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German Pages 181 [182] Year 2013
TSEG Reihe b/5 ISBN 978-3-402-15990-3
Eckert/Schwaetzer (Hrsg.) • Cusanus: Ästhetik und Theologie
Die Unterschiede zwischen moderner Ästhetik und mittelalterlichen Vorstellungen vom Schönen und von der Kunst sind beträchtlich. Die mittelalterliche Ästhetik – wenn man diesen Begriff verwenden will – bleibt ohne genaue Kenntnis ihrer metaphysisch-theologischen Voraussetzungen und ihres historischen Kontextes unverständlich. Von daher gesehen sind Aussagen zur Ästhetik integraler Bestandteil eines universalen, die erscheinende Natur als Schöpfung begreifenden Wirklichkeitsverständnisses. Mittelalterliche Überlegungen formulieren keine im modernen Sinne eigenständig-autonome Kunstphilosophie; ihre Aussagen zur Kunst – Kunst als „ars“ im weiten Sinn – haben funktionale Geltung allein im Rahmen dieses Schöpfungsverständnisses. „Ästhetische Erfahrung“ bedeutet dann das affirmative Innewerden eines OrdoZusammenhanges, sie hat lebensweltliche Bedeutung und theologische Relevanz. Anders gesagt: Wirklichkeit ist grundsätzlich ein symbolischer Erfahrungsraum und in diesem Sinne ästhetisch zu begreifen. Grenzfragen zwischen Ästhetik und Theologie im Denken des Nikolaus von Kues auf diesem Hintergrund nachzugehen bildet das gemeinsame Interesse der in diesem Band vereinten Beiträge, die auf eine Tagung in Tübingen zurückgehen.
Texte und Studien zur europäischen Geistesgeschichte reihe b • band 5
Cusanus: Ästhetik und Theologie Herausgegeben von Michael Eckert und Harald Schwaetzer
I Cusanus: Ästhetik und Theologie
II
TEXTE UND STUDIEN ZUR EUROPÄISCHEN GEISTESGESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON JOHANN KREUZER, KLAUS REINHARDT UND HARALD SCHWAETZER REIHE B BAND 5
III
Cusanus: Ästhetik und Theologie
Herausgegeben von Michael Eckert und Harald Schwaetzer
IV
© 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Printed in Germany
ISBN 978-3-402-15990-3
Vorwort Die Unterschiede zwischen moderner Ästhetik und mittelalterlichen Vorstellungen vom Schönen und von der Kunst sind, dies sei eingangs in einigen kurzen Bemerkungen in Erinnerung gerufen, beträchtlich. Die mittelalterliche Ästhetik – wenn man diesen Begriff verwenden will – bleibt ohne genaue Kenntnis ihrer metaphysisch-theologischen Voraussetzungen und ihres historischen Kontextes unverständlich. Von daher gesehen sind Aussagen zur Ästhetik integraler Bestandteil eines universalen, die erscheinende Natur als Schöpfung begreifenden Wirklichkeitsverständnisses. Mittelalterliche Überlegungen formulieren keine im modernen Sinne eigenständig-autonome Kunstphilosophie; ihre Aussagen zur Kunst – Kunst als „ars“ im weiten Sinn – haben funktionale Geltung allein im Rahmen dieses Schöpfungsverständnisses. „Ästhetische Erfahrung“ – wenn man diesen Begriff verwenden will – bedeutet dann das affirmative Innewerden eines OrdoZusammenhanges, sie hat lebensweltliche Bedeutung und theologische Relevanz. Anders gesagt: Wirklichkeit ist grundsätzlich ein symbolischer Erfahrungsraum und in diesem Sinne ästhetisch zu begreifen. Walter Haug hat von daher von einer Gemeinsamkeit neuzeitlicher und mittelalterlicher Ästhetik gesprochen, insofern der Begriff der ästhetischen Erfahrung ein Moment des Transzendierens einschließt: „Ästhetische Erfahrung ist dadurch sinnvoll, dass sie über ein selbstverständlich Gegebenes hinausführt“ (Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1997, 27). Haug hat jedoch zugleich die Differenz beider Ästhetikverständnisse markiert, die den Sinnhorizont, das theologische Wirklichkeitsverständnis betrifft: „Das Transzendieren betrifft bei der neuzeitlichen Ästhetik den Sinnhorizont: die ästhetische Erfahrung erschließt einen neuen Sinn. Im Mittelalter betrifft das Transzendieren den Bereich des Ästhetischen selbst, während es den Sinnhorizont unangetastet lässt“ (ebd.). Grenzfragen zwischen Ästhetik und Theologie im Denken des Nikolaus von Kues auf dem genannten Hintergrund nachzugehen, bildet das gemeinsame Interesse der folgenden Beiträge, die auf eine Tagung in Tübingen im Juli 2009 zurückgehen. Eine kurze Notiz zur Rezeptions-Geschichte cusanischen Denkens und d.h. zugleich ein Hinweis auf einen Bezug zwischen Nikolaus von Kues und Tübingen seien hierzu in Erinnerung gerufen. Im Jahre 1829, zwei Jahre vor Hegels Tod, stellt die Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen eine Preisaufgabe, der sich drei Tübinger Studenten unterziehen: Franz Anton Scharpff, Carl Josef Hefele und Ludwig Schmitt. Die Tübinger Preisfrage, die ausgelobt wird, lautet: „Eine Darstellung des Lebens und des kirchlichen und literärischen Wirkens des Cardinals und Bischofs von Brixen, Nikolaus von Cusa“. Aus der im Universitätsarchiv Tübingen dokumentierten Aktenlage lässt sich folgern, dass Johann Adam Möhler, ein führender Vertreter
6 der sog. Kath. Tübinger Schule, die Formulierung der Preisfrage wohl geprägt hat. Der erste Preisträger war der Tübinger Student Franz Anton Scharpff; ihm standen bei der Ausarbeitung der Preisfrage Johann Adam Möhlers Vorlesungen vor Augen, die dieser über Cusanus als Kritiker der Scholastik gelesen hatte. Damit wird die Preisschrift zugleich ein Spiegel, in dem sichtbar wird, wie Nikolaus von Kues im 19. Jh. gelesen, verstanden und wirkungsgeschichtlich dargestellt wurde. Marc-Aeilko Aris hat in einem Artikel „Nikolaus von Kues und seine Leser im 19. Jh.“ (ThPh 1 (1999), 97–108) die hermeneutischen Perspektiven, in der Cusanus im 19. Jh. wahrgenommen wurde, detailliert nachgezeichnet. Der Topos der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, Cusanus als Grenzgänger zwischen Mittelalter und Neuzeit, als Gestalt der Epochenschwelle, als Fremdkörper seiner Epoche, ist im 19. Jh. so gängig wie heute. Beredetes Zeugnis davon legt die Preisschrift von Franz Anton Scharpff ab, die 1837 unter dem Titel „Das kirchliche und literarische Wirken des Nikolaus von Kues“, in der Tübinger Theologischen Quartalsschrift veröffentlicht wird. Aris zitiert, und damit möchte ich diesen Ausflug ins 19. Jh. Tübinger Universitätsgeschichte beenden, Johann Huizinga, um eine unhistorische Annäherung an die Theologie und Philosophie des Cusanus abzuwehren: „Indem man“, so Huizinga, „jemand zum Vorläufer stempelt, hebt man ihn aus seiner Zeit heraus, aus der er verstanden werden muss und man verrenkt die Historie“ (106). Tübingen, Mai 2013
Michael Eckert
Inhalt Vorwort 5 Michael Eckert Imaginationen des Unendlichen. Überlegungen zu einer Ästhetik der Entgrenzung
9
William J. Hoye Die Welt als Buch bei Nicolaus Cusanus
21
Harald Schwaetzer Der Anspruch der Wahrheit bei Nikolaus von Kues
43
Elena Filippi Durch die Sicht zur symbolischen Einsicht. Cusanus‘ Weg zu Gott über die bildliche Erfahrung
57
Gianluca Cuozzo Nikolaus von Kues und Lorenzo Lotto: Bild, Schauen und Perspektive
73
Predrag Bukovec Musik bei Nicolaus Cusanus
83
Detlef Thiel Das opake Bild und der diaphane Text. Eine Gegenlektüre von Cusanus‘ De visione Dei
103
Nicolaus Cusanus Sermo CCXLIII „Tota pulchra es, amica mea et macula no est in te“ Übersetzung von Matthias Simperl
129
Silvio Agosta Der Ruf der schönen Harmonie bei Nicolaus Cusanus und Francesco Petrarca
147
Zu den Autoren dieses Bandes
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Michael Eckert
Imaginationen des Unendlichen Die Idee einer Ästhetik der Entgrenzung im Denken des Nicolaus Cusanus Das Faktum, dass menschlichem Geist Unendlichkeit als Idee zur Verfügung steht, obwohl ihm nur Endliches durch Erfahrung begegnet, löste schon immer Irritationen aus und führte zu metaphysischen Spekulationen. Das Unendliche, ist es Wirklichkeit oder ist es als bloße Möglichkeit eine Erfindung des menschlichen Geistes? Alles Wirkliche, das uns umgibt, ist endlich in der Anzahl der Dinge. Und dennoch: nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der Beschreibung der Wirklichkeit spielt das Unendliche eine bedeutende Rolle – spätestens seit der Differential- und Integralrechnung durch Leibniz und Newton. Ich möchte im Folgenden als Einstieg zunächst einige Schlaglichter aus der philosophischtheologischen Geschichte des Unendlichkeitsbegriffs nennen, die mich hier insbesondere interessiert. In der philosophischen Geschichte des Unendlichkeitsbegriffs wirken mathematische, theologische und physikalische Gedanken bis in die Neuzeit zusammen. Mit dem Apeiron des Anaximander kommt das A-Peiros, d.h. das, was ohne Peiros, ohne Grenze vorgestellt wird, in den Blick; das unbegrenzt Unbestimmte bezeichnet das Unendliche in seiner Grenzenlosigkeit und Unbestimmtheit.1 Platon entwickelt die Idee einer vollendeten oder aktualen Unendlichkeit, die als ordnendes Prinzip dem unbegrenzt mannigfaltigen Stoff gegenübersteht. Das Eine als das eigentlich Bestimmte setzt damit dem Vielen als dem Unbestimmten Grenzen.2 Aristoteles fasst das Unendliche nicht mehr als aktual-wirklich, sondern nur noch als unbegrenzte, potenzielle Unendlichkeit.3 In einer für lange Zeit einflussreichen Weise meint dieses Unendliche nach Aristoteles „nicht dasjenige, außerhalb dessen nichts mehr ist, sondern dasjenige, außerhalb dessen immer noch etwas ist“4. In Absetzung von Aristoteles behauptet Augustinus in platonischer Tradition, dass der Begriff Unendlichkeit jenes vollendet Wirkliche meine, das zu den theologischen Grundbegriffen gehöre. In der philosophisch-theologischen Geschichte des Unendlichkeitsbegriffs begegnet dann in der Patristik „infinitus“ unter den Prädikaten Negativer Theologie.5 Auf Gottesprädikate, so betont Clemens von Alexandrien, ließen sich die ariVgl. Art. Apeiron, HWPh 1 (1971) 433–436; Vgl. Hölscher: Anfänge der Philosophie, 95–176. 2 Vgl. Platon: Parmenides 137 d; Parmenides 144 c; Philebos 26 d. 3 Vgl. Aristoteles: Physik III, 6, 206 a; vgl. Art. Endlich/Unendlich, in: HWPh 2 (1972) 489–491. 4 Aristoteles: Physik III, 6, 207. 5 Vgl. zum Folgenden Art. Unendlichkeit, in: HWPh 11 (2001), 139–146. 1
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stotelischen Kategorien nicht anwenden, unbegrenzte, potenzielle Unendlichkeit könne nicht zu Ende gedacht werden. Das Absolute als vollendete Unendlichkeit setze vielmehr allem, was ist und sein kann, Grenzen. Gottes Unendlichkeit, von der insbesondere Gregor von Nyssa dann ausgeht, bleibt daher für menschliches Denken, das nur potenzieller Unendlichkeit fähig ist, undurchschreitbar, unbegreifbar. Unendlichkeit bedeutet von jetzt an in der Tradition Negativer Theologie positiv grenzenlose Vollkommenheit. Eine unendliche Dauer der Welt konnte bis in die Hochscholastik nur als philosophische Möglichkeit gedacht werden. Erst Nikolaus von Kues, der die Welt aus theologischen Gründen nicht anfangslos in der Zeit denken konnte, fasst die Welt als grenzenlos und unendlich im Raum; allerdings ist diese Annahme an die Vorstellung gebunden, dass die Welt Abbild der Unendlichkeit Gottes ist. Im Anschluss an Thomas von Aquin nennt Nikolaus von Kues Gott dann das negativ Unendliche, das nur durch den Gegensatz zum Endlichen, als Negation des Endlichen bestimmt ist; im Unterschied dazu steht das privativ Unendliche der Welt, das im Sinne des Aristoteles durch Fehlen eines Endes im Endlichen gekennzeichnet ist. Das Unendliche als Negation des Endlichen setzt diesem in sich unabschließbaren Endlichen eine unverfügbare Grenze.6 Mit Hegel wird dann in der Idee des wahrhaft Unendlichen ebenfalls die Grenzenlosigkeit des Unendlichen betont und von der sog. „schlechten Unendlichkeit“ abgehoben.7 Als Ergebnis seien zwei unterschiedliche Ausformungen des Unendlichkeitsbegriffes festgehalten: 1. Der Begriff der negativen Unendlichkeit, der die aktual vollendete Unendlichkeit meint. 2. Die privative Unendlichkeit, in der sich das unendliche Fortschreiten im Endlichen zum Ausdruck bringt. Ohne hier Detailfragen der Forschungsdiskussion aufnehmen zu können, möchte ich im Folgenden auf Nikolaus von Kues näherhin eingehen, laufen doch in dessen Denken die historischen Linien des Unendlichkeitsbegriffs gebündelt zusammen. Nikolaus von Kues, Theologe, Philosoph, Mathematiker, Diplomat und Kardinal, eng verbunden mit Renaissance und Humanismus des 15. Jhs., interessiert hier aber auch aus einem besonderen Grund. So verbinden sich in dessen Denken mathematische Reflexionen in stupender Weise mit philosophischen, und, wie ich zeigen möchte, mit ästhetischen Reflexionen. Aus dieser Verknüpfung erschließt sich ein hohes Deutungspotenzial für ein philosophisch-theologisches Verständnis von Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit, das ich mir zu Eigen machen möchte. Drei Problemfelder werde ich im Folgenden näherhin entfalten: (1.) den Zusammenhang von Idee der Unendlichkeit und mathematischem Denken; mathematische Modelle sollen den methodischen Rahmen meiner Überlegungen bilden; zudem vermag mathematisches Denken weithin vor Polysemie und begrifflichen Unschärfen zu bewahren; (2.) die Frage nach der unverfügbaren Grenze im Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit; 6 7
Vgl. Nicolaus Cusanus: De docta ignorantia II, c.1. Vgl. Hegel: Logik I, 1; vgl. hierzu Art. Unendlichkeit, a.a.O.
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(3.) wird schließlich im Kontext mystischer Theologie der kritische Punkt einer Grenzüberschreitung ins Unendliche erörtert werden; die Ausführungen münden in die These einer Ästhetik der Entgrenzung, die Annäherung und Entrückung gegenüber dem Unendlichen refletiert. (1.) Mathematik betreiben bedeute, so meinte der Mathematiker H. Poincaré im 19. Jh., Geschichten erzählen über das Unendliche. Die Omnipräsenz des Unendlichen in der Mathematik ist erstaunlich, kommt es doch in der Natur nicht vor. Der Mensch ist ein endliches, begrenztes, auf der endlichen und begrenzten Welt existierendes Wesen. Warum fragt er gleichwohl nach dem Unendlichen? Wohl, weil er das Endliche nicht auf andere Weise zu begreifen vermag. Die mathematischen Modelle bieten hierzu ein vorzügliches Mittel. Ich beginne wieder mit einigen historischen Schlaglichtern. In geometrischen Figuren wird das Unendliche anschaulich, obwohl die bildlichen Vorstellungen unendlicher Figuren selbst wieder endlich sind. Was vor unserem geistigen Auge erscheint, ist gleichsam die Imagination einer unendlichen Figur. Anders gesagt: in endlichen Figuren können unendliche Figuren approximativ zur Vorstellung gebracht werden. Man könnte von einer ästhetischen Wahrnehmung reden, die Unendlichkeit suggeriert. Die erste geometrische Figur, in der das Unendliche augenfällig sichtbar gemacht wurde, war wohl das Pentagramm des Hippásos, einem Schüler des Pythagoras (509 v. Chr.) im süditalienischen Metapont (Abb. 1).8 Hippásos beobachtete, dass die Diagonalen im Innern eines Fünfecks ein regelmäßiges Fünfeck eingrenzen. Die Diagonalen des inneren Fünfecks grenzen wiederum ein kleineres regelmäßiges Fünfeck ein – so kann man unbegrenzt fortfahren, ohne jemals an ein Ende zu gelangen; genau dieser unendliche Prozess wird anschaulich in der geometrischen Figur der unendlich vervielfältigten Fünfecke (Abb. 2). In der Folgezeit wurden in mathematischen Kontexten mehrfach geometrische Figuren entworfen, die eine ästhetische Imagination von Unendlichkeit zu vermitteln versuchten.
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Abbildung 1
Abbildung 2
Vgl. zum Folgenden Herfort: Maß und Messen, 246–255.
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Archimedes (3. Jh. v. Chr.) ermöglichte mit Hilfe der geometrischen Figuren von Kreis und Polygon wohl erstmals eine Approximation der Kreiszahl π. Er versuchte, die Kreisfläche durch eine Folge regelmäßiger Polygonflächen „auszuschöpfen“, wie man seine Methode nannte (Abb. 3 u. 4). Geometrische Figuren, die die Annäherung an den Kreis verdeutlichen können, lassen die unendliche Vielfalt der Polygone nur imaginativ erahnen. Der Mathematiker P. Herfort umschreibt diese Situation treffend so: „Das Unendliche ist in diesen Figuren zwar als Prozess imaginierbar, doch bleibt es dem Blick des Betrachters verborgen.“9
Abbildung 3
Abbildung 4
Ganz in den Spuren des Archimedes greift im 15. Jh. Nikolaus von Kues das mathematische Problem der „Quadratur des Kreises“ wieder auf.10 Und er überträgt mathematische Einsichten auf seinen philosophisch-theologischen Begriff der Unendlichkeit. Schon Pythagoras hatte vermutet, dass mathematische Zahlenverhältnisse ein Geheimnis bergen, das mit ihrer Unendlichkeit in einem tieferen Zusammenhang steht. Auch auf Nikolaus von Kues übt die Mathematik einen nicht zu leugnenden Reiz aus; dient sie doch als Medium der Entrückung in geheimnisvolle Welten des Unendlichen. Über ein ästhetisch-mathematisches Medium erhält die Idee des Unendlichen aber zugleich eine rational fassbare und nachvollziehbare Bedeutung. Mein Rekurs auf mathematische Modelle kann hier nur in einem heuristischen Sinne gedacht sein – nicht im Zusammenhang mathematisch-fachwissenschaftlicher Hinsicht; dies gilt aus heutiger Sicht wohl auch für Nikolaus von Kues selbst.11 So mag heute umstritten sein, dass Nikolaus von Kues Kreis und Polygon so scharf trennte; dass er den Kreis mit der Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit des absoluten Seins verband; dass er das Polygon in seiner Vielheit als „verendlichte Unendlichkeit“12 verstand; dass er Kreis und Polygon als opposita begriff und ihren Ort des Zusammenfalls als coincidentia oppositorum fasste. Was er allerdings, gerade für den hier interessierenden Zusammenhang, überzeugend zeigen konnte, Ebd., 249. Vgl. hierzu Böhlandt: Wege ins Unendliche. 11 Vgl. ebd. 12 Nicolaus Cusanus: Docta ignorantia II, c.2. 9
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bleibt, dass zwischen Kreis und Vieleck sich das Problem „Unendlichkeit“ aufspannt. Geometrisch-mathematische Figuren in Verbindung mit theologischen Vorstellungen zu bringen, scheint jedoch in der Anschauungs- und Gedankenwelt des christlichen Mittelalters als Topos verankert zu sein. Hierzu ein Beispiel. In der frühchristlichen Basilika Santa Prassede in Rom findet sich aus dem 9. Jh. ein Apsis-Mosaik (Abb. 5), das Nikolaus von Kues gekannt haben dürfte; liegt doch in unmittelbarer Nähe San Pietro in Vincoli, die Kardinalskirche des Nikolaus von Kues. Das Mosaik illustriert in gewisser Hinsicht die cusanische Sehweise, zugleich macht ein künstlerisch-ästhetisches Programm theologische Inhalte sichtbar.13
Abbildung 5: Apsis, Santa Prassede, Rom
Man erkennt Christus in der Mitte (Abb. 5), umgeben von je drei Figuren; bis auf die links stehende Figur, die durch einen rechteckigen Nimbus gekennzeichnet ist (Abb. 6 und 7), tragen alle anderen einen kreisförmigen Heiligenschein; den Bauherr der Kirche vermag der Künstler wohl nicht als Heiligen darzustellen – er symbolisiert offenbar in seiner abweichenden Geometrie des Nimbus seine noch dem Endlichen verhaftete Existenz; in der Vollkommenheit des Kreises wird die Dimension des Unendlichen, Heiligen als selbstständige, davon unterschiedene Wirklichkeit sichtbar gemacht.
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Herfort: Maß und Messen, ebd.
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Abbildung 6 und 7: Apsis (Detail), Santa Prassede, Rom
(2.) Die Figur der circuli quadratura soll im Folgenden das Problem des Verhältnisses von Unendlichkeit und Endlichkeit illustrieren helfen und zur Anschauung bringen. „Wollte man auch die Vermehrung der Eckenzahl ins Unendliche fortführen“14, so heißt es in der Docta ignorantia, „die Unendlichkeit der absoluten Größe, die keinen Gegensatz kennt und mit der das Kleinste koinzidiert“15 ist unerreichbar und unerkennbar, „ist Grenze von allem und durch keines von allen Dingen begrenzbar“16. Und dann heißt es: „Das Vieleck müsste sich dazu schon umbilden zur Identität mit dem Kreis“17. Wie in einem Brennglas bündeln sich in diesen Texten die Problemstrukturen unserer Fragestellung. Mittels des mathematischen Modells kann es gelingen, zum einen die Inkommensurabilität von Kreis und Vieleck, von Unendlichem und Endlichem sichtbar zu machen; entscheidend aber ist zugleich, dass die ästhetische Imagination eine Vorstellung davon zu geben vermag, dass alles Endliche vom unendlichen Kreis immer schon umschlossen und umgriffen wird, d.h. an der Idee absoluter Unendlichkeit teilhat. Schließlich lässt das geometrische Modell den Ort eines unmittelbaren Übergangs vom Endlichen zum Unendlichen sichtbar werden: die Annäherung im endlichen Fortschreiten ins Unendliche kulminiert im mathematischen Grenzpunkt des Zusammenfalls von Kreis und Vieleck (Abb. 8). Wenngleich der Zwischenraum zwischen Vieleck und Kreis durch die unendliche Annäherung immer enger wird, in aller Ähnlichkeit von Vieleck und Kreis bleibt ihre je größere Unähnlichkeit; erst in „der absoluten und unendlichen Gleichheit“18, dem „Jetzt der Ewigkeit“, wie Cusanus sagt, liegt das „Urbild oder Maß von allem“19. Und von daher ist die approximative Offenheit auf das Unendliche hin ermöglicht durch Docta ignorantia I, c.3, n.10. Docta ignorantia I, c.4, n.12. 16 Docta ignorantia I, c.4, n.13. 17 Docta ignorantia I, c.3, n.10. 18 Docta ignorantia I, c.7, n. 8. 19 Docta ignorantia I, c.16, n.45. 14 15
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das, was alles umfasst und allem vorausliegt. Dies lässt sich am geometrischen Modell wieder verdeutlichen: der unendliche Kreis stellt die mathematische Entgrenzung aller möglichen Vielecke dar. Theologisch gesagt: die unendliche Welt als nicht endender Prozess der Annäherung an das vollendet Unendliche ist nur Abbild der göttlichen Unendlichkeit selbst.
Abbildung 8
(3.) Eine Anregung Michel de Certeaus aufgreifend und weiterführend20, möchte ich nun die mathematischen Überlegungen im Horizont der Perspektive der theologischen Unendlichkeit vertiefen und erweitern. Zugleich sollen im Kontext mystischer Theologie die Möglichkeiten einer grenzüberschreitenden Erfahrung des Unendlichen ausgelotet werden. Der Begriff der cognitio dei experimentalis, den die mittelalterliche Theologie für Transzendenzerfahrung kennt21, setzt die beiden schon genannten inkommensurablen Größen der göttlichen Unendlichkeit und der endlichen Erfahrung des Menschen miteinander in Beziehung. Geprägt ist dieser Begriff zudem von der Voraussetzung, dass die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz durchlässig werden kann oder vorsichtiger: dass es in menschlicher Erfahrung zu gelingen vermag, beide Welten miteinander zu vermitteln. Transzendenzerfahrung als cognitio dei experimentalis beansprucht, die menschliche Existenz insgesamt zu betreffen, nicht nur deren reflexive Möglichkeiten, das Unendliche zu denken. Dieses Problem bildet in mystischer Theologie ein zentrales Anliegen, es ist auch bis heute in der Cusanus-Interpretation umstritten. Ich möchte im Folgenden ein ästhetisches Verständnis der cognitio dei experimentalis skizzieren, in dem sich sinnliche und geistige Erfahrungen vermitteln und verschränken. Zunächst soll dies an einer klassischen Pantokratorikone aus dem 15. Jh. am Zugleich der Ikone zwischen sinnlicher Präsenz und auratischer Entrückung illustriert werden (Abb. 9). Ich beziehe mich hierbei auf den Kunsthistoriker W. Hofmann und sein neues Buch „Die Moderne im Rückspiegel“22. Anschließend greife ich jenes Experiment einer sinnlichen Erfahrung, das Nikolaus von Kues Certeau: Geheimnis. Vgl. Hoff: Kontingenz, insbes. 60ff. Vgl. Haug: Grundlegung. 22 Hofmann: Moderne, insbes. 203f. 20 21
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in seiner Schrift De visione Dei vorlegt, auf; die Rede ist von der icona dei bzw. vom Bild des Allsehenden. Auch hier legt Cusanus wieder eine mathematische Figur zugrunde und ebenso ist die Pantokratorikone geprägt von geometrischen Strukturen. In der mehrschichtigen Struktur der Pantokratorikone verbinden sich metaphorisch-symbolische Bildelemente mit ästhetisch-räumlichen Begrenzungselementen. Dabei wird in Gestalt variabler geometrischer Figuren das Unendliche als Pantokrator – als der das All umfassende und begründende Schöpfer – dargestellt. Die Ikone enthält mehrere ineinander verwobene abstrakte Bildflächen. Die hinterste Ebene bildet ein stehendes Rechteck mit konkaven, nach innen gezogenen Umrissen. Davor befindet sich ein Hochoval, in das ein auf der Spitze stehendes Quadrat eingefügt ist; dessen Konturen verlaufen ebenfalls konkav. Auffällig ist zudem, dass das Hochoval aus dem aus der Spitze stehenden Quadrat herausgedreht sein könnte. In Form eines schwebenden Bildkörpers thront der Pantokrator, dessen Körpermitte mit dem Mittelpunkt und Drehpunkt von Hochoval und konkavem Quadrat zusammenfällt. Zugleich scheint nicht festlegbar, ob der Weltherrscher in die geometrischen Bildebenen eingefügt ist oder ob er vor der geometrischen Struktur der Ikone, sich abhebend, schwebend thront.
Abbildung 9: Pantokrator, Jaroslavl, um 1516
Was bewirkt nun diese Variation übereinandergelagerter Schichten innerhalb der Ikone? Sie eröffnet, so könnte man sagen, ein Spiel der Anschauung, in dem sich zwei Sehweisen miteinander verbinden, um der religiösen Darstellung des NichtDarstellbaren entsprechen zu können. Der Pantokrator umfasst in seiner körperhaften Ausdehnung den ganzen Raum des geometrischen Feldes. Die Ikone ist geprägt von der Figur des thronenden Christus, ohne den sie nicht vorstellbar ist.
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Aber der Weltherrscher bekommt eine schwebende Aura, die ihn der diesseitigen Welt enthebt; er fügt sich nicht in unsere sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten ein. Die unterschiedlichen geometrischen Ebenen bilden gleichsam die Folie für die Gestalt des Pantokrators, sie schirmen ihn ab, ermöglichen Distanz und betten ihn zugleich so in das Gesamt der Ikone ein, dass er auf uns zuzukommen scheint. Vielleicht lässt sich der oszillierende Übergang zwischen sinnlicher Präsenz und auratischer Entrückung, in der sich zwei Sehweisen, die einander nicht widersprechen, sondern einander ergänzen, so umschreiben: In der Entrückung wahrt die schwebende Gestalt ihre Aura, ihre Unähnlichkeit mit den räumlichen, endlichen Rahmenbedingungen. Gleichzeitig bleibt die thronende Gestalt unübersehbar präsent, sie ermöglicht Annäherung an sich, bietet sich dem Betrachter gleichsam ihm entgegenkommend an. Den unendlichen Abstand, durch den sich die göttliche Gestalt entzieht, hebt sie wieder auf, indem sie zugleich gegenwärtig wird, sich dem Betrachter öffnet. Näherhin ausführen möchte ich diese Zusammenhänge nun an Nikolaus von Kues‘ icona dei. Ein Gemälde wie etwa die Ikone, die Nikolaus von Kues anfertigen lässt und den Mönchen am Tegernsee zusendet, dient als Grundlage. Dieses Bild der Ikone – an einem Ort befestigt – blickt jeden Betrachter, der aus je verschiedenen Blickwinkeln auf es gerichtet ist, immer zugleich an. So ist der Blick auch dem Betrachter zugewandt, wenn dieser seinen Standort wechselt; auch diejenigen, die in entgegengesetzter Richtung den jeweiligen Ort ihres Blickes ändern, lässt er nicht los. Die Allgegenwart des Blickes folgt den visuellen Bewegungen der Betrachter und bleibt gleichzeitig selbst unwandelbar. Cusanus möchte mit Hilfe dieses Bildes die Anschaulichkeit der mystischen Theologie illustrieren. Wie lässt sich dies verstehen? Die mathematische Figur eines Halbkreises mit Zentrum und Kreislinie bildet die formale Struktur der Anordnung. Der Blick des Gemäldes bildet dabei jenes Zentrum, das als Punkt über eine unbegrenzte Fülle verfügt. Als einfachste Einheit enthält diese in der geometrischen Konstruktion alles in sich als complicatio, was sich auf der Kreislinie entfaltet als explicatio. Die mathematische Figur erscheint zugleich vergleichbar einem Rundtheater, wie Certeau hervorhebt, das im Deutschland des 14. und 15. Jhs. für die Inszenierung von Mysterien und Passionsspielen diente. Michel de Certeau hat in diesem Zusammenhang von einer „Geometrie als Wissenschaft vom Spiegel“23 gesprochen, in der sich zwei Arten des Sehens miteinander verbinden. In dieser Szene werde, wie in einem Spiegelbild, so Certeau, „die Umwandlung der sinnenfälligen visuellen Erfahrung in eine Theorie der mystischen Vision“24 ermöglicht. „Wie im Spiegel und Gleichnis“25, d.h. nach Nikolaus von Kues, unter Bezug auf Paulus: „Was der Betrachter in diesem Spiegel der Ewigkeit sieht, ist nicht (sein eigenes) Bild (figura), sondern eine Wahrheit, Certeau: Geheimnis, 336. Certeau: Geheimnis, 339. 25 Docta ignorantia I, c.11, n.30. 23 24
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von der er selbst (nur) das Bild ist“26. Und: Im unbegrenzten Sehen sind alle begrenzten Sehweisen unbeschränkt eingeschlossen.27 So spiegelt sich für Cusanus das endliche Sein im Unendlichen, der endliche Blick spiegelt sich in der grenzenlosen Nähe und Ferne des unendlichen Bildes. Genau genommen, so Certeau, lege Nikolaus von Kues hier eine Ästhetik vor, in der der Spiegel als Instrument fungiere, „das den Übergang (transsumptio) von dem einen Sehen zum anderen ermöglicht“28. Dies klingt kompliziert, ich möchte es verdeutlichen. Der Hinweis auf eine mathematische Figur als Spiegel reicht nicht aus, um die beiden Sehweisen der Wirklichkeit nachvollziehbar zu machen. Ganz offensichtlich ist es der theologische Hintergrund oder, wie Cusanus sagt, die Erweiterung der mathematischen Figur bis zur Unendlichkeit, der diese Spiegel-Ästhetik nachvollziehbar werden lässt. Die Wahrheit ist bereits vorhanden, man muss sie nur sehen – so betont Cusanus in verschiedenen seiner Schriften; gesagt soll damit sein, dass die Wahrheit des Unendlichen im Endlichen immer schon vorhanden ist und unthematisch gewusst wird. Wenn es Nikolaus von Kues um die Anschaulichkeit der mystischen Theologie geht, dann gelingt ihm mit dem Bild des Allsehenden gegenüber der Perspektivität und Subjektivität der Renaissance-Ästhetik, die Blickhoheit Gottes, d.h. die Blickhoheit des Unendlichen zu wahren. Auf diesen Zusammenhang hat der Kunsthistoriker Hans Belting in seinem neuen Buch „Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks“ hingewiesen.29 Der unendliche Blick, der alle endlichen Wege subjektiven Sehens transzendiert, umfasst als universell und unwandelbar zugleich alle möglichen endlichen Blicke. Diese Zusammenhänge vermögen eine Ästhetik offenzulegen, in der das Sehen des Auges und das Sehen des Geistes koinzidieren, zusammenfallen. Auf diese Weise schafft das eine Sehen Raum für das andere. Das geistige Sehen verwandelt das Gemälde in einen potenziellen Spiegel, in dem, was dem Auge verborgen bleibt, aufleuchtet. Im Blick der Ikone, die sinnenfällig das Auge trifft, erschaut der Geist, wie in einem Spiegel, was eigentlich unsichtbar ist, d.h. den unendlichen Blick Gottes. „Da aber die geistigen, an sich unzugänglichen Dinge im Symbol erforscht werden können (spiritualia symbolice investigare)“30 – wenn Cusanus so formuliert, dann benennt er den symbolischen Übergang ins Unendliche, der sich in der Koinzidenz der Sehweisen ereignet. Mit Hilfe des Bildes der Ikone soll dem Betrachter durch ästhetisch-symbolische Imagination die Verborgenheit des Unendlichen erahnbar werden, Annäherung und Entrückung vermittelnd. Eine solche Ästhetik zeigt, wenn ich richtig sehe, Strukturanalogien zum Bilderverbot. So fragt Certeau zu Recht, was denn dieses Bild des Allsehenden zeige, „wenn nicht das stets präsente Bild, das den Augen nimmt, was es den Geist sehen lässt“, d.h. „die Gegenwart einer
De visione dei, c.15, n.63. Vgl. De visione dei, c.2, n.8. 28 Certeau: Geheimnis, 327. 29 Vgl. Belting: Florenz und Bagdad, 240–246. 30 Docta ignorantia I, 11 (30). 26 27
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Abwesenheit“31. In der Metapher des Spiegels wird eine Ästhetik des Sehens in den Kontext Negativer Theologie gestellt. Geht es doch um das Sichtbarmachen eines Unsichtbaren, um eine ästhetisch-symbolische Vision eines unendlichen Blickes, der sich im Blick des Allsehenden verbirgt. Im Blick der Ikone werden so die visuell-ästhetischen Aktivitäten begleitet von einer staunenden Einsicht, die die Szene eröffnet. Die Betrachter sind verblüfft, überrascht über die Paradoxie, dass der unendliche Blick in einem endlichen Sehen, das sich auf ihn richtet, aufscheint. Im Übergang der visuell-ästhetischen Sehweise in eine symbolisch-spirituelle Einsicht eröffnen sich Entgrenzungserfahrungen im Sehen. Was soll damit gemeint sein? Im Blick der Ikone wird das Sehen der Augen negiert und entgrenzt, um, symbolisch, wie im Spiegel, eine spirituelle Sehweise zu erschließen. Insofern jedes Subjekt in seinem Sehen vom unendlichen Blick getroffen ist, bewahrt es eine exklusive Beziehung zum Unendlichen; denn der unendliche Blick, der alle endlichen Blicke umfasst, ist allem Sehen immanent, fällt mit allen endlichen Blicken zusammen, ohne deshalb mit diesen identisch zu sein, ohne dass dessen Transzendenz in Frage gestellt sein könnte. Nur so ist es möglich, dass das verborgene Geheimnis der Beziehung des Endlichen zum Unendlichen symbolisch zugänglich wird. Der grenzenlose Blick entgrenzt alles endliche Sehen und hebt es auf in eine staunende Erfahrung, dass die unmittelbare Gegenwart des Lebens immer schon umfasst und umgriffen ist von einem es bergenden unendlichen Geheimnis. So wird, wie mir scheint, nachvollziehbar, was Nikolaus von Kues in seiner mystischen Theologie anschaulich zu machen versucht: dass das unfassbare Geheimnis des Unendlichen auf unfassbare Weise berührbar werden soll; Cusanus spricht von einer praegustatio, einem Vorgeschmack, einem Vorgefühl des Unendlichen. Ich verstehe dies dahin, dass das Geheimnis, das sich entzieht, in der unmittelbaren Gegenwart des Lebens anwesend sein muss, um von einer Vorahnung zu reden; andernfalls ergäbe alles philosophisch-theologische Kreisen um eine unerreichbare, aber zugleich unverzichtbare ästhetisch-spirituelle Annäherung keinen Sinn.
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Certeau: Geheimnis, 337.
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Imaginationen des Unendlichen
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Die Welt als Buch bei Nicolaus Cusanus 1. Die Theologie der Welt als Buch Nicolaus Cusanus kennt eine tiefsinnige Auffassung der Möglichkeit von der Forschung der Welt. Sie reicht weiter als nur Erkennbarkeit. Er sieht die Welt als Buch bzw. Bücher. Wenn man ein Buch liest – und nicht bloß (ohne Verständnis) anschaut –, nimmt man in der Druckerschwärze auf den Blättern Gedanken wahr. Der Vorgang des Lesens schaut durch das Buch hindurch zu den Gedanken des Autors. Die Gedanken kommen also in drei Gestalten vor: in der Vernunft des Lesers, im Buch – irgendwie – und in der Vernunft des Autors. Nicolaus übernimmt die herkömmliche Buch-Metapher, die ihm deshalb gefällt, weil man, wie er sagt, zunächst die Sprache und die Buchstaben nicht versteht.1 Die Metapher des Buches passt zu seinem sonstigen Denken. Wenn er sich die Frage stellen lässt, ob er diese Metapher gebrauchen kann, erklärt er: „Ich verachte keinen Bildner, weil ich in jedem dasselbe verstehe“2. Die vertiefte Lesung hat die Form eines Aufstiegs als auch einer Zirkelbewegung. Der Leser beginnt beim Sinnfälligen, geht zum Vernunftgemäßen über und gelangt schließlich bis zum Einen Buch, also vom Äußerlichen zum Inneren.3 Eine Zirkelbewegung findet gleichsam vertikal wie auch horizontal statt.4 Es gibt also eine Bewegung auf und ab (von den Gedanken des Autors zu den sinnenhaften Buchstaben und umgekehrt) als auch eine Bewegung zwischen Buch und Leser.5 Dialogus de genesi, n.171. Wenn nicht anders gekennzeichnet, ist Nicolaus Cusanus der Autor der in den Anmerkungen angegebenen Schriften. 2 Nullum pictorem sperno, in quolibet idem intelligo. Ebd. 3 Vgl. Sermo XXIII, n.15. Prima igitur ambulatio est de sensibili ad imaginabile, secunda est de sensibili ad rationale, tertia est perfectissima nobis, scilicet de sensibili ad intellectuale. Et omnis haec ambulatio est de extrinseco ad intrinsecum, de facie sive notitia extrinseca ad intrinsecam, etc. Ebd., n.2. Qui enim legit librum aliquem, audit loquentem magistrum libri et non audit per aurem corporalem, sed intra audit, ubi tantum audit quantum videt. Quantum enim visione interiori videt scilicet cum intellectu tantum audit. Raptus igitur usque ad verbum seu conceptum scribentis per sensibilem litteram atque scientiam humanam, scilicet cognitionem vocabulorum et ratiocinationem sive logicam, ascendit ad conceptum et intentionem magistri. Et sumitur conceptus seu verbum intra verbum seu conceptum legentis, et cum illo descendit ad videndum seu intelligendum librum, et per librum iterum ascendit lector ad verbum et videt sapientiam eius. Sic verbum est sapientia Patris creatoris, quae facit intellectualem naturam, quae cit ipsum sibi conformem. Sermo CCLXIX, n.6. Vgl. De filiatione dei, n.61. 4 Vgl. De theologicis complementis, n.9. 5 Dicebat superius Apostolus: ‚Veniam autem ad visiones sive revelationes.‘ Hic dicit se audivisse arcana verba. Oportet quod videre et audire coincidant. Qui enim legit librum aliquem, audit loquentem magistrum libri et non audit per aurem corporalem, sed intra 1
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Die Welt als Buch bei Nicolaus Cusanus
Wenn es sich um die Welt als Buch handelt, dann ist Gott der Autor. Und zwar nicht, indem er das Buch diktiert hat; vielmehr hat er es unvermittelt höchst persönlich „mit seinem eigenen Finger“6 verfasst, also nicht durch Menschenhand (etwa durch Evangelisten). Das Buch der Welt ist das Buch der Schöpfung, liber creationis.7 Demzufolge sind die Erkenntnismöglichkeiten der Naturforschung unendlich; sie reichen bis zum höchsten Wissen, nämlich sogar bis zur Weisheit. Cusanus sagt nicht einfach, dass man in der Natur viel lernen kann, sondern er meint das höchste Wissen, nämlich das der Weisheit. Kann ein Naturwissenschaftler Weisheit lernen? Das Buch der Natur sollte Erkenntnis über die Welt vermitteln, man erwartet davon allerdings keine Weisheit. Aber genau das lehrt Cusanus. Eine potente Metapher! Diesem Ansatz zufolge können Dinge wie mathematische Naturgesetze in der Natur existieren. Kreise, Dreiecke, selbst gerade Linien existieren aber nicht wirklich in der materiellen Welt – in der Druckerschwärze –, wenngleich man sie dort erkennt. Genau gesehen kommen sie auch in Geometriebüchern nicht vor. Cusanus unterstreicht dies und treibt es auf die Spitze, indem er einen hochgebildeten Menschen mit einem gänzlich ungebildeten, dem sogenannten Laien in der Schrift Der Laie über die Weisheit konfrontiert. Der Laie belehrt den Gebildeten über die wahre Weisheit aus den jedermann zugänglichen Büchern der Welt, und zwar keineswegs zurückhaltend oder respektvoll. Er beschimpft Wissenschaft, die aus gedruckten Büchern stammt. Für die Buchautoritäten hat der Laie nur Verachtung. In den Büchern der Weisen findet man keine Wahrheiten, die man nicht mit der eigenen Vernunft in der Welt finden kann und soll, zumal sie dann authentischer sind. Er betont, dass Weisheit keine Angelegenheit von Büchergelehrten ist.8 In den Augen von Thomas von Aquin ist es besser, aus der audit, ubi tantum audit quantum videt. Quantum enim visione interiori videt scilicet cum intellectu tantum audit. Raptus igitur usque ad verbum seu conceptum scribentis per sensibilem litteram atque scientiam humanam, scilicet cognitionem vocabulorum et ratiocinationem sive logicam, ascendit ad conceptum et intentionem magistri. Et sumitur conceptus seu verbum intra verbum seu conceptum legentis, et cum illo descendit ad videndum seu intelligendum librum, et per librum iterum ascendit lector ad verbum et videt sapientiam eius. Sic verbum est sapientia Patris creatoris, quae facit intellectualem naturam, quae capit ipsum sibi conformem. Sermo CCLXIX, n.6. Qui enim sic raptus recepit in se verbum, per quod creator hunc librum, scilicet librum creationis, descripsit, ille omnia quae ‚in libro‘ continentur, mediante verbo illo quod est ratio rerum intelligit et intra se, ubi verbum concepit, omnia comprehendit. Et hic sive ascendat sive descendat, sive intret sive exeat, ex quo habet verbum seu ‚ostium‘ sive viam, ‚pascua‘ paradisiaca reperiet, quae sunt ‚pabulum‘ immortalis vitae. Ebd., n.7. 6 Est enim mundus sensibilis quasi ‚liber‘ Dei digito ‚scriptus‘. Sermo VIII, n.16. Die Quelle: Hugo von St. Viktor: De sacramentis, I, pars 6, c.5; Bonaventura: Breviloquium, pars 2, c.11; In Hexaemeron, Coll. 12, n.14–17. Vgl. Sermo XXIII, n.15; De genesi, c.4 (n.171–173); Idiota de sapientia, I, n.4; Sermo LXXI, n.13. 7 Creator hunc librum, scilicet librum creationis, descripsit. Sermo CCLXIX, n.7. 8 Diese Skepsis gegenüber den gedruckten Büchern der Autoritäten ist nicht neu; Thomas von Aquin kennt sie auch und begründet sie dadurch, dass es besser ist, von Gott als von Menschen zu lernen. Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologiae, III, q. 12, a. 3, ad 2:
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eigenen empirischen Erfahrung zu lernen als von Menschen, zumal Gott besser als jeder menschliche Lehrer ist. Auch Wissenschaftler haben kein authentischeres Verhältnis zur Weisheit, obwohl sie Vertrauter der Wahrheit sind. Nicolaus hebt gerade den Aspekt des Strebens nach Weisheit hervor, indem er es als eine Jagd bezeichnet. So trägt eine seiner letzten Schriften den Titel Die Jagd nach Weisheit. Wie elementar das Streben ist, sieht man daran, dass Cusanus lehrt: Die Weisheit „ruft auf den Straßen“9. Sie ist zum einen realitätsnah, konkret, anziehend, und dennoch zum anderen transzendent. Der Ruf ist hörbar, aber der Rufende bleibt fernab. „Ich aber künde dir, dass die Weisheit draußen in den Straßen ruft; und es ergeht der Ruf von ihr, dass sie selbst in den höchsten Höhen wohnt.“10 Die Wahrheit der Bücher Gottes existiert ganz konkret und ganz abstrakt in der Höhe. Sie ist allgegenwärtig: „So ersehnst du doch in jedem Wünschen des geistigen Lebens nichts anderes als die ewige Weisheit“, lehrt Cusanus. „Sie ist deiner Sehnsucht Vollendung, ist ihr Ursprung, Mittelpunkt und Endziel. [...] So erfährst du in dir einen gewissen Vorgeschmack der ewigen Weisheit; denn nichts gänzlich Unbekanntes begehren wir.“11 So hoch liegt das Ziel der Weisheitsjagd, dass Cusanus sie zugleich für einen Prozess der Verähnlichung mit Gott hält12, denn „wir streben nach Weisheit, um unsterblich zu sein“13. Weisheit lockt uns an, wie ein wohlriechender Duft uns zum Geruchsgegenstand zieht. Sie widerstrahlt aus allem und vermittelt gleichsam einen Vorgeschmack, so dass eine Sehnsucht entsteht, die im tiefsten Wesen ein Streben nach der Quelle des eigenen Lebens ist. Ohne ein solches Vorgespür würden wir weder die Quelle suchen noch sie erkennen, wenn wir sie gefunden hätten. Daher ist die Sehnsucht nach Weisheit mit dem Streben nach dem eigenen und eigentlichen Leben identisch. „Wie nämlich ein Duft, von dem eigentlichen Geruchsgegenstande ununterbrochen ausgeströmt, von anderem Träger in sich aufgenommen, uns zu suchendem Laufe antreibt. [...] So lockt uns die ewige und unendliche Weisheit, die ja aus allem widerstrahlt, mittels und aus einer Art Vorgeschmack der Wirkungen an, so dass wir in wundersamer Sehnsucht ihr entgegengedrängt werden. Da sie das wahre Leben unseres vernünftigen Geistes ist, der in sich einen gewissen urverbundenen Vorgeschmack für sie trägt, vermittels dessen er in so hingegebenem Eifer nach der Quelle seines Lebens forscht – die er ohne Vorgespür nicht suchte, noch, wenn er sie gefunden, als wiedergefunden empfände –, so fühlt er sich zu ihr, der Weisheit, als zu seinem eigenen und eigentlichen Leben gedrängt. Und freudevoll ist‘s für jeden Geist, zur Quelle seines Lebens, wie unzugänglich sie auch immer sein und bleiben mag, stetig weiter vorzudringen.“14 Sicut igitur dignius est doceri a Deo quam ab homine, ita dignius est accipere scientiam per sensibiles creaturas quam per hominis doctrinam. 9 Idiota de sapientia, I, n.7. 10 Ebd. Vgl. Sprüche 8, 1–3 und Weisheit 6, 14. 11 Idiota de sapientia, I, n.14–15. 12 Vgl. De venatione sapientiae, c.20, n.58. 13 Ebd., c.32, n.96. 14 Idiota de sapientia, I, n.10–11.
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Die Welt als Buch bei Nicolaus Cusanus
Den affektiven Grundzug, der der Weisheit innewohnt, bringt Cusanus außerdem durch die alte Idee zur Geltung, dass Weisheit ein ‚schmeckendes Wissen‘ (sapida scientia) ist. In seiner umfangreichen und im Mittelalter viel benutzten Schrift Etymologiae hatte Isidor von Sevilla (ca. 560 bis 636) die Etymologie verbreitet, dass sapientia von sapor komme, also so viel wie ‚schmeckendes Wissen‘ bedeute. Denn „der Genuss macht weise wie das Wissen wissend“ (sapor sapientem facit, sicut scientia scientem), hatte Bernhard von Clairvaux geschrieben.15 Insofern unterscheidet sich die weisheitliche Erkenntnis von wissenschaftlicher Erkenntnis. Das ‚innere Verkosten‘ schildert Cusanus mit folgenden Worten: „Die Weisheit mundet dem Geiste wohler als alles sonst. Nicht die rein prüfend Beurteilenden, die nur im Worte und nicht aus innerer Erfahrung reden, sind wahrhaft Weise. Wohl aber reden jene aus innerlicher Erfahrung über die Weisheit, die durch sie ebensowohl alles wissen wie nichts von allem. Durch die Weisheit nämlich, in und aus ihr ersteht jedes innere Verkosten. [...] Unschmeckhaft wird sie gekostet, die über jedes Schmeckbare, sei es sinnen-, verstandes- oder vernunftbestimmt, erhaben ist; das aber bedeutet: unschmeckbar und nur von fernher verkosten, wie man einen bestimmten Geruch auch als unschmeckbaren Vorgeschmack bezeichnen kann.“16 Diesem Verständnis nach umfasst die Sehnsucht nach Weisheit das ganze menschliche Leben, und zwar so radikal, dass sie nicht durch eine freie Entscheidung entsteht, sondern aus der menschlichen Natur selbst stammt: „Wir haben eine gewisse angeborene Kenntnis der Weisheit, zu der wir hinbewegt werden.“17 Sie umfängt Wissenschaft, Philosophie, Theologie, Religion sowie alle Gegensätze. Hier gilt die Weisheit als die Vollendung der Sehnsucht: „Die ewige Weisheit wird in allem Verkostbaren verkostet. Sie ist die Freude in jedem Erfreuenden; sie ist die Schönheit in jedem Schönen; sie ist das Begehren in jedem Begehrbaren.“18 Die Lesemethode des Cusanus lässt sich als ein Abstraktionsaufstieg charakterisieren. Forschung als erhöhte Aufmerksamkeit. Der Laie setzt auf dem landläufigen Marktplatz an, also ganz rudimentär, nicht etwa in einer Bibliothek oder einem Hörsaal. Dort wird gemessen und gezählt, Geld, Gewicht, Menge usw. Der Laie verlangt nun, dass man das spezifisch Menschliche genau betrachtet: „Und nun richte dein Augenmerk auf das, durch welches, in welchem und aus welchem heraus solches geschieht, und sag es mir an!“19 Man stellt dann fest, dass es durch irgendein Eines geschieht. Fünf Euro sind ja fünf mal ein Euro. Das Eine in der Vielheit wird wahrgenommen. Zum Beispiel: „Durch das Eine also wird jede Zahl.“ Und dasselbe gilt für die anderen Vorgänge: „Und wie das Eine Bernhard von Clairvaux: Sermo 23, 14. Idiota de sapientia, I, n.10. 17 Sermo LXXXVIII, n.3. Desiderium sapientiae, quod est in omnibus hominibus, – quia ‚omnes homines naturaliter scire desiderant‘ – est quaedam vocatio seu motio seu attractio nobis conata et sic a Deo Patre creatore data. Ebd. 18 Ebd., n.14. 19 Idiota de sapientia, I, n.5. 15 16
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Begründung der Zahl, so ist die kleinste Gewichtseinheit Begründung des Wägens und die kleinste Maßeinheit Begründung des Messens.“ Das bedeutet für den platonisch denkenden Cusanus, dass „aus dem Einen das Zählen, aus der Unze das Wägen, aus dem Petit das Messen entsteht. Und gleicherweise liegt im Einen das Zählen, in der Unze das Wägen, in dem Petit das Messen beschlossen.“ Die Vielheit ist im jeweiligen Einen einbeschlossen. Ohne die ihr entsprechende Einheit existiert Vielheit gar nicht.20 Damit ist der erste Schritt des Aufstiegs der Abstraktion erreicht. Cusanus will aber natürlich weiter auf diesem Weg. „Diesen Ruf der Weisheit in den Straßen übertrage nun zu jener höchsten Höhe, wo die Weisheit ihre Heimstätte hat, und du wirst viel Erfreulicheres finden als in all deinen noch so prächtigen Schriftbänden.“21 Auf der höchsten Abstraktionsstufe in der Pyramide befindet sich die Weisheit. Hier gilt: „Siehe, Bruder, die höchste Weisheit ist die, dass du wissest, wie in dem vorgebrachten Gleichnis das Unberührbare unberührenderweise berührt wird (attingitur inattingibile inattingibiliter).“22 In der Welt andernfalls verhaftet – im Konkreten verharrend – können wir das Eine Buch nicht lesen. „Wenn ich ein Buch aufmache, um es zu lesen, sehe ich die Seite als ganze nur verworren. Will ich die einzelnen Buchstaben, Silben und Worte unterscheiden, so ist es notwendig, dass ich mich der Reihe nach jedem einzelnen zuwende, und ich kann nicht anders als nach und nach die Buchstaben lesen und die Worte Schritt für Schritt aufnehmen.“23 Wenn die Welt in die Vernunft des Lesers aufgenommen wird, dann werden aus verschiedenen Büchern Ein Buch.24 Man benutzt das Buch der Welt richtig, wenn man das Eine darin liest.25 Et quia multitudo ex se non est, sed ex unitate, – cadit enim multitudo ab unitate; per hoc enim multitudo est, quia non est unitas semel sive uniter, sed unitas plurificata –, vides satis, quod multitudo ab uno cadit et quod ipsa multitudo non habet subsistentiam extra unitatem. Sublata enim unitate nihil amplius remanet in multitudine. Omne igitur, quod est multitudo, est ab unitate, quae in omni multitudine et in qualibet parte eius integra est, et in qua est ipsa multitudo. Sermo XXIII, n.15. 21 Idiota de sapientia, I, n.7. 22 Ebd. 23 De visione dei, n.29. 24 Sensibili particularium ad universalem artem, quae est in mundo intellectuali. Universale enim est in intellectu et de regione intellectuali. In hoc mundo in variis particularibus obiectis ut in variis libris versatur studium nostrum. In mundo intellectuali non est nisi obiectum unum intellectus, scilicet veritas ipsa, in quo habet magisterium universale. De filiatione dei, n.57. 25 Unde haec est Christi admiranda doctrina, ut quicumque quaerere voluerit veritatem, non se fatiget in pluralitate entium, ut scilicet quaerat, quid caelum, quid terra, et ita de cunctis, quoniam si haec omnia per se considerantur, nihil veri in ipsis ut in pluribus reperietur, sed turbatio mentis, quando post infinitas fatigas se comperit nihil praecisionis attigisse et tempus inutiliter exposuisse. Sed cum in omnibus ad unum se convertit, tunc 20
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Der Weg läuft also bis zum letzten Prinzip, das heißt dem Einheitsprinzip: „Ich behaupte“, führt der Laie fort, „dass, wie ich schon vorhin über die Einheit, die Unze und das Petit gesprochen habe, so von allem hinsichtlich seiner Begründung (omnium principium) zu sagen sei. Die Begründung von allem ist nämlich jenes, durch, in und aus dem alles Begründbare entsteht, und dennoch steht sie mit nichts Entstandenem in Berührung. Die Begründung ist es, durch, in und aus der alles Erkennbare erkannt wird, und an die dennoch keine Erkenntnis hingelangt.“26 Schließlich gibt Cusanus dem höchsten Einen einen Namen: nämlich die Unendlichkeit. „Das Höchste nämlich ist, was erhabener nicht sein kann. Einzig die Unendlichkeit ist diese Höhe.“27 Für Cusanus ist Gott nicht bloß das unendliche Seiende oder etwa die unendliche Liebe oder Gerechtigkeit, sondern die Unendlichkeit selbst, in aller unbegreiflichen und unvorstellbaren Abstraktheit, in der alle Gegensätze einbeschlossen sind. Unendlich ist für ihn nicht nur ein Adjektiv, sondern ein eigenständiges Substantiv. Anders ausgedrückt: Gott ist die absolute Voraussetzung. „Jede Frage über Gott setzt das Erfragte voraus. [...] Denn Gott ist die unbedingte Voraussetzung von allem (Deus est ipsa absoluta praesuppositio omnium.), was auch immer vorausgesetzt werden mag, so wie jedem Bewirkten die Ursache im voraus zugrunde liegt.“28 „Jede Frage über Gott setzt den Gefragten voraus.“ (Omnis quaestio de Deo praesupponit quaesitum.)29 Das gilt auch bei jedem Zweifel: „Gott ist, was in jedem Zweifel vorausgesetzt wird.“30 Dabei ist ‚Voraussetzung‘ so zu verstehen, wie Tier die Voraussetzung von Hund ist; nicht etwa wie ein Tischler die Voraussetzung des Tisches ist. Der Schreibvorgang des Autors der Welt ist der Akt der Schöpfung: „Die Dinge sind die Bücher der Sinne. In ihnen steht die Absicht der göttlichen Vernunft in sinnenfälligen Bildern beschrieben, und die Absicht ist die Offenbarung Gottes selbst, des Schöpfers“31, lehrt Cusanus. Der Laie, das heißt der Ungebildete, bedarf der gedruckten Bücher nicht, da er in der Lage ist, das Buch der Welt zu lesen. „Der Laie, der nicht lesen kann“, referiert Hans Blumenberg, „ist der unbefangene Leser des Buches
ipsum unum comperit absolutam omnium necessitatem, quoniam, ut ait Dionysius, quia unum absolutum, hinc omnia. ‚Causa‘ enim ‚causarum‘ et omnis esse alia non est, nisi quia unum. Hic in omnibus quaerit pacem et requiem, quia unum omnium attingit necessariam causam, hic recte utitur ‚libro Dei digito scripto‘, puta mundo creato, qui omnem creaturam unius scit assimilationem, qui scit unum caelum in assimilatione unius absoluti surrexisse de non-uno vocatum, et tanto plus accessisse in assimilatione ad unum, quanto plus a non-uno elevatum! Sermo LXXI, n.13. 26 Idiota de sapientia, I, n.8. 27 Ebd. 28 Ebd., II, n.30. 29 Ebd., n.29. 30 Sermo LXXIII, n.2. 31 De Beryllo, n.66.
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der Natur.“32 In der Welt kommt die Vernunft erstaunlich weit, bis zur höchsten Erkenntnis, bis zur Weisheit. Damit ist aber die Tragweite unserer Metapher nicht erschöpft. 2. Die Tragweite der Metapher Bei Galileo Galilei (1564–1642) ist die Metapher wichtig sowohl bei seiner revolutionären Auffassung von Naturwissenschaft als auch bei seiner Konfrontation mit der Inquisition. Der Buchmetapher kommt eine außerordentliche Tragweite bei der Entstehung moderner Naturwissenschaft zu. Wenn Gott der Autor der Welt ist, dann kann man ohne weiteres mathematische Naturgesetze in der Welt finden, obwohl sie in ihr selbst konkret nie rein vorkommen. Wie religiös diese Vorstellung damals war, sieht man daran, dass Galileis Zeitgenosse Johannes Kepler (1571–1630) Naturwissenschaft geradezu als Gottesdienst verstand. Er bezeichnete sich sogar als „Priester Gottes am Buche der Natur“33, welches Gott uns, wie er vertraut, immer mehr erschließe.34 „Für Kepler war die Astronomie eine Anbetung des Schöpfers durch das Medium der Mathematik“, kommentiert Carl Friedrich von Weizsäcker. „Im mathematischen Gesetz denkt der Mensch, der nach Gottes Bild geschaffen ist, Gottes Schöpfungsgedanken nach.“35 Auf der Basis dieser Glaubenszuversicht ist moderne Naturwissenschaft entstanden. Meiner Meinung nach repräsentiert Galilei einen Höhepunkt in der Geschichte der Buch-Metaphorik. Ihr entsprechend stand es für ihn außer Frage, dass die Bibel und die Naturwissenschaft sich nicht widersprechen, sich sogar von vornherein nicht widersprechen können. Denn es galt auch in seinen Augen vorbehaltlos, dass Wahrheiten sich nicht widersprechen können. Die Lehre von der doppelten Wahrheit lag ihm fern. Ebenso die heute übliche Trennung von Wissenschaft und Glauben, bzw. Religion. Er war außerdem überzeugt, dass die Hl. Schrift sich nicht irren kann – ohne aber selbst dabei fundamentalistisch zu sein. Er ging davon aus, dass sowohl Naturwissenschaft als auch die Theologie von derselben Quelle herstammen, nämlich von Gott, gleichsam dem Autor beider Bücher. Mit seiner Überzeugung, zwischen beiden Büchern herrsche eine durchgehende Harmonie, ging er so weit, dass er das eine zum Verständnis des anderen einsetzte. Darüber hinaus führt Galilei die Idee des Buches der Natur auf die Spitze, wenn er, als erster, lehrt, dass die Sprache des Buches der Welt die Mathematik sei, und – gleichsam als Erwiderung zur Bemerkung des Cusanus über Sprache und Buchstaben – konstatiert: Das großartige Buch
Blumenberg: Neuzeit, 59. Kepler: Brief an Herwart von Hohenburg, 193. 34 Kepler: Epitome Astronomiae Copernicanae, 574. 35 Weizsäcker: Tragweite der Wissenschaft, 106. 32 33
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Die Welt als Buch bei Nicolaus Cusanus
„ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und ihre Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es ganz unmöglich ist, auch nur einen Satz zu verstehen, ohne die man sich in einem dunklen Labyrinth verliert“36. Das ist wissenschaftsgeschichtlich eine revolutionäre Idee und darf als der Anfang moderner Naturwissenschaft gelten, das heißt Wissenschaft, die die Idee der Naturgesetze und das Ideal der Mathematisierung kennt. Aus diesem Grund konnte Galilei die Fallgesetze mathematisch deduzieren. Das Neue an seiner empirischen Mechanik war, dass er nicht aufgrund empirischer Beobachtung vorgegangen war – wie oft unterstellt wird –, sondern durch eine rein theoretische Ableitung. Galilei hat als erster im Bereich der Physik zwischen apriorischer (theoretischer) und aposteriorischer (empirischer) Physik unterschieden, was für moderne Naturwissenschaft charakteristisch ist. Wie Weizsäcker erklärt: „Galilei tat seinen großen Schritt, indem er wagte, die Welt so zu beschreiben, wie wir sie nicht erfahren. Er stellte Gesetze auf, die in der Form, in der er sie aussprach, niemals in der wirklichen Erfahrung gelten und die darum niemals durch irgendeine einzelne Beobachtung bestätigt werden können, die aber dafür mathematisch einfach sind. So öffnete er den Weg für eine mathematische Analyse, die die Komplexität der wirklichen Erscheinungen in einzelne Elemente zerlegt. Das wissenschaftliche Experiment unterscheidet sich von der Alltagserfahrung dadurch, dass es von einer mathematischen Theorie geleitet ist, die eine Frage stellt und fähig ist, die Antwort zu deuten. [...] Galilei zerlegt die Natur, lehrt uns, neue Erscheinungen willentlich hervorzubringen, und den gesunden Menschenverstand durch Mathematik zu widerlegen.“37 Galileis Bewegungstheorie wurde also nicht experimentell gegründet, sondern axiomatisch deduziert. Seine Betrachtungen über die Ortsbewegung, wie Jürgen Mittelstraß konstatiert, „stellen nichts anderes dar als eine axiomatische Bewegungstheorie, ein Stück Protophysik also, das über Definitionen, Axiome und Theoreme schließlich, nämlich unter der Hinzunahme der Behauptung, dass die zunächst allein logisch aus den Axiomen abgeleiteten Theoreme auch auf empirische Ereignisse zuträfen, empirische Physik begründet“38. „Ein axiomatischer Aufbau und die logische Herleitung erster Sätze aus terminologischen Bestimmungen“39 charakterisiert die wissenschaftliche Methode Galileis. Die Grundlage seines naturwissenschaftlichen Vertrauens ist sein christlicher Glaube an das Buch der Welt. Galilei: II Saggiatore (Galileo Galilei, Edizione nazionale delle Opere di Galileo Galilei, hg. von A. Favaro [1929–1939]; Neuausgabe: Firenze 1968, Bd. 6, 232). 37 Weizsäcker: Tragweite der Wissenschaft, 107–108. „Mit dieser [...] axiomatischen Ordnung, nicht mit einzelnen inhaltlichen Sätzen beginnt die neuzeitliche Physik“, notiert Mittelstraß, „und sie beginnt als rationale Mechanik, weil in ihren Begründungsketten erfahrungsabhängige Sätze nicht vorkommen, dem empirischen Teil ein protophysikalischer Teil vorausgeht.“ Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung, 235. 38 Ebd., 212. 39 Ebd., 238. 36
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Das konkrete Experiment dient lediglich der Bestätigung der Theorie. So konnte Galilei selbst es wie folgt erläutern: „Sollte sich herausstellen, dass sich die später zu beweisenden Eigenschaften (einer gleichförmig beschleunigten Bewegung) in frei fallenden und beschleunigten Körpern wiederfinden, so werden wir annehmen dürfen, dass die gegebene Definition die Bewegung fallender Körper einschließt und dass deren Beschleunigung proportional zur Zeit und zur Dauer der Bewegung wächst.“40 Da er tatsächlich noch kein Vakuum herstellen konnte, war es ihm noch nicht möglich, diese Erwartung in der Wirklichkeit zu überprüfen. Im Übrigen konnte das Experiment für ihn – ähnlich wie für Descartes – nur bedeuten, dass die bereits in sich bestehende Theorie auch in der Wirklichkeit zutrifft. „Das Experiment“, schreibt Mittelstraß, „dient mit anderen Worten in erster Linie gar nicht zur Begründung theoretischer Sätze, sondern als Nachweis dafür, dass gewisse Phänomene, in diesem Falle ‚natürliche‘ Bewegungen, unter diese Sätze fallen.“41 Das Experiment liefert nur eine Vergewisserung, aber keinen Beweis. In den Worten Galileis: „Wenn die Erfahrung gezeigt hat, dass sich solche Eigenschaften bei der Bewegung der natürlich fallenden schweren Körper bestätigen, können wir ohne Gefahr, uns zu irren, behaupten, dass die Fallbewegung dieselbe ist wie die (zuvor) definierte und angenommene.“ Und dann notiert er mit aller wünschenswerten Deutlichkeit: „Ist dies nicht der Fall, verlieren unsere Beweise dennoch nichts von ihrer Kraft und Schlüssigkeit, da sie ja allein für unsere Annahmen gelten sollten.“42 Naturgesetze müssen nicht in der empirischen Erfahrung verifizierbar sein. So stark war Galileis Glaube, die Welt sei ein von Gott verfasstes Buch, dass er zur Überzeugung gelangte, man könne das Buch der Welt benutzen, um das andere Buch, die Bibel, auszulegen. Da Wahrheiten sich ja nicht widersprechen können, so argumentierte er, impliziert die naturwissenschaftliche Entdeckung einer Wahrheit in der Welt, dass die Bibel unmöglich das Gegenteil lehren kann, zumal beide von demselben Verfasser stammen. Diese auf die Autorenschaft basierende Logik ist schlicht und konsistent. Darüber hinaus teilte Galilei die herrschende Ansicht seiner Zeit, dass Naturwissenschaft auch Gegenstand der Bibel sei.43 Keineswegs also haben wir es bei ihm mit zwei disparaten Welten zu tun. Die Welt des Glaubens und die Welt der Naturwissenschaft schließen sich für Galilei Galilei: Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze (Bd. 8, 202– 203). 41 Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung, 213. „Entgegen den Erwartungen, die Galilei und die Physik der folgenden Jahrhunderte gegenüber der ‚experimentellen Methode‘ hegten, lassen sich mit Hilfe des Experiments Behauptungen im Grunde niemals (es sei denn für den singularen Fall) verifizieren.“ Ebd., 239. 42 Galilei: Brief vom 5. Juni 1637 an Pietro Carcavy (Bd. 17, 90f.). „Mit Behauptungen über empirische Bewegungen beginnen zu wollen, erweist sich an dieser Stelle (von Galilei deutlich ausgesprochen) als sinnlos.“ Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung, 215. 43 Vgl. Carroll: Galileo, 173. 40
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keineswegs gegenseitig aus. Da es sich sowohl beim Glauben als auch bei der Vernunft um ein Licht handelt, kollidieren sie nicht miteinander; Licht beleuchtet bereits vorhandene, vom Licht unabhängige Wirklichkeit. Der individuelle Glaube verbindet beides, und zwar so eng, dass das Ergebnis einer Vernunftuntersuchung der Natur herangezogen werden kann, um die Bibel zu interpretieren. So argumentiert er in Bezug auf den Kopernikanismus – der übrigens bei Cusanus anderthalb Jahrhunderte früher ansatzweise Rückhalt erhielt –: „Der für mich ungesäumteste und sicherste Weg, um zu beweisen, dass die Haltung des Copernicus nicht im Widerspruch zur Schrift steht, wäre, durch zahlreiche Versuche zu zeigen, dass sie richtig ist und dass die gegenteilige Ansicht keinesfalls bestehen kann; weil aber zwei Wahrheiten sich nicht widersprechen können, müssen diese und die Hl. Schrift völlig übereinstimmen.“44 So folgt logisch, wenn auch mit einer Glaubensstärke, die heute rar geworden ist, dass „Gott sich uns in den Naturvorgängen nicht weniger vollkommen als in den heiligen Worten der Schrift“ offenbart.45 Man muss somit gegebenenfalls von einer naturwissenschaftlichen Feststellung ausgehen und sich bemühen, die Hl. Schrift in Übereinstimmung mit ihr zu verstehen. „Wenn das feststeht und wenn darüber hinaus eindeutig ist, dass zwei Wahrheiten einander nie widersprechen können, ist es Aufgabe der gelehrten Ausleger, sich anzustrengen und den wahren Sinn der Bibelstellen, der mit jenen die Natur betreffenden Schlussfolgerungen übereinstimmt, über die zwingenden Beweise zuverlässig unterrichtet haben.“46 Diese (heute befremdende) Hermeneutik steht durchaus im Einklang mit der mittelalterlichen Scholastik. Die Zwei-Bücher-Tradition bringt Galilei in seiner Selbstrechtfertigung vor der Inquisition voll zur Geltung. Entgegen einer heute geläufigen Vorstellung ist für ihn, wie gesagt, eine Trennung zwischen Wissen und Glauben ausgeschlossen. „Denn die Hl. Schrift und die Natur gehen gleicherweise aus dem göttlichen Wort hervor“, führt er unter Anwendung der Buch-Metapher an, „die eine als Diktat des Heiligen Geistes, die andere als gehorsamste Vollstreckerin des göttlichen Wortes.“47 Die scholastischen Theologen waren sich voll bewusst, dass sich das Verständnis eines Textes aus zwei Quellen erschließt, nämlich aus dem Text selbst und aus dem Denken des Lesers. Man vertiefte diese Sichtweise durch die Metapher der zwei von Gott geschriebenen Bücher. Demnach liegen zwei Quellen (loci) der göttlichen Offenbarung vor: das Buch der Hl. Schrift, vor allem im Lichte des Glaubens zu lesen, und das Buch der Natur, im Lichte des Verstandes zu lesen (wobei die Tätigkeit des Verstandes bei der Offenbarung keineswegs ausgeschlossen wird). Auf diese Auffassung besann sich Galilei zurück, als er sich gegenüber Galilei: Brief an Piero Dini vom Mai 1615, Bd. 12, 184. Galilei: Brief an Christina von Lothringen, Bd. 5, 316. 46 Galilei: Brief an Benedetto Castelli, Bd. 5, 283. 47 Galilei: Brief an Christina von Lothringen, Bd. 5, 316. 44 45
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der Inquisition auf das Buch der Natur berief. Dieses könne naturwissenschaftlich gelesen und dazu verwendet werden, herauszufinden, was der ‚Autor‘ der Bibel, der ebenfalls das Buch der Natur geschrieben habe, eigentlich sagen wolle. Die wirkliche Schwäche seiner Position lag im Übrigen bei seiner naturwissenschaftlichen Lektüre des Buches der Natur. Bezüglich seiner Bibelhermeneutik war er, wie Papst Johannes Paul II. hervorgehoben hat, den professionellen Theologen der Inquisition überlegen. In einem Brief schreibt Galilei: „Wenn schon die Schrift nicht irren kann, so können doch einige ihrer Erklärer und Deuter in verschiedener Form irren.“48 Johannes Paul II. kommentierte diese Aussage in einer Ansprache an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften am 31. Oktober 1992 folgendermaßen: „Merkwürdigerweise zeigte sich Galilei als aufrichtig Glaubender in diesem Punkte weitsichtiger als seine theologischen Gegner.“49 Die Theologen zur Zeit Galileis waren, wie er selbst behauptet, nicht in der Lage, deutlich zwischen der Hl. Schrift und deren Deutung zu differenzieren. „Die Mehrheit der Theologen vermochte nicht formell zwischen der Hl. Schrift und ihrer Deutung zu unterscheiden“, wie Johannes Paul II. attestiert, „und das ließ sie eine Frage der wissenschaftlichen Forschung unberechtigterweise auf die Ebene der Glaubenslehre übertragen.“50 Eigentlich war es eher wegen seiner theologischen Hermeneutik als wegen seines Kopernikanismus, dass Galilei mit der Inquisition Schwierigkeiten bekam. Der damalige Streit ging jedenfalls nicht um die Diskrepanz zwischen Religion und Wissenschaft, das heißt zwischen dem biblischen und dem wissenschaftlichen Weltbild.51 Ganz traditionell hält Galilei an der absoluten Wahrheit der Hl. Schrift fest, wobei er diese Garantie den Interpreten keineswegs beimisst. „Die Hl. Schrift kann nie lügen oder irren, vielmehr sind ihre Aussprüche (decreti) von absoluter und unverletzlicher Wahrheit. Wenn aber auch die
Galilei: Brief an Benedetto Castelli vom 21. Dezember 1613, Bd. 5, 282. Johannes Paul II.: Ansprache, 9–10. „So zwang die neue Wissenschaft mit ihren Methoden und der Freiheit der Forschung, die sie voraussetzte, die Theologen, sich nach ihren Kriterien für die Deutung der Bibel zu fragen. Dem Großteil gelang dies nicht.“ Ebd., 5. 50 Ebd., 9. 51 „Der Fall Galilei wurde zur Gründungslegende der Aufklärung und zum schlagenden Beleg dafür, dass die Kirche den wissenschaftlichen Fortschritt brutal unterdrückt hat. Nur gegen die Kirche konnte er sich durchsetzen. – Die Galilei-Forschung hat in 150 Jahren an der kämpferischen Galilei-Legende der Aufklärung längst eine ganze Reihe beachtlicher Korrekturen angebracht, die freilich vom aufgeklärten Publikum kaum wahrgenommen werden, denn auch dieses liebt seine Legenden. Es sei damals um den Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft und namentlich um den zwischen dem biblischen und dem wissenschaftlichen Weltbild gegangen. In Wahrheit aber ging der Streit um den wissenschaftstheoretischen Status der Astronomie und um die Frage der angemessenen Auslegung der Bibel, zu der auch Galilei sich umfänglich geäußert hat.“ Schröder: Warum wurde Galilei verurteilt?, 18. 48 49
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Bibel nicht irren kann, so könnte doch ein Ausleger derselben in verschiedener Weise irren.“52 Galilei erläutert diese Feststellung, indem er die wortwörtliche Bedeutung der Schrift nicht verabsolutiert: „Ein solcher Irrtum, und zwar ein sehr schwerer und gewöhnlicher Irrtum, wäre es, wenn wir immer bei der rein wörtlichen Bedeutung der Worte (puro significato delle parole) stehen bleiben wollten; denn so würden nicht nur mancherlei Widersprüche, sondern auch schlimme Ketzereien und Gotteslästerungen herauskommen. Denn wir müssten dann Gott Hände, Füße, Ohren beilegen und nicht minder körperliche und menschliche Affekte, wie die des Zornes, der Reue, des Hasses und mitunter sogar des Vergessens der vergangenen und des Nicht-wissens der zukünftigen Dinge. Wenn sich so in der Hl. Schrift viele Sätze finden, welche nach der bloßen Wortbedeutung ein vom wahren (Sinn) abweichendes Aussehen haben, aber in dieser Art dastehen, um sich dem mangelnden Auffassungsvermögen des Volkes anzupassen (accomodarsi), so ist es um der wenigen willen, welche es verdienen, vom Volk unterschieden zu werden, nötig, dass die gelehrten Ausleger den wahren Sinn offenlegen und darüber hinaus die besonderen Gründe angeben, warum sie in solchen Worten ausgesprochen wurden.“53 Die „vordergründige Wortbedeutung“ (apparente significato delle parole) darf nicht immer für die wahre gehalten werden, erst recht nicht, wenn es sich um Naturwissenschaft handelt.54 Nur unter dieser Bedingung lässt sich nach ihm der wahre Sinn der Schrift eruieren. Wie er mahnt: „Es ist ein sehr weiser Grundsatz, dass die Hl. Schrift nie lügen kann, vorausgesetzt freilich, man ist zu ihrem wahren Sinn vorgedrungen; dabei halte ich es für unbestreitbar, dass dieser oft verborgen und sehr verschieden von dem ist, wonach die bloße Wortbedeutung klingt (che suona il puro significato delle parole).“55 In der gegenwärtigen Theologie hat Papst Benedikt XVI./Joseph Ratzinger sich mit der Idee der Welt als Buch Gottes tiefsinnig und fruchtbar befasst. Wie auch Galilei setzt er nicht bei einer philosophischen Ergründung der Welt an, sondern beim Glauben. Da die Welt Schöpfung und Gott ein denkender Schöpfer ist, scheint es nur folgerichtig zu sein, von der „gedanklichen Struktur des Seins, das aus Sinn und aus Verstehen kommt“56, zu sprechen. Seiner Meinung nach impliziert der Schöpfungsglaube, dass objektiver Geist in allen Dingen vorkommt und wir die Welt deshalb mit unserer Vernunft in zunehmendem Maß verstehen können. Er erklärt, dass die Verstehbarkeit der Natur – was er „objektiven Geist“ nennt – „Abdruck und Ausdruck ist von subjektivem Galilei: Brief an Castelli, Bd. 5, 282. Galilei: Brief an Christina, Bd. 5, 315. 54 Vgl. Galiliei: Brief an Castelli, Bd. 5, 282. 55 Galilei: Brief an Christina von Lothringen, Bd. 5, 315. 56 Ratzinger: Einführung, 116. Der Ausdruck „Buch der Natur“ begegnet auch in der Enzyklika „Caritas in veritate“, Nr. 51. 52 53
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Geist und dass die gedankliche Struktur, die das Sein hat und die wir nachdenken können, Ausdruck eines schöpferischen Vordenkens ist, durch das sie sind“57. Der Gedanke existiert also in drei Modalitäten: im Denken Gottes, in den erkennbaren Dingen der Welt und im Bewusstsein des menschlichen Betrachters, analog zur Weise, wie die Gedanken eines menschlichen Autors in seinem Buch und dadurch im Denken des Lesers existieren. Ratzinger geht, wie Galilei, noch einen Schritt weiter und behauptet, dass der ‚objektive Geist‘ in der Welt sogar eine mathematische Struktur innehat. Dementsprechend ist auch die Materie nicht einfach Un-Sinn, der sich jenseits des Verstehens befindet. „Diese Einsicht hat in unserer Zeit“, stellt er fest, „durch die Erforschung des mathematischen Aufbaus der Materie, ihrer mathematischen Denkbarkeit und Verwertbarkeit, eine unerhörte Dichte gewonnen.“ Somit kommt Ratzinger zu dem Schluss: „All unser Denken ist in der Tat nur ein Nachdenken des in der Wirklichkeit schon Vorgedachten.“58 Menschliche Erkenntnis der Welt kann nichts anderes sein, als dieses göttliche Gedachtsein nachzuvollziehen und die darin liegende Wahrheit zu finden. * Nun, wenn man über die Buchmetapher nachdenkt, muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Naturwissenschaft sehr bald die Metapher des Buches der Welt aufgibt. Naturgesetze werden nicht mehr als die Gedanken Gottes angesehen – wenngleich man eine alternative Begründung auch nicht ohne weiteres findet. Einerseits also hängt die Entstehung moderner Naturwissenschaft mit dieser Metapher zusammen, während sie andererseits bald vergessen wird, und die wissenschaftliche Vernunft volle Autonomie gewinnt. Daran lässt sich erahnen, dass die Metapher nicht unproblematisch ist. Anscheinend kann der Mensch mit seiner eigenen Vernunft die Welt für sich erforschen, ohne auf die Gedanken des Schöpfers rekurrieren zu müssen. Nunmehr gibt es eine klare Trennung zwischen dem Buch und dessen Autor – sowie zwischen Wissenschaft und Bibel. Ein weiterer Grund zum Nachdenken: Als ich die Buchmetapher untersuchte, habe ich befremdlicherweise festgestellt, dass der Ausdruck sich kein einziges Mal bei Thomas von Aquin finden lässt. Dies ist umso verwunderlicher, als die Metapher durchaus zu seiner Zeit, und zwar seit Jahrhunderten, bekannt war. Mit Augustinus beginnt eine lange Tradition.59 In der augustinischen Tradition der folgenden Jahrhunderte trat die Zwei-Bücher-Idee immer wieder auf, sowohl in dichterischen wie in wissenschaftlichen Schriften. Der Zeitgenosse des Thomas von Aquin Bonaventura (1221–1274) lehrte ebenfalls, dass es zwei Bücher gibt, von denen eines innen und das andere außen in der sinnlichen Welt vorkommt.60 Ratzinger: Einführung, 116. Ebd. 59 Ein früher Beleg des Ausdrucks ‚Buch der Natur‘: Augustinus: De Genesi ad litteram. 60 Vgl. Bonaventura: Breviloquium, II, 11. Bei Bonaventura findet sich auch folgende An57 58
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Warum vermeidet Thomas die Metapher? – so kann man fragen. Man darf vermuten, dass er einen bestimmten Grund dafür hatte. Stellen wir uns nun zum Schluss die kritische Wahrheitsfrage in Bezug auf die Wahrheitslehre des Nicolaus Cusanus. 3. Die Wahrheit und die Wirklichkeit der Dinge Liegt die Grundlage unserer Welterkenntnis in der Wahrheit der Dinge oder aber in deren Wirklichkeit? – das ist die Wahrheitsfrage über die Wahrheit. Ist die Vernunft oder aber die Wirklichkeit die Grundlage unserer Welterkenntnis? Thomas von Aquin lehrt zwar, dass die Welt durch Wahrheit bestimmt ist, da der denkende Schöpfer alles gemacht hat. Die ‚Wahrheit der Dinge‘ liegt für ihn noch tiefer in den Dingen als Mathematik; sie umfasst nicht nur das Theoretische, sondern auch das materiell Konkrete, da Gott nicht nur Schöpfer der Ideen, sondern auch des ganzen Seins, einschließlich der Materie, ist. Aber für Thomas ist die ‚Wahrheit der Dinge‘ nicht der Grund für unsere Wahrheiten über die Dinge. „Das Sein einer Realität, nicht deren Wahrheit“, stellt er grundlegend und kategorisch fest, „verursacht die Wahrheit des Verstandes“61. „Etwas ist erkennbar, sofern es Sein hat“62, nicht also, sofern es Gedanken des Schöpfers beinhaltet – auch wenn Letzteres objektiv der Fall ist. (Nichtsdestoweniger lehrt Thomas ebenfalls, dass alle Erkenntnis implizit Gotteserkenntnis ist.63) Er weiß, dass die ‚Wahrheit der Dinge‘ von Gott herrührt, aber es ist nicht diese Wahrheit, die wir wahrnehmen, wenn wir eine Wirklichkeit erkennen. Mit anderen Worten: Gotteserkenntnis ist in der Welterkenntnis nicht in der Weise enthalten, wie die Gedanken eines Autors in seiner Schrift. Die Lesbarkeit der Welt liegt somit nach ihm nicht in der ‚Wahrheit der Dinge‘, nicht in den göttlichen Gedanken, also nicht in einem Buch, sondern, wie gesagt, schlichtweg im Sein der Welt. Wenn der Mensch Wahrheit erkennt, vollzieht er eine zweifache Wahrnehmung: er erkennt das, was das Objekt ist, und die Existenz dieses Objekts. Bewusstsein und Reflexion müssen zusammen vorkommen, um Wahrheit zu erlangen. Erkenntnis ist demnach nicht ein Nachdenken der Gedanken des Schöpfers, und Wissenschaft ist nicht ipso facto Gottesdienst. Tatsicht: „Das aber ist das Buch der Schrift, das die Ähnlichkeiten, die Besonderheiten und den Sinn der Dinge, die im Buch der Welt geschrieben sind, darstellt.“ Ders.: Collationes in Hexaemeron, 13, 12. 61 Esse rei, non veritas eius, causat veritatem intellectus. Thomas von Aquin: Summa theologiae, I, q. 16, a. 1, ad 3. Vgl. auch ders.: In I Sententiarum, d. 19, q. 5, a. 1, sol.: Cum autem in re sit quidditas ejus et suum esse, veritas fundatur in esse rei magis quam in quidditate, sicut et nomen entis ab esse imponitur; et in ipsa operatione intellectus accipientis esse rei sicut est per quamdam similationem ad ipsum, completur relatio adaequationis, in qua consistit ratio veritatis. 62 Thomas von Aquin: Summa theologiae, I, q. 16 a. 3c. 63 Omnia cognoscentia cognoscunt implicite Deum in quolibet cognito. Thomas von Aquin: De veritate, q. 22, a. 2, ad 1.
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sächlich findet diese Bemerkung in der Fortentwicklung der Naturwissenschaft eine Bestätigung. Lässt sich Nicolaus Cusanus vor diesem Hintergrund besser verstehen? Der Weg des Cusanus ist ein Weg des Abstrahierens. Wahrheit kommt für ihn als Begriffspyramide vor. Er bestimmt „das natürliche Streben des Intellekts nach seiner Wahrheitsvollendung konsequenterweise als Aufstieg über die sinnlich-materiellen Einschränkungen der konkreten Weltwirklichkeit“64. In seinen Augen umfasst die Weisheit zwar alles, aber das Konkrete gilt ihm nur als Fall des Abstrakten, eine Kontraktion, eine Einengung. Durch Abstraktion von der Materialität beziehungsweise der Andersheit werden nicht die Wesensgründe der Dinge selbst erreicht, sondern die Wesensgründe der Intelligibilität der Dinge, das heißt die Wesensgründe der Begriffe. „Denn der intelligible Wesensgrund (species seu ratio intelligibilis) des Warmen ist nicht warm, oder der des Kalten nicht kalt, und so bei allen.“65 Das Konkrete ist für Cusanus eine Einengung des Abstrakten, eine Kontraktion – nicht, wie für Thomas, ein Zusammenwachsen von Wesen und Existenz. Diesem zufolge erkennen wir Dinge nämlich derart, dass wir die Erkenntnis komplex, das heißt satzhaft, erreichen, während bei Gott eine solche Zerteilung zur Einheit kommt.66 In einem einzigen Begriff können wir keine Wahrheit im normalen Sinne erfassen; dafür brauchen wir einen aus Subjekt und Prädikat bestehenden Satz. Während zum Beispiel der Ausdruck ‚der schlafende Hund‘ weder wahr noch falsch sein kann, ist der prädikative Ausdruck ‚der Hund schläft‘ doch wahrheitsfähig. Im Vergleich zur Erkenntnis Gottes ist diese Zweiheit eine Unzulänglichkeit. Bei Cusanus ist es anders: Indem ich den Dackel erkenne und dann in ihm den Hund und dann das Tier und dann ein Seiendes, erfasse ich zwar den Dackel immer besser, aber ich erlange keine Wahrheit, das heißt, ich formuliere keine Sätze, wie z. B. ‚Mein Dackel ist ein Tier.‘ Durch das Abstrahieren erreiche ich eine tiefere Wahrnehmung, aber nicht Wahrheit, sei es denn in dem Sinne, in dem wir von wahrem Gold sprechen. (Allerdings würden wir dann die Echtheit des Goldes nicht seine Wahrheit nennen.) Eine für Cusanus naheliegende Analogie zu dem Verhältnis zwischen Wahrem und Wahrheit ist das Verhältnis zwischen Bild und Urbild. „Die Wahrheit des Bildes ist nicht das Bild, sondern das Urbild“67, hebt er klar hervor. Hinsichtlich der Wahrheit selbst handelt es sich um das transzendentale Urbild von schlechthin allem, was existieren kann. Die Wahrheit ist „das Urbild von allem und allem einzelnen, das ist oder sein kann“68. Bis zur Wahrheit selbst gibt es Wahrnehmungsstufen, die das Urbild des Urbildes jeweils erblicken. In der WahrThurner: Das offenbare Geheimnis, 448. De venatione sapientiae, c.36, n.107. 66 Vgl. Thomas von Aquin: Summa contra gentiles, I, c.58. 67 De ludo globi, I, n.48, 16. 68 De visione dei, c.15, n.63. 64 65
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heit selbst, „der einfachsten Einheit der Wahrheit“69, das heißt in Gott, fällt jede einzelne Realität mit der Wahrheit zusammen. Das wird von der einzigartigen „Schau des Theologen“70 erfasst. Auf dieser Stufe kommt die Wahrheit in reiner Form vor..71 Die Wahrheit in der Vermischtheit der niedrigeren Wahrheitsstufen nennt Cusanus „Mutmaßungen“: „Wenn nun unser tatsächliches Wissen zu dem größten, für die Menschen unerreichbaren Wissen in keinem Verhältnis steht, so macht der Abfall unserer schwachen Fassenskraft von der Reinheit der Wahrheit hinab ins Ungewisse unsere Aussagen über das Wahre zu Mutmaßungen. Also wird die Einheit der unerreichbaren Wahrheit durch mutmaßliche Andersheit und umgekehrt die Mutmaßung der Andersheit in der einfachsten Einheit der Wahrheit erkannt.“72 Cusanus stellt insbesondere vier Wahrheitsstufen konzis heraus: „Der Geist umfängt alles, und zwar entweder auf göttliche, auf vernunftmäßige, auf seelische oder auf körperliche Weise: göttlich, insofern etwas Wahrheit (veritas) ist; vernunftmäßig, insofern es nicht die Wahrheit selbst, wohl aber wahr (vere) ist; seelisch, insofern es auf eine das Wahre abbildende Weise (verisimiliter) ist; körperlich, insofern etwas auch die Ähnlichkeit mit dem Wahren verlässt und in die Undeutlichkeit eintritt.“73 Um diese Entwicklung, die Jagd, zu verdeutlichen, vergleicht Cusanus die sinnliche Wahrnehmung mit „einer dem Anstieg dienenden Leiter“74. Der Kardinal geht so weit, von diesem Aspekt her eine Definition der Wahrheit zu formulieren: „Wahrheit ist nichts anderes als das Fehlen der Andersheit. [...] Die Wahrheit ist Unveränderlichkeit.“75 Zwar ist mein Dackel anders als Ihr Schäferhund, aber im Begriff ‚Hund‘ sind beide einbeschlossen. Leben in der Wahrheit vollzieht sich Cusanus zufolge, wie gesagt, in der Struktur eines Weges der Aufmerksamkeit, das heißt der Wahrnehmungsstufen. Er spricht von einem „Weg zur Schau der Wahrheit“76. In einem solchen Zustand wird die empirisch wahrgenommene Wirklichkeit auf eine vertiefte Weise erreicht. Es kommt nicht darauf an, rein geistige Dinge zu sehen; es geht vielmehr um verschiedenartige Wahrnehmungsweisen, bzw. Abstraktionsstufen, nicht also um prädikative Urteile, wie bei Thomas. Der Aufstieg aus der Höhle der sinnlichen Welt erscheint nur gleichnishaft als eine Entfernung von den primären Realitäten; in Wirklichkeit ist er nichts anderes als eine neue, vertiefte Wahrnehmung, welche dieselben Realitäten auf andere Weise, das heißt auf wahrere Weise schaut, wobei sie die bisherige Wahrnehmung als schattenhaft, das heißt abbildhaft erkennt. De coniecturis, I, prol., n.2. Directio speculantis, c.16, n.76 (p. 40, 13). 71 „Die Reinheit der Wahrheit.“ De coniecturis, I, prol., n.2. „Die reine Wahrheit.“ De filiatione dei, c.2, n.61. 72 De coniecturis, I, prol., n.2. 73 Ebd., c.4, n.15. 74 De quaerendo deum, c.1, n.19. 75 De theologicis complementis, n.2. 76 Ad veritatem intuendam viam. De non aliud, c.19, n.89. 69 70
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„Die Vernunft erfasst also alles vernunfthaft jenseits jeder sinnlichen, ablenkenden und verschattenden Weise. Die ganze sinnliche Welt schaut sie nicht in sinnlicher, sondern in wahrer, nämlich vernunfthafter Weise. Darum wird diese Erkenntnis vollkommene Schau genannt.“77 Im platonischen Höhlengleichnis wird diese Methode plastisch dargestellt. Die Frage, die den Wahrheitssuchenden antreibt, ist: Was ist das eigentlich? Und die Antwort lautet jedesmal: ein Abbild. Die Frage, ob etwas ist, wird im übrigen nicht gestellt. Der Sache nach ist uns die Tatsache, dass solche ‚Spekulation‘ die tiefere Erfassung der konkreten Wirklichkeit impliziert, eigentlich vertraut. Während man beispielsweise ein Musikstück hört, kann man es lediglich als einzelne, nacheinander vorkommende Töne wahrnehmen. Man kann aber in denselben Tönen auch eine Melodie hören. Der ‚Sinn‘, gleichsam die Wahrheit der Töne, wird erst so entdeckt. Und es stellt wiederum eine noch höhere Form des Hörens dar, wenn man die Melodie als etwas Schönes vernimmt, genauer gesagt: wenn man die innere, wahre Schönheit der Melodie mit wahrnimmt. Der Dirigent eines Symphonieorchesters hört die Musik auf eine wahrere Art und Weise als meinesgleichen. Beim Hören einer Rede verhält es sich ähnlich. Verstehe ich die gesprochene Sprache gar nicht, so nehme ich nur Laute wahr. Vermag ich aber Bedeutungen in der Rede zu vernehmen, so ist das Hören gleichsam vertieft. Möglicherweise vernehme ich in der Rede Wahrheiten, die nicht einmal dem Redner selbst bewusst sind. Jedenfalls geht es uns, wenn wir reden, normalerweise nicht darum, Laute zu vermitteln. „Die Buchstaben des Alphabetes“, schreibt Cusanus, „sehen ein Ge-lehrter und ein Ungelehrter“78, aber die Vorgänge sind anders. Indem er die alte christliche Metapher des Buches aufgreift, schildert Nicolaus Cusanus – die gesamte Lehre resümierend –, wie wir den Dingen der Welt gleichsam wie Büchern begegnen und aus ihnen entsprechend lernen können: „In dieser Welt beschäftigt sich unser Suchen und Streben mit den verschiedenen Einzelgegenständen wie mit verschiedenen Büchern; in der vernunfthaften Welt hingegen gibt es für die Vernunft nur einen Gegenstand: die Wahrheit, in der sie universale Meisterschaft besitzt. Nichts anderes sucht die Vernunft in dieser Welt mittels der Sinne in den verschiedenen Einzelgegenständen als ihr Leben und ihren Lebensunterhalt, nämlich die Wahrheit, die das Leben der Vernunft ist. [...] Dann darf sein Streben nicht an den erdenzeitlichen Schatten der sinnlich erfahrbaren Welt haften bleiben, dann darf er vielmehr sich deren nur vorübergehend zur Förderung seines vernunfthaften Strebens bedienen, ähnlich wie die Knaben auf den Schulen, die als solche stoffliche und nur die Sinne beeindruckende Schriften benutzen. Ihr Lerneifer verweilt nicht bei den stoffhaft gegebenen Schriftzeichen, sondern geht auf das Geistige, das sie bezeichnen. Und die lautgebundenen Reden, durch die sie unterrichtet werden, lassen sie
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De filiatione dei, c.6, n.89. Vgl. Thurner: Das offenbare Geheimnis, 435. Compendium, c.6, n.18.
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sich nicht in ihrer bloßen Sinnenfälligkeit dienen, sondern in ihrem geistigen Sinn.“79 Alles in dieser Welt vergegenwärtigt für Cusanus mehr als sich selbst. Er ist der Ansicht, dass man sogar das Wesen Gottes, das heißt die Spitze der Abstraktionspyramide, begreifen würde, falls man das Wesen irgendeines Geschöpfes begriffen hätte. Leben auf der Ebene der Welt bleibt oberflächlich und uneigentlich. Wir sollten uns von den Schattenrealitäten nicht gefangen halten lassen, sondern sie als Leiter gebrauchen. Das unaufhörliche Suchen nach Wahrheit impliziert, dass nichts in der Welt erschöpfend wahrgenommen werden kann, „genauso wie das geistige Wort ohne Vermischung und Teilung seiner selbst die Quelle des lautlichen Wortes ist und alles dessen, was ein lautliches Wort ist und was mit ihm bezeichnet wird“80. Die Tragik menschlichen Lebens ist das Stehenbleiben bei den Weltrealitäten, die Zufriedenheit mit dem jetzigen schattenhaften Leben. Wir sollen nach Cusanus „nicht den Sinnendingen anhängen, die nur gleichnishafte Zeichen des Wahren sind“81. Wer die Welt als ein Buch betrachtet, hat sich bereits befreit. Bei der Wahrnehmung einer geometrischen Figur an einer Tafel kann man auf die Frage, was das ist, gewiss nicht zu Unrecht antworten: weiße Kreide. Auf einer solchen empirischen Ebene kann das Leben eines Menschen stehen bleiben und sich geradezu für besonders realistisch halten, wie zum Beispiel Reduktionisten es tun. Weniger an der Oberfläche bleibt, wer einen Kreis wahrnimmt. Noch mehr Wahrheit hat man, wenn man zu sehen vermag, inwiefern der gezeichnete Kreis ein guter beziehungsweise schlechter Kreis ist, oder dass die Zeichnung gar keinen Kreis darstellt. Denn das setzt eine Erkenntnis des Kreises an sich voraus. Die Wahrnehmungskraft eines Mathematikers vermag vielleicht in der geometrischen Figur Schönheit mit wahrzunehmen. Die Abstraktionsstufen gehen bei Cusanus außergewöhnlich hoch. Bis zu einem gewissen Grad ist sein Denken tatsächlich eine Einheitsphilosophie, wie Kurt Flasch es sehen will. Der Begriff aber, der ihn kennzeichnet, ist Unendlichkeit, die schlechthinnige Unendlichkeit, eine absolute Abstraktion. Flasch deutet Cusanus zwar um, wenn er ‚die Unendlichkeit‘ durch ‚die unendliche Einheit‘ ersetzt, aber er hat recht, wenn er von einem „absoluten Begriff“ spricht.82 – Das ist nicht ganz unproblematisch. Thomas von Aquin zufolge ist „das Unendliche kein selbständi
De filiatione dei, c.2, n.57–60. „Wie daher die lateinische Sprache aus ganz allgemeinen, gattungshaft allgemeinen, eigengestaltlichen und zuletzt aus ganz eigengestaltlichen, lateinisch verschränkten Buchstaben besteht, welche, obgleich wenige an der Zahl, doch unerschöpfliche Möglichkeiten darstellen, so verhält sich alles Sinnliche gleichsam wie eine vollkommene Rede.“ De coniecturis, II, c.5, n.95. 80 De filiatione dei, c.4, n.77. 81 Ebd., c.2, n.61. 82 „Das Nichtandere bewegt sich als die sich enthüllende Selbstbestimmung des absoluten Begriffs.“ Flasch: Geschichte einer Entwicklung, 565. Dazu eine Besprechung von mir in: Theologische Revue 98 (2002) 149–154 (http://www.hoye.de/cus/flasch.pdf ). 79
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ges Sein, sondern eine Eigenschaft an Dingen, die wir unendlich nennen“83. Also ein Adjektiv. Über seine Heranziehung der abstrakten Mathematik, um Theologie zu treiben, berichtet Nicolaus: „Ich habe mathematische Figuren auf theologische Unendlichkeit angewendet.“84 Schließlich bleibt dann nur noch ein letzter Schritt: Man muss nämlich auch die theologischen Figuren entfernen, so dass das reine Absolutum und somit die reine Theologie erreicht wird: „Und dann löst man sich von den theologischen Figuren, so dass man das schlechthinnige dreieinige Unendliche im Geiste betrachtet.“85 Demzufolge ist für Cusanus Unendlichkeit tatsächlich die angemessene Gottesbezeichnung. Allein: Es darf kritisch gefragt werden, ob ein Begriff wie „die absolute Unendlichkeit“86 noch intentionalen Inhalt behält. Darin liegt in meinen Augen das Problematische dieser Theologie. Unsere Abstraktionsfähigkeit ist imstande, den Kontakt mit der Realität zu verlieren, sich davon abzulösen. Ich kann den Weg der Abstraktion etwa so gehen, dass ich meinen Dackel sehe, einen Hund, ein Tier, aber was sehe ich, wenn ich ‚Tierheit‘ oder ‚Begriff‘ oder etwa ‚Begriffheit‘ denke – Abstraktion als ein Eingehen in die Realität oder aber Abstraktion als ein Ablösen von der Realität? Was für eine Wirklichkeit kommt einem solchen, durch derartige Abstraktion gewonnenen Raum zu? Cusanus nennt Gott den „absoluten Begriff“ und den „Begriff der Begriffe“87. Wie hat man einen Gott anzusehen, der sich nach Meinung von Cusanus sogar jenseits der Wahrheit befindet?88 Bei dieser Frage geht es nicht darum, ob ein atheistisches oder aber ein theistisches Weltverständnis recht hat, sondern ob die Erkennbarkeit der Welt als Lesbarkeit betrachtet werden darf. Ist es wirklich angemessen, die Welt als ein Buch zu betrachten?
Thomas von Aquin: Summa theologiae, III, q. 10, a. 3, ad 3. Vgl. Aristoteles: Physik III, 5, 204 a 20–29ff. 84 Transtuli mathematicas figuras ad theologicalem infinitatem. Brief vom 14. Sept. 1453 an Kaspar Aindorffer, 116. Vgl. De theologicis complementis, n.3: „Mittels der Hinzufügung von Unendlichkeit steigt man von den mathematischen Figuren zu den theologischen auf.“ 85 Ebd. Dazu Velthoven: Gottesschau und menschliche Kreativität, 188, Anm. 240. 86 Zum Beispiel: De visione dei, c.8, n.51–57. 87 Idiota de sapientia, c.2, n.34. 88 Vgl. De filiatione dei, c.3, n.63. 83
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Die Welt als Buch bei Nicolaus Cusanus
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William J. Hoye
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Harald Schwaetzer
Der Anspruch der Wahrheit bei Nikolaus von Kues Themenstellung und These „So ist Gott, der die Wahrheit ist, weil er Gegenstand des Intellekts ist, in größtem Masse intelligibel erkennbar und doch wegen seiner überragenden Intellektibilität nicht intelligibel erkennbar.“1 In diesen Satz spiegelt sich Anspruch und Konzept des Wahrheitsverständnisses bei Nikolaus von Kues wider. Dabei muss man sich davor hüten, in der Formulierung einfach nur eine klassische Formel der Koinzidenz zu sehen. Zwar wählt Nikolaus mit „intelligibilis“ und „inintelligibilis“ zwei kontradiktorische Ausdrücke, doch darf man nicht übersehen, dass einer der beiden mit einem „maxime“ versehen wird, was die Kontradiktion in ein anderes Licht rückt. Um die durch dieses „maxime“ ausgelöste geänderte Verhältnisbestimmung soll es im Folgenden gehen. Blicken wir zunächst auf die beiden Aspekte des Wahrheitsanspruchs. Auf der einen Seite ist Gott selbst die Wahrheit und aufgrund seiner Überragendheit nicht erkennbar, weil er die Sphäre des Intelligiblen übersteigt. Wahrheit ist damit eine transzendente Größe als absolute Voraussetzung von allem Wahren; sie ist diejenige Intelligibilität, die als das Prinzip des Intellektes denselben begründet. Auf der anderen Seite ist Gott als Wahrheit das „obiectum“ des Intellektes; hier formuliert sich ein primär philosophischer Wahrheitsbegriff. Ausgehend von der Erkenntnisfähigkeit des Menschen wird auf die Erkennbarkeit der Wahrheit als absoluter Größe gemäß dem Prinzip der „docta ignorantia“ verzichtet. Gleichwohl aber ist Wahrheit als Objekt des Intellekts keine relativistische Größe. In der CusanusLiteratur wird zur Erläuterung dieser Ideen zu Recht auf die Idee der „coniectura“ zurückgegriffen, die es erlaubt, einen perspektivischen Wahrheitsbegriff einzuführen. Wahrheit ist zwar immer standpunktbezogen, aber gleichwohl wahr.2 Beide Konzeptionen sind durch die Koinzidenzidee vermittelt. Indes darf man sich die Vermittlung nicht zu einfach machen. Die cusanische Idee vom Anspruch der Wahrheit lässt sich noch ein gutes Stück weiter aufhellen. Von Seiten der Theologie aus bedarf es dazu des Rückgriffs auf die Christologie des fleischgewordenen Logos. Das soll hier nicht geschehen. Vielmehr soll dem Anspruch der Wahrheit Sic Deus, qui est veritas, quod est obiectum intellectus, est maxime intelligibilis et ob suam superexcelsam intelligibilitatem est inintelligibilis. Apol. docta ign., p.12, n.16. Das „quod“ als eine klassische Casusangleichung an „obiectum“ zu deuten und so den Satz als Relativsatz zu deuten, der sich auf „veritas“ bezieht, ist ausgeschlossen, weil Cusanus selbst im vorigen Satzteil den Relativsatz mit „qui“ einleitet und nicht mit „quae“. 2 Mit Blick auf die gleichfalls viel verhandelte Frage der Subjektivität vgl. einführend: Bocken: Konjekturalität, 51–64. Ferner: Meinhardt: Erkenntnis, 101–120. 1
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von seiner philosophischen Seite aus, der Wahrheit als Objekt des Intellekts versteht, weiter nachgegangen werden. Der Wahrheitsbegriff bei Cusanus ist natürlich bereits eingehend untersucht. So hat Wilhelm Dupré auf der Grundlage der Bestimmung des Wahren in De docta ign. I c.1.n.2: „das wirklich Wahre ist das, dem kein gesunder Geist widersprechen kann“ auf ein pragmatisches und konsenstheoretisches Wahrheitsverständnis geschlossen.3 Beide Aussagen scheinen mir, so hoffe ich im Folgenden zu zeigen, das cusanische Konzept zu verkürzen. Im Ausgangspunkt indes kann Dupré durchaus zugestimmt werden. Er versteht Wahrheit bei Cusanus als conjekturale Partizipation von endlichen Wahrheiten an der unendlichen, wenngleich das Wie einer solchen Partizipation aus seinen Überlegungen nicht deutlich wird. Einen Schritt weiter geht die Interpretation von Inigo Bocken, welcher mit dem Ansatz einer „Wahrheit im Bilde“ das Verhältnis zwischen unendlicher und endlicher dadurch bestimmt, dass er es in ein Verhältnis von unendlicher und erscheinender Wahrheit wandelt, also Wahrheitsbegriff und Bildlichkeit verknüpft. An diese Position möchte ich anschließen und sie im Rückgriff auf Johann Kreuzers Überlegungen, die von einer gleichen Voraussetzung ausgehen, weiterführen.4 In diesem Sinne stelle ich Nikolaus von Kues im Themenkreis von „Bild und Wahrheit“ in eine Linie, welche durch die Namen Platon, Augustinus, Eriugena und Eckhart gekennzeichnet ist. Die zentrale systematische Position dieser Traditionslinie liegt darin, dass sie eine unendliche, abstrakte, bildlose Wahrheit ablehnen. Wahrheit bleibt für den endlichen Intellekt bildhaft. Wie Johann Kreuzer gezeigt hat, spielt systematisch eine Passage aus Platons Sophistes eine Schlüsselrolle. In ihr steht das Bild zwischen Sein und Nicht-Sein. Insofern es Bild ist, ist es kein Sein; aber sein Bild-Sein ist ja doch real. Als eikon in diesem Sinne ist es ein erkenntnisaffiner Gegenstand, insofern es wirklich ein nicht-wirklich Seiendes ist.5 An dieser Stelle möchten die folgenden Überlegungen zum Anspruch der Wahrheit bei Cusanus ansetzen. Denn genau diese Mittelstellung zwischen Sein und Nichtsein in einem eigenen Raum intellektueller Bildlichkeit scheint mir für das Cusanische Wahrheitsverständnis konstitutiv. Die Grundthese lautet, dass Wahrheit ein vom Intellekt erzeugtes in die bildhaft-transzendentale Erscheinung Treten des Begriffes und des ihn schauenden endlichen Subjektes ist. Die „visio intellectualis“ als Phänomenologie der Wahrheit Zur Illustration meiner These wähle ich einen zentralen, späten Text des Nikolaus von Kues: das Kosmographengleichnis aus dem Compendium. Es vergleicht den Menschen mit jemandem, der eine Karte der ganzen Welt verfertigt. Das Bild durchläuft dabei vier systematische Stufen, die ich eingangs zusammenfasse. Dupré: Wahrheit, 15. Vgl. Kreuzer: Geist, 65–86. 5 Sophistes 240a–c. 3 4
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1. die Sinneswahrnehmung. Diese muss möglichst vollständig, umfassend und vielfältig sein, um eine adäquate Karte zu ermöglichen. 2. das innere Vorstellungsbild. Es ist aus den Sinneseindrücken und den ihnen zugehörigen Begriffen gemischt. Die Begriffe bilden dabei das Ordnungsraster der „Karte“ im Gleichnis, durch welche die Eindrükke strukturiert werden, so dass eine sinnvolle Anschauung entsteht. Das Vorstellungsbild bestimmt Nikolaus als inneres Bild. Die äußere Sinnestätigkeit ist ausgeschaltet. Gleichwohl sind aber Momente der äußeren Wahrnehmung in der inneren Vorstellung enthalten. 3. das reine Denken. Auf dieser Stufe will Cusanus alle sinnlichen Daten, soweit es möglich ist, ausschalten; der Geist wendet sich den reinen intelligibilia signa zu. 4. das göttliche Denken. Diese Stufe kann der Mensch nicht erreichen, aber er wird gewahr, wie alle Begriffe von dem einen Urbegriff herstammen. Bereits in De sapientia hatte Nikolaus ihn als „conceptus de conceptu“, Begriff des Begriffs, bezeichnet. Im Folgenden werde ich diese Stufen auf ihre Bedeutung für den Wahrheitsbegriff hin analysieren. Auf der ersten Stufe betont Cusanus, dass alle Sinnesorgane für die Erfassung der Welt notwendig sind und dass es darauf ankommt, mit ihnen immer neue und weitere Eindrücke zu erwerben. Der zentrale Satz lautet: „Daher bemüht er sich mit allem Eifer alle Tore geöffnet zu haben / halten und beständig die Berichte immer neuer Boten zu hören sowie seine Beschreibung immer wahrer zu machen.“6 Wahrheit ist also abhängig von einer möglichst erschöpfenden Anschauung. Dass die Wahrheitsfrage gleich eingangs und explizit thematisiert wird, belegt die Relevanz des Gleichnisses für die vorliegende Fragestellung. Zugleich macht die angeführte Stelle deutlich, dass Wahrheit komparativ ist. Die Beschreibung der Welt wird immer besser mit der Welt selbst übereinstimmen, je mehr Sinneseindrücke gewonnen werden. Ob mit der komparativen Bestimmung auch ein qualitativer Aspekt, also der einer „besseren“ Wahrheit und nicht nur eines „mehr“ an Wahrheit, enthalten ist, bleibt zunächst dahingestellt. Das Modell einer Angleichung der Erkenntnis an die Wirklichkeit erinnert aber zweifelsohne an eine „adaequatio“ von Intellekt und Sache. In der Tat wird Nikolaus wenig später auf diese Theorie zustimmend zu sprechen kommen (n.34). Indes hat er ihr spätestens seit De mente seine eigene Deutung gegeben. Im zweiten Kapitel der Schrift (n.58ff.) lässt er den Laien die Theorie entwickeln, nach der jedem Wesen der ihm wesenseigene Name natürlich sei. Daneben trage es einen Namen, der ihm vom Menschen zugelegt worden sei. In der Wahrheitserkenntnis komme es darauf an, dass der beigelegte Name sich immer mehr dem natürlichen annähere. Diese in der Tradition des Platonischen Kratylos und der Schöpfungsgeschichte stehende Ansicht ist dadurch modifiziert, dass sie die ErStudet igitur omni conatu omnes portas habere apertas et continue audire novorum semper nuntiorum relationes et descriptionem suam semper veriorem facere. Compendium c.8, n.22. 6
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kenntnis des natürlichen Namens über eine umfassende Sinneserfahrung in einem konjekturalen Annäherungsprozess sucht. Neben der Betonung der Wahrnehmungsseite für die Wahrheitsfindung ist ein zweiter Punkt bemerkenswert. Der Satz beginnt emphatisch mit „Studet igitur omni conatu“. Dadurch macht Cusanus unmissverständlich deutlich, dass die Wahrnehmung keineswegs eine bloß passive Angelegenheit ist, sondern eine Aufgabe eigenwillentlicher Initiative. Hier wird bereits klar, dass die Aktivität zwar eine Voraussetzung ist, aber – im Sinne des 19. Jahrhunderts gesprochen – nur psychologischer, nicht geltungstheoretischer Natur. Es kommt auf eine grundsätzliche Willensaktivität zur Wahrnehmung an, welche aktiv die Passivität zur Aufnahme äußerer Eindrücke herstellt. Diese Einsicht hat Cusanus in De quaerendo Deum als den Ineinsfall von Theorie und Praxis bezeichnet. Mit der auch bei Eriugena vorfindlichen Ableitung von Theorie als „Laufen“ und „Sehen“ macht Nikolaus in der frühen Schrift klar, dass die Schau keine passive Kontemplation ist, sondern zugleich eine aktive Leistung des menschlichen Geistes.7 Ausgehend von diesem Befund kann auf die zweite Stufe des Gleichnisses übergegangen werden. Der Kosmograph trägt die gewonnenen Sinnesdaten auf eine Karte ein und wendet sich dieser unter Absehung der äußeren Wahrnehmung zu. Er ist also jetzt mit der Vorstellung befasst, genauer und aristotelisch gesprochen: mit der Erinnerungsvorstellung.8 Er entdeckt, dass in ihr neben den wahrgenommenen sinnlichen Elementen auch Begriffliches enthalten ist, welches nicht aus der Perzeption stammt. Erst jetzt wird er gewahr, dass er erstens über den Begriff „Karte“ verfügen muss, um eine Karte zu verfertigen, und dass er zweitens grundsätzlich erst nach der Vorstellungsbildung sich des entsprechenden Begriffs bewusst wird. Auch diese Ansicht ist in „De mente“ bereits entwickelt. Dort hatte der Laie im vierten Kapitel (n.77) festgehalten, dass das eine umfassende Denken, welches alle Begrifflichkeiten implizit und unentfaltet in sich birgt, nicht einfach aus sich heraus Begriffe herausspinnt, sondern der Anregung von außen bedarf. Es ist die Fähigkeit des Denkens, gegenüber einer beliebigen Sinneswahrnehmung zu einem entsprechenden Begriff zu gelangen. Dieser Begriff wird aber zunächst vom menschlichen Geist nur vermittels der Vorstellung, also im Gefüge von Wahrnehmung und Begriff, gesehen. Erkenntnistheoretisch oder genauer gesagt: bewusstseinsphänomenologisch betrachtet, gilt also kein Stufenschema der Emanation, bei dem aus dem einen Denken die Begriffe oder Ideen folgen, sondern das gegebene Denkvermögen bildet angeregt durch eine Sinneswahrnehmung den entsprechenden Begriff, welcher dem menschlichen Geist zunächst nur in Verbindung mit der jeweiligen Wahrnehmung als Vorstellung präsent ist. Erst in einem weiteren Reflexionsakt wird der menschliche Geist gewahr, dass er mittels der Vorstellung eine Begriffsbildung vollzogen hat, die ihrem Wesen nach sich nicht in der Sinneswahrnehmung erschöpft.
Vgl. meine Einleitung in: Schwaetzer: Nikolaus von Kues. Zur cusanischen Vorstellungstheorie und ihrem Rückgriff auf das traditionelle aristotelische Schema vgl.: Schwaetzer: Symbolphilosophie, 83–96, 90–92. 7 8
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Die entscheidende Frage, die sich nunmehr stellt, lautet, ob und wie der menschliche Geist zur reinen Anschauung eines Begriffs gelangen kann. Damit ist im cusanischen Denken systematisch die Frage nach der Möglichkeit einer „visio intellectualis“ gestellt.9 „Er zieht sich folglich, soweit er es vermag, von allen sinnlichen Zeichen zurück hin auf die intelligiblen einfachen und formalen Zeichen.“10 Neben der einfachen Tatsache, dass hier auch die Begriffe oder Ideen als „signa“ bezeichnet werden, also einen Bildcharakter haben, der auf etwas verweist, ist vor allem auffällig, dass Nikolaus einen Einschub „quantum postest“ vornimmt. Er macht also einen grundsätzlichen Vorbehalt gegen eine rein geistige Schau, insofern diese bildlos (wahrnehmungslos) ist. Wie aber, so ist zu fragen, hat man sich dann eine „visio intellectualis“ vorzustellen? Besonders die mathematischen Bilder, wie sie in „De beryllo“ begegnen, lassen das cusanische Verfahren anschaulich werden. In Anlehnung an Eckharts Verfahren einer Entbildung11 verlangt Cusanus vom Leser, er möge sich einen Winkel oder ein Dreieck in Bewegung vorstellen. Es ist offenkundig, was dabei passiert. Ein Dreieck kann genau dann in Bewegung gedacht werden, wenn man die für seinen Begriff konstitutiven Elemente in Bewegung versetzt, also die Eckpunkte. Würde man z.B. nur einen Winkel vergrößern oder nur eine Seite verkürzen oder dergleichen, so wäre das Dreieck kein Dreieck mehr. Indem also ein Dreieck in Bewegung imaginiert wird, erfolgt in der Anschauung eine Differenzierung zwischen begriffskonstitutiven und akzidentellen Elementen. Dadurch tritt der Begriff in die Anschauung. Dieser Ansatz kann noch weiter präzisiert werden. Durch den geschilderten Verlauf des menschlichen Erkennens bedingt, ist der Begriff zunächst einmal Teil der Vorstellung, und diese wiederum ist bestimmt durch die ihr zugrunde liegende Wahrnehmung. Die Vorstellung enthält zwar den Begriff, aber fixiert durch und auf die singuläre Erscheinung. Nun ist es zwar recht einfach für den menschlichen Geist, in einer beliebigen Dreiecksvorstellung das Begriffliche von Dreieck überhaupt wahrzunehmen; verlässt man indes die Mathematicalia, erweist sich der Prozess als komplizierter. An dieser Stelle zahlt sich die möglichst umfassende Beobachtung auf der reinen Sinnesebene aus. Wer möglichst viele und vielseitige Eindrücke eines Gegenstandes wahrgenommen hat, vermag leichter, diesen in Bewegung zu denken, ihn also seinem Begriff gemäß zu variieren und so die Wesenheit in die Anschauung zu bekommen. Ich habe auf die systematische Verwandtschaft dieses Verfahrens von Nikolaus mit demjenigen hingewiesen, welches später Goethe in seinem Aufsatz „Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt“ als „Vermannichfaltigung“ eines Versuches beschreibt.12 Vgl.: Helander: Erkenntnisweg. Schwaetzer: Anschauung, 247–261. Kremer: Begriff der visio, 201–231. Schwaetzer: Visio intellectualis, 117–134. 10 Retrahit igitur se quantum potest ab omnibus sensibilibus signis ad intelligibilia simpliciaque atque formalia signa. Compendium c.8, n.24. 11 Bergmans; Geometrical figures, 313–322. Ferner mit ähnlicher Intention und Blick auf die mathematischen Beispiele: Nicolle: How to look, 279–293. 12 Vgl. vor allem: Schwaetzer: Anschauung, 247–261. 9
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Mit Hilfe der Überlegung zum in die Erscheinung Treten des Begriffs in einer bewegten Vorstellung kann das Verhältnis zwischen reinem Begriff und Imagination bestimmt werden. Während im gewöhnlichen Falle die Imagination durch die Sinneswahrnehmung determiniert ist und eine innere Vorstellung dieses konkreten Gegenstandes liefert, ist sie im nun geschilderten Falle von der Begriffsseite bestimmt und bietet eine reine Anschauung des Begriffs im Medium der Imagination. Der Begriff selbst tritt damit imaginativ in die Erscheinung.13 Dieser Sachverhalt ist es, der bei Cusanus mit „visio intellectualis“ im Regelfall gemeint ist. Ihn gilt es festzuhalten, weil gerade das Beibehalten der Bildlichkeit es erlaubt, den cusanischen Ansatz der imaginativen „visio intellectualis“ als transzendental zu bezeichnen, und nicht als abstrakt-bildlos transzendent.14 Für die Bezeichnung „transzendental“ erinnere ich an Kants Definition, ohne Cusanus zu einem „Kant vor Kant“ machen zu wollen: „Ich nenne alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde TransscendentalPhilosophie heißen.“15 Der Unterschied zwischen einer gewöhnlichen Vorstellung und einer „visio intellectualis“ als transzendentaler Erkenntnis kann mit Blick auf die Wahrheitsfrage noch um einen weiteren Schritt präzisiert werden. Die gewöhnliche Vorstellung ist eine Erkenntnis, bei der zu einer gegebenen Sinneswahrnehmung das Denken hinzutritt und die Sinneswahrnehmung deutet, indem es einen Begriff hervorbringt, der sich mit derselben verbindet. Die Sinneswahrnehmung selbst ist, da ist sich Cusanus mit der abendländischen Tradition einig, zunächst „confuse“16. Erst das Hinzutreten des Begriffs führt zu einer Erkenntnis. Bei der „visio intellectualis“ ist hingegen ein anderer Modus der Erkenntnis gegeben. Denn was hier als Imagination vorhanden ist, ist ja bereits der Begriff selbst, wenn auch in einer imaginativen Form. Indem aber der Begriff selbst in die Anschauung tritt, entfällt der gewöhnliche Akt der Erkenntnis, da es unsinnig wäre, zu einer Anschauung des Begriffs nochmals den Begriff hinzufügen. Dieser ist ja bereits in und mit der Anschauung gegeben. Diese Erkenntnisverfassung bildet den Ausgangspunkt des Compendium, also derjenigen Schrift, aus welcher das hier behandelte Kosmographengleichnis stammt. Eingangs heißt es: „Wir haben also eine mentale Schau, die Einsicht in das hat, was vor aller Erkenntnis ist.“17
Ausführlicher ist dieser Punkt diskutiert in: Schwaetzer: Symbolphilosophie, 83–96, 90–92. 14 Wo Cusanus erkenntnistheoretisch arbeitet, vertritt er eine transzendentale Auffassung der „visio intellectualis“, keine transzendente. Wenn er eine transzendente verwendet, dann kennzeichnet er sie als eine sich nicht in diesem Leben vollziehende Erfahrungsform. 15 Kant: KrV, A 11f. 16 De mente n.100. 17 Habemus igitur visum mentalem intuentem in id, quod est prius omni cognitione. Compendium c.1, n.2. 13
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Diese Aussage ist nun mit der Darstellung der „visio intellectualis“ eingelöst. Der Kosmograph hat erkannt, dass er über den Begriff der Karte verfügen muss, um „Karte“ zu erkennen. Der Begriff ist also das „prius“ der Erkenntnis. Dieses „prius“ kann er in einer Weise, die naturgemäß anders ist als das gewöhnliche Erkennen, anschauen. Der wesentliche Punkt ist dabei, dass die reine Anschauung genügt, da es unsinnig wäre, zu dem in die Erscheinung tretenden Begriff nochmals den Begriff hinzuzufügen. Was für die sinnliche Gegenstandserkenntnis gilt, dass nämlich Wahrnehmung und Begriff stets getrennt sind, ist für die transzendentale Erkenntnis gerade nicht der Fall. Wahrnehmung und Begriff treten nur geeint auf. Wo der Begriff in der Anschauung gegeben ist, ist die qualitative Identität von Anschauung und Begriff unmittelbar wahrnehmbar. Die Wahrheitserfassung ist also keine diskursive Angelegenheit, sondern eine Tatsache der Wahrnehmung in einem bestimmten Modus der Erkenntnis, nämlich der transzendentalen, und das heißt bei Cusanus: bildhaften intellektuellen Erkenntnis des endlichen Subjektes. Nachdem das Verhältnis von Wahrnehmung, Vorstellung und reinem Begriff geklärt ist, wendet sich der Text der vierten Ebene zu: „Und wie in jenen [intellektuellen Zeichen, HS] das ewige und allem Scharfsinn des geistigen Blicks unzugängliche Licht leuchtet, das bemerkt er mit äußerster Aufmerksamkeit, so dass er schaut, dass der [oder das] Unbegreifliche nicht anders als in unbegreiflicher Weise des Seins geschaut werden kann und dass er selbst, der auf alle begreifliche Weise unbegreiflich ist, von allem, was ist, die Form des Seins ist, die in allem ist, was ist, unbegreiflich bleibend in den intellektuellen Zeichen wie das Licht in der Finsternis leuchtet, von der es keineswegs begriffen wird, gleichsam wie ein einziges Antlitz in verschiedenen polierten Spiegeln verschiedenartig aufleuchtend, doch keinem noch so polierten Spiegel eingespiegelt, eingekörpert oder stofflich einverleibt wird, so dass aus dem Antlitz selbst und dem Spiegel irgendein eines aus beiden würde, dessen Form das Antlitz und dessen Materie der Spiegel wäre, sondern sich das eine Antlitz in sich bleibend verschiedenartig zeigt.“18 Ohne im einzelnen auf das von Cusanus viel gebrauchte Bild der in einem Kreis um einen Mittelpunkt stehenden Spiegel einzugehen – wir finden es bekanntlich unter anderem in De filiatione Dei, aber auch analog in De visione Dei und De pace fidei –, sei jetzt nur die grundsätzliche Idee verdeutlicht.19 Bei dem in die Anschauung getretenen Begriff lässt sich fragen, was er sei. Was ein Begriff ist, lässt Et quomodo in illis splendet lux aeterna et inaccessibilis omni acumine mentalis visus, attentissime advertit, ut videat incomprehensibilem aliter quam incomprehensibili essendi modo videri non posse atque ipsum, qui est omni modo comprehensibili incomprehensibilis, omnium, quae sunt, essendi formam, quae in omnibus, quae sunt, manens incomprehensibilis in intellectualibus signis ut ‚lux in tenebris lucet‘, a quibus nequaquam comprehenditur, quasi una facies in diversis politis speculis varie apparens nullo speculo quantumcumque polito inspeculatur, incorporatur seu immateriatur, ut ex ipsa facie et speculo aliquod unum compositum ex utroque fiat, cuius forma sit facies et speculum materia, sed in se manens una varie se ostendit. Compendium c.8, n. 24. 19 Vgl. Schwaetzer: Toleranz, 26–31. 18
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sich nicht mit Worten ausdrücken, insofern Begriffe das „prius“ der worthaften Formulierung sind. Aber gleichwohl kann die bislang angewandte dynamische Phänomenologie noch einen Schritt weiter geführt werden. Auf der vorigen Stufe ist die Vorstellung von ihrer Wahrnehmungsseite her in Bewegung gesetzt worden, um den reinen Begriff in die transzendentale Bildhaftigkeit zu bekommen. Nun kann der reine Begriff selbst in Bewegung versetzt werden. Dabei kommt es, ganz im Goetheschen Sinne, darauf an, was zunächst an ihn grenzt. Oder, um es cusanischer zu formulieren: Wenn die Vorstellung des Dreiecks in Bewegung gesetzt wird, dann kommt es darauf an, dieses in Übereinstimmung mit dem Begriff des Dreiecks zu tun, ansonsten zerstört man die Dreiecksanschauung. Wenn ein reiner Begriff im Bilde des Intellekts in Bewegung gesetzt werden soll, dann muss dieses gemäß dem Charakter von Begrifflichkeit überhaupt geschehen. Wenn ich also den stumpfen Winkel eines Dreiecks durch Verlängerung der beiden Winkelseiten in einen spitzen verwandle, dann durchläuft die Vorstellung notwendig den Punkt, an dem der Winkel einen rechten bildet. Ein kontinuierlich bewegter Übergang von einem stumpfen zu einem spitzen Winkel ohne Durchgang durch den rechten Winkel ist im euklidischen Raum unmöglich. Das Vorstellen folgt also der Gesetzmäßigkeit des Dreiecksbegriffs, und gerade an der Wahrnehmungsseite wird die Gemäßheit des Vollzuges hinsichtlich des Begriffs in ihrer Wahrheit anschaulich. In derselben Weise vollzieht sich die Bewegung des Begriffs hinsichtlich von Begrifflichkeit. Das Denken selbst zeigt sich als eine „lebendige“ Karte von Begriffen, deren innerer Zusammenhang so gegeben ist wie derjenige der Einzelbestimmungen des Dreiecksbegriffs. Dass Begriffe ineinander übergehen können, weist erstens auf ihren ursprünglichen Zusammenhang hin und zweitens darauf, dass die einzelnen Begriffe in jedem einzelnen Begriff enthalten sind, so wie die Einzelbestimmungen des Dreiecksbegriffs in diesem. Wer den Begriff „Baum“ in einer „visio intellectualis“ zu erfassen sucht, wird bemerken, dass er mit Begriffen wie „Ast“, „Rinde“, „Blau“, „Erde“, „Sonne“, „Ökosystem“, „Klimawandel“, „Autoabgase“ etc. umgeht. So ergeben sich zwei Charakteristika von Begriff: Erstens haben alle Begriffe gemeinsam, dass sie Begriffe sind, und zweitens enthält jeder Begriff in einer Art spezifisch-beweglicher Karte alle anderen Begriffe in sich. Diese beiden Bedingungen erlauben es, den Übergang von einem Begriff zum anderen zu finden. Dieser Sachverhalt wird von Nikolaus in dem Bild der um das Antlitz im Kreise stehenden Spiegel formuliert. Die Begriffe bilden ein in sich geordnetes Begriffsnetz und sind eigentlich nur ein einziger Begriff, der unter verschiedenen Perspektiven gespiegelt wird. Das menschliche Denken ist zu einer „visio intellectualis“ fähig, welche den einzelnen Begriff, wie er im Umkreis steht, in den Blick nimmt. Es hat nicht die absolute Perspektive des Mittelantlitzes. Mit dem anschauenden Denken steht dem menschlichen Geist eine wahrheitsfähige Erkenntniskraft zur Verfügung, die, wenn sie im Mittelpunkt stünde, zugleich alle Rätsel der Welt gelöst hätte, um es pathetisch zu formulieren. Diese Kraft äußert sich aber in Nikolaus’ Bild nicht im Mittelpunkt, sondern in der Peripherie. Insofern bleibt das „ewige Licht“ an sich für Nikolaus aller geistigen Schau unzugänglich, wird aber im Modus der
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Anschauung des Begriffs in der gleichen Weise geschaut wie der Begriff im Imaginativen. Diese letzte Beobachtung ist für den Anspruch der Wahrheit bei Nikolaus von Kues zentral. Auf der einen Seite erlaubt sie die Rückbindung der „visio intellectualis“ an den einen unanschaulichen Begriff selbst. Auf der anderen Seite entzieht sie ihn der menschlichen Willkür. Die Erfahrung desselben fußt auf der psychologischen Voraussetzung der Eigenaktivität des Erkennenden und auf der geltungstheoretischen Voraussetzung der Übergeordnetheit des angeborenen Denkvermögens, des Logos, vor dem Subjekt. Genau diese Struktur wird auf der von Cusanus zuletzt beschriebenen Stufe für ihn eine Tatsache der Erfahrung, indem sich der erkennende Geist selbst als alle Begriffe in sich einfaltend, aber nicht in der Mitte, sondern an der Peripherie stehend, begreift. Im Unterschied zu den anderen Begriffen, die gleichfalls alle anderen Begriffe in sich einfalten, verfügt der menschliche Geist über eine Einsicht in die Begriffsbildung und über die Fähigkeit, diese zu vollziehen. Er ist also im Unterschied zu den übrigen Begriffen ein „lebendiger Spiegel“ oder eine „viva imago“.20 Diese Lebendigkeit ist Ausdruck der Eigenintellektualität des Menschen. Man kann diese Erfahrung mit Fug und Recht eine spirituelle nennen, wenn man dabei zweierlei im Auge hat. Erstens konstituiert sich der Mensch in ihr intellektuell eigenverantwortlich als rein geistiges Individuum, welches durch seine Eigenaktivität in der Lebendigkeit gegenüber einer es zu überwältigen drohenden wie auch immer gearteten mystischen Erfahrung sich zu behaupten vermag und nicht eins mit ihm wird. Zweitens ist diese Erfahrung, und das ist entscheidend, im strengen Sinne eine transzendentale und keine transzendente. Ich habe diesen Sachverhalt mit Blick auf Cusanus als Spiritualisierung des Intellekts bezeichnet21 und füge an dieser Stelle folgende Konkretisierung hinzu: Die vorgelegte Analyse zeigt, dass auf der letzten Stufe zwischen zweierlei unterschieden werden muss: Auf der einen Seite steht der absolute Begriff des Logos als das unerreichbare Antlitz. Auf der anderen Seite steht das erreichbare und von jedem Menschen individuell vollzogene lebendige Abbild dieses Antlitzes. Der absolute Begriff ist transzendent. Das lebendige Abbild ist transzendental. So klar und richtig diese Unterscheidung ist, so vereinfacht ist sie auch. Denn auf der Seite der Begriffe gibt es, wie gesehen, einen Unterschied, der sich an der Lebendigkeit als Intellektfähigkeit des Menschen festmacht. Aus dieser Lebendigkeit folgt unmittelbar und ist auch eine Erfahrungstatsache, dass dem Menschen eine „vis creativa“ zukommt, wie es das Kosmographengleichnis nennt. Sie ist Ausdruck davon, dass kein Begriff jemals erschöpft ist, sondern immer einer unendlichen Fülle von explikativem Reichtum fähig ist. Diese explikative Seite verrät, dass die kreative Seite eine implizite Seite hat. Das Verhältnis des Begriffs zu dem einen Urbegriff, dessen Bild er ist, schließt von der Ebene des einen Urbegriffs immer ein, dass der einzelne Begriff ihn niemals vollständig expliziert. Auf der Ebene des Einzelbegriffs bedeutet dieses, dass er über eine stets implizite 20 21
Vgl. Schwaetzer: Viva imago Dei, 113–132. Vgl. meine Einleitung in: Schwaetzer: Nikolaus von Kues.
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Seite kreativer Fülle verfügt, die ihn in Zusammenhang mit dem Urbegriff als der angeborenen Denkfähigkeit („iudicium concreatum“ aus De mente) stehen lässt. Daraus ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. Erstens ist eine Transzendenz im Transzendentalen zu beobachten. Der Begriff selbst als Gegenstand einer transzendentalen „visio intellectualis“ trägt sein „prius“ in die Anschauung, es zugleich aber auch als „prius“ einer erkenntnismäßigen Vorgängigkeit charakterisierend, indem jeder Begriff sein kreatives Potential nie erschöpft. Von dieser Warte her ist der Mensch zur Transzendenz fähig, aber diese Transzendenz muss innerhalb seines Transzendentalvermögens in die Erscheinung treten. Dieser von mir in Anlehnung an Formulierungen Heinrich Barths geprägte Begriff von „transzendentaler Transzendenz“ scheint mir der Sache nach die zentrale Entdeckung im Anspruch der Wahrheit bei Cusanus zu sein. Damit ist die zweite Konsequenz angesprochen. Es ist das in die Anschauung Treten der Vorgängigkeit des Begriffs, der sich als Bild des absoluten Antlitzes ausweist, welcher die Identität von Begriff und Wahrnehmung in der „visio intellectualis“ noch einmal spezifiziert. Denn jetzt erweist sich die Anschauung des Begriffs derart charakterisiert, dass sie zugleich das Nicht-Sichtbare zur Anschauung bringt. So wie die in Bewegung befindliche Anschauung des Dreiecks durch das in die Erscheinung Treten des Begriffs in ihr zugleich alle nur möglichen unendlichen Dreiecksformen als nicht-sichtbare auf nicht-sichtbare Weise sichtbar werden lässt, so bietet auf der höheren Ebene der Begriff eine nicht-sichtbare Sichtbarkeit aller seiner Formen, d.h. aller möglichen Bezüglichkeiten aller anderen Begriffe auf ihn. In dieser nicht-sichtbaren Sichtbarkeit tritt die jeweilige Wahrheit (als lebendiger Urbegriff) in die Erscheinung. Vor diesem Hintergrund lässt sich für das Spätwerk des Nikolaus von Kues der Begriff einer „docta ignorantia“ noch einmal neu fassen. Denn gerade in dieser die „visio intellectualis“ begleitenden Ignoranz liegt, indem sie Ausdruck eines Erfassens des Nicht-Sichtbaren auf nicht-sichtbare Weise ist, die Anschauung der Wahrheit. „So ist Gott, der die Wahrheit ist, weil er Gegenstand des Intellekts ist, in größtem Masse intelligibel erkennbar und doch wegen seiner überragenden Intellektibilität nicht intelligibel erkennbar.“22 Das von mir eingangs angeführte Zitat erweist sich anhand der Interpretation durch das Kosmographengleichnis weitaus weniger als Ausdruck eines Koinzidenzverhältnisses, sondern das „maxime“ der Intelligibilität Gottes erscheint vielmehr als Ausdruck der Entdeckung der Intelligibilität im Intelligiblen oder, in anderen Worten, als Entdeckung der Transzendenz im Transzendentalen. Reflexion der Erscheinung Abschließend sei der Ertrag der cusanischen Position systematisch reflektiert. Cusanus beschreibt mit der „visio intellectualis“ das in die Erscheinung Treten des Sic Deus, qui est veritas, quod est obiectum intellectus, est maxime intelligibilis et ob suam superexcelsam intelligibilitatem est inintelligibilis. Apol. docta ign. p.12, n.16. 22
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Begriffs unter dem Aspekt qualitativer Identität von Wahrnehmung und Begriff sowie von Begriff und Urbegriff. Der zweite Fall stellt eine phänomenologische Vertiefung des ersten dar; Nikolaus weist sie durch die Formulierung „mit höchster Aufmerksamkeit“ aus. Die Phänomenologie des zweiten Falles bietet auf der Objektseite keinen neuen Befund im eigentlichen Sinne, sondern beruht auf gesteigerter Wahrnehmung, die es erlaubt, an demselben Gegenstand mehr zu entdecken. Allerdings muss beachtet werden, dass erst auf dieser Ebene für Cusanus ein Bild des Urbegriffs sichtbar wird, also Wahrheit in die Erscheinung tritt. In diesem Sinne ist das geschilderte Verhältnis zum einen das Urphänomen von Wahrheit, zum anderen aber kann es, wie es das Kosmographengleichnis eingangs for muliert, „wahrer“ werden. Wahrheit kennt demnach für Cusanus Stufen qualitativer Bewusstseinsteigerung in der geistigen Wahrnehmungsfähigkeit. Fasst man Erfahrung qualitativer Identität von Wahrnehmung und Begriff in der „visio intellectualis“ als eine spezifische Form von Evidenz, so ist Evidenz nichts Letztes, sondern bietet die Möglichkeit qualitativer Entwicklung. Das geschilderte Phänomen qualitativer Identität von Wahrnehmung und Begriff lässt sich als Urphänomen von Wahrheit und Wissenschaft verstehen. In diesem Sinne umschließt es der Möglichkeit nach Natur- und Geisteswissenschaft. Bedingung von Wissenschaft ist die Wahrung der Transzendentalität der Erkenntnis. Diese geht verloren, wenn eine Transzendenzerfahrung unmittelbar gemacht wird, insofern Unmittelbarkeit die Aufhebung des die Erkenntnisbedingungen durchschauenden Intellekts meint. Eine solche Transzendenzerfahrung kann als Überwältigung durch einen rein geistigen Eindruck erlebt werden, sie kann aber auch in der gleichen Weise durch einen überwältigenden äußeren Sinneseindruck sich ereignen. Eine „visio intellectualis“, die um beide Seiten, Geist wie Natur, und die Bedeutung des Transzendentalen für die Transzendenz weiß, kann Spiritualität in einem intellekttheoretischen Sinne genannt werden. Die Bezeichnung der Spiritualisierung des Intellekts rechtfertigt sich auch daher, dass sich Nikolaus mit seinem Modell von Wahrheit gegenüber der Tradition einer „Epiphanie“ absetzt. Eine Stufe auf diesem Wege, die an dieser Stelle nicht mehr geschildert werden kann, ist auch Johannes Scottus Eriugena mit seinem Konzept der „Theophanie“. In der griechischen Epiphanie ist die Wahrheit dadurch verbürgt, dass Gott sich selbst zeigt. Wissen wird beglaubigt durch die Erscheinung Gottes, sei es gegenüber einem Heros, sei es in den Mysterien, sei es in der Rückführung philosophischen Wissens auf den von Priestern oder weisen Frauen vermittelten Mythos der platonischen Philosophie. Dabei gehört es zur Grundbewegung der abendländischen Philosophie, in die göttliche Epiphanie die transzendentale Reflexion einzubeziehen. So spottet Iamblichos an einer Stelle, wie Eunapios berichtet, über eine Versammlung von sogenannten Eingeweihten, welche keineswegs, wie sie geglaubt habe, einen Gott geschaut habe, sondern nur die Seele eines verstorbenen Gladiators. Jenseits des anekdotischen Charakters ist ersichtlich, wie in die Beglaubigung durch das epiphanische Erscheinen Gottes ein transzendentaler Wahrheitsbegriff einzieht. Nikolaus von Kues hat das antik-mystische Wahrheitskonzept vollständig durch ein analoges transzendentales ersetzt. Nicht mehr ein
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Göttliches tritt Wahrheit wirkend in die Erscheinung, sondern es ist der Begriff, den der Intellekt (nicht das Subjekt) in der gezeigten Weise als Werk erzeugt und überschaut. Wahrheit wird dadurch bei gleichbleibender Anschauungsstruktur kategoriell zu einem qualitativ anderen Vorgang. An die Stelle einer Epiphanie göttlicher Transzendenz tritt die intellektuelle Anschauung begrifflicher Transzendentalität. Damit ist philosophisch beschrieben, dass der göttliche Logos, der früher Wahrheit aus Transzendenz heraus garantierte, nun Fleisch geworden ist und innerhalb dieser Welt zu finden ist, nämlich im Reiche der transzendentalen Transzendenz. Einen bildhaften Ausdruck hat Nikolaus dieser Idee auch in der Kugel des Globusspiels gegeben. Deren „Delle“ erweist sich nicht nur als negative Form einer Identitätsbildung des Menschen, gleichsam als Ausdruck einer Leiblichkeit als „principium individuationis“. Sondern die Delle ist rein phänomenologisch ein Ausschnitt aus einer nicht sichtbaren zweiten Kugel. Dieser Ausschnitt der transzendenten Kugel macht durch die sie umschließende irdisch-reale Kugel die transzendentale Transzendenz sichtbar.
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Durch die Sicht zur symbolischen Einsicht Cusanus’ Weg zu Gott über die bildliche Erfahrung »Kunst ist zuerst Vision nicht Expression Vision in der Kunst offenbart Einsicht – innere Sicht – unser Schauen von Welt und Leben« (Josef Albers)1 1. Zwischen Endlichem und Unendlichem Für Nikolaus von Kues – wie übrigens für die gesamte Platonische Überlieferung – heißt etwas kennen und erkennen (überhaupt etwas wissen): davon ein ‚Bild‘ haben.2 Jedes mögliche Bild zeigt aber zwangsmäßig nur Endliches. Deshalb ist das Bild untauglich, wenn es darum geht, das Unendliche zu kennen und zu erkennen. Vor diesem Problem – um damit doch umgehen zu können – adoptiert Cusanus ein eigenes Verfahren: Er führt seinen Leser bis zur Erfahrung der Bruchstelle des jeweiligen Bildes, das er gewählt hat, d.h. bis zum Punkt, an dem sich das Bild gleichsam vor unseren Augen verwandelt, nachdem wir uns darauf bereits konzentriert haben.3 Dort, wo das Endliche-im-Bild zusammenbricht, kündet sich bereits, wenngleich nur negativ, das Nicht-Endliche an, das heißt also das Unendliche. So verfährt z.B. Cusanus in seinem Werk „De docta ignorantia“ mit geometrischen Figuren: dem Dreieck mit unendlicher Seite (man geht vom Bild des Dreiecks aus, bis es zerbricht und verschwindet, sich in die Linie verwandelt); dem Kreis mit unendlichem Radius; dem Vieleck mit unendlichen Seiten (das tendenziell in den Kreis verschwindet). Aber nicht nur geometrische Bilder erfahren diese Behandlung, sondern auch Porträts, wie z.B. das Selbstbildnis eines Malers, das fähig sein würde, sich selbst zu modifizieren: das wäre kein Bild mehr, sondern schon etwas anderes (Idiota „De mente“, 1450).4 So auch das Bildnis, das die Betrachter Zit. aus Reichling: Meditation, 188. Leinkauf: Bildbegriff, 118, Anm. 1 (Literaturauswahl). 3 Ebd., 99–129. 4 Cusanus: Idiota de mente, c.13, n.149. Vgl. zuletzt Leinkauf: Ut philosophia pictura, 52–53. 1 2
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anstarrt, beschrieben in De visione Dei (1453): Es hat somit die Sachlichkeit, die Fertigkeit und das Insichruhen des Bildes verlassen und eine ganz verschiedene Art und Weise angenommen. Ebenso haben wir in diesen beiden Fällen einen Umschlag von dem Endlichen ins Unendliche: der Wandel des Porträts ist ein Prozess „ohne Begrenzung“, wie Nikolaus in De mente betont;5 das allsehende Bild sieht stufenlos in unzähligen Richtungen. Die Begrenztheit des Bildes wird jedes Mal durch ihren Gegensatz aufgehoben.6 Die Stelle also, an der das jeweils endliche Bild, indem es als solches „zerbricht“, die Erfahrung des Unendlichen ausströmt, ist eben zugleich die Schnittstelle zwischen Wissenschaft des Bildes (also – mit einem modernen Wort – Ästhetik) und Wissenschaft von Gott als dem Unendlichen überhaupt (d.h. Theologie).7 Die erste ist ja allen Menschen zugänglich. Wenn nämlich überhaupt etwas wissen heißt: davon ein Bild haben; und wenn zugleich Ästhetik Wissenschaft vom Bild heißt, dann geht es endlich darum, ein Bild vom Bild zu haben, das heißt das Gesehene doch eigens sehen, in einem ausgesprochenen Sinne sehen. Das ist aber der Sinn des griechischen Wortes (das Zusammengehen, von , Sicht, und , wiederum Sehen und Schauen, und also insgesamt: das, was sich zur Sicht bietet, nämlich das Bild, explizit schauen und beobachten, sich davon ein Bild machen). In der wird die Sicht zur Einsicht. Nun, das Sehen des Bildes ist ein endliches (wie das Bild selbst), aber das Schauen, das Verfahren der Deutung, greift ins Unabschließbare, damit ins Unendliche. Es handelt sich um ein dynamisches Verfahren, das Cusanus immer wieder als Charakteristikum der menschlichen Tätigkeit betonte.8 Zu Recht wurde also von Cusanus als von einem Phänomenologen gesprochen.9 Unsere docta ignorantia ist ein ständiger unabschließbarer Prozess. Man wird daran erinnert sein, dass Cusanus das Wort aus herkommen lässt. Wie nämlich schon bemerkt, führt das endliche Bild durch seine Sicht über sich hinaus zur Einsicht des Unendlichen, und das Unendliche überhaupt ist eben Gott. Das bestätigt uns noch näher: Das Bild steht an der Schnittstelle zwischen Ästhetik und Theologie. Oder mit anderen Worten: Bis zu ihren letzten Konsequenzen geführt (nämlich bis zum äußersten Punkt der Schau des Bildes) wird die Ästhetik – die Cusanische Ästhetik – zur Theologie. Das entspricht jedoch einer letzten Phase des Cusanischen Denkens, mit dem apex theoriae und also mit der „auf die Spitze getriebenen Theorie“,10 wo das Sehen-können des Geistes zugleich sein höchstes Können ist.11 Es wurde aber gesagt, die Möglichkeit, sich ein Bild des Bildes zu machen, sei jederzeit allen Menschen zugänglich. Das bedeutet hier, dass die Möglichkeit Ebd., c.13, n.149, 5. Eisenkopf: Bild des Bildes, 65. 7 Nickel: Möglichkeit, 17ff. 8 Mandrella: Gott als Porträtmaler, 142; Leinkauf: Nicolaus Cusanus, 209–211. 9 Bocken: Perspektiven, 31. 10 Hoye: Die mystische Theologie, 91. 11 Vgl. Cusanus: De apice theoriae, n.11. 5 6
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einer Theologie durch Bilder für jeden offen steht. Cusanus dachte keinesfalls an eine Wissenschaft des Göttlichen, die nur einer exklusiven Gemeinschaft von Adepten und Eingeweihten Zugang bietet, sondern an einen Weg zu Gott, den ein jeder gehen kann, auch der Laie, der zuweilen im Zentrum seiner Dialoge steht. „Die Weisheit ruft auf den Straßen“ – so lautet übrigens das Leitmotiv des Cusanischen Dialoges Idiota de sapientia. Zur Theologie und zur Schau Gottes kann man durch eine Schulung der Fähigkeit gelangen, Bilder zu schauen und zu beobachten, also mit den Bildern in ein richtiges zweiseitiges Gespräch zu kommen, und das heißt die Kunst, den Punkt zu fokussieren, an dem wir eine Art Umkehrung und Verwandlung der Bilder selbst erleben. Das inszeniert Cusanus am deutlichsten in seiner Abhandlung De visione Dei, wo das Bild, das es zu sehen gilt, sich gewissermaßen umkehrt, indem es selbst ein sehendes wird. Unbeweglich an der Wand vor einem beweglichen und bewegten Publikum fixiert, wird es umgekehrt zum beweglichen Beobachter des Publikums, so dass jeder Einzelne durch dessen Schau gleichsam fixiert wird: die Umkehrung erscheint hier in ihren äußersten Konsequenzen. Und gerade an diesem Wendepunkt verwandelt sich die Ästhetik in Theologie. Der Gegenstand der Sicht entpuppt sich für die Einsicht als der Sehende, der . Die hier kurz angesprochene Cusanische Behandlung des Bildes an der Schnittstelle zwischen Ästhetik und Theologie kann an verschiedenen Ebenen und Niveaus festgestellt werden, und zwar je nach der Art und Weise des Gesprächspartners bzw. des Adressaten der jeweiligen Schrift des Kardinals, die wir berücksichtigen. Ohne irgendeinen Anspruch auf Vollständigkeit und eher beispielsweise möchte ich an dieser Stelle vier Hauptstufen nennen, in denen die Erfahrung der Verwandlung des Bildes erfolgt, indem jeweils die Art der Bilder, die einschlägige Cusanische Schrift und ihre Hauptadressaten erwähnt werden. Mathematische Bilder: De docta ignorantia: vor den „durchschnittlichen Geistern“; Technische Bilder: Idiota-Dialogen: vor den „Gelehrten“; Gemalte Bilder: z.B. in der Brixener Predigt CCLI, De visione Dei: vor den Gläubigen; (Einfache) Bilder: hier handelt es sich um spezielle Projekte, die auf Cusanus zurückführbar sind, die nicht durch Schriften erfolgen, sondern anders, wie wir in Kürze sehen werden. Darauf komme ich später zurück. In diesem Fall wendet sich Cusanus, aufgrund der genannten theoretischen Grundlage, an alle Menschen überhaupt.
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2. Mathematische Bilder und Bilder der Kunst Aber bevor ich in der Fortsetzung meiner Ausführungen gerade diesen letzten Weg einschlage, ist an dieser Stelle einem möglichen Einwand vorzubeugen, und zwar: Haben nicht die Bilder der Geometrie – wie Dreieck, Vieleck und Kreis – einen ganz anderen Status, eine ganz andere ontologische Verfassung als die Bilder der Kunst, da die ersten irgendwie notwendig, ungeschaffen und in ihrem Wesen unwandelbar und deshalb recht objektiv sind, während die anderen zeitverbunden, geschaffen und immer subjektiv erscheinen? Dies alles ist wahr und steht ohne Weiteres fest. Nur bleibt es eher am Rande, wenn wir die spezifische Bildhaftigkeit der mathematischen Bilder sowie der Kunstbilder ergreifen wollen. In diesem Sinne ist mit Cusanus der Blick dafür einzuschärfen, was das Bild als Bild in beiden Fällen konstituiert. Jedes Bild – und damit das Bild als solches – hat ein wesentliches Verhältnis zu Urbild und Abbild. Nun, die mathematischen Gesetze, die sich jeweils durch Bilder konstituieren, sind weder reine Abbilder noch reine Urbilder. Abbilder sind sie nicht, weil sie wohl immer an sinnlichen Objekten wirken und erscheinen, sich jedoch nicht darin erschöpfen. Urbilder sind sie aber auch nicht, da es in der sinnlichen Welt nichts gibt, das nur nach mathematischen Gesetzen konstituiert wird und das z.B. rein diese oder jene Zahl oder bloß ein Zahlenverhältnis ist, und weiter nichts. Dasselbe gilt für die Figuren der Geometrie. Deshalb gelangt Cusanus zum selben Ergebnis wie auch schon Platon: die mathematischen Wesen stehen zwischen Urbild und Abbild und haben dennoch ein wesentliches Verhältnis zu beiden.12 Gerade dank dieser Binnenverfassung ermöglichen die mathematischen Bilder, dass wir – von ihnen aus – sowohl auf das Abbild als auch auf das Urbild den Blick werfen. Dasselbe gilt eben auch für die Bilder der Kunst: Sie sind keine reine Abbilder, ansonsten wäre Kunst bloß imitatio,13 was Platon selbst zwar in der Politeia behauptet hat, nicht mehr aber etwa im Phaidros (und was übrigens Cusanus nie in Erwägung nimmt). Sie sind aber auch keine Urbilder, obwohl sie insofern ein strukturelles Verhältnis zu den Urbildern haben, als sie versuchen, uns ein Bild von der jeweiligen abgebildeten Sache zu geben (und damit ein Wissen davon); und ein Wissen impliziert immer ein Wesenswissen, ein Wissen dessen, was die Sache an sich ist, und dies ist eben ihr Urbild. Somit teilen die mathematischen Bilder und die Bilder der Kunst denselben ontologischen Binnenstatus zwischen Urbild und Abbild. Aber die Verwandtschaft beider Bildertypen geht im Cusanischen Denken noch weiter. Im Bereich der Geometrie erkennt Cusanus dem geometrischen Gebilde die freie Betätigung der menschlichen Phantasie zu.14 Das bedeutet beCusanus: De docta ignorantia, I, c.4, n.11–12; Ziegler: Mathematik, 76. Vgl. etwa Ruzika: Das Bildsein, 76–81. 14 Cusanus: De ludo globi, n.91–93; vgl. Ziegler: Mathematik, 78. 12 13
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kanntlich nicht, die Geometrie sei ein Phantasieprodukt, sondern, dass unter den verschiedenen möglichen Weisen, die Gesetze der Geometrie zu interpretieren und ihre Bilder darzustellen, der jeweilige Wissenschaftler diejenige wählt, die mehr seiner Frage und Forschung und seiner Sicht auf die Welt entspricht. Die Verstandesseele erfindet die Wissenschaften, denn sie weiß, dass die Gebilde der Geometrie „in ihrer Kraft eingefaltet und durch ihre Kraft entfaltet sind“15. Dasselbe geschieht auch mit den Werken der bildenden Kunst. Dabei hält sich der Maler an den Dingen selbst, die seine Kunst wiedergibt, aber in der Wahl der Perspektive, der Betonung, der Art und Weise des Auffassens und Beschreibens ist er völlig frei, die eigene Phantasie einzuschalten. Denn – so steht in De beryllo: „wie Gott Schöpfer der realen Seienden und der natürlichen Formen ist, so ist der Mensch Schöpfer der Verstandesseienden und der künstlichen Formen, die lediglich Ähnlichkeiten seiner Vernunft sind, so wie die Geschöpfe Ähnlichkeiten der göttlichen Vernunft sind“.16 Die Wendung „künstliche Formen“ meint das Universum der Formen, sowohl der geometrischen (insofern diese nie in der Natur und Erfahrung rein als solche vorkommen), als auch der künstlerischen, welche wiederum als von der Natur abgehobene Formen künstlich sind. Für beide Formen, die hier Thema sind, ist somit die menschliche Phantasie zuständig. Die Kunst ist zunächst im Geist; folgendermaßen in De ludo globi: „Achte also aufmerksam darauf, dass der Geist in sich die Kraft hat, etwas zu bilden. In sich selbst nämlich findet der Geist, der die freie Fähigkeit zum Entwerfen hat, die Kunst, den Entwurf auszuführen […], den er im Geist entworfen hat.“17 Der Geist findet also in sich selbst ursprünglich die Formen, die er dann in der Natur nachahmt. Indem er die Natur nachbildet, schöpft er eigentlich von sich selbst. Oder, mit den berühmten Worten Albrecht Dürers, ist er „inwendig voller Figur“18.
Et invenit disciplinas, scilicet arithmetricam, geometricam, musicalem et astronomicam, et illas in sua virtute complicari experitur. Sunt enim illae disciplinae per homines inventae et explicatae. Et cum sint incorruptibiles et semper eodem modo manentes, et vere videt anima se ipsam incorruptibilem, semper vere permanentem, quoniam non sunt illae mathematicae disciplinae nisi in ea et in eius virtute complicatae et per eius virtutem explicatae adeo quod ipsa anima rationali non exsistente illae nequaquam esse possent. Cusanus: De ludo globi, n.93. 16 Tertio notabis dictum Protagorae hominem esse rerum mensuram. Nam cum sensu mensurat sensibilia, cum intellectu intelligibilia, et quae sunt supra intelligibilia in excessu attingit. Et hoc facit ex praemissis. Nam dum scit animam cognoscitivam esse finem cognoscibilium, scit ex potentia sensitiva sensibilia sic esse debere, sicut sentiri possunt; ita de intelligibilibus, ut intelligi possunt, excedentia autem ita, ut excedant. Unde in se homo reperit quasi in ratione mensurante omnia creata. Cusanus: De Beryllo, n.6. 17 Cusanus: De ludo globi, n.46–49. 18 „Ein guter Maler ist inwendig voller Figur, und obs müglich wäre, daß er ewiglich lebte, so hätt er aus den inneren Ideen [...] allbeg etwas Neus durch die Werk auszugießen”. (1512) Zit. aus Dürer: Schriftlicher Nachlaß, I, 113. 15
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Platon verstand die Zahlen und die geometrischen Figuren als Seiende, die an und für sich jenseits der sinnlichen Dinge bestehen, auch wenn sie doch nicht deren Urbilder sind (es gibt ja kein Ding „Drei“, dessen Urbild die Idee der Drei wäre).19 Die Formen der menschlichen Kunst schulden dagegen für Platon ihr Wesen dem menschlichen Schaffen. Mit dieser letzten Behauptung stimmt zwar der Cusaner überein, nicht aber mit der ersten: Sowohl mathematische Formen als auch künstlerische Formen haben ihren Ursprung in uns und wir können erst deshalb eine Vorstellung von den mathematischen Wesen haben, als sie von unserer Tätigkeit stammen. Aus demselben Grund können wir die Kunstformen verstehen, die ebenfalls aus der Tätigkeit der menschlichen Phantasie hervorgehen. Zusammenfassend haben wir Folgendes: die Formen der Mathematik sind einerseits mit uns (mit unserer Phantasie) verbunden, andererseits mit den Sachen selbst, und stehen zwischen Abbild und Urbild. Die Formen der Kunst sind ebenso mit der menschlichen Phantasie und den dargestellten Dinge verbunden und stehen ebenfalls zwischen Abbild und Urbild.20 Gerade dank dieser Verfassung können die Bilder zum Wesen des Urbildes führen. Und zwar taugen die geometrischen Bilder für die „durchschnittlichen Geister“, an die sich die Cusanischen Ausführungen der Abhandlung von De docta ignorantia explizit und nach seiner eigenen Aussage wenden. So behauptet Nikolaus nämlich: „Zur Auffindung dieses Weges [gemeint ist der Aufstieg von der einfachen zur geistigen Schau] war ich bemüht, durchschnittlichen Geistern einen möglichst klaren Zugang zu eröffnen, indem ich alle Gesuchtheit des Stiles vermied, um so direkt die Wurzel der belehrten Unwissenheit in der unerfaßlichen Genauigkeit der Wahrheit offenbar werden zu lassen.“21 Diese Geister haben eine gewisse Vertrautheit mit der Mathematik, was nicht für alle der Fall ist. Übrigens setzt die Rede von den „durchschnittlichen Geistern“ voraus, dass es auch unterdurchschnittliche Geister gibt, für die aber Cusanus keineswegs ausschließt, dass es auch für sie einen Weg zum Urbild geben kann. Das würde der christlichen Grundvorstellung des Evangeliums für alle Menschen auf der Erde krass widersprechen. Da aber, wie oben ausgeführt, der ästhetische Weg insofern für alle taugt, als dieser ein Wissen als thematisches Schauen des Gesehenen vermittelt, ist eine Schulung des Schauens für alle möglich. Einsicht ist für alle. Das war übrigens auch ein sehr spannendes und durchdiskutiertes Thema im Bereich der Kunst, Böhlandt: Figurae paradigmaticae, 290f. Cusanus: Idiota de mente, c.13, n.148f. 21 Oportet autem attingere sensum volentem potius supra verborum vim intellectum efferre quam proprietatibus vocabulorum insistere, quae tantis intellectualibus mysteriis proprie adaptari non possunt. Exemplaribus etiam manuductionibus necesse est transcendenter uti, linquendo sensibilia, ut ad intellectualitatem simplicem expedite lector ascendat; ad quam viam quaerendam studui communibus ingeniis quanto clarius potui aperire, omnem stili scabrositatem evitando, radicem doctae ignorantiae in inapprehensibili veritatis praecisione statim manifestans. Cusanus: De docta ignorantia, I, c.1, n.2. Zit. aus Cusanus: Philosophisch-Theologische Werke, I, 12–13. 19 20
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bzw. der Techniken der Visualisierung innerhalb der damaligen Malerei, die Cusanus zu schätzen wusste und gelegentlich auch zitierte und für seine Argumentationen verwertete.22 Wenn also die „durchschnittlichen Geister“ auch noch den Weg über die Mathematik gehen können, kann für alle – da unter den Menschen auch unterdurchschnittliche Geister sind – nur der Weg über die Schulung des Schauens gelten. Damit greift Cusanus den mittelalterlichen Begriff der Biblia pauperum wieder auf, indem er ihn – darüber bald Näheres – für die Vermittlung des eigenen Denkens verwendet. Ich komme damit zum dritten Teil meiner Auslegung: 3. Der Weg zu Gott über die bildliche Erfahrung In der Apsis der Kirche zu Santa Giuliana im Fassatal, die zur Diözese von Brixen gehörte zur Zeit, als Cusanus deren Bischof war, ist ein Freskowerk zu sehen, das durch einen Brixener Maler um 1452 realisiert wurde. Die kunsthistorische Forschung über dieses Werk hat bekanntlich eine mögliche Implikation des Cusaners im ikonographischen Programm als wahrscheinlich erklärt.23 Der unbekannte Maler war ein guter Künstler aus dem Umkreis von Meister Leonardo, tätig in Brixen um 1450, der aufgrund einiger Aufträge in Berührung mit Cusanus trat. Cusanus selbst hat in seiner neuen Rolle als Bischof am 23. Juli 1452 die Kirche mit den schon fertigen Altären feierlich geweiht, nachdem er eigens dazu eine ziemlich lange Reise auf dem Rücken eines Maultieres unternommen hatte, was darauf schließen läßt, dass er dort zumindest einige Tage zum Ausruhen verweilen durfte. Das war, wie ich glaube, die Gelegenheit, um das Programm der noch auszuführenden Innendekoration mit der zuständigen Arbeiterschaft bzw. mit dem sie führenden Künstler zu diskutieren und aufzustellen. Man könnte ja einwenden, die Zuschreibung der Vaterschaft des ikonographischen Programms an Cusanus sei hier nur eine sehr dürftige Vermutung oder nur rein assoziativ. Wir können diese aber durch das Argument ex contrario bekräftigen. Gehen wir einmal davon aus, dieses Werk sei keineswegs mit Nikolaus von Kues in Verbindung zu setzen. Wir müssen dann sofort ausschließen, es sei etwa die Erfindung irgendwelcher wenngleich gelehrten Arbeiterschaft gewesen, weil die Komplexität der noch zu beschreibenden Innendekoration eine sichere theologische Führung erfordert, die uns in jenem Gebiet und zu jener Zeit unbekannt ist.
In Bezug darauf sind wichtige Besinnungen und Hinweise in den Beiträgen des internationalen Doppelsymposions „Theories of Vision and Techniques of Visualization in the First Half of the 15th Century“ (VLAC, Brüssel-St. Nikolaus Hospital, Bernkastel Kues, 9. bis 16. September 2007) zu finden. Vgl. Schneider / Schwaetzer / Mey / Bocken: Theorien des Sehens. 23 Spada Pintarelli: Il Gotico, 454–455; Cuozzo: Visio, 119–127; Filippi: L’iconographie, 181–194. 22
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Auch die Vermutung, die Ideen des Cusaners seien dort erst durch die Vermittlung einer seiner Mitarbeiter eingeflossen, wäre zum Scheitern bestimmt, weil Cusanus erst seit wenigen Wochen in dem Gebiet ansässig war und sein Denken sollte selbst in den groben Grundlinien seinen dortigen Mitarbeitern unbekannt gewesen sein. Dass schon anderswo bestehende Dekorationen das Programm für diese Kirche hätten irgendwie beeinflussen können, ist auch auf keinen Fall zu belegen, da weder in Italien noch im Alpenraum ähnliche Innendekorationen auftauchen, ausgenommen spärliche Darstellungen der Trinität als trifrons, die aber innerhalb einer ganz anderen Syntax erscheinen. Vigo di Fassa ist ein Unikum ohne Präzedenzfälle. Dann bleibt eben nur Cusanus selbst übrig. Seine geistliche Vaterschaft des Programms leuchtet gleichsam ex contrario ein. Zu bemerken ist an dieser Stelle auch die Tatsache, dass sich Nikolaus gerade in den Monaten vor und nach seiner Reise nach Vigo im Fassatal mit der Welt der Malerei intensiv konfrontierte und zwar sowohl auf „didaktischer“ wie auch auf spekulativer Ebene, d.h. sowohl, um sein Denken zu erläutern als auch, um Denkmodelle für die Wissenschaft zu erkunden und zu adoptieren. 1453 erscheint seine Abhandlung De visione Dei, die uns dies zur Genüge bestätigt. Das ikonographische Programm von Santa Giuliana und der Weg zu Gott, der darin verwirklicht wird, reimen sich nahtlos mit seiner Theologie des Bildes, wie ich sie in einfachen Zügen skizziert habe. Es ist zwar ein Faktum, dass keine definitiven Belege bestehen, welche die Cusanische Autorschaft endgültig bestätigen würden. Zu fragen ist allerdings, um welche Dokumente es sich überhaupt handeln sollte, da eine offizielle Urkunde dem neuen Bischof wegen der damals in schlechten Ruf geratenen Darstellung der Dreieinigkeit als Vultus trifrons in jeder Hinsicht vor der kirchlichen Öffentlichkeit seiner Zeit nur geschadet hätte. Diese Darstellung wurde nämlich bereits im 13. Jahrhundert durch den Bischof Lucas von Thuy (†1250) verurteilt und erneut durch Antoninus Bischof von Florenz (1389–1459) in seiner Summa historiarum. Die dreigesichtigen, dreiköpfigen oder trikephalen Darstellungen der Trinität wurden übrigens von Anfang an als Monstra und als unangemessene Verdinglichungen der theologischen Trinitätsaussage allgemein verworfen.24 In Bezug auf die Idee eines dreieinigen Gottes handelt es sich um ein Besinnen, das seit Anfang des Christentums die Geister sowohl im Osten wie auch im Westen bezüglich der göttlichen Natur in Atem gehalten hat, vor allem, was Christus den Sohn und seinen Status angeht. Bereits ab antiquo sind Streitigkeiten um die Darstellbarkeit des Trinitarischen Dogmas entstanden. Die Lehre des Filioque war gerade der Grund für die große Spaltung der Kirche und für die Polemik, die sich durch das ganze Mittelalter hindurch zog. Aber diese Trinität, welche übrigens die Dreigesichtigkeit nur durch eine Frontalansicht und zwei Profildarstellungen andeutet, ohne dem Monströsen zu verfallen, gewinnt hier ihren Sinn im Rahmen des ganzen programmatischen iti-
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Sternberg: Visualisierungen, 301.
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nerariums, an dessen Ende sie tritt.25 Davon werde ich hier nur das für die heutige Ausführung Notwendige nennen. Eine entscheidende Rolle spielt in diesem Sinne der Schlussstein mit der Darstellung der vera icon. Daran knüpfen – sei es direkt oder nur mittelbar – die 21 Felder an, aus denen das Fresko des Chorgewölbes besteht, so dass das Angesicht des Christus die Mitte des Programms darstellt. Christus wirkt damit als die contractio der Trinität (der Drei) und der Vielfältigkeit, deren Symbol die Sieben ist. Und aus diesen beiden Zahlen bilden sich, als deren Entfaltung, die 21 Felder. Diese Darstellung der vera icon ist direkt mit der des St. Nikolaus-Spitals in Kues vergleichbar, von Cusanus selbst in Auftrag gegeben und datiert 1458. In Santa Giuliana zu Vigo schaut der Christus zum Altar hinunter, d.h. hin zur Stelle, wo an die eucharistische Opfergabe erinnert wird. Die icona dei ist hier in einem Kreis so eingeschrieben, als wäre sie in einem regelmäßigen Vieleck von 16 Seiten angebracht, aber so, dass die Seiten keine geraden Segmente sind, sondern Kreisbögen, die den größeren Kreis schneiden. Das erinnert, für die Kundigen der Geometrie (an die das Buch De docta ignorantia adressiert war), an das dortige ähnliche Beispiel. Gianluca Cuozzo sieht hier, mit Recht, das Cusanische „Schema der symbolischen Geometrie“ am Werk, – ich übersetze an dieser Stelle aus seinem Buch „Mystice videre“: „das Schema ist dafür geeignet, die Modi des Einen auf die Andersheit auf formale Weise zu übertragen“26. Die Kreisbögen der Fassaner vera icon lassen eine zentrifugale Bewegung entstehen, bahnen Richtungen an, die radial den Kreis verlassen, und bestimmen an den Ecken die Ansatzpunkte von 16 Strahlen, die durch die weitere Einteilung des Gewölbes weiter vervielfältigt werden. Insbesondere ist hier die 16 durch die 4 geteilt: eine Andeutung an die Vierung der Welt, wie diese in der Hand des Vaters auch viergeteilt erscheint. Hiermit soll deutlich symbolisiert werden, dass Christus die Aufgabe erfüllt, das Göttliche in die Welt auszustrahlen, und zwar in derselben Weise, wie in den zurückliegenden Sektoren die Trinität in die himmlischen Scharen ausstrahlt. An diesem Punkt sei aber eine entscheidende Bemerkung gemacht. Das Programm berücksichtigt die Perspektive derer, die in die Kirche eintreten und ihren Blick zur Apsis richten. Damit der Besucher zur Schau der Trinität gelangt, ist eine Umdrehung von 180 Grad notwendig, eine Umkehrung des Blickes, nachdem die Sicht auf die Rolle des Christus aufmerksam geworden ist. Die Darstellung der Trinität ist nämlich umgekehrt orientiert als der Christus. Man muss erst die Altarnische betreten, d.h. den heiligen Raum überhaupt, und dort eine völlige conversio der Schau vollziehen. Christus ist zwar der Abstieg Gottes ins Endliche.27 Damit aber das Unendliche, d.h. Gott selbst (durch das Symbol der Trinität) in den Blick gefasst wird – und also ein Bild von Gott und somit ein Wissen von Gott, eine Theologie entsteht – muss alles umgewälzt wer Euler: De visione Dei, 129–143. Cuozzo: Mystice videre, 162. 27 Dahm: Imago foedata – Imago purgata, 12–20; Filippi: Umanesimo, 96–99. 25 26
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den. Unser Gesehen-haben, spricht unser Wissen, tappt im Dunklen, wird zum Nichtwissen: „Zu Dir, Gott, der du die Unendlichkeit bist, kann nur derjenige herantreten, dessen Vernunft im Nichtwissen ist, das heißt, der weiß, dass er, was dich betrifft, ein Nichtwissender ist“.28 Gerade auf diese Weise möchte Cusanus für die Laien die Lehre der „Bruchgrenze“ des Bildes und seiner Verwandlung visualisieren. Insofern bringt das jene Reziprozität des Blicks mit dem Betrachter in Gang, die Nikolaus in De visione Dei beschreibt.29 Die Erfahrungsübungen mit der icona dei sind eng in den argumentativen Kontext der Koinzidenzlehre eingebunden. An keiner Stelle entwickelt Cusanus kunsttheoretische Paradigmen und so muss es Gerhard Wolf nicht wundern, wenn „Nikolaus nirgends explizit das Problem der Bildhandlung, der bildimmanenten Bewegung der Figuren“ thematisiert.30 Insofern hat m.E. Holger Simon recht, wenn er meint, dies sei nicht das Thema von De visione Dei. „Das hiesige Bild dient als ein didaktisches Mittel und unterstützt seine metaphorische Sprache, wodurch er seine Koinzidenzlehre für grundsätzlich alle Menschen zugänglich machen möchte. Das Bild wird damit zu einem Teil der ‚Milch der Gleichnisse‘31, mit der Cusanus die Anfänger seiner ‚Denkmethode‘ nährt und speist, bevor er ihnen kräftigere Speise, in diesem Falle seine Trinitätsphilosophie und Christologie, zumutet“.32 Dort entfaltet nämlich der Theologe in prägnanter Weise seine Trinitätsphilosophie und Christologie.33 Wie ein äußerst überzeugender Beitrag von Rudolf Haubst gezeigt hat,34 beschäftigt sich Cusanus in De visione Dei, also in dem mit dem Programm von Vigo am meisten zeit- und sachverwandten Text, mit dem Bild der „Mauer des Paradieses“ oder „Mauer der Koinzidenz“. Laut Cusanus versperrt diese Mauer die Möglichkeit jeder Einsicht, wenn auch das Auge darüber hinaus ins Paradies blickt, „oder wohl richtiger übersetzt“ – so der Vorschlag von Haubst – „nach dem Paradies zurückschaut (licet ultra in paradisum respiciat)“35. Damit haben wir einen wichtigen Fingerzeig durch Cusanus: Die Art und Weise, auf das Paradies zu schauen – und abgesehen davon, dass eine direkte Schau aussteht und nur eine symbolische möglich sein wird – besteht in einem Zurückschauen, d.h. in einem Sich-umdrehen-um-zu-schauen. Und dieses Schauen, da wir Gott mit Paulus erst nur „per speculum et in aenigCusanus: De visione Dei, c.13, n. 52, n.11–12. Boehm: Studien zur Perspektivität, 7–11, 150–159; Stock: Icona Dei; Simon: Bildtheoretische Grundlagen, 54–67. 30 Wolf: Cusanus „liest“ Alberti, 207. 31 Cusanus: De visione Dei, n.45: „Wenn ich euch auf menschliche Weise zum Göttlichen zu erheben trachte, dann muß dies in einer Art Gleichnis (similitudine) geschehen“. 32 Zit. aus Simon: Bildtheoretische Grundlagen, 64. 33 Reinhardt: Christus, die „absolute Mitte”, 196–220; Beierwaltes: Visio Facialis. 34 Haubst: Mauer der Koinzidenz. 35 Ebd., 173. 28 29
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mate“ sehen können, wird immer nur ein Schauen auf ein Symbol sein. Und das vollkommenste Symbol Gottes ist tatsächlich die Trinität. Auch deshalb wählt Cusanus eine altüberlieferte Ikonographie der Trinität, deren symbolhafter Wert für das kollektive Vernehmen der Bilder bereits lange kodifiziert wurde.36 Was diese Einsicht in das Göttliche einsieht, so in De visione Dei, ist nur das, „was sie durch Nichteinsehen einsieht (non intelligendo intelligit)“37. Das ist das Grundphänomen des Enträtselns eines Symbols, d.h. der Auslegung, die ein Wissen gewinnt, indem sie trotzdem den Prozess des Wissens gar nicht für abgeschlossen hält. Welche engere Beziehung besteht aber zwischen der „Mauer der Koinzidenz“ und dem „Zurückschauen“? Warum erklärt sich – wie ich behaupte – die eine durch das andere? Die Erfahrung der „Mauer der Koinzidenz“ beschreibt Cusanus mit der Metapher der Dunkelheit: „intrare umbram et caliginem“38, ein Sich-begeben dem Schatten und der Finsternis, und das zwar nicht, wenn unsere Augen bereits an das Dunkel angewohnt sind, sondern, wenn sie des Lichts voll sind. Nur dann haben wir die Erfahrung von „umbra et caligo“. Wenn wir daran denken, sind wir sofort an das Platonische Höhlengleichnis erinnert, und ich glaube, Cusanus selbst hatte diese Grunderfahrung des Menschen im Visier, als er zu dieser Metapher griff. Es ist übrigens bekannt, was William Hoye ikastisch formulierte: „Das Höhlengleichnis ist Philosophie – aus der cusanischen Perspektive könnte man sagen: nur Philosophie.“39 In seinem Höhlenmythos beschreibt Platon dieses „intrare umbram et caliginem“ einmal im wörtlichen, das andere Mal im symbolischen Sinne: Wenn der befreite Höhlenbewohner nach seiner Anabasis zurück in die Höhle geht, erfährt er im buchstäblichen Sinne ein Hineingehen in den Schatten und in die Finsternis.40 Noch an einem früheren Punkt der Erzählung41 berichtet uns aber Platon von dem Entfesselten, der gezwungen würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzuwenden und gegen das Licht hinaufzublicken. Er wäre nicht imstande, die Dinge zu sehen, die ihm als das Wahre gezeigt werden. Er würde alles unklar sehen, nichts Bestimmtes vernehmen, wie im Dunklen taumeln – nämlich jetzt „dunkel“ in einem metaphorischen Sinne – und zwar so, dass er das vorher Gesehene (die Schatten) als – als „wahrer“ – empfinden würde als das, was ihm jetzt gezeigt wird: Mehr wahr erscheinen ihm die Schatten, weil eben bestimmter als die Dinge unter dem Licht. Diese sind ihm eher dunkel. Dann heißt „intrare umbram et caliginem“ soviel wie: sich plötzlich umwenden und die Bilder – die uns bekannten und vertrauten Bilder – verlassen; das Bestimmte und Sichere gegen das Unbestimmte und Rätselhafte tauschen. Boespflug: La Trinité. Cusanus: De visione Dei, c.5, n.16. 38 Vgl. Cusanus: De visione Dei, c.9, n.36; Brief vom 14. Sept. 1453 an Kaspar Aindorffer, 114. 39 Hoye: Die mystische Theologie, 37. 40 Plato: Resp. 517a 2ff. 41 Plato: Resp. 515c–d. 36 37
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In dem Unbestimmten ist jede Sicht verwehrt, in seiner Verschwommenheit gleicht jedes Ding seinem Gegenteil und das Licht wirkt auf uns wie Schatten und umgekehrt: Das ist das „intelligere non intelligendo“, die „Mauer der Koinzidenz“! Eine solche Mauer besteht in der Umkehrung des Geläufigen. Cusanus hat uns bis unter diese Mauer geführt. Wir haben nun mit einem Symbol zu tun, mit einer Art „Vorgeschmack“ der Natur Gottes,42 aber wir haben die Erfahrung der Umwendung gemacht, die im Platonischen Sinne vielleicht auch die wichtigste Erfahrung ist.43 Das ist – christlich gemeint – die conversio, aber eine zugleich denkende, denn, um Herrn Hoye nochmals zu zitieren: „der Glaube ist nicht eine leichte Alternative zum Denken“44. Wir stehen immerhin vor einem Allsehenden. Seine Sehkraft betont die geographische Vorstellung des Orients und des Abendlandes und deutet damit auf ein damals brennendes Problem: die mögliche Versöhnung der römischen und der byzantinischen Kirche,45 und also die Tatsache, dass der Weg zu Gott doch kein Weg für Einzelgänger ist, sondern für die Gemeinschaft der Menschen, was Cusanus in seinem De visione Dei durch die brüderschaftliche Gemeinschaft der Mönche darstellt, die so bereit sind, sich vom Mysterium Gottes betreffen zu lassen.46 Zugleich sind wir mit unserem ‚Staunen‘ konfrontiert, wobei aber das Staunen „auf den ersten beiden Seiten von ‚De visione Dei‘ vier Mal vorkommt“47.
Cusanus: De visione Dei, n.17. Leinkauf folgend: Der Begriff des Schönen, 57: „Die Bedeutung, die das Schöne als Inzitament für die grundlegende Umwendung und Orientierung der Seele im Sinne der platonisch-plotinischen periagwghv, und des christlichen raptus-conversio-Zusammenhanges bei den genannten Autoren [Dionysius Aeropagita, Boethius, Cusanus, Ficino, Bruno] gewinnt, läßt sich nur dadurch verständlich machen, daß im Schönen etwas als auf sinnliche und/oder intelligible Weise gegenwärtig gedacht wurde, was die Dimensionen des Sinnlichen und Geistigen, als deren Grund, zugleich übersteigt”. 44 Hoye: Die mystische Theologie, 58. 45 Das war in jener Zeit besonders in den Gedanken des Kardinals thematisiert. Nicht zufällig wird er einige Monate später, im September 1453, sein De pace fidei vollenden, in dem auf entscheidende Weise Christus als Wahrheit, Vervollkommnung und Vollendung der verschiedenen Formen menschlicher Religion gepriesen wird, da alle Religionen, mehr oder weniger bewusst, die Versöhnung des Endlichen-Menschlichen und des UnendlichenGöttlichen anstreben. Als Einführung in den Kontext gilt z.B. Euler, Die beiden Schriften „De pace fidei“ und „De visione Dei“, 187–203; Ders.: Cusanus’ Verständnis der negativen Theologie, 132–142; Heinemann: Einheit in Verschiedenheit; Piaia: Pericolo turco, universalità del vero e pluralità delle filosofie, 31–43. 46 Dupré: The mystical theology, 205–220. 47 Riedenauer: Perspektive, 139. 42 43
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Nikolaus von Kues und Lorenzo Lotto Bild, Schauen und Perspektive Lorenzo Lotto schuf im Jahre 1526 für die Basilika Santa Maria Maggiore in Bergamo einige hieroglyphische Symbolik-Zeichnungen, „Imprese“ genannt. Diese wurden dann von dem Kunsttischler Giovan Francesco Capoferri benutzt, und zwar „als Modelle für Tafeln in Einlegearbeit, die als Schutzdeckel für die Intarsia der ‚biblischen Geschichten‘ dienen sollten“1. Die vorbereitende Modellzeichnungen dieser Einlegearbeiten stammten ebenfalls von Lottos Hand. Unter diesen „Imprese“ erblickt man eine herrliche Darstellung, in der „ein nackter Mann mit einem Mantel über den Schultern und einem Käfig auf dem Kopf, auf dem Rücken eines Esels sitzend [...], sich selbst im Widerschein eines konvexen Spiegels sucht, den er in der linken Hand hält; in der rechten hält er einen Zirkel“2. Dieses Bild, das von Baltrusaitis in seinem meisterhaften Essay „Der Spiegel“ übersehen wurde3, hat eine ausgezeichnete Paralleldarstellung im Grabmal von Francois II in der Kathedrale von Nantes (16. Jh.), wo die Skulptur der Besonnenheit (Prudentia) in der linken Hand einen konvexen Spiegel hält (in dem die Dame sich ganz versunken betrachtet) und in ihrer rechten einen Zirkel, während der rechte Fuß auf eine Schlange tritt. Nun könnte die Darstellung des Lorenzo Lotto, von ihren alchemistischen Bezügen befreit, als „sinnlich wahrnehmbares Rätsel“ dienen, um die Geheimnisse des Spiegelbildes im Denken von Nikolaus von Kues zu durchdringen: der Spiegel als wunderkräftiger Hervorbringer von Bildern, die gleichzeitig identisch und verschieden vom Urbild sind – Bilder, die jedes Mal die Gleichheit eines identischen und doch hypostatisch verschiedenen Antlitzes dessen sind, der sich darin widerspiegelt. Die Gleichheit des Spiegelbildes, schreibt Nikolaus in Bezug auf das göttliche verbum, ist die „wesensgleichende Ähnlichkeit (consubstantialis similitudo)“. In diesem Sinne eröffnet sich im Spiegel, so Nikolaus, jenes Spiel der Blicke und des gegenseitigen Wiedererkennens, das die ontologische Differenz zwischen identisch und verschieden offenhält. Die Offenheit, d.h. die geöffnete Zone des Spiegelreflexes, besteht mit anderen Worten aus dem immer währenden Verweis zwischen Identität und Differenz auf dem Hintergrund einer unveränderlichen Partizipation zwischen ‚gleich‘ und ‚anders‘. Dass in Lottos „Impresa“ auch ein Zirkel dargestellt ist, kann diesen Eindruck nur verstärken: Nikolaus definiert, wie wir wissen, den Geist als „lebenden Zanchi: L’immaginario alchemico, 1. Ebd., 21. Der Deckel verdirbt die „Impresa“ des „Versinkens des Pharao in den Fluten“ und bezieht sich auf die biblische Episode des Exodus, in der Moses und sein Volk das Rote Meer durchqueren. 3 Baltrusaitis: Le miroir. 1 2
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Zirkel“. Außerdem ist der in der „Impresa“ dargestellte Spiegel konvex, ist also fähig – quasi sub specie complicationis – ein verkleinertes Abbild des von ihm erfassten Wirklichkeitsanteils darzubieten: eine Art von Mikrokosmos, in dem man das Ganze in perspektivischer Verkürzung wiederfinden kann. Der Geist setzt, so könnten man dieses Bild weiter verfolgen, der Macht bewusst, die ihm die Wissenschaften verleihen, seinen Befreiungsritt fort, in dem Wissen, die ganze Wirklichkeit erforschen und begrifflich erklären zu können – eine Wirklichkeit, die er mit seinen mutmaßlichen Mitteln vermessen kann, als da sind Zahlen, rationale Maßeinheiten (wie z.B. der pondus), sowie alle philosophischen, mathematischen Begriffe im Allgemeinen. Der Käfig, der auf dem Haupt des nackten Ritters thront, könnte außerdem als Symbol dieser Befreiung des Denkens von jedem fremdbestimmten Autoritätsprinzip erscheinen: links eine Totenmaske unter einem Helm und rechts eine andere, schielende unter einem Bischofshut sind die äußeren Teile einer hängenden Waage, der er zu entkommen sucht. Eine todbringende weltliche Macht auf der einen Seite und die Kirche, kurzsichtig und oft im Irrtum befangen, auf der anderen Seite, erscheinen also als Hemmnis der freien Suche nach der Wahrheit. Das abgeschlagene Haupt der Schlange auf dem oberen Band in Form einer Waage entspricht vielleicht dem humanistischen Gestus, inbegriffen in diesen Elan hin zu der „von allen gesuchten, aber von keinem je gefundenen Weisheit“. Die wahre und erste Art und Weise der Erkenntnis ist, so suggeriert uns dieses Renaissancebildnis, das nosce te ipsum. Die von ihm angenommene Form ist die spiegelbildliche Erkenntnis. Worin besteht nun der Beitrag des Nikolaus zu dieser Begriffskonstellation? Ich gehe von einem emblematischen Zitat des Cusanus aus: „Die Wahrheit im Geist ist sozusagen ein unsichtbarer Spiegel, in dem der Geist alles Sichtbare durch sich selbst intuitiv erkennt.“4 Diese Bewegung (die nach der Erkenntnis quid est strebt, ausgehend vom quod est, d.h. vom Glauben als anfängliche Passivität des geschaffenen Geist) heißt nicht zufällig spiegelbildlich, da sie sich quasi in einem leeren Spiegel widerspiegelt, dessen „spiegelbildliche Einfachheit“5 die Voraussetzung jedes menschlichen Denkens ist. Diese Simplizität (unerreichbar für den Geist) ist „die Unveränderlichkeit der Wahrheit“, die „weder das Mehr noch das Weniger empfängt“6. „Darin“, fährt Nikolaus fort, „enthüllt sich das Geheimnis, das darin besteht, dass derjenige, der sucht, das was er sucht, voraussetzt, und nicht voraussetzt, weil er sucht“7. Es handelt sich um jenen unendlichen Intellekt (oder logos), der die unendliche Gleichheit ist, nämlich Gott, für den jedes Intelligible abgemessen ist. „Wer also zu wissen strebt, ist von einer solchen unendlichen Kunst oder Wissenschaft getrieben. Und wenn er sich, im Lichte dieser Wissenschaft, die ihm eingegeben ist, innerhalb [seiner] Voraussetzung bewegt, wird er zu dem geführt werDe theol. compl., p. 2, 10. Ebd. 6 Ebd. p. 3, 15. 7 Ebd. p. 4, 23. 4 5
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den, das er sucht.“8 Erkennen bedeutet mit anderen Worten, sich bewegen (in der Form einer unendlichen Erläuterung) innerhalb der Voraussetzung der diaphanen Oberfläche eines unendlichen Spiegels, in dem sich unsichtbar die Form der Formen (forma formarum) widerspiegelt. Erkennen bedeutet in der Form der reflektierenden Betrachtung also, das von sich zu unterscheiden, was eigentlich nicht verschieden von sich ist: „Dieses Begreifen ist an sich, denn das, was begriffen wird und das, was begreift, sind nicht zwei verschiedene Dinge.“9 Im Erkennen, „begreife [ich] mich so intuitiv als sein [d.h. Gottes / des verbums] Abbild“10, d. h. als identisch und verschieden, als gleichzeitig idem und aliud des Wahren. Diese Unterscheidung meiner selbst als imago in Bezug auf den Spiegel sine figura (als göttliche Voraussetzung meines Schauens und Erkennens) streift also die Identität des Intellekts mit der Wahrheit: die Unterscheidung ergibt sich nur, wenn sie im Spiegel der Wahrheit reflektiert wahrgenommen wird, in dem sie sich als identisch mit dem Prinzip widerspiegelt. Die Voraussetzung ist also der identische Zustand meines mich Unterscheidens vom Wahren, d. h. die unterscheidende Bedingung meines Zusammenfallens mit dem Prinzip. Der Spiegel, das widergespiegelte Bild, ist das Modell dieser Koinzidenz des Nicht-Identischen (oder, anders gesagt, Differenz dessen, was an sich identisch ist). Dieser Linie folgen meine Betrachtungen zu De filiatione Dei (1445) und De visione Dei (1453). In De filiatione Dei – dem Werk, in dem der Begriff der Ikone des deus cuncta videns der Schrift De visione Dei in Beziehung zu der von Dyonisius stammenden katoptrischen Metapher des Lichtes und des Spiegels gesehen werden kann – schreibt Nikolaus, dass man sich vorstellen könnte, dass das höchste Glänzen des principiums das verbum von Gott Vater ist, die imago consubstantialis patris. Es handelt sich um die altissima resplendentia, die vollkommene Spiegelung unseres Ursprunges, „in der Gott selbst erscheint! Es ist der Spiegel der Wahrheit, ohne Flecken, ganz gerade, unbegrenzt, und vollkommen; alle Geschöpfe hingegen sind verschränkte und verschieden gekrümmte Spiegel“11. Die verschränkten und endlichen Spiegel behalten deshalb auf gleiche Weise wie die betrachtenden Mönche im Experiment der icona dei eine zirkulare Disposition um den zentralen Gottessohn – das verbum-speculum der Wahrheit, das infinitum und absolutus ist – quasi lebendige und wesensgleiche Ikone des Vaters. Diese stellen sich nämlich in einem geometrischen Raum auf (d. h. in einem Raum, in dem verschiedene Weisen von participatio veri esse möglich sind), der im Ganzen jenem Raum ähnlich ist, der sich aus dem bewegungslosen Mittelpunkt des allsehenden Bildes Gottes ausbreitet. Unter diesen ganzen Spiegeln sind, so schreibt Nikolaus, die geschaffenen Geister „specula contractiora et differenter curva“12. Einige sind flach, einige Ebd. De aequal. p. 2, 5. 10 Ebd., p.14, 20. 11 In qua appareat deus ipse, quae sit veritatis speculum sine macula rectissimum atque interminum perfectissimumque. De fil. Dei, h IV, c.3, n.65, 3–5. 12 De fil. Dei, h IV, c.3, n.65, 5–6. 8 9
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konkav, einige konvex, andere durch eine sehr glatte und strahlende Oberfläche charakterisiert, wieder andere aber durch eine mehr oder weniger finstere. Letztere können das von dem speculum sine macula (der unendliche Wahrheitsspiegel, der mit der tadellosen aequalitas consubstatialis patris identisch ist)13 ursprünglich reflektierte Licht, die infinita lux des ewigen Selbstdenkens (oder sui ipsius conceptus) des göttlichen und ‚dreieinigen‘ Prinzips, nur entstellt und verändert widerspiegeln. Dieser eigentümliche Kontraktionsstatus der endlichen Spiegel ist aber nicht streng vorbestimmt und fest fixiert. Die geistigen Spiegel sind, so sagt Nikolaus, frei, d. h. sie haben die Möglichkeit, sich zu reinigen, zu korrigieren und sich von der sinnlichen verdunkelnden Verschiedenheit zu befreien, um sich auf das untrennbare lumen der Wahrheit zu orientieren14. Der Spiegel rectus, der sich auf den pater luminum frontal orientiert (oder auch im Einfallswinkel des „raggio centrico“, wie L.B. Alberti erklärt: angolum, mit dem unser Sehvermögen „die Quantität angreift“, so dass die Winkel, die auf diese Weise entstehen, gleich sind)15, ist der intellectualis oculus, der den spiritus altissimus rationis gewonnen hat, um (mit Hilfe des geistlichen beryllus, dem Zusammenfallen der Widersprüche) die unitiva et revelata visio mit und von Gott zu erreichen. In dem Aufstieg zur Spitze der Lichtpyramide (ich zitiere hier die paradigmatische Figur „P“ von De coniecturis) wird nämlich der intellectus jeden Gegensatz und Widerspruch los, um endlich in einer offenbarten Weise (revelate) die einfachste Wahrheit anschauen zu können, jene Wahrheit, die jenseits des murus coincidentiae sive absurditatis ist, eine Mauer, die, wie Nikolaus sagt, – „kein Menschengeist aus eigener Kraft ersteigen kann“16. Das menschliche mystice videre geht also einerseits aus der übernatürlichen und gegenseitigen Begegnung zwischen dem verschränkten Spiegel, der die geschaffene mens ist (man kann den menschlichen Geist auch den dem verbum untergeordneten und bloß reflektierenden, d. h. nicht produktiven ‚Spiegel des Seins‘ nennen), und andererseits aus dem ersten und ursprünglichen Spiegel der Wahrheit, dem eingeborenen Sohn Gottes, hervor, von welchem sich das lumen actuale divinum uneingeschränkt (sine contractione) ausbreitet. Es handelt sich um den speculum sine macula, in dem Gott Vater seine consubstantialis imago ewig erstrahlen lassen kann, indem er – gemäß dem Liber XXIV philosophorum – „in se unum ardorem“ hervorbringt, sodass „lumen a lumine accenditur, et ex utroque
„Facies enim tua aequalitatem superficialis dispositionis de se multiplicans recipitur in speculo varie, secundum quod speculum, quod est recepito, varium fuerit, in uno quidam clarius, quia specularis recepito clarior, in alio obscurius, sed in nullo umquam uti est facies ipsa. In alio enim aliter recipi necesse erit. Solum est speculum unum sine macula, scilicet deus ipse, in quo recipitur uti est, quia non est illud speculum aliud ab aliquo quod est, sed est id ipsum quod est in omni eo quod est, quia est universalis forma essendi“. De dato Patris, c.2, n. 99, 9–17. 14 Nikolaus schreibt in De filiatione Dei, dass die menschlichen Intellekte „sint viva, clariora atque rectiora specula, ac talia, cum sint viva et intellectualia atque libera […] quod possint se ipsa incurvare, rectificare et mundare“. De fil. Dei, c.3, n.65, 5–9. 15 Alberti: De pictura, 8f. 16 De vis. Dei, c.12, n.48, 4–5: „Quem nullum ingenium sua virtute scandere potest.“ 13
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splendor“17. Dieser unerschöpfliche und in seinem absoluten Spiegel reflektierte Glanz des Prinzips ist außerdem für Nikolaus nichts anderes als das absolute Selbstbewusstsein (oder absoluta visio) im logos des dreieinigen Gottes. Nikolaus formuliert mit dieser Wechselbeziehung der Widerspiegelung zwischen dem verschränkten (die humana mens) und dem unendlichen Spiegel (das Dei verbum) seine Teilhabelehre des Menschen am Absoluten. Diese Lehre scheint ipso facto im Gleichgewicht zwischen dem Extrem des ‚substantiellen Monismus‘ auf der einen Seite, in dem man die Möglichkeit verlieren kann, das Subjekt vom Objekt des mystischen und unmittelbaren Gottesanschauens zu unterscheiden, und dem Extrem des ‚strengen Dualismus‘ auf der anderen Seite zu stehen, der auf der theologischen Ebene die wichtige Erörterung der wunderbaren und übernatürlichen Transfiguration von dem, der ‚mystisch anschaut‘, in das Objekt seiner liebreichen und intellektuellen Betrachtung verunmöglichte. Die dreifache Gliederung, die sich im Spiel der sich gegenseitig reflektierenden hypostatischen Bilder geöffnet hat – die ‚spekulative Struktur‘, die aus der dreifältigen Beziehung des Menschen zum verbum, des Sohnes Gottes, zum Vater und zum menschlichen intellectus, aber auch von Gott Vater zum verbum und mittels dieses letzten zu dem geschaffenen Geist besteht – führt also in der glatten und homogenen Oberfläche des einzigen göttlichen Spiegels der Wahrheit eine geschichtete und dynamische Dimension ein, in welcher ein wirklich duales und persönliches Verhältnis zwischen Gott und Mensch theoretisch denkbar wird und in welcher außerdem die nicht herabsetzbare Bedeutung der Singularität der einzelnen anschauenden Subjekte bewahrt wird. Eine solche ontologische Beziehung wird kraft der philosophischen Fortsetzung der in der Metapher des Spiegels, in der Perspektivlehre und in der geometrischen Experimente der Optik (die ihrerseits aus einer Lehre des direkten und des reflektierten Schauens besteht) eingeschlossenen hermeneutischen Möglichkeiten nicht streng und fest bestimmt, sondern vielmehr dynamisch, flexibel und beweglich. Infolgedessen sollte man nach Nikolaus an zwei verschiedene Spiegel denken: an den der göttlichen Perfektion und an jenen der menschlichen Unvollkommenheit und Endlichkeit: „Der erste enthält völlig den zweiten in der Koinzidenz von Endlichem und Unendlichem. Der zweite versucht den anderen zu erreichen in der Selbstüberschreitungsanstrengung des Endlichen zum Unendlichen [...]. Das spiegelbildliche Schauen trägt die Lösung des Paradoxes einer nicht definitiven Endlichkeit mit sich. ‚Durch den Spiegel schauen‘ bedeutet für den Menschen zu wissen, dass ein end- und tadelloser Spiegel existiert, und dazu glauben, dass es möglich ist, sich seiner Perfektion zu nähern.“18 Auf dieser Ebene scheint in Cusanus’ Denken das traditionelle Thema des sui cognitio in Bezug auf den Begriff speculum veritatis – der besagt, dass der Mensch sich selbst und alle existierenden Dingen nur kennen kann, wenn er durch den vollkommenen Spiegel des Sohnes Gottes (in dem sich die ganze Realität reflektiert) 17 18
Liber XXIV philosophorum, prop. 1, III 1, 143A. Minazzoli: La premièr ombre, 30.
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direkt und unvermittelt blickt – mit dem theologischen Motiv der dei cognitio zu koinzidieren. Ich kenne also mich selbst in meinem wirklichen und leuchtenden Fundament, weil ich Gott anschaue, dessen reflektierendes Wort das Abbild meines Gesichts widerspiegelt; und umgekehrt kann ich Gott in speculo et in aenigmate kennen, weil mir bewusst ist, dass in meinem tiefsten Grund das göttliche Prinzip widerstrahlt, so dass ich mich als Ebenbild Gottes erkenne. Auf Grund dieser Lehre sagt Nikolaus: Wenn jenes geistbegabte Abbild, das die menschliche Vernunft ist, „sich als lebendiges Bild seines Schöpfers erkennt, so schaut es seinen Schöpfer, indem es auf sich selbst blickt, da es aus der Abbildlichkeit zum Urbild hingerissen wird“19. Dem gemäß, was Gilson „socratisme chrétienne“20 genannt hat (eine Lehre, in der ‚sich selbst wissen‘ und ‚Gott wissen‘ zusammenfallen) heißt es beim Cusaner: „Da die Vernunft ein vernunfthaftes, lebendiges Bild Gottes ist, erkennt sie, wenn sie sich erkennt, alles in sich als der einen. Sich selbst aber erkennt sie dann, wenn sie sich in Gott so betrachtet, wie sie ist. Das ist dann der Fall, wenn Gott in ihr sie selbst ist.“21 Trotzdem kann diese doppelte und gegenseitige Beziehung zwischen Gott und Mensch nur stattfinden, weil Gott mich anschaut, bevor ich mich an ihn wende: „videndo me“, so schreibt Nikolaus, „das te a me videri“22. Gott schaut mich selbst tatsächlich an mit seiner absoluta visio, die mich ins Sein ruft, indem er mir das Verständnisvermögen gibt und mir das Seh- und Reflexionsvermögen als ‚Licht aus dem Licht‘, ‚Blick aus dem Blick‘, als eingeschränkten Spiegel aus dem ersten und unendlichen Spiegel einflößt. In diesem Sinne bedeutet hier der Ausdruck facies sive visus Dei, „unendlicher Blick, der den Gegenblick allererst durch sein Blicken hervorruft“23. Eben deshalb, schreibt Nikolaus, kann die menschliche Seele alles, was sie hat, nur von dem eigenen unendlichen Objekt des Schauens (d. h. von Gott selbst, der mit der absoluta et incontracta visio zusammenfällt) bekommen, „wie der Gesichtssinn von seinem Gegenstand sein lebendiges Sein, nämlich das Sehen, hat, und das Gesehenwerden hier mit dem Sehen zusammenfällt“24. Nikolaus beschreibt diese ‚spekulative Beziehung‘ zwischen verschränktem (die humana mens) und absolutem Spiegel mit Hilfe einer Approximationslehre an Gott, wodurch er den - aus der im reflektierten Spiel der widerspiegelnden Bilder geöffneten Dualität stammenden - Hiatus zu füllen versucht. Nach dieser Lehre ist der geschaffene Geist, eben auf Grund seiner eigenen Endlichkeit, „incapax Se cognoscit vivam sui creatoris imaginem, modo se ipsam respiciens creatorem suum contemplatur, quando ex similitudine in exemplar rapitur. Brief an Nicolò Albergati (5. Juni 1463). In: von Bredow: Cusanus-Texte IV, 5–8. 20 Gilson: Philosophie médiévale, 214–33. 21 Intellectus autem cum sit intellectualis viva dei similitudo, omnia in se uno cognoscit, dum se cognoscit. Tunc autem se cognoscit, quando se in ipso deo uti est intuetur. Hoc autem tunc est, quando deus in ispo ipse. De fil. Dei, c.6, n.86, 5–8. 22 De vis. Dei, c.5, n.15, 5–9. 23 Volkmann-Schluck: Nicolaus Cusanus, 79. 24 Sicut visus habet ab obiecto esse suum vitale, scilicet videre, et coincidit videri cum videre. Sermo Verbum caro factum est, et vocatum est nomen eius Iesus (1. Januar 1454). In: Koch: Cusanus-Texte I/2–5, 4, 1–2. 19
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ex parte sua infinitae concordantia“25 mit Gott. Der menschliche Intellekt, d. h. die lebendige Widerstrahlung der göttlichen Weisheit, welcher seinerseits (wie ein bloßer speculum contractus) in der Lage ist, Bilder der Realität widerzuspiegeln, indem er aus dem Schattenbild hervorging, „kommt der Wahrheit durch eine tiefgreifende Hinwendung des Geistes immer näher, bis dass der lebendige Widerschein, der von Schatten des Bildes kommt, beständig wahrer und der wahren Weisheit gleichgestaltiger wird, auch wenn jene absolute Weise so, wie sie ist, in einem andern niemals erreicht werden kann“26. Obwohl das göttliche Denken und der menschliche Geist von Nikolaus in gleicher Weise als speculum definiert worden sind, bleibt dennoch zwischen diesen komplementären Begriffen eine unendliche und unüberwindbare Differenz. Das sinnliche Änigma des Spiegels ruft die Ursprünglichkeit des unendlichen und unerschöpflichen Selbstergießens Gottes nämlich auf eine approximative Weise ins Gedächtnis zurück. Nach dem gewöhnlichen und alltäglichen Spiegelungsbegriff kann das speculum nur Bilder widerspiegeln, deren Urbild (d. h. die wirkliche Realität oder principia essendi) außerhalb seiner reflektierenden Oberfläche liegt. Der erkenntnistheoretische und ontologische Status des Abbildes (imago) – als Reflex, Schattenbild und verschränkte Figur der Wahrheit – besteht also darin, dass es sich notwendigerweise auf etwas jenseits seiner eigenen Seinsgrenze bezieht. Das Bild ist also Symbol von dem, was man eigentlich im Spiegel überhaupt nicht finden kann: „Alles am Bild ist in der Tat Andersheit. Und doch ist das, was das Bild darstellt, was es im eigentlichen Sinn zum Bild macht, nicht diese Andersheit, sondern ein Früheres, das in und mit der Andersheit seinen Ausdruck findet und als dieser Ausdruck Selbständigkeit gewinnt. Das Bild ist mit sich selbst identisch und damit als Bild wirklich, weil und sofern es das nicht ist, was es darstellt.“27 Das im glatten, glänzenden und tiefenlosen Spiegel widergespiegelte Bild ist also eine bloße Vorstellung einer äußeren und selbständigen Realität, die auf einer höheren Ebene liegt als eine solchermaßen reflektierte Wirklichkeit, die im endlichen Spiegel nur auf scheinbare Weise (d. h. als bloßer Reflex) leben kann. Im reflektierten Bild kann die Realität Nikolaus zufolge „keineswegs so gesehen werden, wie sie ist, denn jedes Bild fällt deshalb, weil es Bild ist, der Wahrheit seines Urbildes gegenüber ab […]. Denn das Urbild ist Maß und Wesenssinn des Abbildes. So strahlt Gott in allen Geschöpfen wider, wie die Wahrheit im Abbild (sicut veritas in imagine)“28. De conc. cath. I,2, n.36, 3. Per vehementem conversionem spiritus ad veritatem plus et plus accedit, quosque viva ipsa relucentia de umbra ymaginis continue verior fiat et conformior verae sapientiae, licet absoluta ipsa sapientia numquam sit, uti est, in alio attingibilis. De pace fidei, c.4, n.13, 3–6. 27 Dupré: Das Bild, 147. 28 Veritas enim in imagine nequamquam, uti est, videri potest; cadit enim omnis imago eo, quia imago, a veritati sui exemplaris [...]; exemplar enim mensura et ratio est imaginis. Sic enim Deus relucet in creaturis sicut veritas in imagine.“ Apol. doctae ign., n.11, 14–24. 25 26
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Wenn also die übliche Metapher speculum geeignet ist, um das reflektierende Denken des Menschen in aenigmate zu beschreiben (in dem Sinn, dass in diesem verschränkten Denken nur Imaginationen der wahren und in der äußerlichen Welt existierenden Dinge notionaliter erhalten sind), ist diese Metapher dagegen höchst unpassend, um das reflektierende Vermögen des göttlichen logos philosophisch zu erfassen. Denn Gottes logos ist das absolute und transzendente Urbild von jeder creaturalis imago (oder geschaffenem Schattenbild), die in der mannigfaltigen Welt der contractio existiert. Der unendliche Spiegel der Wahrheit spiegelt, anders gesagt, nicht Bilder einer Realität wider, die ursprünglich außerhalb seiner selbst wirklich existiert. Wenn Gott das erste Prinzip ist (oder forma formarum), aus dem (kraft einer freien explicatio creativa) die ganze Wirklichkeit hervorgeht, ist es notwendig, dass sich die spekulative Beziehung imago-realitas grundlegend wandelt. Man kann das sinnliche Änigma des Spiegels philosophisch nur mittels einer Umkehrung der Elemente im katoptrischen Verhältnis bewahren, mit denen wir normalerweise das Reflexionsphänomen durchdenken und erklären. Dies geschieht zum Beispiel, wenn wir vor einem Spiegel stehen, der den Widerschein der substantiellen Wirklichkeit reflektiert, die wir zu sein glauben, und wir also meinen, dass wir in der Tat das wahre Urbild sind, sodass im Spiegel nur unser scheinbares Schattenbild gespiegelt wird. Nikolaus lädt uns, ähnlich wie Alice im berühmten Märchen, dessen entscheidende Hauptfigur sie ist29, ein, mit anderen Augen in die Tiefe des Spiegels zu schauen, damit wir den mystischen Sprung zum Absoluten („quasi via momentanei raptus“30) durch diesen Zauberspiegel machen können. Auf der anderen Seite dieser widerspiegelnden Zauberschwelle, die tatsächlich so speculum als auch hostium ist und deren Reflexionsvermögen zunächst nur reproduktiv zu sein schient, offenbart sich das, was vorher „ordinär und kaum interessant war“, als nicht nur umgekehrt, sondern auch „zutiefst verschieden“, soll heißen: als ob das Bild faktisch lebendig wäre und die ganzen reflektierten Dinge wirklicher wären als diejenigen im alten und alltäglichen Zimmer. Es handelt sich um eine ontologische Konversion des Schauens (oder metaphysische Umwandlung), derentwegen die ordinäre Realität ganz verwandelt erscheint: d. h. als eine bloße Kopie (oder Abbild) einer wirklicheren und schöpferisch reflektierenden Welt, von der wir nur widergespiegelte Schein- und Schattenbilder sind (mit Giordano Brunos Worten die umbrae idearum). Wenn ich mich als geistbegabter Spiegel zu dem göttlichen Spiegel der Wahrheit wende, um in diesem die ewige Wahrheit mystisch zu betrachten, sehe ich mein eigenes reflektiertes Bildnis; dieses ist jedoch, statt ein bloß widergespiegeltes Abbild meiner substantiellen und individuellen Entität zu sein, in Wirklichkeit (laut Nikolaus) „sic imago quod veritas“: oder wie er an anderer Stelle in De visione Dei schreibt: „similitudo enim, quae videtur creari a me, est veritas quae creat me“31.
Carroll: Looking-Glass. Apol. doctae ign., n.12, 5. 31 De vis. Dei, c.15, n.66, 4–5. 29 30
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Durch den Spiegelbegriff verwirklicht sich also im Denken von Nikolaus eine radikale Umwandlung (oder transumptio) von einer Sehensweise zu einer anderen – d. h. eine wahre Metamorphose vom ordinären zum mystischen Schauen. Für Nikolaus, wie auch im malerischen Werk von Van der Weyden32 und in der ihm zeitgenössischen flämischen Bildkunst (in welcher der Spiegel oft dazu dient, dass der Beobachter im Gemälde eine jenseitige und transzendente Welt erblickt und entdeckt), ist der Spiegel ein enthüllendes und offenbarendes Objekt, mit dem man sehen kann, was in der malerischen Szene zwar ganz versteckt, in mysteriöser Weise aber auch grundlegend ist: die wahre und lebendige Wirklichkeit, die sich nicht direkt in der gemalten Darstellung zeigt (zum Beispiel die Existenz des Malers selbst). Ich denke hier an das Arnolfini Ehepaar (1434) von Jan Van Eyck (Maastricht? ca. 1390 – Bruges 1441). In diesem Bild, das sicherlich das Modell von Las Meniñas (1656) von Velàzquez gewesen ist, reflektiert ein hinter dem Rücken des Ehepaars an der Wand gehängter Spiegel auch die Figur des Malers, der gleichzeitig immanentes und transzendentes Element der gemalten und durch die Grenze des Bilderrahmens beschränkten Wirklichkeit ist.
Es handelt sich um denselben Rogerius (Tournai ca. 1400 – Bruxelles 1464), von dem Nikolaus in der Prefatio der De visione Dei spricht, also um den Maler eines solchen Bildes omnia videntis, das „quasi omnia circumspiciat“. Dies war ein Detail eines Bildes, das zur Zeit Cusanus, wie er selbst bestätigt, im Gerichtsgebäude von Brüssell zu sehen war: De vis. Dei Pref., n.2, 7. Zwar ist dieses von Rogerius für den Brüsseler Rathausaal gemalte allsehende Bild verloren gegangen: Doch dessen freie Textilkopie (des Jahres 1450) ist auf der rechten Seite eines der Beispiele der die Gerechtigkeit darstellenden Wirkteppiche reproduziert worden, der im Berner Museum noch heute aufbewahrt wird. Vgl. dazu Stock: Icona Dei, 52. 32
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Literaturverzeichnis Alberti, Leon Battista: De pictura (1435). Venedig 1547. Baltrusaitis, Jurgis: Le miroir: révelations, science-fiction e fallacies. Paris 1978. Bredow von, Gerda (Hg.): Cusanus-Texte IV, Briefwechsel des Nikolaus von Kues, dritte Sammlung (Das Vermächtnis des Nikolaus von Kues. Der Brief an Nikolaus Albergati nebst der Predigt in Montoliveto, 1463). Heidelberg 1955. Carroll, Lewis: Through the Looking-Glass, and what Alice found there. London 1872. Dupré, Wilhelm: Das Bild und die Wahrheit. In: Haubst, Rudolf (Hg.): Das Sehen Gottes nach Nikolaus von Kues. MFCG 18. Trier 1989, 125–158. Gilson, Etienne: L’esprit de la philosophie médiévale. Paris 1948. Liber XXIV philosophorum, prop. 1. in: Hudry, F. (Hg.): Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis CXLIIIA, III 1 (Hermes Latinus). Turnhout 1997. Minazzoli, Agnès: La premièr ombre. Réflexion sur le miroir e la pensée. Paris 1990. Stock, Alex: Die Rolle der icona Dei in der Spekulation „De visione Dei“. In: Haubst, Rudolf (Hg.): Das Sehen Gottes nach Nikolaus von Kues. MFCG 18. Trier 1989, 50–62. Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Nicolaus Cusanus. Die Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Frankfurt a. M. 1957. Zanchi, Mauro: Introduzione a Lorenzo Lotto e l’immaginario alchemico. Le „imprese“ nelle tarsie del coro della basilica di S. Maria Maggiore in Bergamo. Bergamo 1982.
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Musik bei Nicolaus Cusanus 1. Musica – die gedanklichen Vorläufer des Cusanus Das Musikverständnis des Mittelalters, das sich aus der musiktheoretischen Literatur der Antike speist und sie selektiv rezipiert, unterscheidet sich grundlegend vom heutigen, welches aus den musikpraktischen Entwicklungen des 14. und 15. Jahrhunderts resultiert. Nicht zufällig beginnt das Aufführungsrepertoire zeitgenössischer klassischer Musik erst bei einer recht späten Phase der Musikgeschichte; dafür kommt zwar als Ursache in erster Linie die Entwicklung der modernen Notenschrift in Frage, daneben hat aber auch die neuzeitliche Musikästhetik ihren Anteil, welche die Klangkunst mit einem Komponisten in Verbindung bringt, der sich künstlerisch und expressiv seinen Hörern mitteilt. Dem steht der antik-mittelalterliche Musikbegriff gegenüber, der in der Musica eine theoretische Wissenschaft sieht und sie dem Fächerkanon der Artistenfakultät zuordnet. Statt eines individuellen Werkverständnisses begegnet hier die Musica als eine sogar metaphysisch fundierte Scientia, deren Forschungsgegenstand die Zahl (nicht der Klang) und deren menschliches Pendant der Musicus (nicht der Komponist oder Interpret) ist, also der Theoretiker, der die Zahlhaftigkeit des Kosmos studiert.1 Im Mittelalter war aufgrund dieses Verständnisses der Musicus dem Cantor (d. i. dem Musik Ausübenden) übergeordnet.2 Die klassische Definition des Musicus findet sich bei Boëthius: „Ein Musicus ist aber derjenige, der mit Hilfe der abwägenden Vernunft die Kunst des Singens nicht durch die Knechtschaft des Werkes sondern durch die Herrschaft der Spekulation aufnimmt.“3 Die in dieser Untersuchung vorgenommene terminologische Unterscheidung zwischen Musica und Musik dient der Kenntlichmachung des jeweiligen Konzeptes (d. h. antikmittelalterlich resp. neuzeitlich). Hermeneutisch ist die wichtige Beobachtung von Eggebrecht: Abendland, 213 zu berücksichtigen: „Im Blick auf die Geschichte der musikalischen Terminologie ist immer wieder zu beobachten, daß die Wörter beibehalten werden, während die Sachen, die sie bezeichnen, sich wandeln. Oder anders ausgedrückt: die Wörter überleben als Wörter das System der Gegenstände und Sichtweisen, dem sie zugehören; ihr Gebrauch wechselt über in ein verändertes oder erneuertes System, wobei ein und dasselbe Wort – zusammen mit der Veränderung der durch dieses Wort bezeichneten Sache – eine verwandelte oder neue Bedeutung gewinnt.“ 2 Eine bekannte Stelle zu dieser Dichotomie findet sich in den Regule rithmice 2,8–10 des Guido von Arezzo (um 992–1050) [= Pesce: Regule ritmice, 330.332]: „Musicorum et cantorum magna est distantia; / isti dicunt, illi sciunt, que componit musica. / Nam qui facit quod non sapit, diffinitur bestia.“ (= „Zwischen Musici und Cantores besteht ein großer Abstand; / letztere reden, erstere wissen, woraus die Musica besteht. / Denn derjenige, der tut, was er nicht versteht, wird als Tier bezeichnet.“). 3 Is vero est musicus, qui ratione perpensa canendi scientiam non servitio operis sed impe1
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Musica als Ars der Zahlenrelationen geht auf Pythagoras zurück, der der Legende nach an einer Schmiede vorbeigegangen und dort anhand der Töne, die Hammer und Amboß jeweils von sich gaben, die Regelhaftigkeit der mathematischen Proportionen entdeckt haben soll, die sich experimentaliter in den Gegenständen äußern. Für die Folgezeit jedoch sollte sich als Untersuchungsobjekt das Monochord als nützlicher erweisen, welches durch Verkürzung der Saite mit den Fingern verschiedene Töne erzeugen kann, die präzise abmeßbar sind und damit sinnenfällig den epistemologischen Vorrang der Proportion vor der gespielten Musik kennzeichnen. In den Zahlenverhältnissen und der Art ihres Zusammenklangs entdeckte Pythagoras das Fundament der Wirklichkeit, das für Mensch und Welt gilt, weil seines Erachtens der gesamte Kosmos eine mathematische Ordnung aufweist, die sich in den Tönen widerspiegelt. Durch seine Entdeckung der Obertonreihe, d. h. des Nexus von Zusammenklang () und einfacher Zahl, konnte er ein Proportionsprinzip formulieren, das sich von den dissonanten Zusammenklängen und ihren komplexeren Zahlenrelationen unterscheidet und in seiner Simplizität den Grundbaustein allen Seins darstellt. Dieses harmonische Proportionsprinzip erkannte Pythagoras in der Tetraktys, die aus den ersten vier natürlichen Zahlen besteht (4:3:2:1).4 Für die Musica selbst bedeutete dies (und das wird zum Konfliktpunkt zur Zeit des Cusanus!), dass einzig die Proportionen 2:1 (= Oktave), 3:2 (= Quinte) und 4:3 (= Quarte) symphonisch sind, während alle weiteren Proportionen, die sich aus höheren natürlichen Zahlen konstituieren und damit nicht zur Tetraktys gehören, nicht zusammenklingen. Da sich natürlich aus diesen drei Intervallen keine Melodie erstellen läßt, wird auch hier deutlich, dass das Erkenntnisinteresse der antiken Musica – zumindest in der pythagoreischen Tradition – ein ontologisches ist. In der europäischen Rezeptionsgeschichte war in erster Linie der spätantike Philosoph Boëthius für die Tradierung der Musica ins Mittelalter entscheidend. Sein genuiner Beitrag kann vor allem in dem christlichen Deutehorizont erblickt werden, den er der vorchristlichen Auffassung der Musica verlieh; diese Leistung teilt er sich geistesgeschichtlich mit Cassiodor.5 Nach Boëthius deutet die Erkenntnis des Weltordo, der sich in den Zahlenproportionen manifestiert, auf die Schöpfung des Kosmos durch Gott hin, der sich der Musica und anderer Wissenschaften beim Schöpfungsakt bediente (so seine Interpretation von Sap 11,20).6 rio speculationis adsumpsit. Mus. 1,34 (= Marzi: Severini Boethii, 136). An dieser Stelle vergleicht Boëthius den Musicus bezeichnenderweise mit einem Feldherrn und einem Architekten; letzteres gewinnt an Relevanz bei der Metapher Gottes als Welterbauer. 4 Die Summe der Tetraktys-Zahlen, die Zahl 10 (= Dekas) galt als Endpunkt der Zahlenreihe und hatte eine eigene Bedeutung in der Zahlenspekulation der Pythagoreer, cf. Münxelhaus: Pythagoras musicus, 187; Lütteken: Zahlensymbolik, 2130. 5 Zu Cassiodor cf. Hirtler: scientia mathematica, 49. 6 Zur Kontinuität zwischen christlichen spätantiken Autoren und ihren philosophischen Vorläufern, gerade beim Proportionsbegriff, konstatiert Walter: proportio, 74 völlig richtig: „Aber auch – oder gerade – in dieser christlichen Umdeutung war der Begriff der proportio ästhetisch insofern nicht instrumentalisierbar, als er immer noch ein gesetzmäßiges Prinzip des Erkennens und nicht des Gestaltens darstellte.“ Zum Paradigmenwechsel in der frühen
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Auf seine Unterscheidung dreier Teildisziplinen innerhalb der Musica wird weiter unten eingegangen werden. Neben Boëthius hat ein zweiter spätantiker Autor einen enormen Beitrag für die Weiterführung der Musikauffassung der Spätantike geleistet, nämlich Martianus Capella.7 Sein Werk, das in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts entstanden ist,8 liegt schon in der Spätphase der antiken Geschichte der Schuldisziplinen und versucht sie zusammenzufassen;9 nach Ramelli IX ergibt sich die Bedeutung von „De nuptiis Philologiae et Mercurii“ des Martianus Capella in ihrer „rilevanza […] come summa del sapere classico consegnata all’età medioevale e moderna“. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erfüllt der Autor dieselbe enzyklopädische Funktion10 der Konservierung des antiken Erbes für die nachfolgenden Generationen wie Isidor von Sevilla mit seinen Etymologiae; und tatsächlich wurden beide im Mittelalter als Standardwerke des Wissens rezipiert.11 Die Kombination der beiden Autoritäten Boëthius und Martianus Capella im Mittelalter führte zu folgendem Musikverständnis: Die Musica zählt innerhalb der mittelalterlichen Universität zum Fächerkanon der Septem artes liberales, die aus der Antike überkommen sind.12 Nach boëthianischer Systematisierung wird dieser „Wissenschaftsverband“13 in zwei Gruppen unterteilt: Den drei übergeordneten, sprachlichen Scientiae der Dialektik, Rhetorik und Logik (das sogenannte Trivium) unterstehen die vier quadrivialen Künste, die eine zahlhaft-mathemaNeuzeit, cf. Kap. 3 dieses Aufsatzes. 7 Er war wahrscheinlich ein neuplatonisch geprägter Heide (cf. Ramelli: Marziano Capella, VII) mit einigen stoischen Einflüssen (cf. Ramelli: Marziano Capella, XCIII); Grebe: Martianus Capella, 22 schließt jedoch nicht aus, dass er Christ gewesen sein könnte, allerdings läßt sich aus seinem Werk nichts Eindeutiges zu dieser Frage feststellen. Sein Herkunftsort war Karthago. 8 Grebe: Martianus Capella, 20 f. nimmt an, dass das Werk unter dem Wandalenherrscher Thrasamund (496–523) in Karthago geschrieben wurde, Ramelli: Marziano Capella, VII gibt als Terminus post quem das Jahr 534 an. 9 Die Disziplin der Musica findet sich in De nuptiis Philologiae et Mercurii 9,899–995. Er schöpft vor allem aus der Musiklehre des Aristides Quintilianus (3. Jh.), cf. Grebe: Martianus Capella, 618f. 10 Damit verfolgt Martianus Capella ein betont spekulativ-wissenschaftliches Interesse; eine praktische Wissensvermittlung liegt ihm eher fern, cf. Ramelli: Marziano Capella, XXXV. 11 Dies beweist für das Frühmittelalter schon die Quantität der Handschriften seines Werkes, die aus der Karolingischen Reformperiode stammen, cf. Ramelli; Marziano Capella, 1016. Der bedeutendste Kenner des Martianus Capella war in dieser Zeit Johannes Scotus Eriugena, der das Corpus Areopagitum ins Lateinische übersetzte. Er hat einen wichtigen Kommentar zu De nuptiis Philologiae et Mercurii verfaßt; zu seinem Musikverständnis, cf. Niemöller: Eriugena. – Einen weiteren Schub erlangte die Rezeption des Neuplatonikers Martianus Capella dann im Hochmittelalter in der Schule von Chartres, cf. Ramelli 1064 f. – Dass Boëthius im Mittelalter als Standardlektüre galt, erweist sich allein schon aus dem Gebrauch seiner De institutione musica als Lehrbuch an der Pariser Artistenfakultät im 13. Jahrhundert, cf. Hirtler: scientia mathematica, 49. 12 Eine gute Zusammenfassung der Freien Künste in der Antike gibt Grebe: Martianus Capella, 37–49. 13 Münxelhaus: Pythagoras musicus, 212.
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tische Methodik besitzen. Das pädagogische Programm der Freien Künste setzt beim Quadrivium an. Der Schüler schreitet während seines Lernprozesses voran, bis er sich nach erfolgreicher Examinierung des Quadriviums an das Trivium heranwagen darf (in der mittelalterlichen Universität folgt dem Trivium ein zweiter Kanon, in dem die Theologie als Königsdisziplin die Spitze bildet).14 Innerhalb der quadrivialen Künste selbst wurde später weiter unterteilt in zwei rein abstrakte Künste (Geometrie, Arithmetik) und zwei subalterne Wissenschaften, die Scientiae mediae hießen (Astronomie, Musica).15 Als „mittlere“ Disziplinen werden sie bezeichnet, weil sie einerseits ihre Axiome (thomanisch: Principia) aus der jeweils höheren Wissenschaft entleihen müssen, da sie diese nicht innerhalb des eigenen Faches herleiten können (d. h. die Astronomie gebraucht Erkenntnisse der Geometrie und die Musica diejenigen der Arithmetik); andererseits sind diese Scientiae mediae Anwendungswissenschaften, die nach heutigem Verständnis den empirisch-physikalischen Wirklichkeitsbereich mit Hilfe der mathematischen Axiome untersuchen. Für die Musica bedeutet dies genauerhin, dass ihr zentraler Untersuchungsgegenstand die Proportion ist, die sich in der Welt als Ordo, d.h. als geordneter Kosmos, widerspiegelt. Boëthius spricht von der Musica als einer „Scientia de numero relato“ und unterstreicht hiermit das Verständnis der Proportion, welche in Antike und Mittelalter in der Musica keine ästhetisch-künstlerische, sondern eine im strengen Sinn epistemologische Kategorie ist. Weil die Musica innerhalb der empirischen Realität die Zahlenverhältnisse zum Gegenstand hat, lassen sich (in der Terminologie des Boëthius) prinzipiell drei Untersuchungsbereiche unterschieden:16 a) Die Musica instrumentalis untersucht experimentell (cf. das lateinische Wort instrumentum) die Zahlenproportionen, die sich akustisch äußern und als Streckenverhältnisse messen lassen. Das klassische Instrument hierfür war – wie bereits erwähnt – das Monochord. Unter der Musica instrumentalis wurde daher nicht die gesungene oder gespielte Musik verstanden, die die Signatur der Vergänglichkeit in sich trägt und nach dem Verklingen nicht mehr existiert,17 sondern es wurden die ewigen Prinzipien der Weltordnung zu erfassen gesucht.18
Diese propädeutische Stellung der Mathematik gilt für die Schulausbildung der gesamten Antike und des Mittelalters; so kann Schrade: Music, 190 zusammenfassend formulieren: „[…] to acquire a knowledge of mathematics is necessity of the first order. The goal of study, the end of education, is always philosophy; but the only path to it leads through mathematics.“ 15 Hierzu cf. Hirtler: scientia mathematica, 84. Der Begriff der Scientia media ist thomanisch, cf. Expositio libri posteriorum tom. I* 2, lib. 1,41 (87a33). 16 De institutione musica 1,2 (= Marzi: Severini Boethii, 99–101). 17 Cf. Gülke: Komponieren, 190. 18 Cf. Pietzsch: Klassifikation, 42: „Diese [die Musica instrumentalis; PB] ist nicht die ursprüngliche Musikart, von der aus man, nachdem einmal ihre auf Zahlenverhältnissen beruhende Gesetzlichkeit erkannt worden war, ,Analogien für die schwer zu bestimmenden Bewegungen der Sterne aufzusuchen‘ bemüht war, sondern im Gegenteil, sie ist ein Abbild, eine ,imitatio‘ der ,musica mundana‘.“ 14
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b) Auch beim Menschen sind Proportionen vorhanden; das genaue Verständnis der Musica humana schwankt jedoch bei den verschieden Autoren: Es gibt Ansätze, die die Relationen zwischen Körper und Seele untersuchen möchten; andere Autoren interessiert in erster Linie der Mensch als Vernunftwesen19 – hierbei herrscht ein ausgeprägt ethisches Verständnis (Tugenden und Laster) vor; oder aber die Proportionen des Körpers sind ausschlaggebend.20 Philosophisch steht hinter der Musica humana die Auffassung, dass der Mensch gewissermaßen ein Mikrokosmos ist, der als „Miniaturwelt“ den Kosmos in sich abbildet und/oder als Gottes Ebenbild auf den Schöpfer hinweist, welcher ihn und die Welt unter Heranziehung der Proportionen geschaffen hat. c) Der dritte klassische Bereich ist nun die Musica mundana, wie schon aus den beiden anderen Musicae hervorgegangen sein dürfte. Das wohl wichtigste Element der Musica mundana war in der Antike die Sphärenharmonie bei den Planeten und Gestirnen, die nach Pythagoras einen für den Menschen nicht vernehmbaren Klang von sich geben, welcher aber aufgrund astronomischer Beobachtungen meßbar und damit abstrakt rekonstruierbar ist.21 Diese Vorstellung von der kosmischen Musik wirkte in der Neuzeit bis hin zu Kepler nach, der den letzten Versuch gewagt hatte, eine Sphärenmusik zu postulieren und zu berechnen. Ein vierter Bereich kam noch durch die Christianisierung des Musicaverständnisses hinzu, nämlich die sogenannte Musica caelestis, die den Rahmen des boëthianischen Konzeptes sprengt. Der Lobpreis Gottes durch die himmlischen Wesen, eine ursprünglich alttestamentliche Vorstellung, wurde später im Judenund Christentum in Mystik und Liturgie breit rezipiert. Auch hier gibt es eine Analogiesetzung wie zwischen Musica mundana und humana, da sich die himmlische Liturgie in der irdischen widerspiegelt, jedoch nunmehr ohne Bezug zur pythagoreischen Bedeutung der Zahl als Tertium comparationis. Dieses bisher beschriebene Konzept von Musica galt bis zum Ende des Mittelalters als zentral und hatte darüber hinaus seine Bedeutung.22 Allerdings begann mit der frühen Neuzeit (obwohl bei der frühen Polyphonie selbstverständlich Vorläufer nachzuzeichnen wären) eine Umwandlung des Musikverständnisses, die die bisher hintangestellte praktisch-künstlerische Dimension der Musikausübung So zum Beispiel bei Johannes Scotus Eriugena (9. Jh.); zu seinem Musikverständnis s. Handschin: Musikanschauung. 20 Cf. Boëthius: De institutione musica 1,2 (= Marzi: Severini Boethii, 99–101). 21 Einschlägige Stellen für die Sphärenmusik sind: Censorinus, De die natali 10; Cicero: Resp. 6,9–29 (= das Somnium Scipionis); Macrobius, Comm. Somn. Scipionis 2,1,8; Boëthius: De institutione musica 1,10f. (= Marzi: Severini Boethii, 108–110); Gaudentius, Harmonica introductio 11; Isidor, Etym. 3,16,1; Martianus Capella, Nupt. 9,921 u. a.; negativ äußerten sich Ptolemaios, Harmonica 1,8; Aristides Quintilianus, Mus. 3,1; mit der Aristoteles-Rezeption in der Philosophie ab dem 13. und 14. Jahrhundert wird die Sphärenharmonie obsolet, cf. Münxelhaus: Pythagoras musicus, 211. 22 Eine detaillierte Deskription der Musica in Antike und Mittelalter liefert Mathiesen: Apollo`s Lyre. Hier kann freilich nur auf die Grundlinien und -ideen der doch recht komplexen Geschichte dieser Disziplin eingegangen werden. 19
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akzentuierte und das zahlhaft-spekulative Moment zusehends ersetzte. Nicolaus Cusanus lebte und wirkte inmitten dieser Periode, so dass eine Betrachtung seiner Aussagen zur Musik im Gesamtzusammenhang seiner Philosophie lohnend erscheint. 2. Musik bei Nikolaus von Kues Nicolaus Cusanus hat – im Gegensatz etwa zum Bild – keinen Traktat zur Musik verfasst. Alle relevanten Stellen finden sich im Kontext anderer Fragen, die er behandelt, und dienen in der Regel der Exemplifizierung und Plausibilisierung seiner Argumentation. Nichtsdestoweniger ist Musik bei ihm nicht bloß nebensächlich paraphrasiert, sondern gezielt eingesetzt; dies rechtfertigt die Annahme, dass Cusanus durchaus der Musik eine gewisse Bedeutung beigemessen hat, die zwar nicht so groß wie bei anderen ästhetischen Bereichen sein dürfte, aber eine wissenschaftliche Untersuchung rechtfertigt. Die Thematik soll im Folgenden in Anlehnung an die in Kapitel 1 beschriebene Einteilung der Musicae erfolgen, damit eine Systematisierung der cusanischen Aussagen leichter vorgenommen werden kann, wenn zuvor die Stellen thematisch geordnet sind. Heuristisch wird an dieser Stelle schon vorweggenommen, dass die cusanischen Aussagen zur Musik in erster Linie boëthianisch geprägt sind, während andere Paradigmen in seinem Werk nicht begegnen.23 Die Ergebnisse dieses zweiten Schritts sollen im dritten Kapitel in Korrelation zur musikgeschichtlichen Entwicklung im 15. Jahrhundert gesetzt werden, um das Proprium des Cusaners im Kontext seiner Zeitgenossen herauszuarbeiten. 2.1 Musik in der cusanischen Anthropologie und Psychologie (Musica humana und instrumentalis) Der Cusaner teilt mit der traditionellen Musicaauffassung die eminente Bedeutung der Zahl,24 die er auch im Menschen als einem Mikrokosmos versinnbildlicht Gelegentlich ordnet sich Cusanus selbst der pythagoreisch-platonisch-boëthianischen Traditionslinie zu, z. B. in De mente, c.6, n.95 (= Steiger: Idiota, 48); De ludo, n.109 (= Von Bredow: Dialogus, 126); Sermo CCII, n.3 (= Donati / Mandrella: Sermones, 445). Die Alternative wäre die Unterteilung, die sich bei Martianus Capella, Augustinus und Cassiodor findet und letztlich auf Aristoxenos zurückgeht, nämlich die Gliederung in Musica harmonica, rhythmica und metrica, cf. Hirtler: scientia mathematica, 24. Diese Tradition rezipiert Nikolaus von Kues aber gerade nicht, da sie die Musik als akustisches Phänomen in den Dimensionen des Zusammenklangs und der Zeit betrachtet. Cusanus interessiert sich für die Musica instrumentalis nur insoweit, als sie eine Hinführung zur Metaphysik ist, wie aus den nun folgenden Ausführungen deutlich werden soll. 24 Die zentrale Stellung der Zahl für die Ontologie drückt Cusanus in De docta ign. I, c.1, n.5 (= Wilpert: De docta ignorantia (1964), 13) unmißverständlich aus; man beachte die Verwendung der für die Musica zentralen Termini Ordo, Proportio und Harmonia: 23
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sieht.25 Die Proportionen im Menschen werden in seinem Werk trichotomisch grundgelegt, wenn die Harmonie zwischen Körper,26 Seele und Geist sowie die Harmonie innerhalb jeder dieser Dimensionen des Menschen betrachtet wird.27 Auch zwischenmenschliche Verhältnisse wie Sympathie oder Abneigung werden bei Nikolaus von Kues als eine Form von Harmonie verstanden, die sich zwischen Menschen einstellt.28 Neben dieser überkommenen Deutung übernimmt er jedoch auch ein aristotelisches Moment, das den Sinneseindrücken Beachtung schenkt, statt die Musica allein spekulativ zu entfalten. Denn für Cusanus besitzt der Gehörsinn im Bereich der Musik eine eigene Bedeutung. Er ist dem Gesichtssinn untergeordnet, weil die Augen präziser sind als das Ohr, was sich leicht durch die Empirie bestätigen läßt29 (hier dürfte auch der Grund der cusanischen Priorisierung der bildenden Kunst zu suchen sein). Aber trotz dieser Anerkennung und Würdigung der menschlichen Wahrnehmung bleiben die Ergebnisse des Denkens ausschlaggebend, oder anders
[…] sine numero pluralitas entium esse nequit. Sublato enim numero cessant rerum discretio, ordo, proportio, harmonia atque ipsa entium pluralitas. […] vermag ohne die Zahl die Vielheit der seienden Dinge nicht zu bestehen. Denn wenn die Zahl aufgehoben wäre, verschwände die Unterscheidung der Dinge, die Ordnung, Proportion, Harmonie und die Vielheit der seienden Dinge selbst. 25 Cf. De docta ign. I, c.5, n.13 (= Senger: De docta ignorantia, 20); De ven. sap. c.20, n.58 (= Wilpert: De venatione sapientiae, 84); c.32, n.97-100 (= Wilpert: De venatione sapientiae, 144.146); De ludo, n.40.42 (= Von Bredow: Dialogus, 42.44); bei Cusanus drückt sich diese alte Vorstellung wie folgt aus (De coni. II, c.144 = Koch / Happ: De coniecturis, 170): Homo enim deus est, sed non absolute, quoniam homo; humanus est igitur deus. Homo etiam mundus est, sed non contracte omnia, quoniam homo. Est igitur homo microcosmos aut humanus quidem mundus. Regio igitur ipsa humanitatis deum atque universum mundum humanali sua potentia ambit. Der Mensch ist nämlich Gott, aber nicht schlechthin, denn er ist Mensch; er ist also ein menschlicher Gott. Der Mensch ist auch Welt, aber nicht eingeschränkt alles, denn er ist Mensch. Also ist der Mensch ein Mikrokosmos oder eben eine menschliche Welt. Der Bereich der Menschlichkeit selbst also umfaßt Gott und die ganze Welt in seiner menschlichen Möglichkeit. 26 Auch der menschliche Körper ist nach Nikolaus von Kues harmonisch aufgebaut, cf. De docta ign. I, c.3, n.10 (= Senger: De docta ignorantia, 14); De ven. sap., c.32, n.95 (= Wilpert: De venatione sapientiae, 138.140). 27 Cf. Sermo CCII, n.2 f. (= Donati / Mandrella: Sermones, 445); cf. De ven. sap., c.20, n.56-58 (= Wilpert: De venatione sapientiae, 82.84): Zuerst lehnt sich der Cusaner an die ethische Interpretation an, indem er die menschlichen Tugenden als Harmonie des Geistes bezeichnet, während ein lasterhafter Charakter demnach disharmonisch ist. Im zweiten Abschnitt geht er dann auf die trichotomische Harmonie aus Körper, Seele und Geist ein. 28 Cf. De stat. exper. n.193 (= Dupré / Dupré: Schriften (1967), 644 = Wilpert: De docta ignorantia (1967), 289). 29 Cf. De coni. II, c.14, n.141 (= Koch / Happ: De coniecturis, 166.168); auch bei Boëthius, De institutione musica 1,9 (= Marzi: Severini Boethii, 107f.) findet sich eine solche Aussage.
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gesagt: Die Sensualität wird als experientieller Bereich von ihm akzeptiert,30 ist aber im Sinne der Musica instrumentalis abhängig von einer Explikation, die nur durch den Geist erfolgen kann, der sich des Gehörs (und im Fall der Abmessung, z. B. von Saitenlängen, des Sehens) werkzeughaft bedient.31 Er folgt also in der Erkenntnislehre dem Musicabegriff und vermischt ihn nicht mit der Musik als Kunst im neuzeitlichen Verständnishorizont. An einer anderen Stelle wird die Erfassung der Welt im Modus der zahlhaften Wissenschaften des Quadriviums aufgenommen und direkt auf die Mens bezogen.32 Der Cusaner meint, dass das Quadrivium gewissermaßen die Explikation des der Mens inhärenten Weltzuganges darstellt33 und ein proportionales Verhältnis zwischen dem menschlichen Denkvermögen und der Ordostruktur der Welt besteht.34 Wie nun aber die Welt eine zahlhaft verstandene Harmonie aufweist, so ist die Harmonie zugleich das Prinzip der Wahrnehmung und Erfassung der
Eine naturwissenschaftliche Beschäftigung mit akustischen Phänomenen findet sich gelegentlich auch beim Cusaner, cf. De stat. exper., n.192 (= Dupré / Dupré: Schriften (1967), 642 = Wilpert: De docta ignorantia (1967), 289). Das Monochord als das klassische Instrument der Musica erkennt er an, cf. De ludo, p I, l.1, n.2 (= Von Bredow: Dialogus, 2); Sermo CCII, n.3 (= Donati / Mandrella: Sermones, 445). 31 Der Schritt vom Hören zum Erkennen der Einheit der Harmonie und Schönheit ist besonders deutlich in De coni., c.6, n.105 (= Koch / Happ: De coniecturis, 122) ausgedrückt; cf. auch De ludo, p I, l.2, n.90 (= Von Bredow: Dialogus, 102.104). 32 Die Bedeutung der Zahl nicht nur für die Ontologie, sondern insbesondere für die Epistemologie zeigt folgende Stelle aus De mente, c.6, n.95 (= Steiger: Idiota, 50): Pariformiter dico exemplar conceptionum nostrae mentis numerum esse. Sine numero enim nihil facere potest; neque assimilatio neque notio neque discretio neque mensuratio fieret numero non existente. Res enim non possunt aliae et aliae et discretae sine numero intelligi. Entsprechend sage ich, dass das Urbild der Vorstellungen unserer Mens die Zahl ist. Denn ohne die Zahl kann sie nichts tun; weder Angleichung noch Verstehen noch Unterscheidung noch Messung gäbe es ohne die Existenz der Zahl. Denn die Dinge können ohne die Zahl nicht als andere und unterschiedene erkannt werden. 33 Hierzu cf. De mente, c.10, n.172 (= Steiger: Idiota, 86). 34 Cf. De mente p.6, n.95 (= Steiger: Idiota, 50), hier wird die göttliche Mens in Beziehung zur Immanenz gesetzt: Unde cum numerus sit modus intelligendi, nihil sine eo intelligi potest. Numerus enim nostrae mentis cum sit imago numeri divini, qui est rerum exemplar, est exemplar notionum. Weil also die Zahl die Weise des Erkennens ist, kann nichts ohne sie erkannt werden. Weil die Zahl unserer Mens nämlich das Bild der göttlichen Zahl ist, die das Urbild der Dinge ist, ist sie das Urbild der Begriffe. – Im darauffolgenden c.7 (= Steiger: Idiota, 54) präzisiert dies der Cusaner dahin gehend, dass die Mens insofern auch eine göttliche Zahl ist, als sie eine Widerspiegelung der göttlichen Harmonie ist und damit an ihr partizipiert, ohne jemals ganz an sie heranreichen zu können. Dies hat die Mens in analoger Weise mit der Ordostruktur der Welt gemeinsam, die ebenfalls an dem göttlichen Schöpfer-Musicus, der sie mit Hilfe der Zahl geschaffen hatte, partizipiert. 30
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Wirklichkeit.35 Damit schließt sich Cusanus der antiken Annahme einer Kongruenz bzw. Adäquation zwischen dem Objekt der Erkenntnis und dessen Rezipienten auf seiten des menschlichen Verstandes an. Für ihn folgt aus dieser in der Mens potentiell angelegten „Kraft“ zum Verstehen der Wirklichkeit, dass die Seele ontologisch unvergänglich sein muß, weil sie in der Lage ist, diese mathematischen Künste anzuwenden, und somit an ihrer ewiger Gültigkeit partizipiert.36 2.2 Musik in der cusanischen Metaphysik (Musica mundana) Das Entsprechungsverhältnis zwischen Mens und Welt37 in bezug auf die zahlhafte Harmonie findet sich nun auf anderer Ebene wieder: Die harmonisch strukturierte Immanenz spiegelt in ihrer Gebrochenheit und faktischen Unschärfe die Idee der Zahl wider, die sich aber selbst niemals in der Welt finden läßt und somit als Abstraktion bzw. Idee transzendent ist. Die Idee der Zahl wird bei Cusanus im platonischen Sinn als real (sogar gegenüber der Immanenz realer) gedacht.38 Sie ist insofern seiend, als die Proportionen im Bereich der Immanenz an dieser Idee partizipieren und von ihr her ihren ontologischen Ursprung nehmen. Als existente Idee muß sie folglich transzendent sein, als Ursprung der vorfindlichen harmonischen Relationen transzendental (um mit späterer Terminologie zu sprechen). Von den harmonischen Proportionen in der Immanenz aus kann epistemologisch auf die Idee der Zahl geschlossen werden, von der diese Zahlenverhältnisse alle herrühren müssen. Die Idee der Zahl ist nun aber als vollkommene Harmonie gedacht, die die verschiedenen Proportionen via complicationis in sich faßt und sich in der Immanenz ausdifferenziert. Mit anderen Worten: Alle Zahlenproportionen, aus denen sich die Ordostruktur der Welt zusammensetzt, finden ihr Einheitsmoment in der Idee der Zahl, welcher sie allesamt entstammen und mit deren Hilfe Gott die Welt „nach Zahl, Gewicht und Maß“ (Sap 11,20)39 und insofern unter Zuhilfenahme des Quadriviums schuf:40 Cf. De docta ign. I, c.2, n.13 (= Wilpert: De docta ignorantia (1967), 108). Cf. De docta ign. I, c.2, n.1 (= Wilpert: De docta ignorantia (1967), 6.8) und De ludo, p I, c.2, n.93 (= Von Bredow: Dialogus, 106). In Sermo CII, n.2–4 (= Donati / Mandrella: Sermones, 445f.) wird die menschliche Seele in diesem Sinne als ein „vivus numerus“ bezeichnet. 37 Hierzu cf. De quaer. n.18 (= Dupré / Dupré: Schriften (1966), 570). 38 Cf. das interessante Experiment des Laien mit dem Glas in De mente, h V, c.13 (= Steiger: Idiota, 114): Nachdem das Glas auf Antrieb des Laien den Ton erklingen ließ, auf den es gestimmt war, zerbricht es. Unter der Annahme, dass die Kraft, die dies vollführte, weiterbesteht, hätte man ein rechtes Verständnis davon, dass die Kraft, welche die Welt zahlhaft-harmonisch erschaffen hatte, unabhängig vom Sein der Dinge existiert. 39 Cf. De stat. exper. n.162 (= Dupré / Dupré: Schriften (1967), 612 = Wilpert: De docta ignorantia (1967), 278). 40 Cf. De docta ign. I, c.2, n.13 (= Wilpert: De docta ignorantia (1967), 108). An derselben Stelle (= Wilpert: De docta ignorantia (1967), 110) interpretiert Nikolaus von Kues die Trias aus der Sapientia Salomonis und kommt zu der Schlußfolgerung, dass sich die Zahl auf die Arithmetik, das Gewicht auf die Musica und das Maß auf die Geometrie bezie35 36
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„Die ewige Mens handelt nämlich gleichsam wie ein Musicus, der seine Vorstellung wahrnehmbar machen will. Er nimmt nämlich die Vielheit der Stimmen und bringt jene in eine Proportion, welche mit der Harmonie übereinstimmt, so dass in jener Proportion die Harmonie süß und vollkommen widerscheint […].“41 Diese Abbildhaftigkeit der Proportionen bleibt – wie schon angedeutet – nach Cusanus lediglich eine „Widerspiegelung“, die imperfekt und nur approximativ an die Idee der Zahl heranreicht;42 damit gehören die Proportionen zu den cusanischen Konjekturen. Die vier Disziplinen des Quadriviums, welche in der Zahl ihr gemeinsames Fundament haben und die Struktur der Welt nachvollziehen, sind im menschlichen Geist als „Kraft“ angelegt (s. 2.1.); ihre Vierzahl, die sich aufgrund der Differenz der Untersuchungsgegenstände ergibt, existiert nach Cusanus lediglich im Bereich der Immanenz: Denn so wie die Idee der Zahl das Einheitsprinzip der Proportionen im Kosmos bildet, so fällt die Ausdifferenzierung in vier Scientiae in der Transzendenz zusammen (Coincidentia oppositorum). Aber auch innerhalb der Musica läßt sich nach Nikolaus von Kues die Coincidentia oppositorum beobachten. Das folgende Beispiel kann in seiner mystagogischen Annäherung an das Verständnis von Transzendenz, das eines der zentralen Anliegen des Cusaners bildet, als Pendant zur Icona Dei im Bereich der Kunst gesehen werden: Das pythagoreische System ging von einer mathematischen Weltordnung aus,43 die sich im Modus der Proportionenharmonie in der Tetraktys manifestiert, hen. Diese überraschende Interpretation resultiert daraus, dass sich in diesem Kapitel der Beitrag der Musica bei der Erschaffung der Welt auf die Wohlproportioniertheit der vier Elemente bezieht, die immer in einem Gleichgewicht stehen müssen. 41 Agit enim mens aeterna quasi ut musicus, qui suum conceptum vult sensibilem facere. Recipit enim pluritatem vocum et illas redigit in proportionem congruentem harmoniae, ut in illa proportione harmonia dulciter et perfecte resplendeat […] Cf. De beryllo, c.35. n.62 (= Bormann: De beryllo,78); De mente, c.6, n.91-92 (= Steiger: Idiota, 46). Dem göttlichen Musicus, der die Welt harmonisch-musikalisch geschaffen hat, entspricht auf der Seite der Immanenz der Lobpreis dieser Seiner Schöpfung, cf. De ven. sap., c.19, n.54 (= Wilpert: De venatione sapientiae, 78). Dies gilt in besonderer Weise für den Menschen als höchstes Geschöpf (ebd.). Eine ähnliche Stelle findet sich später im selben Kapitel (= Steiger: Idiota, 48): Sic irreprehensibiliter posse dici conicio primum rerum exemplar in animo conditoris numerum esse. Hoc ostendit delectatio et pulchritudo, quae omnibus rebus inest, quae in proportione consistit, proportio vero in numero. Hinc numerus praecipuum vestigium ducens in sapientiam. Folglich mutmaße ich, dass man unwiderlegbar sagen kann, dass die Zahl das erste Urbild der Dinge im Geist des Schöpfers ist. Dies zeigt die Erfreulichkeit und Schönheit, die allen Dingen innewohnt, die aus der Proportion besteht, die Proportion allerdings auf der Zahl. Darum ist die Zahl eine hervorragende Spur, die zur Weisheit führt. 42 Zur Ungenauigkeit aller in der Immanenz vorfindlichen oder experimentaliter erzeugten Proportionen, cf. De docta ign. I, c.2, Prol., n.1 (= Wilpert: De docta ignorantia (1967), 6). 43 Zum Respekt des Cusanus gegenüber den Pythagoreern und der Bedeutung, welche
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d. h. in der Relationskette 4:3:2:1 (s. Kap. 1).44 Cusanus geht nun über Pythagoras hinaus und nimmt als vollkommene Proportion nicht 2:1 (= Oktave) an, sondern radikalisiert die pythagoreische Vorlage, indem er als höchste Zahlenrelation 1:1 (= Einklang) versteht,45 die Proportio in aequalitate:46 „Hier steige hinauf (zur Erkenntnis), auf welche Weise die genaueste (und) größte Harmonie die Proportion in Gleichheit ist, die der lebende Mensch im Fleische nicht hören kann, da sie (sonst) die Vernunft unserer Seele an sich zöge, weil sie die ganze Vernunft ist, genauso wie das unendliche Licht (gegenüber) jedem Licht,47 (und zwar) solchermaßen, dass die von den Sinneswahrnehmungen losgelöste Seele nicht ohne Entrückung die in höchster Weise konkordante Harmonie selbst mit dem Ohr des Verstandes hören würde.“48 Im Einklang verschmelzen zwei Töne gleichsam zu einem, bleiben aber dennoch zwei. Aufgrund des konjekturalen Charakters der immanenten Proportionen kann es aber niemals eine totale Gleichheit zweier Stimmen geben, da sich zwei Instrumente (oder zwei Stimmen) immer hörbar oder wenigstens meßbar unterscheiden werden. Die Vorstellung des Intervalls 1:1 ist also eine Grenzaussage, die der menschliche Geist in Abstrahierung von den ihm bekannten Stimmen approximativ denken, aber nicht reproduzieren kann.49 Auf diesem Niveau der diese der Zahl für das Verständnis der Welt beigemessen haben, cf. De mente, c.6, n.88 (= Steiger: Idiota, 42). 44 Zur Rezeption der Tetraktys beim Cusaner, cf. De mente, c.6, n.89ff (= Steiger: Idiota, 44.46); Sermo CCII, n.3 (= Donati / Mandrella: Sermones, 445). 45 Zur Einheit als Beginn des Universums, cf. schon Aristides Quintilianus: Mus. 3,6; Plotin: Enn. 5,8,31. 46 Dass die harmonischen Intervalle in der Tetraktys letztlich eine „composita unitas“ sind (De mente, c.6, n.91 = Steiger: Idiota, 44), deren Einheit in der Zahl besteht, die allen Proportionen zugrunde liegt, setzt Cusanus voraus. Insofern ist die Proportion 1:1 als die Reinform der Zahlenverhältnisse zu verstehen, deren Einheit nicht nur darin besteht, dass die Zahl die Proportion generiert, sondern die Eins mit sich selbst in Relation gesetzt wird. – Das Prädikat Aequalitas kommt nach Cusanus Gott allein zu, cf. De docta ign. I, c.2, Prol., n.1 (= Wilpert: De docta ignorantia (1967), 4). 47 Für das cusanische Verständnis der Einheit (und ihres Zusammenhangs mit Gott), auf welche hier angespielt wird, muß zum Vergleich die Parallelstelle in De docta ign. I, c.5, n.14 (= Wilpert: De docta ignorantia (1964), 22) herangezogen werden: Sed est [unitas; PB] principium omnis numeri quia minimum. Est finis omnis numeri quia maximum. Est igitur unitas absoluta, cui nihil opponitur, ipsa absoluta maximitas, quae est deus benedictus. [Die Einheit; PB] ist vielmehr das Prinzip jeder Zahl, weil das Kleinste. Sie ist die Grenze jeder Zahl, weil das Größte. Die absolute Einheit, der gegenüber es keinen Gegensatz gibt, ist auch die absolute Größe selbst, welche der gepriesene Gott ist. 48 Ascende hic quomodo praecisissima maxima harmonia est proportio in aequalitate, quam vivus homo audire non potest in carne, quoniam ad se attraheret rationem animae nostrae, cum sit omnis ratio, sicut lux infinita omnem lucem, ita quod anima a sensibilibus absoluta sine raptu ipsam supreme concordantem harmoniam aure intellectus non audiret. De docta ign. II, c.1, n.92 (=Wilpert: De docta ignorantia (1967), 6). 49 Eine Parallele zur Proportion 1:1 findet sich bei Nikolaus von Kues in den geometrischen
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Abstraktion kann sich nach Cusanus nun der Mensch der Transzendenz gedanklich annähern, denn im Einklang zweier Stimmen gibt es sowohl das Moment der Verschiedenheit (= Aliud), weil es sich um zwei Stimmen handeln muß, als auch das Moment der Einheit (= Non aliud), weil die beiden Stimmen ununterscheidbar geworden sind und denselben Ton wiedergeben. Zugleich erreicht die Betrachtung der Proportion 1:1 ihre ganze Radikalität, wenn berücksichtigt wird, dass man nach der traditionellen Auffassung der harmonischen Intervalle den Einklang strenggenommen gar nicht als Proportion charakterisieren kann (dies gilt auch für die moderne Mathematik!)50: Nach Boëthius etwa ist der Untersuchungsgegenstand der Musica, die Proportion, als „Numerus relatus“ definiert; in der „Relation“ 1:1 gibt es jedoch keine wirkliche Relation, da beide Zahlen (1:1) letztlich dieselbe Zahl sind, die mit sich selbst ins Verhältnis gesetzt wird. Dadurch wird aber der Relationsbegriff, der von zwei Zahlen ausgeht, die sich zueinander verhalten, eigentlich ad absurdum geführt – oder cusanisch gesprochen: zur Coincidentia oppositorum, die man nicht ohne eine „Entrückung“ aus unseren Verstandesgrenzen erfassen kann. 2.3 Musik in der cusanischen Theologie (Musica caelestis) Außerhalb des spekulativen Beschäftigung mit Musik spielt diese bei Cusanus eine nur marginale Rolle. Auf dem Gebiet der Theologie und präziser der Liturgie, d. h. der im Mittelalter zur boëthianischen Dreiteilung hinzugefügten Musica caelestis, äußert sich Nikolaus von Kues nur vage und gibt keinerlei Vorstellung von der Musik im Himmel.51 Er trifft in erster Linie eine Grenzaussage und betont, dass die philosophischen Aussagen zur Musica in bezug auf die Transzendenz ihre Geltung verlieren, da jenseits der Immanenz das Prinzip der Harmonie durch wohlgeordnete Proportionen vollkommen transzendiert ist, so dass jede denkerische Annäherung an das, was Musik bei Gott sein könnte, unter dem Vorbehalt einer je größeren Unähnlichkeit steht;52 der Cusaner urteilt sogar pejorativ, wenn er der Schönheit der hiesigen Musik in der Metapher des Hofstaates Gottes einzig den Ort eines Auswurfs auf dem Boden zuweist:
Denkoperationen mit dem Dreieck in De beryllo, c.34, n.58ff (= Bormann: De beryllo, 70.72.74): Bspw. kann durch die Verschiebung der Winkel und Schenkel eines Dreiecks dieses gleichzeitig Dreieck und Linie werden. 50 Diesen Hinweis verdanke ich Stephanie Soppa während der Diskussion meines Vortrages beim Symposium. 51 Bei der Vorstellung der Engel im Himmel lehnt sich Nikolaus von Kues eng an Ps.-Dionysius Areopagita an; als einige der vielen Stellen im cusanischen Werk seien repräsentativ nur De ven. sap., c.31, n.94 (= Wilpert: De venatione sapientiae, 137) und De ludo, p I, c.2, n.77f. (= Von Bredow: Dialogus, 86.88.90) angeführt. 52 Trotzdem besitzt die Musik Zeichen- und Verweischarakter gegenüber der postmortalen Existenz, ohne dass Nikolaus von Kues die je größere Unähnlichkeit jemals leugnet, cf. De docta ign. III, c.10, n.243 (= Senger: De docta ignorantia, 72.74).
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„So sind auch der zusammenklingende Widerhall aller Stimmen und jene süße Harmonie im Reich des Gehörs, aller Instrumente unaussprechliche Vielfalt, jene Melodien der goldenen Orgeln, die Gesänge der Sirenen und Nachtigallen und alle anderen auserlesenen Kostbarkeiten des Königs des Reiches des Gehörs gleichsam Exkremente, die am Boden haften, im Hof des größten und besten Königs der Könige.“53 3. Musik – der Paradigmenwechsel in der Zeit des Cusanus Hat man die musiktheoretischen Aussagen im Werk des Nikolaus von Kues betrachtet, fällt interessanterweise auf, dass er sowohl einige Themen, die in Antike und Mittelalter zur Auseinandersetzung mit Musik gehört haben, ausklammert, als auch die Entwicklungen, die im Spätmittelalter einsetzten54 und in der frühen Neuzeit zum Durchbruch gelangten, vollkommen unterschlägt. Diese sollen nun im folgenden, dritten Abschnitt Berücksichtigung finden, indem zumindest der epochale Wandel im Verständnis von Musik skizziert wird, der seit der Renaissance den Zugang zu ihr prägt und bis heute weithin gültig geblieben ist. Der Paradigmenwechsel mit dem Aufkommen der franko-flämischen Vokalpolyphonie ab etwa 1430 betrifft vor allem die bisherige Musica humana, während die Akustik (Musica instrumentalis) und vor allem die kosmische sowie himmlische Musik weitgehend aus dem Blickfeld geraten. Cusanus behandelt nicht die Frage, inwiefern die Musik als Kunst aufgefaßt werden und somit Ausdruck von Empfindungen sein kann. Dieses expressive Moment wird aber bis zur Kulmination in der Entstehung der Oper ein immer wichtigeres Thema, auch der musiktheoretischen Auseinandersetzung. Dass Musik in der Lage ist, menschliche Empfindungen bzw. Geisteshaltungen wie Freude, Trauer, Pietät oder VerzweifSic quidem vocum omnium concordans resonantia atque dulcis illa harmonia in regno auditus, omnium instrumentorum inenarrabilis varietas, melodiae illae aureorum organorum, sirenici philomenicique cantus et aliae omnes exquisitae divitiae regis regni auditus faeces quaedam sunt pavimento adhaerentes in curia maximi atque optimi regis regum. De quaer. n.28 (= Dupré / Dupré: Schriften (1966), 578). In diesem Abschnitt stellt Cusanus die Schönheit der Sinneswahrnehmungen in metaphorischer Sprache der Schönheit im Reich Gottes gegenüber. Er folgt seiner schon in Kap. 2.1. dargestellten Hierarchie der Sinne und erstellt folgende Gleichnisse: Den Wahrnehmungen des Gesichtssinnes entspricht bei Gott die Bodenstreu, denen des Gehörs Exkremente; diejenigen des Geschmackssinnes werden kaum beachtet, genauso diejenigen des Geruchssinnes und des Tastsinnes. – Bei solchen und ähnlichen Stellen (z. B. De docta ign. I, c.1, n.2) von einer Auseinandersetzung des Cusaners mit der „musikalische[n] Aufführungspraxis“ seiner Zeit zu sprechen (cf. Stammkötter: Nikolaus von Kues, 145f.), geht zu weit und vermittelt einen falschen Eindruck; Probleme der Musikpraxis liegen nicht in seinem Interesse, sondern einzig der Ertrag der akustischen Wahrnehmungen für seinen philosophischen Ansatz. Dass Cusanus hierfür den Klang der Instrumente und der menschlichen Stimme als Beispiel nimmt, liegt in der langen Tradition der Musica instrumentalis begündet und begegnet schon bei Pythagoras. 54 Cf. Hirschmann: Wissenschaftstheorie, 235. 53
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lung auszudrücken, ohne den schlichten Rekurs auf die Klangimitation nehmen zu müssen (wie dies unter dem Begriff Programmmusik subsumiert wird), wird erst in der Renaissance wiederentdeckt und ist bis heute ein Kernthema der Musikästhetik.55 Mit dem Akzent auf der Ausdrucksebene geht auch die Analogie von Musik und Sprache einher, da Musik in Parallele zur sprachlichen Äußerung (besonders in der Dichtung) gesetzt wird; so legt die Musik ihre bisherige Zuordnung zu den vier mathematischen Disziplinen ab und steigt gleichsam ins Trivium auf.56 Diese Ebene der Expressivität von Musik, die das Interieur des Seelenlebens klanglich wiedergeben kann, begegnet beim Cusaner wie gesagt nicht. Auch die Metrik, welche schon in der Antike ein Teilgebiet der Disziplin Musica war, ist kein Gegenstand des Interesses bei Nikolaus von Kues. Doch schon seit der Entwicklung der frühen Mehrstimmigkeit im Mittelalter (z. B. beim sog. Notre Dame-Repertoire im 13. Jahrhundert) gewinnt der Rhythmus eine indispensable Stellung, die sich aufgrund der fundamentalen Bedeutung ergibt, die eine Koordination der Zeit bei mehreren miteinander erklingenden Stimmen erforderlich macht. Diese vertikale Dimension (neben der horizontalen der Tonhöhe) resultiert aus dem Anspruch polyphoner Musik, zugleich eigenständige Einzelstimmen und ein neues Ganzes als Resultat dieser Stimmen zu sein; beides läßt sich nicht durch eine rhythmusfreie Aufeinanderfolge von Tönen erreichen (dies geht nur in einstimmiger Musik, die nicht auf andere Stimmen zu achten braucht), sondern erfordert eine Zeitkoordination, um die Konsonanzen und Dissonanzen gemäß den Regeln der jeweiligen Epoche zu setzen. Weitere Neuerungen wären zu nennen, die ebenfalls im Werk des Cusanus fehlen: Der Humanismus entdeckt wieder den Wert weltlicher Musik neben der geistlichen und erfindet neue musikalische Gattungen. Der Künstler – sowohl der Komponist57 wie der Interpret – wird als Autorität in der Musik etabliert; die ersten großen Namen der Musikgeschichte stammen nicht zufällig aus der Renaissance. Eine hilfreiche Gegenüberstellung der alten und neuen Musikauffassung liefert der Zeitgenosse des Cusaners, Johannes Tinctoris, der 1474 die Ars nova, die seit 1430 geübt wird, der sogenannten Ars antiqua vorzieht: Denn seines Erachtens war bis ins 15. Jahrhundert der Musicus58, d. h. der Musiktheoretiker, Die Musikästhetik post Adorno, v. a. im englischsprachigen Bereich, beschäftigt sich aktuell vornehmlich mit der Frage nach der Expressivität der Musik. Als Einstiegslektüre empfiehlt sich die Arbeit von Rinderle: Theorien. 56 Die Pariser Artistenfakultät im Mittelalter hat hier schon insofern Vorarbeit geleistet, als in ihrer Quaestionensammlung um 1250 die beiden Disziplinen Musica (Quadrivium) und Rhetorik (Trivium) eng zueinander rücken, cf. Hirtler: scientia mathematica, 64f. 57 Im 16. Jahrhundert hat man dann den Komponisten auch musiktheoretisch endgültig legitimiert, cf. Eggebrecht: Abendland, 313: „Musik manifestiert sich als Schöpfung eines Ingenium, als Werk, das in seiner ausgearbeiteten und reproduzierbaren Niederschrift, seiner Abgeschlossenheit und Vollendung den Komponisten überdauert und doch mit seinem Namen rühmlich verbunden bleibt, so dass nun auch die Geschichte der Musik eine Geschichte von Namen und Werken ist, wobei sich die Werke, obwohl geschichtlich gebunden, in nachahmenswerter Vorbildlichkeit zu zeitloser Gültigkeit erheben können.“ 58 Zur Verwendung des Terminus Musicus bei Nikolaus von Kues, cf. De mente, c.6, n.92 55
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die oberste Instanz in der Musik, während mit dem Wandel eine Umkehrung der Verhältnisse einhergeht, so dass jetzt der Musikpraktiker, der Cantor, die Zentralfunktion übernimmt.59 Statt eine Disziplin zu sein, die ewige Prinzipien in der Welt erforscht, wird Musik kontextuell eingebettet, wandelbar und unterliegt dem Wechsel des ästhetischen Geschmacks bei den verschiedenen Generationen. So wird beispielsweise die Quarte, die als Intervall aus der Proportion 4:3 hervorgeht, zu einer kompositionstechnisch verbotenen Dissonanz, obwohl sie im pythagoreischen Schema Teil der Tetraktys ist. Stattdessen gelangen die Terz und ihr Komplementärintervall, die Sexte, in den Kanon der Konsonanzen und werden gegenüber der monoton oder leer klingenden Oktave und Quinte zu den hauptsächlichen Gestaltungsintervallen in der Musik.60 Die Begründung für diesen Wandel in der Harmonielehre wird nicht mehr mit Hilfe der Mathematik geliefert, sondern erfolgt aus rein ästhetisch-sensuellen Gründen: Für das Ohr klingen Terzen und Sexten angenehm, während die Quarte den Renaissancemusikern und –musiktheoretikern zufolge unschön klingt. Da das Ohr aber auch mit verschiedenen Klangformen erfreut werden möchte, gewinnt das Prinzip der Varietas eine eminente Bedeutung (im Gegensatz zur Suche nach den unveränderlichen Zahlenproportionen, nach welchen die Welt erschaffen wurde); nicht zufällig beginnt die Diskussion um die Temperation der Intervalle im 15. Jahrhundert, denn eine einheitliche Stimmung von Instrumenten, die von der natürlichen Obertonreihe abweicht, ergibt nur bei einem ästhetisch-künstlerischen Interesse Sinn.61 Dass diese Dynamik, die der Renaissancemusik eigen ist, in der Philosophie und Theologie des Nikolaus von Kues keinen Raum finden kann, ist nachvollziehbar, da das traditionelle boëthianische Verständnis, das der Musica eine zentrale Funktion bei der Spekulation des Weltordos einräumt, deutlich besser adaptiert werden kann, sobald es um Fragen des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz geht, als die gewissermaßen immanentistische und primär von der Subjektivität des Menschen ausgehende Auffassung seit dem 15. Jahrhundert. Damit ist (= Steiger: Idiota, 46); De ludo, p I, l.2, n.103 (= Von Bredow: Dialogus, 120). 59 Cf. Zaminer: Einleitung, 3: „Und entsprechend verschiebt sich die Bedeutung des Wortes Musica / Musik von der Theorie und Lehre hin zur Praxis, zur Komposition, zum erklingenden Stück.“ Im größeren Rahmen der westlichen Geistesgeschichte sieht Bocken: Perspektiven, 30 im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit eine „sich wandelnde TheorieAuffassung […], wobei die Eigendynamik der Praxis immer mehr in de[n] Vordergrund rückte.“ So muß man schlußfolgern, dass die Musikgeschichte einem allseits vorherrschenden Trend folgte, der sich auch in der Spiritualität an der Devotio moderna festmachen läßt. 60 Übrigens hat Jan van Eyck auf seinem Genter Altar eine Gruppe musizierender Engel dargestellt, deren einer die Orgel spielt. Die Tasten, die der Engel drückt, stehen im Terz(!) und Quintabstand. Interessant ist hier v. a., dass die Terz als junge Konsonanz gleichsam in die Musica caelestis verlagert und somit legitimiert wird. – Für den Hinweis bedanke ich mich bei Harald Schwaetzer. 61 Cf. Hirtler: scientia mathematica, 160f.: „Da diese [Temperierung; PB] ohne Rekurs auf die Berechnung der Proportionen durchführbar ist, verliert die Proportionenlehre der ,musica theorica‘ weiter an Bedeutung für die Musikpraxis.“ Und weiter 181: „Das Festhalten am neuplatonischen Musikverständnis erweist sich deshalb für die Theoretiker der praktischen Musik als immer schwieriger zu begründen.“
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das Musikverständnis des Cusanus in seiner Zeit aber weitgehend anachronistisch geworden, zumal in der Regel Ugolino von Orvieto (ca. 1380‒nach 1457) als der letzte klassische Vertreter der alten Musiktheorie gilt;62 dies bedeutet zugleich, dass Cusanus die antik-mittelalterliche Musica bewußt rezipiert haben muß, da nur für sie in seiner Philosophie Raum war und nur sie in seinem metaphysischen Denkgebäude als Mittel der Argumentation und Propädeutik Verwendung finden konnte.
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Cf. Hirtler: scientia mathematica, 143.
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Das opake Bild und der diaphane Text Eine Gegenlektüre von Cusanus’ De visione Dei „... der Himmel öffnet sich, der liebe Gott selbst streicht sich seinen weißen Bart, aber er und der Bart sind aus Glas, man sieht durch sie hindurch, in den zweiten Himmel, da sitzt Haeckel und liest in einem dicken Buch ,Welträtsel für artige Kinder‘, aber auch er ist gläsern, man sieht weiter, weiter. Und ein himmlisches Feixen durchzieht den Raum.“ Kurt Tucholsky: Die Sekt-Eule, 1917 Der Tractatus de visione Dei, bis zum Jahr 1565 in mindestens 27 Handschriften und vier Drucken verbreitet, wurde „seit jeher als die mystische Schrift des Nikolaus von Kues angesehen“.1 Mehrere Passagen und Bilder haben geradezu populären Status erlangt: die im Vorwort entworfene Szene, die Paradiesmauer, der Satz sis tu tuus ..., das Spiel von theoro und theorein, Schauen und Laufen. Mit beachtlicher Hellsichtigkeit scheint Cusanus seinen Text in den Kreuzungspunkt verschiedener Vektoren gerückt zu haben: Mathematik und Theologie, sinnlichorganisches Sehen und übersinnliche Schau, Verbergung und Enthüllung, rationale Erkenntnis und transrationale Versicherung, Freiheit und Determination, Dogma und Mystik.2 Im Folgenden wird eine andere Perspektive ausprobiert, eine Art selektive Gegenlektüre. Statt den Text als mystische Ausdeutung eines sensiblen Anstoßes zu nehmen, als erbauliche Abhandlung über einen bestimmten Bildtypus, gar über Kunst im Allgemeinen, wird er selber als ein Kunstwerk aufgefasst. So wie Cusanus vor jenem Bild gestanden haben muss, sich zum Schreiben niedersetzte, wieder aufsprang, hin und her ging, so sollte mit dem literarischen Dokument dieser Bemühung gerungen werden. Das führt zunächst auf Analysen der Textstruktur und der rhetorischen Gesten (Abschnitte 1 und 2), weiterhin auf Fragen der Interdependenz. Wenn De visione Dei die Inszenierung eines möglichen Effektes ist, wie organisiert dann das eingangs vorgestellte Bild den folgenden Diskurs? Was bewirkt es in ihm? (Abschnitt 3) Die verbreitete Ansicht, dass bei Cusanus die Visualität den Vorrang habe, ist vielleicht zu revidieren. Zumindest sollte sie nicht die Tatsache verdecken, dass es da noch andere Zonen und Felder der Aisthesis gibt: Hören, Tasten, Schmecken, Senger: Mystik als Theorie, 119. Zu den Manuskripten vgl. A. D. Riemann, h VI (2000), XI-XXIV. 2 Euler (Schriften, 199 u. 201) zufolge sucht Cusanus die gegenseitige Bedingtheit von Dogma und Mystik aufzuzeigen; dabei formuliere er ein grundlegendes anthropologisches Anliegen: das menschliche Streben nach Glückseligkeit (felicitas). 1
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Riechen (Abschnitte 4 und 5). In der Mystik aller Religionen, beobachtet Alois M. Haas, greift man stets dann, wenn es um die geistigste Wahrnehmung des Göttlichen im eigenen Inneren geht, zu sinnlichen Wahrnehmungen; solche Katachrese entspringt einer spezifischen Sprachnot.3 Anders gewendet: Indem Cusanus mit den Potentialen der unteren Erkenntnisvermögen arbeitet, entfaltet er eine Ästhetik avant la lettre. Einige ihrer Leitfäden und Konsequenzen werden aufgerollt (Abschnitte 6-8). 1. Illusion des homogenen Textes Kein Text steht jemals für sich allein, abgetrennt von seiner Umgebung, von anderen Texten, in die er mehr oder weniger dicht verwoben ist; keine Authentizität und Originalität kann sich isolieren von intertextuellen Rinnsalen und Fluten. Das gilt mithin für diesen Traktat, mag er auch beanspruchen, eine homogene, im Innersten der Seele geführte Rede zu und mit Gott zu sein. Bis zu einem gewissen Grad handelt es sich um ein patchwork aus theologischen und philosophischen Sequenzen, die anderswo wieder auftauchen, im cusanischen Œuvre und außerhalb. Um nur die wichtigsten ex- und impliziten Bezüge anzugeben: a) Die Ambivalenz der Formel visio Dei – sehender und gesehener Gott, mit der heute so beliebten Unterscheidung: genitivus subjectivus und objectivus – haben Wilhelm von Conches im 12. und Meister Eckhart im frühen 14. Jahrhundert bemerkt.4 Cusanus scheint das in seinem Buchtitel bewusst aufzunehmen. b) Bibelstellen. Ihr Spektrum und ihre Frequenz, auch im Vergleich mit anderen Schriften des Kusaners, bleiben zu studieren.5 c) Leitfiguren aus der Tradition. Namentlich genannt werden Sokrates (n. 59f.), Augustinus,6 Paulus (n. 79 u. 107) und Petrus (n. 107). Dazu finden sich unausdrückliche Erwähnungen bzw. Anspielungen auf Xenophanes (n. 19), Aristoteles (z. B. n. 14, 17, 89, 109), Eriugena (n. 46 u. 50), Averroes (n. 110), Avicenna (n. 111), Bonaventura (n. 10), Anselm.7 Eine besondere Rolle spielt Pseudo-Dionysios Areopagita. Im Kloster Tegernsee war man an seinen Schriften sehr interessiert; im Brief an den Abt Kaspar Aindorffer vom 14. September 1453 erwähnt Cusanus einige Kommentare und eine Übersetzung.8 Haas: Das Letzte, 15 Anm. Wilhelm: Glosae super Timaeum, hg. Jeauneau (1965), 165, 6; Eckhart: In Genes. I, n. 185 (LW I, 328, 14): „intellectus, quem deus inspirat, est, quo deum videmus et quo deus nos videt“. Vgl. Wackerzapp: Einfluß, 39 Anm. 99. 5 Z. B. wird zweimal Jesaja 45,15 angeführt (n. 13 u. 47). Alle einfachen Numerus-Angaben beziehen sich im Folgenden auf De visione Dei. 6 n. 103 u. 105; mehrmals wird auf seine Schriften angespielt, etwa n. 9 u. 27. 7 Anselms Gottesbeweis (Proslogion, 2) klingt an in n. 5, 68 u. 86; vgl. Stachel: Schwei-gen, 170f. u. 177. 8 „Ihr verlangt den Vercelli, Lincoln und andere über Dionysios [...] Ich habe einen Dionysios-Text, unlängst von einem meiner vertrautesten Freunde vortrefflich übersetzt, der mir genügt.“ (Vansteenberghe: Autour, 116f.; Oehl: Mystikerbriefe, 555) Gemeint sind 3 4
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d) Begriffe und Streitfragen aus der älteren und zeitgenössischen Schulphilosophie bzw. dem universitären theologischen Lehrbetrieb; etwa die Diskussion der prima materia (n. 58 ff.). e) Formulierungen und Argumente, die Cusanus in früheren Schriften entwickelt hat und in späteren wieder aufnimmt: deus absconditus (n. 13), viva imago (n. 11), posse esse (n. 61) usw. f ) Einflüsse des zeitgenössischen Stils. Die Vorliebe der Renaissance-Autoren für Bildworte und Superlative9 hat bei Cusanus eine tiefere Grundlage (siehe 2 b). Der Text von De visione Dei weist keine genauere Gliederung auf. Einer Widmung folgen ein Vorwort (n. 1-4) und 25 Kapitel; deren Überschriften stehen bereits im Straßburger Druck von 1488. Ein solcher Aufbau, als einfache Reihung, legt es nahe, Einteilungen im Inhaltlichen zu suchen. So kann man drei Teile unterscheiden. Das erste Drittel handelt vom Sehen Gottes (c. 4-11), das zweite entwickelt einen Gottesbegriff (c. 12-18), das letzte umreißt eine Christologie (c. 19-25). Das entspräche einer sehr allgemeinen Trennung von Auf- und Abstieg, Ana- und Katabasis, A- und Descensus. Ludwig Hödl gliedert nach den Benediktionsformeln, wie sie in der scholastischen Literatur gerne als Schlusssentenzen gebraucht wurden. So ergeben sich sechs Abschnitte: 1. Widmung und Prolog; grundlegende Kapitel über das Sehen Gottes (c. 1-5); 2. das „faciale“ Sehen Gottes (c. 6-12); 3. die absolute Unendlichkeit (c. 13-15); 4. der dreieine Gott im gott-menschlichen Sohn Jesus (c. 16-19); 5. der menschliche Sohn Gottes, Jesus (c. 20-22); 6. zusätzliche Jesus-Kapitel (c. 23-25).10 2. Konstruktion des Absoluten Im Vorwort kündigt Cusanus an, er wolle die Leser zur mystischen Theologie erheben, ausgehend von einer sinnlichen Erscheinung (apparentia), durch eine bestimmte „Übung der Frömmigkeit“ (per quandam praxim devotionis, n. 4). Er erklärt, wie das Experiment durchgeführt, die Erfahrung gemacht werden soll; nach dieser Regieanweisung schaltet er drei theoretische Überlegungen ein (c. 1-3). a) Spaltung des Sehens. Alles was in der Ikone erscheinen kann, ist im wahren Blick Gottes wahrer (n. 5). Man muss ein weltliches, an Zeit und Raum gebundenes, stets auf etwas Bestimmtes gerichtetes, „eingeschränktes“ Sehen (visus contractus) unterscheiden von einem geistigen, von den Sinnesorganen losgelösten, absoluten, „uneingeschränkten“ Sehen (visus incontractus). Letzteres wird allein der „unverhältnismäßig vollkommeneren“ Instanz zugeschrieben (improportionaliter perfectior, n. 6). Die fundamentale Spaltung des Visuellen organisiert die
die Kommentatoren Thomas von Vercelli (Thomas Gallus; Thomas von St. Viktor) und Robert von Lincoln (Grosseteste). Der Freund ist Ambrosius Traversari, der auch Diogenes Laertios übersetzte. Vgl. Haas: Das Letzte, 19f. mit Literatur. 9 Hödl: Gedanke, 240, mit Bezug auf n. 11f. 10 Hödl: Gedanke, 242f.
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gesamte Ästhetik und Theologie des Cusanus.11 Sie wird meist in zwei Strategien vorgetragen: als Analogie oder als Maximierung. Beide Strategien arbeiten nicht ohne eine gewisse Kraft der Suggestion, der Überredung; ihnen fehlt der Beweis, die Begründung. Zwei Beispiele für Analogien: „Daher ist die menschliche Natur von sich aus wie ein Auge, das nach Adam wie das Auge des Maulwurfs ist, nach Christus wie das Auge des Adlers.“12 Noch im Compendium (n. 2) heißt es, das geistige Sehen (visus mentalis) verhalte sich zur Weise des Seins ähnlich wie das sinnliche Sehen (visus sensibilis) zum Licht. In De possest (n. 34) unterscheidet Cusanus zwei Arten der Kunst: ars humana und ars divina; zwei Orte derselben: anima und spiritus; zwei Methoden des Erwerbens oder Aneignens: studium und fides; und zwei Gegenstandsbereiche: Die menschliche Kunst bezieht sich auf weltliche Dinge, die göttliche Kunst verweist auf die „schöpferische und allmächtige Kunst“. b) Hierarchie und Inklusion. Aus der Differenz und Defizienz eines materiell Gegebenen wird dessen reine, differenzlose Form konstruiert, z. B. aus dem relativen der absolute visus (n. 5) oder aus der geeinten Kraft die Allmacht (n. 60). Sehr einleuchtend heißt es einmal: Nur das Maximum wird begehrt (n. 68). Die „absolute Form“ hat weder Ausdehnung, noch Qualität, noch Zeit, noch Ort. Um das zu verdeutlichen, wird ein Wesen gesetzt, das die Macht hat, alle Möglichkeiten, auch die Unendlichkeit zu realisieren. Das absolute Sehen ist inklusiv kata holou, es umfasst in sich alle anderen Sehweisen, als ihr Urbild (exemplar, n. 7). Steigerung, Maximierung, Infinitisierung, Verabsolutierung bis zur Hypostase, ja Hyperbolie – diese zweite Strategie findet sich bei Cusanus überall. Die Objekte werden bis zum Extrem geführt, via eminentiae. Die einfachste Art der Maximierung besteht darin, ein Substantiv mittels des Genetivs zu verdoppeln. Aus der Metapher des göttlichen Angesichtes wird facies facierum (n. 17); entsprechend: spiritus spirituum (n. 116), motus motuum (n. 116) usw. Eine andere Art ist der paradoxe, insistierende Übergriff: Gott ist in solcher Weise Schatten, daß er Wahrheit (sic umbra, quod veritas), und so Bild, daß er Urbild ist (n. 64). c) Seriell-zirkuläre Transformationen des absoluten Sehens. Die ganze Theologie ist kreisförmig (in circulo posita). Alles was von der absoluten Form bzw. vom Unendlichen ausgesagt werden kann, bleibt differentiell und defizient; es bleibt auf einer Ebene der Signifikation, die als ,niedriger‘, ,unterhalb‘ des absoluten Signifikats liegend gekennzeichnet wird; hier sind alle Bezeichnungen (Namen) und Eigenschaften untereinander austauschbar: Haben ist Sein, Bewegung ist Stehen, Laufen ist Ruhen usw. (n. 8) Das hatte Cusanus bereits in De docta ignorantia I (c. 21) erklärt: Jede Theologie ist kreisförmig (circularis), insofern die sprachlichen Bezeichnungen der Gottesattribute sich gegenseitig bestätigen: Die höchste Gerechtigkeit ist die höchste Wahrheit und umgekehrt, usw.13 Im Hintergrund steht Lulls Lehre von der Vertauschbarkeit der göttlichen „Grundwürden“(dignitates).14 Vgl. Certeau: Das Geheimnis, 326ff. sowie Thiel: Invisibilia. Sermo CVIII, n. 10 (Schluß); Trier, 31. Okt. 1451. 13 Vgl. Thiel: Deifferenz, 138ff. 14 Dazu Senger: Kommentar, 84ff. 11 12
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Das Modell wird in De visione Dei breit entfaltet. Alles Sichtbare ist Bild des Unsichtbaren – insofern lässt sich alles verwenden zu dessen Umschreibung. Wenn es letztlich nur um dieses Unsichtbare, das Unendliche bzw. Absolute geht, dann sind alle Aussagen gleichermaßen inadäquat, daher untereinander beliebig substituierbar. Besonders im ersten Drittel des Textes wird das absolute Sehen mit immer neuen Verben identifiziert, nach dem Schema: Dein Sehen (bzw. Dein Blick; videre, visus tuum) ist dein X, ist dein Y usw. Was so entsteht, nennt Werner Beierwaltes „Identifikationsketten“.15 Lassen sich diese transformierenden Operationen vollständig erfassen? Das absolute Sehen ist: Hören, Schmecken, Riechen, Berühren, Empfinden, Verstehen (audire, gustare, odorare, tangere, sentire, intelligere, n. 8); Lieben (amare, n. 10); Sein (esse, n. 10); Lebendigmachen (vivificare, n. 12); von mir gesehen werden (a me videri, n. 13); Erbarmen (misereri, n. 15); Wirken (operari, n. 16); Antlitz (facies, n. 19); Bewirken (causare, n. 29); simultanes, nicht sukzessives Lesen (legere, n. 29); Wesen (essentia, n. 35); Reden (loqui, n. 38); Wissen (scire, n. 48); Erschaffen (creare, n. 49); es gewährt das Sein16. Alle Transformationen werden erklärt bzw. mit Beispielen verdeutlicht; manche von ihnen werden nach demselben Schema weiter transformiert: Dein Reden ist Entwerfen (concipere, n. 41) usw. So entsteht eine dichte Vernetzung der verbalen Serien oder Ketten. Das Verfahren ähnelt einem zeitgenössischen kosmologischen Modell, das etwa bei Ficino und Pico fassbar wird: den sogenannten Planetenserien. Den damals bekannten sechs Planeten und der Sonne ordnete man jeweils zahlreiche – nach modernem Verständnis heterogenste – Dinge zu. Zu den Solaria zählten die Gattung des (aufrecht gehenden) Menschen, Gold sowie alle goldfarbenen Dinge wie Honig, Safran usw.; zu den Mercurialia Fleiß und Intelligenz, scharfsinnige Tiere wie Affen und Hunde, Silbriges und Durchsichtiges wie Quecksilber, Glas usw.17 Das Ordnungssystem mag heute absurd erscheinen, hat aber jahrhundertelang funktioniert, mindestens bis zu den Wunderkammern und Kuriositätensammlungen des Barock. Doch die sich endlos im Kreis drehende Rede genügt bei Cusanus nicht. Senger erinnert daran, dass ein Begriff des Unendlichen gefordert ist: „Aufhebung der Gegensätzlichkeit aber ist das Gegenteil von Gegensätzlichkeit, ist oppositio oppositorum – sine oppositione, ohne weitere Aufhebungsmöglichkeit (n. 54).“18
Beierwaltes: Visio facialis, 98f. Einige dieser Transformationen sind aufgeführt von Senger: Mystik als Theorie, 123. Auch vom relativen, menschlichen, kontrakten Sehen werden Ketten gebildet. 16 praestat esse; n. 47. Das variiert die auf Boethius zurückgehende Formel, die sich durch Cusanus’ Schriften, überhaupt durch die abendländische Philosophie zieht: forma dat esse rei (n. 20, 33, 60, 102). Vgl. Thiel: Intellekt, 74f. 17 Vgl. Thiel: Theuth, 165ff. 18 Senger: Mystik als Theorie, 124. Letztere Formel stammt von Pseudo-Dionysios bzw. von Thierry von Chartres. 15
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3. Der verfolgende Blick Cusanus hatte angekündigt, er wolle die Mönche auf die einfachste und allgemeinverständlichste Weise experimentaliter in die heiligste Dunkelheit geleiten (in sacratissimam obscuritatem manuducere, n. 1). Wie ist das Adverb zu übersetzen? Die Formulierung „nach Art der Selbstbetätigung“ (Dupré) ist zu eigenwillig; präziser treffen „auf dem Wege der Erfahrung“ (Pfeiffer) und „by way of experiencing“ (Hopkins). Das Adverb „experimentell“ wäre allzu wörtlich und würde eben den Bezug auf die konkrete Erfahrung verdecken, auf den kein Experiment verzichten kann. Damit ist stets auch der Bezug zu einer Präsenz, einer Gegenwart gegeben. Im Vorwort erklärt Cusanus: „Wenn ich euch auf menschliche Weise [humaniter] zum Göttlichen zu erheben trachte, dann muss das in einem Gleichnis geschehen“ (similitudine quadam, n. 2). Für diese oft angewandte Methode beruft sich Cusanus stets auf 1 Kor 13,12: „Wir sehen jetzt nur wie mittels eines Spiegels in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Das Gleichnis ist in diesem Fall ein bestimmter Bildtypus: das Antlitz eines Allsehenden, das sich so verhält, als ob es alles ringsherum sähe (quasi cuncta circumspiciat). Auf die Funktion des quasi wird zu achten sein. Cusanus bemerkt, es gebe „viele ausgezeichnet gemalte Bilder dieser Art“; er nennt vier: „das des Bogenschützen auf dem Markt in Nürnberg, wie in Brüssel das des hervorragenden Malers Rogier auf einem sehr kostbaren Gemälde im Rathaus, wie in Koblenz das der Veronika in meiner Kapelle oder wie in Brixen in der Burg das des Engels, der das Wappen [arma] der Kirche trägt, und viele andere überall ringsum“ (n. 2). Dieser Kurzkatalog wird seit fast 100 Jahren immer wieder untersucht. Besondere Aufmerksamkeit galt dem maximus pictor Rogier van der Weyden. Hanns Kauffmann berichtete 1916 über seine Auffindung der Gobelinkopie (im Museum Bern) des zerstörten Brüsseler Gemäldes; Ernst Cassirer fügte seiner RenaissanceStudie von 1927 eine Abbildung des Selbstporträts auf dem Gobelin bei;19 Kurt Rathe (1938), Erwin Panofsky (1955) und andere studierten die Zusammenhänge. Norbert Herold bemerkt, dass moderne Interpreten, besonders im Anschluss an Cassirer, die „perspektivische Konstellation“ hervorheben.20 1984 analysiert Michel de Certeau sehr gründlich die theologische Geometrie bzw. „mathematische Liturgie“.21 Inzwischen begreift man den Text auch als Schlüssel zum Kunstverständnis und zur Stiftungsstrategie des Cusanus.22 Wenn Friedlaender/Mynona im Jahr 1929 fragt: „Kennt ihr die Porträts, deren Augen auf den Beschauer, wo dieser auch stehe, gerichtet bleiben?“, so zeigt das deren Bekanntheit.23 Tatsächlich reicht ihre Geschichte weit zurück und beschränkt sich keineswegs auf den europäischen Raum. Plinius erwähnt eine Minerva des Cassirer (Individuum, 35-38) referiert die Szene und gibt ein langes Zitat aus c. 6. Herold: Bild der Wahrheit, 73 u. 74-80. 21 Certeau: Geheimnis, 339 u. 335f. 22 Corsepius: Stiftungspolitik, 65. 23 Friedlaender/Mynona: Remarque, 102. 19 20
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Malers Annulius; zu dieser Zeit „war das magische Motiv des bannenden Blicks freilich längst zum illusionistischen Überraschungseffekt herabgesunken.“24 Der Philologe Franciscus Junius zitiert eine Stelle aus Lukian.25 Man hat arabische Quellen vermutet;26 das ist aber, türkische Miniaturen und Buchilluminationen mit Sultanporträts ausgenommen, unwahrscheinlich, denn im Islam gilt wie im Judentum ein generelles Bilderverbot: auch reale Personen dürfen, als Geschöpfe Allahs, eigentlich nicht imitiert werden. Die zur Zeit des Cusanus in der nordischen Spätgotik und der italienischen Renaissance wiederbelebte Bildtechnik wird in der späteren Porträtkunst rasch zur Manier, ja fast zur Norm. Edgar Wind bemerkt mit Blick auf die Kanone und die Kugel in Tizians Porträt des Alfonso d’Este: „Solche mechanistischen Modelle praktischer Tugend, entfernt an den Beryll des Cusaners, seinen ludus globi, sein ,alles sehendes‘ Bild oder seine ,Experimente mit der Waage‘ erinnernd, gehören zu einem Zweig des Renaissancedenkens, den man als magia naturalis bezeichnet hat.“27 Naturmagie, durch ihre moralischen Absichten und reflektierten Methoden wohl zu unterscheiden von schwarzer Magie, galt als Teil der Naturphilosophie. Cusanus’ Experiment mit der Ikone gehört, so Wind, zu jenen „halbmagischen Übungen, die den Betrachter auf ernsthafte Weise unterhalten und in Erstaunen setzen sollten“. Das „ernste Spielen“ (serio ludere) war im 15. Jahrhundert beliebt.28 Die Paradoxie des unbeweglichen Auges, das gleichwohl jeder Bewegung im Blickraum zu folgen scheint, hat Anklang gefunden, in England etwa bei Ben Jonson.29 Cusanus sagt, jener Effekt sei hervorgebracht subtili arte pictoria, durch eine besondere Malkunst (n. 2). Demnach teilte er die verbreitete Ansicht, dass es sich um eine spezielle Technik handle. Worin sie besteht, dazu sagt er nichts. Ernst Gombrich bringt in seiner Kunstpsychologie ein populäres Beispiel, bleibt jedoch ebenfalls eine Erklärung schuldig: „Aber haben wir alle nicht schon das unheimliche Gefühl gehabt, ein Bild blicke uns an? [...] Propagandisten und Werbekünstler haben zu allen Zeiten verstanden, diese unsere Tendenz, Bildwerke mit der Aura einer Persönlichkeit zu umgeben, noch zu verstärken und sie für ihre Zwecke zu benutzen. Das berühmte Plakat Alfred Leetes, mit dem im Jahre 1914 die Engländer zum freiwilligen Kriegsdienst aufgefordert wurden, gab tatsächlich jedem jungen Manne das Gefühl, Lord Kitchener apostrophiere ihn persönlich und er müsse ihm Rede und Antwort stehen.“30 Neumeyer: Der Blick, 22; vgl. ebd. 40f. (zu Cusanus’ Vorrede und seinem Katalog), 48 u. 98f. (mit Materialien, speziell zu Rogier). Plinius: Historia naturalis 35, 10, 37. 25 Junius: De pictura veterum (1638); Lukian: De Syria Dea, 32. Vgl. Gombrich: Kunst, 443 Anm. 26 Koenderink: Pointing, 513. 27 Wind: Mysterien, 131. 28 Etwa bei Ficino; vgl. Thiel: Theuth, 171f. 29 Wind: Mysterien, 254ff., mit Materialien zur englischen Cusanus-Rezeption. De visione Dei wurde 1646 von Giles Randall übersetzt. Vgl. Watanabe: NvK, 168. 30 Gombrich: Kunst, 137f., mit Abbildung des Plakats, das Lord Kitchener porträtiert. 24
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1859 versuchte Jules de la Gournerie den optischen Effekt mit mathematischen Formeln zu beschreiben, seine Berechnungen waren aber fehlerhaft. Vor kurzem gab eine Gruppe von Psychologen eine Erklärung. Tatsächlich ist weder besondere Gabe, noch Talent, noch Übung erforderlich; heutige Amateurfotografen erzielen sogar bei Schnappschüssen denselben Effekt. „Der einzige ,Trick‘ ist, das Bildsubjekt direkt auf die Linse schauen (und/oder zeigen) zu lassen.“31 Die dargestellte Person sieht einfach nur genau geradeaus, ihre Augen müssen parallel stehen; alles Weitere spielt sich im Gehirn des Betrachters ab. Bei dreidimensionalen Objekten verändern sich die Schattierungen und die Hell-Dunkel-Verteilung; bei flächigen Objekten, also Bildern oder Fotos, haben die Veränderungen des Sichtwinkels bei frontalem oder seitlichem Blick nur sehr geringen Effekt auf die Wahrnehmung. Allerdings bearbeitet das Gehirn solche Bilder wie dreidimensionale Objekte. Es handelt sich nur um eine bemalte Holztafel. Cusanus betont das vor allem im ersten Drittel des Textes rund zehnmal.32 Seine gesamte folgende Logorrhöe ist subjektive Zutat, Ausbruch einer inneren Unruhe, eines Begehrens, die ebenfalls mehrfach erwähnt werden.33 Der Kölner Theologe Alex Stock beobachtet, dass „der folgende Diskurs über die von der icona Dei evozierten optischen Prädikationen hinausschießt“.34 Jenes Holzstück ist im Grunde uninteressant; ein Bild kann nicht sehen. Alle Spekulationen darüber sind Projektionen des Betrachters, Produkte seines Willens, Wunschdenkens. Die intentionale Illusion beruht auf einem Spiel mit subjektiven Effekten, einer Vermischung materieller und psychophysischer Faktoren. Wer wüsste das besser als Cusanus selbst? Einmal verwendet er das Verb proicere. Richtet ein vernünftiger Geist seine Liebe nicht auf das Liebenswertsein des alles liebenden Gottes (non in tuam amabilitatem proicit), sondern auf etwas anderes, dann ist er nicht mit ihm vereint (n. 80). Liebe als Projektion, als Projekt – nur projizierte Liebe bewirkt Vereinigung. Begriff und Denkfigur der Projektion avancierten zum Leitmotiv der Wahrnehmungstheorie und Physiologie des 19. Jahrhunderts sowie der Psychoanalyse. James M. Flagg imitierte es 1917 auf dem bekannten Plakat mit Uncle Sam und dem Satz: „I Want YOU for U.S. Army“. 31 Koenderink: Pointing, 513. Dort weiteres zum Raum- und monokularen Tiefensehen, Doppelwahrnehmung usw. Die Forschergruppe suchte solche Phänomene mittels empirischer Methoden zu operationalisieren und zu quantifizieren. 32 visus eiconae (n. 3, 5, 6, 9); Accede ad Dei eiconam, Tritt heran zur Ikone Gottes (n. 9); in hac imagine tua, in diesem Deinem Bild (n. 14); umbra hic, dieses Schattenbild (n. 17); hanc faciem pictam, dieses gemalte Gesicht (n. 19); picta imago quam intueor, dies gemalte Bild, das ich betrachte (n. 32); facies haec depicta, dieses gemalte Gesicht (n. 35); Sto coram imagine faciei tuae, Ich stehe vor dem Bild Deines Gesichts (n. 38); veritas quae in pictura signatur, die im Gemälde dargestellte Wahrheit (n. 38); in hac picta facie, in diesem gemalten Gesicht (n. 61); in hac eicona, in dieser Ikone (n. 94). Den Rhythmus dieser Rekurse bemerkt Stock: Die Rolle, 58. 33 Non quiescit cor meum (n. 27); Non cessat ... amor desiderii (n. 67); desiderium meum (n. 69). 34 Stock: Die Rolle, 56.
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Alles spielt sich ab in der Sphäre jener eingangs genannten apparitio, der durch die Ikone hervorgerufenen Erscheinung. Kaum ein Text des Cusanus ist so transparent wie dieser – mögen sich auch die meisten Interpreten lieber in den Schleiern einer Theophilie verfangen. „Es kann auch sein, dass in einem bestimmten Rausch der Analogik jeder Satz mit jedem anderen vereinbar wird.“35 Cusanus thematisiert diese Verwirrungen: In seiner unendlichen Güte und Demut zeige sich Gott gleichsam als unser Geschöpf (quasi creaturam nostram; n. 66). Die mit diesem quasi drohende Hybris der Vertauschung von Schöpfer und Geschöpf, die Sicherheit des Subjektiven, die Selbstermächtigung, muss sofort gebrochen und ausgeschaltet werden. Das war in vorauseilendem Vorgriff bereits im Kapitel über die Grundlagen geschehen; Cusanus wiederholt es nun deutlicher: „Das Ähnlichkeitsbild [similitudo], das von mir geschaffen zu werden scheint, ist nämlich die Wahrheit, die mich erschafft.“ (n. 66) Mit einer rein theologischen Handbewegung sind alle kunstpsychologischen, wahrnehmungsästhetischen, illusionstheoretischen Bemühungen vom Tisch gefegt. Dieselbe Umkehrung war kurz vorher schon erfolgt: Gott tritt jedem einzelnen Betrachter „gleichsam [quasi] als formbare erste Materie entgegen“, als ob er die Form eines jeden ihn Anschauenden annähme; in Wahrheit aber schaut der Anschauende sich selbst in Gott an, da er von ihm annimmt, was er ist (n. 63). Der Durchgang durch den Irrtum ist notwendig für die Einsicht in die wahren Verhältnisse. Der subjektive Faktor könnte alles zum Kippen bringen; folglich muss er als irrelevant, sekundär, illusionär erwiesen werden. Damit ist der Rahmen fixiert, innerhalb dessen andere radikale Gesten möglich werden: vor allem die Hypertrophie des absoluten Sehens. 4. Synästhesien Aisthesis, Sinneswahrnehmung muss stattfinden, um die ratio zu initiieren. Ist das geschehen, hat sie ihre Aufgabe erfüllt, ist überflüssig geworden. Ebenso hat dann die ratio den intellectus anzuregen, bis dieser das Widerspruchsprinzip überwindet und Koinzidenz zulässt. Die Stufenfolge hat Cusanus in seinen Werken mehrfach beschrieben, zuletzt im Kosmographengleichnis.36 Die im ersten Drittel von De visione Dei massiven, aber durch den ganzen Text weiterlaufenden Identifikationsketten bzw. seriellen Transformationen produzieren fortwährend Überkreuzungen von Sinnesqualitäten, synästhetische Effekte. Sie können hier bei weitem nicht ausgeschöpft werden, einige Hinweise sollen genügen. Das Schmecken bildet ein sehr weites semantisches und metaphorisches Feld. Die beiden häufigsten Wortgruppen sind in der Übersetzung kaum auseinanderzuhalten: suavitas, suave etc. ist meist mit Süßigkeit etc. wiederzugeben, während dulcedo, dulcis etc. zwischen Süßigkeit, Wonne und Zuneigung schwankt und in die 35 36
Stock: Die Rolle, 67. Compendium, c. 8; De coniecturis II, n. 145.
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Nähe zu deliciae, Wonne, Lust gerät sowie zu desiderium, Sehnsucht, Begehren; wobei stets auch Begierde mitschwingt. Der Bär kann von der dulcedo des Honigs nicht lassen (n. 108). Das Evangelium ist himmlische Speise, cibus caelestis, darin alle dulcedo desiderii verborgen liegt (n. 91). Gott ist dulcissimus amor meus (n. 66), Jesus erhält das Epitheton dulcissime,37 sein Joch ist süß, suave iugum (n. 114). Die dem Herrn beigelegte suavitas omnis dulcedinis (n. 25) wird von Dupré und Pfeiffer übersetzt mit „Wonne aller Süßigkeit“ – erscheint nach dem Bisherigen nicht umgekehrt „Süßigkeit aller Wonne“ besser? An einer einzigen Stelle gelangt Cusanus fast zu einer Definition: Die göttliche Wonne zu kosten heißt, in erfahrungshafter Berührung die Süßigkeit alles Erfreulichen in seinem Ursprung zu erfassen.38 Den absoluten Grund (ratio) zu sehen heißt: Gott, der die Süßigkeit (suavitas) des Seins, Lebens und des Intellekts ist, im Geist zu kosten (mente gustare, ebd.). Das gesamte Experiment soll darauf hinauslaufen, wie in einer süßesten Probe (suavissimo libamine; auch: Opfergabe) jenes Mahl ewiger Glückseligkeit vorauszuverkosten.39 Das Schmecken wird synästhetisch verknüpft mit der Visualität – suavitas visionis (n. 76) – und mit der Akustik: Das Ohr des Glaubens berührt nicht dulcedinem degustabilem.40 Das Berühren und Tasten (tangere) wird ebenfalls mit dem Sehen synästhetisch identifiziert (n. 8 u. 40). Das Verb attingere hat bei Cusanus durchgehend eine weitere, erkenntnistheoretische Dimension; es bedeutet, ähnlich wie respicere, das Erfassen des Grundes bzw. Ursprungs: den Grund alles Begehrenswerten berühren (rationem ... attingere, n. 13); Gott berühren, das Ziel berühren (approximativ; n. 69 u. 80). Im übrigen hat die Einheit von Sehen und Berühren eine Entsprechung im indischen Denken: das Sanskritwort darshan bedeutet ,Blickkontakt‘. Die Indologin Stella Kramrisch führt aus: „Seeing, according to Indian notions, is a going forth of the sight towards the object. Sight touches it and acquires its form. Touch is the ultimate connection by which the visible yields to being grasped. While the eye touches the object, the vitality that pulsates in it is communicated.“41 Der Geruchssinn kommt nur selten ins Spiel. Jesus ist der Duft (odor) der Freudenspeise und der frohmachende Geschmack (n. 90); ganz am Schluss wird der Duft von schmackhaften Speisen und von Salben erwähnt (n. 120). Seiner oben genannten Strategie folgend sucht Cusanus die Synästhesien weiter zu steigern; der Extrempunkt, der utopische, für Gott reservierte Ort wäre dort, wo alle sinnlichen Vermögen koinzidieren, so dass sie dasselbe sind. Die Elemente des Koinzidierens werden aufgezählt, sie beschränken sich nicht auf die eigentlichen n. 90, 98, 102. Weiter: dulcedo dilectionis (n. 11), dulcedo, mit der Du die Seele nährst (n. 22), gustus dulcedinis (n. 78), gustare dulcedinem (n. 107). 38 Gustare enim ipsam dulcedinem tuam est apprehendere experimentali contactu suavitatem omnium delectabilium in suo principio (n. 13). 39 praegustare (n. 1); daneben praegustatio (n. 78), degustare (n. 67 u. 92), dulcissima degustatio (n. 76). 40 n. 79; ebenso berührt (attingit) die Offenbarung nicht den Geschmack (ebd.). 41 Kramrisch: Temple, 136. Vgl. auch Eck: Darśan, 9. 37
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Sinnesvermögen: Reden, Sehen, Hören, Verkosten, Berühren, Überlegen, Wissen und Einsehen (ratiocinari, scire, intelligere). Dazu koinzidieren noch jeweils die aktivischen mit den passivischen Formen: Sehen mit Gesehenwerden, Hören mit Gehörtwerden usw. (n. 40, vgl. n. 8) Cusanus hat auch kein Problem damit, mögliche Synästhesien willkürlich zu unterbinden. Die Süßigkeit einer unbekannten Obstfrucht (pomi) bleibt in jedem Gemälde und jeder Darstellung undarstellbar (omni pictura et figura infigurabilis) und in jedem Wort unausdrückbar (omni verbo inexpressibilis, n. 78). Der Geschmack erlaubt keine adäquate Darstellung. Das Argument ist trivial, dennoch nutzt Cusanus es aus für eine Analogie: Wer bin ich elender Sünder, der ich den Unzeigbaren zu zeigen und den Unsichtbaren sichtbar darzustellen suche? (ebd.) 5. Polyphonie Zwar ist De visione Dei kein Dialog, doch zwischen den Zeilen eröffnet sich die akustische Sphäre, ein entgrenzter Hall- und Echoraum, in dem eine Polyphonie von Stimmen erklingt. Es ist nicht ganz einfach, die sprechenden und angesprochenen Instanzen alle aufzuzählen. a) Der Autor Cusanus wendet sich in Widmung und Vorwort direkt an die Mönche, an Euch, vos (zweite Person Plural). Diese Passagen haben den Charakter eines Briefes. b) Der Regieanweisung im Vorwort zufolge vollzieht sich das Experiment anfangs nur auf der kinästhetischen Ebene: Visualität und Bewegung. Akustisches kommt erst in dem Moment ins Spiel, da die Mönche sich gegenseitig befragen und einander versichern.42 c) Die ersten drei Kapitel (n. 5-8) bilden einen theoretischen Kurztraktat; zunächst spricht der Philosoph, gegen Ende der Theologe. Wenn es einmal heißt: Advertas visum, Lenke deinen Blick darauf ... (n. 7); und danach: Attendas, Beachte ... (n. 8), so sind das eher beiläufige Wendungen; sie müssen nicht als direkte Anrede an einen Einzelnen aufgefasst werden. d) Auf die theoretische Fundierung folgt die Evaluation der Übung. Cusanus wendet sich nun aber nicht mehr an Euch, die Mönche, sondern an Dich: Accede nunc tu frater contemplator ad Dei eiconam, Nun trete, betrachtender Bruder, heran zur Ikone Gottes! Wechsel vom allgemeinen Plural zum persönlichen Singular. In Dir wird die speculatio angeregt (excitabitur) – das Nachdenken, die Betrachtung, die Spiegelung (speculum). Du wirst herausgefordert werden (provocaberis), etwas zu sagen (n. 9). Du wirst provoziert zu einer Aussage. Und Du wirst folgendes sagen – – – e) Hier erfolgt die Zäsur. Was jetzt beginnt und sich bis zum Ende des ganzen Textes erstreckt, ist eine andere Rede, mag sie auch immer noch in der ersten Person Certeau (Geheimnis, 340ff.) hat die Phasen präzise beschrieben; zweifellos kannte er die berühmte Analyse, die Michel Foucault zu Beginn von Les mots et les choses (1966) der Blick- und Bildregie in Velázquez’ Las Meniñas gewidmet hatte. 42
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Singular und im Präsens gehalten sein. Wer spricht? Cusanus ist der Verfasser, aber ist er ohne weiteres identisch mit dieser narrativen Stimme? Er gibt den inneren Monolog eines Einzelnen wieder, den man nicht vorschnell mit dem Autor des gesamten Textes identifizieren sollte. Dieses Ich ist ein anderes als dasjenige, das bisher gesprochen hat. Erneuter Wechsel also, von einem persönlichen, konkreten zu einem allgemeinen Singular. Zugleich aber soll diese Rede ein zutiefst persönliches, individuelles Sprechen sein. Ein nicht genau zu bestimmendes Ich spricht zu einem Anderen, einem Gegenüber, der oder das gerade nicht mehr einfachhin ansprechbar, begreifbar sein soll. Wer ist der Adressat? f ) Zunächst Dominus, Herr; ein wenig später variiert: Tu, Deus, Du, Gott (n. 13); Tu igitur es Deus meus, Du also bist mein Gott (n. 16) usw. g) Erneuter Wechsel, diesmal nicht des Adressaten, sondern des Sprechenden: „wir“, „in uns“, erste Person Plural (n. 27f.). h) Viel später, in den Kapiteln 17 und 18, wechselt der Adressat. Die Gründe dafür sind gewichtig. Nach einem Bekenntnis zur katholischen Kirche erklärt Cusanus die Trinität. Zunächst illustriert er die absolute Einheit, dreieinig und einigdrei (triunus, unitrinus, n. 73), in einer ganzen Reihe von Ternaren: unitas uniens, unitas unibilis, utriusque unio, einende Einheit, einbare Einheit und Vereinigung beider (n. 71); amor amans, amor amabilis, nexus, liebende Liebe, liebenswerte Liebe und das Band zwischen beiden (ebd.); intellectus intelligens et intellectus intelligibilis et utriusque nexus, einsehende Einsicht, einsehbare Einsicht und beider Band (n. 81) usw. Der amor-Ternar ist eines der konstantesten Motive bei Cusanus; er steht in Sermo I (n. 6) ebenso wie im Albergati-Brief von 1463 (n. 45). Er gilt auch für die Selbstliebe (n. 76). Bei allen Ternaren ist zu beachten, dass das Band zwischen den Termen A und B kein drittes, mittleres Element ist, es gehört nicht zur Ordnung der Opposita. Das erklärt Cusanus in einem zweiten Schritt genauer. Es geht um eine filiatio als generatio (n. 82). Deus amans (A) generat, erzeugt Deum amabilem (B); dieser ist absoluter Vermittler, mediator. Beide werden mal zugleich angesprochen, mal einzeln: „Du, der liebende Gott“ und „Du, der gezeugte liebenswerte Gott“ (n. 83). Generatio est conceptio, Zeugung ist ein „(intellektives) Entwerfen“ (Pfeiffer; warum nicht: Empfängnis?); aus A und B procedit, geht hervor C, bestimmt als actus und conceptio, als nexus und als spiritus (sanctus); alle drei Instanzen werden angesprochen (n. 84). Jesus der Menschensohn ist geeint mit Gottes Sohn, dem Mediator (B), und nur durch dessen Vermittlung ist er geeint mit Gott Vater (A). Das alles sei ein Geheimnis, occultum (n. 85). i) Im Folgenden wird Jesus mal als Gottes- und Menschensohn angesprochen (n. 86), mal werden beide Söhne adressiert (in te Iesu filio hominis filium Dei et in te filio Dei patrem, n. 88), danach nur noch Jesus (n. 88-114), erst ganz am Schluss wieder Gott (n. 115-119). j) Innerhalb der ganzen Rede gibt es noch weitere Stimmen. Sie scheinen von außen zu kommen, vom Alleräußersten her; aber sie sollen immer schon im Allerinnersten gewesen sein. Der Betende bzw. derjenige, der das von Cusanus den Mönchen vorgeschriebene Gebet nachspricht, fragt, wie überhaupt eine Verbindung zustande kommen könne: „Wie gelangt mein Gebet [oratio] zu Dir“? Nach
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dem Schweigen, das den Fragen und Zweifeln folgt, nach einem Verstummen der menschlichen erklingt eine andere Stimme, diejenige Gottes. Gott spricht. Cusanus gibt seine Worte wieder: Sis tu tuus et ego ero tuus, Sei du dein und ich werde dein sein (n. 25). Diese göttliche Stimme erklingt an einem bestimmten Ort: intra praecordia mea. D. und W. Dupré übersetzen: „tief in meinem Herzen“; Pfeiffer: „in meinem Inneren“; Hopkins „in my heart“; Senger: „Antwort in mein Inneres“.43 Gemessen an jenem Ereignis sind solche Auskünfte zu vage. Die exakte Bedeutung von praecordia ist jedoch nicht leicht zu bestimmen: „die Haut die Herz und Lunge vom Unterleibe trennt, das Netz um das Herz, das Zwerchfell, sonst diaphragma genannt“ (Cicero, Plinius); übertragen: a) „die Eingeweide, Gedärme, bes. der Magen“; b) die Brusthöhle mit Herz u. Lunge u. übh. die Brust“, „das Herz, als Sitz der Empfindungen u. Begierden“ (Ovid, Horaz, Seneca); c) , die Oberbauchgegend unter den Rippen“.44 Bei Empedokles findet sich die alten Ausdrücke prapídes und phrénes: Geist, Zwerchfell – körperlicher Ort der Sammlung und Anspannung aller Geisteskräfte bei der Übung der Anamnesis, die bei den Pythagoräern als Reinigung betrachtet wurde, als Initiation zu einem neuen Zustand, als Annäherung an Göttliches.45 Cusanus hat das Wort praecordia sonst nur noch einmal, in ähnlichem Sinn.46 Er meint wohl kaum anatomische Organe, sondern den Sitz des Bewusstseins. Im Übrigen erhebt sich jene göttliche Stimme nicht nur einmal, sondern immer wieder, ja sogar dauernd.47 k) Jesus kommt überhaupt nicht zu Wort. Erst in den letzten Kapiteln tritt er auf als Quelle einer Inspiration, Einhauchung oder Eingebung bzw. einer Einflössung: Haec inspiras, Dies gibst Du mir ein, Jesus; influis mihi, Du flösst in mich ein ... (n. 106, 109). Gleich nachdem Gottes Stimme zum ersten Mal in den praecordia erklungen war, hiess es: tu inspirasti mihi, Du hast mich inspiriert ... (n. 27) Einige dieser immerhin elf akustischen Linien werden miteinander verknüpft in Synästhesien von Stimme und Licht bzw. von Blick und Sprechen: Dein Wort leuchtet immerzu im Verstande (lucet in ratione, n. 26); Dein Blick spricht (visus loquatur, n. 38); Du antwortest in mir, unendliches Licht ... (n. 61) 6. Wiederholte Gebete Bei allen Gesten des Zögerns, Suchens, Zweifelns enthält De visione Dei im Hintergrund eine ganze Reihe von Vorschriften und Anweisungen. Ausdrücklich wird Senger: Mystik als Theorie, 130. Georges: Handwörterbuch, Bd. II, 1835. Der Londoner Latinist Richard Onians (The Origins, 40ff.) zeigt, daß Plinius und Celsus eindeutig die Organe oberhalb des Zwerchfells meinen, also Herz und Lunge. 45 Vgl. Thiel: Platons Hypomnemata, 71f. 46 intra praecordia mea non mortuus, sed plus vivus“; Sermo XII, n. 13. 47 „wenn ich Dein Wort höre, das nicht aufhört in mir zu sprechen“ (n. 26); „Aber Du sprichst in mir, Herr, und sagst ...“ (loqueris, dicis, n. 58) 43 44
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gesagt, dass die schier endlose, ruminierende Rede nachgesprochen werden soll – nachgebetet, in allen Bedeutungen des Ausdrucks (auch der vorliegende Aufsatz kann sich solcher programmierten Rezeption kaum entziehen). Der Text ist von Anfang an darauf angelegt, im Innern wiederholt zu werden, in der sicheren Sphäre des Bewusstseins weiter- und zu überleben. Cusanus legt dem Leser, jedem einzelnen, die Worte in den Mund. Er protokolliert im Voraus. Im Innersten, in den praecordia, findet kein freies Lehrgespräch statt, sondern eine interna doctrina, innere Belehrung. Sie soll alles andere sein als durch eigenes Nachdenken erworbene Einsicht; sie verdankt sich ausschließlich der Inspiration, Influation, Beeinflussung durch eine externe Instanz, den höchsten Meister, dem sich jede andere Vernunft zu unterwerfen hat: „Oportet autem omnem intellectum per fidem Verbum Dei se subicere et attentissime internam illam summi magistri doctrinam audire.“ Jede Vernunft aber muss sich im Glauben dem Wort Gottes unterwerfen und ganz aufmerksam jene innere Belehrung des höchsten Meisters hören (...) Und indem sie hört, was der Herr in ihr spricht, wird sie vervollkommnet. (n. 113) Der Bochumer Mediävist und Dogmatikhistoriker Ludwig Hödl bemerkt, das Gebet stifte eine dialogische Gemeinschaft mit Gott und führe zur Schau des Grundes als einer „gnadenhaften Grenzerfahrung“; demgegenüber sei der philosophische Gedanke nur Erkenntnishilfe; die logische Argumentation, das Kausalitätsprinzip usw. reichten nur bis zur Betrachtung des Begründeten: „Ohne den Gedanken wäre das Gebet leer, und ohne das Gebet wäre der Gedanke blind.“48 So treffend das klingen mag, die Rhetorik ist nur scheinbar lapidar. Die Variation von Kants berühmtem Diktum – „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“49 – läuft in die Irre, wenn man dagegen hält, was derselbe Kant über die fragliche Handlung sagt: „Das Beten, als ein innerer förmlicher Gottesdienst und darum als Gnadenmittel gedacht, ist ein abergläubischer Wahn (ein Fetischmachen); denn es ist ein bloß erklärtes Wünschen, gegen ein Wesen, das keiner Erklärung der inneren Gesinnung des Wünschenden bedarf, wodurch also nichts getan, und also keine von den Pflichten, die uns als Gebote Gottes obliegen, ausgeübt, mithin Gott wirklich nicht gedient wird.”50 Kant streitet nicht ab, dass es göttliche Gebote gebe; aber Gott hat es gar nicht nötig, die innere Gesinnung des Beters dargelegt zu bekommen: er kennt sie ja. Als Befürworter des Betens lässt sich Kant nicht anführen. Luther war ein Feind vorformulierter, nachzubetender Gebete, das Vaterunser ausgenommen. Als ein solches bezeichnet Cusanus seinen Text: „Ich habe begonnen, das Gebet des Herrn zu beten.“ (n. 27)
Hödl: Gedanke, 244f., 231f. u. 233. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 51, B 75. 50 Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 4. Stück, Allg. Anm., 1. Damit ist Kants Gebetskritik freilich nicht erschöpft. 48 49
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Zum Verhältnis von Schrift und Gebet nur eine Anmerkung. In einem 1986 in Jerusalem gehaltenen Vortrag untersucht Jacques Derrida auch die Art und Weise, wie Pseudo-Dionysios es vermeidet, von etwas Bestimmtem zu sprechen. Das Gebet ist, so Derrida, diejenige Erfahrung, die von der positiven zur negativen Theologie und zur Apophatik überleitet, oder die vom (Aus-) Sagen dessen, was jenseits des Seins oder des Lichtes ist, hinüberträgt oder übersetzt zum schweigenden Hinausgehen über jenes Gute (agathon), das, so Platon, an Würde und Kraft noch über das Sein hinausragt.51 In jedem Gebet muss es zwei „performative Dimensionen“ geben, eine „Adresse an den anderen als anderen“, ein Bitten, Anflehen, Ersuchen; und ein Lobpreisen oder Feiern (hymnein).52 Dionysios beginnt sein Buch über die Mystische Theologie mit einem Gebet, einer Anrede an die überwesentliche, übergöttliche, übergute Trinität; gleich danach stellt er eben dieses Gebet dar und zitiert es: „Dies ist mein Gebet“. Das wirft für Derrida die Frage auf: Kann man überhaupt entscheiden, ob Dionysios das Wesen des Gebetes verdarb oder im Gegenteil vollendete, indem er es zitierte? „Hat man das Recht zu denken, dass das Gebet – reine Adresse, am Rand des Schweigens, fremd jedem Code und jedem Ritus, also jeder Wiederholung – niemals durch eine Notation [...] von seiner Gegenwart abgewendet werden dürfte? Dass es jedes Mal nur einmal stattfindet, und niemals aufgezeichnet werden dürfte?“53 Ist das Gebet also unwiederholbar? Wenn ja, dann dürfte es gar nicht geschrie-ben werden. Denn alles, was wiederholt werden kann, was zum Beispiel zitiert werden kann – und kommen wir jemals umhin, De visione Dei zu zitieren? –, ist eben dadurch bereits Schrift, Text, Literatur. Aber vielleicht, erwägt Derrida, ist auch das Gegenteil richtig: „Vielleicht gäbe es gar kein Gebet, die reine Möglichkeit des Gebetes ohne das, was wir als eine Bedrohung oder eine Kontamination bemerken: die Schrift, der Code, die Wiederholung, die Analogie oder die – zumindest augenfällige – Vielfältigkeit der Adressen, die Initiation.“54 7. Begrenzte Freiheit Man hat den Kusaner oft als Verkünder eines neuen Selbstbewusstseins hingestellt, eines die Renaissance kennzeichnenden Individualismus, als Anwalt der singularitas und der Selbstverwirklichung des Menschen. In De visione Dei bleibt davon bei genauerem Zusehen wenig übrig. Zunächst fallen die stets wiederkehrenden Gesten der Devotion und Votion ins Auge, der Anrufung und Evokation, des Lobes und Dankes. Dem stehen gleichsam negative „Pathosformeln“ (Aby Warburg) gegenüber. Die Selbstbezeichnun51
επέκεινα της ουσίας; Politeia VI, 509 b.
Derrida: Wie nicht sprechen, 75f. Ebd., 109. 54 Ebd., 109f. (Übersetzung modifiziert) 52 53
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gen des Ich-Erzählers sind ausschließlich Gesten der Selbstverkleinerung: sum vilissimus omnium, ich bin der Unbedeutendste von allen (n. 9); servulus, kleiner Diener (n. 10 u. 61); vilis factura, unbedeutendes Geschöpf (n. 49); ego sum viva umbra, ich bin ein lebender Schatten (n. 64); ego homuncio, ich Menschlein (n. 69); ego miser peccator, ich elender Sünder (n. 78 u. 43); mihi misero, mir Elendem (n. 85), mihi miserrimo, mir Elendestem (n. 119) usw., vor allem: compunctus de misero servitio lubricae foeditatis porcorum, ubi fame defeci, nunc revertor, reuevoll kehre ich zurück aus elender Knechtschaft der schmierigen Abscheulichkeit der Schweine, wo ich vor Hunger entkräftet war.55 Die literarische Herkunft der beiden Reihen bleibe hier beiseite. Den aufgelisteten Selbstbezeichnungen möchte man das Ansinnen Friedlaender/Mynonas entgegenstellen: dass sich „unser Kleinheitswahn mit unserem Größenwahnsinn“ verständigen möge „zur Wahrheit unserer Person jenseits von Klein und Gross, als eximiert in diesen Bestimmungen, welche keine Versöhnung, sondern reinste Neutralität in uns wollen.“56 Die berühmte Formel sis tu tuus ... pflegt man meist so zu interpretieren, dass eine Selbstannahme vollzogen sein muss, bevor und damit eine Selbstaufgabe stattfinden kann. Erstere bestimmt Cusanus als eine ganz spezifische, eng begrenzte Freiheit: „dass ich mein sein werde als Freier und nicht als Sklave der Sünde“ (n. 26). Das Mein-Sein besteht nur in der Unabhängigkeit von Sünde. Aber auch der Mensch als libera rationalis creatura, freies Vernunftgeschöpf (n. 66), bleibt orientiert und gebunden an eine übergeordnete Instanz: „Und diese Kraft, die ich von Dir habe, in der ich ein lebendiges Bild [vivam imaginem] der Kraft Deiner Allmacht besitze, ist der freie Wille [libera voluntas], durch den ich die Aufnahmefähigkeit [capacitas] für Deine Gnade entweder vermehren oder verringern kann.“ (n. 11) Cusanus gesteht dem Menschen die Freiheit zu, Gott zu ignorieren: „Viele aber lieben Dich nicht, sie ziehen Dir etwas anderes als Dich vor.“ (n. 80) Jedoch sei Gott so edelmütig, dass er es der Freiheit der vernünftigen Seelen überlässt (in libertate rationalium animarum), ihn zu lieben oder nicht. Hier sprengt Cusanus den Nexus, den er sonst so betont: amare ist nicht unbedingt gleich amari. „Deshalb folgt aus Deinem Lieben nicht, dass Du geliebt wirst.“ (ebd.) Gleichwohl gilt: Wer Gott nicht als Dreieinigkeit und Einheit erkennt, der hat keinen Geist von freiem Willen (spiritus liberi arbitrii, n. 81). Es gibt zwar keinen Glaubenszwang,57 doch ist die Freiheit von vornherein und durchgehend begrenzt, sofern sie nur in der Entscheidung einer simplen Alternative Ja/Nein besteht. Die Grenze ist überall und nirgends; sie liegt in der unendlichen Unentrinnbarkeit des verfolgenden Blickes jener Ikone. Deren Wirkung kann ins Unheimliche umschlagen. Tatsächlich hat man auf die Assoziation zur totalen Überwachung durch den big brother aus George Orwells 1984 hingewie-
n. 28 (nach Lk 15,14-16); „wretched servitude – swinelike in its slimy filth“ (Hopkins). Friedlaender/Mynona: Friedrich Nietzsche, 176. 57 Das betont Senger: Mystik als Theorie, 128 f. 55 56
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sen.58 Walter A. Euler sucht das abzufangen mit dem Hinweis auf die Liebe Gottes und die Notwendigkeit einer positiven Einstellung dazu.59 Diese Interaktivität betont Cusanus selbst (n. 19); sie war schon lange mit der Praxis der Andachtsbilder verknüpft. Allerdings ist mit einem bloßen Wechsel der affektiven Vorzeichen die Tatsache der visuellen Omnipräsenz nicht vom Tisch. Gemäß der zitierten Instruktion muss jede Vernunft sich der Doktrin des göttlichen Meisters unterwerfen. Später erklärt Cusanus in geradezu missionarischem Tonfall: Die Weisen dieser Welt kennen Jesus nicht – genauer: sie kennen den Jesus, den ich hier konstruiere, nicht, weil sie keine contradictoria akzeptieren können; „sie bleiben töricht und unwissend und blind in Ewigkeit“; nur diejenigen, die wie Kinder glauben, folgen der Offenbarung (n. 91). Wieder ist das sacrificium intellectus gefordert, Kritik bleibt ausgeschlossen. Schließlich das fast schon zur populären Zauberformel gewordene videre est videri. Das ist freilich weit mehr als ein Wortspiel. Es geht um Leben und Tod. Cusanus erinnert an den von Augustinus erwähnten Priester Restitutus aus der Diözese Calamis, der die Belebung seines Körpers aufheben (tollere vivificationem) und sie in seiner Seele zusammenziehen konnte60 – wie eine Kerze, die, gleichsam lebendig, ihre Strahlen ins Zentrum ihrer Flamme zusammenzieht. Das attrahere ist ein Aufhören des Ausströmens (influere). Wenn der menschliche Intellekt aufhört, den Körper zu beleben, so wird die Seele weggenommen (anima tolli), wie man sagt; der Intellekt ist dann aber nicht einfach vom Körper getrennt. Jesus konnte die belebende Seele geben und nehmen (n. 104). Das wird in De ludo globi (II, n. 96) wieder aufgegriffen, diesmal mit direktem Zitat aus Augustinus: Jener Priester konnte seine Verstandesseele (anima rationalis) willentlich vom Leib, von den Sinnesorganen zurückziehen, entfernen, so dass er wie tot dalag, ohne Atmung, mit ganz schwacher Wahrnehmung der Außenwelt. Das dient Cusanus als Argument für eine anthropologische These: Wenn die Verstandesseele einem Menschen einmal durch Eingießung (infusione) innewohnt, so kann sie ihn nicht mehr verlassen, mag ihr Gebrauch auch gegen Null gehen. Sie ist aber deshalb nicht tierisch (brutalis), und sie ist eins mit der sinnlich wahrnehmenden Seele. Restitutus und Jesus konnten diese Einheit auftrennen. Cusanus zieht daraus das Fazit: Die rationale Kraft beherrscht die Sinnesvermögen, folglich auch alle Aisthesis. Im zehnten Buch der Politeia (614 b ff.) hatte Platon von dem Pamphylier Er, Sohn des Armenios, berichtet, der auf einem Schlachtfeld liegen geblieben war und nach zehn Tagen, als die anderen Gefallenen schon verwest waren, unversehrt zur Bestattung aufgenommen wurde; als er am zwölften Tag auf dem Scheiterhaufen lag, lebte er wieder auf und berichtete, was er im Jenseits gesehen hatte. Diese Wiederauferstehung geschah wohl unwillkürlich; sofern die Restitution aber will Stock: Die Rolle, 61. Euler: Schriften, 196 f.; Euler: Der Blick, 78f., mit Hinweisen auf Verfolgungsphobien bei Tilmann Moser, Nietzsche, Sartre. 60 n. 104. Augustinus: De civitate Dei, XIV, c. 24. 58 59
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kürlich vollzogen wird, ist sie den Phänomenen und Praktiken zuzurechnen, die etwa Mircea Eliade 1951 als archaische Ekstasetechnik beschrieben hat: „Der riesige Abstand, welcher die Ekstase eines Schamanen von Platons Kontemplation trennt, die ganze von Geschichte und Kultur geschaffene Verschiedenheit ändert nichts an der Struktur dieses Ergreifens der letzten Realität: Nur durch die Ekstase gelangt der Mensch zur vollen Realisierung seiner Situation in der Welt und seines endlichen Schicksals. Man könnte fast von einem Archetyp ,existentiellen Bewusstwerdens‘ sprechen.“61 Die Topographie des Jenseits bildet einen global gemeinsamen Fundus sogenannter Naturreligion, der trotz aller offiziellen Unerwünschtheiten gründlichere Erforschung verdient. Zweifellos wusste Cusanus davon durch Erzählungen aus dem Volk;62 entscheidend ist jedoch die Art und Weise, wie er solche Materialien für seine theologischen Strategien in Dienst nimmt. Die volle Macht über Leben und Tod wird ausschließlich dem Mediator Jesus zugesprochen. Das absolute Sehen ist Erschaffen, Leben heißt im absoluten Blick bleiben; wendet sich dieser ab, stirbt das Geschöpf (vgl. n. 10). Die Formel videre est videri erscheint insofern irreführend, weil elliptisch: Das videre ist menschlich kontrakt, das videri aber göttlich absolut. Die „Identitätsmystik des Ineinander-Blicks zweier Augen“ bildet im übrigen, wie Haas vermerkt, „ein uraltes Motiv weltweit wirksamer Mystik“.63 8. Imitierte Ekstasis Im Spätsommer 1452 hatte Kaspar Aindorffer Cusanus die Frage vorgelegt, ob die fromme Seele Gott erreichen und unmittelbar in ihn gelangen könne sine intellectus cognicione, ohne Vernunfterkenntnis oder vorhergehendes oder gleichzeitiges Denken (cogitacione), solo affectu seu per mentis apicem quam vocant synderesim, allein durch den Affekt oder den Seelengrund, den sie Synderesis nennen.64 Der Kontext des Mystikerstreites ist oft dargestellt worden; hier interessiert nur die vermittelnde Taktik des Cusanus. Er antwortet am 22. September 1452: „Es kann nämlich jemand Anderen einen Weg zeigen, von dem er aus Gehörtem weiß, dass es der wahre ist, obschon er selbst nicht darauf gewandelt ist; aber sicherer kann es der, der schauend einhergeht. Wenn ich nun etwas davon schreibe oder sage, wird es unsicher sein; ich habe nämlich noch nicht verkostet [nondum gustavi], wie süß der Herr ist.“65
Eliade: Schamanismus, 375. Fragmente aus der ,gesunkenen Literatur‘ finden sich besonders in den Sermones. Er weiß z. B. von den holdi, den Holden, Hausgeistern, Zwergen usw., die von alten Frauen mit Nahrung versorgt werden (Sermo II, n. 20). 63 Haas: Das Letzte, 61; mit einem Beispiel aus der Bhagavad-Gita. 64 Vansteenberghe: Autour, 110; Oehl: Mystikerbriefe, 548. Synderesis ist Abschrei-befehler aus syneidesis, in der Hieronymus-Tradition: scintilla conscientiae, Gewissens-funke. Vgl. Haas: Das Letzte, 24. 65 Vansteenberghe: Autour, 113; Oehl: Mystikerbriefe, 551. 61 62
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Cusanus gesteht seine mangelnde Erfahrung ein. Renate Steiger erwägt, dass dies auch ein rhetorischer Topos sein kann, eine Geste der Bescheidenheit.66 Zweifellos; aber was würde damit verhüllt? Achtet man auf das Motiv des raptus, so wird das Motiv des Wollens, des Begehrens deutlich. 1449 hatte Cusanus erklärt, man könne zur absoluten, deshalb unbegreiflichen Wahrheit gelangen nur quodam incomprehensibili intuitu quasi via momentanei raptus, durch eine unbegreifliche Einsicht, gleichsam auf dem Weg einer augenblicklichen Entrückung.67 Ist das eine plötzliche Entrückung oder eine zeitlich begrenzte, nur einen Moment dauernde? Nun aber, in De visione Dei, und zwar in der zweiten Hälfte des Textes, versucht Cusanus, dem raptus gegenüber Distanz zu wahren. Die körperliche Ekstase wird ersetzt durch eine kontrollierte, kalkulierte Aktion. Sie kann bereits durch den bloßen, freilich affektgeladenen Blick auf bestimmte Objekte bewirkt werden: Ich sehe Dich, Herr, mein Gott, in raptu quodam mentali, in einer Art geistiger Entrückung (n. 70). Ist diese mentale Entrückung eine rational gefilterte Variante oder ein Substitut? Etwas später beteuert Cusanus: Conatus sum me subicere raptui, ich habe es gewagt, mich der Entrückung zu unterwerfen (n. 79). Nachdem er das „Geheimnis“ der Filiation bzw. Generation dargelegt hat (oben, 5 h), ruft er aus: Quis non altissime rapitur haec attentius prospiciens? Wer wird nicht aufs höchste entrückt, wenn er dies aufmerksamer betrachtet?68 Das Adjektiv tritt einmal in schwacher Bedeutung auf: Jemand versucht, mit aufmerksamem (gespanntem) Blick einen Herankommenden zu erkennen und wird doch von anderen Überlegungen abgelenkt, raptus.69 Der paulinische Bericht von der Entrückung eines Menschen ins Paradies (in raptu; 2 Kor 12,2-4) wird auf Paulus selbst bezogen (n. 107). Den Schluss inszeniert Cusanus dann allerdings effektvoll als quasi reale Entrückung. „Was zögere ich?“ heißt es da: „Was hält mich? Wenn mich bisher das Nichtwissen Deiner, Herr, hielt, und leeres Vergnügen der sinnlichen Welt, so wird es mich nicht weiter halten.“ (n. 119) Nochmals: Wer spricht? der Autor Nikolaus von Kues? der betrachtende Mönch? der Leser? Sie? oder ich? – Wenn ich meinen Lauf (cursus) beendet, den Siegeskranz (coronam) erhalten haben werde, nach dem ich strebe, wenn ich am Ziel angekommen bin, dann werde ich alles in dieser Welt lassen: Rapis me, ut sim supra me ipsum, Du entrückst mich, so dass ich über mich selbst hinaus bin und den Ort der Herrlichkeit voraussehe (praevideam), zu dem Du mich einlädst (n. 119). Unfassbarer Augenblick, in dem Reden und Schreiben sich auflösen könnten in das, wovon geredet und geschrieben wurde. Mit einem Amen schließt der Text. Finivit Brixne 1453, 8 Novembris. Nycolaus cardinalis.70 Verlässt man diese Welt Steiger: Einleitung, XXI f. Vgl. Euler: Schriften, 194f. Apologia, n. 16. 68 n. 85. Pfeiffer: „hingerissen“; Dupré: „zutiefst bewegt“. Das Wortfeld elevatio, elevare bleibt hier beiseite; etwa: altissime elevor (n. 52). 69 n. 102. Dieselbe Szene in De quaerendo Deum, n. 33. Vgl. Thiel: Invisibilia, 267. 70 Codex Latinus Gissensis 695 (Explicit); zitiert bei Hopkins: Mysticism, 16f. 66 67
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mit einer bürokratischen Datierung? Die Ambivalenz des ganzen Vorgangs ist oft diskutiert worden. Cusanus scheint ein authentisches Erlebnis dokumentiert zu haben, das der von ihm beschriebenen Grenze äußerst nahe kommt. Er erliegt der Faszination des raptus, doch wehrt er sich gegen den damit drohenden Kontrollverlust. Gleichwohl bewahrt er Funktion und Prinzip der Ekstase und simuliert sie mit literarischen Mitteln. Damit werden erneut die Verbindungen zum archaischen Untergrund gekappt und das ,naturreligiöse‘ Potential umfunktioniert. Das Verlassen dieser Welt ist freilich, wie Derrida bemerkt hat, eine genuin christliche Geste; sie scheint erst mit der Raumfahrttechnik realisierbar zu werden, zugleich aber ermöglicht sie den quasi panoptischen Blick auf die Erdkugel: „The limits of the earth are reached when the earth is left behind. The equation ,world’, in the Christian sense, equals ,planet earth’ is established at the moment when technology can leave the earth. What guarantees the panoptical and universal power of television is the network of satellites at the moment when one can leave the earth. But leaving the earth is also Christian. The relation between the terrestrial and the supraterrestrial, between the heavenly and the worldly, is also a Christian (hi)story.“71 Die späteren Rückverweise auf De visione Dei erhellen Cusanus’ Intention. Im Trialogus de possest (1460) sagt er, im „libellus Iconae“ werde ein Rätselbild gegeben, welches verdeutliche, wie das Eine Alles und jedes Einzelne zugleich sehe und sei.72 Das Grundproblem der Schrift ist demnach das Verhältnis des Einen zum Vielen, der Ursprung des Vielen und die Frage, wie die Rückbindung des Vielen an den Ursprung gewährleistet werden könne. In De venatione sapientiae (1463) erklärt Cusanus, man könne keine Vielzahl von Göttern behaupten, ohne ihnen die Einheit, den einen Gott voranzustellen; in mehreren Büchern, darunter De visione Dei, habe er dazu einiges angemerkt.73 In seiner letzten Schrift, De apice theoriae (1464), führt er sein libellus „De icona sive visu Dei“ unter denen an, die Peter von Erkelenz, Sekretär und Gesprächspartner, unbedingt lesen soll.74 9. De divisione dei Im späten 6. Jahrhundert, angesichts eines verbreiteten Analphabetismus, empfahl Gregor der Große, in der Andachtspraxis Bilder zu verwenden: Quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernentibus, was den Lesenden das Buch, das bietet den Nicht-Lesern das Bild.75 Heinrich Seuse forderte den Bildgebrauch bei Gebetstexten für Laien, ebenso Jean Gerson, dessen Thesen den Mystikerstreit Derrida: Above All, 68f. n. 58. Vgl. Herold: Bild der Wahrheit, 73; Thiel: Intellekt, 73f. Im Trialog finden sich mehrere Motive wieder, etwa der Sucher im Dunkel (De possest n. 31; De visione Dei, c. 9) oder die Entrückung, „ferne der Welt“, in der der Gläubige sich als Ebenbild Christi sieht (De possest, n. 39). 73 De venatione sapientiae, n. 63, mit Verweis auf Augustinus: De Trinitate. 74 De apice theoriae, n. 16. 75 Gregor I.: Registrum XI, 10; zitiert nach Steiger: Einleitung, XVI. 71 72
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mit veranlassten. Cusanus erklärt, ein Bild verhelfe dem Betrachter nicht zur Vervollkommnung, es liefere ihm keine Kultur. Das Äußerste, was es leisten könne, sei, ihn anzuregen, nach der Wahrheit dessen zu fragen, wovon es das Bild ist – „so wie das Bild des Gekreuzigten (imago crucifixi) keine Andacht einflößt (influit devotionem; Hingabe), sondern die Erinnerung anregt, damit Andacht einfließe“ (n. 112). Anhand eines ganz anderen Bildes will Cusanus jedoch den Ursprung sehen, das Absolute, Unendliche. Um das zu fassen, steigert er seine Imagination bis zur Vision der zentralen christlichen Symbole. Er maximiert und erklärt die Bilder, die ihm in und hinter dem realen Bild erscheinen: ,Vater‘, ,Sohn‘ usw. Ungesagt bleibt die hinter dieser zweiten Bilderschicht stehende Zone logischer, in den Ternaren kondensierter Operationen. Cusanus belässt es bei einer dogmatischen Bildersprache. Wie der im Unendlichen liegende focus imaginarius, der Augen- oder Fluchtpunkt der Zentralperspektive, einen imaginären Raum geometrisch ordnet, so erzeugt der unentrinnbare binokulare Blick bei Cusanus einen theologisch organisierten Zeitraum des Infiniten. Die Materialität, das Opake der Holztafel ist unabdingbar. Der Text beschreibt die Phasen, Stufen, Sprünge ihrer Überwindung. Am Ende der manuductio ist jenes Ding aus Holz und Farbe quasi durchsichtig, durchblickbar geworden, zugleich überflüssig, es hat seinen Zweck erfüllt. Diese Transparenz des Materiellen ist eine subtile Form des Ikonoklasmus, zumindest eine Abwehr aller Idolatrie. Kaum ein Text des Cusanus ist so diaphan wie dieser. Hier lässt sich an einigen zentralen Elementen studieren, wie das römisch-katholische Christentum – dessen heutige Formen nicht einfach mit denen des 15. Jahrhunderts zu identifizieren sind – seine Strukturen und Konturen gewonnen hat, wie es seine Wurzeln und Quellen transformiert und unkenntlich macht und sich als geschlossenes System mit universalem Anspruch konstituiert. Hans Blumenberg gewann seinen Lieblingsausdruck „Sprengmetaphorik“ aus Cusanus’ bekannten Operationen: Verkleinert man den Kreis unendlich, wird er zum Punkt; vergrößert man ihn unendlich, wird der Radius zur Geraden – beides überschreitet die Grenze der Vorstellungskraft. Der nicht als definierte geometrische Figur, sondern als Metapher behandelte Kreis sprengt den begrifflichen Horizont.76 Wer diesen Transfer, die meta-phorische, über-tragende Aktion von der euklidischen Geometrie zur Metaphorik nicht mitmacht (evtl. aus guten Gründen?), für den produziert Cusanus blauen Dunst. Blumenbergs Sprengsätze suchen die präzis kalkulierten, strategisch durchdachten Operationen des Cusanus auf plastische Begriffe zu bringen. Insofern bleiben sie eine Art wohlmeinendes Dynamit. Was aber, wenn der Sprengstoff einmal zu stark dosiert wäre? 1937 schrieb der französische Ethnologe und Dichter Michel Leiris, der einige Jahre zuvor an der Afrika-Expedition von Dakar nach Djibouti teilgenommen hatte, eine Reflexion über das plötzliche Zerreißen der Einheit, ihr Zerspringen, Explodieren. Die ,erBlumenberg: Paradigmen, 166-193 („Geometrische Symbolik und Metaphorik“). Dazu Herold: Wahrheit des Bildes, 82f. 76
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füllten‘ Momente im Leben erscheinen uns als die Punkte, an denen Opposita sich berühren. Ordnung und Chaos, unendlichste innigste Einheit und infinitesimale Zersplitterung – les extrêmes se touchent, in einer unerhörten Polarität: „So wie Gott – Koinzidenz der Gegensätze, nach Nikolaus von Kues [...], pataphysisch definiert werden konnte als ,Berührungspunkt von Null und Unendlich’, so gibt es unter den zahllosen Tatsachen, die unser Universum bilden, gewisse Knoten oder kritische Punkte, die man geometrisch darstellen könnte als die Orte, an denen man sich von der Welt und von sich selbst berührt fühlt. [...] Der Wechsel von Prozessen der Sakralisation und Desakralisation, der allen eigentlich religiösen Operationen inhärent ist [...], hat Teil an dieser erregenden Dynamik, welche bewirkt, dass jeder Moment, in dem wir uns endlich erfüllt glauben und im Einklang mit uns selbst wie mit der umgebenden Natur, den Aspekt einer Art Berührung annimmt [une sorte de tangence], d. h. eines kurzen Paroxysmus, der nicht länger dauert als ein Blitz und der sein Aufleuchten der Tatsache verdankt, dass er sich auf der Kreuzung einer Vereinigung und einer Trennung befindet, einer Akkumulation und einer Verausgabung, wie der Gott des Nikolaus von Kues, absolut in dem Maß allein, in dem er das Ganze aller Linien und all ihrer Abweichungen umfasst, zugleich sich darin zerreißt.“77 Absolute Einheit wird nicht durch Koinzidenz produziert; letztere ist nur das Medium, um jene anzudeuten. Einheit ist niemals einfach gegeben, sie muss konstituiert werden. Sie lässt sich definieren nur durch das, was sie nicht ist; sie muss immerzu ihr Anderes absorbieren, ihr Negatives verarbeiten. Gelingt das nicht, wird sie von den oppositalen Kräften zerrissen, zerstückelt, gesprengt. Mythische Bilder dafür gibt es viele, Osiris, Dionysos .... Lassen sich auch Texte sprengen? Indem die eine Lektüre aufhört, beginnt die andere. Gemäß der von Cusanus aufgestellten regula docta ignorantiae78 gibt es aber keine Lektüre, die nicht noch angemessener sein könnte.
„... comme le Dieu de Nicolas de Cuse, absolu dans la seule mesure où il embrasse, en même temps qu’il s’y déchire, l’ensemble de toutes les lignes et de toutes leurs déviations.“ Leiris: Spiegel, 30-35 (Übersetzung modifiziert). 78 De docta ignorantia I, n. 9. 77
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Sermo CCXLIII – Tota pulchra es, amica mea et macula non est in te Übersetzung: Matthias Simperl, Tübingen*
1. „Tota pulchra es, amica mea, et macula non est in te“, Canticorum 4. Quoniam de nativitate virginis gloriosae festa agimus et canimus verba thematis, de pulchritudine nobis sermo erit.
1. „Ganz schön bist Du, meine Freundin, und kein Makel ist an Dir“ (Hld 4,7). Weil wir ja das Geburtsfest der glorreichen Jungfrau begehen und die thematischen Worte singen, wird unsere Predigt über die Schönheit sein.
2. Primum1 quidem occurit dictum Dionysii, ubi de pulchritudine agit, notandum scilicet quod bonum Graece „kalos“ dicitur, pulchrum vero „kallos“, quasi vicina sint bonum et pulchrum. „Kalo“2 vero Graece „voco“ dicitur Latine; vocat enim bonum ad se et allicit, sic et pulchrum. Dicitur etiam pulchrum „formosum“ a forma et „speciosum“ a specie et „decorum“ a decoro sive decet. Id enim quod decet, venustum et pulchrum est.
2. Zuerst freilich fällt ein, was Dionysius gesagt hat, als er über die Schönheit handelt, dass nämlich zu bemerken ist, dass gut auf Griechisch kalos heißt, schön aber kallos, so wie wenn gut und schön benachbart seien. Das griechische kalo aber heißt im Lateinischen voco; das Gute ruft nämlich [Dinge] zu sich und zieht [sie] an, so auch das Schöne. Das Schöne wird auch formosum genannt von forma her und speciosum von species her und decorum von decorus oder decet her. Dasjenige nämlich, das sich geziemt, ist anmutig und schön.
3. Et si attendimus, tunc sensibus spiritualioribus, cum quibus doctrinas venamur, attingimus suo modo pulchrum. Dicimus enim colorem et figuram habere pulchritudinem et similiter vocem, cantilenam et sermonem. Sic visus et auditus pulchritudinem aliqualiter attingunt. Non dicimus odorem pulchrum, nec saporem, nec quae tactui subsunt, quia illi sensus spiritui rationali non sunt ita vicini; sunt enim pure brutales seu animales. Omnes enim hominis
3. Und wenn wir achtgeben, dann erreichen wir mit den geistigeren Sinnen, mit denen wir Lehren erjagen, auf ihre Weise das Schöne. Denn wir sagen, dass Farbe und Gestalt Schönheit haben und auf ähnliche Weise Stimme, Gesang und Rede. So erreichen Seh- und Gehörsinn die Schönheit einigermaßen. Wir nennen nicht den Geruch schön noch den Geschmack, noch das, was mit dem Tastsinn verbunden ist, weil jene Sinne dem rationalen Geist nicht sonderlich nahekommen; sie sind näm-
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sensus ex unione ad intellectualem spiritum sunt nobiliores quam sint in brutis. Vis enim nobilior sibi unitum nobilitat, sicut lux solaris aerem illuminat. Sed subtiliores sensus habent propinquiorem unionem cum intellectu. Unde visus allicitur per pulchram formam et colorem, sic auditus per pulchram harmoniam. Et hoc in homine verum, quia ratio, quae in proportionibus delectatur, in illis sensibus propinquius relucet. Et ideo bene ordinata et proportionata, hoc est ubi in pluralitate relucet unitas proportionis seu harmoniae, sunt grata.
lich schlechthin unvernünftig bzw. tierisch. Alle Sinne des Menschen nämlich sind durch die Vereinigung mit dem vernünftigen Geist edler, als sie das bei Tieren sind. Denn eine edlere Kraft veredelt, was mit ihr geeint ist, so wie das Sonnenlicht die Luft erhellt. Aber den feineren Sinnen ist eine tiefergehende Vereinigung mit dem Intellekt zu eigen. Daher wird der Sehsinn durch eine schöne Form und Farbe angezogen, so auch der Gehörsinn durch eine schöne Harmonie. Und dies ist beim Menschen wahr, weil die ratio, die sich an Proportionen erfreut, in jenen Sinnen auf tiefergehende Weise widerscheint. Und darum sind wohlgeordnete und proportionierte Dinge, d. h., wo in der Vielheit die Einheit des Verhältnisses oder der Harmonie widerscheint, angenehm.
4. Rationem3 autem pulchri consistere in quadam consonantia diversorum idem Dionysius dicit. Tractat4 autem ipse, quo modo „sunt quaedam divinae processiones in creaturas, quibus perficiuntur in divinam assimilationem, cum procedant processione formali, sicut a calido primo alia calida. Prima autem processio, quae est in mente, est secundum apprehensionem veri. Deinde illud verum excandescit et accipitur in ratione boni, et sic demum movetur desiderium ad ipsum. Oportet enim motum desiderii duplicem apprehensionem antecedere: unam quae est intellectus speculativi, quae est ipsius veri absolute; alteram autem quae est intellectus practici per extensionem veri in ratione boni. Tunc primo oritur motus desiderii ad bonum.“
4. Derselbe Dionysius sagt, dass das Prinzip des Schönen (jedoch) auf einem gewissen Einklang von voneinander Verschiedenem beruht. Er behandelt (jedoch) selbst, auf welche Weise „es gewisse göttliche Hervorgänge in die Geschöpfe gibt, durch die sie [die Geschöpfe] vollendet werden hin zur Angeglichenheit an das Göttliche, indem sie hervorgehen durch einen Hervorgang der Form nach, so wie aus einem ersten warmen Ding andere warme Dinge [hervorgehen]. Der erste Hervorgang (jedoch), der im Geist geschieht, geschieht gemäß der Erfassung des Wahren. Darauf entzündet sich jenes Wahre und wird unter dem Aspekt des Guten empfangen, und so wird schließlich das Verlangen zu diesem selbst bewegt. Der Bewegung des Verlangens muss nämlich ein zweifaches Erfassen vorausgehen: eines
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vonseiten des spekulativen Intellekts, das [ein Erfassen] des Wahren auf absolute Weise ist; ein anderes jedoch vonseiten des praktischen Intellekts; [dieses geschieht] durch die Ausdehnung des Wahren im Bereich des Guten. Dann erst zeigt sich die Bewegung des Verlangens zum Guten.“ 5. Et ponit Albertus super Dionysio, cuius haec sunt verba, exemplum quod „sicut ars medicinae non consequitur effectum operando, nisi adiuvetur virtute naturae, sic et desiderium non movetur, nisi dirigatur per apprehensionem veri. Apprehensioni veri correspondet processio luminis; apprehensioni veri in ratione boni respondet processio pulchri; motui desiderii respondet processio diligibilis“, prout Dionysius per ordinem de illis tractat.5
5. Und Albertus [Magnus] fügt [den Ausführungen des] Dionysius, dessen Worte dies sind, das Beispiel hinzu, dass, „wie die Kunst der Medizin den Erfolg nicht durch die Tätigkeit erreicht, wenn sie nicht von der Kraft der Natur unterstützt wird, so auch das Verlangen nicht bewegt wird, wenn ihm nicht durch das Erfassen des Wahren eine bestimmte Richtung gegeben wird. Dem Erfassen des Wahren entspricht der Hervorgang des Lichtes; dem Erfassen des Wahren unter dem Aspekt des Guten entspricht der Hervorgang des Schönen; der Bewegung des Verlangens entspricht der Hervorgang des Liebenswerten“, so wie Dionysius über jene der Ordnung nach handelt.
6. Et6 quia Tulius in primo Officiorum diffinit pulchrum ut honestum, scilicet „quod sua vi nos trahit et sua dignitate nos allicit“, ideo7 considerandum „quod pulchrum in ratione sua tria concludit, scilicet splendorem formae sive substantialis sive accidentalis super partes materiae proportionatas et terminatas, sicut corpus dicitur pulchrum ex resplendentia coloris super membra proportionata; secundum, quod trahit ad se desiderium, et hoc habet inquantum est bonum et finis; tertium, quod congregat omnia, et hoc dicitur ex parte formae, cuius resplendentia facit pulchrum. Sed
6. Und weil Tullius [Cicero] im ersten Buch von De officiis das Schöne wie das sittlich Gute definiert, nämlich, „dass es uns durch seine Kraft zieht und durch seine Erhabenheit anzieht“, darum ist zu bedenken, „dass das Schöne in seinem Wesen dreierlei einschließt, [erstens] nämlich den Glanz der Form – sei es der substanziellen, sei es der akzidentiellen – die proportionierten und abgegrenzten Teile der Materie betreffend, so wie ein Körper wegen des Widerscheins der Farbe auf den proportionierten Gliedern schön genannt wird; zweitens, dass es zu sich das Verlangen zieht, und dies ist ihm eigen,
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pulchritudo per se est, quae per suam essentiam est causa pulchritudinis omnem pulchritudinem faciens.“
insofern es ein Gutes und ein Ziel ist; drittens, dass es zusammenführt – und dies wird gesagt wegen desjenigen Teiles der Form, dessen Widerschein [etwas] schön macht. Aber die Schönheit an sich ist das, was durch sein Wesen Grund aller Schönheit ist, der alle Schönheit hervorbringt.“
7. „Pulchrum8 igitur et honestum in ratione subiecti idem sunt. Differunt autem ratione, quia ratio pulchri in universali consistit in resplendentia formae super partes materiae proportionatas vel super diversas materias vel actiones. Honesti ratio consistit in hoc quod trahit ad se desiderium.“ Pulchritudo9 et pulchrum in Deo idem sunt secundum Dionysium. „Nam10 pulchritudo in Deo est prima et summa, a qua emanat natura pulchritudinis in omnibus pulchris, quae est forma pulchrorum;“ facit11 enim omnia pulchra sicut albedo alba. „Essentia12 Dei, quae Deus, secundum Albertum est summa pulchritudo et prima.“
7. „Das Schöne also und das sittlich Gute sind bezogen auf den Gegenstand dasselbe. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrem Gehalt, weil das Wesen des Schönen im Allgemeinen im Widerschein der Form in den proportionierten Teilen der Materie besteht, entweder in verschiedenen Materien oder Tätigkeiten. Das Wesen des sittlich Guten besteht darin, dass es zu sich das Verlangen zieht.“ Die Schönheit und das Schöne sind Dionysius zufolge in Gott dasselbe. „Denn die Schönheit in Gott ist die erste und höchste, von der die Natur der Schönheit aus in allen schönen Dingen emaniert, [und] welche die Form der schönen Dinge ist;“ sie macht nämlich alle Dinge schön wie die weiße Farbe [die Dinge] weiß. „Die Wesenheit Gottes, die Gott selbst ist, ist nach Albert die höchste Schönheit und die erste.“
8. In13 omni pulchro sunt consonantia sive proportio et claritas. Consonantia ut subiectum, claritas ut essentia. „Virtus14 in se habet claritatem, per quam est pulchra, etiam si a nullo cognoscatur; aptitudinem tamen habet, ut cum claritate in notitiam veniat. Sic honestum Tulius aiebat pulchrum.“15
8. In allem Schönen finden sich Übereinstimmung oder Proportioniertheit, und Klarheit. Übereinstimmung als Zugrundeliegendes, Klarheit als Wesen. „Die Tugend hat Klarheit in sich, durch welche sie schön ist, auch wenn sie von keinem erkannt wird; [in diesem Fall] hat sie doch die Anlage, mit Klarheit bekannt zu werden. So bezeichnete Tullius das sittlich Gute als schön.“
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9. Pulchrum16 ratione subiecti cum bono communicat; ideo omnia pulchritudinem exoptant. „De17 ratione boni est, quod sit finis desiderii, movens ipsum ad se. Ideo diffinitur a philosopho: Bonum est quod omnia appetunt. Honestum addit supra bonum, quod sua vi et dignitate nos trahat. Pulchrum ulterius superaddit resplendentiam et claritatem quandam super quaedam proportionata.“ Unde18 pulchritudini inquantum finis et bonum convenit ad se vocare, inquantum forma convenit sibi congregare; formae enim proprie convenit congregare, quia multiplices potentias materiae unit et concludit in uno. Inquantum finis, vocat ad se. „Pulchritudo19, quae tantum ab una forma dependet, est perfectioris pulchritudinis quam id, cuius pulchritudo conficitur a pluribus formis. Nam quanto aliquid a paucioribus receperit perfectionem suam, tanto nobilius est.“
9. Das Schöne ist hinsichtlich des Gegenstandes mit dem Guten verbunden; daher ersehnen alle Dinge Schönheit. „Dem Wesen des Guten ist es eigen, dass es Ziel des Verlangens ist, indem es dieses zu sich bewegt. Deshalb wird es vom Philosophen [Aristoteles] so definiert: Das Gute ist, was alle Dinge erstreben. Das sittlich Gute fügt zum Guten hinzu, dass es uns durch seine Kraft und Erhabenheit zieht. Das Schöne fügt noch darüber hinaus gewissen proportionierten Dingen Widerschein und eine gewisse Klarheit hinzu. Daher kommt es der Schönheit als Ziel und Gut zu, zu sich zu rufen, als Form kommt es ihr zu, mit sich zu vereinen; der Form kommt es nämlich besonders zu, zusammenzuführen, weil sie [die Form] vielfache Potenzen der Materie eint und in einem zusammenschließt. Als Ziel ruft sie zu sich. „Schönheit, die nur von einer Form abhängt, ist von vollkommenerer Schönheit als das, dessen Schönheit von mehreren Formen zustande gebracht wird. Denn von je weniger Dingen etwas seine Vollendung empfangen hat, desto edler ist es.“
10. Tractat20 deinde Dionysius quo modo pulchrum, quod cum bono convertitur, est causa omnium motuum spirituum, scilicet qui moventur desiderio. Desiderium igitur proprie est spiritus. Quando angelo ostenditur boni pulchritudo, avide illam revelare nititur et quantocius ad fruendum illa reverti, ut sic circulus concludatur. Ostensio fit in centro, descensio revelationis est motus per rectam lineam ad extrema, via providentiae scilicet, deinde reditio est quasi motus obliquus, ut in bonitatis
10. Hierauf handelt Dionysius davon, auf welche Weise das Schöne, das mit dem Guten konvertibel ist, die Ursache aller Bewegungen der Geister ist, die nämlich durch das Verlangen bewegt werden. Das Verlangen ist also im eigentlichen Sinne dem Geist zugehörig. Wenn einem Engel die Schönheit des Guten gezeigt wird, bemüht er sich mit Leidenschaft, jene zu offenbaren, und auf das Geschwindeste dazu zurückzukehren, jene zu genießen, sodass so der Kreis geschlossen wird. Das Zeigen geschieht in der Mitte,
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pulchritudine circulus concludatur. Sicut cui thesaurus ostenditur, laetitiam communicat amico quamcito potest, et tunc revertitur ad numerandum seu fruendum thesauro, sic angeli circulariter recte et reflexe moventur et animae, quae similiter tot motibus moventur.
der Abstieg der Offenbarung ist eine Bewegung auf einer geraden Linie zum Äußersten, nämlich der Weg der Vorsehung, daraufhin erfolgt die Rückkehr wie eine gekrümmte Bewegung, sodass in der Schönheit der Gutheit der Kreis geschlossen wird. Wie jemand, dem ein Schatz gezeigt wird, die Freude so schnell wie möglich mit dem Freund teilt, und dann zurückkehrt, um den Schatz zu zählen oder sich an ihm zu erfreuen, so werden die Engel auf kreisförmige Weise – gerade und gekrümmt – bewegt – und die Seelen, die auf ähnliche Weise bei all ihren Bewegungen bewegt werden.
11. Quando21 sol irradiat visum, ut eo mediante videat colores, tunc si visus vult intueri lucem solis, se retrahit ab omnibus coloratis. Sic anima ex lumine intellectus agentis videt particularia, et quando vult in ipsum lumen intueri, retrahit se a particularibus et revertitur sic ad lumen primum. Iste est motus circularis secundum Albertum. Nam visus est ut intellectus, lux solis ut lumen intellectus agentis, intelligibilia ut colores.
11. Wenn die Sonne den Sehsinn erhellt, sodass er vermittelst ihrer die Farben sieht, dann zieht sich der Sehsinn, wenn er das Sonnenlicht betrachten will, von allem Farbigen zurück. Auf solche Weise sieht die Seele durch das Licht des intellectus agens die Einzeldinge, und wenn sie in diesem selbst das Licht sehen will, zieht sie sich von den Einzeldingen zurück und wendet sich so zum ersten Licht. Dies ist Albert zufolge eine Kreisbewegung. Denn der Sehsinn ist wie der Intellekt, das Sonnenlicht wie das Licht des intellectus agens, die Verstandesdinge sind wie die Farben.
12. Sic22 est motus a pulchritudine primi, et revertitur in ipsum. Nam virtute luminis divini in intellectu agente micantis omnia facit intellectus agens. Quando igitur intellectus possibilis recepit lumen intellectus agentis et revertitur de particularibus ad se intuendo, tunc ex eo recepit et quod sibi esse praestitit actu reflectit in primum secundum intellectum.
12. Auf solche Weise geschieht die Bewegung von der Schönheit des Ersten, und sie kehrt zu diesem selbst zurück. Denn durch die Kraft des göttlichen Lichtes, welches im intellectus agens aufscheint, macht der intellectus agens alle Dinge. Wenn also der intellectus possibilis das Licht des intellectus agens empfangen hat und sich von den Einzeldingen dahin wendet, sich zu betrachten, dann, nachdem er
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von diesem auch empfangen hat, was ihm das Sein gewährt, wendet er sich in Wirklichkeit - seinem Verstehen entsprechend - zurück zum Ersten. 13. Omnium23 sensibilium motus ex pulchro in pulchrum est. Sic omnium progressionum, stationum, vitarum, sensuum, animae, naturae, parvitatum, magnitudinum, proportionum, mixtionum, proprietatum et omnium. „Nam24 quidquid est ex pulchro et bono, et in pulchro et bono est, et ad pulchrum bonumque convertitur. Et omnia quaecumque sunt et fiunt, ob bonum pulchrumque fiunt et sunt, ipsumque aspiciunt omnia et ab ipso moventur et continentur, et ipsius gratia et per25 ipsum et in ipso est principium omne, a quo exempla ducuntur.“
13. Die Bewegung aller Sinnendinge verläuft aus dem Schönen ins Schöne. Auf solche Weise [verläuft die Bewegung] allen Fortschreitens, allen Stillstehens, allen Lebens, aller Sinne, der Seele, der Natur, der Kleinheiten, der Großheiten, der Proportionen, der Vermischungen, der Eigentümlichkeiten und aller Dinge. „Denn was auch nur aus dem Schönen und Guten ist, ist auch im Schönen und Guten und kehrt zum Schönen und Guten zurück. Und was auch immer alle Dinge sind und werden, sie werden und sind des Guten und Schönen wegen, und auf dieses selbst blicken alle Dinge und von ihm selbst werden sie bewegt und umfasst, und seinetwegen und durch es und in ihm ist aller Ursprung, aus dem die Muster herausgeführt werden.“
14. Et concludit dicens: „Et26 ut breviter perstringam, omnia quae sunt, pulchro et bono sunt, et quae non sunt, omnia supersubstantialiter in pulchro sunt et bono, estque ipsum initium omnium et finis.“ Et infra: „Omnibus27 igitur est pulchrum et bonum desiderabile et amabile ac diligibile, et per ipsum atque ipsius gratia et inferiora conversionis ratione praestantiora amant, et paria socialiter aequalia diligunt, et praestantiora minoribus providendo amore iunguntur, et ipsa se amant singula suae ratione constantiae vel continentiae, et omnia quaecumque faciunt et volunt, pulchri et boni desiderio et faciunt et volunt.“
14. Und er schließt, indem er sagt: „Und um dies kurz zu streifen: Alle Dinge, die sind, sind vom Schönen und Guten, und die Dinge, die nicht sind, sind alle auf übersubstanzielle Weise im Schönen und Guten, und dieses selbst ist der Anfang aller Dinge und ihr Ziel. Und weiter unten: „Für alle Dinge ist also das Schöne und Gute erstrebenswert und liebenswert und schätzenswert durch es selbst wie seinetwegen, und die niedrigeren Dinge lieben vorzüglichere Dinge, indem sie sich [zu ihnen] hinwenden, und gleiche Dinge lieben gemeinschaftlich Gleiches, und vorzüglichere Dinge verbinden sich mit niedereren in vorsehender Liebe, und Einzeldinge lieben sich selbst wegen ihrer Beständigkeit und Verfasstheit,
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und was auch immer alle Dinge tun und wollen, sie tun und wollen es aus Verlangen nach dem Schönen und Guten.“ 15. Concludit autem sic: „Confidenter28 id quoque verissima ratione dicemus, quod ipse quoque auctor omnium pro bonitatis magnitudine omnia amat, omnia facit, omnia perficit, omnia continet, convertitque omnia.“ Habunde multiplicatis terminis magnus ille Ariopagita nos docet idem esse bonum, quod omnia appetunt, et absolute pulchrum quod et pulchritudo. Ponit29 autem bonitatis absolutae proprietates, quas in sole exemplificat, et deinde de luce sensibili se ad lucem convertit intelligibilem, quo modo lux illa ad instar solis in sensibili natura operatur in spiritibus intellectualibus. Omnia certe, quae de pulchro scribit, pulchra sunt.
15. Er schließt jedoch so: „Voll Vertrauen wollen wir auch aus sehr vernünftigem Grund sagen, dass auch der Urheber von allem selbst infolge der Größe seiner Gutheit alle Dinge liebt, sie alle macht, sie alle vollendet, sie alle umfasst, und sie alle hinwendet [zum Guten].“ Reichlich und mit vielfältigen Begriffen lehrt uns jener große Areopagit, dass das Gute, das alle Dinge erstreben, und das auf absolute Weise Schöne, das auch die Schönheit [ist], dasselbe sind. Er führt (jedoch) die Eigentümlichkeiten des absoluten Guten an, die er an der Sonne beispielhaft verdeutlicht, und daraufhin wendet er sich vom sinnlich wahrnehmbaren Licht zum Verstandeslicht, [und hält fest], wie jenes Licht – ganz wie die Sonne in der sinnlich wahrnehmbaren Natur – in den vernünftigen Geistern tätig ist. Gewiss ist all das, was er über das Schöne schreibt, selbst schön.
16. Attendamus30 nos quo modo ultimum gradum relucentiae pulchri in spiritualioribus sensibus, scilicet visu et auditu attingimus, ut moveatur intellectualis spiritus admiratione et excitetur eius potentia, ut procedat in actum currendi ad pulchrum intellectualiter, quod sensu modicissime attigit, sicut qui acie linguae tetigit dulce praegustando movetur, ut ex illo reficiatur. Omnia enim bonum, quod est et pulchrum, appetunt et ad ipsum se convertunt, quaelibet res iuxta suam naturam, aut essentialiter aut vitaliter aut intellectualiter.
16. Wir wollen unsere Aufmerksamkeit darauf richten, wie wir die äußerste Stufe des Widerscheins des Schönen in den geistigeren Sinnen, dem Sehund Gehörsinn nämlich, erreichen, damit der vernünftige Geist durch Bewunderung bewegt werde und durch sein Vermögen angeregt werde, fortzuschreiten zum Akt des Eilens zum Schönen auf die Weise der Vernunft, welches er durch den Sinn auf sehr geringe Weise erreicht hat – wie wenn einer, der mit der Zungenspitze etwas Süßes berührt hat, um vorzukosten, bewegt wird, um von jenem erquickt
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zu werden. Alle Dinge nämlich erstreben das Gute, das auch das Schöne ist, und wenden sich zu diesem selbst, ein jedes Ding seiner Natur entsprechend, entweder auf die Weise des Seienden oder des Lebendigen oder des Vernünftigen. 17. Natura autem intellectualis quia ipsa boni et pulchri naturam intellectualiter participat, quia haec est forma sua, non potest nisi sub fluxu illius pasci et vivere. In bono igitur et pulchro, quod intellectualiter intuetur et degustat, est vita eius.
17. Weil jedoch die vernünftige Natur selbst an der Natur des Schönen und Guten auf die Weise der Vernunft teilhat, kann sie, weil diese ihre Form ist, nur genährt werden und leben durch das Einfließen von jenem [des Schönen und Guten]. Im Guten und Schönen also, das auf die Weise der Vernunft betrachtet und gekostet wird, ist ihr Leben.
18. Experimur autem in omnibus ratione vigentibus iudicium pulchri esse. Dicunt enim hanc figuram circularem pulchram, illam rosam pulchram, hoc lignum pulchrum, hanc cantilenam pulchram. Unde nisi iudex, qui est intellectus, in se haberet speciem pulchritudinis omnem sensibilem pulchritudinem complicantem, non posset iudicium facere inter pulchra, dicendo hoc esse pulchrum, hoc pulchrius. Quare intellectus est quaedam universalis pulchritudo seu species specierum, cum species sint contractae pulchritudines, et quasi ignis est in se complicans omnium calidorum formam et speciem, sic intellectus est vis complicativa omnium specierum intelligibilium. Intellectualis enim natura, quae est prima pulchri irradiatio, in eo quod est Dei imago, qui est ipsa pulchritudo antecedenter, in se complicat omnes naturales pulchritudines, quae per species in universo explicantur.
18. Wir erfahren jedoch bei allen vernünftigen Lebewesen, dass [bei ihnen] ein Urteil über das Schöne vorhanden ist. Sie nennen nämlich diese kreisförmige Gestalt schön, jene Rose schön, dieses Holz schön, diesen Gesang schön. Weswegen der Richter, welcher der Intellekt ist, wenn er nicht in sich die Idee der Schönheit hätte, welche alle sinnliche Schönheit einfaltet, kein Urteil fällen könnte zwischen zwei schönen Dingen, indem er sagt, dass dieses schön sei, dieses [aber] schöner. Darum ist der Intellekt eine gewisse allgemeine Schönheit oder Idee der Ideen, da die Ideen nur kontrahierte Schönheiten sind, und wie das Feuer in sich die Form und Idee aller warmen Dinge einfaltet, so ist der Intellekt eine alle geistig wahrnehmbaren Ideen einfaltende Kraft. Die vernünftige Natur nämlich, welche die erste Ausstrahlung des Schönen ist, insofern sie Bild Gottes ist, der die Schönheit selbst auf vorhergehende Weise ist, faltet in sich alle natürlichen Schönheiten ein, welche durch die
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Ideen im Universum entfaltet werden. 19. Pulchritudo absoluta, quae Deus est, se ipsam intuetur et in sui ipsius amorem inardescit. Nam fons31 omnium pulchrorum, quem merito omnia pulchra patrem suum appellant, quo modo esset summa pulchritudo, si se ipsam pulchram ignoraret. Intelligentia enim pulchrior est sensu. Non potest igitur infinita pulchritudo se ipsam ignorare. Si igitur pulchritudo se ipsam intuetur seu intelligit, non potest ex hoc nisi amor sequi infinitus. Ecce trinitatem in unitate essentiae pulchritudinis, ubi fons pulchritudinis generat intellectum pulchritudinis, ex quibus amor.
19. Die absolute Schönheit, die Gott ist, betrachtet sich selbst und entbrennt in Liebe zu sich selbst. Denn der Quell aller schönen Dinge, den alle schönen Dinge mit Recht ihren Vater nennen, wie wäre er höchste Schönheit, wenn er nicht wüsste, dass er selbst schön ist? Denn die Vernunft ist schöner als der Sinn. Also kann die unbegrenzte Schönheit nicht sich selbst nicht kennen. Wenn also die Schönheit sich selbst betrachtet bzw. versteht, kann daraus nur unbegrenzte Liebe folgen. Siehe hier, die Trinität in der Einheit des Wesens der Schönheit, wo der Quell der Schönheit das Verstehen der Schönheit hervorbringt, aus denen beiden Liebe hervorgeht.
20. Oculus32 iste noster non videt se nisi reflexe a speculo, sed spiritus non videt alia, nisi prius se videat, per se enim alia, sicut visus, qui est in oculo, si foret intellectus, videret se primo et alia in se. Intellectualis enim natura scit se intellectualem, alias non esset intellectualis, et hoc scire est se ipsam videre; et deinde in se videt alia intellectualiter sicut sensus sensibilia in se attingit sensibiliter.
20. Dieses unser Auge sieht sich nicht außer durch die Reflexion eines Spiegels, aber der Geist sieht nichts anderes, wenn er nicht zuvor sich sieht, durch sich [dann] nämlich alles andere – wie wenn der Sehsinn, der im Auge ist, wenn er der Intellekt wäre, zuerst sich sehen würde und [dann] alles andere in sich. Die vernünftige Natur weiß, dass sie vernünftig ist, andernfalls wäre sie nicht vernünftig, und dies wissen heißt, sich selbst zu sehen; und danach sieht sie in sich alles andere auf vernunftmäßige Weise so wie ein Sinn sich auf sinnliche Weise mit sinnlich Wahrnehmbaren befasst.
21. Pulchritudo33 igitur viva vita divina et aeterna, quae est ipsa vita, quae Deus est, voluit gloriam suam, quae est forma pulchritudinis, ostendere, et hoc ideo, quia pulchritudo est bonitas, bonum vero est sui ipsius diffusivum. Sic pulchritudo vocans ad se nihil,
21. Die Schönheit also will durch das lebendige, göttliche und ewige Leben, welches das Leben selbst ist, welches Gott ist, ihre Herrlichkeit, welche die Form der Schönheit ist, zeigen, und dies deshalb, weil die Schönheit die Gutheit ist, das Gute aber ein
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ut ostenderet gloriam et participaret bonitatem et pulchritudinem, omnia creavit. Pulchritudo ad se trahit. Omne igitur de nihilo attractum per pulchritudinem inquantum de nihilo accedit ad pulchritudinem, in tanto de nihilo ad esse accedit. Unde non est quicquam expers pulchritudinis sicut nec bonitatis.
Sich-selbst-Mitteilen ist. So schuf die Schönheit alle Dinge, indem sie zu sich das Nicht-Seiende rief, damit es zeige könne ihre Herrlichkeit und teilhabe an ihrer Gutheit und Schönheit. Die Schönheit zieht zu sich. Ein jedes also wird aus dem Nicht-Sein angezogen durch die Schönheit; inwieweit es sich vom Nicht-Sein der Schönheit nähert, insoweit nähert es sich vom NichtSein dem Sein. Daher gibt es nichts ohne Anteil an der Schönheit wie auch nichts ohne Anteil an der Gutheit.
22. Forma34 igitur, quae dat esse, non est nisi participatio pulchritudinis. Igitur secundum assimilationem pulchritudinis sunt gradus entium. Per35 accidentalem pulchritudinem, ad quam per sensum pervenimus, quae est in operimento et exterioribus figuris, pervenimus ad pulchritudinem formae substantialis. Omnia, quae sunt, sunt opera pulchritudinis absolutae, quae sunt ad eius similitudinem formata. Et haec formatio est attractio.
22. Die Form also, welche das Sein gibt, ist nichts anderes als Teilhabe an der Schönheit. Deshalb gestalten sich die Stufen des Seienden nach der Angeglichenheit an die Schönheit. Durch die akzidentielle Schönheit, zu der wir durch die Sinne gelangen, [und] die sich an der Oberfläche und in äußeren Gestalten findet, gelangen wir zur Schönheit der substanziellen Form. Alle Dinge, die sind, sind Werke der absoluten Schönheit, die in Ähnlichkeit zu ihr geformt sind. Und diese Formung ist Anziehung.
23. Dicunt36 prophetae quo modo sedebant Israelitae in pulchritudine pacis. Alibi37 de pulchritudine iustitiae legitur. Dicit38 David pulchritudinem agri esse apud Deum et quod „confessio39 et pulchritudo sit in conspectu eius.“ Ex hiis trahere possumus quo modo in regno pulchritudinis sunt omnia pulchra, quae sunt et esse possunt, pulchritudo omnis esse omnium quae sunt, omnis vitae omnium viventium et omnis intelligentiae. Sicut enim in unitate est omnis numerus complicite et in numero omnis proportio et mediatio, in proportione omnis harmonia et ordo et concordantia et
23. Die Propheten sprechen davon, wie die Israeliten in der Schönheit des Friedens saßen. An anderer Stelle liest man von der Schönheit der Gerechtigkeit. David sagt, dass die Schönheit des Feldes in der Nähe Gottes ist und dass „Lobpreis und Schönheit vor seinem Angesicht sind.“ Aus diesen [Schriftstellen] können wir schließen, wie im Königreich der Schönheit alle Dinge schön sind, die sind und die sein können, die Schönheit jeden Seins aller Dinge, die sind, jeden Lebens von allem Lebendigen und jeder Vernunft. Wie nämlich in der Einheit jede Zahl eingefaltet ist und in der Zahl jede
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ideo omnis pulchritudo, quae in ordine et proportione atque concordantia relucet.
Proportion und Vermittlung, in der Proportion jede Harmonie, Ordnung und Übereinstimmung, deshalb [ist] auch alle Schönheit [eingefaltet], die in der Ordnung und Proportion wie auch in der Übereinstimmung widerscheint.
24. Unde40 cum dicimus Deum unum, hoc unum est ipsa subersubstantialis unitas, quae et pulchritudo in se omnia pulchra complicans. Dicimus quod „Deus41 sit lux, in quo non sunt tenebrae ullae.“ Lux igitur illa non est aliud quam unitas, et si esset simplex nomen, quod lucem quae unitas significaret, Deo conveniret. In hoc nomine complicaretur omnis pulchritudo, scilicet id quod materiale est in pulchritudine, puta proportio, et formale puta resplendentia; primum quia unitas, secundum quia lux.
24. Weswegen, wenn wir sagen, dass Gott einer ist, dieses „einer“ die übersubstanzielle Einheit selbst ist, die auch Schönheit ist [und] in sich alle schönen Dinge einfaltet. Wir sagen, dass „Gott Licht ist, in dem keine Finsternis ist“. Jenes Licht also ist nichts anderes als Einheit, und wenn es einen einfachen Namen gäbe, der das Licht, das die Einheit ist, bezeichnete, käme er Gott zu. In diesen Namen würde jede Schönheit eingefaltet, das nämlich, was materiell ist an der Schönheit, zum Beispiel die Proportion, und das, was zur Form gehört, zum Beispiel der Widerschein; das erste, weil [Gott] Einheit, das zweite weil [er] Licht [ist].
25. Virtutes caelorum quid sunt nisi pulchritudines in regno Dei? Virtus intantum magna inquantum pulchra. Foeda non sunt de regno pulchritudinis. Deformitates animarum non sunt nisi foeditates suam pulchritudinem deformantes, quae non sunt ex pulchritudine, quoniam ex prima pulchritudine non nisi pulchra et bona emanare possunt. Deformitas42 ex recipientibus, decor a datore formae.
25. Was sind die Tugenden der Himmel, wenn nicht Schönheiten im Reiche Gottes? Die Tugend ist insofern groß, inwiefern sie schön ist. Die hässlichen Dinge sind nicht aus dem Reich der Schönheit. Die Entstellungen der Seelen sind nichts außer Hässlichkeiten, die ihre Schönheit verunstalten – sie sind nicht aus der Schönheit, da doch aus der ersten Schönheit nichts außer Schönem und Guten emanieren kann. Die Entstellung kommt von den Empfängern, die Anmut vom Geber der Form.
26. Si intuetur oculus ad regnum pulchritudinis, videt omnium pulchrorum pulchritudinem, ita quod unius pulchritudo pulchritudinem alterius non occupat, quoniam43
26. Wenn ein Auge zum Reich der Schönheit hinblickt, sieht es die Schönheit aller schönen Dinge, auf die Weise, dass die Schönheit des einen die Schönheit des anderen nicht
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pulchritudo non est quanta nec parva nec magna, sed parva et magna sunt pulchra per pulchritudinem. Si videtur pulchritudo regni aut hierarchiae ecclesiae militantis in regno caelorum44, ibi videtur in sua puritate supra omnem contractionem loci vel temporis. Pulchritudo veritatis rerum, locorum, situum et omnium in regno pulchritudinis non est nisi spiritualis et aeterna. Pulchritudo innocentiae, puritatis, adolescentiae, virilitatis, castitatis, fortitudinis et ita de singulis non sunt confusae provinciae sed pulchrae et ordinatae in regno caelorum.
beeinträchtigt, da ja die Schönheit nicht quantitativ erfassbar noch klein noch groß ist, sondern kleine und große Dinge sind schön durch die Schönheit. Wenn man die Schönheit des Königreichs oder der Hierarchie der streitenden Kirche im Himmelreich sieht, sieht man sie dort in ihrer Reinheit jenseits aller Beschränkung durch Ort oder Zeit. Die Schönheit der Wahrheit der Dinge, Orte, Gegenden und von allem ist im Reich der Schönheit nur geistig und ewig. Die Schönheit der Unschuld, der Reinheit, der Jugend, der Manneszeit, der Keuschheit, der Tapferkeit und so weiter sind nicht durcheinandergebrachte, sondern schöne und geordnete Gebiete im Himmelreich.
27. Mansiones45 multae in regno sunt pulchrae virtutes, in quibus collocantur pulchritudines spirituum virtuosorum, quisque in regione sibi ex conformitate virtutis convenienti. Duodecim46 enim tribus Israel scilicet Deum videntium in regno Ierusalem47 scilicet visionis pacis in regno uno divisas secundum tribus habent sedes et ibi pascuntur pulchritudine secundum virtutis pulchritudinem.
27. Die vielen Wohnungen im Reich sind die schönen Tugenden, in denen den Schönheiten der tugendhaften Geister ihr Platz angewiesen wird, einem jeden in dem Bereich, der ihm aus seiner Übereinstimmung mit der Tugend zukommt. Die zwölf Stämme Israels, derer nämlich, die Gott schauen im Königreich Jerusalem, nämlich im Königreich der Anschauung des Friedens, haben in dem einen Reich gesonderte Wohnsitze den Stämmen entsprechend und dort werden sie genährt durch die Schönheit entsprechend der Schönheit [ihrer] Tugendhaftigkeit.
28. Intellectualis spiritus in hoc mundo48 pulchro, qui cosmos propterea dicitur, venatur pulchritudines virtutum, quibus suam naturalem pulchritudinem adornat. Amor49 est pulchritudinis finis. Pulchritudo vult amari. Deus est ipsa pulchritudo, quia vult amari. Sed pulchritudo de
28. Der vernünftige Geist jagt in dieser schönen Welt, die deswegen cosmos genannt wird, nach den Schönheiten der Tugenden, mit denen er seine natürliche Schönheit schmückt. Die Liebe ist das Ziel der Schönheit. Schönheit will geliebt werden. Gott ist die Schönheit selbst, weil er geliebt werden will. Aber
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se amabilis caritas est, et ideo sine caritate nullus videbit absolutam pulchritudinem.
Schönheit, die von sich her liebenswürdig ist, ist sich verschenkende Liebe und daher wird keiner ohne sich verschenkende Liebe die absolute Schönheit sehen können.
29. Studium igitur nostrum esse debet, ut de pulchritudine sensibilium ascendamus ad pulchritudinem spiritus nostri, quae ambit omnes sensibiles pulchritudines, et de nostra pulchritudine admiremur pulchritudinis fontem, cuius haec nostra pulchritudo similitudinem gestat, et linquamus omnia foeda, quae sunt peccata; illa enim spiritus noster testatur foeda, quod testimonium conscientia dicitur –, et aspiremus cum nostra pulchritudine amore continuo conformari pulchritudini fontali. Nam viva intellectualis pulchritudo intuendo seu intelligendo absolutam pulchritudinem ad ipsam fertur desiderio indicibili, et quantum fervet desiderium, tantum accedit propinquius, et plus atque plus assimilatur exemplari. Desiderium enim sive amor immutat continue amantem ad conformitatem amati. Et venit iste ascensus attractione pulchritudinis seu gloriae Dei; nam non est gloria nisi in regia pulchritudine. Esse in gloria est esse in visione pulchritudinis et illi uniri amore. Et haec sic nunc de pulchritudine dicta sint.
29. Unser Eifer muss also dahingehen, dass wir von der Schönheit der Sinnendinge aufsteigen zur Schönheit unseres Geistes, der alle sinnlichen Schönheiten einschließt, und von unserer Schönheit ausgehend wollen wir den Quell der Schönheit bewundern, dem diese unsere Schönheit ähnlich ist, und wir wollen alles Hässliche, d. h. die Sünden lassen – jene nämlich bezeugt unser Geist als hässlich, dieses Zeugnis wird Gewissen genannt –, und wir wollen mit unserer Schönheit durch fortwährende Liebe dahin zu gelangen suchen, dem Quell der Schönheit gleichgestaltet zu werden. Denn die lebendige vernünftige Schönheit wird durch das Betrachten bzw. Verstehen der absoluten Schönheit zu dieser selbst gebracht durch ein unbesiegbares Verlangen, und je mehr das Verlangen wallt, desto näher kommt sie heran und mehr und mehr wird sie dem Urbild angeglichen. Denn das Verlangen bzw. die Liebe verwandelt den Liebenden in einem fort hin zur Gleichgestaltung mit dem Geliebten. Und dieser Aufstieg trägt sich zu durch die Anziehung durch die Schönheit, d. h. die Herrlichkeit Gottes; denn es gibt keine Herrlichkeit außer in der königlichen Schönheit. In der Herrlichkeit zu sein heißt, in der Anschauung der Schönheit zu sein und mit jener durch die Liebe geeint zu werden. Und dies sei nun so über die Schönheit gesagt.
30. Est autem thema nostrum „Tota pulchra“ etc. explanandum de anima,
30. Unser Thema „Tota pulchra“ etc. muss jedoch mit Bezug auf die Seele
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quae in omnibus potentiis suis et in sua totalitate et complemento50 perfectionis venit de valle miseriae51 absque macula, quam52 sponsus, qui est pulchritudo absoluta, recipit pulcherrimo vocabulo, scilicet ipsam amicam vocando. Nam anima, quae intantum diligit pulchritudinem, ut se totam det pulchritudini, ita ut nihil maculae reperiatur in ipsa, talis ut amica venit in pulchritudinis amplexum. Possunt igitur quinque illa verba53 late explanari quasi verba regis pulchritudinis, qui non vult nisi totam animam et per omnia pulchram, in omni esse suo et amore languidam ut electissimam solum sui ipsius amicam.
entwickelt werden, die in all ihren Vermögen und in ihrer Ganzheit und durch die Ergänzung der Vervollkommnung vom Tal des Elendes ohne Makel kommt, [und] die der Bräutigam, der die absolute Schönheit ist, mit einer wunderschönen Bezeichnung empfängt, dadurch nämlich, dass er sie selbst Freundin nennt. Denn die Seele, die so sehr die Schönheit liebt, dass sie sich ganz der Schönheit gibt, so, dass kein Makel sich in ihr selbst findet, solch eine [Seele] gelangt wie eine Freundin in die Umarmung der Schönheit. Es können also jene fünf Worte [Tota pulchra es, amica mea] in weiterem Sinne gleichsam als Worte des Königs der Schönheit erklärt werden, der nichts will außer die ganze und in allem schöne Seele, in ihrem ganzen Sein und matt aus Liebe, wie eine zuhöchst auserwählte, allein ihm selbst zugehörige Freundin.
31. Deinde applicantur verba ad gloriosam virginem Mariam utique super omnes totaliter et perfectissime pulchram omni modo pulchritudinis, quae ab ortu sui esse se sponsam dedit pulchritudini absolutae, quae ut amica super omnes ad summam pulchritudinem attracta est. Quae cum in se habeat omnium virtutum pulchritudinem, propinquius ad solium regis pulchritudinis accessit quam omnes filiae Ierusalem54, quae in sortium distributione in circuitu Ierusalem sedes tenent, uti mater veri Salomonis regis scilicet pulchritudinis aeternae pacis. Quam devotionis motibus accedamus, ut nostrae infirmitatis conscia pro nobis oret filium Iesum semper benedictum.
31. Sodann werden die Worte bezogen auf die glorreiche Jungfrau Maria, die schlechterdings mehr als alle anderen ganz und vollendet Schöne in jeder Art von Schönheit, die vom Ursprung ihres Seins an sich ganz als Braut der absoluten Schönheit gab, die mehr als alle anderen wie eine Freundin an die höchste Schönheit herangezogen worden ist. Weil diese in sich die Schönheit aller Tugenden hatte, trat sie näher zum Thron des Königs der Schönheit heran als alle Töchter Jerusalems, die durch die Zuteilung der Dienste inmitten von Jerusalem ihren Sitz haben, [sie trat heran] wie die Mutter des wahren Königs Salomo, nämlich der Schönheit des ewigen Friedens. An sie wollen wir mit Bewegungen der Frömmigkeit herantreten, dass sie für uns, unserer Schwachheit eingedenk, bitte bei Jesus, ihrem allzeit gepriesenen Sohn.
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Herzlich danke ich Christian Ströbele M. A. und Dr. Alexander Spieth für die Erstellung der Anmerkungen.
Bis n.2,6 …bonum et pulchrum vgl. Ps.-Dionysius: De divinibus nominibus 4,7 (Corpus Dionysiacum I: Pseudo-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, Hg. Beata Regina Suchla, Berlin – New York 1990, S.151,2-10; Patrologia Graeca 3, 701, Ed. J. P. Migne, Paris 1857-1866; Dionysiaca 178-180) [nachfolgend kurz: DN]. Vgl. Albertus Magnus: Super Dionysii De divinibus nominibus 4 (ed Colon. XXXVII,1, n.77, S.186,20ff.) [nachfolgend kurz: SDN]. 2 Bis n.2,5 …dicitur Latine vgl. Albertus M. SDN 4,3. 3 Bis n.4,3 … Dionysios dicit. vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,7. Vgl. auch Albertus M.: SDN 4, n.71. 4 Bis n.5,10 …de illis tractat. vgl. Albertus M.: SDN 4, n.71 (vgl. Anm.5). 5 Bis hier vgl. Albertus M.: SDN 4, n.71 (ab 4,3 Tractat …, vgl. Anm.4). 6 Bis n.6,3 …nos allicit“ vgl. Cicero: De officiis I,6,18. [nachfolgend kurz: DO]. 7 Bis n.8,7 … aiebat pulchrum.“ vgl. Albertus M.: SDN (vgl. Anm.16). Bis n.6,15 …pulchritudinem faciens. vgl. Albertus M.: SDN 4, n.72. 8 Bis n.7,7 …ad se desiderium.“ vgl. Albertus M.: SDN 4, n.72. Vgl. auch Cicero, DO I,27,95. 9 Bis n.7,8 …Dionysium. vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,7. 10 Bis n.7,11 …forma pulchrorum;“ vgl. Albertus M.: SDN 4, n.73. 11 Bis n.7,12 …albedo alba. vgl. Albertus M.: SDN 4, n.73. 12 Bis n.7,14 …et prima.“ vgl. Albertus M.: SDN 4, n.74. 13 Bis n.8,3 … ut essentia. vgl. Albertus M.: SDN 4, n.74. 14 Bis n.8,7…pulchrum.“ vgl. Albertus M.: SDN 4, n.76. 15 Bis hier von n.6,3 ideo… vgl. Albertus M.: SDN (vgl. Anm.8). 16 Bis n.9,2 …exoptant. vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,7. 17 Bis n.9,9 …proportionata.“ vgl. Albertus M.: SDN 4, n.77. 18 Bis n.9,15 …ad se. vgl. Albertus M.: SDN 4, n.78. 19 Bis n.9,29 …nobilius est.“ vgl. Albertus M.: SDN 4, n.79. 20 Bis n.10,17 …motibus moventur.“ vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,8-9. Vgl. auch Albertus M.: SDN 4, n.95-108. 21 Bis n.11,9 … ut colores. vgl. Albertus M.: SDN 4, n.103. 22 Bis n.12,8 … secundum intellectum. vgl. Albertus M.: SDN 4, n.103. 23 Bis n.13,5 … et omnium. vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,10. 24 Bis n.13,12 …exempla ducuntur.“ vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,10. 25 Bis n.13,11 …in ipso vgl. Röm 11, 36 u. Kol 1,16. 26 Bis n.14,5 …et finis.“ vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,10. 27 Bis n.14,14 …et volunt.“ vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,10. 28 Bis n.15,5 …convertitque omnia.“ vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,10. 29 Bis n.15,13 …spiritibus intellectualibus. vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,4-6. 30 Bis n.16,12 …aut intellectualiter. vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,11. 31 Vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,7. 32 Bis n.20,5 …in se. vgl. Platon: Alcibiades I 1326 u. Augustinus: De trinitate XIV 4 (Corpus Christianorum, Series Latina 50a, Turnholt 1954, S.429,37-39). 33 Bis n.21,2 …Deus est vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,7. 34 Bis n.22,1 …dat esse, vgl. Albertus M.: SDN 4 n.16. Bis n.22,3…gradus entium. vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,7. 35 Bis n.22,9 …similitudinem formata. vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,11. 36 Bis n.23,2 …pulchritudine pacis. vgl. Jes 32,18. 37 Bis n.23,3 …iustitiae legitur. vgl. Jer 31,23. 1
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Bis n.23,4 …apud Deum vgl. Ps(G) 49,11. Bis n.23,5 …conspectu eius.“ vgl. Ps(G) 95,6. 40 Bis n.24,1 …Deum unum, vgl. Dtn 6,4 u. Mk 12,29. 41 Bis n.24,5 …tenebrae ullae.“ vgl. 1 Joh 1,5. 42 Bis n.25,9 …datore formae. vgl. Albertus M.: SDN 4, n.80. 43 Bis n.26,6 …per pulchritudinem. vgl. Albertus M.: SDN 4 n.93. 44 Zu n.7-8 …hierarchia ecclesiae militantis in regno caelorum vgl. auch Ps.-Dionysius: De coelesti hierarchia u. De ecclastica hierarchia (Corpus Dionysiacum II: Pseudo-Dionysius Areopagita, De coelesti hierarchia. De ecclesiastica hierarchia. De mystica theologia. Epistulae, Hgg. G. Heil u. A. M. Ritter, Berlin u. a. 1991). 45 Bis n.27,1 …in regno vgl. Joh 14,2; vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,1 u. Albertus M.: SDN n.19-21. 46 Bis n.27,7 …habent sedes vgl. Apg. 21,12. 47 Bis n.27,6 …visionis pacis vgl. Hieronymus Liber interpretationis hebraicorum no-minum (Corpus Christianorum, Series Latina 72, Turnholt 1954, S.50,9). 48 Bis 28,2 …propterea dicitur vgl. Hieronynus: In Ionam c.1 (Ion 1,1-2) (Corpus Christianorum, Series Latina 76, Turnholt 1954, S.380,17-19) u. Beda Venerabilis: De natura rerum c.3 (Corpus Christianorum, Series Latina 123a, Turnholt 1954, S.194,7-9). 49 Bis …pulchritudinis finis. vgl. Ps.-Dionysius: DN 4,10.14. 50 Bis n.30,5 …macula, vgl. Dtn 18,13. 51 Valle miseriae vgl. Ps 83,7. 52 Bis n.30,10 …pulchritudinis amplexus. vgl. Hld 4,7. 53 Quinque illa verba, vgl. Hld 4,7: Tota pulchra es, amica mea. 54 Omnes filiae Ierusalem, vgl. Hld 2,2. 38 39
Silvio Agosta Der Ruf der schönen Harmonie bei Nicolaus Cusanus und Francesco Petrarca1 I. Praeludium Die Frage nach inhaltlichen Berührungspunkten zwischen Nikolaus von Kues und Francesco Petrarca ergibt sich nicht zuletzt aus der Präsenz einiger Schriften des Petrarca in der Bibliothek des Cusanus2. Bezüglich eines Einflusses Petrarcas auf den Cusaner kam Giovanni Santinello zu einem eher negativen Befund3. Walter Haug hat aus literarischer Perspektive versucht, eine geistesgeschichtliche Verbindungslinie von Petrarca über Cusanus zu Thüring von Ringoltingen zu ziehen. Dabei hat er seine Ergebnisse zu den drei behandelten Autoren als „Wegmarken für eine umfassendere Studie“4 zur Geschichte der Individualität, insbesondere der Entwicklung hin zu einer „Idee des schöpferischen Individuums“5, gesehen, innerhalb derer er bei Petrarca ein kreatives Spiel, das „sich selbst sprengt“6, und für Cusanus eine „relative Kreativität im Eigenraum des Geistes“7 feststellt, die er beide in den Zusammenhang „einer gespannten Balance zwischen Nachahmung und kreativer Variation“8 als „epochale[n] Schritt“9 einordnet. In der hier vorliegenden Untersuchung soll eine erste nicht vollständige Betrachtung aus fundamentaltheologischer Perspektive versucht werden. Das Besingen einer schönen Frau durch den italienischen Poeten und die mystische Theologie des Kardinals aus Bernkastel-Kues - wie geht das zusammen? Als ein erster Hinweis darauf kann uns die folgende Stelle aus Agnolo Firenzuolas Dialog über die Schönheit der Frauen dienen10. Dort schreibt Firenzuola, die Bei diesem Aufsatz handelt es sich um einen Vortrag, der auf der Jungcusanertagung „Singularität und Universalität im Denken des Cusanus“, die vom 11. - 13. Oktober 2012 in Freudenstadt stattfand, gehalten wurde. 2 Vgl. Santinello: Nikolaus von Kues und Petrarca, 174 und 181-182. 3 Santinello: Nikolaus von Kues und Petrarca, 189-190. 4 Haug: Petrarca - Cusanus - Thüring, 297. 5 Haug: Petrarca - Cusanus - Thüring, 323. 6 Haug: Petrarca - Cusanus - Thüring, 323. 7 Haug: Petrarca - Cusanus - Thüring, 323-324. 8 Haug: Petrarca - Cusanus - Thüring, 323. 9 Haug: Petrarca - Cusanus - Thüring, 323. 10 De Girolami Cheney weist in ihrem Aufsatz auf die Einordnung dieser Schrift und der im folgenden zitierten Stelle innerhalb der Entwicklung von Konzeptionen weiblicher Schönheit der italienischen Renaissance im neuplatonischen Kontext durch die Forschungsliteratur hin. Vgl. De Girolami Cheney: Beauty, 182. Wichtig ist außerdem ihr Verweis auf die Einordnung der Laura Petrarcas und der Beatrice Dantes in den Kontext einer neuplatonischen Ästhetik in der Forschungsliteratur, in der die weibliche Schönheit als Widerschein und Führung zur himmlischen Schönheit gesehen wird (ebd., 182). Von diesem Ausgangspunkt ausgehend sollen im Folgenden Belege für diese Deutung in den 1
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Schönheit müsse gelobt und wertgeschätzt werden, weil „eine schöne Frau der schönste Gegenstand ist, den man bewundern kann, und die Schönheit das größte Geschenk ist, das Gott der menschlichen Kreatur gemacht hat; denn durch ihre Tugend richten wir den Geist zur Kontemplation aus, und durch die Kontemplation auf den Wunsch nach den Dingen des Himmels“11. II. Nicolaus Cusanus In der Predigt Tota Pulchra hebt Cusanus die Schönheit Marias besonders hervor: „Ferner werden [diese] Worte auf die ruhmreiche Jungfrau Maria angewandt, [die] gewiss über allen [anderen] völlig und vollendet schön in jeder Art der Schönheit [ist]. Sie hat sich vom Beginn ihres Seins an der absoluten Schönheit zur Braut gegeben. Sie ist als Freundin über alle [anderen] hinaus zur höchsten Schönheit hingezogen worden.“12 Wir wollen diese Stelle nicht von vorneherein einem allein religiösen Zug des Cusaners zuordnen, der dem philosophisch geschulten Denken heute schwer verständlich erscheint. Vielmehr soll gefragt werden, welche Stelle Maria und insbesondere die herausragende Schönheit Marias innerhalb des philosophischtheologischen Denkens des Cusaners innehaben. Giovanni Santinello kommt in seiner Monographie zur Ästhetik des Cusaners zu dem Schluss, dass es gerade die Ästhetik ist, durch die Cusanus in den Umkreis des Humanismus eingeordnet werden kann13. Allerdings stellt er auch fest, dass das Thema der Ästhetik in den Werken des Petrarca gesucht und in Beziehung zum cusanischen Verständnis der (weiblichen) Schönheit und der Harmonie gesetzt werden. 11 Firenzuola: Dialogo Delle Bellezze, 16: „E meritamente , seguitò Celso , perciocchè la bellezza e le donne belle , e le donne belle e la bellezza , meritano d’ esser commendate e tenute carissime ad ognuno : perciocchè la donna bella è il più bello obbietto che si rimiri , e la bellezza è il maggior dono che facesse Iddio all’ umana creatura ; con ciò sia che per la di lei virtù noi ne indirizziamo l’ animo alla contemplazione , e per la contemplazione al desiderio delle cose del cielo […]“. (Hinweis: Firenzuola: Dialogo Di Messer Agnolo Firenzuola, 283 hat „da ognuno“ und nicht „ad ognuno“.) 12 Sermo CCXLIII, n.31: Deinde applicantur verba ad gloriosam virginem Mariam utique super omnes totaliter et perfectissime pulchram omni modo pulchritudinis, quae ab ortu sui esse se sponsam dedit pulchritudini absolutae, quae ut amica super omnes ad summam pulchritudinem attracta est. Die deutschen Übersetzungen der in diesem Aufsatz zitierten cusanischen Werke sind den im Literaturverzeichnis angegebenen zweisprachigen Ausgaben entnommen. Davon ausgenommen sind die deutschen Übersetzungen der zitierten Texte aus den Sermones. Dabei handelt es sich um Arbeitsübersetzungen von mir, die mit Hilfe der im Literaturverzeichnis angegebenen englischen Übersetzungen von Jasper Hopkins erstellt wurden. Die lateinischen Zitate aus den Werken des Cusaners wurden ebenfalls den hinten aufgeführten zweisprachigen Ausgaben entnommen. Davon ausgenommen sind die Texte der zitierten Sermones. 13 Santinello: Pensiero di Cusano, 272: „Cogliere la contrazione estetica che tutto il pensiero
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cusanischen Schriften weit verbreitet ist und Cusanus neben dem Sermo Tota pulchra keinen zusammenhängenden ästhetischen Traktat verfasst hat14. Dies hat zur Folge, dass wir in unserer Untersuchung innerhalb des cusanischen Schriftums etwas „springen“ müssen15. 1. Zusammenklang der Singularitäten: Der Verweischarakter der harmonia mundi In Sermo LXXI wird der Zusammenhang zum Thema dieser Tagung deutlich: “Und deshalb wird jedwedes Geschöpf in seiner singulären Art und Weise in Verähnlichung mit dem absoluten Einen gefunden. Da aber die vielfältigen Geschöpfe nicht anders als in Verähnlichung mit dem absoluten Einen gefunden werden, werden sie daher in der Verschiedenheit der Singularität zusammenstimmen. Und das ist die Harmonie der Welt.“16 Für Cusanus ist jedes Geschöpf in und durch die Verähnlichung mit dem Einen und damit zur Verähnlichung mit dem Einen gerufen. Das Eine erscheint somit als Grund und Ziel jedes Geschöpfes. In diesem Gegründetsein und zugleich Hingewendet- und Gerichtetsein auf das Eine klingen nach Cusanus alle Geschöpfe zusammen [concordare]17. Dieser Zusammenklang vom Einen her und auf das Eine hin bildet innerhalb des cusanischen Denkens den Grund dafür, dass die Diversität der Vielheit nicht in unversöhnlicher Differenz auseinanderfällt, sondern dass in der Verschiedenheit der Einzigartigen dennoch ein Zusammenklang hörbar bleibt. Die Singularität in der Verschiedenheit erweist sich als Abgrenzungsmerkmal innerhalb der Diversität. Das Merkmal der Vereinigung des Differenten ist das „in-der-Verähnlichung-mit-dem-Einen-Sein“ der Geschöpfe18. Die harmonia ergibt sich bei Cusanus aus diesem spannungsvollen Verhältnis von Andersheit und Einheit oder besser von Einheit in oder hinter der Andersheit. Im Folgenden versuche ich, diese These mit einigen Textstellen weiter del Cusano assume, riteniamo sia la prospettiva più idonea per intendere il significato nuovo del suo sistema ed iscriverlo nell’orbita dell’Umanesimo.“ 14 Santinello: Pensiero di Cusano, 3-5. 15 Jüngeren Datums befasst sich ein Aufsatz von Jasper Hopkins mit dem Thema der Schönheit bei Cusanus: Hopkins, The Theme of Beauty. Hopkins ergänzt darin die Untersuchung Santinellos bezüglich der Quellen, namentlich Dionysius und Albertus, auf denen die cusanische Ästhetik aufbaut, um Augustinus. Es sei bemerkt, dass Augustinus auch für Petrarca einen wichtigen Referenzpunkt darstellt. 16 Sermo LXXI, n.12: Quare quaelibet creatura suo singulari modo in assimilatione unius absoluti reperitur. Plures autem creaturae cum non reperiantur nisi in assimilatione unius absoluti, hinc erunt in diversitate singularitatis concordantes; et haec est harmonia mundi. 17 Ebd. 18 Aufgrund der Singularität ist das Einzelne unter den Vielen von den Anderen verschieden. Zugleich aber ist die Singularität dasjenige, was jedem Einzelnen zukommt. Denn das Eine ist selbst absolute Singularität und als solche Grund der Einzigartigkeit aller einzelnen Dinge. Vgl. hierzu De venatione sapientiae, n.66.
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zu belegen. In De conietcuris wird die harmonia [in der Musik] als Verknüpfung von Andersheit und Einheit bezeichnet19. Nach Sermo LXXI ergibt sich der harmonische Zusammenklang der verschiedenen Einzelnen auf das Eine hin aus ihrem gemeinsamen Gegründetsein im Einen: „Daher erkennt man leicht, da jene alle nur in der Einheit zusammenklingen, dass dann diese alle vom Einen her sind, von dem sie haben, dass sie im Einen vereint sind.“20 In Tota pulchra lesen wir: “So wie ja in der Einheit jede Zahl in eingefalteter Weise ist und in der Zahl alle Proportion und Vermittlung und in der Proportion alle Harmonie und Ordnung und Konkordanz, so ist deshalb auch [in der Einheit] alle Schönheit [eingefaltet], die in Ordnung und Proportion und auch in Konkordanz widerscheint. Wenn wir deshalb sagen, dass Gott Einer ist, ist dieses Eine die übersubstantielle Einheit selbst, die auch Schönheit ist und alle schönen Dinge in sich einfaltet.“21 So wie in der Einheit alle Zahlen eingefaltet sind und der Zahlenraum auf die Einheit verweist, die ihn erst ermöglicht, so scheint in Proportion, Ordnung und Konkordanz - in Harmonie und Schönheit - der eine Ursprung des Vielen durch. Die Schönheit ist für Cusanus aber nicht direkt in der proportionierten Ordnung, sondern scheint in dieser insofern wider als sie auf die Einheit verweist. Das Verweisen der Schönheit der Geschöpfe auf ihren Urgrund ist für ihn zugleich Anziehung. So heißt es in Tota pulchra: „Alle Dinge, die sind, sind Werke der absoluten Schönheit, die zu ihrer Ähnlichkeit geformt worden sind. Diese Formung [zur Ähnlichkeit mit der absoluten Schönheit] ist Anziehung [attractio].“22 Die Formung der Dinge zur Ähnlichkeit des absoluten Einen ist nach Cusanus einerseits Ausdruck der attractio des Einzelnen zum Einen, andererseits sind die Dinge durchscheinend für diese attractio. Anders ausgedrückt vermitteln die schönen Dinge die attractio des Einen. Die Attraktivität der Dinge ist für Cusanus Vermittlung der Attraktivität des Einen. Im Kontext der genannten Stelle beschreibt Cusanus die Schöpfung mit den Kategorien der Schönheit und des Guten. Der Schönheit schreibt er dabei eine Mitteilungsfunktion zu: Sie ist Zeichen der Gloria Dei: De coni., n.83: Quoniam autem alteritas casus est ab unitate, harmonia est unitatis et alteritatis constrictio. („Da aber die Andersheit ein Abfall von der Einheit ist, ist die Musik [harmonia] die Verknüpfung von Einheit und Andersheit.“) 20 Sermo LXXI, n.14: Unde facile intellegit, cum illa omnia in unitate solum concordent, quod tunc haec omnia ab uno sunt, a quo habent, quod sunt in uno unita. 21 Sermo CCXLIII, n.23-24: Sicut enim in unitate est omnis numerus complicite et in numero omnis proportio et mediatio, in proportione omnis harmonia et ordo et concordantia et ideo omnis pulchritudo, quae in ordine et proportione atque concordantia relucet. Unde cum dicimus Deum unum, hoc unum est ipsa supersubstantialis unitas, quae et pulchritudo in se omnia pulchra complicans. 22 Sermo CCXLIII, n.22: Omnia, quae sunt, sunt opera pulchritudinis absolutae, quae sunt ad eius similitudinem formata. Et haec formatio est attractio. 19
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“Die Schönheit ist also lebendiges, göttliches und ewiges Leben, das das Leben selbst ist, das Gott ist. Sie hat ihre Glorie zeigen [ostendere] wollen, die in der Form der Schönheit besteht, und dies deshalb, weil die Schönheit das Gute ist, das Gute aber ein sich selbst Verbreitendes.“23 Der Mitteilung des Seins durch das absolute Gute entspricht bei Cusanus die attractio der absoluten Schönheit des Nichts zum Sein. Die attractio der Schönheit erscheint damit als jene Kraft, die - dies ist im Zusammenhang der Schöpfung zu verstehen - das Nichts zum Sein ruft: „Die Schönheit, die das Nichts zu sich ruft, damit es [ihre] Glorie zeigt und am Guten und an der Schönheit teil hat, hat so alles erschaffen. Die Schönheit zieht zu sich heran. Folglich nähert sich alles, das vom Nichts her durch die Schönheit angezogen worden ist, soweit vom Nichts der Schönheit an, wie es sich vom Nichts dem Sein annähert.“24 Dieser Ruf zum Sein ist auch als ein Ruf zum absoluten Sein, also zur absoluten Einheit hin, zu verstehen. Die attractio des Schönen ist bei Cusanus Ruf zur Vereinung25. Der Verweischarakter der schönen Dinge kann deshalb nicht nur im Sinne eines einfachen zu lesenden Zeichens verstanden werden26. Es handelt sich vielmehr um anziehende und rufende Zeichen. Die Attraktionsbewegung kann dabei nicht in der Schöpfung aufgehen. Vielmehr ist die attractio der schönen Dinge als Nachklang des ursprünglichen Rufs zum Sein - als Grund der Schöpfung - zu verstehen und zielt auf die Vollendung der Dinge. Der Beginn der Attraktions- und Vereinungsbewegung bei Cusanus liegt in der Schöpfung, das Ziel derselben in der Vollendung. Beides gründet für Cusanus im absoluten Einen. Die Anziehung und der Ruf ziehen hin zur Ursache und zum Grund des Seins und des Lebens. Die Attraktivität der schönen Dinge ist für Cusanus nicht auf das schöne Geschöpf sondern auf den Schöpfer gerichtet27. Die Attraktivität Sermo CCXLIII, n.21: Pulchritudo igitur viva vita divina et aeterna, quae est ipsa vita, quae Deus est, voluit gloriam suam, quae est forma pulchritudinis, ostendere, et hoc ideo, quia pulchritudo est bonitas, bonum vero est sui ipsius diffusivum. 24 Sermo CCXLIII, n.21: Sic pulchritudo vocans ad se nihil, ut ostenderet gloriam et participaret bonitatem et pulchritudinem, omnia creavit. Pulchritudo ad se trahit. Omne igitur de nihilo attractum per pulchritudinem inquantum de nihilo accedit ad pulchritudinem, in tanto de nihilo ad esse accedit. 25 Sermo LXXI, n.11: Unde agere unius est ad suam unitatem non-unum vocare. 26 Vgl. auch Sermo CCXLIII, n.9: Die Schönheit ruft zu sich und hat eine Vereinigungsfunktion. Das Schöne ruft somit zur Einheit: Unde pulchritudini inquantum finis et bonum convenit ad se vocare, inquantum forma convenit sibi congregare; formae enim proprie convenit congregare, quia multiplices potentias materiae unit et concludit in uno. Inquantum finis, vocat ad se. („Daher gebührt es der Schönheit, sofern sie Ziel und Gutes ist, dass sie zu sich ruft. Sofern sie Form ist, gebührt es ihr, dass sie mit sich vereinigt. Denn es gebührt eigentlich der Form zu vereinigen, weil sie die vielen Möglichkeiten der Materie vereint und in einem [Ding] zusammenschließt. Sofern sie Ziel ist, ruft sie zu sich.“) 27 De doct. ign., II, n.178: Quis non admiraretur hunc opificem, qui etiam tali siquidem arte in sphaeris et stellis ac regionibus astrorum usus est, ut sine omni praecisione cum omnium diversitate sit omnium concordantia [...]. („Wer wollte diesen Künstler nicht bewundern, der auch bei den Sphären, Sternen und Sternregionen solche Kunst anwendete, daß 23
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des Schönen gilt ihm als Widerschein jener Kraft, die das Nichts zum Sein gerufen hat - und immer noch ruft. Ihr (in rechter Weise) nachzugehen bedeutet für Cusanus, sich dem Urgrund des Seins und des Lebens selbst zuzuwenden, in dem allein die Erfüllung liegt. Die Schönheit der Welt verweist für ihn auf die Form der Schönheit, die Gloria Dei ist. Das Verweisen des Schönen bei Cusanus ist Mitteilung, Selbstmitteilung und Offenbarung Gottes. Dies soll im Folgenden kurz belegt werden. In De docta ignorantia sieht Cusanus den Grund für den bewunderungswürdigen Bau der Welt darin, dass Gott damit das Staunen hervorrufen will, aus dem heraus schließlich nach dem Schöpfer mit Eifer gesucht werden soll28. Sieht Cusanus den Verweischarakter hier in der Bewunderungswürdigkeit der Welt, so liegt er für ihn in Tota pulchra in der Attraktivität des Schönen: „Die Liebe ist das Ziel der Schönheit. Die Schönheit will geliebt werden. Gott ist die Schönheit selbst, weil er geliebt werden will.“29 In der folgenden Stelle aus De Beryllo verknüpft Cusanus Bewunderungswürdigkeit und Schönheit: „Was will der Schöpfer, wenn er aus einem Dornbusch durch die Bewegung des Himmels und das Werkzeug der Natur eine so schöne und duftende sinnenfällige Rose hervorbringt? Was anderes kann geantwortet werden, als daß jene bewunderungswürdige Vernunft in diesem ihrem Wort sich kundzutun [se manifestare] beabsichtigt, wie groß ihre Weisheit und ihr Verstand ist und was der Schatz ihrer Herrlichkeit ist, wenn sie so leicht eine solche Schönheit, so prächtig im Ebenmaß, vermittelst eines sinnenfälligen kleinen Dinges in den erkenntnisfähigen Sinn legt mit der Bewegung der Freude und der süßesten Harmonie, welche die gesamte menschliche Natur aufheitert?“30 Im Kontext dieser Stelle erscheint der Offenbarungscharakter der Schönheit eingereiht in den Offenbarungscharakter der Schöpfung insgesamt für den wahrheitssuchenden Menschen: ohne letzte Genauigkeit sich die Harmonie aller mit der Verschiedenheit aller verbindet.“) 28 De doct. ign., II, n.179: Qui etiam vult, ut in admirationem ex mundi machina tam mirabili ducamur. Quam tamen nobis occultat eo plus, quo plus admiramur, quoniam ipse tantum est, qui vult omni corde et diligentia quaeri. („Er will auch, daß uns der so bewunderungswürdige Bau der Welt zur Bewunderung hinreißt. Er verbirgt jedoch denselben uns um so mehr, je mehr wir staunen, da er allein es ist, der von ganzem Herzen und mit allem Eifer gesucht werden will.“) 29 Sermo CCXLIII, n.28: Amor est pulchritudinis finis. Pulchritudo vult amari. Deus est ipsa pulchritudo, quia vult amari. 30 De beryllo, n.68: […] puta quid sibi vult conditor, quando de spina tam pulchram et odoriferam motu caeli et instrumento naturae educit sensibilem rosam? Quid aliud responderi potest nisi quod admirandus ille intellectus in hoc verbo suo intendit se manifestare, quantae est sapientiae et rationis et quae sunt divitiae gloriae suae, quando tam faciliter tantam pulchritudinem ita ornate proportionatam ponit medio sensibilis parvae rei in sensu cognoscitivo cum motu laetitiae et dulcissima harmonia omnem naturam hominis exhilarescente?
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„Wenn also der Mensch Sinn und Verstand hat, nicht nur um sie für die Erhaltung dieses Lebens zu gebrauchen, sondern um zu erkennen, dann haben die sinnenfälligen Dinge dem Menschen in zweifacher Weise Nahrung zu geben, nämlich damit er lebe und erkenne. [...] Und weil weiter oben in einer Voraussetzung festgestellt wurde, die göttliche Vernunft habe alles erschaffen, um sich selbst kundzutun [se ipsum manifestet], [...] sind also die sichtbaren Dinge, damit in ihnen die göttliche Vernunft als kunstreicher Schöpfer von allem erkannt werde. [...] Die sinnenfälligen Dinge nämlich sind die Bücher der Sinne, in denen die Absicht der göttlichen Vernunft in sinnenfälligen Gestalten beschrieben ist, und die Absicht ist die Selbstoffenbarung des Schöpfergottes [ipsius dei creatoris manifestatio].“31 Auf diese manifestatio Dei hin sind die Geschöpfe zu lesen, nur dann wird das von Gott geschriebene Buch richtig benutzt, wie es im Sermo LXXI heißt32. Wie genau allerdings das Verhältnis von Schöpfergott und Geschöpf ist, bleibt für Cusanus natürlich unter dem Schleier der Nichterkennbarkeit, sodass die manifestatio Dei in und durch die Schöpfung nicht völlig durchleutet werden kann. Denn um dies zu tun, müsste zunächst der Urgrund selbst erfasst werden. So schreibt er in De docta ignorantia: „Da aber das Verursachte ganz und gar von der Ursache abhängt und aus sich nichts ist, da es ferner seinem Ursprungs- und Wesensgrund, durch den es das ist, was es ist, sich nach Möglichkeit anzunähern und ähnlich zu werden sucht, so ist die Schwierigkeit offensichtlich, ohne Kenntnis des absoluten Urbildes die Natur der Einschränkung zu erfassen.“33 Aufgrund der Disproportionalität des Unendlichen und des Endlichen lässt sich nach Cusanus nicht einmal verstehen, wie eine manifestatio Dei in der Schöpfung möglich sein soll: „Es läßt sich auch nicht verstehen, wie Gott uns durch die sichtbaren Geschöpfe offenbar werden kann. [...] Wer vermöchte das zu begreifen, wie alles Bild jener einzigen unendlichen Form ist und seine Verschiedenheit nur kontingenterweise besitzt, gleichsam als wäre das Geschöpf ein nicht vollendeter Gott [...]?“34 De beryllo, n.65-66: Si igitur sensum et rationem habet homo, non solum ut illis utatur pro hac vita conservanda, sed ut cognoscat, tunc sensibilia ipsum hominem pascere habent dupliciter, scilicet ut vivat et cognoscat. […] Et quia superius praesuppositum est divinum intellectum omnia creasse, ut se ipsum manifestet […] sunt igitur visibilia, ut in ipsis cognoscatur divinus intellectus omnium artifex. […] Sensibilia enim sunt sensum libri, in quibus est intentio divini intellectus in sensibilibus figuris descripta, et est intentio ipsius dei creatoris manifestatio. 32 Sermo LXXI, n.13 33 De doct. ign. II, n.90: Cum autem causatum sit penitus a causa et a se nihil et originem atque rationem, qua est id quod est, quanto propinquius et similius potest, concomitetur, patet difficile contractionis naturam attingi exemplari absoluto incognito. 34 De doct. ign., II, n.103-104 : Neque potest intelligi, quomodo deus per creaturas visibiles possit nobis manifestus fieri. […] Quis ista intelligere posset, quomodo omnia illius 31
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Die Dinge selbst geben ihm jedenfalls keine Antwort auf die Frage nach ihrem Grund: „An diesen so bewunderungswürdigen, so mannigfachen und verschiedenen Dingen erfahren wir gemäß dem Gesagten dank der belehrten Unwissenheit, daß wir bei „keinem der Werke Gottes ein Wesenswissen“ erreichen können, sondern daß uns nur das Staunen bleibt ...“35. Insofern kann man sagen, dass bei Cusanus die Schöpfung auf die Verborgenheit des Urgrundes verweist oder dass sich Gott in der Schöpfung als nichterkennbarer Grund offenbart. Bleibt wirklich nur das Staunen? Das Staunen wirft schließlich die Frage nach dem Grund der Dinge auf. Diese Frage führt bei Cusanus auf den Fragenden selbst zurück, wenn er erkennt, dass die Dinge aus sich heraus nichts sind und der Grund der Dinge identisch ist mit seinem eigenen Grund. Die Frage nach dem Grund des eigenen Selbst schließt deshalb bei Cusanus die Frage nach allem anderen mit ein. Die Klärung des Rätsels durch den Blick nach innen klärt für ihn auch das Rätsel im Blick nach außen: „Vielmehr geben alle Dinge dem, der in der belehrten Unwissenheit sie befragt, was sie sind oder wie und wozu sie sind, zur Antwort: „Aus uns sind wir nichts [...]. Wir alle sind stumm. Er ist es, der in uns spricht. [...] „Sieh also zu“, so sagt unsere belehrte Unwissenheit, „daß du dich in ihm findest. Und da alles in ihm er selbst ist, so wird dir nichts fehlen können. Doch ist es nicht unsere Leistung, zu dem Unzugänglichen zu gehen, sondern die Leistung dessen, der uns ein ihm zugewandtes Antlitz gegeben hat, zugleich mit dem größten Verlangen zu suchen. Tun wir das, so erweist er sich als der Allgütige und wird uns nicht verlassen, sondern uns in seinem Anblick [se ipso nobis ostenso] ewig sättigen [...].“36 Für Cusanus verweist die Schöpfung insgesamt auf den Schöpfer als Grund aller Dinge. Die Schönheit der proportionierten Ordnung(en) in der Schöpfung ist dabei manifestatio der Gloria Dei als Grund der harmonischen Vereinung des Vielen. In dieser Harmonie manifestiert sich für Cusanus der Grund der Dinge als delectatio in der ewigen Sättigung unter dem Schleier der Nichterkennbarkeit. Wiederum zeigt sich die Verknüpfung der Schöpferkategorie mit der Vollendungskategorie (oder Heilskategorie). Für Cusanus mündet die Suche nach dem Grund der Harunicae infinitae formae sunt imago, diversitatem ex contingenti habendo, quasi creatura sit deus occasionatus […]? 35 De doct. ign., II, n.179: In his tam admirandis rebus, tam variis et diversis, per doctam ignorantiam experimur iuxta praemissa nos «omnium operum dei nullam» scire posse «rationem», sed tantum admirari […]. 36 De doct. ign. II, n.180 [Hervorhebung von mir.]: Sed omnia quidem in docta ignorantia ab eis sciscitanti, quid sint aut quomodo aut ad quid, respondent: «Ex nobis nihil […]». Muta quidem sumus omnia. Ipse est, qui in omnibus loquitur. […] «Fac itaque», ait nostra docta ignorantia, «ut te in eo reperias. Et cum omnia in ipso sint ipse, nihil tibi deesse poterit. Hoc autem non est nostrum, ut inaccessibilem accedamus, sed eius qui nobis dedit faciem ad ipsum conversam cum summo desiderio quaerendi. Quod dum fecerimus, piissimus est et nos non deseret, sed se ipso nobis ostenso, ‘cum apparuerit gloria eius’, nos aeternaliter satiabit.
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monie ebenso wie die Wahrheitssuche in das Projekt der Selbsterkenntnis und in die Frage nach Grund und Ziel der eigenen Existenz: „Der Mensch weiß aufgrund der Natur seiner Sinneserkenntnis, daß das Sinnenfällige um der Sinneserkenntnis willen ist, und mißt so das Sinnenfällige, um in sinnenfälliger Weise die Herrlichkeit der göttlichen Vernunft erfassen zu können. So (macht er es auch) hinsichtlich des Intelligiblen, indem er es nach der Vernunfterkenntnis bemißt, und schließlich betrachtet er von eben diesem her jene unsterbliche Vernunftnatur, damit die göttliche Vernunft sich in ihrer Unsterblichkeit ihm offenbaren kann. Und so wird die Lehre des Evangeliums mehr offenbar, die als Zweck der Schöpfung aufstellt, daß der Gott der Götter auf dem Sion in der Majestät seiner Herrlichkeit gesehen werde, welche die Offenbarung des Vaters ist, in dem alles Genügen ist. Und dieser unser Erlöser, [...] nämlich das Wort Gottes selbst, verheißt, daß er an jenem Tage sich offenbaren wird und daß dann jene im ewigen Leben leben werden.“37 Die Selbsterkenntnis mündet in die Betrachtung der göttlichen Vernunft, in welcher die Erfüllung des eigenen Seins zu suchen ist. Ausgehend von der attractio der Schönheit geht bei Cusanus der Blick zunächst auf die schönen Dinge, dann aber nach innen, auf die eigene intellektuale Tätigkeit, und von daher auf den Grund und das Ziel derselben und damit hin zum absoluten Grund von allem. Deshalb schreibt Cusanus in Tota Pulchra: „Also sollte unser Bemühen darin bestehen, dass wir von der Schönheit der sinnlichen Dinge aufsteigen zur Schönheit unseres Geistes [...] und von unserer Schönheit aus die Quelle der Schönheit bewundern, von der diese unsere Schönheit die Ähnlichkeit trägt ...“38 Es sei hier an die Stelle aus De beryllo erinnert, in der Cusanus von der „Vermessung“ der eigenen Ausfaltungen in ars et scientia auf die Vermessung der eigenen Vernunft und von daher auf die „Vermessung“ der göttlichen Vernunft übergeht39. Die Vermessung der eigenen Vernunft geschieht nach Cusanus durch die De beryllo, n.69: Recte igitur dicebat Protagoras hominem rerum mensuram, qui ex natura suae sensitivae sciens sensibilia esse propter ipsam mensurat sensibilia, ut sensibiliter divini intellectus gloriam possit apprehendere. Sic de intelligibilibus ea ad cognitionem referendo intellectivam, et demum ex eodem contemplatur naturam illam intellectivam immortalem, ut se divinus intellectus in sua immortalitate eidem ostendere possit. Et ita evangelica doctrina manifestior fit, quae finem creationis ponit, ut videatur deus deorum in Sion in maiestate gloriae suae, quae est ostensio patris, in quo sufficientia omnis. Et promittit ille noster salvator [...] ipsum scilicet verbum dei, quomodo in illa die se ostendet et quod tunc illi vivent vita aeterna. Das mensurare in De beryllo n.69 verweist auf das mensurare in De beryllo n.7. Vgl. Anmerkung unten. Dort ist der Schritt von der Selbstvermessung auf den Schöpfer ausgeführt. Der Mensch selbst wird als aenigmatisches Bild des Schöpfers verstanden. 38 Sermo CCXLIII, n.29: Studium igitur nostrum esse debet, ut de pulchritudine sensibilium ascendamus ad pulchritudinem spiritus nostri [...] et de nostra pulchritudine admiremur pulchritudinis fontem, cuius haec nostra pulchritudo similitudinem gestat [...]. 39 Vgl. De beryllo, n.7: „Denn wie Gott Schöpfer der realen Seienden und der natürlichen Formen ist, so ist der Mensch Schöpfer der Verstandesseienden und der künstlichen For37
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Entfaltung derselben, durch das Hervorbringen der Begriffswelt und der Welt der künstlichen Formen. Für Cusanus hängen Schönheit und Wahrheit eng miteinander zusammen, da die Frage nach dem Grund der Schönheit der Frage nach dem Grund der Wahrheit entspricht. Von der Selbstreflexion des Intellekts aus wird nach diesem Grund gefragt. Sowohl das desiderium naturale sciendi40 als auch die Liebe zum Schönen haben bei Cusanus dasselbe Ziel, nämlich vermittelt über die Selbstreflexion des Intellekts auf das Eine hinzuweisen und hinzuziehen, in dem allein Ruhe und Erfüllung liegen. 2. Der Verweischarakter mathematisch entfalteter Harmonie Der harmonische Zusammenklang und die wohlgeordnete Proportion des Schönen sind bei Cusanus auf der Ebene der ratio verstandesmäßig erfassbare, mathematisch beschreibbare und vom Menschen ausdrückbare Zusammenhänge. Die Harmonie in der Musik wird in De coniecturis deshalb auf die Zahl zurückgeführt41. Die zugrunde liegende Einheit, die die Verschiedenheit zusammenklingend verknüpft, ist für ihn im musikalischen Bereich die ratio. Die harmonischen musikalischen Klänge sieht er als Explikationen der zugrunde liegenden Einheit der ratio42. In der Musik klingt für ihn in den sinnlichen Kombinationen der verschiedenen Töne die Einheit der ratio durch. Dieses Zusammenspiel von Singulärem und Verschiedenem einerseits und einheitlicher Verknüpfung andererseits ist für Cumen, die lediglich Ähnlichkeiten seiner Vernunft sind, so wie die Geschöpfe Ähnlichkeiten der göttlichen Vernunft sind. Also hat der Mensch die Vernunft, die im Erschaffen Ähnlichkeit der göttlichen Vernunft ist. Daher erschafft er Ähnlichkeiten von Ähnlichkeiten der göttlichen Vernunft [...]. Hieraus mißt er seine Vernunft durch die Kraft seiner Werke, und daraus mißt er die göttliche Vernunft, wie die Wahrheit durch ihr Bild gemessen wird. Und das ist die Wissenschaft, die sich des Rätselbildes bedient. Er hat aber einen sehr scharfen Blick, mit dem er sieht, daß das Rätselbild ein Rätselbild der Wahrheit ist, so daß er weiß, daß dies die Wahrheit ist, die nicht in irgendeinem Rätselbild darstellbar ist.“ 40 Vgl. De doct. ign., I, n.1-2: Ita recte puto admirari, propter quod philosophari, sciendi desiderium praevenire, ut intellectus, cuius intelligere est esse, studio veritatis perficiatur. [...] Divino munere omnibus in rebus naturale quoddam desiderium inesse conspicimus, ut sint meliori quidem modo, quo hoc cuiusque naturae patitur condicio, atque ad hunc finem operari instrumentaque habere opportuna, quibus iudicium cognatum est conveniens proposito cognoscendi, ne sit frustra appetitus et in amato pondere propriae naturae quietem attingere possit. 41 De coni., n.83: In his igitur numeris 1, 2, 3, 4 atque eorum combinationibus omnis exstat harmonia. Causa igitur omnis harmoniae ex necessitate rationalis progressionis exsurgit. („In diesen Zahlen 1, 2, 3, 4 und ihren Verbindungen ruht also alle Harmonie. Der Grund jeder Harmonie entspringt also aus der Notwendigkeit dieser rationalen Reihung.“) 42 De coni., n.83: Vides sensibiles combinationes explicationes quasdam esse rationalis unitatis. („Man sieht also, daß die sinnenhaften Verbindungen Ausfaltungen der Vernunfteinheit sind.“)
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sanus Harmonie und Konkordanz. Den Grund für das Erfreuen [delectatio] an der musikalischen Harmonie sieht er darin, dass in der sinnlichen Kombination eine Ähnlichkeit [similitudo] der ratio wahrnehmbar wird43. Entsprechend sieht er in Tota pulchra Sehsinn und Hörsinn als die Sinne, in denen die Schönheit sich am ehesten zeigt, weil in diesen Sinnen die Einheit der ratio durchzuscheinen vermag44. Die rationale Einheit kann bei Cusanus allerdings nicht in praecisione in sinnliche Kombinationen ausgefaltet werden. Hieraus ergibt sich für ihn einerseits die Mannigfaltigkeit der Ausfaltungsmöglichkeiten45 und andererseits ein aenigmatisches Bild für das Verhältnis von absoluter Einheit und Vielheit der Geschöpfe46. Cusanus versteht die sinnlich wahrnehmbare musikalische Harmonie als sinnlichen Entfaltungsversuch einer geistig-begrifflichen reinen Harmonie - Entfaltungsversuch, deshalb, weil die genaue sinnliche Umsetzung der reinen Harmonie nicht möglich ist: „Auch in der Musik gibt es auf Grund der Regel keine Genauigkeit. [...] Die genaue proportionale Entsprechung wird deshalb nur in ihrem Begriff erschaut, und in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen vermögen wir die süßeste Harmonie nicht ohne Beeinträchtigung zu erfahren, weil sie sich dort nicht findet.“47 Liegt die süßeste Harmonie also im mathematisch beschreibbaren, aber nicht tonlich-sinnlich umsetzbaren Begriff derselben? Nein, auch das nicht. Vollkommene Harmonie bei Cusanus meint die Freude der Seligen in der ewigen Gottesschau: De coni., n.83: Unde rationalis ipsa harmonica unitas dum in sensibilium combinatione propinque contrahitur, in ipsa ratio delectatur quasi in opificio proprio seu propinqua similitudine. („Indem die harmonische Vernunfteinheit [rationalis unitas] in der Verbindung der Sinnendinge näher eingeschränkt wird, erfreut sich die Vernunft in ihr gleichsam wie in ihrem eigenen Werk oder in ihrem unmittelbaren Abbild.“) 44 Sermo CCXLIII, n.3: Sed subtiliores sensus habent propinquiorem unionem cum intellectu. Unde visus allicitur per pulchram formam et colorem, sic auditus per pulchram harmoniam. Et hoc in homine verum, quia ratio, quae in proportionibus delectatur, in illis sensibus propinquius relucet. Et ideo bene ordinata et proportionata, hoc est ubi in pluralitate relucet unitas proportionis seu harmoniae, sunt grata. 45 De coni., n.83: Sed quia praecisio eius explicari nequit, unitas harmoniaca in varietate sensibilium varie explicatur, ut in variis varie explicetur, quae in nulla, uti est, praecise potest explicari. („Weil aber die harmonische Einheit in ihrer Genauigkeit nicht ausgefaltet werden kann, wird sie in der Mannigfaltigkeit der Sinnendinge mannigfaltig ausgefaltet, so daß sie in den unterschiedlichen Dingen unterschiedlich ausgefaltet wird, weil sie in keinem genau ihrem Wesen nach ausgefaltet werden kann.“) 46 Ein Bild liegt vor, da, wie oben beschrieben, die Vermessung der eigene Ausfaltungen Ausgangspunkt für die Vermessung des eigenen Geistes und dieses wiederum Ausgangspunkt für die Vermessung der göttlichen Vernunft ist. Aenigmatisch ist dieses Bild, weil der Schleier der Nichterkennbarkeit bleibt. Vgl. De beryllo n.7. 47 De doct. ign., II, n.93: Age, in musica ex regula praecisio non est. […] Praecisa itaque proportio in ratione sua videtur tantum, et non possumus in rebus sensibilibus dulcissimam harmoniam absque defectu experiri, quia ibi non est. 43
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„Hier erhebe nun deinen Geist zur Einsicht, daß letzte vollkommene Harmonie Proportion in Gleichheit ist, die der lebende Mensch in seinem Leibesdasein nicht zu hören vermag, da sie die Verstandeskraft [ratio] unserer Seele an sich ziehen würde [ad se attraheret], [...], so wie das unendliche Licht alles Licht an sich ziehen würde; und das in solcher Weise, daß selbst die von den Sinnesbindungen gelöste Seele diese in höchster Weise zusammenklingende Harmonie mit dem Ohre ihres Geistes nicht ohne Entrückung [raptu] hören würde. Große Süße der Betrachtung ließe sich hier gewinnen, sowohl über die Unsterblichkeit unseres vernünftigen und verstandesmäßigen Geistes, der in seiner Natur den unvergänglichen Wesensgrund trägt, kraft dessen er aus sich in der Musik konkordante und diskordante Ähnlichkeit erreicht, als auch über die ewige Freude, in die die Seligen, die von irdischen Beschwerden gelöst sind, versetzt werden.“48 In der Freude der Seligen liegt uns wieder das Vollendungs- bzw. Heilsmoment vor, das bereits oben angesprochen wurde, an dieser Stelle allerdings bereits in der Innenperspektive der humana mens und nicht vermittelt durch die Betrachtung des Außen. Nach Cusanus kann der maxima harmonia in der proportio in aequalitate, also in der nichtsinnlichen Betrachtung, näher gekommen werden als in der sinnlichen. Die sinnliche Ebene ist für ihn von der praecisio der Einheit weiter entfernt als die Ebene der ratio. Die höhere Stufe sieht er in der Zuwendung des intellektualen Ohres zu dem Grund von allem [omnis ratio]. Dabei schreibt er dem Grund von allem höchste Attraktivität - entsprechend der absoluten Schönheit und ihrer Funktion der attractio - zu, sodass die höchste Stufe einer Entrückung [raptus] gleichgestellt wird, in der das unendliche Licht der absoluten Einheit das intellektuale Licht an sich heranzieht, es „verschluckt“ und „überstrahlt“. Über die mathematisch beschreibbare Harmonie schreibt Cusanus in Idiota de mente: „Das harmonische Verhältnis ist nämlich eine Einheit, die ohne Zahl nicht verstanden werden kann.“49, und: „... es kann nämlich kein Verhältnis ohne Zahl geben. [...] und die Harmonie hört auf, wenn die Tauglichkeit des Verhältnisses aufhört.“50 Es ist allerdings von entscheidender Bedeutung die verstandesmäßig erfassbare und mathematisch beschreibbare Harmonie, die dadurch gekennzeichnet ist, dass De doct. ign., II, n.93 [Hervorhebung von mir.]: Ascende hic quomodo praecisissima maxima harmonia est proportio in aequalitate, quam vivus homo audire non potest in carne, quoniam ad se attraheret rationem animae nostrae, cum sit omnis ratio, sicut lux infinita omnem lucem, ita quod anima a sensibilibus absoluta sine raptu ipsam supreme concordantem harmoniam aure intellectus non audiret. Magna quaedam dulcedo contemplationis hic hauriri posset tam circa immortalitatem intellectualis et rationalis nostri spiritus, qui rationem incorruptibilem in sua natura gestat, per quam similitudinem concordantem et discordantem ex se attingit in musicis, quam circa gaudium aeternum, in quod beati a mundanis absoluti transferuntur. 49 De mente, n.91: Harmonica enim habitudo unitas est, quae sine numero intelligi nequit. 50 De mente, n.92: [...] non enim potest esse proportio sine numero. [...] et desinit harmonia aptitudine proportionis desinente. 48
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sinnliche Singularitäten in einer rationalen Vereinheitlichung kombiniert werden, weder mit der maxima harmonia im raptus des intellectus verwechselt wird noch mit der oben angeführten harmonia mundi, in der uns die absolute Einheit nicht vollständig sondern unter dem Schleier der Nichterkennbarkeit widerscheint. Die maxima harmonia und der Verweischarakter der Konkordanz der Geschöpfe auf die absolute Einheit sind beide bei Cusanus jeweils nicht mathematisch erfassbar. Wenn Cusanus das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf beleuchtet und dabei von der verstandesmäßig erfassbaren Harmonie und von der in Zahlen ausdrückbaren Proportion redet, dann will er dies als symbolische Rede verstanden wissen: „Daß die Weisen in symbolischer Rede die Zahl das Urbild der Dinge genannt haben [...]. Nicht daß ich glaube, sie wollten von der Zahl reden, wie sie in die Mathematik gehört und aus unserem Geist hervorgeht denn daß die nicht Ursprung irgendeines Dinges ist, steht von selbst fest - , sondern sie haben symbolisch und vernünftig von der Zahl geredet, die aus dem göttlichen Geist hervorgeht, von der die mathematische ein Abbild ist.“51 Entsprechend ist auch die folgende Stelle aus De docta ignorantia zu lesen: „Gott hat bei der Erschaffung der Welt sich der Arithmetik, der Geometrie, der Musik und der Astronomie bedient, Künste, die auch wir anwenden, wenn wir nach proportionalen Verhältnissen [...] forschen.“52 Dass hier nicht daran gedacht ist, dass die durch menschliche Mathematik beschriebenen oder beschreibbaren Verhältnisse Anwendung gefunden hätten, sagt Cusanus explizit: „Beim Ordnen dieser Verhältnisse bediente sich die ewige Weisheit einer unaussprechlichen Proportion.“53 Die Grundlage des ordnenden Schöpferhandelns besteht bei Cusanus nicht in den durch die ratio beschreibbaren mathematischen Proportionen sondern in einer unaussprechlichen Proportion der göttlichen Weisheit. Diese Bemerkung muss beachtet werden, wenn wir lesen, wie Cusanus in Idiota de mente Gott mit einem Musiker vergleicht: „Der ewige Geist handelt nämlich gleichsam wie ein Musiker, der seinen Plan sinnlich wahrnehmbar machen will. Er nimmt nämlich die Vielzahl der Töne und bringt sie in ein Verhältnis, das der Harmonie entspricht, damit in diesem Verhältnis die Harmonie süß und vollkommen widerDe mente, n.88: Quomodo symbolice loquendo sapientes numerum rerum exemplar dixerunt [...]. Non quod credam eos voluisse de numero loqui, prout est mathematicus et ex nostra mente procedit - nam illum non esse alicuius rei principium de se constat - , sed symbolice ac rationabiliter locuti sunt de numero, qui ex divina mente procedit, cuius mathematicus est imago. 52 De doct. ign., II, n.175: Est autem deus arithmetica, geometria atque musica simul et astronomia usus in mundi creatione, quibus artibus etiam et nos utimur, dum proportiones [...] investigamus. 53 De doct. ign., II, n.176: Et dum haec aeterna sapientia ordinaret, proportione inexpressibili usa est [...]. [Hervorhebung von mir.] 51
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strahlt, weil sie dort als in ihrem Ort ist, und der Widerschein der Harmonie verändert sich, wenn sich das der Harmonie entsprechende Verhältnis verändert, und die Harmonie hört auf, wenn die Tauglichkeit des Verhältnisses aufhört.“54 Die verborgene Proportion der göttlichen Ordnung in der Schöpfung bleibt bei Cusanus hinter dem Schleier der Nichterkennbarkeit. Der Versuch der Erfassung der „verborgenen Proportion“ durch den Menschen bringt eine Verzerrung mit sich. Oder anders gesagt: Rationale oder intellektuale Betrachtungen des Verhältnisses von Geschöpf(en) und Schöpfer ergeben bei Cusanus rationale oder intellektuale Verhältnisbestimmungen, die „Ähnlichkeiten von Ähnlichkeiten“55 sind. Die verborgene Proportion aber ist für ihn weder rational-mathematisch noch intellektual genau abbildbar. Dennoch sind für ihn die Ausfaltungen des menschlichen Geistes nicht bedeutungslos. Denn in ihnen operiert der Mensch nach Cusanus als aenigmatisches Abbild der Schöpfungstätigkeit Gottes. Aber erst in der Reflexion auf sich selbst und seine entfaltende und einfaltende Tätigkeit mit Blick auf den Grund und das Ziel seines Seins erreicht bei Cusanus die Zuwendung zum Urgrund eine höhere - nämlich eine intellektuale - Stufe als es einerseits in der rein sinnlichen Zuwendung zum Schönen und Harmonischen und andererseits innerhalb der rational beschreibbaren Welt der Mathematik möglich ist. 3. Maria als Zeichen der höchsten geschöpflich-intellektualen Verähnlichung mit dem Einen Wenden wir uns wieder dem Sermo LXXI zu. Dort nennt Cusanus die Glückseligkeit das Ziel der intellektualen Natur des Menschen56. Der Weg zu diesem Ziel erfolgt über drei Schritte: Erleuchtung [illuminatio], Wahl [electio]57 und schließlich das intellektuale Erlangen [adipisci] der Glückseligkeit58. Cusanus bestimmt genauer, worauf das intellektuale Streben des Menschen nach Glückseligkeit gerichtet ist und worin es gründet: Da er die menschliche ratio als Bild [imago] der göttlichen ratio versteht, kann er annehmen, dass die menschliche ratio in sich bildhaft das vorfindet, das der inkarnierte Logos von sich selbst mitDe mente, n.92: Agit enim mens aeterna quasi ut musicus, qui suum conceptum vult sensibilem facere. Recipit enim pluralitatem vocum et illas redigit in proportionem congruentem harmoniae, ut in illa proportione harmonia dulciter et perfecte resplendeat, quando ibi est ut in loco suo, et variatur harmoniae resplendentia ex varietate proportionis harmoniae congruentis, et desinit harmonia aptitudine proportionis desinente. 55 Vgl. De beryllo, n.7. 56 Sermo LXXI, n.2: Unde secundum rationem hanc ad nostram doctrinam considerare possumus finem intellectualis nostrae naturae esse adipisci felicitatem. („Deshalb können wir dieser Überlegung gemäß zu unserer Belehrung bedenken, dass es das Ziel unserer intellektualen Natur ist die Glückseligkeit zu erlangen.“) 57 Vgl. Sermo LXXI, n.2. 58 Sermo LXXI, n.2: Oportet enim felicitatem intellectualiter adipisci. 54
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teilt: Wahrheit, Weg und Leben59. Dieses „in-sich-Vorfinden“ erfolgt in Form eines angeborenen Begehrens [innata desideria] nach Gott, als Wahrheit und Leben60. Man kann hierin eine natürliche illuminatio sehen. Da aber aufgrund der leiblichen Verfasstheit des Menschen die menschliche ratio nach Cusanus zunächst nur „ durch die Fenster des Körpers geistige Nahrung erjagen“61 kann, erscheint ihm die so erjagte Speise im Vergleich zur rationalen Wahrheit aufgrund einer sinnlich-körperlichen Trübung disproportioniert62. Aus dieser Trübung der natürlichen illuminatio ergibt sich für ihn die Notwendigkeit der Inkarnation: Die Sendung der ratio absoluta im fleischgewordenen Wort Gottes soll die menschliche ratio darin unterweisen, „...wie wir es vermögen, die begehrte Wahrheit und das Leben, das nicht in dieser Welt ist, zu berühren“63. Zwei Wege gibt Cusanus in Sermo LXXI für den „exercitium in inquirendo veritatem aut vitam aut viam“64
Sermo LXXI, n.3: Et ob hoc ex lumine illo divino, quod «illuminat omnem hominem venientem in hunc mundum», ea in nobis in potentia apprehensionis per innata desideria esse sentimus, quae verbum incarnatum se esse fatetur, scilicet ‹veritatem, vitam et viam›. Si enim divina ratio, ad cuius imaginem nostra ratio creata est et a qua lumen rationis habet, se illa esse fatetur, non mirum, si nos magno desiderio inclinamur ad veritatem, ad vitam scilicet veram et indeficientem, et quod in nobis est lex aeterna ut in sua imagine, quae est via ad veritatem et vitam. („Und entsprechend spüren wir aus jenem göttlichen Licht, das jeden Menschen, der in diese Welt kommt, erleuchtet, dass die Dinge in uns - in dem Vermögen durch angeborene Sehnsüchte zu erfassen - sind, von denen das inkarnierte Wort zu erkennen gibt, dass es diese ist, nämlich Wahrheit, Leben und Weg. Wenn offenbar der göttliche Verstand, zu dessen Bild unser Verstand erschaffen worden ist und von dem her er das Verstandeslicht hat, zu erkennen gibt, dass er jene ist, ist es kein Wunder, wenn wir mit großem Verlangen zur Wahrheit und zum Leben geneigt werden - und zwar zum wahren und mangellosen - , und dass das ewige Gesetz, das der Weg zur Wahrheit und zum Leben ist, abbildhaft in uns ist.“) 60 Ebd. 61 Sermo LXXI, n.4: Sed quia ratio nostra [...] non valens nisi per fenestras corporis alimentum spiritale venari […]. 62 Sermo LXXI, n.4: [...] omne alimentum, cum medio sensibili hauriatur, disproportionatum manet, ut non sit verum et vitale et formatum modo, quo exigit rationalis spiritus. Hinc ratio incorporata carni non potest quaesitum in veritate attingere, sicut nec oculus per medium impurum, puta coloratum vitrum, non potest veritatem obiecti attingere. („[...] jede Nahrung, weil sie auf sinnliche Weise aufgenommen wird, bleibt disproportioniert, so dass sie nicht wahr und lebendig und so geformt ist, wie es der rationale Geist verlangt. Infolgedessen kann der im Fleich inkorporierte Verstand das Gesuchte in Wahrheit nicht berühren, sowie auch ein Auge durch ein unsauberes Medium, wie z. B. gefärbtes Glas, die Wahrheit eines Objekts nicht berühren kann. ”) 63 Sermo LXXI, n.5: Hanc ignorantiam despiciens Deus misit ipsam Rationem absolutam seu Verbum aut Filium consubstantialem in carnem, ut nos instrueremur, quo modo desideratam veritatem et vitam, quae non est in hoc mundo, attingere valeamus. Zu dieser Sendung gehört auch die Bibelstelle, die Cusanus in dieser Predigt auslegt: Sermo LXXI, n.5: Et id ipsum nos instruit modo plano et facili atque brevi in hoc evangelio [...]. 64 Sermo LXXI, n.5. 59
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der „anima rationalis“65 an. Den ersten sieht er in einer Hinwendung zum Vielen [„in pluralitate frequentis exercitii“]66 und den anderen in der Hinwendung zum Einen [„circa unum exercitium“]67. Da der erste Weg Beunruhigung und Instabilität mit sich bringt, können für Cusanus hier Wahrheit und Leben nicht erreicht werden, da er diese durch Permanenz und Ruhe ausgezeichnet sieht68. „Das Bessere wählen“ wird von Cusanus deshalb gedeutet als sich vom Vielen ab- und dem Einen zuzuwenden, frei zu werden in das Eine hinein [„vacare in uno“]69. Nur so kann nach Cusanus die anima rationalis die gesuchte Ruhe und den Frieden finden70, anstatt sich im Vielen zu ermüden71. Nur im Einen können nach Cusanus ewiges Leben und Glückseligkeit72 gefunden werden: „Das Eine ist ja vereinheitlichend, und deshalb belebend und verewigend.“73 Wenn das Eine das Ziel ist, und der Weg nicht über das Viele gehen soll, wird verständlich, dass der Blick sich bei Cusanus in das Innere des Selbst richten muss. Über das Außen zu suchen entspräche sich dem Vielen zuzuwenden und damit sich von der Ruhe und dem Frieden des Einen zu entfernen. Nach Cusanus muss der rationale Geist deshalb zunächst auf sich selbst zurückgehen74. Sermo LXXI, n.5. Die beiden Wege sieht er dabei exemplarisch in Martha und Maria dargestellt: Vgl. ebd. 66 Sermo LXXI, n.5. 67 Vgl. Sermo LXXI, n.5. 68 Sermo LXXI, n.5: Quod est in pluralitate, est turbativum et temporale et non habet veritatem, vitam aut viam, quia veritas est permanens imperturbabilis. 69 Sermo LXXI, n.6. 70 Vgl. Sermo LXXI, n.6: Hinc, cum plurima turbationem inferant spiritui, qui pacem quaerit, tunc «unum est necessarium», ut spiritus eligat. 71 Sermo LXXI, n.7: Fatigari igitur in plurimis est non recte ad quietem pergere [...]. Das Eine ist die Ruhe des Vielen: Sermo LXXI, n.7: [...] cum plurima nihil habeant ex se, sed solum unum est quies eorum. 72 Nur im Einen findet der spiritus rationalis sein Ziel und kann glücklich ruhen. Vgl. Sermo LXXI, n.7: Solum autem unum, cum sit finis desiderii rationalis spiritus, est necessarium ita, ut solum in ipso [...] rationalis spiritus [...] feliciter quiescere queat. („Aber nur das Eine, weil es das Ziel der Wünsche des rationalen Geistes ist, ist so notwendig, dass nur in ihm selbst [...] der Verstandesgeist [...] glücklich ruhen kann [...]“.) Vgl. außerdem: Sermo LXXI, n.8: Et sicut perfectus est discipulus, cum factus fuerit sicut magister et tunc quietem attingit, ita nostra ratio perfecte quietatur in uno necessario, scilicet in ipsa ratione infinita, quia non ut in alia, sed nostra. („Und sowie ein Schüler vollendet ist, wenn er gemacht wurde wie der Lehrer und dann die Ruhe erreicht, so wird unsere ratio auf vollendete Art und Weise im Notwendigen Einen beruhigt, d. h. in der ratio infinita selbst, weil sie (dort) nicht wie in anderen [Vielen] sondern in unserer [eigenen] ist.“) 73 Sermo LXXI, n.6: Unum enim est unitivum, quare vivificativum et aeternificativum. Vgl. auch Sermo LXXI, n.13. Dort führt die Wahrheitssuche im Vielen zur geistigen Verwirrung: ebd: turbatio mentis, während das Buch der Schöpfung richtig lesen bedeutet zu erkennen, dass alles Ähnlichkeit des Einen ist (vgl. ebd.). 74 Sermo LXXI, n.7: [...] cum solum tunc redeat spiritus ‹supra se ipsum reditione completa›. Non enim sic attingit finem quasi in alio, sicut qui in pluralitate finem quaerit. („[...] weil nur dann der Geist auf sich selbst in einer vollständigen Rückkehr zurückgeht. Denn so berührt er das Ziel nicht gleichsam im Anderen, wie derjenige [es tut], der das Ziel in 65
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Sich so dem Einen zuzuwenden, bedeutet für Cusanus dem Ruf des Einen zu folgen: „Daher besteht das Handeln des Einen darin, das Nicht-Eine zu seiner Einheit zu rufen.“75 Hier sind wir wieder in dem Themenfeld der Attraktions- und Vereinigungsbewegung. Das Eine ruft das Nichts zu sich und erschafft so das Viele. Warum gibt es dann nicht lauter zweite Götter? Cusanus antwortet in Sermo LXXI: „Nun ist das Eine aufgrund seiner Natur nicht vervielfältigbar, weil das zweifache Eine nicht Eines ist, sondern etwas vom Einen Verschiedenes, nämlich zwei. Deshalb, wenn das Eine das Nicht-Eine, das heißt das reine Nichts, zu seiner unerreichbaren Einheit ruft, dann steigt das Geschöpf in Verähnlichung empor.“76 Die Geschöpfe sind nach Cusanus als Ähnlichkeiten geschaffen und zur Verähnlichung hin, dem ständigen Ruf des Einen folgend: Die Kreatur steigt empor zur Verähnlichung mit dem Schöpfer. Allerdings nicht von sich aus, sondern aufgrund der Anziehungs- und Vereinigungskraft des Schöpfers77. Der Unterschied der Geschöpfe ergibt sich in Sermo LXXI aus dem Grad der Verähnlichung78, der für jedes Geschöpf in einzigartiger Weise [singulari modo] realisiert ist79. Von hier aus wird die herausragende Stellung Marias zu verstehen sein. Ruhe und Frieden erreicht nach Cusanus nur derjenige, der das durch den Finger Gottes geschriebene Buch auf das Eine hin liest80, während aus der Zuwendung zum Vielen dagegen Ermüdung und Enttäuschung entspringen81. Cusanus hält deshalb Vielheit sucht.“) 75 Sermo LXXI, n.11: Unde agere unius est ad suam unitatem non-unum vocare. 76 Sermo LXXI, n.11: Et quia unum de sui natura est immultiplicabile - quia bis unum non est unum, sed aliud ab uno, scilicet duo - , quare, quando unum vocat non-unum, hoc est purum nihil, ad suam unitatem inattingibilem, tunc assurgit creatura in assimilatione. 77 Sermo LXXI, n.11: Sic igitur penitus nihil unitatis habens, scilicet ipsum purum nihil, omnipotentia unius surgit in assimilatione unius. Omnis igitur creatura, quia non potest esse, nisi sit una, reperitur in assimilatione unius absoluti et superexaltati. („Das, was so also vollständig nichts an Einheit hat, nämlich selbst reines Nichts [ist], steigt durch die Allmacht des Einen in Verähnlichung mit dem Einen empor. Also wird jedes Geschöpf als in Verähnlichung mit dem absoluten und allerhöchsten Einen gefunden, weil es nicht sein kann, wenn es nicht eines ist.“) 78 Sermo LXXI, n.12. 79 Sermo LXXI, n.12. 80 Sermo LXXI, n.13: Hic in omnibus quaerit pacem et requiem, quia unum omnium attingit necessariam causam, hic recte utitur ‹libro Dei digito scripto›, puta mundo creato, qui omnem creaturam unius scit assimilationem [...]. („Dieser sucht in allen Dingen Frieden und Ruhe, weil er das Eine, die notwendige Ursache aller Dinge, berührt. Dieser benutzt das durch den Finger Gottes geschriebene Buch, nämlich die erschaffene Welt, in rechter Weise, der weiß, dass jedes Geschöpf Verähnlichung des Einen ist [...]“). 81 Sermo LXXI, n.13: Unde haec est Christi admiranda doctrina, ut quicumque quaerere voluerit veritatem, non se fatiget in pluralitate entium, ut scilicet quaerat, quid caelum, quid terra, et ita de cunctis, quoniam si haec omnia per se considerantur, nihil veri in ipsis ut in pluribus reperietur, sed turbatio mentis, quando post infinitas fatigas se comperit nihil
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eine conversio ad unum für erforderlich82, nach der auf das gehört wird, was durch die geschaffene Welt auf das Eine hin verweist83. Die Verähnlichungsbewegung der Geschöpfe kann in dieser ihrer intellektualen Form nach Cusanus die größtmögliche Annäherung erreichen. Zwar bleiben bei ihm die Geschöpfe in ihrer Verähnlichungsbewegung, durch die sie das Eine ausdrücken wollen, immer in einer mehr oder weniger großen Distanz zum Einen84. Im intellectus aber kann das Eine als Wahrheit, d.h. als Gleichheit und damit als höchste Verähnlichung als „praecisio similitudinis“85 berührt werden86. Auf diese Berührung zielen bei Cusanus sowohl die Verähnlichungsbewegung aller Geschöpfe als auch das intellektuale Verlangen87, durch das die Menschen zur Wahrheit angeregt sind [„[a]fficimur ad veritatem“]88. Das Wahrheitsstreben im menschlichen Intellekt erklärt sich bei Cusanus daraus, dass er alles als zur Verähnlichung mit dem Einen erschaffen und dieses Verähnlichungsstreben im Intellekt als Wahrheitsstreben realisiert ansieht. Im Wahrheitsstreben des Intellekts ist für Cusanus eine größere Verähnlichung mit dem Einen möglich - nämlich als praecisio similitudinis - als es in der materiellen Realisierung der Geschöpfe möglich ist. Der Intellekt kann nach Cusanus das Wort Gottes in genauer Ähnlichkeit berühren89 und damit Ruhe und praecisionis attigisse et tempus inutiler exposuisse. („Daher ist dies die bewundernswürdige Lehre Christi, dass wer auch immer die Wahrheit suchen will, sich nicht in der Vielheit der Dinge ermüden soll, sodass er nämlich fragt, was der Himmel, was die Erde sei, und so von allen übrigen [Dingen]. Denn, wenn diese alle für sich betrachtet werden, wird nichts Wahres in ihnen selbst, als in den Vielen, gefunden, sondern [da ist nur] Verwirrung des Geistes, wenn er nach unendlichen Mühen erfährt, dass er nichts mit Genauigkeit berührt und die Zeit vergeblich eingesetzt hat.“) 82 Sermo LXXI, n.13. 83 Sermo LXXI, n.14: Hic quiescit circa pedes sensibilis mundi, ut audiat, quid in eo loquatur spiritus rationalis, quia in qualibet creatura ut in assimilatione unius ipsum «unum necessarium» intuetur et ipsum eligit. („Dieser ruht an den Füßen der sinnlichen Welt, damit er höre, was der spiritus rationalis in ihr spricht, weil er in jedwedem Geschöpf - als in Verähnlichung mit dem Einen - das notwendige Eine selbst sieht und es wählt.“) 84 Vgl. Sermo LXXI, n.15: [...] et quod omnia nitantur ipsum unum exprimere per assimilationem, et tamen hoc facere nequeant, cum assimilatio semper deficiat ab uno. 85 Sermo LXXI, n.15. 86 Sermo LXXI, n.15: Sic nostra vis intellectiva ad verum inclinata advertit veritatem, aequalitatem sive summam assimilationem unius et unum inattingibile, quia omne intellegibile et effabile antecedit, in summa assimilatione aequalitatis, scilicet in ipsa veritate unius attingit. („So richtet sich unsere intellektive Kraft, die zum Wahren hingeneigt ist, auf die Wahrheit [des Einen], die Gleichheit [des Einen] und die höchste Verähnlichung mit dem Einen, und berührt das Eine, das unberührbar ist, weil es allem Denkbaren und Aussprechbaren vorausgeht, in höchster Verähnlichung mit der Gleichheit, das heißt in der Wahrheit des Einen selbst.“) 87 Vgl. ebd. 88 Sermo LXXI, n.15. 89 Sermo LXXI, n.16: Unde, quando unum attingimus in veritate, quae etiam «Logos» seu Verbum seu Filius dicitur, tunc ipsum unum, «sicuti est», hoc est in praecisa similitudine,
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Glückseligkeit erreichen90. Dieser Weg geht bei Cusanus über die Selbsterkenntnis des Intellekts, indem er sich selbst betrachtet, wie er vieles in intellektualer Einheit vereint und damit Bild der absoluten Einfaltung darstellt91. Der Hinwendung zum Einen als electio geht in Sermo LXXI die illuminatio voraus, da nach cusanischem Verständnis das Eine nicht ohne einen Vorgeschmack gewählt werden könnte92. Dieser Vorgeschmack aber stammt aus der „Hilfeleistung zur Erfrischung des Lebens des Geistes“ [„ex administratio refectionis vitae spiritus“]93, das heißt aus dem Erleuchtungshandeln in der Offenbarung des Gotteswortes94. Cusanus nimmt für Maria eine illuminatio in herausragender Weise an95, aus der er eine herausragende Hinwendung Marias zum Einen und eine herausragende Anziehung Marias durch das Eine folgert: „Denn nachdem sie selbst die Süße des Einen selbst vor allen Sterblichen tiefer und heller durch intellektuales Kosten geschmeckt hatte, hat sie alle Kontemplation überschritten.“ 96 Maria erreicht bei Cusanus deshalb die höchste Stufe der Glückseligkeit97. Der besonderen illuminatio durch Gott korrespondiert bei Cusanus eine besondere geistige Verfasstheit Marias. In Tota pulchra schreibt er dazu: „Ferner werden [diese] Worte auf die ruhmreiche Jungfrau Maria angewandt, [die] gewiss über allen [anderen] völlig und vollendet schön in jeder Art der Schönheit [ist]. Sie hat sich vom Beginn ihres Seins an der attingimus. 90 Vgl. Sermo LXXI, n.16. 91 Vgl. Sermo LXXI, n.18. 92 Sermo LXXI, n.20: Tunc autem intellectualiter eligit, quando ipsum intellectualiter praegustavit esse «unum necessarium». 93 Sermo LXXI, n.20. 94 Sermo LXXI, n.20: Et venit hic gustus ex administratione refectionis vitae spiritus, quae fit illuminatione Verbi Dei, quod illuminat, uti Maria Magdalena sedens audiendo verbum Jesu illuminabatur. („Und dieses Kosten kommt aus der Hilfeleistung zur Erfrischung des Lebens des Geistes, die sich in der Erleuchtung durch das Wort Gottes ereignet, das erleuchtet, wie Maria Magdalena erleuchtet wurde, während sie saß und das Wort Jesu hörte.“) 95 Sermo LXXI, n.20: Unde, quamvis ‹multae filiae› seu animae rationales illuminatae verbo vitae via electionis optimi ‹divitias congregassent›, sola illa ‹illuminatissima turris›, Maria, «theotocos», ‹supergressa est universas›, ut merito sibi illud in excellentia conveniat, de quo evangelium dicit, quod adepta est peccatrix Maria Magdalena. („Deshalb, wenn auch viele Töchter oder rationale Seelen, die durch das Wort des Lebens erleuchtet wurden, durch die Wahl des Besten viele Reichtümer zusammengehäuft hatten, [so] hat nur jener am meisten erleuchtete Turm, Maria, die Gottesgebärerin, alle überschritten, sodass mit Recht in herausragender Weise ihr das gebührt, von dem das Evangelium sagt, dass es die Sünderin Maria Magdalena erreicht hat.“) 96 Sermo LXXI, n.28: Nam cum ipsa intellectuali gustu suavitatem ipsius Unius prae omnibus mortalibus profundius atque lucidius gustasset, omnem contemplationem «supergressa est». 97 Sermo LXXI, n.33: [...] satis per se constat, Mariam virginem felicitatem super omnes spiritus assecutam.
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absoluten Schönheit zur Braut gegeben. Sie ist als Freundin über alle [anderen] hinaus zur höchsten Schönheit hingezogen worden. Da sie in sich die Schönheit aller Tugenden besitzt, ist sie näher zum Thron des Königs der Schönheit gelangt als alle [anderen] Töchter Jerusalems ...“98. In der Schönheit der tugendhaften Verfasstheit des Geistes Marias liegt auch in Sermo VIII ihre besondere innere und geistige Verfasstheit99. Damit ist allerdings nicht nur die ethische Dimension gemeint, sondern die Wohlgeordnetheit100, Wohlproportioniertheit und innere Harmonie ihres Intellekts. Indem Maria für Cusanus näher als alle zur höchsten Schönheit hingezogen wurde, wird sie bei ihm zum Zeichen für die Möglichkeit des Aufstiegs in Verähnlichung101. Maria hat bei Cusanus insofern eine vermittelnde Funktion für den Aufstieg102, die sich in Sermo IX im Aufruf zur Kontemplation dieses Zeichens zeigt103. Marias Schönheit, d. h. bei Cusanus auch ihre Vermittlung durch Verweis der Kraft der Anziehung und Vereinigung des absoluten Einen, ist größer als diejenige, die in der gesamten kosmischen Harmonie aller Geschöpfe liegt, wie Cusanus in Sermo VIII betont: „Und weil jene, die gesegnet ist unter allen, erhoben worden ist über alle Chöre und vollständig schön ist, erscheint sie so groß und reich an aller Gnade und Ruhm, dass wenn alle Geschöpfe unter dem Himmel in Zungen verwandelt würden, sie die Lobgesänge für sie keineswegs ausdrücken könnten.“104 Maria wird deshalb von Cusanus unter allen Zeichen Gottes in der Schöpfung als großes Zeichen für die Attraktions- und Vereinigungswirkung Gottes hervorgehoSermo CCXLIII, n.31: Deinde applicantur verba ad gloriosam virginem Mariam utique super omnes totaliter et perfectissime pulchram omni modo pulchritudinis, quae ab ortu sui esse se sponsam dedit pulchritudini absolutae, quae ut amica super omnes ad summam pulchritudinem attracta est. Quae cum in se habeat omnium virtutum pulchritudinem, propinquius ad solium regis pulchritudinis accessit quam omnes filiae Ierusalem […]. 99 Vgl. Sermo VIII, n.4-6. 100 Die Wohlgeordnetheit kann festgemacht werden an der Tugend der Gerechtigkeit. Sermo VIII, n.5: Per iustitiam recte itur ad Deum et proximum. Zum Zusammenhang von Gerechtigkeit und Ordnung vgl. Platon, Der Staat, Viertes Buch, 18, 444d-e, S. 251: „Und Gerechtigkeit bewirken, sagte ich, heißt doch hinwiederum: die Teile in der Seele so anordnen, daß sie der Natur gemäß herrschen und voneinander beherrscht werden; [...] Tüchtigkeit wäre dann also offenbar eine Art Gesundheit und Schönheit und Wohlbefinden der Seele [...]“. 101 Sermo VIII, n.1: Signum fiduciae hominibus. Iam enim ‹fiduciam habere possumus accedendi magis ad thronum gratiae› eius […]. („Ein Zeichen der Zuversicht für die Menschen. Denn nun können wir Vertrauen darin haben, näher aufzusteigen zum Thron seiner Gnade [....]“.) 102 Vgl. Semo LXXI, n.1 und Sermo VIII, n.1: [...] «mater misericordiae», «mediatrix» a Deo constituta inter Christum et peccatorem […]. 103 Vgl. z. B. Sermo IX, n.19. 104 Sermo VIII, n.1: Et quia ista benedicta inter omnes « exaltata est super omnes choros », « tota pulchra », adeo magna et omni gratia et gloria plena exsistit, quod si cuncta creata sub caelo in linguas verterentur, eius laudes minime explicare valerent. 98
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ben105. Sie ist für Cusanus diejenige, die dem Ruf des Einen am weitesten gefolgt ist. Aus dieser höchsten geschöpflich-intellektualen Zuwendung ergibt sich für Cusanus eine besondere innere harmonische Ordnung des marianischen Intellekts. Dabei zeigt sich ein Nebeneinander von illuminatio durch Gott und Zuwendung in der intellektualen Verähnlichungsbewegung. Zwar bedingt die besondere illuminatio gnadenhaft den Aufstieg Marias. Dennoch darf das Element der electio als freie intellektuale Zuwendung zum Einen nicht übersehen werden. Das intellektuale Erreichen der Glückseligkeit setzt beide vorherigen Stufen voraus. Die erhöhte Maria wird bei Cusanus selbst in herausragender Weise zum vermittelnden Zeichen des Rufes zur Anziehungs-und Vereinigungsbewegung, in dem deshalb höchste (geschöpfliche) Schönheit und höchste (geschöpfliche) Glückseligkeit zusammenfallen. II. Francesco Petrarca 1. Laura als Widerschein der absoluten Schönheit Poesie als Widerschein Lauras Eine Frauengestalt steht im Zentrum des ästhetischen Schaffens des italienischen Dichters Francesco Petrarca. Es ist umstritten, ob Laura tatsächlich gelebt hat oder eine reine literarische Fiktion Petrarcas darstellt106. Wie auch immer man diese Frage beantwortet, der literarischen Gestalt der Laura haftet wohl unbestreitbar eine analogische und allegorische Färbung an107. So verweist der Name Laura auf eine Reihe sprachlich verwandter Begriffe, wie lauro (Lorbeer), l’aura (Lufthauch), aurora (Morgenröte), oro (Gold), mit denen Petrarca in seinen Gedichten bewusst zu spielen scheint108. Damit wird aber ein allegorischer Raum eröffnet, der es ermöglicht, in der Figur der Laura in Petrarcas Werk Bedeutungsnuancen anzunehmen, die über eine - sei es eine faktische oder eine fiktive - singuläre Frauengestalt hinaus verweisen. Laura im Sinne dieser geöffneten Bedeutung klingt in vielen, vielleicht sogar in allen Gedichten des Canzoniere durch, manchmal klarer durch die Nennung einer der Allegorien oder durch das Besingen einer Frauengestalt, zuweilen leiser, im Hintergrund, selbst wenn sie nicht durch einen explizit gesetzten Begriff gewissermaßen motivisch an der Oberfläche anwesend ist. Man kann Laura als Muse Petrarcas bezeichnen. Sie stellt mehr noch den Ausgangspunkt, den Inhalt und das grundlegende Konzept weiter Sermo VIII, n.1: Quamvis a principio et mundi origine Deus fecerit signa et prodigia magna super terram, «hodie» tamen, cum «regina mundi», virgo Maria beatissima […] «signum magnum in caelo apparuit». 106 Vgl. Stierle: Francesco Petrarca, 506-508 und Hoffmeister: Petrarca, 90-91. 107 Vgl. Stierle: Francesco Petrarca, 19: „Der Name der Laura ist gleichfalls doppelt lesbar, als allegorische Verweisung auf den Ruhm des Dichters und als Eigenname.“ Vgl. mit einer größeren Weitung Hoffmeister: Petrarca, 90-92. 108 Vgl. Hoffmeister: Petrarca, 91, Tilmann: Canzoniere,19-20, sowie die Anmerkung zur Canzone V in RVF, 23. 105
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Teile des poetischen Schaffens Petrarcas dar109. So sieht man beispielsweise an der Canzone 156110, dass Petrarca nicht einfach nur die sinnliche Schönheit Lauras besingt. Vielmehr verweist die sinnliche Schönheit auf himmlische Schönheit111, ist „engelsgleich“112. Alles andere erscheint ihm dagegen als Schatten. In der Erinnerung ergeben sich zugleich Glück und Schmerz, die zu einem Einklang [concento] aus Liebe [Amor], Einsicht, Tugend, Frömmigkeit und Schmerz werden. Dieser harmonische Einklang in der Seele - man könnte von einem intellektualen Einklang sprechen113 - ist der Ursprung der in poetischer Sprache abgebildeten Harmonie - einer Harmonie, der sich der Himmel hingibt114 und deren Nachklang in der Naturbetrachtung hörbar bleibt115. Petrarca verwendet hier bewusst das platonische116 Motiv des Schattens. Hoffmeister: Petrarca, 90, spricht vom „dichterischen Mythos“, in den Petrarca „die Begegnung mit ihr [Laura] [...] umgesetzt“ habe. 110 Tilmann: Canzoniere, 66/67 (C 156): „Ich sah auf Erden ein so engelgleiches Wesen [angelici costumi], so himmlisch eine Schönheit [celesti bellez[z]e], auf der Welt so einzig, dass das Erinnern mich zugleich beglückt und schmerzt, weil alles, was ich seh, Traum, Schatten [ombre] scheint und Rauch. 109
Und ich sah weinen zwei so schöne Augen, dass sie schon tausendfach der Sonne Neid erregten, und ich hört seufzend solche Worte sagen, dass Berge sie bewegen, Ströme halten könnten. Liebe [Amor] und Einsicht, Tugend, Frömmigkeit und Schmerz schufen im Weinen Einklang [concento] da so süß, wie in der Welt man ihn zuvor nicht hörte; und war der Himmel dieser Harmonie [armonia] so hingegeben, dass an den Zweigen man kein Blatt sich regen sah, von solcher Süße waren Luft und Wind erfüllt.“ (Hinweis: Die italienischen Begriffe in Klammern sind von mir nach der benutzten zweisprachigen Ausgabe eingefügt. Entsprechend werden die Seitenzahlen für den italienischen und den deutschen Text angegeben.) 111 Vgl. ebd. 112 Ebd. 113 Vgl. RVF, 745f. (hier S.745).: „[…] come ulteriori approssimazioni intellettuali all’essenza della donna concorrono alla meraviglia ‘corale’ di quel pianto.” 114 Vgl. Tilmann: Canzoniere, 66/67. 115 Vgl. hierzu weiter unten Abschnitt 2: Naturschönheit als Widerschein Lauras. 116 Vgl. den eingangs genannten Hinweis in De Girolami Cheney: Beauty, 182, auf die Einordnung der Laura Petrarcas in den Kontext einer neuplatonischen Ästhetik in der Forschungsliteratur. Bezüglich platonischer Elemente in Petrarca schreibt Hoffmeister: Petrarca, 95: „Platonische Elemente scheinen durch, die bei Petrarca aus zweiter Hand stammen, vermittelt durch Augustin und die volkssprachige Lyrik.“ Neben der Vermittlung durch Augustinus ist nach August Buck auch Cicero als Quelle zu nennen. Buck schreibt in der Einleitung zu De sui ipsius et multorum ignorantia, XVII: „Eine wichtige Quelle seiner Information über Platon war Cicero“. Petrarca selbst verweist
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In der Canzone 159 liest man: „In welchem Teil des Himmels, in welcher der Ideen befand das Urbild sich, dem die Natur entnommen dies anmutschöne Antlitz, um zu zeigen hier unten uns, was oben sie vermag?“117 Lauras Schönheit verweist auf das himmlische Urbild dieser Schönheit118 - so wie die Schönheit in der Schöpfung überhaupt. Das Besondere an Laura besteht für Petrarca darin, dass in ihr die himmlische Schönheit so sehr durchscheint, dass im Vergleich zu ihr alles andere als Schatten erscheint119. So herausragend sind die Schönheit Lauras und ihr Verweischarakter auf die himmlische Schönheit, dass Petrarca schreibt: „Nach Himmelsschönheit [divina bellezza] forscht und sucht vergebens, der noch die Augen jener nicht gesehn, und wie sie voller Sanftmut diese wendet;“120 Von hier aus könnte man Petrarcas Dichtung verstehen als den Versuch, den harmonischen Einklang in Petrarcas sich erinnernder Seele, der sich aus der Kontemplation der Schönheit Lauras ergeben hat, durch das Medium der Poesie hörbar und sichtbar121 zu machen, und zwar einschließlich ihres Verweischarakters. Der z. B. in De sui ipsius et multorum ignorantia, IV, 86/87 - 88/89 auf Platons Timaios - bzw. auf den Kommentar des Chalcidius zum Timaios - und bekennt ebd., 113: „»Und wer«, wird man fragen, »hat Platon diesen ersten Rang zuerkannt?« Ich - um für mich selbst zu antworten - war es nicht, sondern die Wahrheit, wie man sagt, die er zwar nicht völlig erfaßt, aber doch geschaut hat und der er näher gekommen ist als die anderen.“. Vgl. auch Petrarcas Vergleich von Platon mit Aristoteles ebd, 117 ff.. Petrarca betont außerdem ebd., 121: „Doch von Platon [...] behaupten sie, daß er nichts geschrieben habe - abgesehen von der einen oder anderen kleinen Schrift. Das würden sie nicht sagen, wenn sie so gelehrt wären, wie sie mich ungelehrt nennen. Mag ich auch ungebildet und kein Grieche sein, so habe ich doch sechzehn oder noch mehr Schriften Platons zu Hause [...]. Wenn sie es nicht glauben, sollen sie zu mir kommen und sich selbst davon überzeugen.“ Auch Cusanus hat sich für die Hervorhebung Platons in Petrarcas De sui ipsius et multorum ignorantia interessiert: Vgl. dazu Santinello: Nikolaus von Kues und Petrarca, 186-187 und196. 117 Tilmann: Canzoniere, 69 (C 159). In ihrem Kommentar zur Canzone CLIX weist Rosanna Bettarini in RVF, 757 den von Petrarca verwendeten Terminus „ydea“ als „idea platonica, idea celeste“ aus. 118 Vgl. auch Tilmann: Canzoniere, 105 (C 241): „Der hohe Herr, vor dem kein Sichverbergen, kein Fliehen hilft, keine Verteidigung, hatt’ mit Entzücken mir den Geist entzündet, mit einem Liebespfeil, der brannte.“ 119 Vgl. auch Tilmann: Canzoniere, 53 (C 30): „So schöne Augen hat man nie gesehen, sei es in unsrer Zeit, sei’s in den frühsten Jahren;“ 120 Tilmann: Canzoniere, 69 (C 159). 121 Vgl. hierzu das Wortspiel in Canzone Nr.197 in Tilmann: Canzoniere, 82/83: „Der Himmelslufthauch [L’aura celeste] , der in jenem grünen Lorbeer [verde lauro] atmet, mit dem einst Amor dem Apoll im Herzen Wunden schlug und mir ein Joch am Hals so süß zu tragen gab [...]“.
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Versuch, die kontemplierte Laura in Poesie hör- und sehbar zu machen, scheitert allerdings: „Ich schäme mich bisweilen, dass von Eurer Schönheit, oh Herrin, das, was ich in Verse füg, noch schweigt, [...] Schon oft begann ich, Verse aufzuschreiben, jedoch die Feder und die Hand und der Verstand [intelletto] blieben besiegt schon bei dem ersten Angriff.“122 Schönheit und Harmonie der petrarkischen Laura-Kontemplation übersteigen die Möglichkeiten der poetischen Sprache, bleiben unsagbar und besiegen den Verstand [intelletto]123. Dies allerdings nicht aufgrund der sinnlich wahrnehmbaren Gestalt, sondern aufgrund des Verweischarakters, der von der Schönheitskonzeption nicht gelöst werden kann. Laura erscheint damit als Auslöser für ein Sehnen, dessen eigentliches Ziel es ist, die Seele zum Urgrund der Dinge zu erheben: „[...] »Seele, immer wieder musst du dafür danken, dass du so großer Ehre damals würdig wardst. Von ihr kommt dir der liebende Gedanke [l’amoroso pensero], der dich, wenn du ihm folgst, zum höchsten Guten lenkt und wenig achten lässt, was jedermann begehrt; von ihr kommt dir die Kraft der Schönheit [l’animosa leggiadria], die dich zum Himmel führt auf gradem Pfad, sodass ich schon in stolzer Hoffnung gehe.«“124. In den Zügen anderer Frauen125 kann in abgeschwächter Form erscheinen, was Von hieraus ergibt sich für Petrarca die Bedeutung seiner Poesie, die die Anderen diese herausragende Schönheit erahnen lässt, die sie selbst nicht sehen können. Vgl. Tilmann: Canzoniere, 91 (C 205): „Vielleicht wird einmal einer seufzend sagen, von holdem Neid errötend: »Genug hat jener für die schönste Liebe zu seiner Zeit getragen.« Ein andrer: »Oh Fortuna, Feindin meiner Augen, warum durft jene ich nicht sehen? Warum kam sie nicht später, ich nicht früher?«“. 122 Tilmann: Canzoniere, 40/41 (C 20). 123 Vgl. Tilmann: Canzoniere, 40/41 (C 20). 124 Tilmann: Canzoniere, 32/33 (C 13). 125 Tilmann: Canzoniere, 32/33 (C 13): „Wenn unter andern Frauen hin und wieder Amor erscheint mit ihren holden Zügen, dann nimmt so sehr, wie jede wen’ger schön als sie, so sehr mein Sehnen [desio] zu, das mich in Liebe bindet. Ich segne jenen Ort, die Zeit, die Stunde, da sich so hoch bewundernd meine Augen hoben, und sage: »Seele, immer wieder musst du dafür danken,
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Petrarca in Laura in herausragender Weise gesehen hat: Der Widerschein der Himmelsschönheit, aus der beim Betrachter Amor, ein liebvolles Sehnen, ein amoroso pensero hervorgeht, der auf das höchste Gute gerichtet ist. 2. Naturschönheit als Widerschein Lauras und Wendung nach innen Versteht man Laura nicht nur als eine singuläre - reale oder fiktive - Frauengestalt, sondern als Kontemplation des Widerscheins der Himmelsschönheit, wird verständlich, dass Naturschönheit und die Schönheit Lauras aufeinander bezogen sind126. Mit diesem Hintergrund kann in der Beschreibung des Erreichens des Gipfels bei der Besteigung des Mont Ventoux ein subtiler Verweis gesehen werden: „Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft [aeris [!] insolito] und die ganz freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da.“127 Damit steht das gesamte Geschehen auf dem Berg in dem Zusammenhang des beschriebenen Verweises der Schönheit, die in exzellenter Weise in Laura durchscheint, aber eben auch in der Natur auf den Urgrund derselben verweist. Nach der Augustinuslektüre auf dem Gipfel des Berges, in der das Sich-Verlieren in einem rein sinnlichen Betrachten und Genießen des Geschöpflichen kritisiert wird128, findet eine Wendung des Blickes, wenn auch nicht die erste im Brief, so doch die konzentrierteste, nach innen statt: „Ich war betäubt, ich gestehe es, [...] schloß das Buch, zornig auf mich selber, daß ich jetzt noch Irdisches bewunderte, ich, der ich schon längst selbst von den Philosophen der Heiden hätte lernen müssen, daß nichts bewundernswert ist außer der Seele: Im Vergleich zu ihrer Größe ist nichts groß. Dann aber wandte ich, zufrieden, vom Berg genug gesehen zu haben, die inneren Augen auf mich selbst [in me ipsum interiores oculos
dass du so großer Ehre damals würdig wardst. [...]«“. 126 Vgl. dazu Tilmann: Canzoniere, 80/81 (C 196): „Der milde Lufthauch [L’aura serena], der durch grüne Blätter flüsternd daherstreicht, das Gesicht mir trifft, lässt mich erinnern, wie einst Amor mir die ersten Wunden schlug so süß und tief, lässt das Gesicht mir sehen, das sie mir verbirgt, das Zorn und Eifersucht vor mir verborgen halten, und auch ihr Haar, mit Perlen jetzt und Gemmen aufgesteckt, einst frei gelöst, blonder als blankes Gold, [...]“. Einen entsprechenden Verweis finden wir auch in Canzone 194. Vgl. Tilmann: Canzoniere, 80/81. 127 Die Besteigung des Mont Ventoux, 17, 16/17. Für eine solche Deutung muss man freilich eine Spätdatierung der Mont-Ventoux-Epistel annehmen. Für eine Spätdatierung plädiert Billanovich: Petrarca, 397. 128 Vgl. Die Besteigung des Mont Ventoux 26-27, 22-25.
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reflexi], und von jener Stunde an konnte keiner mich reden hören [...].“129 Über die Betrachtung der Naturschönheit wird Petrarca auf das eigene Selbst und die Größe der menschlichen Seele verwiesen und auf ihr Ziel, das in der Annäherung an Gott besteht: „Wie oft, glaubst Du, habe ich an diesem Tag auf dem Rückweg mich umgewendet und den Gipfel des Berges betrachtet, und er schien mir kaum die Höhe einer Elle zu haben im Vergleich zur Höhe menschlicher Betrachtung [contemplationis humane] ... Und auch das kam mir Schritt für Schritt in den Sinn: wenn es einen nicht verdroß, so viel Schweiß und Strapazen auf sich zu nehmen, damit nur der Leib dem Himmel etwas näher wäre, welches Kreuz, welcher Kerker, welche Folter dürfte dann die Seele erschrecken, die sich Gott nähert [...] ?“130. Der Aufstieg zu Gott geht auch bei Petrarca nicht direkt über die Betrachtung der Natur, sondern über die Wendung nach innen zur eigenen Seele. Diese muss für ihren Aufstieg „von Tugend zu Tugend [...] wandeln“131, wie es in der MontVentoux-Epistel heißt, und die „irdischen und niedrigsten Genüsse“132 hinter sich lassen. Der Blick nach innen deckt dabei auch die eigenen Unzulänglichkeiten auf - so heißt es etwa in Canzone 365: „Du, der du meine leeren, unwürdigen Missetaten siehst, Herr des Himmels, unsichtbar, unsterblich, hilf meiner Seele, die vom Wege weicht und schwach ist, und gleiche, was ihr fehlt, mit deiner Gnade aus, [...].“133 In der Canzone 356 spricht Petrarca zur L’aura sacra von seinem Leid, und sie reagiert mit Mitleid [pietà]134. In Canzone 362 ist Laura Petrarcas Führerin zu Gott135. Kann man hier von einer Andeutung marianischer Funktionen sprechen136? Dann ließen sich Verbindungslinien zur Vergine bella der Canzone Die Besteigung des Mont Ventoux, 28-29, 24/25. Die Besteigung des Mont Ventoux, 33, 26-29. 131 Die Besteigung des Mont Ventoux, 13, 13. 132 Die Besteigung des Mont Ventoux, 14, 15. 133 Tilmann: Canzoniere, 147 (C 365). 134 Tilmann: Canzoniere, 140/141 (C 356): „Der mir so heilge Lufthauch weht zur müden Ruh [L’aura mia sacra al mio stanco riposo] [...]. Sie schweigt und schaut ganz blass von Mitleid [pietà] und unverwandt mich an [...]“. Zum Motiv des Mitleids vgl. auch Canzone 240 und Canzone 241. In letzterer kommt der „Pfeil des Mitleids“ von Gott: Tilmann: Canzoniere, 104-107. Das Mitleid verstärkt dabei Petrarcas desio (ebd., 106). 135 Tilmann, Canzoniere, 145 (C 362): „Sie führt zu ihrem Herrn mich ...“. 136 Karin Westerwelle sieht in ihrer Interpretation zur Canzone CXXVI marianische Motive: Westerwelle: Spiritualität und Bildlichkeit, 285-287. Dabei betont Westerwelle den Unterschied zwischen den beiden Frauenfiguren der Laura und der Maria, scheint aber den hier behaupteten Verweischarakter zu übersehen. Vgl. ebd., 285: „Dem ersten Sonett und seinem Vorwegnehmen des schuldhaften Irrens in Jugendliebe korrespondiert die am Ende stehende Marienkanzone Vergine bella che di sol vestita. Sie wendet sich von der Laura129 130
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366137 ziehen138. Dann ließe sich sagen, dass bei Petrarca ein fließender Übergang139 von Laura zur „vera beatrice“140, der Vergine bella, stattfindet und damit zur mater misericordiae und Mittlerin zwischen Christus und dem Sünder141. So scheint die Poesie des Petrarca auf ihren Gipfel hinzulaufen, auf dem sich die Bedürftigkeit an Gnade zeigt, auf deren Zuteilung das marianische Zeichen der Zuversicht hoffen lässt. III. Schluss Bei beiden Denkern besitzt die Schönheit eine Verweisfunktion. Die Naturschönheit verweist bei Cusanus als bleibender anziehender Nachklang des Rufs zur Vereinung mit dem Absoluten auf das absolute Eine, bei Petrarca auf Laura. Laura selbst ist allerdings mehr als eine einfache singuläre - tatsächliche oder fiktive - Frauengestalt, sondern verdichtete ästhetische Idee142 des Schönen, die in abgeschwächter Form auch in der Natur, in anderen Frauen und nicht zuletzt auch in Petrarcas Poesie durchscheint. Die Färbung der letzteren durch Liebessehnsucht nach Erfüllung und durch ein Bewusstsein der letztendlichen Leere des Irdischen mündet in den Lobgesang auf die Vergine bella als Fürsprecherin für die Gnade Christi. Das letzte Ziel dieser Bewegung entspricht dem letzten Wort dieser Canzone: pace - ein Friede, der nicht in der Zerstreuung in der Vielheit143, sondern Erscheinung ab und preist die Hingabe an die höchste Frau und Mutter des Heils.“ 137 RVF, 1610-1613 (Canzone CCCLXVI). 138 Vgl. Stierle: Petrarca, 542-546. 139 Vgl. Stierle: Petrarca, 543-544: „Am Ende des Zyklus dringt das Gedicht zwar bis zur Grenze des Poetischen vor und markiert die Schwelle einer anderen Dimension, aber durchaus noch auf dem Boden von Petrarcas dichterischem Werk selbst, auch wenn hier die Liebe zur irdischen Laura und die Erinnerung an sie ausdrücklich verabschiedet wird. Aber ist Laura wirklich preisgegeben oder nicht eher eingegangen in die dichterische Figur der Marienanrufung? Von der vergeistigten Laura, deren Nähe der Dichter sich im Jenseits erhofft, zur verklärten Gestalt Marias ist nur ein Schritt.“ 140 RVF, 1611 (Canzone CCCLXVI). Beatrice ist Dantes Führerin im Paradies. Vgl. Dante, Die Göttliche Komödie. Für eine theologische Deutung der Beatrice vgl. Guardini: Dantes Göttliche Komödie, v. a. 292-331 und 440-443. Ich danke Christian Ströbele für diesen Hinweis. 141 RVF, 1613: „Raccomandami al tuo figliuol, verace homo et verace Dio, ch’accolga ’l m[i]o spirto ultimo in pace.“ 142 Kant, Kritik der Urteilskraft, B 192-193: „[U]nter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. - Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.“ 143 Vgl. für Petrarca dazu De otio religioso. Zu den Randbemerkungen des Cusanus zu
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nur in der Ruhe des Einen gefunden werden kann. Nimmt man die Attraktivität des Schönen als Ausgangspunkt der Bewegung, so erfolgt bei beiden Denkern eine Wendung nach innen auf das eigene Selbst, auf die eigene Seele, den eigenen Intellekt. Vollendung und Heil erfordern bei Cusanus und bei Petrarca den Weg über die Innerlichkeit. Das Erreichen derselben erfordert Gnade. Bei Cusanus und bei Petrarca ist Maria das große Zeichen, das auf diese letzte Erfüllung hoffen lässt. Petrarcas Laura bleibt allerdings ambivalent144. In der Maria des Cusaners wie in Petrarcas Laura verdichtet sich jeweils universale Schönheit in einem singulären Einzelnen, bei Cusanus in dem signum magnum, als Erlösungszeichen, das intellektual kontempliert werden will, bei Petrarca in der Kontemplation der Aura der Bella Donna, die in poetischer Sprache und Rhythmus in einem concento der Seelenteile besungen wird. In beiden Fällen ergibt sich das Paradoxon des Ausdrucks angesichts der Unzulänglichkeit der Ausdrucksmöglichkeiten145, das wiederum den Grund für eine prinzipiell unausschöpfbare Entfaltung intellektualer Wahrheitsund Kunstbilder einerseits und poetischer Gesänge andererseits darstellt146. In der dieser Schrift vgl. Santinello: Nikolaus von Kues und Francesco Petrarca, vor allem sein Ergebnis der „vier Problemkreise“ (ebd., 188), die durch cusanische handschriftliche Einträge hervorgehoben wurden: ebd., 187-188, darunter „[d]as religiöse »Otium« als Lebensideal.“ (ebd., 187). 144 Vgl. Das Streitgespräch von Franciscus mit Augustinus in Secretum meum. Exemplarisch hierzu kann die folgende Stelle herangezogen werden: Secretum meum, Drittes Buch, [20], 260-263: „AUGUSTINUS. Sie hat deinen Geist von der Liebe zu den himmlischen Dingen abgebracht und dein Verlangen vom Schöpfer auf das Geschöpf gelenkt. Genau das war der schnellste Weg zum Tod. FRANCISCUS. Bitte fälle kein vorschnelles Urteil! Tatsächlich hat die Liebe zu ihr bewirkt, daß ich Gott liebte.“ Diese Spannung scheint in Petrarcas Werk bestehen zu bleiben. Es ist fraglich, ob sie sich in eine Richtung auflösen lässt. Das Schädliche liegt dabei allerdings nicht in der schönen Frau selbst, sondern in der falschen Liebe zu dieser, wenn das Geschöpf mehr als der Schöpfer geliebt und der Verweischarakter der Schönheit übersehen wird. 145 Firenzuola schreibt in dem eingangs zitierten Dialog, dass die Schönheit einer Frauengestalt in der Konkordanz der Körperteile zu einem Einen in einer proporzione incomprensibile besteht. Diese Proportion nennt er verborgen, „weil wir keinen Grund angeben können“, warum die Teile in ihrer Zusammenstimmung in Schönheit erscheinen, obwohl wir doch sehen, dass sie es tun. Vgl. Firenzuola: Dialogo Delle Bellezze, 22: „Dico concordia , e quasi armonia , come per similitudine : perciocchè come la concordia fatta dall’ arte della musica , dell’ acuto e del grave e degli altri diversi tuoni genera la bellezza dell’ armonia vocale ; così un membro grosso , un sottile , un bianco , un nero , un retto , un circonflesso , un picciolo , un grande , composti e uniti insieme dalla natura , con una incomprensibil proporzione , fanno quella grata unione , quel decoro , quella temperanza , che noi chiamiamo bellezza . Dico occultamente : perciocchè noi non sappiamo render ragione , perchè quel mento bianco , quelle labbra rosse , quelli occhi neri , quel fianco grosso , quel piè picciolo , creino , ovvero eccitino , o risultino in questa bellezza : e pur veggiamo ch’egli è così.” (Anmerkung: Firenzuola: Dialogo Di Messer Agnolo Firenzuola, 289 hat „un membro grasso“ statt „un membro grosso“.) 146 Vgl. RVF, 745. Dort heißt es im Kommentar zur Canzone CLVI: „Sonetto estremo di eventi straordinari e di miracoli […] a segnale d’uno spettacolo unico, visivo (costumi, bellezze, lagrimar) e sonoro (dir parole), che è fuggito via ma del quale è data testimonianza
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unabschließbaren Summe dieser Entfaltungen wird ein Bild dessen erahnbar, auf das jenseits des Schleiers der Nichterkennbarkeit letztlich verwiesen wird: Die Idee einer intellektualen Anschauung als Vorgeschmack, zu der es keinen Begriff geben kann147, und die als Erfüllung und Friede das Ziel der Wahrheitssuche und der Liebessehnsucht darstellt.
come beatitudine non sottraibile alla memoria, che infatti riproduce in una strepitosa gamma di varianti questi temi infiniti dell’esperienza personale nei testi circostanti della sequenza del pianto (CLV-CLVIII).” 147 Vgl. Zitat oben aus: Kant, Kritik der Urteilskraft, B 192-193.
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Zu den Autoren dieses Bandes
Silvio Agosta unterrichtet als Gymnasiallehrer in Böblingen. Er promoviert über Nikolaus von Kues im Spiegel der italienischen Renaissancephilosophie bei Prof. DDr. Michael Eckert. Predrag Bukovec promoviert an der katholisch-theologischen Fakultät Wien und forscht zu unterschiedlichen Themen der jüdischen und christlichen Kulturgeschichte. Gianluca Cuozzo ist Professor für Philosophie an der Universität Turin. Michael Eckert ist Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Elena Filippi ist Juniorprofessorin für Kunstwissenschaft an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter. William J. Hoye ist emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Harald Schwaetzer ist Professor für Philosophie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter. Matthias Simperl studiert katholische Theologie und Philosophie in Tübingen und derzeit in Rom. Detlef Thiel ist freier Mitarbeiter der Kant-Forschungsstelle an der Universität Trier.