, dezentrales Reich mit schwacher kaiserlicher Gewalt, das sich in diesem protestantischen Projekt einer Justizreform spiegelte. Die Handschriften Hessen-Kassels und Braunschweig-Lüneburgs- Protagonisten einer einschneidenden Verfassungsrevision- sind unverkennbar 157 • Die evangelischen Stände rechtfertigten zwar ihren Plan mit dem Hinweis auf andere Länder wie Frankreich und Spanien, die ebenfalls mehrere höchste Gerichte hätten ohne irgendeine Verkleinerung und Verletzung der königlichen Hoheit und Gewalt 158 • Aber die spezifisch deutsche Verfassungsentwicklung ließ den von der Gegenseite erhobenen Vorwurf, dieses Projekt führe zu einer Umwälzung der Reichsverfassung, sehr wohl berechtigt erscheinen 159 • Anfang Juni 1646 lehnten die kaiserlichen und katholischen Kongreßgesandten daher nicht nur die Vermehrung der Gerichte, sondern auch die paritätische Besetzung von RKG und RHR ab 160 • Wie sehr die kaiserlich-katholische Partei 156 So auch SMEND, Reichskammergericht, S.207. Dem Kaiser wurde nicht nur die Besetzung der RHR-Stellen entzogen. Zugleich war durch die Beschränkung des RHR auf einen rein katholischen Gerichtssprengel im Südosten des Reiches das Problem der bisher den protestantischen Ständen so gefährlichen, weil im ganzen Reich mit dem RKG konkurrierenden religionsrechtlichen Jurisdiktion des RHR mit einem Schlag behoben. Nach dem in der Vorkriegszeit von der protestantischen Aktionspartei verfolgten Plan, die Zuständigkeit des RHR auf wenige Ausnahmefälle zu reduzieren, und nach der Forderung eines Bogislaw Philipp v. Chemnitz alias Hippolythus a Lapide, den RHR als Quelle allen Übels gänzlich abzuschaffen, war dies der dritte Anlauf, das Problem der anstößigen Hofjurisdiktion im radikal-protestantischen Sinne zu lösen; s. dazu JAHNS, Ringen, S.461 Anm.l67. 157 Über den hessen-kasselischen Gesandten Reinhard Scheffer und den braunschweiglüneburgischen Gesandten Jakob Lampadius, beide Exponenten der radikalen evangelischen Aktionspartei auf dem Osnabrücker Friedenskongreß, s. ausführlicher mit Nachweisen JAHNS, Ringen, S.461 Anm.168. 158 MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.2, S.536, 607; Hinweis auf die französischen "Judicia unipartita" bzw. "Chambres mipartie" als Vorbild ftir mehrere gleichgeordnete und paritätische Reichsgerichte s. ebd., S.631, durch den französischen Bevollmächtigten Servien (April 1646) sowie vorher in der Resolution des brandenburgischen Kurfürsten zur Verhandlungslinie Kurbrandenburgs in Osnabrück vom 28.6.1645, in: Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurflirsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd.4: Politische Verhandlungen, Bd.2, hg. von B. Erdmannsdörffer, Berlin 1867, S.392. 159
Der Kaiser konstatierte denn auch im Januar 1646 zu Recht, bei diesem ständischen Vorschlag einer Gerichtsvermehrung sei "alles dahin gericht, daß mir alle iurisdiction in effectu entzogen werde"; s. Acta Pacis Westphalicae Serie II Abt.A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd.3: 1645-1646, bearb. von K. Ruppert, Münster 1985 (im folgenden zit.: APW II A 3), S.192. 160 Zum Folgenden: "Hauptsächliche· Erklärung" der katholischen Stände über die protestantischen Religionsgravamina, den evangelischen Gesandten am 1.6.1646 st. vet. vom kaiserlichen Prinzipalgesandten Trauttmansdorff überreicht, in: MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.3, S.150 (Eintlg.) u. S.153-155, betr. das Justizwesen S.155; s. auch schon das Schreiben Ferdinands Ill. an Trauttrnansdorff, Linz, 23.1.1646, in: APW II A 3, S.191-194, hier S.192 f. mit einer Instruktion, wie Trauttmansdorff auf die protestantische Forderung betr.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
zu diesem Zeitpunkt noch an ihren Vorkriegspositionen festhielt, zeigt sich an ihren Gegenvorstellungen: Am RKG sollte es beim vorreformatorischen, seit 1521 feststehenden Präsentationssystem bleiben, denn es werde sich schwerlich irgend ein Reichsstand dazu verstehen, zur Herstellung der Parität einen Juristen zu präsentieren, der nicht seiner Religion angehöre. Um weitergehenden Forderungen nach zusätzlichen Reichsgerichten und nach ständischer Präsentation von Reichshofräten den Wind aus den Segeln zu nehmen, erbot sich der Kaiser für den RHR nur, eine gewisse Anzahl von Reichshofräten Augsburgischer Konfession aufzunehmen (aber möglichst weniger als acht) und alle Religionssachen analog den Religionssenaten des RKG durch eine paritätische Anzahl evangelischer und katholischer Reichshofräte erledigen zu lassen. Im übrigen sollte der ganze Justizpunkt auf den nächsten Reichstag verschoben und damit auch dem Druck der fremden Mächte entzogen werden. Die evangelische Seite reagierte auf diese Verweigerungs- und Verschleppungstaktik Mitte Juni 1646 mit einer eher unerheblichen Modifikation ihres Justizreformprojekts. Nunmehr sollte neben RKG und RHR nur noch ein weiteres Reichsgericht aufgerichtet werden, und zwar für die beiden Sächsischen Kreise und den Westfälischen Kreis. Abgesehenen von dieser Reduktion von vier auf drei Gerichte galten aber alle Prinzipien des älteren viergliedrigen Modells 161 . Der Widerstand der Gegenseite blieb denn auch ungebrochen. Aus kaiserlicher Sicht lief der neue ebenso wie der ursprüngliche Entwurf zwangsläufig auf einen Umsturz der gesamten Reichsverfassung hinaus 162 . Kaiser und katholische Stände konnten sich ihre unbeugsame Haltung um so eher leisten, als die innerproteVermehrung der Reichsgerichte und deren Paritätisierung reagieren solle; dazu Näheres bei JAHNS, Ringen, S.462 mit Anm.173. 161 "Evangelicorum Fernere Erklärung in puncto Gravaminum", dict. 9.6.1646 st. vet., in: MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.3, S.l60-168 (Justizpunkt S.167 f., daraus die folgenden Zitate); s. auch schon ebd., S.l59. Dem RHR wurden auch in diesem modifizierten Plan der Österreichische und der Bayerische Kreis als Gerichtssprengel zugewiesen, jedenfalls, "wann ein Kayser aus dem Hause Oesterreich oder Bayern erwehlet ist [!]", dem RKG die beiden Rheinischen Kreise sowie der Burgundische, Fränkische und Schwäbische Kreis (dem RKG wurde also der ursprünglich ftir ein viertes Gericht vorgesehene Gerichtssprengel zugeschlagen). Zu diesem dreigliedrigen Modell s. MosER, Justiz-Verfassung, Tl.1, S.299; SMEND, Reichskarnmergericht, S.208; GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.55; MüDEER, Gerichtsbarkeiten, S.267 f.; Sellert in: DERS., RHRO II, S.34 f.; s. auch RUPPERT, Die kaiserliche Politik, S.255 f. In dieser "Ferneren Erklärung" der Protestanten wurde programmatisch der Grundsatz der durchgehenden Gleichheit fiir die Stände beider Religionen aufgestellt - und zwar im Sinne der "Lückenschließungs-Parität" (HECKEL, Deutschland, S.204) ftir alle Bereiche, die nicht schon durch den Passauer Vertrag und den Augsburger Religionsfrieden geregelt waren, s. MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.3, S.l61; zu der damaligen Erörterung des Gleichheitsgrundsatzes auf dem Friedenskongreß s. auch DICKMANN, Der Westfälische Frieden, S.357 ff. 162 "Declaratio Caesaraeanorum in puncto Satisfactionis Gallicae", August 1646, in: MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.3, S.712 ff., hier S.713 ("ad eversionem formae totius Reipublicae"); s. auch JAHNS, Ringen, S.463 Anm.l76.
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stantischen Meinungsverschiedenheiten zur Frage der Gerichtsvermehrung seit dem Frühjahr 1646 immer deutlicher wurden. Vor allem kaisertreue Stände distanzierten sich zunehmend von dem Projekt einer dreigeteilten Reichsjustiz, allen voran Kursachsen und Kurbrandenburg 163 • Die kursächsischen Diplomaten forderten im August 1646 nicht einmal mehr die Religionsgleichheit der Reichshofräte sowie sämtlicher RKG-Assessoren. Denn so wie sich die Protestanten im Rahmen ihrer Präsentationsberechtigungen nicht zur Benennung katholischer Juristen zwingen lassen würden, so könne man den katholischen Ständen nicht zumuten, bei Erledigung 'ihres' RKG-Assessorats zur Erreichung der Religionsparität einen evangelischen Juristen zu präsentieren164 • Kursachsen schwenkte damit offen auf die kaiserliche Linie ein und ging weit hinter die Forderungen zurück, die es in Leitmeritz, Pirna und Prag erhoben hatte, um möglichst alle protestantischen Stände für den damaligen Friedensplan zu gewinnen. Wie schon 1634/35 lag Kursachsen- und mit ihm anderen Kongreßgesandten- in diesem Stadium der westfälischen Friedensverhandlungen der Gedanke noch völlig fern, daß man das vorreformatorische Präsentationssystem ändern müsse, wenn man die paritätische Besetzung der RKG-Assessorate erreichen wollte, ohne die Entscheidungsfreiheit der katholischen Präsentanten zu verletzen. Angesichts all dieser Widerstände auch im eigenen Lager und auf Grund schwedischer Sonderinteressen165 ließen die Protestanten um die Jahreswende 163
Dazu etwas ausführlicher mit Nachweisen JAHNS, Ringen, S.463 ff. mit Anm.l77-182.
164
MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.3, S.351 (im Buch falsche Paginierung: S.251).
165
Zu Schwedens ursprünglichem Wunsch nach Exemtion seiner territorialen Neuerwerbungen im Reich von der Reichsgerichtsbarkeit und der dann stattdessen erhobenen (und erfüllten) Forderung nach einem unbegrenzten Appellationsprivileg s. MODEER, Gerichtsbarkeiten, S.247 ff., hier S.271 (kritische Anmerkung dazu bei JAHNS, Ringen, S.465 Anm.183); zu der 1653 erfolgten Errichtung eines Oberappellationsgerichts für die 1648 neu hinzugewonnenen Reichsterritorien in Gestalt des Wismarer Tribunals s. MODEER, ebd., S.291 ff.; im Anschluß daran DERS., Uniformität und Zentralisation. Rechtsprechung im Ostseeraum durch die schwedische Krone im 17. Jahrhundert, in: H. Mohnhaupt- D. Sirnon (Hgg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd.l, Frankfurt a.M. 1992, S.217-251, hier S.239 ff.; kurz auch DERS., Der schwedische König, S.440 f.; zum Wismarer Tribunal s. neuerdings die im Umfeld eines Habilitationsprojekts entstandenen Untersuchungen von N. JöRN, vor allem DERS., Stand und Aufgaben bei der Erforschung der Geschichte des Wismarer Tribunals, in: ders.- North (Hgg.), Integration, S.235-273; DERS., Die Etablierung des Wismarer Tribunals als Oberappellationsgericht für die schwedischen Provinzen im Alten Reich 16531664, in: H. Wernicke- H.-1. Hacker (Hgg.), Der Westfälische Frieden von 1648- Wende in der Geschichte des Ostseeraums, Harnburg 2001, S.135-172; DERS., Gerichtstätigkeit, personelle Strukturen und politisch relevante Rechtsprechung am Wismarer Tribunal 1653-1815, in: Baumann u.a. (Hgg.), Prozeßakten als Quelle, S.219-257; DERS., Das richterliche Personal am Tribunal, in: ders.- B. Diestelkamp- K.A. Modeer (Hgg.), Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653-1806), Köln- Weimar- Wien 2003, S.247-275; DERS., Integration durch Recht? Versuch eines Fazits und Perspektiven der Forschung, in: ebd., S.387-408 (mit weiteren Literaturhinweisen); s. auch weitere einschlägige Studien in demselben Sammelband, vor allem H. MOHNHAUPT, Organisation und Tätigkeit des "Hohen Königlichen Tribu-
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
1646/47 ihr Projekt einer dreigeteilten Reichsjustiz fallen und operierten von nun an wieder im Rahmen der herkömmlichen zweigliedrigen Gerichtsverfassung. Diese Kehrtwende vollzogen sie jedoch nur unter bestimmten, im Frühjahr 1647 voll ausgebildeten Bedingungen 166 • Sie liefen für das RKG zur Verbesserung seiner Funktionsfähigkeit auf die Vermehrung der Assessorate hinaus: fünf für jeden der- seit der neuen Kreiseinteilung von 1512- zehn Reichskreise und zusätzlich je eins für die sechs Kurfürsten (außer Böhmen), also zusammen 56, die strikt religionsparitätisch besetzt werden sollten (also 28 :28). Die Präsidenten ernannte weiterhin der Kaiser, aber ebenfalls in gleicher Anzahl aus beiden Religionen. Sie sollten die Funktion des Kammerrichters mit übernehmen, dessen Amt damit beseitigt wurde (spätere Projekte sahen das Amt allerdings wieder vor). Auch für die RKG-Kanzlei sollte Religionsgleichheit gelten. Der RHR war ebenfalls religionsparitätisch zu besetzen, und zwar sollten die Reichshofräte von und aus den Reichskreisen präsentiert werden. Die Zuständigkeit in Religionssachen sollte dem RHR genommen werden, im übrigen blieb ihm die Konkurrenz mit dem RKG 167 • Damit griffen die evangelischen Kongreßgesandten, unterstützt von Schweden, auf ältere protestantische Forderungen zurück. Sie waren, gemessen an der damaligen kaiserlich-katholischen Position, immer noch radikal genug, vor allem im Hinblick auf den RHR, der auch nach diesen Plänen zu einem ständischen Gericht gemacht worden wäre. Von nun an wurde unter diesen neuen Prämissen bis zum Frühjahr 1648 über ein Jahr lang zäh über den Justizpunkt gerungen. Dabei waren nicht nur Differenzen zwischen den beiden Konfessionsparteien, sondern auch innerhalb der beiden Lager zu überwinden 168 • In den Einigungsprozeß flossen auch Verfasnals zu Wismar", in: ebd., S.215-237; zuletzt N. JöRN, Das Wismarer Tribunal in seinen Beziehungen zu Reichskammergericht und Reichshofrat, in: Auer - Ogris - Ortlieb (Hgg.), Höchstgerichte in Europa, S.81-96. 166 Zum Folgenden: "Der Evangelischen zusammen getragene Conclusa über beygesetzte Differentias", dict. 22.12.1646 st. vet. (vorläufige Bedingungen), in: MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.4, S.8-16, 16-28 (Justizpunkt S.16 u. 28); dazu die kaiserlich-schwedischprotestantischen Verhandlungen vom 6.2.1647 st. vet., ebd., S.56-77 (Justizpunkt S.74-77); "Der Evangelicorum Endliche Erklärung in puncto Gravarninum", dict. 25.2.1647 st. vet. (endgültige Bedingungen), in: ebd., Tl.4, S.99-109 (dt. Fassung, Justizpunkt S.l08 f.), S.8999 (lat. Fassung, Justizpunkt S.98 f.), dazu Einleitung S.87-89; vgl. RUPPERT, Die kaiserliche Politik, S.278 f. 167 Zum Ringen um den Umfang der RHR-Jurisdiktion s. etwas ausführlicher mit weiteren Nachweisen JAHNS, Ringen, S.466 mit Anm.185. Auch für den RHR wurde eine (mehrheitlich ständische) ordentliche Visitation und Revision verordnet, wie sie am RKG eingeführt war. Zweifelsfälle sollten von beiden Gerichten allein an den Reichstag verwiesen werden. 168
Vor allem unter den katholischen Ständen war der Widerstand gegen die Paritätisierung des RKG bis zuletzt beträchtlich. - Die in beiden Lagern ursprünglich vertretenen Extrempositionen und den Weg der allmählichen Annäherung realpolitisch denkender Fraktionen auf beiden Seiten zugunsten einer "Entkonfessionalisierung der Friedenspolitik" (S.305) sowie
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sungsprinz1p1en ein, die in parallelen Verhandlungen in andere Bereiche der Reichs- und Religionsverfassung eingeführt wurden. Das Ergebnis dieses Tauziehens war schließlich ein Kompromiß, der allerdings für RKG und RHR sehr unterschiedlich ausfiel 169 . In diesem letzten Verhandlungsjahr konzentrierten sich die Auseinandersetzungen über den Justizpunkt vor allem auf das RKG und hier bezeichnenderweise auf die mit der Urteilsfindung befaßten Assessoren, diejenige Großgruppe des RKG also, welche die in der Reichsreformzeit errurtgenen ständischen Rechte an diesem Reichsgericht am stärksten verkörperte. An dem zu Beginn des 16. Jahrhunderts herausgebildeten Prinzip, die Assessorate mehrheitlich auf dem Weg zugunsten der Anerkennung des Prinzips der "aequalitas exacta mutuaque" (IPO V § 1) unter Verzicht auf theologisch fundierte Maximalforderungen beschreibt auf der Basis größtenteils ungedruckter Quellen eindrucksvoll A.P. LUTTENBERGER, Ratio conscientiae- ratio politica. Konzeptionen der kaiserlichen und ständischen Verhandlungsführung auf dem westfalischen Friedenskongreß 1645/46-1648, in: N. Brieskorn- M. Riedenauer (Hgg.), Suche nach Frieden: Politische Ethik in der Frühen Neuzeit II, Stuttgart 2002, S.271-319. Auf die Rolle der Reichsjustiz in diesem Prozeß der Annäherung wird kurz hingewiesen; Beschreibung der bis zuletzt unnachgiebigen, rein theologisch argumentierenden Position der katholischen Maximalisten, in deren "asymmetrischem Sicherheitskonzept" (S.290) das Prinzip der reichsrechtlichen Gleichberechtigung der Konfessionen und damit auch die konfessionelle Parität in den Reichsorganen keinen Platz hatte, s. ebd., S.279-292. 169 Der Verlauf der vom Frühjahr 1647 bis zum Frühjahr 1648 geführten Verhandlungen über die endgültige Ausgestaltung von RKG und RHR ist bis zur vollständigen Edition der Protokolle und Verhandlungsakten in APW Serie III Abt.A und B nachzulesen in MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, T1.4 und 5; dazu zur Orientierung J.L. WALTHER, Universal-Register über die Sechs Theile der Westphälischen Friedens-Handlungen und Geschichte, imgleichen über die Zween Theile der Nürnbergischen Friedens-Executions-Handlungen und Geschichte, Göttingen 1740, hier vor allem die Stichworte Iustiz-Punct, Praesentations-Recht zu den Reichs-Gerichten, Reichs-Cammer-Gericht; vgl. auch Reichs-Cammer-Gerichts-Praesidenten, Reichs-Cammer-Richter. Auf Einzelnachweise muß weitgehend verzichtet werden. Das Ergebnis dieser Verhandlungen ging in IPO Art.V §§53-58 ein. Über die auf dem Westfalischen Friedenskongreß und ergänzend im Jüngsten Reichsabschied von 1654 für das RKG und für den RHR gefundenen Ergebnisse s. schon die ältere Kameralliteratur und Reichspublizistik (nur die Ergebnisse betr. das kammergerichtliche Präsentationswesen, nicht die Details der Vorverhandlungen referierend), vor allem PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.12 ff., 36 ff.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.75 ff., 83 ff.; ferner J. ULMENSTEIN, Tractatus, S.33 ff.; MOSER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, S.15 ff.; DERS., Justiz-Verfassung, Tl.2, S.389, 397 f.; TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.314 ff., auch S.353; BALEMANN, Beiträge, S.79 ff., auch S.10, 32 f., 41; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.80, 94 ff.; DANZ, Grundsäze, S.169 ff.; PüTTER, Anleitung, Tl.2, Bd.1, S.95 ff., 98 ff.; DERS., Historische Entwickelung, Tl.2, S.90 ff.; neuere Darstellungen (z. Tl. ohne näheres Eingehen auf das nach dem Paritätsgrundsatz umstrukturierte Präsentationsschema zur Besetzung der RKG-Assessorate): SMEND, Reichskammergericht, S.209 f., 270 f.; BRÖHMER, Einwirkungen, S.30 ff.; GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.56 f., 75, WEBER, Parität, S.177 ff.; HAFKE, Zuständigkeit, S.178 ff.; ferner RUPPERT, Die kaiserliche Politik, bes. S.293 ff.; DICKMANN, Der Westfeilische Frieden, passim, bes. S.460; die obigen Ausführungen teils zusammenfassend, teils damit identisch: JAHNS, Ringen, S.466 ff.; auch schon DIES., Die Reichsjustiz als Spiegel, S.461 ff. Auf die in dieser Anmerkung zitierte Literatur wird für das Folgende verwiesen.
244
II.3. Die Besetzung der Assessorate
über Präsentationen der partikularen Gewalten und nur zum kleinen Teil auch über solche des Kaisers zu besetzen, war während des Dreißigjährigen Krieges selbst auf dem Höhepunkt kaiserlicher Macht nicht mehr gerüttelt worden. Um so mehr bildete dieser der Reichsverfassung so adäquate Besetzungsmodus während der Friedensverhandlungen, in einer für die Reichsstände ungleich günstigeren Konstellation, die selbstverständliche Voraussetzung für alle Beratungen über die Besetzung des Kameralkollegiums und wurde durch die einschlägigen Regelungen des Friedensvertrags indirekt als Verfassungsgrundsatz bestätigt 170 . Der Anstoß zur Umstrukturierung dieses prinzipiell beibehaltenen Präsentationssystems ging von zwei Bestimmungen aus, auf die sich die Vertragspartner unter Ausklammerung strittig gebliebener Fragen schließlich einigten: Erstens wurde in Artikel V § 53 des Osnabrücker Friedensinstruments die Gesamtzahl der Assessorate von zuletzt 38-28 ordentlichen und 10 außerordentlichen- im Interesse einer größeren Arbeitsleistung, vor allem angesichts der immer größeren Aufhäufung unerledigter alter Prozesse, auf 50 erhöht 171 . Die zweite Neuregelung war grundsätzlicherer Art: Auf dem Westfälischen Friedenskongreß hatte der evangelische Religionsteil schließlich erreicht, daß das so lange umstrittene Prinzip der vollen Konfessionsgleichheit, der "aequalitas exacta mutuaque" zwischen beiden Konfessionen, nunmehr- soweit es nicht der revidierte und in das Friedensinstrument integrierte Augsburger Religionsfrieden anders bestimmte- zum konstitutiven Bauelement der Reichsverfassung wurde 172 • Nach langem Ringen der Konfessionsparteien um Quotenanteile bei der Präsentation der RKG-Beisitzer konnten die Protestanten schließlich durchsetzen, daß diese "Universal-Parität" 173 auch dem Präsentationssystem zur Besetzung der nunmehr 170
So auch schon KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.75 f.
171
Maßgebliche Edition des Instrumenturn Pacis Osnabrugensis (IPO) jetzt in: Acta Pacis Westphalicae Serie III Abt.B: Verhandlungsakten, Bd.l: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden, Tl.l: Urkunden, bearb. von A. Oschmann, Münster 1998 (im folgenden zit.: APW III B 111), S.95-170 nr.18 (die in Art. V §§53-58 enthaltenen Regelungen betr. RKG und RHR s. ebd., S.126-128); vollständige dt. Übersetzung des IPO in: A. BuscHMANN, Kaiser und Reich. Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806 in Dokumenten, 2 Tle., 2., erg. Aufl. Baden-Baden 1994, hier Tl.II: Vom Westfälischen Frieden 1648 bis zum Ende des Reiches im Jahre 1806, S.15-106 (Art. V§§ 53-58 ebd., S.58-62). 172 "Aequalitas exacta mutuaque": IPO Art.V § 1 (APW III B 1/1, S.111). Zur Durchsetzung dieses Paritätsprinzips für die Reichsverfassung während der Friedensverhandlungen und zu seiner Bedeutung als Ergänzungsnorm, nicht als Generalklausel, s. DICKMANN, Gleichberechtigung, bes. S.241 ff.; in größerem Zusammenhang subtiler schon HECKEL, Parität, bes. S.384-392 ("Lückenschließungs-Parität"), S.404 f.; zusammenfassend DERS., Deutschland, S.204; s. ferner L. WEBER, Parität, S.159 ff., bes. S.165 ff., in Anwendung auf das RKG ebd., S.177 ff. 173
MEIERN, ActaPacis Westphalicae, T1.5, S.471.
II.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
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50 RKG-Assessorate zugrunde gelegt wurde, jedoch mit einer bezeichnenden Ausnahme. In der Schlußphase der Verhandlungen (Februar 1648) mußte die protestantische Seite schließlich konzedieren, daß die beiden dem Kaiser zustehenden Assessorate von der Paritätsregelung ausgenommen wurden - verbunden jedoch mit dem Protest, daß sie der katholischen Seite diese Prärogative "einig und allein zu Bezeugung unserer Friedens-Begierde und Ihro Kayserl. Majestät zu allerunterthänigsten Ehren nachgäben, und sonsten aus abgedachten Ursachen von der universaH paritate abzuweichen keine Ursach hätten" 174 • Der Grundsatz der numerischen Parität sollte also nur für diejenigen 48 RKG-Beisitzer (24: 24) gelten, die von den Reichsständen (Kurfürsten und Reichskreisen) präsentiert wurden. Demzufolge bestimmte das Osnabrücker Friedensinstrument in Artikel V § 53 außer der Vermehrung der Beisitzer auf 50, daß die Katholiken 26 Assessorate besetzen konnten einschließlich der beiden dem Kaiser vorbehaltenen, die evangelischen Stände dagegen 24. Abgesehen von diesem Zahlenverhältnis legte derselbe Paragraph nur noch fest, daß die konfessionell gemischten Reichskreise - als solche galten mit einer gewissen Willkür nur der Fränkische, der Schwäbische, der Oberrheinische und der Niederrheinisch-Westfälische Kreis- von nun an getrennt nach Religionsteilen je zwei katholische und zwei evangelische Assessoren präsentieren durften. Auf diese Weise wurden die konfliktträchtigen gemischtkonfessionellen Compräsentationen auf ein einziges vakantes Kreisassessorat beseitigt175 . 174 Zu dieser Konzession der evangelischen Religionspartei in den abschließenden Verhandlungen von Ende Februar/Anfang März 1648, die in das am 22.2. st. vet./3.3.1648 st. nov. unterzeichnete Schlußdokument über den Justizpunkt und von dort in IPO Art. V§ 53 einging, s. MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.5, S.470 ff. passim, bes. S.471 f., 481 f., 486, 488 ff., (Zitat S.490, vgl. S.489: "das geschehe in honorem et respectum Caesaris"), 493 f., 495 ff., 519 f.; das erwähnte Schlußdokument über den Justizpunkt "Formula constituti Judicii Aulici et Cameralis" s. ebd., S.499-501; dazu ebd., S.498, sowie S.562-576, hier 574-576 (Art.20); s. auch DICKMANN, Der Westfälische Frieden, S.460.- Daß die evangelischen Stände das Paritätsprinzip noch Anfang 1648 auch auf die beiden kaiserlichen Präsentationen hatten anwenden wollen, geht eindeutig hervor aus dem im Januar 1648 von den Evangelischen vorgelegten Entwurf eines Präsentationsschemas, worin für den Kaiser in seiner Eigenschaft als Reichsoberhaupt die Präsentation je eines evangelischen und eines katholischen Assessors vorgesehen war, s. MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.4, S.880. In den entscheidenden Verhandlungen vom Februar 1648 ließen Kursachsen und Kurbrandenburg die Forderung nach absoluter numerischer Parität der RKG-Assessorate offenbar als erste fallen, s. ebd., Tl.5, S.471. 175 IPO Art.V §53; vgl. das evangelische und das katholische Präsentationsschema in IPO Art. V§ 57 und in JRA 1654 § 169 (s. die folgende Darstellung). Auch der Bayerische und der Niedersächsische Kreis enthielten Stände jeweils anderer Konfession, wurden aber in den beiden Schemata als rein katholisch bzw. rein evangelisch definiert (in einigen 1647 vorgelegten Entwürfen hatte die evangelische Seite für den Bayerischen Kreis noch ein evangelisches Assessorat neben vier katholischen vorgesehen, s. MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.5, S.179, 203, 547, 575). Für die evangelischen Stände des Bayerischen Kreises konnte in IPO Art. V §58 nur eine Vorbehaltsklausel verankert werden, wonach ihre Rechte dennoch unbe-
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Zur Verwirklichung all dieser Vorgaben fanden die Friedensunterhändler schließlich eine Lösung, die nach dem 1634/35 eingeschlagenen Irrweg, dem von 1521 stammenden Präsentationssystem die protestantischen Paritätswünsche aufzuzwingen und katholische Präsentanten zur Präsentation evangelischer Juristen zu nötigen, der Durchschlagung des gordischen Knotens gleichkam. Durchaus in Analogie zu der Aufgliederung des Reichstags in ein Corpus Catholicorum und ein Corpus Evangelicorum traten nun anstelle des bisherigen einen Präsentationsschemas zwei nach Konfessionen getrennte Schemata. Entsprechend ihrem damaligen Konfessionsstand wurden Kurfürsten und Reichskreise - in den gemischtkonfessionellen Kreisen der jeweilige Religionsteil - dem einen oder anderen Schema zugewiesen. Die beiden kaiserlichen Vorschlagsrechte waren in das katholische Präsentationsschema integriert und gaben diesem mit zwei Assessoraten ein leichtes Übergewicht gegenüber dem evangelischen (26: 24 ). Durch diese Reform wurde der Konfessionscharakter der einzelnen Assessorate, der seit 1555 im Belieben der Präsentanten gestanden hatte, seit 1648 reichsgesetzlich genau festgelegt, die numerische Konfessionsparität der RKG-Assessorate dadurch auf Dauer garantiert- analog der Normaljahrsregelung für den konfessionellen Besitzstand. Zusätzlich zum Präsentationsrecht als solchem erwuchs den Kurfürsten, dem Kaiser und den Kreisen also von nun an im Zusammenhang ihrer Präsentation ein in der Reichsverfassung verankerter Anspruch und eine Verpflichtung konfessioneller Art. Im übrigen wurde 1648 die innere Ausgestaltung der beiden Präsentationsschemata den beiden Konfessionsparteien als interne Angelegenheit überlassen. Weder damals noch bei zukünftigen Korrekturen des kammergerichtliehen Präsentationswesens durften sich die Reichsstände der einen Religionsseite in die präsentationsrechtlichen Angelegenheiten der anderen Seite einmischen 176 . Dasselbe Prinzip galt auf Kreisebene für die konfessionell gemischten Kreise 177 . rührt bleiben sollten. Im Niedersächsischen Kreis wurde durch dessen Einstufung als rein
evangelisch vor allem das katholische Stift Bildesheim vom Kreispräsentationsrecht ausgeschlossen, was im 18. Jahrhundert zu einem langwierigen Konflikt um ein von Bildesheim dennoch beanspruchtes- evangelisches!- Nominationsrecht führte; s. dazu mit weiteren Nachweisen Biogr. 124 (Summermann), V mit Anm.5. 176 IPO Art.V §54: "Catholici etiam suo tempore de ordine praesentandi convenient" (APW III B 111, S.l27). Die evangelischen Stände hatten sich bereits in der Schlußphase der Friedensverhandlungen auf ihr Präsentationsschema geeinigt, die Katholiken taten es erst auf dem folgenden Reichstag in Regensburg. Der Grundsatz, daß die Ausgestaltung der beiden Präsentationsschemata, d.h. die Verteilung der zugeteilten Gesamtzahl von Präsentationen auf die Stände, innere Angelegenheit der jeweiligen Konfessionspartei sein solle, war während der Friedensverhandlungen von der evangelischen Seite aufgestellt worden, s. MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.5, S.472, 490.
Zum Prinzip der konkurrenzlosen Ausgestaltung und Ausübung des Präsentationsrechts durch die jeweilige Konfessionspartei in den gemischten Kreisen s. exemplarisch die 1670 177
II.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
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Das Bemerkenswerte an diesem Doppelschema ist, das seine Grundprinzipien fast sämtlich bereits 1613 von württembergischen Räten entwickelt und von dem damaligen Rothenburger Unionstag gebilligt worden waren, um die paritätische Umgestaltung des Kameralkollegiums technisch zu bewerkstelligen. Nur waren damals die beiden kaiserlichen Assessorate noch in die Paritätsarithmetik mit einbezogen gewesen. Nach 1613 war dieses innovative Konzeptangesichts der Erfolglosigkeit der radikal-protestantischen Paritätsforderungen, die dann auch noch vom Kriegsgeschehen überrollt wurden, offenbar in den Archiven der protestantischen Aktionspartei verschwunden. In den Friedensverhandlungen von 1634/35 hatte dann die gemäßigte Fraktion um Kursachsen das Wort geführt und ein ganz anderes, unpraktikables und für die Katholiken völlig unakzeptables Modell zur Herstellung der Parität bei den RKG-Assessoren unterbreitet, das auch in Osnabrück und Münster zunächst noch gehandelt (bzw. abgewehrt) wurde 178 • Weitere Forschungen müssen zeigen, ob man sich 1647/48 in der entscheidenden Phase der Friedensverhandlungen über den Justizpunkt in den Kreisen der Protestanten wieder an das Stuttgarter Modell der Vorkriegszeit erinnerte oder aber ob die Verhandlungspartner dieses Doppelschema ganz neu kreierten. Mit dieser konsequenten Anwendung des Grundsatzes strikter Gleichbehandlung und Trennung der beiden Konfessionsparteien sowie gegenseitiger Nichteinmischung leistete der Friedenskongreß in dem nur scheinbar zweitrangigen Bereich des kammergerichtliehen Präsentationswesens einen bedeutsamen Beitrag zur Konfliktregelung. Die Unterhändler maßen ihm denn auch zusammen mit den anderen Vereinbarungen über den "Punctus Justitiae" allergrößte Bedeutung bei - als einem entscheidenden Durchbruch für den erfolgreichen Abschluß der Friedensverhandlungen 179 • Fast unnötig zu sagen, daß das Osnabrücker Friezwischen dem katholischen und dem evangelischen Teil des Fränkischen Kreises ausgetragene Kontroverse in: RKG IV B 1/18 fol. 9-9H, RKG IV B 1/19 fol.4-6; ferner das Schreiben des preußischen Kgs. Friedrich II. als Hzg. von Kleve und Direktor des ev. NiederrheinischWestfälischen Kreises an das Kameralkollegium, Berlin, 22.7.1780, Or.: RKG IV B 1/14 fol.243 f.; s. (in Auswahl) auch MüSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.404; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.85 mit Amn.3 S.87 ff. 178 S. die obige Darstellung zum Rothenburger Unionstag 1613 und zur Aushandlung des Prager Friedens 1634/35. 179 S. die emotionsgeladene Reaktion der Unterhändler anläßtich der Unterzeichnung des Vorvertragsam 3.3.1648 neuen Stils (22.2.1648 alten Stils), der den ausgehandelten Justizpunkt enthielt und dann Bestandteil des Friedensinstruments wurde, wiedergegeben in: MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.5, S.498 (zitiert bei JAHNS, Ringen, S.408 f. mit Anm.2). Vgl. auch den Ausspruch des braunschweig-lüneburg-cellischen Gesandten Langenheck vom Februar 1647 in einer kontroversen Verhandlung über die Reform von RKG und RHR: "diß aber sey gewiß, daß alle diese Tractaten umsonst und vergeblich seyn, wann sie nicht durch die Justitz befestiget werden", s. MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.4, S.77.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
densinstrument in Artikel V § 54 auch nähere Bestimmungen traf flir diejenigen Fälle, in denen die Senate des RKG paritätisch besetzt werden sollten. Das RKG ging in der Folge noch darüber hinaus und achtete bei der Bildung der Judizialund Extrajudizialsenate sowie bei der Bestellung von Referenten und Korreferenten in allen Rechtsfällen durchgängig aufReligionsgleichheit. Abgesehen von der Aussparung der kaiserlichen Präsentationen aus der Paritätsgleichung hatten die protestantischen Reichsstände mit der konfessionsparitätischen Besetzung der 48 ständischen RKG-Assessorate 1648 dank schwedischer Unterstützung einen großen Erfolg errungen. Auch als in der Folge die Zahl der wirklich besetzten Assessorate aus Geldmangel reduziert werden mußte, wurde an diesem neuen Strukturmerkmal des kammergerichtliehen Präsentationswesens bis zum Ende des Alten Reiches 1806 nicht mehr gerüttelt. Einen ähnlichen Ausgleich zwischen kaiserlichen Sonderrechten und protestantischständischen Positionsgewinnen fand man 1648 fiir die Direktorialämter des RKG. Die nunmehr vier Präsidentenstellen, die weiterhin der Kaiser besetzte, wurden in IPO Artikel V § 53 ebenfalls der Paritätsarithmetik (2: 2) unterworfen. Da die Präsidenten zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus den Beisitzern hervorgegangen waren und hinter dem Kammerrichter im zweiten Glied standen, konnte der Kaiser dieses Zugeständnis verschmerzen. Aber das fiir den Wiener Hof aus verfassungspolitischen Gründen weitaus bedeutsamere Amt des Kammerrichters, Haupt und Repräsentant des Kaisers am RKG, blieb dem Zugriff der protestantischen Stände ebenso entzogen wie die kaiserlichen Assessorate. Eine Alternation im Kammerrichteramt sei nicht akzeptabel, denn - so der im Februar 1648 von den kaiserlichen Gesandten gegenüber den schwedischen Unterhändlern aufgestellte Grundsatz - der Kammerrichter als Inkarnation kaiserlicher Autorität und Gerichtshoheit am RKG müsse derselben Religion angehören wie der Kaiser: "cujus Religionis sit Imperator, ejus et debeat esse Judex" 180 • Entgegen einer etwas verklausulierten Formulierung in IPO V §53 gelang es dem Kurfürsten von Mainz als Reichserzkanzler, das gesamte Kanzleipersonal des RKG den Paritätsansprüchen der Protestanten zu entziehen 181 . Das Gericht im engeren Sinne jedoch, das Kameralkollegium mit Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren, war seit seiner Umstrukturierung auf dem Westfälischen Friedenskongreß sowohl durch seine Öffnung fiir die neue Ergänzungsnorm der "aequalitas exacta mutuaque" als auch durch die Respektierung des kaiserlichen Selbstverständnisses aufs neue ein Spiegel des modifizierten Reichssystems. Der 180
MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.5, S.482.
Dies war allerdings erst das Ergebnis des Regensburger Reichstags von 1653/54, auf dem noch einige Nachhutgefechte zum Justizpunkt stattfanden, s. MEIERN, Acta comitialia, Tl.l u. 2; SMEND, Reichskammergericht, S.317 f.; DUCHHARDT, Kurmainz und das Reichskammergericht, S.198 f. 181
II.3 .1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
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ältere politisch-verfassungsrechtliche Dualismus von Kaiser und Reichsständen und der jüngere Dualismus der Konfessionen wurden seit 1648 im Kameralkollegium auf geradezu idealtypische Weise ausbalanciert und abgebildet. Reichsverfassung, Religionsverfassung und Gerichtsverfassung waren hier endlich wieder zur Deckung gebracht. Für den RHR konnten die protestantischen Stände dagegen die ebenfalls seit langem geforderte Religionsgleichheit sämtlicher Reichshofräte nicht durchsetzen und schon gar nicht die Besetzung des RHR auf dem Wege reichsständischer Präsentation. Auch die mit dem RKG konkurrierende Judikatur des RHR blieb unangetastet, und damit auch dessen so lange umstrittene Zuständigkeit in Religionssachen. Dies alles lag durchaus in der inneren Logik der für das RKG beschlossenen Lösung, die monarchischen Strukturelemente der Gerichtsverfassung vor dem ständischen und schon gar dem protestantischen Zugriff zu schützen. Gerade weil der Kaiser sonst im Verhältnis zu den Reichsständen, vor allem auf dem Reichstag, viele Einbußen hatte hinnehmen müssen, wurde die Bastion des RHR um so vehementer verteidigt. Die Besetzung des RHR-Kollegiums blieb weiter ausschließlich beim Kaiser. Er versprach zwar in Artikel V § 54 des Osnabrücker Friedensinstruments, einige Juristen aus den evangelischen oder konfessionell gemischten Kreisen des Reiches für den RHR zu rekrutieren, ließ sich aber entgegen den Forderungen der protestantischen Friedensunterhändler auf eine genaueZahl nicht festlegen 182 • Insgesamt war dieses ganze Regel werk, auf das sich die Friedensunterhändler als Teil des Osnabrücker Friedensinstruments (Artikel V §§53-58) am 3. März 1648 st. nov. (22. Februar 1648 st. vet.) endlich einigten, von dem geradezu revolutionären Projekt einer Reichsjustizreform, wie es die Protestanten in der ersten Kongreßphase vorgelegt hatten, meilenweit entfernt. Wie der gesamte Westfälische Frieden überhaupt bewahrte der "Punctus Justitiae" die politisch-verfassungsrechtlichen Grundstrukturen des Reiches und der darauf aufbauenden Ge182 APW III B 1/1, 8.127 ("aliquot Augustanae confessionis doctos ... viros"). Bezeichnenderweise bestimmte der Kaiser erst in der neuen RHR-Ordnung, die er 1654 ohne Hinzuziehung der Stände aus eigener Machtvollkommenheit erließ, eine gerraue Zahl evangelischer Reichshofräte, nämlich sechs von insgesamt achtzehn. Aber selbst diese Zahl wurde in der Folge keineswegs immer realisiert; s. SELLERT, RHRO II, S. 56 ff. (Tit.l § 3, nach älterer Zählung § 2); GSCHLIESSER, Reichshofrat, 8.57 f., 75; mißverständlich Sellert in DERS., RHRO II, 8.35, wonach in IPO V §54 "die konfessionell-paritätische Besetzung des RHR festgelegt" wurde. Über die 1648 in IPO V §54 sowie ergänzend in RHRO 1654 Tit.l § 3 getroffenen Regelungen betreffend die konfessionelle Zusammensetzung des RHR-Kollegiums s. ausfUhrlieher mit weiteren Nachweisen JAHNS, Ringen, 8.470 f., sowie oben Kap.II.l.l. mit Anm.33. Neben der Zusicherung, einige bzw. sechs evangelische Reichshofräte zu ernennen, ging es darin vor allem um die Anordnung einer (dann zur "paritas ficta" verwässerten) numerischen Parität zwischen katholischen und evangelischen Reichshofräten bei der Verhandlung geistlicher und weltlicher Rechtssachen, die zwischen Parteien verschiedener Religion strittig waren.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
richtsverfassung, wie sie sich als Ergebnis der spätmittelalterlichen Verfassungsentwicklung seit etwa 1500 herausgebildet und im 16. Jahrhundert stabilisiert hatten. Aber innerhalb dieser traditionellen Strukturen zogen die Gerichtsreformen, und zwar gerade auch die fast völlige Paritätisierung des kammergerichtliehen Präsentationssystems, die Konsequenzen aus der konfessionell bedingten Zerrüttung der Reichsjustiz, welche die Krise der Reichs- und Religionsverfassung am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges ganz wesentlich mitverursacht hatte. Die Friedensunterhändler in Münster und Osnabrück vollbrachten mit der Regelung des Justizpunkts im Rahmen des Möglichen eine bemerkenswerte Anpassungsleistung. Für sich allein genommen hätten Neuerungen wie paritätische Besetzung oder zumindest paritätische Abstimmungsverfahren allerdings schwerlich pazifizierend wirken und das Vertrauen in die konfessionelle Unparteilichkeit der Reichsjustiz nicht wiederherstellen können. So wichtig sie für die Protestanten als Ausdruck ihrer Verfassungsdeutung und als vertrauensbildende Maßnahme waren, sie konnten nur greifen im Verein mit einer gleichzeitigen Reform der materiellen Rechtsgrundlagen für künftige Religionsprozesse. Indem Kaiser und Reichsstände auf dem Westfälischen Friedenskongreß die Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten des Augsburger Religionsfriedens beseitigten und die verbleibenden Lücken auf der Basis einer genauen und gegenseitigen Gleichheit zwischen den Religionsparteien schlossen, überwanden sie die konfessionell bedingte Spaltung des Rechts und beseitigten damit die tiefere Ursache für die durch Glaubensspaltung und Konfessionalisierung ausgelöste Vertrauenskrise der Reichsjustiz. Nach dieser grundsätzlichen Würdigung des 1648 in das kammergerichtliche Präsentationswesen eingeführten Paritätsprinzips und der sonstigen im Osnabrücker Friedensinstrument enthaltenen gerichtsrelevanten Normen sind im folgenden noch die Strukturen der beiden nunmehr nach Konfessionen getrennten Präsentationsschemata zu erläutern, für deren innere Ausgestaltung die beiden Religionsparteien, wie oben bereits erwähnt, jeweils allein zuständig waren. Das Corpus Evangelicorum einigte sich noch vor Abschluß der Friedensverhandlungen, so daß das evangelische Präsentationsschema 1648 in IPO V § 57 aufgenommen werden konnte. Die Katholiken regelten ihr Schema erst auf dem folgenden Regensburger Reichstag. Es wurde 1654 in § 169 des Jüngsten Reichsabschieds verankert, der außerdem in § 29 die schon 1648 festgestellte Zahl von 50 Assessoraten und das Zahlenverhältnis zwischen katholischen und evangelischen Beisitzern bestätigte 183 • Über keines der beiden Präsentationsschemata erfolgte anschließend noch ein Beschluß sämtlicher Reichsstände. 183 LAUFS, JRA 1654, S.22 (§ 29), 81 (§ 169). - Der Kampf um die Paritätisierung der RKG-Assessorate im Konfessionellen Zeitalter und vor allem auf dem Westfälischen Friedenskongreß sowie Tatsache und Bedeutung der 1648 schließlich gefundenen Lösung in Ge-
II.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
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Alle im folgenden zu nennenden Detailveränderungen innerhalb der beiden Schemata dienten dazu, die beiden Hauptvorgaben des W estfalischen Friedensinstruments, die Auffüllung auf 50 Assessorate und die genaue Austarierung der reichsständischen Präsentationsberechtigungen beider Konfessionsparteien im Verhältnis 24 : 24, zu verwirklichen. Dies geschah ganz im Stil eines mechanistisch denkenden Zeitalters, das Kräfte durch Gegenkräfte auszubalancieren trachtete 184 . Die bisherigen außerordentlichen Assessorate (Extraordinariate) wurden abgeschafft. Dafür erhielt nun auf jeder Religionsseite jeder Kurfürst ein zweifaches, jeder Kreis ein vierfaches ordentliches Präsentationsrecht, das die konfessionell gemischten Kreise, wie schon erwähnt, zur Hälfte innerhalb des evangelischen, zur anderen Hälfte innerhalb des katholischen Schemas ausüben sollten. Die ästerreichen und burgundischen Erblande wurden zwar jetzt auch im Rahmen des kammergerichtliehen Präsentationswesens endgültig unter dem Namen Österreichischer bzw. Burgundischer Kreis geführt. Jedoch blieben diese nur an die Würde des Erzherzogs von Österreich bzw. des Herzogs von Burgund geknüpften "virilen" Präsentationsberechtigungen weiterhin wie schon seit 1507 den kurfürstlichen gleichgestellt, d.h. dem Österreichischen und dem Burgundischen Kreis wurden innerhalb des katholischen Präsentationsschemas nur je zwei Assessorate zugewiesen. In das katholische Schema wurden ferner zwei neue kurbayerische Präsentationsberechtigungen integriert, die der Wilhelminischen Linie der Wirtelsbacher als Folge des im Westfalischen Friedensinstrument bestätigten Gewinns der altpfalzischen fünften Kur automatisch zustanden185. Mit diesen Regelungen war das 1654 beschlossene und im Jüngsten stalt des (fast) konfessionsparitätischen Doppelschemas werden in der 1998 vorgelegten Dissertation von GöTTE, Der Jüngste Reichsabschied, S.45 mit Anm.12 u. 13, völlig ignoriert (vgl. ebd., S.46 ff.: Regelungsbedürftige Fragen des Präsentationssystems). Nur so kann Götte ebd., S.126, zu der Fehleinschätzung über den Jüngsten Reichsabschied von 1654 gelangen, der in §§ 29 und 169 die Beschlüsse von 1648 fortschrieb: "Auch im Bereich der Besetzung der Assessorenstellen ist der Jüngste Reichsabschied nicht über Korrekturen in Randbereichen hinausgekommen. Das komplizierte Präsentationssystem einschließlich der mit ihm verbundenen Probleme ist unverändert beibehalten worden"; vgl. auch ebd., S.153, in der Schlußbewertung der das RKG (einschließlich des Präsentationswesens) betreffenden Bestimmungen im JRA: "In allen Änderungsvorschriften verspürt man die Kraftlosigkeit des Gesetzgebers".
184 Beispiele fiir solche Präsentations- und Paritätsarithmetik liefern auch schon die früheren Entwürfe eines evangelisch-katholischen Präsentationsschemas, die von den Religionsparteien während der Friedensverhandlungen vorgelegt wurden, jedoch nicht durchsetzbar waren; s. MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, Tl.4, S.28, 75, 98, 179, 203, 547, 575, 880, Tl.5, S.481, 491, 496-498; vgl. auch Tl.5, S.471 f., 490.
185 Zur Lösung der bayerisch-pfälzischen Frage auf dem Westfälischen Friedenskongreß s. IPO Art.IV §§ 2 ff. hier bes. §§ 3, 5 u. 9 (APW III B 1/1, S.IOO ff.). Die Präsentationsakten zu der 1648 neugeschaffenen kurbayerischen Präsentation wegen der altpfälzischen fünften Kur s. in: RKG IV B 1/10; die Gegenakten in: HStA Mü., K. schw. 5654, 5655, 5656 u. 5764.
252
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Reichsabschied fixierte katholische Präsentationsschema ohne besondere Schwierigkeiten ausgefüllt. Die 26 katholischen Assessorate verteilten sich danach folgendermaßen:
Kath. Präsentationsschema (JRA 1654 § 169) Präsentanten
Assessorate
Kurmainz Kurtri er Kurköln Kurbayern (wegen der altpfälz. 5. Kur) Kaiser Österr. Kreis Burgund. Kreis Fränk. Kreis kath. Teils Bayer. Kreis Schwäb. Kreis kath. Teils Oberrhein. Kreis kath. Teils Niederrheinisch-Westfäl. Kreis kath. Teils
2 2 2 2 2 2 2 2 4 2 2 2
Kath. Assessorate insgesamt:
26
Auf evangelischer Seite bedurfte es dagegen einiger Kunstgriffe, damit die reichsgesetzlich zugewiesenen 24 Präsentationsberechtigungen zusammenkamen und so die Paritätsgleichung aufgehen konnte. Zu diesem Zweck wurde der Sächsische Kreis, der sechste Kreis der älteren Kreiseinteilung von 1500, nun im Rückgriff auf dieneuere Kreiseinteilung von 1512 auch im Rahmen des kammergerichtliehen Präsentationssystems in einen Obersächsischen und einen Niedersächsischen Kreis aufgeteilt. Obwohl dem Niedersächsischen Kreis auch das katholische Hochstift Hildesheim angehörte, wurde er aufBetreiben Schwedens, das als Kreisstand mitinteressiert war, ebenso wie der Obersächsische Kreis als rein evangelisch eingestuft und erhielt dementsprechend wie dieser ein vierfaches Präsentationsrecht 186 • Damit war an sich zwischen den Kreisen der evange186 Die Garantiemacht Schweden, die in beiden Kreisen als Kreisstand vertreten war (wegen des Hzgts. Bremen bzw. wegen Vorpommern), verschaffte sich durch diese Teilung in Ober- und Niedersächsischen Kreis und durch die Definition des letzteren als rein evangelisch
II.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
253
lischen und der katholischen Seite mit je 16 Präsentationsberechtigungen ein Ausgleich erreicht 187 • Dagegen mußte noch ein konfessionelles Ungleichgewicht zwischen den kurfürstlichen Präsentationen beseitigt werden, das durch den Übergang der 1623/48 an das katholische Bayern gefallenen, bisher evangelischen altpfalzischen fünften Kur auf die Seite der katholischen Präsentanten entstanden war: Bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges hatten je drei geistlich-katholische (Mainz, Trier, Köln) und drei weltlich-evangelische Kurfürsten (Pfalz wegen der fünften Kur, Sachsen, Brandenburg) präsentiert. Die Regelung der bayerisch-pfälzischen Frage im Westfälischen Friedensinstrument verursachte, daß den nunmehr vier katholischen Kurfürsten mit insgesamt acht Präsentationsberechtigungen (Mainz, Trier, Köln, Bayern wegen der altpfälzischen fünften Kur) nur drei evangelische Kurfürsten mit insgesamt sechs Präsentationsbeeinen möglichst hohen Beteiligungsgrad an den evangelischen Kreispräsentationen. Ursprünglich hatte Schweden dem Niedersächsischen und dem Obersächsischen Kreis sogar je fiinf von den (zuletzt) insgesamt 24 evangelischen Präsentationen zuschanzen wollen. Diese überproportionale Vertretung stieß jedoch auf den Widerstand Württembergs, Hessens und Badens, die den beiden sächsischen Kreisen am liebsten zusammen nur sechs, also je drei Kreispräsentationen zugestanden hätten; zu allem MEIERN, Acta Pacis Westphalicae, bes. Tl.5, S.481, 491, 496-498; mit weiteren Nachweisen KAMPTZ, Präsentations-Recht, bes. S.238 ff., 242 ff., 262 ff., 282; nur kurz DOTZAUER, Die deutschen Reichskreise (1383-1806), S.480, 483. 187 Vgl. das oben im Text bereits aufgefiihrte katholische und das noch folgende evangelische Präsentationsschema. Es standen sich gegenüber (einschließlich der 'unechten' Kreise Österreich und Burgund):
Kath. Kreispräsentationen:
Österr. Kreis Burgund. Kreis Fränk. Kreis kath. Teils Schwäb. Kreis kath. Teils Bayer. Kreis Oberrhein. Kreis kath. Teils Niederrhein.-Westfäl. Kreis kath. Teils insgesamt:
Ev. Kreispräsentationen:
2 2 2 2 4 2 2 16
Fränk. Kreis ev. Teils Schwäb. Kreis ev. Teils Oberrhein. Kreis ev. Teils Niederrhein.-Westfäl. Kreis ev. Teils Obersächs. Kreis Niedersächs. Kreis
2 2 2 2 4 4
insgesamt:
16
Dazu s. auch PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.13 f.- Wie die früheren Entwürfe eines Präsentationsschemas zeigen, sollte auch dem Kurrheinischen Kreis ursprünglich eine gleich hohe Quote an Präsentationsberechtigungen zugeteilt werden wie den übrigen neun Kreisen der seit 1512 geltenden neuen Kreisverfassung; s. die oben in Anm.184 aufgeführten Fundstellen ftir diese Entwürfe in MEIERN, Acta pacis Westphalicae, Tl.4. In der endgültigen Lösung blieb der Kurrheinische Kreis jedoch weiterhin wie schon seit 1507/21 im Präsentationsschema unberücksichtigt, zum einen, weil seine Einbeziehung ftir die Paritätsarithmetik nicht erforderlich war, zum anderen, weil die im Kurrheinischen Kreis dominierenden Kurfürsten (Mainz, Köln, Trier, Pfalz) schon mit individuellen kurrurstliehen Präsentationsberechtigungen im Präsentationssystem vertreten waren.
254
II.3. Die Besetzung der Assessorate
rechtigungen (Sachsen, Brandenburg, Pfalz wegen der neugeschaffenen achten Kur) gegenüberstanden 188 • Der Überhang von zwei katholischen Kurpräsentationen wurde 1648 von den evangelischen Reichsständen bei der Ausgestaltung ihres Präsentationsschemas nicht, was logisch gewesen wäre und einer entsprechenden Problemlösung bei der paritätischen Besetzung der ordentlichen Reichsdeputationen entsprochen hätte, durch die Schaffung von zwei zwischen den evangelischen Kurfürsten altemierenden Kurpräsentationen beseitigt189 . Vielmehr erhielten der Ober- und Niedersächsische Kreis sowie die evangelischen Stände der vier gemischten Kreise Franken, Schwaben, Ober- und Niederrhein je eine unter ihnen alternierende Kreispräsentation 190 • Diese beiden Präsentationsberechtigungen waren reine Kunstprodukte, geschaffen nur um der Paritätsarithmetik willen, von der politischen Landkarte des Reiches dagegen nicht notwendig gefordert. Es nimmt daher nicht wunder, daß in den folgenden 130 Jahren, als wegen des Unterhaltsmangels noch nicht einmal die Hälfte der im Friedensinstrument beschlossenen 50 RKG-Assessorate besetzt werden konnte, weder die Stände des Ober- und Niedersächsischen Kreises noch die evangelischen Mitglieder des Fränkischen, Schwäbischen, Ober- und Niederrheinisch-Westfälischen Kreises von ihrem altemierenden Präsentationsrecht Gebrauch machten. Keines dieser beiden 1648 im evangelischen Präsentationsschema vorgesehenen Assessorate wurde jemals besetzt. Der Anspruch der betreffenden Kreisstände auf Ausübung dieses altemierenden Präsentationsrechts blieb jedoch, da er 1648 nun einmal geschaffen und reichsgesetzlich fixiert worden war, erhalten und mußte nach 1775 bei der längst überfällig gewordenen Revision der Präsentationsschemata mit berücksichtigt werden. 188
S. schon PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.15. Kurböhmen war damals nicht Mitglied des Kurkollegs und besaß daher weiterhin bis zu seiner Readmission 1708 kein Präsentationsrecht; dazu s. schon oben Anm.7 u.14. 189 Zu dieser Logik durch Analogieschluß s. PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.15 f.; zur paritätischen Besetzung der ordentlichen Reichsdeputationen s. IPO Art. V §51 (APW III B 111, S.l26); JRA 1654 § 191 (viertes, unter den evangelischen Kurftirsten altemierendes Votum zur Herstellung der Parität unter den kurftirstlichen Stimmen auf ordentlichen Reichsdeputationstagen; LAUFS, JRA 1654, S.92); zum Zustandekommen von JRA 1654 § 191 s. ausführlich M. SCHNETTGER, Der Reichsdeputationstag 1655-1663. Kaiser und Stände zwischen Westfälischem Frieden und Immerwährendem Reichstag, Münster 1996, S.14 ff., bes. S.19 ff. 190
Über die Einigung der evangelischen Kreisstände auf diese beiden altemierenden Kreispräsentationen und die nicht ganz konfliktfreie Vorgeschichte dieser Lösung 1648 s. mit weiteren Nachweisen KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.282 ff.; speziell auch J.TH. Rom, Von der unter den evangelischen und vermischten Reichs-Kreisen altemirenden Präsentation eines Karnmergerichts-Beysitzers, in: ders., Beiträge zum deutschen Staatsrecht und zur Litteratur desselben, Bd.l, 2. Abt., Nürnberg 1794, S.195-217, bes. S.198 ff.; kurze Erwähnung bei DOTZAUER, Die deutschen Reichskreise (1383-1806), S.461.
11.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
255
Auf Grund der beschriebenen Manipulationen war das in den Friedensschluß aufgenommene evangelische Präsentationsschema folgendermaßen strukturiert: Ev. Präsentationsschema (IPO 1648 Art.V §57) Präsentanten
Kursachsen Kurbrandenburg Kurpfalz (wegen der neupfälz. 8. Kur) Fränk. Kreis ev. Teils Schwäb. Kreis ev. Teils Oberrhein. Kreis ev. Teils Niederrheinisch-Westfäl. Kreis ev. Teils Obersächs. Kreis Niedersächs. Kreis Ober- u. Niedersächs. Kreis alternierend ev. Stände des Fränk., Schwäb., Oberrhein. u. Niederrheinisch-Westfäl. Kreises alternierend Ev. Assessorale insgesamt:
Assessorale
2 2 2 2 2 2 2 4 4 1
}
1 24
Die auf dem Friedenskongreß endlich durchgesetzte reichsrechtliche Anerkennung der Reformierten, die von nun an unter den "Augustanae confessioni addictis statibus" mitbegriffen wurden 19 \ setzte auch einen Schlußstrich unter den Streit um das aktive und passive Präsentationsrecht dieser Minderheit, der 1628 dazu geführt hatte, daß zwei von dem geächteten Pfälzer Kurfürsten präsentierte reformierte RKG-Beisitzer gezwungenermaßen ihr Amt resignieren mußten 192 • Wie auch die Überschrift des im Friedensinstrument verankerten evangelischen Präsentationsschemas signalisierte, mußten reformierte Juristen ab 1648 ebenso 191 192
IPO Art.VII § 1 (APW III B 111, S.129).
Zu dem am Vorabend und während des Dreißigjährigen Krieges aufgebrochenen Konflikt um ein aktives und passives Präsentationsrecht der Reformierten und zu der vom Kaiser erzwungenen Resignation der reformierten Assessoren Pranz Jugert und Johann Georg von der Grün 1628 (nicht: 1623 od. 1624) s. HHStAW, RK- RKG-Visit.A.327 (zu 1628/29); KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.71 f.; ebd., S.72 Anm.3, auch die Namen weiterer in der zweiten Hälfte des 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts amtierender RKG-Beisitzer reformierter Religion; s. ferner BALEMANN, Beiträge, S.l85 f.; kurz SMEND, Reichskammergericht, S.202 mit Anm.3, 310 Anm.l.
256
II.3. Die Besetzung der Assessorate
wie die Präsentierten lutherischer Bekenntnisrichtung als "Assessores Augustanae confessionis" in das Kameralkollegium rezipiert werden- ein aus dem Reichsrecht abgeleiteter Rechtsanspruch, den der Jüngste Reichsabschied von 1654 auch expressis verbis auf das kammergerichtliche Präsentationswesen anwandte und damit bestätigte 193 . Dieses so lange umkämpfte konfessionspolitische Zugeständnis schlug sich in den Präsentationen der in Frage kommenden Reichsstände sofort in einem klaren prosopagraphischen Befund nieder: Vor seinem Aussterben 1685 präsentierte das reformierte Haus Pfalz-Simmem 1664 und 1683 zwei reformierte Juristen auf das kurpfälzische RKG-Assessorat 194 • Von den insgesamt zwölfKandidaten, die Brandenburg-Preußen zwischen 1649 und 1741 entweder im Rahmen seiner Kurpräsentation oder im Rahmen von Kreispräsentationen allein, d.h. ohne Mitwirkung anderer Kreisstände, präsentierte, waren zehn reformierter Religion, unter ihnen sämtliche in diesem Zeitraum für das brandenburgische Kurassessorat rekrutierte Juristen 195 . Der Faktor der Zugehörigkeit zu dem Bekenntnis des kurfürstlichen Hauses bildete also unter dem Großen Kurfürsten bis hin zum Soldatenkönig ein wichtiges, längerfristiges Auswahlkriterium für brandenburgpreußische Präsentati 196 . Zum einen spiegelte sich darin ganz allgemein die da193 JRA 1654 § 23 schärfte im Hinblick auf die Wiederbesetzung vakanter RKG-Assessorate die Einhaltung dessen ein, "was wegen Präsentierung gewisser Personen von beiderseits Religionen, mit Einschließung der Reformierten, im Friedensschluß verordnet ist" (LAUFS, JRA 1654, S.20); daran anschließend auch Vis.A. 1713 § 7 (CJC, S.965); SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.44 (Revisionsentwürfe der Assessoren Loskand und Harpprecht zu Konz. KGO Tl.l Tit.3 § 3). Die angezogene Überschrift des evangelischen Präsentationsschemas in IPO Art.V §57 lautet: "Assessores Augustanae confessionis praesententur ab ... " (APW III B 1/1, S.128).- Zu dieser reichsrechtlich sanktionierten Zulassung reformierter Juristen zum RKG-Assessorat s. auch TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.353; BALEMANN, Beiträge, S.184, 185 f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.85. 194 Nikolaus (Niclas) Gerlach v. Friesen (1667-1674 kurpfälz. RKG-Ass.) und Christian Philipp Brinck (1688-1709 kurpfälz. RKG-Ass.); s. ihre Generalexamen in: RKG IV C 1 fol.497r (10.9. st. vet./20.9. st. nov. 1664) und RKG IV C 2 fol.507r (23.11.1683 st.vet.). Nach dem Tod Brincks (t 1709) präsentierten die katholischen Pfalz-Neuburger wegen der 1685 an sie gefallenen neupfälzischen achten Kur lauter lutherische Juristen zum kurpfälzischen Assessor, bis sie nach dem Heimfall der altpfälzischen fünften Kur (Ende 1777) wieder auf der katholischen Seite des Präsentationsschemas präsentieren konnten; s. Biogr. 38 (Ludolf), Biogr. 88 (Glaubitz), Biogr. 39 (J.W. Riedesel), Biogr. 40 (Vulpius).
JAHNS, Brandenburg-Preußen, S.193 f. mit Anm.120; ebd. sowie in anderen Teilen dieses Aufsatzes biographische Angaben mit Quellen- und Literatumachweisen, bes. S.174 f., 183-191. Zu den letzten reformierten Juristen, die bis 1741 von Brandenburg-Preußen auf RKG-Assessorate präsentiert wurden, gehörten Friedlieb Gottfried Brand, präs. 1715 (Biogr. 29), Thomas Heinrich v. Huß, präs. 1741 (Biogr. 30) und Johann Wilhelm Summermann, präs. 1738 (Biogr. 124). 195
196 Neben diesem konfessionspolitischen Aspekt spielte bis in die vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts hinein auch ein prozeßbedingtes Interesse als längerfristiges Auswahlkriterium für brandenburg-preußische Präsentati eine wichtige Rolle und prägte die Sozialstruktur die-
11.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
257
malige Bevorzugung der Reformierten bei der Besetzung führender Positionen in Justiz und Verwaltung brandenburgischer Territorien 197 • Zum anderen bedeutete die über Jahrzehnte hinweg immer erneute Präsentation reformierter Kandidaten die Wahrnehmung und Wahrung des im Westfälischen Friedensschluß und im Jüngsten Reichsabschied fixierten Rechtsanspruchs auf rechtliche Gleichstellung der Reformierten auch im Rahmen des kammergerichtliehen Präsentationswesens198. Diese Instrumentalisierung der eigenen Präsentationsrechte war für Kurbrandenburg um so wichtiger, als nach dem Übergang der pfälzischen Kur auf den katholischen Pfalz-Neuburger (1685) von keinem anderen Präsentationsberechtigten die regelmäßige Präsentation reformierter Kandidaten zu erwarten war 199 . Die über brandenburg-preußische Präsentationen in das Kameralser Juristengruppe. Der unterschiedliche Grad an Appellationsbefreiung, den die einzelnen brandenburg-preußischen Territorien gegenüber dem RKG (und ebenso gegenüber dem RHR) genossen, machte die im 17. Jahrhundert neu hinzuerworbenen Reichsterritorien, die im Gegensatz zur Kur- und Neumark bis 1750 noch der Appellationszuständigkeit der beiden höchsten Reichsgerichte unterworfen waren, zu bevorzugten Rekrutierungsgebieten für brandenburg-preußische RKG-Präsentati, bis 1750 auch für diese nicht zur brandenburgischen Kur gehörigen Nebenlande ein illimitiertes Appellationsprivileg erteilt wurde. Dazu s.u. Kap. III.1.2.2.2; ausführlicher mit Einzelbelegen schon JAHNS, Brandenburg-Preußen, bes. S.l71191; im Anschluß daran RAUSCHER, Recht und Politik, S.306 ff.
197 Vor allem die Bestallungspolitik des Großen Kurfiirsten führte zu einem massiven Übergewicht der Reformierten in der höheren Amtsträgerschaft; s. G. HEINRICH, Amtsträgerschaft und Geistlichkeit. Zur Problematik der sekundären Führungsschichten in BrandenburgPreußen 1450-1786, in: G. Franz (Hg.), Beamtenturn und Pfarrerstand 1400-1800. Büdinger Vorträge 1967, Limburg!Lahn 1972, S.179-238, hier S.199 f.; E. ÜPGENOORTH, Die Reformierten in Brandenburg-Preußen. Minderheit und Elite?, in: ZHF 8, 1981, S.439-459, passim; P.M. HAHN, Calvinismus und Staatsbildung: Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert, in: M. Schaab (Hg.), Territorialstaat und Calvinismus, Stuttgart 1993, S.239-269, hier S.254-257; F. GösE, Rittergut - Garnison - Residenz. Studien zur Sozialstruktur und politischen Wirksamkeit des brandenburgischen Adels 1648-1763, Berlin 2005, hier S.383-401 (Kap.5: "Die konfessionelle Herausforderung: Lutherischer Adel und reformierte 'Staatselite"'), bes. S.385, 396. 198 Entsprechend drängte der Große Kurfürst 1687 beim Kaiser darauf, wenigstens einen reformierten Juristen zum Reichshofrat zu ernennen, mit dem Argument, "daß wan solches nicht geschehen solte, Er und die übrige reformirte Stände Bedencken tragen würden, ihre Sachen und Angelegenheiten der Judicatur des Reichs-Hofraths zu unterwerfen"; s. das Referat der Reichshofkanzlei von 1703, Kopie: HHStAW, RHR u. RK- Verf.A., RHR 27 (F.K. Danckelmann), fol. 20-24 u. 40, Zitat fol.23r/v; dazu ebd., RHR 40 (Feltmann, 1687). Die Forderung wurde seit 1689/90 vom Nachfolger des Großen Kurfürsten, Friedrich III. (I.), mehrfach wiederholt und in der Person des 1693 zum Reichshofrat ernannten, 1703/4 intraduzierten Friedrich Karl Frhn. v. Danekelmann durchgesetzt. Die einschlägigen Akten referiert GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.76, 350 ff.; s. auch schon JAHNS, Brandenburg-Preußen, S.l94.
199 Soweit ersichtlich, wurde im 18. Jahrhundert nur ein einziges Mal im Rahmen einer anderen Präsentationsberechtigung ein Reformierter präsentiert, und zwar 1712 von Kurpfalz wegen des zum Oberrheinischen Kreis evangelischen Teils gehörenden Herzogtums Simmern: der von 1713 bis 1728 als Assessor amtierende Leonhard Breuer, s. sein Generalexamen vom 25.4.1712 in: RKG IV C 6 fol.354.
258
II.3. Die Besetzung der Assessorate
kollegium gelangten reformierten Juristen machten zumindest in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus ihrem konfessionspolitisch motivierten Repräsentationsgeist keinen Hehl und vertraten ganz dezidiert die Interessen der reformierten reichsständischen Minderheit sowie reformierter privater Prozeßparteien200. Brandenburg-Preußen hielt diese Bastion im Kameralkollegium so lange, bis die Gegensätze zwischen Reformierten und Lutheranern abflauten, die Zugehörigkeit zur reformierten Religion kein Politikum mehr war und mit König Friedrich II. ein neuer Geist in die preußische Politik einzog: Von den Juristen, die zwischen 1745 und 1804 zum kurbrandenburgischen Assessorat oder im Rahmen von Kreispräsentationen allein von Preußen, ohne Beteiligung anderer Kreisstände, präsentiert wurden, waren zwölf lutherisch und nur noch einer, der 1758 präsentierte Adolf Graf Danckelmann, reformiert201 . Nachdem die innere Ausgestaltung der beiden Präsentationsschemata 1648/54 ein fiir allemal den beiden Religionsparteien überlassen worden war und schon damals das evangelische und das katholische Schema in zwei getrennten Reichsgesetzen in Kraft traten, kam auch in der Folgezeit bis 1806 kein einziges Gesetzeswerk zustande, das- sei es in der 1648/54 verabschiedeten, sei es in der später modifizierten Form- beide Schemata gemeinsam enthielt. Dies lag vor allem daran, daß während des ganzen 18. Jahrhunderts die längst überfällige Revision der KGO, die beide Schemata auf dem gerade aktuellen Stand hätte einarbeiten müssen, in Vorsätzen und Vorarbeiten stecken blieb 202 . Als Folge die200 Dazu ausführlicher mit Quellennachweisen JAHNS, Brandenburg-Preußen, S.195 f.
201 JAHNS, Brandenburg-Preußen, S.193 f.; ebd. sowie in anderen Teilen dieses Aufsatzes
biographische Angaben mit Quellen- und Literaturhinweisen, bes. S.174 f., 189-191; s. jetzt ausführlicher die betreffenden Biographien in Tl.II dieser Untersuchung: Biogr. 31 (Vette); Biogr. 32 (Schröter); Biogr. 33 (A. Danckelmann, ref.); Biogr. 65 (J. U. Cramer); Biogr. 34 (Meckel); Biogr. 35 (Beulwitz); Biogr. 36 (Dalwigk); Biogr. 37 (Kamptz); Biogr. 49 (K.A. Seckendorff); Biogr. 104 (J.F.A.K. Neurath); Biogr. 109 (K.G. Riedesel); Biogr. 111 (Schellwitz); Biogr. 126 (Schüler).- Die drei 1802 gemeinschaftlich von sämtlichen evangelischen Ständen des Fränkischen Kreises präsentierten Juristen Spies (Biogr. 68), K.F.F. Neurath (Biogr. 118) und Reitzenstein (Biogr. 119) waren ebenfalls lutherisch. Von ihnen wurden vermutlich Spies und möglicherweise auch Reitzenstein, der seine ev. Fränk. Kreis-Präsentation ebenso wie K.F.F. Neurath nicht realisierte, vom preußischen König als Markgraf von Brandenburg-Ansbach-Bayreuth (ihrem Dienstherm) zur Präsentation nominiert.
202 Die bis 1806 gültige KGO von 1555 und das reichsgesetzlich nie verabschiedete, jedoch inhaltlich "pro lege" gehaltene Konzept einer revidierten KGO von 1613 waren, was das Präsentationsschema betraf, für die Zeit nach 1648/54 naturgemäß unbrauchbar. Die 1768/69 von den beiden Assessoren Loskand und Harpprecht im Auftrag der Visitation angefertigten Entwürfe ftir Teil 1 eines revidierten Konzepts enthielten die Schemata nach dem Stand des IPO von 1648 und des JRA von 1654 sowie des Reichsschlusses von 1719/20, s. SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.1-39, bes. S.15 f., 19 f., 23 f. Der Abschluß dieses Revisionswerks und seine Erhebung zum Reichsgesetz scheiterten jedoch mit der letzten Visitation. Hätten die Revisionsentwürfe Loskands und Harpprechts als Teil 1 einer überarbeiteten KGO Gesetzeskraft erlangt, wäre diese Novelle binnen kurzem durch die erneute und letzte Modifikation der beiden
II.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
259
ses Sachverhalts gab es nach 1648 bis 1806 auch kein Reichsgesetz mehr, das die alten und neu hinzugekommenen Präsentationsberechtigten und damit die Assessorate in einem einzigen Schema nach ihrer Rangordnung aufführte. Dieser Rang war auch nach der großen Zäsur des Westfälischen Friedens weiterhin konfessionsunabhängig. Ebenso wie es im Kameralkollegium abgesehen von der Frühphase des Gerichts keine Aufteilung in eine Ritter- und eine Gelehrtenbank gab, so hatte die Umstrukturierung von 1648- was die Aufspaltung in zwei je konfessionell homogene Präsentationsschemata vermuten lassen könnte - auch keine Gliederung in je eine evangelische und katholische Assessorenbank zur Folge. Die Rangordnung der Assessoren untereinander bestimmte sich auch nach 1648 weiterhin wie schon zuvor nach der alten, seit der Ausbildung des Präsentationssystems für das Kameralkollegium geltenden Rangfolge: geistliche/ weltliche Kurfürsten - Kaiser - Reichskreise. Diese Rangordnung der Präsentanten und der von ihnen präsentierten Beisitzer liegt den handschriftlichen und gedruckten Personalverzeichnissen des RKG zugrunde203 . Sie strukturiertmit den für die Votierordnung geltenden Varianten- die Plenarprotokolle des Kameralkollegiums 204 . Die beim Kameralkollegium erwachsenen und für die Zeit von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1806 erhaltenen Präsentationsakten, d.h. die Korrespondenzen des Kameralkollegiums mit den einzelnen Präsentanten, spiegeln dieses Ordnungsprinzip ebenfalls wider- beginnend mit den kurmainzischen Präsentationsakten, endend mit denjenigen des Niedersächsischen Kreises und der 1777 geschaffenen altemierenden evangelischen Kreispräsentation205. Auch die Anordnung der Biographien in Teil II dieser Untersuchung richtet sich nach dieser Reihung der Präsentationsberechtigungen entsprechend dem Rang der Präsentanten. Um diese seit 1648/54 geltende Rangordnung sichtbar zu machen, müssen das evangelische und katholische Präsentationsschema also miteinander verschränkt werden, wie das folgende Doppelschema zeigt:
Schemata von 1781/82 überholt gewesen. Zur Fortentwicklung des evangelisch-katholischen Präsentationsschemas im 18. Jahrhunderts. vor allem Kap.II.3.1.4.
203 S. zum Beispiel die Personalverzeichnisse in den von 1741 bis 1806 erschienenen Kameralkalendern; zur Rangordnung der Assessorate und ihrer Ausbildung s.o. Anm.61 u. 62.
204 S. vor allem die Protokollserien RKG IV B 2 ("Materia praesentationis") und RKG IV
C ("Materia ordinaria"). Über die Abweichungen der Sitz- und Votierordnung von der Rangordnung s.o. Anm.62.
205 S. die Serie der Präsentationsakten in: RKG IV B 1, und zwar die Bände RKG IV B 1/5 (Kurmainzische Präsentation) bis RKG IV B 1/27 (Alternierende ev. Kreispräsentation).
260
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Doppelschema von 1648/54 nach der Rangordnung der Präsentanten und Assessorate Präsentanten
kath. Ass.
Kurmainz Kurtri er Kurköln Kurbayern (wegen der altpfälz. 5. Kur) Kursachsen Kurbrandenburg Kurpfalz (wegen der neupfälz. 8. Kur) Kaiser Österr. Kreis Burgund. Kreis Fränk. Kreis Bayer. Kreis Schwäb. Kreis Oberrhein. Kreis Niederrheinisch-Westfäl. Kreis Obersächs. Kreis Niedersächs. Kreis Ober- u. Niedersächs. Kreis alternierend ev. Stände des Fränk., Schwäb., Oberrhein.} u. Niederrheinisch-Westfäl. Kreises alternierend
2 2 2 2
Assessorale insgesamt:
26
ev. Ass.
2 2 2 4 4 1
2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 4 4 4 4 4 4 4 1
1
1
24
50
2 2 2 2 2 2 2 4 2 2 2
Ass. insges.
2
In dem neuen Doppelschema von 1648/54 waren die Kreispräsentationen in Relation zu den Kurpräsentationen stärker vertreten als in den früheren Schemata. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß die meisten Kurfiirsten über Personalunionen ein mehr oder weniger starkes Beteiligungsrecht an den Kreispräsentationen hatten, sei es turnusmäßig allein im festgelegten Wechsel, sei es durch ständiges Mitnominieren und -präsentieren gemeinsam mit anderen Kreisständen. Das galt, um die wichtigsten Kombinationen zu nennen, für Branden-
II.3.1.2.2. Das Doppelschema als Lösung des Paritätsproblems: 1648/54
261
burg-Preußen im Rahmen der Präsentationen des Ober- und Niedersächsischen Kreises, des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises sowie der alternierenden evangelischen Kreispräsentationen (1777 zu einer einzigen zusammengelegt). Am Ende des 18. Jahrhunderts kam noch der Anteil an der evangelischen alternierenden Kurpräsentation (erst 1781 eingerichtet) sowie- nach dem Anfall von Ansbach-Bayreuth 1791 - an der evangelischen Fränkischen Kreispräsentation hinzu206 • Kurbayern war mit fünfzig Prozent im Bayerischen Kreis, Kurpfalz seit 1685- auf Grund des Erbgangs der Kurwürde in den verschiedenen pfalzgräflichen Häusern- im Niederrheinisch-Westfälischen und Oberrheinischen Kreis mitvertreten, bis schließlich ab Ende 1777, nach dem Erlöschen der Wilhelminischen Linie der Wittelsbacher, sämtliche bis dahin kurbayerischen und kurpfälzischen Anteile an Kreispräsentationen in der Hand von Pfalzbayern vereinigt wurden. Kursachsen war im Obersächsischen Kreis, an der alternierenden evangelischen Kreis- sowie später auch an der alternierenden evangelischen Kurpräsentation mitbeteiligt Die geistlichen Kurfürsten Mainz und Trier nominierten bzw. präsentierten über Personalunionen mit den fränkischen und rheinischen Hochstiftern fast ständig auch im Rahmen der katholischen Präsentation des Fränkischen und Oberrheinischen Kreises. Dasselbe galt für Kurköln wegen des Hochstifts Münster im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis, dessen Präsentationen allerdings nach langwierigen internen Streitigkeiten erst seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts wieder gangbar gemacht wurden. BraunschweigLüneburg, seit seiner Admission in das Kurkolleg (1708) mit einem kurbraunschweigischen Präsentationsrecht versehen, erlangte dadurch früher oder später auch ein Beteiligungsrecht im Niedersächsischen Kreis, an der alternierenden evangelischen Kreis- sowie an der alternierenden evangelischen Kurpräsentation. Ganz analog verfügte die Österreichische Linie des Hauses Habsburg nicht nur über die kaiserliche Präsentationsberechtigung, sondern kurfürstengleich auch über die Präsentation wegen des Österreichischen Kreises, ferner nach der Readmission Kurböhmens in das Kurkolleg (1708) über die kurböhmische Präsentation sowie nach dem Erwerb der bisher spanischen Niederlande (1713) auch über die Burgundische Kreispräsentation. Es liegt auf der Hand, daß solche 206 Zu den verschiedenen Präsentationsberechtigungen Brandenburg-Preußens s. mit Namensbeispielen auch schon JAHNS, Brandenburg-Preußen, bes. 8.188 ff., 198 f.- Die hier und im folgenden beschriebenen Kombinationen wurden vor allem aus den Präsentationsakten (RKG IV B 1/5-27) erarbeitet. Sie lassen sich direkt oder indirekt (durch Kenntnis der ständigen, neu hinzukommenden oder- bei den geistlichen Kurftirsten- fallweisen Personalunionen) auch ersehen bzw. erschließen aus den Beschreibungen der Kur-, der kaiserlichen und der Kreispräsentationen bei KAMPTZ, Präsentations-Recht, 8.112 ff., 133 ff., 153 ff.- Die Biographien in Teil II dieser Untersuchung, vor allem diejenigen der auf ein Kreisassessorat präsentierten Juristen, liefern in den Präsentationsverläufen (Abschnitt V u. evtl. VI) vielfache Beispiele für solche Bündelungen von Präsentations- und Nominationsberechtigungen in der Hand bestimmter Kurftirsten bzw. des Kaisers.
262
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Konzentrationen offener und verdeckter Präsentationsberechtigungen der Kurfürsten und des Wiener Hofes die Sozialstruktur des Kameralkollegiums ganz erheblich verändern konnten, weil sie nämlich in bestimmten Konstellationen zur Überrepräsentanz einzelner Muttergruppen und geographischer Rekrutierungsgebiete unter den RKG-Assessoren fiihrten207 • 3. Ideal und Wirklichkeit nach 1648/54 Die bisherige Darstellung dieses Kapitels orientierte sich an der Norm des 1648/54 umgebauten Präsentationssystems. Auf dieser normativen Ebene stellte die damalige Umstrukturierung eine beachtliche gesetzgeberische Anpassungsleistung an Verschiebungen im politisch-konfessionellen Gefüge des Reiches sowie an die im Westfälischen Friedensinstrument gezogenen neuen 'Rahmenrichtlinien' der Reichsverfassung dar. Ähnlich wie anderthalb Jahrhunderte zuvor in der Gründungs- und Aufbauphase des RKG war auch 1648/54 die Antriebskraft für die damalige Neuordnung wiederum der Wille der partikularen Kräfte, neuerworbene reichsverfassungsrechtliche Errungenschaften und Ansprüche hier das Prinzip der konfessionellen Parität - sogleich auch für das Richtergremium dieses von ihnen wesentlich mitgetragenen Gerichts durchzusetzen. Mit der anderen großen Innovation von 1648, der Vermehrung der RKG-Assessorate auf 50, bekundeten Kaiser und Reich vor allem angesichts der vorausgegangenen kriegsbedingten Stagnation des Gerichts und des dadurch noch gesteigerten Bedarfs an Aufarbeitung unerledigter Prozesse noch einmal ihr massives Interesse an einer Wiederbelebung und dauerhaften Stärkung seiner Funktionsfähigkeit. Im guten Willen, "nach erlangtem allgemeinen Reichsfrieden das Justizwerk, ohne welches kein Reich in ordentlichem friedlichem Wesen erhalten werden kann, in fürderliehen Gang wiederum zu richten und zu stellen" 208 , wurden 1654 im Jüngsten Reichsabschied zur Finanzierung der nunmehr 50 Assessorate und der ebenfalls angehobenen Kameralbesoldungen die Sätze der von den Ständen aufzubringenden Kammerzieler erhöht209 • Ganz parallel zu diesen 207 Dazu s. eingehend Kap.III.1. über geographische Herkunft, bes. Kap.III.1.2.2. u. Kap. III.1.2.3.; auch Kap.III.2.2. über Universitätsfrequenzen. 208 209
JRA 1654 § 7 (LAUFS, JRA 1654, S.13).
JRA 1654 § 11 (Erhöhung der Kamera1besoldungen), § 14 (Erhöhung der Matrikularbeiträge). Die §§9-21 des JRA (LAUFS, ebd., S.14-19) beschäftigen sich mit der Sicherung des RKG-Unterhalts, unter anderem auch mit der Aufbringung und Abtragung der bis 1654 aufgelaufenen Besoldungsrückstände sowie mit dem Vorgehen gegen säumige Reichsstände. Über die Verhandlungen und Beschlüsse des Regensburger Reichstags von 1653/54 zum Unterhaltswesen des RKG s. vor allem LUDOLF, Historia sustentationis, S.62 ff., mit Dokumenten ebd. im 1. Anhang, S.109 ff.; zusammenfassend HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.l2 f.;
II.3.1.3. Ideal und Wirklichkeitnach 1648/54
263
Absichtserklärungen auf dem Gebiet des kammergerichtliehen Personal- und Unterhaltswesens erfolgte damals bezeichnenderweise ein großer- und letzternormativer Modemisierungsschub auf prozeßrechtlicher Ebene, indem der Jüngste Reichsabschied den "älteren" zum "jüngeren" Kameralprozeß reformierte 210 • Ein "neuer glücklicher Periodus" schien für das RKG anzubrechen211 . Wie bewährte sich das 1648/54 korrigierte Präsentationssystem in der Realität? Norm und Wirklichkeit klafften in den folgenden 130 Jahren auseinander wie in dieser Langfristigkeit noch nie zuvor in der Besetzungsgeschichte des Kameralkollegiums 212 • Das im Westfälischen Friedensinstrument und im Jüngsten Reichsabschied verankerte doppelte Präsentationsschema stellte von Anfang an in essentiellen Bereichen nur ein Ideal dar und enthielt überdies, kaum daß es ausgehandelt und zur reichsgesetzlichen Norm erhoben worden war, schon den Keim für zukünftige Schwierigkeiten und Konflikte in sich. Es geriet sofort und bis in die Endphase des Alten Reiches hinein unter erneuten Anpassungs- und V eränderungsdruck. Dieser Druck wurde von den Reichsständen mangels konstruktiver, am Reichsinteresse orientierter Lösungen nur noch unvollkommen oder erst viel zu spät abgefangen und dadurch auf das Karneralkollegium abgewälzt- alles aufKosten seiner Funktionsfähigkeit. Im folgenden werden die drei wichtigsten dieser Defizite und Konfliktbereiche umrissen: 1. Unterbesetzung infolge Besoldungsmangel, 2. Komplikationen im Zusammenhang mit dem Paritätsprinzip, 3. Streitigkeiten im Rahmen der Kreispräsentationen. Diese Probleme belasteten und hemmten die so bitter nötige Regeneration eines 1651 bis auf neun Assessoren zusammengeschrumpften Rumpf-Gerichts. Sie bestimmten nach 1648/54 für lange Zeit die Realität des Präsentierens, des Präsentiertwerdens und, was die Rolle des Kameralkollegiums betraf, des Zulassens, Prüfens und Rezipierens. Und sie führten letztlich im neuerdings GöTTE, Der Jüngste Reichsabschied, S.113 ff.; nur knapper Hinweis bei MÜLLER, Regensburger Reichstag, S.233. 210 Zu
211
dieser Reform des Kameralprozesses von 1654 s.o. Kap.II.l.2. mit Arun.74. LUDOLF, H.1stona . sustentatwms, . . S .62 .
212 Die Existenzkrisen in der bis 1555 reichenden Gründungs- und Aufbauphase des RKG waren im Vergleich zu der nach 1648 einsetzenden langfristigen Dauerkrise immer nur äußerst kurz. Auch laut SMEND, Reichskarmnergericht, begann mit dem Westfälischen Frieden und dem Jüngsten Reichsabschied für das RKG "keine neue Blütezeit" (S.212). Vielmehr hätten die nächsten siebzig Jahre im Hinblick auf die Unterbesetzung sogar im Vergleich mit den vorausgegangenen Kriegszeiten "erst die eigentliche Verfallzeit" dargestellt (S.271).- Die Wirklichkeit des Präsentationswesens nach 1648 tritt aus den Präsentationsakten und -protokollen der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr viel drastischer und plastischer entgegen als aus den knappen Darstellungen der Kameralschriftsteller. Die gerraue Kenntnis sämtlicher im "Untrennbaren Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs überlieferten Präsentationsakten und -protokolle ist in die folgende Darstellung durchgängig eingeflossen.
264
II.3. Die Besetzung der Assessorate
18. Jahrhundert zu den erneuten Revisionen des Präsentationssystems, die sich naturgemäß wiederum auf die Sozialstruktur des Kameralkollegiums auswirkten. 1. Besoldungsmangel und Unterbesetzung Die katastrophale Finanzsituation und die dadurch verursachte Unterbesetzung des Kameralkollegiums bildeten in der zweiten großen Periode des kammergerichtliehen Präsentationswesens das chronische Hauptübel, das Probleme anderer Art noch verstärkte oder erst neu erzeugte. Die 1648 von Kaiser und Reich mit guten Gründen beschlossene Erhöhung auf 50 Assessorate erwies sich in der Folge als ein Versprechen, das die Gesetzgeber, nun wieder in die Rolle von mehr denn je partikularistisch denkenden, von Geldsorgen und neuen Kriegsnöten geplagten Landesherren geschlüpft, niemals einlösten. Wie sich schon bald nach 1654 zeigte, weigerten sich sämtliche Reichsstände, die im Jüngsten Reichsabschied vereinbarte Erhöhung der Matrikularbeiträge zu vollziehen. Die Zahlung der Kammerzider erfolgte, wenn überhaupt, weiterhin nach den alten Sätzen. Teils wirkliche Zahlungsunfähigkeit, teils Zahlungsunwillen, teils ungangbare Posten in der Kameralmatrikel vergrößerten noch das Kassendefizit213 • "Summa, es gieng nach Art eines aus so vielen Gliedern zusammen gesetzten Leibes, da ein und ander Glied seine besondere rationes und Convenienz vorwalten lässet" 214 • Das Kameralkollegium, der Hauptleidtragende der ganzen Misere, wurde trotz dringlicher, von 1654 bis zum Ende der Speyerer Zeit mehrfach wiederholter Hilferufe von Kaiser und Reichsständen im Stich gelassen215 • 213 Über die Geschichte der am RKG herrschenden Unterhaltsmisere in den Jahrzehnten nach 1654 s. mit weiteren Nachweisen ausführlich LUDOLF, Historia sustentationis, S.74 ff.; dazu ebd. im 1. Anhang, S.215 ff., zahlreiche Dokumente, unter anderem mehrere in den Jahren ab Ende 1654 wiederholt um Abhilfe bittende Klageschreiben des Kameralkollegiums an Kaiser und Reichsstände; zusammenfassend HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.13 ff. 214 LUDOLF, Historia sustentationis, S.76 f.; vgl. auch den zweiten Chronisten des kammergerichtliehen Sustentationswesens, HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.13: "Man entschuldigte sich aber fast überall mit dem Unvermögen und Entkräfftung, mit einem Wort, die herrlichste Maaßregeln dieses Reichs-Abschieds wurden durchlöchert und vereitelt". 215 Die endlich 1671/72 nach Speyer verordnete Reichsdeputation zur Überprüfung und Sanierung des RKG-Pfennigmeisterei- und Unterhaltswesens sowie das auf den Ergebnissen dieser Deputation fußende Reichsgutachten von 1673 schufen nur ganz Uf!Zulänglich Remedur. Über diese Deputation und das Reichsgutachten s. LUDOLF, Historia sustentationis, S.85 ff., mit Dokumenten im 1. Anhang, S.265 ff.; HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.15 ff.- Sogar zur Auszahlung der während des Dreißigjährigen Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgelaufenen Besoldungsrückstände an Mitglieder des Kameralkollegiums bzw. ihre hinterlassenen Familien brauchte es viele Jahre, und noch 1767 belief sich die Summe nicht abgetragener Besoldungsrückstände aus der Zeit vor 1654 auf 72.132 Rtlr.; s. HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.13; s. ferner die von HARPPRECHT benutzten, im "Untrennbaren Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs überlieferten RKG-PfennigmeisterRechnungen (mit Lücken erhalten ab 1653).
11.3.1.3.1 Besoldungsmangel und Unterbesetzung
265
Der eklatante Mangel an Kammerzielern führte dazu, daß von den reichsgesetzlich verbindlich beschlossenen 50 Assessoraten auf Dauer immer nur ein Bruchteil tatsächlich besetzt werden konnte, und zwar auf Grund einer doppelten Konsequenz: Zum einen stellte sich nach dem Jüngsten Reichsabschied sehr bald heraus, daß die Quoten der Präsentationsberechtigungen, die den Präsentanten in den beiden 1648 und 1654 festgestellten Schemata zugesprochen worden waren, in der Praxis zumindest halbiert werden mußten, sollte nicht das ganze Präsentations- und Rezeptionswesen noch mehr als ohnehin schon in chaotische Verwirrung stürzen216 . Das hieß zunächst einmal, daß die Präsentanten mit theoretisch doppelten Präsentationsberechtigungen, also die Kurfürsten, der Kaiser, der Österreichische und der Burgundische Kreis sowie die evangelischen und katholischen Stände der gemischten Kreise, immer nur auf die Rezeption jeweils eines einzigen von ihnen präsentierten Juristen rechnen konnten und daß rein katholische bzw. evangelische Kreise mit einem an sich vierfachen Präsentationsrecht nur jeweils zwei Assessorate gleichzeitig besetzen durften. Aber selbst bei dieser Halbierung des Doppelschemas auf 25 Assessorate beließ es das Kameralkollegium nicht. Vielmehr ging es angesichts der unverändert schlechten Unterhaltslage in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunders dazu über, von den konfessionell homogenen Kreisen, also dem Bayerischen, dem Ober- und dem Niedersächsischen Kreis, immer nur je einen einzigen Präsentierten zur Rezeption zuzulassen. Der 1687 zum zweiten Beisitzer des Bayerischen Kreises präsentierte, nach dem Tod eines schon seit 1668 amtierenden ersten Bayerischen Kreis-Assessors erst 1711 im Alter von 62 Jahren vereidigte Johann Georg Huber wurde von dieser Notlösung besonders schwer getroffen217 • 216 Vgl. schon das Schreiben des Kameralkollegiums an die Reichsdeputation in Frankfurt, Speyer, 10.11.1655, Druck: LUDOLF, Historia sustentationis, 1. Anhang, S.223-225; s. ferner, mit Bezug auf dieses Schreiben, das Plenarprotokoll vom 6.5.1658 in: RKG IV C 1 fol.127v128r, besonders das Votum des kursächsischen Assessors Heinrich Achilles Bouwinghausen v. Walmerode. Auch die zur Überprüfung des RKG-Pfennigmeistereiwesens 1671/72 nach Speyer entsandte Reichsdeputation referierte in ihrer Schlußrelation vom 2./12.4.1672 die wiederholte Anregung des Kameralkollegiums, "wie daß die Justitiam bestens befördern thäte, wann der im jüngern Reichs-Abschied allzu hoch und beschwerlich fallende Numerus der 50 Assessoren auff 25 fest gestellt würde", wozu die notwendigen Unterhaltsmittel herbeigeschafft werden müßten; Druck dieser Relation in: LUDOLF, Historia sustentationis, 1. Anhang, S.358-370, hier S.368. Das Reichsgutachten von 1673 reagierte auf diese von der Reichsdeputation übermittelte Anregung des Kameralkollegiums dilatorisch, indem es die Frage bezüglich einer Neufeststellung der Assessorenzahl auf die nächste RKG-Visitation verschob, s. HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.17. 217 Außer dem Bayer. Kreis-Präsentatus Johann Georg Huber wurde schon 1684 der Niedersächs. Kreis-Präsentatus Georg Andreas v. Reichenbach, 1711 auch der Obersächs. KreisPräsentatus Friedrich Wilhelm Posadowsky Frh. v. Postelwitz von dieser Maßnahme betroffen, s. außer den zugehörigen Plenarprotokollen: RKG IV B 1126 fol.76-79, 81A-c, 82-84 (Reichenbach); RKG IV B 1120 fol.168 ff. (Huber), bes. fol.171 f., 190-192, 194-198, 210, 211; RKG IV B 1125 fol.40 f., 42 f. (Posadowsky); zu Posadowsky s. deutlicher RKG IV C 6
266
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Die beiden 1648 aus Paritätsgründen geschaffenen altemierenden evangelischen Kreispräsentationen - diejenige des Ober- und Niedersächsischen Kreises und diejenige der evangelischen Stände der vier gemischten Kreise -, die man als ohnehin jeweils nur einfache Präsentationsberechtigung schlechterdings nicht halbieren konnte, wurden von den betreffenden Kreisständen nach Lage der Dinge gar nicht erst in Gang gebracht. Bis sich dieses Realsystem bei reichsgesetzlich fortbestehender Gültigkeit des auf 50 Assessorate ausgelegten Doppelschemas von 1648/54 in der Spätphase der Speyerer Zeit teils dank der Einsicht der Präsentanten, teils infolge von 'Erziehungsmaßnahmen' seitens des Kameralkollegiums endlich durchsetzte und einspielte, kam es zu vielerlei Komplikationen. Sie verstärkten sich durch die zweite Konsequenz, die das Kameralkollegium, angesichts der gesetzgeberischen Lethargie der Reichsversammlung zur Selbsthilfe genötigt, aus der Besoldungsmisere zog: Zwar erlaubte es die ganze Konstruktion des Präsentationssystems dem Kameralkollegium nicht, den reichsgesetzlich festgestellten Kreis der Präsentationsberechtigten zu verkleinern. Auch die Quoten an wirklich ausübbaren Präsentationsberechtigungen waren durch die oben beschriebene de factoHalbierung des Doppelschemas bereits auf ein Minimum reduziert. Da die Summe der eingehenden Kammerzieler aber bei weitem nicht dazu hinreichte, sämtliche auf diese Weise präsentierten (bis zu 25) Beisitzer gleichzeitig zu besolden, verfiel das Kameralkollegium auf den Ausweg, die absolute Zahl der gleichzeitig besetzten Assessorate dem Zustand des Sustentationsfundus anzupassen218. War diese Obergrenze erreicht, wurde kein weiterer präsentierter und geprüfter Jurist zum Assessor rezipiert. Nach einem sehr unregelmäßigen Verlauf der Besetzungskurve fror das Kameralkollegium 1684 seinen eigenen Umfang für längere Zeit bei einem Höchstwert von 13 Assessoraten ein, wovon eines ständig dem vom Kaiser präsentierten Beisitzer vorbehalten war, die übrigen 12 dagegen mit reichsständischen (von welchem Kurfürsten oder Reichskreis auch immer) Präsentierten besetzt wurden219 • Von der friedensschlußmäßigen fol.161 v-163r (20.5.1711), 254r-260v (16.9.1711). Im Gegensatz zu Huber, der nach Ablegung seiner Examina (1688) eine endlos lange Wartezeit von 23 Jahren in Kauf nahm, wurden Reichenbach und Posadowsky nie in das Kameralkollegium rezipiert. Huber starb schon 1713, nur zwei Jahre nach seiner Aufschwörung, altersschwach, dienstuntauglich, verarmt und hochverschuldet 218 Vgl. schon das Plenarprotokoll vom 6.5.1658 in: RKG IV C 1 fol.127v-128r, bes. Votum Bouwinghausen. 219 Diesen Beschluß, bis zu einer Verbesserung der Unterhaltslage nicht mehr als 13 Assessoren (12 reichsständische und einen kaiserlichen) gleichzeitig aufzunehmen, faßte das Kameralkollegium nicht erst, wie BALEMANN, Beiträge, S.20, und im Anschluß daran auch andere Kameralschriftsteller bis hin zu SMEND, Reichskarnmergericht, S.271, irrtümlich angeben, am 25.10.1686, sondern bereits 1684; s. dazu: das RKG an Ks. Leopold I., Speyer, 4./14.3.1684; das RKG an den Reichskonvent in Regensburg, Speyer, 8./18.3.1684, Kopien:
II.3.1.3.1 Besoldungsmangel und Unterbesetzung
267
Gesamtzahl von 48 reichsständischen Assessoraten blieb also nur ein Viertel übrig. Als Folge dieser Notlösung, die wegen des permanenten Unterhaltsmangels bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit wechselnden Grenzwerten (z.B. von 1719 bis 1775/82: 17 Assessorate) zur leidigen Dauerlösung werden sollte, bildete sich vor den Pforten des Kameralkollegiums die berüchtigte Warteschlange. In ihr standen diejenigen Juristen, die von den Kurfürsten und Reichskreisen im Rahmen der ihnen de facto verbliebenen, zumeist nur einfachen Präsentationsberechtigungen auf 'ihr' vakant gewordenes Assessorat präsentiert und examiniert worden waren. Sie mußten nach den Prüfungen oft jahrelang ausharren, bis sie in der Reihenfolge ihres Präsentationsalters220 und unter Berücksichtigung der konfessionellen Parität nach dem Tod oder der Resignation eines Beisitzers auf eine der finanzierbaren Planstellen einrücken konnten. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren deshalb nie mehr alle Präsentationsberechtigten gleichzeitig mit 'ihren' Assessoren im Kameralkollegium eines Amtsjahrgangs vertreten. Eine der Hauptintentionen des Präsentationssystems, Juristen aus allen Regionen des Reiches zu rekrutieren, wurde so nach dem Westfälischen Frieden in der Praxis zunichte gemacht. Bevor der- erst 1782 vollzogene- Reichsschluß von 1775 das Mißverhältnis von Präsentationsberechtigungen und finanzierbaren Assessoraten endlich weitgehend beseitigte, bestimmten der Kassenzustand sowie die Zufälle Tod und Resignation über die Sozialstruktur, vor allem über die geographische Rekrutierung der einzelnen Assessorenjahrgänge. In der zweiten Periode des kammergerichtliehen Präsentationssystems sind also als Folge dieser aus Geldnot geborenen Manipulationen nach 1648/54 mehrere Systeme klar zu unterscheiden: 1. Das reichsgesetzlich gültige, aber nie realisierte Doppelschema mit insgesamt 50 (26 katholischen und 24 evangelischen) Präsentationsberechtigungen; 2. das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts allmählich durchgesetzte Realsystem eines reduzierten Doppelschemas, in dem alle Präsentationsberechtigten weiterhin vertreten waren, jedoch mit zumeist halbierten, zum Teil (konfessionell homogene Kreise!) sogar geviertelten QuoRKG IV B 1/9 fol.l6 f., fol.l8; weitere Kopien dieser Schreiben bzw. Hinweise daraufbefinden sich auch in den zeitgleichen Präsentationsakten anderer Reichsstände; vgl. auch das vorausgegangene Plenarprotokoll vom 1.2.1684 in: RKG IV C 2 fol.509v-511r, bes. Conclusum fol.51 Ov-511 r. Kaiser und Reichstag ließen die zitierten Schreiben, in denen das Kameralkollegium, um mehr Assessoren rezipieren zu können, nochmals um Sanierung des Sustentationswesens gebeten hatte, unbeantwortet. - Einen Überblick über das wechselnde Verhältnis von reichsgesetzlich beschlossener Assessorenzahl zu wirklich rezipierten Beisitzern nach 1648/54, bietet, wenn auch nicht fehlerfrei, BALEMANN, Beiträge, S.19 ff. 220 Ausschlaggebend für die Position in der Warteschlange war nicht das Datum des Präsentationsschreibens, sondern das Datum, an welchem ein Präsentatus persönlich in Speyer bzw. Wetzlar erschien, dem Kameralkollegium offiziell sein Präsentationsschreiben überreichte und damit seine Präsentation realisierte.
268
Il.3. Die Besetzung der Assessorate
ten; 3. die vom Kameralkollegium festgesetzte, an der Höhe der eingehenden Kammerzieler orientierte Zahl von wirklich gleichzeitig besetzbaren Assessoraten. Damit hängt eine andere Unterscheidung zusammen: Die Besetzungslinie, d.h. die Abfolge der Assessoren auf den einzelnen finanzierbaren Planstellen hatte nichts zu tun mit der Linie bzw. Reihenfolge der Juristen, die im Rahmen einer bestimmten Präsentationsberechtigung, sei es eines Kurfürsten, des Kaisers oder eines Reichskreises, präsentiert und je nach Prüfungserfolg auch wirklich auf dieses betreffende kurfürstliche, kaiserliche oder Kreisassessorat rezipiert und introduziert wurden. Die Kenntnis dieser diffizilen Unterschiede und ihrer Ursachen ist für sozialund besetzungsgeschichtliche Untersuchungen unabdingbar, will man die in der zweiten Hälfte des 17. und auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts reichlich chaotisch erscheinenden Verhältnisse im kammergerichtliehen Präsentationswesen durchschauen, will man die Präsentationslinien innerhalb der einzelnen kurfürstlichen, kaiserlichen und kreisständischen Präsentationsberechtigungeil sowie - damit eng verbunden - die Besetzungslinien auf den betreffenden Assessoraten rekonstruieren, will man die Sozialstruktur der einzelnen Assessorenjahrgänge richtig deuten und will man die Argumente, Klagen, Vorwürfe, Forderungen und Maßnahmen des Kameralkollegiums einerseits, der Präsentanten andererseits richtig bewerten. Obwohl das Kameralkollegium an dem kläglichen Schicksal des Idealschemas von 1648/54 gänzlich unschuldig war, flihrten die beschriebenen Notmaßnahmen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und bis weit in das 18. Jahrhundert hinein zwangsläufig zu ständigen Querelen mit den präsentationsberechtigten Fürsten. Denn diese drängten auf rasche Rezeption der von ihnen präsentierten Juristen oder bestanden zum Teil noch bis zum Ende der Speyerer Zeit auf der Besetzung sämtlicher ihnen reichsrechtlich zustehenden Assessorate, anstatt dem Problem in einer gemeinsamen Anstrengung von Kaiser und Reich durch bessere finanzielle Fundierung des RKG und/oder durch reichsgesetzliche Reduzierung der Präsentationsberechtigungen und Assessorate beizukommen221. Das Kameralkollegium litt so nach 1648/54 auf doppelte Weise unter seiner Vernachlässigung: zum einen unter der Besoldungs- und Besetzungsmi221 Es steht auf einem anderen Blatt, daß viele Präsentanten wegen des nach dem Dreißigjährigen Krieg herrschenden Juristenmangels gar nicht in der Lage gewesen wären, von sämtlichen ihnen laut IPO und JRA zustehenden Präsentationsberechtigungen wirklich Gebrauch zu machen. Selbst die Ausschöpfung der halbierten Quoten war in manchen Regionen erschwert. In den Präsentationsakten aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts finden sich deshalb immer wieder Klagen von Präsentanten über die Schwierigkeit, präsentationswillige qualifizierte Juristen ausfindig zu machen, wobei dieses Rekrutierungsproblem durch den am RKG herrschenden Unterhaltsmangel noch verschärft wurde; vgl. zum Beispiel: RKG IV B 1/11 fol.7 f. (30.3.1652); RKG IV B 1/23 fol.l f. (1./11.12.1655); RKG IV B 1/26 fol.l f. (1.12.1670); GLA Karlsr., Abt. 46/2715 nr.45 (12.2.1658), nr.142 (5.12.1673).
II.3.1.3.2 Die Problematik des Paritätsprinzips
269
sere selbst, zum anderen unter den Komplikationen und Streitigkeiten, die sich daraus im Alltag des Präsentierensund Rezipierens ergaben. Andererseits waren Vorwürfe von reichsständischer Seite nicht ganz unberechtigt, das Kameralkollegium lehne qualifizierte Kandidaten aus vorgeschobenen Gründen ab oder verzögere absichtlich deren Aufnahme 222 • In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde eine auffällig hohe Quote an Prüfungs- und Rezeptionsverfahren blockiert, verlief im Sande oder wurde wegen mangelnder Qualifikation durch Rejektion beendet. Dabei spielte neben einem ganzen Bündel an personenbezogenen Einwänden als Hintergrundmotiv mehr oder weniger deutlich eine Rolle, daß das Kameralkollegium den auf ihm lastenden Rezeptionsdruck verringern wollte. In seiner aus Existenznot möglicherweise überkritischen Einstellung wurde es noch dadurch bestätigt, daß infolge des nach dem Dreißigjährigen Krieg herrschenden Juristenmangels in einigen Präsentationsfällen tatsächlich nur mäßig oder nicht ausreichend qualifizierte Juristen präsentiert wurden. Jedenfalls ist seit 1648/54 bei der Rekonstruktion der häufig sehr gebrochen verlaufenden Präsentationsgeschichten die ganze Unterhalts- und Besetzungsproblematik in hohem Maße als Deutungsrahmen zu berücksichtigen. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, welche Komplikationen aus dem in der Reichsverfassung verankerten Präsentationssystem nach 1648/54 schon allein dadurch entstanden, daß die reichsgesetzlich festgestellte absolute Zahl an Assessoraten nicht finanziert werden konnte. Jede am Kassenstand orientierte Verminderung der jeweils wirklich besetzten Assessorate mußte automatisch mit diesem Präsentationssystem und den daraus erwachsenen Ansprüchen der Präsentationsberechtigten in Konflikt geraten. Dagegen verletzte eine Unterbesetzung des RHR keinerlei reichsständische Rechte und war daher in der Durchsetzung, wenn auch nicht in den Folgen für den Geschäftsgang, gänzlich unproblematisch. 2. Die Problematik des Paritätsprinzips Die Unterbesetzung der RKG-Assessorate infolge von Finanzierungsmangel bildete nur den ersten von drei Bereichen mit Defiziten, Schwierigkeiten und Konflikten, die teils schon in dem Schema von 1648/54 angelegt waren, teils durch 222 Solche Vorwürfe erhob zum Beispiel Ende 1655 die in Frankfurt tagende Reichsdeputation; s. deren Schreiben an das Kameralkollegium, Frankfurt, 18.12.1655, Druck: LuDOLF, Historia sustentationis, 1. Anhang, S.226-228; mit Bezug darauf: KR Wilhelm Mgf. von Baden an den ev. RKG-Präsidenten Ernich Gfn. zu Leiningen-Dagsburg, Baden, 7.1.1656, Or.: RKG IV B 1112 fol.13 f.; Konz. (d.d. 8.1.1656): GLA Karlsr., Abt. 46/2715 m.19; s. ferner mit weiteren Vorwürfen das Schreiben des Niedersächsischen Kreistags an das RKG, Lüneburg, 23.12.1657, sowie die rechtfertigende Antwort des RKG, Speyer, 15./25.2.1658, Kopien: RKG Mise. 654.
270
11.3. Die Besetzung der Assessorate
das Versagen von Kaiser und Reich bei der Verwirklichung der von ihnen selbst beschlossenen Norm verursacht wurden. Dieser erste Bereich wirkte stark in den zweiten hinein, in welchem es um Probleme im Zusammenhang mit dem konfessionellen Gleichheitsgebot und der deswegen vorgenommenen Umstrukturierung des kammergerichtliehen Präsentationssystems ging. Die am numerischen Paritätsprinzip orientierte Zweiteilung in ein katholisches und ein evangelisches Präsentationsschema mit je 24 reichsständischen Assessoraten sowie die damit verbundene Fixierung des Konfessionscharakters jeder einzelnen Präsentationsberechtigung bildeten zunächst angesichts der vorausgegangenen Auseinandersetzungen zweifellos Elemente der Stabilität in der Personalverfassung des Kameralkollegiums. Der Preis dieser Stabilisierung war jedoch, wie die Entwicklung nach 1648 und vor allem im 18. Jahrhundert zeigen sollte, eine beträchtliche Starrheit. Ein flexibles Reagieren des Präsentationssystems auf neu entstandenen Anpassungsdruck wurde durch die Problemlösung von 1648/54 außerordentlich erschwert. Nicht nur jede realistische, d.h. am Bedarf und/oder am Kammerzieleraufkommen orientierte Neufeststellung der Assessorenzahlen, mehr noch jede politisch-konfessionelle Veränderung auf seiten der Präsentanten brachte die beiden Schemata aus ihrem mühsam ausgehandelten konfessionellen Gleichgewicht. Um dieses "Gleichheitssystem" 223 zu erhalten, galt in der zweiten Periode des kammergerichtliehen Präsentationswesens der - allerdings nie in einem Reichsgesetz fixierte - Grundsatz, daß weder ein einzelner Reichsstand noch das RKG an den beiden Schemata irgendeine Veränderung vornehmen dürfe, sondern daß dazu ein erneuter Reichsschluß erforderlich sei. Dieses Prinzip der "Unabänderlichkeit" schützte zwecks Aufrechterhaltung der numerischen Parität zuallererst den im WestHilisehen Frieden (IPO Art. V§ 57) und im Jüngsten Reichsabschied (§ 169) festgeschriebenen Konfessionscharakter der einzelnen Präsentationsberechtigungen, für den die Jahre 1648 und 1654 hinfort als Normaljahre galten. Ein erst nach 1648/54 vollzogener Glaubenswechsel eines Präsentanten konnte also keine Veränderung der Schemata nach sich ziehen, weil die betreffende Präsentationsbefugnis nicht mitkonvertieren durfte 224 • Denn 223 BALEMANN, Beiträge, S.184; C. v. HUEBER, Von dem Unterschied zwischen der jetzigen Churpfälzischen Präsentation von wegen der fünften Chur und der ehemaligen Churpfälzischen Präsentation von wegen der jetzt erloschenen achten Chur zu den Assessoratstellen beydem Kaiserlichen Reichs Kammergerichte, o.O., 1781, S.5. 224 Zu den hier und im folgenden referierten Grundsätzen s. mehr oder weniger ausfUhrlieh C. TH. SUMMERMANN, Disputatio Inauguralis Juridica de paritate religionis in Augustissimo Camerae lmp. Judicio observanda, Duisburg 1699, S.37 u. 40; LUDOLF, Historia sustentationis, S.160 f.; DERS., Modestini & Pomponii in colloquiis ... meditationes, S.44 f., 59; J. ULMENSTEIN, Tractatus, S.37 f. §§ 65-67; MüSER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, S.20-40; DERS., Justiz-Verfassung, Tl.2, S.404 f.; F.C. v. MüSER, Actenmäsiger Bericht von dem Praesentations-Recht zu den Reichs-Cammer-Gerichts Beysitzer-Stellen, nach dem Herkommen des Ober-Rheinischen Crayßes, in: ders., Kleine Schriften zur Erläuterung des Staats-
II.3 .1.3 .2 Die Problematik des Paritätsprinzips
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"obwohl jus praesentandi personale ist, so ist doch qualitas personae intuitu religionis praesentandae per Legern Imperii statuiret" 225 • Bisher evangelische Reichsstände, die nach dem WestHilisehen Frieden für ihre Person katholisch wurden- ein umgekehrter Fall kam nicht vor-, oder längst katholische Fürsten, welche die Erbfolge in einem 1648 evangelisch regierten Territorium antraten, verloren also nicht das Präsentationsrecht als solches, mußten es aber weiterhin aufseitendes evangelischen Präsentationsschemas ausüben und auf 'ihr' Assessorat einen evangelischen Juristen präsentieren. Auch insofern hatte also ein RKG-Beisitzer keinen "characterem repraesentativum" 226 • Das Prinzip der Parität zwischen den von den Reichsständen besetzten evangelischen und katholischen Assessoraten war seit 1648/54 ein höheres Rechtsgut als ein auf das Präsentationssystemübertragener "cuius regio eius religio"-Anspruch, der nun auch im Rahmen der Kameralverfassung der Vergangenheit angehörte. Die meisten der hiervon betroffenen Präsentanten unternahmen nach ihrem Glaubenswechsel oder nach ihrer Sukzession in einem konfessionell anders definierten Land keine Versuche, an der überkommenen Konfessionsbindung ihrer Präsentationsberechtigung zu rütteln. Kursachsen (Landesherr katholisch seit 1697), Württemberg (seit 1733) und Hessen-Kassel (seit 1760 bis 1785), die als Reichsstände ohnedies weiterhin dem Corpus Evangelicorum angehörten, präsentierten auch unter einem katholischen Landesherrn im Rahmen der ihnen zustehenden Kur- und Kreispräsentationen weiterhin anstandslos evangelische Juristen. Dasselbe tat 1729/31 der katholische letzte Pfalzgraf von Zweibrücken,
und Völker-Rechts wie auch des Hof- und Canzley-Ceremoniels, Bd.9, Frankfurt a.M. 1761, S.139-266, hier S.250-266; TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.321-323 § 145; PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.34 f.; BALEMANN, Beiträge, S.95 f.; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.108 f., 124; DANZ, Grundsäze, S.l79 Anm.**); KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.85, 144; die Rechtslage genau analysierend: HUEBER, Unterschied, Vorbericht u. S.1-11; besonders programmatisch ebd., S.1, die Überschrift zum ersten Abschnitt: "Von der Unabänderlichkeit deren in §.57. art.V. I.P.O. und in §. 169. R.I.N. vorkommenden Schematurn Praesentantium & Praesentandorum von beiden Religionen", s. auch ebd., S.10.- Die oberflächliche und z.Tl. fehlerhafte Darstellung in den einschlägigen Passagen der Dissertation von J. LUH, Unheiliges Römisches Reich. Der konfessionelle Gegensatz 1648 bis 1806, Potsdam 1995, hier bes. S.87 ff., trägt zur Erhellung der in diesem Kapitel II.3.1.3.2. erörterten Paritätsproblematik, die nach 1648 die Praxis des kammergerichtliehen Präsentationswesens belastete, nichts bei. 225 LUDOLF, Historia sustentationis, S.160; vgl. ähnlich Harpprecht in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.28: es seien "die Präsentations-Jura nach denen beederseitigen Religionen als eine jedem Crayß und Landschaft anklebende ohnabänderliche Gerechtsame und als Jura Territorio innixa anzusehen, nach klarem Inhalt§. 23. des Reichs-Abschieds 1654". 226 So auch PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.34 f.- Darüber, daß die Assessoren nicht jeder flir sich ihren Präsentanten repräsentierten, also keinen "characterem repraesentativum" besaßen, s.o. Anm.47 (ebd. Zitatnachweis).
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11.3. Die Besetzung der Assessorate
der ebenso wie Hessen-Kassel turnusmäßig im Oberrheinischen Kreis evangelischen Teils präsentationsberechtigt war227 • Dagegen setzte der Übergang der pfalzischen Kur von dem 1685 erloschenen reformierten Haus Pfalz-Simmern an die schon seit 1613 katholische, bereits in Jülich und Berg regierende Linie Pfalz-Neuburg das Präsentationssystem nach 1685 fast hundert Jahre unter Spannung und Veränderungsdruck Der nunmehr katholische Kurfürst von der Pfalz und Pfalzgrafvon Simmern, mit seinen sämtlichen Territorien zum Corpus Catholicorum übergetreten, ererbte 1685 zwei Präsentationsberechtigungen, die 1648 in das evangelische Präsentationsschema eingeordnet worden waren: die kurpfälzische (wegen der 1648 neuerrichteten achten Kur) und die an der Präsentation des Oberrheinischen Kreises evangelischen Teils beteiligte pfalz-simmerische. Durchaus in Parallele zu der von ihnen in der evangelischen Kurpfalz betriebenen aggressiven Katholisierungspolitik beabsichtigten Kurfürst Johann Wilhelm und sein Nachfolger Karl Philipp zu Anfang des 18. Jahrhunderts, im Rahmen dieser beiden Präsentationsbefugnisse fortan katholische Juristen zu präsentieren. Im Oberrheinischen Kreis evangelischen Teils wurde solchen Plänen 1710/11 ein Riegel vorgeschoben, als sich die beteiligten Höfe in mehreren Vergleichen auf einen Präsentationsturnus einigten. Damals legten die evangelischen Kreisstände den katholischen Kurfürsten von der Pfalz vertraglich darauf fest, wegen Pfalz-Simmern "nach der alten, selbigen Landen anklebenden, in paritate Religionis et dispositione novis[ simi] Rec[essus] Imper[ii] §. 23. et 33. fundirten Qualität" einen Lutheraner oder Reformierten zu präsentieren, damit nicht durch Präsentation eines Katholiken das Präsentationsschema und die Parität zwischen den Assessoren "in alteration und desordre" gebracht würden228 • 227 Der seit 1718 regierende katholische Pfalzgraf Gustav Samuel Leopold von Zweibrücken (t 1731) präsentierte im Rahmen der evangelischen Oberrheinischen Kreis-Präsentation 1729/31 turnusmäßig die drei evangelischen Compräsentati Friedrich Ludwig v. Berger, Heinrich Ernst Wilhelm v. Wrede und Georg Philipp v. Fleckenbühl genannt Bürgel, s. Biogr. 99 (G.Ph. Fleckenbühl), Abschnitt V (mit weiteren Nachweisen). Der seit 1760 regierende katholische Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel präsentierte 1781, ebenfalls zum evangelischen Kreis-Assessorat, den Lutheraner Karl Theophil Wilhelm Meyer, der 1783 nach seiner Einberufung aufseinen Amtsantritt verzichtete, s. dessen Biogr. 100, Abschnitt V. Württemberg war an der Präsentation des evangelischen Schwäbischen Kreises beteiligt, Kursachsen präsentierte außer zum Kurassessorat im Rahmen des Obersächsischen Kreises, der altemierenden evangelischen Kreis- sowie der altemierenden evangelischen Kurpräsentation. 228 Vor-Vergleich zwischen den evangelischen Kreisfürsten Pfalz-Zweibrücken, HessenKassel und Hessen-Darmstadt, Wetzlar, 3.10.1710, Druck: F.C. V. MüSER, Actenmäsiger Bericht, in: ders., Kleine Schriften, Bd.9, S.l95-202, bes. Punkt 3 u. 4 (Zitate ebd., S.l98 f.); Samtvergleich zwischen allen an der evangelischen Präsentation des Oberrheinischen Kreises beteiligten Häusern Kurpfalz wegen Pfalz-Simmem, Schweden wegen Pfalz-Zweibrücken, Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel, Frankfurt a.M., 30.5.1711, Druck: ebd., S.222-227, bes. Punkt 1 u. 2; Kopie dieses Samtvergleichs in den Präsentationsakten des Oberrheinischen Kreises: RKG IV B 1/23 fol. 8-11; Druck beider Vergleiche auch in: KAMPTZ, Präsentations-
II.3.1.3.2 Die Problematik des Paritätsprinzips
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Die Gelegenheit, auch im Rahmen der viel exponierteren, zudem konkurrenzlos ausgeübten pfälzischen Kurpräsentation (wegen der neupfälzischen achten Kur) Anspruch auf zukünftige Präsentation eines katholischen Juristen zu erheben, ergab sich fiir den Pfälzer Kurfiirsten aus verschiedenen Gründen erst nach dem Spanischen Erbfolgekrieg229 • Zwar präsentierte Kurturst Karl Philipp von der Pfalz 1720 den seit 1711 als Obersächsischer Kreis-Assessor amtierenden Lutheraner Georg Melchior v. Ludolfzum kurpfälzischen Assessor, tat dies aber mit dem provokativen Vorbehalt, "daß diese Nominirung eines der Augspurgischen Confession zugethanen Subjecti Uns ahn Unserer zu Benennung eines Cathol[ischen] zukommenden Gerechtsamb fiirohin allerdings ahnnachtheilig sein solle" 230 • Diese reichsverfassungswidrige Vorbehaltsklausel stieß nicht nur bei Ludolf und seinen Richterkollegen auf Bedenken. Sie versetzte vor allem auch das Corpus Evangelicorum in Unruhe, das dahinter ebenfalls einen Vorstoß gegen das evangelische Präsentationsschema und damit gegen die ReligionsgleichRecht, S.332-335 (Zitate ebd., S.333 f.), S.338-342; dazu KAMPTZ, ebd., S.210, 214 f.- Der Kurfürst von der Pfalz als Herzog von Pfalz-Siromern präsentierte daraufhin, durch diese Verträge gebunden, 1712 turnusgemäß den reformierten(!) Leonhard Breuer (Ass. 1713-1728) zum Assessor des evangelischen Oberrheinischen Kreises (nicht, wie bei einigen Kameralschriftstellern zu lesen, den 1714 vom katholischen Oberrheinischen Kreis präsentierten, 1715-1728 als Assessor amtierenden Katholiken Johann Georg Dresler), s. PS Breuer, Düsseldorf, 7.2.1712, Or.: RKG IV B 1/23 fol.22 f. 229 Der reformierte Jurist Christian Philipp Brinck (t 1709) schwor zwar erst 1688, also nach dem Erlöschen des Kurhauses Simmern und der Regierungsübernahme durch die katholischen Neuburger, als kurpfälzischer Assessor (wegen der 1648 neugeschaffenen achten Kur) auf, war aber entgegen der irrigen Meinung einiger aktenunkundiger Kameralschriftsteller nicht von der neuen Kurlinie Neuburg, sondern schon 1683 noch von der Simmerischen Kurlinie präsentiert worden, s. PS Brinck, Heidelberg, 4.12.1683 (formal verbessertes zweites PS), Or.: RKG IV B 1/9 fo1.4; vgl. auch: RKG IV C 2 fol.686r-688v (Plenarprotokoll vom 27.9.1687). Nach Brincks Tod 1709 konnte und mußte zunächst kein evangelischer Nachfolger präsentiert werden, weil Kf. Johann Wilhelm von der Pfalz während des Spanischen Erbfolgekriegs, nach der Ächtung des bayerischen Kurfürsten, 1708 in die 1623/48 an Bayern gefallene altpfälzische fünfte Kur restituiert worden war. Als Inhaber dieser Kur, die im JRA 1654 § 169 zugunsten des damaligen Besitzers Bayern im katholischen Präsentationsschema plaziert worden war, konnte der pfälzische Kurfürst 1711 völlig legal einen katholischen Juristen zum kurpfälzischen Assessor (wegen der fünften Kur) präsentieren, den von 1713 bis zu seinem Tod 1749 amtierenden Hermann Franz v. Sonborn. Nach der völligen Restitution des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel 1714 ging mit der fünften Kur auch das damit verbundene katholische Präsentationsrecht wieder an Bayern über. Folgerichtig bekleidete Sonborn nach 1714 ohne nochmalige Vereidigung weiterhin das flinfte Kurassessorat, aber nunmehr unter dem Etikett eines kurbayerischen Assessors. Dagegen mußte sich Kurpfalz seit 1714 wieder mit der 1708-1714 erloschenen neupfälzischen achten, mit einer evangelischen Präsentationsbefugnis verknüpften Kur begnügen; s. dazu eingehend mit weiteren Belegen Biogr. 21 (Sonborn), V, sowie die folgende Darstellung. 230 PS Ludolf, Heidelberg, 14.3.1720, Or.: RKG IV B 1/9 fol.32 f.; Druck: MasER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, S.23 f. Hierzu und zum Folgenden s. mit weiteren Quellennachweisen Biogr. 38 (Ludolf), VI.
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11.3. Die Besetzung der Assessorate
heit im Kameralkollegium witterte. In einer 1721 in Regensburg erschienenen Deduktion zur Wahrung der evangelischen Religionsrechte begründete die evangelische Seite ihren Protest gegen den kurpfälzischen Vorbehalt mit einem nachdrücklichen Hinweis auf den seit 1648 besonders engen Zusammenhang zwischen Reichssystem und kammergerichtlicher Präsentationsordnung: "Daß die Praesentatio Assessorum als ein die unverdächtige Form dieses Gerichts constituirendes Essentiale mit dem per I.P. Westph. im Reich festgestehen Statu Religionis in einer unauflößlichen Connexion stehe, das beweisen die §phi 53. 54. Art. V. erstgedachten Friedens-Schlusses, item §phi 23. 29. und 30. des letzten Reichs-Abschieds, darin die Beobachtung der Religions-Parität bey Bestellung dieses Gerichts sorgfältig versehen ist" 231 . Ludolfs Präsentationsschreiben wurde vom Kameralkollegium erst akzeptiert und der Weg zu Ludolfs Aufschwörung damit frei gemacht, nachdem der pfälzische Kurfürst 1722 seine Vorbehaltsklausel dahingehend interpretiert hatte, daß dadurch dem Westfälischen Friedensinstrument nichts präjudiziert werde 232 • Der kurpfälzische Anspruch auf ein katholisches Präsentationsrecht wurde jedoch auch in den folgenden sechzig Jahren weiterhin aufrechterhalten. Kurftirst Karl Philipp von der Pfalz und sein ebenfalls katholischer Nachfolger Karl Theodor aus dem Haus Pfalz-Sulzbach präsentierten zwar 1740, 1744 und 1777 wiederum evangelische Juristen auf das Kurassessorat, wiederholten dabei aber jedesmal den schon 1720 im Ludolfschen Präsentationsschreiben gemachten Vorbehalt233. Vor allem seit der Resignation des kurpfälzischen Beisitzers Joharm Wilhelm Riedesel zu Eisenbach 1771 verstärkte sich der Veränderungsdruck auf das Präsentationsschema, weil Kurfürst Karl Theodor angesichts der damals von Kaiser und Reich verhandelten Vermehrung der ständig besetzten Assessorate von 17 auf 25 endlich seine Chance gekommen sah, sich des Zwangs zur Präsentation evangelischer Juristen zu entledigen und mit reichsgesetzlicher Billigung "Unsere Praesentations-Befugnuß auf der catholischen Seite in Zukunft auszuüben" 234 • Dieser Druck wurde noch größer, nachdem die in Bayern regierende Wilhelminische Linie der Wittelsbacher Ende 1777 ausgestorben, die in 231 "Zufällige Gedancken über die Praesentationes bey dem Cammer-Gericht" vom 22.9.1721, Druck: MüSER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, 8.27-36 (Zitat S.27 f.); ebs. in: F. C. v. MosER, Actenmäsiger Bericht, in: ders., Kleine Schriften, Bd.9, 8.256-263 (Zitat S.256, danach hier zit.). 232 Kf. Karl Philipp von der Pfalz an das RKG, Mannheim, 9.4.1722, Or.: RKG IV B 1/9 fol.41; Biogr. 38 (Ludolf), VI.
S. mit weiteren Nachweisen Biogr. 88 (Glaubitz), VI; Biogr. 39 (J.W. Riedesel), VI; Biogr. 40 (Vulpius), V. 233
234 Kf. Karl Theodor von der Pfalz an das RKG, Mannheim, 8.3.1776, Or.: RKG IV B 1/9 fol. 79; s. auch schon ebd., fol. 77a (24.2.1772); dazu MüSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, 8.398 ff.; BALEMANN, Beiträge, S.92 f.
11.3.1.3.2 Die Problematik des Paritätsprinzips
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Kurpfalz regierende und nun auch in Bayern sukzedierende Rudolphinische Linie wieder in die 1623/48 an Bayern verlorene, laut JRA § 169 im katholischen Präsentationsschema plazierte altpfälzische fiinfte Kur restituiert worden und gleichzeitig die mit einer evangelischen Präsentationsbefugnis verknüpfte neupfälzische achte Kur erloschen war. Durch diesen Erbfall in seinen Ansprüchen auf ein katholisches Präsentationsrecht besser legitimiert, präsentierte Kurpfalz daraufhin 1780 wegen der wiedererlangten altpfälzischen fünften Kur einen katholischen Juristen zum kurpfälzischen RKG-Beisitzer (Hueber von der Wiltau), ohne die notwendige Wiederauffiillung des um ein Assessorat dezimierten evangelischen Präsentationsschemas abzuwarten - und obwohl damals ein schon im Sommer 1777 von Kurpfalz noch wegen der neupfälzischen achten Kur präsentierter evangelischer Jurist (Vulpius) nach erfolgreich absolvierten Examen auf seine Einberufung wartete 235 . Dieser kurpfälzische Alleingang fiihrte Ende 1780 im Kameralkollegium zur itio in partes, begleitet von nicht minder heftigen Kontroversen in der Reichspublizistik. Erst nach einer nun nicht mehr aufschiebbaren Berichtigung der beiden Präsentationsschemata durch das Corpus Catholicorum und das Corpus Evangelicorum, die sowohl den kurpfälzischen Wünschen als auch dem friedensschlußmäßigen Erfordernis nach konfessioneller Parität Rechnung trug, gelangte Kurpfalz Ende 1781 endlich an sein Ziel. Bis dahin lag der kurpfälzische Anspruch quer zu dem seit 1648/54 konservierten Präsentationssystem, das mit seinen beiden Hauptmerkmalen: der numerischen Konfessionsparität zwischen den reichsständischen Assessoraten und der Konfessionsbindung der einzelnen Präsentationsberechtigungen, unter dem Druck der kurpfälzischen Frage sowohl seine Stabilität als auch seine Starrheit erwiesen und das darin verkörperte Konfliktpotential offenbart hatte. Das öffentliche Aufsehen, die Streitbereitschaft und der Veränderungsdruck, die der kurpfälzische Anspruch auf ein katholisches Präsentationsrecht 17201722 und vor allem Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts erzeugte, weisen darauf hin, wobei es bei diesen und anderen Präsentationsstreitigkeiten eigentlich ging: Das kammergerichtliche Präsentationssystem gehörte, und zwar seit 1648 mehr denn je, zu den 'heiligen Kühen' der Reichsverfassung. Wer an den Präsentationsschemata rüttelte, weil seine erst nach 1648/54 entstandenen eigenen Ansprüche darin keinen Platz fanden, untergrub dabei immer auch das Fundament der Reichsverfassung, wie es der Westfälische Friede mit seinem Prinzip der genauen und gegenseitigen Religionsgleichheit, der "aequalitas exacta mutuaque" (IPO Art.V § 1), gelegt hatte. 235 Hierzu und zum Folgenden s. ausführlicher mit weiteren Nachweisen Biogr. 24 (Hueber), V; Biogr. 40 (Vulpius), V; zur Berichtigung der beiden Präsentationsschemata im Laufe des Jahres 1781 s. die weitere Darstellung.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Reichsverfassungsrechtlich relevante Veränderungen auf seiten der Präsentanten mitsamt ihren konfessionellen Verwerfungen störten also die 1648/54 erzielte Balance zwischen den beiden Präsentationsschemata und machten eine komplizierte Umarbeitung sowie eine erneute Austarierung notwendig, damit Präsentations- und Reichssystem wieder zur Deckung gelangten. Die Geschichte des kammergerichtliehen Präsentationswesens nach 1700 wird dies noch weiter demonstrieren. Die alte Abhängigkeit des Präsentationssystems vom politischverfassungsrechtlichen Gefüge des Reiches sollte sich jedenfalls nach 1648/54 als außerordentlich problematisch erweisen. Die Veränderungs- bzw. Anpassungsfähigkeit dieses restlos durchstrukturierten normativen Schemas war unter der neu hinzugekommenen Bedingung des Paritätsprinzips und des ein für allemal festgelegten Konfessionscharakters jeder Präsentationsberechtigung aufs äußerste reduziert. Dazu kam, daß sich die durch das Paritätsgebot erzeugte Starrheit des Präsentationssystems nach 1648 auch erschwerend auf die Aufnahmepraxis des Kameralkollegiums auswirkte. Nicht nur auf dem Papier, d.h. unter den reichsgesetzlich geschaffenen Präsentationsberechtigungen der beiden Schemata von 1648 und 1654, sondern auch unter den gleichzeitig amtierenden Assessoren mußte Konfessionsparität herrschen236 . Nur der vom Reichsoberhaupt präsentierte Beisitzer war analog der 1648/54 den kaiserlichen Präsentationen zugestandenen Sonderstellung und dem daraus resultierenden leichten Übergewicht der katholischen Seite aus der Paritätsberechnung ausgenommen. Damit hing auch der Vorzug des kaiserlichen Präsentierten zusammen, sogleich nach bestandenem Fachexamen ohne jede Wartezeit rezipiert und einberufen zu werden, ohne Rücksicht darauf, ob etwa ein vor ihm präsentierter und bereits geprüfter anderer katholischer Kandidat schon lange auf seine Rezeption und Vokation wartete 237 • Bei der Neueinberufung von Assessoren- sei es bei der Wiederbeset236 Dieses Prinzip ist als Richtschnur flir die Aufnahmepraxis des Karneralkollegiurns bereits formuliert in dem Briefwechsel zwischen dem Karneralkollegium und der in Frankfurt tagenden Reichsdeputation d.d. Speyer, 10.11.1655/Frankfurt, 18.12.1655, Druck: LUDOLF, Historia sustentationis, 1. Anhang, S.223-225, 226-228. 237 Zu diesem observanzmäßigen Vorzug sofortiger Einberufung s. die Daten der Präsentationsgeschichte in den Biographien der zwischen 1740 und 1805 amtierenden kaiserlichen Assessoren Tönnemann (Biogr. 50), de l'Eau (Biogr. 51) und Maurer (Biogr. 52); s. auch schon die Pienardehatte vom 26. u. 27.1.1722 über die sofortige Zulassung des arn 9.8.1721 zum kaiserlichen RKG-Beisitzer präsentierten bisherigen Fränk. Kreis-Assessors Philipp Friedrich v. Dresanus zur Aufschwörung als kaiserlicher Assessor, in: RKG IV C 12 fo1.15v-27r; s. auch TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.321 (§ 144 Anm.r), S.377 (§ 177); PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.36 ff., bes. S.39; BALEMANN, Beiträge, S.85, 95; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.l49; DANZ, Grundsäze, S.l79 Anm. *); KAMPTZ, PräsentationsRecht, S.l38. Die Anordnung in Vis.A. 1713 § 22, "daß kein von den Ständen des Reichs nachpraesentirter vor einem zuerst praesentirten würcklich anzunehmen" sei (CJC, S.967), setzt den dem kaiserlichen Präsentatus zustehenden Vorzug sofortiger Einberufung voraus. -
II.3.1.3.2 Die Problematik des Paritätsprinzips
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zung eines vakant gewordenen Assessorats, sei es wie 1712, 1719 oder 1775 bei der Vermehrung der jeweils finanzier- und besetzbaren Assessorate - war also die Konfessionsparität stets nur zwischen den von den Kurfürsten und Reichskreisen präsentierten Assessoren zu wahren bzw. wiederherzustellen238 • Bis diese Grundsätze endlich 1711 und 1713 im Sinne einer Ausführungsbestimmung zum Westf::ilischen Frieden und zum Jüngsten Reichsabschied als unzweideutige Norm in die Kameralgesetzgebung eingingen und dann auch bei der Abfassung von Pienarbeschlüssen sowie in der Aufnahmepraxis als Richtschnur dienten, kam es allerdings im Kameralkollegium in den Jahrzehnten nach dem Friedensschluß, in einer konfessionell ohnehin schon aufgeladenen und zudem von Existenzfurcht belasteten Atmosphäre, anläßlich der Diskussion über Neuzulassungen immer wieder zu heftigen Kontroversen über die Interpretation des Paritätsgebots239 • So behauptete vor allem in den achtziger und neunziger Jahren Irrfolge dieses Privilegs blieb ein vakantes kaiserliches Assessorat selbst in denjenigen Zeiten, nämlich bis 1775/82, als wegen Unterhaltsmangels, stets beträchtlich weniger als 25 Assessoren gleichzeitig amtieren konnten, nie lange unbesetzt. Daß dennoch zwischen 1666 (Resignation des kaiserlichen Assessors Emmerich Friedrich Frhn. v. Walderdorff) und 1721/22 (Präsentation und Aufschwörung des bisherigen Fränk. Kreis-Assessors Philipp Friedrich v. Dresanus) das kaiserliche Assessorat lange Zeit leer stand, hing teils mit der phasenweisen Nichtausübung des Präsentationsrechts durch den Kaiser, teils damit zusammen, daß in dieser Zeit mehrere kaiserliche Präsentationen wegen mangelnder Qualifikation eines Präsentierten (Johann Peter Lukas Köth v. Wanscheid, 1684-1685 kaiserlicher Präsentatus; Johann Friedrich Scheib, 1696-1698 kaiserlicher Präsentatus) oder aus anderen Gründen (Johann Rudolf Frh. v. Ow, 1700-1713 kaiserlicher Präsentatus, Vokation und Resignation 1712113) nicht bis zur Rezeption gediehen oder durch Nichtverwendung des Präsentationsschreibens (Pranz Johann Wolfgang v. Vorburg zu Deelsberg, 1674/79) gar nicht erst realisiert wurden. 238 Diese hier referierten Grundsätze, die erst 1711113 von der Visitation normativ festgelegt wurden, hätten auch schon aus JRA 1654 § 23 abgeleitet werden können. Dort hieß es nämlich als Erläuterung zu dem ebd. in § 22 bestätigten Devolutionsrecht (d.h. dem Recht des Kameralkollegiums, bei Säumigkeit des Präsentanten nach Ablauf der sechsmonatigen Präsentationsfristdie vakante Stelle aus eigenem Recht wiederzubesetzen): Dabei solle vom Kameralkollegium ebenso wie von den Kurfürsten und Ständen dasjenige beobachtet werden, "was wegen Präsentierung gewisser Personen von beiderseits Religionen, mit Einschließung der Reformierten, im Friedensschluß verordnet ist, also, daß jedesmals eine Person von derselben Religion aufgenommen werde, deren der praesentandus hätte sein sollen" (LAUFS, JRA 1654, S.20). Dieser Passus ging noch selbstverständlich davon aus, daß alle 50 in den beiden Präsentationsschemata von 1648 und 1654 vorgesehenen Assessorate bei jeder Vakanz sofort hätten wiederbesetzt werden können. Die strikte numerische Konfessionsparität zwischen den von den Reichsständen präsentierten, gleichzeitig amtierenden Beisitzern und der katholische Überhang in Gestalt der beiden kaiserlichen Assessoren hätten sich dadurch automatisch ergeben; vgl. auch BALEMANN, Beiträge, S.95 f. 239 Zu dem im folgenden referierten Paritätskonflikt s. vor allem die Plenarprotolle in: RKG IV C 2 fol.489v-491r (5.6.1683), 606r-608v (8.1.1686), 615v-619r (1.3.1686), 638v641r (25.10.1686), 651r-653v (12.1.1687), 694v-696r (7.12.1687, bes. Votum Merlefol.694v), RKG IV C 4 fol.178r (8.7.1696, Votum Merle). Ein früherer Beleg für diesen Streit ist das Schreiben des Kammerrichters Wilhelm Mgf. von Baden an den katholischen RKG-Präsidenten Johann Eusebius Gfn. Fugger, Speyer, 12.6.1668, Konz.: GLA Karlsr., Abt.46/2715
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
des 17. Jahrhunderts der katholische Teil des Kameralkollegiums, angeführt von dem Österreichischen Kreis-Assessor Philipp Christoph v. Merle, daß im Kameralkollegium "allezeit" eine katholische Mehrheit von ein bis zwei Assessoren vorhanden sein müsse, auch wenn, was von 1666 bis 1722 der Fall war, kein kaiserlicher Assessor am Gericht amtierte. Merle, der hier ganz offensichtlich aus konfessionellem Repräsentationsgeist im Interesse seines kaiserlichen Präsentanten agierte, und mit ihm seine katholischen Richterkollegen beriefen sich in einer sehr zweckgeleiteten, verengenden Interpretationsmanier zum einen auf eine angebliche Observanz, zum anderen auf das im Friedensinstrument verankerte absolute Zahlenverhältnis von 26 katholischen zu 24 evangelischen Assessoren. Diese Relation wollten sie auch auf das damals aus Besoldungsmangel zahlenmäßig stark reduzierte Kameralkollegium übertragen wissen, ohne dabei die amtierenden Beisitzer nach solchen reichsständischer oder kaiserlicher Genese zu qualifizieren240 . Die evangelischen Assessoren, angeführt von dem in nr.lOO, worin sich der Kammerrichter vertraulich darüber beklagte, daß die Evangelischen im Kameralkollegium "nit allein uff die paritet gehen, sondern es bey gegenwertigern Zuestandt des Collegii auch so weit und dahin khombt, daß die ohncatholische, zue nachtheil des catholischen Wesens, so gahr die maiora machen khönnen".- Über den hier und im folgenden auf der Basis ungedruckter Quellen geschilderten, in der zweiten Hälfte des 17. und noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts im Kameralkollegium ausgetragenen Konflikt um die Auslegung und Umsetzung des Paritätsgebots läßt sich bei den fast ausschließlich an den Normen orientierten Kameralschriftstellem nichts erfahren; vgl. J. ULMENSTEIN, Tractatus, S.35 f.; TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.321 f., 353; DERS., Selecta juris Cameralis, Tübingen 1756, darin Observatio III, S.13-17: De religione adsessorum camerae imperialis; PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.24 f., 36 ff.; Harpprecht, in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.20 u. 24 Geweils §§ 3 u. 4); BALEMANN, Beiträge, S.31 f., 79 f., 95 f., 184; HuEBER, Unterschied, S.4 f.; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.94 ff., 182 f.; DANZ, Grundsäze, S.169 ff.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.84 ff. Das gilt weitgehend auch für die 1699 publizierte Abhandlung von C. TH. SUMMERMANN, Disputatio ... de paritate religionis, die sich speziell mit der Paritätsthematik befaßt; vgl. ebd., S.40 f. (Art.XIX). Die 1995 erschienene Dissertation von LUH, Unheiliges Römisches Reich, weiß S.87 f. in dem sehr plakativen und kurzen Abschnitt über "Streit um die konfessionell ausgewogene Besetzung" des Kameralkollegiums weder etwas über die oben geschilderten Kontroversen noch über den darin artikulierten Grundsatzkonflikt 240 Wenn Merle und seine katholischen Kollegen ihren Anspruch auf eine ständige, auch ohne Präsenz eines kaiserlichen Assessors herzustellende katholische Mehrheit nicht nur auf das absolute Zahlenverhältnis in den Präsentationsschemata von 1648 und 1654 stützten, sondern auch mit "ihrer bisheriger in observantia gegründeter possession" (RKG IV C 2 fol.617r) argumentierten, dann taten sie das insofern scheinbar zu Recht, als vor allem in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre und in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts tatsächlich zeitweilig ein krasses Übergewicht der Katholiken bestanden hatte. Zum Beispiel waren von den Anfang 1659 amtierenden 14 Assessoren 10 katholisch (alle von Reichsständen präsentiert) und nur 4 evangelisch, was die Senatsbildung sehr erschwerte; s. RKG IV C 1 fol.192r (12.2.1659). Diese Disparität war aber nicht durch bewußte Anwendung einer Norm oder einer Observanz entstanden, sondern durch die damals besonders chaotischen Verhältnisse im Besetzungs- und Besoldungswesen. Unter anderem ging es damals darum, das bis 1651 auf9 Assessoren geschrumpfte Kameralkollegium überhaupt erst einmal wieder aufzufüllen, ohne
II.3 .1.3 .2 Die Problematik des Paritätsprinzips
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Konfessionsfragen immer sehr engagierten kurbrandenburgischen Beisitzer Sylvester Jakob v. Danckelmann, pochten dagegen auf die wahre gesetzgeberische Intention des Instrumenturn Pacis Osnabrugense Art. V § 53 sowie des im Jüngsten Reichsabschied verankerten katholischen Präsentationsschemas, daß nämlich eine katholische Mehrheit im Kameralkollegium nur durch einen vom Kaiser präsentierten Assessor verursacht werden dürfe. Im übrigen sei bei allen Neuaufnahmen darauf zu achten, daß unter den von den Reichsständen - Kurfürsten und Reichskreisen-präsentierten Assessoren strikte numerische Parität gewahrt bzw. wiederhergestellt werde241 • Die in diesen Debatten majorisierten evangebei jeder Rezeption gleich auf strikte Parität zu achten. Außerdem konnte sich eine größere und mit den katholischen Beisitzern quantitativ gleichziehende evangelische Fraktion, die es ja vor 1648 im Kameralkollegium naturgemäß noch gar nicht hatte geben können, nach 1648/54 erst allmählich über evangelische Präsentationen aufbauen, was durch die Nachkriegsbedingungen noch zusätzlich verzögert wurde. In den ftinfziger und sechziger Jahren hoffte man zunächst auch noch, daß sich durch eine verbesserte Besoldungslage die Besetzungs- und damit die Paritätsproblematik bald erledigen würde - eine Hoffnung, die in den achtziger Jahren restlos zerschlagen war. Jedoch bestand zu Ende der ftinfziger Jahre im Kameralkollegium zumindest äußerlich Übereinstimmung darin, daß man gemäß IPO und JRA über Präsentationen und Rezeptionen zu einer konfessionellen Parität gelangen müsse, und man sah es eindeutig als ein Problem an, daß die evangelischen Assessoren entgegen dem reichsgesetzlichen Paritätsgebot wegen Säumigkeit der evangelischen Präsentanten, wegen des Unterhaltsmangels und anderer vom Kameralkollegium nicht verschuldeter Umstände immer noch in der Minderheit waren. Deswegen wurde auf Initiative des kursächsischen Assessors Heinrich Achilles v. Bouwinghausen am 31.8.1658 beschlossen, daß die damalige Zulassung zweier weiterer katholischer Präsentierter zur Zensur und Rezeption den Reichsständen beider Konfessionen nicht präjudiziertich sein solle. Von den katholischen Präsentierten solle so lange keiner mehr rezipiert werden, bis von den evangelischen Präsentierten so viele aufgenommen worden seien, daß das im Jüngsten Reichsabschied beschlossene Verhältnis wirklich erreicht sei. Bis dahin seien die Rezeptionen der Präsentierten Augsburgischer Konfession unter keinem Schein oder Vorwand des Unterhaltsmangels aufzuhalten; s. das aufschlußreiche Pierrarprotokoll vom 31.8.1658 in: RKG IV C 1 fol.145r-147r; auch schon das Protokoll vom 6.5.1658 ebd., fol.127v-128r.- Schonangesichts dieser ursprünglich vom Kameralkollegium in der Paritätsfrage eingenommenen verfassungskonformen Haltung durften die katholischen Assessoren also keinesfalls, so wie sie es dann in den achtziger Jahren taten, aus dem faktischen katholischen Übergewicht in der Zeit seit 1648/54 einen observanzmäßigen Besitzanspruch ableiten. Zu Recht votierte daher der evangelische Assessor Huldrich v. Eyben am 25.10.1686, "es seye die Frag, ob die von denen Herren Catholischen angezogene Ungleichheit ex Lege Imperii oder ex re ipsa et ipso facto entstanden", um den ersten Teil dieser Frage gleich wieder zu verwerfen (RKG IV C 2 fol.640r). Geradezu verfassungswidrig argumentierte auf katholischer Seite der kurmainzische Assessor Wilhelm Ignatius v. Schütz mit seiner Behauptung: "Die dispositio Instrumenti Pacis uti et observantia stehe pro majori Numero Catholicorum, undt seye bekhant, daß ante Pacificationem allezeit die Catholici in Numero plures gewesen" (25.10.1686, RKG IV C 2 fol.640v). Indem Schütz hier den angeblich observanzmäßigen Besitzanspruch der katholischen Assessoren auf eine Mehrheit im Kameralkollegium aus den reichsrechtlich noch ganz anderen Verhältnissen vor 1648 ableitete, ignorierte er völlig die tiefe Zäsur, die der Westfälische Friede mit seinem in die Reichsund auch in die Kameralverfassung eingeflihrten numerischen Paritätsprinzip darstellte. 241 Dieser evangelische Standpunkt wird besonders klar formuliert im Votum Danekelmann vom 25.10.1686, in: RKG IV C 2 fol.638v-639r ("secus vere esse, si status praesentent, quo
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
lischen Beisitzer forderten 1686/87 wiederholt, den Paritätskonflikt zur Entscheidung an den Reichstag zu bringen, was aber vermutlich wegen der bald darauf in den Vordergrund tretenden Kriegsgefahr, der Zerstörung Speyers, der Flucht der Kameralen und der Verlegung des RKG nach Wetzlar unterblieb. Erst 1711 wurde diesem Streit ein erster Riegel vorgeschoben durch die nach 120 Jahren endlich wieder einmal veranstaltete Visitation. Sie beauftragte gleich nach der Wiedereröffnung des seit 1704 lahmgelegten Gerichts in ihrem Dekret vom 6.2.1711 den Kammerrichter, die beiden Präsidenten und die - damals nur noch fünf!- Assessoren, "so gleich mit Annehmung neuer Assessoren, und zwar der gestalt zu verfahren, daß das Gericht Anfangs von denen durch die Herren Churfürsten und Creyße des Reichs praesentirten beyderley Religion in gleicher Anzahl, jedoch ohne Praejuditz des Kayserl. Praesentati, bekleidet und mit selbigen ein Senatus definitivarum vorerst bestellt werden könne ... ; diese hätten alsdann, damit der Reichs-Instruction gemäß mehrere Senatus formirt werden möchten, mit Annehmung mehrerer Assessorum, so weit sich die Erhaltungs-Mittel dermahlen erstrecken wollen, observata tarnen paritate Religionis inter Statuum Assessores, bis zu fernerer in puncto Numeri besehebenden Verordnung fürzuschreiten" 242 • Diese Klarstellung ex officio war gerade damals besonders notwendig, weil der seit längerem schwelende, durch ein Machtwort der Visitation nur oberflächlich gedämpfte Konflikt zwischen dem katholischen Präsidenten Ingelheim und dem evangelischen Präsidenten Solms auch dem Streit um die konfessionelle Parität im Kameralkollegium immer neue Nahrung gab. Dies zeigte sich gerade 1711/12 sehr deutlich, als nach der Wiedereröffnung des RKG eine Welle von Präsentationen und Neuaufnahmen zur Wiederbesetzung der vielen vakanten Assessorate anrollte und bei anstehenden Aufschwörungen immer wieder ein Machtkampf um die Frage: katholisches Übergewicht oder strikte Parität zwischen den reichsständischen Assessoren? entbrannte 243 . Hätte die Visitation dem casu in receptione auf die parität zu sehen"); zu kurz greifende Behandlung des Problems bei C. TH. SUMMERMANN, Disputatio ... de paritate religionis, S.40 f. (Art.XIX). 242 Interims-Memoriale, Decreturn in Consilio Visitationis, Wetzlar, 6.2.1711, Or.: RKG IV A 1 fol.l; Druck: CJC, Anhang, S.ll f. (Zitat ebd., S.l2); s. auch BALEMANN, Beiträge, S.31. Zur politischen Geschichte dieser von 1707 bis 1713 tagenden außerordentlichen RKGVisitation s. zuletzt ARETIN, Das Alte Reich, Bd.2, S.l75 ff. 243 S. die Protokolle über die Auseinandersetzungen anläßlich der Aufschwörung des von Kurmainz präsentierten Katholiken Christoph Gottfried Frhn. v. Geismar vom 18. u. 20.5. 1711, in: RKG IV C 6 fol.l53v-156r u. 158v-16lr, sowie anläßlich der Rezeption, Vokation und Aufschwörung des aus der Stadt Mainz stammenden, auf Empfehlung Irrgelheims vom Schwäbischen Kreis katholischen Teils präsentierten Heinrich Christoph v. Braillard vom 16.9.1711, 22.1. und 14.3.1712, in: ebd., fol.254r-260v, 307v-315v, 339r-344. Solms und mit ihm die evangelischen Assessoren kämpften damals unter Berufung auf das Interesse des Corpus Evangelicorum darum, daß bei jedem Rezeptionsakt auf strikte konfessionelle Parität
II.3.1.3.2 Die Problematik des Paritätsprinzips
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seit Jahren zerstritteneu Kameralkollegium nicht auch in der Paritätsfrage durch sein zitiertes Dekret vom 6.2.1711 Zügel angelegt, wäre die von oben verordnete Einigkeit womöglich allein schon durch den konfessionellen Zündstoff rasch wieder gesprengt worden. Die 1711 dekretierte Norm wurde nochmals in § 24 des Visitationsabschieds von 1713 festgeschrieben, der "die Ungleichheit unter denen von den Ständen deß Reichs beyderley Religionen praesentirten Beysitzern ... hiemit, jedoch vorbehältlieh deß Kayserlichen Praesentations-Rechts" verbot und ein entgegenlautendes, von der katholischen Assessorenmehrheit durchgesetztes Plenarconclusum von 1686 aufhob. Die Visitation forderte in diesem Zusammenhang künftig die strikte Befolgung der Reichssatzungen und Friedensschlüsse. Die evangelischen Beisitzer, die in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts um Herstellung und Wahrung der numerischen Parität unter den reichsständischen Assessoren gekämpft hatten, erhielten also durch dieses Ausführungsgesetz zum Westfälischen Frieden und zum Jüngsten Reichsabschied eine späte Genugtuung244 • Das Kameralkollegium rezipierte diese 1711 und 1713 von der Visitation aufgestellten Grundsätze dann auch seinerseits ausdrücklich in einem Pienarbeschluß von 1719, in dem man sich auf eine Allhebung der jeweils gleichzeitig zu besetzenden reichsständischen Assessorate von 12 auf 16, das kaiserliche Assessorat mitgerechnet von 13 auf 17, einigte245 • 1721, als es darum ging, diese 1719 zwischen den reichsständischen Assessoren geachtet werden müsse. Sie riefen in diesen Streitigkeiten von 1711112 auch die Visitation an, die wiederum auf ihr Dekret vom 6.2.1711 verwies; s. auch schon VotumSolms vom 5.5.1711, in: RKG IV C 6 fol.129r-133r. Dagegen suchten Ingelheim und seine Partei durch ihre Zulassungspolitik zumindest zeitweise immer wieder ein katholisches Übergewicht herzustellen. Ingelheim, bestärkt und angetrieben durch den Kurfürsten von Mainz sowie durch den Kammerrichter und Kurfürsten von Trier, hatte schon 1709/10 auf Stärkung des katholischen Elements mittels rascher Rezeption katholischer Präsentierter gedrängt; s. dazu: Kf. Lothar Pranz von Mainz an Ingelheim, Bamberg, 30.4. 1709, Or.: RKG IV B 1/5 fol.11 A; Kammerrichter Kf. Johann Hugo von Trier an Ingelheim, Ehrenbreitstein, 5.1.1710, Or.: ebd., fol.11 8 (betr. Geismar); Ingelheim an Fstbf. Johann Franz von Konstanz, s.l., 13.1.1710, Konz.: RKG Misc.632 (betr. Braillard). 244 Vis.A. 1713 § 24 (zit. nach CJC, S.968). Das darin aufgehobene Plenarconclusum vom 25.10.1686 in: RKG IV C 2 fol.638v-641r, bes. 641r; vgl. zu der einseitigen Interpretation dieses Conclusums durch die katholische Plenarmehrheit das Plenarprotokoll vom 12.1.1687 in: ebd., fol.651r-653v; vgl. auch BALEMANN, Beiträge, S.31. 245 Pienardehatte vom 26.4.1719, in: RKG IV C 10 fol.47r-55v, bes. Conclusum fol.55r/v ("servata paritate religionis"); teilweise Wiederholung dieses Conclusums am 27.4.1719, aber ohne die Paritätsklausel: ebd., fo1.56r-57v. Damals wurde die Neuaufnahme von sechs (nicht acht, wie BALEMANN, Beiträge, S.20 f., schreibt) weiteren Präsentierten beschlossen. Das bedeutete, da zum Zeitpunkt dieses Conclusums 10 reichsständische Beisitzer wirklich amtierten, die Anhebung der Plansteilen-Obergrenze von bisher 12 auf 16, das damals vakante kaiserliche Assessorat nicht mitgerechnet. - Schon am 14.12.1712, als das Kameralkollegium die Anhebung der Plansteilen-Obergrenze von 8 auf 12 reichsständische Assessorate beschloß, wurde in den Voten auf Herstellung bzw. Beachtung der konfessionellen Parität bei der Re-
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Il.3. Die Besetzung der Assessorate
beschlossene Planstellenvermehrung durch sofortige Einberufung weiterer, bereits geprüfter und wartender Präsentierter "usque ad numerum 16" endlich zu realisieren, repetierte das Kameralkollegium nach erneut aufgeflammtem Streitsich selbst pazifizierend- nochmals und ftir beide Religionsteile verbindlich, daß dies "salva paritate religionis salvoque praesentando Caesareo" zu geschehen habe 246 • Die siebzehnte, dem kaiserlichen Assessor vorbehaltene und außerhalb der Paritätsgleichung stehende Planstelle wurde 1722 mit dem bisherigen Fränkischen Kreis-Assessor Philipp Friedrich v. Dresanus besetzt, der nach fast 56jähriger Vakanz des kaiserlichen Assessorats die von nun an wieder ununterbrochene Reihe der kaiserlichen Assessoren einleitete247 • Indem der Wiener Hof das kaiserliche Präsentationsrecht seitdem bis zum Ende des Alten Reiches nach jedem Todesfall sofort wieder ausübte, war dadurch die leichte katholische Mehrheit unter den Assessoren, so wie es der Westfälische Frieden intendiert hatte, gesichert. Der 1711113 von der Visitation dekretierte, 1719/21 ausdrücklich auch vom Kameralkollegium übernommene Grundsatz strikter konfessioneller Parität unter den von den Reichsständen präsentierten, gleichzeitig amtierenden Assessoren war seitdem dem Grunde nach kein Streitpunkt mehr in einem weiterhin von konfessionellen Animositäten und Kontroversen belasteten Kameralkollegium. Kontrolliert und gesichert durch die eindeutige Norm, achteten die beiden Religionsparteien von nun an in ihrer Aufnahmepraxis teils argwöhnisch, teils mit Selbstverständlichkeit darauf, daß bei Vokationen und Aufschwörungen neuer Assessoren das Paritätsgebot beachtet wurde 248 • Dies erforderte allerdings wezeption dieser vier zusätzlichen Assessoren gedrängt, ohne daß dies jedoch mit zum Beschluß erhoben wurde, s. RKG IV C 6 fol.592v-598r. 246 Pienardebatte vom 20.12.1721 in: RKG IV C 11 fol.455v-464r, bes. das Conclusum fol.460v (ebd. Zitat); s. auch schon eine ähnliche Pierrarabstimmung vom 19.6.1721 in: ebd., fol.204r-219v, mit entsprechendem Conclusum fol.219v: "daß es beydem den 27. Apri1is 1719 errichteten Concluso ad recipiendos sedecim Assessores, jedoch sa1va omnino paritate re1igionis, sein Verpleiben haben solle"; vgl. BALEMANN, Beiträge, S.31 f. 247 Die Namen und Amtsdaten der ab 1722 amtierenden kaiserlichen Assessoren: Philipp Friedrich Edler v. Dresanus (1722-1731 ), Nikolaus v. Deel Edler zu Deelsburg (1733-1739), Johann Christoph Veit Edler v. Tönnemann (1740-1759, Biogr. 50), Theodor Kar! Edler de l'Eau (1760-1782, Biogr. 51), Aloys Joseph Frh. Maurer v. Kronegg (1783-1805, Biogr. 52). 248 V gl. auch die betreffenden Passagen in den beiden Entwürfen des Assessors Harpprecht von 1769 für eine Neufassung von Tl.l Tit.2 des alten, von 1613 stammenden Konzepts der KGO, in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.20 u. 24. In diese Entwürfe für einen revidierten zweiten Titel, der das Präsentationssystem nach dem damaligen Stand darstellte, schrieb Rarpprecht jeweils in§ 3 und§ 4 auch die Verpflichtung des Kameralkollegiums zur gerrauen Beobachtung der Konfessionsparität bei Neuaufnahmen ein und hielt fest, daß die Mehrheit von einer katholischen Stelle nur durch den kaiserlichen Beisitzer entstehen konnte; vgl. ähnlich den parallelen Revisionsentwurf des Assessors Loskand ebd., S.17 (§§ 6 u. 7).
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gen des Mißverhältnisses von finanzierbaren Planstellen einerseits, Präsentationsberechtigungen und wartenden Präsentierten andererseits um des Konfessionsfriedens willen immer wieder umständliche Operationen, was die Reihung der einzuberufenden reichsständischen Präsentierten betraf. So hatte unter Umständen ein bereits geprüfter und für rezeptibel, d.h. flir aufnahmefähig erklärter Präsentatus, der auf den ersten Platz in der Warteschlange vorgerückt war, dennoch bei der nächsten Erledigung einer Planstelle das Nachsehen, weil er nicht dieselbe Konfession besaß wie der verstorbene oder zurückgetretene Assessor. Ein hinter ihm wartender Präsentatus mit der- im Sinne der Parität- 'richtigen' Konfessionszugehörigkeit mußte ihm bei der Vokation vorgezogen werden249 • Das Problem der langen Wartezeiten wurde also durch das Paritätsgebot noch verschärft. Oder ein Präsentatus, der nach jahrelanger Wartezeit endlich auf eine vakant gewordene Planstelle 'seiner' Konfession einberufen wurde, verzichtete auf den Amtsantritt und brachte damit die ganze Paritätskalkulation durcheinander. Bei der Entscheidung des Kameralkollegiums, die durch den Reichsschluß von 1775 beschlossene Anhebung derbesoldbaren Planstellen von 17 auf 25 (bei nunmehr 27 Präsentationsberechtigungen) auf einen Schlag zu realisieren, indem nämlich alle acht neuen Assessoren am selben Tag, dem 1.6.1 782, vereidigt und introduziert wurden, handelte es sich nicht zuletzt um eine konfliktfreie Lösung des Problems, im Zuge dieser sehr komplikationsreichen Vermehrungsaktion die Parität zwischen den von den Kurfürsten und Kreisen präsentierten Beisitzern zu wahren250 • Die Geschichte des im Kameralkollegium ausgetragenen Paritätskonflikts offenbart einen weiteren Bereich, in dem es bei der praktischen Umsetzung des 1648/54 auf dem Papier entworfenen neuen Präsentationsschemas, verschuldet durch die inkonsequente Haltung der Gesetzgeber selbst, zu einer Reibung zwischen Norm und Wirklichkeit kam. Hätten nach 1654 die einlaufenden Kammerzieler dazu ausgereicht, alle friedensschlußmäßigen 50 (davon 48 reichsständische) Assessorate auch wirklich zu besetzen, und wären nach dem Reichsschluß von 1719/20, der das Doppelschema von 1648/54 angesichtsdes Unterhaltsmangels nunmehr auch de jure halbierte, wenigstens diese nunmehr 25 projektierten Planstellen (davon 24 reichsständische) seitdem auch wirklich alle gleichzeitig finanzierbar gewesen251 , dann hätte jedes erledigte Assessorat sofort nach der erfolgreichen Examinierung des Nachfolgekandidaten wiederbesetzt 249 Dazu s. außer der gesamten Aufnahmepraxis selbst auch TAFINGER, Institutiones, Sectio I. et II., S.377; PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.24 f., 38 f.- Über den mit der kaiserlichen Präsentation verbundenen Vorzug sofortiger Einberufung s. die vorausgegangene Darstellung. 250
Zu der Vermehrungsaktion von 1775/82 s.u. Kap.II.3.1.4.2.
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Über den nicht realisierten Reichsschluß von 1719/20 s.u. Kap.II.3.1.4.1.
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werden können. Die Parität zwischen den von den Reichsständen präsentierten evangelischen und katholischen Beisitzern hätte sich so automatisch wieder hergestellt. Angesichts der traditionellen und professionellen Normentreue der Wetzlarer Richter signalisierte es einen erstaunlichen, durchaus als Anpassungsleistung zu wertenden Mentalitätswandel, wenn das Kameralkollegium im allerletzten Jahrftinft seiner Existenz, mitgerissen vom Strudel allgemeiner Auflösungserscheinungen, den Paritätsgrundsatz in der Besetzungspraxis nicht mehr strikt befolgte und wenn einige Assessoren sogar seinen Sinn grundsätzlich in Frage stellten. Damals wurde das Gericht von der berechtigten Sorge umgetrieben, daß die Kriegswirren der vergangenen Jahre, der Verlust des linken Rheinufers und die bevorstehenden territorialen Veränderungen im Restreich in naher Zukunft einen gravierenden Rückgang der eingehenden Kammerzieler verursachen würden. Um dennoch sicherzustellen, daß alle amtierenden Assessoren auch weiterhin ihr Gehalt in der gesetzlich garantierten Höhe beziehen konnten, beschloß das Kameralkollegium im März 1802, die seit 1775 reichsgesetzlich geltende und seit 1782 auch dauernd realisierte Planstellenzahl von 25 (13 + 12) gleichzeitig besetzten Assessoraten provisorisch auf 21 (11 + 10) herabzusenken. Und zwar sollten unter Einhaltung des Paritätsgebots je zwei katholische und je zwei evangelische Richterstellen, die durch Tod oder Amtsverzicht demnächst vakant werden würden, so lange offengehalten werden, bis Kaiser und Reich die eingetretenen Verluste an Kammerzielern ausgleichen würden. Das durch kaiserliche Präsentation besetzte Assessorat wurde von diesem Beschluß ausdrücklich ausgenommen252. Während sich jedoch die Zahl der katholischen Assessoren erstEnde 1805 durch zwei kurz nacheinander eingetretene Todesfalle von 13 auf 11 (einschließlich des kaiserlichen) verringerte, sank die Zahl ihrer evangelischen Kollegen nach mehreren Resignationen schon im Juli 1804 über die anvisierte Zahl von 10 hinaus sogar auf 9, so daß auf einmal ein Mißverhältnis von 13 katholischen zu 9 evangelischen Beisitzern herrschte. Um wenigstens das zehnte evangelische Assessorat wiederzubesetzen, einigte sich eine Mehrheit des Plenums im Juli 1804 auf die sofortige Einberufung des schon seit fast zwei Jahren 252
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a
Pierrarprotokolle und-votenvom 12., 13., 16. u. 22.3.1802 m: RKG IV C 68 fo1.25 -52, bes. Conclusum vom 22.3.1802 ebd., fo1.52 (vgl. auch schon die Protokolle der vorausgegangenen Plenarsitzungen vom 15. u. 17.2.1802, in: RKG IV B 2/30 neufol.l-3 u. passim bis neufo1.44-49); Kammerrichter-Amtsverweser Reigersberg an den Reichsvizekanzler Colloredo, Wetzlar, 29.3.1802, Or. mit Beilagen in: HHStA W, RK- RKG-Visit.A. 378; das RKG an Kaiser Franz II., Wetzlar, 7.5.1802, Or. mit Beilagen: ebd.; darüber Vortrag des Reichsvizekanzlers an den Kaiser, Wien, 9.7.1802, Or.: ebd.; ähnlich das RKG an den Reichserzkanzler und Kurfürsten von Mainz sowie an die Reichsversarnmlung, Wetzlar, 14.5.1802, Konzz. mit Beilagen in: RKG IV C 68 fol.63-67; in RKG IV C 68 sowie in HHStA W, RK- RKGVisit.A. 378, befinden sich zahlreiche weitere Protokolle, Korrespondenzen und Beilagen aus dem Jahre 1802 zu diesem Thema.
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auf seinen Amtsantritt wartenden Präsentatus Neurath - und tolerierte selbst mit diesem Beschluß, was in früheren Zeiten ganz undenkbar gewesen wäre, immerhin noch eine Disparität von 13 katholischen zu 10 evangelischen Assessoraten253. Eine Minderheit von sowohl katholischen als auch evangelischen Beisitzem votierte jedoch damals, durch den Reichsdeputationshauptschluß in ihren schlimmsten Befürchtungen noch bestärkt, aus Sorge um eine Kürzung des eigenen Gehalts gegen die Wiederbesetzung selbst dieses zehnten evangelischen Assessorats. Diese Minorität erstrebte nur eine möglichst schnelle Verminderung der besetzten Assessorate um absolut 4 auf 21 Stellen, gleich welcher Konfession, und nahm dafür die krasse konfessionelle Disparität von 13:9 in Kaue 54 • Dabei wurden diese Beisitzer nicht nur von puren Nützlichkeitserwägungen geleitet. Sie stellten überdies die Notwendigkeit, in der Aufnahme- und Besetzungspraxis auch unter den gegenwärtigen Bedingungen weiterhin nach strikt paritätischen Gesichtspunkten zu verfahren, mit Argumenten in Frage, die den grundsätzlichen Wandel vom Religionseifer zum Pragmatismus und zur religiösen Toleranz, ja zur Indolenz deutlich spiegeln. Sie hielten eine ungefahre Balance zwischen evangelischen und katholischen Assessoren fiir völlig ausreichend, schon allein deshalb, weil das Recht zur "itio in partes" ohnehin die Minderheit schütze, weil unter den Prozeßmaterien kaum noch Religionsangelegenheiten zu finden seien und weil notfalls in einem mit einer Religionssache befaßten Senat, der nicht strikt paritätisch besetzt sei, "ficta paritas" eintrete. Der Österreichische Kreis-Assessor Maurer folgerte deshalb aus seinem Plädoyer für eine nur relative Austarierung, einen 150 Jahre alten Grundsatz der Reichsverfassung über Bord werfend: "Eine noch strengere Rücksicht aufReligions-Paritaet scheint der Geist des Zeitalters nicht zu fadem[!]; auch lehnt sich weder die innere noch die 253
Die hier und im folgenden referierte Pienardehatte vom 5.7.1804 s. in: RKG IV B 2/31 neufol.114v-136v. Bei dem Einzuberufenden handelte es sich um den vom Obersächsischen Kreis präsentierten Konstantin Franz Fürchtegott v. Neurath, der nach erfolgreicher Zensur seiner Proberelation schon am 13.11.1802 für rezeptibel erklärt worden war. Neuraths Vokation und Aufschwörung hatte schon damals - bei einem Personalstand von 13 katholischen zu 11 evangelischen Assessoren- zur Diskussion gestanden, war aber wegen der ungeklärten Unterhaltsprobleme noch ausgesetzt worden; s. RKG IV C 68 fol.164 u. 199-215 (18. u. 19.11.1802), auch RKG IV B 2/30 neufol.305v (19.11.1802); Kammerrichter-Amtsverweser Reigersberg an den Reichsvizekanzler Colloredo, Wetzlar, 19.11.1802, Or. mit Beilagen: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 378. Wenn die Mehrheit des Kameralkollegiums am 5.7.1804 trotz weiter verschlechterter Unterhaltslage dennoch für die sofortige Einberufung Neuraths stimmte, spielte dabei vermutlich auch Rücksicht auf dessen Vater, den seit 1782 amtierenden Beisitzer Johann Friedrich Albrecht Konstantin v. Neurath, eine Rolle; s. Biogr. 104 (J.F.A.K. Neurath) u. Biogr. 118 (K.F.F. Neurath). 254 Die Assessoren Ditfurth und von der Becke votierten sogar dafür, noch weitere 4 Stellen nach ihrer Erledigung unbesetzt zu lassen, also die Zahl der gleichzeitig amtierenden Assessoren auf 17 zu senken; s. RKG IV B 2/31 neufol.130 f. (von der Becke), 133v u. 135r (Ditfurth).
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Il.3. Die Besetzung der Assessorate
äußere Politik des deutschen Reichs auf das getheilte Interesse der katholischen und protestantischen Kirche, welches das Toleranz-System so allenthalb ziemlich neutralisirte" 255 • Ohnehin erachtete der Burgundische Kreis-Assessor Stein jeden seiner Kollegen "für zu rechtschaffen, als daß ich glauben sollte, die Justiz würde, wenn nicht paritas religionis secundum numerum beobachtet werde, darunter leiden. Zudem gilt ja ficta paritas, die allem vorbeugt; auch ist unsere Kasse weder katholisch noch protestantisch, so wie auch der Hunger keine Religionsgleichheit kennet" 256 • Konsequent zu Ende gedacht, hätten diese Argumente nicht nur die Einberufungspraxis des Kameralkollegiums aus der Zwangsjacke des numerischen Paritätsprinzips befreit. Vor allem hätten sie auf lange Sicht auch die normative Matrix, das 1648/54 eben zugunsten dieses Prinzips kreierte und seitdem nur modifizierte doppelte Präsentationsschema mitsamt der Konfessionsbindung der einzelnen Präsentationsberechtigungen ad absurdum gefiihrt. Was 1648/54, nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, als friedensstiftendes Element in die Reichs- wie in die Kameralverfassung eingefiihrt worden war, nahm um 1800 unter der Vorherrschaft gänzlich neuer Interessen und Wertvorstellungen Züge der Versteinerung an. Der Existenzdruck, dem das RKG in den Jahren vor seiner Auflösung ausgesetzt war, brachte diesen Wandel nicht in Gang, sondern machte ihn nur deutlich. 3. Strittige Kreispräsentationen Der dritte Konfliktbereich, der die Wirklichkeit des Präsentationswesens in den anderthalb Jahrhunderten nach der großen Umstrukturierung von 1648/54 belastete und das System unter Druck setzte, umfaßte die präsentationsrechtlichen Streitigkeiten auf der Ebene der Kreispräsentationen. Anders als die beiden bereits beschriebenen Problemfelder wurde diese dritte Komplikation nicht durch finanzielle Vernachlässigung des Gerichts seitens der Reichsstände oder durch ein bereits im Idealschema von 1648/54 angelegtes Strukturproblem verursacht, sondern dadurch, daß diesem Doppelschema der Unterbau fehlte. Das evangelische und das katholische Präsentationsschema warfen außer den Kurfiirsten und 255 Votum Maurer, 5.7.1804, in: RKG IV B 2/31 neufol.119-123 (Zitat neufo1.122v-123r); Maurer ebd., neufol.119r: "Es gilt gleich viel, ob man eines katholischen oder eines protestantischen Praesentati wegen im Gehalt verkürzt zu werden in Gefahr geräth". 256 Votum Stein, 5.7.1804, in: RKG IV B 2/31 neufo1.124-129 (Zitat neufo1.128v); s. auch Votum von der Becke ebd.,neufol.130 f., bes. neufol.130v-131r mit dem abschließenden Ausruf: "Wie ist es auch denkbar, daß die beym Gericht anwesenden Beysitzer ihre Besoldung nicht beziehen oder der Gefahr einer Verkürzung ausgesetzt werden sollten, blos weil es der Zufall nicht gewollt hat, daß die Vacaturen sich nach der Religion richten? Ich gestehe, daß ich davon keinen Begriff habe".
II.3 .1.3 .3 Strittige Kreispräsentationen
287
dem Kaiser nur die Reichskreise als solche mit der ihnen jeweils zustehenden Anzahl von Präsentationsberechtigungen aus. Es fehlte jedoch ein Spezialschema für jeden Kreis, d.h. eine reichsgesetzlich verbindliche Feststellung derjenigen Stände, die kreisintern am Nominations- und Präsentationsrecht teilhatten. Ein solches Regulativ wäre zwar weniger für die kurfürstengleiche Österreichische und Burgundische Kreispräsentation, die ohnehin nur einen einzigen Präsentanten besaß, erforderlich gewesen, wohl aber für die 'echten' Kreispräsentationen mit kuriatem Präsentationsrecht Die frühen Kammergerichtsordnungen von 1507 und 1521 hatten zwar eine Reihe von Kreisständen aufgezählt, die an den einzelnen Kreispräsentationsrechten teilhaben sollten, und im Anschluß an die revidierte KGO von 1548 hatten die letzte reichsgesetzlich verabschiedete KGO von 1555 sowie das Konzept der KGO von 1613 Geweils Tl.l Tit.2) diese Liste fast unverändert übernommen. Jedoch war diese Beschreibung der Binnenstruktur der einzelnen Kreispräsentationen schon damals ganz unzureichend gewesen, und ihre Autoren hatten letztlich, wie der 1548 und 1555 (in Tl.l Tit.2 § 7) formulierte und 1613 wiederholte Rechtsvorbehalt für die namentlich nicht mitgenannten, aber auf Mitbeteiligung pochenden Kreisstände zeigt, angesichts der verwirrenden Fülle von possessorischen und petitorischen Ansprüchen resigniert. Nach der Neugliederung der Kreispräsentationen 1648/54 wäre ihre reichsgesetzliche Regulierung in Gestalt eines Spezialschemas für jeden Kreis um so nötiger gewesen257 • Tatsächlich nahmen die Reichsstände ein solches "schema praesentantium wegen deren in jedem Kreis präsentierender Partikular-Ständen" 1653/54 auf dem Regensburger Reichstag in Angriff, konnten sich jedoch darüber angesichts der auftauchenden Streitigkeiten nicht einigen. Infolgedessen mußte eine aktualisierte reichsgesetzliche Norm für die Binnenstruktur der kuriaten Kreispräsentationen "vor diesmal ausgestellt verbleiben" und den einzelnen Kreisen überlassen werden258 • Auch in den noch folgenden 150 Jahren sollte 257 Die Neugliederung der Kreispräsentationen von 1648/54 bestand vor allem aus der Aufteilung der konfessionell gemischten Kreise auf das evangelische und das katholische Schema, der Teilung der bisher einen Sächsischen Kreispräsentation in eine Niedersächsische und eine Obersächsische, ferner der Schaffung zweier neuer altemierender evangelischer Präsentationen für den Ober- und Niedersächsischen Kreis sowie für die evangelischen Stände der vier konfessionell gemischten Kreise; s.o. in Kap.II.3.1.2.2. die Beschreibung des normativen Doppelschemas von 1648/54.- Über die mangelhafte reichsgesetzliche Regulierung des Präsentations- und Nominationsrechts innerhalb der einzelnen Kreise schon in den Kammergerichtsordnungen von 1507, 1521, 1548 und 1555 sowie im Konz. KGO 1613 s.o. Kap. II.3.1.1. mit Anm.22-30 (ebd. mit Anm.28 u. 30 Nachweise zu dem erwähnten Rechtsvorbehalt). 258 JRA 1654 §§ 29 u. 30 (ebd. Zitate, zit. nach LAUFS, JRA 1654, S.22); vgl. ergänzend ebd. § 31 (in bezugauf den Niederrheinisch-Westfälischen Kreis) und § 33 (in bezugauf den Oberrheinischen Kreis); dazu, die §§ 29 und 30 richtig interpretierend, BALEMANN, Beiträge, S.80; auch MOSER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, S.139; MOSER, Justiz-Verfas-
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
kein Reichsgesetz mehr zustande kommen - sei es im Rahmen einer revidierten Kammergerichtsordnung, sei es in anderer Form -, das mehr als nur den "bloßen Grundriß" 259 eines Präsentationsschemas mit den einzelnen Präsentationsberechtigungen der Kurfiirsten, des Kaisers und der Kreise enthielt. Da es 1654 schon nicht gelang, die innerhalb der Kreispräsentationen teilnahmeberechtigten Stände im Jüngsten Reichsabschied zu erfassen, unterblieb folgerichtig auch eine reichsgesetzlich verbindliche Beschreibung und Regulierung des in den einzelnen Kreisen gültigen, äußerst vielgestaltigen Nominations- und Präsentationsmodus, d.h. der Art und Weise, wie die zum Teil recht große Zahl partizipierender Kreisstände entweder gemeinschaftlich oder im Turnus an der Ausübung ihres korporativen Präsentationsrechts mitwirken sollten. Wie schon in der ersten Periode des Präsentationswesens blieb diese nur vordergründig technische, in Wirklichkeit hochpolitische Frage auch nach 1648/54 stillschweigend den Kreisen überlassen. Eine Synopse der verschiedenen Nominationsund Präsentationsmodi läßt sich daher- ebenso wie ein Überblick über die Teilnehmer- aus keinem Reichsgesetz, sondern nur aus der Kameralliteratur des 18. Jahrhunderts gewinnen, die wiederum auf der für die einzelnen Kreise verfaßten Spezialliteratur, kreisinternen Vergleichen und anderen einschlägigen Quellen fußt260.
sung, T1.2, S.407; Loskand, in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.16; PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.l8; vgl. jetzt auch GöTTE, Der Jüngste Reichsabschied, S.l26 f., dazu S.49 f.; keine Erwähnung dieser gescheiterten Verhandlungen in den kursorischen Bemerkungen von MüLLER, Regensburger Reichstag, S.233. 259
260
BALEMANN, Beiträge, S.80.
Solche Überblicke über sämtliche Kreispräsentationen liefern einige der letzten Kameralschriftsteller, so BALEMANN, Beiträge, S.96-159; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.ll0-126; am ausfiihrlichsten KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.139-292 (mit der einschlägigen Spezialliteratur ftir jeden Kreis). Die durch Aktenabdrucke aufgeblähte Darstellung der Kreispräsentationen bei MasER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, S.l38-286, beschreibt nur die Verhältnisse bis 1733. Auch alle anderen vor den siebzigerund achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts erschienenen Werke können die z.Tl. erst nach dem Reichsschluß von 1775 abgeschlossene Entwicklung der einzelnen Kreispräsentationen zwangsläufig nicht vollständig nachzeichnen. Einen äußerst knappen, der Detailfülle und den Schwierigkeiten kaum gerecht werdenden Abriß bietet SMEND, Reichskammergericht, S.275-278; neuerdings, vor allem in Anschluß an Kamptz, DOTZAUER, Die deutschen Reichskreise (1383-1806), S.469 ff., bes. 471 ff. (z.Tl. fehlerhaft).- Der hier und im folgenden unternommene Versuch eines zwangsläufig stark abstrahierenden Überblicks über die Problematik der Kreispräsentationen beruht nicht nur auf der älteren Kameralliteratur, sondern vor allem auch auf der gerrauen Kenntnis sämtlicher beim ehemaligen Kameralarchiv erwachsener und im "Untrennbaren Bestand" überlieferter Präsentationsakten (RKG IV B 1114 u. 16-27) sowie der zugehörigen Plenarprotokolle (Protokollserien RKG IV C und RKG IV B 2). Aus diesen von Kamptz, Smend und Dotzauer nicht benutzten ungedruckten Präsentationsakten (Korrespondenzen und Beilagen) der einzelnen Kreise läßt sich der jeweils praktizierte Nominations- und Präsentationsmodus meist nur sehr mühsam herausdestillieren. Angesichts der großen Variationsbreite sind die Verfahrensweisen der einzelnen Kreise nicht auf einen Nenner zu bringen. Zu unterscheiden
II.3.1.3.3 Strittige Kreispräsentationen
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Nicht nur erlahmende legislatorische Gestaltungskraft und Desinteresse, sondern zuallererst die in der Sache selbst liegenden Schwierigkeiten verursachten dieses reichsgesetzliche Defizit in Gestalt fehlender Spezialschemata für die Kreispräsentationen. Die Reichsstände kapitulierten 1654 vor den komplexen und komplizierten Strukturen, in denen sie als Kreisstände lebten. Den Schwierigkeiten, vor denen der Regensburger Reichstag 1653/54 gestanden hatte, gaben rund 120 Jahre später auch Assessoren und Kameralschriftsteller, die sich mit den internen Verhältnissen der Kreispräsentationen befaßten, beredten Ausdruck. Der Assessor Johann Heinrich Freiherr v. Harpprecht, einer der 1767/68 von der letzten Visitation beauftragten Revisoren der Kammergerichtsordnung, fand die ganze Materie "hochbeschwerlich" und seufzte angesichts der in den Kreisen vorgefundenen unübersichtlichen Vielfalt von Besitzrechten und ungeklärten Ansprüchen hinsichtlich Teilnehmerkreis und Nominations- sowie Prä-
sind für die kuriaten Kreispräsentationen aufjeden Fall Nomination und Präsentation: Nomination bedeutet die Erwählung und Benennung eines Juristen, der auf ein vakantes RKGAssessorat präsentiert werden soll. Durch die Präsentation im eigentlichen Sinne wird dieser nominierte Kandidat bzw. werden mehrere nominierte Kandidaten in einem förmlichen Präsentationsschreiben dem Kameralkollegium angezeigt und zur Prüfung sowie - "nach befundener Qualifikation"- zur Auswahl und Rezeption vorgeschlagen. Bei allen monozentrischen Präsentationsbefugnissen, also denen der Kurfürsten, des Kaisers, des Österreichischen und Burgundischen Kreises, fielen Nominationsrecht (ius nominandi) und Präsentationsrecht im engeren Sinne (ius praesentandi) in einer Hand zusammen. Aber auch bei einigen kuriaten Kreispräsentationen mit reinem Nominations- und Präsentationsturnus war dies der Fall, so daß hier der turnusmäßig an die Reihe gekommene Kreisstand (Turnarius) unabhängig von der Mitwirkung anderer Kreisstände einen Juristen sowohl nominierte als auch dem Karneralkollegium präsentierte. Bei allen anderen kuriaten Kreispräsentationen waren Nomination und Präsentation nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch getrennt. Dabei stand die Nomination entweder turnusmäßig einem einzelnen Kreisstand bzw. einer Ständegruppe wie den Grafen oder den Reichsstädten zu (Nominationsturnus) oder erfolgte immer gemeinschaftlich von sämtlichen Kreisständen (kuriates Nominationsrecht). Dagegen erging dann das Präsentationsschreiben für die auf diese Weise nominierten Kandidaten nur vom Kreisausschreibamt oder auch von den Direktoren aller Bänke im Namen des ganzen Kreises. Weitere Varianten kamen vor. Die Nomination war jedenfalls immer eine interne Angelegenheit des Kreises, während die Präsentation im engeren Sinne immer einen externen Rechtsakt in bezug auf das Kameralkollegium darstellte. Neben diesem Unterschied zwischen Nomination und Präsentation im engeren Sinne, dessen Kenntnis für das Verständnis der kuriaten Kreispräsentationen eine Grundvoraussetzung bildet, gab es den undifferenzierten, weiteren Begriff von Präsentation und Präsentationsrecht, der auch die Nomination bzw. das Nominationsrecht mit einschloß. Zu dieser Begrifflichkeit s. neben anderen Kameralschriftstellern auch MOSER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, S.7 f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.1 ff., 145-152.Die in den einzelnen Kreisen üblichen Nominations- und Präsentationsmodi samt den dadurch ausgelösten Konflikten sind gerrauer den in Teil II dieser Untersuchung enthaltenen Biographien Geweils Punkt V) zu entnehmen, und zwar den Präsentationsverläufen derjenigen Juristen, die von einem Reichskreis auf ein RKG-Assessorat präsentiert wurden.
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Il.3. Die Besetzung der Assessorate
sentationsmodus: "Wollte man ein Ganzes daraus machen, so würde das Werk einen ganzen Tractat geben" 261 • Dieser Satz behält bis heute seine Gültigkeit262 . Mangels einer reichsgesetzlichen Feststellung bildeten also auch nach 1648/54, und zwar noch mehr als in der vorausgegangenen Periode, kreisinterne Verträge, unfixiertes Herkommen und langwährender Besitz (possessorium) die Grundlage für die Nominations- und Präsentationsrechte in den einzelnen Kreisen263 . Benachteiligten Kreisständen war es von Reichs wegen unbenommen, um ihre Partizipationsansprüche zu kämpfen (petitorium). Für sie galt weiterhin der vieldeutige Rechtsvorbehalt, mit dem sich die Reichsgesetzgebung schon in den Ordnungen von 1548 und 1555 sowie im Konzept der KGO von 1613 beholfen hatte 264 .
261 Harpprecht in: SELCHOW, Concepte, S.29; s. auch ebd., S.18 ("hochbeschwerlich"), 27, 31; vgl. Loskand in: ebd., S.16 f.; BALEMANN, Beiträge, S.77, 159 ("Labyrinth von Weitläuftigkeiten"). 262
Die ältere Kameralliteratur über die Kreispräsentationen im allgemeinen und besonderen füllt eine kleine Bibliothek; vgl. außer den am Anfang von Anm.260 angeführten Werken die Literaturangaben zu den einzelnen Kreispräsentationen bei KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.139 ff., bes. S.l53 ff.; neuerer, weitgehend auf Kamptz beruhender und z.Tl. fehlerhafter Überblick über die Kreispräsentationen bei DOTZAUER, Die deutschen Reichskreise (13831806), S.469 ff., bes. 471 ff.; nur sporadische Hinweise zum Präsentationsrecht der einzelnen Reichskreise bei DOTZAUER, Reichskreise in der Verfassung, passim. Mit Ausnahme der fragmentarischen Skizze bei SELLERT, Reichskreise, S.l67 f., erwähnen die meisten Aufsätze über einzelne Reichskreise in HARTMANN (Hg.), Regionen in der Frühen Neuzeit, das Präsentationsrecht der betreffenden Kreise und dessen praktische Ausübung nicht. Auch in der Untersuchung von HARTMANN, Der Bayerische Reichskreis, finden sich in Kap. V, S.295 ff., über "Entwicklung und Aktivitäten des Bayerischen Kreises von 1500 bis 1803" nur einige beiläufige Bemerkungen zu Präsentationsrecht und -praxis dieses Kreises. Dasselbe gilt für die einschlägigen Beiträge in WüST (Hg.), Reichskreis und Territorium, s. ebd. S.28, 144, 236 f., 309,319,339. 263 So zusammenfassend auch MasER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, S.l40; DERS., Justiz-Verfassung, Tl.2, S.407.
264 KGO 1548 Tl.l Art.2 (letzter Absatz); KGO 1555 u. Konz. KGO 1613, jeweils Tl.l Tit.2 § 7 (Zitate u. Nachweise s.o. Kap.II.3.1.1. mit Anm.28 u. 30); vgl. in bezugauf den Niederrheinisch-Westfälischen Kreis JRA 1654 § 31, in bezug auf den Oberrheinischen Kreis ebd. § 33 (LAUFS, JRA 1654, S.22 f.). Die Assessoren Loskand und Harpprecht nahmen diesen Rechtsvorbehalt 1768/69 in ihre Revisionsentwürfe auf, s. SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.l7 (§ 5), S.21 f. (§ 9), S.26 (§ 14); s. auch BALEMANN, Beiträge, S.158 f.; KAMPTZ, PräsentationsRecht, S.l47.- KAMPTZ, ebd., S.146, glaubte "die Regel aufstellen zu können: alle wirklichen Stände eines Kreises haben das Recht der Theilnahme an der demselben zustehenden Präsentation". Er setzte jedoch sogleich hinzu: "So die Theorie, von welcher jedoch in mehreren Kreisen die Praxis abweicht"; vgl. auch MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.l26. Nur im Fränkischen, Schwäbischen, Niederrheinisch-Westfälischen und Obersächsischen Kreis blieb die Teilnahme aller Kreisstände am Nominationsrecht erhalten, in den übrigen Kreisen erfolgte, schon lange vor 1648 einsetzend, eine mehr oder weniger starke Konzentration und Monopolisierung der Rechte zu Lasten mindermächtiger Kreisstände.
II.3.1.3.3 Strittige Kreispräsentationen
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Als Folge dieser weitgehend offenen Situation war die Regulierung der Kreispräsentationen, und zwar erstens die verbindliche Benennung der Teilnehmer, zweitens die Festlegung des Nominations- und Präsentationsmodus, nach der großen Umstrukturierung des Präsentationsschemas von 1648/54 weitgehend dem freien Spiel der Kräfte innerhalb der Kreise ausgesetzt und gab fast überall Anlaß zu einer Kette von Streitigkeiten. Dabei wurden nur vorläufige oder zweideutige Verträge wie zum Beispiel die 1654 im Niedersächsischen Kreis getroffene provisorische, jedoch nie mehr durch eine endgültige Vereinbarung ersetzte Regelung in der Folge eine Quelle ständig neuer Auseinandersetzungen265 • Abgesehen von ungeklärten Verfassungsverhältnissen äußerte sich in diesen Querelen und ihren Ergebnissen, eingekleidet in Rechtsfragen, immer das Machtprofil innerhalb der einzelnen Kreise, bestehend aus konkurrenzlosen oder konkurrierenden Machtzentren und Machtgefälle. Die Konfliktträchtigkeit der kuriaten Kreispräsentationen wurde laufend noch dadurch erhöht, daß sich die Besitzund damit die Machtverhältnisse in den Kreisen durch das Erlöschen kreisständischer Häuser und die daraus folgenden Erbfälle oder durch Besitzverschiebungen infolge von Friedensschlüssen ständig veränderten. Dieses Element der Dynamik machte es - abgesehen von mangelnder Konsensbereitschaft - besonders schwer, die Kreispräsentationen in ein "beständiges und festes Sistem" zu bringen und dieses dann auch beizubehalten, "wie doch bei einem Gesetze gleich der Kammergerichtsordnung nöthig ist" 266 • Die Streitigkeiten um Nominations-und Präsentationsrechte in den Kreisen erhielten noch dadurch eine besondere Sprengkraft, daß hinter an sich nur mittelgroßen oder kleinen Kreisterritorien auf dem Weg über Personalunionen häufig mächtige Kurfürsten standen- so Brandenburg-Preußen im Ober- und Niedersächsischen Kreis, im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis sowie ganz zuletzt über Ansbach-Bayreuth auch im Fränkischen Kreis-, die ihre legitimen oder angemaßten Rechtsansprüche mit besonderer Kompromiß- und Rücksichtslosigkeit verfolgten. Verlauf und Bereinigung solcher nominations- und präsentationsrechtlichen Streitigkeiten ließen das Kameralkollegium und das Reich solange unberührt, als diese Konflikte kreisintem, z.B. auf Kreistagen oder auf dem Korrespondenzweg, unabhängig von konkreten Präsentationshandlungen ausgetragen wurden. In solchen Fällen führten langanhaltende Differenzen und Verhärtung der Fronten schlimmstenfalls dazu, daß die zerstritteneu Kreisstände ihr Nominationsund Präsentationsrecht jahrzehntelang nicht wahrnehmen konnten. Im Fall der 265 Über die Ende 1654 im Niedersächsischen Kreis verabschiedete, wegen mangelnder Konsensfähigkeit nur provisorische Regulierung der 1648 neugeschaffenen Niedersächsischen Kreispräsentation s. mit weiteren Nachweisen KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.262 ff., 268 ff., mit Beilage S.364 f. (Auszug aus dem Niedersächsischen Kreisabschied vom 4.12.1654). 266 So Loskand anläßlich seines Entwurfs für eine revidierte Fassung des Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.2, in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.l6.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Niederrheinisch-Westfälischen Kreispräsentation dauerte diese Selbstblockierung von 1609 an sogar 170 Jahre267 . Die mittel- oder längerfristige Stagnation einzelner Kreispräsentationen hatte im Zeichen chronischer Besoldungsnot und Unterbesetzung des Kameralkollegiums höchstens insofern Folgen, als die betreffende Region entgegen den Intentionen der Kammergerichtsordnung nicht mit einem in ihren Partikularrechten bewanderten Beisitzer vertreten war. Zu einer gravierenden Belastung für das Kameralkollegium wurden diese Präsentationskonflikte erst dann, wenn sie im Vollzug des Präsentierens ausgefochten wurden oder dabei überhaupt erst entstanden, z.B. wenn Kreisstände zumeist in Konkurrenz mit anderen ihre berechtigten oder vermeintlichen Ansprüche über die Präsentation eines Kandidaten durchzusetzen suchten oder wenn sie ihr an sich legitimes Recht durch irreguläres Verhalten auf Kosten anderer Kreisstände überzogen. Angesichts dieser sich wegen der Unklarheit der Rechtslage und der Hartnäckigkeit der Kontrahenten zumeist über Jahre hinziehenden Streitfälle ist die Geschichte des kammergerichtliehen Präsentationswesens im 18. Jahrhundert, geschrieben aus der Perspektive des Kameralkollegiums, eine wahre Leidensgeschichte. Dasselbe gilt für die betroffenen Juristen, die von einem Kreisstand eine Präsentation mit problematischer Legitimation erlangt hatten. Die gebrochenen, oft nur fragmentarisch gebliebenen Präsentationsverläufe solcher Unglückskandidaten lassen sich ohne die dahinter stehenden Ansprüche und Konflikte der konkurrierenden Stände nicht verstehen. Der Streit um das Stift Hildesheimische Präsentationsrecht im Niedersächsischen Kreis, in dessen Verlauf dem Kameralkollegium zwischen 1731 und 173 7 teils parallel, teils nacheinander insgesamt vier konkurrierende Kandidaten präsentiert wurden, ohne daß einer von ihnen zum Zuge gekommen und die Streitfrage wirklich geklärt worden wäre, erlangte durch einen der geschädigten Präsentierten, Johann Jakob v. Moser, besonders große Publizität268 . Schwerere Konflikte um Nominations- und Präsentationsrechte sowie um den Turnus gab es ferner, immer aus Anlaß von Wiederbesetzungen vakanter Assessorate,
267 S. jeweils Abschnitt V in den Biographien der 1780 von den evangelischen bzw. 1781 von den katholischen Ständen des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises präsentierten Juristen J.F.A.K. Neurath (Biogr. 104), Steigentesch (Biogr. 105) und F.J.A. Cramer v. Clausbruch (Biogr. 106).- Die Oberrheinische Kreis-Präsentation evangelischen Teils kam erst über 60 Jahre nach dem Westfälischen Frieden in Gang, nachdem die betreffenden Kreisstände sich 1711 endlich auf einen Präsentationsturnus verglichen hatten; s.o. Anm.228 mit weiteren Nachweisen. 268 Über
diesen Streit um ein Nominationsrecht des katholischen Fürstbischofs von Hildesheim in dem 1648 als rein evangelisch definierten Niedersächsischen Kreis s. mit weiteren Nachweisen Biogr. 124 (Summermann), V mit Anm.5; dort auch kurz über die vier im Zuge dieses Konflikts von den konkurrierenden Ständen präsentierten Gegenkandidaten Moser, Nüssler, Hardenberg und Wagner.
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1724/28-1731 im Niedersächsischen Kreis 269 , 1721123-1724 im Obersächsischen Kreis 270 , 1731-173 6 im evangelischen Oberrheinischen Kreis 271 , 1740-17 45 im evangelischen Schwäbischen Kreis 272 , 1758-1763 und 1764-1773 im katholischen Fränkischen Kreis 273 , 1763-1771 und 1778-1780 im Obersächsischen Kreis 274 sowie 1780-1783 im katholischen Niederrheinisch-Westfalischen Kreis 275 • Diese und weitere etwas weniger gravierende Präsentationsstreitigkeiten bürdeten dem Kameralkollegium im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Fülle von Entscheidungskonflikten auf, gipfelnd in dem Dilemma, ob es je nach Rechtslage selbst als Schiedsrichter in den Streit einzugreifen und eine für die gegnerischen Parteien verbindliche Entscheidung zu treffen oder aber die Regulierung den interessierten Kreisständen, dem gesamten Kreis oder sogar dem Reichstag zu überlassen habe 276 • Da das Kameralkollegium verpflichtet war, neben der persönlichen Qualifikation der Präsentierten immer auch die Rechtsgrundlage ihrer Präsentation zu prüfen, bevor es die Kandidaten zum General-, und danach zum Spezialexamen zuließ, war es bei strittigen Kreispräsentationen fast automatisch involviert und setzte sich, wie es mit den Präsentierten auch verfuhr, der Kritik eines oder aller konkurrierenden Kreisstände aus. Dies war selbst dann der Fall, wenn das Kameralkollegium nach langwieriger, zeitraubender Überprüfung der Rechtsgrundlagen die Entscheidung in der Sache selbst zwar an die Kontrahenten oder gar an Kaiser und Reich verwies und bis dahin entweder keinen der mit ihrem Präsentationsschreiben angereisten Juristen zu den Examen bzw. später zur Zensur ihrer Proberelation zuließ oder wenn es dies- was zumeist der unverfänglichste Weg schien- "salvo jure cujuscunque" tat. Je weiter solche unter 269 Dazu
Biogr. 120 (J. Ulmenstein), V mit Anm.l.
270 Dazu
ausführlich Biogr. 110 (Heynitz), V mit Anm.S.
271
S. Biogr. 99 (G.Ph. Fleckenbühl), V.
272
Biogr. 89 (Harpprecht), Biogr. 90 (Scheid) und vor allem Biogr. 39 (J.W. Riedesel), jeweils Abschnitt V. 273 Dazu vor allem Biogr. 72 (Galler), Va u. Vb, und Biogr. 74 (Ph.E. Reuss), V; s. auch Biogr. 70 (Künsberg), Biogr. 71 (Schüll), Biogr. 73 (Hess), jeweils Abschnitt V. 274
Zu 1763-1771: Biogr. 113 (König), Biogr. 114 (Preuschen), auch Biogr. 112 (Dürckheim); zu 1778-1780: Biogr. 115 (Donauer), Biogr. 116 (Gatzert), jeweils Abschnitt V. 275 276
Biogr.105 (Steigentesch), V, und Biogr. 106 (F.J.A Cramer v. Clausbruch), V.
Zu der Frage, wer das zuständige Forum in Präsentationsstreitigkeiten sei, s. z.B. MoJustiz-Verfassung, Tl.2, S.415 f.; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.128 f.; J. J. REINHARD, Gedancken über die Frage: Wohin die Streitigkeiten wegen des Rechts, einen Beysitzer des Kayserl. und des Reichs Cammergerichts zu präsentiren, zur Erörterung gehören; und was in dergleichen Fällen hocherwähntes Gericht zu thun vermöge?, in: ders., Juristisch- und historische kleine Ausführungen, T1.2, Gießen 1749, S.1-58. Das Kameralkollegium debattierte über dieses Zuständigkeitsproblem und das daraus für das Gericht entstehende Dilemma anläßlich aktueller Präsentationsstreitigkeiten immer wieder; s. z.B. Votum Leykam 13.10.1763, in: RKG IV B 2/13 fol.81r/1763. SER,
294
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Vorbehalt laufenden Zulassungs- und Prüfungsverfahren gediehen, um so mehr Druck und Ansprüche erzeugten sie seitens der konkurrierenden Präsentanten und Präsentierten. Dabei war das Kameralkollegium, das in alldiesen Konfliktfallen unverschuldet den Sündenbock spielte, um so heftigeren und demütigenderen Angriffen ausgesetzt, je mächtiger ein beteiligter Kreisstand war277 • Die strittigen Kreispräsentationen machten dem Richtergremium nicht nur eine Menge Ärger. Sie verursachten vor allem auch einen beträchtlichen Zeitverlust, der zu Lasten der Rechtsprechung ging. In solchen Fällen wurden von den konkurrierenden Kreisständen entweder gleichzeitig oder nacheinander mindestens zwei, manchmal drei oder vier Juristen auf ein einziges vakantes Assessorat präsentiert. Bei ihnen allen mußte das Kameralkollegium nicht nur die Rechtsgrundlage ihrer Präsentation und die dahinter stehenden Ansprüche ihrer Präsentanten prüfen sowie fortlaufend über den Schriftwechsel mit den betreffenden Ständen im Plenum beraten. Es mußte auch über die Zulassung dieser Kandidaten zum General- und Spezialexamen, zur Ablegung der Proberelation im zuständigen Senat sowie zur Zensur dieser Relation im Plenum befinden. F emer mußten - wie bei jedem unstrittigen Aufnahme- und Prüfungsverfahren auch die Prüfungsergebnisse im Plenum beurteilt werden, ganz zu schweigen von der Arbeit, welche die mit der Zensur der Proberelationen beauftragten Referenten zu leisten hatten - und dies alles, obwohl doch nur einer oder schlimmstenfalls sogar keiner der Präsentierten zum Zuge kommen konnte 278 • Ende 1767IAnfang 1768 beauftragte die letzte Visitation die beiden Assessoren Loskand und Harpprecht mit der Revision von Teil1 des Konzepts der KGO von 1613 und der zugrundeliegenden KGO von 1555. Die Revisoren standen nunmehr vor der Aufgabe, dasjenige nachzuholen, was die Reichsstände auf dem Regensburger Reichstag von 1653/54 nicht geschafft hatten: Der in Frage 277 Symptomatisch für eine derartig feindselige Behandlung des Kameralkollegiums durch mächtige Kreisstände aus Anlaß von strittigen Kreispräsentationen sind die schriftlichen Anschuldigungen, die Kursachsen, sekundiert von Preußen, 1779 und vor allem 1780 in dem zwischen den obersächsischen Grafen und Kursachsen wegen Querfurt ausgetragenen Konflikt um das Querfurtische Präsentationsrecht erhob, s. die einschlägigen Präsentationsakten des Obersächsischen Kreises in: RKG IV B 1/25, bes. fol.371 ff., dazu Biogr. 115 (Donauer), V. Das Kameralkollegium fühlte sich damals durch die ungerechten, erpresserischen Anklagen Kursachsens und Preußens geradezu als "Verbrecher" behandelt, s. seine Rechtfertigungsschreiben an Kursachsen und Preußen vom 8.3.1780, Konzz. in: RKG IV B 1125 fol.345-345H u. 345 1 (ebd. Zitat). 278 V gl. die entsprechende Klage des Assessors Gudenus vom 16.6.1731 aus Anlaß des von Pfalz-Zweibrücken verursachten Turnusstreits im evangelischen Oberrheinischen Kreis, in: RKG IV B 2/2 fol.118 f., hier fol.119r/v. Gudenus wies zu Recht daraufhin, daß schon die legalen Compräsentationen, bei denen dem RKG in einem einzigen und unstrittigen Präsentationsakt zwei oder drei Kandidaten zur Auswahl präsentiert wurden, einen beträchtlichen Prüfungsaufwand verursachten. In solchen Fällen blieb das Kameralkollegium aber wenigstens von der langwierigen Prüfung der Rechtsgrundlage dieser Compräsentationen und von der undankbaren Auseinandersetzung mit konkurrierenden Kreisständen verschont.
II.3 .1.3 .3 Strittige Kreispräsentationen
295
kommende zweite Titel dieses ersten Teils war so zu revidieren, daß nicht nur das 1648/54 neugeschaffene doppelte Präsentationsschema mit seinen 1719/20 von 50 auf 25 reduzierten Präsentationsberechtigungen inseriert wurde, sondern daß dieses Doppelschema auch einen Unterbau erhielt, bestehend aus aktualisierten Spezialschemata fiir die einzelnen Kreise. Beide Assessoren hielten eine solche reichsgesetzliche, in einer revidierten KGO zu verankernde "Regula certa normaque" für die Kreispräsentationen mit einer Feststellung der jeweiligen Partizipanten und eventuell auch des jeweils gültigen Nominations-und Präsentationsmodus für notwendig - als verbindlichen Rechtsrahmen fiir die Kreisstände selbst sowie zur Orientierung und Absicherung des Kameralkollegiums bei konkreten Präsentationsakten mit strittiger Rechtsgrundlage279 • Loskand und Rarpprecht waren jedoch bei ihrer Revisionsarbeit auf eine bloße Bestandsaufnahme der in den einzelnen Kreisen geltenden Regeln und Gewohnheiten beschränkt. Sie durften nicht rechtsetzend tätig werden, weil die Regulierung der Kreispräsentationen "ad Domestica sive interna Circulorum" gehörte- eine Aufgabe, die mehrere Kreise 120 Jahre nach dem Westfälischen Friedensschluß immer noch nicht geleistet hatten280 . Loskand gab daher seinen Versuch, solche Spezialschemata zu konzipieren, angesichts der in mehreren Kreisen schwelenden Präsentationskonflikte vorzeitig auf281 • Sein Kollege Harpprecht unterzog sich zwar der Mühe, die Binnenstruktur der einzelnen Kreispräsentationen zu beschreiben, stieß dabei jedoch auf so viele "häklichte Puncten", daß er seine Spezialschemata durch "Monita specialiora" ergänzen und den ganzen Entwurf der Visitation zur weiteren Entscheidung anheimstellen mußte 282 . Im Jahre 1776 scheiterte die letzte Visitation. Damit stagnierte auch die von ihr initiierte Revision einer KGO im Stadium der von einigen Assessoren ausgearbeiteten Revisionsentwürfe. Infolgedessen blieb das seit 1654 vorhandene Defizit einer reichsgesetzlichen Inventur der Kreispräsentationen bis 1806 bestehen. Um so wichtiger war die kreisinterne Regulierung. Den Anstoß dazu gab 279 Loskand in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.17: "Obschon übrigens Regula certa normaque würde gut seyn, und fast notwendig ist, damit das Kammergericht nicht ferner in der Verlegenheit und Ungewißheit seines Benehmens bei dergleichen Fällen verbleiben müße". Außerdem hätten solche Spezialschemata dem Kameralkollegium die Orientierung darüber erleichtert, an welchen Kreisstand es sich z.B. in Erledigungs- und Wiederbesetzungsfällen mit seinem Notifikationsschreiben als Korrespondenzpartner zu wenden hatte. Das konnte je nach Kreisverfassung einmal das Kreisdirektorium, ein anderes Mal ein turnusmäßig präsentationsberechtigter einzelner Kreisstand sein; s. dazu auch BALEMANN, Beiträge, S.77. 280
Loskand in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.16.
281
Loskand in: ebd., S.16 f.
282
Harpprecht in: SELCHOW, Concepte, T1.1, S.31 (Zitate), s. auch schon S.27; den zweiten Revisionsentwurf Harpprechts zu Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.2 mit den Spezialschemata flir die einzelnen Kreises. ebd., S.22-26, dazu "Vorläufiges Gutachten und Anmerkungen", ebd., S.27-31, sowie die "Monita specialiora" ebd., S.31-39.
296
II.3. Die Besetzung der Assessorate
der Reichsschluß von 1775, der die Vermehrung der wirklich gleichzeitig amtierenden Assessoren von bisher 17 auf 25 anordnete und dafür endlich auch die finanziellen Voraussetzungen schuf283 . Bevor dieser Reichsschluß durch zusätzliche Einberufung von acht neuen Assessoren 1782 realisiert werden konnte, mußten nicht nur das katholische und das evangelische Präsentationsschema den Veränderungen im politischen Gefüge des Reiches angepaßt werden. Außerdem waren auch einige bisher blockierte Kreispräsentationen, vor allem die wegen kreisinterner Differenzen seit 1609 nicht mehr ausgeübten Präsentationen des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises, wieder gangbar zu machen. Unter diesem Einigungsdruck verglichen sich die evangelischen Stände des Niederrheinisch-Westfalischen Kreises vier Jahre später auf einen Nominationsturnus und brachten daraufhin ihre Präsentation 1780 in der Person Johann Friedrich Albrecht Konstantin Neuraths wieder in Gang284 . Unter den katholischen Ständen dieses Kreises brach dagegen 1780 noch einmal ein heftiger und langwieriger Präsentationskonflikt aus, der sich in den beiden Gegenkandidaten Steigentesch und Cramer v. Clausbruch verkörperte und auf dem Rücken des Kameralkollegiums ausgetragen wurde, bevor schließlich 1783 ebenfalls ein Vergleich zustande kam 285 . Hier übte also das Reich angesichts der Notwendigkeit und der Möglichkeit, alle 25 RKG-Assessorate gleichzeitig zu besetzen, endlich einen heilsamen Zwang auf zerstrittene Kreisstände aus, die sich seit 1609 bzw. 1648/54 nicht hatten einigen können. Ähnlich pazifizierende Wirkungen zeitigten der Reichsschluß von 1775 und die durch ihn noch einmal angeregte öffentliche Diskussion über das kammergerichtliche Präsentationswesen auch bei einigen anderen Reichskreisen, die ihr Präsentationsrecht zwar seit 1648/54 ausgeübt hatten, mangels verbindlicher und konsensfähiger Absprachen aber ständig erschwert durch Streitigkeiten. So schlossen die evangelischen Stände des Schwäbischen Kreises zur Vermeidung erneuter Konflikte, wie sie in der Vergangenheit durch die Konkurrenten Württemberg und Baden-Durlach ausgelöst worden waren, 1779 endlich einen Vergleich über einen zukünftigen Nominationsturnus286. Die katholischen Stände des Fränkischen Kreises, mit deren Querelen 283 Über diesen Reichsschluß von 1775 und die von ihm verursachten Veränderungen im Präsentationssystem s. ausführlicher unten Kap.II.3.1.4.2. Hier geht es nur um die im Gefolge dieses Reichsschlusses gelungene Beilegung nominations- und präsentationsrechtlicher Streitigkeiten einiger Reichskreise. Dazu forderte der Kaiser die betreffenden Stände expressis verbis in seinem Kommissions-Ratifikations-Dekret vom 15.12.1775 zu Punkt 30 des vorausgegangenen Reichsgutachtens auf; s. PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Textteil, S.26.
284 S. ausführlich Biogr. 104 (J.F.A.K. Neurath), V. 285 S. ausführlich Biogr. 105 (Steigentesch), V, und Biogr. 106 (F.J.A Cramer v. Claus-
bruch), V.
286 Biogr. 91 (Oetinger), V mit Anm.2. Über frühere Streitigkeiten im Rahmen der ev. Schwäbischen Kreis-Präsentation s. Biogr. 89 (Harpprecht), Biogr. 90 (Scheid) und vor allem Biogr. 39 (J.W. Riedesel),jeweils Abschnitt V.
II.3.1.4. Die Modifikationen des Präsentationssystems im 18. Jahrhundert
297
sich das Kameralkollegium in den vorausgegangenen drei Jahrzehnten ebenfalls immer wieder hatte befassen müssen, richteten 1788 ihrerseits einen Nominatiansturnus ein287 • Im Obersächsischen Kreis wurde 1779/80 durch die Nachgiebigkeit der Grafen der Streit um das von Kursachsen ausgeübte Querfurtische Präsentationsrecht beigelegt288 . Als Folge all dieser Schlichtungsaktionen blieb das Kameralkollegium seit 1783 von weiteren nominations- und präsentationsrechtlichen Streitigkeiten der Kreise verschont. Gemessen an den Belastungen, die derartige Querelen dem Richtergremium in der Vergangenheit aufgebürdet hatten, kamen diese Konfliktlösungen jedoch viel zu spät. All diese Streitigkeiten hätten bei entsprechender Kompromißbereitschaft schon viel früher beseitigt werden können. Sie sind symptomatisch für die nach dem WestHilisehen Frieden immer deutlicher hervortretende Tendenz vor allem der mächtigeren Stände, im Präsentationsrecht einen unbedingten Anspruch zu sehen, ohne die daraus entstehenden Verbindlichkeiten - hier die Pflicht zur frühzeitigen kreisinternen Einigung und damit auch zur Entlastung des Kameralkollegiums - verantwortungsvoll zu erfüllen. Die Präsentationskonflikte der Reichskreise eröffnen jedenfalls aus einer weiteren Perspektive den Blick auf den problematischen Zusammenhang von kammergerichtlichem Präsentationssystem und politischem System des Reiches. 4. Die Modifikationen des Präsentationssystems im 18. Jahrhundert 1. Der Reichsschluß von 1719/20 Von den Reichskreisen zurück zum gesamten Präsentationssystem, betrachtet aus der Vogelperspektive des Reiches. Zu einem normativen Eingriff in das kammergerichtliche Präsentationswesen kam es erst wieder 1719/20, also erst siebzig Jahre nach der großen Umstrukturierung von 1648/54. Wie trugen Kaiser und Reich zu Beginn des 18. Jahrhunderts endlich der Tatsache Rechnung, daß das Idealschema des Westfälischen Friedens und des Jüngsten Reichsabschieds als Folge des Unterhaltsmangels und anderer Mißstände längst zum Torso verkümmert war? Den Anstoß zu einer überfälligen Korrektur gab die von 1707 bis 1713 in Wetzlar tagende außerordentliche Visitation, die 1711 nach siebenjährigem Gerichtsstillstand ein mit nur noch fünf Assessoren besetztes RKG mit erschöpftem Sustentationsfundus wiedereröffnete. Das 1713 erstattete Gutachten der Visitation, durch Vermehrung der wirklich amtierenden Assessoren wenig287 Biogr. 76 (Ullheimer), V mit Anm.l; über die vorausgegangenen Konflikte um das fstbfl. eichstättisehe Nominationsrecht s. vor allem Biogr. 72 (Galler), Va, Vb u. VI, sowie Biogr. 74 (Ph.E. Reuss), V. 288 Dazu
s. Biogr. 115 (Donauer) und Biogr. 116 (Gatzert), jeweils Abschnitt V.
298
II.3. Die Besetzung der Assessorate
stens 25, also die Hälfte der im Instrumenturn pacis vorgesehenen 50 Beisitzer, einzustellen und für deren verbesserte Besoldung zu sorgen289 , setzte die schwerfällige Gesetzgebungsmaschinerie des Reiches allerdings erst 1719 in Gang. Ein vom Kameralkollegium erwirktes kaiserliches Kommissionsdekret an den Reichstag vom 24.5.1719 sowie die Vorstellungen der beiden Assessoren und Kassendeputierten Ludolf und Dresanus, die das Kameralkollegium zur Betreibung dieser existentiellen Vermehrungs- und Unterhaltsfrage als Lobbyisten nach Regensburg geschickt hatte290 , fiihrten zum Reichsgutachten vom 15.12.1719, das durch kaiserliches Ratifikations-Kommissions-Dekret vom 3.11.1720 zum Reichsschluß erhoben wurde 291 • Der auch vom Kaiser unterstützten Empfehlung der Visitation folgend, gutachtete die Reichsversammlung, daß die Assessorenzahl auf die Hälfte des im Westfälischen Friedensschluß und im Jüngsten Reichsabschied vorgeschriebenen Umfangs, nämlich auf 25, festzusetzen sei, und zwar nur provisorisch, "biß man im Stand wäre, die Reichs-Satzungs-mäßige völlige Anzahl der Beysitzer erfüllen zu können" 292 • Diese radikale Reduktion erfolgte 1719/20 nicht, weil man meinte, weniger als 50 Assessoren seien zur Erledigung der alten und neuen Prozesse völlig ausreichend. Vielmehr hielt man es angesichts der trostlosen Entwicklung des Kammerzideraufkommens in den vergangenen sieben Jahrzehnten sowie angesichts der anstehenden Besoldungser289
"Unvorgreiffliches Gutachten über einige Puncten, so beygegenwärtiger Visitation fürgekommen", dict. 5.12.1713, Druck: CJC, Anhang, 8.12-14, hier 8.13 Art.8. Dieses Gutachten war eine Beilage Lit. D zur Abschlußrelation der Visitation, Wetzlar, 18.12.1713, Druck: ebd., Anhang, 8.7-11. 290 ..
Uber diese Gesandtschaft der beiden Assessoren Ludolfund Dresanus nach Regensburg sowie über die sonstigen Aktivitäten des Kameralkollegiums im Zusammenhang des Reichsschlusses von 1719/20 s. mit weiteren Quellen- und Literaturnachweisen Biogr. 38 (Ludolf), VIII mit Anm.2. 291 Ksl. Kommissionsdekret an die Reichsversammlung, Regensburg, 24.5.1719; Reichsgutachten, Regensburg, 15.12 .I 719; ksl. Ratifikations-Kommissions-Dekret, Regensburg, 3.11.1720; Druckorte (in Auswahl): LUDOLF, Historia sustentationis, I. Anhang, 8.602-607, Darstellungsteil, 8.142-150, 151-154; CJC, Anhang, 8.1-3, 4-6,6 f.; NV8RA Tl.4, 8.341-344, 344-347, 347 f.; 8CHMAUSS, Corpus Juris Publici, 8.1283-1288, 1288-1293, 1293-1295. Zum Reichsschluß von 1719/20 und seinen Folgen s. vor allem LUDOLF, Historia sustentationis, 8.125 ff., bes. 8.132 ff.; J. ULMENSTEIN, Tractatus, 8.36 f., 38 (fehlerhaft); MOSER, Tractat, in: ders., Vermischte 8chrifften, 8.15 ff.; HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, 8.31 ff.; MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, 8.390, 398; TAFINGER, Institutiones, 8ectio I. et II., 8.317 ff.; PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, 8.21 ff. (ausführlichste und beste Analyse); BALEMANN, Beiträge, 8.1 0, 15 ff., 20 f., 82 f.; Loskand und Harpprecht in: 8ELCHOW, Concepte, Tl.l, 8.3 f., 9, 18-20, 22-24, 29; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, 8.80 ff., 97 ff.; DANZ, Grundsäze, 8.171 ff.; PÜTTER, Anleitung, Tl.2, Bd.1, 8.100 ff.; DERS., Historische Entwickelung, Tl.2, 8.412 ff.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, 8.91 ff.; nur knapp: 8MEND, Reichskammergericht, 8.220, 226 f., 272 f. (z. Tl. mißverständliche Interpretation). Auf diese Literatur sowie auf die zitierten Quellen selbst wird für die folgende Darstellung verwiesen. 292 Reichsgutachten
vom 15.12.1719, ad 1., zit. nach: CJC, Anhang, 8.4.
II.3.1.4.1. Der Reichsschluß von 1719/20
299
höhung für unmöglich, für 50 Beisitzer die nötigen Unterhaltsmittel aufzubringen293. Auch erfolgte die Entscheidung gerade für die Zahl 25 nicht auf Grund einer genauen Bedarfskalkulation, sondern "wohlbedächtlich" deshalb, weil jede andere Art der Verminderung das 1648/54 mühsam ausgehandelte paritätische Präsentationsschema in Unordnung gebracht und dessen völlige Umarbeitung erforderlich gemacht hätte. Nur die Halbierung garantierte, daß die prinzipielle Struktur dieses Doppelschemas erhalten blieb294 . Denn halbiert wurden nur die dem Kaiser sowie den einzelnen Kurfürsten und Reichskreisen 1648/54 zugeteilten Quoten an Präsentationsberechtigungen. Der Kreis der Präsentanten selbst blieb dagegen unangetastet, folglich wurde auch die konfessionelle Parität zwischen den reichsständischen Präsentationsbefugnissen der evangelischen und der katholischen Seite gewahrt. Durch diese Reduktion sanktionierten Kaiser und Reich 1719/20 nachträglich auf normativer Ebene eine der Hauptkonsequenzen, die das Kameralkollegium in Selbsthilfe schon bald nach 1654 aus dem Unterhaltsmangel gezogen und dann auf Dauer seiner Aufnahmepraxis zugrunde gelegt hatte 295 . Die nun auch reichsgesetzliche Absegnung dieser längst praktizierten Quotenhalbierung bot sich für Kaiser und Reich als eine bequeme Lösung an. Sie implizierte jedoch mehrere Ungereimtheiten und Inkonsequenzen, von denen die erste sogar direkt in den Reichsschluß hineingeschrieben wurde. Kaiser und Reich standen nämlich 1719/20 nicht nur vor der Aufgabe, für eine Vermehrung der "actuales Assessores" sowie für deren gesicherte und ver293 So auch die Bewertung bei PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.21; DERS., Historische Entwickelung, Tl.2, S.412 f. Daß die 1719/20 vorgenommene Reduktion auf25 Assessorate dem damaligen Geschäftsanfall, bestehend aus unerledigten alten und jährlich neu eingeführten Prozessen, bei weitem nicht angemessen war, noch weniger die Zahl von (seit 1722) immer nur 17 gleichzeitig amtierenden Assessoren, konstatierten z.B. BALEMANN, Beiträge, S.1 0 ff., sowie PÜTTER, Historische Entwickelung, Tl.2, S.415 (beide stellten einigermaßen realistische Berechnungen an). Das Problem lag vor allem in der Bewältigung der aufgelaufenen Rückstände, während die durchschnittliche Zahl der Neuzugänge im 18. Jahrhundert weit unter den Werten des 16. Jahrhunderts lag und außerdem ständig sank. Zum Prozeßvolumen im 18. Jahrhundert, getrennt nach Rückständen und Neuzugängen, sowie zur Entwicklung der Erledigungsrate s. eine erste Einschätzung bei RANIERI, Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar, S.11-15; genauere, auf einer erheblich größeren Stichprobe beruhende Angaben zur Entwicklung des Geschäftsanfalls im 18. Jahrhundertjetzt bei BAUMANN, Gesellschaft, S.25 ff. 294 Vgl. dieselbe Schlußfolgerung bei PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.21 f. (ebd. Zitat).
295 Die weitere Hauptkonsequenz außer der Halbierung der Präsentationsberechtigungen war gewesen, daß nach 1654 in der Folge noch weit weniger Assessoren aufgenommen wurden und gleichzeitig amtierten, als selbst nur die Hälfte des Idealschemas von 1648/54 ausgemacht hätte; s.o. Kap.II.3.1.3.1. über die nach 1654 durch den Unterhaltsmangel erzwungene Unterbesetzung.
300
Il.3. Die Besetzung der Assessorate
besserte Besoldung Sorge zu tragen296 • Außerdem hätte damals das Präsentationssystem an die inzwischen eingetretenen Veränderungen im politisch-verfassungsrechtlichen Gefüge des Reiches angepaßt werden müssen. Durch die Introduktion Braunschweig-Lüneburgs und die gleichzeitige Readmission Böhmens in das Kurkolleg 1708 waren je zwei neue katholische und evangelische Präsentationsberechtigungen entstanden, die sich 1719/20 ebenso wie alle anderen kurfürstlichen Präsentationsbefugnisse auf je eine reduzierten. Diese unstreitigen Rechte Kurhannovers und Kurböhmens hatten jedoch logischerweise in dem bereits 1648/54 erstellten und 1719/20 provisorisch halbierten Doppelschema keinen Platz, weil man ältere, reichsgesetzlich fixierte Präsentationsrechte ohne Zustimmung der Betroffenen nicht einfach zugunsten jüngerer streichen durfte297. Dennoch verordnete das Reichsgutachten, eine Passage des erwähnten kaiserlichen Kommissionsdekrets vom Mai 1719 übernehmend, daß "der Numerus Assessorum des Kayserl. und Reichs Cammer-Gerichts nach der Kayserl. allergnädigsten Intention auf die Halbscheid der in dem Westphälischen FriedensSchluß und jüngern Reichs-Abschied vorgeschriebener Assessorum oder auf 25 Subjecta, inclusive des Chur-Böhmischen und Chur-Braunschweigischen, fest zu stellen" sei298 • Die mathematische Unmöglichkeit dieser Bestimmung, die in Ziffern ausgedrückt, die Un-Gleichung 50 : 2 + 2 = 25 ergab, fiel schon den Kameralschriftstellern auf und wurde von ihnen ironisch kommentiert: "Aber hier gehet die Macht unserer Reichsgesetze über die Mathematik" 299 • 296 Im Singular: "actualis Assessor"; von Joharm Heinrich v. Harpprecht geprägter Begriff zur Unterscheidung der jeweils wirklich amtierenden Beisitzer von der (größeren) Zahl der Präsentationsberechtigungen, s. Harpprecht in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.29. 297 Sicherlich waren die 1708 neuerworbenen Präsentationsberechtigungen Kurböhmens und Kurbraunschweigs der Grund, warum es die 1707-1713 in Wetzlar tätige außerordentliche Visitation "für ihre Pflicht" hielt, ein neues Präsentationsschema zu erstellen. Laut BALEMANN, Beiträge, S.81 (ebd. Zitat), verfaßten zwei Visitationssubdelegierte einen entsprechenden Entwurf, der als Anlage nr.l201 dem Visitationsprotokoll vom 2.3.1712 beigefUgt wurde. Jedoch erfolgte darüber laut Baiernarm kein besonderes Visitationsconclusum. Auch der im Dezember 1713 erstattete, vom Kaiser aber erst 1719 an die Reichsversammlung weitergeleitete Abschlußbericht der Visitation sowie das ergänzende Visitationsgutachten (s.o. Anm.289) erwähnten diesen Entwurf nicht. Da Baiernarm keine inhaltlichen Angaben macht, bleibt bis zu einer Aufarbeitung der Visitationsakten im Dunkeln, wie die beiden Visitationsgesandten die Aufgabe lösten, die neuen kurbraunschweigischen und kurböhmischen Präsentationsrechte in das Präsentationsschema zu integrieren und dieses entsprechend abzuändern. 298 Reichsgutachten vom 15.12.1719, ad 1., zit. nach CJC, Anhang, S.4; vgl. ebd., S.2. 299 PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.22; im Anschluß daran z.B. MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.97 f.; DANZ, Grundsäze, S.l72; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.91.- Das von J. ULMENSTEIN, Tractatus, S.38, in Interpretation des Reichsschlusses von 1719/20 konstruierte Präsentationsschema stellt eine illegale Manipulation dar. Um die beiden neuen kurfürstlichen Präsentationsberechtigungen Kurböhmens und Kurbraunschweigs berücksichtigen zu können, ohne die reichsschlußmäßige Zahl von 25 Assessoren zu überschreiten, strich Ulmenstein kurzerhand eine der beiden kreisbayerischen Präsentationen sowie die noch gar
II.3.1.4.1. Der Reichsschluß von 1719/20
301
Mit der zitierten Formel drückten sich Kaiser und Reich 1719/20 um die Aufgabe herum, ein neues Präsentationsschema zu erstellen, das in unhalbierter Form von 50 um 4 auf insgesamt 54, im Rahmen der provisorisch beschlossenen Halbierung von 25 um 2 auf insgesamt 27 Präsentationsberechtigungen hätte erweitert werden müssen. Warum diese an sich ganz unproblematische, zudem die Religionsparität zwischen den reichsständischen Assessoraten (26 : 26 bzw. 13 : 13) wahrende Berichtigung des Doppelschemas 1719 nicht vorgenommen wurde, scheint rätselhaft, zumal das Kameralkollegium eine entsprechende Änderung schon im März 1716 anregte. Einer Korrespondenz zwischen dem Reichserzkanzler und dem Reichsvizekanzler von Ende April1716 istjedoch zu entnehmen, daß es die erklärte Absicht vor allem des Mainzer Hofes war, eine Diskussion der Reichsversammlung über die Korrektur des kammergerichtliehen Präsentationsschemas zu verhindern. Der Reichserzkanzler, dessen Standpunkt sich in der Folge der Wiener Hofund über weitere diplomatische Kanäle vermutlich auch andere Reichsstände zu eigen machten, beilirchtete nämlich, daß im Zuge einer solchen Debatte nicht nur die Integration der neuen kurböhmischen und kurhannoverschen Präsentationsrechte auf die Tagesordnung kommen würde, sondern auch der damals im Raum stehende Anspruch des katholischen Kurilirsten von der Pfalz, zukünftig einen katholischen Juristen auf das 1648 als evangelisch definierte pfälzische Kurassessorat zu präsentieren300 . Die Konsequenz ilir das Präsentationsschema, die Störung der friedensschlußmäßigen Konfessionsparität zwischen den reichsständischen Assessoraten, hätte den Protestanten Anlaß zu einem neuen Religionsgravamen und zur Forderung nach einem paritätsgerechten Umbau des Präsentationsschemas gegeben. Die absehbaren Komplikationen wollte Kurmainz mit Unterstützung des Wiener Hofes vermeiden. Die vom Kaiser in seinem Kornmissionsdekret vom 24.5.1719 lancierte, im Reichsgutachten wörtlich übernommene Formel war der rein rechnerisch unmögliche, politisch aber begreifliche Ausweg aus dem Dilemma, den kurböhmischen und kurbraunschweigischen Präsentationsrechten im kammergerichtliehen Präsentationssystem reichsgesetzlich einen Platz zuweisen zu müssen, ohne dabei die Struktur des seit 1648/54 gültigen Präsentationsschemas anzutasten301 • nicht berichtigte und daher nicht gangbare eine Präsentationsberechtigung, die durch Zusammenziehung der beiden halbierten altemierenden evangelischen Kreispräsentationen entstand (dazu s. die noch folgende Darstellung). Kritik an Ulmensteins Manipulation übte im Anschluß an Ludolf: PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.31 f., Anm.n). 300 Über diesen Anspruch des 1685 in der bisher evangelisch regierten Kurpfalz an die Regierung gekommenen katholischen Hauses Pfalz-Neuburg s. schon oben in Kap.II.3.1.3.2. die Erörterung der Paritätsproblematik 301 Zur näheren Erläuterung der hier aufgezeigten Zusammenhänge: Der englische König Georg I. machte erstmals 1715 von seinem 1708 erworbenen kurftirstlichen Präsentationsrecht Gebrauch, als er dem RKG den kurbraunschweigischen Hof- und Kanzleirat Siegmund Eh-
302
II.3. Die Besetzung der Assessorate
renfried v. Oppel zum kurbraunschweigischen Assessor präsentierte, s. PS Oppel, London, 15./26.11.1715, Or.: RKG IV B 1113 fol.l f. Das Plenum ließ Oppel zwar nach längerer Debatte am 14.3.1716 zu den Examen zu, jedoch nur unter Vorbehalt, weil es bisher wegen dieses kurbraunschweigischen Präsentationsrechts vom Reich noch keine Direktiven erhalten hatte, s. RKG IV B 211 fol.lr-12v/1716. In mehreren Schreiben wies das Kameralkollegium Kaiser und Reichstag völlig korrekt darauf hin, daß sie als Gesetzgeber erst das Präsentationsschema ändern müßten, bevor Oppel zur Rezeption gelangen könne. Als Änderungsmöglichkeiten wurden richtig genannt: entweder die Erweiterung des bisher wegen Unterhaltsmangels zwar nie realisierten, reichsgesetzlich jedoch gleichwohl gültigen Präsentationsschemas von 1648/54 um vier Präsentationsberechtigungen Ge zwei kurbraunschweigische und kurböhmische) von 50 auf 54, oder, wenn man die Zahl von 50 Assessorentrotz der Integration der kurböhmischen und kurhannoverschen Rechte beibehalten wolle, die entsprechende Streichung von vier älteren Präsentationsberechtigungen. Auch wenn man von der großen Zahl von 50 bzw. 54 Assessoraten abgehen wolle, müsse ein neues Schema gemacht werden; s. die Schreiben des Kameralkollegiums an den Kaiser, 3.4.1716 u. 20.10.1717, Konzz.: RKG IV B 1113 fol.4 f. u. fol.13-17; dazu das Schreiben an den Reichstag, 3.4.1716, Konz.: ebd., fol.6. Vgl. das Antwortschreiben Karls VI., Laxenburg, 27.5.1717, Or.: ebd., fol.9-11, worin der Kaiser die Rezeption Oppels befahl, ohne über die Voraussetzung, die Abänderung des Präsentationsschemas, ein Wort zu verlieren. Ein Briefwechsel zwischen dem Kurfürsten von Mainz als Reichserzkanzler sowie dem Reichsvizekanzler Schönborn, d.d. Mainz, 18.4.1716, bzw. Wien, 25.4.1716, Konz. bzw. Or.: HHStAW, MEKA Korr. 93, zeigt, daß dahinter eine genau kalkulierte Taktik steckte. Der Reichserzkanzler legte dem Reichsvizekanzler nämlich am 18.4.1716 nahe, zur Vermeidung von Weiterungen die erwähnten Schreiben des Karneralkollegiums an Kaiser und Reichstag vom 3.4.1716 mit der darin enthaltenen Aufforderung, von Reichs wegen das Präsentationsschema zu verändern, möglichst gar nicht erst an die Reichsversammlung zu bringen (die kurmainzische Direktorialgesandtschaft in Regensburg hatte vom Reichserzkanzler bereits eine entsprechende Order erhalten). Vielmehr solle der Wiener Hof dem Kameralkollegium mit unverfänglichen Argumenten die Rezeption Oppels befehlen, ohne sich auf die Frage der Schemakorrektur einzulassen. Der Reichserzkanzler befürchtete neben anderen politischen Komplikationen, daß die Reichsversammlung, wenn sie sich erst einmal mit der Integration der neuen kurhannoverschen und kurböhmischen Präsentationsrechte in das Präsentationsschema und dessen notwendiger Abänderung befaßte, auch an die Frage der 1685 auf das katholische Haus Pfalz-Neuburg übergegangenen, jedoch seit 1648 mit einem evangelischen Präsentationsrecht ausgestatteten neupfälzischen Kur rühren würde. Wie oben bereits dargelegt, setzte damals der kurpfeilzische Anspruch auf zukünftige Präsentation eines katholischen Juristen das paritätisch konstruierte Präsentationsschema von 1648/54 unter Druck. Durch eine derartige, auch die kurpfälzische Frage einbeziehende Reichstagsdebatte, so die Sorge des Reichserzkanzlers, würde das Corpus Evangelicorum die Gelegenheit bekommen, "ein newes gravamen religionis zu machen", weil nämlich die konfessionelle Parität zwischen den reichsständischen Präsentanten gestört und also auch unter diesem Aspekt eine Änderung des Präsentationsschemas nötig sei. Auf dem Hintergrund dieses Gedankenaustauschs zwischen Mainz und Wien vom April 1716 erhält die scheinbar undurchdachte Passage in dem kaiserlichen Kommissionsdekret vom 24.5.1719 und die wörtlich daran anschließende zitierte Formel des Reichsgutachtens vom 15.12.1719 den Charakter einer genau kalkulierten Inkonsequenz, was allerdings offiziell nicht zugestanden, also auch dem Kameralkollegium nicht mitgeteilt werden konnte. Dem Drängen des Kaisers und Kurhannovers endlich nachgebend, ließ das Kameralkollegium Oppel trotz der Ungereimtheit dieser Formel am 28.8.1719 als kurbraunschweigischen Assessor aufschwören, s. RKG IV C 10 fol.152v/1719.- Der erste kurböhmische Beisitzer Johann Stephan Speckmann wurde dem RKG von Kaiser Karl VI. in seiner Eigenschaft als Kurfürst von Böhmen erst am 24.11.1719 präsentiert, also im unmittelbaren Zusammenhang mit der Entstehung des Reichsgutachtens vom 15.12.1719, das die erwähnte Klausel bezüglich der kurbraunschweigischen und kurböh-
II.3.1.4.1. Der Reichsschluß von 1719/20
303
Kameralschriftsteller, die diesen Reichsschluß später interpretieren, Kameralkollegien, die ihn praktizieren und logisch machen mußten, fanden aus dieser Ungereimtheit einen Ausweg mit der Deutung, daß zwar seit 1719/20 27 Präsentationsberechtigungen existierten, aber nur jeweils 25 Assessoren wirklich rezipiert und besoldet werden sollten. Dagegen sollten immer zwei überschießende Präsentierte auf die Erledigung einer Planstelle ihrer Konfession warten. Diese rationalisierende Auslegung darf man aber den Gesetzgebern von 1719/20 noch nicht unterstellen302 • Kaiser und Reichsversammlung konnten sich 1719/20 und in der Folgezeit mit ihrer gesetzgeberischen Inkonsequenz nur deshalb beruhigen, weil damals von den nunmehr 27 Präsentationsberechtigungen ohnehin nur 24 gangbar waren, die provisorisch festgestellte Zahl von 25 Assessoraten also selbst bei optimaler Finanzlage nicht voll ausgeschöpft werden konnte. Erstens waren die beiden Präsentationen des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises katholischen und evangelischen Teils wegen der schon seit 1609 schwelenden kreisinternen Streitigkeiten immer noch blockiert, und das Reich übte 1719/20 keinen Druck auf die betreffenden Kreisstände aus, ihre Präsentationen wieder in Gang zu bringen. Zweitens waren die beiden 1648 aus Paritätsgründen neugeschaffenen altemierenden evangelischen Kreispräsentationen, diejenige des Ober- und Niedersächsischen Kreises sowie diejenige der evangelischen Stände der vier gemischten Kreise, durch die 1719/20 vorgenommene Halbierung des Schemas rein rechnerisch auf je eine halbe Präsentationsberechtigung reduziert worden303 • Sie hätten im Rahmen eines berichtigten Schemas erst zu einer einzigen evangelischen alternierenden Kreispräsentation zusammengelegt werden, die Stände der sechs beteiligten Kreise hätten sich sodann auf einen Nominations-und Präsentationstumus einigen müssen, bevor diese nunmehr einzige Präsentationsbefugnis gangbar geworden wäre. Jedoch machten sich Kaiser und Reich 1719/20 nicht die Mühe, diese Regulierung vorzunehmen, da sie sich der Aufgabe einer konsequenten Korrektur damals ohnehin nicht stellten. mischen Präsentationen enthielt, s. PS Speckmann, Wien, 24.11.1719, Or.: RKG IV B 1/8 fol.1 f. Speckmann schwor nach langen Querelen um seine Person am 28.1.1726 auf; s. Biogr. 18 (Speckmann). 302 S. z.B. die den Reichsschluß auf diese Weise logisch machende Auslegung bei Rarpprecht in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.29; PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.22 f.; DERS., Anleitung, Tl.2, Bd.1, S.101; DERS., Historische Entwickelung, Tl.2, S.417 f.; vgl. BALEMANN, Beiträge, S.82 f.; Extrem dieser rationalisierenden Interpretation: SMEND, Reichskammergericht, S.272. 303 Diese beiden altemierenden Kreispräsentationen waren, wie oben in Kap.II.3.1.3.1. bereits erwähnt, zwischen 1648 und 1719 wegen des Unterhaltsmangels niemals ausgeübt worden, ohne daß sie jedoch deshalb hinfällig geworden wären.
304
II.3. Die Besetzung der Assesserate
Seit 1719/20 gab es, ohne daß dies in einem reichsgesetzlich fixierten Schema nachzulesen wäre, die im folgenden aufgelisteten 27 Präsentationsberechtigungen, von denen 24 ständig in Gang, drei (genaugenommen zwei ganze und zwei halbe) blockiert waren. Gangbare und nicht gangbare Präsentationsberechtigungen 1719/20-1775/82 nach der Rangordnung der Präsentanten und Assessorate Präsentanten Kurmainz Kurtri er Kurköln Kurböhmen Kurbayern (altpfälz. 5. Kur) Kursachsen Kurbrandenburg Kurpfalz (neupfälz. 8. Kur) Kurbraunschweig Kaiser Österr. Kreis Burgund. Kreis Fränk. Kreis Bayer. Kreis Schwäb. Kreis Oberrhein. Kreis Niederrheinisch- Westfäl. Kreis Obersächs. Kreis Niedersächs. Kreis Ober- u. Niedersächs. Kreis alternierend
kath. Ass. 1 1 1 1 1
1 1 1 1 1 1 1 1 2 1 1 1
ev. Stände des Fränk., Schwäb., Oberrhein. } u. Niederrhein.-Westfäl. Kreises alternierend Präsentationsberechtigungen insgesamt: davon gangbar: davon nicht gangbar:
ev. Ass.
14 13 1
1 1 1 1 2 2
Ass. ins~es.
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 2 2 2 2
2 2 2
Y.z
Y.z
Y.z
Y.z
13 11
27 24 3
2 (1 + Y.z + Y.z) (2+ Y.z+ Y.z)
II.3.1.4.1. Der Reichsschluß von 1719/20
305
Das Schema zeigt auf einen Blick, daß die Religionsparität zwischen den reichsständischen Assessoraten, jene für die Evangelischen so kostbare Errungenschaft von 1648, zwar unter den 27 de jure existierenden Präsentationsbefugnissen mit 13 : 13 (+ 1 kaiserliche auf der katholischen Seite) gewahrt, jedoch unter den 24 gangbaren und ständig ausgeübten Präsentationen gestört war. Unter ihnen gab es auf der katholischen Seite 12 reichsständische (+ 1 kaiserliche), auf der evangelischen Seite jedoch nur 11 reichsständische Berechtigungen. Hätte also nach 1719/20 das Kammerzieleraufkommen dazu ausgereicht, daß die über diese 24 offenen Kanäle präsentierten Juristen auch alle sofort aufgenommen werden und gleichzeitig amtieren konnten, dann hätte dies neben dem evangelischen Teil des Kameralkollegiums mit Sicherheit sofort das Corpus Evangelicorum auf den Plan gerufen, das auf die Wiederherstellung der erst 1711113 von der Visitation eingeschärften Parität zwischen den reichsständischen Assessoren hätte dringen müssen. Die Konsequenz wäre dann doch die 1719 vermiedene reichsgesetzliche Berichtigung des reduzierten Schemas gewesen einschließlich des Zwangs, wenn nicht alle drei inaktiven (1 kath. u. 1+ Yz + Yz ev.), so davon wenigstens eine der rein rechnerisch zwei blockierten evangelischen Präsentationsberechtigungen gangbar zu machen, um auf diese Weise wieder zu einem religionsparitätischen Verhältnis von 12 : 12 gangbaren reichsständischen Präsentationen zu gelangen. Kaiser und Reich konnten sich damals dieser Konsequenz entziehen und sich die verfassungswidrige Disparität zwischen den damals 23 ( 12 : 11) gangbaren reichsständischen Präsentationsberechtigungen leisten, weil sich nach 1720 sehr bald herausstellte, daß die von den Reichsständen abgeführten Kammerzider weder für die im Reichsschluß verordnete absolute Zahl von 25 Assessoren hinreichten noch auch für die 24 Beisitzer (einschließlich des kaiserlichen), die im Rahmen der gangbaren Präsentationen wirklich gleichzeitig hätten rezipiert werden können. Um den Wunsch des Kameralkollegiums nach einer Besoldungsverdoppelung erfüllen, um unter dieser Voraussetzung die projektierten 25 Assessorate finanzieren sowie auch noch die auf immense Summen aufgeschwollenen Besoldungsrückstände abtragen zu können, verordneten sich die Reichsstände in ihrem Reichsgutachten von 1719, den Kalkulationen des Kameralkollegiums folgend, zwar eine Erhöhung der Kammerziderbeiträge von 2 auf 7, also auf das Dreieinhalbfache304 . Dieser heroische Beschluß erlitt jedoch in der 304 Reichsgutachten vom 15.12.1719, ad 4 (Druckorte wie in Anm.291). Zugleich wurde das zuletzt im JRA 1654 § 11 auf 1.000 Rtlr. erhöhte Assessorengehalt rückwirkend ab Dezember 1713 verdoppelt. Es beliefsich von nun an, den Reichstaler zu 120 Kreuzer gerechnet, auf 2.000 Rtlr., den Reichstaler zu 90 Kr. gerechnet, auf 2.666 Rtlr. 60 Kr., s. ebd. ad 2. und ad 3. des Reichsgutachtens. Entsprechend wurden die Gehälter des Kammerrichters und der beiden Präsidenten erhöht; s. die zugrundeliegenden genauen Berechnungen, die das Karneralkollegium über seine beiden nach Regensburg entsandten Kassendeputierten Ludolf und Dre-
306
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Realität ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so schlimmes Schicksal wie die Gesetze, die das Reich 1654 in einer Parallelsituation verabschiedet hatte, um das marode Sustentationswesen des RKG im Interesse einer funktionierenden Reichsjustiz zu sanieren. Der in das kaiserliche Ratifikations-Kommissions-Dekret vom 3.11.1720 eingeflochtene Appell an die Stände, ihrer selbstauferlegten Zahlungspflicht "aus Lieb vor den gemeinen Nutzen und Wohlstand ohne einige Ausflucht" nachzukommen305 , zeitigte in der Folge nur ungenügende Wirkung. Vor allem eine große Zahl von bewilligten Moderationsgesuchen, ferner ungangbare Posten in der Kameralmatrikel, schlechte Zahlungsmoral bis hin zur Zahlungsverweigerung sowie die Schwierigkeit, neben den laufenden auch die rückständigen Kammerzielet einzutreiben, führten nach 1719/20 dazu, daß die eingehenden Beiträge mit etwa 70.000 Reichstalern weit unter der veranschlagten Summe von rund 100.000 Reichstalern blieben. Davon konnten neben den Gehältern für den Kammerrichter, die beiden Präsidenten und die anderen vom Reich unterhaltenen Kameralbediensteten statt der festgesetzten 25 nur 17 Assessoren laufend besoldet werden, von der Tilgung der Besoldungsrückstände zu schweigen306 . Zwar hatte die Reichsversammlung, was angesichts des von den Reichsständen selbst verschuldeten Kassendefizits geradezu zynisch wirken mußte, in ihrem Reichsgutachten von 1719 dem Kameralkollegium vorgeschrieben, nicht nur jetzt gleich durch Neuaufnahmen die festgesetzte Zahl von 25 Beisitzern komplett zu machen, sondern auch in Zukunft "unterm Vorwand der nicht eingekommenen Zieler ... keine Assessorat-Stelle eigenmächtig ledig und unbesetzt zu lassen". Bei Zahlungssäumigkeit habe das RKG dies an Kaiser und Reich zu bringen "oder die Schuld sich selbst beyzumessen". An dieser unzumutbaren Forderung hielt die Reichsversammlung trotz des weiterhin zu geringen Kammerzieleraufkommens auch noch in zwei späteren Reichsgutachten von 1726 sanus im Sommer 1719 der Reichsversammlung als Entscheidungsgrundlage zustellte, Druck: LUDOLF, Historia sustentationis, 1. Anhang, S.614-617.- Im Rahmen dieses Kapitels, das sich mit der Entwicklung des Präsentationssystems befaßt, kann die - damit freilich eng verknüpfte - Geschichte des kammergerichtliehen Sustentationswesens im Umfeld des Reichsschlusses von 1719/20 nur gestreift werden. In der Geschichte des Alten Reiches und seiner Institutionen ist wohl kaum so viel und so gerrau gerechnet worden wie im Rahmen des RKGUnterhaltswerks; für die Zeit des Reichsschlusses von 1719/20 und die Folgezeit sehr kompetent: HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.33 ff., S.50 f., 114; nur bis 1721 gehend, aber mit zahlreichen Quellenabdrucken im 1. Anhang: LUDOLF, Historia sustentationis, S.125 ff. Rarpprecht (Biogr. 89) war ebenso wie vor ihm Ludolf (Biogr. 38) einer der jeweils zwei Kassendeputierten des Kameralkollegiums. 305 306
Ksl. Ratifikations-Kommissions-Dekret vom 3.11.1720, zit. nach CJC, Anhang, S.7.
S. die gerrauen Summen bei HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.48 f. u. passim, S.l13 ff.; danach PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.23 f.; DERS., Historische Entwickelung, T1.2, S.413 ff.; vgl. auch BALEMANN, Beiträge, S.21 f.
II.3.1.4.1. Der Reichsschluß von 1719/20
307
und 1729 fest307 . Der Kaiser dagegen billigte diese Haltung des Reichstags nicht, sondern konterte vielmehr schon 1720 in seinem Ratifikations-KommissionsDekret, daß er nicht abzusehen vermöge, was und wieviel "dem Justitz-Wesen mit leeren Worten und ahnbefolgten Reichs-Schlüssen werde geholffen seyn" oder wie bei ausbleibenden Kammerzielern dem RKG die volle Besetzung der Assessorate könne abverlangt werden. Nach der einzig realistischen kaiserlichen Ansicht, die in zwei weiteren Ratifikations-Kommissions-Dekreten von 1727 und 1731 wiederholt wurde, konnte man dem Kameralkollegium die Aufnahme von 25 Assessoren bzw. einem Präsentierten den Amtsantritt so lange nicht zumuten, als der dazu erforderliche, die Gehälter voll abdeckende Sustentationsfundus nicht von den Ständen selbst aufgebracht worden sei und ständig nachgefullt werde 308 • An diesem Standpunkt orientierte sich das Gericht in den Jahrzehnten nach dem Reichsschluß von 1719/20, und zwar- abgesehen von dem größten Zahlungsverweigerer Brandenburg-Preußen- nolens volens auch mit Tolerierung der Reichsstände 309 . 307 Reichsgutachten
vom 15.12.1719, ad 1, zit. nach CJC, Anhang, S.4; vgl. die Reichsgutachten vom 8.11.1726 und 13.6.1729, Druck: NVSRA Tl.4, 8.359-362, 373-376; SCHMAUSS, Corpus Juris Publici, 8.1299-1304, 1325-1330; dazu: HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.61 f., 72 ff.; BALEMANN, Beiträge, 8.15 ff. 308 Ksl. Ratifikations-Kommissions-Dekret vom 3.11.1720, zit. nach CJC, Anhang, S.7; vgl. die ksl. Ratifikations-Kommissionsdekrete vom 2.11.1727 und 5.10.1731, Druck: NVSRA Tl.4, 363-373, 376; SCHMAUSS, Corpus Juris Publici, 8.1307-1324, 1330 f.; dazu HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, 8.64 ff., 75; BALEMANN, Beiträge, 8.16 f. 309 Mit dem Argument, es habe die Erhöhung der Kammerzieler auf das Dreieinhalbfache (von 2 auf 7) nur unter der Voraussetzung bewilligt, daß zuvor 25 Assessoren aufgenommen worden seien, verweigerte Brandenburg-Preußen nach 1720 für seine sämtlichen Reichsgebiete die Zahlung nach dem von ihm selbst mitbewilligten erhöhten Anschlag. Vielmehr zahlte es bis 1791 weiterhin nach dem alten Fuß, also nur zwei Siebtel der reichsschlußmäßigen Beträge. Der Sustentationskasse gingen dadurch nach den Berechnungen Harpprechts (S.l21) jährlich 3.885 Rtlr. verloren. Nach den quellengestützten Angaben Hartmanns (S.313) war Brandenburg-Preußen an den Gesamtrückständen aller Reichsstände, die sich im Jahre 1785 auf insgesamt 543.825 Rtlr. beliefen, mit 52,2% beteiligt; d.h. Berlin hatte bis 1785 ftir sämtliche brandenburg-preußischen Kur- und Kreislande einen Rückstand von 283.747 Rtlm. auflaufen lassen, während es gleichzeitig wegen der Kurwürde und im Rahmen mehrerer Kreispräsentationen mehrere Präsentationsberechtigungen in seiner Hand vereinigte und auch ausübte. Erst ab 1791 wurden die Kammerzieler von Preußen in der reichsgesetzlichen Höhe abgeflihrt, wofür das Kameralkollegium auf die bis dahin auf 320.000 Rtlr. angewachsenen preußischen Rückstände verzichtete; dazu s. (in Auswahl) HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.46, 79, 83 f., 94, bes. S.119 ff.; R. SMEND, Brandenburg-Preußen und das Reichskammergericht, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 20, 1907, 8.161199 (465-501), hier: 8.192-196 (494-498); DERS., Reichskammergericht, S.224 Anm.1, S.227 Anm.1; jetzt mit genauenAngaben über die Höhe der preußischen Rückstände im Jahre 1785 sowohl insgesamt als auch speziell im Rahmen des Niederrheinisch-Westfälischen und des Ober- und Niedersächsischen Kreises: P. C. HARTMANN, Zur Bedeutung der Reichskreise ftir Kaiser und Reich im 18. Jahrhundert, in: W. Dotzauer u.a. (Hgg.), Landesgeschichte und Reichsgeschichte. Festschr. f. Alois Gerlieh zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1995, 8.305-319,
308
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Das Anfang 1711 auf 5 Assessoren zusammengeschmolzene Kameralkollegium hatte in der Zeit unmittelbar nach seiner Wiedereröffnung mit Rücksicht auf das geschrumpfte Kammerzieleraufkommen immer nur höchstens 8 reichsständische Assessoren gleichzeitig aufgenommen. Mit Einschluß des damals und noch bis 1722 vakanten kaiserlichen Assessorats wären es insgesamt 9 gewesen310. Mit Conclusum vom 14.12.1712 erhöhte das Plenum diese informelle, am realen Kassenstand orientierte Planstellenzahl auf 12 reichsständische Assessorate, so daß einschließlich der vom Kaiser zu besetzenden Stelle mit insgesamt 13 11 actuales Assessores 11 wieder der von 1684 bis zum Gerichtsstillstand herrschende Status quo erreicht war311 • Um die Reichsstände für seine Wünsche nach Besoldungsverdopplung und Assessorenvermehrung günstig zu stimmen, beschloß das Kameralkollegium am 26./27.4.1719, diese Obergrenze durch weitere Neuaufnahmen auf 16 reichsständische, zusammen mit einem zukünftig präsenhier S.309 ff. Hartmann geht allerdings von der irrigen Ansicht aus, daß der in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts erheblich reduzierte Gesamtzahlungsrückstand an Kammerzielern neben der in der Endphase des Reiches "frappierenden Loyalität und Zahlungsfreudigkeit" der Reichsstände und speziell Brandenburg-Preußens (die regelmäßige Abführung der Kammerzieler war reichsgesetzliche Pflicht!) vor allem der Tatsache zu verdanken gewesen sei, "daß die brandenburg-preußischen Territorien ihre Schulden abgetragen", folglich im Jahre 1797 "gar keine Schulden mehr an dieses Reichsgericht" gehabt hätten (ebd., S.314 f.). Die Abschmelzung der Gesamtrückstände aller Reichsstände in den letzten Jahren des RKG war jedoch nicht auf "die erheblichen preußischen Nachzahlungen und die erstaunliche Loyalität Brandenburg-Preußens" zurückzuführen (ebd., S.315), sondern vielmehr, wie oben im Anschluß an SMEND, Brandenburg-Preußen, S.196 (498), berichtet, darauf, daß das RKG 1791 auf die Rückzahlung der in den vergangenen sieben Jahrzehnten auf 320.000 Rtlr. angewachsenen Rückstände verzichtet hatte, um im Gegenzug Berlin von nun an zur regelmäßigen Zahlung der laufenden Zieler in der reichsgesetzlich festgelegten Höhe zu bewegen. - Wenn Hartmann im übrigen die bis 1785 bei sämtlichen Reichsständen aufgelaufenen Rückstände an Kammerzielern in Höhe von 543.825 Rtlrn. als "eine zwar nicht geringe, aber angesichts des langen Zeitraums doch nicht übermäßig hohe Summe" einschätzt (ebd., S.309), dann stellt diese Bewertung angesichts der Folgen dieses Defizits und der ihm zugrunde liegenden schlechten Zahlungsmoral - ein immer größer werdendes Loch in der Kameralkasse, eine eklatante Unterbesetzung des Kameralkollegiums, Außenstände bereits länger amtierender Assessoren und erzwungener Besoldungsverzicht neu aufgenommener Beisitzer in der ersten Zeit ihrer Tätigkeit - doch eine unzulässige Verharmlosung dar. Immerhin entsprachen diesem Rückstand von 543.825 Rtlrn. etwa 204 Jahresgehälter eines RKG-Beisitzers (seit 1720: 2666 Rtlr. 60 Kr., den Reichstaler zu 90 Kreuzer gerechnet)! 310 Vgl. außer der damaligen Aufnahmepraxis selbst: RKG IV C 6 fol.307v-311r (Prot. vom 18.1.1712, bes. die Proposition); BALEMANN, Beiträge, S.20. 311
RKG IV C 6 fol.592v-598r (Prot. vom 14.12.1712), bes. Conclusum fol.598r. Beschlossen wurde die Rezeption von 4 weiteren Assessoren, d.h. eine Erweiterung des Gerichts von bisher 8 auf nunmehr 12 gleichzeitig amtierende (reichsständische) Beisitzer, "wie es ante Justitium gewesen"; vgl. außer der Aufnahmepraxis selbst auch eine Bemerkung im Votum Solms vom 22.12.1718, in: RKG IV B 211 fol.64v-65r/1718 (damals 12 bzw. inclusive des vakanten kaiserlichen Assessorais = 13 "würckliche", d.h. gleichzeitig zu besetzende Assessoratstellen); etwas irreruhrend BALEMANN, Beiträge, S.20.
II.3.1.4.1. Der Reichsschluß von 1719/20
309
tierten kaiserlichen Beisitzer also auf insgesamt 17 Assessoren anzuheben, wobei die Neurezipierten angesichts des unzureichenden Kassenstands bis auf weiteres mit äußerst ungünstigen Besoldungskonditionen rechnen mußten312 • Das Reichsgutachten vom 15.12.1719 hätte das Kameralkollegium zur schnellstmöglichen Aufnahme von insgesamt 25 Assessoren verpflichtet. Die sich bald abzeichnende enttäuschende Entwicklung des realen Kammerzieleraufkommens veranlaßte das Plenum jedoch, gestützt auf die zitierte kaiserliche Haltung in dieser Frage, es in zwei Beschlüssen vom 19.6. und 20.12.1721 bei der 1719 festgesetzten informellen Höchstzahl von nur 17 Planstellen, davon 16 paritätisch besetzten reichsständischen, zu belassen und dies durch weitere Neuaufnahmen nun auch wirklich zu vollziehen313 • Mit der Vereidigung des kaiserlichen Assessors Dresanus am 27.1.1722 war die Zahl von 17 gleichzeitig amtierenden Beisitzern erreicht. Bei diesem seinem realen Umfang beließ es das Kameralkollegium, legitimiert durch den Kassenstand, in den folgenden Jahrzehnten, bis der Reichsschluß von 1775 und dessen Vollzug im Jahre 1782 endlich eine Vermehrung auf 25 Beisitzer ermöglichten. Im Gefolge des Reichsschlusses von 1719/20 wurde also auch für den größten Teil des 18. Jahrhunderts eine Situation festgeschrieben, die dieser Reichsschluß durch eine ausdrücklich nur provisorische Reduzierung von 50 auf 25 Assessorate und durch eine angemessene Erhöhung der Kammerzieler gerade hatte ver312
RKG IV C 10 fo1.47r-55v (26.4.1719), bes. Conclusum fol.55rlv; ebd. fol.56r-69r (27.4.1719), bes. fol.56r-57v (vollständigerer Text des nochmals verlesenen, am Vortag gefaßten Conclusums). Beschlossen wurde am 26./27.4.1719 die zukünftige Aufnahme von 6 (nicht 8) weiteren Assessoren unter Wahrung der Konfessionsparität Das bedeutete, da damals nur 10 Assessoren wirklich amtierten, die Erweiterung des Kameralkollegiums auf insgesamt 16 reichsständische, den kaiserlichen Beisitzer eingerechnet auf insgesamt 17 Richterstellen. Diese Bedeutung des Conclusums vom 26./27.4.1719, das bei BALEMANN, Beiträge, S.20 f., fehlerhaft referiert wird, läßt sich auch aus den daran anschließenden Pienarbeschlüssen von 1721 entnehmen, s. die folgende Anmerkung. Die neuaufzunehmenden Beisitzer sollten allerdings so lange nicht an der Besoldung partizipieren, als Kaiser und Reich nicht ftir eine Verbesserung des Sustentationsfundus Sorge getragen hätten. Erst wenn dies geschehen sei, sollte ihnen rückwirkend vom Tag ihres Dienstantritts an ihr Gehalt ausgezahlt werden. Tatsächlich mußten seit den zwanziger Jahren bis Mitte des 18. Jahrhunderts die neu eintretenden Mitglieder, die sich von dieser Kondition nicht abschrecken ließen, nach ihrem Amtsantritt zunächst anderthalb Jahre auf ihr Gehalt warten, damit den amtsälteren Kollegen neben ihrem laufenden Gehalt nach und nach auch ihre rückständige Besoldung ausgezahlt werden konnte. Mehrere in dieser Zeit einberufene Präsentierte verzichteten daher nach der Vokation auf ihr Assessorat; vgl. die bei HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.56, 82 f. u.ö. referierten Schreiben des Kameralkollegiums an Kaiser und Reichsversammlung aus den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts; s. auch BALEMANN, Beiträge, S.22. 313
RKG IV C 11 fol.204r-219v (19.6.1721), bes. Conclusum fol.219v; ebd., fol.455v-460v (20.12.1721), bes. Conclusum fol.460v; vgl. BALEMANN, Beiträge, S.21; vgl. auch die bei HARPPRECHT, Unterhaltungs-Werk, S.55 f., 58 f., referierten Schreiben des Kameralkollegiums an Kaiser und Reichsversammlung von 1724 und I 725.
310
II.3. Die Besetzung der Assessorate
meiden wollen: Zwar wurde die finanzielle und personelle Lage des Karneralkollegiums verglichen mit dem viel desolateren vorherigen Zustand relativ verbessert. Jedoch blieb die Kluft zwischen der reichsgesetzlich verordneten Assessorenzahl und der Zahl wirklich besoldbarer und amtierender Beisitzer, der "actuales Assessores", bei etwas angenäherten Werten weiterhin offen. Der bald nach 1654 eingerissene Mißstand der langen Wartezeiten zwischen Prüfungsverfahren und Aufschwörung wurde zur ungeschriebenen Norm. Den damals 24 gangbaren und von den betreffenden Präsentanten bei jedem Erledigungsfall sogleich wahrgenommenen Präsentationsberechtigungen standen von 1719/21 bis 1775/82 nur 17 finanzierbare Planstellen (9 katholische, 8 evangelische) gegenüber, wobei nur der kaiserliche Präsentatus immer sogleich nach bestandener Prüfung ohne Wartezeit einberufen wurde. Jeweils bis zu sieben reichsständische Präsentierte mußten also nach Ablegung ihrer Prüfungen warten, bis sie endlich auf eine Planstelle ihrer Konfession einrücken konnten. Diese Diskrepanz hatte in den folgenden Jahrzehnten eine Fülle besetzungspolitischer und sozialgeschichtlicher Folgen, die sich an den Biographien der einzelnen Präsentierten ablesen lassen. Sie verschuldete zahlreiche lrregularitäten im Aufnahme- und Prüfungsverfahren, über die noch zu reden sein wird. Die Landkarte des Alten Reiches mit ihren politischen Strukturen, ihren sozialen "networks" und ihrer partikularrechtliehen Vielfalt konnte unter diesen Bedingungen auch in den Kameralkollegien der Jahrzehnte zwischen 1719/20 und 1775/82 niemals vollständig, sondern immer nur in Ausschnitten sichtbar werden. Ein weiterhin unzureichendes Kammerzieleraufkommen hatte es Kaiser und Reichstag erlaubt, die Ungereimtheiten des Reichsschlusses von 1719/20 auf ihre Weise vom Tisch zu wischen. Angesichts von ohnehin nur 17 gleichzeitig besoldbaren Beisitzerstellen fühlte man in den folgenden Jahrzehnten keinen Handlungszwang, die Unstimmigkeiten durch ein nachbesserndes Reichsgesetz mit einem konsequent berichtigten Präsentationsschema zu beseitigen. Der Reichsschluß von 1719/20 mit seiner radikalen Reduktion der Assessorate und die nur halbherzige Verwirklichung selbst dieser Norm bedeuteten also in doppelter Weise eine Kapitulation und negative Anpassung an den gesunkenen Willen vieler Reichsstände zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit dieser obersten Gerichtsinstanz. Reichsschluß und Wirkungsgeschichte demonstrieren ein weiteres Mal die problematischen Folgen der Tatsache, daß um 1500 Pflicht und Recht zur Besetzung der RKG-Assessorate vom Reichsoberhaupt größtenteils auf die Partikulargewalten übergegangen und diese Richterbestellung dadurch an das politisch-verfassungsrechtliche Gefüge des Reiches angeschmiedet worden war. Zum einen offenbarte dieses System mit seinen reichsgesetzlich garantierten Präsentationsbefugnissen und seiner Paritätsstruktur mehr denn je seine Inflexibilität, als es 1719/20 wieder einmal notwendig geworden war, das Sehe-
II.3 .1.4.1. Der Reichsschluß von 1719/20
311
ma den veränderten Fakten anzupassen. Zum anderen stand und fiel die reibungslose Anwendbarkeit des Schemas mit der Interessenlage der verantwortlichen Reichsstände, vor allem mit der Bereitschaft, dieses Schema in sich stimmig zu machen und für den erforderlichen finanziellen Unterbau zu sorgen. Ein Besetzungsmodus, der- so wie am Reichshofrat- ausschließlich mit absoluten Richterzahlen rechnete, hätte all diese Komplikationen nicht verursacht. Die Analyse des Reichsschlusses von 1719/20 und seiner Folgewirkungen scheint aufwendig. Sie muß es sein, will man die verschiedenen Raster erkennen, mit denen eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Analyse der RKGPräsentationen im 18. Jahrhundert zu operieren hat. Diese Bezugssysteme werden im folgenden noch einmal kurz beschrieben und graphisch verdeutlicht. Zu unterscheiden sind für die Zeit von 1719/20 bis 1775/82: 1. das nie realisierte, aber auch durch den Reichsschluß von 1719/20 nicht endgültig aufgehobene Doppelschema von 1648/54 mit insgesamt 50 Assessoraten = 50 Präsentationsberechtigungen (26 kath., 24 ev.), dessen prinzipielle Struktur auch nach der Halbierung erhalten blieb; 2. die durch den Reichsschluß von 1719/20 festgestellte, durch provisorische Halbierung des alten Doppelschemas erreichte neue Idealnorm von absolut 25 Assessoraten (13 kath., 12 ev.), in denen unlogischerweise auch die beiden neuen kurböhmischen und kurhannoverschen Assessorate inbegriffen sein sollten; diese Zahl 25 konnte deshalb in der Folge nur als neue Idealnorm für die Gesamtzahl der gleichzeitig zu besetzenden Assessorate, nicht für die Gesamtzahl der Präsentationsberechtigungen interpretiert werden; 3. die insgesamt 27 de jure ausübbaren Präsentationsberechtigungen (14 kath., 13 ev.), davon 25 alte, 2 neue (Kurböhmen, Kurhannover); von diesen 27 Präsentationen waren 3 (2 ganze und 2 halbe) nicht gangbar (1 kath. und 1 ev. Niederrheinisch- W esWilische Kreis-Präsentation sowie die beiden halbierten alternierenden ev. Kreispräsentationen); 4. die 24 gangbaren und auch wirklich ausgeübten Präsentationsberechtigungen (13 kath., 11 ev.); 5. die vom Kameralkollegium 1719 und nochmals 1721 festgesetzte und bis 1775/82 beibehaltene, am realen Kammerzieleraufkommen orientierte informelle Planstellenzahl von 17 gleichzeitig finanzier- und besetzbaren Assessoraten (9 kath., 8 ev.). Die Raster 2-5 sind auf der folgenden Seite in Abbildung 1 graphisch veranschaulicht.
312
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Abbildung 1: Präsentationsberechtigungen und gleichzeitig zu besetzende bzw. besetzbare Assessorate (fiir den Zeitraum 1719/20- 1775/82)
Q @
Ö
=
=
=
(I) =
laut Reichsschluß 1719/20 de jure ausübbare Präsentationsberechtigungen (27) davon nicht gangbare Präsentationsberechtigungen (2 + Yz + Yz = 3) laut Reichsschluß 1719/20 gleichzeitig zu besetzende Assessorate (25) auf Grund des Kassenstands wirklich gleichzeitig besold- und besetzbare Assessorate (17)
II.3.1.4.2. Der Reichsschluß von 1775 und seine Realisierung
313
2. Der Reichsschluß von 1775 und seine Realisierung Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Stückwerk gebliebenen Reichsschluß von 1719/20 rafften sich Kaiser und Reich dazu auf, die damaligen Beschlüsse doch noch zu realisieren. Eingebettet in eine breite publizistische und politische Erörterung der Mißstände im Reichsjustizwesen und einer notwendigen Reform vor allem des RKG, das der junge Kaiser Joseph Il. "in den Dienst einer kaiserlich-beherrschten Reichspolitik stellen wollte", tagte von 1767 bis 1776 in Wetzlar die letzte außerordentliche Visitation314 • Im Zuge ihrer Vorbereitung und Durchführung wurde im Interesse einer Beschleunigung der allgemein als zu langsam kritisierten Kameraljustiz auch die Vermehrung der wirklich amtierenden Assessoren von damals 17 auf 25, also der längst überfallige Vollzug des Reichsschlusses von 1719/20, in den Reformkatalog aufgenommen. Nicht mehrheitsfahig, wenn auch bezeichnend für die herabsetzende Haltung Preußens gegenüber dem Gericht, war ein 1773 im Kurfürstenrat abgegebenes kurbrandenburgisches Votum, das diese Vermehrung weder für unumgänglich noch für notwendig erachtete. Zum einen fehle es dazu an Unterhaltsmitteln- ausgerechnet Preußen bezahlte damals in Konsequenz seiner 1720 eingeschlagenen Obstruktionspolitik für all seine Reichsterritorien weiterhin nur zwei Siebtel seines reichsgesetzlichen Matrikularbeitrags315 ! Zum anderen würde die derzeitige Anzahl an Beisitzern (17) schon hinreichend sein, "wann nur der Geist eines wahren Justiz- und Diensteifers, der Arbeitsamkeit, des Fleisses und der Rechtschaffenheit behörig eingeflösset und eine zur besseren und behenderen Bewegung der Machine ausgedachte bequemere Einrichtung derer Geschäffte, nebst der schicklichen Eintheilung derer Senate, getroffen werden wollte" 316 . Die Mehrheit der Stände vertraute jedoch neben der als unumgänglich erkannten Reform des Geschäftsgangs lieber auf die Verstärkung des Richtergremiums als auf das Einschärfen preußischer Tugenden317 • Die seit Ende der sechziger Jahre zu die314 Zitat: PRESS, Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, S.44. Zur Charakterisierung dieser Epoche, in der das RKG noch einmal im Rampenlicht der Reichsöffentlichkeit stand, s. PRESS, ebd., S.42 ff.; SMEND, Reichskammergericht, S.226 ff., bes. S.230 ff.; zum reichspolitischen Kontext dieser letzten RKG-Visitation s. ausführlich die in Kap.II.l.l. Anm.39 nachgewiesenen Arbeiten von Hettfleisch, Rohr und vor allem von Aretin. 315 Zu diesem weitgehenden Zahlungsboykott Preußens und seiner Begründung sowie zur Höhe der im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer Gesamtsumme von schließlich (1791) 320.000 Rtlm. angeschwollenen preußischen Rückstände an Kammerzielern s. mit weiteren Nachweisen oben Anm.309. 1773 müssen diese Rückstände für alle brandenburg-preußischen Reichsterritorien schon etwa 230.000 Rtlr. betragen haben. Davon hätten etwa 86 damalige Jahresgehälter eines RKG-Beisitzers a 2.666 Rtlr. 60 Kr. bezahlt werden können. 316 Votum Kurbrandenburgs auf dem Reichskonvent 1773, zitiert nach MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.396. 317 Vgl. das Reichsgutachten vom 3.(!)8.1770; Druck: [Ch. G. ÜERTEL (Hg.)], Sammlung der nöthigsten, zum Theil noch ungedruckten Actenstücke, die Visitation des Kaiserlichen
314
II.3. Die Besetzung der Assessorate
sem Thema ergangenen kaiserlichen Dekrete und Reichsgutachten, die vom Kameralkollegium und der Visitation eingeforderten Berichte, die Debatten des Reichstags sowie publizistische Abhandlungen mündeten 1775 in einen Reichsschluß ein, bestehend aus dem Reichsgutachten vom 23.10.1775 und dem kaiserlichen Ratifikations-Kommissions-Dekret vom 15.12.177 5318 • Dieser Reichsschluß, eine der letzten Anstrengungen des Reiches zugunsten des Kammergerichts, verabschiedete nicht nur eine umfassende neue Geschäftsordnung von wie sich bald zeigte - sehr zweifelhaftem Wert, sondern beschloß in engem Zusammenhang damit auch die dauerhafte Vergrößerung des Kameralkollegiums auf 25 Assessoren. Um sie besolden zu können, erlegten sich die Reichsstände eine Anhebung der jährlichen Kammerzielerbeiträge um ein Viertel des 1719/20 erhöhten Matrikularanschlags auf319 . Dem Kameralkollegium wurde aufgegeben, diese Erweiterung durch Prüfungen und Neuaufnahmen von acht weiteren Kollegen bis Ostern 1776 zu bewerkstelligen. Bei alledem galt den Gesetzgebern die im Westfälischen Frieden vereinbarte Zahl von 50 Assessoren immer noch als gültiger, wenn auch in die Feme gerückter, in Wirklichkeit jedoch längst zur Fata Morgana gewordener Fixpunkt. Entscheidend in unserem Zusammenhang ist die Feststellung, daß der Reichsschluß von 1775 zwar mit der wirklichen Besetzung von 25 Richterstellen endlich den Reichsschluß von 1719/20 vollstrecken wollte, dafiir aber ebenso wenig und Reichs-Cammer-Gerichts betreffend, Bd.2 Tl.2, o.O. [Regensburg] 1774, S.44 f.; Inhalt referiert bei MüSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.391. 318 Reichsgutachten, Regensburg, 23 .1 0.1 77 5; ksl. Ratifikations-Kommissions-Dekret, Regensburg, 15 .12.1 77 5; Druckorte (in Auswahl): PüTTER, Neuester Reichsschluß, Textteil, S .112, 13-29 (mit Beilagen zum Ratifikationsdekret S.29-48); SCHMAUSS, Corpus Juris Publici, 8.1528-1539 (nur das Reichsgutachten). Der Reichsschluß von 1775 in seinen die Vermehrung der Assessoren betreffenden Passagen samt den daraus nach 1775 gezogenen Konsequenzen wird mehr oder weniger ausführlich referiert und kommentiert von PüTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.26 ff.; BALEMANN, Beiträge, S.10 ff., 23 ff., 82 f. u. passim; J.A. REuss, Beiträge zur neuesten Geschichte der Reichsgerichtlichen Verfassung und Praxis, Bd.1, Ulm 1785, S.1 ff.; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.82 ff., 102 ff.; DANZ, Grundsäze, S.173 ff.; PÜTTER, Anleitung, Tl.2 Bd.1, S.1 00 ff.; DERS., Historische Entwickelung, Tl.3, S.138, 155 f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.96 ff. u. passim; SMEND, Reichskarnmergericht, S.239, 273 f.; nur sehr knapp BosTELL, Grundsätze, S.19 ff.; eingebettet in den reichspolitischen Kontext und in den äußeren Verlauf der letzten RKG-Visitation, kurz auch ARETIN, Das Alte Reich, Bd.3, S.151; s. auch die in Kap.II.l.l. Anm.39 zitierten Aufsätze Aretins von 1991 und 1997 über diese Visitation (die Zahl der gleichzeitig amtierenden Assessoren wurde auf 25, nicht, wie Aretin wiederholt angibt, auf 27 erhöht, s. die obige Darstellung). Für die Vorgeschichte dieses Reichsschlusses ist auch die in Anm.317 zitierte Aktenpublikation von ÜERTEL, Sammlung der nöthigsten ... Actenstücke, vor allem Bd.2/2, heranzuziehen; zur Vorgeschichte s. ferner MosER, Justiz-Verfassung, T1.2, S.391 ff., 398 ff.; weitere Belege s. in den folgenden Anmerkungen. 319 Zur Erhöhung der Karnmerzieler s. Art. 32 des Reichsgutachtens sowie des ksl. Ratifikations-Kommissions-Dekrets von 1775, in: PüTTER, Neuester Reichsschluß, Textteil, S.12 u. 26; dazu zur Erläuterung PüTTER, ebd., Vorrede, S.45 ff.
II.3.1.4.2. Der Reichsschluß von 1775 und seine Realisierung
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wie dieser die notwendige Vorarbeit, nämlich die Berichtigung des Präsentationsschemas, leistete. Nur auf die absolute Assessorenzahl abhebend und ohne auf das Präsentationsschema einzugehen, bestimmte das Reichsgutachten: "Die allschon Reichsschlußmäßige Vermehrung der Kammergerichts Beysitzer auf 25 derselben wäre einsweilen, bis zu der Friedensschlußmäßigen vollen Zahl gelanget werden möge, zu bewirken" 320 • Das kaiserliche Ratifikations-Kommissions-Dekret ließ sich etwas weiter aus, wiederholte aber auch nur die einschlägigen Passagen des Reichsschlusses von 1719/20, in welchem die Vermehrung der Beisitzer "wenigstens einsweilen auf flinf und zwanzig, als die Halbscheid der Friedensschlußmäßigen Anzahl, mit Einschluß des jemaligen Kaiserlichen so wie der Königlich-Kur-Böhmisch- und Kur-Braunschweigischen Praesentaten bereits ... befestiget" sei321 • In einem Begleitschreiben an das Kameralkollegium vom 30.11.1775, in dem Joseph II. zusammen mit der Übersendung des Reichsschlusses dessen Inhalt referierte, fügte der Kaiser erläuternd hinzu, daß das Kameralkollegium zu dem anbefohlenen Ostertermin 1776 folglich mit 25 Beisitzern, 13 katholischen und 12 evangelischen, besetzt sein solle322 • Die Analyse des Reichsschlusses von 1719/20 noch in Erinnerung, machen diese Zitate klar, daß auch die Vereinbarung von 1775 nicht die mathematische Unmöglichkeit beseitigte, 27 damals de jure vorhandene Präsentationsberechtigungen mit 25 finanzierbaren Planstellen in Deckung zu bringen. Eine konsequente Korrektur des Präsentationsschemas stand auch 1775 aus. Die zitierten Passagen des Reichsschlusses lassen allerdings nicht erkennen, daß in seinem politisch-publizistischen Umfeld schon seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine breite Diskussion darüber im Gange war, welche Schwierigkeiten sich der wirklichen Einberufung von 25 Assessoren entgegenstellten und wie diese Hindernisse zu beseitigen seien. In dieser Vordiskussion wurden am Reichskonvent, in der Visitationskommission, von der Reichspublizistik sowie von Kameralschriftstellern all diejenigen Fragen erörtert, deren Klärung Kaiser und Reich fünfzig Jahre zuvor mehr oder weniger absichtlich vermieden hatten323 : 320 Reichsgutachten vom 23.10.1775, Art. 30, zit. nach PüTTER, Neuester Reichsschluß, Textteil, S.ll. 321 Ksl. Ratifikations-Kommissions-Dekret vom 15.12.1775, ad Art.30, zit. nach PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Textteil, S.25. 322 Ks. Joseph II. an das RKG, Wien, 30.11.1775, Druck: PüTTER, Neuester Reichsschluß, Textteil, 8.31-44, hier Art. 29, S.41 f. 323 Zu dieser Vordiskussion s. (in Auswahl) MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.391 ff., 398 ff. Moser zitiert unter anderem aus Reichstagsprotokollen sowie aus zwei 1772 erschienenen, zum Teil kontroversen Schriften, die damals in der publizistischen Vor- und Nachbereitung des Reichsschlusses von 1775 eine zentrale Rolle spielten: "Ohnmaßgebliche Vorschläge die Visitation und die Beförderung des Justitzwesens am k. u. R.C.G, dann dessen Sustentationswerk betreffend" (Verfasser war vermutlich der damalige Österreichische Direk-
316
II.3. Die Besetzung der Assessorate
1. Zu lösen war erstens das Problem des Überhangs von 27 Präsentationsberechtigungen gegenüber 25 gleichzeitig zu besetzenden Assessoraten, entstanden durch die 1708 neu hinzugekommenen Präsentationsrechte Kurböhmens und Kurhannovers. Diese beiden Kurpräsentationen wurden seit 1715 bzw. 1719 unangefochten ausgeübt, waren aber immer noch nicht in das Präsentationsschema integriert, obwohl sie laut Reichsschluß von 1719/20 unter der Planstellenzahl von 25 Assessoraten mitbegriffen sein sollten. 2. Der Realisierung des Reichsschlusses von 1719/20 stand auch ein halbes Jahrhundert später immer noch im Weg, daß von den 27 de jure existierenden Präsentationsberechtigungen drei (zwei ganze und zwei halbe) nicht gangbar waren und bei den 24 gangbaren (darunter der kaiserlichen) die Religionsparität unter den 23 reichsständischen Assessoraten mit einem Verhältnis von 12 katholischen zu 11 evangelischen gestört war. Um die absolute Zahl von 25 Assessoren einberufen und dabei die reichsgesetzlich geforderte Konfessionsgleichheit sichern zu können, mußten die blockierten Präsentationen endlich in Gang gebracht werden. Dies hatte einmal durch Zusammenlegung der beiden 1719/20 halbierten altemierenden evangelischen Kreispräsentationen, derjenigen des Ober- und Niedersächsischen Kreises sowie derjenigen der evangelischen Stände der vier konfessionell gemischten Kreise (Fränkischer, Schwäbischer, Oberrheinischer und Niederrheinisch-Westfälischer Kreis), zu geschehen. Dazu mußte jedoch vorher fiir die beteiligten Stände dieser sechs Kreise auf Bruchteile genau ein gemeinschaftlicher Nominationstumus erstellt werden, in dem die Beteiligungsquoten proportional dieselben blieben wie vor der Halbierung und Zusammenlegung. Ungeklärte Rangfragen zwischen den sechs Kreisen sowie Turnusstreitigkeiten innerhalb einiger Kreise erschwerten diese Rechenoperation. Ferner mußten die seit 1609 bzw. seit 1648/54 blockierten beiden Präsentationen des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises katholischen und evangelischen Teils durch Beilegung der Präsentations- und Nominationskonflikte endlich aktiviert werden- schon die zeitliche Dimension der Blockade deutet an, welche Konsensbereitschaft den zerstrittenen Kreisständen - darunter so mächtigen wie Preußen und Kurpfalz - abverlangt wurde, wollten sie endlich zu einem Vergleich kommen. torialgesandte in Regensburg und frühere RKG-Präsentatus Ägidius Valentin Felix Frh. v. Borie, s. dessen Biogr. 22); "Prüfung der ohnmaßgeblichen Vorschläge ... " (wohl von dem damaligen kurbraunschweigischen Hofrat und hzgl. bremischen Visitationssubdelegierten Johann Philipp Komad Falke verfaßt; beide Titel zit. nach PÜTTER, Litteratur, Tl.2, S.l85). Zu den Erörterungen und Projekten im Zusammenhang mit der Vermehrung auf25 Assessoren s. ferner ÜERTEL, Sammlung der nöthigsten ... Actenstücke, vor allem Bd.2/2, 1774; PÜTTER, Neuester Reichsschluß, Vorrede, S.26 ff.; BALEMANN, Beiträge, S.82 f., 86 ff., 92 ff., 115, 127 ff., 157 f.; F.J.D. v. BOSTELL, Beyträge zur Kammergerichtlichen Litteratur und Praxi, Tl.l, Lemgo 1780, 8.211-222. - Die folgende Zusammenstellung knüpft im übrigen an die obige Analyse des Reichsschlusses von 1719/20 in Kap.II.3.1.4.1. an.
II.3.1.4.2. Der Reichsschluß von 1775 und seine Realisierung
317
3. Der dritte Problemkomplex, der im Vorfeld des Reichsschlusses von 1775 erörtert wurde, entstand aus dem schon seit Anfang des 18. Jahrhunderts angemeldeten Anspruch des seit 1685 katholischen Pfälzer Kurfürsten, das pfälzische Präsentationsrecht künftig nicht mehr, wie 1648 fixiert, auf der evangelischen Seite des Präsentationsschemas, sondern auf der katholischen Seite auszuüben324. Seit Anfang der siebziger Jahre, im Zusammenhang mit der allgemeinen Diskussion über Kameraireform und Assessorenvermehrung, forderte Kurpfalz diese seine Transfederung offensiver ein und bedrohte damit das 1648 so mühsam ausgehandelte konfessionelle Gleichgewicht unter den reichsständischen Präsentationsbefugnissen. Einwände der Protestanten gegen das kurpfälzische Ansinnen waren daher geradezu vorprogrammiert. Es ist unnötig, die Einzelheiten dieser auf verschiedenen Ebenen geführten Diskussion zu referieren, die bis 1775 noch keine Ergebnisse gebracht hatte und deshalb nach dem Reichsschluß noch mehrere Jahre fortgesetzt wurde. Wichtig ist in unserem Zusammenhang eine generelle Charakteristik all dieser Analysen, Projekte und Kontroversen. Sie illustrieren plastisch, daß in der Spätphase des Alten Reiches diejenige Problematik, die hier dem Durchgang durch die Geschichte des Präsentationswesens als Leitthema unterlegt wurde, noch einmal eine Zuspitzung erfuhr, ja fast zwangsläufig erfahren mußte. Damals geriet die öffentliche Diskussion über Mißstände und Reform der Kameraljustiz mehr denn je in die reichspolitischen Grabenkriege der Zeit, wobei sich die Gegensätze zwischen Kaiser und Reichsständen, Corpus Catholicorum und Corpus Evangelicorum, Habsburg und Preußen überlagerten und gegenseitig steigerten. Bei dem Versuch, den Mängeln des RKG abzuhelfen, entstanden die Schwierigkeiten weniger aus der Natur der Sache selbst als dadurch, daß die konkurrierenden Kräfte im Reich die Erörterung der anstehenden Justizprobleme als Vehikel zur Durchsetzung sachfremder politischer Interessen gebrauchten, statt in konstruktiver Weise der Fürsorgepflicht für dieses von ihnen geschaffene Gericht zu genügen325 . Im Grunde wurde damals der Versuch unternommen, auf dem Feld der Reichsgerichtsbarkeit die Verfassungsprobleme des unter großem Innendruck stehenden Reiches zu lösen, so wie umgekehrt Johann Stephan Pütter aus der darniederliegenden Reichsjustiz den Zerfall des ganzen Reiches ableitete und sich von einer Justizreform- ebenso illusionär wie verfassungsrechtlich stringent- zugleich die Rettung des Reiches er324 Über diesen kurpfälzischen Anspruchs. bereits oben Kap.II.3.1.3.2. 325 Vgl. die ähnliche Einschätzung SMENDS, Reichskammergericht, S.232. Eindrucksvolles
Anschauungsmaterial für diese Problematik liefert aus reichspolitischer Sicht, vor allem aus der Perspektive des Wiener Hofes: ARETIN, Das Alte Reich, Bd.3, S.135 ff., im Kapitel über Vorgeschichte und äußeren Verlauf der letzten RKG-Visitation; s. auch die in Kap.II.l.l. Anm.39 zitierten Aufsätze Aretins von 1991 und 1997 über diese Visitation; s. auch die folgende Darstellung.
318
II.3. Die Besetzung der Assessorate
hoffte 326 . Trotz aufwendiger Beschäftigung mit den Zuständen am RKG wurde durch solche Überfrachtung die Lösung der eigentlichen Sachfragen aufs äußerste erschwert, wenn nicht verhindert. Die im ersten Abschnitt dieser Arbeit entwickelte These von der strukturbedingten Existenzproblematik des RKG, resultierend aus seiner komplexen Anhindung an Kaiser und Reichsstände, aus seiner ebenso zentralen wie freischwebenden Aufhängung im Verfassungsgefüge des Alten Reiches, wird durch die Justizreformdebatte der sechziger bis achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts noch einmal erhärtet. Vor allem die letzte Visitation liefert den besten Beweis dafür, wie sehr das RKG auf Grund seiner symbiotischen Einbettung in die Reichsverfassung zum Austragungsort reichspolitischer Konflikte geworden war - Konflikte, die diese Visitation fast völlig paralysierten und nach neunjähriger Tätigkeit 1776 scheitern ließen. Was für das RKG im ganzen galt, mußte um so mehr sein Präsentationswesen treffen, das als Subsystem des Reiches konstruiert und fortentwickelt worden war. Die im Zusammenhang mit der Assessorenvermehrung zur Vor- und Nachbereitung des Reichsschlusses von 1775 ausgetragenen politischen Kontroversen und publizistischen Analysen, die Planspiele und Rechenoperationen zur Korrektur des Präsentationsschemas und zur Aktivierung ungangbarer Präsentationen zeigen, zu welchen Dimensionen sich damals die Problematik ausgewachsen hatte, die aus der unauflöslichen Verquickung von Reichs- und Präsentationssystem herrührte. Aus der Verflechtung war Verhedderung geworden. Die Beteiligten verfingen sich im Gewirr älterer und jüngerer Rechtsansprüche sowie reichsgesetzlicher Vorgaben. Vor allem das im Westfälischen Frieden und im Jüngsten Reichsabschied verankerte Doppelschema mit seiner magischen Zahl von 50 (halbiert 25) Assessoraten, seiner Paritätsstruktur und seinen zum Teil nur um der Paritätsarithmetik willen geschaffenen Präsentationsberechtigungen lag wie ein erratischer Block im Weg und erschwerte jede flexible Veränderung des Präsentationssystems. Die 1648 vervollkommnete Juridifizierung der Reichsverfassung zeigte hier ihre Schattenseiten. Zu solchen systembedingten Schwierigkeiten kam, daß gerade die damals zu klärenden präsentationsrechtlichen Themen an zentrale und besonders sensible Punkte der Reichsverfassung rührten - am stärksten galt dies für die Kontroverse um den Konfessionscharakter der kurpfälzischen Präsentation. Deshalb war in der damaligen Atmosphäre die öffentliche Diskussion über die Vermehrung der Assessoren und über das Präsentationswesen viel intensiver und unausweichlicher von der Politisierung der Kameraireform betroffen als zum Beispiel Fragen der Senatsbildung oder der Aktenverteilung. Aus all diesen Gründen war es also bis 1775 trotzjahrelanger Vordiskussion noch nicht gelungen, durch Korrektur des Präsentationssystems und Gangbarmachung blockierter Präsentationen die notwendige Voraussetzung für die Erweite326
PüTTER, Patriotische Abbildung, bes. 8.29-35, 120 f.
II.3.1.4.2. Der Reichsschluß von 1775 und seine Realisierung
319
rung des Kameralkollegiums auf 25 gleichzeitig amtierende Assessoren zu schaffen. Der Reichsschluß von 1775 wirkte nun in dieser Hinsicht seinerseits als Initialzündung und Druckmittel, vor allem weil die darin ebenfalls verordnete Neueinrichtung dreier beständiger Senate mit zweimal acht und einmal neun Mitgliedern - Kernstück der neuen Geschäftsordnung - erst durch die Assessorenvermehrung möglich wurde. In seinem Ratifikations-Kommissions-Dekret vom 15.12.1775 forderte Kaiser Joseph II. von Kurfürsten, Fürsten und Ständen "die weitere Begutacht- und Mitwürkung ... , wie die zu abgedachter Friedensschlußmäßiger Halbscheid der Beysizer Zahl gehörige, zeither in Irrung und ungangbar gewesene Praesentationen gütlich ausgeglichen oder zur rechtlichen gesetzmäßigen Entscheidung zu weisen seyen" 327 • Es brauchte jedoch noch die folgenden sechs bis acht Jahre, bis dieser Appell endlich die erhoffte Wirkung zeigte. Angesichts der als Verhedderung charakterisierten Kontroversen und Projekte im Vorfeld des Reichsschlusses von 1775, die auch in seinem Gefolge weiterhin das Bild bestimmten und rasche Lösungen verhinderten, wirken die Ergebnisse letztlich einfach: Als erste bemühten sich die Stände des Obersächsischen und Niedersächsischen Kreises sowie die evangelischen Stände der vier konfessionell gemischten Kreise um die Gangbarmachung der ihnen nunmehr gemeinschaftlich zustehenden einen altemierenden Kreispräsentation. Nach dem Kommentar des Kameralschriftstellers und späteren Assessors Balemann "ein weit aussehendes Werk, worinn bald alle evangelische Stände verwickelt waren!" 328 Mit Konferenzschluß des Corpus Evangelicorum vom 23.7 .1 777 einigten sich die beteiligten Kreisstände auf einen achtfachen Turnus, wonach die alternierende Kreispräsentation bei eintretender Vakanz in dieser Reihenfolge ausgeübt werden sollte: 1. vom Obersächsischen Kreis, 2. vom ev. Fränkischen Kreis, 3. vom Niedersächsischen Kreis, 4. vom ev. Schwäbischen Kreis, 5. vom Obersächsischen Kreis, 6. vom ev. Oberrheinischen Kreis, 7. vom Niedersächsischen Kreis, 8. vom ev. Niederrheinisch-WestHilisehen Kreis. Die internen Nominations- und Präsentationsordnungen der sechs Kreise regelten wiederum, welcher Kreisstand jeweils die Nomination bzw. Präsentation vollziehen durfte, wenn der Turnus an den betreffenden Kreis kam329 • Mit der Präsentation Georg Gottlob Balemanns, tumus327 Ksl. Ratifikations-Kommissions-Dekret vom 15.12.1775, zit. nach PüTTER, Neuester Reichsschluß, Textteil, S.26. 328 BALEMANN, Beiträge, S.157. Balemann wurde 1778 im Rahmen dieser altemierenden evangelischen Kreispräsentation ans RKG präsentiert, s. die folgenden beiden Anmerkungen. 329 Konferenz-Beschluß des Corpus Evangelicorum betr. den zwischen den sechs beteiligten Kreisen getroffenen Vergleich über die evangelische alternierende Kreispräsentation, Regensburg, 23.7.1777, Druckorte (in Auswahl): BOSTELL, Beyträge, Tl.2/1, 1781, S.201 f.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.368; Quellen und Spezialliteratur zu diesem Vergleich sind nachgewiesen in Biogr.128 (Balemann), V mit Anm.8; s. auch die oben in Anm.318 zitierte, z.Tl. mehr überblicksartige Literatur.
320
II.3. Die Besetzung der Assessorate
gemäß ausgeübt von den Stiften Quedlinburg, Gernrode und Walkenried wegen des Obersächsischen Kreises, kam diese alternierende evangelische Kreispräsentation 1778 ohne weitere Komplikationen in Gang 330 • Die evangelischen Stände des Niederrheinisch-Westflilischen Kreises begruben ihre uralten Streitigkeiten in einem Vergleich vom 26.10.1779, worin ein vierfacher, sämtliche Stände einbeziehender Nominationsturnus festgestellt wurde. Der König von Preußen als Herzog von Kleve und evangelischer Kreisdirektor begann den Turnus 1780 mit der Nomination und Präsentation Johann Friedrich Albrecht Konstantin Neuraths331 • Dagegen brach zwischen den katholischen Kreisdirektoren (dem Fürstbischof von Münster sowie dem Kurfürsten von der Pfalz als Herzog von Jülich und Berg) und den übrigen katholischen Ständen des Niederrheinisch-Westfalischen Kreises bei dem V ersuch, auch ihrerseits ihre blockierte Kreispräsentation zu aktivieren, 1780 ein heftiger mehrjähriger Streit aus. Dieser machtpolitisch motivierte Konflikt um Nominationsquoten wurde über zwei konkurrierende Präsentationen in Gestalt der Gegenkandidaten Andreas Steigentesch und Friedrich Josef Anton Cramer v. Clausbruch ausgetragen, belastete also auch das Kameralkollegium. Erst 1783 einigten sich auch diese Kontrahenten endlich auf einen Nominationstumus, so daß von da an alle blockierten Kreispräsentationen wieder in Gang waren332 • Der Druck zur überfälligen Berichtigung des evangelischen und katholischen Präsentationsschemas ging jedoch nicht von den Kreispräsentationen aus, sondern von der Kontroverse um das Schicksal der kurpfälzischen Präsentation. Der jahrzehntealte Anspruch des seit 1685 katholischen Pfälzer Kurfürsten, mit seinem Präsentationsrecht von der evangelischen auf die katholische Seite des Präsentationsschemas transferiert zu werden, konnte sich seit Ende 1777 auf neue Argumente stützen. Nach dem Aussterben der Wilhelminischen Linie der Wittelsbacher am 30.12.1777 war die 1623/48 an Bayern abgetretene altpfälzische fünfte Kur wieder an die in Kurpfalz und nun auch in Bayern regierende Rudolphinische Linie zurückgefallen, die 1648 neugeschaffene neupfälzische achte Kur hingegen erloschen. Es war nur eine logische Folge dieses Vorgangs, daß Kurpfalz nun verlangte, nach der Restitution in die altpfälzische fünfte Kur auch das damit seit 330
Dazu mit s. weiteren Belegen Biogr. 128 (Balemann), V.
331
Vergleich über die Präsentation des evangelischen Niederrheinisch-Westfälischen Kreises, Köln, 26.10.1779: Druckorte (in Auswahl): BosTELL, Beyträge, Tl.2/1, S.181-184, dazu S.185-189; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.356-359, dazu S.359-363; Quellen und Spezialliteratur zu diesem Vergleich sowie Belege zu Neuraths Präsentations. in Biogr. 104 (J.F.A.K. Neurath), V, bes. mit Anm.7; s. auch die oben in Anm.318 zitierte Literatur. 332 Quellen und Spezialliteratur über den Präsentationsstreit im katholischen Niederrheinisch-Westfälischen Kreis 1780-1783 und dessen Beilegung s. in Biogr. 105 (Steigentesch), V; Biogr. 106 (F.J.A. Cramer v. Clausbruch), V.
11.3.1.3.3 Strittige Kreispräsentationen
321
1654 (JRA § 169) verbundene katholische Präsentationsrecht zu erhalten. Im Gegenzug sollte dafur mit der neupfälzischen achten Kur auch das seit 1648 (IPO Art.V §57) daranhaftende Recht zur Präsentation eines evangelischen Assessors wegfallen. Dadurch wurde keine neue katholische Präsentationsbefugnis geschaffen, sondern die katholische Präsentation wegen der altpfälzischen fiinften Kur mußte nur den Besitzer wechseln. Hingegen entstand auf seiten des evangelischen Präsentationsschemas ein Untergewicht. Der gefiirchtete Ernstfall, die Störung der Parität im kammergerichtliehen Präsentationssystem, ließ sich bei Realisierung der kurpfälzischen Ansprüche nicht mehr abwenden. Diese hier nur grob skizzierten staats-und präsentationsrechtlichen Implikationen waren schon vielen Zeitgenossen kaum geläufig, bedurfte es doch zum Verständnis unter anderem der Kenntnis des 1648/54 erstellten evangelisch-katholischen Präsentationsschemas und seiner Entstehungsgeschichte. Auch die notwendige Unterscheidung zwischen katholischer Präsentation wegen der altpfälzischen fiinften Kur einerseits, evangelischer Präsentation wegen der neupfälzischen achten Kur andererseits fiel schon den um 1780 Agierenden nicht eben leicht, vor allem weil man erstere in der Zeit von 1654 bis 1777 nach dem damaligen Inhaber einfach als kurbayerische, nach dem Besitzwechsel von 1781 als kurpfälzische Präsentation bezeichnete, die letztere aber von 1648 bis 1788 nach dem Besitzer ebenfalls als kurpfälzische Präsentation etikettierte333 • Hinzu kam, daß Kurpfalz die Lösung der anstehenden rechtlichen Probleme durch seine Präsentationspraxis weiter komplizierte. Plötzlich mit zwei kurpfälzischen Präsentati konfrontiert- einem schon im Sommer 1777 wegen der neupfälzischen achten Kur präsentierten evangelischen (Vulpius) und einem 1780 wegen der altpfälzischen fiinften Kur präsentierten katholischen Juristen (Hueber von der Wiltau) -, ging das Karneralkollegium Ende 1780 'in partes' und verwies diese brisante Angelegenheit an die einzig kompetente Stelle, den Reichstag in Regensburg334 . 333 Der letzte, im Sommer 1777 noch wegen der neupfeilzischen achten Kur präsentierte, 1781 aufgeschworene evangelische Assessor Georg Ludwig v. Vulpius resignierte erst Anfang 1788. Bis dahin gab es also mehrere Jahre lang zwei Beisitzer "von wegen des Kurflirstenthums Pfalz", nämlich außer Vulpius den 1780 präsentierten und 1782 aufgeschworenen katholischen Assessor Johann Daniel Clemens v. Hueber von der Wiltau; s. die Kameralkalender flir 1784-1788 (in Jg. 1783 ist Hueber irrtümlich als Assessor "von wegen des Kurflirstenthums Bayern" aufgeftihrt!) sowie die folgende Darstellung. -Um Aufklärung in der kurpfälzischen Angelegenheit, was Rechtslage und Terminologie betraf, bemühte sich vor allem der damalige Präsentatus Hueber; s. DERS.,Von dem Unterschied zwischen der jetzigen Churpfalzischen Präsentation von wegen der fünften Chur und der ehemaligen Churpfälzischen Präsentation von wegen der jetzt erloschenen achten Chur zu den Assessoratstellen beydem Kaiserlichen Reichs Kammergerichte, o.O. 1781. Als Beispiel für schiefe Begrifflichkeit und ungenaues Verständnis von der Sache ist die Darstellung bei KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.124-126, zu nennen. 334 Über die Details dieses in den beiden Juristen Vulpius und Hueber von der Wiltau personalisierten Präsentationskonflikts s. Biogr. 40 (Vulpius) und Biogr. 24 (Hueber), jeweils Ab-
322
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Unter starker Anteilnahme der Reichspublizistik kam es hier endlich 1781 zu der überfalligen Bereinigung. Mit Conclusum vom 30.6.1781, das der Kaiser Ende 1781 ratifizierte, berichtigte zunächst das Corpus Catholicorum sein Präsentationsschema. Dem Kurfiirsten von der Pfalz wurde katholischerseits das Recht zugesprochen, "von wegen der innhabenden altpfalzischen fiinften Kur das dem Hauß Bayern wegen eben derselben ehehin zugeschriebene jus praesentandi ... auf dem Katholischen Latere ... auszuüben". Dafiir stellte man den evangelischen Ständen anheim, "wegen der nunmehro gänzlich hinweggefallenen neu-pfalzischen achten Kur sich auch Ihres Orts auf eine überzählige Präsentation zu vereinigen"335. Bei dieser Gelegenheit wurde endlich auch die seit 1708 existierende kurböhmische Präsentationsbefugnis in das katholische Schema eingerückt, und zwar an vierter Stelle hinter Kurmainz und vor Kurpfalz. Damit umfaßte das korrigierte katholische Präsentationsschema 13 reichsständische Präsentationsberechtigungen, die das Conclusum des Corpus Catholicorum dem Rang nach auffiihrte. Einschließlich der kaiserlichen waren es insgesamt 14 katholische Präsentationen. Das Corpus Evangelicorum berichtigte daraufhin sein Präsentationsschema in seinem Conclusum vom 28.11.1781, das Ende 1782 die kaiserliche Ratifikation erhielt. Als Ersatz fiir die weggefallene Präsentation wegen der neupfalzischen achten Kur einigte man sich evangelischerseits zur Wahrung bzw. Wiederherstellung der Konfessionsparität auf eine zwischen Kursachsen, Kurbrandenburg und Kurbraunschweig alternierende Kurpräsentation336 • Sie rangierte hinter der kurbraunschweigischen Präsentation, die endlich ebenfalls in das Schema integriert wurde. Den letzten Platz in dem korrigierten evangelischen Schema, das nun insgesamt schnitt V mit Nachweis der Quellen und Spezialliteratur; vgl. auch die oben oben in Anm.318 zitierte Literatur. 335 Conclusum des Corpus Catholicorurn, Regensburg, 30.6.1781, Druck: KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.297-300 (Zitate ebd., S.299); dazu Begleitschreiben an Ks. Joseph II., Regensburg, 30.6.1781, Druck: ebd., S.301 f.; ksl. Ratifikations-Kommissions-Dekret, Regensburg, 22.12.1781, Druck: ebd., S.303 f.; Druck dieser Quellen auch in: REuss, Beiträge, Bd.l, S.146-154; BosTELL, Beyträge, Tl.2/2, 1786, S.309-319; dazu die Darstellung bei REuss, Beiträge, Bd.1, S.109 ff.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.97, 99 f.; weitere Literatur in Biogr. 24 (Hueber), V, sowie oben in Anm.318. 336 Conclusum des Corpus Evangelicorum, Regensburg, 28.11.1781; dazu Begleitschreiben vom selben Tag an Ks. Joseph II.; ksl. Ratifikations-Kommissions-Dekret, Regensburg, 18.11.1782; Schreiben der katholischen Reichsstände an Ks. Joseph II., Regensburg, 20.7. 1782; Druck: KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.304-306, 307 f., 308-310, 31 0-312; Druck dieser Dokumente auch in: REuss, Beiträge, Bd.1, S.l71-180; BosTELL, Beyträge, Tl.2/2, S.320331; dazu die Darstellung bei REuss, Beiträge, Bd.1, S.111 ff.; KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.97, 99 f., 124 f., 130-132; s. auch die oben in Anm.318 zitierte Literatur. -Wegen der alternierenden evangelischen Kurpräsentation konnte turnusgemäß zuerst Kursachsen im April 1788 mit Hans Ernst v. Globig einen Juristen ans RKG präsentieren, nachdem der im Sommer 1777 von Kurpfalz noch wegen der neupfälzischen achten Kur präsentierte, seit 1781 amtierende Georg Ludwig v. Vulpius Anfang 1788 resigniert hatte. Globig schwor 1789 auf; Näheres dazu mit weiteren Quellen- und Literaturnachweisen in Biogr. 48 (Globig), V.
II.3.1.4.2. Der Reichsschluß von 1775 und seine Realisierung
323
13 Präsentationsberechtigungen enthielt, nahm die schon 1777 regulierte alternierende Kreispräsentation ein. Als Folge dieser Berichtigungen, die beide Religionsteile gemäß der seit 1648/54 bestehenden Rechtslage getrennt fiir sich, ohne Einmischung der anderen Seite, vornahmen, ergab sich seit 1781182 das folgende Doppelschema: Präsentationsschema von 1781182 nach der Rangordnung der Präsentanten und Assessorate kath. Ass.
Präsentanten
Kurmainz Kurtri er Kurköln Kurböhmen Kurpfalz (altpfälz. 5. Kur) Kursachsen Kurbrandenburg Kurbraunschweig Kursachsen, Kurbrandenburg u. Kurbraunschweig alternierend = alternierende ev. Kurpräsentation Kaiser Österr. Kreis Burgund. Kreis Fränk. Kreis Bayer. Kreis Schwäb. Kreis Oberrhein. Kreis Niederrheinisch-Westfäl. Kreis Obersächs. Kreis Niedersächs. Kreis
Ass. insges.
1 1 1
1 1 1 1 1 1 1 1
1
1
1 1 1 1 1
} 1 1 1 1 2 1 1 1
Ober- u. Niedersächs. Kreis u. ev. Stände der } vier gemischten Kreise alternierend =alternierende ev. Kreispräsentation Präsentations berechtigungen insgesamt:
ev. Ass.
14
1 1 1 2 2
1 1 1 2 2 2 2 2 2 2
1
1
13
27
1
324
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Als letztes Ergebnis der Hereinigungsaktion von 1781 ist festzuhalten, daß sich also die beiden Religionscorpora bei der Berichtigung ihres Präsentationsschemas nicht mehr darum bemühten, die Gesamtzahl der evangelischen und katholischen Präsentationsbefugnisse mit der Gesamtzahl der gleichzeitig zu besetzenden Assessorate in Deckung zu bringen. Es blieb bei einem Verhältnis von 27: 25, d.h. bei einem Überhang von zwei Präsentationsberechtigungen gegenüber 25 finanzierbaren Planstellen. Zwei Präsentierte mußten also weiterhin warten, bis sie auf eins der je 12 reichsständischen Assessorate ihrer Konfession einrücken konnten. Gegenüber den langen Warteschlangen mit maximal sieben Präsentierten, die in den vorausgegangenen Jahrzehnten für die Betroffenen zur oft unerträglichen Zumutung und zur Ursache vieler Mißstände geworden waren, stellte die neue Regelung jedoch eine entscheidende Verbesserung dar. Sie hatte zudem den- von den Gesetzgebern allerdings nicht primär angestrebten- Vorteil, daß eine Planstelle nie lange unbesetzt blieb, weil im Erledigungsfall zumeist ein schon geprüfter Kandidat zum Nachrücken bereitstand. Die Lösung der kurpfälzischen Frage und die Korrektur des evangelisch-katholischen Präsentationsschemas machten den Weg dafür frei, daß am 1.6.1782mehr als sechs Jahre nach dem ursprünglich vorgesehenen Termin- endlich acht neue Assessoren vereidigt werden konnten, womit das Kameralkollegium den vorgesehenen Umfang von 25 amtierenden Richtern erreichte 337 • Seit 1781182 waren Reichssystem und kammergerichtliches Präsentationssystem also nach langer Zeit wieder synchronisiert und blieben es bis zur Jahrhundertwende. In präsentationsrechtlicher Hinsicht, aber auch angesichts der stets ausreichend gefüllten Sustentationskasse waren die beiden letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts für das Kameralkollegium eine weitgehend konflikt- und sorgenfreie Zeit. Auch entsprach die Zahl der amtierenden Assessoren damals endlich dem in der Wetzlarer Zeit stetig gesunkenen Geschäftsanfall, so daß neben der Erledigung der Neueingänge sogar zum großen Teil die Rückstände an alten Prozessen aufgearbeitet werden konnten338 • Für Generationen von Kameralkollegien, von einzelnen Präsentierten und Assessoren sowie für Scharen von Prozeßparteien jedoch kam die Reform von 1775-81/82, die wohlgemerkt die Intentionen von 1648/54 nur zur Hälfte realisierte, zu spät.
337 Am
1.6.1782 schworen gemeinsam auf die Assessoren Frohn (Biogr. 12), Hueber von der Wiltau (Biogr. 24), Wenckstern (Biogr. 44), Fahnenberg (Biogr. 60), Hertwich (Biogr. 98), J.F.A.K. Neurath (Biogr. 104), Autenried (Biogr. 117) und Balemann (Biogr. 128); s. außer ihren Biographien das Aufschwörungsprotokoll in: RKG IV C 48 fo1.119. 338 BAUMANN, Gesellschaft, 8.28, 30, dazu Tabelle 8.135; s. auch schon 8MEND, Reichskammergericht, 8.240; RANIERI, Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar, 8.14 f.; dazu DERS., Geschäftsanfall und Prozeßfrequenz, 8.256 f., 259 f.
II.3.1.4.3. Epilog: 1802-1806
325
3. Epilog: 1802-1806 Im März 1802 beschloß das Kameralkollegium, von den seit 1782 ständig besetzten 25 Planstellen je zwei katholische und zwei evangelische, die demnächst durch natürlichen Schwund frei würden, provisorisch so lange offen zu halten, bis das weitere Schicksal der kammergerichtliehen Sustentationskasse geklärt war. Die Revolutionskriege, der Verlust des linken Rheinufers und die bevorstehenden Entschädigungsmaßnahmen im Restreich, die eine erhebliche Dezimierung der Matrikularbeiträge befiirchten ließen, waren der Grund fiir diese Notmaßnahme. Sie sollte so lange gelten, bis Kaiser und Reich das eingerissene Loch im Unterhaltungsfonds gestopft haben würden339 . Als Folge von Resignationen und Todesfällen war die Absenkung von je 12 auf je 10 besetzte reichsständische Assessorate auf der evangelischen Seite 1804, auf der katholischen Seite Ende 1805 erreicht, so daß der Reduktionsbeschluß vom März 1802 die Aufnahmepraxis des Kameralkollegiums nur noch sehr kurzfristig einengte und nur noch wenigen Präsentierten eine etwas längere Wartezeit zumutete. Auf jeden Fall tangierte diese ganze Maßnahme nicht das seit 1781182 gültige Präsentationsschema, sondern fiihrte in einer finanziellen Notsituation nur das mit einer informellen Höchstzahl von Planstellen operierende System wieder ein, wie es mit wechselnden Zahlenverhältnissen schon von 1654 bis 1775/82, zur Zeit der großen Besoldungsmisere, praktiziert worden war. Dagegen hätte der Reichsdeputationshauptschluß mit seinen Säkularisationen, Mediatisierungen und Rangerhöhungen eine grundlegende Umbildung des Präsentationsschemas erforderlich gemacht, wäre nicht das Alte Reich drei Jahre später untergegangen. Der große Umsturz von 1803 setzte das kammergerichtliehe Präsentationssystem in einem Maße unter Anpassungsdruck, wie es zuvor höchstens in den Jahrzehnten vor dem Westfälischen Frieden der Fall gewesen war, als die evangelischen Reichsstände um religionsparitätische Besetzung des Kameralkollegiums kämpften. Jetzt waren mit den geistlichen Kurfiirstentümem Trier und Köln auch deren Präsentationsberechtigungen erloschen. Baden, Württemberg, Hessen-Kassel sowie das säkularisierte Fürstentum Salzburg hatten mit der Kurwürde ein eigenes kurfürstliches Präsentationsrecht erlangt (die fiir Salzburg errichtete Kur wurde 1805 auf Würzburg übertragen), auch wenn sie bis 1806 keine entsprechenden Ansprüche mehr anmeldeten. Schon 1801 war mit der Abtretung des linken Rheinufers der Burgundischen Kreispräsentation buchstäblich der Boden entzogen worden. Durch all diese Veränderungen war das konfessionelle Gleichgewicht unter den verbliebenen alten und den hinzugekommenen neuen Präsentationsberechtigungen gestört, und zwar diesmal zuun339 Über diesen Beschluß vom März 1802 und seine Folgen s. schon oben im Zusammenhang mit der Paritätsproblematik Kap.Il.3 .1.3 .2. mit Anm.252 (ebd. Belege).
326
II.3. Die Besetzung der Assessorate
gunstenderkatholischen Seite. Als Folge von Säkularisation und Mediatisierung hätte die Binnenstruktur der Kreispräsentationen neu geordnet werden müssen. Auch fehlten dem Kameralkollegium in denjenigen Kreisen, in denen geistliche Fürsten das katholische Kreisausschreibamt innegehabt und kraft dessen in Präsentationssachen federfiihrend gewesen waren, auf einmal die Adressaten für Notifikationen bzw. die Aussteller der Präsentationsschreiben340 • Gerade in der damaligen Krise war die strukturelle Abhängigkeit des Präsentationssystems vom politischen Gefüge des Reiches überdeutlich. Während die alte Struktur des Reichsverbands seit 1803 radikal transformiert worden war, lebte eben diese alte Struktur in der personellen Zusammensetzung des Kameralkollegiums noch drei Jahre fort, im Kreis der "Pensionisten" sogar noch weit über 1806 hinaus. Über die notwendige Berichtigung des Präsentationsschemas zerbrachen sich nur noch Reichspublizisten die Köpfe. Der Professor der Rechte an der Universität Landshut Nikolaus Thaddäus Gönner unterbreitete in seinem 1804 erschienenen "Teutschen Staatsrecht" einen Vorschlag für ein revidiertes Präsentationsschema341 • Darin waren die Veränderungen der vergangenen Jahre berücksichtigt, das Untergewicht auf der katholischen Seite durch zwei alternierende Präsentationen der vier katholischen Kurfürsten (Erzkanzler, Böhmen, Pfalzbayem, Salzburg) kompensiert, während auf der evangelischen Seite dank des Zuwachses an drei neuen evangelischen Kurfürsten (Baden, Hessen, Württemberg) die beiden altemierenden evangelischen Kur- bzw. Kreispräsentationen gestrichen werden konnten. Gönner behandelte also alte Präsentationsberechtigungen, die für die Paritätsarithmetik nicht mehr nötig waren, auf dem Papier mit einer Rigorosität, zu der die Reichsstände 1719 und 1775 in ihrer Iegalistischen Fixierung auf den Westfälischen Frieden und den Jüngsten Reichsabschied sowie auf Grund ihrer eigenen Zugehörigkeit zum fundamentalgesetzlich geschützten Reichssystem nicht imstande gewesen waren. Auch war in Gönners Entwurf die Sonderstellung des kaiserlichen Assessorats beseitigt: 340 Dieser Fall trat zum Beispiel im Herbst 1805 nach dem Tod des kath. Schwäb. KreisAssessors Karl Kaspar v. Hertwich Ct 13.10.1805) ein. In solchen Erledigungsfällen war das kammergerichtliche Notifikationsschreiben mit der Aufforderung zur Präsentation eines Nachfolgers bisher an den Fürstbischof von Konstanz als katholischen ausschreibenden Fürsten des Schwäbischen Kreises ergangen. Das Fürstbistum Konstanz war jedoch 1803 säkularisiert worden, weswegen das Kameralkollegium Ende 1805 den Kaiser- vergeblichum eine "reichsoberhauptliche Verfiigung" bat, damit die betreffende katholische Assessoratstelle in ihrem bisherigen Stand und Fortgang erhalten werde; dazu: RKG IV B 2/32 fol.15v17v/1805 (31.1 0. u. 5.11.), mit Referat Hueber fol.18 u. s.f./1805; das RKG an Ks. Franz II., 8.11.1805, Konz.: RKG IV B 1122 fol.479 (denuo exped. 6.4.1806), Or. mit Beilagen: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 378; dazu Begleitschreiben des Kammerrichters Reigersberg an den Reichsvizekanzler Colloredo, Wetzlar, Nov. (o. Tag) 1805, Or. ebd. 341 N. TH. GöNNER, Teutsches Staatsrecht, Landshut 1804; das von Gönner entworfene Präsentationsschema ebd., S.817 f.; dazu Text ebd., S.713.
II.3.2. Ein Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte
327
Einschließlich der kaiserlichen Präsentationsberechtigung verzeichnete das Projekt auf der katholischen wie auf der evangelischen Seite je 14 Präsentationen. Gönner behielt also in seinem modifizierten Schema die Paritätsstruktur prinzipiell bei. Auch in einer Zeit der Zerstörung bewies die Reichsverfassung, wo sie nicht gewaltsam zerschlagen worden war, noch ihren konservierenden Charakter. Soweit ersichtlich, wurde Gönners Entwurf eines revidierten Präsentationsschemas, der durch Preßburger Frieden und Rheinbundakte bald überholt war, von den Gesetzgebern nicht mehr diskutiert. Kaiser und Reichsstände sowie das in seiner Existenz bedrohte Kameralkollegium hatten in der Untergangsphase des Reiches andere Sorgen342 . Die Auflösung des Reichsverbands und seiner Institutionen erübrigte dann ohnehin jeden Versuch, Präsentationssystem und Reichssystem wieder aufeinander abzustimmen. So endete die dreihundertjährige Geschichte des kammergerichtliehen Präsentationswesens, ein Thema mit Variationen, mit einer großen Dissonanz. 2. Das Präsentationssystem: ein Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte
Im vorausgegangenen Abschnitt über Geschichte und Funktion des kammergerichtliehen Präsentationssystems wurde dieser Zugangsmodus als ein Phänomen der Reichsverfassung und in seiner direkten Abhängigkeit vom Reichssystem beschrieben, dessen Strukturmerkmale es widerspiegelte. Was folgte aus diesem Mechanismus, über den im Sinne eines Transformators zwischen Reich und Gericht die Assessorate besetzt wurden, fiir die Personen? Wenden wir den Blick vom Präsentationssystem als verfassungsgeschichtlichem Phänomen zu den Juristen, die als einzelne auf ein Assessorat präsentiert wurden und nach ihrer Rezeption im Kameralkollegium zusammensaßen, dann stoßen wir auf Konsequenzen zweierlei Art, einer verfassungsrechtlichen und einer sozialgeschichtlichen, die aber nur zwei Seiten ein und derselben Sache waren. 1. Zuerst zu den verfassungsrechtlichen und im weiteren Sinne verfassungsgeschichtlichen Konsequenzen: Ein Jurist, der sich in Speyer bzw. ab 1690 in Wetzlar beim Kammerrichter als Aspirant auf ein vakantes Assessorat anmeldete, tat dies nicht einfach als ein Individuum mit professionellen und sozialen Qualifikationsmerkmalen und in der subjektiven Überzeugung von seiner Amtseignung. Er tat es als Träger einer bestimmten reichsständischen oder kaiser342
Dazu s. jetzt die 2005 erschienene Dissertation von Gerechtigkeit".
MADER,
Die letzten "Priester der
328
II.3. Die Besetzung der Assessorate
liehen Präsentationsberechtigung. Als solcher legitimierte er sich durch die Übergabe des Präsentationsschreibens, in welchem der betreffende Kurfürst, Kreisstand oder der Kaiser unter Berufung auf sein Präsentationsrecht und unter genauer Bezeichnung des wiederzubesetzenden Assessorats den von ihm rekrutierten Juristen präsentierte. Dies geschah mit Aufführung seines Namens, seines akademischen und/oder seines Adelstitels sowie seiner derzeitigen beruflichen Position, verbunden mit der Aufforderung an das Kameralkollegium, den Kandidaten zu prüfen und "auf befundene Qualifikation" zum Beisitzer aufzunehmen. Erst mit der persönlichen Übergabe seines Präsentationsschreibens realisierte ein Jurist seine Präsentation, er wurde vollgültig "Praesentatus" 343 • Aus 343 Die Präsentationsschreiben (PS) für die zwischen 1740 und 1806 amtierenden 92 Assessoren sowie für die 36 weiteren in diesem Zeitraum präsentierten, jedoch aus irgend einem Grund nicht rezipierten Juristen sind zitiert in den Rubriken V und VI der in Teil II dieser Arbeit zusammengestellten 128 Einzelbiographien.- Wenn in einem Präsentationsschreiben im Zusammenhang mit der Aufforderung, den präsentierten Kandidaten zu prüfen und aufzunehmen, die Formel "auf befundene Qualifikation" fehlte, reagierte das Kameralkollegium empfindlich und verlangte ein verbessertes Präsentationsschreiben, weil es durch die Weglassung dieser Formel sein eigenständiges Prüfungsrecht, und das hieß nicht nur: Rezeptions-, sondern gegebenenfalls auch Rejektionsrecht ("ius recipiendi" und "ius rejiciendi"), verletzt sah. - Daß eine Präsentation nicht schon mit der Ausfertigung des Präsentationsschreibens, auch nicht durch dessen postalische Übersendung an das RKG, sondern gemäß Kameralobservanz erst durch die persönliche Insinuation realisiert wurde, wenn nämlich der Kandidat sich nach Speyer bzw. Wetzlar begeben, dem Kammerrichter oder dessen Stellvertreter sein Präsentationsschreiben überreicht und auch bei allen übrigen Mitgliedern des Kameralkollegiums seine "Tour", d.h. seine Visite, gemacht hatte, geht aus der Gesamtheit der Präsentationsvorgänge hervor. Erst nach dieser persönlichen Anmeldung wurde das Präsentationsschreiben auf entsprechende Proposition des Kammerrichters im Plenum verlesen und über die Zulassung des Präsentierten zum Generalexamen beschlossen; s. expressis verbis und beispielhaft: der RKG-Kanzleiverwalter Wolfgang Ignatius Fries an den kurmainzischen Hofkanzler Joharm Georg v. Lasser, Wetzlar, 1.1.1726, Or.: HHStAW, MEKA- RKGA 89 (Beaurieux); der Österreichische Staatskanzler Kaunitz an den Kammerrichter Spaur, Wien, 9.4.1776; Spaur an Kaunitz, Wetzlar, 20.4.1776, Konz. bzw. Or.: HHStAW, RK- RKGVisit.A. ad 335 (betr. Fahnenberg); der kaiserliche Assessor Maurer an Kaunitz, Wetzlar, 6.8.1783, Or.: ebd. ad 335 (betr. Martini); Kammerrichter Reigersberg an N.N. [d.i. an den Reichsreferendar Peter Anton Frhn. v. Frank], Wetzlar, 29.5.1806, Or. mit Beilagen: ebd., RKG-Visit.A. 378 (betr. Goetz 1806); Relation des Assessors Baiernarm u. Plenarprot. vom 8.11.1804, in: RKG IV B 2/31 neufol.150 u. 151v-154 (altfol.35 u. 36v-38afl804) (betr. Kamptz); s. auch Harpprecht in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.91 ad § 12 (zu S.69); BALEMANN, Beiträge, S.266 ff.- Das Datum der persönlichen Überreichung des Präsentationsschreibens war in der Ära der Unterbesetzung und der dadurch verursachten langen Wartezeiten insofern von größter Bedeutung, weil sich danach, nicht nach dem Ausfertigungsdatum des Präsentationsschreibens, das Präsentationsalter bzw. das Prioritätsrecht der Präsentierten bestimmte. Das Präsentationsalter entschied über die Position, die ein Präsentatus in der Reihe der examinierten, auf ihre Rezeption und Einberufung wartenden Kandidaten einnahm und damit über die Reihenfolge, in der die erfolgreich Geprüften auf ein vakant gewordenes Assessorat ihrer Konfession einrückten. Deshalb war es im 18. Jahrhundert, vor allem vor der Erhöhung der gleichzeitig zu besetzenden Assessorate auf 25 durch den Reichsschluß von 1775 und dessen Realisierung 1782, ftir einen Präsentatus von größter Wichtigkeit, nach Ausfertigung seines Präsentationsschreibens so schnell wie möglich nach Wetzlar zu eilen und
II.3.2. Ein Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte
329
diesem Rechtsstatus erwuchsen ihm nicht nur Pflichten- vor allem die Erfüllung der Prüfungsbedingungen, die Einhaltung von Fristen-, sondern auch Sicherheiten und Ansprüche, hinter denen die Rechte seines Präsentanten standen. Denn ein Mann, dessen Präsentation rechtlich einwandfrei war, der alle persönlichen und fachlichen Voraussetzungen für das Beisitzeramt mitbrachte und diese dann auch im General- und Spezialexamen nachwies, hatte das Recht auf sofortige Zulassung zum Prüfungsverfahren und nach dessen erfolgreichem Abschluß das Recht auf Rezeption und Introduktion in das Kameralkollegium. Alles andere hätte eine willkürliche Verletzung der Rechte seines Präsentanten und des ihm selbst durch die Übergabe seines Präsentationsschreibens zugewachsenen "ius quaesitum" dargestellt. Das Kameralkollegium seinerseits hatte zwar komplementär zum Präsentationsrecht des Kaisers, der Kurfürsten und der Kreise das Recht, aber eben auch die Pflicht, einen präsentierten Kandidaten zu den Examen zuzulassen, im General- und im Spezialexamen seine persönliche und fachliche Eignung so zügig und objektiv wie möglich zu überprüfen und ihn im positiven Fall, d.h. nach bestandenen Examen, zum Assessor aufzunehmen. Nur wenn die Rechtsgrundlage einer Präsentation umstritten war oder wenn sich bei der Prüfung des Kandidaten gravierende persönliche oder fachliche Mängel und sonstige Verletzungen der Kameralnormen herausstellten, konnte das Karneralkollegium das Prüfungsverfahren frühestens bereits vor der Zulasssung zum Generalexamen, spätestens aber nach der Zensur der Proberelation abbrechen und den Kandidaten rejizieren, d.h. zurückweisen344 • Als Folge des Präsentationssystems- und das heißt: als Folge der Zwischenschaltung eines präsentierenden Reichsstands bzw. des Kaisers zwischen interessierte Juristen und angestrebtes Assessorat- unterschied sich das Zulassungs-, Prüfungs- und Aufnahmeverfahren am RKG grundlegend von demjenigen am dort persönlich sein Präsentationsschreiben zu übergeben.- Es gab immer wieder einmal Juristen, die ein Präsentationsschreiben erhielten, es dann aber nicht verwendeten, d.h. sie meldeten sich nie persönlich beim Kameralkollegium und machten ihre Präsentation also auch nie vollgültig. Diese Juristen, die ihre Präsentation verfallen ließen, noch bevor sie sie realisierten, werden daher in dieser Arbeit auch nicht mit einer eigenen Biographie gefiihrt und tauchen nicht in den Statistiken auf. Die gerraue Zahl dieser Fälle liegt im dunkeln, solange nicht sämtliche Gegenarchive der Präsentationsberechtigten vollständig erforscht sind. Am Kameralkollegium wurden solche Fälle nur dann aktenkundig, wenn die betreffenden Juristen zwar selber nicht nach Speyer bzw. Wetzlar reisten, ihr Präsentationsschreiben aber dennoch entweder auf dem Postweg oder durch Überreichung eines Dritten in die Hände des Karneralkollegiums gelangte. Im 18. Jahrhundert handelte es sich meistens um Fälle von Compräsentationen eines Kreises, wenn nämlich ein Kreis dem Kameralkollegium mehrere Kandidaten zur Auswahl präsentierte, von denen jedoch nur ein oder zwei ihre Präsentation realisierten und dabei das Präsentationsschreiben übergaben; s. als Beispiele Biogr. 63 (Frantz), Biogr. 64 (F.K. Gemmingen), Biogr. 65 (J.U. Cramer) (alle ev. Fränk. Kreis). 344
S. auch Vis.A. 1713 § 22 (CJC, S.967); dazu Harpprechts Revisionsentwürfe in: SELConcepte, Tl.l, S.77 f.
CHOW,
330
11.3. Die Besetzung der Assessorate
RHR. Da fiir die Besetzung des RHR-Kollegiums ohne jede reichsständische Konkurrenz ausschließlich der Kaiser zuständig war, konnten Aspiranten auf eine RHR-Stelle ihre Bewerbung direkt an den Kaiser richten. Dieser wählte dann, gestützt auf Gutachten des Reichsvizekanzlers und des RHR-Präsidenten, den ihm genehmen Kandidaten aus und ernannte ihn per Dekret zum Reichshofrat, meistens ohne daß der Ernannte sich vorher einer Eignungsprüfung hatte unterziehen müssen345 . Dieses unformalisierte Verfahren hatte fiir den RHRAspiranten Vor- und Nachteile. Zu den Nachteilen gehörte, daß er- ebenso wie seine Mitbewerber- zumindest rein formal als Einzelkämpfer auftrat. Viele Konkurrenten um eine RHR-Stelle brachten zwar Empfehlungen ihres Dienstherrn oder anderer einflußreicher Protektoren bei, und solche informellen Beziehungen waren fiir den Ausgang der Bewerbung oftmals entscheidend. Dennoch waren RHR-Anwärter anders als RKG-Präsentati niemals Träger reichsständischer Vorschlagsrechte. Sie selbst hatten daher auch keinerlei reichsgesetzlich begründeten Anspruch darauf, ihre Befähigung in einem Prüfungsverfahren unter Beweis stellen zu dürfen und dadurch gegenüber anderen Konkurrenten eine faire Chance zu erhalten. Insofern ähnelte der am RHR praktizierte Zugangsund Aufnahmemodus sehr stark der informellen, ebenfalls stark von subjektiven Auswahlkriterien geprägten Vorstufe eines Präsentationsverfahrens: wenn sich nämlich Juristen bei einem nominations- und präsentationsberechtigten Kurfiirsten, Kreisstand oder dem Kaiser um die Erteilung einer Präsentation auf ein vakant gewordenes Assessorat bewarben und wenn der betreffende Präsentant, gestützt auf autobiographische Angaben des Bewerbers, auf Empfehlungsschreiben und- seltener- auf das Ergebnis einer Vorprüfung, den ihm am qualifiziertesten erscheinenden und/oder am stärksten protegierten Kandidaten für die Präsentation auswählte 346 . 345 Zum Bewerbungs-, Auslese- und Aufnahmeverfahren am RHR s. die Masse der (alphabetisch nach Bewerbern und Expektanten geordneten) Akten in: HHStAW, RHR u. RKVerf.A., RHR Fasz. 27-32, 35-39, 40-42; dazu GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.49 f., 66, 72 f. u. passim. Seit der RHRO 1654 Tit.l § 3 (alte Zählung, neue Zählung: § 4, s. SELLERT, RHRO II, S.62 ff., hier S.64-66 mit Anm.380 u. 381) war ftir alle diejenigen RHR-Bewerber, die vorher nicht in "vornemmen" reichsständischen Diensten gestanden hatten, eine Proberelation und ein mündliches Examen vorgeschrieben, ohne daß diese Bestimmung befolgt worden wäre. In einer von Kar! VII. und Joseph Il. bestätigten Verordnung Karls VI. von 1714 wurde diese Prüfungsvorschrift zwar ohne Unterschied auf sämtliche zukünftigen Reichshofräte ausgedehnt. Aber trotz wiederholter Einschärfung durch kaiserliche Mandate wurden Proberelation und Spezialexamen auch im 18. Jahrhundert nur allzuhäufig erlassen; s. GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.72 f., mit Anm.40; s. auch schon MOSER, Justiz-Verfassung, Tl.2, S.26 f., 50 f.; MüHL, Vergleichung, S.32 ff., 51 ff.; MALBLANK, Anleitung, Tl.3, S.35 ff., 81 ff.; DANZ, Grundsäze, S.64, 248 ff. Selbst wenn eine Proberelation abverlangt wurde, dann nicht von sämtlichen Bewerbern auf eine vakante RHR-Stelle, sondern nur von demjenigen, der bereits vorher ftir die Ernennung in Aussicht genommen worden war. 346 Für einige Präsentati und spätere Assessoren ist belegt, daß sie bereits in dieser V arrunde des Präsentationsverfabrens, nachdem sie von einem Präsentanten aus einem größeren
II.3.2. Ein Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte
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Als Träger reichsständischer oder kaiserlicher Präsentationsrechte besaß ein Jurist jedoch nicht nur Sicherheiten und Ansprüche, die ein in seinem Ablauf genau festgelegtes, einigermaßen transparentes Zulassungs- und Prüfungsverfahren garantierten. Eine Präsentation barg gegebenenfalls auch ein großes Risiko in sich, das einem Bewerber auf eine RHR-Stelle in jedem Fall erspart blieb. Gemeint ist hier nicht das Risiko persönlichen Scheitems im General- und Spezialexamen vor allem wegen unzureichender Fachkompetenz, das jeder Präsentatus einging. Gemeint sind hier auch nicht die Folgen von Unterhaltsmangel und Unterbesetzung auf den Verlauf eines einzelnen Verfahrens - von einer langen Wartezeit bis hin zur Abweisung. Hier geht es vielmehr um die Fallstricke, die im kammergerichtliehen Präsentationssystem ausgespannt waren und die eine Präsentation selbst bei unstrittiger Eignung des Kandidaten zu Fall bringen konnten. In den vorausgegangenen Abschnitten waren die in diesem Besetzungsmodus enthaltenen Konfliktpotentiale offengelegt worden. Soweit sie sich auch auf die einzelnen Präsentationsverläufe auswirkten, sind hier neben der kleinen Zahl von Problemfällen unter den kurfürstlichen Präsentationen vor allem die vielen durch die kuriaten Kreispräsentationen verursachten Streitigkeiten zu nennen347 • Wenn solche Nominations- und Präsentationskonflikte eines bestimmten Kreises nicht im Vorfeld, sondern erst im Vollzug des Präsentierens ausgetragen wurden, konnten sie auf die Juristen, die sich um den hohen Preis eines Bewerberkreis für eine Präsentation in Aussicht genommen worden waren, eine Proberelation im Kameralstylus anfertigen mußten. Auf diese Weise wollte der betreffende Präsentationshof noch vor der Ausfertigung des Präsentationsschreibens die Eignung des Auserwählten testen und sichergehen, daß er sich mit dem Präsentierten am RKG nicht blamierte.- Die Vorstufen eines Präsentationsakts, von der Kandidatensuche eines Nominations- oder Präsentationsberechtigten, der ein vakant gewordenes Assessorat wiederzubesetzen hatte, und vom Einlaufen der Bewerbungen bis hin zur Ausfertigung des Präsentationsschreibens, sind bisher in erschöpfender Weise noch nicht bearbeitet worden. Dazu wäre die systematische Erforschung der Gegenarchive aller Präsentanten erforderlich. Die Verfasserin hat solche Vorstufen, die Einblick in den Bewerberkreis und in die Auswahlmotive eines Präsentationshofs gewähren, bisher nur an Hand kaiserlich-österreichischer (HHStAW, RKG-Visit.A.), kurmainzischer (HHStA W, MEKA- RKGA), kurbayerischer, kurpfalzischer und pfalzbayerischer (HStA Mü., K. schw. u. K. bl.), hzgl. württembergischer (= ev. Schwäb. Kreis, HStA Stuttg., A 41 u. C 10) sowie fstbfl. konstanzischer (= kath. Schwäb. Kreis, GLA Karlsr., Abt.83) Präsentationsakten untersucht, daraus allerdings intensive Eindrücke gewonnen. Über die kurmainzischen Präsentationen s. ausfUhrlieh schon DUCHHARDT, Kurmainz und das Reichskammergericht; DERS., Die kurmainzischen Reichskammergerichtsassessoren. Über die vom König von Schweden als Landesherr in einigen 1648 erworbenen deutschen Reichsterritorien im Rahmen verschiedener Kreispräsentationen ausgeübten Präsentationen s. jetzt N. JöRN, Die Präsentationen der schwedischen Krone an das Reichskammergericht, in: Baumann u.a. (Hgg.), Reichspersonal, S.209-245. 347 Zum Problem der strittigen Kreispräsentationen s. aus der Sicht des Präsentationssystems Kap.II.3.1.3.3. Auf der Ebene der Kurpräsentationen ist für das 18. Jahrhundert der Konflikt um den Konfessionscharakter der pfälzischen Kurpräsentation zu nennen; dazu s.o. Kap.II.3.1.3.2. u. II.3.1.4.2.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Assessorats von einem Kreisstand zur Durchsetzung seiner Ansprüche ins Rennen schicken ließen, nicht ohne Folgen bleiben. Solche Juristen, die im Wettlauf um eine der raren Präsentationen nur eine Kreispräsentation mit problematischer Legitimation erlangt hatten oder deren an sich legale Präsentation von einem anderen Kreisstand bestritten wurde, mußten gegenüber dem Kameralkollegium und in der interessierten Öffentlichkeit häufig genug nicht nur die Ansprüche ihres Präsentanten begründen und den Einwänden des Kameralkollegiums oder Argumenten des konkurrierenden Kreisstands sowie seines Gegenpräsentatus den Boden entziehen. Wegen der zumeist nur schwer zu klärenden Rechtslage und der Hartnäckigeit der Kontrahenten wurden die Präsentations- und Prüfungsverfahren der betreffenden Juristen auch in unzumutbarer Weise in die Länge gezogen, stagnierten manchmal monate- oder sogar jahrelang und blieben im schlimmsten Fall schließlich doch nur fragmentarisch. Wenn die betreffenden Unglückskandidaten nicht doch noch das Glück hatten, nach oft jahrelangem Ausharren vom Kameralkollegium rezipiert zu werden, mußten sie entweder ihre Hoffbungen gezwungenermaßen fahren lassen, weil die Rechtsbasis ihrer Präsentation sich als zu brüchig erwiesen hatte; oder sie verzichteten schließlich von sich aus auf eine weitere Verfolgung ihrer konfliktbeladenen Präsentation348 • In der Spätzeit des Reiches war die persönliche Belastung, die einem Juristen aus seiner strittigen Präsentation erwachsen konnte, besonders hoch, und zwar aus Gründen, die bei den Präsentanten und bei Verwerfungen im Machtgefüge des Reiches zu suchen sind. Generell interpretierten damals vor allem die mächtigeren Reichsstände in ihrem Streben nach Quasi-Souveränität ihr unzweifelhaftes oder vermeintliches Nominations- oder Präsentationsrecht mehr denn je als Anspruch aufunbedingte Rezeption des eigenen Kandidaten, dessen aus welchen Gründen auch immer erfolgte Zurückweisung dagegen als Verletzung dieses Rechts. Dazu kam bei den Kreisen, daß sich das im 18. Jahrhundert noch zunehmende Machtgefälle zwischen den Ständen leicht in nominations- und präsentationsrechtlichen Konflikten äußerte. Größere Kreisstände, vor allem solche mit Kurfürstenrang, waren immer weniger bereit, legitimen Partizipationsansprüchen mindermächtiger Kreisstände Raum zu geben. Letztere wiederum neigten dazu, ihren allgemeinen Positionsverlust über ein angemaßtes Nominations- oder Präsentationsrecht wettzumachen349 • All dies war ein ungünstiger Bo348 Solche strittigen Kreispräsentationen sind mit den zugehörigen Biographien oben in Anm.268-275 erwähnt.
349 Dieser Sachverhalt wird durch die Biographie des 1758 und 1764 einseitig von Eichstärt zum Assessor des kath. Fränkischen Kreises präsentierten Leopold Erhard Gfn. Galler (Biogr. 72) besonders deutlich illustriert; s. auch Biogr. 115 (Donauer) und Biogr. 116 (Gatzert) zu dem 1778-1780 zwischen den Grafen einerseits, Kursachsen wegen Querfurt andererseits ausgetragenen Konflikt im Obersächsischen Kreis.
II.3.2. Ein Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte
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den für Kompromisse oder Nachgiebigkeit. Die Hartnäckigkeit der Präsentanten zog die betreffenden Zulassungs- und Prüfungsverfahren noch zusätzlich in die Länge und ging damit letztlich auf Kosten der Präsentierten, vor allem wenn letzteren unabhängig von ihrer juristischen Qualifikation schließlich doch der Zugang zum Assessorat verwehrt wurde. Ein Assessoratsanwärter konnte also leicht vom Nutznießer zum Opfer reichsständischer Präsentationsrechte und -ansprüche werden, deren Träger er kraft seiner Präsentation geworden war. Das Präsentationssystem als ein mit der Reichsverfassung verkoppelter und von ihr garantierter Mechanismus, geschaffen zur Besetzung eines höchsten Gerichts im Reich - seine vielfaltigen konstanten und variablen Auswirkungen auf die Lebensläufe der präsentierten Juristen lassen sich aus den Rubriken V und VI der im zweiten Teil dieser Arbeit zusammengestellten 128 Einzelbiographien entnehmen350 . In diesen Rubriken sind alle für einen einzelnen Präsentationsakt sowie für das daraus folgende Besetzungsverfahren relevanten Daten aus den Akten rekonstruiert und kommentiert, der Regelfall ebenso wie die Komplikationen. Die Konsequenzen des kammergerichtliehen Präsentationssystems für den Assessoratsanwärter, die monate- bis jahrelange Prägung seines Lebenswegs durch diesen komplizierten Zugangsmodus treten aus diesen Präsentationsverläufen aller zwischen 1740 und 1806 als RKG-Beisitzer amtierenden (92) oder erfolglos auf ein RKG-Assessorat präsentierten Juristen (36) plastisch entgegen. Insofern sind diese Präsentations-'Geschichten' das einzelbiographische Pendant zum vorausgegangenen Kapitel 11.3.1. über Geschichte und Funktion des Präsentationssystems im politischen System des Alten Reiches 351 • Kein anderes Amt im Reich oder in den Territorien bedurfte, um es zu besetzen oder zu erlangen, einer solchen Maschinerie, einer solchen Befolgung und Überprüfung von Normen, Rechten, Ansprüchen, wobei neben dem Präsentationssystem das stark formalisierte Prüfungsverfahren im engeren Sinne das Seine tat. Ein Jurist, der zum RKG-Präsentatus wurde, verkörperte ein Stück Reichsverfassung. Die Rekonstruktion seiner Biographie führt tiefhinein in das Verfassungsgefüge des Reiches mit seinen formellen und informellen Spielregeln. 350 Die Rubrik V jeder Einzelbiographie enthält immer die Geschichte der zeitlich zuerst erlangten Präsentation. Rubrik VI kommt nur vor, wenn der betreffende Jurist später noch eine zweite Präsentation erhielt. Das konnte der Fall sein, wenn er mit seiner ersten Präsentation keinen Erfolg gehabt hatte (Beispiel: Biogr. 39, J.W. Riedesel) oder wenn er zuerst kraft einer Kreispräsentation RKG-Assessor geworden war, dann aber auf ein ranghöheres Kurassessorat präsentiert wurde und in dieserneuen Qualität noch einmal aufschwor (Beispiel: Biogr. 65, J.U. Cramer). 351 Vor allem zu Kap.II.3.1.3 Ideal und Wirklichkeit nach 1648/54 und Kap.II.3.1.4. Die Modifikationen des Präsentationssystems im 18. Jahrhundert.
334
11.3. Die Besetzung der Assessorate
Das kammergerichtliche Präsentationssystem drückte nicht nur der Biographie eines einzelnen Präsentatus seinen Stempel auf. Es strukturierte in einer verfassungsrechtlich relevanten Weise auch das Kameralkollegium. Nach dem Amtsantritt erloschen de jure alle Bindungen zwischen Präsentant und bisherigem Präsentatus, und der neue RKG-Beisitzer wurde durch seinen mit der Vereidigung vollzogenen Rollenwechsel zum Diener von Kaiser und Reich. Er trat in ein Kameralkollegium ein, das in seiner Gesamtheit diese vielgliedrige Einheit von Kaiser und Reich repräsentierte 352 • Schon dieser von den Karneralgesetzell gewollte Charakter des gesamten Richtergremiums macht das Karneralkollegium zu mehr als nur einem Gremium hochspezialisierter Richter, sondern zu einem verfassungsgeschichtlich höchst bedeutsamen Sozialkörper des Alten Reiches. Diese Definition gilt um so mehr, wenn man allen Assessoren eines bestimmten Amtsjahrgangs und ergänzend den hinzugedachten Beisitzern auf den gerade unbesetzten Assessoraten das Präsentationssystem als Matrix unterlegt. Aus diesem Blickwinkel stellen sich die Assessoren des Kameralkollegiums zusammengenommen als eine Vielheit präsentationsrechtlicher Einheiten dar, als eine Verkörperung des Präsentationssystems als Ganzem mit all seinen Strukturmerkmalen, die wiederum die Strukturmerkmale des Reiches waren: Dualismus, Territorialisierung, konfessionelle Parität, Hierarchie von Macht und Rang. Die Beteiligten ignorierten diesen Zusammenhang nicht, im Gegenteil: Durch die am Rang der Präsentanten orientierte Rangordnung der Beisitzer sowie durch die davon etwas abweichende Sitz- und Votierordnung im Kameralkollegium wurde dessen vom Präsentationssystem vorgegebene Strukturierung ständig sichtbar vorgeführt353 • Die für bestimmte Amtsjahrgänge zusammengestellten, seit 1741 regelmäßig in den Kameralkalendern publizierten Verzeichnisse des Karneralpersonals fügen den im Rang folgenden Namen der Assessoren und ihren Aufschwörungsdaten immer auch die kurfürstliche, kaiserliche oder Kreispräsentation bei, "von wegen", d.h. kraftderer sie als Assessor amtierten354 • So war man 352 Zu diesem Rollenwechsel vom Präsentatus zum Assessor sowie über den "character repraesentativum" des gesamten Kameralkollegiums und überhaupt des ganzen Gerichts s. im einzelnen mit Belegen Kap.II.3.1.1. mit Anm.47 ff.; dort allerdings auch über den reichsgesetzlich zwar streng verbotenen, jedoch schwer zu bekämpfenden und ständig virulenten "Repräsentationsgeist" einzelner Assessoren, welche die de jure erloschene Verbindung zu ihrem ehemaligen Präsentanten de facto weiter aufrechterhielten. 353 Über die Rangordnung der Assessoren nach dem Rang ihrer Präsentanten sowie über die davon etwas abweichende Sitz- und Votierordnung s.o. Kap.II.3 .1.1. mit Anm.61 u. 62. 354 Die älteren gedruckten Verzeichnisse ("Judicii Camerae lmperialis Personae") sowie auch noch die allerersten Jahrgänge der Kameralkalender einschließlich des Jahrgangs 1745 benutzten zumeist die Formel "ab Electore N.N." bzw. "a Sacra Caesarea Majestate" bzw. "a Circulo N.N. praesentatus Assessor". Ab 1746 verwenden die Kameralkalender durchweg die Formel "von wegen" des Kurfürstentums N.N., "von wegen Ihro Kayserl. Majestät", "von
II.3.2. Ein Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte
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sich weit über das Gericht hinaus in den interessierten Kreisen der Reichsöffentlichkeit bis hin zu Reichspublizisten und Prozeßparteien der "Quelle" dieses exponierten höchstrichterlichen Personenkreises, des mit der Reichsverfassung aufs engste verknüpften Präsentationssystems, ständig bewußt. 2. Welcher Art waren nun die anfangs angesprochenen sozialgeschichtlichen Folgen, die sich komplementär zu den bisher beschriebenen verfassungsrechtlichen Konsequenzen aus dem Präsentationssystem ergaben? Dieser Zugangsmodus macht das Richtergremium des RKG nicht nur zum Spiegel der Reichsverfassung, ihrer Strukturmerkmale und ihrer politischen Kraftfelder. Er bildet bei der Erforschung dieser Institution auch das Scharnier, das Verfassungs- und Sozialgeschichte miteinander verklammert. Denn das am politisch-verfassungsrechtlichen, regionalen und konfessionellen Proporz orientierte Präsentationssystem mit seiner reichsweiten Streuung der Präsentationsbefugnisse mußte auch die Sozialstruktur der Assessorengruppe prägen. Die Vielheit von Präsentationsrechten mußte eine große Vielfalt territorialer, politischer und sozialer Bezüge erzeugen, die über die Assessoren im Kameralkollegium vereinigt waren. Diese strukturelle Besonderheit gestaltet das Sozialprofil dieses Spruchkörpers im Vergleich zu den meisten anderen damaligen Regierungs- und Justizorganen außerordentlich beziehungsreich. Eine Strukturanalyse der RKG-Beisitzer sowie der nicht zur Aufschwörung gelangten Präsentati trägt daher in sehr viel höherem Maß, als dies Untersuchungen einzelner territorialer Behörden und selbst des RHR-Kollegiums leisten können, nicht nur zu einer Analyse der Reichsverfassung und politischer Interessenlagen, sondern auch zur Erhellung reichsweit gestreuter sozialer Phänomene bei355 • wegen" des Kreises N.N. Daneben kommt aber in anderen Personallisten des späteren 18. Jahrhunderts auch noch die Formel "praesentatus a/ab" vor. 355 Auf der Ebene des Reiches wies wohl nur noch die Reichsversammlung in Regensburg einen entsprechend großen Beziehungsreichtum auf. Der Zugangsmodus zu diesem seit 1663 in Permanenz tagenden Gesandtenkongreß, dessen Mitglieder die diplomatischen Vertreter der einzelnen Reichsstände waren, ist jedoch mit dem kammergerichtliehen Präsentationssystem nicht vergleichbar; s. die Namen und Dienstbezeichnungen der Reichstagsgesandten in: CHR.G. ÜERTEL, Vollständiges und zuverläßiges V erzeichniß der Kaiser, Churfürsten, Fürsten und Stände des Heil. Röm. Reichs wie auch derselben und auswärtiger Mächte Gesandtschaften, welche bey dem fürwährenden Reichs-Tage, von seinem Anfange 1662 an, biß zum Jahr 1760 sich eingefunden haben, Regensburg 1760; Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfeilischen Frieden (1648), Bd.l (1648-1715), hg. von L. Bittner u. L. Groß, Oldenburg- Berlin 1936, Bd.2 (1716-1763), hg. von F. Hausmann, Zürich 1950, Bd.3 (1764-1815), hg. von O.F. Winter, Graz- Köln 1965; s. auch die durch biographische Angaben ergänzte Liste der Reichstagsgesandten, die in der Endphase des Alten Reiches in Regensburg tätig waren, in: K. HÄRTER, Reichstag und Revolution 1789-1806. Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich, Göttingen 1992, S.659 ff.- Im RHR-Kollegium waren die aus den Österreichischen Erblanden stammenden Mitglieder überproportional stark
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
Wegen der gleich zweifachen Prägewirkung, die das Präsentationssystem auf das Kameralkollegium ausübte, ist dieses Richtergremium fiir ein zentrales Anliegen bei der Erforschung des Alten Reiches, die Zusammenfiihrung und Verschränkung von Verfassungs- und Sozialgeschichte, besonders geeignet356 • Eine Untersuchung der Assessoren und nicht introduzierten Präsentati, als Individuen wie als Gruppe, macht eine konsequente Kombination verfassungs-und sozialhistorischer Fragestellungen sogar zwingend erforderlich. Denn eine rein ämterund verfassungsgeschichtliche Interpretation würde hier ebenso zu kurz greifen und komplementäre soziale Strukturierungen ausblenden wie umgekehrt eine rein sozialgeschichtliche Analyse den prägenden, auch sozialhistorisch relevanten Zusammenhang von Kameralkollegium, Präsentationssystem und Reichsverfassung ignorieren würde. Das Kameralkollegium selbst betrachtete sich sogar in der Spätzeit seiner Existenz, als es auf eine traditionsreiche, inzwischen 250- bis 300jährige Vergangenheit zurückblicken konnte, noch nicht als Objekt einer kombiniert verfassungs- und sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise oder auch nur historischbiographischer Untersuchungen. Jedoch waren sich die Mitglieder dieses Spruchkörpers über die Jahrhunderte hinweg stets ihres hohen Ranges bewußt, "in Betrachtung, daß sie von Uns als Römischen Kayser, auch Chur-Fürsten, Fürsten und Ständen deß Heil. Reichs an solche hohe Justitzien verordnet und an Unser und Ihrer Stadt [!] sitzen, Uns und Dieselben diß Orts tanquam perpetui togati Senatares in Senatu Imperii repraesentiren" 357 . Das Präsentationssystem als der Mechanismus, über den die Assessorate besetzt wurden, war im Kameralkollegium schon auf Grund der internen Rangordnung sowie der immer aufs neue ablaufenden Präsentationsverfahren dauernd gegenwärtig. Für seine komplizierte Einbindung in die Reichsverfassung bestand in diesem Richtergremium stets eine hohe Sensibilität. Sie war in den letzten vier Jahrzehnten seiner Existenz, als Krisenerscheinungen im Reichssystem immer deutlicher wurden, besonders hoch entwickelt. Ganz unabhängig von diesem Bewußtsein seiner verfassungsrechtlichen Bedeutung und seiner Prägung durch das Präsentationssystem hatte das Kameralvertreten. Laut GSCHLIESSER, Reichshofrat, S. 72, stammten von insgesamt 445 ordentlichen Reichshofräten, die im Laufe seines Bestehens in den RHR introduziert wurden, 191 aus den Österreichischen Erb landen, 222 aus dem übrigen Reich, 10 aus anderen Gebieten wie Italien und den Niederlanden. Von 22 konnte die Herkunft nicht genau ermittelt werden. 356 Dazu
programmatisch MORA w- PRESS, Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte; PRESS, Das römisch-deutsche Reich. 357 Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.9 (zit. nach: CJC, 8.584); auch schon KGO 1548 Tl.l Art.8 (RTA JR 18/2, 8.1250); KGO 1555 Tl.l Tit.8 (LAUFS, KGO 1555, 8.81); Vis.Mem. für Kammerrichter und Assessoren 1570 § 1 (CJC, 8.303).
II.3.2. Ein Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte
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kollegium ein naturgemäß allerdings nicht sozialgeschichtliches, sondern rein berufliches Interesse an den sozialen und professionellen Eigenschaften alljener Juristen, die neu auf ein Assessorat präsentiert wurden. Seit dem 16. Jahrhundert wurde jeder Kandidat zur Überprüfung seiner Amtseignung zunächst dem Generalexamen unterworfen, einer allgemeinen Befragung zur Person. Wenn sich daraus keine Einwände ergaben, folgte das fachspezifische Spezialexamen, bestehend aus einer seit 1570 vorgeschriebenen Proberelation und einer mündlichen Prüfung, dem Spezialexamen im engeren Sinn358 • Das bis 1806 in lateinischer Sprache abgenommene und protokollierte Generalexamen wurde am RKG vermutlich schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gewohnheitsrechtlich eingefuhrt, wahrscheinlich nach dem Vorbild des sogenannten Informativprozesses, der seit Anfang des 15. Jahrhunderts an der Sacra Rota Romana, dem 358 Reichsgesetzliche Anordnung einer Proberelation (PR) "in beschloßner sachen" flir RKG-Präsentati auf Grund eines schon im Jahre 1557 erfolgten Vorschlags des Kameralkollegiums in: RA 1570 §55 (CJC, S.306; RTA Reichsvers. 1556-1662, RT 1570/2, S.1224 f.); auf RA 1570 §55 beruhend: Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 12 (CJC, S.580); Einführung des mündlichen, über die Proberelation und die referierten Akten angestellten Spezialexamens (SpE) zuerst in: Vis.Mem. flir Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren 1600 § 13 (CJC, S.528); entsprechend Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 14 (CJC, S.581). Nach dem Wortlaut dieser Verordnung von 1600/1613 sollte das Kameralkollegium "Macht haben", das mündliche Spezialexamen durchzuflihren, weshalb es sich für berechtigt hielt, das Spezialexamen vorzunehmen oder- bei besonders qualifiziert erachteten Präsentati - auch nicht. Die dadurch bedingte Willkür und Ungleichbehandlung schaffte der Vis.A. 1713 § 25 (CJC, S.968) ab, der das mündliche Spezialexamen flir alle Präsentati obligatorisch machte. Dies wurde durch das Vis.Dekret vom 27.8.1768 § 7 bekräftigt (Or.: RKG IV A 3 fol.276r-278v; Druck: BALEMANN, Visitations-Schlüsse, S.30-32); dazu SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.74 f.; BALEMANN, Beiträge, S.292. - Die noch erhaltenen Proberelationen aus der Zeit des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts befinden sich im "Untrennbaren Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs (RKG VIII/1-99). Die schriftlichen Zensuren (Begutachtungen) der Proberelationen, angefertigt von einem zum Zensor bestellten Assessor, der in der betreffenden beschlußreifen Prozeßsache Referent war, sowie in späterer Zeit das ergänzende Votum eines Konzensors, liegen, soweit erhalten, zumeist in den Präsentationsprotokollen, nämlich bei dem Protokoll derjenigen Plenarsitzung, in der die Zensur vorgenommen wurde. Das mündliche Spezialexamen, das der Präsentatus gleich nach Ablegung, d.h. Verlesung seiner Proberelation zu überstehen hatte, mußte seit 1768 ebenfalls protokolliert werden; s. das oben zitierte Vis.Dekret vom 27.9.1768 § 8; dazu BALEMANN, Beiträge, S.294 f., 296 f. Dieses Protokoll des mündlichen Spezialexamens sowie die Voten der Assessoren, die außer dem Zensor dem Prüfungssenat angehört hatten, wurden dann zusammen mit der Zensur der Proberelation ebenfalls zu dem Plenarprotokoll der oben erwähnten Zensursitzung gelegt, so daß in den letzten Jahrzehnten vor der Gerichtsauflösung abgesehen von der Proberelation selbst alle Prüfungsunterlagen in die Präsentationsprotokolle (RKG IV B 2/16 ff.) eingebunden sind. Über alle mit der Proberelation, dem mündlichen Spezialexamen und der Zensur zusammenhängenden Fragen s. auf der Basis der einschlägigen Karneralgesetze und unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung eingehend BALEMANN, Beiträge, S.269 ff., 292 ff., 298 ff.; weniger genetisch, sondern statisch, am Ist-Zustand des ausgehenden 18. Jahrhunderts orientiert: MALBLANK, Anleitung, Tl.1, S.140 ff.; vgl. auch W. HÜLLE- W. SELLERT, Artikel Relation, in: HRG 4, 1990, Sp.859-862.
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II.3. Die Besetzung der Assessorate
obersten päpstlichen Zivilgericht der katholischen Kirche und des Kirchenstaats, für zukünftige Rotarichter (Auditoren) obligatorisch war359 . Dieses Generalexamen, ein standardisierter Katalog von elf, seit 1770 zwölfFragen nach der sozialen und geographischen Herkunft des Präsentatus, nach Studium und Vorkarriere, Alter und Konfession, stellte für seine Entstehungszeit eine ungemein moderne Art der Personenbefragung dar360 • Es ist ein weiterer Einzelbeleg für den 359 Dazu s. mit weiteren Nachweisen H. HOBERG, Die Amtsdaten der Rotarichter in den Protokollbüchern der Rotanotare von 1464 bis 1566, in: Römische Quartalsschrift 48, 1953, S.43-78; DERS., Die Antrittsdaten der Rotarichter von 1566 bis 1675, in: ebd., S.211-224; DERS., Der Amtsantritt des Rotarichters Antonio Albergati (1649), in: ebd. 49, 1954, S.112122, bes. S.115 mit Anm.6; DERS., Die "Admissiones" des Archivs der Rota, in: Archival. Zs. 50/51, 1955, S.391-408; vgl. die knappen Hinweise bei H.-J. BECKER, Die Sacra Rota Romana in der frühen Neuzeit, in: Auer- Ogris - Ortlieb (Hgg.), Höchstgerichte in Europa, S.l-18 (mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen zur Rota), hier S.4. Den Hinweis auf die Parallelität zwischen dem kammergerichtliehen Generalexamen und dem für die Auditoren der Rota Roma obligatorischen Informativprozeß, der dort ebenfalls wie arn RKG der eigentlichen Fachprüfung vorausging, verdanke ich Konrad Repgen, der mich auch auf entsprechende Erkundigungsverfahren für die Referendare der Apostolischen Signatur, eine weitere päpstlichen Behörde, sowie für andere hohe geistliche Würdenträger aufmerksam machte. Daß dieser Informativprozeß ("inquisitio", "processus") das Vorbild für das kammergerichtliche Generalexarnen war, ist schon deswegen sehr wahrscheinlich, weil die Rota Romana das reorganisierte RKG in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch auf materiell- und prozeßrechtlichem Gebiet beeinflußte; dazu s. G. DOLEZALEK- K.W. NöRR, Die Rechtsprechungssammlungen der mittelalterlichen Rota, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.l, S.849-856, hier S.852; K.W. NöRR, Ein Kapitel aus der Geschichte der Rechtsprechung: Die Rota Romana, in: Ius commune 5, 1975, S.192-209; DICK, Entwicklung, passim, so S.28; G. DOLEZALEK, Artikel Rota, in: HRG 4, 1990, Sp.1148-1152, hier Sp.1150; BECKER, Rota Romana, S.8 f.; zur Rota Romana s. auch den Überblick bei H.E. FEINE, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, 5. Aufl. Köln- Wien 1972, S.324 ff., 337 f., 522, 711 f. 360 Schon der Visitationsabschied von 1531 § 15 al. 17 (CJC, S. 76) und im Anschluß daran KGO 1548 Tl.l Art.4, KGO 1555 Tl.l Tit.4 § 4 sowie Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 11 trugen dem Kameralkollegium auf, vor der Wiederbesetzung einer vakanten Assessoratstelle "fleißige Nachforschung" zu haben, welcher von den zwei oder drei Compräsentierten der Qualifizierteste sei, wobei besonders das Jurastudium und die Vorkarriere erkundet werden sollten. Aus dieser "Nachforschung" muß sich noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts das standardisierte Generalexamen entwickelt haben. Dies ist angesichts der Protokollverluste indirekt daraus zu erschließen, daß das Generalexamen zwar nicht dem Karnmerrichter, wohl aber ebenso wie den Assessoren bis 1806 auch den Präsidenten abgenommen wurde, die ursprünglich als "assessores generosi" noch den Urteilern zugehörten und sich erst während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Zuge einer Funktionsverschiebung allmählich in Direktorialpersonen verwandelten (dazu s. Genaueres schon in Kap.ll.2.2.2.).- Das Generalexamen (GE) mit seinem bis 1806 gültigen Fragekanon wurde niemals in einer KGO oder einem sonstigen Karneralgesetz fixiert, sondern gehörte zu den Karneralobservanzen. Der kurmainzische Assessor Loskand, einer der beiden Revisoren des ersten Teils des Konz. KGO 1613, forderte daher 1768/69, das Generalexamen mitsamt den bei seiner Abnahme üblichen Modalitäten in eine revidierte KGO einzutragen, und machte einen entsprechenden Entwurf, der dann allerdings wegen des vorzeitigen Scheiterns der letzten Visitation ebenso wie alle anderen Revisionsentwürfe niemals rechtskräftig wurde; s. Loskand in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.62 ff. Der Fragenkatalog für die Präsidenten und Assessoren, der mit Variationen auch den zukünftigen Kanzleiverwaltern, Advokaten, Karneralärzten, Notaren, Lesern und Pfennigmei-
II.3.2. Ein Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte
339
hohen Grad an Bürokratisierung, Professionalisierung und Modellhaftigkeit, den das RKG in seiner Aufbauphase verkörperte 361 . Bei aller Unvollkommenheit und Fehlerhaftigkeit der Aussagen sind diese Generalexamen aus heutiger Sicht eine Fundgrube fiir die sozialhistorische Erforschung des RKG-Personals 362 . Zu ihrer Zeit verschwanden sie jedoch bald nach ihrer Niederschrift in den dickleibigen Folianten der Präsentationsprotokolle und damit in den Tiefen des Kameralarchivs. Sie gehörten ebenso wie alle anderen zu einem Präsentationsvorgang erwachsenen Akten und Protokolle zu den Gerichtsgeheimnissen, die nur einer Visitation offengelegt werden mußten363 • Der Zusammenhang von Präsentationssystem und Sozialprofil schien fiir ein gerade amtierendes Kameralkollegium immer nur ganz punktuell an einem einsternvorgelegt wurde, lautete: 1. Nomen? 2. Nomen parentum et eorum conditio? 3. An legitime natus? 4. Quae patria? 5. Quod domicilium? 6. Cujus aetatis? 7. Studiumjuris quando et ubi coeperit? et quamdiu continuaverit? 8. An gradum in jure habeat? et qualem, quando, ubi et quibus promotoribus illum consecutus sit? 9. An, ubi et quamdiu practicam exercuerit? 10. Cujus religionis? 11. An alicui juramento vel servitio obstrictus sit et illud remitti possit? Die zwölfte Frage: An ab aliquo membro judicii cameralis et a quo per litteras vel alio modo ad obtinendam praesentationem ad assessoratum comrnendatus sit? wurde erst durch Dekret der Visitation vom 5.9.1770 eingeführt, Or. dieses Dekrets: RKG IV A 6 fol.248, Druck: BALEMANN, Visitations-Schlüsse, S.33 f.; s. diesen Fragenkatalog in: RKG Mise. 605 neufol.34, 49, dazu neufol.48; BALEMANN, Beiträge, S.268; vgl. Loskand in: SELCHOW, Concepte, Tl.l, S. 63 f.; MALBLANK, Anleitung, Tl.l, S.13 8 f.; s. ferner die protokollierten Generalexamina selbst in den Protokollserien RKG IV C 1 ff. und RKG IV B 2/1 ff. Zu Form, Inhalt und Aussagewert s. S. JAHNS, Das Generalexamen der Kammergerichtsassessoren als "Ego-Dokument"?, in: W. Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S.191-205 (ebd., S.204 f., Transkription und Übersetzung eines Generalexamens von 1753).- Auch die RKG-Praktikanten hatten einen dem Generalexamen analogen Fragenkatalog zu beantworten. Die Antworten wurden aber anscheinend nicht protokolliert, sie sind jedenfalls nicht erhalten; s. die handschriftliche Verzeichnung dieser den Praktikanten vorgelegten neun Fragen auf dem letzten Blatt des gedruckten Personalverzeichnisses von 1693, das der im "Untrennbaren Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs aufbewahrten RKG-Praktikantenmatrikel (neue Sign.: AR 1 U/33) vorgebunden ist. 361
Zu den Modernisierungsleistungen der Gründungs- und Aufbauphase s. schon Kap.II.1.
362
Welchen unschätzbaren Wert diese Generalexamina trotz aller notwendigen quellenkritischen V erifizierungs- und Ergänzungsarbeit darstellen, wird schnell deutlich, wenn ein Generalexamen fehlt und sich dadurch die Rekonstruktion einer Biographie, die bei weniger bekannten Kameralpersonen mit der Identifizierung des bloßen Namens beginnen muß, äußerst erschwert. Es ist daher sehr bedauerlich, daß die Geneneralexamen aus der Zeit des 16., der ersten Hälfte und zum Teil auch noch der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit den Protokollbänden im Speyerer Brand von 1689 vernichtet worden sind, denn flir diese Zeit lassen sich die Biographien noch schwerer aus anderen Quellen rekonstruieren als fiir das personengeschichtlich quellengünstigere 18. Jahrhundert. 363 Erst 1806, unmittelbar nach der Auflösung des RKG, wurden von dem langjährigen RKG-Protonotar Joseph Anton Vahlkampf offiziöse Kurzbiographien der letzten amtierenden Assessoren publiziert, denen die betreffenden Generalexamina zugrunde lagen, s. V AHLKAMPF, Miscellen, Bd.2 H.5, 1806, S.487-513.
340
II.3. Die Besetzung der Assessorate
zeinen Kandidaten auf und immer mit konkretem Bezug auf die rechtsprechende Funktion des RKG: wenn es nämlich an einem neu präsentierten Juristen monierte, dieser stamme entgegen der Kameralnorm nicht aus dem Gebiet des präsentationsberechtigten Standes oder Kreises oder zumindest aus einem benachbarten Kreis. Hier lag ja seit der Entstehungsphase um 1500 eine der Hauptintentionen des Präsentationssystems, nämlich durch reichsweite Streuung der Präsentationsbefugnisse zu garantieren, daß die Beisitzer möglichst gleichmäßig aus allen Regionen des Reiches kamen, damit im Kameralkollegium neben dem als allgemein bekannt vorausgesetzten und ex officio anzuwendenden gemeinen Recht auch Kenntnisse möglichst vieler partikularer Rechtsnormen vorhanden waren- dies fiir den Fall, daß das Gericht solche partikularen Spezialrechte von Amts wegen oder auf entsprechende Rechtsbeibringungen der Parteien in einem Prozeß zu berücksichtigen und zu bewerten hatte 364 • Die These von dem prägenden Zusammenhang zwischen Präsentationssystem und Sozialstruktur des Kameralkollegiums ist eine der Leitschienen in dem folgenden großen Abschnitt III dieser Arbeit, der das Gruppenprofil der im 18. Jahrhundert amtierenden Assessoren nachzeichnet. Natürlich steuerte das Präsentationssystem keineswegs alle in diesem Richtergremium versammelten sozialen Merkmale, nur ein Teil davon läßt sich durch diesen Vorschlags- und Zugangsmodus erklären. Im Vordergrund steht dabei, von der Kameralgesetzgebung jedenfalls intendiert und zu erwarten, die Streuung der geographischen Rekrutierungsgebiete. Ihnen mußte als Sekundärfolge des Präsentationssystems ebenso theoretisch eine Streuung der sozialen Muttergruppen, der besuchten Universitäten, der im Zuge der Vorkarrieren durchlaufenen Dienstorte entsprechen. Andere fiir das Individuum und fiir das Gruppenprofil charakteristische Phänomene wurden durch Normen beeinflußt, die zwar ebenfalls in der Kameralverfassung enthalten, jedoch vom Präsentationssystem unabhängig waren. Sie zielten vor allem auf das ständische Profil und die fachspezifischen Eigenschaften der Präsentierten und späteren Assessoren. Wiederum andere soziale Merkmale sind durch Lücken in der Kameralgesetzgebung und durch Mißstände wie Unterhaltsmangel, Unterbesetzung und lange Wartezeiten zu erklären- so die Altersstruktur der Neupräsentierten- oder, wenn man etwa nach der Verweildauer im Assessorenamt (Durchgangsstation oder Lebensstellung?) fragt, durch einen in der Spätzeit des Reiches veränderten 'Wert' von erfahrenen RKG-Bei364 Über diese schon 1495/1500 formulierte wesentliche Funktion des sich damals ausbildenden Präsentationssystems s. oben Kap.II.3.1.1. mit Anm.31-34, sowie ausführlicher mit Nachweis weiterer daraus herfließender Karneralgesetze über die geographische Rekrutierung der Präsentierten das folgende Kap.III.l., bes. III.l.l.; ebd. in Anm.3 auch zum Hintergrund, dem theoretischen und praktischen Verhältnis von gelehrtem und partikularem Recht in der kammergerichtliehen Rechtsanwendung.
II.3.2. Ein Scharnier zwischen Verfassungs- und Sozialgeschichte
341
sitzem für andere Institutionen des Reiches oder für territoriale Behörden. Schließlich wurden die individuellen und gruppenspezifischen Merkmale der Präsentierten gerade im Ancien Regime durch Interessenlagen und Auswahlkriterien der Präsentanten sowie Mechanismen der altständischen Gesellschaft gesteuert, die dem Einfluß aller Kameralnormen und speziell den Steuerungsmöglichkeiten des Präsentationssystems entzogen waren, ja dessen Intentionen geradezu konterkarieren konnten. Hier sind vor allem die wichtige Rolle von Beziehungen und Empfehlungen, also von kleineren und größeren Klientelsystemen, zu nennen, ferner Tendenzen zur Selbstrekrutierung und Oligarchisierung im Juristenstand sowie begabungsunabhängige, aber dennoch äußerst karriererelevante Faktoren wie Vermögen und günstige Heiratsverbindungen. So wirkten also, und dies ist die zweite, ergänzende Ausgangsthese, zwei 'Kräfte' prägend auf das Gruppenprofil der präsentierten Juristen ein: zum einen das Präsentationssystem mit seinen das Reichssystem nachbildenden Strukturmerkmalen sowie die übrigen personenbezogenen Kameralnormen, zum anderen die politische und soziale Realität- Interessenlagen der Präsentationshöfe sowie die autonomen Kräfte der altständischen Gesellschaft -, all dies wiederum eingeordnet in die Koordinaten von Kontinuität und Wandel. Als Basis für den folgenden Abschnitt über das Gruppenprofil dienen in erster Linie die in Teil II dieses Werkes zusammengestellten Einzelbiographien. Es handelt sich um die Biographien sämtlicher 128 Juristen, die zwischen dem 1.1.1740 und dem 6.8.1806, dem Tag der Reichsauflösung, am RKG als Assessoren amtierten (92) oder aber in diesem Zeitraum präsentiert wurden, jedoch aus vielfältigen Gründen niemals als Beisitzer aufschworen (36). Letztere kamen demnach über den Status eines "Präsentatus" nicht hinaus 365 • Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung liegt also auf der Spätzeit des Reiches, für deren Periodisierung die Zäsur 1740 auch in anderer Hinsicht begründet ise 66 . Jedoch reicht die Untersuchung schon wegenallderjenigen Assessoren, die am Stichtag 1.1.1740 bereits viele Jahre amtierten, bis ins späte 17. Jahrhundert zurück367 • Außerdem fließt die Kenntnis sämtlicher Präsentationsvorgänge aus der Zeit ab 1648 sowie aller Biographien der von 1648 bis 1739 präsentierten Juristen in die 365 Nähere Erläuterungen zu diesen 128 Einzelbiographien s. in der "Vorbemerkung zu den Biographien" in Teil II, S.IX ff. Über den Aussagewert der Biographien der 36 nicht rezipierten Präsentati s.o Kap.I (Einführung). 366
Dazu s.o. Kap.I.
Dazu s. etwas ausführlicher schon Kap.I. Der Amtsälteste unter den am 1.1.1740 amtierenden Beisitzern war der damalige kurpfälzische und frühere Obersächs. Kreis-Assessor Georg Melchior v. Ludolf, der 1710 wegen des Obersächsischen Kreises präsentiert und 1711, wenige Monate nach der Wiedereröffnung des RKG, in das Kameralkollegium introduziert worden war. Ludolfwurde am 2.3.1667 geboren und starb am 1.2.1740 (s. Biogr. 38). 367
342
II.3. Die Besetzung der Assessorate
Darstellung mit ein. So können längerfristige Konstanten und Wandlungen für die Epoche zwischen dem Westfalischen Frieden und der Reichsauflösung eingeschätzt und nachgezeichnet werden368 . Die normativen Bestimmungen, die seit dem 16. Jahrhundert den Zugang zum Assessorat regelten, werden dieser sozialgeschichtlichen Analyse als Folie unterlegt und mit der sozialen Realität des 18. Jahrhunderts verglichen. Auf diese Weise können all jene Probleme schärfer herausgearbeitet werden, die sich auch auf der Ebene der kammergerichtliehen Personalverfassung durch die Verkehrung der normativen Qualifikationsvorschriften von ursprünglicher Modernität in späteres Veralten inmitten einer Zeit politischen und sozialen Wandels ergaben. Dieser Aspekt wird vor allem im letzten Großabschnitt IV behandelt.
368 Für sämtliche Juristen, die zwischen 1648 und 1739 (31.12.) Beisitzer waren oder in diesem Zeitraum ohne späteren Aufschwörungserfolg auf ein RKG-Assessorat präsentiert wurden, hat die Verfasserin bereits an Hand der im "Untrennbaren Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs befindlichen Präsentationsakten und -protokolle die Präsentationsverfahren aufgearbeitet und darüber hinaus weiteres biographisches Material gesammelt; dazu s. auch schon Kap.!.
III. Das Gruppenprofil der Assessoren und der erfolglos Präsentierten in der Spätphase des Alten Reiches 1. Geographische Herkunft 1. DieNorm In der geographischen Herkunft der Assessoren und sonstigen Präsentierten wird die Prägewirkung, die das Präsentationssystem auf das Sozialprofil des Kameralkollegiums ausübte, am unmittelbarsten sichtbar. Die Steuerung der geographischen Rekrutierung durch den Besetzungsmodus war von der Kameralgesetzgebung seit der Gründungs- und Aufbauphase ausdrücklich gewollt. Wie bereits mehrfach erwähnt, war es von Anfang an eine der Hauptintentionen des Präsentationssystems mit seiner Verteilung der Präsentationsbefugnisse auf Kurfürsten, Kaiser und Kreise, möglichst Männer aus allen Regionen des Reiches für die Richterstellen dieser obersten Gerichtsinstanz zu rekrutieren. Dadurch sollte gewährleistet werden, daß nicht nur das bei allen Assessoren als bekannt vorausgesetzte und von Amts wegen anzuwendende rezipierte römische Recht, sondern daneben gegebenenfalls auch die Fülle der deutschrechtlichen partikularen Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten in der Judikatur des RKG berücksichtigt und bewertet werden konnte 1• Eine isolierte Betrachtung der in der KGO von 1495 § 3 erstmals reichsgesetzlich fixierten, in späteren Ordnungen wiederholten Rechtsanwendungsklausel legt zwar die Vermutung nahe, von den RKGBeisitzem sei "lediglich die Kenntnis des römischen und kanonischen Rechts erwartet worden" 2• Zeitgleich entstandene weitere Quellen zeigen jedoch etwas 1 So sah es rückblickend auch PÜTTER, Historische Entwickelung, Tl.l, S.311 f., der im Zusammenhang mit der schon bald nach 1495 einsetzenden, 150711521 abgeschlossenen Ausbildung des Präsentationssystems die ihm schon damals zugrundeliegenden Zwecke beschreibt, darunter die oben skizzierte Funktion. PüTTER ebd., S.311, zu der schon in der Frühphase des RKG vorgenommenen Verteilung der Präsentationsrechte auf Kurfürsten und Reichskreise : "Durch dieses Mittel konnte man hoffen, Männeraus allen Gegenden des Teutschen Reichs zu bekommen, die der verschiedenen Rechte kundig seyn würden, deren Mannigfaltigkeit in Teutschland beynahe so groß als die Zahl der besonderen Staaten ist, woraus das Teutsche Reich besteht" (vollständiges Zitat dieser Textstelle s.o Kap.Il.3.1.1. mit Anm. 31 ); ergänzend dazu PüTTER, ebd., S.331 f. 2 P.OESTMANN, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, Frankfurt a.M. 2002, S.437. Zu Oestmanns Arbeit s. ausfuhrlicher die folgende Anmerkung; dort mit Belegstellen auch der gerraue Wortlaut der in KGO 1495 § 3 verankerten, 1548, 1555 und 1613 wiederholten Rechtsanwendungsvorschrift mit der hier entscheidenden Vorbringensklausel "die fur sy bracht werden"; zum rechtshistorischen Kontext s. ebenfalls die folgende Anmerkung.
344
III.1. Geographische Herkunft
anderes: Seit der Errichtung des RKG hatten die Reichsstände ein starkes Interesse daran, daß die Assessoren dank einer reichsweiten Streuung ihrer Herkunftsregionen schon aus der Zeit vor ihrem Amtsantritt Kenntnisse möglichst vieler einheimischer Rechtsquellen in das Kameralkollegium einbrachten und im Umgang mit solchen nicht-gemeinrechtlichen Rechtsnormen versiert waren - eben für den Fall, daß sich das RKG mit solchen partikularen Sonderrechten in einem V erfahren ex officio oder auf entsprechende Rechtsvorbringung der Prozeßparteien zu befassen und über deren Anwendung zu urteilen hatte 3 . 3 Zum rechtshistorischen Hintergrund: Zwar hatte das ius commune nach dem Rechtsverständnis der Rezeptionszeit gegenüber dem partikularen Recht nur subsidiäre Geltung. Orientiert an der frühneuzeitlichen gelehrten Literatur, ging die bisherige rechtshistorische Forschung aber davon aus, daß die auf den heimischen Statuten und Gewohnheiten lastende Beweispflicht trotz des theoretisch weiter geltenden Subsidiaritätsprinzips in der Praxis der kammergerichtliehen Rechtsprechung doch zu einer Privilegierung des gemeinen Rechts geführt habe. Denn- so die bisherige Forschungsmeinung- die RKG-Beisitzer mußten entsprechend dem Grundsatz "iura novit curia" neben der als selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnis des gelehrten Rechts von sich aus, das heißt unabhängig von einer Beweiserbringung der Parteien, nur diejenigen partikularen Rechte in ihrer Rechtsprechung berücksichtigen, "die dem Gericht offiziell insinuiert, also zur Kenntnis gebracht waren. Alle anderen partikularen Gewohnheiten und Statuten mußte diejenige Partei, die sich darauf berief, wie eine Tatsache beweisen". Andernfalls brauchte sie das Gericht nicht zu beachten. Daraus habe in der Rechtsanwendungspraxis des RKG ein Anwendungsvorrang des gemeinen Rechts und eine Zurückdrängung des Partikularrechts resultiert; so zuletzt noch DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskammergerichts, S.108 f. (Zitat ebd.); ebs. RANIERI, Artikel Römisches Recht, Rezeption, in: Lexikon des Mittelalters 7, 1995, Sp.1016 (mit Nachweis der einschlägigen Literatur); auch DERS., Rezeption und Prozeßrecht, S.171 f.; mit kritischen Akzenten, eine Analyse der Prozeßpraxis einfordernd, auch schon DERS., Recht und Gesellschaft, Tlbd.1, bes. S.173 f. mit Literaturübersicht in Anm.59, S.238 ff. Im Zentrum dieser auf die zeitgenössische Rechtsanwendungsdoktrin gestützten bisherigen Forschungsmeinung, fiir die das Buch von W. WIEGAND, Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit, Ebelsbach 1977, exemplarisch ist, steht die bekannte reichskammergerichtliche Rechtsanwendungsklausel in KGO 1495 § 3. Danach mußten sich Kammerrichter und Assessoren in ihrem Amtseid verpflichten, "nach des Reichs gemainen rechten, auch nach redlichen, erbern und leydenlichen ordnungen, statuten und gewonheiten der Ftt., Hftt. und gericht, die fur sy bracht werden, ... zu richten" (zit. nach RTA MR 5/I, 1, S.388); eine entsprechende Formulierung s. schon im kurfiirstlichen Entwurf einer KGO von 1486 § 2 (RTA MR 1/I, S.350). In etwas modifizierter Form, vor allem mit der Variante "lendischenlländischen" statt "leydenlichen", wird die in KGO 1495 § 3 enthaltene Rechtsanwendungsvorschrift mitsamt derselben Vorbringensklausel 'die vor sie gebracht werden' erneuert in den Vorschriften für die Urteilertätigkeit der Assessoren sowie in der Eidesformel in KGO 1548 und KGO 1555 Tl.l Tit.13 § 1 u. Tit.57 (RTA JR 18/2, S.1261, 1316; LAUFS, KGO 1555, S.93, 151); Wiederholung dieser Bestimmungen in Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.19 Einltg. u. Tit.71 (CJC, S.597 [so richtig statt Druckfehler: 579], 657). Dieses hier nur grob skizzierte, von der bisherigen rechtshistorischen Forschung auf der Basis der zeitgenössischen gelehrten Literatur rekonstruierte Rechtsanwendungsmodell erweist sich jedoch nach neuesten Erkenntnissen "an entscheidenden Punkten als brüchig". Zu diesem Ergebnis kommt die neueste, 2002 erschienene rechtshistorische Untersuchung zum Problem der frühneuzeitlichen Rechtsanwendung von ÜESTMANN, Rechtsvielfalt (s. die vorige Anm.), hier S.670; s. auch schon ebd., § 2, S.23 ff. mit Darstellung der zeitgenössischen Rechtsanwendungsdoktrin und der bisherigen rechtshistorischen Forschungsmeinungen. In
III.l.l. Die Norm
345
seiner Habilitationsschrift, auf deren Ergebnisreichtum hier nur allgemein verwiesen werden kann, unternimmt Oestmann unter anderem eine Neuinterpretation der oben zitierten, in den Ordnungen von 1495, 1548 und 1555 sowie im Konzept der KGO von 1613 enthaltenen Rechtsanwendungsvorschrift, vor allem der darin eingefügten Vorbringensklausel "die vor sie bracht werden". Er zeigt in dieser Neuauslegung auf S.53 ff. und passim (s. auch S.436 ff.) unter anderem, daß in dieser Klausel erstens von einer "Pflicht" zur Beibringung und zum Nachweis von Partikularrecht "im Sinne eines korrespondierenden Anspruchs der Gegenseite oder des Gerichts nirgendwo die Rede" war. Zweitens habe die KGO an keiner Stelle davon gesprochen, "daß gerade die Parteien die partikularen Rechtsquellen beibringen sollten. Das Vorbringen könnte nach dem Wortlaut der Vorschrift auch durch Dritte, etwa durch den partikularen Gesetzgeber erfolgen" (Zitate S.55 f.). Jedenfalls richtete sich die Vorbringensklausel "weder ausdrücklich an die Parteien noch drohte sie bestimmte Rechtsnachteile für den Fall unterlassener Rechtsbehauptungen an" (S.671 f.). Überdies wurde diese "bereits unter den Zeitgenossen umstrittene Vorbringensklausel" im Jüngsten Reichsabschied von 1654 § 105 ersatzlos gestrichen (LAUFS, JRA 1654, S.53; dazu OESTMANN, ebd., S.57, 447 ff. und passim, Zitat S.675). "Eine ausdrückliche Beibringungsobliegenheit bezüglich Statutar- und Gewohnheitsrecht gab es für das kammergerichtliche Verfahren seit 1654 nicht mehr" (ebd., S.57). Neben dieser kritischen Überprüfung der normativen Grundlagen kammergerichtlicher Rechtsanwendung ist es aber Oestmanns vorrangiges Anliegen, die Thesen der zeitgenössischen gemeinrechtlichen Rechtsanwendungsdoktrin sowie der daran anknüpfenden bisherigen rechtshistorischen Forschung erstmals umfassend an Hand der zeitgenössischen Prozeßpraxis zu überprüfen, und zwar auf der Basis von ausgewählten kammergerichtliehen Appellationsprozessen, die im Laufe der Frühen Neuzeit aus den Reichsstädten Lübeck und Frankfurt am Main ans RKG gelangten. Diese Analyse der zeitgenössischen Gerichtspraxis hat die bisherigen Forschungsmeinungen zum Verhältnis von gemeinem Recht und partikularem Recht ungemein differenziert und in weiten Teilen korrigiert. Obwohl das Partikularrecht in der prozessualen Praxis des RKG dem gelehrten Recht keineswegs gleichgestellt war, kann Oestmann doch zeigen, daß in der Prozeßwirklichkeit partikulare Rechtsquellen neben den Rechtssätzen des ius commune (zum Teil auch in Form von "Mischrecht"), wenn auch unter sich im Laufe der Frühen Neuzeit verändernden Rahrnenbedingungen, eine ungemein vielfaltige Rolle spielten, sei es in den Rechtsbeibringungen der Parteivertreter (die sich je nach Prozeßziel auf die jeweils günstigsten Rechtsnormen beriefen und keineswegs wegen eines angeblich zu hohen Beweisrisikos auf die Argumentation mit einheimischen Rechtsquellen verzichteten, s. § 3 li. u. III., dazu S.672 f., S.683), sei es in der richterlichen Rechtsanwendung des RKG. Letzteres hatte einen im Laufe der Frühen Neuzeit ständig zunehmenden "kaum vorstellbaren Rechtspluralismus" zu bewältigen (S.681), wobei seit Mitte des 16. Jahrhunderts und mehr noch seit Mitte des 17. Jahrhunderts (JRA 1654 § 105) sogar eine deutliche Aufwertung des Partikularrechts einsetzte (S.676 f., dazu§ 6 I.l., bes. S.441 ff., 661). Neben den partikularrechtlichen Spezialkenntnissen, welche die einzelnen RKG-Beisitzer bereits in der Zeit vor ihrer Präsentation erworben hatten und in das Kameralkollegium einbrachten, erlangte das RKG von partikularen Rechtsnormen aufverschiedenen Wegen Kenntnis, so durch allgemeine Insinuation seitens reichsständischer Gesetzgeber, durch spezielle Rechtsvorbringung der Parteien in einzelnen kammergerichtliehen Prozessen, durch vorinstanzliehe Entscheidungen oder sogar ex officio durch richterliche Selbstermittlung (ebd., S.549 ff., 679). Laut Oestmann war vermutlich "die ex officio-Anwendung partikularer Rechtsquellen erheblich häufiger, als es nach den erhaltenen Quellen den Anschein erweckt" (S.679). Das RKG bewies in der Entscheidung streitiger Rechtsanwendungsfragen jedenfalls ein hohes Maß an richterlicher Freiheit und Unabhängigkeit (S.681, 685 ff.). Insgesamt macht Oestmann plausibel, daß die Scheidelinie nicht so sehr, wie von der bisherigen Forschung angenommen, zwischen gelehrtem Recht und Partikularrecht verlief, sondern vielmehr zwischen geschriebenem Recht (einschließlich des schriftlich fixierten Partikularrechts, das offenbar häufig auch ohne Beweisaufnahme angewendet wurde) und mündlich überliefertem Gewohnheitsrecht (s. § 6 li. u. § 6
346
III.l. Geographische Herkunft
Bereits auf dem Wormser Reichstag von 1495, als die Besetzung des neuerrichteten RKG erstmals nicht mehr allein vom König, sondern gemeinsam von König und Reichsversammlung vorgenommen wurde, war dieser Zweck als eines der Hauptmotive fiir die Heranziehung der Reichsstände zur Benennung und Auswahl von Urteilern formuliert worden4 . Die Fürsten forderten damals, in der KGO festzulegen, daß man die Beisitzer des reorganisierten Gerichts "us den landen, die der gewonheit wusten, ... darzu ordent" 5 • Dementsprechend wurde der Kurfiirst von Mainz im Wormser Reichsabschied von der Reichsversammlung beauftragt, bei den fiir die 16 Urteilerstellen ausgewählten Personen zu erkunden, ob sie das Assessorat antreten wollten oder nicht, und falls nicht, "ander redlich, tuglich personen an derselben stat, von gemeiner samblung wegen zu erlangen, doch aus oder umb der land art, darin der yetzto benannt, der es abslahen wurd, hurtig were" 6 . Dieses schon 1495 erkennbare, Richterrekrutierung III., dazu S.678, 680, 681 ff., 684). Gestmanns Analyse der kammergerichtliehen Prozeßpraxis, sowohl des Parteiverhaltens als auch der richterlichen Rechtsanwendung, unterstützt jedenfalls auf schlagende Weise die in diesem Kapitel III.l.l. und auch an anderen Stellen dieser Arbeit (s. z.B. oben Kap.II.3.1.1. mit Anm.31-34) vertretene Ansicht, daß die seit der Gründungsphase des RKG bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in einer ganzen Kette von Kameralnormen mehrfach wiederholte Vorschrift, die RKG-Assessoren sollten im Interesse einer breiten Streuung von partikularrechtliehen Kenntnissen, gesteuert durch das Präsentationssystem, aus allen Regionen des Reiches kommen, angesichts der prozeßpraktischen Relevanz partikularrechtlicher Rechtsquellen ihren guten Sinn hatte. Gestmann bezeichnet diese Funktion des Präsentationssystems als "Föderalisierung der kammergerichtliehen Rechtsanwendung" (S.661) bzw. als "Föderalisierung der Rechtskenntnis durch das ausgefeilte Präsentationssystem" (S.676, dazu§ 6 LI., S.441 ff.) Nicht nur die in diesem Kapitel III.l.l. referierten einschlägigen Kameralnormen, sondern ebenso die nunmehr von Gestmann untersuchte kammergerichtliche Rechtsanwendungspaxis zeigen, daß die noch 1995 von DIESTELKAMP, Von der Arbeit des Reichskammergerichts, S.l 08, aufgestellte These zu dieser Thematik nicht haltbar ist: "Die vielfach in den zeitgenössischen Quellen zu lesende Begründung, die unterschiedliche geographische Herkunft der Assessoren am Zentralgericht habe dort die Kenntnis der Partikularrechte gewährleisten sollen, ist rein politische Propaganda, die mit der Rechtspraxis nichts zu tun hatte". Zur weiteren Erhellung des rechtshistorischen, das Rechtsanwendungsproblem ins Zentrum stellenden Kontextes empfiehlt es sich, parallel zu dem obigen, 1989 verfaßten Kapitel das komplementäre Kapitel bei GESTMANN, ebd., S.436-458 (§ 6. Die Rechtsanwendung durch das Gericht, I. Normativer Ausgangspunkt, 1. Reichskammergericht) zu lesen. 4 Zu dem 1495 in Worms von Kaiser und Reichsversammlung unter starker Beteiligung der einzelnen Reichsstände praktizierten Vorschlags- und Auswahlverfahren s.o. Kap.II.3 .1.1. mit Anm.4 ff.
5 S. die Eimeden der Fürsten zum kurrurstliehen Entwurf der KGG, 21.5.1495, Druck: RTA MR 5/I, 1, nr.347, S.433-435, hier S.433 f.
6 RTA MR 5/I, 2, nr.l593, S.ll40-1150, hier S.ll45 § 12; ebs. NVSRA Tl.2, S.27 §48; dazu SMEND, Reichskammergericht, S.32 u. 266. S. auch schon KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.18 f.: "Dessen ungeachtet ist aber die Meinung, daß der Reichstag zu Worms, den schon 1467 gemachten Vorschlägen gemäß, beydieser Wahl darauf gesehen habe, diese Beysitzeraus allen Gegenden Deutschlands vorzuschlagen und zu wählen und dadurch am Reichs-Kammer-
III.l.l. Die Norm
347
und Rechtsanwendungspraxis verkoppelnde Prinzip fand bereits fünf Jahre später als reichsgesetzliche Norm in die KGO von 1500 Eingang, die eine weitere Vorstufe in der Entstehung des kammergerichtliehen Präsentationswesens darstelle. Nur wenige Jahrzehnte nach der endgültigen Ausgestaltung des Präsentationssystems in den Kammergerichtsordnungen von 1507 und 1521 8, am Ende der auch für das RKG äußerst unruhigen Reformationszeit, formulierten die Reichsstände aus konkretem Anlaß erstmals programmatisch den Zweck, den das Präsentationssystem aus ihrer Sicht hatte, nämlich den hier als 'Herkunftsprinzip' bezeichneten Grundsatz, daß die Präsentierten aus der Region ihres Präsentanten stammen sollten, um neben dem rezipierten gelehrten Recht eine breite Streuung partikularrechtlicher Spezialkenntnisse im Kameralkollegium zu gewährleisten: Nach dem Sieg über den Schmalkaldischen Bund konfrontierte Kaiser Karl V. die Reichsstände bei der Eröffuung des "Geharnischten" Augsburger Reichstags im Herbst 154 7 mit der Absicht, im Interesse einer habsburgisch-katholischen Ausrichtung des Kameralkollegiums sämtliche Assessorate des damals nach längerem Gerichtsstillstand wiederzueröffuenden RKG für diesmal allein besetzen gericht Männer zu erhalten, welche der verschiedenen, in den einzelnen Ländern Deutschlands geltenden, so mannichfaltigen Rechte kundig sind, wohl gegründet und selbst durch die Kammergerichts-Ordnung von 1500 ... bestätigt". Kamptz referiert ebd., 8.19 Anm. *), im Anschluß an Tafinger "die schon seit 1467 von Seiten der Reichsstände erhobene Forderung, daß die Urtheiler am Hof- und Kammergericht aus allen Gegenden Deutschlands genommen werden möchten". Die angezogene Forderung befindet sich in einem "Gutachten der Churund Fürsten in puncto des Türcken-Zugs und Land-Friedens" von 1467. Dort wird in§ 7 empfohlen, ein in Nürnberg zu errichtendes ständiges "Keyserlich Gericht" mit 24 Urteilern zu besetzten, "die von allen teutschen Landen dorzu gegeben werden, also daß dieselben teutschen Land in sechs Teil getheilt undjeder Theil IIII [d.h. vier Urteiler, die Verf.] derzu orden sollt" (zit. nach NVSRA Tl.l, 8.217; s. auch schon oben Kap.II.3.1.1. mit Anm.4). Zur KGO 1500 s. die folgende Anmerkung. 7 KGO 1500 Vorrede, in: CJC, 8.12; ebs. NVSRA Tl.2, 8.67 f. (danach zit.): "Es soll auch an denen, so vormahls am Cammer-Gericht gesessen sind, erlernet werden, ob sie wieder daran sitzen wöllen oder nicht. Und ob einiger oder mehr nicht sitzen wolt, so soll der Churftirst oder Landschafft, von oder auß den solche Assessores vormahls genommen worden sind, Uns und dem verordneten Reichs-Regiment hie zwischen und S. Michaelis Tag drey oder vier Assessores verzeichnet senden, darauß das Regiment einen zum Assessorn an deß abgangeneu statt kiesen soll. Ob auchjemands hie zwischen bestimpter Zeit an Uberschickung solcher V erzeichnuß säumig wird und die nicht thät, so sollen alsdann Wir oder der, so an Unser statt sitzen würde, und das verordnet Regiment nicht desto minder Macht haben, einen andern Assessorn auß derselben Landschafft zu wehlen und zu nehmen, damit das Cammer-Gericht vollkommentlieh besetzt werde"; dazu PÜTTER, Vorrede, 8.5 mit Anm.f); KAMPTZ, Präsentations-Recht, 8.19, 22 f.; SMEND, Reichskammergericht, 8.32, 266.- Zu den normativen Fixierungen des Herkunftsprinzips seit 1495/1500 s. kurz auch SMEND, Reichskammergericht, 8.282 f.; neuerdings, jedoch erst ab 1555/56, zusammen mit weiteren die Rechtsanwendung des RKG regelnden Kameralnormen: OESTMANN, Rechtsvielfalt, 8.436 ff., bes. 8.441 ff. 8
Zu 1507 und 1521 s.o. Kap.II.3.1.1. mit Anm.12 u. 13.
348
III.l. Geographische Herkunft
zu wollen, wenn auch unter Vorbehalt der ständischen Präsentationsrechte fiir die Zukunft9 • Die Mehrheit im Fürstenrat sowie die weltlichen Kurfiirsten widersetzten sich zunächst dem kaiserlichen Vorhaben und wiesen auf den Sinn dieser reichsgesetzlich fixierten Berechtigung hin: Es werde nämlich - so die Fürsten "fur ain hohe notturft bedacht, solhe personen zue beysitzem furtzenemmen, die nit allain gelert [d.h. im römisch-kanonischen 'gelehrten' Recht ausgebildet, die Verf.], sonder auch gemainer churfursten und kraiß stend land, leut und gebiet, rechten und gebreuchen verstendig und erfam seyen, wölhs aber am hassten und fueglichisten durch die stend selbst geschehen" könne 10 • Angesichts des damaligen Machtungleichgewichts mußten sich auch die zunächst widerstrebenden Reichsstände dem Willen des Kaisers zwar für dieses eine Mal beugen. Kurfiirstenrat und Fürstenrat taten dies aber nur unter prinzipieller Wahrung ihres Präsentationsrechts und unter der Bedingung, daß der Kaiser die Präsentationen nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern im Namen und mit Zustimmung der Stände vollziehen solle. Außerdem - und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend- forderten sie, daß der Kaiser die RKG-Assessorate "mit geschickten, gelerten, ... qualificirten personen, aus teutscher nation gepom und derselben nation gehreuch und guten gewonheiten erfaren", besetzen und daß er "solche personenaus den krayssen nach geprauch und herkomen des Reichs, soferr sie darin zu finden", nehmen solle 11 • Die Reichsstände verlangten also vom 9 Kaiserliche Proposition vom 1.9.1547, Druck: RTA JR 1811, nr.33b, 8.216-222, hier 8.220; hierzu und zum Folgenden s. ebd., Einltg., 8.60 ff.; RABE, Reichsbund und Interim, 8.197 ff., bes. 8.200 ff.; kurz SMEND, Reichskammergericht, 8.282. Die hier und im folgenden zitierten Aktenstücke sind auszugsweise auch schon abgedruckt bei HARPPRECHT, StaatsArchiv, Tl.6, 8.173-200, dazu ebd., S.l5 ff. 10 Bedenken des Fürstenrats zur Proposition, 20.9.1547, Druck: RTA JR 1811, nr.41, 8.248-253, Zitat 8.251. Die zitierten Einwände wurden wörtlich wiederholt in der dem Kaiser am 8.10.1547 übergebenen Replik des Fürstenrats auf die Proposition, worin der Fürstenrat dem Kaiser in diesem Punkt dann doch nachgab, Druck: RTA JR 18/1, nr.49, 8.273-276, hier 8.274 (ebd. Kürzung der betreffenden Zeilen mit Verweis auf die zugrundeliegende Passage in nr.41, 8.250 f.).
Diese Bedingungen für den ausnahmsweisen Verzicht auf die ständischen Präsentationsrechte wurden zuerst formuliert von den geistlichen Kurfürsten, die dem kaiserlichen Verlangen nach diesmaliger Überlassung der Richterbestellung als erste zustimmten, s. das Bedenken des Kurfürstenrats zur Proposition (mit einem gespaltenen Votum betr. die Besetzung der RKG-Assessorate), 20.9.1547, Druck: RTA JR 1811, nr.40, 8.233-248, hier 8.244 f. (danach zitiert). Nachdem weltliche Kurfürsten und Fürstenrat ihren Widerstand aufgegeben und der kaiserlichen Besetzung der RKG-Assessorate für diesmal ebenfalls zugestimmt hatten, übernahmen sie die von den geistlichen Kurfürsten gestellten, oben zitierten Bedingungen; s. RTA JR 18/1 nr.43, 8.258, nr.45c, 8.265, und vor allem die beiden dem Kaiser am 8.10.1547 übergebenen Repliken des Kurfürstenrats sowie des Fürstenrats auf die ksl. Proposition, Druck: ebd. nr.48, 8.269-272, hier 8.271, und nr.49, 8.273-276, hier 8.274 (die entscheidenden Passagen sind auf 8.271 und 274 mit Hinweis auf den zugrundeliegenden Abschnitt in nr.40, 8.244 f., gekürzt). Zur alleinigen Besetzung der RKG-Assessorate durch den Kaiser 1547/48 11
111.1.1. Die Norm
349
Kaiser, daß die von ihm diesmal allein präsentierten Juristen nicht nur eine akademische Ausbildung und praktische Schulung im gelehrten Recht, sondern, vermittelt über ihre Herkunft aus den verschiedenen Regionen des Reiches und ihre vorherige Berufspraxis, ebenso auch deutschrechtliche, also partikularrechtliehe Vorkenntnisse besitzen und in die kammergerichtliche Rechtsprechung einbringen sollten. Als Preis für die Überlassung der Richterbestellung akzeptierte Karl V. diese Konditionen, die in den einschlägigen Paragraphen des Augsburger Reichsabschieds von 1548 in Form kaiserlicher Zusagen fast wörtlich wieder auftauchen 12 • Dieselben von den Reichsständen 1547/48 in Augsburg durchgesetzten Auflagen hinsichtlich geographischer Rekrutierung und fachlicher Qualifikation der RKG-Beisitzer gingen als reichsgesetzliche Vorschriften in die KGO von 1548 und von dort- gleichzeitig mit dem Wiederaufleben der reichsständischen Präsentationsrechte-in die KGO von 1555 ein 13 . Die Bestimmung, die präsentationsberechtigten Kurftirsten und Reichskreise sollten bei der Benennung von Kandidaten das 'Herkunftsprinzip' beachten, d.h. einen aus der eigenen Region stammenden Juristen präsentieren, wird in den Ordnungen von 1548 und 1555 allerdings noch nicht direkt, sondern nur indirekt verankert14. unter den von den Reichsständen formulierten Bedingungen sowie zu der ebenfalls auf diesem Reichstag durchgesetzten Katholizität sämtlicher damals neu installierten Assessoren s. mit weiteren Belegen auch schon oben Kap.II.3.1.1. mit Anm.43-45 u. Anm.79. 12 Triplik Karls V. auf die Repliken von Kur- und Fürstenrat, 18.10.1547, Druck: RTA JR 18/1, nr.55, 8.297-301, hier S.299; RA 1548 §§ 24 u. 25 (RTA JR 18/3, S.2660); s. überhaupt RA 1548 §§ 21-29 (RTA JR 18/3, 8.2659-2661; ebs. CJC, S.101 f.; NVSRA T1.2, S.532 f.). 13 KGO 1555 Tl.l Tit.3 § 2 über die Qualifikation der Assessoren: "So sollen die beysitzer, so der rechten gelehrt und gewürdigt, ... dapfer, gelehrt, erfarn, auch ... qualificiert personen, auß teutscher nation gebom und derselben nation gehreuch und guten gewonheyten erfaren ... sein" (LAUFS, KGO 1555, S.75 f.); wörtlich ebs. schon KGO 1548 Tl.l Art.3 (RTA JR 18/2, nr.116, 8.1244). Zu dieser Qualifikationsvorschrift, die den künftigen RKG-Beisitzem gleichermaßen gemeinrechtliche wie partikularrechtliche Kenntnisse abverlangte, s. jetzt auch ÜESTMANN, Rechtsvielfalt, S.439 f. In kritischer Anspielung auf die bisherige, oben in Anm.3 referierte Forschungsmeinung zur kammergerichtliehen Rechtsanwendung kommentiert Oestmann diese Qualifikationsvorschrift ebd. mit der Bemerkung, es sei sehr unwahrscheinlich, daß die Gerichtsordnung von den Assessoren einerseits die Kenntnis deutscher Gewohnheiten verlangte, ihnen aber andererseits untersagt haben solle, diese Kenntnisse auch ohne Beweisführung der Parteien ex officio anzuwenden.
14 KGO 1555 Tl.l Tit.4 § 5: Falls nach Vakantwerden eines Assessorats die präsentationsberechtigten Fürsten oder Reichskreise die sechsmonatige Frist zur Präsentation eines Nachfolgers verstreichen ließen, trat der Devolutionsfall ein, d.h. Kammerrichter und Beisitzer sollten "yetzo und hinfuro eynen auß desselbigen standts oder kreyß landtsart und zirck (wie obstehet), wo die darinfundenwerden mögen, wo nit auß andem nechstanstossenden kreyßen, an des abgangnen beisitzers stadt anzunemen macht haben" (LAUFS, KGO 1555, S.78 f.); vgl. dazu, noch ohne analoge Forderung, die Vorschriften für die Präsentationsberechtigten ebd. Tl.l Tit.4 § 3 (LAUFS, KGO 1555, S.77 f.); dieselben Bestimmungen s. schon in KGO 1548 Tl.l Art.4 (RTA JR 18/2, S.1246 f).
350
III.1. Geographische Herkunft
Der § 19 des Visitationsabschieds von 15 56 bedeutete den vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung. Er war veranlaßt durch die Erfahrung, daß in der V ergangenheit Personen von einem Kreis präsentiert worden waren, "so nicht aus demselben Crayß, sondern aus andern Landen davon gebohren und erzogen, also obwohl dieselbige der Rechten [d.i. des an den Universitäten gelehrten römischkanonischen Rechts, die Verf.] erfahren und verständig, doch desselben Crayßes, von dem sie praesentirt, Gebräuche und Gewohnheit nicht wissen". Für solche Fälle, in denen die Kreisstände keine qualifizierten Personen, "so aus ihrem Crayß gebohren", präsentieren könnten, ordnete derselbe Paragraph an, andere geeignete Personen aus dem Nachbarkreis und nicht aus den weiter entfernten Kreisen zu rekrutieren. Ebenso sollte sich das Kameralkollegium (wie schon in der KGO von 1548/55 geregelt) im Devolutionsfall verhalten, wenn es anstelle eines säumigen, die sechsmonatige Präsentationsfrist überschreitenden Präsentanten einen Juristen ex officio zum Beisitzer annahm 15 • Zur selben Zeit, nämlich in den Visitationsmemorialien von 1557 und 1559, wurden Vorschriften erlassen, wonach auch bei der Verteilung der Prozeßakten auf Re- und Korreferenten je nach Provenienz der Rechtssachen aus dem niederdeutschen, dem sächsischen oder dem oberdeutschen Raum die geographische Herkunft der Assessoren zu berücksichtigen war 16 • Der in § 3 der KGO von 1495 verankerten, 1548 und 1555 wiederholten Rechtsanwendungsklausel einen ganz eindeutigen Sinn gebend, kommentierte Rudolf Smend die Karneralgesetze von 1556, 1557 und 1559: "Der Zusammenhang aller dieser Bestimmungen mit der eidlichen Verpflichtung[!] des Gerichts auf die Partikularrechte neben 'des Reichs gemeinen Rechten' ist unverkennbar" 17 .
15 Vis.A. 1556 § 19 (CJC, S.202). Über die Einhaltung des Herkunftsprinzips im Devolutionsfall seitens des Kameralkollegiums s. schon KGO 1548 Tl.l Art.4 und KGO 1555 Tl.l Tit.4 § 5 (Zitat und Beleges. vorige Anm.) sowie nochmals Vis.Mem. für Kammerrichter und Beisitzer 1557 § 7 (CJC, S.212). -Zu den Bestimmungen von 1548/55 und 1556 über die durch das Präsentationssystem gesteuerte geographische Herkunft der Präsentierten und die damit bezweckte "Föderalisierung der Rechtskenntnisse" s. jetzt auch ÜESTMANN, Rechtsvielfalt, S.441 f. (Zitat S.442). Oestmann weiß allerdings nichts über die schon lange vor 1548/55, nämlich 1507/1521 abgeschlossene, in der Vor- und Frühgeschichte des RKG wurzelnde Ausbildungs des Präsentationssystems (s.o. Kap.II.3.1.1. mit Anm.4 ff.) und kennt auch nicht die oben zitierten, schon 149511500 einsetzenden normativen Vorstufen des Herkunftsprinzips, was auch seine Äußerungen auf S.444 f. deutlich machen. 16 Aktenverteilung: Vis.Mem. flir Kammerrichter-Amtsverweser und Beisitzer 1557 § 4 (CJC, S.215); Vis.Mem. fiir Kammerrichter und Beisitzer 1559 § 2 (CJC, S.240); entsprechend Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.12 § 17 (CJC, S.589); zum Inhalt dieser Bestimmungen im einzelnen s. bereits oben Kap.II.2.2.4. mit Anm.156 (ebd. Zitate); vgl. SMEND, Reichskammergericht, S.283; jetzt auch ÜESTMANN, Rechtsvielfalt, S.442 f., 445. 17
SMEND, Reichskammergericht, S.283; vgl. jetzt ÜESTMANN, Rechtsvielfalt, S.446.
III.l.l. Die Norm
351
Das Konzept der KGO von 1613, das die nach 1555 ergangenen Einzelverordnungen in den Text der KGO von 1555 integrierte, übernahm auch den zitierten§ 19 des 1556 verfaßten Visitationsabschieds. In etwas modifizierter Form hieß es in Teil 1 Tit.5 § 9 des Konzepts, das trotz fehlender reichsgesetzlicher Sanktionierung bis zum Ende des Alten Reiches Gesetzeskraft hatte: "Dieweil auch nicht wenig daran gelegen, daß die Beysitzer nicht allein der Rechten erfahren und verständig, sondern auch der Gewohnheit und Gebräuch derjenigen Creyß, derwegen sie angenommen, so viel möglich kündig seyn; So sollen dieselben aus deß praesentirenden Stands oder Creyß Land-Arth oder Bezirck, wo die darinnen befunden werden mögen, oder wo nicht, aus andem nechst anstossenden und nicht aus den weitem davon gelegenen Creyßen praesentirt werden"18. Wie auch der ergänzende Paragraph über das Verfahren des Kameralkollegiums im Devolutionsfall zeigte, sollte das Gebiet des präsentierenden Standes oder Kreises die primäre Rekrutierungszone sein, ein benachbarter Kreis dagegen nur Herkunftsgebiet zweiter Wahl 19. Der Visitationsabschied von 1556 hatte in§ 19 mit der Formulierung "davon gebohren und erzogen" noch die Orte der Geburt und der Ausbildung zum Kriterium dafür gemacht, ob ein Jurist aus dem präsentierenden Kreis stammte oder nicht. In dem entsprechenden Passus des Konzepts von 1613 (Tl.l Tit.5 § 9) war davon keine Rede mehr, wohl in der Erkenntnis, daß angesichts der beträchtlichen geographischen Mobilität des gelehrten Juristenstandes nicht der Geburtsort und auch noch nicht die Studienorte für sich allein, sondern vor allem auch die späteren Karrierestationen, die Dienstorte, darüber entschieden, in welchen Partikularrechten sich ein Jurist kundig machte. Das bereits in der Frühzeit des RKG wurzelnde, in der Mitte des 16. Jahrhunderts voll ausgebildete Herkunftsprinzip, wonach "im Interesse der Orientierung des Gerichts über die Partikularrechte der einzelnen Gegenden" 20 die zukünftigen Assessoren aus dem Gebiet des präsentierenden Standes oder Kreises oder zumindest aus einem Nachbarkreis stammen sollten, ist auf dem Hintergrund einer Situation zu sehen, in der sich das rezipierte gelehrte Recht, das ius commune, und die altdeutschen Sonderrechte noch weitgehend unvermittelt und kon18 Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 9 (CJC, S.580). Zugleich wurde ebd. Tl.l Tit.71 (CJC, S.657) noch einmal der Richtereid mit der Rechtsanwendungsklausel und vor allem mit der auf die Partikularrechte bezogenen Vorbringensklausel "die vor sie bracht werden" wiederholt, wie sie schon Ordnungen von 1495, 1548 und 1555 enthalten hatten; s. auch ebd. Tl.l Tit.l9 Einltg. (CJC, S.597 [so richtig statt Druckfehler: 579]); dazu s. im einzelnen oben Anm.3.
19 Geographische Rekrutierung im Devolutionsfall: Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 21 (CJC, S.581); s. auch schon die entsprechenden Bestimmungen von 1548, 1555, 1556 und 1557, zit. oben Anm.14 u. 15. 20
SMEND, Reichskammergericht, S.282.
352
III.1. Geographische Herkunft
kurrierend gegenüberstanden. Im 16. bis 18. Jahrhundert, als sich der 'usus modemus pandectarum' im Bereich der Partikularrechte erfolgreich um eine Synthese von römisch-kanonischem Recht und heimischer Rechtstradition bemühte, wandelten sich zwar die Inhalte der territorialen und lokalen Rechtsordnungen. An ihrer Fülle änderte dieser Assimilationsvorgang jedoch nichts. Im Gegenteil produzierten die Territorialstaaten im Zeitalter des Absolutismus eine neue Flut von Partikularrechten, wobei neben dem gesetzten Recht auch ungeschriebene Gewohnheitsrechte weiterhin in Geltung waren21 . Die obersten Reichsgerichte sahen sich also auch im 17. und 18. Jahrhundert, und zwar weitaus mehr als in der Gründungs- und Aufbauphase des RKG, einem "von der Praxis kaum noch beherrschbaren Konglomerat von Rechtssätzen, Judikaten und Theorien" 22 , einem " 'endlosen Wust einander widerstreitender, vernichtender, buntschäckiger Bestimmungen' "23 , einem "kaum vorstellbaren Rechtspluralismus" 24 gegenübereine Konfusion, zu der die obersten Gerichtsinstanzen im Reich und in den Territorien durch die präjudizierende Wirkung ihrer Urteile selbst mit beitrugen. Eine ähnliche Vielfalt wie im Privat-, Straf- und Prozeßrecht wiesen im territorialisierten Reich die öffentlich-rechtlichen Verhältnisse auf, sei es auf der Ebene der Städte, der Territorien, der Kreise oder des Reiches. 21 Zum Verhältnis von gemeinem und Partikularrecht im 16. bis 18. Jahrhundert und generell zu den Rechtsentwicklungen im Vorzeichen von usus modemusund Naturrechts. die einschlägigen Hand- und Lehrbücher zur allgemeinen Rechts- sowie zur Privatrechtsgeschichte; so CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd.2, S.363 ff., S.374 ff., bes. S.377 ff.; WIEACKER, Privatrechtsgeschichte, S.204 ff., 249 ff.; SöLLNER, Die Literatur zum gemeinen und partikularen Recht in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz, in: Coing (Hg.), Handbuch, Bd.2/1, S.501 ff., bes. S.516-521 (Länderübersicht, Deutsches Reich); SCHLOSSER, Grundzüge, S.32 ff., 38 ff.; U. EJSENHARDT, Deutsche Rechtsgeschichte, München 1984, S.142 ff., bes. S.146 ff., 151 ff., 160 ff.; H.-J. BECKER, Artikel Partikularrecht, in: HRG 3, 1984, Sp.1523-1525; jetzt (mit weiteren Nachweisen) K. LUIG, Artikel Usus modemus, in: HRG 5, 1998, Sp.628-636; DERS., Artikel Vernunftrecht, in: ebd., Sp.781-790; neuerdings ÜESTMANN, Rechtsvielfalt, passim. Oestmann bilanziert ebd., S.681 f., als entscheidende Gründe für die im Laufe der Frühen Neuzeit ständig zunehmenden partikularen Rechtsquellen: "Zum einen vermehrte sich durch die tausendfach erlassenen Policeyordnungen die Zahl der schriftlich fixierten Rechtsquellen in einem zuvor ungekannten Ausmaß. Zum anderen gerieten seit dem späten 17. Jahrhundert aufgrund der rechtsantiquarischen Sammlungen die mittelalterlichen deutschen Rechtsquellen erneut ins Blickfeld. Zum dritten schließlich verbreiteten die gedruckten Werke der Entscheidungsliteratur Partikularrechtsquellen auch außerhalb ihres Geltungsbereichs. Zugleich nahmen die zentralen Werke der Entscheidungsliteratur selbst den Rang von Rechtsquellen ein". 22
SCHLOSSER, Grundzüge, S.46.
23
So 1814 der Jurist und Heidelberger Professor Anton Friedrich Justus Thibaut (17721840) in seiner Schrift "Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland"; zit. nach COING, Epochen, S.77. 24 ÜESTMANN, Rechtsvielfalt, S.681; lesenswert überhaupt ebd., S.681-687, das resümierende Schlußkapitel § 7 II.: Grundlagen der frühneuzeitlichen Rechtsanwendungspraxis.
III.l.l. Die Norm
353
Diese Zunahme und Aufwertung partikularer Rechte im Vorzeichen eines seit 1648 auch reichsrechtlich gestärkten Landesfürstentums schlug sich auch in der Kameralgesetzgebung nieder. Der Jüngste Reichsabschied von 1654 nahm im Rahmen einer Reform des Kameralprozesses auf Initiative der Reichsstände eine bezeichnende Abänderung der seit 1495 mehrfach wiederholten Rechtsanwendungsklausel vor. In JRA § 105 wurde Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren des RKG vorgeschrieben, sie sollten "bei Administration der heilsamen Justiz sowohl die statuta und Gewohnheiten als die Reichsabschiede und gemeine Rechten vor Augen haben und wohl beobachten ... "25 • Damit war die bisherige, auf partikulare Rechtsquellen bezogene und diese in der kammergerichtliehen Rechtsprechungspraxis angeblich benachteiligende Vorbringensklausel "die vor sie bracht werden" erstmals weggefallen 26 • 25 26
LAUFS, JRA 1654, S.53.
Zum Wegfall dieser Vorbringensklausel s. ÜESTMANN, Rechtsvielfalt, S.57, 447 ff., dem ich den Hinweis auf JRA 1654 § 105 und dessen Bedeutung verdanke. Oestmann ebd., S.448, im Zusammenhang mit seiner Kritik an der bisherigen rechtshistorischen Forschungsmeinung: "Von einer etwaigen Rechtsbeibringungsobliegenheit für partikulare Rechtsquellen war nun mit keinem Wort mehr die Rede. Der Normtext von 1654 enthielt damit keine Anzeichen für eine Bevorzugung des gemeinen römisch-kanonischen Rechts in der Rangordnung der Rechtsquellen oder der Rechtsanwendung" (zum Hintergrund dieses Kommentars s.o. Anm.3). Oestmann legt ebd., S.448, außerdem der Tatsache Bedeutung bei, daß in JRA 1654 § 105 in der Aufzählung der anzuwendenden Rechtsquellen anders als in den Ordnungen von 1495, 1548/55 und 1613 nicht mehr das römisch-kanonische Recht, sondern das Partikularrecht an erster Stelle genannt wird: "Je pointierter die moderne rechtshistorische Forschung betont, die Reihenfolge der Rechtsquellen in der Rechtsanwendungsklausel 1495/1555 sei für die Bedeutung der jeweiligen Rechtsmassen im Kameralprozeß wegweisend gewesen, desto stärker erscheint die Neufassung 1654 als einschneidende Zäsur". Oestmann weist S.450 ff. darauf hin, daß die Neufassung der Rechtsanwendungsklausel in JRA 1654 § 105 mit der nunmehr auch auf normativer Ebene vollzogenen Aufwertung des Partikularrechts einem Anliegen der Reichsstände, vor allem der Landesfürsten, entsprach. Diese hätten damals erfolgreich versucht, "sich weitgehend aus der rechtsvereinheitlichenden Funktion der obersten Reichsgerichte zu befreien" (S.452, dazu S.661, 677). Die Reichsstände hatten im Vorfeld des Frankfurter Deputationstags (der sich 1643-1645 eingehend mit der Reform der Reichsjustiz befaßte), 1641 gefordert, die Reichsjustiz dürfe durch ihre Rechtsprechung nicht das territoriale Recht beeinträchtigen. Vielmehr wurde dem RKG auferlegt, "jedes Orths löbliche Rechten und Gewohnheiten in judicando zu beobachten" (zit nach ÜESTMANN, ebd., S.451 mit Quellennachweis Anm.94). - Die beiden RKG-Beisitzer Loskand und Harpprecht, die 1768/69 im Auftrag der letzten RKG-Visitation den ersten Teil des Konzepts der KGO von 1613 revidierten, arbeiteten dann allerdings nicht die im Jüngsten Reichsabschied enthaltene, oben zitierte Neufassung der Rechtsanwendungsklausel ein, sondern beließen es bis auf eine zusätzliche Verpflichtung auf den WestHilisehen Frieden praktisch wörtlich bei dem in Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.71 enthaltenen, aufKGO 1495 § 3 und KGO 1548/55 Tl.l Tit.57 zurückgehenden Richtereid, also bei der traditionellen Rechtsanwendungsvorschrift einschließlich der Vorbringensklausel "die vor sie bracht werden" (SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.963 f.). Dies sagt allerdings nichts über die damalige Wirklichkeit kammergerichtlicher Rechtsanwendung aus, sondern ist nur ein weiterer Beleg für den außerordentlich konservativen bzw. konservierenden Charakter dieser Revision, der sich auch in jenen revidierten Paragraphen von Konz. KGO 1613 Tl.l konstatieren läßt, welche die Personalverfassung des Kameralkollegiums be-
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III.l. Geographische Herkunft
Angesichts all dieser Entwicklungen in der Rechtswirklichkeit sowie in Norm und Praxis kammergerichtlicher Rechtsanwendung hatte daher das in der Rezeptionszeit fiir die Assessorenrekrutierung aufgestellte Herkunftsprinzip auch im Zeitalter von Absolutismus und Aufklärung mehr denn je seinen Sinn27 • So sah es auch die vorletzte außerordentliche Visitation, als sie 1713 in § 15 ihres Visitationsabschieds auf den für das RKG nun schon seit 200 Jahren bestehenden Zusammenhang von Rechtsvielfalt, Rechtsanwendung, Präsentationssystem und Richterauswahl abhob. Mit Bezug auf den Amtseid der Adressaten wurde nochmals nachdrücklich betont: "Es sollen der Herr Cammer-Richter, Praesidenten und Beysitzer die dem Cammer-Gericht bekandte oder fiirgebrachte redliche Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten des Heil. Römischen Reichs Churfiirstenthum, Fürstenthum, Herrschafften und Gericht bey Abfassung der Urtheil gebührend beobachten". Zur Erreichung dieses Zwecks wurde das Kameralkollegium angewiesen, bei Erledigung eines Assessorats in dem an den präsentationsberechtigten Reichsstand zu erlassenden Notifikationsschreiben jedesmal "die geziemende Vorstellung dahin zu thun, damit an des abgangenen Beysitzers statt ein anderer, so nebst den gemeinen Rechtten auch desselben Landes Gebräuchen und guten Gewohnheiten erfahren, dafem es thunlich, praesentirt werden möge"28. Die Visitation schärfte also die Befolgung des Herkunftsprinzips ein, treffen; dazu s. vor allem unten Kap .IV; vgl. zu 1768/69 die etwas umständlichen Überlegungen bei ÜESTMANN, Rechtsvielfalt, S.456 f. Vgl. dagegen die einschlägigen Bestimmungen in den Wahlkapitulationen über die Rekrutierung der Reichshofräte, die den Kaiser seit Ferdinand II. darauf verpflichteten, den RHR mehrheitlich nicht mit Personen aus den Österreichischen Erblanden, sondern mit solchen aus dem übrigen Reich zu besetzen, die sich in den Reichssatzungen auskannten; so auch Art.24 des Entwurfs einer beständigen Wahlkapitulation von 1711, in: BuscHMANN, Kaiser und Reich, Tl.II, S.306 f. In diesen Bestimmungen ging es darum, im Interesse der aus dem nichtösterreichischen Reich anhängigen Rechtssachen ein Übergewicht von aus den Erblanden stammenden Reichshofräten zu vermeiden; dazu GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.71 f. Zu mehr, nämlich zu einer möglichst alle Regionen des Reiches berücksichtigenden Rekrutierung, war der Kaiser nicht verpflichtet, was auch schon angesichts des geringen Anteils an evangelischen Reichshofräten nicht möglich gewesen wäre. Vgl. auch ÜESTMANN, Rechtsvielfalt, S.57 f., 448 f., wonach das Partikularrecht in den in der RHRO von 1654 verankerten normativen Regeln für die Rechtsanwendung am RHR auffällig schlechter gestellt war als am RKG (dazu RHRO 1654 Tit.l § 15, nach neuer Zählung§ 16, s. SELLERT, RHRO Il, S.86 f.). 27
28 Vis.A. 1713 § 15 (CJC, S.966). Zu der in dieser Vorschrift enthaltenen Rechtsanwendungsklausel mit der Formulierung "bekandte oder fürgebrachte ... Ordnungen" s. im einzelnen ÜESTMANN, Rechtsvielfalt, S.452 f. Danach hatte das richterliche Personal des RKG "partikulare Gewohnheiten und Statuten immer dann anzuwenden, wenn sie entweder vorgebracht oder bekannt waren. Die Formulierung 'fürgebrachte ... ordnungen' bezog sich sprachlich auf die Rechtsanwendungsklauseln der Gerichtsordnungen zwischen 1495 und 1613. Der Visitationsabschied von 1713 stellte nun unmißverständlich klar, daß diese Art der Partikular- und Gewohnheitsrechtsanwendung nicht die einzige war. Immer dann nämlich, wenn dem Kammergericht die einschlägigen Partikularrechtsquellen bekannt waren, mußten sie ex ojficio angewandt werden", sei es daß solche Partikularrechte dem RKG vom reichsständischen Ge-
III.l.l. Die Norm
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schwächte aber gleichzeitig dessen Verbindlichkeit durch den Einschub "dafem es thunlich" etwas ab. In den Jahren 1768/69 übernahmen die Assessoren Loskand und Harpprecht, die von der Visitation bestellten Revisoren des ersten Teils des Konzepts der KGO von 1613, die oben zitierten Normen von 1613 und 1713 zur Befolgung des Herkunftsprinzips unverändert und unkommentiert in ihre Revisionsentwürfe, was zeigt, daß sie den Sinn dieser Verordnungen nicht in Frage stellten29 . Auch der mit den Karneralgesetzen und den Zuständen am RKG bestens vertraute Georg Gottlob Baiernarm urteilte 1778 in seinem Kommentar zu Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 9 über die "Landesart des Präsentati" und zu dem ergänzenden § 15 des Visitationsabschieds von 1713: "Die Absicht dieses Gesetzes ist sehr heilsam. Denn da aus allen Gegenden Processe an das K.G. erwachsen, welche ohne die genaueste Känntniß der besonderen Provinzialrechte und Verfassung nicht entschieden werden können; so ist es nöthig, daß das Gericht mit Personen aus allen Reichskraisen besetzt werde". Balemann konstatierte aber auch, daß diese Eigenschaft- Herkunft aus dem Gebiet des präsentierenden Standes oder Kreises- bei den Präsentationen häufig umgangen werde, woran "der Mangel an Gelehrten bei unsren darinn so fruchtbaren Zeiten wohl nicht Ursache ist". Der Grund für die richtig beobachtete Tatsache, daß es das Kameralkollegium im 18. Jahrhundert entgegen der Vorschrift des Visitationsabschieds von 1713 (§ 15) unterließ, bei einer falligen Neupräsentation die Befolgung des Herkunftsprinzips anzumahnen, lag nach Balemanns Vermutung darin, daß man sich am RKG davon keinen Erfolg versprach30 • Die weitere Darstellung wird zeigen, ob er mit seinen Einschätzungen richtig lag. Balemann war selbst kein gutes Beispiel für die Beachtung der Rekrutierungsnormen seitens der Reichsstände, denn er stammte aus Eutin (nördlich von Lübeck) und war im Zuge seiner Vorkarriere ausschließlich am RKG in Wetzlar- zunächst als freier Advokat und Sollizitant, dann als Legationssekretär und Subdelegierter bei der letzten Visitation- tätig gewesen, bevor er 1778 von den obersächsischen Stiften Quedlinburg, Walkenried und Gernrode wegen der altemierenden evangelischen Kreispräsentation zum RKG-Assessor präsentiert wurde 31 . setzgeber offiziell insinuiert oder sonst gerichtsnotorisch waren. ÜESTMANN ebd., S.453, weiter: "Die Berücksichtigung des Partikularrechts erschien wie selbstverständlich als richterliche Amtspflicht". 29 SELCHOW, Concepte, Tl.l, S.66 f. (zu Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 9); vgl. ebd., S.84 f. (zu Konz. KGO 1613 Tl.1 Tit.5 § 21 betr. das Rekrutierungsverhalten des Kameralkollegiums im Devolutionsfall). 30 31
Alles nach BALEMANN, Beiträge, S.240 f.
Balemann wurde erst nach der Zensur seiner Proberelation und ergangenem Rezeptibilitätsbescheid 1780 von Anhalt-Bemburg, einem seiner Nominanten und Präsentanten (Haus Anhalt wegen Gernrode), in wirkliche Ratsdienste übernommen, um sich angesichts der in
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III.1. Geographische Herkunft
Baiernarms Kommentar führt zu der Frage, welchen Standpunkt das Karneralkollegium und die Präsentationshöfe selbst gegenüber dem Herkunftsprinzip einnahmen. Äußerungen des Kameralkollegiums zu diesem Themenkomplex, sei es im Sinne einer Aufforderung zur Befolgung der Rekrutierungsvorschriften bei der Wiederbesetzung eines vakanten Assessorats, sei es in Form von Kritik an der geographischen Herkunft eines Präsentierten, finden sich im 17. Jahrhundert häufiger als im 18. In den Jahren 1626 bis 1628 wehrte sich das Gericht mit einigem Erfolg gegen eine Invasion von Kölnem, die seit 1624 mit Hilfe zweier ebenfalls aus dem stadtkölnischen Honoratiorenturn stammender Landsleute, der beiden einflußreichen kaiserlichen Sekretäre Questenberg, über kaiserliche und Österreichische Präsentationen auf RKG-Assessorate drängten32 • Das Karneralkollegium reagierte auf diese einseitig stadtkölnisch-niederrheinische Ausrichtung der damaligen Wiener Präsentationen schließlich mit Protesten und zum seiner Proberelation enthaltenen Mängel gemäß der Auflage des Kameralkollegiums bis zur Einberufung (1782) noch in einem landesfürstlichen Justizkollegium zu üben; s. Biogr. 128 (Balemann), Nu. V. Das Herkunftsprinzip wurde in Balemanns Fall also erst nach seiner Präsentation, durch seine Tätigkeit während der Wartezeit, befolgt, und auch das eher gezwungenermaßen. 32 Belege zu den hier und im folgenden unter Verzicht auf Einzelheiten geschilderten Vorgängen der Jahre 1624 bis 1628, die in anderem Zusammenhang auch noch einmal unten in Kap.III.3.5. (Beziehungen) erwähnt werden, s. in: HHStA W, RK- RKG-Visit.A. 380a (zwei Konvolute mit Akten betr. das 1. und 2. ksl. Assessorat); dazu ergänzend zur Identifizierung der Namen: Matr. Köln; Sta Köln, Slg. v.d. Ketten; A. FAHNE, Geschichte der Kölnischen, Jülichschen und Bergischen Geschlechter, 2 Tle., Köln- Bonn 1848-1853; sowie jetzt die unten in dieser Anmerkung zitierten Aufsätze von W. HERBORN und P. A. HEUSER.- Hermann v. Questenberg (t 1651) war im Zuge seiner 1606 begonnenen Karriere in der Reichshofkanzlei Ende 1618 zum Sekretär lateinischer Expedition (bis 1630) aufgestiegen (die Reichshofkanzlei war zuständig für die kaiserlichen Präsentationen!) und wurde 1626 auch zum wirklichen Reichshofrat ernannt. Sein Bruder Gerhard (t 1646) war Anfang der 1620er Jahre bereits seit einiger Zeit Hofkriegsrats-Sekretär und wurde 1626 wirklicher Hofkriegsrat (zuletzt unter Ferdinand III. ksl. Geheimer Rat und Vizepräsident des Hofkriegsrats). Zur Karriere der insgesamt vier Brüder Questenberg in kaiserlich-österreichischen Diensten s. GROSS, Reichshofkanzlei, S.418-420; GSCHLIESSER, Reichshofrat, S.216 f.; ADB 27, 1888, S.41-44; NDB 21, 2003, S.43 f. (Gerhard II. Questenberg). Sie stammten aus einem alteingesessenen Geschlecht der KölnerRats-und Juristenelite und waren Söhne des 1584 verstorbenen Schöffen des kfl. Kölner Hochgerichts Gerhard I. Questenberg (seinerseits Sohn des Kölner Ratsherrn Barthold Questenberg); dessen Kurzbiographie s. jetzt bei W. HERBORN- P. A. HEUSER, Vom Geburtsstand zur regionalen Juristenelite - Greven und Schöffen des kurfürstlichen Hochgerichts in Köln von 1448 bis 1798, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 62, 1998, S.59-160, hier S.133 f. m.70; vgl. auch P. A. HEUSER, Prosopagrafie der kurkölnischen Zentralbehörden, Teil I: Die gelehrten rheinischen Räte 1550-1600. Studien- und Karriereverläufe, soziale Verflechtung, in: ebd. 66, 2002, S.264-319 (Anf.), ebd. 67, 2003, S.37-103 (Forts.). Kurzbiographien und Analysen dieser beiden sorgfältig recherchierten prosapographischen Studien sind in Kombination mit noch vorhandenen Präsentationsakten und gedruckten Listen von RKGAssessoren ungemein erhellend für die starke Präsenz der stadtkölnischen und rheinländischen Juristenfamilien in RKG-Präsentationen und (soweit erfolgreich) auf RKG-Assessoraten im letzten Viertel des 16. und in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts.
III.l.l. Die Norm
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Teil auch mit Zurückweisungen. Dabei berief es sich auf das oben zitierte, im Visitationsabschied von 1556 (§ 19)33 sowie vorher für den Devolutionsfall auch schon in den Ordnungen von 1548 und 1555 (Tl.l Tit.4 § 5) verankerte Herkunftsprinzip und verwies unter anderem auf ein drohendes, für die prozessierenden Reichsstände unzumutbares Übergewicht von niederrheinischen Beisitzern. Aus diesem Raum stammten ja auch schon Assessoren, die unter Beachtung des Herkunftsprinzips über Präsentationen der geistlichen Kurfürsten und wenn auch seit 1609 nur potentiell - über Präsentationen des NiederrheinischWestfälischen Kreises in das Kameralkollegium gelangt waren34 • Diese Fraktion sollte im Interesse der Prozeßparteien nicht noch zusätzlich durch Rekrutierung von Rheinländern für "oberländische" Kreis-Assessorate verstärkt werden. In dem damaligen Briefwechsel zwischen Speyer und Wien akzeptierte der kaiserliche Hof die Forderung des Kameralkollegiums, gemäß den Karneralgesetzen im Rahmen der Österreichischen Kreis-Präsentation Juristen aus den Österreichischen Erblanden oder aus einem benachbarten Kreis zu rekrutieren. Dagegen behielt sich der Kaiser vor, als Reichsoberhaupt an keinen Reichskreis gebunden zu sein, sondernMänneraus jeder beliebigen Region des Reiches zum kaiserlichen RKG-Beisitzer präsentieren zu können, was das Kameralkollegium 1627/28 im Fallezweier wiederum aus Köln stammender kaiserlicher Compräsentati mit fachlichen Einwänden zu unterlaufen verstand35 • Eine solch eklatante Bevorzugung eines vom Präsentationshof weit entfernten Rekrutierungsgebiets, wie es in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts der 33
Übernommen in Konz. KGG 1613 Tl.l. Tit.5 § 9; s. die obige Darstellung.
34
Bernd Ruthmann konnte allein für seinen Untersuchungszeitraum 1570-1621 unter den damals amtierenden RKG-Beisitzern 13 "Kölner" ausmachen, die fast alle durch Geburt oder Einheirat der verwandtschaftlich eng verflochtenen stadtkölnischen Elite angehörten und, gestützt durch das Kölner Klientelsystem, im Rahmen von Präsentationen des Niederrheinisch Westfälischen Kreises sowie der benachbarten geistlichen Kurfürsten auf RKG-Assessorate gelangt waren. Allein im Jahr 1588 saßen fünf "Herrn Colnische Assessoren" im Kameralkollegium, s. RUTHMANN, Das richterliche Personal, S.4-6, 12 f. (Zitat S.4 f.). Dieses Phänomen läßt sich noch bis gegen Ende der Speyerer Zeit beobachten. 35
Wichtigste Aktenstücke zu dieser zwischen Wien und Speyer ausgetragenen Kontroverse: Gottfried Lommersum, Hermann G(e)stman und Reinhard Cloet, alle Lic. iur., an den Kaiser, s.l., s.d. (vor 26.8.1626; Gesuch um Präsentation zum Österr. Kreis-Assessorat; das PS vom 26.8.1626 fehlt); das RKG an Ks. Ferdinand II., 30.12.1626 (Abweisung Lommersums, Gestmansund Cloets als Österr. Kreis-Präsentati wegen ihrer Herkunft aus dem Niederrhein. Kreis und Nichtbeachtung des Herkunftprinzips); Cloet, Lommersum und Gestman an den Kaiser, s.l., s.d. (vor 4.3.1627); RHR-Gutachten, 4. u. 5.3.1627; der Kaiser an das RKG, Wien, 8.3.1627; weiteres Schreiben des Kaisers an das RKG, Wien, 8.3.1627 (umgefertigtes PS für Lommersum, Gestmann und Cloet zum ksl. Assessorat); Lic. Peter v. Hulderen (im Namen seines abwesenden "Eidams" Hermann Gestman), Lommersum und Cloet an den Kaiser, Köln, 21.11.1627; das RKG an den Kaiser, 28.1.1628 (Rejektion von Gestman und Cloet wegen mangelnder Berufserfahrung); Konzz. bzw. Grr.: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 380a (Akten betr. das 1. ksl. Assessorat).
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Ill.l. Geographische Herkunft
Kölner Raum dank eines von Köln nach Wien gespannten Protektionsnetzes für die kaiserlich-österreichischen Präsentationen darstellte, läßt sich in der Folgezeit für einen einzelnen Präsentationsberechtigten in dieser Konzentration nicht mehr nachweisen. Der dem Kameralkollegium sehr wohl bewußte und auch den Präsentanten übermittelte Zusammenhang von Präsentationssystem, Richterauswahl und Rechtsprechung wird an diesem Extrembeispiel jedoch überdeutlich. In den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts, als präsentationswillige Juristen wegen der Kriegsereignisse nur noch schwer ausfindig zu machen waren, forderte das Kameralkollegium die für die Wiederbesetzung eines Assessorats zuständigen Stände oder Kreise wiederholt auf, aus ihrem Kreis oder einem Nachbarkreis stammende Personen als Nachfolger zu präsentieren36 • In den Jahrzehnten nach dem Westfälischen Frieden, weiterhin einer Zeit großen Juristenmangels, erinnerte das Kameralkollegium zusammen mit der Aufforderung zur Neupräsentation ebenfalls einige Male an die Befolgung des Herkunftsprinzips37 , oder es wurde zugunsten eines zusammen mit zwei anderen Konkurrenten im Auswahlverfahren stehenden Compräsentatus angeführt, dieser sei "des Crayses Gewohnheiten wohl erfahren, indeme Er ein nationalis in dem Crays seye" 38 . Auch gab es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kritische Einwände gegen drei Präsentierte, die nicht "circularis", das heißt nicht im Kreis des Präsentanten geboren oder dort wohnhaft waren, sondern weit davon entfernt in einem anderen Kreis, was zu Recht den Verdacht aufkommen ließ, der Präsentierte sei in den Partikularrechten seiner Herkunftsregion unerfahren. Allerdings fällt auf, daß das Kameralkollegium seine Kritik an der nicht normengerechten geographischen Herkunft damals gegen lauter Präsentierte richtete, gegen die es noch 36
RKG IV B 1/11 fol.5 f. (12.10.1636, betr. Kursachsen); RKG IV B 1118 fol.6 (5.9.1636, betr. Fränk. Kreis); RKG IV B 1119 fol.222 f. (6./16.3.1637, betr. Fränk. Kreis). Aus der Zeit vor dem Westfalischen Frieden wären weitere einschlägige Belege nur über die Gegenakten präsentationsberechtigter Reichsfürsten und Reichskreise beizubringen, weil die beim RKG erwachsenen Präsentationsakten dieser Zeit bis auf einige Fragmente vernichtet sind. 37 Beispiele: Das RKG an Kf. Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 23.2.1656, Konz.: RKG IV B 1112 fol.15 ("und da möglich auß der Chur Brandenburg oder Sachsischen Bezirck herkommene Subiecta"); das RKG an Fstbf. Franz Johann von Konstanz und Hzg. Eberhard von Württemberg, 30.3./9.4.1669, Konz.: RKG IV B 1122 fol.3 f. ("entweder aus dero Crayß Landtsarth und Bezirck oder doch negst angrentzenden Craysen"); das RKG an Kf. Friedrich August von Sachsen, 10./20.6.1696, Konz.: RKG IV B 1111 fol.30 ("in dero churfiirstlichen oder negst angräntzenden Landen").
38 Votum Friesenhausen 1.3.1686, in: RKG IV C 2 fol.616, über den zum ev. Fränk. KreisAssessor compräsentierten, in Nürnberg geborenen, unter anderem an seiner Heimatuniversität Altdorf ausgebildeten damaligen baden-durlachischen Hofrat Dr. Michael Praun. Prauns Proberelation wurde zwar ftir assessoraismäßig erklärt. Für die Rezeption und Vokation wurde jedoch nicht er, sondern mehrheitlich sein in Erfurt geborener Konkurrent Dr. Johann Jakob Avianus, damals Geheimer Rat und Kanzler in Sachsen-Coburg (unmittelbar an den Fränkischen Kreis angrenzend), ausgewählt, s. ebd., fol.615v-619r.
III.l.l. Die Norm
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eine Reihe anderer Einwände wie mangelnde Gerichtspraxis erhob und die es offenbar auch wegen des Unterhaltsmangels gern vom RKG-Assessorat fernhalten wollte 39 • Im 18. Jahrhundert finden sich in den Präsentationsprotokollen und -korrespondenzen nur noch wenige Äußerungen des Kameralkollegiums zur geographischen Herkunft der Assessoratsanwärter sowie zum Sinn und Zweck des Herkunftsprinzips. Hatte das Gericht im 17. Jahrhundert anläßlich einer fälligen Neupräsentation noch mehrfach dazu aufgefordert, den Kandidaten aus der Region 39 Die Einwände wurden erhoben gegen: 1. Dr. Jakob Jungmann, 1649 und nochmals 1657 zum kurbrandenburgischen RKG-Assessor präsentiert, als solcher 1661-1673 amtierend; Einwand, weil er kein "Circularis" sei: Votum Faust von Stromberg 1.7.1652, in: RKG IV B 1112 fol.6 8 . Die 1656 an den Kurftirsten von Brandenburg gerichtete Aufforderung, anstatt des verstorbenen kurbrandenburgischen Assessors Johann Jakob Buntz (t 1656) andere, möglichst aus Kurbrandenburg oder dem sächsischen "Bezirck" stammende Personen zu präsentieren (Konz.: RKG IV B 1112 fol.15), war eine Spitze gegen den 1649 zum zweiten kurbrandenburgischen Assessor präsentierten Jakob Jungmann, dessen Zulassung das RKG bisher verweigert hatte, den Kurbrandenburg aber dennoch 1657 ein zweites Mal, nunmehr statt Buntz, präsentierte. Jungmann stammte aus einer in Hessen-Kassel ansässigen Familie, war in Korbach geboren und in Kassel aufgewachsen, stand zur Zeit seiner ersten RKG-Präsentation noch in keinerlei reichsständischen Diensten und trug seit 1650 nur den Titel eines kurbrandenburgischen Rats. Ein Jahr vor seiner zweiten Präsentation war er unter Beibehaltung dieses Titels hessen-kasselischer Regierungsrat geworden. Von ihm konnte man eine Kenntnis irgendwelcher zu Kurbrandenburg gehöriger Gebiete nicht erwarten. Seine Präsentation war auch eher eine Verlegenheitslösung gewesen, weil sich in dem ursprünglich anvisierten Rekrutierungsgebiet, dem zu Brandenburg-Preußen gehörigen Herzogtum Kleve, kein präsentationswilliger qualifizierter Jurist hatte finden lassen; hierzu und zu Jungmann s. mit Quellennachweisen bereits JAHNS, Brandenburg-Preußen, S.l73, 183 f.- 2. Lic. Peter Gartz, 1656 zum zweiten kursächsischen Assessor präsentiert, nicht rezipiert. In seinem Präsentationsschreiben strich Kursachsen, wohl um die vorhandenen beruflichen Defizite zu übertünchen, heraus, Gartz sei als kursächsischer Assessor gut zu gebrauchen, "zumahl er auf unserer Universität Witternberg den hohen Gradum, und dahero der Sächsischen Rechte gute Wissenschaft erlanget", s. PS Gartz, Dresden, 18.11.1656, Or.: RKG IV B 1111 fol.9f.; Verdacht, daß er "der Sächsischen Rechten nicht viel werde erfahren sein": Votum Esch 14.1.1657, in: RKG IV C 1 fol.4 7r. Gartz stammte aus einer wohlhabenden Hamburger Kaufmannsfamilie und war nach seiner juristischen Ausbildung in Hamburg, Rostock, Groningen und Wittenberg offenbar als Advokat in seiner Heimatstadt tätig. Zur Zeit seiner Präsentation scheint er auch kurzzeitig eine Ratsbestallung im Herzogtum Mecklenburg gehabt zu haben. Die unklaren Angaben, die er im Generalexamen zu seiner Berufslaufbahn machte, erweckten das Mißtrauen des Kameralkollegiums.- 3. Dr. Gottfried Ruland, 1696 zum kursächsischen Assessor präsentiert, erst 1700 zu den Examen gelassen, t 1709 während der Wartezeit; Kritik, weil Ruland nicht im Sächsischen Kreis geboren oder wohnhaft sei, sondern weit davon entfernt in Düsseldorf: Plenarsitzung vom 3.6.1696, in: RKG IV C 4 fol.l74v-176v; dazu: das RKG an Kf. Friedrich August von Sachsen, 10./20.6.1696, Konz.: RKG IV B 1111 fo1.30 (mit der Aufforderung, statt Ruland andere qualifizierte Personen zu präsentieren, an denen zweifellos in Kursachsen oder angrenzenden Gebieten kein Mangel sei). Ruland war bis zu seiner Präsentation 1696 nur Advokat in seiner Vaterstadt Düsseldorf gewesen und trat erst anschließend in fiirstliche Ratsdienste. Diese führten ihn aber erst 1700, als er hzgl. sachsenhildburghausenscher Hofrat bzw. Kanzleidirektor und Konsistorialpräsident wurde, vom niederrheinischen in den sächsischen Raum.
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III.1. Geographische Herkunft
des präsentierenden Standes oder Kreises zu rekrutieren, so unterblieben solche Ermahnungen entgegen der Anweisung des Visitationsabschieds von 1713 ( § 15) offenbar völlig. Auch lassen sich in den Quellen nur zwei Fälle ermitteln, in denen sich das Kameralkollegium- einmal 1744, einmal 1776- kritisch über einen Juristen äußerte, weil dieser nicht aus dem Gebiet seines Präsentanten kam und in den Partikularrechten der betreffenden Region nicht bewandert war. Dabei hätte das Gericht bei einer konsequenten Anwendung der Rekrutierungsnormen und Dienstvorschriften im 18. Jahrhundert, wie sich noch zeigen wird, viel häufiger Gelegenheit gehabt, die Nichteinhaltung des Herkunftsprinzips zu beanstanden. Die wenigen quellenmäßig faßbaren Äußerungen zeigen jedoch, daß die Rekrutierungsregeln und ihr Sinn - die Einbringung partikularrechtlicher Kenntnisse in die RKG-Judikatur- dem Kameralkollegium auch in der Spätzeit des Reiches noch sehr wohl geläufig waren und vom Prinzip her bejaht wurden40. Der Assessor Georg Philipp v. Fleckenbühl genannt Bürgel, der 1756 die Proberelation des Burgundischen Kreis-Präsentatus Papius zu zensieren hatte, äußerte sich zu Beginn seiner Zensur grundsätzlich über die Qualifikationen, vor allem über die Rechtskenntnisse, die ein Assessoratsanwärter besitzen mußte. Wünschenswert sei bei den Präsentierten immer eine Kombination theoretischer und praktischer, um die "elaboratio" bemühter Bestrebungen und Fähigkeiten "una cum sufficienti notitia rerum Germanicarum, Imperii et Circularium, nec non eorum, quae huc spectant". Denn ohne diese Kenntnis könnten die zwischen den Reichsständen vorkommenden Streitfälle kaum ausreichend beurteilt und gelöst werden. Der Zensor konstatiert zum Schluß seiner Zensur, daß Papius in seiner Proberelation neben anderen Qualifikationen "sufficientem Juris privati, publici et Cameralis scientiam, ac necessariam rerum germanicarum notitiam" gezeigt habe41 • Also nicht nur das (römische) Privatrecht, das 'ius publicum', d.h. das 'öffentliche Recht' oder Staatsrecht von Reich und Territorien, sowie das 'ius camerale', d.h. die kammergerichtliehen Zuständigkeits- und V erfahrensregeln, sondern auch die 'res germanicas' sollte ein zukünftiger RKG-Assessor zur Bewältigung seiner richterlichen Amtsaufgaben beherrschen. Damit war das 'ius patrium' gemeint, dieMassejener lokalen und regionalen Partikularrechte bis hin zu den flächendeckenden Land- und Stadtrechten, die zwar im 16. bis 18. Jahrhundert dank der Verschmelzungsarbeit des usus modemus meist eine Synthese von heimischem und romanistischem Rechtsstoff darstellten, aber doch mehr 40 Auf die Übernahme dieser Normen in die 1768/69 verfaßten Entwürfe einer revidierten KGO durch die Assessoren Loskand und Harpprecht wurde oben bereits hingewiesen. 41 G. Ph. v. Fleckenbühls Zensur der Proberelation des Burgund. Kreis-Präsentatus Papius, Or. (im Plenum verlesen am 10.1.1756): RKG Mise. 704; Druck (danach hier zitiert): J. U. FRH. v. CRAMER, Observationum juris universi ... Tom.3, Ulm 1763, 8.851-861, hier S.851 (§ 2) u. 861 (§ 22 Conclusio mea).
III.l.l. Die Norm
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oder weniger stark deutschrechtlichen Ursprungs waren und jedenfalls dem im Corpus iuris civilis enthaltenen ius commune gegenüberstanden42 • Die Kenntnis solcher Partikularrechte wurde also auch noch im 18. Jahrhundert von einem zukünftigen Beisitzer erwartet. Im weiteren Sinne gehörten auch die in das ius publicum einschlagenden Rechtsverhältnisse der einzelnen Reichskreise zu den Sonderrechten, in denen sich der Richter eines obersten Gerichts im Reich auskennen mußte. Deshalb wurde zum Beispiel 1741 an dem von BrandenburgPreußen wegen des Herzogtums Magdeburg zum Niedersächsischen Kreis-Beisitzer präsentierten Johann Wilhelm Summermann, als Professor an der klevischen Landesuniversität Duisburg bisher ein reiner Theoretiker, von einigen Assessoren bemängelt, daß er "von constitutionibus Imperii, besonders von denen Creyßen ... , fast nichts gewust" 43 . Vor dem Hintergrund solcher grundsätzlichen Anmerkungen sind die beiden schon angesprochenen Fälle zu sehen, in denen im 18. Jahrhundert wirklich Einwände wegen Nichtbefolgung des Herkunftsprinzips erhoben wurden. Zur Wiederbesetzung des evangelischen Schwäbischen Kreis-Assessorats präsentierte der Markgrafvon Baden-Durlach, der sich von Württemberg in seinem Nominationsrecht übergangen fiihlte, 1740 einseitig den "Ausländer" Johann Wilhelm Riedesel Freiherrn zu Eisenbach, während Württemberg und die übrigen evangelischen Kreisstände in einer ordnungsgemäß vollzogenen Präsentation mit dem Württemberger Johann Heinrich Harpprecht und dem Nördlinger Stadtsyndikus Georg Friedrich Scheid zwei im Schwäbischen Kreis gebürtige und bedienstete Juristen ins Rennen schickten44 • Riedesel stammte aus dem Riedeselseheu "Junkerland", einem zwischen Hessen-Darmstadt und der Fürstabtei Fulda gelegenen, teils reichsritterschaftlichen, teils landsässigen Besitz. Er hatte in Halle studiert und seine Vorkarriere in den sächsischen Herzogtümern Eisenach und Gotha verbracht, war also im Schwäbischen Kreis völlig landfremd. Als im Dezember 1744 im Plenum die Proberelationen der drei Compräsentati Riedesel, Harpprecht und Scheid zensiert wurden, votierte der Assessor Summermann vorweg: Für den Fall, daß sich zwischen den Probearbeiten Riedesels, Scheids und Harpprechts keine Qualitätsunterschiede ergeben sollten, werde er, Summermann, auf einen der beiden letzteren deshalb mehr als auf Riedesel reflektieren, weil Harpprecht und Scheid "ex circulo praesentiret worden, der erstere aber 42 Ich danke Herrn Dr. Heinz Mohnhaupt, Max-Planck-Institut ftir Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt, ftir seine erhellenden Erläuterungen zum Begriff 'res germanicae'; vgl. auch H. THIEME, Artikel Deutsches Privatrecht, in: HRG 1, 1971, Sp.702-709. 43 Votum Speckmann 11.1.1741, in: RKG Misc.718 fol.2r; ebs. Votum Schmitz 12.1.1741, ebd., fol.Sv; s. ausführlicher Biogr. 124 (Summermann), V, in Tl.II dieser Arbeit. 44 Hierzu und zum Folgenden s. mit Quellennachweisen Biogr. 89 (J.H. Harpprecht), Biogr. 90 (G.F. Scheid) und vor allem Biogr. 39 (J.W. Riedesel).
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III.1. Geographische Herkunft
nicht, und ich glaube auch, daß ich darin analogiae legum nachgehen würde, als welche einen ex circulo praesentatum dem, so nicht ex circulo praesentiret wird, praeferiren und dahero denen Ständen einen circularem vor einem extraneo, wofern in circulo nur ein eben so taugliches subjectum zu bekommen seye, zu praesentiren mehrmalen recommendiren" 45 • Der Votant stützte seine Argumentation also ausdrücklich auf das normativ fixierte Herkunftsprinzip. Übrigens wurden alle drei Proberelationen, auch die Riedesels, fiir assessoratsmäßig erklärt, Rarpprecht aber zur Rezeption ausgewählt, ohne daß die Herkunftsfrage noch weiter erörtert wurde. Die hier geschilderte, im 18. Jahrhundert nur noch ganz seltene Konstellation einer Dreier-Präsentation, in der das Kameralkollegium die Möglichkeit hatte, zwischen drei gleichermaßen qualifizierten Kandidaten zu wählen, läßt aber den Schluß zu, daß das Gericht in solchen Fällen geneigt war, der normativen Vorgabe entsprechend einem "Circularis" vor einem "Extraneus" den Vorzug zu geben. Wäre Riedesel, der übrigens 1746 als kurpfalzischer Assessor aufschwor, von sämtlichen evangelischen Ständen des Schwäbischen Kreises in einwandfreier Form ohne Konkurrenz präsentiert worden, hätte das Kameralkollegium wohl keinerlei Einwände gegen seine Herkunftsqualität als "Ausländer" erhoben. Bei dem zweiten Fall, in dem Kritik wegen eines Mangels an partikularrechtliehen Kenntnissen laut wurde, handelte es sich um den 1775 von den katholischen Ständen des Schwäbischen Kreises präsentierten Maria Joseph Grafen Fugger v. Dietenheim46 • Fugger, im allgäuischen Kißlegg bei Wangen geboren, stammte zwar unzweifelhaft aus dem Schwäbischen Kreis- seine Familie besaß dort Kreisstandschaft. Auch war er als Institutionenhörer ein Jahr lang an der hochstiftisch augsburgischen Universität Dillingen immatrikuliert. Jedoch hatte Fugger zur Zeit seiner Präsentation, die er als Zweiundzwanzigjähriger erhielt, weder innerhalb noch außerhalb des Schwäbischen Kreises in fürstlichen Diensten gestanden. Seine bisherige Biographie wies einen geradezu grotesken Mangel an Berufspraxis auf, denn das Jahr, das er während seines Salzburger Universitätsstudiums als Auditor im erzbischöflich salzburgischen Hofrat verbracht hatte, konnte man nicht als berufliche Tätigkeit werten. Anläßlich der Zensur seiner Proberelation monierte der Assessor Waldenfels daher 1776 neben der fehlenden richterlichen Praxis speziell auch, daß Fugger als Auditor in der salzburgischen Regierung nicht die im Schwäbischen Kreis geltenden Rechte und Gebräuche habe erlernen können47 • Das Beispiel Fugger macht deutlich, daß Herkunft und Studium allein noch nicht als ausreichend erachtet wurden, um in 45
RKG IV B 2/8 fol.253v-254r.
46
Hierzu und zum Folgenden s. mit Nachweisen Biogr. 97 (Fugger).
47
Votum Waldenfels 23.5.1776, § 13, in: RKG IV B 2/18, s.f.
III.l.l. Die Norm
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den Partikularrechten des präsentierenden Standes oder Kreises als kundig zu gelten. An Riedesel und Fugger fällt auf, daß hier ebenso wie in den drei oben für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts angeführten Fällen der Einwand wegen mangelnder Kenntnis der Partikularrechte des präsentierenden Kreises wiederum gegen zwei Männer erhoben wurde, deren Zulassungsverfahren auch aus anderen Gründen problematisch verlief. Bei Riedesel war es die umstrittene Rechtsgrundlage seiner einseitig baden-durlachischen Nomination und Präsentation. Bei Fugger war es der eklatante Mangel an beruflicher Praxis, der dann auch zu dem Skandal wegen fremder Hilfeleistung bei der Anfertigung der Proberelation führte. Bei allen übrigen Präsentierten, die ebenfalls auf Grund ihrer Herkunft und Vorkarriere keinerlei Beziehung zur Region ihres Präsentanten aufwiesen und von den betreffenden Partikularrechten schwerlich Kenntnis haben konnten, deren juristische Qualifikation aber im übrigen ebenso einwandfrei war wie die Rechtsgrundlage ihrer Präsentation, äußerte das Kameralkollegium im 18. Jahrhundert wegen der Nichtbefolgung des Herkunftsprinzips, soweit ersichtlich, keine Kritik. Nach den Gründen wird noch zu fragen sein. Damit das Präsentationssystem als Steuerungsmoment zur möglichst reichsweiten Rekrutierung der Assessoren wirksam werden konnte, war die Einstellung der Präsentationshöfe zu Sinn und Verbindlichkeit der Herkunftsbestimmungen genauso wichtig wie die des Kameralkollegiums, wenn nicht noch entscheidender. Die Vorgabe, daß die Juristen möglichst aus dem Gebiet des präsentationsberechtigten Standes oder Kreises stammen und Kenntnisse der betreffenden Partikularrechte in die Kameraljudikatur einbringen sollten, lag ja nicht nur "im objektiven Interesse der Reichsjustiz", sondern ebensosehr im subjektiven der Reichsstände, "weil sie ein erhebliches Interesse daran hatten, in ihren Prozessen wenigstens einen ortskundigen Beurteiler am Kammergericht zu haben"48. So war es auf jeden Fall in der Gründungs- und Aufbauphase des Gerichts, aus rechtshistorischer Sicht also in der Rezeptionszeit, als das Herkunftsprinzip seine normative Ausgestaltung erhielt. Aber auch im 17. und 18. Jahrhundert finden sich viele Belege dafür, daß die Befolgung dieser Bestimmung mit der Interessenlage der Stände korrespondierte oder jedenfalls bei einer Präsentation als normengerechtes Auswahlkriterium angeführt wurde. Nur einige prägnante Beispiele sollen dies illustrieren. Der aus Wetzlar stammende fürstbischöflich wormsische Hofrat Johann Georg Dresler wurde 1714 von dem kreisausschreibenden Fürstbischof von Worms zum Assessor des katholischen Oberrheinischen Kreises unter anderem mit der Empfehlung präsentiert, er sei in diesem Kreis geboren und habe sich bisher dort aufgehalten, besitze also die von 48 SMEND, Reichskammergericht, S.284 mit Anm.l.
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III.1. Geographische Herkunft
der KGO erforderten "Requisita" 49 . Der Kurfürst von Trier betonte 1715 anläßlich der Präsentation seines Hofrats und Hofgerichtsassessors Antonius Knopaeus, ihm liege viel daran, daß das kurtrierische Assessorat bald wieder "mit einem unseres Erzstifts kündigen Subjecto ersetzt werde" 50 . In den Präsentationsschreiben des katholischen Schwäbischen Kreises wurde wiederholt, so 1752, 1757 und 1766, zugunsten des Präsentierten angeführt, daß dieser in den Gebräuchen und guten Gewohnheiten des Schwäbischen Kreises erfahren sei 51 • In den Präsentationsakten des Schwäbischen Kreises evangelischen Teils, vor allem in den internen württembergischen Akten, finden sich für das 17. und 18. Jahrhundert noch häufiger Belege dafür, daß die Beachtung des Herkunftsprinzips, die schon im Schwäbischen Kreisabschied von 1577 vorgeschrieben worden war, als ein im ureigensten Interesse der Kreisstände liegendes Auswahlkriterium angesehen wurde 52 • Vor allem die württembergische Regierung bemühte sich bei jedem Erledigungsfall sehr darum, als neuen Kandidaten möglichst einen württembergischen Rat oder einen Tübinger Professor zu rekrutieren, der sich in den Angelegenheiten, Privilegien und Gewohnheiten des Landes Württemberg sowie des Schwäbischen Kreises auskannte und in den am RKG anhängigen Prozessen Württembergs das Interesse des Herzogs beobachten könne 5 3 . So war Württemberg auch 1740 anläßlich der Vakanz des evangelischen Schwäbischen Kreis-Assessorats darauf bedacht, "ein Landeskind zu solcher Stelle zu präsentiren, indem man den Nachtheil davon wohl eingesehen hatte, daß seit dem 1660ger Jahren erfolgten Absterben D. David Beyers, eines gebohmen Würtembergers, jedesmals Fremde, die von dem präsentirenden Kraise und dessen Ständen die erforderliche genaue Kenntnisse nicht hatten, präsentiret wor-
49 PS Dresler, Breslau, 14.6.1714, Or.: RKG IV B 1123 fol.41 f.; Kopie: HHStAW, MEKARKGA 197a (Konv. Baumann- Dünnwaldt- Pütz 1730). 50
PS Knopaeus, Nancy, 14.1.1715, Or.: RKG IV B 1/6 fo1.11 f.
51
PS Emmerich, Meersburg, 10.7.1752; PS K.A. Albini, Meersburg, 30.1.1757; PS Frank, Meersburg, 28.7.1766, Orr.: RKG IV B 1/22 fol.425 f., 435, 441; s. auch Biogr. 94 (Emmerich), Biogr. 95 (K.A. Albini) u. Biogr. 96 (Frank). 52
Ulmer Kreisabschied vom 18.1.1577 mit Vergleich zwischen den evangelischen und katholischen Kreisständen wegen der Schwäbischen Kreis-Präsentation, Druck des betreffenden Passus: KAMPTZ, Präsentations-Recht, S.323 f. nr.l4. Danach sollten sich die Kreisstände wegen dreierqualifizierter "und diesem Creyß wohl anstehender (wofern auch möglich, in diesem Creyß gebohmer und begütherter vom Adel oder Doctoren)" vergleichen (Zitat S.324). In den internen Korrespondenzen der evangelischen Schwäbischen Kreisstände wird im 17. und 18. Jahrhundert anläßlich der Auswahl eines RKG-Präsentatus mehrfach auf diese 1577 verabschiedete Richtlinie Bezug genommen; s. HStA Stuttg., C 10 Bü. 189. 53
Viele Belege dazu in: HStA Stuttg., C 10 Bü. 189.
III.l.l. Die Norm
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den" 54 • Die Wahl fiel auf Johann Heinrich Harpprecht, der aus einer der bekanntesten württembergischen Juristenfamilien stammte und selbst in württembergischen Diensten stand. Er wurde zusammen mit dem zusätzlich von den Kreisstädten nominierten Nördlinger Ratskonsulenten und Kreispolitiker Georg Friedrich Scheid compräsentiert. Bezeichnenderweise versuchte Württemberg den damals einseitig von Baden-Durlach aufgestellten Gegenkandidaten, den oben bereits erwähnten kreisfremden Johann Wilhelm Riedesel Freiherrn zu Eisenbach, mit dem Argument aus dem Rennen zu schlagen, Baden-Durlach habe einen im Schwäbischen Kreis weder geborenen noch jemals bedienstet gewesenen Kavalier präsentiert- dies gegen die klare Verordnung der Reichsgesetze, welche aus wichtigen Ursachen jedem Kreis auferlegten, solche Juristen zu präsentieren, "die dessen Herkommens und Beschaffenheit kundig" seien55 . Angesichts solcher Argumentationsstrategien auf seiten der Präsentanten nimmt es nicht wunder, daß sich auch viele präsentationswillige Juristen in ihren Bewerbungsschreiben, wenn sie es denn konnten, als landes- und kreiskundige Männer vorstellten, um ihrer Bewerbung mehr Nachdruck zu verleihen und auswärtige Konkurrenten auszustechen. So machte der aus Mainz stammende RKGKanzleiverwalter Friedrich Wilhelm Rüding, der vor seinem Wechsel nach Wetzlar in Mainz als Hofgerichtsassessor und Professor tätig gewesen war, bei seiner - erfolglosen - Bewerbung um die Präsentation zum kurmainzischen Assessor für sich geltend, daß er sich sowohl in den erzstiftischen Rechten und Gewohnheiten als auch im ius camerale reichssatzungsgemäß qualifiziert habe 56 . Mehrfach wurde in Bewerbungs- und Präsentationsschreiben oder im Generalexamen geäußert, daß der Aspirant im Zuge seiner Vorkarriere die an RKG und RHR anhängigen Prozesse seines Präsentanten bzw. eines mitpräsentierenden Kreisstands besorgt habe, um nicht nur seine allgemeine juristische Qualifikation und seine Kenntnis des Kameralprozesses, sondern auch seine Vertrautheit mit den Partikularrechten des präsentierenden Standes oder Kreises hervorzuheben57. Manchmal bedurfte es allerdings einer reichlich großzügigen Interpreta54 Lebensgeschichte des weiland Kaiserlichen und Reichskammergerichts Beysitzers Johann Heinrich Freyherrn von Harpprecht zu Wezlar, in: REuss, Beiträge, Bd.3, Ulm 1790, S.23.
55 Hzg. Karl Friedrich von Württemberg an das RKG, Stuttgart, 15.11.1740, Or.: RKG IV B 1122 fol.358-371, hier fol.364v.
56 Rüding an den kurmainzischen Hofkanzler Johann Wemer v. Vorster; ders. an Kf. Johann Friedrich Karl von Mainz, Wetzlar, 5.6.1753, Orr.: HHStAW, MEKA- RKGA 89 (Neureuter).
57 Beispiele: Fstbf. Joseph von Augsburg an den Karnmerrichter, Dillingen, 12.10.1754, Or.: RKG IV B 1122 fol.433 (betr. seinen bisherigen Rat, den zum Assessor des kath. Schwäbischen Kreises einberufenen Johann Franz Valentin v. Emmerich); Johann Daniel Marianus Frank an Fstbf. Franz Konrad von Konstanz, s.l., s.d. (Mai od. Juni 1766), Or.: GLA Karlsr.,
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III.1. Geographische Herkunft
tion der biographischen Tatsachen, um einen Juristen als vollkommene Personifizierung des Herkunftsprinzips hinzustellen. So empfahl sich Kaspar Anton v. Albini 1756 bei seiner Bewerbung um die katholische Schwäbische Kreis-Präsentation zwar als ein im Schwäbischen Kreis geborenes Landeskind, das seinem Vaterland als RKG-Assessor "wegen besizender Erfahrenheit von der Crayß Verfassung" nützlichere und erspießlichere Dienste leisten könne 58 • Albini war tatsächlich im Schwäbischen Kreis, nämlich in Mechensee bei Isny, geboren. Nach seinem Studium an der Österreichischen Universität Innsbruck hatte er jedoch nur ein Jahr lang bei seinem Vater in der Kanzlei der schwäbischen Reichsabtei Salem (Salmansweiler) praktiziert, seine eigentliche Vorkarriere dann jedoch fernab vom Schwäbischen Kreis in hessen-rheinfelsischen Diensten verbracht. Mit der angepriesenen Kenntnis der schwäbischen Partikularrechte konnte es also nicht allzuweit her sein59 • Das Beispiel Albini macht deutlich, daß das Herkunftsprinzip leicht zu einem bloßen Mittel zum Zweck degradiert werden konnte, sei es, um sich im Wettbewerb um eine Präsentation als bester Kandidat zu profilieren, sei es, um gegenüber dem Kameralkollegium den normengerechten Charakter einer Präsentation zu unterstreichen und in Wetzlar von vornherein eine positive Voreingenommenheit fiir den Präsentierten zu erzeugen. Diese Instrumentalisierung der Rekrutierungsbestimmungen wird indirekt vor allem auch in den genau entgegengesetzten Fällen deutlich, wenn nämlich Präsentanten oder Präsentierte dem Herkunftsprinzip jede Verbindlichkeit ausdrücklich absprachen. In der ganzen Wetzlarer Zeit finden sich dafiir allerdings nur zwei Belege. So hatte der sächsische Kurfürst die Qualifikation seines Kandidaten noch 1656 und 1686 beide Male unter anderem damit begründet, daß der Betreffende entweder durch Studium oder Geburt der sächsischen Rechte und Gewohnheiten kundig sei, ein Lob, das angesichts der biographischen Fakten allerdings wenig überzeugend wirkte 60 • Dagegen wies Kursachsen die Kritik des Kameralkollegiums an dem Abt. 83/58 (Bewerbung um die kath. Schwäb. Kreis-Präsentation): dazu Biogr. 94 (Emmerich) u. Biogr. 96 (Frank). 58 Lgf. Konstantirr von Hessen-Rheinfels-Rotenburg an Fstbf. Franz Konrad von Konstanz, Frankfurt a.M., 25.9.1756, Or.: GLA Karlsr., Abt. 83/316; vgl. K.A. Albini an dens., Rheinfels, 18.9.1756, Or.: ebd., Abt.83/325; PS K.A. Albini, Meersburg, 30.1.1757, Konz.: ebd., Abt.83/328, Or.: RKG IV B 1/22 fol.435. 59 V gl. auch die etwas reservierte Antwort des Fürstbischofs von Konstanz, d.d. Wien, 20.10.1756, auf das in der vorigen Anmerkung zitierte lgfl. hessen-rheinfels-rotenburgische Empfehlungsschreiben für Albini, Konz.: GLA Karlsr., Abt. 83/316. Albini verdankte seine Präsentation zum Assessor des kath. Schwäbischen Kreises vor allem seinen einflußreichen Familienbeziehungen; s. ausftihrlicher und mit weiteren Nachweisen Biogr. 95 (K.A. Albini).
60 PS Gartz, Dresden, 18.11.1656, Or.: RKG IV B 1111 fol.9 f.; PS Reichenbach, Dresden, 26.2.1686, Or.: ebd., fol.23c-25; über Gartz s. schon oben Anm.39; Christian Ernst v. Reichenbach stammte zwar aus dem kursächsischen Seebach in Thüringen und hatte in Jena stu-
III.1.1. Die Norm
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nächsten Präsentatus, dem aus Düsseldorf stammenden und mit dem sächsischen Raum bisher nicht in Berührung gekommenen Gottfried Ruland, 1698 mit dem Argument zurück, daß "weder Wir noch andere Chur- und Fürsten Uns daran binden lassen, daß Wir nicht nach Belieben fremde Personen, sowohl als unsere Eingehohme und Unterthanen, benennen können" 61 . Zweifellos hätte Kursachsen damit bei den anderen Präsentationshöfen auf Unterstützung rechnen können, wenn sie auch allesamt den Sinn und Zweck der Herkunftsbestimmungen vom Prinzip her bejahten. Eine extremere Position nahm 1733 der aus Württemberg stammende Johann Jakob Maser zu der Frage ein, "ob ein Praesentatus aus des Praesentantis Land seyn müsse?" 62 Maser gab zwar zu, daß die einschlägige Bestimmung des Konzepts der KGO von 1613 (Tl.l Tit.S § 9) "ihren jedermann von selbsten in die Augen fallenden guten Grund" habe. Jedoch finde sich weder in den Visitationsabschieden noch in den Reichsgesetzen, daß die Stände sich hierzu verpflichtet hätten - eine Behauptung, die Maser scheinbar stringent mit einer nachweislich falschen Quellenableitung untermauerte 63 . Es werde auch- so Maser weiterweder bei den Präsentationen noch bei den Rezeptionen auf das Herkunftsprinzip gesehen, und er selbst sei im Namen des Niedersächsischen Kreises präsentiert worden, "welchen ich doch mein Lebtag nie betretten habe". Masers Pauschalurteil wird im folgenden mit der Realität konfrontiert werden. Seiner Darstellung ist auf jeden Fall hinzuzufügen, daß der evangelische Württemberger Maser damals (seit 1731) eine rechtlich heftig umstrittene und letztlich gescheiterte Präsentation seitens des Fürstbischofs von Hildesheim zum Assessor des Niedersächsischen Kreises besaß. Hildesheim wollte damit gegen den vehementen Widerstand der evangelischen Seite seinen Anspruch auf Beteiligung am evangelischen Präsentationsrecht des Niedersächsischen Kreises durchsetzen. diert. Seine Vorkarriere hatte er jedoch in kurpfälzischen Diensten in Heidelberg verbracht, bevor er 1681 als Assessor des Obersächsischen Kreises aufschwor. 61 Kf. Friedrich August von Sachsen, Kg. von Polen, an das RKG, Warschau, 27.4.1698, Or.: RKG IV B 1/11 fol.32 f.; über Ruland s. schon oben Anm.39.
62
tate). 63
MüSER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, S.31 0 f. (ebd. auch die folgenden Zi-
Moser leitete die von ihm selbst zitierte, ftir das Herkunftsprinzip maßgebliche Bestimmung in Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 9 nicht, wie es richtig gewesen wäre, aus dem Visitationsabschied von 1556 § 19 (CJC, S.202) ab, sondern aus dem Visitationsmemorial von 1557 § 7 (CJC, S.212). Letzeres verpflichtete tatsächlich nur das RKG, wenn es im Devolutionsfall von Amts wegen einen Beisitzer zu bestellen und dabei das Herkunftsprinzip zu beachten hatte. Dagegen wandte sich Vis.A. 1556 § 19, der die Grundlage für Konz. KGO 1613 T1.1 Tit.5 § 9 bildete, eindeutig an die präsentierenden Reichsstände. Dasselbe galt ftir Vis.A. 1713 § 15, den Moser ebenfalls ignorierte; s.o. zu Beginn dieses Kapitels III.l.l.die normative Entwicklung des Herkunftsprinzips.
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III.l. Geographische Herkunft
Für dieses Unternehmen war ein im Kreis bediensteter evangelischer Jurist schwerlich zu gewinnen, wollte er sich nicht seine weiteren Karrierechancen bei den evangelischen Kreismitständen des Hildesheimer Fürstbischofs verderben64 . Abschließend ist festzuhalten, daß die hier in Auswahl zitierten reichsständischen Stellungnahmen zum Herkunftsprinzip in der Zeit nach dem Westfälischen Frieden und besonders im 18. Jahrhundert keineswegs das Gesamtbild bestimmten. In den meisten Präsentationsschreiben wurde auf die Rekrutierungsvorgaben überhaupt nicht abgehoben, ob der Präsentierte ihnen nun entsprach oder nicht. Zusammen mit den zitierten Äußerungen signalisiert dies alles bereits, daß das Herkunftsprinzip und sein Sinn allen Beteiligten zwar auch im 18. Jahrhundert weiterhin geläufig war und daß seine Befolgung im Prinzip befürwortet wurde. Es galt jedoch nicht als ein absolut verbindliches Qualifikationskriterium, an dem allein etwa eine Präsentation hätte scheitern können. 2. Die Realität
Soweit die Norm und das Argumentieren mit der Norm. Wie sah die Realität im engeren Untersuchungszeitraum 1740-1806 aus, wenn man vom Einzelfall weg den Blick auf sämtliche in diesen Jahrzehnten am RKG amtierenden Assessoren (92) und auf die sonstigen Präsentierten (36) richtet? Diese Realität wird durch eine doppelte Vorgehensweise sichtbar gemacht. Erstens geht es um denjeweiligen Grad von Nähe oder Feme zwischen Präsentant und Präsentatus. Zweitens und ergänzend wird, illustriert durch Kartierungen, nach dem Einzugsbereich der Assessoren und der erfolglos Präsentierten, nach Zonen größerer und geringerer Rekrutierungsdichte und nach den zugrundeliegenden Auswahlmotiven gefragt. Beides geschieht in engem Bezug zum Präsentationssystem und dem damit verknüpften Herkunftsprinzip.
64 Pikanterweise wurde Moser 1736 vom König von Preußen, einem der erbittertsten Gegner des Fürstbischofs von Bildesheim und Kurfürsten von Köln im damaligen Streit um die Niedersächsische Kreis-Präsentation, als Direktor und Professor juris primarius an die Universität Frankfurt an der Oder berufen. Nach diesem geschickten Schachzug resignierte Moser im Herbst 1736 seine hildesheimische Präsentation; s. Moser an das RKG, Frankfurt a.d.O., 23.10.1736, Or.: RKG IV B 1/26 fol.284 f.; Moser an Kg. Friedrich Wilhelm I. von Preußen, Frankfurt a.d.O., 12.8.1737, Or.: ebd., fol.296 f.; zu Mosers umstrittener Präsentation s. die Präsentationsakten des Niedersächsischen Kreises in: ebd., fol.222 f. (PS Moser, Brühl, 3.7.1731) u. ff.; s. auch kurz Biogr. 124 (Summermann), Va) Rechtsgrundlage der Präsentation; Biogr. 89 (J.H. Harpprecht), Ile Anm.3 (mit Literatur zu Mosers Leben und Werk).
III.1.2. Die Realität
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1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten Wenn im folgenden das räumliche Verhältnis von Präsentanten und Präsentierten in der Spätphase des Reiches untersucht wird, geht es nicht um die Berechnung von Kilometern, sondern um die Ermittlung einer qualitativen Nähe oder Feme. Durch Korrelation verschiedener relevanter Fakten galt es herauszufinden, ob ein Jurist (wurde er nun später zum Assessor rezipiert oder nicht) auf Grund seiner territorialen Rekrutierung Gelegenheit hatte, sich vor seiner Präsentation bzw. spätestens bis zu seiner Vokation Kenntnisse in den Partikularrechten des präsentierenden Standes oder Kreises zu erwerben, um diese in die kammergerichtliche Judikatur einzubringen, wie es die Kameralnorm erwartete. In diesem Zusammenhang ist geographische Herkunft eine komplexe Größe, die sich nicht über eine einzige Lebensstation definiert. Vielmehr waren außer dem Geburtsort der 128 späteren Assessoren und sonstigen Präsentierten auch ihre Studienorte sowie sämtliche Vorkarrierestationen heranzuziehen. Zu berücksichtigen waren also die im Zuge der Anfangskarriere durchlaufenen Dienstorte, der Dienstort zur Zeit der Präsentation sowie eventuell, falls es nach der Präsentation noch zu einer beruflichen Veränderung kam, der Dienstort während der Wartezeit bis zur Einberufung bzw. Rejektion oder bis zum Verzicht auf die Präsentation (Resignation). All diese Orte, die fast vollständig ermittelt werden konnten, wurden daraufhin befragt, in welchem Grad von räumlicher Nähe oder Feme sie sich zur Region ihres Präsentanten verhielten und welche qualitative Nähe oder Distanz im oben definierten Sinne sich daraus ergab. Zu diesem Zweck wurde fiir die genannten Lebensstationen zunächst der Reichskreis bestimmt, in dem sie lagen. Die Kreiseinteilung, die überterritoriale Organisationsform im frühneuzeitlichen Reich unterhalb der Reichsebene, bietet sich im Rahmen dieser Untersuchung als die natürliche Bezugsgröße an, weil sie nicht nur das Präsentationssystem strukturierte, sondern auch in den oben referierten Kameralgesetzen die räumliche Bemessungsgrundlage dafiir bildete, ob ein Präsentatus dem Herkunftsprinzip entsprach oder nicht. Um die einzelnen Rekrutierungsentscheidungen in diesem Sinne meßbar und miteinander vergleichbar zu machen, wurden die betreffenden Orte sodann fiir jeden der 128 untersuchten Personen in vier Kategorien eingeordnet, die eine Hierarchie von Nähe bzw. Feme zum Reichskreis des Präsentanten ausdrücken und die im folgenden genauer zu definieren sind. Dabei war den Dienstorten das größere Gewicht beizumessen, ausgehend von der Prämisse, daß nicht der Geburtsort und auch noch nicht der Universitätsbesuch fiir sich allein genommen, sondern primär der räumliche V erlauf des späteren Berufswegs darüber entschied, in welchen Partikularrechten und in welcher Kreisverfassung sich ein Jurist bis zu seiner Präsentation kundig machen konnte.
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III.l. Geographische Herkunft
Eine weitere Vorentscheidung wurde hinsichtlich der Bewertung des Faktors 'Nachbarkreis' getroffen. Der auf dem Visitationsabschied von 1556 (§ 19) beruhende Passus des Konzepts der KGO von 1613 (Tl.l Tit.5 § 9) sah zwar vor, daß die zukünftigen Assessoren wenn schon nicht aus dem Land oder Kreis ihres Präsentanten, dann doch zumindest aus einem unmittelbar angrenzenden und nicht aus einem weiter entfernt gelegenen Reichskreis rekrutiert werden sollten. Bei der Sichtung der Ortsangaben und ihrer Zuordnung zu einem der zehn Reichskreise stellte sich jedoch heraus, daß es angesichts der Gemengelage und der zum Teil sehr großen räumlichen Ausdehnung der Reichskreise ganz inpraktikabel und fruchtlos war, die Größe 'Nachbarkreis' pauschal als Nähe-Kategorie zweiten Grades einzuführen. Der Dienstort eines präsentierten Juristen konnte sehr wohl in einem Reichskreis liegen, der irgendwo an den Kreis des Präsentanten angrenzte. Jedoch lag dieser Dienstort oft in einem Bereich dieses Nachbarkreises, der dem Territorium und Kreis des Präsentanten ganz entgegengesetzt und viel eher einem dritten Reichskreis sowie auch einem ganz anderen Rechtsgeltungsbereich zugewandt war. Von der oben definierten qualitativen Nähe zum Territorium und Kreis des Präsentanten, die zugleich Vertrautheit mit den betreffenden Partikularrechten verhieß, konnte in solchen Fällen schwerlich die Rede sein. Dienstorte, die in einem benachbarten Reichskreis lagen, wurden daher nur dann in die zweite Kategorie von Nähe eingestuft, wenn sie einem Territorium zugehörten, das direkt an den Kreis des Präsentanten anstieß. Andernfalls wurden die Dienstorte eines Nachbarkreises ebenso wie diejenigen eines entfernteren Reichskreises der vierten Kategorie zugeordnet. Schließlich ist vorauszuschicken, daß der Dienstort, an dem sich ein Jurist zur Zeit seiner Präsentation aufhielt, in den allermeisten Fällen auch die letzte Vorkarrierestation war, bevor der Betreffende nach kürzerer oder längerer Wartezeit zum RKG-Assessor angenommen bzw. rejiziert wurde oder bevor er auf die weitere Verfolgung seiner Präsentation verzichtete. In all diesen Regelfällen war der Dienstort zur Zeit der Präsentation oder aber ein früherer, im Zuge der Allfangskarriere durchlaufener Dienstort fiir die Kategorisierung maßgeblich. Dabei wurde eine frühere Karrierestation immer dann fiir die Zuordnung relevant, wenn sie und nicht der Dienstort zur Zeit der Präsentation im Kreis des Präsentanten lag. In einigen wenigen Ausnahmen wechselte der Kandidat aber nach seiner Präsentation und nach Ablegung des Generalexamens, also während der Wartezeit, noch in die Dienste eines anderen Fürsten über. War der neue Dienstherr identisch mit dem Präsentanten bzw. (bei Kreispräsentationen) mit einem Mitpräsentanten, dann mußte dieser allerletzte Dienstort fiir die Kategorisierung den Ausschlag geben. In solchen Konstellationen wurde nämlich während der Wartezeit noch eine höchstmögliche Nähe zum Präsentationshof hergestellt, die vorher und noch zur Zeit der Präsentation nicht gegeben war. Der oben bereits erwähnte Fall des im Rahmen der altemierenden evangelischen Kreispräsenta-
III.l.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
371
tion von den obersächsischen Stiften präsentierten Georg Gottlob Balemann, der erst während der zweijährigen Wartezeit bis zur Vokation erstmals eine Ratsbestallung bei einem seiner Mitpräsentanten erhielt (Anhalt-Bemburg) und sich dadurch in den Partikularrechten des sächsischen Raumes noch etwas kundig machen konnte, ist dafür ein gutes Beispiel. Balemann und die wenigen Parallelfalle mußten wegen dieser wenn auch erst während der Wartezeit erfolgten Übernahme in die Dienste ihres Präsentanten noch in die Kategorie 1 eingeordnet werden. Mit Rücksicht auf solche seltenen Ausnahmen versteht sich der Begriff der Vorkarriere hier und im folgenden als jene Phase der Berufslaufbahn, die sich über das punktuelle Präsentationsdatum hinaus erstreckt bis zum Abschluß des Zulassungs- und Prüfungsverfahrens, ob es nun mit der Aufschwörung, der Rejektion oder dem freiwilligen Verzicht endete. Wenn in diesem Kapitel vom 'Kreis des Präsentanten' als Bezugsgröße die Rede ist, so bedeutet dies a) bei Kreispräsentationen: den präsentationsberechtigten Kreis; b) bei kurfürstlichen Präsentationen: den Reichskreis, dem das betreffende Kurland angehörte (z.B. bei Kurmainz = Kurrheinischer Kreis; bei Kursachsen = Obersächsischer Kreis). Nach diesen Vorbemerkungen sind die vier Kategorien, die ein abgestuftes System von räumlich-qualitativer Nähe bzw. Distanz zwischen einem Präsentanten und seinem Präsentatus darstellen, folgendermaßen zu beschreiben: 1. Kategorie: Der Präsentierte verbrachte seine Vorkarriere ganz oder teilweise (mindestens ein Dienstort) im Kreis des Präsentanten. Bei den kurfürstlichen Präsentationen bedeutet dies, daß der relevante Dienstort nicht nur im präsentierenden Kurland, sondern auch in einem anderen Territorium desselben Kreises liegen konnte. In diese 1. Kategorie wurden als Sonderfalle auch eingeordnet: a) die fünf bereits auf einem Kreisassessorat amtierenden Juristen, die nun eine ranghöhere kurfürstliche Präsentation erhielten65 ; b) ein bisheriger Reichshofrat Karls VII., der zur Zeit seiner Präsentation während seiner früheren Vorkarriere noch nicht im Kreis seines Präsentanten be. ~ d1enstet gewesen war . 65 K.A. Albini (Biogr. 95), Zillerberg (Biogr. 79), J.U. Cramer (Biogr. 65), Ludolf (Biogr. 38), Glaubitz (Biogr. 88). Nur in einem einzigen dieser fünf Fälle war der betreffende kurfürstliche Präsentant zugleich früherer Dienstherr: Der seit zehn Jahren als Bayer. Kreis-Beisitzer amtierende Zillerberg, der 1774 eine kurbayerische Präsentation erhielt, hatte vor seinem Wechsel nach Wetzlar (1764) in kurbayerischen Ratsdiensten gestanden. 66 J.U. Cramer als Präsentatus des ev. Fränkischen Kreises. Dagegen hatte Schroff, ebenfalls ehemaliger Reichshofrat Karls VII., zur Zeit seiner Bayer. Kreis-Präsentation schon wie-
372
III.l. Geographische Herkunft
Die höchstmögliche qualitative Nähe zum Präsentanten wurde in diesen Sonderfällen nicht durch die anfänglichen Vorkarrierestationen, sondern durch die bereits seit längerem ausgeübte Tätigkeit als RKG-Assessor bzw. Reichshofrat hergestellt. 2. Kategorie: Der Präsentatus verbrachte seine Vorkarriere ganz oder teilweise in einem Territorium, das a) durch dauernde Personalunion mit dem Präsentanten bzw. Nominanten verbunden war und in einem Reichskreis lag, der dem Kreis des Präsentanten/Nominanten unmittelbar benachbart war (z.B.: Präsentant= Kurbrandenburg/Obersächs. Kreis, Dienstort in den Nebenlanden Magdeburg und Halberstadt/Niedersächs. Kreis; Präsentant= Kurpfalz/Kurrhein. Kreis, Dienstort im seit 1685 kurpfälzischen Nebenland Jülich-Berg/Niederrheinisch-Westfäl. Kreis; Präsentant= Kurböhmen, Dienstort im Österr. Kreis); oder das b) durch dauernde Personalunion mit dem Präsentanten bzw. Nominanten verbunden war und in einem entfernteren Kreis lag (z.B.: Präsentant= Kurbrandenburg/Obersächs. Kreis, Dienstort im Nebenland Kleve-Mark oder Minden-Ravensberg/Niederrheinisch-Westfäl. Kreis; Präsentant = Kurmainz/Kurrhein. Kreis, Dienstort = das kurmainzische Erfurt/Obersächs. Kreis; Präsentant = Burgund. Kreis, Dienstort in den Österreichischen Erblanden); oder das c) zwar zu einem Nachbarkreis gehörte und mit dem Präsentanten nicht durch dauernde Personalunion verbunden war, das aber mit seinen Landesgrenzen unmittelbar an den Kreis des Präsentanten anstieß oder ihm ganz nahe lag (z.B. Kamptz: Dienstorte = in den Herzogtümern Mecklenburg/Niedersächs. Kreis, Präsentant = Kurbrandenburg/Obersächs. Kreis). 3. Kategorie: Nur der Geburtsort und/oder ein Studienort des Präsentierten lagen im Kreis des Präsentanten. 4. Kategorie: Kein einziger Dienstort des Präsentierten lag im Kreis des Präsentanten (vgl. Kategorie 1) oder in einem seiner zu einem anderen Reichskreis gehörigen Nebenländer (vgl. Kategorie 2). Alle Dienstorte lagen entweder in einem entfernteren Kreis oder aber zwar in einem Nachbarkreis, jedoch weit weg von der gemeinsamen Kreisgrenze. Auch war der Präsentierte weder im Kreis des Präsentanten geboren noch hatte er dort studiert (vgl. Kategorie 3). der in München in kurbayerischen Diensten gestanden, konnte also auch auf Grund dieser letzten Karrierestation in Kategorie 1 eingeordnet werden; s. Biogr. 65 (J.U. Cramer) u. Biogr. 78 (Schroff).
III.1.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
373
In diese 4. Kategorie wurden auch die wenigen Fälle eingeordnet, in denen der Präsentant bzw. Nominant zwar Dienstherr des Präsentierten war, aber nur in einem Territorium eines anderen Kreises, das durch temporäre Personalunion (bei geistlichen Fürsten) mit dem präsentations- oder nominationsberechtigten Territorium verbunden war (z.B. Gudenus: Dienstort = Mainz/Kurrhein. KreisPräsentant = der katholische Fränkische Kreis, vorschlagender Mitnominant: der Fürstbischofvon Würzburg, damals zugleich Kurfiirst von Mainz). Um die gewählten vier Kategorisierungen auf die verschiedenen kaiserlichhabsburgischen Präsentationsberechtigungen anwenden zu können, bedurfte es einiger spezieller Definitionen: Im Falle der kurböhmischen Präsentation stellt das nicht eingekreiste Königreich Böhmen den 'Kreis des Präsentanten' dar, ist also Bezugsgröße fiir die Kategorie 1; die Österreichischen Erblande fallen dann in die Kategorie 2.- Im Falle der Burgundischen Kreis-Präsentation bedeutet die 1. Kategorie: Burgundischer Kreis, soweit er seit der Herauslösung der Vereinigten Republik der Niederlande noch bestand; die 2. Kategorie bedeutet: Österreichische Erblande; die 3. Kategorie: geboren/studiert im Burgundischen Kreis/in den Österreichischen Erblanden; die 4. Kategorie: übriges Reich.- Im Falle der kaiserlichen Präsentation wurden die Österreichischen Erblande als Entsprechung zum 'Kreis des Präsentanten' gewählt, sind also Bezugsgröße fiir Kategorie 1. Diese Gleichsetzung ist von der Sache her nicht logisch, denn der Kaiser war als Reichsoberhaupt bei seinen Präsentationen an keinen Reichskreis gebunden, hatte also theoretisch reichsweite Rekrutierungsmöglichkeiten. Um dennoch einen Bezugspunkt fiir die Kategorisierung zu gewinnen, lag es nahe, die Österreichischen Erblande zu nehmen, weil dadurch auch die Personal- und Interessenidentität von 'Reichsoberhaupt' und 'Haus Österreich' deutlich wird. Jedoch ist zu beachten, daß im Falle der kaiserlichen Präsentation die Kategorie 4 (übriges Reich) strenggenommen gleichgewichtig ist mit Kategorie 1 (österreichische Erblande). Die bei der Kategorisierung aufgetauchten Definitions- und Zuordnungsprobleme sind ein typischer Ausdruck der komplizierten räumlich-politischen Organisation des Alten Reiches. Sie steht jeder weniger umständlichen Schematisierung im Wege, es sei denn, man entwirft auf dem Reißbrett scheinbar rationalere Bezugsgrößen, die jedoch mit den wirklichen Verhältnissen und ihrem normativen Niederschlag nichts zu tun haben. In der folgenden Tabelle 2 werden die im Zeitraum 1740-1806 amtierenden 92 Assessoren und die sonstigen 36 Präsentierten dieser Jahrzehnte in der Reihenfolge ihrer Präsentanten einer der vier beschriebenen Kategorien zugeordnet67. Dabei ist zu berücksichtigen, daß von diesen 128 Juristen insgesamt sieben 67 In Tabelle 2 ist die sonst im Präsentationsschema übliche Gliederung und Reihenfolge der Präsentationsberechtigungen stellenweise etwas verändert, um einige Zusammenhänge
374
III.1. Geographische Herkunft
zweimal eine Präsentation erhielten68 • Die Präsentationshöfe trafen also für diese 128 Individuen zwischen 1710 (Präsentation Frantz) und 1806 (Präsentation Avemann) in 135 Präsentationsfallen insgesamt 135 (128 + 7) einzelne Rekrutierungsentscheidungen. Diese Zahl 135 ist die Grundgesamtheit für die Berechnungen in Tabelle 2. besser zu verdeutlichen. So wurden die beiden katholischen RKG-Präsentationen, die Kurpfalz 1711 und 1780 wegen der altpfälzischen fünften Kur ausübte, von den kurbayerischen Präsentationen wegen derselben fünften Kur separiert und direkt hinter die evangelischen kurpfälzischen Präsentationen wegen der neupfälzischen achten Kur (1777 zuletzt ausgeübt, 1781-1788 zuletzt besetzt) gestellt, um das gesamte Rekrutierungsverhalten der seit 1685 katholischen Kurfürsten von der Pfalz besser sichtbar zu machen. Aus demselben Grund wurden die beiden Präsentationen, die im Rahmen der evangelischen altemierenden Kurpräsentation turnusgemäß einmal von Kursachsen (1788), dann von Kurbrandenburg (1800) vollzogen wurden, voneinander getrennt und jeweils direkt hinter den regulären kursächsischen bzw. kurbrandenburgischen Präsentationen aufgeführt. Dasselbe gilt ftir die einzige jemals ausgeübte alternierende evangelische Kreispräsentation, die 1778 turnusgemäß zuerst dem Obersächsischen Kreis zufiel. Diese Präsentation, die im Präsentationsschema sonst den allerletzten Rang einnahm, wurde daher hier gleich hinter den regulären Präsentationen des Obersächsischen Kreises eingeordnet. Von den drei konfessionell einheitlichen Kreisen mit je einer doppelten Präsentationsberechtigung wurden die beiden Präsentationen des Bayerischen Kreises getrennt aufgeführt, weil zu der einen (Bayer. Kreis I) immer nur Kurbayem, zu der anderen (Bayer. Kreis II) immer nur Salzburg nominierte. Dagegen konnten die jeweils zwei Präsentationsberechtigungen des Niedersächsischen bzw. des Obersächsischen Kreises zusammengezogen werden (Obersächs. Kreis I u. II, Niedersächs. Kreis I u. II), weil derjenige der zahlreichen Kreisstände, der gerade turnusgemäß präsentations- bzw. nominationsberechtigt war, dasjenige Assessorat wiederbesetzte, das gerade vakant geworden war; d.h. der Präsentations- und N ominationsturnus lief in diesen beiden Kreisen zwischen denjeweiligen beiden Präsentationsberechtigungen hin und her. 68
K.A. Albini (Biogr. 95), Zillerberg (Biogr. 79), J.U. Cramer (Biogr. 65) und Glaubitz (Biogr. 88) erhielten zunächst eine Kreispräsentation, dann Jahre später als amtierende Assessoren eine Präsentation auf ein ranghöheres Kurassessorat. J.W. Riedesel (Biogr. 39) erhielt zunächst eine Kreispräsentation, schwor jedoch nicht wegen dieser, sondern wegen einer bald darauf erteilten Kurpräsentation auf. König (Biogr. 113) wurde fast gleichzeitig von zwei verschiedenen Kreisen präsentiert, starb jedoch vor einer möglichen Rezeption. Galler (Biogr. 72) erhielt zweimal nacheinander eine einseitig eichstättisehe Präsentation zum kath. Fränk. Kreis-Assessorat, ebenfalls ohne Aufschwörungserfolg. Von diesen sieben Juristen sind vier andere zu unterscheiden: Ludolf (Biogr. 38) amtierte zwar zunächst ebenfalls auf einem Kreisassessorat, bevor er 1722 als kurpfälzischer Assessor aufschwor (t 1740). Da seine Amtszeit als Obersächs. Kreis-Assessor (1711-1722) jedoch vor den Beginn des engeren Untersuchungszeitraums (1.1.1740) fiel, ist ftir die Fragestellung dieses Kapitels nur seine Präsentation zum kurpfälzischen Assessor relevant. Entsprechendes gilt ftir Speckmann (Biogr. 18, 1713-1715 kath. Oberrhein. Kreis-Präs., 1726-1751 kurböhm. Ass.), J.Chr. Schmitz (Biogr. 77, 1722-1724 kath. Fränk-Kreis-Präs., 1740-1747 Bayer. Kreis-Ass.) und Dünwaldt (Biogr. 82, 1728/29-1730 kath. Oberrhein. Kreis-Präs., 1745-1763 Bayer. Kreis-Ass.). Im Gegensatz zu den sieben vorher genannten Juristen, die sowohl ihre erste als auch ihre zweite Präsentation erst im Untersuchungszeitraum 1740-1806 erhielten und dementsprechend als zwei verschiedene Rekrutierungsentscheidungen oder Präsentationsfälle behandelt wurden, tauchen Ludolf, Speckmann, J.Chr. Schmitz und Dünwaldt daher in Tabelle 2 nur als eine einzige (nämlich mit der jeweils zweiten, für den engeren Untersuchungszeitraum relevanten) Rekrutierungsentscheidung auf.
III.l.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
375
Tabelle 2 Nähe oder Feme des Präsentierten zum Kreis des Präsentanten, abgestuft nach 4 Kategorien präsentationsberechtigter Kurfürst, Kaiser, Kreis Kunnainz Kurtri er Kurköln Kurböhmen Kurbayern wegen 5. Kur Kursachsen Kursachsen wegen altemierender ev. Kurpräsentation Kurbrandenburg Kurbrandenburg wegen altemierender ev. Kurpräsentation Kurpfalz a) wegen 8. Kur (ev.) b) wegen 5. Kur (kath.) Kurbraunschweig alternierende ev. Kurpräsentation: s.o. unter Kursachsen u. Kurbrandenbur~ Kaiser Österr. Kreis Burgund. Kreis ev. Fränk. Kreis kath. Fränk. Kreis Bayer. Kreis I (kurbayer. Nom.) Bayer. Kreis II (salzburg. Nom.) ev. Schwäb. Kreis kath. Schwäb. Kreis ev. Oberrhein. Kreis kath. Oberrhein. Kreis ev. Niederrhein.-Westf!il. Kreis kath. Niederrhein.-Westfal. Kreis Obersächs. Kreis I u. II Obersächs. Kreis wegen altemierender ev. Kreispräsentation Niedersächs. Kreis I u. II Rekrutierungssentscheidungen insges. in%
Rekrutierungsentscheidungen insg.
}
}
davon davon davon davon Kat.l Kat.2 Kat.3 Kat.4
5 8 4 4 3 4 1
3 7 3 1 1 4 1
1
10 1
2 1
7
4 2 7
3 1 6
1
3 4 6 7 9 5 6 6 6 3 2 1 3 12
2 3
-
1 4
2 1
3
1 8
1 6
-
-
135 100%
-
1 -
-
in%
-
-
-
-
-
1
1
-
-
1
-
1 2
-
1
20 78 57,8% 14,8% Kat.1 + 2
135 100%
3 2
1
~
Rekrutierungsentscheidungen insges.
-
-
2
-
-
-
1
-
1
6 5 4 3 5 3 2
-
-
-
1
98 72,6%
1 1 -
-
2
-
-
-
-
4 1 2 1 3 1 1
-
1
-
4
-
-
1
9 6,7%
28 20,7%
Kat.3 + 4
~
37 27,4%
376
III.l. Geographische Herkunft
Betrachtet man in Tabelle 2 zunächst nur das Gesamtergebnis, so lag also bei 78 der 135 Rekrutierungsentscheidungen (57,8 %) mindestens eine der Vorkarrierestationen im Kreis des Präsentanten (Kategorie 1), meist war es der Dienstort zur Zeit der Präsentation. In weiteren 20 Fällen von 135 (14,8 %) befand sich einer der Dienstorte (wiederum meistens derjenige zum Zeitpunkt der Präsentation) in einem Nebenland, das mit dem Präsentanten auf Dauer durch Personalunion verbunden war, jedoch einem anderen Kreis als dem des Präsentanten angehörte (Kategorie 2a und 2b ), oder er lag im Nachbarkreis in einem fremden Territorium, das aber direkt an den Kreis und zum Teil sogar an das Territorium des Präsentanten angrenzte (Kategorie 2c). Zählt man die Werte in Kategorie 1 und 2 zusammen, dann wies in 98 Fällen von 135 (72,6 %) der Dienstort zur Zeit der Präsentation bzw. eine frühere Karrierestation einen direkten oder doch sehr engen Bezug zum Kreis des Präsentanten auf. In fast Dreiviertel aller 135 Rekrutierungsentscheidungen war dem in der Kameralverfassung vorgegebenen Herkunftsprinzip also in idealer oder fast idealer Weise entsprochen. An dieser Relation ändert sich auch dann nur wenig, wenn man von einigen Fällen abstrahiert, in denen die Zuweisung zu Kategorie 1 oder 2 etwas problematisch war, aber dennoch vorgenommen wurde. Gemeint sind vor allem die seltenen Ausnahmen, in denen der Präsentierte erst zeitgleich mit seiner Präsentation oder erst während der Wartezeit zwischen Präsentation und Einberufung in die Dienste seines Präsentanten trat, während er vorher in einem ganz anderen Kreis tätig gewesen war69 • Auch war in alldenjenigen Fällen, in denen ein Kurfürst seinen Kandidaten nicht aus seinem eigenen Reichskreis, sondern aus einem mit ihm durch Personalunion verbundenen Territorium eines entfernteren Kreises rekrutierte, die Verbindung und Nähe zum Kreis und Kurland des Präsentanten in erster Linie nur über dessen Person und über die Zentralbehörden seines Kurlandes hergestellt. Der betreffende Präsentatus besaß naturgemäß weniger Kenntnis in den Partikularrechten des präsentierenden Kurlandes als vielmehr in denjenigen des betreffenden Nebenlandes und Kreises, in dem er bedienstet war. Das gilt vor allem für die in Kategorie 2b eingeordneten kurbrandenburgischen Präsentierten Huß, V ette und Meckel, deren Dienstorte zur Zeit ihrer Präsentation in den zum Niederrheinisch-Westfälischen Kreis gehörigen brandenburg-preußischen Westprovinzen Minden bzw. Teekienburg lagen, ferner für den aus Erfurt stammenden kurmainzischen Präsentatus Spitz. An den kurfürstlichen Präsentationen läßt sich noch deutlicher als an sämtlichen Präsentationsbefugnissen demonstrieren, daß die räumlich-qualitative, partikularrechtliche Kenntnisse verheißende Nähe zwischen Präsentatus und Prä69 Beispiele fiir solche Ausnahmen: Biogr. 34 (Meckel, kurbrand. Ass.); Biogr. 54 (Ortmann, Österr. Kreis-Ass.); Biogr. 128 (Balemann, Ass. wegen der alternierenden ev. Kreispräsentation).
III.1.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
377
sentant sehr groß war. Denn im Gegensatz zu den kuriaten Kreispräsentationen mit ihrer Vielzahl von Akteuren kann man bei den kurfürstlichen Präsentationen zusätzlich zu der umfassenderen Bezugsgröße 'Kreis des Präsentanten' mit einer konstanten kleineren Bezugsgröße unterhalb der Kreisebene operieren, nämlich mit dem Kurland, an dem die Präsentationsberechtigung ununterbrochen und ohne Konkurrenz haftete. Von den insgesamt 135 Rekrutierungsentscheidungen aller Kurfürsten, des Kaisers und der Kreise (bezogen auf 128 zwischen 1740 und 1806 amtierende bzw. präsentierte Individuen) entfielen 53 auf die neun (seit Ende 1777: acht) Kurfürsten70 • Von diesen 53 kurfürstlichen Rekrutierungsentscheidungen konnten 33 (62,3 %) in die Kategorie 1 eingeordnet werden, weil mindestens eine Vorkarrierestation im Reichskreis des Präsentanten lag. Bei den Kurpräsentationen war der Anteil derjenigen Fälle, die in die 1. Kategorie gehören, mit 62,3 % also noch etwas höher als in der Gruppe der von sämtlichen Präsentationsberechtigten vorgenommenen 135 Rekrutierungen (dort 1. Kategorie = 57,8 %). Von diesen 33 kurfürstlichen Rekrutierungsentscheidungen der 1. Kategorie entfielen nun 24 (72,7 %) sogar auf Juristen, die zur Zeit der Präsentation (oder seltener: im Zuge der früheren Vorkarriere) nicht nur im Kreis des kurfürstlichen Präsentanten, sondern als dessen Beamte sogar direkt in dem präsentationsberechtigten Kurland bedienstet waren. Bezogen auf sämtliche den Kategorien 1-4 zugeordneten 53 kurfürstlichen Rekrutierungsentscheidungen bedeutete dies: In 24 von 53 Fällen (45,3 %) stammten die von den Kurfürsten Präsentierten gemessen an ihren Dienstorten direkt aus dem betreffenden Kurland, und zwar überwiegend aus den kurfürstlichen Zentralbehörden. In fast der Hälfte aller von ihnen getroffenen Rekrutierungsentscheidungen befolgten die Kurfürsten das in der Kameralverfassung aufgestellte Herkunftsprinzip also besonders strikt, indem der Rekrutierungsraum ihrer Präsentationen nicht nur der Reichskreis war, dem auch das betreffende Kurland angehörte (so in 33 von 53 Fällen= 62,3 %), sondern sogar dieses Kurfürstentum selbse'. 70 Wenn hier und im folgenden von kurfürstlichen Präsentationen und Rekrutierungsentscheidungen die Rede ist, dann sind damit wirklich nur diejenigen Präsentationen gemeint, welche die Kurfürsten im Rahmen einer Kurpräsentation vollzogen, nicht aber diejenigen, die einigen Kurfürsten zusätzlich im Rahmen einer Kreispräsentation zustanden. Unter den in diesem strikten Sinne definierten 53 kurfürstlichen Rekrutierungsentscheidungen (getroffen für 53 Individuen) sind die beiden von Kursachsen und Kurbrandenburg im Rahmen der altemierenden evangelischen Kurpräsentation vollzogenen Präsentationen mitbegriffen. 71 Vgl. den oben in Kap.III.l.l. zitierten gerrauen Wortlaut von Konz. KGO 1613 Tl.l Tit.5 § 9 ("So sollen dieselben aus deß praesentirenden Stands oder Creyß Land-Arth oder Bezirck ... praesentirt werden", CJC, S.580) sowie von Vis.A. 1713 § 15 ("auch desselben Landes Grbräuchen und guten Gewohnheiten erfahren", CJC, S.966).
378
III.l. Geographische Herkunft
Berücksichtigt man, daß Kurböhmen und Kurbrandenburg niemanden oder fast niemanden präsentierten, der sich nach seinem Dienstort aus dem betreffenden Kurland, also aus dem Königreich Böhmen bzw. aus der Kurmark Brandenburg rekrutierte 72 , dann ergeben sich bei den übrigen kurfürstlichen Präsentationsberechtigungen (Mainz, Köln, Trier, Bayern, Sachsen, Pfalz, BraunschweigLüneburg =Hannover) noch engere Beziehungen zwischen Kurland und Dienstort der Präsentierten: Von den insgesamt 3 8 Rekrutierungsentscheidungen, die diese restlichen sieben Kurfürsten trafen, fielen insgesamt 29 (76,3 %) in die 1. Kategorie (Dienstort = im Reichskreis des präsentierenden Kurfürsten). Von diesen 29 wiederum lag in 23 Fällen (79,3 %) eine Vorkarrierestation direkt im präsentierenden Kurland. D.h. von den sämtlichen 38 Rekrutierungsentscheidungen dieser sieben Kurfürsten stammten in 23 Fällen (60,5 %) die Präsentierten nach einem ihrer Dienstorte direkt aus dem präsentationsberechtigten Kurland, zu 15 % mehr als in der Gruppe der 53 Rekrutierungsentscheidungen sämtlicher neun Kurfürsten einschließlich Kurböhmens und Kurbrandenburgs (45,3 %). Das durchschnittliche Rekrutierungsverhalten der Kurfürsten von Mainz, Köln, Trier, Bayern, Sachsen, Pfalz und Braunschweig-Lüneburg zusammengenommen war also dem Herkunftsprinzip besonders konform. Zurück zu den Werten, die für die sämtlichen 135 Rekrutierungsentscheidungen aller Präsentanten innerhalb der Kategorien 1 bis 4 ermittelt wurden. Neben den 78 bzw. 20 Fällen, die den Kategorien 1 und 2 zugeordnet werden konnten, fällt die Zahl 9 ( 6, 7%) in Kategorie 3 kaum ins Gewicht (s. Tabelle 2). Dieser Befund bestätigt, daß ein Aspirant bloß deshalb, weil er im Land oder Kreis des Präsentanten geboren war und/oder zeitweise bzw. durchgängig dort studiert hatte, nur sehr selten den Zuschlag erhielt. Die 'richtige' Lokalisation der Vorkarriere, ihre größtmögliche räumlich-qualitative Nähe zum Präsentanten, war demgegenüber um ein Vielfaches entscheidender für den Bewerbungserfolg73 • In 72 Über das Rekrutierungsverhalten der einzelnen Kurfürsten und Kreise wird noch zu reden sein; s. vor allem das folgende Kapitel III.l.2.2. 73 Dies war auch dem im vorderösterreichischen Konstanz (nach anderen Quellen: im gfl. montfortschen Tettnang nahe dem Bodensee) geborenen Andreas Steigentesch bewußt, der sich als fstbfl. hildesheimischer Rat in dem Jahrzehnt vor dem glücklichen Ausgang seiner Niederrheinisch-Westfälischen Kreis-Präsentation (1783) in Wien mit stetem Hinweis auf seine Eigenschaft als geborener Österreicher wiederholt sehr zudringlich um eine kaiserliche oder habsburgische RKG-Präsentation oder um eine RHR-Stelle bewarb. Steigentesch, der wegen einer schweren Verwundung als junger Mann den Österreichischen Militärdienst hatte verlassen müssen, betonte in seinen Gesuchen mehrfach, daß er nach seiner juristischen Ausbildung gern wieder in habsburgische Dienste getreten wäre, jedoch mit einer fstbfl. hildesheimischen Ratsbestallung habe vorlieb nehmen müssen, "da ich als ein früher hülfloser Waise niemand hatte, der meine Wünsche, meiner allerdurchlauchtigsten Landesherrschaft auch diese Dienste zu wiedmen, unterstüzen konnte oder wollte", s. Steigentesch an Ks. Joseph II. (Gesuch um die Österr. Kreis-Präsentation), s.l, s.d. (Wetzlar, 24.4.1782), Kopie: HHStA W, RK- RKG-Visit.A. 380b (Konv. mit Bewerbungsakten zur Wiederbesetzung des nach dem
III.l.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
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den neun Fällen der Kategorie 3 läßt sich denn auch mehrfach nachweisen, daß der betreffende Aspirant sich in seiner ursprünglichen Heimat, also dem Ort bzw. der Region seiner Geburt und zumeist auch einiger Studiensemester, gewisse zusätzliche soziale 'Qualifikationen' in Gestalt landsmannschaftlieh-verwandtschaftlicher Beziehungen zu einflußreichen Regierungsinstanzen erworben hatte. Diesen und nicht der bloßen Lage seines Geburtsorts verdankte er später eine Präsentation durch seinen Landesherrn, obwohl er sich im Zuge seiner Berufslaufbahn weit von dessen Territorium und Kreis entfernt und als juristischer Praktiker in einem ganz anderen Rechtsgeltungsbereich Erfahrungen gesammelt hatte. So war Johann Pranz Aegidius v. Beaurieux zwar in Mainz geboren und hatte einen Teil seines Studiums an seiner Landesuniversität absolviert. Seine berufliche Karriere fiihrte ihn jedoch weit weg von Mainz in den Westen bzw. Süden des Schwäbischen Kreises, und zwar zunächst in baden-badische, dann in Österreichische Dienste. Zur Zeit seiner kurmainzischen Präsentation lebte er als Oberamtsdirektor der vorderösterreichischen Landgrafschaft NeBenburg in Stockach und war zugleich Regimentsrat der Oberösterreichischen Regierung in Innsbruck. Als Ende 1725 das kurmainzische RKG-Assessorat vakant wurde, empfahl der Kammerrichter Hohenlohe dem Kurfiirsten-Erzkanzler, diese Stelle mit dem damaligen Assessor des katholischen Schwäbischen Kreises Paul Theodor v. Anthoni "als dero Landeskindt" wiederzubesetzen74 • Gegenüber Anthoni, der als Geburtsort nur das kurmainzische Landstädtchen Oberursei anfiihren konnte, besaß jedoch der von Kurmainz schon längst auserwählte Nachfolger Beaurieux den fiir einen RKG-Beisitzer anscheinend unschätzbaren Vorteil, sogar "in meiner ertzstiftlichen Residentzstadt" geboren zu sein75 . Beaurieux, Sohn eines nach Mairiz eingewanderten Bierbrauers, hatte die besondere Fürsten- und Regierungsnähe der Mainzer Bürgerschaft in zukunftsträchtiger Weise fiir sich zu nutzen gewußt, als er durch seine in Mainz geschlossene Ehe in die höhere Beamtenschaft des Mainzer Erzstifts einheiratete und dadurch zugleich einen "hohen Patron" in der Mainzer Regierungszentrale gewann: Ein Onkel mütterlicherseits seiner Ehefrau war der kurmainzische Hotkanzler Johann Georg v. Lasser, der seinem "Vetter" Beaurieux beim Kurfiirsten sowohl die Präsentation als auch schon das Expektanzdekret verschaffte76 • Tod de L'Eaus erledigten kaiserlichen Assessorats); weitere, datierte und im Text etwas variierte Kopie: ebd., RKG-Visit.A. ad 335. 74 Kammerrichter Hohenlohe an Kf. Lothar Pranz von Mainz, Wetzlar, 29.12.1725, Or. u. Kopie: HHStAW, MEKA- RKGA 89 (Beaurieux). 75 Kf. Lothar Pranz von Mainz an den Kammerrichter Hohenlohe, Frankfurt, 8.1.1726, Konz.: ebd.
76 Die Akte Beaurieux in: HHStAW, MEKA- RKGA 89, ist daflir ein sprechender Beweis (Zitate ebd.); s. im übrigen Biogr. 1 (J.F.Ä. Beaurieux).- Ähnlich lag auch der ebenfalls
380
III.l. Geographische Herkunft
Auch wenn sich mehrere der in Kategorie 3 eingeordneten Präsentierten so wie Beaurieux wegen ihres Geburtsorts und ihres z.Tl. damit identischen Studienorts als "Landeskinder" profilieren konnten, gehörten diese neun Rekrutierungsentscheidungen ihrem ganzen Charakter nach jedoch mehr zu den Fällen der Kategorie 4 als zu denen der ersten beiden Kategorien. So jedenfalls, wenn man aus den dargelegten Gründen die Vorkarrierestationen als den maßgeblichen Indikator dafür nimmt, ob ein Jurist in Konformität mit der Intention der Kameralverfassung in den Partikularrechten des ihn präsentierenden Kurfürstentums oder Reichskreises bewandert sein konnte oder nicht. Daran gemessen fallen laut Tabelle 2 28 der insgesamt 135 Rekrutierungsentscheidungen (20,7 %) unter Kategorie 4, d.h. in nur einem Fünftel der Grundgesamtheit waren die Präsentierten weder beruflich noch durch Geburt und Studium jemals mit dem Kreis des Präsentanten in Berührung gekommen (Kategorie 1 und 3) noch hatte einer ihrer Dienstorte in einem mit dem Präsentanten durch dauernde Personalunion verbundenen Nebenland eines anderen Kreises gelegen (Kategorie 2). Im Vergleich zu den Werten der Kategorien 1 (78 = 57,8 %) und 2 (20 = 14,8 %), die eine größtmögliche oder sehr große räumlich-qualitative Nähe zum Kreis des Präsentanten ausdrücken, nimmt sich der Anteil der Kategorie 4, die den Grad größter Distanz darstellt, doch bemerkenswert klein aus. Zieht man die beiden Kategorien 3 und 4 zusammen, dann hatten sich in nur 37 von 135 Präsentationsfällen (27,4 %), also nur in rund einem Viertel der Grundgesamtheit, die Präsentierten während ihrer Vorkarriere niemals im Kreis des Präsentanten aufgehalten noch auch in einer der mit dem Präsentanten liierten Nebenprovinzen, die einem anderen Reichskreis angehörten (s. Tabelle 2). Selbst wenn man diejenigen oben erwähnten Fälle, in denen die Zuordnung schwierig war, nicht der 1. der Kategorie 3 zugewiesene Fall des Österr. Kreis-Assessors Karl Heinrich v. Jodoci, der in Wien geboren war und dort einige Anfangssemester studiert hatte, dann aber seine gesamte Vorkarriere in kurtrierischen Diensten in Koblenz verbrachte. Er war der Sohn eines Reichshofrats, dem Kaiser Leopold I. kurz vor dessen Tod die Beförderung seiner Söhne zugesichert hatte. Der ältere Bruder Karl Heinrichs, der bis zum kaiserlichen Konkommissar am Reichstag aufgestiegene Philipp Heinrich v. Jodoci, hatte während seiner Anfangskarriere ebenfalls eine Österr. Kreis-Präsentation erhalten, sie jedoch verfallen lassen. Zur Zeit der Präsentation seines jüngeren Bruders war er österreichischer Fürstenratsdirektorialgesandter in Regensburg, verfügte also über hervorragende Kontakte zum Wiener Hof, die dem Bruder zweifellos zur Präsentation verhalfen; s. ausführlicher mit Belegen Biogr. 53 (K.H. Jodoci). - Auch der in Schwaben geborene und aufgewachsene (Mechensee, Salem) sowie an der Universität Innsbruck ausgebildete, dann aber in den hessen-rheinfelsischen Kleinterritorien bedienstete Kaspar Anton v. Albini, der sich in seiner Bewerbung um die kath. Schwäb. Kreis-Präsentation ausdrücklich als ein in der Kreisverfassung bewandertes Landeskind ausgab, verdankte seine Präsentation primär seiner einflußreichen schwäbischen Verwandtschaft, nicht schon der 'richtigen' Lage seines Geburts- und Heimatorts. Über Kaspar Anton v. Albini s. schon oben Kap.III.l.l. mit Anm.58 u. 59; s. außerdem mit weiteren Belegen seine Biogr. 95; weitere exemplarische Fälle: Biogr. 57 (Hauer); Biogr. 97 (Fugger).
III.1.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
381
oder 2., sondern vielmehr der 4. Kategorie zugeschlagen hätte, würde sich die Relation zwischen den ersten beiden und den letzten beiden Kategorien von 3 : 1 allerhöchstens auf 2 : 1 korrigieren. Angesichts dieses Resultats hält die oben zitierte Behauptung Johann Jakob Masers aus dem Jahre 1733, bei den Präsentationen werde nicht auf die Befolgung des Herkunftsprinzips gesehen, der Realität nicht stand77 . Auch Balemanns 1778 niedergeschriebene Einschätzung, die von der Kameralverfassung geforderte Qualität- Herkunft aus dem Reichskreis des Präsentanten- werde "gar oft umgangen" 78 , relativiert sich angesichts der aus den biographischen Fakten errechneten Proportionen doch ganz erheblich, denn im Untersuchungszeitraum trifft sie nur für ein gutes Viertel (Kategorie 3 und 4 = 27,4 %), unter Berücksichtigung der erwähnten Zuordnungsprobleme nur für allerhöchstens ein Drittel zu. Allerdings ist zu vermuten, daß Paralleluntersuchungen juristenärmerer Epochen wie der Gründungs- und Aufbauphase oder der Kriegs- und Nachkriegszeiten vor und nach 1648 zu ungünstigeren Ergebnissen führen würden als die hier vorgenommene Herkunftsanalyse der eher durch einen Juristenüberfluß charakterisierten Spätzeit. Deren Werte machen jedenfalls plausibel, warum sich das Kameralkollegium im 18. Jahrhundert nicht an die Anweisung des Visitationsabschieds von 1713 (§ 15) hielt, anläßlich der fälligen Wiederbesetzung eines Assessorats den präsentierenden Stand dazu aufzufordern, daß "an des abgangenen Beysitzers statt ein anderer, so nebst den gemeinen Rechtten auch desselben Landes Gebräuchen und guten Gewohnheiten erfahren, dafern es thunlich, praesentirt werden möge" 79 • Das durchschnittliche Rekrutierungsverhalten der Präsentanten entsprach dem normativen Herkunftsprinzip vom Ergebnis her in fast Dreiviertel (Kategorie 1 und 2 = 72,6% ), mindestens aber in Zweidrittel aller Fälle in so idealer Weise oder doch so weitgehend, daß das Präsentationssystem die ihm zugedachte Aufgabe eines Steuerungsinstruments fiir die geographische Herkunft der Assessoren in dieser Zeit ganz offensichtlich auch ohne ständige Ermahnung seitens des Gerichts erfiillte. Nach den Gründen wird noch zu fragen sem. Was dagegen das normwidrige Rekrutierungsverhalten betrifft, das ein Fünftel (28 = 20,7 %, Kategorie 4) bzw. unter Einbeziehung von Kategorie 3 (9 = 6,7 %), also nach ganz strengen Maßstäben, ein gutes Viertel (37 = 27,4 %) bis allerhöchstens ein Drittel aller Fälle ausmachte, so war dem Kameralkollegium vermutlich nur zu sehr bewußt, daß selbst ein ständiger Verweis auf die Einhal77 MOSER, Tractat, in: ders., Vermischte Schrifften, S.311; das vollständige Zitat s.o. Kap.III.1.1. mit Anm.62. 78
BALEMANN, Beiträge, S.240.
79
Vis.A. 1713 § 15 (CJC, S.966).
382
III.l. Geographische Herkunft
tung des Herkunftsprinzips diese Quote nicht wesentlich verringert hätte. Zum einen rechnete sich das Gericht wohl keinerlei Chancen dafiir aus, bei den Präsentationshöfenauf Verständnis zu stoßen, wenn deren im übrigen voll qualifizierte Kandidaten nur wegen Nichtbeachtung der Rekrutierungsvorschriften zurückgewiesen worden wären. Schon in wirklich problematischen Präsentationsfällen, in denen die gesamte professionelle Eignung eines Präsentatus oder die Rechtsgrundlage seiner Präsentation grundsätzlich in Zweifel stand, hatte das Kameralkollegium in der Spätphase des Reiches ja Mühe genug, sein Prüfungsund Rejektionsrecht gegenüber dem weitausgelegten Präsentationsrecht vor allem der größeren Reichsstände zu behaupten. Auch hatte die von den Ständen selbst beschickte vorletzte außerordentliche Visitation des RKG in ihrem Abschied von 1713 (§ 15) dem Postulat, daß die Präsentierten neben dem romanistischen ius commune auch Kenntnis von den Sonderrechten und Gewohnheiten des präsentierenden Standes oder Kreises besitzen sollten, durch den Einschub "dafern es thunlich" selbst die absolute Verbindlichkeit genommen. Zum anderen waren den Mitgliedern des Kameralkollegiums aus eigener Kenntnis und Erfahrung nur zu sehr die Motive bekannt, warum ein Präsentationshof bei der Rekrutierung eines Kandidaten das Herkunftsprinzip ignorierte - Mechanismen, gegen deren Wirken auch das Kameralkollegium machtlos war. Solche Motive und Mechanismen, die den Rekrutierungsentscheidungen der Kategorie 3 und 4 zugrunde lagen, sollen im folgenden untersucht werden. Betrachtet man die 28 Rekrutierungsentscheidungen, die in die Kategorie 4 mit dem Grad der größten räumlich-qualitativen Distanz zum Präsentanten eingeordnet wurden (s. Tabelle 2), dann fällt zunächst ein kleiner Teil von Fällen auf, in denen die Präsentanten oder Nominanten mindermächtige Reichsstände gewesen waren. Sie hatten im Rahmen einer kuriaten Kreispräsentation turnusmäßig ihr Nominations- oder Präsentationsrecht ausgeübt und dabei auf einen kreisfremden Juristen zurückgegriffen. Es liegt nahe, daß in solchen Klein- und Kleinstterritorien die eigenen Regierungsbehörden ein zu geringes Rekrutierungspotential darstellten. Um so größere Chancen hatten auswärtige Aspiranten, die sich gleichsam als freischwebende Rekrutierungsmasse fast immer im Kreis der Bewerber um eine neu zu vergebende Präsentation finden. Ein gutes Beispiel fiir den geschilderten Sachverhalt sind die Grafenhäuser des Obersächsischen Kreises sowie die im selben Kreis präsentationsberechtigten anhaltischen Fürstentümer, die im Untersuchungszeitraum niemals einen "Circularis" rekrutierten80 • Auswärtige Juristen hatten auch dann bessere Chancen, wenn ein 80 In Kategorie 4 eingeordnet: Gatzert (Biogr. 116) u. K.F.F. Neurath (Biogr. 118), beide präsentiert von den obersächsischen Grafen; Eckbrecht v. Dürckheim (Biogr. 112), präsentiert vom Haus Anhalt; Eckbrecht v. Dürckheims angebliche Stellung zur Zeit seiner Präsentation als Hof- und Regierungsrat von Anhalt-Köthen war bloßes Etikett. In Kategorie 3 nur ein-
III.1.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
383
Präsentationshof wenig Interesse an der Entsendung eigener Räte hatte und wenn der Bewerbungsdruck aus der landeseigenen Beamtenschaft gering war81 . Dominierend ist in Kategorie 4 jedoch ein anderer Rekrutierungstyp. Es handelt sich um 15-20 Fälle, in denen mächtigere Präsentanten mit umfangreichem eigenem Beamtenapparat einen nach Geburt und Vorkarriere völlig land- und kreisfremden Juristen präsentierten, der bei zumeist zweifelsfreiem Berufsprofil seine Präsentation primär äußerst einflußreichen, grenzüberschreitenden Beziehungen verdankte 82 . Das Präsentationssystem war naturgemäß höchst anfällig für Beziehungen und Empfehlungen. Die Fähigkeit, das Funktionieren von Beziehungsnetzen zu durchschauen, karriereträchtige Verbindungen anzuknüpfen und nutzbar zu machen, war daher neben der beruflichen Qualifikation der wichtigste Bestandteil jener aus professionellen, sozialen und materiellen Anstrengungen zusammengesetzten 'Zugangsmobilität', die den Weg auf einen Richtersessel im Kameralkollegium ebnete83 • Ohne damit irgend etwas über die Amtseignung der Betreffenden auszusagen, ist festzuhalten, daß es im engeren Untersuchungszeitraum 1740-1806 nur wenige Assessoren und sonstige Präsentierte gab, bei denen die Haupttypen sozialer Beziehungen, vor allem Verwandtschaft und Patronage, nicht irgendeine Rolle für die Karriere und besonders für die Erlangung der Präsentation gespielt hätten. Zur besseren Einbettung der folgenden Interpretation ist darauf hinzuweisen, daß Rekrutierungsentscheidungen, bei denen Beziehungen irgendeine Rolle spielten, in allen vier Kategorien zu finden sind, wie schon die für die 3. Kategorie angeführten Beispielsfälle zeigen. Charakteristisch für die Mehrheit der in Kategorie 4 eingestuften Rekrutierungsentscheidungen ist nun aber, daß hier neben der vermuteten Amtseignung ausschließlich potente Beziehungen, und zwar geordnet, weil sie zeitweise im Obersächsischen Kreis (Jena) studiert hatten, sonst nach Geburt und Vorkarriere völlig kreisfremd: König (Biogr. 113) und Preuschen (Biogr. 114), beide präsentiert vom Haus Anhalt; Donauer (Biogr. 115), präsentiert von Kursachsen wegen Querfurt. An sich hätte auch Balemann (Biogr. 128), der im Rahmen der evangelischen alternierenden Kreispräsentation von den drei obersächsischen Stiften Quedlinburg, Walkenried und Gernrode (=Haus Anhalt) präsentiert worden war, der Kategorie 4 zugewiesen werden müssen, wenn er nicht in der Wartezeit zwischen Rezeptibilitätserklärung und Einberufung noch in die Dienste eines seiner Mitpräsentanten, des Fürstentums Anhalt-Bernburg, übernommen worden und dadurch noch unter Kategorie 1 gefallen wäre. 81 Vgl. im folgenden Kapitel III.l.2.2. über Einzugsbereich und Rekrutierungsmuster einzelner Präsentationen die Herkunftsanalysen flir Brandenburg-Preußen und Österreich (Kap. III.l.2.2.2. u. III.l.2.2.3.).
82 Beispiele
flir die Wirksamkeit von Beziehungen in den Biographien der hier untersuchten 128 Assessoren und sonstigen Präsentierten s.u. Kap.III.3.5. 83 Zu den verschiedenen Aspekten dieser Zugangsmobilität s.u. Kap.III.3.; auch schon S. JAHNS, Der Aufstieg in die juristische Funktionselite des Alten Reiches, in: W. Schulze (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, München 1988, S.353-387.
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III.l. Geographische Herkunft
solche von großer geographischer und sozialer Reichweite, der Motor für das Zustandekommen der Präsentation gewesen waren. Alle anderen Faktoren, die den Bewerber in irgendeine räumlich-qualitative Nähe zur Person, zum Land sowie zum Kreis des Präsentanten brachten und die in den Fällen der anderen Kategorien (vor allem 1 und 2) das Rekrutierungsverhalten maßgeblich steuerten, fielen bei Kategorie 4 weg. Da die betreffenden Juristen sich weder als Landeskind noch als Beamter des Präsentanten (Nominanten) oder eines Kreismitstands darstellen konnten, da sie folglich von den im Territorium und Kreis des Präsentanten geltenden Partikularrechten sowie von der betreffenden Kreisverfassung kein Wissen mitbrachten und dem Präsentanten sowie seiner Regierung persönlich unbekannt waren, mußten die Beziehungen, der sie ihre Präsentation verdankten, von geradezu kompensatorischer Kraft sein. Diese Aussage ist nicht übertrieben, wenn man berücksichtigt, wie chancenlos im Fall von Compräsentationen in der Regel die land- und kreisfremden Aspiranten gegenüber den mit ihnen konkurrierenden "Circulares" waren. Einige Beispiele sollen diese aus vielen Einzelfallen gewonnene Abstraktion mit Leben fiillen: Ein Meister seines Faches war der aus Koblenz stammende kurtrierische Hofund Revisionsrat Karl Kaspar Hertwich, der kurzzeitig auch der letzten RKGVisitation als Subdelegierter zunächst der Niederrheinisch-Westfalischen, dann der Schwäbischen Reichsgrafen angehört hatte. Er war der Schwiegersohn eines kurtrierischen Hofkanzlers und Schwager eines Reichshofrats (Münch v. Bellinghausen). Um von den katholischen Ständen des Schwäbischen Kreises eine Präsentation zu erlangen, verstand es Hertwich 1776, zwischen Koblenz und Wien ein mehrere Reichskreise überspannendes und äußerst vielgliedriges Netz von dienstlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen zu knüpfen, das auch allerhöchste Regierungskreise in Wien bis hin zur Kaiserin einbezog84 • Dank dieses ganzen Protektionssystems, in dem die Namen Mettemich, Colloredo, Kaunitz-Rietberg, Leykam und Münch v. Hellinghausen eine zentrale Rolle spielten, wurde Maria Theresia als Mitvotantin im Schwäbischen Kreis fiir Hertwichs Kandidatur gewonnen. Das wiederum fiihrte im Sinne einer Kettenreaktion dazu, daß sich auch die kaiserliche Klientel in Schwaben, allen voran die Reichsprälaten, im Wetteifer um die allerhöchste Gunst hinter Hertwich stellte. Gegenüber diesem Protektionsdruck hatte die Bewerbung der übrigen Aspiranten, obwohl im Schwäbischen Kreis teils geboren, teils bedienstet, keinerlei Erfolgsaussichten. Dabei waren gerade die Schwäbischen Kreisstände, wie die im vorigen Kapitel III.1.1. zitierten Aussagen zeigen, sonst sehr auf die Präsentation kreiseigener Juristen bedacht.
84 Dazu
ausführlicher mit Nachweisen Biogr. 98 (Hertwich).
III.l.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
385
Das Beziehungsnetz konnte jedoch auch sehr viel einfacher strukturiert sein, um einem land- und kreisfremden Aspiranten zu einer Präsentation zu verhelfen. Häufig erreichten 'Ausländer' ihr Ziel mittels einer Empfehlung ihres Dienstherrn, der zugleich ein bedeutender Reichsstand war, oder eines anderen einflußreichen Gönners - eine Empfehlung, die der Präsentationshof schwerlich übergehen konnte, besonders wenn er sich seinerseits fur seine Gefälligkeit eine zukünftige Gegenleistung seitens des Protektors versprach. Vor allem kurmainzische Räte, die mit einer solchen Unterstützung ihres Dienstherrn zugleich das ganze Gewicht der erzkanzlerischen Stellung im Reich auf die Waage brachten, erzielten auf diese Weise leicht den erhofften, Kreisgrenzen überschreitenden Bewerbungserfolg85 • In anderen Fällen der Kategorie 4 verdankte ein kreisfremder Jurist seine Präsentation nachweislich oder höchstwahrscheinlich einem V erwandten, der dank seiner Stellung Einfluß am weit entfernten Präsentationshof besaß: so der vom Wiener Hof zum kurböhmischen Assessor präsentierte Mainzer Kutschersohn und furstbischöflich paderbomische Hoftat Leykam, Schwiegersohn eines aus Paderbom stammenden Reichshofrats; oder der in Warburg geborene kurmainzische Hof-, Regierungs- und Revisionsrat Tönnemann, der 1740 im Wettbewerb mit mehreren Konkurrenten von Karl VI. zum kaiserlichen RKG-Assessor präsentiert wurde. Tönnemanns Onkel (t 1740), ein Jesuitenpater, war 34 Jahre lang Beichtvater dieses Kaisers gewesen86 . Solche Verflechtungen dienstlicher und verwandtschaftlicher Art wurden natürlich in den offiziellen Präsentationskorrespondenzen nur selten aktenkundig. Sie zeigen, wie notwendig biographische Kleinarbeit ist, um gerade auch im Falle kreisfremder Juristen den Hintergrund einer Präsentation zu erhellen. Die Mitglieder des Kameralkollegiums, selbst eingebunden in die altständische Gesellschaft und mit deren Spielregeln bestens vertraut, wußten jedoch nur allzu85 Vgl. zum Beispiel Biogr. 20 (Linden); Biogr. 36 (Dalwigk); Biogr. 59 (Ph.K. Deel), alle vom Dienstherrn Kurmainz empfohlen; im Falle Lindens war der kurmainzische Hofkanzler und frühere RKG-Assessor Franz Joseph Frh. v. Albini der eigentliche Protektor. J.Chr. Schmitz (Biogr. 77) verdankte seine Präsentation zum Bayer. Kreis-Assessor 1729 ebenfalls einer Empfehlung des Kurfürsten von Mainz (Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg), der in seiner bisherigen Eigenschaft als Kurfürst von Trier sein langjähriger Dienstherr gewesen war und Schmitz kurz nach seinem Wechsel vomTriererauf den Mainzer Erzstuhl 1729 den Titeleines kurmainzischen wirklichen Geheimen Rats ohne Funktion und Besoldung verlieh. Weitere Parallelbeispiele: Biogr. 23 (Ph.H. Reuss); Biogr. 82 (Dünwaldt); auch Biogr. 84 (Waidenfels).- Der im bambergischen Pattenstein geborene fstbfl. bambergische Geheime Rat und Referendar Franz Rudolf Degen verdankte seine Präsentation zum kurtrierischen Assessor 1752 zweifellos der Tatsache, daß der damalige Trierer Kurfürst Franz Georg Graf Schönborn ein jüngerer Bruder von Degens langjährigem Dienstherrn, dem 1746 verstorbenen Fürstbischof von Bamberg und Würzburg sowie früheren Reichsvizekanzler Friedrich Karl Grafen Schönbom, war; s. Biogr. 9 (Degen). 86 S. Biogr. 19 (Leykam); Biogr. 50 (Tönnemann); vgl. auch Biogr. 58 (Papius); Biogr. 67 (Chr. Ulmenstein); Biogr. 109 (K.G. Riedesel); Biogr. 122 (K.F.R. Gemmingen) u.a.
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III.l. Geographische Herkunft
gut, durch welche Mechanismen solche reinen 'Beziehungs-Präsentationen' zustande kamen. Dies zeigt ein scharfsinniges Votum des kursächsischen Assessors Schwarzenfels aus dem Jahre 1750 besonders deutlich. Damals mußte sich das Kameralkollegium mit den Prüfungsverfahren zweier Brüder Borie (Beaurieux) befassen, die Söhne des damals noch amtierenden, wenn auch schwerkranken kurmainzischen Assessors Beaurieux waren. Bei dem 1749 von Kurbayern- auf Grund eines angeblichen Versprechens des verstorbenen wittelsbachischen Kaisers Karls VII. - präsentierten jüngeren Bruder handelte es sich um den fürstbischöflich WÜrzburgischen Geheimen Rat und Referendar Aegidius Valentin Felix v. Borie, der damals vorübergehend auch kurtriedscher Hofund Regierungsrat war. Auf Grund dieser Doppelstellung hatte er Gelegenheit, 1750 mittels einer Empfehlung des Fürstbischofs von Würzburg an Kurtrier die kurtrierische Präsentation seinem älteren Bruder zu verschaffen, der damals im kurpfälzischen Fürstentum Pfalz-Neuburg bedienstet war. Diese "gens Borriana" und andere problematische Präsentationsfälle der jüngsten Zeit, so die Klage des Assessors Schwarzenfels, erweckten den Eindruck, als ob "bey so geringer Anzahl der Beysitzer summi huius Judicii und bey so großer Menge in studiis versirter, erfahrener redlicher Subjectorum, quibus abundat Germania nostra", keine Personen ausfindig zu machen seien, denen ohne zeitraubende unangenehme Vorberatungen ein rascher Zugang zum Assessorat gewährt werden könne. Die Ursachenanalyse lieferte Schwarzenfels in seinem Votum gleich mit. Der Grund für diesen Mißstand liege größtenteils darin, "daß viele hohe Praesentantes die Candidatos Assessoratus nicht ex gremio ihrer Bedienten, von deren Geschicklichkeit, Erfahrung und Dexteritaet sie ex propria scientia überzeugt seyn können, oder nach weiser Vorschrift der Reichsgesetze ex sua provincia vel ex suo circulo zu denominiren geruhen, hingegen fremde Subjectas ad commendationem auswärtiger Höfe und derer daselbst potenter Ministres, auch wohl anderer nützlich erachtender Männer, in Erwartung dargegen zu erlangender anderweiter Convenientz, mit sothanen Praesentationen zu begnadigen pflegen" 87 • Schwarzenfels' Kritik an solchen Rekrutierungsentscheidungen zugunsten auswärtiger Juristen belegt auch, daß man in der Spätzeit des Reiches dem Herkunftsprinzip und damit dem Präsentationssystem noch eine andere, eine soziale Steuerungsfunktion zuschrieb. Der Kameralnorm entsprechend sollten die Kandidaten nicht nur deshalb möglichst aus dem Land oder Kreis des Präsentanten genommen werden, um die Partikularrechte der verschiedenen Reichsregionen besser in der Kameraljudikatur berücksichtigen zu können. Das Herkunftsprinzip mit seiner intendierten reichsweiten Streuung der Geburts- und Dienstorte 87 Votum Schwarzenfels 23.10.1750, in: RKG IV B 2111 neufol.206-211 (Zitat ebd., neufol.206r/v); "gens Borriana": ebd., neufol.207r; s. auch Biogr. 8 (J.G.J. Borit!); Biogr. 22 (Ä.V.F. Borie).
III.l.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
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sollte auch der Häufung von Verwandtschaftsbeziehungen im Kameralkollegium einen Riegel vorschieben - angesichts des damals immer akuter werdenden Sippschaftsproblems eine verständliche Zusatzinterpretation. Sie findet sich knapp drei Jahrzehnte später auch im Verfassungskommentar des bereits mehrfach zitierten späteren RKG-Assessors Balemann. Durch Besetzung des Kameralkollegiums mit Personen aus allen Reichskreisen werde, so Balemann umständlich, "auch die Vervielfältigung der Gelegenheit der Verbindungen Kammergerichtlicher Mitglieder unter einander verhütet, welche alsdenn entstehen kann, wenn gar zu viele Personen aus einerley Gegend bei dem Gericht angestellt sind" 88 • Die kreisübergreifende Macht von Beziehungen und Empfehlungen war allerdings, wie das Beispiel der "gens Borriana" zeigt, im Einzelfall so groß, daß das Herkunftsprinzip seine ihm im 18. Jahrhundert zusätzlich aninterpretierte soziale Funktion nicht durchweg erfüllen konnte. Daran waren auch die Mitglieder des Kameralkollegiums selbst im Interesse der Nachwuchsversorgung nicht unschuldig. Unter den 28 Rekrutierungsentscheidungen der Kategorie 4 befinden sich mehrere Fälle, in denen völlig land- und kreisfremde Juristen deshalb eine Präsentation erhielten, weil sie dem betreffenden Präsentationshof durch ihren Vater, einen amtierenden RKG-Assessor oder Kammerrichter, empfohlen worden waren89 • Solches Verhalten liefert ein weiteres Motiv dafür, warum das Kameralkollegium nicht strikt in jedem einzelnen Präsentationsfall auf der Einhaltung des Herkunftsprinzips bestand, hätte doch auch mancher Sohn eines Kammerrichters, Präsidenten oder Assessors das Opfer solchen Diensteifers werden können. Der hier beschrittene methodische Weg, zunächst für die 37 Rekrutierungsentscheidungen der Kategorie 3 und 4 auf Motivsuche zu gehen, hat den Blick dafür geschärft, daß bei der Interpretation der in Kategorie 1 und 2 eingeordneten 98 Fälle (78 + 20) große Vorsicht geboten ist. Zwar zeigen die oben referierten Gesamtwerte, die nach Ausweis von Tabelle 2 (S.375) für diese ersten beiden Kategorien ermittelt wurden, daß die Präsentationshöfe im engeren Untersuchungszeitraum vom Ergebnis her in fast Dreiviertel (72,6% ), mindestens aber Zweidrittel ihrer 135 Rekrutierungsentscheidungen das Herkunftsprinzip beachtet hatten. Jedoch muß man sich davor hüten, dieses regelkonforme Verhalten so zu deuten, als ob sich die Präsentanten bei ihrer Kandidatenauswahl ausschließlich und bewußt nur von jenem Motiv hätten leiten lassen, das auch der Kameralnorm zugrunde lag: Präsentation eines Juristen, der sich im doppelten Interesse von Gericht und Präsentationshof in den Partikularrechten sowie der sonsti88 89
BALEMANN, Beiträge, 8.240.
S. Biogr. 74 (Ph.E. Reuss); Biogr. 85 (J.Ph. Spaur); Biogr. 118 (K.F.F. Neurath); vgl. Biogr. 58 (Papius).
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III.l. Geographische Herkunft
gen Verfaßtheit des präsentierenden Landes und Kreises auskannte. Das kollektive Rekrutierungsverhalten von Kaiser, Kurfürsten und Reichskreisen stellt ein derart komplexes Phänomen dar, daß monokausale Erklärungen bei der Frage nach den Auswahlkriterien auf jeden Fall vermieden werden müssen. Sowohl im Rahmen der Grundgesamtheit (135) als auch im kleineren Rahmen sämtlicher von einem bestimmten Präsentanten im Untersuchungszeitraum getroffenen Rekrutierungsentscheidungen spielte ein ganzes Mosaik von Auswahlmotiven eine Rolle, das in jedem einzelnen Präsentationsfall wieder neu zusammengesetzt war. Je nachdem, ob ein Präsentant und die maßgeblichen Regierungskreise längerfristige Auswahlinteressen verfolgten oder nicht, konnte jahrzehntelang Diffusität oder aber Kontinuität das Muster einer Kur- oder Kreispräsentation bestimmen. Ein gutes Beispiel hierfür liefern die kursächsischen Präsentationen, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts den Eindruck von Planlosigkeit hinterlassen. Im ganzen 18. Jahrhundert jedoch sind sie von großer geographisch-sozialer Homogenität. Entsprechende Muster und Strukturveränderungen lassen sich auch für die Präsentationshandlungen der anderen Berechtigten nachzeichnen, vor allem wenn man über den engeren Untersuchungszeitraum hinaus das gesamte 18. Jahrhundert und die Zeit seit dem Westfälischen Frieden miteinbezieht90. Die Faktoren, die das Muster einer bestimmten Kur- oder Kreispräsentation über Jahrzehnte hinweg in wechselnder Zusammensetzung und Intensität prägten und eventuell auch die einzelne Rekrutierungsentscheidung präjudizierten, sind für jede virile oder kuriate Präsentationsbefugnis an Hand des biographischen Befundes, aktenkundig gewordener Bewerbungs- und Auswahlvorgänge und der dabei mitspielenden Auswahlgründe sowie der 'objektiven' Interessenlage eines Territoriums jeweils neu zu ermitteln und zu beschreiben91 . Die geographische Herkunft eines einzelnen Präsentatus, der für einen längeren Zeitraum abzusteckende Rekrutierungsraum einer bestimmten Kur- oder Kreispräsentation sind nur eine Dimension des Gesamtmusters, eine Dimension allerdings, die auch Zugang zu den sozialen, politischen, jurisdiktioneilen und professionellen Aspekten eröffnet. In diesen größeren Zusammenhang sind auch die 98 (78 + 20) der insgesamt 135 Rekrutierungsentscheidungen zu stellen, die im engeren Untersuchungszeitraum in die ersten beiden Kategorien mit dem Grad optimaler bzw. großer Nähe zum Kreis des Präsentanten fielen (s. Tabelle 2). Das Motivbündel, das diesen Entscheidungen zugrunde lag, soll im folgenden etwas genauer analysiert wer90 S. das folgende Kapitel III.1.2.2. über geographischen Einzugsbereich und Rekrutie-
rungsmuster einiger ausgewählter Präsentationen.
91 Für die sämtlichen von Brandenburg-Preußen wegen der Kur oder im Rahmen von Kreispräsentationen zwischen 1648 und 1806 getroffenen Rekrutierungsentscheidungen wurde dies bereits durchgeführt von JAHNS, Brandenburg-Preußen; s. dazu auch Kap.III.l.2.2.2.
III.1.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
3 89
den. Wahrscheinlich spielte der Wunsch, sich bei der Kandidatenauswahl im eigenen und im Gerichtsinteresse regelkonform zu verhalten und über den eigenen Präsentatus Kenntnisse der Partikularrechte, Gewohnheiten und der gesamten Verfaßtheit der eigenen Region in die Judikatur des Kameralkollegiums einzubringen, in diesen beiden Kategorien aufs Ganze gesehen eine beträchtliche Rolle. Jedoch dominierte dieses Motiv als längerfristiges Auswahlkriterium einmal mehr, einmal weniger. Andere Rekrutierungsgründe traten verstärkend und überlagernd hinzu, die ebenfalls letztlich zum selben Ergebnis, der Befolgung des Herkunftsprinzips, führten. Schon das rein prozessuale Interesse an der Beachtung dieser normativen Vorgabe war von Reichsstand zu Reichsstand, von Reichskreis zu Reichskreis vermutlich recht unterschiedlich, je nach dem Ausmaß an Rechtseinheit oder Rechtszersplitterung und je nach dem Grad an Appellationsbefreiung, den ein Territorium genoß. Bekanntlich waren im 18. Jahrhundert weite Regionen des Reiches der Appellationszuständigkeit von RKG und RHR durch weitgehende oder unbeschränkte Appellationsprivilegien entzogen92. Jedoch war zum einen die Kompetenz beider Gerichte in erstinstanzliehen Prozessen, in denen Landesherren als Kläger oder Beklagte Partei waren, oder in Fällen von Rechtsverweigerung und -Verzögerung sowie Nullität weiterhin gegeben. Zum anderen konntentrotzbeschränkter oder illimitierter Appellationsprivilegien dennoch immer wieder Berufungen aus dem betreffenden Territorium nach Wien oder Wetzlar gelangen. Auch fiir solche Fälle von Privilegienverletzung oder strittiger Zuständigkeit mußte den Präsentanten daran gelegen sein, Juristen auf 'ihr' Assessorat zu entsenden, die im Wissen um die Rechtslage unzulässige Berufungen als solche erkannten und abwehrten. Dieses Motiv ist immer mitzudenken, wenn sich Kurfiirsten oder andere hochprivilegierte Reichsstände wie Württemberg von 'ihrem' Präsentatus und zukünftigen Assessor in ihren eigenen Prozeßangelegenheiten und denen ihres Territoriums "sorgfältige Justiz", nämlich die Wahrung der Rechte, Prärogativen und Privilegien ihres Hauses und Landes erwarteten93 , wenn der jeweilige Österreichische 92 Zur Appellationszuständigkeit von RKG und RHR und ihrer zunehmenden Beschneidung in der Spätzeit s. schon oben Kap.II.l.3. und II.l.4. mit Literaturnachweisen, vor allem WEITZEL, Kampf; EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia de non appellando.
93 Erwartung "in meiner Ertz- und Stifter vorfallenden Angelegenheiten sorgfaltiger Justiz": Kf. Lothar Franz von Mainz an den von ihm als Fürstbischof von Bamberg zum kath. Fränk. Kreis-Assessor präsentierten und mitnominierten, nunmehr vom RKG einberufenen Philipp Friedrich Dresanus, Mainz, 14.3.1713, Konz.: HHStAW, MEKA-RKGA 89 (in Akte Geismar); vgl. Christoph Gottfried v. Geismar (neuer kurmainz. Präsentatus) an Kf. Lothar Franz von Mainz, Eichstätt, 21.4.1707, Or.: ebd. (Geismar); Johann Franz Aegidius v. Beaurieux (einberufener kurmainz. Präsentatus) an dens., Stockach, 15.12.1728, Or.: ebd. (Beaurieux); Kf. Lothar Franz von Mainz an Beaurieux, Mainz, 24.12.1728, Konz.: ebd.- Württemberg: Gutachten hzgl. württembergischer Räte für Hzg. Eberhard III. betr. die ev. Schwäb. Kreis-Präsentation, 16.6.1654, Or.: HStA Stuttg., C 10 Bü. 189, Konv. 1652-1656, m.12. Die
390
III.1. Geographische Herkunft
Kreis-Assessor die Rechte und Privilegien des Erzhauses, also vor allem die Exemtion Österreichs von der Reichsgerichtsbarkeit94 , behaupten und wenn der kaiserliche Assessor die kaiserlichen Rechte verteidigen sollte95 . Diese Erwartungshaltung macht auch plausibel, daß nicht nur das tatsächliche Prozeßaufkommen an erstinstanzlichen, Appellations- und sonstigen Streitsachen, die aus einem Territorium oder Kreis an das RKG gelangten, sondern allein schon die Möglichkeit zukünftiger Prozesse einen Präsentationshof dazu bestimmen konnten, sich bei der Auswahl seines Kandidaten am Herkunftsprinzip zu orientieren. Es muß der rechtshistorischen Forschung überlassen bleiben zu überprüfen, wieweit sich diejenigen Regionen, aus denen sich nach ihren Dienstorten viele oder wenige RKG-Beisitzer rekrutierten, mit den Gebieten höheren oder geringeren tatsächlichen Prozeßaufkommens deckten oder nicht96 . Der Wunsch, über den eigenen Präsentierten gegebenfalls im durchaus richterlich-legalen Sinne prozessuale Eigeninteressen vertreten zu wissen- von der Räte brachten darin für die herzogliche Nomination ein Landeskind in Vorschlag, nämlich den in Tübingen geborenen, an der dortigen Universität ausgebildeten und derzeit dort als Hofgerichtsassessor tätigen Dr. David Beyer, damit der Herzog "auch ein aigenen Mann an der kay. Cammer habe, der im Landt gesessen, des Landes Zuestandt und dero Herzogthumb privilegia vor ander waist, also in Euer Fürstl. Gn. obhabenden vihlen Cameralischen Processen verhoffentlich in vihlem nützlich und dienlich sein kan"; vgl. ebd., nr.38, die Relation des hzgl. württembergischen Rats Zeller vom 24.3.1655 über die Verhandlung mit Beyer, dem die Absicht des Herzogs, ihn zum ev. Schwäb. Kreis-Assessor zu nominieren und zu präsentieren, unterbreitet wurde. Für den Fall seiner Rezeption zum RKG-Beisitzer erwarte der Herzog von Beyer, sowohl des ganzen Reiches als speziell auch dieses Schwäbischen Kreises und der evangelischen Kreisstände, "sonderheitlich aber E. Fr. Gnd. habende iura, privilegia, immuniteten undt Herkommenheiten in guter Obacht zu halten". Genauso argumentierten die hzgl. Oberräte anläßlich der nach dem Tod des RKG-Assessors Beyer (t 1668) fallig gewordenen Wiederbesetzung des ev. Schwäb. Kreis-Assessorats, s. ebd., C 10 Bü. 189, Konv. 1668-1671, nr.2 (13.10.1668) u. nr.6 (15.3.1669). Die Räte begründeten ihre Empfehlung, für die herzogliche Nomination einen Juristen aus dem Kreis der württembergischen gelehrten Räte zu nehmen, ganz unverhohlen damit, daß "dehnen dieses Landes Herkommenheit wohl bekandt und man auch etlicher maßen einer immerwehrender devotionsich von ihnen versichert halten kan, sonderlich in Beobachtung des Fürstl. interesse bey Processen und dergleichen Angelegenheiten" (Zitat ebd., nr.6). 94 Ks. Karl VI. an den Österr. Kreis-Assessor Karl Heinrich Edlen v. Jodoci, Wien, 31.10.1722, Konz.: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. ad 335. 95 V gl. als ein Beispiel den Briefwechsel zwischen dem kaiserlichen Assessor Tönnemann und dem Reichsvizekanzler vom Frühjahr 1753, in: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 339a; ebenso den Briefwechsel zwischen dem kaiserlichen Assessor Maurer und dem Reichsvizekanzler aus den achtziger Jahren, bes. Maurers Schreiben d.d. Wetzlar, 29.9.1783, in: ebd., RKG-Visit.A. 38lb; vgl. auch das Schreiben des Kammerrichters Irrgelheim an den Reichsvizekanzler-Stellvertreter Grafen Metsch, Wetzlar, 30.11.1731, Or.: ebd., RKG-Visit.A. ad 335 (Akte Dresanus); Reichsvizekanzler Friedrich Karl Gf. Schönbom, Fstbf. von Würzburg, an dens., Würzburg, 20.1.1732, Or.: ebd., RKG-Visit.A. 338 (Dünwaldt). 96
Vgl. jetzt BAUMANN, Gesellschaft.
III.1.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
391
Berücksichtigung der ständischen, regionalen, lokalen Sonderrechte und Appellationsprivilegien in den eigenen sowie in den aus dem Territorium anhängigen Streitsachen bis hin zur Prozeßabwehr -, erweiterte sich naturgemäß mit fließenden Übergängen sehr leicht zu dem Motiv, in dem betreffenden Assessor eine Interessenvertretung im allerweitesten Sinne zu haben. Dies konnte ganz unabhängig von der eigentlichen rechtsprechenden Funktion des RKG sowohl in Präsentationsangelegenheiten als auch in konfessions- und reichspolitischen Kontroversen von Nutzen sein. Die bereits geschilderte Auseinandersetzung um die konfessionelle Parität im Kameralkollegium in den Jahrzehnten nach dem Westfälischen Frieden97 oder die im Zeichen des österreich-preußischen Gegensatzes stehende Fürstenbundszeit in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, die auch die Atmosphäre im Kameralkollegium vergiftete98 , sind für solche Zusammenhänge ein gutes Beispiel. Es handelte sich um den Bereich, in dem der verbotene Repräsentationsgeist der RKG-Beisitzer besonders virulent war. In der Spätphase des Reiches, als die größeren Territorien unter dem Dach des Reichsverbands de facto bereits eine quasi eigenstaatliche Existenz ftihrten, galt diese Erwartungshaltung der mächtigeren Präsentanten gegenüber ihren Präsentierten in besonderem Maße - was wiederum mit einem entsprechenden, auch nach der Aufschwörung aufrechterhaltenen 'Angebot' der präsentierten Juristen korrespondierte. Es liegt auf der Hand, daß die geschilderte Interessenlage ein Rekrutierungsverhalten förderte, welches in der Regel zuallererst den eigenen Landeskindem und Räten zugute kam und folglich die Werte in Kategorie 1 und 2 (Tabelle 2) erhöhte99 • Damit korreliert auch eine andere Tatsache: Von den im engeren Untersuchungszeitraum 1740-1806 erfaßten 128 Juristen (135 Präsentationsfällen) insgesamt (früheste Präsentation 1710, letzte 1806) und ebenso von den 92 Assessoren (96 Präsentationsfällen) für sich genommen hatten jeweils ca. 61% einen Präsentanten oder (bei Kreispräsentationen) einen Nominanten bzw. Mitpräsentanten gehabt, der zur Zeit der Präsentation oder (seltener) in einem sonstigen Abschnitt der Vorkarriere zugleich ihr Dienstherr gewesen war, sei es in dem präsentationsberechtigten (Kur-)Fürstentum bzw. in dem nominierenden oder (mit)präsentierenden Kreisterritorium (drei Viertel der 61 %), sei es in einem 97
Dazu s.o. Kap.II.3.1.3.2.
Zu den Auswirkungen der Fürstenbundszeit auf die Atmosphäre im Kameralkollegium, besonders auf das Verhalten der von Preußen einerseits, Österreich andererseits präsentierten RKG-Assessoren, s. ausführlicher mit Belegen JAHNS, Brandenburg-Preußen, 8.197 ff. 98
99 Was das im engeren Sinne prozeßbedingte Interesse betraf, spiegelt es sich zum Beispiel in der Tatsache, daß Präsentierte nach eigener Aussage im Zuge ihrer bisherigen Ratskarriere die Prozesse ihres Dienstherrn und Präsentanten besorgt hatten.
392
III.l. Geographische Herkunft
damit durch dauernde oder zeitweilige Personalunion verbundenen Gebiet (ein Viertel). Zu solchen prozeßbedingten und weiteren Interessenlagen der Präsentanten kam in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus unabhängig davon noch ein anderes Motiv, das ebenfalls die geographische Rekrutierung der Präsentierten in Konformität mit dem Herkunftsprinzip steuerte. In der Spätphase des Reiches scheint sich in den größeren Flächenstaaten wie Österreich oder Bayern eine Tendenz angebahnt zu haben, den "Reichsdienst", hier also die Tätigkeit als RKG-Assessor, in einer beamtenrechtlich natürlich überhaupt nicht relevanten Weise zugleich als andere Form von "Staatsdienst" und damit in einem anderen Aggregatzustand als Fortsetzung der bisherigen Beamtentätigkeit im Territorium des Präsentanten zu verstehen. So hatte der aus Wien stammende Appellationsrat in Prag Theodor Karl de L'Eau, der 1759 zusammen mit fünf Nichtösterreichern um die kaiserliche RKG-Präsentation konkurrierte, in den Augen des Reichsvizekanzlers den Vorteil, in Österreich geboren zu sein und in k.k. Diensten zu stehen, "somit durch doppelte Verbindung mehrer fiir den allerhöchsten Dienst geeignet zu sein" 100 • Die kurbayerische Regierung, namentlich der wegen seiner Rechtskodifikationen berühmt gewordene Kanzler Kreittmayr, war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausdrücklich bestrebt, Landeskinder und landeseigene Räte zu präsentieren, obwohl das prozeßbedingte Eigeninteresse Bayerns an der Kameraljudikatur damals anscheinend nur noch gering war 101 • Die Abgrenzung solcher Auswahlmotive von der altbekannten Erwartung des Repräsentationsgeists ist nicht einfach, die Übergänge sind fließend. Dennoch kündigen sich bei genauer Beachtung der Untertöne in den Rekrutierungsvorstellungen der mächtigeren Präsentanten neue Tendenzen an. Sie signalisieren nicht so sehr handfeste Interessen gegenüber der Reichsge-
100 Referat des Reichsvizekanzlers Colloredo an Ks. Franz I., Wien, 10.9.1759, Konz. u. Or.: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 339b; s. auch Biogr. 51 (de L'Eau).- Über die Entwicklungen in Österreichs. ausführlicher das folgende Kapitel III.1.2.2.3. 101 Die Rekrutierung eines landeseigenen Rats spielte zum Beispiel als Auswahlmotiv eine zentrale Rolle anläßlich der dem Kurfürsten von Bayern zustehenden Wiederbesetzung des einen Bayer. Kreis-Assessorats 1758, s. HStA Mü., K. schw. 5656 fol.91-127; daraus wird referiert und zitiert in Biogr. 79 (Zillerberg), V mit Anm.7; ebenso anläßlich der Wiederbesetzung desselben kreisbayerischen Assessorais 1774/75, s. Kreittmayr an den kurbayerischen Geh. Rat Johann Georg v. Lori, München, 16.7.1774, Or.: ebd., K. schw. 5764 fol.33; dazu Biogr. 80 (Weinbach), V mit Anm.7. Vgl. auch anläßlich der Wiederbesetzung des kurbayerischen Assessorais 1777: Kf. Maximilian III. Joseph von Bayern an Kf. Clemens Wenzeslaus von Trier, München, 12.9.1777, Konz.: ebd., Personenselect 254 (Münch v. Bellinghausen); dazu Biogr. 11 (V mit Anm.6) des kurtrier. Präsentatus Münch v. Bellinghausen; s. auch die folgende Anm.l 02.
III.1.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
393
richtsbarkeit als das Entstehen einer neuen eigenstaatlichen ldentität 102 . Das Zeitalter der souveränen deutschen Einzelstaaten warf so auch bei der Besetzung der Assessorate in einzelnen Rekrutierungsentscheidungen seine Schatten voraus. Zu der hier aufgefacherten potentiellen Vielfalt an Eigeninteressen auf seiten der Präsentationshöfe kam ein ebenso breites Spektrum sozialer Gründe, die ergänzend oder dominierend ebenfalls dazu führten, daß die Rekrutierungsentscheidung in fast Dreiviertel bis mindestens Zweidrittel aller 135 Präsentationsfälle zugunsten der Kategorien 1 und 2, also zugunsten des Herkunftsprinzips, ausfiel. So konnte eine Präsentation nicht nur dazu verwendet werden, einen verdienten landeseigenen Rat für seine Mühen "mit dem digno praemio laboris, nemblich mit der Ehre" zu belohnen 103 . Diese Art der Belohnung kam häufig auch dem noch ganz meritenlosen Nachwuchs der eigenen Spitzenbeamten zugute. Als der Reichsvizekanzler dem Kaiser 1795 Argumente gegen einen landfremden Aspiranten auf die Burgundische Kreis-Präsentation vortrug, befürwortete er unter anderem die Vergabe einer habsburgischen Präsentation an solche Landeskinder, "deren Eltern und Voreltern sich bereits besondere Verdienste um den Staat und den allerhöchsten Dienst erworben haben" 104 • Diesem Auswahlkriterium hatte zum Beispiel ein gutes Jahrzehnt zuvor der junge Maximilian Freiherr v. Martini entsprochen, der seine ganze Karriere bis hin zum RKG-Assessor seinem berühmten Vater verdankte. Der Österreichische Rechtslehrer und Staatsmann Karl Anton Freiherr v. Martini (1726-1800) war einer der Hauptvertreter der katholischen Aufklärung im Theresianisch-Josephinischen Zeitalter. Er genoß das besondere Vertrauen Maria Theresias sowie ihrer Söhne Joseph II. und Leopold II. Letztere hatte er in Rechts- und Staatswissenschaften unterrichtet. Von diesem Vater frühzeitig zum Juristen getrimmt und in den Österreichischen Staatsdienst eingeführt, erhielt der junge Martini schon als 24jähriger eine Expektanz sowie wenige Monate später 1783 die Präsentation zum Assessor des Österreichischen Kreises. Durch diese Begünstigung wollte 102 Der ursprünglich als Nachfolger des abgesetzten kurbayerischen Assessors Reuss vorgesehene kurbayerische Geheime Rat Johann Georg v. Lori verzichtete 1774 auf diese Präsentation und überließ sie dem ebenfalls aus kurbayerischen Ratsdiensten hervorgegangenen bisherigen Bayer. Kreis-Assessor Zillerberg unter anderem "wegen der Ehre, die unserer Nation der brave H[err] Assessor B[aron] v. Zillerberg gemachet", s. Lori an den bayerischen Subdelegierten bei der RKG-Visitation Andreas v. Goldhagen, München, 17.7.1774, Konz.: HStA Mü., K. schw. 5764 fol.37 f.
Gutachten der hzgl. württembergischen Geheimen Regimentsräte, 15.3 .1669, Or.: HStA Stuttg., C 10 Bü. 189, Konv. 1668-1671, nr.6; vgl. ebs. den in der folgenden Anm.104 zitierten Vortrag des Reichsvizekanzlers vom 26.9.1795. 103
104 Vortrag des Reichsvizekanzlers Colloredo-Mansfeld an Ks. Franz II., Wien, 26.9.1795, Konz. u. Or.: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 380b.
394
III.l. Geographische Herkunft
die Kaiserin nachweislich nicht die keineswegs überdurchschnittlichen Leistungen des jungen Martini honorieren, der sich damals gerade die ersten richterlichen Sporen als Rat beim Appellationsgericht für Böhmen und Mähren in Brünn verdiente, sondern die hervorragenden Verdienste seines Vaters, des damaligen Staatsrats Martini 105 • Von diesem Gratifikationsdenken, das auch die Präsentationsberechtigung(en) mit in das Belohnungssystem eines Fürsten einbezog, profitierten auch die für ein höchstes Richteramt oft noch recht jugendlichen Beamtensöhne anderer Präsentationshöfe 106 • Die genannten Beispiele lenken den Blick auf einen weiteren Ursachenkomplex, der im Zusammenwirken mit den bereits genannten Auswahlmotiven erheblich dazu beitrug, daß im engeren Untersuchungszeitraum fast Dreiviertel bis mindestens Zweidrittel aller Rekrutierur~gsentscheidungen dem Herkunftsprinzip gemäß ausfielen: den Faktor der sozialen Beziehungen in Form von Verwandtschaft und Patronage. Aus den oben geschilderten Gründen, also vor allem wegen der korrespondierenden Interessenlage der Präsentations- und Nominationshöfe, hatten landeseigene Beamte und sonstige "Circulares" wegen ihrer größeren räumlich-qualitativen Fürsten- und Regierur~gsnähe in der Regel sowieso einen Bewerbungsvorsprur~g vor auswärtigen Aspiranten. Verwandtschaftsbeziehungen und sonstige Klientelverhältnisse zwischen einem Assessoratsanwärter und einem einflußreichen "Patron" mit Einfluß und Entscheidungsgewalt am Präsentationshof mußten diesen Vorsprung noch verstärken. Im Einzelfall ist schwer auseinanderzudividieren, zu welchen Anteilen prozeßbedingte Interessen des Präsentanten, eine überzeugende, auch die Partikularrechte der Region einschließende Fachkompetenz des Präsentatus und die Macht der Protektion dazu geführt hatten, daß die Rekrutierungsentscheidung zugunsten der Kategorie 1 oder 2, also in Konformität mit dem Herkunftsprinzip, ausfiel. Die geographische Herkunft der Präsentierten war auch oder gerade dann, wenn sie sich anscheinend ganz problemlos in den normativ vorgegebenen Rahmen einfügte, das Produkt eines komplizierten Zusammenspiels verschiedener Faktoren, unter denen jedenfalls Beziehungen, vor allem solche verwandtschaftlicher Art, eine große Rolle spielten. Die Fälle, in denen Verwandtschaft und sonstige Patronage dazu beitrugen, daß ein Jurist aus dem Land oder Kreis des Präsentanten rekrutiert wurde, sind in Kategorie 1 so zahlreich, daß hier nur generell darauf verwiesen werden kann. Nur auf ein Beispiel, in welchem der Faktor der Verwandtschaft mit dazu führte, daß 105
S. Biogr. 56 (Martini) mit weiteren Nachweisen.
So zum Beispiel wegen der Verdienste seines Großvaters und Vaters der vom Fränkischen Kreis katholischen Teils präsentierte, bei Ausfertigung seines Präsentationsschreibens noch nicht einmal 22jährige Joachim Albert v. Hess (Biogr. 73); vgl. auch Biogr. 33 (A. Danckelmann). 106
III.1.2.1. Grade der Nähe zwischen Präsentanten und Präsentierten
395
der geographische Einzugsbereich sich im ganzen Untersuchungszeitraum auffällig mit der Region des Präsentanten deckte, soll hier aufmerksam gemacht werden. Das zu zahlreichen Territorien und kleineren Herrschaften des rheinisch-pfälzischen Raumes benachbarte Kurfürstentum Trier lag in einer Region, die bis zum Übergang des linken Rheinufers an Frankreich von einer "verwirrenden Vielfalt" territorialer und lokaler Sonderrechte geprägt war 107 • Diese Rechtszersplitterung des Rheingebiets, das im 18. Jahrhundert zu den wesentlichen Prozeßlieferanten des RKG gehörte 108 , sowie der damals noch offene Instanzenzug von Kurtrier an das RKG bildeten den Hintergrund für das 1715 formulierte Interesse des Trierer Kurfürsten, daß das kurtriedsehe Assessorat bald "wiederumb mit einem unseres Erzstifts kündigen Subjecto ersetzt werde" 109 • Tatsächlich fielen nach Ausweis der Tabelle 2 (S.375) von den acht Rekrutierungsentscheidungen, welche die Kurfürsten von Trier im engeren Untersuchungszeitraum, genauer zwischen 1729/30 (Coll) und 1796 (Hammer) zu treffen hatten, sieben in die Kategorie 1II 0 • Von diesen sieben Präsentationen wurde nur eine einzige einem in Kurtrier ganz landfremden Juristen erteilt, dem damaligen pfalzneuburgischen Hof- und Regierungsrat Johann Georg Jakob v. Borie aus der schon erwähnten "gens Borriana". Borie verdankte diese kurtriedsehe Präsentation ausschließlich den schon beschriebenen grenzüberschreitenden Protektionsmechanismen, er mußte nur wegen seiner Anfangskarriere im Kurrheinischen Kreis (Mannheim) der Kategorie 1 zugeordnet werden. Die übrigen sechs kurtrierischen Rekrutierungsentscheidungen der Kategorie 1 kamen sämtlich 107 H.-J. BECKER, Artikel Rheinisches Recht, in: HRG 4, 1990, Sp.1021-1026 (Zitat Sp.1021). 108 RANIERI, Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar, S.15. S. jetzt mit gerraueren Berechnungen zum Prozeßaufkommen im 17. und 18. Jahrhundert: BAUMANN, Gesellschaft, S.51 ff. (Kurrheinischer Kreis), bes. S.52 f. (Kurtrier); dazu Graphik in Anhang I, S.139 Abb.6. Danach bildeten die Jahre 1710-1729 einen Schwerpunkt gehäufter Prozeßtätigkeit aus Kurtrier. Nach der Errichtung eines Revisionsgerichts 1719 ließ sich der Trierer Kurfürst unter Berufung auf die Goldene Bulle von Kar! VI. 1721 ein illimitiertes Appellationsprivileg erteilen. Dennoch kam es vereinzelt weiterhin zu Appellationen; s. WEITZEL, Kampf, S.152 f., BAUMANN, Gesellschaft, S.52 f.; vgl. auch BAUMANN, ebd., S.35 ff. (Niederrheinisch-Westfalischer Kreis), S.45 ff. (Oberrheinischer Kreis). 109 Kf. Kar! von Trier an das RKG, Nancy, 14.1.1715, Or.: RKG IV B 116 fol.11 f. Kurtrier besaß 1715 noch keine oberste Appellationsinstanz und kein 'privilegium de non appellando illimitatum'; s. dazuAmn.108. 110 Bei der einzigen kurtTierischen Rekrutierungsentscheidung, die in die Kategorie 4 eingeordnet werden mußte, handelte es sich um den fstbfl. bambergischen Geheimen Rat und Referendar Degen, der seine Präsentation als Landfremder wohl der Tatsache verdankte, daß der damalige Trierer Kurfürst (Schönbom) ein Bruder von Degens verstorbenem langjährigen Dienst- und Landesherrn war; s. Biogr. 9 (Degen).
396
III.l. Geographische Herkunft
zumeist bürgerlichen oder neuadligen Juristen der kurtrierischen Zentralbehörden in Koblenz zugute, die dort zum Teil auch geboren waren. Der 1714/15 präsentierte kurtrierische Hofrat Knopaeus, der 1719 bis 1729, also noch außerhalb des engeren Untersuchungszeitraums, als kurtrierischer Assessor amtierte, erweitert diesen Kreis. Selbst wenn sich die Trierer Kurfiirsten bei all diesen dem Herkunftsprinzip konformen Rekrutierungsentscheidungen von prozeßbedingten Interessen hatten leiten lassen (der aus Kurtri er kommende Geschäftsanfall am RKG bewegte sich allerdings in den letzten zwei Dritteln des 18. Jahrhunderts nur noch auf niedrigem Niveau!), so zeigt doch der biographische Befund, daß starke Verwandtschaftsbeziehungen in derselben Richtung wirkten. Einige kurtrierische Präsentati, teils mehr, teils weniger zum Assessorat qualifiziert, wurden im engeren Untersuchungszeitraum ganz offensichtlich deshalb aus der kurtrierischen Zentralbeamtenschaft genommen, weil sie nahe Verwandte hoher Amtsträger waren, die auf Grund ihrer Spitzenposition in der Kohlenzer Regierung über die Vergabe der kurtrierischen Präsentation disponieren konnten. Der 1729/30 präsentierte kurtrierische Hof-, Regierungs- und Revisionsrat Johann Matthias v. Coll war ein Schwiegersohn des kurtrierischen Hofkanzlers und Revisionsdirektors Johann Amold v. Solemacher und durch seine Ehe ein Schwager des damaligen kurkölnischen Assessors Johann Melchior Cramer v. Clausbruch. Als ein Opfer der langen Wartezeiten verzichtete Coll, an dessen beruflicher Qualifikation bei aller Protektion kein Zweifel bestand, 1744 auf seine Präsentation, um in kurtrierischen Diensten zu bleiben. Er war inzwischen seinerseits als Nachfolger seines Schwiegervaters Solemacher zum kurtrierischen Hofkanzler aufgestiegen. Dank dieser Machtposition konnte Coll erreichen, daß der Kurrurst die zurückgegebene Präsentation auf seinen Schwiegersohn, den kurtrierischen Hof- und Regierungsrat Hugo Pranz v. Gaerz, überschriebm. Gaerz wies zur Zeit seiner Präsentation eine erst knapp dreijährige, in den Augen des Kameralkollegiums noch nicht ausreichende Berufspraxis auf. Nach zwei dank externer Beziehungen favorisierten Auswärtigen (J.G.J. Borie, Degen) und einem landeseigenen Rat (Trott) präsentierte Kurtrier 1778 mit dem kurtrierischen Revisionsrat Johann Joachim Georg Freiherrn Münch v. Bellinghausen den Sohn eines vier Jahre zuvor verstorbenen kurtrierischen Hofkanzlers und Bruder eines amtierenden Reichshofrats. In diesem Fall wurde ein "Ertzignorant" begünstigt, den auch höchste Protektion nicht vor der schmählichen Rejektion retten konnte 112 •
111
Dazu mit weiteren Nachweisen Biogr. 6 (Coll) und Biogr. 7 (Gaerz).
112
S. Biogr. 11 (Münch) mit Belegen ("Ertzignorant": ebd. V mit Anm.8).
III.1.2.2.1. Kurbraunschweig und Kursachsen
397
2. Einzugsbereich und Rekrutierungsmuster einzelner Präsentationen 1. Kurbraunschweig und Kursachsen Die der kurtrierischen Präsentation entnommenen Beispiele machen deutlich, daß die regelkonforme Qualität 1geographische Herkunft aus dem Land oder Kreis des Präsentanten oftmals in hohem Maße das Produkt sozialer Herkunft, nämlich sozialer Nähe zu maßgeblichen Regierungskreisen und damit zum Präsentanten war. Die kurbraunschweigischen und auch die kursächsischen Präsentationen sind ein gleich kollektiver Beleg für diesen Zusammenhang. Sie weisen sowohl in geographischer als auch in sozialer Hinsicht eine große Homogenität auf. Geographische Herkunft nicht nur aus dem Kreis, sondern unmittelbar aus dem Territorium des kurfürstlichen Präsentanten war hier eine Folge der Tatsache, daß in den meisten Rekrutierungsentscheidungen eine einzige Muttergruppe, die altadlige soziale und regierende Führungsschicht des Landes, das soziale Substrat für die Präsentationen darstellte. In Kurbraunschweig, wo die Aristokratie angesichts des im fernen London residierenden Landesherrn praktisch unumschränkt regierte, ist diese soziale Dimension der geographischen Herkunft besonders augenfällig. Tabelle 2 (S.375) zeigt, daß im Fall Kurhannovers von den sieben im Untersuchungszeitraum vollzogenen Kurpräsentationen sechs nach der Lage der Dienstorte (3 x Hannover, 2 x Celle, 1 x Stade) in die Kategorie 1 fielen 113 . Dasselbe trafaufzwei der drei Präsentationen zu, die Kurbraunschweig turnusgemäß als Mitstand des Niedersächsischen Kreises ausüben konnte (2 x Celle) 114 • Unter diesen Fällen dominierten in sozialer Hinsicht Angehörige der kurbraunschweigischen "regierenden Aristokratie" (Wenckstern, Bremer, Hammerstein, Hohnhorst, über Einheirat seines Onkels: Otto Heinrich v. Gemmin1
113 F. Eyben, Hannover (Biogr. 41); Bünau, Celle (Biogr. 42); Wenckstem, Hannover (Biogr. 44); Bremer, Hannover (Biogr. 45); Hammerstein, Stade/Hzgt. Bremen-Verden (kurbraunschw.) (Biogr. 46); Hohnhorst, Celle (Biogr. 47). Der siebte im Untersuchungszeitraum wegen der Kur Braunschweig präsentierte Jurist J.Ph.F. Fleckenbühl (Biogr. 43) war in Usingen geboren, Sohn eines RKG-Assessors und zur Zeit der Präsentation (1758) fstl. nassauusingischer Regierungsrat in Wiesbaden (nur wegen Studium in Göttingen Herkunftskategorie 3).- Auch der allererste von Kurbraunschweig nach Erlangung der Kurwürde präsentierte RKG-Assessor, der als Vorgänger F. Eybens von 1719 bis 1736 (also vor dem engeren Untersuchungszeitraum) in Wetzlar amtierende Siegmund Ehrenfried v. Oppel (1687-1757) wäre in Herkunftskategorie 1 einzuordnen: er stammte aus einem alten kursächsischen Adelsgeschlecht und war zur Zeit seiner Präsentation (1715) kurbraunschweigischer Hof- und Kanzleirat in Celle. 114 O.H. Gemmingen, Celle (Biogr. 121); Avemann, Celle (Biogr. 127). Der dritte im Untersuchungszeitraum von Kurbraunschweig wegen des Niedersächsischen Kreises präsentierte K.F.R. Gemmmingen (Biogr. 122), der in Ansbach geboren war und dort zur Zeit der Präsentation (1765) in Ratsdiensten stand (Herkunftskategorie 4), verdankte seine Präsentation wohl in erster Linie einflußreichen verwandtschaftlichen Beziehungen zur Regierung in Hannover.
398
III.1. Geographische Herkunft
gen), dazu kamen zwei Angehörige aus der zweiten Führungsschicht, dem briefadligen kurhannoverschen "Staatspatriziat" (Eyben, Avemann)ll 5• Seit der ersten von Kurbraunschweig im Jahre 1715 vollzogenen Kurpräsentation bis zur Auflösung des RKG war kein einziger von Hannover/London präsentierter Jurist bürgerlichen Standes. Dieser Befund bestätigt eine 1803 von einem Mitglied des kurhannoverschen Staatspatriziats getroffene Feststellung, wonach der gesamte alte Adel des Landes (also nach der Definition Joachim Lampes die regierende Aristokratie) den Vorzug genoß, daß bei der kurbraunschweigischen Präsentation eines RKG-Beisitzers "zunächst auf ihn gesehen werden mußte" 116 . Juristische Ausbildung vorausgesetzt, reichte also schon die bloße Zugehörigkeit zur sozialen und politischen Führungsschicht des Kurfürstentums dazu aus, bei der Vergabe einer Präsentation begünstigt zu werden, auch ohne daß unbedingt aktive Protektion erforderlich gewesen wäre 117 • Das Ergebnis ist in geographischer Hinsicht ein stark auf Kurbraunschweig konzentrierter Herkunftsraum. Die folgenden Karten 1a (mit den Dienstorten zur Zeit der Präsentation) und ergänzend 1b (mit den Geburtsorten) stellen diesen Einzugsbereich für sämtliche Juristen, welche die hannoversche Regierung im Namen ihres abwesenden Landesherrn im Untersuchungszeitraum für die Kurpräsentation (7) sowie im Rahmen der Niedersächsischen Kreispräsentation (3) rekrutierte, auch räumlich dar 118 • Derselbe Befund wie für Kurbraunschweig ist im 18. Jahrhundert auch für die kursächsischen RKG-Präsentationen zu konstatieren. Die in Tabelle 2 (S.375) 115 Über diese beiden Führungsschichten Kurbraunschweigs s. J. LAMPE, Aristokratie, Hofadel und Staatspatriziat in Kurhannover. Die Lebenskreise der höheren Beamten an den kurhannoverschen Zentral- und Hofbehörden 1714-1760, 2 Bde., Göttingen 1963. Neben der historisch korrekten Bezeichnung "Kurbraunschweig" für das Kurfürstentum BraunschweigLüneburg findet im 18. Jahrhundert zunehmend die Bezeichnung "Kurhannover" Verwendung. 116 LAMPE, Kurhannover, Bd.1, S.9 Anm.36 (Lampe referiert ebd. eine 1803 erschienene Schrift B.C. v. Spilckers, Über den hannöverschen Adel und die hannöverschen Sekretarien; s. auch ebd., Bd.2, S.552). 117 Es wäre interessant, die bei der Regierung in Hannover bzw. bei der Deutschen Kanzlei in London erwachsenen Gegenakten daraufhin zu überprüfen, ob die formal vom englischen König in seiner Eigenschaft als Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg ausgefertigten kurbraunschweigischen Präsentationen auch schon ftir außenstehende Zeitgenossen derart den Charakter sozialer, zugunsten des Indigenats sprechender Exklusivität vermittelten, daß sich landfremde und gar noch bürgerliche Aspiranten ohne Beziehungen zu den regierenden Kreisen Hannovers gar nicht erst um ein von Kurbraunschweig zu vergebendes Kur- oder Kreisassessorat bewarben. 118 Im Falle der von Kurbraunschweig ausgeübten Kur- und Kreispräsentationen beginnt der engere Untersuchungszeitraum (1740-1806) eigentlich schon mit dem Jahr 1736, in welchem der von 1738 bis 1752 amtierende RKG-Assessor Friedrich v. Eyben (Biogr. 41) wegen der Kur Braunschweig präsentiert wurde. Entsprechendes gilt ftir die im folgenden untersuchten Präsentationen anderer ausgewählter Präsentanten. Die jeweils frühesten Rekrutierungsentscheidungen und Präsentationen liegen meistens schon vor dem Stichdatum 1.1.1740.
III.l.2.2.1. Kurbraunschweig und Kursachsen
399
Karte 1a: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller RKG-Assessoren (8 •) und sonstigen Präsentierten (2 A) des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die Kurbraunschweig im Rahmen der Kurpräsentation (7) sowie der Niedersächs. Kreispräsentation (3) rekrutierte
400
III.l. Geographische Herkunft
Karte I b: Geburtsorte aller RKG-Assessoren (8 •) und sonstigen Präsentierten (2 .&.) des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die Kurbraunschweig im Rahmen der Kurpräsentation (7) sowie der Niedersächs. Kreispräsentation (3) rekrutierte
III.1.2.2.1. Kurbraunschweig und Kursachsen
401
verzeichneten Werte der Kategorie 1 signalisieren bereits, daß Kursachsen im Untersuchungszeitraum sowohl bei seinen vier Kurpräsentationen 119 als auch einmal im Rahmen der altemierenden evangelischen Kurpräsentation 120 das Herkunftsprinzip genau befolgte. Von den drei Präsentationen, die Kursachsen im 18. Jahrhundert als Mitstand des Obersächsischen Kreises ausübte (1 x wegen der im Kreis gelegenen kursächsischen Gebiete, 2 x wegen Querfurt), fallen zwei ebenfalls in Kategorie 1, nur eine in Kategorie 3 121 . Die folgenden Karten 2a und 2b spiegeln dieses Ergebnis optisch wider. Die beiden letzten vor Beginn des Untersuchungszeitraums vollzogenen Präsentationen zum sächsischen Kurassessorat wären ebenfalls der Herkunftskategorie 1 zuzuordnen 122 . In all diesen Rekrutierungsentscheidungen des Dresdner Präsentationshofs war die durch die Dienstorte (vor allem Dresden, Leipzig, Wittenberg) und zugleich auch durch die Geburtsorte sowie ergänzend durch die Studienorte (vor allem Wittenberg und Leipzig) definierte geographische Herkunft fast völlig identisch mit sozialer Herkunft aus dem ritterbürtigen landtagsfähigen Adel Kursachsens. Zwischen 1652 und 1711 hatte Kursachsen noch völlig wahllos Juristen aus einem weiten, bis Stuttgart, Harnburg und Düsseldorf reichenden Rekrutierungsraum außerhalb Kursachsens präsentiert. Sie waren bis auf den von 1652 bis 1685 amtierenden, aus württembergischen Ratsdiensten kommenden kursächsischen Assessor Heinrich Achilles Bouwinghausen v. Wallmerode zudem sämtlich bürgerlicher Herkunft gewesen. Dagegen glänzen unter den ab 1714 von Kursachsen präsentierten RKG-Assessoren in fast lückenloser Formation die Namen alter kursächsischer Adelsgeschlechter 123 • Dieselben ritterschaftliehen Familien besetzten auch 119 Burgsdorff, Dresden (Biogr. 25); Schwarzenfels, Stade, aber vorheriger Dienstort Rudolstadt (Biogr. 26); Leipziger, Leipzig (Biogr. 27); Leutsch, Dresden (Biogr. 28). 120
Globig, Dresden (Biogr.48).
121
Kategorie 1: Heynitz, Wittenberg (Biogr. 11 0); Autenried, Dresden (Biogr. 117); Kategorie 3 (nur wegen des Studienorts Jena, sonst völlig landfremd): Donauer, Speyer (Biogr. 115). 122 1714 Präsentation des im kursächsischen Großböhla b. Oschatz geborenen Assessors beim Leipziger Oberhofgericht August Gotthelf v. Koseritz (1715-1722 kursächs. RKG-Assessor); 1721 Präsentation des in Eschdorfb. Dresden geborenen Appellationsrats in Dresden Heinrich Gottlob v. Miltitz (1723-1738 kursächs. RKG-Assessor). 123 Dies wird noch augenfälliger, wenn man die Namen der großelterlichen Familien der RKG-Assessoren Koseritz, Miltitz, Burgsdorff, Leipziger, Globig und Heynitz mit einbezieht. Leutsch (Biogr. 28), vor dem Wechsel nach Wetzlar Hof- und Justizrat in Dresden, stammte väterlicherseits aus der schlesischen Linie eines alten sächsischen Adelsgeschlechts. Sein Vater war als kursächsischer Offizier in den thüringischen Teil Kursachsens gelangt und hatte in ein in der Grafschaft Mansfeld begütertes Adelsgeschlecht eingeheiratet. Schwarzenfels (Biogr. 26) stammte aus dem ritterschaftliehen Adel der sächsischen Herzogtümer, hatte seine Vorkarriere dank verwandtschaftlicher Beziehungen bei den Regierungen in Rudolstadt und Stade verbracht und verdankte seine Präsentation zum kursächsischen RKG-Beisitzer der Empfehlung eines hohen kursächsischen Staatsbeamten.
402
III .1. Geographische Herkunft
Karte 2a: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller RKG-Assessoren (7 •) und sonstigen Präsentierten (1 A.) des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die Kursachsen im Rahmen der Kurpräsentation (4), der altemierenden ev. Kurpräsentation (1) sowie der Obersächs. Kreispräsentation (3) rekrutierte
III.l.2.2.1. Kurbraunschweig und Kursachsen
403
Karte 2b: Geburtsorte aller RKG-Assessoren (7 •) und sonstigen Präsentierten (1•) des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die Kursachsen im Rahmen der Kurpräsentation (4), der altemierenden ev. Kurpräsentation (1) sowie der Obersächs. Kreispräsentation (3) rekrutierte (für den kursächs. Assessor Burgsdorff wurde Lübben i.d. Niederlausitz als Geburtsort angenommen, vgl. Biogr. 25, Anm.l zu I)
404
III.l. Geographische Herkunft
Spitzenpositionen in Regierung, Verwaltung und Justiz, am Hof und im Militär sowie in den landständischen Institutionen Kursachsens - Funktionen, in denen der einheimische landsässige Adel dank strenger Ahnenproben, Indigenatserfordemis und anderer Abgrenzungsstrategien seine quantitative Dominanz auch im 18. Jahrhundert gegenüber neuadlig-bürgerlicher oder landfremder Konkurrenz behaupten konnte 124 • Nur die beiden 1779 bzw. 1780 von Kursachsen wegen Querfurt zum Obersächsischen Kreis-Assessor präsentierten Juristen, der völlig landfremde reichsstadt-speyerische Ratskonsulent Wilhelm Christoph Donauer und der aus Wittenberg stammende Dresdner Appellationsrat Heinrich Friedrich Lebrecht Autenried, waren bürgerlicher Herkunft. Wie in Kurbraunschweig wurde also auch in Kursachsen im 18. Jahrhundert eine sozial äußerst homogene und exklusive Muttergruppe, die altadlige Führungsschicht des Landes, gleich kollektiv bei der Vergabe der Präsentationen bevorzugt. Wiederum war die im Sinne des normativen Herkunftsprinzips optimale geographische Nähe zwischen Präsentatus und Präsentationshof das Ergebnis größter sozialer Nähe. Die insgesamt starke Stellung des kursächsischen Adels, seine Einflußmöglichkeiten am Hof und in den maßgeblichen Regierungskreisen trugen dazu ebenso bei wie vermutlich das Repräsentationsbedürfnis der seit 1697 mit der polnischen Königswürde geschmückten sächsischen Kurfürsten, die auch in RKG-Präsentationen ihres einheimischen alten Adels eine Form der Selbstdarstellung im Reich sehen mochten. Aktive Protektion durch einflußreiche Verwandte und sonstige Gönner kam im Einzelfall, wie die Biographie Hans Ernst v. Globigs illustriert, verstärkend hinzu. Auch die enge Verflechtung innerhalb der altadligen kursächsischen Führungsschicht spiegelte sich in den Verwandtschaftsbeziehungen mehrerer von Kursachsen präsentierter RKG-Beisitzer wider. 124 Über die Bedeutung des landsässigen ritterschaftliehen Adels als "'staatstragender' Herrschaftsschicht" im frühneuzeitlichen Kursachsen s. K. KELLER, Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart 2002, S.215-225 (Zitat S.224). Danach stammten im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts "im kursächsischen Hofstaat 16 Prozent der adligen Mitglieder nicht aus sächsischen Familien, im Offizierskorps lag der Anteil der landfremden Adligen bei etwa 40 Prozent, während er sich unter den adligen Amtsinhabern in den Zentralbehörden der Zivilverwaltung nur auf etwa elf Prozent belief" (ebd., S.222). S. etwas ausführlicher und mit weiteren Literaturhinweisen auch schon DIES., Der Hof als Zentrum adliger Existenz? Der Dresdner Hof und der sächsische Adel im 17. und 18. Jahrhundert, in: R.G. Asch (Hg.), Der europäische Adel im Ancien Regime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (ca. 16001789), Köln- Weimar- Wien 2001, S.207-233, bes. S.210-213, 216 f., 222-232; s. ferner F. GösE, Zwischen "Ständestaat" und "Absolutismus". Zur Geschichte des kursächsischen Adels im 17. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Ständeturn und Landesherrschaft, in: K. Keller- J. Matzerath (Hgg.), Geschichte des sächsischen Adels, Köln- Weimar -Wien 1997, S.139-160; vgl. auch die ältere Studie von H. HELBIG, Der Adel in Kursachsen, in: H. Rößler (Hg.), Deutscher Adel 1555-1740. Büdinger Vorträge 1964, Darmstadt 1965, S.216-258; sowie den Überblick über den kursächsischen Adel bei R. ENDRES, Adel in der Frühen Neuzeit, München 1993, S.30-32, dazu S.92-95.
III.1.2.2.1. Kurbraunschweig und Kursachsen
405
Zu der Homogenität und Identität von geographischem und sozialem Rekrutierungsraum, der für das Muster der kurbraunschweigischen und kursächsischen Präsentationen im 18. Jahrhundert charakteristisch ist, muß aber neben den wirtschaftlichen Voraussetzungen für die kostspielige akademische Ausbildung des altadligen Nachwuchses noch ein anderer Faktor beigetragen haben: die kollektive Bereitschaft der juristisch qualifizierten Adelssöhne in Kurbraunschweig und Kursachsen, sich im Interesse der eigenen Karriere wenigstens für einige Jahre aus dem Sonnensystem des heimatlichen Hofes zu entfernen und als RKGAssessor in den "Reichsdienst" zu wechseln - um dann allerdings nach einiger Zeit gern wieder auf eine ranghöhere Position in Diensten des eigenen Landesfürsten oder eines anderen Reichsstands zurückzukehren 125 . Die Tatsache, daß sich im 18. Jahrhundert und auch im engeren Untersuchungszeitraum die kurbraunschweigischen und kursächsischen Präsentierten nach Geburt und Vorkarriere in Konformität mit dem Herkunftsprinzip der Kameralverfassung fast durchweg aus dem Territorium des Präsentanten rekrutierten, ist also primär der räumliche Ausdruck eines ebenso einfachen wie komplexen sozialen Phänomens. Wieweit daneben prozeßbedingte Motive bei all diesen Rekrutierungsentscheidungen eine Rolle spielten, ist sowohl für Kurbraunschweig als auch für Kursachsen angesichts ihrer völligen Appellationsbefreiung schwer abzuschätzen 126 • Die Einbringung partikularrechtlicher Kenntnisse aus dem sächsischen und braunschweigischen Raum in die Kameraljudikatur, wie sie das Herkunftsprinzip intendierte, wäre jedenfalls auch durch die Präsentation bürgerlicher oder neunobilitierter landeseigener Räte garantiert worden. Dieses sachliche Motiv, wenn es denn im 18. Jahrhundert bei diesen beiden Präsentationshöfen überhaupt auf ein längerfristiges korrespondierendes Interesse stieß und daher als Auswahlkriterium eine Rolle spielte, erklärt jedenfalls noch nicht die Dominanz des einheimischen alten Adels in den RKG-Präsentationen Kurbraunschweigs und Kursachsens. Auch läßt sich der auffällige Wechsel im Rekrutierungsverhalten Kursachsens- von der Präsentation landfremder, fast durchweg bürgerlicher Juristen zwischen 1652 und 1711 hin zur fast ununterbrochenen Bevorzugung der eigenen altadligen Führungsschicht ab 1714 125 Im Vergleich zu anderen Präsentationen war die Resignationsquote unter den von Kurbraunschweig und Kursachsen präsentierten RKG-Beisitzem im 18. Jahrhundert besonders hoch. 126 Über
den eng mit dem Ringen um die Kurwürde verknüpften Kampf Kurbraunschweigs um die Erlangung eines unbeschränkten Appellationsprivilegs, das schließlich 1718 erteilt und noch im selben Jahr den Reichsgerichten insinuiert wurde, ferner über die verbleibenden Formen und Grade reichsgerichtlicher Zuständigkeits. eingehend P. }ESSEN, Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle unter besonderer Berücksichtigung des Kampfes um das kurhannoversche Privilegium De Non Appellando Illimitatum, Aalen 1986.
406
III.1. Geographische Herkunft
schwerlich mit einer veränderten prozessualen Interessenlage des Dresdner Präsentationshofs erklären. An dem Grad der reichsgerichtliehen Jurisdiktionszuständigkeit für Kursachsen hatte sich vom 17. zum 18. Jahrhundert hin nichts geändert, und auch das tatsächliche Prozeßaufkommen aus dem sächsischen Raum, dem Geltungsbereich des Gemeinen Sachsenrechts, bewegte sich im 18. Jahrhundert ebenso wie schon in den letzten Jahrzehnten der Speyerer Zeit auf sehr niedrigem Niveau 127 • So war wohl vor allem der beschriebene soziale Faktor die Ursache dafür, daß der geographische Rekrutierungsraum der kursächsischen und ebenso der kurbraunschweigischen Präsentationen sich im Untersuchungszeitraum in fast allen Fällen mit dem Territorium des betreffenden Kurfürstentums deckte. 2. Brandenburg-Preußen Vor dem Hintergrund der kurbraunschweigischen und kursächsischen RKG-Präsentationen hebt sich das gänzlich andersartige Rekrutierungsverhalten Brandenburg-Preußens, das zu einem völlig entgegengesetzten Ergebnis hinsichtlich des geographischen Einzugsbereichs führt, um so deutlicher ab. Die brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige hatten im engeren Untersuchungszeitraum im Rahmen ihrer verschiedenen Präsentationsbefugnisse insgesamt 17 Rekrutierungsentscheidungen zu treffen, wovon die erste in das Jahr 1715 fiel, die letzte in das Jahr 1804 128 • Auf dieselbe Anzahl von 17 Präsentationen kam 127 G.
BUCHDA, Artikel Gemeines Sachsenrecht, in: HRG 1, 1971, Sp.l510-1513; vgl. F. EBEL, Artikel Sächsisches Recht, in: HRG 4, 1990, Sp.l248-1250.- In seinem Kampf gegen die Appellationszuständigkeit des reorganisierten RKG hatte Kursachsen bereits 1559 ein neues unbeschränktes Appellationsprivileg erhalten und in der Folge auch praktisch durchgesetzt, welches der den Kurfürsten in der Goldenen Bulle erteilten Appellationsfreiheit grundsätzlich entsprach; dazu WEITZEL, Kampf, S.87 ff. Der Obersächsische Kreis, in dem auch Kursachsen lag, gehörte im 17. und mehr noch im 18. Jahrhundert zu den Reichskreisen "mit geringer Inanspruchnahme des Reichskammergerichts". Der Geschäftsanfall aus diesem Kreis war in der späten Speyerer und während der ganzen Wetzlarer Zeit mit Schwankungen "insgesamt sehr gering", s. BAUMANN, Gesellschaft, S.57 f. 128 Wegen der Kur Brandenburg 10: Brand, präs. 1715 (Biogr. 29); Huß (Biogr. 30); Vette (Biogr. 31); Schröter (Biogr. 32); A. Danekelmann (Biogr. 33); J.U. Cramer (Biogr. 65); Meckel (Biogr. 34); Beulwitz (Biogr. 35); Dalwigk (Biogr. 36); Kamptz, präs. 1804 (Biogr. 37); im Rahmen der altemierenden ev. Kurpräsentation 1: K.A. Seckendorff(Biagr. 49); wegen des ev. Niederrheinisch-Westfalischen Kreises 1: J.F.A.K. Neurath (Biogr. 104); wegen des Obersächsischen Kreises 2: K.G. Riedesel (Biogr. 109); Schellwitz (Biogr. 111); wegen des Niedersächsischen Kreises 2: Summermann (Biogr. 124), Schüler (Biogr. 126); wegen des ev. Fränkischen Kreises 1: Spies (Biogr. 68), der wohl von Preußen wegen Ansbach-Bayreuth nominiert wurde; dagegen nicht unter den 17 mitgerechnet: Spies' Compräsentati K.F.F. Neurath (Biogr. 118) und Reitzenstein (Biogr. 119), die 1802 nicht ihre ev. Fränk. Kreis-Präsentation, sondern vielmehr ihre schon vorher von den obersächsischen Grafen erlangte Obersächs. Kreis-Präsentation realisierten.
III.1.2.2.2. Brandenburg-Preußen
407
im selben Zeitraum nur noch der Wiener Hof im Rahmen seiner vier perpetuierlichen Präsentationsberechtigungen (Kurböhmen, Kaiser, Österr. Kreis, Burgund. Kreis), während andere Reichsstände mit mehr als einer Berechtigung erst mit weitem Abstand folgten: Kurbraunschweig mit 10, Kurbayern und Kursachsen mit je 8, Kurpfalz mit 7 Rekrutierungsentscheidungen. Der hohe Wert von 17 ergab sich für Brandenburg-Preußen einmal dadurch, daß es außer der ununterbrochen ausgeübten Kurpräsentation zusätzlich in Konkurrenz mit anderen Ständen an mehreren anderen Präsentationen Anteil hatte und dort in größeren Zeitabständen zum Zuge kam, nämlich turnusmäßig und allein präsentierend im Rahmen der alternierenden evangelischen Kurpräsentation, der Präsentation des Obersächsischen, des Niedersächsischen und des evangelischen NiederrheinischWestfälischen Kreises sowie- seit dem Anfall von Ansbach-Bayreuth 1791jeweils gemeinsam mit den anderen Kreisständen im Rahmen der evangelischen Fränkischen Kreis-Präsentation. Zum anderen erklärt sich die Häufigkeit der brandenburg-preußischen Rekrutierungsentscheidungen dadurch, daß von den zehn zwischen 1715 und 1804 zum Kurassessorat Präsentierten in den vierziger bis sechziger Jahren nacheinander vier aus unterschiedlichen Gründen ohne Aufschwörungserfolg blieben 129 und daß bei einigen anderen kurbrandenburgischen Assessoren die Verweildauer im Amt sehr niedrig oder jedenfalls, gemessen an den damaligen Durchschnittswerten, nicht besonders groß war 130 • Die Häufigkeit und zeitliche Dichte der vom Berliner Hof im Untersuchungszeitraum vollzogenen Präsentationshandlungen erleichtert die Interpretation des Einzugsbereichs, in dem sich eine komplizierte, überdies nicht konstant bleibende Interessenlage des Präsentanten ausdrückte. Zunächst fällt im Vergleich zu den von Hannover/London und Dresden vollzogenen Präsentationen auf: Während dort der ritterbürtige Adel Kurbraunschweigs bzw. Kursachsens dominierte und dadurch einen geschlossenen, auf den Präsentationshof zentrierten Rekrutierungsraum herstellte, glänzte der alte märkische Adel in der Reihe der 17 brandenburg-preußischen Präsentierten nicht mit Namen, sondern durch völlige Abwesenheit. Dies gilt flir die ökonomisch leistungsfähigeren Adelsgeschlechter mit größerer Hof- und Regierungsnähe ebenso wie für die Masse des kleinen Landadels, und es gilt in zeitlicher Hinsicht über den engeren Untersuchungszeitraum hinaus auch für die vorausgegangenen beiden Jahrhunderte. Die Gründe dafür sind komplex. Man kann sie zum einen in der seit den 1650er Jahren politisch schwachen Stellung des brandenburgischen Adels finden, der seit der Zurückdrängung der Landstände aus der zentralen Regierungssphäre unter dem 129
Huß (Biogr. 30), Vette (Biogr. 31), Schröter (Biogr. 32), A. Danekelmann (Biogr. 33).
130
Beulwitz (Biogr. 35) starb 1791 nach nur fünfmonatiger Amtszeit im Alter von 31 Jah-
ren.
408
III.1. Geographische Herkunft
absolutistisch regierenden Großen Kurfursten und seinen Nachfolgern gerade in den märkischen Landesteilen weniger denn je eine "regierende Aristokratie" darstellte und schon von daher wenig Gelegenheit hatte, über die Vergabe der Präsentationen zu disponieren 131 . Hinzu kommt die bekannte Sozialstruktur der märkischen Ritterschaft: die immer schon prekäre und besonders durch die Kriege des 17. und 18. Jahrhunderts schwer erschütterte wirtschaftliche Position vor allem des Kleinadels, die nach dem Dreißigjährigen Krieg besonders gravierende und im Laufe des 18. Jahrhunderts erneut wachsende Verschuldung, der wohl weniger mit einer generellen Studierunwilligkeit als mit den knappen finanziellen Ressourcen zu erklärende insgesamt geringe Anteil an Universitätsbesuchern132, die den Intentionen der Krone entsprechende beträchtliche Quote adli131 Hierzu und zum Folgenden s. den immer noch informativen, wenn auch den älteren Forschungsstand widerspiegelnden Überblick bei G. HEINRICH, Der Adel in BrandenburgPreußen, in: Rößler (Hg.), Deutscher Adel 1555-1740, S.259-314; ferner, auf neuesten Forschungen beruhend und mit zahlreichen weiterfuhrenden Literaturangaben: W. NEUGEBAUER, Der Adel in Preußen im 18. Jahrhundert, in: Asch (Hg.), Der europäische Adel, S. 49-76; s. auch P. BAUMGART, Der Adel Brandenburg-Preußens im Urteil der Hohenzollern des 18. Jahrhunderts, in: R. Endres (Hg.), Adel in der Frühneuzeit Ein regionaler Vergleich, KölnWien 1991, S.141-161. Die genannten Aufsätze differenzieren nach den verschiedenen Adelslandschaften der brandenburg-preußischen Monarchie. Weitgehend auf den ostelbischen Adel Brandenburg-Preußens bezieht sich der Überblick bei ENDRES, Adel in der Frühen Neuzeit, S.23-30, dazu S.83-92. Grundlegend ftir den Adel der Kur- und Neumark Brandenburg (gegliedert nach märkischen Teillandschaften) ist die auf quantitativem Material beruhende, umfassende und methodisch wegweisende Habilitationsschrift von F. GösE, Rittergut- Garnison - Residenz. Studien zur Sozialstruktur und politischen Wirksamkeit des brandenburgischen Adels 1648-1763, Berlin 2005; s. auch schon DERS., Die Struktur des kur-und neumärkischen Adels im Spiegel der Vasallentabellen des 18. Jahrhunderts, in: FBPG NF 2, 1992, S.25-46; zur Sozialstruktur der ökonomisch besonders schwachen neumärkischen Ritterschaft s. schon DERS., Zur Geschichte des neumärkischen Adels im 17./18. Jahrhundert- Ein Beitrag zum Problem des ständischen Regionalismus, in: FBPG NF 7, 1997, S.1-47, bes. S.12-24. Vor allem auf die wirtschaftliche Situation des mittelmärkischen Adels in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg bis zum Ende der Regierungszeit des ersten preußischen Königs Friedrich I. konzentriert sich die anschauliche Studie von U. GEISELER, Region- Familie - Rittersitz. Der brandenburgische Adel um 1700, in: F. Göse (Hg.), Im Schatten der Krone. Die Mark Brandenburg um 1700, Potsdam 2002, S.143-178. -Die folgende Skizze muß notwendig pauschal bleiben. 132 Laut HEINRICH, Der Adel in Brandenburg-Preußen, S.308, besuchten gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur 3,7 % der kurmärkischen Adelssöhne eine Universität; s. auch schon ebd., S.271 mit Anm.37. GösE, Struktur, S.39, konstatiert im Laufe des 18. Jahrhunderts einen leichten Rückgang des ohnehin schon geringen Anteils "des eine akademische Laufbahn einschlagenden jungen Adels" der Kur- und Neumark. Die Anordnung König Friedrich Wilhelms I. von 1729, alle jungen Vasallensöhne unter zwölf Jahren, "'wenn sie einmal eine Zivilbedienung haben wollen"', zwei Jahre auf die Ritterakademie Brandenburg zu schicken, wurde laut GösE, Struktur, S.40, vom märkischen Adel nur zu einem sehr geringen Teil befolgt; dazu s. auch NEUGEBAUER, Der Adel in Preußen, S.67 f. Besonders in der Neumark war die Zahl studierender Vasallensöhne und überhaupt studierter Adliger im 18. Jahrhundert "eine Ausnahme", s. GösE, Geschichte, S.24. Zu der gesamten Thematik s. jetzt das Kapitel "Die Sozialisation der Vasallensöhne" in DERS., Rittergut, S.232-236, dazu Tab.53-56, S.494-497.
III.1.2.2.2. Brandenburg-Preußen
409
ger Offizierskarrieren133 sowie das Übergewicht bürgerlicher, nobilitierter, auswärtiger Elemente in Regierung und Justiz 134 • Generell war der von König Friedrich Wilhelm I. eingeschlagene und von Friedrich II. prononciert fortgesetzte adelspolitische Kurs, den einheimischen alten Adel durch Kontrollen und Verbote am "Außerlandesgehen", d.h. an Reisen, Studienaufenthalten und Fürstendienst außerhalb der preußischen Monarchie zu hindem und statt dessen im Land zu halten, einer juristischen Karriere bis hinauf an das RKG nicht förderlich, zumal eine Richterkarriere im Dienst von Kaiser und Reich spätestens seit Friedrich dem Großen beim eigenen, unbedingte Loyalität gegenüber der Krone einfordernden Landesherrn keine Ehre mehr einbrachte 135 . Daß all diese Faktoren das Muster der brandenburg-preußischen Präsentationen und speziell ihres geographisch-sozialen Einzugsbereichs mitgeprägt haben, ist nur indirekt daraus Laut GösE, ebd., S.234, verdeutlichen die von ihm untersuchten Quellen, "daß Teile der Ritterschaft durchaus ein Interesse an einer akademischen Ausbildung ihres Nachwuchses bekundet hatten und es verfehlt wäre, pauschal eine Reserviertheit des Adels gegenüber solchem Bildungsweg zu unterstellen". 133
Die Zahl der im Kadettenkorps ausgebildetenjungen märkischen Adligen stieg im Laufe des 18. Jahrhunderts kontinuierlich an, ebenso die Zahl der aktiv im preußischen Militärdienst stehenden Vasallensöhne (in der Kurmark von 1713: 28,6% über 1769: 38,1% auf 1800: 60%), s. GösE, Struktur, S.40, dazu S.33 ff.; DERS., Rittergut, S.232-236, dazu Tab.5356, auch schon S.222-232, dazu Tab.48-52. Dabei waren vor allem Söhne des wirtschaftlich schlechter gestellten neumärkischen Kleinadels aus Versorgungsgründen "offiziersbereit"; s. ebd. sowie NEUGEBAUER, Der Adel in Preußen, S.68 f. (Zitat S.69). 134
Vgl. die Studie über die "sekundären Führungsschichten" in Brandenburg-Preußen 1450-1786 von HEINRICH, Amtsträgerschaft und Geistlichkeit; s. ferner S. ISAACSOHN, Geschichte des Preußischen Beamtenthums vom Anfang des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, 3 Bde., Berlin 1874-1884 (Neudr. Aalen 1962), bes. Bd.3; H. V. BONIN, Adel und Bürgertum in der höheren Beamtenschaft der preußischen Monarchie 1794-1806, in: JGMOD 15, 1966, S.139-174; ftir die spät- und nachfriderizianische Zeit s. jetzt (mit weiterfUhrender Literatur) die auf 450 Personen beruhende prosopagraphische Untersuchung von R. STRAUBEL, Beamte und Personalpolitik im altpreußischen Staat. Soziale Rekrutierung, Karriereverläufe, Entscheidungsprozesse (1763/86-1806), Potsdam 1998. Die Untersuchung konzentriert sich allerdings auf die mittleren und hohen Beamten der Verwaltungsbehörden in der Berliner Zentrale und den Provinzen (Generaldirektorium, Kriegs- und Domänenkammem), der Bereich der Justiz wird dagegen weitgehend ausgeklammert. 135 Als Folge dieser Adelspolitik änderte sich das Ausbildungsprofil der märkischen Adelssöhne: Die bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts noch typischen Kavalierstouren (vor allem nach Frankreich, Italien und durch die süddeutschen Territorien des Reiches, aber auch in die Schweiz und die Niederlande) sowie das Studium an einer nichtpreußischen Universität gingen im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts "deutlich zurück". Dasselbe galt für die in fremden Diensten stehenden märkischen Vasallensöhne sowie überhaupt für den Prozentsatz der in auswärtigen zivilen und militärischen Diensten stehenden märkischen Adligen, s. GöSE, Struktur, S.39 (danach NEUOEBAUER, Der Adel in Preußen, S.67); GösE, Rittergut, S.233 f., 236-242 ("Der auswärtige Dienst der Vasallen"); s. auch schon BAUMGART, Der Adel Brandenburg-Preußens, bes. S.146, 151.
410
III.1. Geographische Herkunft
zu erschließen, daß Angehörige des alten märkischen Adels im 18. Jahrhundert auch von auswärtigen evangelischen Reichsfürsten keine RKG-Präsentation erhielten und sich anscheinend auch nicht darum bemühten. Für den ritterbürtigen Adel im Kerngebiet der brandenburg-preußischen Monarchie war es offenbar, selbst wenn er denn die entsprechende Vorbildung hatte, im Gegensatz zu seinen braunschweigischen und sächsischen Standesgenossen nicht erstrebenswert, an das von Berlin im 18. Jahrhundert nur noch geringschätzig behandelte RKG in Wetzlar zu wechseln 136 . Wie immer die auffällige Abstinenz des alten brandenburgischen Adels im Wettbewerb um die in der Spätzeit sonst durchaus begehrten RKG-Präsentationen zu erklären ist, bei der Betrachtung des Einzugsbereichs der von Brandenburg-Preußen präsentierten Juristen ist als zweites zu konstatieren, daß Berlin bei der Besetzung des Kurassessorats auch nicht auf solche Beamte der Mark Brandenburg zurückgriff, die bürgerlichen oder neuadligen Standes waren. Gerade diejenigen vielschichtigen Motive, die bei anderen Präsentationshöfen das Rekrutierungsverhalten in Übereinstimmung mit dem normativen Herkunftsprinzip gesteuert und die hohen Gesamtwerte in Kategorie 1 (Tabelle 2, S.375) verursacht hatten, waren am preußischen Hof offenbar geradezu negativ besetzt. Gemessen an den Dienstorten zur Zeit der Präsentation, kam im gesamten Untersuchungszeitraum kein einziger der zehn zwischen 1715 und 1804 zum brandenburgischen Kurassessorat Präsentierten aus der Berliner Zentrale oder sonst aus den märkischen Gebieten, zum Beispiel aus der Universitätsstadt Frankfurt an der Oder. Wie Tabelle 2 ausweist, wurden von diesen zehn Juristen nur zwei in Kategorie 1 eingeordnet. In beiden Fällen handelte es sich aber um 'Ausländer', die niemals in preußischen Diensten gestanden hatten 137 • Der im Jahre 1800 von Kurbrandenburg im Rahmen der alternierenden evangelischen Kurpräsenta136 Es wäre interessant, die allerdings nicht vollständige RKG-Praktikantenmatrikel daraufhin zu untersuchen, wieviele junge Juristen aus brandenburg-preußischen Adelsfamilien, vor allem aus dem ritterbürtigen Adel der mittel- und ostdeutschen Kernlande, in der Wetzlarer Zeit ein RKG-Praktikum absolvierten; s. außer dem im "Untrennbaren Bestand" des ehemaligen Kameralarchivs befindlichen Original (neue Sign.: AR 1 U/33) die z.Tl. fehlerhafte Edition von W. SCHMIDT-SCHARFF (Hg.), Die Matrikel der Praktikanten am Reichskammergericht in Wetzlar 1693-1806, in: Archiv f. Sippenforschung Jg.11, 1934, H.10, S.297317. 137 Der aus Ulm stammende Johann Ulrich Frh. v. Cramer (Biogr. 65), mit dem Berlin schließlich nach 25jähriger Vakanz 1765 das brandenburgische Kurassessorat besetzte, wurde nur deshalb im Sinne der Definition noch Kategorie 1 zugeordnet, weil er zuvor bereits als Assessor des ev. Fränkischen Kreises am RKG tätig war. Der 1789 präsentierte Franz Friedrich Anton v. Beulwitz (Biogr. 35) stammte nach Geburt und Vorkarriere aus Sachsen-Coburg, also aus der südlichen Peripherie des Obersächsischen Kreises und damit aus dem 'Kreis des Präsentanten', genügte also von daher ebenfalls noch dem Herkunftsprinzip im Sinne der Kategorie 1.
III.1.2.2.2. Brandenburg-Preußen
411
tion präsentierte Karl August Freiherr v. Seckendorff, aus dem Fränkischen Ritterkanton Odenwald stammend und zur Zeit seiner Präsentation im südpreußischen Warschau dienend, fiel nur deswegen noch unter Kategorie 1, weil er zu Beginn seiner Laufbahn insgesamt knapp drei Jahre lang nicht nur Referendar, sondern auch stimmberechtigter Assessor des Berliner Kammergerichts gewesen war 138 • Die Mark Brandenburg, an der das kurfürstliche Präsentationsrecht haftete, das Gebiet mit dem höchsten Grad an räumlich-qualitativer Nähe zum Präsentanten, war also als Rekrutierungsraum für RKG-Assessoren praktisch ein Niemandsland, und zwar weit über den engeren Untersuchungszeitraum hinaus bereits seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts 139 • Dagegen fällt an den brandenburgischen Kurpräsentationen auf, daß von den insgesamt zehn im Untersuchungszeitraum getroffenen Rekrutierungsentscheidungen sieben in die Kategorie 2 fielen - eine Relation, die sich nach Ausweis der Tabelle 2 bei keiner anderen Kur- oder Kreispräsentation wiederholt. In sechs von diesen sieben Fällen sind Magdeburg (3 x), Minden (2 x) und TeekIenburg (1 x) die für die Kategorisierung maßgeblichen Dienstorte. Diese Werte der Kategorie 2 und die dahinter stehenden Dienstorte signalisieren, daß im engeren Untersuchungszeitraum (beginnend mit der 1715 vollzogenen Präsentation Friedlieb Gottfried Brands) bis nach der Jahrhundertmitte die preußischen Nebenprovinzen im Niedersächsischen (Kategorie 2a) und Niederrheinisch-Westfälischen Kreis (Kategorie 2b ), die Kurbrandenburg seit dem 17. Jahrhundert erworben hatte, die bevorzugten Rekrutierungsgebiete für das brandenburgische Kurassessorat waren 140 . Die beiden Präsentationen, die Brandenburg-Preußen 138 Sein Wunsch, angesichts der Kriegswirren wieder in die Nähe seiner Heimat zu kommen, war vermutlich ausschlaggebender für die Auswahl seiner Person als irgendein Eigeninteresse des präsentierenden Königs von Preußen; s. Biogr. 49 (K.A. Seckendorff).- Dagegen wurde der 1758 zum Kurassessorat präsentierte Adolf Graf Danekelmann (Biogr. 33) nicht in Kategorie 1, sondern wegen seiner Stellung als magdeburgischer Regierungsrat zur Zeit der Präsentation nur in Kategorie 2 eingeordnet (dazu s. auch unten Anm.140). Danekelmann hatte sich zwar ebenfalls zu Beginn seiner Laufbahn kurzzeitig am Berliner Kammergericht aufgehalten, war dort aber nur als auszubildender Referendar, nicht auch, wie Seckendorff, als stimmberechtigter Assessor tätig gewesen. 139 S. im einzelnen JAHNS, Brandenburg-Preußen, S.l82 ff.; vgl. auch schon kurz SMEND, Brandenburg-Preußen, S.190.
140 Zum brandenburgischen Kurassessorat präsentiert wurde 1715: Brand, Magdeburg (Biogr. 29); 1741: Huß, Minden (Biogr. 30); 1745: Vette, Tecklenburg, auch Minden (Biogr. 31); 1752: Schröter, Magdeburg (Biogr. 32); 1758: A. Danckelmann, Magdeburg (Biogr. 33); 1772: Meckel, Minden (Biogr. 34). -Bei gerrauerem Hinsehen endete diese Serie von Kurpräsentationen, die wegen der Rekrutierung aus den im Niedersächsischen und im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis gelegenen preußischen Nebenprovinzen der Herkunftskategorie 2 zuzuordnen waren, schon kurz nach Mitte des 18. Jahrhunderts mit Adolf Graf Danckelmann. Und selbst Danckelmann, der dem Kameralkollegium 1758 im Präsentationsschreiben als magdeburgischer Regierungsrat vorgestellt wurde, konnte anders als noch Brand, Huß, V ette und Schröter zur Zeit seiner Präsentation schlechterdings noch keinerlei Kenntnisse von
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III.l. Geographische Herkunft
vor 1750 einmal im Rahmen des Niedersächsischen Kreises (1738), einmal im Rahmen des Obersächsischen Kreises (1748) vollzog, ergänzen dieses Bild mit den Dienstorten Duisburg, der Landesuniversität im Herzogtum Kleve, und Halberstadt (vgl. zu allem die folgenden Karten 3a und 3b) 141 • Wiederum wird dieses Ergebnis schon fiir die frühere Zeit bestätigt, und zwar sowohl fiir die perpetuierlichen Kur- als auch fiir die sporadischen Kreispräsentationen 142 . den Partikularrechten des Herzogturns Magdeburg und des Niedersächsischen Kreises vorweisen (diese Kenntnisse konnte er sich dann aber während der Wartezeit als examinierter RKG-Präsentatus erwerben, daher Zuordnung zu Kategorie 2). Der damals noch nicht ganz 22 Jahre alte Danekelmann verdankte seine Präsentation wohl vielmehr dem Einfluß seines Vaters, des damaligen preußischen Staats- und Justizministers. Zum Regierungsrat in Magdeburg wurde er erst nach seiner Bewerbung um die RKG-Präsentation und nach Bestehen eines internen Examens unmittelbar vor Ausfertigung des Präsentationsschreibens ernannt, weil er in seiner bisherigen Stellung als Kammergerichtsreferendar in Berlin mangels gerichtlicher Praxis vom Kameralkollegiurn schwerlich akzeptiert worden wäre. Nachdem der inzwischen zum Regierungspräsidenten in Kleve aufgestiegene Danekelmann nach langer Wartezeit auf seinen Amtsantritt in Wetzlar verzichtet hatte, präsentierte Berlin 1765 den schon seit 1752 am RKG amtierenden bisherigen ev. Fränk. Kreis-Assessor Johann Dirich v. Cramer auf das brandenburgische Kurassessorat, um dieses nach 25jähriger Vakanz rasch wieder zu besetzen (s.o. mit Anm.137). Cramer (wegen seiner Vorposition als RKG-Beisitzer nur als Sonderfall eingestuft in Herkunftskategorie 1) war weder nach Herkunft noch nach Vorkarriere j ernals mit den Kern- und Nebenlanden der preußischen Monarchie in Berührung gekommen. Dasselbe galt für den nach Cramers Tod 1772 präsentierten, als Sohn eines RKG-Advokaten in Wetzlar geborenen Georg Ludwig Meckel. Dieser wurde zwar im Präsentationsschreiben als Regierungsrat in Minden bezeichnet und übte dieses Amt bis zu seinem Amtsantritt in Wetzlar 1777 tatsächlich aus (deshalb Herkunftskategorie 2), jedoch war er aus Berliner Sicht nach Geburtsort und bisherigen Dienstorten bis 1772/73 'Ausländer'. Nach einer problematischen Vorkarriere wurde er 1772 erst wenige Monate vor der RKG-Präsentation zum mindischen Regierungsrat ernannt und trat dieses Amt erst nach der Präsentation und der Ablegung des Spezialexamens 1773 an. Die Gründe für seine Übernahme in preußische Dienste und für seine Präsentation auf das brandenburgische Kurassessorat sind nicht klar ersichtlich. Jedenfalls besaß er bei seiner RKG-Präsentation noch keine partikularrechtliehen Kenntnisse der im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis gelegenenen N ebenprovinzen, an denen Berlin damals aus den im folgenden zu beschreibenden Gründen auch gar nicht mehr interessiert war; Näheres s. in seiner Biogr. 34, IV u. V.- Bei dem siebten Fall unter den zehn im Untersuchungszeitraum vollzogenen brandenburgischen Kurpräsentationen, die der Kategorie 2 zuzuordnen sind, handelte es sich um einen nach Geburtsort und gesamter Vorkarriere echten 'Ausländer', den 1804 zum brandenburgischen Kurassessorat präsentierten Mecklenburger Karl v. Kamptz. Dieser rekrutierte sich zwar nicht aus dem 'Kreis des Präsentanten', sondern aus dem benachbarten Niedersächsischen Kreis, jedoch aus einem unmittelbar an die Mark Brandenburg angrenzenden Territorium (Kategorie 2c). 141 1738 Niedersächs. Kreis-Präsentation (wegen des Herzogturns Magdeburg): Summermann, Prof. iur. in Duisburg/Hzgt. Kleve (Biogr. 124); 1748 Obersächs. Kreis-Präsentation (wegen Hinterpommern): Schellwitz, kgl. preußischer Vizedirektor der fstl. halberstädtischen Regierung und des Konsistoriums in Halberstadt (Biogr. 111). 142 Über den prosopagraphischen Befund aus der Zeit seit 1649 und das zugrunde liegende Rekrutierungsverhalten s. ausführlicher mit Nachweisen schon JAI-INS, Brandenburg-Preußen, S.173 ff., 183 ff., 188 ff.
III.1.2.2.2. Brandenburg-Preußen
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Karte 3a: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller RKG-Assessoren (12 •) und sonstigen Präsentierten (5 •) des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die Brandenburg-Preußen im Rahmen der Kurpräsentation (10), der alternierenden ev. Kurpräsentation (1), der ev. Fränk. Kreispräsentation (1), der ev. Niederrhein.-Westfäl. Kreispräsentation (1 ), der Obersächs. Kreispräsentation (2) sowie der Niedersächs. Kreispräsentation (2) rekrutierte
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III.l. Geographische Herkunft
Karte 3b: Geburtsorte aller RKG-Assessoren (12 •) und sonstigen Präsentierten (5 •) des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die BrandenburgPreußen im Rahmen der Kurpräsentation (10), der altemierenden ev. Kurpräsentation (1), der ev. Fränk. Kreispräsentation (1), der ev. Niederrhein.Westfäl. Kreispräsentation (1 ), der Obersächs. Kreispräsentation (2) sowie der Niedersächs. Kreispräsentation (2) rekrutierte
III.l.2.2.2. Brandenburg-Preußen
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An anderer Stelle wurden bereits ausführlich die Gründe für dieses auffallige Rekrutierungsverhalten analysiert, die in der Epoche nach dem Westfalischen Frieden den geographischen Einzugsbereich der brandenburg-preußischen Präsentationen in der beschriebenen Weise absteckten. Sie liegen vor allem in dem unterschiedlichen Grad an Appellationsbefreiung, den die eigentlichen Kurlande, also die Kur- und Neumark einerseits, die im 17. Jahrhundert hinzuerworbenen Nebenprovinzen andererseits, bis 1750 gegenüber dem RKG und dem RHR besaßen 143 . Im Gegensatz zu den rheinischen Kurfürsten hatte Kurbrandenburg das Appellationsprivileg, das sämtlichen Kurfürsten in der Goldenen Bulle für ihre Kurlande erteilt worden war, auch nach der Neuerrichtung des RKG behaupten können. Nach Kursachsen (1559) wurde auch Kurbrandenburg 1586 ein neues unbeschränktes Privileg erteilt, das ebenso für die erst 1455 an Brandenburg gefallene Neumark gültig wurde. Seit 1586 waren also für den damaligen Stand der Besitzungen Appellationen von Untertanen und fremden Reichsmittelbaren an RKG und RHR endgültig ausgeschlossen. Auch in der Praxis kamen sie kaum noch vor. Die erstinstanzliehen Prozesse, in denen der brandenburgische Kurfürst selbst als Kläger oder Beklagter Partei war, nahmen schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts an Zahl und Bedeutung ebenfalls sehr stark ab. Infolgedessen präsentierte Kurbrandenburg schon seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unter Mißachtung des Herkunftsprinzips regelmäßig nur noch Auswärtige auf das Kurassessorat, weil es kein prozeßbedingtes Eigeninteresse mehr daran hatte, qualifizierte einheimische Räte an das RKG zu verlieren 144 . Diese Interessenlage änderte sich grundlegend im 17. Jahrhundert mit dem Anfall neuer Territorien an Kurbrandenburg. Während das Herzogtum Preußen als außerhalb des Reichsverbandes stehend der Jurisdiktion der Reichsgerichte von vomherein nicht unterworfen war, bestanden in den zum Reich gehörigen Neuerwerbungen entweder gar keine oder auf verhältnismäßig geringe Summen beschränkte Appellationsprivilegien. Trotz aller Repressalien der Berliner Zen143 Hierzu und zum Folgenden s. ausfUhrlieh mit Quellen- und Literaturnachweisen JAHNS, Brandenburg-Preußen, bes. 8.176 (mit Anm.30) ff. Auf die dortige Detailanalyse wird für die folgende Zusammenfassung verwiesen. Wichtigste ältere Literatur zu dieser Thematik: K. PERELS, Die allgemeinen Appellationsprivilegien für Brandenburg-Preußen, Weimar 1908; 8MEND, Brandenburg-Preußen; die ältere Literatur zusammenfassend: WEITZEL, Kampf, 8.87 ff., 137 ff.; im Anschluß an JAHNS, Brandenburg-Preußen: RAuscHER, Recht und Politik, 8.306 ff.- Neben dem im folgenden erläuterten prozeßbedingten Interesse war fiir die brandenburg-preußischen Präsentationen, die zwischen 1649 und 1741 ausgeübt wurden, außerdem die Zugehörigkeit zur reformierten Religion ein längerfristiges Auswahlkriterium; dazu s.o. Kap.II.3 .1.2.2. mit Anm.l91-20 1. 144
JAHNS, Brandenburg-Preußen, 8.182; auch schon 8MEND, Brandenburg-Preußen, 8.190. 8mend stellt nirgends einen Zusammenhang zwischen dem prosopagraphischen Befund (Rekrutierung von Einheimischen oder Auswärtigen) und der Appellationsbefreiung her.
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III.l. Geographische Herkunft
trale wurde aus den hinzuerworbenen Nebenländern (am wenigsten noch aus Hinterpommern) bis 1750 weiterhin an das RKG appelliert. Auch erstinstanzliehe Prozesse der Kurfürsten (als Kläger oder Beklagte) knüpften sich im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts nur zum geringsten Teil an die territorial geschlossene Mark Brandenburg, sondern vor allem an die versprengt im Niedersächsischen und Niederrheinisch-Westfälischen Kreis liegenden preußischen Provinzen. Diese zweigeteilte Prozeßsituation, vor allem aber der unterschiedliche Grad an Appellationsbefreiung, erklärt, warum die Kur- und Neumark selbst im gesamten Untersuchungszeitraum und auch schon lange zuvor als Herkunftsgebiet für kurfürstliche Präsentati ausgespart blieb, während umgekehrt die hinzuerworbenen Nebenterritorien von Magdeburg bis Kleve bis Mitte des 18. Jahrhunderts das bevorzugte Rekrutierungsfeld nicht nur im Rahmen der von Berlin zu vergebenden Kreispräsentationen, sondern auch zur Besetzung des Kurassessorats wurden. Solange die Appellationszuständigkeit des RKG für die preußischen Reichsprovinzen noch akzeptiert werden mußte, lag es auch im Interesse der brandenburgischen Kurfürsten, Räte aus den oberen Regierungs- und Justizbehörden dieser Nebenlande zu präsentieren, die sich in den Partikularrechten und der gesamten V erfaßtheit der betreffenden Regionen auskannten. Der geographische Bezugsrahmen für die Befolgung des Herkunftsprinzips wurde also auch im Rahmen der Kurpräsentationen vom Kurfürstentum weg auf die Reichsprovinzen im Niederrheinisch-Westfälischen und Niedersächsischen Kreis verlagert145. Berlin dachte insofern- aus seiner Perspektive völlig konsequentgesamtstaatlich. Dazu kam, daß sich wegen der geringen Bedeutung der kammergerichtliehen Jurisdiktion für die Kurlande dort im 17. und 18. Jahrhundert kaum noch geeignete Personen fanden, die sich im Kameralstilus, im kammergerichtlichen Prozeßverfahren, auskannten. Sehr viel eher war diese Qualifikation dagegen auf Grund der geschilderten Prozeßsituation noch in den Oberbehörden der zwischen Rhein und Elbe gelegenen Nebenprovinzen zu erwarten 146 . Im Jahre 1750 erlangte der preußische König nach langem Kampf endlich auch für seine seit dem 17. Jahrhundert hinzuerworbenen Reichsprovinzen ein
145 Im 17. und 18. Jahrhundert kamen ca. 30 bis 50% aller am RKG klagenden Parteien aus dem Niederrheinisch-Westfälischen Kreis, er war "Hauptherkunftsort der Kläger", s. BAUMANN, Gesellschaft, 8.35 ff. In der Detailanalyse untersucht Baumann ebd. allerdings nur diejenigen in diesem Kreis liegenden Territorien, die an dem hohen Prozeßaufkommen besonders stark beteiligt waren (Münster, Paderbom, Bentheim und Lippe).
146 Quellenbelege zu diesem Sachverhalt bei JAHNS, Brandenburg-Preußen, 8.184. Jedoch waren auch die aus den Reichsprovinzen rekrutierten Kandidaten nicht durchweg qualifiziert; s. Biogr. 29 (Brand) u. Biogr. 30 (Huß); auch Biogr. 124 (Surnmermann); Biogr. 34 (Meckel); Biogr. 68 (Spies).
III.l.2.2.2. Brandenburg-Preußen
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unbeschränktes Appellationsprivileg 147 • Damit fiel ein längerfristiges Auswahlinteresse weg, das etwa hundert Jahre lang den Rekrutierungsraum für brandenburg-preußische Präsentierte vorzugsweise in die Nebenprovinzen verlegt hatte. In den letzten Jahrzehnten vor der Reichsauflösung rekrutierte Berlin im Rahmen seiner Kur- und Kreispräsentationen fast nur noch 'Ausländer' 148 • Unter weitgehender Aussparung des gesamten brandenburg-preußischen Herrschaftsbereichs erstreckte sich der Rekrutierungsraum seit den sechziger Jahren von Mecklenburg bis Sachsen-Coburg, Mainz und Württemberg (vgl. die Karten 3a und 3b). Vorzugsweise handelte es sich um Landeskinder und/oder Beamte von Fürstenhöfen, mit denen Preußen in engen familiären und - wichtig vor allem in der Zeit des Fürstenbunds - guten politischen Beziehungen stand und denen gegenüber die Präsentation eines von ihnen empfohlenen Kandidaten eine freundliche Geste bedeutete. Die eigenen Räte, besonders solche, die sich im königlich preußischen Dienst als besonders qualifiziert erwiesen hatten, behielt der Berliner Hof dagegen im Lande, und die juristisch vorgebildete preußische Beamtenschaft, zum Dienst für König und Monarchie erzogen, orientierte sich mit ihren Karrierevorstellungen nach innen, nicht auf das Reich und seine Institutionen. Es ist bezeichnend, daß 1752 und 1765 zwei fähige Juristen, die 1745 bzw. 1758 zum brandenburgischen Kurassessorat präsentiert worden waren und nach Ablegung der Examen wegen der am RKG herrschenden Stellen- und Unterhaltsmisere eine jahrelange Wartezeit hinnehmen mußten, nach endlich erfolgter Vokation beide auf den Wechsel nach Wetzlar verzichteten, um auf Wunsch des preußischen Königs in dessen Diensten zu bleiben 149 • Ebenso bezeichnend ist auch, daß Ber147 Dieses 1750 ausgestellte Privileg wurde auf den 31.5.1746, das Datum der kaiserlichen Bewilligung, vordatiert. Es wurde 1750 ergänzt durch ein entsprechendes unbeschränktes Appellationsprivileg ftir das seit 1744 preußische Fürstentum Ostfriesland; dazu s. im einzelnen PERELS, Appellationsprivilegien, S.99 ff., 112 ff.; Druck der Privilegien ebd., 8.143 ff., 150 ff.; mit weiteren Nachweisen JAHNS, Brandenburg-Preußen, 8.180 mit Anm.54. 148 Im Rahmen der Kurpräsentation 1765: J.U. Cramer, bisher RKG-Ass. des ev. Fränk. Kreises in Wetzlar (Biogr. 65); 1789: Beulwitz, Coburg (Biogr. 35); 1791: Dalwigk, Mainz (Biogr. 36); 1804: Kamptz, Güstrow, auch Wismar (Biogr. 37); im Rahmen der ev. alternierenden Kurpräsentation 1800: K.A. Seckendorff, Warschau/Südpreußen, vorher Berlin (Biogr. 49); wegen des ev. Fränk. Kreises 1802: Spies, Ansbach (Biogr. 68); wegen des ev. Niederrheinisch-Westfal. Kreises 1780: J.F.A.K. Neurath, Darmstadt (Biogr. 104); wegen des Obersächs. Kreises 1774: K.G. Riedesel, Stuttgart (Biogr. 109); wegen des Niedersächs. Kreises 1783: Schüler, Braunschweig (Biogr. 126). Zu den 'Ausländern' unter ihnen gehörte bei genauerem Hinsehen, wie bereits oben in Anm.l40 erläutert, auch der 1772 zum brandenburgischen Kurassessorat präsentierte Georg Ludwig Meckel (Biogr. 34), der erst zeitgleich mit seiner Präsentation zum kgl. preußischen Regierungsrat in Minden ernannt wurde. 149 Der eine (Vette, Biogr. 31) war während der Wartezeit vom Landrichter der Grafschaft Teekienburg und minden-ravensbergischen Regierungsrat zum Geheimen Kriegsrat beim auswärtigen Departement des Kabinettsministeriums in Berlin befördert worden. Der andere (A.
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III.1. Geographische Herkunft
lin dem braunschweig-wolfenbüttelischen Hofrat Schüler, den Friedrich II. auf Empfehlung seines Dienstherrn 1783 wegen des Herzogtums Magdeburg zum Niedersächsischen Kreis-Assessor präsentiert hatte, die sonst allgemein übliche Erstattung der Kosten für den Prüfungsaufenthalt und für die endgültige Übersiedlung nach Wetzlar verweigerte. Der König, so seine Minister, "werde sich nie zu einer Ausgabe 'in einer solchen Reichssache' entschließen" 150 . Während Berlin einerseits in der Spätzeit des Reiches sein Präsentationsrecht besonders in problematischen Fällen in extremer Weise überinterpretierte und damit das Kameralkollegium unter Druck setzte, zog es sich andererseits aus dem Reich, aus seinen Verpflichtungen fiir das Reich und speziell aus einer mit der Reichsverfassung besonders eng verbundenen Institution zurück 151 • Dies zeigt auch der nach 1750 zu konstatierende Wechsel im Rekrutierungsverhalten, d.h. in der Verlagerung der Herkunftsgebiete brandenburg-preußischer Präsentati mehr oder weniger weit weg vom Gesamtstaat Preußen, vom 'Land oder Kreis des Präsentanten'. Die Beachtung des Herkunftsprinzips war fiir die preußischen Könige in den letzten Jahrzehnten des Reiches endgültig weder Anliegen noch Verpflichtung. Das Ergebnis ist der weiträumige unzentrierte Einzugsbereich, wie er auf den Karten 3a und 3b sichtbar ist. 3. Österreich Im Vergleich zu Preußen fällt am geographischen Einzugsbereich der kaiserlichhabsburgischen RKG-Präsentationen auf, daß sich die Großmacht Österreich in der Spätzeit des Reiches, genauer seit Ende der fiinfziger Jahre, in ihrem Rekrutierungsverhalten teilweise durchaus kontrapunktisch zu dem preußischen Gegenspieler verhielt. An sich präsentierte der Wiener Hof im engeren Untersuchungszeitraum relativ viele 'Ausländer'. Von den 17 Rekrutierungsentscheidungen, die nach Ausweis von Tabelle 2 (S.375) zwischen 1719 und 1799 im Rahmen der kurböhmischen und kaiserlichen Präsentation sowie der Österreichischen und Burgundischen Kreis-Präsentation von den zuständigen Dienststellen in den Wiener Zentralbehörden zu treffen waren, fielen allein neun auf Danckelmann, Biogr. 33) war inzwischen vom Regierungsrat in Magdeburg zum Regierungspräsidenten in Kleve avanciert und beendete seine Karriere später als Geheimer Staats- und Justizminister in Schlesien. SMEND, Brandenburg-Preußen, S.l95 Anrn.l (zitiert aus Akten des Geheimen Staatsarchivs Berlin); s. auch Biogr. 126 (Schüler). 150
151 Ein weiterer Beleg dafür ist der preußische Kammerzielerboykott. Damit Preußen endlich seine Kammerzider nach dem 1719/20 perReichsschluß erhöhten Satz bezahlte, mußte das Kameralkollegiurn 1791 auf die preußischen Rückstände verzichten, die im Laufe des 18. Jahrhunderts auf 320.000 Taler angelaufen waren; s. SMEND, Brandenburg-Preußen, S.l96; Näheres dazu mit weiteren Nachweisen s.o. Kap.II.3.1.4.1. Anrn.309.
III.1.2.2.3. Österreich
419
Juristen, die weder nach Geburt noch Vorkarriere aus dem Österreichischen Herrschaftsbereich stammten 152 • Zwei weitere waren zwar in Wien geboren, standen dann aber bis zu ihrer RKG-Präsentation in auswärtigen Diensten153 . Ein weiterer war an sich nach Geburt und Vorkarriere ebenfalls Nichtösterreicher und gelangte erst im Zusammenhang seiner Präsentation nach Wien 154 • Nur fünf Präsentierte konnten demgegenüber zur Zeit ihrer Präsentation eine etwas mehr oder weniger lange Vorkarriere in österreich-erbländischen Diensten vorweisen, drei von ihnen waren gebürtige Wiener 155 , zwei von ihnen außerhalb Österreichs aufgewachsen 156 . Die folgenden Karten 4a und 4b mit den Dienstorten zur Zeit der Präsentation sowie mit den Geburtsorten dieser 17 kaiserlich-habsburgischen Präsentati stellen den beschriebenen Herkunftsraum auch räumlich dar. Nach Ausweis der Tabelle 2 dominierte das nichtösterreichische Element vor allem unter den Präsentationen zum kurböhmischen sowie zum Burgundischen Kreis-Assessorat, die Wien nach der Readmission Kurböhmens (1708) sowie nach dem Anfall der bisher spanischen Niederlande (1714) überhaupt erst seit 1719 bzw. 1741 ausübte 157 • Von den insgesamt vier Rekrutierungsentscheidungen im Rahmen der kurböhmischen Präsentation waren drei in die Kategorie 4, nur einer in die Kategorie 1 einzuordnen 158 . Und auch dieser eine Fall mit anscheinend größter Nähe zum 'Land oder Kreis des Präsentanten' bezog sich auf einen Auswärtigen, der nur deshalb laut Definition in Kategorie 1 erfaßt wurde, weil er bereits RKG-Assessor war 159 . Das nicht eingekreiste Königreich Böhmen war für den Wiener Hof kein Rekrutierungsgebiet im Sinne des Herkunftsprinzips. Das heißt: kein einziger Jurist, der zum kurböhmischen Assessorat präsentiert wurde, stammte nach Geburt oder Vorkarriere aus Böhmen oder Mähren. 152 Speckmann, präs. 1719 (Biogr. 18); Leykam (Biogr. 19); K.A. A1bini (Biogr. 95); Linden (Biogr. 20); Tönnemann (Biogr. 50); Papius (Biogr. 58); Ph.K. Deel (Biogr. 59); Andrian (Biogr. 61); Stein, präs. 1799 (Biogr. 62). 153
K.H. Jodoci, präs. 1719 (Biogr. 53); Hauer (Biogr. 57).
154
Ortmann (Biogr. 54).
155
L'Eau (Biogr. 51); Maurer (Biogr. 52); Martini (Biogr. 56).
156 Gebier
(Biogr. 55); Fahnenberg (Biogr. 60). Fahnenberg war zwar in Mons (österr. Niederlande, heute Belgien) geboren, wo sich sein Vater im Zuge seiner Militärkarriere aufhielt. Er war jedoch in Wetzlar aufgewachsen. 157 1719 kurböhmische Präsentation: Speckmann (Biogr. 18); 1741 Burgund. Kreis-Präsentation: Hauer (Biogr. 57). 158 Kategorie 4: Speckmann, vorheriger Dienstort: Koblenz (als Konsulent und Syndikus der Niederrheinischen Reichsritterschaft, daneben auch in fstbfl. speyrischen Diensten) (Biogr. 18); Leykam, Paderbom (Biogr. 19); Linden, Mainz (Biogr.20). 159 Der aus Mechensee bei Isny stammende Kaspar Anton v. Albini (Biogr. 95) war nach einer Vorkarriere in lgfl. hessen-rheinfelsischen Diensten von 1760 bis 1766 kath. Schwäb. Kreis-Assessor gewesen, bevor er 1766 auf das kurböhmische Assessorat wechselte.
420
III.l. Geographische Herkunft
Karte 4a: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller RKG-Assessoren ( 14 •) und sonstigen Präsentierten (3 .&. ) des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die Österreich im Rahmen der kurböhmischen Präsentation (4), der kaiserlichen Präsentation (3), der Österr. Kreispräsentation (4) sowie der Burgund. Kreispräsentation (6) rekrutierte
III.l.2.2.3. Österreich
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Karte 4b: Geburtsorte aller RKG-Assessoren (14 •) und sonstigen Präsentierten (3 •) des Untersuchungszeitraums 1740-1806, die Österreich im Rahmen der kurböhmischen Präsentation (4), der kaiserlichen Präsentation (3 ), der Österr. Kreispräsentation (4) sowie der Burgund. Kreispräsentation (6) rekrutierte
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III.1. Geographische Herkunft
Prag und Brünn tauchen unter den Dienstorten der habsburgischen Präsentierten nur je einmal im Rahmen der kaiserlichen sowie der Österreichischen Kreis-Präsentation auf 60 . Bei den betreffenden Juristen handelte es sich um gebürtige Wiener, die im Zuge ihrer Anfangskarriere an die nachgeordneten Appellationsgerichte für Böhmen und Mähren versetzt worden waren. Ähnlich stellt sich der Einzugsbereich der seit 1741 auf das Burgundische Kreis-Assessorat rekrutierten Männer dar, deren Präsentationsschreiben formal in Brüssel von den dortigen Statthaltern ausgefertigt wurde, nachdem zuvor in Wien die Kandidatenauswahl stattgefunden hatte. Von den betreffenden sechs Rekrutierungsentscheidungen fielen vier in Kategorie 4, eine (nur wegen des Geburts- und Studienorts Wien) in Kategorie 3 161 . Insgesamt fünf der sechs zum Burgundischen Kreis-Assessorat Präsentierten hatten also niemals in Österreichischen Diensten gestanden, schon gar nicht im Burgundischen Kreis, d.h. in den seit 1714 Österreichischen Niederlanden. Eine Befolgung des Herkunftsprinzips aus den in der Kameralnorm intendierten Gründen war für Wien in bezug auf Kurböhmen und den Burgundischen Kreis, die der Jurisdiktion von RKG und RHR völlig entzogen waren, nicht interessant 162 . Auch die sonstigen zum Reich gehörenden Länder der Österreichischen Hausmacht dienten bis auf eine Ausnahme163 nicht als Rekrutierungsraum zur Besetzung des kurböhmischen und Burgundischen Kreis-Assessorats. Dafür hatten, wie die oben referierten Werte ergeben, im Rahmen dieser beiden Präsentationsbefugnisse auswärtige Aspiranten aus dem nichthabsburgischen Reich um so bessere Chancen, vor allem sol160 Prag: L'Eau (Biogr. 51); Brünn: Martini (Biogr. 56). 161 S. Tabelle 2 (S.375); Kategorie 4: Papius, vorheriger Dienstort Koblenz (als Rat und
Syndikus der Niederrheinischen Reichsritterschaft) (Biogr. 58); Ph.K. Deel, Mainz (Biogr. 59); Andrian, München (Biogr. 61); Stein, Würzburg (Biogr. 62); Kategorie 3: Hauer, Rastatt, aber Geburts- und Studienort Wien (Biogr. 57).
162 Neueste Edition des Burgundischen Vertrags von 1548, der die Exemtion des Burgundischen Kreises von der Jurisdiktion des Reiches festschrieb, in: RTA JR 18/3 (2006), nr.260, S.2166-2176; dazu s. auch E. DE BORCHGRAVE, Histoire des rapports de droit public qui existerent entre les provinces belges et l'empire d'Allemagne, Bruxelles 1871, bes. S.178 ff., S.398-404 (dt. Vertragstext); L. GROSS u.a. (Bearb.), Urkunden und Aktenstücke des Reichsarchivs Wien zur reichsrechtlichen Stellung des burgundischen Kreises, 3 Bde., Wien 19441945 (Vertragstext in Bd.l, nr.445, 8.439-447); NEVE, Rijkskamergerecht, bes. S.121-127; s. auch die z.Tl. ungenauen Kapitel über den Burgundischen Kreis bei DOTZAUER, Reichskreise in der Verfassung, S.58-80, bes. S.65 ff.; DERS., Die deutschen Reichskreise (1363-1806), 8.390-440, bes. S.404 f., dazu S.565-569.- Zu Böhmens. 0. PETERKA, Rechtsgeschichte der böhmischen Länder, Tl.2, Reichenberg 1928 (Neudr. Aalen 1965); W. WEGENER, Artikel Böhmen, in: HRG 1, 1971, Sp.469-482, hier Sp.472 u. 475; BEGERT, Böhmen, S.254-259; zu beiden Exemtionen s. auch kurz SELLERT, Zuständigkeitsabgrenzung, S.29 f.
163 Die sechste im Rahmen der Burgund. Kreis-Präsentation getroffene, der Herkunftskategorie 2 zugeordnete Rekrutierungsentscheidung fiel auf den 1776 präsentierten v.ö. Regierungs- und Kammerrat in Freiburg Egid Joseph Karl v. Fahnenberg (Biogr. 60).
III.1.2.2.3. Österreich
423
ehe, die dem Wiener Hof dank besonders wirkungsvoller grenzüberschreitender Protektion zur Präsentation empfohlen worden waren 164 • Für die kaiserliche und die Österreichische Kreis-Präsentation, in deren Rahmen Wien im Untersuchungszeitraum auf Grund der langen Amtszeiten der betreffenden Assessoren nur drei bzw. vier Rekrutierungsentscheidungen zu treffen hatte, ergibt die Herkunftsanalyse ein etwas anderes Bild (s. Tabelle 2, S.375). Trotz der nur geringen Gesamtwerte drückt sich in ihrer Verteilung auf die Kategorien 1 (Kaiser: 2, Österr. Kreis: 3), 2 (Kaiser: 0, Österr. Kreis: 0), 3 (Kaiser: 0, Österr. Kreis: 1) und 4 (Kaiser: 1, Österr. Kreis: 0) ein neuer Trend zugunsten eigener Landeskinder und Staatsdiener aus, der sich bei häufigeren Rekrutierungsanlässen vermutlich verstärkt hätte. Ein Blick auf die vorausgegangene Epoche macht dies deutlich: Die kaiserlichen RKG-Präsentationen erwecken für die rund hundert Jahre zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Beginn des engeren Untersuchungszeitraums nach dem geographischen Einzugsbereich der Präsentierten und überhaupt nach dem gesamten prosopographischen Befund den Eindruck, als ob sie von Wien, speziell von der zuständigen Reichshofkanzlei und dem Reichsvizekanzler, ohne irgendein längerfristiges Eigeninteresse, ja, was die Zeit bis 1720 betrifft, geradezu interesselos gehandhabt worden seien. Der wohl aus Schwaben stammende, im Dezember 1655 aufgeschworene und schon im Februar 1658 verstorbene kaiserliche Assessor Lic. Georg Heinrich Steil sowie der 1661 erfolglos zum kaiserlichen Assessor präsentierte Tiroler Dr. Jakob v. Tyerberg hatten im Zuge ihrer Vorkarriere noch beide in Österreichischen Diensten gestanden, darunter mehrere Jahre lang als Oberösterreichische Regimentsräte in Innsbruck 165 . Aber zwischen 1662 und 1740, dem letzten Regierungsjahr Kaiser Karls VI., rekrutierte Wien für das kaiserliche Assessorat ausschließlich Nichtösterreicher aus einem weitgespannten Rekrutierungsraum mit Schwerpunkt Mainz 166 . Da der Kaiser als Reichsoberhaupt bei der Besetzung seines kaiserli164 So besonders auffallig: Biogr. 59 (Ph.K. Deel); Biogr. 20 (Linden), beide von Kurmainz empfohlen. 165 Biographien und Präsentationsverläufe von Steil, v. Tyerberg (Thierberg; er hieß vor der Verleihung dieses Adelsprädikats Hueber) und den weiteren im folgenden genannten Juristen, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert auf eines der damals offiziell noch zwei kaiserlichen RKG-Assessorate präsentiert wurden, sind wegen fehlender Präsentationsschreiben, Generalexamina und sonstiger Lücken in den einschlägigen kammergerichtliehen Präsentationsprotokollen (Serie RKG IV C 1 ff.) und Präsentationsakten (RKG IV B 1115) nur schwer zu rekonstruieren. Diese Lücken werden durch die Wiener Gegenakten nur teilweise geschlossen; s. vor allem HHStAW, RK- RKG-Visit.A 380a (darin zwei Konvolute mit Akten betr. das 1. und 2. ksl. Assessorat); zu Tyerberg, dessen Präsentationsschreiben zuerst 1660, dann mit neuem Datum nochmals 1661 ausgefertigt wurde, s. ergänzend auch Akten in: ebd., RKG Visit.A. 329a; über ihn s. auch unten Anm.169. 166 Ab 1662 wurden zum kaiserlichen RKG-Beisitzer präsentiert: Emmerich Friedrich (Frh.) v. Walderdorff, geboren im kurtTierischen Limburg, zur Zeit der Präsentation (1662)
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III.l. Geographische Herkunft
chen Assessorats nicht an die Beachtung der Herkunftsnorm, also an Rekrutierung aus dem 'Land oder Kreis des Präsentanten' gebunden war, sondern seine Kandidaten aus dem ganzen katholischen Reich entnehmen konnte, sagt dieser für 1662 bis 1740 beschriebene außerösterreichische Herkunftsbereich zunächst nur soviel, daß Wien die kaiserlichen Präsentationen in diesem langen Zeitraum nicht für irgendwelche erbländischen Interessen nutzte. Hinzu kam aber, daß bei der Auswahl der Kandidaten auch auf die erforderliche Qualifikation wenig geachtet worden zu sein scheint167 • Die kaiserlichen Präsentationen zwischen 1661 kurmainzischer wirklicher Hofrat, 1663-1666 kaiserlicher RKG-Assessor.- Franz Johann Wolfgang v. Vorburg zu Deelsberg, geboren in Würzburg, 1673 bei Bewerbung um die kaiserliche Präsentation und 1674 bei erstmaliger Ausfertigung seines 1679 nochmals ausgestellten Präsentationsschreibens fstbfl. würzburgischer Rat und Amtmann zu Hardheim und Schweinberg (überreichte sein Präsentationsschreiben offenbar nicht am RKG). - J ohann Peter (nicht: Philipp) Lukas Köth v. Wanscheid, aus einem in Udenheim (südlich von Mainz) ansässigen reichsritterschaftliehen Geschlecht, laut familiengeschichtlicher Literatur nach Militärdiensten als kaiserlicher und Fränk. Kreis-Obrist kurmainzischer Hof- und Regierungsrat; zur Zeit der kaiserlichen Präsentation laut Ausweis der Mainzer Kirchenbücher (1680, 1685) zwar Aufenthalt in Mainz, wo die Familie den Köther Hof besaß; laut RKGPlenarprotokoll vom 8./18.7.1685 (anläßlich der nochmaligen Verlesung seines bisher nicht auffindbaren Präsentationsschreibens von 1684 oder 1685) war er aber zur Zeit der Präsentation nicht nur körperlich "sehr baufallig" bzw. "sehr defectuos", sondern auch "nihe in praxi gewesen u. beykeinem Gericht" (RKG IV C 2a, s.f.).- Dr. Johann Friedrich Scheib, geboren im gfl. reußischen Gera!Vogtland, praktizierte zunächst offenbar als Advokat in Leipzig und Dresden, war dann ein Jahr lang hzgl. mecklenburg-güstrowischer Rat, danach zwei Jahre lang in hzgl. Sachsen-weimarischen Diensten; zur Zeit seiner Präsentation ohne Dienstverpflichtung, hielt sich in Wien auf; war 1696 katholisch, angesichts der rein evangelischen Prägung seiner vorherigen Biographie (Studium in Jena und Leipzig!) offenbar Konvertit.- Johann Rudolf Frh. v. Ow, geboren in Oberdorf/Allgäu, wo sein Vater fstbfl. augsburgischer Jägermeister und Pfleger war; zunächst fstbfl. Hofrat in Fulda, dann in Eichstätt; besorgte zur Zeit der Präsentation und des Generalexamens (1700) seit neun Jahren eigene und ihm übertragene reichsritterschaftliehe Prozesse am RHR; lebte im übrigen ohne Dienstverpflichtung auf dem zum schwäbischen Ritterkanton Schwarzwald gehörigen Familienbesitz Wachendorf (zwischen den beiden in der vorderösterreichischen Grafschaft Hohenburg gelegenen Städten Horb und Rottenburg).- Lic. Philipp Friedrich (v.) Dresanus, geboren in Heiligenstadt im kurmainzischen Eichsfeld, nach Vorkarriere als Kanzler des Johanniterordens am Sitz des Großpriors in Reitersheim und kurmainzischer Titular-Hofrat 17131722 RKG-Assessor des kath. Fränk. Kreises, 1722-1731 kaiserlicher RKG-Assessor (präsentiert 1721). - Dr. Nikolaus (v.) Deel (Edler zu Deelsburg), geboren im Iuxemburgischen St. Vith als Sohn des dortigen Bürgermeisters und Kellers im benachbarten kurtTierischen Amt Schönberg, zur Zeit der kaiserlichen Präsentation (1732) seit vielen Jahren kurtrierischer Hof- und Revisionsrat sowie Prof. iur. in Trier, 1733-1739 kaiserlicher RKG-Assessor; s. die Biogr. 59 seines Sohnes Philipp Kar! v. Deel.- Lic. Johann Christoph Veit (v.) Tönnemann (Biogr. 50), geboren im fstbfl. paderbomischen Warburg, zur Zeit der kaiserlichen Präsentation (1740) kurmainzischer Hof-, Regierungs- und Revisionsrat in Mainz, 1740-1759 kaiserlicher RKG-Assessor. 167 Sieht man von Franz Johann Wolfgang v. Vorburg zu Deelsberg ab, der sein Präsentationsschreiben offenbar nicht am RKG übergab, seine Präsentation also nicht realisierte, dann war unter den fünfweiteren zwischen 1661 (Tyerberg) und 1700 (Ow) zum kaiserlichen Assessorat präsentierten Männem nur einer, der rezipiert wurde: Emmerich Friedrich Frh. v.
III.1.2.2.3. Österreich
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und 1700 mit ihrem weitgestreuten diffusen Rekrutierungsraum und ihrem auffallenden Mangel an qualifizierten, am Wiener Hofpersönlich bekannten Kandidaten spiegeln das Fehlen einer aktiven Reichspolitik in der langen Regierungszeit Leopolds I. wider. Unter Karl VI. wurde das kaiserliche Assessorat dann zwar regelmäßig dreimal nacheinander mit fachlich geeigneten Personen wiederbesetzt, aber weiterhin nur mit Nichtösterreichern aus dem Westen des Reiches 168 . Unter den Rekrutierungen zum Österreichischen Kreis-Assessorat ist in den Jahrzehnten nach dem Westfalischen Frieden das erbländische Element neben einigen Auswärtigen etwas stärker vertreten als unter den kaiserlichen Präsentierten169. Vor allem in denfünfzigerund frühen sechziger Jahren des 17. JahrWalderdorff, ein Bruder des damaligen Reichsvizekanzlers Wilderich Frhn. v. Walderdorff. Er übte sein Beisitzeramt dann flir nur drei Jahre (1663-1666) aus, um 1666 als Reichshofrat nach Wien zu gehen. Die übrigen vier Präsentierten gelangten wegen mangelnder fachlicher Qualifikation, zum Teil auch wegen moralischer Verfehlungen und einer problematischen Persönlichkeit (Scheib, Ow) nicht zur Aufschwörung oder nicht einmal zum Generalexamen (Köth v. Wanscheid). Bei dieser restriktiven Haltung des Kameralkollegiums spielte allerdings in einigen Fällen auch der damalige Unterhaltsmangel eine Rolle.
168 1721: Dresanus, Dienstort Wetzlar/RKG; 1732: N.Deel, Trier; 1740: Tönnemann, Mainz, s.o. Anm.166. Auf den bisherigen kath. Fränk. Kreis-Assessor Dresanus griff Wien schließlich 1721 zurück, um das seit dem Weggang Walderdorffs 1666 vakante kaiserliche Assessorat endlich rasch und risikolos wiederzubesetzen. Deel und Tönnemann verdankten ihre Präsentation einflußreichen Empfehlungen oder Verwandtschaftsbeziehungen. So war der erste in den engeren Untersuchungszeitraum fallende kaiserliche RKG-Assessor, der 1740 noch von Karl VI. präsentierte kurmainzische Hof-, Regierungs- und Revisionsrat Tönnemann (Biogr. 50), ein Neffe des langjährigen kaiserlichen Beichtvaters und Jesuitenpaters Vitus Georg Tönnemann.
169 Auch im Fall der Österr. Kreis-Präsentationen sind die kammergerichtliehen Präsentationsprotokolle (Serie RKG IV C 1 ff.) und Präsentationsakten (RKG IV B 1/16) in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sehr lückenhaft. Angesichts mehrerer fehlender Präsentationsschreiben, Generalexamina und sonstiger einschlägiger Kameralakten sind die Abfolge der Präsentationen zu den damals offiziell noch zwei Österr. Kreis-Assessoraten, die einzelnen Präsentationsverfahren sowie die Biographien der Präsentierten um so schwerer zu rekonstruieren, als die Präsentationsakten der flir die Österr. Kreis-Präsentation zuständigen Österreichischen Hotkanzlei bis auf wenige, heute im Verwaltungsarchiv Wien (Hofkanzlei, II B 4) befindliche Reste verbrannt sind. Die Akten der für die kaiserliche Präsentation zuständigen Wiener Reichshotkanzlei enthalten zwar auch einige Stücke betr. die Österr. Kreis-Präsentation, kompensieren die beschriebenen Lücken aber nur punktuell; s. vor allem HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 380a (darin zwei Konvolute mit Akten betr. das 1. und 2. ksl. Assessorat), ergänzend ebd., RKG Visit.A. 329a. - Soweit durch Kombination verschiedener Quellen feststellbar, wurden nach dem Westfälischen Frieden bis zu der 1719 vollzogenen, bereits in den engeren Untersuchungszeitraum fallenden Präsentation K.H. Jodocis (Biogr. 53) folgende Juristen zum Österr. Kreis-Assessor präsentiert, die ihre Präsentation aber nur zum Teil realisierten: Ferdinand Mohr v. Lichtenegg, aus einem alten Tiroler Rittergeschlecht, 1649 bis zu seinem Tod 1676 o.ö. Regimentsrat in Innsbruck, 1654, also noch zu Lebzeiten des von 1637 bis 1657 amtierenden Österr. Kreis-Assessors Dr. Heinrich Weyer, offenbar auf Vorschlag der o.ö. Regierung in Innsbruck vom Kaiser als Erzherzog zum (zweiten) Österr. KreisAssessor präsentiert; legte 1655 in Speyer seine Proberelation ab; war auch nach dem Tod Weyers vermutlich wegen des Unterhaltsmangels 1661 immer noch nicht rezipiert; danach
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III.l. Geographische Herkunft
verläuft seine Präsentation im Sande.- Dr. Jakob v. Tyerberg (auch: Thierberg, vor der Verleihung dieses Adelsprädikats 1653: Hueber), aus Tirol, seit 1645 bis zu seinem Tod 1687 in verschiedenen Positionen in Diensten der o.ö. Regierung in Innsbruck; 1654 als o.ö. Regimentsadvokat neben Ferdinand Mohr v. Lichtenegg ebenfalls aufVorschlag der o.ö. Regierung in Innsbruck vom Kaiser als Erzherzog zum (zweiten) Österr. Kreis-Assessor präsentiert; reiste 1654 nach Speyer, wurde aber vom Kameralkollegium angesichts des noch amtierenden Österr. Kreis-Assessors Heinrich Weyer und des zu den Examen gelassenen Compräsentatus Mohr v. Lichtenegg von vornherein abgewiesen; erhielt als o.ö. Regimentsrat 1660/61 wahlweise eine Präsentation zum kaiserlichen und eine zum Österreichischen KreisAssessor (1661 Umdatierung und Neuausfertigung der ursprünglich 1660 ausgestellten beiden Präsentationsschreiben); Tyerberg optierte für die kaiserliche Präsentation, legte 1661 Generalexamen und Proberelation ab, wurde jedoch 1662 wegen mangelnder Qualifikation rejiziert.- Lic. Johann Schweizer, lebte zur Zeit des Präsentation in Niederösterreich (begütert in Staatz/N.Ö., nördlich von Wien), Rat Ks. Leopolds I. und vorher schon Ks. Ferdinands III., vermutlich als n.ö. Regimentsrat in Wien; wurde in einem 1660 und nochmals 1661 ausgefertigten Präsentationsschreiben alternativ zum kaiserlichen oder aber Österr. Kreis-Assessor präsentiert, je nachdem, für welche der beiden ihm erteilten Präsentationen sich der gleichzeitig präsentierte o.ö. Regimentsrat v. Tyerberg entscheiden würde. Da letzterer die kaiserliche Präsentation wählte (s.o.), hätte Schweizer sich am RKG als Österr. Kreis-Präsentatus anmelden können. Seine geplante Reise nach Speyer wurde jedoch durch die Folgen einer im November 1660 erlittenen Schußverletzung verhindert. Noch im März 1663 hatte er sein Präsentationsschreiben nicht übergeben und tat dies offenkundig auch in der Folgezeit nicht.Johann Daniel (Frh.) v. Ridder zu Groen( e )stein, aus einem ursprünglich niederländischen, 1648 in die Rheinische Reichsritterschaft rezipierten Adelsgeschlecht, geboren auf dem im Rheingau gelegenen Stammsitz in Kiedrich als Sohn eines kurmainzischen Kriegsrats und Kapitäns der Leibgarde (ursprünglich in kaiserlichen Kriegsdiensten); zur Zeit der Präsentation kurmainzischer adliger Hofrat und Präsident des Hofgerichts in Mainz, wurde im November 1671 auf Empfehlung seines kurfürstlichen Dienstherrn (Johann Philipp v. Schönborn!) zum Österr. Kreis-Assessor präsentiert, verzichtete jedoch zugunsten seiner Karriere in kurmainzischen Diensten auf die Realisierung dieser Präsentation; 1680-1710 kurkölnischer RKG-Assessor (1677 präsentiert).- Dr. Philipp Christoph v. Merle, geboren in Koblenz als Sohn eines kurtrierischen Rats und Enkel eines kurtrierischen Kanzlers (Johann v. Anethan; die Verdienste dieses Großvaters für das Erzhaus werden im Präsentationsschreiben ausdrücklich erwähnt), zur Zeit der Präsentation (1674) und bis zur Aufschwörung gfl. fürstenhergiseher Rat und Oberamtmann in Meßkirch, 1679-1700 Österr. Kreis-Assessor.- Philipp Heinrich (Edler v ., später Frh. v .) J odoci, geboren in Mainz als Sohn eines damaligen kurmainzischen Geheimen Rats und späteren wirklichen Reichshofrats in Wien, nach Anfangsposition als kurtrierischer Hofrat in Koblenz (Dienstherr: der damalige Kammerrichter Johann Hugo v. Orsbeck) seit 1699 kurpfälzischer Regierungsrat in Heidelberg, als solcher 1700 auch mit Rücksicht auf die Verdienste seines verstorbenen Vaters zum Österr. Kreis-Assessor präsentiert, 1701 zum General- und Spezialexamen zugelassen, unterbrach im Frühjahr 1701 die Ausarbeitung seiner Proberelation, um im Auftrag seines kurpfälzischen Dienstherrn als Gesandter an verschiedenen Kreistagen teilzunehmen; verfolgte seine Präsentation nach Ende 1701 nicht weiter, sondern machte seit 1704/6 in kaiserlich-österreichischen Diensten Karriere (seit 1706 als österreichischer Fürstenratsdirektorialgesandter am Reichstag in Regensburg, seit 1734 bis zu seinem Tod 1740 als kaiserlicher Konkommissar ebd.), älterer Bruder des im folgenden erwähnten Österr. Kreis-Assessors Karl Heinrich v. Jodoci (Biogr. 53).- Dr. Johann Baptist Moser (v. Moshofen), geboren in Rattenberg/Tirol, nach Vorkarriere als Advokat und Fiskalverwalter in Bozen, Prof. iur. und Hofrat in Salzburg (1675-1684) und v.ö. Vizekanzler in Waidshut seit 1687 o.ö. Regimentsrat in Innsbruck, als solcher 1710 im Alter von über 60 Jahren präsentiert, 1711-1718 Österr. Kreis-Assessor.
III.1.2.2.3. Österreich
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hunderts wurden alle Österr. Kreis-Präsentationen an Juristen aus Tirol bzw. Niederösterreich vergeben, wobei die betreffenden Kandidaten allerdings entweder erfolglos blieben oder ihre Präsentation gar nicht erst realisierten. Unter den Dienstorten dieser 1654 und 1660/61 präsentierten Landeskinder fallt vor allem Innsbruck auf (Mohr v. Lichtenegg, 2 x Tyerberg). Hier regierte bis 1665 noch die jüngere Tiroler Linie des Erzhauses, die von der Wiener Zentrale in die Vergabe der Österreichischen Kreis-Präsentation wiederholt mit einbezogen wurde 170 • Wie bereits erwähnt, war auch der 1653 zum kaiserlichen RKG-Assessor präsentierte, von 1655 bis 1658 in Wetzlar amtierende Georg Heinrich Steil im Zuge seiner Vorkarriere mehrere Jahre lang oberösterreichischer Regimentsrat in Innsbruck gewesen. Innsbruck, damals Regierungszentrum fiir Tirol und Vorderösterreich und- nach österreichischem, vom RKG und dem Schwäbischen Kreis heftig bestrittenem Anspruch- Appellationsinstanz für das kaiserliche Landgericht in Schwaben, spielte damals als ein im 17. Jahrhundert vor allem für die Österreichischen Kreis-Präsentationen mehrfach anvisierter Rekrutierungsort auf habsburgischer Seite durchaus eine ähnliche Rolle wie in dem Jahrhundert vor 1750 die Oberbehörden der brandenburg-preußischen Nebenprovinzen im Niederrheinisch-Westfalischen und Niedersächsischen Kreis 171 • Nach 170 Zum Beispiel forderte Ks. Ferdinand III. 1654 seinen in Innsbruck regierenden Vetter Erzhzg. Ferdinand Karl auf, für die beiden Österr. Kreis-Assessorate, die dem gesamten Haus Österreich seit 1648 zustanden, zwei qualifizierte Personen vorzuschlagen. Auf Anraten der o.ö. Regierung in Innsbruck wurde daraufhin "neben einem von Adl", dem o.ö. Regimentsrat Ferdinand Mohr v. Lichtenegg, der damalige o.ö. Regimentsadvokat Jakob (Hueber) v. Tyerberg empfohlen und vom Kaiser als Erzherzog präsentiert; s. HHStAW, RHR u. RK- Verf.A., RHR 41 (Hueber v. Thierberg, 1658). -Der in der oberschwäbischen Reichsstadt Biberach geborene, seit 1586 in Speyer amtierende Österr. Kreis-Assessor Dr. Christoph Aschmann war nach eigener Aussage 1585 von Erzhzg. Ferdinand von Tirol, dem damals ältesten Erzherzog des Gesamthauses und Onkel Ks. Rudolfs II., präsentiert worden; s. Aschmann an Ks. Matthias, 31.7.1612, Or.: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 380a (Akten betr. das 2. ksl. Assessorat). 171 Vgl. A. ERLACHER, Beamtenschematismus der drei Oberösterreichischen Wesen in den Jahren 1632-1646, masch. Diss. phil. Innsbruck 1973; S. SEEBER, Beamtenschematismus der drei Oberösterreichischen Wesen in den Jahren 1646-1665, masch. Diss. phil. Innsbruck 1977; M. SöLVA, Beamtenschematismus der drei Oberösterreichischen Wesen in den Jahren 16651679, masch. Diss. phil. Innsbruck 1974; H. STAUDINGER, Beamtenschematismus der drei o.ö. Wesen in den Jahren 1679-1710, masch. Diss. phil. Innsbruck 1968; K. LINKE, Beamtenschematismus der drei o.ö. Wesen unter Karl VI., masch. Diss. phil. Innsbruck 1967 (das in diesen Dissertationen zusammengestellte Material war äußerst hilfreich für die Rekonstruktion der Biographien jener oben genannten Juristen, die im Zuge ihrer (Vor-)Karriere in Innsbruck tätig waren). Zu Struktur, Kompetenzen und Geschichte der Innsbrucker Zentralbehörden, die nach dem Aussterben der jüngeren Tiroler Nebenlinie (1665) an Selbständigkeit verloren und durch die Verwaltun~sreformen Maria Theresias zu einer Provinzialbehörde für Tirol degradiert wurden, s. den Uberblick bei F. DöRRER, Die für Vorderösterreich zuständigen Behörden in Innsbruck und die Quellen zur Geschichte Vorderösterreichs im Tiroler Landesarchiv, in: H. Maier- V. Press (Hgg.), Vorderösterreich in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1989, S.367-393 (mit weiterführender Literatur).- Zu dem die ganze Frühe Neuzeit
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III.l. Geographische Herkunft
dieser erbländischen und vor allem Oberösterreichischen Rekrutierungswelle der 1650erund frühen 1660er Jahre wurde allerdings erst wieder zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein oberösterreichischer Regimentsrat aus Innsbruck für das Österreichische Kreis-Assessorat rekrutiert: der mit über sechzig Jahren eigentlich viel zu alte, aber 1711 dennoch ins Kameralkollegium aufgenommene Johann Baptist Moser v. Moshofen. Im übrigen aber kommt in den Österreichischen Kreis-Präsentationen, die nach dem Erlöschen der jüngeren Tiroler Linie (1665) 1671, 1674 und 1700 vollzogen wurden und nur einmal bis zur Aufschwörung gediehen, keinerlei erbländisches oder gar gesamtstaatliches Denken, kein sichtbares Engagement seitens der zuständigen Österreichischen Hofkanzlei in Wien zum Ausdruck. Der Rekrutierungsraum verlagerte sich auch für die Österreichischen Kreis-Präsentationen in den Westen des Reiches (Geburtsorte: Kiedrich b. Mainz, Koblenz, Mainz; Dienstorte: Mainz, Meßkirch, Heidelberg, vorher Koblenz). Nach der nur siebenjährigen Assessorentätigkeit des Tirolers Moser v. Moshofen wurde die Reihe der im engeren Untersuchungszeitraum gefällten vier Rekrutierungsentscheidungen eröffuet mit Karl Heinrich v. Jodoci, Sohn eines verstorbenen Reichshofrats und Bruder eines damaligen Österreichischen Fürstenratsdirektorialgesandten in Regensburg. Jodoci, der von 1719 bis 1743 in Wetzlar amtierte, wurde zwar wegen seines Geburts- und Studienorts Wien der Kategorie 3 zugeordnet, hatte jedoch bisher ausschließlich in kurtrierischen Diensten gestanden und verdankte seine Präsentation zweifellos weniger seiner Herkunft aus Österreich als familiärer Protektion 172 • Auch der Nachfolger Jodocis auf dem Österreichischen Kreis-Assessorat, der 1745 von Maria Theresia als Erzherzogin von Österreich präsentierte und von 1750 bis 1775 am RKG tätige Johann Peter Ortmann, war an sich nach Herkunft und Vorkarriere noch ein echter 'Ausländer': In der kurtrierischen Residenzstadt Koblenz aufgewachsen und dort ebenso wie sein Vorgänger Jodoci viele Jahre lang in kurfürstlichen Diensten, war Ortmann erst 1745, zeitgleich und wohl im Zusammenhang mit seiner Präsentation, zum niederösterreichischen Regimentsrat in Wien ernannt worden und wurde nur deshalb der Kategorie 1 zugewiesen 173 • durchziehenden Streit um die Appellation vom Landgericht in Schwabens. ausführlich WEITZEL, Kampf, S.67-87; auch H.-G. HOFACKER, Die Landvogtei Schwaben, in: Maier-Press (Hgg.), Vorderösterreich, S.57-74, hier S.62 ff. 172 K.H. Jodoci (Biogr. 53) war nach Abschluß seiner Ausbildung bis zur Aufschwörung als Österr. Kreis-Assessor ca. 15 Jahre lang kurtrierischer Hofrat in Koblenz. 173 Ortmann (Biogr. 54) war zwar in Düsseldorf geboren, jedoch in Koblenz, seiner eigentlichen Heimatstadt, aufgewachsen. Er stand dort nach anfänglicher Advokatentätigkeit seit 1734 als Rat und Hochgerichtsschöffe, dann auch Geheimer Sekretär des Kurfürsten in kurtrierischen Diensten, bis er im Aprill745 von Maria Theresia zum n.ö. Regimentsrat in Wien
III.1.2.2.3. Österreich
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Soweit das sehr gemischte, von keiner oder geringer Interessenkontinuität geprägte Rekrutierungsverhalten im Rahmen der kaiserlichen und Österreichischen Kreis-Präsentation bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Danach setzte die bereits angedeutete Trendwende ein. In der Regierungszeit Maria Theresias, Pranz' II. und Josephs II. wurden die je zwei Kandidaten, die bis zur Auflösung des RKG noch für das kaiserliche und das Österreichische Kreis-Assessorat rekrutiert werden mußten, alle vier nur noch aus den landeseigenen Behörden rekrutiert, drei von ihnen waren gebürtige Wiener 174 • Mit einer bis dahin unbekannten Programmatik hob der Reichsvizekanzler Colloredo 1759 an dem aus Wien stammenden königlich böhmischen Appellationsrat in Prag Theodor Karl de L'Eau, der sich zusammen mit fünf auswärtigen Konkurrenten um die kaiserliche Präsentation beworben hatte, als Vorzug hervor, daß er im Gegensatz zu einem gleichermaßen qualifizierten Mitbewerber "die Gnad hat, in kay. königl. Diensten zu stehen und in hiesigen Landen gebohren, somit durch doppelte Verbindung mehrer für den allerhöchsten Dienst geeignet zu seyn" 175 . Der Österreichische Staatskanzler Kaunitz, seit der Errichtung der Haus-, Hof- und Staatskanzlei der entscheidende Mann für die Vergabe der kurböhmischen, der Österreichischen und der Burgundischen Kreis-Präsentation, beschied 1773 einen in Corvey bediensteten Anwärter auf die Österreichische Kreis-Präsentation mit den Worten, "daß bey einer dergleichen Concurrenz demjenigen, welcher in disseitigen Diensten wirklich verpflichtet und gebraucht worden, der Vorzug zugestanden zu werden pflege". Die Expektanz auf das Österreichische Kreis-Assessorat, das mit dem Tod Ortmanns 1775 frei wurde, war bereits dem damals als oberösterreichischer Gubemialrat in Innsbruck, seit 177 4 als vorderösterreichischer Regierungs- und Kammerrat in Freiburg dienenden Heinrich Ludwig Karl v. GebIer, dem Bruder eines k.k. Staatsrats, erteilt worden 176 • Auch bei der Besetzung des Burgundischen Kreis-Assessorats mit dem vorderösterreichischen Regierungs- und Kammerrat in Freiburg Egid Joseph Karl v. Fahnenberg, dem Neffen des Österreichischen Fürstenratsdirektorialgesandten Aegidius Freiherrn v. Boernannt wurde. Erst in dieser Position, die er bis zur Aufschwörung als Österr. Kreis-Assessor in Wetzlar 1750 innehatte, erwarb er sichjuristische Praxis in einem Ratskollegiurn. L'Eau (Biogr.51); Maurer (Biogr.52); Gehler (Biogr.55); Martini (Biogr.56). Der Konvertit Gehler war im evangelischen Greiz/Gft. Reuss-Obergreiz geboren, die anderen drei in Wien. 174
175 Vortrag des Reichsvizekanzlers Colloredo an Ks. Franz I., Wien, 10.9.1759, Konz. u. Or.: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 339b (de L'Eau, 1759). De L'Eau (Biogr. 51) erhielt das kaiserliche Placet. 176 Staatskanzler Kaunitz an den fstl. corveyischen Geheimen Rat und Kanzler Johann Heinrich Frech, Wien, 18.2.1773, Konz.: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. ad 335; dazu Biogr. 55 (Gehler), Va.
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III.1. Geographische Herkunft
rie, kam 1776 das neue k.k. Rekrutierungsdenken zum Zuge 177 • Es hätte beinahe auch 1796, bei der Neubesetzung des nach 30 Jahren erstmals wieder vakant gewordenen kurböhmischen Assessorats, gesiegt, wenn Wien nicht auf einen Protege des mächtigen kurmainzischen Hofkanzlers Albini, den kurmainzischen Hof- und Regierungsrat Pranz Joseph lgnaz Freiherrn v. Linden, hätte Rücksicht nehmen müssen 178 . Ganz im Gegensatz zu der feindlichen Großmacht Preußen, die ihre landeseigenen Beamten, selbst solche aus den Nebenprovinzen, dem "Reichsdienst" in Wetzlar seit den sechziger Jahren fast völlig entzog, sandte Wien also in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkt seine zum Dienst für die Gesamtmonarchie erzogenen Räte auf die kaiserlich-habsburgischen RKG-Assessorate, und zwar durchgehend im Rahmen der kaiserlichen und Österreichischen KreisPräsentation, der Tendenz nach auch im Rahmen der Burgundischen Kreis-Präsentation, der Absicht nach auch im Rahmen der kurböhmischen Präsentation. Wien, so lautet das Fazit angesichts der zitierten Quellenaussagen und angesichts der seit 1759 sichtbaren neuen Tendenz in den Rekrutierungsentscheidungen, behandelte seit Maria Theresia und vor dem Hintergrund der von ihr eingeleiteten Staatsreformen die "Reichssache" der Präsentationen als "Staatssache" von einiger Wichtigkeit 179 . Bei der Realisierung dieser neuen Rekrutie177 Biogr. 60 (Fahnenberg); dazu Biogr. 22 (Ä.V.F. Borie). Vgl. auch den Vortrag des Reichsvizekanzlers vom 26.9.1795 an Ks. Franz II., worin Colloredo-Mansfeld dem Kaiser im Zusammenhang einer auswärtigen Bewerbung (Münch v. Bellinghausen) um die erledigte Burgundische Kreis-Präsentation nahelegte, "bey übrigens gleichen Verdiensten gebohrne Landeskinder und solche, deren Eltern und Voreltern sich bereits besondere Verdienste um den Staat und den allerhöchsten Dienst erworben haben", bei der Vergabe habsburgischer Präsentationen vorzüglich zu berücksichtigen, Konz. u. Or.: HHStA W, RK- RKG-Visit.A. 380b (Burgund. Präsentation, 1795). 178 Baron Thugut, k.k. dirigierender Minister der auswärtigen Geschäfte, an den kaiserlichen Gesandten im Reich Grafen Schlick, Wien, 7.5.1796, Kopie: FN 1 (Nachl. Albini), Mappe 6, fol.123 f.: "Obschon zu der nun erledigten Kurböhmischen Präsentazion bereits einige Kompetenten von anerkannter Geschiklichkeit selbst aus den K.K. Erblanden sich gemeldet haben ... "; s. auch Biogr. 20 (Linden); vgl. Biogr. 75 (F.J. Albini).
Zusammen mit der Hinwendung zum eigenen Staat als Rekrutierungsraum für die kaiserlich-habsburgischen Präsentierten achtete Wien in den letzten Jahrzehnten des Reiches mit größerer Sorgfalt auf die fachliche Eignung der ins Auge gefaßten Kandidaten, die sich in Wien zum Teil in einem regelrechten Konkurs einer dem kammergerichtliehen Spezialexamen entsprechenden Vorprüfung aus Reichshofratsakten unterwerfen mußten; vgl. Biogr. 20 (Linden); Biogr. 52 (Maurer); Biogr. 56 (Martini); Biogr. 60 (Fahnenberg); Biogr. 61 (Andrian). Eine auch fiir den Wiener Präsentationshof blamable Rejektion eines unqualifizierten Mannes wie noch 1749 im Fall des Burgund. Kreis-Präsentatus Hauer (Biogr. 57) sollte so vermieden, das Ansehen des gesamten katholischen Religionsteils durch Auswahl fahiger katholischer Assessoren erhalten werden; s. das auch in dieser Hinsicht programmatische, dem Kaiser vorgetragene Referat des Reichsvizekanzlers Colloredo, Wien, 10.9.1759, Konz. u. Or.: HHStAW, RK- RKG-Visit.A. 339b (de L'Eau, 1759).- Dieses Qualitätsdenken schloß allerdings die Präsentation von (noch) nicht überragend qualifizierten, aber stark protegierten 179
III.1.2.2.3. Österreich
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rungsvorstellungen stießen Staatskanzlei und Reichshofkanzlei allerdings auf ähnliche Schwierigkeiten wie die Berliner Zentralbehörden, nur zogen sie daraus andere Konsequenzen als der preußische Antipode. Wie der Staatskanzler Kaunitz 1767 bei seiner Suche nach einem fahigen erzherzoglich Österreichischen Subdelegierten bei der Visitation in Wetzlar erfahren mußte, waren Juristen mit gründlicher Kenntnis in Reichssachen und vor allem im Kameralprozeß in den Österreichischen Erblanden schwerer zu finden als im übrigen Reich und in den katholischen Reichsteilen wiederum schwerer als in den protestantischen 180 • Die umfassende und von Wien auch in der Praxis weitgehend durchgesetzte Exemtion der Österreichischen Erblande von der Gerichtsbarkeit des RKG (und ebenso des RHR) erklärt diesen Mangel 181 • Um ihm abzuhelfen, wurden junge Österreicher ganz im Einklang mit den übrigen, auf Effizienz und Leistung zielenden Reformen des aufgeklärten Österreichischen Absolutismus seit Mitte der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts dazu angehalten, im Zuge ihrer juristischen Ausbildung die reichsgerichtliche Praxis, "dieses vorhin den Österreichern fast unbekanntes Fach", zu erlemen 182 • Landeseigene Bewerber um eine kaiserlichhabsburgische Präsentation mit entsprechender Qualifikation- sei es ein PraktiLandeskindem und Beamten nicht aus, wie die Beispiele Martini und Fahnenberg zeigen.Der einzige, der trotz dieses neuen, auch auf die habsburgisch-kaiserlichen Präsentationen augewandten Leistungsdenkeng in Wetzlar durchfiel, war der 1796 auf das Burgund. KreisAssessorat präsentierte und wegen mangelnder Qualifikation rejizierte Gottfried Frh. v. Andrian-Werburg (Biogr. 61). S. dazu den interessanten Briefwechsel zwischen Kaunitz und dem kurmainzischen Minister Karl Friedrich Willibald Frhn. v. Groschlag vom Frühjahr 1767 in: HHStAW, RKRKG-Visit.A. ad 335. 180
181 Kaunitz suchte für die Stelle eines Österreichischen Subdelegierten bei der RKG-Visitation einen Mann, "der mit einer gründlichen Kenntnis aller Rechte eine vollständige Kenntnis des Reichs-Kammer-Processes und deren langwieriger Übung vereinige, annebst auch einen aufgeklärten Geist, ein verträgliches Gemüth, den nöthigen Arbeitseifer in Geschäften und eine gute Feder habe". Die Kombination all dieser Eigenschaften sei jederzeit und an den meisten Orten selten gewesen, "in hiesigen Österreichischen Landen aber deswegen nicht so leichte anzutreffen, weil der Reichs Kammerpraxis allhier von weit geringerem Nutzen und Gebrauche als im übrigen Römischen Reiche, zumalen in unseren Gegenden ist; und diejenigen Männer, so besagten Karnmer-praxin allhier genugsam verstehen, wegen ihrer in hiesigen Landen bereits erlangten wichtigen Ämter nicht von Ort und Stelle können gelassen werden"; s. N.N. [Andreas Adolf] v. Krufft, Hofrat in der Österreichischen Staatskanzlei (auf Befehl des Staatskanzlers Kaunitz) an seinen Bruder N.N. v. Krufft, Stiftsherrn und Scholaster von St. Kunibert in Köln, Wien, 10.3.1767, Reinkonz.: HHStA W, RK- RKG-Visit.A. ad 335. 182 Franz
Edler v. Spaun, v.ö. Regierungsrat in Freiburg, an Ks. Joseph II., s.l., s.d. (kurz nach 23.4.1782, präs. 2.5.1782), Or. (mit beigelegten Zeugnissen über erworbene Kenntnisse in der Praxis der beiden höchsten Reichsgerichte): HHStA W, RK- RKG-Visit.A. 380b (Konv. mit Bewerbungsakten bei Wiederbesetzung des nach dem Tod de L'Eaus erledigten kaiserlichen Assessorats); ebs. ders. an dens., s.l., s.d. (kurz nach 17.7.1782, präs. 1.8.1782), Or.: ebd.
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III.l. Geographische Herkunft
kum am RKG oder am RHR- wurden entsprechend bevorzugt, was ebenfalls den neuerschlossenen Rekrutierungsraum Österreich erklärt 183 . In einem einzigen Punkt gab es allerdings zwischen dem jeweiligen Rekrutierungsverhalten Berlins und Wiens in der Spätzeit des Reiches eine Parallele. Ebenso wie die preußische Hauptstadt war die Kaiserresidenz weder im engeren Untersuchungszeitraum noch zuvor ein Rekrutierungsort flir Juristen mit längerer Vorkarriere an einer der zahlreichen Wiener Justiz- und V erwaltungsstellen. Dies galt flir die dortigen Reichsbehörden allemal: Die Fluktuationsströme zwischen Wetzlar und Wien verliefen im 18. Jahrhundert, was die Beisitzerstellen betraf, ausschließlich in südöstlicher Richtung, von einem RKG-Assessorat auf eine RHR-Stelle oder auf ein Reichsreferendariat in der Reichsho:f:kanzlei 184 . Aber auch aus den obersten Wiener Dienststellen flir die Erblande wurde kein erbländischer Jurist flir eine kaiserlich-habsburgische RKG-Präsentation rekrutiert. Wer als geborener Österreicher einmal beruflich in Wien, im Zentrum der habsburgischen Monarchie, Fuß gefaßt hatte, wechselte nicht mehr nach Wetzlar185. Ein Vergleich der beiden Karten 4a und 4b (S.420 f.), von denen die eine die Dienstorte zur Zeit der Präsentation, die andere die Geburtsorte der 17 im engeren Untersuchungszeitraum vom Wiener Hof auf ein RKG-Assessorat entsandten Juristen verzeichnet, illustriert den Sachverhalt: Unter den 17 Rekrutierten waren flinf mit Geburtsort Wien, aber nur einer mit Dienstort Wien 186 . Und dieser eine war kein geborener Österreicher mit mehrjähriger Wiener Vorkarriere, sondern der bereits erwähnte Kurtrierer Johann Peter Ortmann, der erst zeitgleich mit seiner Präsentation zum Österreichischen Kreis-Assessor 1745 flir die Dauer seiner Wartezeit als niederösterreichischer Regimentsrat in die Dienste seines Präsentationshofs übernommen wurde. Daflir stammten die flinf habsburgischen Staatsdiener, die seit 1759 je zweimal flir das kaiserliche und Österreichische Kreis-Assessorat, einmal flir das 183 Vgl. außer den in der vorigen Anmerkung zitierten Bewerbungsschreiben Spauns als weiteres Beispiel: Aloys Joseph v. Maurer, v.ö. Regierungs- und Kammerrat, an Ks. Joseph II., s.l., s.d. (kurz vor 12.3.1781), Kopie (mit beigelegter Kopie eines Expektanzdekrets von 1777) in: HHStAW, RKG-Visit.A. 380b (Österr. Präsentation, 1782-1784).
184 Reichshofrat Vulpius (Biogr. 40); Reichsreferendar: Leykam (Biogr. 19), F.J. Albini (Biogr. 75).- Wenn umgekehrt altadlige Reichshofräte von Wien nach Wetzlar gingen, dann, weil sie dort die Möglichkeit des Aufstiegs zum RKG-Präsidenten hatten (s.o. Kap.II.2.2.2. mit Anm.90). Der Reichshofrat Philipp Karl Gf. zu Oettingen-Wallerstein (1759-1826), der 1791 kath. RKG-Präsident und 1797 sogar Kammerrichter wurde, ging 1801 nach Wien zurück, um das Kammerrichteramt mit dem formal gleichrangigen, jedoch wirklich kaisernahen Posten des RHR-Präsidenten zu vertauschen. 185 Vgl. auch das Quellenzitat in Anm.l81. 186 Geburtsort Wien: L'Eau (Biogr. 51); Maurer (Biogr. 52); K.H. Jodoci (Biogr. 53); Mar-
tini (Biogr. 56); Hauer (Biogr. 57); Dienstort Wien: Ortmann (Biogr. 54).
III.1.2.2.3. Österreich
433
Burgundische Kreis-Assessorat rekrutiert wurden, nach ihren Dienstorten zur Zeit der Präsentation sämtlich aus den Oberbehörden habsburgischer Provinzen: je einmal aus den Appellationsgerichten in Prag und Brünn, dreimal aus der vorderösterreichischen Regierung und Kammer in Freiburg 187 • Dazu kam ein weiterer Freiburger Regierur~gs- und Kammerrat, der sich 1782 erfolglos um die kaiserliche und die Österreichische Kreis-Präsentation bewarb 188 • Der Wechsel von diesen nachgeordneten Dienststellen an das RKG war für die betreffenden Juristen ein lukrativer Karrieresprurig, macht also ihre Bewerbungen verständlich, wobei sich allerdings der in Wien geborene kaiserliche Assessor Maurer von Kronegg stets von Wetzlar wegsehnte und wiederholt vergeblich um Rückübernahme in kaiserliche Dienste bat 189 . Aus der Sicht des Wiener Hofes bedeutete der Regierungssitz Freiburg, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den kaiserlich-habsburgischen RKG-Präsentationen die Funktion des früher recht häufigen Dienstorts Innsbruck übernahm, durchaus ein Programm, das in das neue Rekrutierur~gsverhalten paßt. Freiburg, das im Zuge der theresianischen Staatsreform 1759 eine direkt der Wiener Zentrale unterstellte vereinigte Repräsentation, Regierung und Kammer für Vorderösterreich erhielt, war zwar vom Zentrum der habsburgischen Monarchie weit entfernt, aber dem Reich mehr zugewandt als irgendeine andere Österreichische Provinz 190 • Die hier tätigen Juristen waren mit Reichssachen stärker befaßt als andere erbländische Justiz- und Regierur~gskollegien. Von ihnen konnte man die Verteidigung der Österreichischen Exemtionsprivilegien gegenüber der Kameraljurisdiktion in dem von Wien behaupteten Umfang am ehesten erwarten 191 • Diese letzte VorkarrierePrag: L'Eau (Biogr. 51); Brünn: Martini (Biogr. 56); Freiburg: Maurer (Biogr. 52), GebIer (Biogr. 55), Fahnenberg (Biogr. 60). 187
188 Franz 189 Biogr.
Edler v. Spaun; s. seine in Anm.182 zitierten Bewerbungsschreiben. 52 (Maurer), bes. VII.
S. eingehend F. QUARTHAL - G. WIELAND, Die Behördenorganisation Vorderösterreichs von 1753 bis 1805 und die Beamten in Verwaltung, Justiz und Unterrichtswesen, Bühl/ Baden 1977; vgl. im größeren Kontext auch DERS., Österreichs Verankerung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Die historische Bedeutung der Österreichischen Vorlande, in: R.G. Plaschka u.a. (Hgg.), Was heißt Österreich? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute, Wien 1995, S.109-133, bes. S.124 f.; für die obige Fragestellung nicht ergiebig: W. ZORN, Vorderösterreich als Karrieresprungbrett Beobachtungen zur Sozialgeschichte des Beamtentums, in: Maier- Press (Hgg.), Vorderösterreich, S.43-56. 190
191 Gerade am Ende des Reiches flammte der seit Jahrhunderten schwelende Konflikt um die Appellationszuständigkeit für das kaiserliche Landgericht in Schwaben noch einmal auf; dazu eingehend WEITZEL, Kampf, S.67 ff., bes. S.83 f. (s. auch schon oben mit Anm. 171).Für den oben beschriebenen Zusammenhang ist bezeichnend, daß der aus der v.ö. Regierung und Kammer in Freiburg hervorgegangene Burgund. Kreis-Assessor Fahnenberg (Biogr. 60)
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III.1. Geographische Herkunft
stationdreierzwischen 1775 und 1782 von Wien ausgewählter RKG-Präsentati illustriert vorzüglich das erwähnte geradezu kontrapunktische Rekrutierungsverhalten der beiden Großmächte Preußen und Österreich in den letzten Jahrzehnten des Alten Reiches. Während Preußen seit den sechziger Jahren nicht einmal mehr seine zum Reich hingewandten Nebenprovinzen als Einzugsbereich nutzte, wurde im Rahmen der kaiserlich-habsburgischen Präsentationen ein entsprechender Vorposten der Österreichischen Monarchie noch einmal zum bevorzugten Rekrutierungsort mit Brückenfunktion zwischen Wien und Wetzlar. 3. Das Reich als Herkunftsraum Die bisherigen Ausfuhrungen über die Realität der geographischen Herkunft lehren uns, die im folgenden zu analysierenden Karten mit den Herkunftsorten sämtlicher im engeren Untersuchungszeitraum amtierenden RKG-Beisitzer (92) und aller sonstigen ab 1740 Präsentierten (36) richtig zu lesen: als das Ergebnis sehr vielschichtiger, teils längerfristiger, teils ganz punktueller Auswahlmotive auf seiten der zahlreichen Präsentanten; als Summe ebenso komplexer Karrierewünsche und Bewerbungsvorteile auf seiten der Präsentierten; als großes Muster schließlich, das sich aus zahlreichen kleineren Rekrutierungsmustern zusammensetzt, angefangen vom Einzugsbereich der kurmainzischen Assessoratsanwärter bis hin zu demjenigen der Niedersächsischen Kreis-Präsentationen. Infolge des Präsentationssystems baut sich der auf den Herkunftskarten abgebildete Großraum, der durch die fiir diese 128 Juristen getroffenen 135 Rekrutierungsentscheidungen abgesteckt wird, zusammen aus vielen kleineren, teils nebeneinanderstehenden, teils ineinanderragenden Herkunftsräumen. In den auf den nächsten Seiten folgenden Gesamtkarten sind die Herkunftsorte zunächst getrennt einmal fiir die Beisitzer (Karten 5a/6a), einmal fiir die sonstigen, aus unterschiedlichen Gründen nicht bis zur Aufschwörung gelangten Präsentierten (Karten 5b/6b) eingetragen. Dadurch wird besser ersichtlich, welche Regionen über die rezipierten Juristen auch tatsächlich im Kameralkollegium repräsentiert waren. Dies allein war letztlich nach der Intention des normativen Herkunftsprinzips fiir die Kameraljudikatur entscheidend, denn die partikularrechtliehen Kenntnisse der nicht introduzierten Kandidaten konnten der Rechtsprechung des RKG ja nicht zugute kommen. Für die beiden Gruppen der Assessoren und der sonstigen Präsentierten wurden je zwei solcher Herkunftskarten angelegt: die Karten 5a (Assessoren) und 5b (sonstige Präsentierte) verzeichnen die Dienstorte, die Karten 6a und 6b die Geburtsorte. Dabei sind nur 1796 ein Werk über die Österreichischen Exemtionsprivilegien verfaßte, das "der Verteidigung österreichischer Rechtspositionen" diente, s. WEITZEL, Kampf, 8.61 mit Anm.14.
III.l.2.3. Das Reich als Herkunftsraum
435
die Dienstorte zur Zeit der Präsentation (bei Ausfertigung des Präsentationsschreibens und Ablegung des Generalexamens) berücksichtigt, die in den allermeisten Fällen auch die letzte Vorkarrierestation bei Eintritt in das Kameralkollegium waren. Die kartierten Dienstorte decken sich also zwar weitgehend, aber doch nicht ganz mit jenen, die in Kapitel III.1.2.1. zur Ermittlung des Grades räumlich-qualitativer Nähe zwischen Präsentant und Präsentatus fiir die Kategorisierung in Tabelle 2 (S.375) herangezogen wurden 192 • Man hätte auch eine Karte anfertigen können, die sämtliche seit Studienende durchlaufenen Vorkarrierestationen verzeichnet, bei den Assessoren also diejenigen bis zum Amtsantritt in Wetzlar, bei den sonstigen Präsentierten diejenigen bis zur Rejektion oder Resignation. Dies hätte zwar entsprechend der größeren Zahl der zu verzeichnenden Orte die Ortsdichte hier und da erhöht, jedoch- dies vorweggenommen- an der äußeren Umgrenzung des gesamten Rekrutierungsraums nichts geändert. Die Beschränkung auf die Dienstorte zur Zeit der Präsentation hat den Vorteil, diejenigen Städte sichtbar zu machen, die in der Spätzeit des Reiches Karrieresprungbrett zur Erlangung einer Präsentation und in knapp Dreiviertel aller Fälle (Karte 5a) auch fiir die Assessorenlaufbahn waren. Um einen Gesamtüberblick zu erhalten, wurden die Dienstorte sämtlicher 135 Rekrutierungsentscheidungen des engeren Untersuchungszeitraums (fiir insgesamt 128 Assessoren und sonstige Präsentierte) in Karte 5c, sämtliche Geburtsorte in Karte 6c zusammengeführt 193 • 192
Für die Feststellung größtmöglicher oder großer räumlich-qualitativer Nähe zwischen Präsentant und Präsentiertem war entsprechend der in Kap.III.1.2.1. (8.371 f.) vorgenommenen Definition immer derjenige Dienstort für die Zuordnung in eine der ersten beiden Kategorien der Tabelle 2 relevant, der im Kreis des Präsentanten (Kategorie 1) oder in großer Nähe dazu (Kategorie 2) lag. In den allermeisten Fällen war dies der Dienstort zur Zeit der Präsentation, der also auch in den hier vorgelegten Karten 5a und 5b verzeichnet ist. In einigen wenigen Fällen handelte es sich aber bei dem für die Zuweisung zu Kategorie 1 oder 2 relevanten Dienstort auch um eine frühere Vorkarrierestation, die also in den obigen Karten nicht berücksichtigt ist. Dasselbe gilt für die sehr kleine Zahl derjenigen Dienstorte, wo der Präsentatus erst nach Präsentation, General- und Spezialexamen während der Wartezeit in die Dienste seines Präsentanten trat. Auch sie waren zwar eventuell wegen einer nachträglichen Herstellung großer Nähe zum Präsentationshof für die Einordnung in Kategorie 1 oder 2 der Tabelle 2 relevant (s. die Definition in Kap. III.1.2.1.), erscheinen jedoch nicht auf den Karten 5a und 5b. Entsprechendes gilt für Karte 5c. 193 Auch bei der Kartierung der Dienstorte (und ebenso der Geburtsorte, s.u. Anm.216) wurde also mit dem Unterschied von präsentierten Individuen (128) und Rekrutierungsentscheidungen oder Präsentationsfällen (135) operiert. Wie bereits in Anm.68 erwähnt, erhielten von den 128 im engeren Untersuchungszeitraum 1740-1806 als RKG-Beisitzer amtierenden und sonstigen präsentierten Individuen sieben je zweimal eine Präsentation, weswegen für sie in den Karten 5a-c je zwei Dienstorte zur Zeit der Präsentation verzeichnet werden mußten (Einzelheiten s. in den Erläuterungen zu den Karten 5a-c). -Dagegen brauchte bei vier weiteren Juristen mit zweifacher Präsentation nur der jeweilige Dienstort zur Zeit der zweiten Präsentation kartiert zu werden, während der Dienstort zur Zeit der ersten Präsentation unberücksichtigt blieb. Denn bei Ludolf (Biogr. 38, einziger eingetragener Dienstort auf
436
III.1. Geographische Herkunft
Die Karten lassen eine Fülle von Beobachtungen zu, von denen hier nur die wichtigsten referiert werden können. Karte Sa mit den Dienstorten der Assessoren und ergänzend auch Karte Sb mit den Dienstorten der sonstigen Präsentierten, zusammengeführt in Karte Sc, spiegeln Sachverhalte wider, die zum Teil schon in den beiden vorhergehenden Kapiteln beschrieben wurden. Dies gilt vor allem fiir die leeren Räume bzw. solche mit äußerst geringer Rekrutierungsdichte an der gesamten Peripherie des Reiches: fiir den Burgundischen Kreis, also die Österreichischen Niederlande mit Luxemburg, im Westen, fiir die Österreichischen Alpenländer, Böhmen und Mähren sowie das seit 1742 größtenteils preußische Schlesien im Süden, Südosten und Osten, flir den ganzen Bereich der Mark Brandenburg sowie fiir Hinterpommern im Nordosten. All diese durch Dienstorte entweder überhaupt nicht oder äußerst schwach repräsentierten Zonen, die beträchtliche Flächen des Reichsgebiets ausmachen, erklären sich durch das bereits analysierte Rekrutierungsverhalten der beiden Großmächte Österreich und Preußen, die im Rahmen ihrer verschiedenen Präsentationsberechtigungen im Untersuchungszeitraum je 17 Rekrutierungsentscheidungen treffen konnten, also zusammen ein Viertel der Gesamtzahl (34 von 135). Das Niemandsland im Osten wurde noch durch die Ober- und die Niederlausitz ergänzt, die erst 1635 an Kursachsen gefallen waren und im kursächsischen Gesamtterritorium eine Sonderstellung einnahmen. Die beiden dortigen Oberamtssitze mit den Oberbehörden fiir Justiz und Verwaltung, Bautzen und Lübben, kommen unter den Dienstorten der Assessoren und sonstigen Präsentierten nicht vor, wohl einmal die Niederlausitz als Heimat eines kursächsischen Assessors 194 • Kursachsen rekrutierte seine mehrheitlich ritterbürtigen RKG-Präsentati aus den Zentralbehörden und Obergerichten in den kursächsischen Erb landen. Eine Zone sehr geringer Rekrutierungsdichte war nach Ausweis der Karten Sa-Sc ferner die gesamte nördliche Peripherie des Reiches, also der Gürtel mitKarte 5a: Wetzlar) hatte der Wechsel vom Obersächs. Kreis-Assessorat zum kurpfalzischen Assessorat schon lange vor Beginn des engeren Untersuchungszeitraums im Jahre 1722 (Präsentation: 1720) stattgefunden. Entsprechend war bei Speckmarm (Biogr. 18, 1713-1715 kath. Oberrhein. Kreis-Präs., 1726-1751 kurböhm. Ass.), J.Chr. Schmitz (Biogr. 77, 1722-1724 kath. Fränk-Kreis-Präs., 1740-1747 Bayer. Kreis-Ass.) und Dünwaldt (Biogr. 82, 1728/291730 kath. Oberrhein. Kreis-Präs., 1745-1763 Bayer. Kreis-Ass.) das erste, jeweils erfolglos verlaufene Präsentationsverfahren schon lange vor 1740 beendet, so daß bei ihnen auf Karte 5a ebenfalls nur der Dienstort zur Zeit der zweiten Präsentation (Speckmarm: Koblenz; J.Chr. Schmitz: Hildesheim; Dünwaldt: Mainz) eingetragen wurde. 194 Karl Gottlob v. Burgsdorff (Biogr. 25) narmte im Generalexamen die Niederlausitz als seine Heimat. Lübben, wo sein Vater fUhrende Positionen innehatte, war zumindest in seinen Jugendjahren sein Heimatort (dort Erziehung durch Hofmeister), jedoch offenbar nicht sein Geburtsort (im Geburtsjahr 1708 kein Taufeintrag im ev.-luth. Kirchenbuch Lübben). Auf Karte 6a mit den Geburtsorten der im engeren Untersuchungszeitraum amtierenden 92 RKGAssessoren ist für Burgsdorff mangels gerrauerer Angaben Lübben verzeichnet.
III.1.2.3. Das Reich als Herkunftsraum
437
Erläuterungen zu den Karten 5a-5c Erläuterungen zu Karte 5a: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller 92 im Untersuchungszeitraum 1740-1806 amtierenden RKG-Assessoren (•) Von den 92 Assessoren erhielten vier (K.A. Albini, Zillerberg, J.U. Cramer u. Glaubitz) jeweils zwei erfolgreiche Präsentationen: zunächst auf ein Kreisassessorat, dann Jahre später als amtierende Beisitzer auf ein ranghöheres Kurassessorat. Der Dienstort zur Zeit ihrer zweiten Präsentation war in allen vier Fällen Wetzlar. Bei dem Dienstort zur Zeit ihrer ersten Präsentation handelte es sich dagegen um verschiedene Städte, wobei für den damals stellungslosen J.U. Cramer kein Dienstort zur Zeit seiner ersten Präsentation kartiert ist. In Karte 5a sind also für 92 Assessoren bzw. für 96 Präsentationsfälle (Rekrutierungsentscheidungen) mit Aufschwörungserfolg insgesamt 95 (+ 0) Dienstorte zur Zeit der Präsentation verzeichnet ( • ); s. auch die obige Darstellung mit Anm.68, 192 u.193.
Erläuterungen zu Karte 5b: Dienstorte zur Zeit der Präsentation aller 36 sonstigen im Untersuchungszeitraum 1740-1806 auf ein RKG-Assessorat präsentierten, jedoch nicht aufgeschworenen Juristen sowie Dienstort eines späteren RKG-Assessors zur Zeit seiner erfolglosen ersten Präsentation (A) Von den 36 sonstigen Präsentierten erhielten zwei je zwei erfolglos verlaufende Präsentationen. Daher wurde ihr jeweiliger Dienstort zur Zeit der Präsentation, obwohl identisch, je zweimal kartiert (Galler: Neuburg a.d.D., König: Wetzlar). Andererseits waren von den übrigen sonstigen Präsentierten zwei (Fugger u. Eckbrecht v. Dürckheim) zur Zeit ihrer Präsentation stellungslos, so daß für sie kein Dienstort ausgewiesen ist. Zusätzlich ist für den späteren kurpfälz. Assessor J.W. Riedesel wegen seiner ersten, erfolglos verlaufenen ev. Schwäb. Kreis-Präsentation Gotha als weiterer Dienstort zur Zeit der Präsentation verzeichnet (Derselbe Dienstort Gotha ist für J.W. Riedesel wegen seiner erfolgreichen zweiten Präsentation auch auf Karte 5a mit den Dienstorten der 92 Assessoren enthalten). Karte 5b bildet also für die 38 Präsentationsfälle der 36 sonstigen Präsentierten sowie für J.W. Riedesel wegen seiner erfolglosen ersten Präsentation, d.h. für 39 Präsentationsfälle oder Rekrutierungsentscheidungen ohne Aufschwörungserfolg, insgesamt 37 (+ 2 x 0) Dienstorte zur Zeit der Präsentation ab; s. auch die obige Darstellung mit Anm.68, 192, 193 u. 215.
Erläuterungen zu Karte 5c: Dienstorte zur Zeit der Präsentation sämtlicher 128 im Untersuchungszeitraum 1740-1806 amtierenden RKG-Assessoren und sonstigen auf ein RKG-Assessorat präsentierten, jedoch nicht aufgeschworenen Juristen Von den 128 Assessoren (92) und sonstigen Präsentierten (36) erhielten sieben je zweimal eine Präsentation. Auf dieser Karte sind daher die Dienstorte zur Zeit der Präsentation für insgesamt 135 Präsentationsfälle (Rekrutierungsentscheidungen), davon 96 mit, 39 ohne Aufschwörungserfolg, erfaßt, wobei in der Gruppe der Assessoren in einem Fall, in der Gruppe der sonstigen Präsentierten in zwei Fällen wegen Stellenlosigkeit des betreffenden Juristen kein Dienstort zu verzeichnen ist. Karte 5c enthält also für 95 zum Assessorat führende (•) und für 37 erfolglose Präsentationsfälle ( A) die Dienstorte zur Zeit der Präsentation. Zu den Erfassungskriterien s. im einzelnen die Erläuterungen zu den Karten 5a u. 5b.
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