Cro-Magnon: Das Ende der Eiszeit und die ersten Menschen 3806225834, 9783806225839

Cro-Magnon - das sind wir! Bittere Kälte, kaum Nahrung, furchterregende Raubtiere: Unsere Vorfahren, die Cro-Magnon-Mens

119 58 26MB

German Pages 288 [298] Year 2012

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Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
Ein paar Bemerkungen vorab
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Danksagung
Anmerkungen
Register
Bildnachweis
Impressum
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Cro-Magnon: Das Ende der Eiszeit und die ersten Menschen
 3806225834, 9783806225839

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Cro-Magnon

primustype: Theiss, FAGAN – Cro-Magnon – Seite 1

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Brian Fagan

Cro-Magnon Das Ende der Eiszeit und die ersten Menschen Aus dem Englischen übersetzt von Bettina von Stockfleth

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Für Francis und Maisie Pryor – Archäologen, Gärtner und Schafzüchter – in Freundschaft und Respekt sowie mit einem großen Dankeschön für den vielen Spaß. Schließlich wurden schon Schildkröten nach ihnen benannt ...

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Ein unerwarteter und harter Winter, der überdies eine Ewigkeit andauern sollte, suchte unsere Erde heim. Louis Agassiz, Geological Sketches (1866)

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein paar Bemerkungen vorab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 15

1 Entscheidende Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Die Vorfahren der Neandertaler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

3 Die Neandertaler und ihre Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

4 Das stumme Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

5 Die 10 000. Großmutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Die Zeit der Wanderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 7 Das Reich des Löwenmenschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 8 Fell, Fett und Feuerstein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 9 Die Zeit des Gravettien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 10 Die Magie der Jagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 11 Die Zeit des Solutréen und Magdalénien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 12 Die Herausforderung der Erwärmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vo r w o r t In einer schwarzgrauen Eiszeitlandschaft bewegen sich vier Punkte an einem Flussufer entlang – die einzigen Zeichen von Leben an diesem Tag im Spätherbst vor 40 000 Jahren. Dichter Morgennebel zieht sanft über das träge fließende Wasser und regt sich von Zeit zu Zeit in einer eisigen Brise. Das Flussufer ist von dichtem Kiefernbewuchs gesäumt und in der Nähe befindet sich eine große Lichtung, auf der nach Nahrung suchende Auerochsen und Wisente im Schnee scharren. Die in Felle gekleidete Cro-Magnon-Familie wird langsamer. Sie besteht aus einem Jäger mit einer Handvoll Speeren, seiner Frau, die einen Beutel mit getrocknetem Fleisch trägt, sowie einem Sohn und einer Tochter. Der fünfjährige Junge rennt auf und ab. Seine ältere Schwester bleibt an der Seite ihrer Mutter. Sie trägt ebenfalls einen Beutel aus Tierhaut. Da lichtet eine Windböden zähen Nebel auf der anderen Seite des Flusses. Plötzlich schreit der Junge auf und zeigt dorthin, um gleich darauf voller Angst zu seiner Mutter zu laufen. Die Kinder brechen in Tränen aus und klammern sich an ihr fest. Ein wettergegerbtes, haariges Gesicht mit kräftigen Brauen starrt stumm aus dem Unterholz am anderen Ufer. Ausdruckslos, aber wachsam steht der Neandertaler, dem die Kälte nichts auszumachen scheint, reglos da. Der Vater blickt hinüber, droht kurz mit dem Speer und zuckt dann die Schultern. Das Gesicht verschwindet ebenso lautlos, wie es erschien. Begleitet von leichtem Schneefall setzt die Familie ihre Reise fort. Der Vater ist stets auf der Hut; sein Blick schweift unablässig umher. Während die vier zu ihrer Felshöhle hinaufsteigen, erzählt der Vater den Kindern von ihren scheuen, stillen Nachbarn, die sie kaum jemals zu sehen bekommen und denen sie noch seltener von Angesicht zu Angesicht begegnen. Als sein Vater und Großvater noch lebten, gab es sie noch in größerer Zahl. Damals sah er sie zum ersten Mal. Heute sind solche Begegnungen die Ausnahme, vor allem in den kalten Monaten. Sie sind andere Menschen als wir, erklärt er. Sie reden nicht wie wir und wir können sie nicht verstehen, aber sie tun uns nie etwas. Wir ignorieren sie einfach ... Cro-Magnon-Menschen und Neandertaler: Diese urtümlichste aller historischen Begegnung hat ganze Generationen von Archäologen fasziniert. Manchmal wurde sie als Konfrontation zwischen brutaler Gewalt und menschlichem Fortschritt beschrieben. Auf der einen Seite stehen urtümliche, mutige Menschen mit großer Körperkraft, die nur über simpelste Kleidung und Waffen verfügten und – nach unserem derzeitigen Wissen – noch keine vollständig

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Vorwort

artikulierte Sprache besaßen; zudem waren ihre intellektuellen Fähigkeiten wahrscheinlich noch relativ begrenzt. Auf der anderen Seite sehen wir die CroMagnon-Menschen, die von ihrer Anatomie her die ersten modernen Europäer darstellen, mit großem Gehirnvolumen und den für Innovationen unerlässlichen sprachlichen und eindrucksvollen kognitiven Fähigkeiten des Homo sapiens. Mühelos erlegten sie mit hocheffizienten Waffen große und kleine Beutetiere und pflegten eine komplexe Beziehung zu ihrem Lebensraum, ihrer Jagdbeute und den übernatürlichen Kräften ihrer Welt. Wir wissen, dass dieses Zusammentreffen mit der Auslöschung der Neandertaler endete, vielleicht vor etwa 30 000 Jahren. Aber wie es hierzu kam, bleibt eines der spannendsten und geheimnisvollsten Rätsel der gesamten Eiszeit. Die Forschungsgeschichte zum Neandertaler begann im Jahr 1856, als im Neandertal bei Düsseldorf der Schädel eines scheinbar primitiven Menschen mit stark ausgebildeten Überaugenwülsten gefunden wurde. Sieben Jahre später verglich Thomas Henry Huxley in Man’s Place in Nature, seiner brillanten Untersuchung von Schädeln, das Fossil aus dem Neandertal mit den Schädeln unserer primitiven menschlichen Verwandten – denen von Schimpansen und Gorillas. Die Vorstellung aber, einen menschlichen Vorfahren zu besitzen, der den Affen nahestand, schockierte viele viktorianische Zeitgenossen. In der Öffentlichkeit wurde deshalb rasch klar unterschieden zwischen der archaischen Menschheit – symbolisiert durch den Neandertalerschädel – auf der einen und den anatomisch modernen Menschen auf der anderen Seite, die man 1868 in Höhlen unweit von Les Eyzies im südwestlichen Frankreich entdeckt hatte. Aus den Neandertalern wurden primitive Höhlenmenschen mit Keulen, die ihre Partnerinnen am Haarschopf hinter sich herzuschleifen pflegten. Leider existiert dieses stereotype Bild bis heute. Der neueste Stand der Wissenschaft liefert uns ein vollkommen anderes Bild der Neandertaler. Sie waren kräftige und agile Menschen, die sich in einem rauen, oft extrem kalten Europa von den Atlantikküsten bis in das Herz Eurasiens hinein behaupteten – von den Randzonen der Steppe bis in die wärmeren und trockeneren Gebiete im Nahen Osten. Neandertalerjäger stellten großen und wehrhaften Tieren wie Wisenten nach, die sie mit schweren Wurfspeeren erlegten. Doch trotz ihrer körperlichen Kraft und Geschicklichkeit waren sie den Neuankömmlingen, den Cro-Magnon-Menschen, nicht gewachsen. Wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass sich Letztere vor ca. 45 000 Jahren rasch in ganz Europa auszubreiten begannen. Zunächst waren ihre Jagdgebiete noch klein und ihre Zahl gering,

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Vorwort

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doch ihre Lebensweise veränderte sich stetig in winzigen Schritten von Jahr zu Jahr. Jede Cro-Magnon-Familie, jeder Verband definierte sich über einen ausgeprägten Symbolismus, der auf mannigfaltige Art zum Ausdruck gebracht wurde. Vor gut 30 000 Jahren gravierten und malten die Cro-Magnon-Menschen ihre Bilder in Höhlen und unter Felsüberhängen. Sie schufen detaillierte und wunderschöne Schnitzereien aus Knochen und Geweih und legten komplexe Aufzeichnungen auf Knochenplatten an. Wir wissen, dass sie bereits mindestens vor 35 000 Jahren Knochenflöten spielten, und mit Sicherheit tanzten und sangen sie zum Flötenspiel in den tiefen Höhlen im Schein des Feuers an Winterabenden und bei sommerlichen Zusammenkünften. Sie verzierten ihre Körper und begruben ihre Toten mit aufwendigen Grabbeigaben, die ihnen im Leben nach dem Tod dienen sollten. Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass die Symbolsprache der Cro-Magnon-Menschen in irgendeiner Weise beschreibt, wo sie ihren Platz in der Natur sahen. Aber ihre eigene Wahrnehmung selbiger war meilenweit von unserer entfernt – sie waren Jäger und Sammler in einer Welt, die so wenig Ähnlichkeit mit dem heutigen Europa hatte, dass sie sich unserem Vorstellungsvermögen entzieht. Somit waren ihr Weltbild und ihre Definition der eigenen Existenz vollkommen anders als unsere und überdies weitaus komplexer als die der Neandertaler. Das vorliegende Buch behandelt kurz die Herkunft der Neandertaler sowie die Welt, in der sie lebten. Anschließend versucht es, die Frage aller Fragen zu beantworten: Was geschah, als die Cro-Magnon-Menschen auf die Neandertaler trafen? Schlachteten die neuzeitlichen Menschen die urtümlichen ab, sobald sie sie erblickten, oder besetzten sie einfach deren Jagdreviere und drängten die ursprünglichen Bewohner in die Randgebiete ab, wo sie langsam zugrunde gingen? Oder waren es die überlegenen geistigen Fähigkeiten, die Jagdwaffen und anderen Gerätschaften der Cro-Magnon-Menschen, die ihnen den alles entscheidenden Vorteil in einer immer kälter werdenden Eiszeitwelt verschafften? Wissen wir, wie Begegnungen zwischen Neandertalern und Neuankömmlingen verliefen? Kam es gelegentlich zu Vermählungen oder Handelskontakten zwischen beiden Gruppen oder tauschten sie Jagdmethoden, Technologien und Ideen aus? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir uns ebenso sehr mit den Cro-Magnon-Menschen wie mit den Neandertalern beschäftigen. Obwohl sie seit 150 Jahren mit immer ausgereifteren Methoden erforscht werden, bleiben die ersten anatomisch modernen Bewohner Europas eine schattenhafte

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Vorwort

Erscheinung, die in erster Linie über ihre Kunst und Tausende von Steinwerkzeugen definiert wird und weitaus weniger über ihre Lebensweise als Jäger und Sammler. Ich entschied mich, dieses Buch in den Räumlichkeiten des Musée nationale de Préhistoire von Les Eyzies zu schreiben, in jenem Dorf des französischen Vézère-Tals, das sich rühmt, die „Hauptstadt der Vorgeschichte“ zu sein. Die obere Galerie ist ein stiller Ort, eingebettet in die große Felswand, die die riesigen Felshöhlen beherbergt, in denen die Cro-Magnon-Kultur einst blühte. Ich betrachtete die entlang einer langen Wand sorgsam angeordneten Reihen von Werkzeugen aus Feuerstein, Knochen und Geweih, jedes davon korrekt mit archäologischer Bezeichnung und chronologischer Einordnung versehen. Die Geschichte der Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen stellte sich hier wie eine ordentliche Hierarchie der Artefakte dar, die im Laufe der Zeit immer kleiner, immer raffinierter wurden. Ich starrte sie irritiert an, obwohl mir diese Werkzeuge aufgrund meiner lange zurückliegenden beruflichen Ausbildung durchaus vertraut waren. Winzige Abweichungen einer Schaberform im Vergleich zu einer anderen, kleine Meißel mit verschieden gestalteten Arbeitsflächen, Geweih- und Knochenspitzen, die einst auf tödlichen Speeren steckten – es war eine schier endlose Zahl an ausgestellten Objekten. Nach einigen Minuten wurde mir klar, dass ein Betrachter ohne Vorkenntnisse so gut wie nichts über die anonymen Hersteller dieser perfekt in ein Museum passenden Gegenstände erfahren würde außer der Tatsache, dass sie in der Lage waren, unzählige solcher Geräte zu fertigen. Doch zahlreiche Fragen blieben unbeantwortet. Wer waren die Cro-Magnon-Menschen? Woher kamen sie? Wie überlebten sie die dramatischen Klimaveränderungen der ausgehenden Eiszeit vor Zehntausenden von Jahren? Und wie verhielten sie sich gegenüber den Neandertalern, die bei ihrer Ankunft an den Ufern der Vézère lebten? Die Ausstellungsobjekte des Museums ließen das Bild einer Vergangenheit entstehen, die von Objekten, aber nicht von Menschen bevölkert war. Ein reicher und lebendiger Teil der Geschichte, die einige unserer entfernten Vorfahren betrifft, war gewissermaßen tot – außer für eine kleine, handverlesene Gruppe von Experten. Jeder hat schon einmal vom künstlerischen Reichtum der Höhlen von Lascaux und Altamira, Font-de-Gaume und Chauvet gehört. Es gibt zahlreiche Bücher über die Kunst der Cro-Magnon-Menschen, die viele fantastische Farbfotos beschnitzter Geweihstücke sowie Höhlenbilder von Wollnashörnern, Auerochsen und eiszeitlichen Wisenten enthalten. Die Autoren schreiben von

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Vorwort

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begnadeten Künstlern, spekulieren über die Beweggründe für die Erschaffung dieser Schnitzereien und Bilder, und manchmal stellen sie sich vor, wie Schamanen mit übernatürlichen Kräften weit abseits vom Tageslicht ihre Zeremonien zelebrierten. Darüber hinaus werden die Menschen dieser Epoche – wenn sie überhaupt Erwähnung finden – als Großwildjäger dargestellt, die den Kampf mit respekteinflößenden Bestien aufnahmen. Wenige dieser Bücher befassen sich mit den wesentlich spannenderen Fragen zu den ersten Europäern – den komplexen Wechselbeziehungen ihrer Gesellschaften, den uralten Rhythmen, in denen ihre jährlichen Treffen stattfanden. Auch setzen sich nur wenige Werke mit den grundlegenden Fragen ihrer Herkunft und ihrer kognitiven Fähigkeiten auseinander. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit werden die Cro-Magnon-Menschen über ihre Kunst definiert, wobei diese doch integraler Bestandteil einer weitaus komplexeren Existenz war. Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte der Jäger und Sammler, deren früheste Vorfahren durch eine gewaltige Naturkatastrophe vor mehr als 70 000 Jahren fast ausgelöscht wurden. Es ist auch die Geschichte gewöhnlicher Männer und Frauen, die in unberechenbaren, oft bitterkalten Lebensräumen ums Überleben kämpften und gezwungen waren, sich ständig und so gut wie möglich an die kurz- und langfristigen Wetterveränderungen anzupassen. In vielerlei Hinsicht waren sie Menschen wie du und ich: Sie besaßen den gleichen ausgeprägten Intellekt und das gleiche Vorstellungsvermögen, hatten die Fähigkeit zu erfinden und zu improvisieren. Aber sie bewohnten eine Welt, die sich stark von unserer unterschied. In jener Welt lebten die Vorgänger des anatomisch modernen Menschen immer noch in derselben Weise, wie es Generationen Hunderttausende von Jahren zuvor schon als Jäger und Sammler getan hatten. Die Geschichte der Cro-Magnon-Menschen ist die Geschichte einer langen Reise, die vor mehr als 50 000 Jahren im tropischen Afrika ihren Anfang nahm und über das Ende der Eiszeit vor 15 000 Jahren hinaus fortdauert (ich setze das Ende der Eiszeit zu diesem Zeitpunkt an, da sich die klimatischen Verhältnisse danach in unregelmäßigen Zyklen zunehmend verbesserten). Vor allem jedoch ist sie die Geschichte grenzenloser Erfindungsgabe und Anpassungsfähigkeit. Während meiner Recherchen ging ich an einem grauen Sommertag am Ufer der Vézère in der Nähe von Les Eyzies spazieren. Die riesigen Felswände mit ihren Höhlen ragten steil über mir auf, zu ihren Füßen das satte Grün der Wiesen und dichten Wälder. Der Fluss strömte braun und schnell dahin, angeschwollen von den starken Regengüssen der vergangenen Wochen. Ich stellte

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Vorwort

mir dieselbe Landschaft vor 18 000 Jahren vor – zum großen Teil baumlos, bedeckt von kümmerlichem Gras und niedrigen Sträuchern, eine Welt, die nicht von umhereilenden Menschen und ihren Autos belebt war, sondern von äsenden Rentieren und Rothirschen mit großen Geweihen sowie kleinen Herden kompakter Wildpferde. Dort hätte es auch Auerochsen gegeben, vielleicht Polarfüchse mit braunem Sommerpelz, die sich an einer Beute sattfressen, oder vielleicht ein unter den Bäumen ruhendes Löwenrudel. Genug Geduld vorausgesetzt, hätte man vielleicht auch gelegentlich Menschen gesehen, zumindest hätte man gewusst, dass diese nicht weit entfernt sind – der Geruch von verbranntem Holz, Spuren weißen Rauchs von den Feuerstellen in den Höhlen, die Schreie spielender Kinder hätten es verraten. Dann stellte ich mir vor, wie sich diese Welt rasch veränderte und in eine Landschaft aus Wald und morastigen Wiesen verwandelte, in der Rentiere und Wildpferde fehlten. Ein Großteil des Wildes verbarg sich jetzt hinter den Bäumen. Ich staunte über die Gabe unserer Vorfahren, sich so leicht an derart gravierende Veränderungen der Umwelt angepasst zu haben. Nur wenige Menschen haben jemals in einer Welt solch extremen klimatischen und landschaftlichen Wandels gelebt. Vor Jahren segelte ich auf einer kleinen Yacht durch die engen Passagen zwischen den dänischen Inseln. Die tieferen Wasserwege schlängelten sich, ausschließlich durch große Holzpfähle markiert, durch die Landschaft. Eine sanfte Brise von achtern trug uns durch die gewundenen Engpässe in wenig mehr als Schrittgeschwindigkeit, was uns sehr entgegenkam, da wir mehr als einmal im Schlamm auf Grund liefen. In Gedanken war ich bei Steinzeitjägern, die im nahe gelegenen Schilf fischten und Wasservögeln nachstellten. Einige von ihnen hatten vielleicht einst auf dem damals trockenen Grund unter unserem Kiel ihr Lager inmitten einer sich verändernden Landschaft, die heute von einem höheren Meeresspiegel bedeckt ist, der sich damals von einem Monat auf den nächsten veränderte. Diese Menschen besaßen keine Metalle und nur einfachste Kanus. Geräte zum Fischen und Waffen hatten sie aus den wenigen brauchbaren Materialien hergestellt, die ihnen in unmittelbarer Nähe zur Verfügung standen. Die Anpassungsfähigkeit und der Einfallsreichtum des Homo sapiens wurden mir klar und ich fand diesen Gedanken angesichts der gewaltigen klimatischen Herausforderungen und Umweltveränderungen des vor uns liegenden 21. Jahrhunderts tröstlich. Dank multidisziplinärer Forschung wissen wir mittlerweile sehr viel mehr über das Klima des ausgehenden Eiszeitalters als noch vor einer Generation. Vieles

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Vorwort

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vom Rohmaterial für diese Erzählung verdanke ich tatsächlich Geräten und Speiseresten aus verlassenen Jagdlagern sowie den Gesteinsschichten aus Höhlen und Felsüberhängen. Neu entdeckte Höhlenmalereien nicht nur in Westeuropa, sondern auf der ganzen Welt haben zu neuen Sichtweisen auf die Bedeutung der Cro-Magnon-Kunst geführt. Selbst im Vergleich zum Wissensstand von vor 20 Jahren hat sich unser Wissen über Europas erste anatomisch moderne Bewohner grundlegend gewandelt. Dies verdanken wir technologischen Neuerungen und großen Fortschritten in der Paläoklimatologie. Hinzu kommt die Molekularbiologie: Dank ihrer verfügen wir über die Kenntnis der mitochondrialen DNS, die über die weibliche Linie vererbt wird, sowie die des Y-Chromosoms, das in etwa das Pendant zur mitochondrialen DNS für die männliche Linie darstellt. Wir können nunmehr wesentlich differenziertere Einblicke in das Leben der Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen gewinnen, insbesondere in Hinblick auf ihre Lebensräume. Seit jeher haben Menschen in einer unberechenbaren Umwelt gelebt, in der sie stets mit Veränderungen konfrontiert wurden. Noch bis vor einiger Zeit stellten wir uns die letzte Kaltphase der Eiszeit als eine durchgehende Periode bitterster Kälte vor, die Europa für mehr als 100 000 Jahre in eine Art gigantische Tiefkühltruhe verwandelte. Eisbohrkernen, Pollenkörnern, Höhlenstalagmiten und anderen neu entdeckten Indikatoren für das vorzeitliche Klima verdanken wir unser heutiges Wissen, dass diese Kaltphase kein in sich geschlossenes Ereignis war. Stattdessen schwankte das europäische Klima ständig von einem Jahrtausend zum nächsten zwischen kälteren und wärmeren Abschnitten, die manchen Gegenden nahezu neuzeitliche Klimaverhältnisse bescherten. Ältere Denkmodelle gehen davon aus, dass Skandinavien während der gesamten letzten Eiszeit von einem riesigen Eisschild bedeckt war. Inzwischen wissen wir, dass dies nur auf das letzte Kältemaximum vor etwa 18 000 bis 21 500 Jahren zutrifft. Zu jener Zeit war ein Großteil Europas tatsächlich eine Eiswüste. Die meiste Zeit hingegen war es in Europa wesentlich wärmer mit nahezu gemäßigten Temperaturen. Was die Welt der Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen so faszinierend macht, ist die Tatsache, dass wir gegenwärtig gerade einmal genug klimatologische Informationen besitzen, um einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Wir können regionale Klimaveränderungen untersuchen, die Gruppen von Jägern zu Vorstößen und Rückzügen veranlassten und vielleicht dazu beitrugen, dass einige Gruppen von Neandertalern ausstarben.

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Vorwort

Die vorliegende Darstellung beschäftigt sich sowohl mit historisch vertrauten als auch kaum bekannten Gesellschaften, und dies nicht nur beschränkt auf Europa, sondern aus einem wesentlich weiteren Blickwinkel. Die Cro-Magnon-Menschen mögen Europäer gewesen sein, aber im Vergleich betrachtet sind sie Neulinge, die von einem anderen Kontinent kamen. Wir können sie nicht verstehen, ohne uns weit von der vertrauten Umgebung von Les Eyzies mit den zahlreichen Fundstationen zu entfernen. Dank der mitochondrialen DNS und den Y-Chromosomen wissen wir, dass die Cro-Magnon-Menschen ursprünglich Afrikaner waren. Aufsehenerregend ist auch unsere Annahme, dass die Menschheit infolge einer gewaltigen Explosion nahezu ausgerottet wurde, als der Vulkan Toba auf Sumatra vor ca. 73 500 Jahren ausbrach. Die Verbindungslinien zwischen Dutzenden von archäologischen Fundorten zu ziehen ist eine der spannendsten Herausforderungen für künftige Archäologen. Viele dieser Fundstätten sind wenig mehr als Streufunde von Steinwerkzeugen, die wir mit dem Niederschlag vulkanischer Asche, mit Höhlenstalagmiten entnommenen Klimadaten, Größenschwankungen der Sahara und harten Bedingungen eines Lebens in häufig extrem trockenen oder kalten Landstrichen in Beziehung setzen müssen. Alles, was wir haben, ist ein vorläufiger Rahmen, bestehend aus sich regelmäßig als unzureichend erweisenden Daten. Aber er reicht aus, um uns einen Blick in die ausgehende Eiszeit von innen heraus anstatt nur von außen zu gewähren, da die grundlegenden Praktiken von Jägern und Sammlern in arktischen und tropischen, halbtrockenen Lebensräumen heute noch so ziemlich dieselben sind wie vor mehr als 20 000 Jahren. Es gibt nur eine begrenzte Zahl von Methoden, um beispielsweise Rentiere mit dem Speer zu jagen, Kaninchen in Netze zu treiben oder Polarfüchse zu fangen. Diese sind uns sowohl von prähistorischen als auch rezenten Jägerund-Sammler-Gesellschaften vertraut. Die Geschichte der Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen verrät uns viel darüber, wie sich unsere Vorfahren an Klimaänderungen und solche ihres Lebensraums anpassten. Ebenso wie wir blickten sie in eine ungewisse Zukunft, und genau wie wir verließen sie sich auf die einzigartigen Fähigkeit des Menschen, sich anzupassen, Ideen zu entwickeln sowie Vorteile zu erkennen und für sich zu nutzen, um sich in einer unsicheren Welt voller Herausforderungen zu behaupten. Wir können sehr viel aus dieser fernen, auf den nachfolgenden Seiten beschriebenen Vergangenheit lernen.

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Ein paar Bemerkungen vorab Für die geografischen Namen wählte ich die gebräuchlichste Schreibweise, und die Namen der archäologischen Fundstätten schrieb ich so, wie sie üblicherweise in den für dieses Buch verwendeten Quellen aufgeführt sind. Einige kaum bekannte Orte tauchen aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht in den Karten auf. Interessierte Leser bitte ich, die entsprechende Fachliteratur zu konsultieren. Bei der Quellenauswahl für die Anmerkungen legte ich Wert darauf, Werke mit ausführlichen Bibliografien aufzunehmen, damit Sie bei Bedarf auf weiterführende Literatur zugreifen können. Da ich einen erzählenden Stil wählte, um die Geschichte der Cro-Magnon-Menschen zu schildern, liefern Themenkästen in jedem Kapitel weitere Informationen zu technischen Aspekten wie der 14 C-Datierung, Kontroversen unter Experten und Steintechnologien. Dabei wurden sämtliche 14C-Datierungen unter Verwendung der jüngsten, ständig überarbeiteten Kalibrierungskurve aktualisiert. Diese können Sie im Internet unter http://www.calpal.de/ einsehen. Eine Anmerkung zu dem Begriff „Cro-Magnon“: Ich benutze ihn auf diesen Seiten als allgemeinen Oberbegriff, da er griffig und leicht zu merken ist. Er ist austauschbar mit Homo sapiens, moderner Mensch und anatomisch moderner Mensch (engl. Kürzel AMH für Anatomically Modern Human). Es handelt sich um einen Kompromiss aus Gründen des Leseflusses, denn die wissenschaftliche Wahrheit ist selbstverständlich wesentlich komplexer und wird umfassend in der Fachliteratur beleuchtet. Die Cro-Magnon-Menschen selbst dürften kaum eine entsprechende Bezeichnung für sich besessen haben. Vom Beginn ihrer Geschichte an bildeten sie einen Flickenteppich aus Gruppen, Sippen und manchmal größeren Verbänden, deren Namen uns nicht überliefert sind. Damit möchte ich betonen, dass wir diesen Menschen ihren Namen gaben, der auf einem willkürlich gewählten Punkt in ihrer außergewöhnlichen Geschichte basiert. Kulturelle Begriffe sind stets ein heikles Thema, insbesondere im Zusammenhang mit den Cro-Magnon-Menschen, deren Archäologie ausgesprochen komplex ist. Gesellschaften der Neandertaler hatten ihre Blütezeit in der mittleren Altsteinzeit (Mittelpaläolithikum), die Cro-Magnon-Menschen während der jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum). Diese für die mittlere und jüngere (bzw. späte) Altsteinzeit üblichen Bezeichnungen habe ich in diesem Buch nicht verwendet, wenngleich Sie Ihnen in der Fachliteratur begegnen werden. Auch habe ich auf den Begriff „Mesolithikum“ (Mittelsteinzeit) verzichtet, der

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E i n pa a r B E m E r k u n g E n V o r a B

sich auf die Jäger-und-Sammler-Gesellschaften von vor etwa 10 000 Jahren bezieht. Des Weiteren habe ich mich bemüht, die Verwendung oft rätselhaft anmutender kultureller Begriffe auf ein Minimum zu reduzieren. Um den Lesefluss nicht zu stören, verzichte ich auch auf zahlreiche Untergliederungen verschiedener Kulturen, die auf den nachfolgenden Seiten erwähnt werden. Viele von ihnen beziehen sich auf stratigrafische Untersuchungen von Siedlungsschichten archäologischer Fundorte oder auf Unterschiede zwischen Steinwerkzeugen und anderen Artefakten. Wenngleich sie für Experten äußerst bedeutsam sind, denke ich nicht, dass sie für diese Erzählung relevant sind.

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Kapitel 1 Entscheidende Begegnungen

Sie nennen ihn den Löwenmenschen. Die Figur aus Elfenbein steht aufrecht, nur ganz leicht nach vorne geneigt, die Arme seitlich angelegt. Ihr Kopf ist der eines Löwen mit leicht geöffnetem Maul und gespitzten Ohren. Eine Mähne bedeckt ihren Rücken, doch ihre Arme sind die eines Menschen. Sie sind entspannt und man erkennt ein Streifenmuster darauf (siehe Tafel I). Der Stand ist ein wenig breitbeinig, und zwischen den Beinen sind männliche Genitalien angedeutet. Der Löwenmensch steht gelassen da; sein Blick schweift ruhig in die Ferne. Er betrachtet eine unendlich weite Landschaft – ein Reich, das sich weit über die Grenzen der realen Welt hinaus erstreckt. Er wurde vor mehr als 34 000 Jahren geschaffen, geschnitzt aus dem wassergetränkten Mammutstoßzahn von einem unserer entfernten Vorfahren, einem Cro-Magnon-Menschen1. Der Künstler, der den Löwenmenschen erschuf, war ein Mensch wie wir. Er lachte und weinte, liebte und hasste, er war berechnend und manchmal hinterhältig. Er gehörte zu einer kleinen Gruppe von Jägern und war einer von ein paar Tausend Menschen, die in einer Region des heutigen Süddeutschlands lebten, in einer von Nadelwäldern und offener Tundra geprägten Landschaft, die Rentierherden auf ihren saisonalen Wanderungen in Richtung Norden und Süden durchquerten. Riesige Mammuts grasten an den Ufern eisiger Flüsse; Schwärme arktischer Schneehühner krächzten am Rande des Wassers. Dies war kein eiszeitliches Paradies. Der Schöpfer des Löwenmenschen lebte in einer Welt, zu deren hartem Alltag regelmäßige Hungerzeiten und harte Winter gehörten. Doch auch die geistige Welt hatte hier Platz, war doch die Landschaft bevölkert von inspirierenden Tieren und erfüllt von mächtigen übernatürlichen Kräften, die symbolische Partnerschaften zwischen Mensch und Tier entstehen ließen. Der Löwenmensch schlug eine Brücke zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich des Übernatürlichen. Sein Schöpfer bediente sich derselben kognitiven Fähigkeiten, die auch wir besitzen. Behände und hoch gewachsen, glichen die Cro-Magnon-Menschen anatomisch und intellektuell modernen Menschen. Wir wissen, dass ihre Gehirne ähnlich strukturiert waren wie unsere und dass sie sich ebenso klar artikulieren konnten wie wir. Die Vorfahren des unbekannten Schöpfers des Löwenmenschen waren vor etwa 40 000 Jahren in ihren harten Lebensraum eingewandert. Sie kamen aus

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wärmeren und trockeneren, weit südöstlich liegenden Regionen im Südwesten Asiens. Neuere 14C-Datierungen verraten uns, dass sich die Cro-Magnon-Menschen innerhalb von nur 5000 Jahren in Europa ausbreiteten. Sie zogen ständig umher, um Kontakte zu pflegen, Jagdwild nachzuspüren und Lagerplätze sowie Wasserstellen aufzusuchen. Die Entfernung zwischen Südwestasien und dem europäischen Raum erscheint gewaltig, aber innerhalb weniger Generationen legten die Gruppen von Cro-Magnon-Menschen überraschende Strecken zurück, besonders in dünn besiedelten, oft bitterkalten Umgebungen mit häufig wechselnden Witterungsverhältnissen zeitweise über mehrere Jahre, gar mehrere Menschenleben oder scheinbare Ewigkeiten lang. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Wanderungen einzelner Populationen über 400 Kilometer in etwa innerhalb einer Generation stattfanden. Wo immer sie sich niederließen, begegneten die Cro-Magnon-Menschen kleinen Gruppen von Neandertalern, den europäischen Ureinwohnern, deren biologische und kulturelle Wurzeln Hunderttausende von Jahren in die ferne Vergangenheit zurückreichen.2 Ungefähr 15 000 Jahre später, vor etwa 30 000 Jahren, waren die Neandertaler ausgestorben – zweifelsohne eine der überraschendsten Entwicklungen der Menschheitsgeschichte. Auf den nachfolgenden Seiten wird die Geschichte der Cro-Magnon-Menschen erzählt, an deren Anfang die Begegnung mit den urtümlichen Neandertalern steht. Wie schätzten sie einander ein? Vermischten sie sich oder brachten die Neuankömmlinge die Neandertaler um, sobald sie sie erblickten? Waren altertümliche und neuzeitliche Menschen enge Nachbarn oder drängten die CroMagnon-Menschen die Eingeborenen einfach aus ihren uralten Jagdgebieten in entlegene Regionen ab? Spielten die um Längen überlegenen intellektuellen Fähigkeiten der modernen Menschen eine entscheidende Rolle beim Aussterben der Neandertaler oder waren Klimawandel und extreme Kälte in Wahrheit die Schuldigen? Worin liegt das Geheimnis des überragenden Erfolgs der Cro-Magnon-Menschen? Waren es ihre fortschrittlichere Technologie, ihre Fähigkeiten als Jäger und Sammler oder ihr brillanter Erfindungsgeist, kombiniert mit Opportunismus? Oder waren ihr spiritueller Glaube und ihre komplexe Beziehung zu übernatürlichen Kräften ausschlaggebend? Wir müssen unsere Geschichte mit einer Beschreibung der Cro-Magnon-Menschen beginnen. Rein technisch gesehen handelt es sich um anatomisch mo-

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derne Menschen, doch bietet sich der Begriff „Cro-Magnon“ insofern an, als er weniger sperrig und weitaus treffender für die ersten Europäer ist, auch wenn er nicht ganz korrekt ist. Der Name geht auf das Jahr 1868 zurück, als die Eisenbahn das verschlafene Dorf Les Eyzies im Südwesten Frankreichs erreichte. Arbeiter, die das Land für den Bau einer neuen Bahnstation rodeten, legten ein kleines, bis dahin vollkommen verschüttetes Felsabri sowie einige Feuersteinwerkzeuge und Tierknochen in der Nähe eines Felsens frei, der den prophetischen Namen „CroMagnon“ („Große Höhle“) trägt. Bald nach der Entdeckung ergrub der junge Geologe Louis Lartet die Rückseite des Abris.3 Dabei legte er fünf menschliche Skelette frei, darunter die Überreste eines Fötus sowie die verschiedener Erwachsener, zu denen auch eine Frau zählt, die möglicherweise durch einen Schlag auf den Kopf getötet wurde. Die Bestatteten lagen inmitten verstreuter Muschelperlen und Anhängern aus Bein. Dies waren keine Neandertaler mit schlichten Artefakten und ohne Körperverzierung. Die Cro-Magnon-Menschen besaßen runde Köpfe und eine hohe Stirn, worin sie modernen Menschen entsprachen. Les Eyzies liegt am Ufer der Vézère in einem Tal, in dem hohe Kalksteinwände mit Höhlen und großen Überhängen den eiszeitlichen Menschen ideale Unterkünfte boten. Louis Lartets Vater Édouard hatte sich mit Henry Christy, einem wohlhabenden englischen Bankier zusammengetan, um in den frühen 1860er Jahren Ausgrabungen in den riesigen Felsstationen von Les Eyzies vorzunehmen. Dabei fanden sie Gegenstände aus Feuerstein, schnitzverzierte Harpunen und diverse Rentierknochen; menschliche Überreste allerdings fehlten.4 Der Cro-Magnon-Fund belegte nun, dass der Hersteller dieser Artefakte Homo sapiens war, und zwar ein entfernter Vorfahr der modernen Europäer. Er hatte in der Eiszeit in einer Periode gelebt, die gelegentlich etwas naiv auch als „Rentierzeitalter“ bezeichnet wurde, da man zahlreiche Knochen dieser Tiere in den Felsstationen fand. Schon bald verglichen die Gelehrten die Eiszeitmenschen (fälschlicherweise) mit den Eskimos der Arktis, doch eine Tatsache stand außer Frage: Sie waren die Nachfolger der Neandertaler. Bloß woher sie ursprünglich stammten, war weiterhin Gegenstand einer lebhaften akademischen Debatte. Die Cro-Magnon-Menschen, zu denen auch der Schöpfer des Löwenmenschen zählte, waren kaum mehr als winzige Flecken in einer gigantischen europäischen Landschaft, die von tiefen Flusstälern, Bergen und unendlichen offenen Ebenen geprägt war. Ihnen war durchaus bewusst, dass sie nicht die einzigen

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Menschen waren, die Wisente und Rentiere jagten, anderen Beutegreifern die Beute abspenstig machten und sich an den Rändern der grünen Kiefernwälder an Auerochsen anpirschten. Nur vereinzelt erhaschten sie einen Blick auf ihre Rivalen – beispielsweise eine Gruppe von Neandertalern, die leise über eine Sumpfwiese zog. Diese Menschen waren so anders, dass die Cro-Magnon-Kinder vor ihnen weggelaufen sein dürften. Wie die Neandertaler, so waren auch die Cro-Magnon-Menschen dünn gesät. Allerdings waren Letztere vollkommen andersartig. Sie waren Homo sapiens, der „wissende Mensch“, ausgestattet mit einer vollständig artikulierten Sprache und der Fähigkeit, flexibel zu denken und im Voraus zu planen. Ihre Ankunft sollte Europa für immer verändern. In langen Winternächten erzählten die alten Männer – vielleicht diejenigen mit übernatürlichen Kräften – Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit, als ihre exotischen Nachbarn noch in größerer Zahl existierten. Mittlerweile gab es weitaus weniger von ihnen. Eine direkte Begegnung war selten, vielleicht während einer Jagd oder beim Honigsammeln im Sommer. Der Kontrast zwischen den Physiognomien war frappierend: große, schlanke Cro-Magnon-Menschen hier, kompakte Neandertaler dort. Die CroMagnon-Menschen trugen Felljacken, lange Hosen und wasserdichte Stiefel. Die Neandertaler waren barfüßige Männer mit enormer Kraft, deren Körper in krude, mit Riemen zusammengehaltene dicke Felle gewickelt waren. Sie trugen schwere feuergehärtete Speere und vermutlich Holzkeulen. Ihre Waffen waren praktisch identisch mit denjenigen, die ihre entfernten Verwandten bereits Zehntausende von Jahren vor ihnen getragen hatten. Die Parteien starrten sich vermutlich lange an. Vielleicht folgten einige Gesten, die allen Menschen zu eigen sind: ein Lächeln, eine Honigwabe als angebotenes Geschenk, vielleicht vernahm man ein paar verhaltene Laute. Es gab keine gemeinsame Sprache. Über die Art solcher Begegnungen können wir nur spekulieren. Vergleichsmöglichkeiten bieten allein Berichte vom Zusammentreffen europäischer Forschungsreisender mit bis dahin unbekannten Kulturen, wie zum Beispiel die Begegnung mit den tasmanischen Ureinwohnern im späten 18. Jahrhundert. Die Tasmanier waren nicht mehr auf Fremde getroffen, seit der steigende Meeresspiegel sie 9000 Jahren zuvor vom australischen Festland abgeschnitten hatte. Beide Seiten erkannten einander als menschliche Wesen, aber darüber hinaus und abgesehen von einigen freundlichen Gesten wie einem Lächeln lebten sie in völlig verschiedenen Welten.

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Mitteleuropa vor 40 000 Jahren. Dichter Nebel liegt über dem Fluss und verdeckt die dunklen Tannenspitzen. Das schnell fließende Wasser plätschert laut in der Stille. Ein Ren mit eindrucksvollem Geweih grast ruhig nahe dem Flussufer, knietief im kalten Flachwasser stehend. Zwei im Schnee hockende, hinter großen Steinen verborgene Neandertalerjäger beobachten es stumm. Seit Sonnenaufgang sind sie dem Rentier gefolgt, lautlos in den tiefen Schatten von Baum zu Baum huschend, ohne auf die beißende Kälte zu achten. Jetzt sind sie nahe genug herangekommen, nur einige Schritte von ihrer Beute entfernt. Der ältere Mann hebt langsam seinen feuergehärteten Holzspeer und bringt sich in Position für einen raschen Wurf, der auf das verletzliche Herz des Rentiers zielt. Unerwartet blickt seine Beute auf, alarmiert durch einen kaum wahrnehmbaren Laut am anderen Ufer. Sekundenbruchteile später treffen zwei aus der Baumdeckung geschleuderte, mit Geweihspitzen besetzte Speere ihr Ziel. Das Tier strauchelt und fällt in den Fluss. Ein Strudel reißt den zuckenden Körper über eine tiefe Wasserstelle hinweg ans andere Ufer. Während das sterbende Ren außer Sichtweite treibt, senken die Neandertaler ihre Waffen. Nur für einen kurzen Augenblick lichtet sich der Nebel. Drei Männer in Felljacken mit Langspeeren und Speerschleudern in den Händen blicken auf das zuckende Tier. Während die beiden jüngeren Jäger das Rentier aus dem Wasser ziehen, schlägt der älteste Mann die Kapuze seines Mantels zurück und gibt den Blick auf dichtes Haar unter einer glatten, gewölbten Stirn frei. Er wirft den fellbekleideten Neandertalern einen abfälligen Blick zu und erhebt verächtlich und herausfordernd seinen Speer. Einen Moment später verschwinden die Fremden mit ihrer Beute im Wald ... Die Neandertaler (Homo neanderthalensis) müssen den Lesern populärwissenschaftlicher Literatur nicht vorgestellt werden. Sie sind die prähistorischen Höhlenmenschen, das stark behaarte Volk mit Holzkeulen, was eine extrem unfaire Beschreibung dieser geschickten und zähen Jäger ist, die mit wenig mehr als hölzernen Wurfspeeren bewaffnet Jagd auf so respekteinflößende Tiere wie den Wisent (Bison bonasus) und den Auerochsen (Bos primigenius), das urtümliche Wildrind, machten. Sie hatten weitaus größere Fähigkeiten, als nur die Vorlage für stereotype Comicfiguren zu liefern. Vor 45 000 Jahren lebten vielleicht 15 000 bis 20 000 von ihnen zwischen dem Atlantik im Westen und dem Ural weit im Osten. Sie jagten und sammelten in kleinen Familienverbänden. Die meisten von ihnen begegneten im Laufe ihres Lebens nicht mehr als einigen Dutzend anderer Menschen und wenn, dann nur kurz – vielleicht zur gemeinsamen Jagd oder um einen Partner zu

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finden. Sie behaupteten sich erfolgreich über Tausende von Jahren hinweg in einigen der unwirtlichsten Lebensräumen der ausgehenden Eiszeit, zu denen auch die kältesten Regionen zählten – solange sie Europa für sich allein hatten. Woher kamen sie? Unser Wissen über ihre frühe Geschichte wurde aus mageren Streufunden von Steinwerkzeugen und einigen wenigen menschlichen Fossilien gewonnen. Sie verraten uns, dass die Anfänge der Neandertaler tief in der Vorgeschichte liegen, der sich Kapitel 2 widmet. Die Existenz der frühesten eindeutig als solche identifizierbaren Neandertaler datiert in die Zeit vor etwa 200 000 Jahren. Aufgrund der Zunahme archäologischer Fundorte wissen wir, dass ihre Anzahl vor 150 000 Jahren nach einer Periode extremer Kälte von mindestens 30 000 Jahren langsam zu steigen begann. Sie gediehen, wenn auch in bescheidener Zahl, im Laufe der folgenden milderen Jahrtausende. Im heutigen Italien jagten sie vor 125 000 Jahren Elefanten und Nilpferde. Das wärmere Klima hielt bis vor 115 000 Jahren an. Dann brachte die letzte Glazialperiode der Eiszeit wesentlich niedrigere Temperaturen und fundamentale Umweltveränderungen. Bis dahin hatten die Neandertaler in kleinen Zahlen erfolgreich gewaltige Gebiete Europas und Asiens besiedelt, und zwar von Südengland und vom Atlantik aus über Belgien und Frankreich hinweg ganz Mitteleuropa sowie Regionen tief im Herzen Asiens und weit östlich vom Schwarzen Meer bis ins heutige Usbekistan und vielleicht noch darüber hinaus. Gruppen von Neandertalern lebten auch in wärmeren Regionen wie in Griechenland und in Spanien, hier sogar in so südlichen Regionen wie Gibraltar (siehe Karte 2). Trotz ihrer großen Verbreitung waren die kleinen Neandertalerpopulationen nur eine flüchtige Erscheinung in der monumentalen eiszeitlichen Landschaft. Sie waren die einzigen Menschen inmitten einer gefährlichen Welt voller Raubtiere, in der das Überleben von genauem Beobachten, stetiger Wachsamkeit und Opportunismus abhing. Ihr Lebensrhythmus veränderte sich im Laufe Zehntausender von Jahren nur in winzigen Schritten, bis die Cro-Magnon-Menschen in die uralten Jagdgebiete der Neandertaler eindrangen und ihr gleichförmiges Leben veränderten.

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Wichtige Entwicklungen und Ereignisse, die in diesem Buch behandelt werden (die angaben sind geschätzte kalenderjahre und basieren überwiegend auf kalibrierten 14c-werten.) 10 000 zunehmend unterschiedliche Jäger-und-sammler-kulturen in ganz Europa 11 000 Ende der magdalénien-kultur ca. 12 000 landwirtschaft und domestikation von tieren im nahen osten 13 000 höhlenmalereien von niaux 14 800 höhlenmalereien und gravuren von altamira 17 000 magdalénien-gruppen verbreiten sich während der Erwärmung Europas in richtung norden 17 000 (?) höhlenmalereien und gravuren von lascaux 18 000 Entstehung der magdalénien-kultur zwischen 21 500 letztes kältemaximum und 18 000 25 000 Blütezeit der gravettien-kultur, die in verschiedenen Formen in weiten teilen osteuropas bis zum Ende des letzten kältemaximums andauert 30 000 (?) aussterben der neandertaler 29 000 Ende der aurignacien-kultur 32 000 (?) höhlenmalereien von chauvet 39 000 auftreten der aurignacien-kultur in weiten teilen Europas 42 500 (?) cro-magnon-menschen besiedeln westeuropa. 45 000 moderne menschen in kostenki (osteuropa). sie haben sich vom nahen osten aus in richtung norden verbreitet. ca. 55 000 ausbreitung vollständig moderner menschen von afrika aus – genaue datierung unsicher 70 000 Ende der extremen dürrezeiten in afrika 73 500 der ausbruch des Vulkans toba dezimiert die menschheit. im nahen osten sterben die modernen menschen aus (?). 100 000 (?) von afrika ausgehend ansiedlung einiger Homo sapiens-gruppen im nahen osten zwischen letztes interglazial 128 000 und 115 000 160 000 Homo sapiens idaltu-Fossilien, Äthiopien 171 500 auftreten erster genetisch moderner menschen 195 000 Homo sapiens-Fossil aus omo kibish, Äthiopien 200 000 vollständige Besiedlung Europas durch die neandertaler 400 000 Homo heidelbergensis-Fossil aus der sierra atapuerca, spanien; womöglich der urahn der neandertaler 500 000 Homo heidelbergensis-Fund von mauer

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600 000 vor ca. 1,2 mio. Jahren vor ca. 1,75 mio. Jahren vor ca. 1,8 mio. Jahren vor ca. 2 mio. Jahren

Homo heidelbergensis entwickelt sich in afrika (?). menschliche siedlungen in sima del Elefante, atapuerca, spanien dmanisi-Fossilien, georgien Homo ergaster wandert aus afrika aus (?). Homo ergaster entwickelt sich aus früheren homininen.

Das sind nun die Protagonisten unserer Geschichte: die Alteingesessenen und die Neuankömmlinge. Édouard Lartet und Henry Christy stellten fest, dass die Cro-Magnon-Menschen die Nachfolger der Neandertaler waren. Aber woher waren die Cro-Magnon-Menschen gekommen? Lag ihr Ursprung in Europa, wie damals einige eurozentrische Wissenschaftler vermuteten, oder waren sie aus anderen Regionen eingewandert? Experten verwiesen auf die extrem dichten Schichtenpakete der Abris und Höhlen im Vézère-Tal und in Nordspanien, auf die scheinbar geordneten Übergänge der Artefakttypen von einem Stratum zum nächsten über Tausende von Jahren hinweg. Sie beginnen mit der Besiedlung durch die Neandertaler und reichen bis ans Ende der Eiszeit. Als die archäologische Forschung dann jedoch vor dem Zweiten Weltkrieg Gebiete wie das Donautal und den Nahen Osten zu erkunden begann, wurde anhand anderer Anordnungen der Artefakte schnell klar, dass die Cro-Magnon-Menschen Außenseiter waren, deren Ursprung weit von Westeuropa entfernt lag. Falls es jemals so etwas wie archäologische Irrlichter gab, dann ist die Suche nach den ersten modernen Menschen ein solches. Die Suche hat sich mittlerweile von den relativ bekannten Höhlen und Felsüberhängen des Nahen Ostens weg verlagert, der vor einiger Zeit noch am ehesten als Ursprungsort der Menschheit in Betracht gezogen wurde. Abgelöst wurde er vom tropischen Afrika. Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn in den 1960er Jahren arbeitete ich in Südafrika, wo ich Gelegenheit hatte, viele archäologische Sammlungen im Museum in Kapstadt und anderenorts anzusehen. Die Artefakte waren nichts Besonderes. In der Mehrzahl handelte es sich um bearbeitete Abschläge, Schaber, gelegentlich steinerne Projektilspitzen und – aus später datierten Höhlen und Abfallhaufen – unglaubliche Mengen kleiner Pfeilspitzen sowie zahlreiche Knochenwerkzeuge. Es gab kaum 14C-Datierungen, zumal die meisten Ausgrabungen in den 1930er Jahren stattgefunden hatten. Als ich mich dort aufhielt, gab es eine Handvoll von Ausgrabungen zwischen dem Sudan und dem Kap

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der Guten Hoffnung, doch seit den 1970er Jahren ist die Zahl der Ausgrabungen rapide gestiegen. Neue Grabungen haben unser Wissen über den afrikanischen Kontinent vor mehr als 100 000 Jahren verändert. Wir wissen jetzt, dass Homo sapiens im tropischen Afrika lebte, lange bevor moderne Menschen Europa oder den Nahen Osten besiedelten. Die ersten stichhaltigen Hinweise stammen aus den 1980er Jahren, als einige Knochenfragmente moderner Menschen einer 80 000 bis 100 000 Jahre alten Siedlungsschicht in einer der Klasies-River-Mouth-Höhlen an der Südostküste Afrikas zugeordnet wurden. Zu jener Zeit handelte es sich um die ältesten Homo sapiens-Funde der Welt und ich hatte – wie andere auch – Probleme, die Chronologie zu akzeptieren. Zu diesem Zeitpunkt ließen die mit der Erforschung sich über die weibliche Linie vererbender mitochondrialer DNS (mtDNS) befassten Molekularbiologen den sprichwörtlichen Fuchs in den Hühnerstall. Eine Gruppe von Genetikern unter der Leitung von Rebecca Cann und Alan Wilson benutzte die mtDNS sowie eine komplizierte „molekulare Uhr“, um die menschliche Abstammung bis zu isolierten afrikanischen Völkern zurückzuverfolgen, die in die Zeit vor 100 000 bis 200 000 Jahren datieren. Natürlich war sofort von einer „Afrikanischen Eva“ die Rede, einer modernen Frau, der hypothetischen Urahnin sämtlicher moderner Menschen. Die meisten Archäologen schluckten und atmeten erst mal tief durch: Cann und ihre Kollegen hatten Homo sapiens in historische Terra incognita geschickt.5 Heftige Kontroversen entbrannten um die Afrikanische Eva. Anthropologen, die die Wiege aller modernen Menschen in Afrika vermuteten, legten sich mit denen an, die der Ansicht waren, es hätte unterschiedliche Ursprungsorte in verschiedenen Teilen der Alten Welt gegeben. Wie wir in Kapitel 5 erfahren werden, hat die Molekularbiologie inzwischen wesentlich genauere Methoden entwickelt; zudem liegen mittlerweile sowohl mehr mtDNS- als auch Y-Chromosomen-Proben vor. Die Genetik spricht überzeugend für einen afrikanischen Ursprung des Homo sapiens. Die Archäologen haben überdies neue Fossilien entdeckt, darunter ein robuster, 195 000 Jahre alter Mensch aus dem äthiopischen Omo Kibish und drei 160 000 Jahre alte Homo sapiens-Schädel aus dem ebenfalls in Äthiopien gelegenen Herto. Es gibt nur noch wenige Anthropologen, die bezweifeln, dass Afrika die Wiege des Homo sapiens und Heimat der ältesten Vorfahren der modernen Europäer – der Cro-Magnon-Menschen – war. Die vor über zwei Jahrzehnten noch Empörung hervorrufende zeitliche Neuordnung ist mittlerweile akzeptierte historische Wahrheit. Doch falls Homo sapiens tatsächlich aus dem tropischen Afrika stammt, wie und wann zogen die Nachkommen der Frau, die wir etwas blumig als Afrikani-

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sche Eva bezeichnen, in die halbtrockenen Regionen des Nahen Ostens? Hier betreten wir das Reich der Spekulation, vor allem weil kleine Jäger-und-Sammler-Gruppen auf ihren Wegen nur wenige Spuren hinterlassen. Wir sind wieder bei den archäologischen Irrlichtern angekommen und müssen uns auf allgemeingültige Anhaltspunkte verlassen. Wir können ziemlich sicher sein, dass diese Migranten an offene Landschaften angepasste Menschen waren, die ständig weiterzogen. Ihre Werkzeuge und Waffen mussten sie überall mit hinnehmen, weshalb es kaum überrascht, dass nur Weniges die Zeiten überdauerte, von den gelegentlichen Anhäufungen von Steinwerkzeugen einmal abgesehen. Vor einer Generation stellten wir uns den Auszug aus Afrika als eine einzige, wenn auch komplexe Wanderung vor, die vor etwa 100 000 Jahren stattfand. Dieses relativ simple Modell wich einem komplexeren Szenario zweier Migrationen aus Afrika heraus. Die erste mag sich vielleicht wirklich vor ungefähr 100 000 Jahren ereignet haben, scheint jedoch im Nahen Osten gescheitert zu sein, möglicherweise infolge einer Dürre. Ein zweiter, weniger gut dokumentierter Schub scheint später erfolgt zu sein, vor etwa 50 000 Jahren. Diesmal verbreiteten sich moderne Menschen im gesamten Nahen Osten und in Asien und blieben dort, wo sie offenbar in der Nachbarschaft einer dünn gesäten Neandertalerbevölkerung lebten. Diese weithin anerkannte Theorie geht davon aus, dass die Neuankömmlinge zu jener Zeit sämtliche intellektuellen Fähigkeiten des Homo sapiens besaßen. Bloß wann und wie sie diese erwarben, bleibt eine unbeantwortete wichtige Frage. Alles, was wir hierzu sagen können ist, dass Homo sapiens im Zeitraum vor zwischen 100 000 und 50 000 Jahren zu irgendeinem Zeitpunkt an einem entscheidenden, aber kaum bekanntem Moment in der Geschichte das komplette Arsenal kognitiver Fähigkeiten entwickelte, das auch wir besitzen. Überraschend kurze Zeit später – nach vielleicht gerade einmal 5000 Jahren – drangen seine Nachkommen immer weiter nordwärts Richtung Europa vor. Wie die meisten Archäologen hege ich ein tiefes Misstrauen gegenüber theoretischen Szenarien, die sich nicht durch Fundstätten und Artefakte untermauern lassen. Beim Ursprung des modernen Menschen müssen wir uns aufgrund fehlender harter Fakten allerdings mit solchen behelfen. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, scheint die These der zwei Migrationsbewegungen aus Afrika die überzeugendste zu sein, um die Siedlungsspuren der Vorläufer der Cro-Magnon-Menschen in ihrer neuen Heimat zu erklären. Dieses Modell wird höchstwahrscheinlich in den kommenden Jahren weitere Differenzierungen und mit Sicherheit große Veränderungen erfahren, doch wie dem auch sei, so

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steht grundlegend fest, dass die ersten neuzeitlichen Bewohner Eurasiens Afrikaner waren. Viele ihrer Jagdpraktiken, ihre leichte Bewaffnung und die sozialen Strukturen entwickelten sich in den halbtrockenen Gegenden südlich der Sahara in den Tropen. Ich bin sicher, dass diese Abstammung tiefgreifende Auswirkungen auf die Art und Weise hatte, wie sie ihr Leben an eine weitaus kältere Welt klimatischer Extreme anpassten. Die Begegnungen zwischen Neandertalern und Cro-Magnon-Menschen in Eurasien waren ein kompliziertes Stelldichein, das sich über viele Jahrhunderte hinzog. Das war nichts Neues, denn die Neuankömmlinge waren den Neandertalern schon früher häufig begegnet. Ihre Vorfahren hatten Seite an Seite mit Neandertalern in den halbtrockenen Regionen Südwestasiens gelebt. Wir können davon ausgehen, dass die Kontakte mit jenen Menschen, die ihnen sehr fremdartig erschienen sein dürften, mündlich von einer Generation zur nächsten tradiert wurden. Zu dem Zeitpunkt, als die ersten Cro-Magnon-Menschen in Europa eintrafen, trennte eine tiefe intellektuelle und soziale Kluft sie von ihren neuen Nachbarn. Sie mögen deren großer Körperkraft und Fähigkeit, Beute nachzustellen, Anerkennung gezollt haben, aber ich nehme an, dass die Cro-Magnon-Menschen in den Neandertalern keine Menschen wie sie selbst sahen, sondern Wesen, die ihnen allenfalls ähnelten. Es ist gut möglich, dass sie einander mieden, weil sie nichts gemeinsam hatten. Die altertümlichen und die neuen Menschen lebten nebeneinander her und hielten wahrscheinlich Distanz, bis die letzten Neandertaler ausgestorben waren. Das geschah vermutlich in Spanien vor ungefähr 30 000 Jahren, wobei diese Datierung umstritten ist. Kürzlich in Byzovaya (Russland) entdeckte Funde datieren ungefähr in denselben Zeithorizont oder sind wenig älter. Um zu ermitteln, ob die neuzeitlichen Menschen ihre neuen Nachbarn angriffen und sie rasch aus ihren bevorzugten Jagdgründen in entlegene Gebiete vertrieben, wären Dutzende regionaler Karten erforderlich, in denen die Verteilung akkurat datierter Neandertaler- und Cro-Magnon-Fundstätten vermerkt ist. Leider haben wir keine solchen Fundstätten und schon gar keine Möglichkeiten, diese genau über mehrere Generationen hinweg korrekt zu datieren. Eben dieses Maß an Präzision wäre jedoch erforderlich. Nehmen wir ein anderes Szenario: Töteten Cro-Magnon-Gruppen Neandertaler, wenn sie ihnen begegneten? Abermals ist es so gut wie unmöglich, Belege hierfür zu finden. Man müsste menschliche Skelette entdecken, in denen Speerspitzen stecken – nicht nur ein einzelnes Grab, sondern Dutzende davon an verschiedenen Orten. Bislang fehlen solche Funde.

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Dann ist da die Frage nach dem Sex – ein heikles Thema, das stets zuverlässig für neue Schlagzeilen sorgt. Haben sich Neandertaler und Cro-MagnonMenschen vermischt? Vor einigen Jahren gelang es den Genetikern Svante Pääbo und Matthias Krings von der Universität München, das Teilstück einer Neandertaler-DNS aus einem Röhrenknochen zu extrahieren, und vor Kurzem entschlüsselten Pääbo und seine Kollegen einen Großteil der mtDNS des Neandertalers.6 Sie fanden heraus, dass die DNS-Sequenz des Neandertalers außerhalb des genetischen Variationsspektrums liegt, das wir bei modernen Menschen finden, was zu dem Schluss führt, dass der Neandertaler kein Urahn des modernen Homo sapiens ist. Die DNS-Sequenzen von Menschen und Schimpansen stimmen zu 98 Prozent überein. Die Neandertaler stehen den modernen Menschen genetisch noch näher, aber die geringfügigen Unterschiede reichen aus, um zu belegen, dass wir uns vor rund 700 000 Jahren auseinanderzuentwickeln begannen. Könnten sich die Cro-Magnon-Menschen und Neandertaler also vermischt haben? Die meisten Experten glauben, dass sie es nicht taten. Bleibt nur noch die populärste Theorie: Die modernen Menschen waren einfach geschicktere Jäger und besser im Überlebenskampf in den sehr anspruchsvollen, sich ständig verändernden Lebensräumen der späten Eiszeit. Man kann auf die überlegenen Waffen, die effizientere Technologie sowie die bessere Kleidung der Cro-Magnon-Menschen verweisen und vor allem natürlich auf ihre höher entwickelten kognitiven Fähigkeiten. All dies spielte definitiv eine Rolle im täglichen Kampf ums Überleben, aber einen einzigen, allein ausschlaggebenden Grund für den Niedergang der Neandertaler zu beschwören, ist eine offene Einladung zu Schuldzuweisungen und starken Vereinfachungen. An dieser Stelle können wir gewichtigere Argumente ins Feld führen, die sowohl auf archäologischen Funden als auch auf wissenschaftlich fundierten Annahmen basieren. Sowohl den Neandertalern als auch den Cro-Magnon-Menschen gelang es mühelos, sich auf die abrupten Wechsel von nahezu gemäßigten zu extrem kalten Wetterbedingungen einzustellen. Wie gut die Neandertaler allerdings mit der dicken Schneedecke und monatelangen Temperaturen unter Null Grad Celsius zurechtkamen, ist Gegenstand einer andauernden Diskussion. Ihnen fehlte etwas, das vielleicht eine der revolutionärsten, wenngleich auch unscheinbarsten Erfindungen der gesamten Menschheitsgeschichte darstellt: die Nähnadel mit Öhr, gefertigt aus einem Geweih-, Knochen- oder Elfenbeinsplitter. Falls ihr Geschick in der Bearbeitung von Geweih irgendwelche Rückschlüsse zulässt, müssen die Cro-Magnon-Menschen in den gemäßigten Zonen

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Südwestasiens auch geschickt in der Bearbeitung von Holz gewesen sein. Als sie nach Norden wanderten, siedelten sie auf einem Kontinent, der Geweih und Knochen als potenziellen Ersatz für Holz bot. Außerdem wurden Mammutund andere große Tierknochen in baumarmen Regionen als Brennstoff verwendet. Mit scharfsinnigem Opportunismus benutzten sie kleine Steinmeißel, um feine Geweih- und Knochensplitter abzutrennen, die sie dann abschliffen und polierten, um daraus schlanke Nähnadeln herzustellen. Sorgfältig gefertigte Steinahlen dienten als Bohrer, um Löcher für die als Nähgarn dienenden Lederriemen zu bohren, die die Pflanzenfasern ersetzten, die sie in ihrer alten Heimat mit Holznadeln vernäht hatten. Jedem Cro-Magnon – egal ob Mann, Frau oder Kind – muss bewusst gewesen sein, dass Kleidung am besten schützt, wenn man mehrere Lagen davon trägt, und dass Wärme vornehmlich über den Kopf und die Gliedmaßen verloren geht. Wie wir noch sehen werden, stellte die traditionelle Kleidung der Eskimos und Inuit für sehr kalte Wetterbedingungen eine indirekte Informationsquelle dar7. Dabei stellte sich heraus, dass es nur sehr wenige Methoden zur Herstellung mehrlagiger Kleidung aus Häuten und Fellen gibt, die gegen große Kälte schützt. Die Nadel gestattete den Cro-Magnon-Menschen die Fertigung von Kleidern aus den Fellen und Häuten verschiedener Tiere wie Wolf, Ren und Polarfuchs, wobei sie die Vorzüge der jeweiligen Haut-/Fellqualität und deren Eigenschaften optimal nutzen konnten, um die Gefahr von Erfrierung und Unterkühlung in Regionen mit extrem wechselhaften Wetterbedingungen so gering wie möglich zu halten. Wir können die Bedeutung maßgeschneiderter Kleidung im Leben der Cro-Magnon-Menschen nicht hoch genug einschätzen – vor allem, wenn man sie mit um den Körper gewickelten Fellen vergleicht. Die Cro-Magnon-Jäger verließen sich außerdem auf ihre mit Steinspitzen versehenen Speere, die treffsicherer und leichter waren sowie eine größere Reichweite besaßen. Sie waren effektiver als die feuergehärteten Waffen ihrer Nachbarn. Langfristig waren es also zwei Erfindungen, die den Cro-MagnonMenschen einen entscheidenden praktischen Vorteil gegenüber den Neandertalern verschafften – mehrlagige Bekleidung und effektivere Geschosse. Zudem verwendeten die Cro-Magnon-Menschen ausgeklügelte Geräte zum Fischen und zum Fang kleiner Säugetiere und Vögel: Netze, Fallen, leichte Wurfpfeile und vieles mehr. Ihr Erfindergeist eröffnete ihnen eine ganz neue ökologische Nische, die außerhalb des Zugriffs ihrer Vorgänger lag. Gab es einen weiteren entscheidenden Vorteil? Die Antwort ist wahrscheinlich ein Ja. Was den Neuankömmlingen ihren wahren Vorsprung verschaffte,

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waren ihr intellektuelles Bewusstsein und ihre Vorstellungskraft – ihre Fähigkeit, nicht nur mit anderen zu kooperieren,wie es die Neandertaler auch taten, sondern überdies im Voraus zu planen und ihre Umwelt als eine dynamische, lebendige Welt wahrzunehmen. Diese definierten sie über Kunst und Rituale, Zeremonien, Gesänge und Tänze, die ihnen halfen, die Härte rascher Wetterveränderungen und grausamer Temperaturen, gelegentlichen Hunger und katastrophale Jagdunfälle zu überstehen. Ihr Vorstellungsvermögen und ihre Rituale boten ihnen einen weitaus besseren Schutz, sozusagen eine Pufferzone, gegen eine lebensfeindliche Umwelt als sämtliche technische Errungenschaften. Ihre Kunst verrät uns, dass ihr Blick auf die Welt weit über das Praktische hinausging. Sie nahmen auch das physisch nicht Fassbare wahr, das sich im Laufe der Generationen ständig veränderte. Darüber hinaus lebten sie in größeren Gruppen als die Neandertaler, weshalb es einen intensiveren sozialen Austausch gab. Sie waren schon vom Kindesalter an in größere Aktivitäten zum Nahrungserwerb einbezogen; zudem wurde eine beständige Kultivierung des Erfindergeistes aus der zunehmend komplexer werdenden Sprachentwicklung gespeist, die ebenso technologischen Fortschritt und eine höhere Lebenserwartung begünstigte. In einer Welt, in der alles Wissen mündlich von einer Generation zur nächsten tradiert wird, erwies sich diese bessere kulturelle Pufferzone zwischen den modernen Menschen und dem rauen Klima als ein zusätzlicher, wenn auch zeitweise zerbrechlicher Schutz während der extremen Kälte des sogenannten letzten Kältemaximums, das vor 21 500 bis 18 000 Jahren stattfand. Diese unterschiedlichen Theorien sind nach wie vor mit zahlreichen Unwägbarkeiten behaftet und Gegenstand kontroverser Meinungen. Doch was wissen wir wirklich? Sicherheiten gibt es nicht, lediglich einige durchaus realistisch erscheinende Möglichkeiten, bei denen es eher um den Instinkt und die Fähigkeit geht, Gedanken weiterzuführen, als die Anwendung wissenschaftlicher Fakten. Ich denke, wir können sicher gehen in der Annahme, dass die meisten Kontakte zwischen den beiden Gruppen sporadisch und von kurzer Dauer waren. Jede Seite war sich der Tatsache bewusst, dass die andere präsent ist – beobachtend, um Jagdwild konkurrierend und wachsam in Erwartung eines möglichen Angriffs, überraschenden Kontakts oder einfach nur, weil man einander hörte. Den Neandertalern fehlte die Fähigkeit, sich vollständig zu artikulieren, und sie besaßen nur wenige der geistigen Fähigkeiten der Neulinge. Wir wissen nicht einmal, ob sie an ein Leben nach dem Tod glaubten, wenngleich sie ihre Toten manchmal begruben. Sie kommunizierten mit Gesten und Lauten in einer Art und Weise, die sich im Laufe von Hunderttausen-

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den von Jahren verfeinert hatte, aber nicht mit der Komplexität und Leichtigkeit, die den Homo sapiens auszeichnet. Anders als die Neandertaler feierten die Cro-Magnon-Menschen und versuchten ihre Welt mithilfe von Gedanken und Vorstellungskraft in Gesängen, mündlicher Überlieferung und Ritualen zu verstehen. Überall in Eurasien lebten die beiden Völker viele Generationen lang Seite an Seite. Sie waren nicht zwangsläufig Konkurrenten oder fürchteten einander, aber sie beobachteten die Aktivitäten des anderen Volkes stets aufmerksam. Die Neandertaler dürften die stillere Bevölkerung dargestellt haben, sie waren für gewöhnlich in Randgebieten anzutreffen und blieben in der Regel im Verborgenen. In den Köpfen der Cro-Magnon-Menschen werden sie jedoch stets präsent gewesen sein. Stellen wir uns nun ein helles Lagerfeuer der Cro-Magnon-Menschen im Zentrum eines offenen Lagers in der Prärie im Hochsommer vor, umringt von Zelten aus Häuten. Die Menschen tanzen zu den Klängen von Trommel und Flöte; ihre Gestalten schimmern in den langen Schatten des Feuers. Sie sind dem Zauber ihres Tanzes erlegen und bemerken die kleine Gruppe von Neandertalern nicht, die ihnen stumm und unsichtbar von einem Platz knapp außerhalb des Zeltkreises und Feuerscheins aus zuschaut. Wenn der Tanz endet, werden sie lautlos davonhuschen, doch im Unterbewusstsein spüren die Cro-MagnonMenschen ihre Anwesenheit. Es muss eine Art stummen modus vivendi zwischen modernen und vorgeschichtlichen Menschen gegeben haben, ein gegenseitiges Tolerieren auf Basis des Nichtverstehens, wenngleich sie auch begriffen, dass eine Seite der anderen etwas zu geben hatte ... Wie fühlte es sich an, Nachbar einer völlig andersartigen menschlichen Spezies zu sein? Wir werden es nie erfahren, weil Homo sapiens inzwischen die gesamte Menschheit auf unserem Planeten stellt. Unsere eigenen Erfahrungen stammen aus der Zeit westlicher Entdecker. Der Vergleich hinkt, von einem Aspekt abgesehen: Es mangelte an gegenseitigem Verständnis. Es hat einige Anlässe in meinem Leben gegeben, bei denen ich Menschen begegnete, die eine vollkommen andere Lebensweise als ich pflegten: einen Jäger der San aus der Kalahari, ein Dorf sich ausschließlich selbstversorgender Bauern in Malawi. Wir hatten nichts gemeinsam – weder Gegenstände, Ernährungsweisen, Behausungen noch eine Sprache. Ich erinnere mich daran, sie wortlos angeschaut zu haben in dem Bewusstsein, dass wir in verschiedenen Welten leben. Alles, was wir gemeinsam hatten, waren einige universelle Ges-

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ten: ein Lächeln, ein Stirnrunzeln und das Zeigen mit dem Finger. Es war beunruhigend und beängstigend. Wie wir in Kapitel 5 erfahren werden, reicht die Ahnenreihe der Jäger und Sammler der San in Südafrika, die für ihre kunstvollen Höhlenmalereien bekannt sind, weit in die Vergangenheit zurück – so weit, dass wir ihre Lebensweise mit der der Neandertaler vergleichen können. Natürlich sind sie moderne Menschen, weshalb die Analogie etwas weit hergeholt ist, sofern man nicht die Situation betrachtet, mit der sie sich vor 2000 Jahren konfrontiert sahen. Etwa um Christi Geburt breiteten sich Bantu sprechende Bauern und Viehhirten rasch von Ostafrika in das angestammte Gebiet der San aus. Die beiden Lebensweisen – Bauern hier, Jäger und Sammler dort – waren vollkommen unvereinbar, so wie es die Lebensweisen der Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen waren. Unausweichlich litten die San am stärksten. Einige von ihnen mögen die neue Wirtschaftsweise übernommen haben und Bauern und Viehhirten geworden sein. Andere gingen vielleicht zugrunde. Viele Gruppen zogen in die Randgebiete des besetzten Ackerlandes und führten ihr Leben fort, wie sie es immer getan hatten. Und dort blieben sie viele Jahrhunderte. Die Bauern wussten natürlich von der Anwesenheit der San. Aus mündlichen Überlieferungen ist bekannt, dass viele San-Gemeinschaften Honig, Tierhäute und Fleisch von ihrem Jagdwild gegen Getreide und andere Güter im Rahmen von Beziehungen eintauschten, die über Generationen hinweg bestanden. Die Lala-Bauern im heutigen Sambia treiben regelmäßig Tauschhandel mit den San, die sie utunuta mafumo nennen, „die Leute mit der runzeligen Haut auf den Bäuchen, die ihre Genitalien verdeckt“.8 Die utunuta mafumo sehen anders aus. Sie sind von kleinerem Wuchs, man bekommt sie selten zu Gesicht, und sie sind eitel – Menschen, die sich außerhalb der Paradigmen der Lala bewegen. Die Interaktion der Lala mit ihnen verweist darauf, dass sie akzeptieren, dass sie die anderen in ihrer Welt sind, wenn auch an deren Rändern. Möglicherweise sahen die Cro-Magnon-Menschen ihre Nachbarn auf genau die gleiche Weise. Die Lala und die utunuta mafumo misstrauten einander. Beide Gruppen hatten weder eine gemeinsame Sprache noch beschafften sie ihre Nahrung auf dieselbe Art. Die Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen hatten wesentlich höhere Verständnishürden zu überwinden. Ihnen mochten einige grundlegende Jagdtechniken und Kenntnisse über ihre Umwelt gemeinsam gewesen sein, aber beide Gruppen konnten nur über Gesten und Zeichensprache miteinander kommunizieren, Freundschaft oder Feindseligkeit signalisieren oder vorsichtig Geschenke austauschen.

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Doch wie kommuniziert man mit Menschen, die keinerlei Erfahrung mit Fremden besitzen? Nur sehr wenige Menschen mussten sich heutzutage jemals dem Problem stellen, sich mit Menschen zu verständigen, die absolut keine Vorstellung von einer größeren Welt haben. In den späten 1960er Jahren besuchte der im Auftrag der BBC reisende David Attenborough das Quellgebiet des Kaiserin-Augusta-Flusses in Papua-Neuguinea, nachdem das Areal überfliegende Piloten von menschlichen Behausungen in einer bislang unbewohnt geglaubten, wilden Landschaft berichtet hatten.9 Nach einem zweiwöchigen Marsch durch entlegene Gebiete stieß Attenboroughs Reisegruppe auf die Fußabdrücke zweier Menschen. Sie folgten ihnen, legten Geschenke im Wald aus und entboten ihre Grüße in den lokalen Dialekten dieser Flussregion. Die Fremden legten auffällige Spuren, die verrieten, dass sie die Besucher permanent beobachteten. Dann verloren die Europäer die Fährte und waren schon kurz davor, ihre Suche aufzugeben, als plötzlich in der Nähe ihres Lagers sieben kleinwüchsige, fast nackte Männer aus dem Busch auftauchten. Attenborough erinnert sich, wie er und seine Begleiter hastig freundliche Gesten machten. Glücklicherweise hatten beide Seiten eine gemeinsame Gestik und Mimik: Lächeln und hochgezogene Augenbrauen, die Verwunderung zeigen, Ablehnung ausdrücken oder Fragen stellen konnten. Die Gesten waren das einzige Mittel der Verständigung, um Eisenmesser gegen Nahrung zu tauschen und die Beziehung zwischen zwei völlig unvereinbaren Gesellschaften zu vertiefen. Wie nahmen die Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen Kontakt miteinander auf, von zufälligen Begegnungen einmal abgesehen? Die Neandertaler besaßen eine uralte und tief verwurzelte Kenntnis des Landes, die den Neuankömmlingen zunächst fehlte. Sie dürften einige Geheimnisse gehabt haben, zum Beispiel, wo man Honigwaben findet. Vielleicht lieferten sie ihren Nachbarn Bärenfelle oder -häute, wofür sie durchbohrte Bärenzähne, Werkzeuge oder Fleisch erhielten. Ansatzweise dürften innovative Gedanken und Jagdkenntnisse zwischen Neandertalern und Neulingen ausgetauscht worden sein, während sie einander beobachteten. In Kapitel 6 beschreibe ich, wie einige Neandertalergruppen in Frankreich versuchten, von ihren fortschrittlicheren Nachbarn gefertigte Gegenstände zu kopieren. Angesichts der Tatsache, dass die einzige Möglichkeit der Verständigung zwischen beiden Gruppen aus Gesten und Lauten bestanden haben dürfte, brachte sie eventuell eine Art des „stummen Handels“ zusammen. Der stumme Handel war bis ins 20. Jahrhundert hinein weltweit noch relativ weit verbreitet. Schon der griechische Historiker Herodot beschrieb solche

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Transaktionen zwischen den eurasischen Skythen und ihren Nachbarn, und im Jahr 1511 wurde der portugiesische Sträfling Antonio Fernandez vom Indischen Ozean aus entsandt, das Binnenland Südostafrikas zu erkunden. Er berichtete über den Kupferhandel zwischen arabischen Händlern und entlang des Sambesi siedelnden Einheimischen: „Diese Menschen sind schlecht proportioniert und nicht sehr dunkelhäutig, und sie haben Schwänze wie Schafe [sic].“ Die Einheimischen pflegten Metallbarren über den Fluss zu bringen, die sie am Ufer auslegten, um sich anschließend zurückzuziehen. Die Händler sichteten daraufhin die Ware. Wenn sie mit ihr zufrieden waren, „ließen sie Stoffe und andere Handelsgüter, die sie mitführten, zurück“10. Dieses Hin und Her über den Fluss setzte sich so lange fort, bis beide Seiten zufrieden waren. Allerdings wurde kein einziges Wort dabei gewechselt. Wir können uns einen anderen Fluss, einen anderen Ort vorstellen, umstanden von dichten Nadelwäldern – eine unausgesprochene Trennlinie zwischen einer Gruppe von Cro-Magnon-Menschen und einigen Neandertalern. Zwei oder drei gedrungene Gestalten tauchen auf. Sie tragen Honig in Beuteln aus Tierhaut und einige Bärenfelle mit sich, die sie auf einem Fels am gegenüberliegenden Flussufer ablegen. Dann ziehen sie sich zwischen die Bäume zurück und warten. Einige Zeit später waten einige Cro-Magnon-Menschen mit Speeren in den Händen durch den Fluss. Sie begutachten die Häute und probieren den Honig, den sie von den Händen ablecken. Einige der Männer legen ein paar durchbohrte Tierzähne sowie eine Kette mit aufgezogenen Muscheln nieder. Dann kehren sie um, verschwinden aus der unmittelbaren Reichweite und warten ab. Solch ein Tauschhandel erstreckt sich über Stunden, sogar Tage. So lange setzt sich das lautlose Feilschen Gegenstand um Gegenstand fort. Schließlich ist jede Partei zufrieden und sammelt ihren Anteil ein. Vielleicht wirft man einander sogar noch einen stummen Blick über den Fluss zu, bevor man sich in den Schatten der Wälder zurückzieht ... Ungeachtet ihrer Unterschiede mussten sich Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen einem unvermeidlichen, alljährlich wiederkehrenden Thema stellen, das für einen Großteil des Jahres für umherziehende Völker mit großen Jagdgebieten von höchster Relevanz ist: Wie soll man mit Fremden umgehen? An die Antwort dürften sie sich äußerst vorsichtig herangetastet haben. Wie viele andere Ereignisse in der Menschheitsgeschichte erfolgte die Ankunft der Cro-Magnon-Menschen in Eurasien nicht im Rahmen eines geplanten Unternehmens mit monatelanger Vorbereitung und präzise durchdachten Abläu-

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fen, wie es bei der Pirsch einer Gruppe von Jägern der Fall war. Stattdessen trafen die modernen Menschen nach und nach in Grüppchen hier und da in Eurasien ein, in der heutigen Ukraine, an den Ufern der Donau und schließlich in den geschützten Tälern Südwestfrankreichs. Sie ließen sich an den Mittelmeerküsten und weit westlich im Norden Spaniens nieder. Diese Wanderbewegungen erstreckten sich über viele, wenn auch kurzlebige Generationen. Sie waren ein Teil der endlosen Populationsverschiebungen von Jäger-und-Sammler-Gruppen, die große Jagdgebiete nutzten, in denen nur stellenweise Nahrung zu finden war und deren Quellen oft weit auseinanderlagen. Die Zahl der betroffenen Menschen war winzig, aber ihr biologischer und kultureller Vorsprung gegenüber den ansässigen Völkern enorm. Dank der erstaunlich präzisen 14C-Datierung wissen wir, dass der Einzug der Cro-Magnon-Menschen ins Herz der Neandertalerwelt planlos vor etwa 45 000 Jahren erfolgte. Kleine Familienverbände folgten den Wanderrouten ihres Jagdwilds in scheinbar unbewohntes Gebiet. Dort fanden sie geschützte Orte zum Überwintern und Plätze, an denen während des kurzen Herbstes Nüsse in Hülle und Fülle gediehen. Sämtliche denkbar alltäglichen Ereignisse förderten ihre Ausbreitung: Söhne trennten sich von ihren Familien, Sippen brachen auseinander und zerstreuten sich, weil sich Männer oder Frauen mit ihren Angehörigen zerstritten, Menschen heirateten in benachbarte Gruppen ein, Jäger starben bei Jagdunfällen und ihre Familien schlossen sich anderen Sippen an. Der Weggang und Zustrom von Menschen, Gruppen, Verwandten, Familien und Individuen riss nie ab. Er wurde gespeist aus den Notwendigkeiten des Lebens als Sammler und der Flexibilität, die dieses erforderte. Und von Zeit zu Zeit begegneten die Cro-Magnon-Menschen Neandertalern mit kaum merklichen, aber letzten Endes bedeutsamen Auswirkungen auf die Geschichte. Wie wir sehen werden, erfolgte die erste Besiedlung Eurasiens zu einem günstigen Zeitpunkt, als das Klima nördlich und westlich des Mittelmeerraums für kurze Zeit milder war als lange Zeit zuvor. Der Besiedlungsprozess fand scheinbar rasch statt, vielleicht im Laufe von etwa 5000 Jahren. Aber der erste Schritt der Cro-Magnon-Menschen in eine unwirtliche und unbekannte Welt störte und zerstörte schließlich eine Form menschlicher Existenz, die für mehr als 200 000 Jahre praktisch unverändert geblieben war und deren Wurzeln noch viel tiefer in der Vergangenheit lagen, mit der wir unsere Erzählung beginnen lassen wollen. In ihrer neuen Heimat schufen die Neuankömmlinge vollkommen neue eiszeitliche Gesellschaftsstrukturen, in denen wir ein fernes Abbild unserer eigenen Existenz erkennen können.

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Kapitel 2 Die Vorfahren der Neandertaler

Woher kamen die Neandertaler ursprünglich? Wir müssen unsere Suche nicht in Europa beginnen, sondern in den Weiten der afrikanischen Savanne, die vor 2,5 Millionen Jahren von den ersten Menschen erobert wurde. Seit diesen fernen Tagen haben sich weite Teile Afrikas nur wenig verändert. Der Anblick von Tansanias Serengeti, deren Horizont mit dem blauen Himmelsgewölbe sich unendlich weit erstreckt, ist unvergesslich. Hier sehen wir die afrikanische Savanne so, wie sie nahezu vor zwei Millionen Jahren aussah. Die Serengeti ist eine endlose, sanft gewellte Ebene mit kurzem braunen Gras, auf dem vereinzelt Akazienbäume mit schirmartigen Kronen anzutreffen sind, deren schmale Blätter nur wenig Schatten bieten. Flache, in schlammige Wasserlöcher mündende Wasserrinnen zerfurchen das Grasland. Hier versammeln sich in der Abenddämmerung die wilden Tiere. Obgleich sie rau, unversöhnlich und monatelang ausgetrocknet ist, bietet diese scheinbar unwirtliche Welt einer reichen und vielfältigen Tierwelt Lebensraum. Auch hat sie sich seit Ankunft der ersten Menschen nur wenig verändert. Hier suhlen sich Elefanten am Rand des Wassers, Giraffen äsen an dornigen Bäumen und Zehntausende von Gnus ziehen über die Ebene. Wenn man genau hinsieht, erkennt man mit ziemlicher Sicherheit ein Löwenrudel, das im Schatten ruht oder den Kadaver einer vor Kurzem erbeuteten Antilope zerreißt, während Hyänen auf ihren Anteil warten und Geier darüber kreisen. Wie der verstorbene Biologe Stephen Jay Gould einst so einprägsam bemerkte, sind wir Menschen alle Spross desselben afrikanischen Zweigs. Hier in der afrikanischen Savanne begann die Geschichte Europas sowie die der Neandertaler. Hier lernten die frühen Vorfahren der ersten europäischen Neandertaler, Großwild zu jagen, nur mit einem langen hölzernen Speer und der vorteilhaften Gabe, mit ihresgleichen zu kooperieren, ausgestattet. Sie lebten in einem Zustand dauernder Wachsamkeit, stets auf der Hut vor Raubtieren, die überall lauerten. Sie mussten auf ihre Gewandtheit und ihren Einfallsreichtum vertrauen, denn ihnen war bewusst, dass sich die Tiere vor ihren spitzen Waffen in Acht nahmen. Ihre Jagderfolge änderten den Lauf der Menschheitsgeschichte. Bereits weniger als eine Million Jahre später durchquerten einige Vorfahren des modernen Menschen die Sahara und Westasien, um sich in Europa

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niederzulassen. Sie brachten ihre Jagdtechniken mit, die sie in den halbtrockenen Savannen entwickelt hatten. Warum sollten wir nun unseren Blick auf Afrika richten? Die einfache Antwort lautet, dass dies der Ort ist, an dem die Evolution des Menschen begann. Allerdings erfahren wir nicht, warum kleine Zahlen vorzeitlicher Menschen die Sahara durchquerten und den Mittelmeerraum sowie den europäischen Kontinent betraten. Klimaveränderungen mögen eine Rolle gespielt haben, da die Geschichte unserer Vorfahren vor etwa zwei Millionen Jahren ihren Anfang nahm – zu einer Zeit, in der Afrika zunehmend trockener wurde. Dieser Klimawandel hatte fünf Millionen Jahre zuvor eingesetzt, als dort tropische Wälder langsam offeneren Strauchsavannen wichen, in denen saisonale Trockenperioden Gras, Sträucher und einzeln verstreuten Baumbewuchs begünstigten. Diese ausgedehnten, offeneren und scheinbar kargen Landschaften boten gut zugängliche, nährstoffreiche und schmackhafte Nahrung für Pflanzenfresser aller Art. Die Menschen folgten diesen Tieren, die zu ihrer Nahrungsquelle wurden. Während sich die Savanne aufgrund des trockenen Klimas ausbreitete, wuchsen auch die Pflanzenfresserpopulationen, darunter Elefanten, Antilopen, Zebras und Nashörner. Diese Säugetiere wurden zum dominierenden Großwild des vorgeschichtlichen Afrikas, Europas und anderer Teile der Welt. Sie gediehen in jahreszeitlich bedingt trockenen Umgebungen, da sie ungeheure Mengen an Pflanzenfasern zu sich nahmen, die einen komplexen Verdauungstrakt erforderten. Antilopen und andere Pflanzenfresser nehmen zudem Pflanzenfasern zersetzende Mikroorganismen auf, die die Faserteile in ihrem Darm verarbeiten. Die mächtigen Körper, die viele von ihnen auszeichnen, weisen auf ihre überaus aktiven Verdauungssysteme hin. So sagt der Paläontologe R. Dale Guthrie Folgendes über die afrikanische Elenantilope, eine große Antilopenart: „Die komplexe Verdauungsphysiologie, die nötig ist, um eine Portion harten grauen Gestrüpps in eine gesunde Elenantilope zu verwandeln, entspricht in etwa dem Versuch, aus Kreide Käse zu erzeugen.“1 Die Menschen, die zwei Millionen Jahre vor uns lebten, waren keine reinen Pflanzenesser. Sie lebten vor allem in offenen Landschaften und lösten das Problem, in der Savanne zu überleben, indem sie die Pflanzenfresser verzehrten, die die Flora abweideten. Sie sammelten jedoch auch pflanzliche Nahrung – nicht nur Gräser und Früchte, sondern auch Knollengewächse. Allerdings stellte Fleisch die wichtigste Nahrungsquelle in den rauen, jahreszeitlich bedingt trockenen Gegenden dar. Obwohl es ein ideales Nahrungsmittel war, da

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man es anderen Beutegreifern abjagen konnte, war seine Beschaffung gefährlich. Die Geschichte Europas beginnt nicht nur deshalb in Afrika, weil sich die frühen Vorfahren der Neandertaler hier entwickelten, sondern auch, weil die Menschen hier lernten, große Tiere zu erlegen. Wer war der erste Jäger? Die Entwicklung hin zu einem trockeneren Klima fiel mit dem Erscheinen einer neuen menschlichen Spezies zusammen, die die Wissenschaftler als Homo ergaster (Abb. 1) bezeichnen. Ihre Vertreter waren wesentlich archaischer als die späteren Neandertaler und unterschieden sich stark von ihnen, aber sie gingen aufrecht, bewegten sich leichtfüßig und besaßen im Wesentlichen Gliedmaßen, die denen des modernen Menschen entsprachen. Ihre Köpfe waren langgestreckt mit stark ausgeprägten Überaugenwülsten. Ihre Hirnkapazität betrug ungefähr drei Viertel der eines modernen Menschen.2 Die Anatomie von Homo ergaster war ausgerichtet auf ein Leben, in dem das Zurücklegen langer Strecken in offenem Terrain eine wichtige Rolle spielte. Er war außerdem größer als sein Vorgänger Homo habilis. Männliche Exemplare konnten ein Gewicht von bis zu 60 Kilogramm erreichen. Diese „neuen“ Menschen wurden später geschlechtsreif als Affen und hatten nicht nur eine längere Kindheit, sondern auch eine höhere Lebenserwartung, die bei etwa Anfang 20 lag und damit natürlich wesentlich geringer war als die moderner Menschen. Vermutlich lebten sie in relativ kleinen Sozialverbänden, die in großen Gebieten umherstreiften. Sie waren äußerst mobil und wachsam. Stets auf der Suche nach neuen Informationen über Nahrungs- und Wasserquellen durchquerten sie die Savanne viele Kilometer weit. Schon bald bevölkerte Homo ergaster große Teile Afrikas. Wie die Pflanzenfresser, die ihre Nahrungsquelle bildeten, zogen Gruppen von Jägern durch die sich verändernden Vegetationszonen und bewegten sich in unmittelbarer Nähe von Raubtieren wie Löwen, Leoparden und Hyänen, mit denen sie die Fähigkeit des opportunistischen Jagens teilten. Die Neandertaler waren hervorragende Jäger, doch wann begann sich das menschliche Jagdverhalten herauszubilden? Wieder findet sich die Antwort in Afrika. Homo ergaster war ein Allesesser, perfekt angepasst an die recht drastischen Umweltveränderungen hinsichtlich der Verteilung von offenem Flachland, Wald und halbtrockenen Gebieten, die auch mit wechselnden Nahrungsangeboten einhergingen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern war er ein ausgeprägter Jäger und Fleischesser, da er die meiste Zeit in der Savanne verbrachte, wo Fleisch die Hauptnahrungsquelle bildete.

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abb. 1: Ein stark vereinfachtes diagramm der menschlichen Evolution vor zwei millionen Jahren, das die mutmaßlichen Beziehungen zwischen Homo ergaster und späteren menschenformen beschreibt. die abstammung sowohl der neandertaler als auch des Homo sapiens geht auf wesentlich ältere Formen des menschen zurück.

Diese Kenntnis verdanken wir archäologischen Ausgrabungen, bei denen die Knochen zahlreicher großer Säugetiere zusammen mit Werkzeugen zum Zerlegen von Fleisch an einigen Fundorten entdeckt wurden, die an Wanderstrecken von Homo ergaster lagen. Dagegen fehlen solche Funde an älteren Fundstätten. Das Leben in der Savanne war stets gefährlich, besonders für relativ grazile Säugetiere, deren einziger Schutz ihr Einfallsreichtum und simpelste Waffen

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waren. Selbst die Jagd auf ein mittelgroßes Tier konnte riskant sein, da überall Raubtiere auf leichte Beute spekulierten. Antilopen, Zebras und andere Tiere schützen sich, indem sie schneller laufen als ihre Verfolger, aber auch durch Tritte oder den Einsatz ihres Gehörns. Homo ergaster hatte dem nichts entgegenzusetzen und konnte sich nicht wirklich angemessen vor großen Raubtieren schützen. Kein noch so großes Geschrei, Steinewerfen oder Drohgebärden dürften einen hungrigen Löwen vertrieben haben, weshalb jede Menschengruppe äußerst vorsichtig agieren musste, ein Auge stets auf potenzielle Gefahren gerichtet. Jede Sippe hatte Nachwuchs, der beschützt werden musste, zumal er sich nur langsam entwickelte. Homo ergaster konnte es sich nicht leisten, Opfer zu werden. Die einzige Möglichkeit zur Verteidigung boten Waffen – Objekte, die praktisch den scharfen Hörnern der Antilope ähnelten. In ihrer einfachsten Form bestanden sie vermutlich aus wenig mehr als stachelbewehrten Akazienzweigen oder einem schlanken jungen Stamm, der an einem Ende mit einem Steinsplitter angespitzt war. Ein halbes Dutzend Menschen mit solchen Artefakten konnte mühelos einen Löwen abwehren. Wie R. Dale Guthrie anmerkt, „gingen selbst Hannibals Elefanten durch, als sie mit den tödlichen Reihen der römischen Pila konfrontiert wurden“.3 Die langen, messerscharfen und feuergehärteten Holzspeere entwickelten sich über viele Generationen hinweg aus diesen simplen Anfängen heraus und wurden zu einer der bedeutsamsten, wenn auch wenig untersuchten Waffen in der Geschichte der Menschheit. Waffen waren aber nicht alles. Die Jagdmethode der Menschen erforderte auch eine extrem genaue Wahrnehmung dessen, was um sie herum vorging. Säugetiere, einschließlich der Mensch, besitzen überproportional große Gehirne, die komplexe soziale Beziehungen ermöglichen. Das gilt auch für Fleischfresser, die aktiv jagen. So ist das Gehirn bei jenen Arten am größten, die Jagd auf große Säugetiere machen und dabei mit anderen zusammenarbeiten, auf deren Hilfe sie auch angewiesen sind. Zudem steht die Hirngröße im Zusammenhang mit der Dauer der Kindheit und Jugend, die ihrerseits in Beziehung zum Erkundungs-, Lern- und Spielverhalten steht. Derartig komplexe soziale Gefüge, wie wir sie für Homo ergaster annehmen dürfen, erforderten das Sammeln und Auswerten von Informationen sowie deren kreative Nutzung. Das entsprechende Jagdgeschick und die dafür notwendigen Waffen wurden folglich in Afrika vor zwei Millionen Jahren entwickelt und überdauerten praktisch unverändert fast bis in die späte Eiszeit vor etwa 50 000 Jahren. Die Sahara vor 1,8 Millionen Jahren. Große Vogelschwärme kreisen über dem flachen, blauen Wasser inmitten einer mit kargem Grasbewuchs bedeckten

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Landschaft, die sich in sanften Hügeln bis zum in der Hitze flirrenden Horizont erstreckt. Ein sanfter Wind kräuselt die Oberfläche des Sees, an dessen Rändern Krokodile lauern. Während die Schatten länger werden, versammeln sich hier Antilopenherden und stillen ihren Durst, neben ihnen suhlen sich riesige Büffel im braunen Schlamm. Die Ebene leuchtet in der Nachmittagssonne dunkelgrün und gelb nach einem Regenguss. Löwen gähnen, strecken sich im Schatten eines großen Felsbrockens und betrachten träge das Ufer des Sees. Auf der Suche nach leichter Beute halten sie nach einzelnen Tieren Ausschau. In der Nähe einer weiteren Felsformation sitzt eine kleine, wachsame Gruppe von Menschen, ausgerüstet mit langen Holzspeeren und bereit für die abendliche Jagd. Am Horizont türmen sich schwarze Wolken hoch über den weit entfernten Bergen auf, deren spitze Gipfel sich gegen die untergehende Sonne abzeichnen. Bei Einbruch der Dunkelheit lassen sich die aufmerksamen Jäger auf einem hoch gelegenen Felsen nieder, wo die Löwen sie nicht erreichen können. Ihr tägliches Leben blieb über Generationen unverändert – der unendliche Zyklus von Sonnenaufgang, Mittag und Sonnenuntergang, kühleren und wärmeren Monaten, Trocken- und Regenzeiten. Wie die Tiere, mit denen er verwandt war, zog Homo ergaster kreuz und quer durch die damals besser mit Wasser versorgte Sahara. Als die Wüste austrocknete (und bereits davor), wanderten kleine Menschengruppen zusammen mit ihrem Jagdwild an deren Ränder. Einige kehrten gen Süden in die tropische Savanne zurück. Andere zogen nord- und ostwärts am Niltal, dem Roten Meer und der Mittelmeerküste entlang. Ihre langsame Migration sollte die Menschheitsgeschichte verändern. Vor 1,8 Millionen Jahren – der Zeitpunkt ist immer noch strittig – durchquerten einige Gruppen die Sahara und gingen nach Westasien. Diese Jäger waren nicht die Einzigen auf ihrem Weg, denn mit ihnen zogen weitere Säugetiergemeinschaften, die schließlich Asien und Europa während der kurzen Perioden wärmeren Klimas im Norden bevölkerten. Leider verstehen wir trotz generationenlanger Forschung die genauen Details des Klimawandels während der meisten Abschnitte der Eiszeit immer noch nicht genau, aber was wir wissen, verdanken wir in erster Linie einem serbischen Mathematiker. Im Jahr 1912 saßen zwei mittellose junge Männer – ein Dichter und ein Ingenieur – in einem Belgrader Kaffeehaus.4 Sie feierten die Veröffentlichung eines Buches mit patriotischer Lyrik – mit Kaffee statt Wein, den sie sich nicht leisten konnten. Ein gut gekleideter Gentleman fragte, ob er sich an ihren Tisch setzen dürfe, und warf einen Blick in den Gedichtband. Der Mann erwies sich als glü-

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hender Patriot und Bankdirektor, den Gedichte so stark rührten, dass er zehn Exemplare des Buches bestellte, die er sofort bezahlte. Die überglücklichen Freunde wechselten sogleich von Kaffee zu Rotwein. Als sie bei der dritten Flasche angekommen waren, verstiegen sie sich auf geistige Höhenflüge und begannen nach neuen intellektuellen Herausforderungen zu suchen. „Ich will unsere ganze Gesellschaft, unser Land und unsere Seele beschreiben!“, rief der Dichter aus. Der Ingenieur Milutin Milankovitch war jedoch noch viel ambitionierter. Er verkündete, dass er sich zur Unendlichkeit hingezogen fühle: „Ich will mehr leisten als du. Ich will das gesamte Universum verstehen und Licht in seine entlegensten Winkel bringen.“ Nachdem sie ihre ehrgeizigen Ziele mit einer vierten Flasche Wein besiegelt hatten, gingen beide ihrer Wege. Der Wein mag für Milankovitchs Inspiration an diesem Nachmittag verantwortlich gewesen sein oder auch nicht, aber der Ingenieur hatte eine Herausforderung gefunden, die sein Leben verändern sollte. Milankovitch verbrachte seine berufliche Laufbahn damit, eine mathematische Theorie zu entwickeln, anhand derer sich heutige und frühere Klimaverhältnisse auf der Erde und anderen Planeten berechnen lassen. 30 Jahre arbeitete er an einer Theorie über Zyklen, die das globale Klima bestimmen.5 Er fand heraus, dass insbesondere drei Faktoren daran beteiligt sind, dass die irdischen Polkappen anwachsen oder schmelzen: erstens Schwankungen der Erdumlaufbahn, die sich, zweitens, bedingt durch unterschiedliche Neigungen der Erdachse, von einer eher kreisförmig hin zu einer stärker elliptischen Form verändern, und drittens jahreszeitenabhängige Abweichungen, die durch den unterschiedlichen Abstand zwischen Erde und Sonne hervorgerufen werden. Diese drei Faktoren ereignen sich in Zyklen von 21 000, 42 000 und 95 000 Jahren. Das Klima der Erde verwandelt sich nun entweder in ein extrem kaltes (glaziales) oder warmes (interglaziales), sobald alle Zyklen gemeinsam das eine oder das andere begünstigen. Bis zum Ende der 1960er Jahre sorgten die Milankovitch-Zyklen für heftige Kontroversen. Dann lieferten Bohrkerne lange und nahezu völlig lückenlose Sequenzen von an Mikroorganismen reichen Tiefseesedimenten, die man nutzen konnte, um Klimaveränderungen der Vergangenheit zu rekonstruieren und insbesondere die Größe der landbedeckenden Eisschichten festzustellen. Die Bohrkerndaten bestätigten Milankovitch und seine Zyklen-Theorie, die einen allgemeinen Rahmen für die Klimaschwankungen der letzten 700 000 Jahre liefert – einen Zeitraum, in den ein Großteil der menschlichen Besiedlung Europas fällt. Milankovitchs längster Zyklus von 95 000 Jahren beherrschte drei Viertel der vergangenen Million Jahre und sorgte alle 100 000 Jahre für eine gewaltige Vergletscherung. Interglaziale, so wie der kurze Ab-

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schnitt, in dem wir leben, sind eher klimatische Ausnahmen als die Regel. Ungefähr 90 Prozent der letzten 500 000 Jahre waren kälter als unsere heutige Zeit und das Weltklima befand sich während drei Viertel dieser Zeit in einem ständigen Hin und Her zwischen warm und kalt. Wie beeinflusste die Eiszeit nun die Erde aus geografischer Sicht? Ständige Fluktuationen der Eisschichten des Pleistozäns (Eiszeit) wirkten sich nicht nur auf deren unmittelbare Umgebung aus, sondern führten aufgrund der in Eisschichten und Gletschern gebundenen Wassermassen auch zu einem weltweiten Ansteigen oder Sinken des Meeresspiegels um bis zu 91 Meter. Der wesentlich niedrigere Wasserspiegel der Glaziale veränderte das Aussehen der Erde. England war ein Teil des europäischen Kontinents. Eine Landbrücke verband Alaska und Sibirien. In einigen Küstenregionen Nordamerikas, Südostasiens und anderenorts ragten die Festlandsockel weit entfernt von den heutigen Küsten aus dem Meer. Gleichzeitig sorgte die Vergletscherung im Bereich höherer Breitengrade dafür, dass der in der Atmosphäre zirkulierende Wasseranteil zurückging, wodurch sich in tropischen Regionen häufig Wüsten ausbreiteten. Die extremsten Klimaveränderungen erfassen wir in Westeuropa, wo Eisschichten von gigantischem Ausmaß oft Skandinavien, die Alpen und die Pyrenäen einhüllten. Damals wie heute beeinflusste das nordatlantische Eis den Golfstrom, der subtropisches Wasser aus dem westlichen Mittelatlantik nach Europa transportiert. Die südlichste Ausdehnung des Eiswassers lag in den letzten 10 000 Jahren wie schon in früheren Zwischeneiszeiten weit nordwestlich von England. Vor ca. 120 000 Jahren, während des letzten Interglazials vor Anbruch des späten Eiszeitalters, umfloss der Golfstrom England und verlief damit so dicht an Westeuropa wie zu unserer Zeit. Er sorgte für ähnliche Klimabedingungen, wie wir sie jetzt haben; vielleicht war es sogar etwas wärmer. Vor 20 000 Jahren, auf dem Höhepunkt des letzten Glazials, herrschte in Europa extreme Kälte. Die polare Zone erstreckte sich zu jener Zeit quer über den Atlantik, etwa auf der Höhe von Spanien. Wasser, auf dem Eisberge trieben, schwappte an die Küsten Nordwesteuropas. Der englische Anthropologe Chris Stringer hält es für denkbar, dass Eisbären in der Themse schwammen. Die über Tausende von Jahren in Tiefsee- und Eisbohrkernen dokumentierten Klimaschwankungen sind umso eindrucksvoller, wenn man sich vor Augen führt, dass einige der Übergänge von einem Glazial zu einem Interglazial nicht über Jahrtausende hinweg erfolgten, sondern in Zeiträumen, die sich in Jahrhunderten, ja sogar Jahrzehnten messen lassen – vielleicht in weniger als einer Menschengeneration.

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kapitEl 2

Wie untersuchen wir das Klima der Eiszeit? günz-, mindel-, riss- und würm-kaltzeit – lange wurde das pleistozän, die letzte (jüngste) geologische Epoche,6 über kaum mehr als gesteinsschichten definiert, die vorrückende und sich zurückziehende gletscher hinterlassen haben. wichtige Erkenntnisse verdanken wir unter anderem dem geologen louis agassiz, ursprünglich ein schweizer Experte für Fischfossilien, der mitte des 19. Jahrhunderts internationalen ruhm erlangte, indem er die Eiszeit grundsätzlich definierte. doch es sollte noch lange dauern, bis man genaueres in Erfahrung brachte. 1909 veröffentlichten zwei deutsche wissenschaftler – albrecht penck und Eduard Brückner – eine geschichte der Eiszeit, in der sie vier perioden der Vergletscherung beschrieben, die sie nach Flüssen benannten. sie schätzten, dass das pleistozän etwa 650 000 Jahre dauerte. alsbald wurden die kaltzeiten mit ihren speziellen Bezeichnungen generationen von studenten gelehrt. sie standen sogar noch auf dem lehrplan der universität von cambridge, als ich dort in den späten 1950er Jahren mein grundstudium absolvierte. Bald nachdem glaziologen das komplexe Vorrücken und Zurückweichen des nordamerikanischen und skandinavischen Eisschildes enträtselt, weitere untersuchungen in den alpen durchgeführt und die von einem wesentlich höheren meeresspiegel der Zwischeneiszeiten hinterlassenen angehobenen küstenabschnitte studiert hatten, erwies sich das von penck und Brückner entwickelte schema als zu stark vereinfachend. noch bis vor einem halben Jahrhundert waren die meisten Fachleute der ansicht, dass die ersten menschen vor ungefähr 200 000 Jahren erschienen. dann entdeckten louis und mary leakey in den Jahren 1959 und 1960 in der ostafrikanischen olduvai-schlucht zwei millionen Jahre alte Überreste unserer menschlichen urahnen. die olduvai-datierung wurde mithilfe der neu entwickelten kalium-argon-methode vorgenommen, einem Berechnungsverfahren, bei dem das Verhältnis von kalium und argon in Vulkangestein ermittelt wird, wie es massenhaft in dieser schlucht vorkommt. seitdem hat die kalium-argon-datierung das Erscheinen der ersten werkzeuge herstellenden homininen (ehemals hominiden) um mindestens zweieinhalb millionen Jahre weiter in die Vergangenheit verlegt. schon bald nach den Entdeckungen der leakeys datierte die neu erfundene molekulare uhr die evolutionäre aufspaltung zwischen schimpansen und menschen auf einen Zeitpunkt vor etwa fünf millionen Jahren. die ahnenreihe der menschheit reicht also weiter in die Vergangenheit, als wir einst annahmen. als penck und Brückner die alpen studierten, steckte die paläoklimatologie (die wissenschaft von der Erforschung des vor unserer Zeit herrschenden klimas) noch in den kinderschuhen. unser heutiges Bild der Eiszeit ist wesentlich komplexer und differenzierter. Es basiert auf einem breiten spektrum an hochspezialisierten daten und liefert den klimatologischen rahmen für unsere Erzählung. tiefseebohrkerne sind eine wichtige informationsquelle hinsichtlich langfristiger klimatrends. mittlerweile besitzen wir hunderte von ihnen, die aus sämtlichen welt-

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meeren entnommen wurden. die winzigen in ihnen eingeschlossenen Foraminiferen (planktonische Einzeller) liefern uns informationen über die temperaturschwankungen in einem Zeitraum, der etwa die letzten 750 000 Jahre oder sogar mehr umfasst. so wissen wir inzwischen, dass es nicht vier perioden der Vergletscherung gab, sondern mindestens neun oder zehn, die von kürzeren warmzeiten unterbrochen wurden. drei Viertel der vergangenen 780 000 Jahre befand sich unser klima im Übergang von einer kalt- zu einer warmzeit. davor hatte sich das magnetfeld der Erde abrupt umgekehrt. die in gewässerböden lebenden Foraminiferen aus den tiefseebohrkernen verraten uns, dass sich das Verhältnis der sauerstoffisotopen, das heißt die Zahl schwererer 18oisotope im Vergleich zu den leichteren 16o-istopen, im meer im laufe der Zeit änderte. dieser umstand spiegelt globale Veränderungen in der chemie der ozeane wider, bedingt durch die Bildung von Eisdecken auf den kontinenten infolge der Vergletscherungen. abweichungen in den sauerstoffisotopenverhältnissen ermöglichten die Entwicklung einer datierungssystematik, bei der die jeweiligen Zyklen als „sauerstoffisotopenstufen“ (engl. Marine Isotopic Stage, abkürzung MIS) bezeichnet werden. so befinden wir uns derzeit beispielsweise in der sauerstoff-isotopenstufe 1, während die letzte Vergletscherung, in der die weltmeere höhere anteile des schwereren isotops aufwiesen, den sauerstoff-isotopenstufen 2 bis 4 zugeordnet wird (details siehe abb. 3). in der antarktis und auf grönland entnommene Eisbohrkerne sowie untersuchungen der gletscher in den anden, im hochland von tibet und an anderen orte liefern uns heute immer präzisere informationen über die klima- und temperaturveränderungen bis weit in die Vergangenheit hinein. Eisbohrkerne aus der antarktis erlauben eine auswertung, die bis in die Zeit vor 800 000 Jahren zurückreicht, und ermöglichen uns aussagen über eindeutig identifizierbare glaziale und interglaziale, die vor mehr als 650 000 Jahren stattfanden. Es lässt sich nicht vermeiden, dass unsere klimarekonstruktion bis zur letzten, relativ warmen Zwischeneiszeit, die vor etwa 128 000 Jahren begann, etwas verallgemeinernd ausfällt. so wissen wir jetzt zwar über länger anhaltende temperaturumschwünge Bescheid, doch fehlen uns informationen über kleinere Veränderungen, wie zum Beispiel über wärmeperioden, die nur einige tausend Jahre dauerten. die letzte Vergletscherung ist dagegen wesentlich detaillierter dokumentiert – so weit, dass wir jetzt wissen, dass es zwei extreme kaltphasen gab, deren eine vor etwa 70 000 Jahren stattfand, als die neandertaler in Europa lebten, und deren andere, das kältemaximum, vor ungefähr 21 500 bis 18 000 Jahren. trotz all dieser neuen informationen verfügen wir nur über eine reihe von momentaufnahmen des eiszeitlichen klimas, das wir aus allen möglichen indikatoren ableiten können. unsere aussagen fußen folglich auf indirekten Zeugnissen des klimawandels, auf umfangreichen archiven, aus denen temperaturen und niederschlagsmengen abgeleitet werden müssen. hierzu gehören unter anderem die aus Eisbohrkernen erstellten kurven, wachstumsaufzeichnungen von korallenriffen und lokale aufzeich-

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nungen über Veränderungen der Vegetation, die auf der analyse kleinster pollenkörner basieren, die sich in mooren und sümpfen erhalten haben. Es versteht sich nahezu von selbst, dass all diese chroniken unvollständig sind. sie bilden ein patchwork von informationen aus unterschiedlichen Quellen, zu denen auch die jährlichen wachstumsringe von Bäumen und mollusken, nagetierknochen, meeresspiegelschwankungen und selbst regenwürmer zählen, um nur einige zu nennen. die Erforschung des eiszeitlichen klimas hat gerade erst begonnen.

Die Milankovitch-Zyklen haben immer noch weitgehend Gültigkeit, trotz der unaufhaltsamen Erwärmung der Erde. Theoretisch könnten wir urplötzlich eine weitere Periode unerbittlicher Kälte erleben, wie sie während des größten Teils der letzten 750 000 Jahre herrschte. Wann genau dies geschehen wird, ist Gegenstand wissenschaftlicher Debatten – vielleicht in etwa 10 000 Jahren, falls Milankovitchs Berechnungen stimmen und die menschengemachte globale Erwärmung die natürlichen Wechsel zwischen Wärme und Kälte nicht aus der Bahn wirft. Und wenn die Abkühlung kommt, kann sie durchaus so schnell eintreten, dass sich das Leben der Menschen innerhalb einer Generation verändert. Interglaziale spielten die Hauptrolle in der frühen Geschichte Europas. Kurze wärmere Zyklen öffneten ein Tor zwischen dem tropischen Afrika und anderen Teilen der Welt. Für Zehntausende von Jahren verringerte das kalte Klima im Norden die Menge des in der Atmosphäre zirkulierenden Wassers und sorgte für extrem trockene Bedingungen in der ohnehin stets wasserarmen Sahara. Als die Eisdecken jedoch schrumpften und der Golfstrom Europa zu erwärmen begann, ließ das etwas feuchtere Klima seichte Seen und große Flächen halbtrockenen Graslandes in der Sahara entstehen. Einige große, von Monsungüssen gespeiste Wasserströme flossen von den Gebirgsketten der Sahara herab und formten unlängst verschwundene natürliche Wanderrouten für Mensch und Tier. Sie lassen sich anhand von Satellitenaufnahmen kartografieren. Als das Klima nördlich des Mittelmeerraums milde war, vielleicht sogar milder als in der Gegenwart, lockte die Wüste Tiere und Menschen in ihr Grasland. In einer dieser kurzen, aber schlecht untersuchten milderen Perioden verließen Homo ergaster und andere Säugetiere Afrika und zogen nach Europa. Dabei wird es sich gewiss nicht um geplante Wanderungen gehandelt haben, sind menschliche Gesellschaften doch generell eher darauf bedacht, in ihren vertrauten Routinen zu leben. Vielmehr müssen wir uns vorstellen, dass Homo ergaster alljährlich relativ kurze Strecken zurücklegte, um engen Kontakt mit anderen Mitgliedern des sozialen Gefüges und vielleicht auch mit benachbar-

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Ostsee

Nordsee

Schöningen Ehringsdorf

Themse

Engis

Boxgrove So

mm e

Mauer Gánovice Ka r p

A lpe n

AT L A N T I K DORDOGNE

Sierra de Atapuerca

Pyre

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D on a u

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Ambrona/Torralba

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Schwarzes Meer Dmanisi

Ceprano

Gibraltar

Mittelmeer Gesher Benot Ya’aqov

SAHARA

karte 1: karte von Fundstellen und anderen orten, die in den kapiteln 1 bis 4 erwähnt werden.

ten Gruppen zu pflegen. Sie alle waren mit dem wechselhaften Wetter vertraut, kannten Dürre und regenreichere Phasen. Ihre Verbreitungsmöglichkeiten wurden gelenkt von ihrer Fähigkeit, sich fortzupflanzen, sowie von der Verfügbarkeit von Nahrung und Wasser. So entfernte sich Homo ergaster, der außerhalb Afrikas für gewöhnlich Homo erectus genannt wird, im Laufe der Zeit immer mehr von seinen angestammten Gebieten, bis er sich schließlich in Westasien und später in Europa niederließ (Karte 1). Der Einzug in Europa stellte eine Herausforderung für die Menschen dar, da sie grundsätzlich immer noch Tropenbewohner waren. Einen Großteil des Jahres waren die Tage kürzer und die Winter hart – selbst während der Zwischeneiszeiten –; zudem unterschieden sich die Jahreszeiten stark. Es gab weniger pflanzliche Nahrung, wodurch Jagdwild für die menschliche Ernährung zunehmend an Bedeutung gewann. Ohne entsprechende Fähigkeiten in der Großwildjagd war ein Überleben nicht möglich.

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kapitEl 2

Wo und wann betraten nun vorzeitliche Menschen erstmals Europa? Es ist sehr wahrscheinlich, dass die ersten Europäer – wie Homo sapiens Hunderttausende von Jahren später – ihre neue Heimat von Westasien aus durch die heutige Türkei erreichten, fehlten ihnen doch Fortbewegungsmittel, mit denen sie offene Gewässer wie beispielsweise die Straße von Gibraltar hätten überqueren können. Die Zahl der Einwanderer war recht niedrig, weshalb es kaum überrascht, dass wir so wenig über sie wissen. Einige von ihnen besuchten während einer Warmphase vor etwa 1,75 Millionen Jahren einen kleinen See in Dmanisi im kaukasischen Georgien.7 Hier fand man unter einem mittelalterlichen Dorf die Überreste menschlicher Knochen, die denen von Homo ergaster ähneln, sowie einige Geröllgeräte. Anders als ihre afrikanischen Verwandten waren einige dieser Menschen von recht kleiner Statur. Ihre Schädel weisen erstaunliche anatomische Abweichungen voneinander auf, einschließlich Spuren primitiverer Merkmale, die an Menschenformen erinnern, die noch vor Homo ergaster datieren. Interessanterweise hatte ein Individuum bereits lange vor seinem Tod alle Zähne bis auf einen verloren, wie die vollständig mit Knochenmaterial zugewachsenen Zahnfächer beweisen. Dieser Mensch dürfte ausschließlich weiche Kost verzehrt haben, die sich unzerkaut schlucken ließ, und das wiederum legt den Schluss nahe, dass sich andere aus seiner Gruppe um ihn gekümmert haben. Die Dmanisi-Funde rufen starke Assoziationen zu den afrikanischen hervor. Die Anatomie dieser Menschen belegt ihre afrikanische Herkunft. Unter den Knochenfragmenten der Tiere, die an diesem Fundort freigelegt wurden, finden sich auch solche von Kurzhalsgiraffen und Straußen – beides Arten, deren Urheimat Afrika ist. Die Menschen waren Teil einer artenreichen Tierwelt, zu der auch so gefährliche Raubtiere wie Säbelzahntiger gehörten. Um zu überleben, mussten sie folglich schnell laufen und ausgesprochen gut jagen können. Im Laufe der Jahrtausende drangen sehr kleine Gruppen menschlicher Einwanderer nach Europa vor – so wenige, dass ihre Knochen nur selten die Zeiten überdauert haben. Oft verfügen wir nur noch über wenige Stücke, aus denen wir kaum Rückschlüsse ziehen können. Im Jahr 2008 entdeckten spanische Forscher in der Höhle Sima del Elefante in der nordspanischen, weit im Westen liegenden Sierra de Atapuerca die 1,1 bis 1,2 Millionen Jahre alten Fragmente eines menschlichen Kiefers sowie Tierknochen und Steinwerkzeuge.8 Wir wissen, dass vor ca. 800 000 Jahren Menschen in Ceprano im Herzen Italiens lebten, da ein dort entdeckter menschlicher Schädel Ähnlichkeit mit menschlichen Fossilien hat, die aus der ebenfalls

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in der Sierra de Atapuerca gelegenen Höhle Gran Dolina stammen und auf ein Alter von mehr als 780 000 Jahren datiert werden. Eine Handvoll Menschen hielt sich vor 700 000 Jahren auch im heutigen England auf.9 Die Überreste menschlicher Gebeine, Streufunde von Steinartefakten und Tierknochen verraten uns allerdings so gut wie nichts über die ersten Europäer. Eine interessante Frage drängt sich unmittelbar auf: Nutzten sie das Feuer? War ein Überleben ohne Feuer überhaupt möglich in einer Gegend, die schon bald stark abkühlen sollte? Wir kennen die Antwort nicht. Es gibt Unmengen von Theorien zur Nutzung des Feuers. Einige davon datieren den frühesten kontrollierten Gebrauch in die Zeit vor mindestens 1,8 Millionen Jahren im tropischen Afrika, aber die Belege hierfür sind lediglich einige durch Feuer beschädigte Steine, die genauso gut ein natürlicher Brand verursacht haben könnte. Vielleicht haben sich die Menschen Tausende von Jahren solcher Feuerquellen bedient, bevor sie in der Lage waren, selbst Feuer zu entzünden und zu kontrollieren – eine unerlässliche Fähigkeit, um Nahrung zu kochen, sich zu schützen und eine Wärmequelle in kalten Klimazonen zu besitzen. Das erste nachweislich kontrollierte Feuer wurde an einem 790 000 Jahre alten Lagerplatz in Gesher Benot Ya’aqov im Jordantal entzündet.10 Kleine Menschengruppen hatten sich bereits in den Gebieten mit gemäßigtem Klima angesiedelt, offenbar ohne Feuer. Absichtlich entzündete Feuerstellen boten dagegen Wärme und – vielleicht noch wichtiger – sowohl im Freien als auch unter Felsüberhängen Schutz vor Raubtieren, weshalb wir davon ausgehen können, dass die Feuernutzung eine entscheidende Rolle bei der Besiedlung Europas spielte. Doch selbst mit der Nutzung des Feuers dürften weite Teile des vereisten Europas mit seinen harten Wintermonaten für eine menschliche Besiedlung zu kalt gewesen sein. Wie andere Säugetiere auch, zogen die wenigen Menschengruppen im Norden wahrscheinlich während der kälteren Perioden in mildere Gebiete im Süden. Es ist sicher kein Zufall, dass Funde der frühesten Mittel- und Westeuropäer aus Spanien und Italien stammen und eine halbe Million Jahre verstreichen sollte, bis die menschliche Population während einer weiteren wärmeren Klimaphase wuchs. Die georgischen Dmanisi-Schädel weisen ähnliche Merkmale wie die ihres afrikanischen Vorfahren Homo ergaster auf, war aber Homo ergaster der direkte Vorfahr des Neandertalers? 1907 legten Arbeiter in Mauer bei Heidelberg in einer Sandgrube einen kräftigen, kinnlosen menschlichen Kieferknochen frei. Die lokalen Fachleute verliehen ihm sofort den Namen Homo heidelbergensis. Nur wenige ihrer Kollegen nahmen diese Bezeichnung ernst. Sie ordneten das

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fossile Bruchstück einer europäischen Variante von Homo erectus zu und datierten es auf ein Alter von etwa 500 000 Jahren. Dann, im Laufe der nächsten 75 Jahre, belegte eine Handvoll Fossilien aus Afrika und verschiedenen Teilen Europas die Existenz eines frühen Menschentyps, der sich deutlich von Homo erectus unterschied und eher Homo heidelbergensis ähnelte. Alle besaßen einen höheren, geräumigeren Hirnschädel, der für eine Gehirngröße sprach, die sich der moderner Menschen nähert. Das Gesicht war im Vergleich zu den stark ausgeprägten Zügen früherer Menschen kleiner, und die Schädelknochen waren in einigen Bereichen zarter gebaut. Es stellte sich heraus, dass die deutschen Anthropologen vor einem Jahrhundert Recht hatten: Homo heidelbergensis war tatsächlich eine eigenständige Menschenform mit einigen neuzeitlicheren Merkmalen als Homo erectus, jedoch anatomisch primitiver als der Neandertaler und der moderne Mensch.11 Wie Homo ergaster war Homo heidelbergensis afrikanischen Ursprungs und entwickelte sich wahrscheinlich dort aus einer früheren Form des Menschen, die vor ungefähr 600 000 Jahren lebte. Wann und wie genau er aus Afrika auszog und nach Europa einwanderte, bleibt ein Geheimnis, aber der Ablauf dürfte ganz ähnlich wie bei den früheren Menschen gewesen sein – eine Migration an der Seite anderer Säugetiere. Dank der jüngsten Funde aus Spaniens Sierra de Atapuerca wissen wir, dass diese kaum bekannten Menschen die direkten Vorfahren der Neandertaler waren. Sima de los Huesos, die „Knochengrube“, ist eine kleine schlammige Kammer in der Sierra, die sich am Ende eines 13 Meter langen vertikalen Schachtes befindet. Man erreicht sie nur zu Fuß, kriechend und mithilfe von Seilen und Metallleitern. Bisher hat die Grube mehr als 2000 menschliche Knochenstücke von mindestens 32 Männern, Frauen und Kindern freigegeben. Es hat nie jemand in dieser unzugänglichen Kammer gelebt, und wir wissen nicht, warum menschliche Körper hier hineingeworfen wurden. Die Knochen von Sima weisen sowohl urtümliche als auch moderne Merkmale auf. Der am vollständigsten erhaltene Schädel besitzt einen Unterkiefer, der wie eine verkleinerte Ausführung des Fundes aus Mauer aussieht; sein Gesichtsschädel zeichnet sich dagegen durch Vorsprünge im Bereich der Nase aus, wie sie typisch für Neandertaler sind. Es handelte sich um kräftig gebaute Menschen, die beträchtliche anatomische Unterschiede aufweisen. Die Männer waren ca. 1,70 Meter groß und wogen ca. 62 Kilogramm; die Frauen waren etwas kleiner und leichter gebaut. Ihre flache Stirn zeichnet sich durch Überaugenwülste aus, ihre Kiefer waren kinnlos und fliehend. All dies sind Merkmale, die wir beim Neandertaler wiederfinden.

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Spanische Wissenschaftler haben die Funde von Sima einer Spätform des Homo heidelbergensis zugeschrieben. Andere, wie der Anthropologe Chris Stringer, glauben, dass es sich um frühe Neandertaler handelt. Doch wie auch immer die Zuordnung ausfällt – die Knochen belegen, dass die europäischen Menschenpopulationen vor etwa 400 000 Jahren einer evolutionären Veränderung unterlagen, aus der 200 000 Jahre später der Neandertaler hervorgehen sollte. Die Überreste von Amphibien, Eidechsen und Schlangen verraten uns, dass die mittlere Jahrestemperatur leicht über der heutigen lag, das heißt zwischen 10 und 13 Grad Celsius.12 Wo genau die ersten Neandertaler auftauchten, bleibt ungeklärt, da nur wenige menschliche Fossilien aus der Zeit vor zwischen 250 000 und 70 000 Jahren vorliegen. Dennoch gibt es einige spannende Funde: Ein neandertalerartiger Schädel aus Ehringsdorf nahe Weimar datiert auf ein Alter von schätzungsweise 200 000 Jahren, und als das Klima vor rund 100 000 Jahren abkühlte, lagerten einige Neandertaler um eine mineralhaltige Quelle in Gánovce bei Poprad in der heutigen Slowakischen Republik. Damals breiteten sich Nadelbäume in einer Region aus, die lange von Eichenwäldern beherrscht war. Mehr Funde von Neandertalerresten liegen uns aus der Folgezeit vor, in der Eurasien extrem abkühlte. Homo heidelbergensis bleibt weiterhin eine schemenhafte Erscheinung. Wie überlebten diese Menschen, vom offenkundigen Besitz des Feuers einmal abgesehen? Wir können dies lediglich von einigen gut dokumentierten Fundstätten verallgemeinernd ableiten. Vor etwa einer halben Million Jahre hielten sich einige tausend Gruppen von Jägern und Sammlern in Europa auf. Sie bevorzugten vor allem Flusstäler und andere Orte, an denen sie zahlreiche Tiere und Pflanzen antrafen. Den Großteil ihrer Lebenszeit verbrachten sie in kleinen Gruppen. Zu ihren Nachbarn hatten sie nur sporadisch Kontakt. In ihrer kurzen Lebenszeit dürften die meisten Menschen – wenn überhaupt – nicht mehr als 30 bis 50 Mitmenschen begegnet sein. Ihr Risiko, Jagdunfälle zu erleiden oder Raubtieren zum Opfer zu fallen, war groß, denn ihre Waffen waren einfach und sie lebten in einer Umwelt, in der es von großen, gefährlichen Tieren und bedrohlichen Räubern wie Löwen nur so wimmelte. Trotz all dieser Gefahren überlebten und gediehen die Homo heidelbergensis-Sippen. Über Tausende von Jahren lebten sie an den Ufern großer Flüsse wie der nordfranzösischen Somme und der britischen Themse. Dort jagten sie in den Jahrtausenden, in denen es so warm wie heute, wenn nicht gar wärmer

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war, das Wild, das diese gut bewässerten, geschützten Reviere bevölkerte. Tausende ihrer fein gearbeiteten steinernen Faustkeile, die meist zum Zerlegen von Tieren verwendet wurden, blieben im Kies der europäischen Flüsse zurück (Abb. 2). Die ersten Archäologen sammelten diese Werkzeuge säckeweise, darunter faszinierende Beispiele für die Kunstfertigkeit ihrer Hersteller. Die Steingeräte sind langgestreckt, mit Spitzen, die denen einer Lanze ähneln. Ihre Basis wurde extrem sorgfältig bearbeitet, und zwar derart, dass man sich fragt, ob einige von ihnen nicht zeremoniellen Zwecken dienten oder gefertigt wurden, um zur Schau gestellt zu werden. Doch Faustkeile und Steinsplitter verraten uns nur wenig über die Menschen, die sie benutzten, und über deren Lebensweise. Glücklicherweise stoßen wir manchmal auf archäologische Szenarien, in denen ein Moment festgehalten wurde und deren Erhaltungszustand so gut ist, dass wir uns fast wie Zeitzeugen dieser Szene fühlen. Der Archäologe Hartmut Thieme erlebte einen solchen Moment, als man ihn damit beauftragte, eiszeitliche Schichten zu ergraben, die man während des Braunkohletagebaus im norddeutschen Schöningen entdeckt hatte.13 Thieme legte die Zeugnisse einer erfolgreichen Jagd frei – die Waffen, die zum Niederstrecken der Tiere verwendet wurden. An einem Sommertag vor 400 000 Jahren wartete eine Gruppe von Jägern an den Ufern eines flachen, langgezogenen Sees auf Wild. Die Gegend war trocken und baumlos, weshalb sie potenzielle Beute gut erspähen konnten. Ihre Geduld wurde schließlich belohnt. Sie schlichen sich an eine Herde kleinwüchsiger Wildpferde heran, schnitten ihnen den Weg ab und töteten sie. Rund 25 000 Knochenfragmente dokumentieren die Jagd und das anschließende Zerlegen der Beute mit scharfen Steinmessern und Schabern, die die abb. 2: Faustkeil des acheuléen aus dem englischen themsetal. das genaue alter ist nicht bekannt, aber er ist mindestens 200 000 Jahre alt. die Bezeichnung „acheuléen“ leitet sich von dem namen der nordfranzösischen ortschaft st. acheul ab, wo derartige werkzeuge mitte des 19. Jahrhunderts erstmals gefunden wurden.

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Menschen hierhergebracht hatten. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Steine vor Ort bearbeitet wurden. Die Fundstätte befand sich in einer Schicht organischen Seeschlamms, der derart perfekte Erhaltungsbedingungen bot, dass Thieme nicht nur die Knochen der getöteten Pferde und die entsprechenden Steinwerkzeuge fand, sondern auch die langen Holzspeere, die bei der Jagd zum Einsatz kamen.14 Die Holzspeere waren zwischen 1,80 und 2,40 Metern lang und jeweils aus einem einzigen, sorgsam zurechtgeschnittenen Baumschössling gefertigt. Das härteste Holz an der Basis des Stamms bildete die Speerspitze. Die breiteste Stelle und das höchste Gewicht befanden sich ein Drittel von der Speerspitze entfernt. Eine moderne Replik, die unter kontrollierten Bedingungen geschleudert wurde, wies gute ballistische Eigenschaften auf und besaß sogar auf einige Entfernung eine beeindruckende Durchschlagskraft. Die Jäger haben vielleicht sogar am Seeufer Gänse mit Wurfstöcken erlegt, denn bei den Ausgrabungen wurde ein Wurfstock (der Vorläufer des modernen Bumerangs) gefunden, der in Form und Größe denjenigen ähnelt, die Hunderttausende von Jahren später von den australischen Aborigines benutzt wurden. Die Gruppe(n) bewohnte(n) ein großes Jagdlager, zu dem auch eine Reihe von Feuerstellen gehörte, die im Abstand von etwa einem Meter zueinander angeordnet waren. In deren Nähe lagen große Wisentknochen, die mehrere Schnittspuren aufweisen und so aussehen, als ob Menschen Fleischstreifen zum Trocknen von ihnen abgeschnitten hätten. Die Feuerstellen lagen leicht erhöht auf trockenem Gelände. Vielleicht war das Lager im Spätsommer oder Herbst genutzt worden, als der Wasserspiegel niedrig war und wenig Niederschlag fiel. Dann, im Spätherbst, bedeckte der erste Schnee die unter einer Schicht verrottenden Schilfs liegenden Knochen und die zurückgelassenen Werkzeuge, bevor das Frühjahrshochwasser dafür sorgte, dass der Fundort erhalten blieb. Die Jagdwaffen von Schöningen stellen eine erhebliche Weiterentwicklung gegenüber den einfachen, angespitzten Stöcken aus früherer Zeit dar. Ungefähr zur selben Zeit, grob geschätzt vor 370 000 Jahren, bewohnte eine andere Menschengruppe drei einfache Zelte in einem Sommerlager im heutigen Bilzingsleben in Mitteldeutschland.15 Hier machten die Menschen in den umliegenden Eichenwäldern Jagd auf Rothirsche. Sie bedienten sich auch bei Elefanten- und Nashornkadavern, denen sie die großen Knochen entnahmen, um diese auf Stein- oder Holzambossen zu zertrümmern. Die Bruchstücke bearbeiteten sie wie Stein, um die widerstandsfähigen Knochenkanten genau wie Steinwerkzeuge zum Abschaben von Häuten und für anderes zu nutzen.

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Die Jagd mit nichts weiter als einem langen Holzspeer und Wurfstöcken war nie einfach, selbst für die erfahrensten Jäger nicht. Die Gruppe, die von Raubtieren erlegtes Wild oder große im Sumpf eingesunkene Tiere fand, konnte sich glücklich schätzen – wie die Männer und Frauen, die in einem sumpfigen Tal im spanischen Ambrona vor etwa 300 000 Jahren Elefanten zerlegten. Im nahe gelegenen Torralba hatte man ein Großteil der linken Hälfte eines großen Elefanten in Stücke zerteilt. An beiden Fundstätten hatten die Jäger die massiven Schädel aufgebrochen, um an das Hirn zu gelangen. Faustkeile und andere Werkzeuge zum Zerkleinern von Fleisch fanden sich überall verstreut an diesen Fundorten.16 Wir können uns vorstellen, wie Männer und Frauen emsig auf diesen gewaltigen Tierkörpern herumkraxeln, die dicke Haut mit scharfkantigen Spaltkeilen aus Stein abziehen, Gelenke durchtrennen und durch Rippen hacken, um die Kadaver zu zerteilen. Sie schneiden bestimmte Fleischstücke heraus, um sie wegzutragen und in Sonne und Wind zum Dörren auszulegen. Stets wachsam, halten Männer mit Speeren Ausschau nach Löwen, während Hyänen in der Nähe herumlungern. Als die Abenddämmerung anbricht, zieht sich die Gruppe in den Schutz des Lagers und seiner Feuerstelle zurück. Jetzt sind die Raubtiere an der Reihe, ihren Anteil zu fressen. Vielerorts lebten die Menschen vermutlich in relativ großen Gruppen von vielleicht zeitweise bis zu 30 Personen, um die von Raubtieren ausgehende Gefahr zu verringern und die Aussicht auf Jagderfolg bei größeren Tieren zu verbessern. Einige ihrer Jagdaktivitäten brachten es auch mit sich, dass sie über Generationen hinweg an denselben Ort zurückkehrten. Ein derartiger Platz konnte beispielsweise im südenglischen Boxgrove dokumentiert werden, wo sich am Fuß einer 90 Meter hohen Felswand ein seichter, aus einer Quelle gespeister See befand.17 In seiner Nähe legten sich Jäger häufig auf die Lauer, um Tiere wie Wisente, Hirsche, Pferde und Nashörner zu erlegen und zu zerteilen. Das Schulterblatt eines Pferdes weist ein Loch auf, das von einem Holzspeer mit ca. fünf Zentimetern Durchmesser gebohrt wurde. Ein forensischer Pathologe nimmt an, dass der Speer rotierte, als er die Wunde verursachte – ein Hinweis darauf, dass die verwendete Waffe den Schöninger Speeren geähnelt haben dürfte. Die Ausbeute an Fleisch muss enorm gewesen sein. Ein einziges Nashorn liefert 700 Kilogramm Fleisch. Ein Großteil des Fleisches dürfte genau wie in Schöningen getrocknet worden sein. Doch auch wenn Fleisch in Schöningen und anderenorts die Nahrungsgrundlage bildete, war pflanzliche Nahrung ebenfalls wichtig, vor allem, wenn Früchte und Nüsse reif waren und sich von kleinen Sammlergruppen leicht ernten ließen.

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Bereits vor 400 000 Jahren existierten längst die grundlegenden Mechanismen dessen, was den Alltag der Neandertaler ausmachen sollte. Das menschliche Dasein war auf die Jahreszeiten ausgerichtet, das Reifen von Nüssen und Samen, die Wanderzüge großer und kleiner Tierarten. An einigen Orten, wie beispielsweise im heutigen Italien, sammelten die Menschen an den Meeresküsten auch Muscheln und Schnecken. Vom Frühjahr bis in den Spätherbst zogen sie durch ihre Jagdgebiete. Sie suchten genießbare Pflanzen, sammelten zur Werkzeugherstellung geeignete Steine und machten Jagd auf Tiere, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Dies war auch die Zeit, in der Vorräte an Dörrfleisch für die langen Wintermonate angelegt wurden, in denen alle in der Nähe des heimatlichen Lagers blieben. Im Winter ließ sich jede Gruppe an einem geschützten Ort in einer Gegend nieder, wo man manchmal noch Beute machen konnte und sich Fische in stillen Flussabschnitten sogar mit der Hand fangen ließen. Mehr als 200 000 Jahre lang pflegten die Vorfahren der Neandertaler eine einfache, aber flexible Lebensweise, die sich dem Wechselspiel zwischen extremer Kälte und längeren Warmzeiten anpasste. Sie lebten in einer ihnen vertrauten Umwelt, selbst wenn größere klimatische Veränderungen sie zwangen, südwärts in mildere Gebiete zu ziehen. Geht man von den sich nur langsam ändernden Faustkeiltypen aus, fand wenig Innovation statt und die technologischen Fortschritte erfolgten nahezu unmerklich. Der Rhythmus des täglichen Lebens variierte von Generation zu Generation nur wenig, wie auch das Leben der Tiere von vorhersehbaren und vertrauten Pfaden bestimmt wurde, die ihre Wanderungen, ihre Verbreitung sowie Leben und Tod lenkten. Die Menschen waren zusammenarbeitende Raubtiere unter Raubtieren – zugleich Jäger und Gejagte. Dank ihres geschickten Umgangs mit hölzernen Speeren, ihrer Fähigkeit, Beute zu verfolgen, und ihrem mühsam erworbenen Wissen über Tiere und Pflanzen waren sie gut fürs Überleben gerüstet. Schließlich, im Verlauf von mehr als 200 000 Jahren, entwickelten sich aus ihnen die Neandertaler – jene urtümlichen Europäer, auf die die Cro-Magnon-Menschen trafen.

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Kapitel 3 Die Neandertaler und ihre Welt

Das erste Neandertalerfossil, der Schädel eines etwa zwei- bis dreijährigen Kindes, wurde 1830 in einer Höhle nahe Engis in Belgien entdeckt. Schon in diesem zarten Alter wies es Andeutungen ausgeprägter Überaugenwülste auf. Im Jahr 1848 gab eine Höhle in Gibraltar an der Südspitze Spaniens einen nahezu vollständigen Neandertalerschädel mit der typischen Augenbrauenpartie frei. Keiner dieser Funde erregte größere Aufmerksamkeit. Von der Schädelkalotte aus Gibraltar nahm man lediglich an, dass sie „sehr alt“ sei. Es sollten fast 20 Jahre vergehen, bevor sie als Neandertalerschädel identifiziert wurde. Das Kind von Engis blieb für mehr als ein Jahrhundert ein anatomisches Rätsel.1 1856 wurden Arbeiter in einem Kalksteinbruch in den Steilwänden des Neandertals nahe Düsseldorf beim Herausschaufeln der Sedimentfüllung auf einige große Knochen in den Lehmschichten aufmerksam; unmittelbar zuvor hatten sie bereits einige Fragmente – darunter auch eine Schädelkalotte – rund 20 Meter tief den Hang hinabgeworfen. In der Annahme, es handele sich um Höhlenbärknochen, veranlassten die Steinbruchbetreiber alsbald ihre Aufbewahrung, um sie wenige Zeit später dem ortsansässigen Schullehrer und Naturkundler Carl Johann Fuhlrott zu zeigen. Fuhlrott war sofort klar, dass es sich um menschliche Knochen handelte, und leitete sie an den angesehenen Anatom Hermann Schaafhausen weiter. Der besonnene Schaafhausen studierte sie eingehend und stellte seine Ergebnisse 1857 vor – zwei Jahre, bevor Charles Darwin On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) veröffentlichte. Er verkündete, die Knochen würden von dem „barbarischen Mitglied“ einer „sehr alten Menschenrasse“ stammen. Schaafhausens Forschungsergebnisse wurden in einer Epoche präsentiert, in der die meisten Menschen noch an die historische Wahrheit der Heiligen Schrift glaubten. Laut Zeitrechnung der Kirche war die Welt 4004 Jahre vor Christi Geburt geschaffen worden. Für die Entstehung sämtlicher Menschen wurden weniger als 6000 Jahre angesetzt. Die im Neandertal geborgenen Knochen sorgten damit natürlich sofort für Aufruhr. Schaafhausens Kritiker führten alle möglichen Theorien gegen ihn ins Feld. Einige erklärten, bei den Knochen handele es sich um die Überreste eines mongolischen Kosaken – eines Soldaten, der Napoleon 1814 über den Rhein verfolgt habe. Der bedeutendste Anatom seiner Zeit, Rudolf Virchow, tat die Fragmente als die eines kürzlich

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verstorbenen Geisteskranken ab, der unter Rachitis gelitten und als Einsiedler in einer Höhle gehaust habe. Der entscheidende Augenblick sollte sieben Jahre nach dem Fund kommen. Der englische Biologe Thomas Henry Huxley, ein eifriger Anhänger von Darwins Theorien zur Evolution und natürlichen Selektion, führte eine umfassende Untersuchung der Knochen aus dem Neandertal durch. In seinem Werk Man’s Place in Nature (1863), einem Klassiker der frühen Anthropologie, erklärte er, die Knochen, die in einigen Details an Affenknochen erinnerten, seien die eines vorzeitlichen Menschen, eines Vorläufers von Homo sapiens. Huxleys logischer und konsequenter Diskurs über die im Neandertal gefundene Schädelkalotte führte zu einem Streit, der bis heute nicht beigelegt ist: Welche Beziehung bestand zwischen diesen archaischen Menschen und ihren anatomisch neuzeitlichen Nachfolgern – uns selbst? Huxley verfolgte die menschliche Ahnenreihe unerschrocken zurück bis zu unseren engsten lebenden Verwandten: Schimpansen und Gorillas. Man’s Place in Nature ließ die strenggläubige viktorianische Gesellschaft, in der die Kirche immer noch enorme Macht hatte und die biblische Schöpfungsgeschichte als historische Wahrheit predigte, erschaudern. Der Ketzerei bezichtigt zu werden und Genesis / 1. Buch Mose infrage zu stellen war ein schweres Vergehen und ging mit dem Risiko gesellschaftlicher Ächtung einher.2 Ehrenhafte Kirchengänger waren empört. „Lassen Sie uns hoffen, dass das nicht wahr ist“, rief eine entsetzte Dame aus, als sie vernahm, dass der Mensch vom Affen abstamme, um hinzuzufügen: „Falls es aber doch stimmt, lassen Sie uns beten, dass es sich nicht herumspricht.“ Huxley und seine Anhänger waren unermüdlich darin, Darwins Theorien zu verteidigen, obgleich dieser selbst sich nur zurückhaltend zur menschlichen Abstammung äußerte. Er wies lediglich auf Afrika und dessen mannigfaltige Affenpopulationen als mögliche Wiege der Menschheit hin. Im Laufe der Zeit siegte die Wissenschaft über das religiöse Dogma, zumal auch an anderen Orten in Belgien, Frankreich, Deutschland und Spanien Neandertalerfossilien entdeckt wurden. Die neuen Funde bewiesen, dass der aus dem Neandertal stammende Schädel keine Ausnahme darstellte, sondern dass die Neandertaler mit ihren finster wirkenden Brauen einst in weiten Teilen Europas gelebt hatten. 1908 wurde in Südwestfrankreich das vollständige Grab eines männlichen Neandertalers in einer Felshöhle in La Chapelle-aux-Saints im Vézère-Tal entdeckt. Der führende Anthropologe seiner Zeit, Marcellin Boule, untersuchte die Knochen und ließ eine stark verfehlte Rekonstruktionszeichnung des Nean-

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dertalers anfertigen. Tragischerweise entging ihm die Tatsache, dass der Mann unter chronischer Rachitis litt, die seine Wirbelsäule deformiert hatte und dafür sorgte, dass speziell dieser Neandertaler eine gebeugte Haltung aufwies. Boule beschrieb einen buckligen, vornüber gebeugten Jäger mit einem großen, primitiven vorgeschobenen Kopf, der auf einem kurzen, massigen Hals saß. Er entwarf das Bild eines grobschlächtigen, dummen Mannes, dem das fein geschnittene Gesicht und die hohe Stirn des modernen Menschen fehlten. Es überrascht nicht, dass er den Neandertaler als evolutionäre Sackgasse betrachtete und nicht als direkten Vorfahren von Homo sapiens. Obwohl Boules Beschreibung des Neandertalers für Karikaturisten ein gefundenes Fressen war, teilte bei Weitem nicht jeder seine Meinung. In den 1930er Jahren zeichnete der in Harvard lehrende Anthropologe Carleton Coon einen modern gekleideten Neandertaler. Er behauptete, dass dieser Mensch die New Yorker U-Bahn benutzen könnte, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen, sofern er anständig gekleidet und rasiert wäre. Man sollte Boule für seine irreführende Beschreibung nicht verurteilen. Er war zu einer Zeit tätig, als wesentlich weniger Neandertalerfossilien zum Vergleich vorlagen als heute. Heutige Forscher haben Zugang zu etwa 500 Funden, darunter die mehr oder weniger vollständigen Skelette von 20 Männern, Frauen und Kindern. Sie können überdies Wissen aus anderen Disziplinen sowie Methoden nutzen, die zu Boules Zeit unbekannt waren. Ihnen stehen die Genetik, Populationsstudien sowie aufwendige Untersuchungsverfahren der Skelettanatomie zur Verfügung. Solche jüngeren Studien haben ergeben, dass der Mann von La Chapelle eine Anomalie darstellt. Tatsächlich waren die Neandertaler gewandt und stark. Sie konnten schnell laufen und waren fähig, in einem erstaunlich breiten Spektrum klimatischer Bedingungen und Wetterumschwünge zu existieren. Sie waren kluge Menschen mit beachtlichen intellektuellen Fähigkeiten, aber sie waren eben keine vollständig modernen Menschen. Ich hatte einst das Glück, den Schädel eines Neandertalers in den Händen halten zu dürfen. Die Schädeldecke, die etwa so viel wog wie eine Avocado, lag in einer sorgsam ausgepolsterten Holzschublade in einem privaten Museum in der Nähe von Les Eyzies. Ich nahm sie beiläufig in die Hand, überzeugt, es handele sich um ein neuzeitliches Exemplar, und ließ sie fast fallen, als ich erfuhr, dass dies der Schädel eines Neandertalers aus der nahe gelegenen Grotte de la Chaise war. Während ich das glatte, braune Objekt in meinen Händen drehte, spürte ich eine seltsame Verbundenheit mit diesem Menschen, der hier aufge-

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wachsen war, gejagt hatte und schließlich nahe dem Fundort seines Schädels gestorben war. Seitdem üben die Neandertaler eine starke Faszination auf mich aus. Den größten Teil unseres Wissens über die Neandertaler verdanken wir unzähligen sorgfältigen Messungen, computertomografischen Scans, genetischen Tests und Untersuchungen von Artefakten wie dem Schädel von La Chaise. Der Umstand, dass wir nur kleinste Proben entnehmen können, sowie regionale Unterschiede zwischen Neandertalerpopulationen erschweren unsere Forschung. Welche Schlüsse lassen sich also aus diesen Untersuchungen ziehen? Zum Beispiel, dass sie bemerkenswerte Menschen waren mit einem Gehirn, dessen Größe der unserer Gehirne entsprach. Allerdings waren ihre Köpfe anders geformt. Wir besitzen eine hohe Stirn und einen rundlichen Kopf, während die Neandertaler langgestreckte, niedrige Hirnschädel besaßen, die größer und nach hinten ausladend waren. Durchgehende große Überaugenwülste prägten ihre Augenpartie. Der Gesichtsschädel war etwas flacher und schmaler als bei wesentlich früheren, archaischen Menschentypen. Dies könnte von Bedeutung sein, denn in diesem Bereich, dem sogenannten präfrontalen Assoziationscortex, finden viele unserer Denkprozesse statt. In anderen Punkten weist das Innere des Hirnschädels der Neandertaler eine grundlegend neuzeitliche äußere Hirnstruktur und Asymmetrie auf. Die Neandertaler hatten hervortretende Gesichtszüge: Die Wangenknochen traten gegenüber der breiten Nase weit zurück, während wir neuzeitlichen Menschen eine unauffällige Augenbrauenpartie besitzen und kleine Gesichter, die unterhalb des Stirnschädels zurückweichen. Unsere Gesichter gehen zudem mit einem vorstehenden Kinn und einer kürzeren Zahnreihe im Unterkiefer einher. In starkem Gegensatz dazu besaßen die Neandertaler lange Zahnreihen und fliehende Unterkiefer oder solche, die genau vertikal zum Oberkiefer lagen. Ihre Vorderzähne waren groß und nutzten sich oftmals stark ab, weil sie damit an Häuten, Nahrung oder Pflanzenfasern zerrten. An 43 000 Jahre alten, aus der spanischen El-Sidrón-Höhle stammenden Neandertalern durchgeführte DNS-Analysen ergaben, dass sie eine bestimmte Allelvariante des Melanocortinrezeptor-Gens MC1R besaßen, was darauf hinweist, dass einige Neandertaler helle Haut, rotes Haar und vielleicht sogar Sommersprossen gehabt haben könnten – möglicherweise eine Anpassung, um in nördlichen Regionen mehr Sonnenlicht zur Produktion von Vitamin D aufnehmen zu können.3

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Die Neandertaler waren überwiegend kompakt gebaut und oft kleiner als wir. Sie waren etwa 1,60 Meter groß und wogen ca. 84 Kilogramm. Die Proportionen ihrer Gliedmaßen unterschieden sich von denen des Homo sapiens: Ihre Oberarme und Beine waren relativ kurz und ihre Gelenke breit, die Arm- und Beinknochen dickwandig. Ein Blick auf ihre Schulterblätter verrät uns, dass sie eine sehr starke Oberarmmuskulatur besaßen, während ihre Hüftknochen darauf hinweisen, dass ihre Gangart geringfügig von unserer abwich. Solche Unterschiede hinderten sie jedoch nicht daran, schnelle und wendige Läufer zu sein. Vor 70 000 Jahren waren die europäischen Neandertaler physisch bereits an die harten Bedingungen einer bitterkalten Welt mit dramatischen Temperaturschwankungen angepasst. Ihre massigen Körper speicherten Wärme, indem die der Kälte ausgesetzte Hautoberfläche minimiert wurde. Der große Hohlraum ihrer Nasen könnte dazu gedient haben, die eingeatmete trocken-kalte Luft zu erwärmen und zu befeuchten. Vermutlich kamen die Neandertaler etwas früher in die Pubertät als moderne Menschen – hier ist sich die Wissenschaft noch nicht einig. Aufgrund verheilter Knochenbrüche und anderer Verletzungen, die an ihren Skeletten zu erkennen sind, wissen wir, dass ihr Leben ausgesprochen hart war. Viele dieser Verletzungen dürften auf Konfrontationen mit gefährlichen Tieren wie Wisenten oder Auerochsen mit ihren riesigen Hörnern zurückzuführen sein. Mehr als ein Wissenschaftler hat ihre Verletzungen mit denen verglichen, die heutige Rodeo-Reiter nach Stürzen erleiden. Um einen tödlichen Speerstoß platzieren zu können, musste sich der Jäger manchmal wirklich rittlings auf seine Beute werfen. Die kräftigen Knochen der Neandertaler und ihre starken Muskeln verbanden den Körperbau eines Ringers mit der Ausdauer eines Marathonläufers. Dies waren also die Menschen, die in Europa und im Mittelmeerraum während eines immens langen Zeitraums überlebten: von vor 200 000 Jahren bis vor 30 000 Jahren. Die Bruchstücke von DNS-Sequenzen, die zwölf Fossilien entnommen wurden, gliedern die Neandertaler in drei, vielleicht vier Untergruppen: eine in Westeuropa, eine weitere in Südeuropa in Mittelmeernähe, eine dritte in Osteuropa und eine vierte, die womöglich in Westasien ihre Blüte erlebte. Sie lebten in einer Welt voller großer Herausforderungen. Mächtige, 2000 bis 3000 Meter über dem Meeresspiegel liegende Gebirgszüge schirmten den Mittelmeerraum klimatisch von kälteren Regionen ab. Nördlich der Gebirgsketten gingen die hügeligen Vorgebirge des westlichen Frankreichs und Süddeutschlands in die nordeuropäische Tiefebene über, die während der Phase

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Ostsee

Nordsee NEANDERTAL

La Cotte

Grand Pile

AT L A N T I K Les Echets Villars La-Chapelle Aux-Saints Moula-Guercy DORDOGNE Bruniquel Les Eyzies Mauron (La Ferrassie) (Le Moustier) (Combe Grenale) Jonzac La Chaise

Krapina

Schwarzes Meer

Mittelmeer Kebara

karte 2: die welt der neandertaler.

eines niedrigen Meeresspiegels in der späten Eiszeit im trockenen Bett der Nordsee begann. Sie erstreckte sich östlich bis in die Ukraine. Die archäologischen Besiedlungsspuren der Neandertaler können wir anhand ihrer typischen Steinwerkzeuge über den gesamten Kontinent verfolgen. Die meisten ihrer Lagerplätze befanden sich in den Küstenzonen Spaniens und Italiens sowie an der portugiesischen Atlantikküste, in Nordspanien und Frankreich (Karte 2). Ein breiter Gürtel weniger dicht konzentrierter Fundorte umspannt den 50. Breitengrad von England bis tief ins Innere Russlands; für eine weiter im Norden liegende Besiedlung gibt es dagegen nur wenige Nachweise aus der Zeit der letzten Vergletscherung. Mehrere Gruppen von Neandertalern lebten auf der Krim und an der Schwarzmeerküste. Die frühesten uns bekannten Neandertaler durchlebten eine lange Kälteperiode, dann die warmen Jahrtausende des letzten Interglazials in der Zeit vor 128 000 bis 115 000 Jahren, gefolgt von einem Großteil des letzten Glazials und dessen vielen Klimawechseln. Ihre Fähigkeit, so lange zu überleben, ging

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weit über eine rein biologische Anpassung hinaus. Keine andere Menschenart hatte bis dahin derartig verschiedene Lebensräume bezwungen. Das sollte sich erst ändern, als die Cro-Magnon-Menschen auf der Bildfläche erschienen. Dass die Neandertaler es mithilfe von Feuer, simpelster Fellkleidung und nur einer Handvoll einfacher Werkzeuge und Waffen schafften, ist beeindruckend. Sie überlebten erfolgreich in Umgebungen, denen sich moderne Abenteurer mit einem verblüffenden Arsenal mehrlagiger Bekleidung und Überlebenstechnologie stellen. Hätte man eine vor 70 000 Jahren lebende Neandertalerfamilie eine Viertelmillion Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt, um Homo heidelbergensis Gesellschaft zu leisten, hätte sie keine Probleme gehabt, ihre Alltagsroutine dort wie gewohnt wieder aufzunehmen. Woher wir das wissen? Unsere Eindrücke einer unveränderten Lebensweise resultieren aus wissenschaftlich untermauerten Annahmen und dem Studium winzigster Veränderungen, denen Steinwerkzeuge und Jagdmethoden über Zehntausende von Jahren hinweg unterlagen. Wie bereits ihre Vorfahren waren auch die Neandertaler Teil eines „Tanzes“ mit ihrer Umwelt – eines Tanzes, der sich unablässig fortsetzte, ob während der Glaziale oder Interglaziale. Nur sein Tempo änderte sich jahreszeitlich bedingt, unter anderem angetrieben von längerfristigen Klimaverschiebungen, die eher über Jahrhunderte als über Generationen hinweg stattfanden. Trotz einiger technologischer Veränderungen blieb der Lebensrhythmus der vorzeitlichen Menschen praktisch jahrtausendelang der gleiche. Wie das Jagdwild bewegte sich jede Menschengruppe innerhalb relativ kleiner Territorien im Rhythmus der Jahreszeiten zwischen verschiedenen Regionen hin und her. Der Rhythmus beschleunigte sich zu Beginn des Frühjahrs, wenn die Laubbäume austrieben und der schmelzende Schnee Flüsse und Ströme anschwellen ließ. Rothirsche ästen frische Grasschösslinge auf Waldlichtungen, und Auerochsen grasten in sumpfigen Wiesen. Das war die Saison, in der die Rentiere aus den Tälern, die ihnen im Winter Schutz boten, auf die offenen Ebenen zurückkehrten. Dann drängten sie sich an den Furten der Flüsse und an engen Gebirgspässen, wo Jäger sie aus der nahe gelegenen Deckung heraus mit Speeren erlegen konnten. Der Frühling war eine Phase der Erholung, der zunehmenden Fülle – die Zeit, in der die Menschensippen in die offeneren Gebiete strömten. Bis zum Frühsommer war die Wachstumsperiode in vollem Gange. Pflanzennahrung aller Art reifte, Früchte waren zur Ernte bereit. Während der kurzen Sommer-

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monate müssen solche Nahrungsmittel auf dem Speiseplan der Neandertaler eine wichtige Rolle gespielt haben, da sie unmittelbar greifbar waren und das häufig in Hülle und Fülle. Während die Frauen nach Pflanzennahrung suchten, wurde weiterhin unermüdlich gejagt. Die Jäger durchstreiften weitläufige Gebiete, immer in Bewegung und auf der Suche nach von Raubtieren erlegtem Wild, vielleicht einem Wisent oder Auerochsen. Sie müssen sich sehr aufmerksam bewegt haben, Ausschau haltend nach frischer Losung und niedergedrücktem Gras, den eindeutigen Spuren eines potenziellen Beutetieres, das vor knapp einer Stunde vorbeigezogen sein musste. Sie kannten sich mit den Rufen der Vögel und dem Gebrüll der Auerochsen aus – Laute, die sie mit Sicherheit perfekt imitieren konnten. Um erfolgreich jagen und überleben zu können, mussten sie sich mit den Gewohnheiten ihrer Beute so gut auskennen wie deren Artgenossen. Ihr Jagdglück hing vom geschickten Aufspüren des Wildes ebenso ab wie von ihren Waffen. In kälteren Zeitabschnitten brach der Herbst früh herein. Schon im September gab es den ersten Frost, selbst wenn die Tage noch warm waren. Kühlere Tage und kalte Winde trieben die Rentiere und andere ziehende Tiere in Richtung Süden an geschütztere Orte. Auch wurden wohl im Herbst die letzten reifen Nüsse geerntet. In den folgenden Monaten bestand die Nahrung der Neandertaler vermutlich fast ausschließlich aus Fleisch, insbesondere getrocknetem, von dem sie im Sommer Vorräte angelegt hatten. Die Menschengruppen zogen in Täler und suchten andere Schutz bietende Orte wie Felsüberhänge und -höhlen auf, selbst wenn sie immer noch umherzogen. Jetzt kamen die mageren Monate mit Schnee und niedrigen Temperaturen. Niemand wagte sich an den kurzen Tagen weit vom Lager weg in dem Wissen, dass in den Wäldern nach Beute suchende Raubtiere lauerten. Wie sonst auch erfolgte die Jagd opportunistisch: ein alter Auerochse oder ein geschwächter Wisent, ein auf der Suche nach Gras im dünnen Schnee scharrender Hirsch, der äußerst vorsichtig beschlichen wurde, ein Keiler, der an einem schnellen Strom seinen Durst löschte. Geht man von historischen Berichten über die Inuit in der kanadischen Arktis aus, ist es gut möglich, dass auch die Neandertaler eine Art Winterruhe hielten, während derer sie dicht am Feuer saßen, die meiste Zeit zusammengedrängt und in dickes Fell gehüllt. Einen Großteil der Zeit dürften sie schlafend verbracht haben.4 Die Einzelheiten dieser Routine, insbesondere das unbewusste, von jahreszeitlichen Faktoren abhängige Handeln mögen sich von Ort zu Ort unterschie-

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kapitEl 3

den haben, aber grundsätzlich blieb die Lebensweise weitgehend dieselbe wie schon zur Zeit von Homo heidelbergensis 200 000 Jahre zuvor. Sie unterlag kaum der menschlichen Entscheidungsfreiheit, sondern richtete sich nach den Wanderungen der Tiere und dem Wechsel der Jahreszeiten. Betrachtet man die begrenzten geistigen Fähigkeiten und die Technologien der Neandertaler sowie die extremen Wetterverhältnisse der ausgehenden Eiszeit, so ergibt sich ein solches Bild nahezu zwangsläufig. Die Viktorianer hielten das „Rentierzeitalter“ – die Welt der späten Eiszeit – für eine Zeit von extremer Kälte mit einem so harschen glazialen Klima, das Europa Bedingungen bot, die gerade eben noch an der Grenze des menschlich Ertragbaren lagen oder sogar jenseits davon. Sie stellten sich die Neandertaler als kleinwüchsige, kompakte Individuen vor, die es gerade so schafften, in einer Welt nahezu immerwährenden Winters von der Hand in den Mund zu leben. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt: Obgleich die Neandertaler tatsächlich auch in Zeiten bitterster Kälte gediehen, durchlebten sie eine glaziale Periode, die sich durch ständige Klimaschwankungen auszeichnete. Die Blütezeit der Neandertaler fällt in die erste Hälfte der letzten Kaltzeit, die erst in den Alpen und dann in Skandinavien identifiziert wurde. Die Glaziologen tauften sie Würm-Kaltzeit (benannt nach dem Alpenfluss) beziehungsweise Weichsel-Kaltzeit in Bezug auf die skandinavische Vergletscherung. Es ist wohl sinnvoller, die allgemeine Bezeichnung „ausgehende Eiszeit“ zu verwenden, mit der der Zeitraum des letzten Glazials zusammengefasst wird, das von 115 000 bis 15 000 Jahren vor heute (zur Datierung siehe Anm. im Vorwort) andauerte (Abb. 3). Generationen von Klimaforschern gingen davon aus, dass das Eiszeitklima ununterbrochen von unerbittlicher Kälte beherrscht war. Sie entwarfen das Bild eines unwirtlichen, tiefgekühlten Europas. Gigantische Eisdecken hüllten Skandinavien und den Großteil Englands ein. Die Alpen waren vollkommen vereist und Eisschichten bedeckten die Pyrenäen. Die Umweltbedingungen schienen so hart gewesen zu sein, dass einige Archäologen bezweifelten, dass Neandertaler oder Cro-Magnon-Menschen sie überlebt haben könnten. Sie gingen davon aus, dass beide Menschentypen bis an den Rand der Ausrottung getrieben wurden. Man muss jedoch nur die Temperaturschwankungen betrachten, die sich aus grönländischen Eisbohrkernen ablesen lassen, um zu begreifen, dass die Klimaverhältnisse in Wirklichkeit wesentlich komplexer waren.5

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ALTER 14 000 Jahre 20 000

30 000

TEMPERATUR wärmer

STADIUM

SAUERSTOFFISOTOPENKULTUR STUFE

kälter

letztes Kältemaximum starke Temperaturschwankungen

Magdalénien Solutréen

Vulkanausbruch in Kampanien

60 000

70 000

extreme Kälte

OIS 2

Gravettien ?

Aurignacien

40 000

50 000

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N erste E A moderne N Menschen D E R T A L E R

OIS 3

OIS 4

Ausbruch des Toba OIS 5

100 000 128 000

abb. 3: Eine vereinfachte Zusammenfassung der klimaveränderungen im späten Eiszeitalter mit der angabe wichtiger kulturen in Europa.

Dank der zahlreichen Quellen, die in dem Kasten beschrieben sind, wissen wir mittlerweile, dass das letzte Interglazial vor etwa 115 000 Jahren endete, als eine langsame Abkühlung von zwei größeren wärmeren Intervallen unterbrochen wurde, in denen die Temperaturen fast wieder das Niveau der Zwischeneiszeit erreichten. Der Meeresspiegel fiel dramatisch, als sich große Eisdecken in Nordamerika ausbreiteten.6

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kapitEl 3

Wie sah das Klima der Eiszeit aus? Ein Puzzle wird zusammengefügt die letzte Vergletscherung war keine in sich geschlossene phase tiefer kälte. Erst vor kurzem begannen paläoklimatologen, die mehr als 100 000 Jahre umfassenden komplexen klimatischen Vorgänge zu untersuchen, vor deren kulisse das leben der neandertaler und cro-magnon-menschen stattfand. so steht uns mittlerweile ein umfassendes rahmenwerk zur Verfügung, das oft als „sauerstoff-isotopenstufe 3“ oder „ois 3“ bezeichnet wird. ois 3 ist der lange Zeitabschnitt der letzten Vergletscherung von vor 60 000 bis 21 000 Jahren (siehe auch kapitel 2, kasten „wie untersuchen wir das klima der Eiszeit?“, und abb. 3). diese Erkenntnis verdanken wir einem ehrgeizigen multidisziplinären Forschungsprojekt, in dem klimatologen und anthropologen etwas zusammenzufügen, was man wirklich nur als klimapuzzle bezeichnen kann. das uns heute vorliegende Bild basiert auf hochauflösenden klimamodellen, denen daten aus verschiedenen Quellen zugrunde liegen. wir beginnen gerade erst, systematisch informationen über regionale temperaturveränderungen, regenfälle, die ausdehnung und tiefe von schneedecken sowie überaus wichtige messdaten über den gesamten europäischen kontinent hinweg zu sammeln. dabei kristallisieren sich einige faszinierende details heraus wie beispielsweise, dass die schneeschmelze in osteuropa im april einsetzte, im westen jedoch erst wesentlich später. auch waren die temperaturen südlich der pyrenäen höher. während wärmerer Zeitabschnitte war die niederschlagsmenge im winter in west- und mitteleuropa genauso groß wie heute, wenn nicht größer. in den kalten Jahrtausenden gingen die regenfälle stark zurück. all dies sind lediglich momentaufnahmen eines ausgesprochen komplexen und immer noch wenig verstandenen europäischen klimas. die hochauflösenden daten aus grönländischen Eisbohrkernen sind unsere wichtigste informationsquelle zum klima der späten Eiszeit, da sie die klimatischen Veränderungen im nordatlantik und möglicherweise auch in näher am meer liegenden regionen westeuropas dokumentieren. ob sie gleichzeitig klimaverschiebungen im mittelmeerraum, in ost- und mitteleuropa widerspiegeln, ist noch nicht sicher, obwohl sich diese Verschiebungen in den bereits erwähnten Eisbohrkernen abzuzeichnen scheinen. tiefseebohrkerne liefern ganz ähnliche informationen. Ein motor des klimas waren die sogenannten dansgaard-oeschger-Ereignisse (doEreignisse), die mindestens 25 mal während der letzten Vergletscherung stattfanden. diese am besten in den grönländischen Eisbohrkernen dokumentierten Ereignisse waren perioden rascher Erwärmung, gefolgt von einer sich über längere Zeit hinziehenden abkühlung. ob groß oder klein, sie scheinen sich etwa alle 1470 Jahre zugetragen zu haben (und tun es noch). möglicherweise stehen sie in Zusammenhang mit Veränderungen in der Zirkulation des nordatlantiks, ausgelöst durch einströmendes süßwasser aus instabilen Eisschichten. offenbar hatten die auswirkungen eine große reichweite. die werte stabiler isotope eines aus der südwestfranzösischen Villars-höhle stammenden stalagmiten geben die meisten der do-Ereignisse aus dem Zeitraum vor

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zwischen 83 000 und 32 000 Jahren wieder. der stalagmit verrät uns, dass die temperaturen vor zwischen 75 000 und 67 400 Jahren beträchtlich sanken, bevor sie von einem insgesamt wärmeren, aber schwankendem klima abgelöst wurden. Eine solche wärmeperiode fand vor zwischen 46 800 und 42 300 Jahren statt. sie endete sehr plötzlich – ein Ereignis, das sich ebenfalls als heftiger kurvenausschlag in den grönländischen Bohrkernen niederschlug. die pollenanalyse oder palynologie ist eine ideale methode zur chronologischen Bestimmung von Veränderungen der Vegetation. da die winzigen pollenkörnchen eine enorme Zeit lang überdauern können, fanden sie sich auch in geologischen schichten und an archäologischen Fundstätten. sie liefern uns lokale sequenzen von Veränderungen der Flora, auf deren grundlage wir vorgeschichtliche Biome rekonstruieren können. hierbei kommen modelle zum Einsatz, die pflanzen nach ihrer Funktion innerhalb eines Ökosystems einteilen (pflanzenfunktionstypen = pFt) und ihnen bestimmte punktzahlen für die häufigkeit ihres auftretens zuweisen. sie und die tatsächlich gefundenen pflanzenreste belegen, dass sowohl wärmere als auch kühlere Zeiträume Vegetationsformen begünstigten, die sich von unserer modernen Flora sehr stark unterschieden. während wärmerer perioden dürfte die landschaft ein mosaik aus parkartigen gebieten mit einer für die savanne charakteristischen pflanzenwelt gewesen sein, die zahlreiche pflanzenfresser ernährte. die Vegetationsmuster aus den pollendaten stimmen tendenziell mit den anhand von grönländischen Eisbohrkernen und tiefseebohrkernen nachgewiesenen klimaschwankungen überein. die artenreiche tierwelt der letzten Vergletscherung ist uns aufgrund zahlreicher Fossilienfunde bestens bekannt. diese stammen nicht nur von archäologischen Fundorten, sondern auch aus von Bären bewohnten höhlen und von sogenannten mammutfriedhöfen; zudem finden sie sich in allen möglichen geologischen schichten. doch trotz all dieser Funde ist unser wissen über die wechselnde Verbreitung großer und kleiner säugetierarten mit Vorsicht zu genießen. Viele tiere, insbesondere pflanzenfresser reagieren nicht besonders empfindlich auf klimaschwankungen, auch wenn sie eigentlich kälteangepasst sind. ausgedehnte, stellenweise bewaldete Flächen boten lebensraum für kälteliebende arten wie rentiere, jedoch auch für tiere aus wärmeren gefilden wie rothirsche und wildschweine. menschliche aktivität macht die arbeit der Forscher noch komplizierter, da die menschen knochen häufig in kleine stücke schnitten und im laufe des Jahres unterschiedlichen tierarten nachstellten. kleine nager, die weitaus empfindlicher auf temperaturänderungen reagieren, sind deshalb eine potenziell zuverlässigere Quelle für klimainformationen. (die farbigen tierdarstellungen der cro-magnon-höhlenmalereien vermitteln uns einen weiteren Eindruck von der Fauna der ausgehenden Eiszeit.) auch käfer und andere insekten sowie regenwürmer können, sofern sie sich erhalten haben, wichtige allgemeine klimainformationen liefern. diese hochspezialisierten Forschungsfelder werden leider nur wenig beachtet.

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Die Abkühlung nahm vor zwischen 74 000 und 60 000 Jahren zu. Eine gewaltige Eisschicht bedeckte einen Großteil Skandinaviens, erreichte jedoch nicht die heutigen Süd- und Westküsten der Ostsee. Zur selben Zeit löste offene Mammutsteppe die Nadel- und Birkenwälder ab, die bis dahin einen großen Teil Europas nördlich der Alpen und Pyrenäen bedeckt hatten. Eine Gruppe von Neandertalern am Rand der Steppe hätte auf eine scheinbar trostlose Landschaft braunen Gestrüpps und hügeligen Bodens geblickt, in der schneidend kalte Winde durch das wärmste Fell drangen und riesige Staubwolken aufwirbelten. Die endlose Ebene erstreckte sich bis zum fernen Horizont, unterbrochen nur durch vereinzelte Flussniederungen und Wasserstellen. In Zeiten extremer Kälte wagten sich nur wenige Neandertaler in die Steppe hinaus, außer vielleicht auf der Suche nach Wisenten, die die spärliche Vegetation abweideten. Von der ersten Abkühlung über das erste beträchtliche Vorrücken der Eisschilde vor ungefähr 70 000 Jahren bis hin zum finalen Abschmelzen des Eises erreichten die europäischen Eisschichten, insbesondere die skandinavischen, ihre maximale Ausdehnung nur während eines Drittels dieses Zeitraums. Dieser umfasste vor allem das letzte Kältemaximum vor etwa 21 500 bis 18 000 Jahren. Die meiste Zeit war das Klima, das Neandertaler und Cro-MagnonMenschen erlebten, wesentlich milder. Die Winter mögen lang und hart gewesen sein und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt üblich, doch in den meisten Fällen konnten sowohl vorzeitliche als auch moderne Menschen relativ komfortabel überleben, teilweise aufgrund der vielfältigen Umweltbedingungen des Kontinents. Europas abwechslungsreiche Topografie bot sowohl Tieren als auch Menschen zahlreiche Zufluchtsorte, insbesondere in Zeiten extremer Kälte. Die extreme Kälte vor 70 000 Jahren hielt nur etwa 6000 Jahre an, bevor eine plötzliche Erwärmung eine Reihe langer, recht milder Intervalle einleitete, die vermutlich durch das Auftreten von Dansgaard-Oeschger-Ereignissen ausgelöst und gelegentlich von kälteren Phasen unterbrochen wurden. Es gab mindestens 15 bis 20 kurze Phasen, in denen die Temperaturen um bis zu sieben Grad Celsius höher lagen als in den dazwischenliegenden kälteren Zeitabschnitten. Manchmal lag die Durchschnittstemperatur dieser wärmeren Phasen nur zwei Grad Celsius unter dem heutigen europäischen Durchschnitt. Warme und feuchte Perioden, die für Les Echets auf dem französischen Zentralmassiv nachgewiesen wurden, ergaben über mehrere tausend Jahre hinweg eine Durchschnittstemperatur von sieben Grad Celsius. (Die heutige Durchschnittstemperatur beträgt elf Grad Celsius.) In Grand Pile in den Vogesen im

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Nordosten Frankreichs erreichten die durchschnittlichen Temperaturen im Juli während zweier warmer Intervalle vor 43 000 und 37 000 Jahren sogar Werte von 16 bis 18 Grad Celsius. Zeitweise glich das Klima also unserem heutigen. Diese Periode starker klimatischer Instabilität fiel in die Zeit, in der moderne Menschen erstmals mit Neandertalern in Kontakt kamen und diese schließlich ablösten. Eine letzte relativ warme Periode, die kürzer und kühler als ihre Vorläufer war, endete vor 37 000 Jahren. Danach wurde das Klima wesentlich kühler – es steuerte auf das letzte Kältemaximum zu. Diese jüngeren Klimaverschiebungen werden in Kapitel 8 beschrieben. Die Neandertaler gediehen in Lebensräumen, die von starken Kontrasten geprägt waren. In den Mittelmeerzonen genossen sie relativ milde Wetterbedingungen, insbesondere in geschützten Tälern, die in Zeiten extremer Kälte wichtige Rückzugsorte waren. Nördlich der Alpen und in den Karpaten gingen sie in bemerkenswert unterschiedlichen und teilweise extremen Umgebungen auf die Jagd. Hier breiteten sich während wärmerer Jahrtausende Wälder aus, die von einer bis zum fernen Horizont reichenden Mammutsteppe abgelöst wurden, die die nordeuropäische Tiefebene bedeckte, sobald die Temperaturen fielen. An einigen Orten war die Landschaft trocken, baumlos und windgepeitscht; anderenorts gab es düstere Wälder. Tiefe Flusstäler mit rasch dahinfließenden Strömen boten Mensch und Tier Schutz sowie ein ungewöhnlich vielseitiges Angebot pflanzlicher und tierischer Nahrung. Für die Menschen, die normalerweise relativ kurze Strecken zurücklegten, waren diese Orte natürlich von ganz besonderem Interesse. Ihr bester Schutz gegen sinkende Temperaturen und Tiefschnee war wie für so viele pflanzenfressende Tierarten Bewegung. Die Neandertaler passten sich den ständig wechselnden Witterungsverhältnissen, genauer gesagt Temperaturen, genauso an, wie es ihre Vorfahren getan hatten, als sie sich an trockenere und feuchtere Perioden im Herzen der Sahara und anderswo anpassten. Sich auf das jeweilige Klima einzustellen, war für die Neandertaler längst zur zweiten Natur geworden. Kalte Zeiten waren nicht zwangsläufig harte Zeiten, denn niedrigere Temperaturen brachten offenere Landschaften mit sich, in denen es leichter war, umherziehende Herdentiere zu verfolgen, als einzelne Wildschweine oder Rothirsche in einem dichten Eichenwald aufzuspüren. So etwas wie einen für Neandertaler typischen Lebensraum gab es nicht. Das Land veränderte innerhalb weniger hundert Kilometer drastisch sein Aussehen. In den nördlichen Ebenen waren beispielsweise Mammuts, Wildpferde und Wisente weit verbreitet, während Steinböcke vor allem in Höhenzügen

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lebten und wilde Ochsen und Schweine in bewaldeten Tälern heimisch waren, wo sie die Jäger vor ganz andere Herausforderungen stellten. Selbst in den wärmeren Perioden unterlag das europäische Klima starken jahreszeitlich bedingten Schwankungen mit nur relativ kurzen Wachstumsphasen von einigen Wochen oder Monaten, in denen pflanzliche Nahrung in großen Mengen verfügbar war. Die Nahrungsgrundlage der Neandertaler bildete hauptsächlich die faszinierende Tierwelt jener Zeit. Die Neandertaler waren lediglich ein kleiner Teil von ihr. Wovon genau ernährten sich die Neandertaler? Die Nahrungsquellen, die ihnen zur Verfügung standen, variierten erheblich während der gesamten ausgehenden Eiszeit. Während der warmen Perioden waren die Sommer länger, die Sonne stand höher und die Wachstumssaison war länger als in der heutigen Arktis. Kältere Intervalle zogen wesentlich härtere Lebensbedingungen nach sich und sorgten dafür, dass sich Mensch und Tier südwärts in geschützte Täler und wärmere Landstriche zurückzogen. Keine dieser kalten Gegenden war mit dem heutigen Norden Kanadas, Europa oder Sibirien vergleichbar. In einer Welt unregelmäßiger Klimaveränderungen waren viele der von den Neandertalern gejagten Säugetierarten recht tolerant gegenüber Temperaturschwankungen. Größeren Einfluss hatten die Unterschiede zwischen Seeklima und trockenem, oft extrem kaltem Kontinentalklima. Sofern wir dies aus der Verteilung von Fundstätten ableiten können, neigten die Neandertaler dazu, sich an Orten niederzulassen, die im Winter Schutz vor starken Winden sowie eine Vielfalt tierischer und pflanzlicher Nahrung auf relativ engem Raum boten, selbst wenn wandernde Tierarten wie Rentiere diese schließlich monatelang verließen. Wir können ziemlich sicher sein, dass sich die Neandertaler überwiegend von Fleisch ernährten. Das ergaben Untersuchungen der stabilen Isotope im Knochenkollagen ihrer Zähne. Das Kollagen eines 40 000 bis 55 000 Jahre alten, großen, abgenutzten Neandertalerzahns aus einer Höhle im südwestfranzösischen Jonzac spricht für eine auf Fleisch basierende Ernährung.7 Die hier ansässige Neandertalergruppe verzehrte hauptsächlich Wisente, Auerochsen und Wildpferde. Fleisch sollte dabei im weitesten Sinne verstanden werden, denn diese Menschen konsumierten jeden Teil ihrer Beute, nicht nur die Filetstücke. Untersuchungen der Knochen von Fundstücken anderer Orte wie Saint Césaire I im Herzen Frankreichs verweisen ebenfalls auf einen starken Fleischkonsum, vornehmlich von großen Tieren. Warum das so war, wissen wir nicht

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genau. Vielleicht waren die Waffen der Neandertaler besser für Großwild geeignet als für die Jagd auf kleine flinke Tiere. Zu allen Zeiten waren sie opportunistische Jäger. Die in Gibraltar siedelnden Jäger erlegten auch Seehunde und gestrandete Delfine. Vor 70 000 Jahren beherbergte Europa eine reichhaltige und vielseitige Säugetierwelt. Einige Tiere waren an kältere Bedingungen angepasst und lebten eher in nördlichen Gebieten, während andere eher wärmeliebende Arten vornehmlich auf den Mittelmeerraum beschränkt waren. Eine Übergangszone in Südeuropas geschützten Gebieten wie den tiefen Flusstälern im Südwesten Frankreichs bot sowohl kälte- und wärmeangepassten Arten Lebensraum als auch solchen, die bei milden Temperaturen gediehen. Höhlenbären, Löwen, Tüpfelhyänen und Menschen fanden in kühleren und gemäßigten Regionen gute Lebensbedingungen. Wo auch immer sich die Neandertaler niederließen, gab es große und kleine Pflanzenfresser als Nahrungsquelle sowie die ihnen bekannten Raubtiere, mit denen sie konkurrierten. Die Fauna veränderte sich stark, sobald sich das Klima änderte. In kälteren Jahrtausenden folgten die der Kälte angepassten Tierarten wie Mammut, Wollnashorn, Moschusochse und Ren der sich von Osten ausdehnenden Steppe bis weit nach Europa, respektive den Norden Spaniens hinein. Wie wir bereits sahen, konnten Wechsel von kühlerem zu wärmerem Klima sehr plötzlich stattfinden. Sobald die Temperaturen stiegen, breitete sich der Baumbewuchs aus und wärmetolerante Tierarten zogen weiter in den Norden. Viele dieser Tiere waren Pflanzenfresser, was bedeutet, dass sie der Vegetation folgten, auf die sie spezialisiert waren. Sie breiteten sich langsam in einem neuen Gebiet aus, sobald dieses in der Lage war, sie zu versorgen. Wenn das Klima wieder kälter wurde, schrumpften ihre Lebensräume und die Tiere zogen sich wieder zurück. Einige wurden wie auf kleinen Inseln von ihren Artgenossen isoliert, bevor sie dort ausstarben. Dieser Prozess von Ausdehnung und Schrumpfung endete nie, auch wenn er für einen menschlichen Beobachter über ein Jahr hinweg betrachtet unbemerkt blieb. Sich ständig verändernde ökologische Bedingungen definierten dementsprechend die Welt der Neandertaler. An einem Ende des Pflanzenfresserspektrums befanden sich Elefanten, Riesenhirsche, Mammuts und Nashörner – die sogenannte Megafauna. Diese Tiere vermehrten sich nur langsam und waren mit Speeren allein schwer zu töten. Das Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius) war der Riese unter den kälteliebenden Tieren, wenn auch kein Gigant, so doch immerhin mit einer Schulterhöhe von 3,40 Metern. Ein afrikanischer Elefant erreicht im Vergleich dazu vier Meter Schulterhöhe.8

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Mammuts besaßen kurze, gedrungene Gliedmaßen und einen gestreckten Rumpf, vielleicht als Anpassung an ihre Weidegründe auf den Ebenen. Ihre Füße waren breiter als die von Elefanten gemäßigter Klimazonen und mit seitwärts gespreizten Zehen ausgestattet, so dass ihre schweren Körper auch in sumpfigem Gelände nicht einsinken konnten. Sogar für die erfahrensten Jäger dürfte es schwierig gewesen sein, ein Mammut zu stellen. Mammuts waren selbst unter günstigsten Bedingungen eine äußerst gefährliche Beute. Mit Ausnahme der Fußsohlen bedeckte dichtes Haar ihren gesamten Körper. Das Gleiche gilt für das Wollnashorn, dessen Haarkleid oft so lang war, dass es über den Boden schleifte. Die am häufigsten vorkommenden Tiere und die gängigste Beute der Menschen waren Auerochse, Wisent, Pferd, Rothirsch und Ren.9 Sie stellten die Nahrungsgrundlage nicht nur für Menschen, sondern auch für Fleischfresser wie Hyänen, Wölfe und Löwen dar. Ihre Fortpflanzungsrate war höher als die der größeren Tierarten. Außerdem schlossen sie sich zu bestimmten Jahreszeiten in Herden zusammen und konnten entweder einzeln gejagt werden oder indem man im Rahmen einer sorgfältig vorbereiteten Jagd mehrere Tiere von der Herde isolierte. Eine erfolgreiche Treibjagd auf mehrere kleine Tiere konnte so viel Fleisch liefern wie ein Elefant oder Mammut, war jedoch weniger risikoreich. Größere Tiere waren einfacher zu töten, wenn sie hilflos waren – zum Beispiel, wenn es gelang, sie in einen Sumpf oder in eine zuvor ausgehobene Grube zu treiben. Doch selbst die Jagd auf kleinere Arten barg immer noch erhebliche Risiken. Der Auerochse war ein wendiges, manchmal aggressives Tier mit langen Hörnern und unberechenbarem Temperament. Der Wisent konnte eine gewaltige Größe erreichen und war massiv gebaut mit wuchtigem Kopf, riesigem Gehörn und einem sehr dicken Fell, das ihn vor arktischen Winden schützte. Rentiere wanderten ebenso wie die Mammuts in jedem Frühjahr und Herbst über die Tundra. Saiga-Antilopen (Saiga tatarica) waren schnelle Läufer, die Geschwindigkeiten von bis zu 64 km/h erreichten. Ihre Hufe ermöglichten es ihnen, auch unter dem Schnee zu graben. Als Bewohner der Ebenen zogen auch sie jahreszeitenabhängig in großen Herden umher. Außerdem gab es zahlreiche kleinere Tierarten, darunter den Steinbock und das Reh. Um sich von den Tieren der ausgehenden Eiszeit ernähren zu können, mussten die Neandertaler nicht nur genau wissen, welche Jagdtechnik jeweils anzuwenden war, sondern sie benötigten auch die Fähigkeit zu kooperieren und zu kommunizieren. Kaum ein Jagderfolg war das Werk eines Einzelnen, denn niemand konnte es im Alleingang mit einem Tier wie einem Wisent aufnehmen.

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Einige Fachleute gehen davon aus , dass sich auch die Frauen an der Jagd beteiligten. Die Jäger lernten aus den eigenen Erfahrungen und indem sie mit erfahrenen Jägern zusammenarbeiteten und tradierte Kenntnisse übernahmen. Im Laufe der Jahre streifte jede Gruppe durch relativ kleine Gebiete, in denen Männer wie Frauen jeden Fels und jeden Baum sowie die Gewohnheiten der Tiere kannten. Sie waren ständig in Bewegung, aber in einem Aspekt unterschieden sie sich von ihren Vorfahren: Einen Großteil des Jahres verbrachten sie zwar noch im Freien, in Lagern, deren simple Behausungen aus Zweiggeflechten oder Häuten gefertigt waren. Hier verbrachten sie einige Tage oder vielleicht Wochen. Die Jägergruppen kehrten stets an dieselben Orte zurück: in ein geschütztes Flusstal, an eine Wasserstelle, die die Wildpferde bevorzugten, oder an einen Platz, an dem im Frühsommer Gräser heranreiften. Daneben aber pflegten sie auch regelmäßig zu Höhlen und Felsüberhängen in geschützten Flusstälern zurückzukehren, wo sich somit im Laufe der Jahrtausende dicke Schichten behauener Steine und zerbrochener Knochen ablagerten sowie Feuerstellen häuften. Auch wenn niemand genau weiß, wann sie diese Plätze zu nutzen begannen, so boten diese doch Schutz vor der Kälte und sich in der Umgebung herumtreibenden Raubtieren, selbst wenn manchmal Höhlenbären in ihren Tiefen lauerten. So sind die Höhlen eine ergiebige Quelle für Archäologen, die das Leben und Siedlungsverhalten der Neandertaler vor 50 000 Jahren studieren.

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Kapitel 4 Das stumme Volk

Westeuropa im Frühsommer vor 70 000 Jahren. Wisente grasen friedlich auf einer Waldlichtung, knietief im üppigen Gras der Sumpfwiese stehend. Ihre Schwänze peitschen in einem aussichtslosen Kampf gegen die sie umschwärmenden Fliegen hin und her. Ein älterer Bulle grast allein, so dicht an den tiefen Schatten der Bäume, dass sein schwarzbrauner Körper nahezu mit diesen verschmilzt. Das große Tier ist wachsam, misstrauisch und vor im Unterholz lauernden Räubern auf der Hut. Zwei junge Neandertaler beobachten den einsamen Wisent aus ihrem nahen, in Windrichtung liegenden Versteck. Sie tragen starke Holzspeere mit Steinspitzen und sind nackt, damit sie sich schnell und unbemerkt bewegen können. Bereits im ersten Tageslicht haben sie sich hier positioniert. Wie ihr vergangene Nacht sorgfältig ausgesuchtes Jagdwild sind sie wachsam. Ihre Augen stehen nie still und halten Ausschau nach Löwen, die auf leichte Beute hoffen. Beide Männer scheinen eins zu werden mit ihrer Umgebung; ihre Körper sind mit Erde und Gras beschmiert. Kaum merklich und absolut lautlos kriechen sie vorwärts. Sobald der Wisent aufblickt, erstarren sie sofort. Langsam trennen sie sich, einander mit Blicken Signale gebend. Die Partner haben sich in zahlreichen Jagden aufeinander eingespielt. Eine Stunde später steht die Sonne hoch am Himmel. Die Jäger sind jetzt so dicht an ihre Beute herangerückt, dass sie sie fast berühren können und unter ihr zertrampelt würden, falls sie davonpreschen sollte. Doch noch verharren sie, den Moment abwartend, in dem der Wisent für einen Moment unaufmerksam ist und den Kopf gesenkt hält. Ein schneller Blick und der Mann zur Linken springt auf. Er wirft sich auf den Rücken des Tieres und versenkt seinen Speer mit einem blitzschnellen Stoß tief zwischen den Schulterblättern. Dann nutzt er den sich aufbäumenden Wisent als Sprungbrett, um wieder auf dem Boden zu landen. Sein Gefährte greift von der anderen Seite an und schleudert seinen Speer in den hinteren Schenkel des Tieres. Es brüllt und bäumt sich auf, wobei es auf den ersten Jäger trampelt und dessen Bein bricht. Dann nimmt es ihn auf die Hörner. Der Mann krümmt sich vor Schmerz am Boden, während der Wisent davonläuft, um schließlich zu straucheln und zusammenzubrechen. Der zweite Jäger beobachtet das Geschehen aus der Nähe, wahrt jedoch sicheren Abstand zu den zu-

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ckenden Gliedmaßen. Endlich, als das Tier schwächer wird, kann er den tödlichen Stoß setzen. Kurz darauf trifft die restliche Gruppe ein, aber der erste Jäger ist bereits seinen Verletzungen erlegen. Die Menschen umringen die Beute, ziehen sie mit kräftigen Bewegungen ab, um den Kadaver rasch zu zerteilen und das Fleisch zum Dörren in Streifen zu schneiden. Ein Hyänenrudel umringt sie in sicherer Entfernung, bereit, sich auf die Reste zu werfen, sobald die Menschen verschwunden sind. Vor 45 000 Jahren lebten vielleicht 15 000 bis 20 000 Neandertaler in Eurasien, die meisten davon in kleinen Gruppen, die es gewohnt waren, in nahezu völliger Isolation zu existieren. Es gab flüchtige Kontakte mit anderen, und gelegentlich wechselten Männer oder Frauen zu einer anderen Gruppe oder sie kooperierten mit Nachbarn, wenn Jagdunfälle dies erforderten. Das stumme Volk lebte dabei friedlich in der Nähe seines Jagdwilds. Das stumme Volk – besser kann man die Neandertaler nicht beschreiben. Behutsam gingen sie ihrem Tagewerk nach, vorsichtig und wachsam. Alle achteten sorgsam darauf, wohin sie ihren Fuß setzten – erfahrene Jäger, Nüsse sammelnde Frauen, Jungen und Mädchen. Ihr Leben hing von ihrer Fähigkeit ab, die Umgebung zu erkunden. Sie besaßen ein feines Gehör und müssen enorm empfänglich für die Bewegungen und Laute der sie umgebenden Natur gewesen sein – das Rascheln der Gräser, das leichte Scharren eines Hirschhufs auf dünnem Schnee, der leiseste Windhauch mit dem unverwechselbaren Geruch eines verborgenen Wisents. Die Neandertaler konnten ihren Weg durch die Landschaften der ausgehenden Eiszeit erfühlen und sich darin auf eine Art und Weise bewegen, die schon bald durch die voll artikulierte Sprache unterwandert werden sollte. Die einzigen Waffen, die Männern und Frauen zur Verfügung standen, waren ihre Wachsamkeit, ihre Kraft und ihr Geschick im Beschleichen von Beute und die langen Jagdspeere. Die Neandertaler waren ein stummes Volk, das sein Überleben durch seine Zurückhaltung und unendliche Geduld sicherte. Diese Geduld muss sich auch auf das Leben in den Lagern erstreckt haben, wo die Familien lebten, die Kinder spielten und Männer hölzerne Speere fertigten sowie ihre Steinwerkzeuge ausbesserten. Die Frauen befreiten an Stöcken aufgespannte Tierhäute mit Steinschabern von Haaren, um sie dann in Sonne und Wind zu trocknen, oder sie sammelten in der Nähe Holz, da zum Schutz vor Raubtieren Tag und Nacht ein Feuer brennen musste.

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abb. 4: technologie und Jagdwaffen der neandertaler. (a), (c) spitzen. (b) methode zur Befestigung der spitzen an holzschäften. (d) schaber, vermutlich zum säubern von häuten sowie zu anderen Zwecken benutzt. (e) levalloiskern (links) und der entsprechende große, flache abschlag. die levalloistechnik (schildkerntechnik) wurde nach einem pariser Vorort benannt.

Einen Großteil der Zeit dürfte das Lager sehr ruhig gewesen sein, während die Menschen still dasaßen und stets ihre Umgebung beobachteten, immer – zumindest unbewusst – Ausschau nach potenzieller Jagdbeute haltend, Informationen aus der Landschaft sammelnd und die Zahl der Pflanzenfresser und Raubtiere um sich herum registrierend.

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Gemeinsam mit jemandem zu jagen, der eine altmodische Waffe zur Nahrungsbeschaffung verwendet, ist eine Lektion in Geduld, die man nie vergisst. In meinem Fall war der Jäger ein mit einem Vorderlader bewaffneter Afrikaner, dessen Waffe einst einem viktorianischen Soldaten gehört hatte. Wir machten Jagd auf Impalas, mittelgroße, im Grasland beheimatete sehr schnelle Antilopen, die berühmt sind für ihre hohen Sprünge. Die Jagd dauerte Stunden, in denen wir schweigend durch den Busch streiften und von Baum zu Baum huschten. Gelegentlich hielten wir inne, um auf einer schmalen Fährte hinterlassene Impala-Losung zu inspizieren. Mein Jagdbegleiter bewegte sich wie ein Geist – nie vernahm ich einen Laut von ihm, während ich ihm unbeholfen folgte in der Illusion, ich verhielte mich still. Wir verpassten eine Gelegenheit zum Schuss, weil ein Zweig unter meinem Fuß knackte, als wir noch knapp 30 Meter von dem Tier entfernt waren. Bei der nächsten Gelegenheit kamen wir bis auf drei Meter an einen einzeln stehenden Bullen heran und erstarrten jedes Mal, wenn er aufblickte. Es schien Minuten zu dauern, bis der Jäger anlegen konnte, in Wirklichkeit aber waren es nur wenige Sekunden. Er schoss und verfehlte sein Ziel. Die Impala rannte davon und wir mussten wieder ganz von vorne anfangen. In dieser Situation wurde mir klar, was es bedeutet, mit einem Holzspeer mit oder ohne Steinspitze zu jagen: Es ging nicht nur um einen raschen Stoß aus relativ kurzer Entfernung, sondern auch darum, eine tödliche Verletzung mit einer messerscharfen Waffe zuzufügen, und zwar aus unmittelbarer Nähe. Wie viel wissen wir über das Jagdgeschick der Neandertaler? Das wenige uns Bekannte lieferten uns Artefakte und Tierknochen sowie theoretische Ableitungen. Es besteht kaum Zweifel daran, dass Männer, Frauen und sogar Kinder in der Lage waren, Jagd auf recht große Beutetiere zu machen. Das mussten sie auch, denn ihre Körper benötigten wegen der Kälte täglich Tausende von Kalorien. In den kalten Jahrtausenden, die vor 75 000 Jahren begannen, scheinen sie bevorzugt ziehende Arten wie Rentiere aus dem Hinterhalt überfallen zu haben, wahrscheinlich im Frühjahr und Herbst. Diese Form der Jagd setzte geplantes Handeln voraus – oder etwa nicht? Der amerikanische Archäologe Lewis Binford hat die Neandertaler als Wildbeuter bezeichnet, als Menschen, die die Landschaft durchstreiften und opportunistisch diejenigen Ressourcen nutzten, die sich ihnen boten. Dieses Verhalten ist etwas ganz anderes als vorausschauendes Planen und die damit einhergehende Erwartungshaltung, wie es für moderne Menschen typisch ist.1

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Ihre instinktiv erworbene Kenntnis der Umgebung dürfte die Neandertaler sicher immer wieder an Orte geführt haben, an denen wandernde Rentiere Flussfurten überquerten und sich Situationen boten, die eine längere Planung sowie ein aufwendiges Auflauern überflüssig machten. Einen Teil ihrer Fleischnahrung könnten sie Raubtieren abgejagt haben, aber wie viel davon übrig war, nachdem sich erst ein Löwen- und dann ein Hyänenrudel daran gütlich getan hatten, ist fraglich. Auch dürfte ihnen nicht wohl dabei gewesen sein, Raubtiere von ihrer Beute zu vertreiben; stets war es ein äußerst risikoreiches Unterfangen. Manchmal stießen die Neandertaler sicher auch auf Tiere, die eines natürlichen Todes gestorben waren oder dahinsiechten. Solcher Beute konnte man sich leicht nähern und sie mit einem schnellen Hieb oder Speerstoß töten. In einigen Neandertalerhöhlen im Westen Italiens fand man die Schädel älterer Tiere; also scheinen die Menschen im letzten Interglazial vor etwa 120 000 Jahren auf solche Tiere Jagd gemacht zu haben. Doch die stillen Neandertaler erlebten nicht deshalb eine Blüte, weil sie Aas verzehrten und Opportunisten waren, sondern weil sie es verstanden, versiert mit einer uralten Waffe umzugehen: dem Holzspeer. Die Jagdwaffen der Neandertaler waren kaum aufwendiger konstruiert als die mehr als 300 000 Jahre älteren Schöninger Speere, wenn man vom Einsatz der sorgfältig geformten Steinspitzen auf den hölzernen Schäften (Abb. 4a) absieht. Die Waffe der Wahl war ein Wurfspeer, entweder mit einer Steinspitze versehen oder nur aus Holz, wobei Letzterer eine feuergehärtete Spitze besaß. Die Reichweite und die Durchschlagskraft dieser Speere waren nur durch die Armkraft des Jägers begrenzt. Reichweiten von ca. acht Metern dürften das absolute Limit gewesen sein.2 Um ein größeres Tier wie einen Auerochsen oder einen Wisent zu erlegen, musste man sehr viel näher an dieses herankommen, entweder durch Anschleichen oder indem man die Beute in einen Sumpf oder einen engen Hohlweg trieb. Solch eine Aufgabe erforderte die Zusammenarbeit der gesamten Sippe oder sogar von noch mehr Menschen. Hölzerne Wurfstöcke, wie sie beispielsweise in Schöningen gefunden wurden, waren effektiv zum Erlegen kleineren Jagdwilds. Falls nun Rentierwanderungen und andere günstige Gelegenheiten zur Jagd ausblieben, könnten einzelne Jäger vielleicht auch schnell und ausdauernd genug gewesen sein, um kleinere Hirsche und andere Tiere zu Fuß zu verfolgen, sie zu Boden zu reißen und dann eventuell mit einer Keule zu erschlagen. Jede Form der Jagd, selbst das Aneignen von Aas, war risikoreich. Bären, Löwen oder Wölfe ihres Felles wegen zu töten, erfordert sehr großen Mut und

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großes Geschick. Es wäre Selbstmord gewesen, mit dem Speer auf sie zu zielen, wenn sie selbst gerade zum Angriff übergingen. Dies dürfte nur aus verzweifelter Notwehr heraus vorgekommen sein. Die Jäger töteten solche Tiere wahrscheinlich, wenn sie Winterschlaf hielten oder in ihren Bauen schliefen. Über die Jagdtaktik der Neandertaler wissen wir überraschend wenig. Neandertalergruppen besuchten vor zwischen 115 000 und 50 000 Jahren die Höhle von Combe Grenal in der französischen Dordogne. Nicht weniger als 55 dicht geschichtete Siedlungshorizonte wurden hier von dem französischen Archäologen François Bordes in den 1950er und 1960er Jahren ergraben. Er legte Tausende von Steinartefakten und Tierknochen frei. Leider starb er, bevor er seine Grabungsergebnisse veröffentlichen konnte. Die Faunenreste aus Combe Grenal wurden von Philip Chase vom University of Pennsylvania Museum (USA) untersucht.3 Pflanzenfresser dominieren in den Siedlungsschichten, darunter Pferde, Rothirsche und Rentiere. Durch Untersuchung der Schnittmarken an den Knochen fand Chase heraus, dass Rothirsche und Rentiere gezielt gejagt wurden. Rothirsche waren ein bevorzugtes Jagdwild während wärmerer Klimabedingungen vor zwischen 115 000 und 100 000 Jahren. Danach nahm das Ren ihre Stelle ein, als die Wälder aufgrund des kühleren Klimas der Steppe wichen. Die einzige Ausnahme bildeten geschützte Flusstäler. Nur eine kleine Zahl dieser Tiere ist in jeder Schicht nachweisbar. Man vermutet, dass sie einzeln verfolgt und getötet wurden und fast der gesamte Kadaver zur Höhle gebracht wurde, um dort zerteilt zu werden. Im Gegensatz dazu befinden sich unter den anderen Pflanzenfresserknochen relativ viele Schädel und Kiefer, beispielsweise von Pferden, was darauf hinweisen könnte, dass diese Tiere ursprünglich von Raubtieren gerissen wurden. Vielleicht waren Letztere nicht in der Lage, die Schädel zu öffnen, um an das äußerst nahrhafte Hirn und die Zunge zu gelangen, weshalb die Köpfe manchmal als einzige Körperteile übrig gelassen wurden. In Combe Grenal suchten sich die Neandertaler einzelne Tiere als Beute aus, aber die ständige Veränderung der Umweltbedingungen bewirkte, dass sie alles in der Umgebung der Höhle mitnahmen, dessen sie habhaft werden konnten. Hierfür mussten sie in einem gewissen Maße planen, insbesondere muss es einen Informationsaustausch über in der Nähe gesichtete potenzielle Beute gegeben haben. Anderswo töteten die Neandertaler oft größere Mengen an Tieren, was eine bewusste Planung sowie ein gutes Timing und eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Gruppenmitgliedern, vielleicht sogar mit anderen Familien und deren Angehörigen voraussetzt.

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kapitEl 4

Vor 120 000 Jahren trieb eine in einer Höhle in La Cotte de Saint Brelade auf der Kanalinsel Jersey lebende Neandertalergruppe sowohl Mammuts als auch Nashörner über ein Kliff und schlachtete die hilflosen Tiere am Fuß der Felswand ab. Von dort wurden ausgesuchte Körperteile in die Höhle gebracht, wo sie vor der Plünderung durch Raubtiere geschützt waren.4 Die Ausgräber fanden haufenweise Knochen, die am Fuß der Felswand aufgetürmt waren. Ebenso fand man nahe einer flussseitigen Steilwand in Mauran in den französischen Pyrenäen eine gewaltige Anhäufung von Wisentknochen.5 Vor 50 000 Jahren trieben Neandertaler ihre Beute die Böschung hinab in den Tod – eine Aufgabe, die eine bemerkenswerte Zahl eng kooperierender Jäger erforderte. Klack, klack! – Das unverkennbare Geräusch eines Schlagsteins auf Flint hallt durch die stille Morgenluft der geschützten Flusstäler. Dies dürften für die Menschen, die feinen Feuerstein (Silex) sowie Holz für ihre Werkzeuge und Waffen brauchten, vertraute Laute gewesen sein. Der gesamte Werkzeugkasten der Neandertaler umfasste vermutlich nicht mehr als einige Dutzend Werkzeuge und Waffen, die fast alle mit Steinwerkzeugen gefertigt waren oder selbst aus Stein bestanden. Leider haben schlechte Erhaltungsbedingungen im Boden dafür gesorgt, dass nur die haltbarsten Artefakte die Zeiten überdauerten. Wenn wir Glück haben, sind auch die Knochen der von ihnen gejagten Tiere erhalten geblieben. Es sind fast ausschließlich die Steine, denen wir unser Wissen über das Leben und den Erfindergeist der Neandertaler verdanken. Als ich noch ein Student war, wurden die Neandertaler über eine Vielzahl von Steinwerkzeugen und eine Handvoll Fossilien definiert, wobei Erstere in eine ständig wachsende Zahl neuer, wenig aussagekräftiger Werkzeugtypen unterteilt wurden, die jeder Wissenschaftler auch noch anders definierte als seine Kollegen. Heutige Forscher schöpfen aus einer viel größeren Zahl von Quellen, aber viel von dem, was wir über die Geschichte der Neandertaler wissen, ist immer noch von steinernen Werkzeugen abgeleitet, den haltbarsten und oft am wenigsten informativen aller Artefakte.6 Die Technologie der Neandertaler basierte fast vollständig auf Traditionen der Werkzeugherstellung, die sich schon sehr viel früher entwickelt hatten. Die frühesten Werkzeuge der Menschen von vor zwei Millionen Jahren waren wenig mehr als scharfkantige Steinsplitter und krude Chopper mit gezackten Kanten, auch wenn ihre Herstellung immerhin ein Gefühl für die Eigenschaften der unterschiedlichen Gesteinsarten und zumindest in Ansätzen Kenntnisse erforderte, wie man den Stein am besten hält, um Stücke davon abzuschlagen. Nur

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ganz vereinzelt gab es neue Erfindungen in einer Menschenwelt, die über Hunderttausende von Jahren hinweg mit Holzspeeren, einfachen Grabstöcken, Steinschabern und vielseitig verwendbaren Faustkeilen auskam (Abb. 4b). Dann, vor etwa 250 000 Jahren, bildete sich eine neue Steinwerkzeugtechnologie in Europa und in anderen Regionen heraus. Hierzu zählte die sorgsame Vorbereitung von Steinknollen oder -kernen, bevor auch nur ein einziges Stück (Abschlag) von ihnen abgeschlagen wurde. Diese simple Innovation, die vorbereitete Steinknolle, bildete einen Teil der Grundausstattung im NeandertalerWerkzeugkasten ... Der junge Mann sitzt auf einem Fell und genießt die warme Sommersonne. Er nimmt eine Feuersteinknolle in die Hand, die er am Tag zuvor von einer Felswand mitgenommen hat. Nachdem er sie behutsam in den Händen gedreht hat, nimmt er einen runden Schlagstein und schlägt einen großen Abschlag ab. Die weiße Rinde des Steins löst sich und gibt den schwarzen Feuerstein im Inneren frei. Mit sicherer Hand nutzt der Steinschläger die freigelegte Oberfläche als Plattform, um eine Reihe von Abschlägen vorzunehmen. Plötzlich lässt ein verborgener Riss den Klumpen überraschend zerspringen. Der Mann wirft ihn zur Seite und ergreift einen anderen. Wieder begutachtet er den Stein genau und schlägt dann einen großen Abschlag ab. Dieses Mal bearbeitet er ihn erfolgreich so, dass er eine an die Innenseite eines Schildkrötenpanzers erinnernde Form annimmt: Die Oberseite ist nahezu flach, während die Unterseite leicht gewölbt ist (Abb. 4e). Dann klopft er behutsam einige kleine Abschläge von einem Ende des Steins ab, um eine geeignete Stelle zum Ansetzen des nächsten Arbeitsschrittes zu schaffen. Er reibt den Stein zwischen den Händen und begutachtet so seine Form und Qualität. Dann stellt er ihn hochkant zwischen seine Füße auf ein Stück Wisentknochen. Ein einziger, harter Schlag und ein großes ovales Stück splittert von der Oberfläche des Steinkerns ab. Nahebei liegt der hölzerne Speerschaft mit der zerbrochenen Feuersteinspitze, die er durch eine neue ersetzen wird, die er nun sorgfältig aus dem ovalen Abschlag herausarbeitet ... Die Vorbereitung von Steinknollen – eine Technik, bei der ein Stein erst gründlich vorgeformt wurde, bevor hieraus die Rohlinge für die eigentlichen Werkzeuge entstanden – hatte den Vorteil, dass sich dünne Abschläge in einer mehr oder weniger genormten Form und Größe anfertigen ließen, die mit einem Minimum an weiterer Bearbeitung für alle möglichen Zwecke verwendbar waren. So konnte ein großer, ovaler Abschlag wie der, den der Mann in unserem

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Der Steinwerkzeugtechnologie auf der Spur die steintechnologie ist so alt wie die menschheit selbst – ca. 2,5 millionen Jahre. grundsätzlich handelt es sich hierbei um einen linearen prozess: der steinschläger beschafft das rohmaterial, bereitet ein stück stein vor (den kern oder die knolle) und baut dieses dann sukzessive ab, indem er abschläge davon abtrennt. die ältesten artefakte sind scharfkantige abschläge, die für verschiedene Zwecke eingesetzt wurden. sie wurden mit nur wenigen schlägen eines geeigneten schlagsteins von ihrem ursprungsstück gelöst. doch selbst zur Fertigung dieser simplen artefakte braucht man das richtige gestein, die Fähigkeit, sich ein dreidimensionales werkzeug vorzustellen, sowie ein gefühl für die Eigenschaften des steins. sowohl neandertaler als auch cro-magnon-menschen wählten sehr feines, dichtes gestein wie Feuerstein oder andere harte, homogene mineralien zur herstellung ihrer artefakte. all diese steine brechen wie glas auf eine vorhersehbare art und weise, so dass sich gezielt abschläge abtrennen lassen. Zunächst benutzten die vorgeschichtlichen menschen hierfür schlagsteine. später verwendeten sie geweih, knochen oder holz, um damit die kanten ihrer Faustkeile auszuarbeiten (siehe abb. 2). mit diesem weicheren material ließen sich feinere abschläge erzeugen. 100 000 Jahre vor unserer Zeit waren die neandertaler einen schritt weiter: mittlerweile bereiteten sie die steinknollen vor, um einen oder mehrere abschläge hieraus zu gewinnen. damit dies funktionierte, musste der schlagpunkt (auch schlagfläche oder -basis genannt) sorgfältig vorbereitet werden, um einen präzisen schlag zu ermöglichen. das Ergebnis waren feinere abschläge in relativ einheitlich ausfallenden dreieckigen und anderen Formen, die als speerspitzen sowie für andere kompositwerkzeuge verwendet werden konnten. die cro-magnon-menschen verfeinerten diese technik sogar noch weiter mit in punchtechnik hergestellten, das heißt mithilfe von Zwischenstücken hergestellten klingen, die von konischen steinknollen abgeschlagen wurden – eine technik, die in kapitel 8 erläutert wird. sie verließen sich auf ein weitaus breiteres spektrum von spezialisierten werkzeugen. wie deuten wir nun diese sich wandelnde technologie und ihre Endprodukte, die dauerhaftesten aller archäologischen Funde? die in diesem Buch beschriebenen „typen“ von steinwerkzeugen basieren auf dem jeweils vermuteten originalverwendungszweck. wenn wir über schaber und steile, stark gewinkelte kanten sprechen, über scharfkantige spitzen und Bohrer, müssen wir uns diverser nachteile solcher Zuordnungen bewusst sein. Zum einen fußen solche klassifikationen zwangsläufig auf dem, was wir als Verwendungszweck annehmen, auch wenn wir wahrscheinlich instinktiv richtig liegen, zum anderen liegt es in der natur der steinwerkzeugtechnologie, dass sich kaum wirklich standardisierte werkzeuge als „massenware“ aus stein herstellen ließen, was bedeutet, dass wir ein riesiges spektrum an verschiedenen schaberformen haben, um nur ein Beispiel zu nennen. die besten klassifikationen von artefakten stammen von wissenschaftlern, die über eigene Erfahrungen in der herstellung von steingeräten aller art verfügen. der

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berühmte paläoanthropologe louis leakey war ein Experte in der herstellung von steinwerkzeugen, er war beispielsweise in der lage, antilopen mit steinabschlägen zu häuten. François Bordes konnte innerhalb von zwei minuten oder kürzerer Zeit einen kunstvollen Faustkeil fertigen. heute gibt es viele solcher Experten. Zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir so viel über die herstellung von steinwerkzeugen wie unsere eiszeitlichen Vorfahren, wenn nicht mehr. die moderne analyse dieser steinbearbeitungstechniken geht weit über das reine studium der werkzeugformen hinaus. Beobachten sie einmal jemanden, der steinwerkzeuge fertigt, und sie werden sehen, dass diese person in einem immer größer werdenden haufen von trümmern sitzt: Bröckchen, abschläge, als untauglich entsorgte steinknollen sowie fortgeworfenen schlagsteine. diese nebenprodukte der werkzeugherstellung sind ebenso informativ wie die artefakte selbst, insbesondere wenn man versucht, die abfallprodukte wieder zu der ursprünglichen steinknolle zusammenzusetzen. wissenschaftler, die sich hieran versuchen, besitzen eine endlose geduld. Es kann monate dauern, bis sie eine knolle wieder vollständig zusammengesetzt haben. manchmal erzielen sie außergewöhnliche Ergebnisse, indem sie beispielsweise anhand der schlagrichtung herausfinden, dass der steinbearbeiter linkshänder war. sie setzen hunderte von großen und kleinen Fragmenten einer einzigen steinknolle, die über einige Quadratmeter eines lagerplatzes verstreut lagen, zusammen oder untermauern mit ihren Ergebnissen, dass ein steinschläger an einem ort werkzeuge herstellte und die steinknolle dann zu einer nahen Feuerstelle trug, um dort eine klinge für einen anderen Zweck anzufertigen. woher kamen die steine? die natürlichen Vorkommen der steine zu finden, liefert uns wertvolle hinweise auf handel und mobilität. im rahmen petrologischer und spektrografischer analysen werden mikroskopisch dünnste stücke untersucht, um die speziellen Eigenschaften von gestein aus unterschiedlichen regionen festzustellen, die dann mit den aus ihnen gefertigten artefakten verglichen werden. Einige dieser steine wurden aus mehr als 80 kilometer Entfernung beschafft. Viele der an neandertaler- und cro-magnon-Fundstätten entdeckten gegenstände und abschläge zerbrachen schon während der kurzen Zeit ihres häufigen Einsatzes. Beide Völker verwendeten fast jedes von ihnen hergestellte werkzeug für mehrere Zwecke: zum töten von tieren, zum häuten, vielleicht zum Zerschneiden von leder oder zur holzbearbeitung. Viele dieser aktivitäten hinterließen charakteristische abnutzungsspuren an den schnittkanten, die sich unter dem mikroskop identifizieren und bestimmten arbeitsvorgängen zuordnen lassen. dazu werden die abnutzungsspuren mit den resultaten überwachter Experimente zu einer reihe von aktivitäten verglichen. Bei der analyse von abnutzungsspuren geht es aber nicht nur darum, einzelne artefakte zu untersuchen, auch wenn wir hierdurch natürlich erfahren, für welche arbeiten sie benutzt wurden. die bedeutsamsten Ergebnisse liefern uns vielmehr wesentlich größere Fundinventare, da hier mit statistischen Erhebungen die zufällige Zuweisung eines bestimmten Verwendungszwecks ausgeschlossen werden kann. wenige solcher studien sind bereits abgeschlossen.

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Beispiel fertigte, zum Schneiden oder Schaben verwendet werden, während Kernstücke mit einer anderen Ausgangsform kleinere, eher dreieckige Formen lieferten, mit denen sich hölzerne Speere bewehren ließen. Außerdem wiesen die meisten Abschläge vorbereiteter Knollen praktisch rundherum brauchbare Kanten auf. Die Werkzeuge der Neandertaler wurden sogar noch vielseitiger, als ihre Hersteller eine andere scheibenförmige Variante der Steinknolle zu benutzen begannen. Von dieser konnte der Werkzeugmacher nicht nur einen, sondern mehrere Abschläge abtrennen, die ungefähr dieselbe Größe und Form besaßen. Soweit wir wissen, waren dies die ersten relativ standardisierten Werkzeugrohlinge. Der gängigen Praxis folgend benannten die Archäologen des 19. Jahrhunderts diese Technik beziehungsweise den ihr zugehörigen Zeithorizont nach der Höhle von Le Moustier im Vézère-Tal, wo man sie zuerst entdeckt hatte, mit „Moustérien“ (siehe Kasten „Aurignacien, Gravettien, Solutréen, Magdalénien ...“ in Kapitel 6, in dem diese Bezeichnungen besprochen werden). Die Herstellung sämtlicher Steinwerkzeuge hing von zuverlässigen Bezugsquellen für qualitativ hochwertige Steine vulkanischen Ursprungs ab – je feiner, desto besser. Für Menschen wie die Neandertaler, die umfangreiches Wissen über ihre Lebensräume besaßen, gehörte das Aufspüren guter Steinvorkommen zum Alltag. Es fällt jedoch auf, dass sie offenbar kaum die Mühe auf sich nahmen, Gestein zur Werkzeugherstellung von entfernteren Orten zu beschaffen. Stattdessen verließen sie sich auf lokale Vorkommen. Wenn sie das Glück hatten, hochwertigen Feuerstein und andere ähnliche Steine zu finden, verwendeten sie die hieraus gefertigten Werkzeuge immer wieder. Sie schärften und modifizierten sie stets aufs Neue, bis sie schließlich unbrauchbar wurden und man sie wegwarf. Die Neandertaler benutzten Steinwerkzeuge zum Schneiden und Schaben sowie manchmal auch für ihre Waffen, darüber hinaus verraten uns glatt polierte Stellen an den Schnittkanten, dass sehr viele dieser Geräte zur Holzbearbeitung eingesetzt wurden. Gelegentlich mögen Jäger eine scharfe Speerspitze aus Stein angefertigt haben, die meisten ihrer Steinwerkzeuge scheinen sie jedoch zur Bearbeitung aller möglichen Gegenstände aus Holz benutzt zu haben. Wir wissen von den 400 000 Jahre alten Schöninger Waffenfunden, dass die Hersteller der Speere diese härteten, indem sie die Spitzen ankohlen ließen. Sie formten sie so, dass der Schwerpunkt nahe der Spitze lag, um ihnen Gewicht, eine weite Flugbahn sowie eine Drehbewegung in der Luft zu verleihen.

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Zweifelsohne taten die Neandertaler das Gleiche, denn der Speer war auch bei ihnen die einzig verfügbare Jagdwaffe. Die Neandertaler waren stark auf Stein und Holz angewiesen, aber nicht auf Knochen und Geweih. Sie trennten Steinabschläge ab, sie polierten und benutzten Schaber sowie Schneidewerkzeuge, aber ihnen fehlten die fein ausgearbeiteten Meißel, die ihre neuzeitlichen Nachfolger in die Lage versetzten, das technologische Potenzial von Geweih und Knochen ihres Jagdwilds auszuschöpfen. Von einigen wenigen Fundorten besitzen wir Knochen- oder Geweihfragmente, die benutzt wurden, um Abschläge von Steinen abzutrennen, sowie einige krude Geräte aus Knochen, aber wir finden hier nicht jene Kunstfertigkeit, die die feinen Artefakte der Cro-Magnon-Menschen auszeichnet. Die von den Neandertalern eingesetzte Stein- und Holztechnologie war sowohl ökonomisch als auch effizient und erreichte eine hohe Qualität. Sie war jedoch durch die kognitiven Fähigkeiten ihrer Anwender begrenzt. Das stumme Volk: Die Neandertaler waren überraschend „menschlich“ in der Gestaltung ihres Alltags, dabei jedoch einer vorzeitlichen Lebensweise verhaftet, die sich kaum verändert hatte seit ein paar Menschen vor Hunderttausenden von Jahren erstmals in Europa auf die Jagd gegangen waren. Sie ernährten sich von der Tierwelt, deren Teil sie waren, und sie unterlagen denselben ökologischen Zwängen wie ihre Beute. Manchmal fielen sie den an ihrer Seite lebenden Raubtieren zum Opfer. Ganz gewiss führten sie kein idyllisches Leben. Selbst einander eng verbundene Gruppen erlebten Konflikte und Spannungen, die auch mal zu Temperamentsausbrüchen und unweigerlich zu Handgreiflichkeiten führten – vielleicht ein Streit um die Führungsposition oder um Frauen. Es gibt aussagekräftige Spuren an Neandertalerknochen, die für interne gewalttätige Auseinandersetzungen sprechen. Selbst flüchtige Kontakte mit benachbarten Gruppen konnten Streit um Territorien oder – wieder einmal – um Frauen nach sich ziehen. Vielleicht wurden Speere geworfen, mit Keulen zugeschlagen und Männer blieben verwundet oder tot am Boden liegen. Solch ein Verhalten dürfte instinktgesteuert gewesen sein, so wie konkurrierende Tiere ihre Jungen oder ihre Reviergrenzen verteidigen – mit dem Unterschied, dass starke Emotionen manchmal eine Rolle gespielt haben dürften. Einige Neandertaler verzehrten auch Menschenfleisch. Vor zwischen 120 000 und 100 000 Jahren besuchte eine Gruppe zu Beginn der letzten Vergletscherung die 800 Meter über der Rhone gelegene Moula-Guercy-Höhle in der Ardèche im Südosten Frankreichs. Drei Feuerstellen und ein grob angelegter Steinwall bezeugen ebenso wie Steinschaber, andere Gegenstände und die

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Knochen von Rotwild und Wildziegen, dass die Höhle zeitweise bewohnt war. Zudem fand man 78 menschliche Knochen von mindestens sechs Individuen, unter anderem von zwei Kleinkindern. Die zertrümmerten Knochenstücke lagen über drei Meter verstreut bei den anderen Abfällen und wiesen fast alle die gleichen Bearbeitungsspuren auf wie die Rotwildknochen – zahlreiche Schnittspuren und durch Zertrümmern beigefügte Brüche, um an Knochenmark und Hirn zu gelangen; poröse Knochen waren zerrieben worden; außerdem konnten durch das Abziehen von Fleisch verursachte Spuren nachgewiesen werden. Die Opfer wurden entfleischt und ihre Skelette zerlegt, bevor man ihre Knochen auf einen Amboss legte und sie mit kräftigen Schlägen öffnete. In der nordspanischen Höhle von El Sidrón fand man die Überreste von mindestens neun Neandertalern in einer Kalksteinhöhle. Kurze Zeit nachdem sie vor 43 000 Jahren gestorben waren, wurden ihre Körper in der Tiefe begraben, als der Boden unter ihnen nachgab. Die Knochen fünf junger Erwachsener, zweier Jugendlicher, eines etwa achtjährigen Kindes und eines Kleinkindes lagen kreuz und quer durcheinander. Wie man den Schichten ihres Zahnschmelzes entnehmen konnte, hatten sie alle an Unterernährung gelitten. Sie waren alle zerlegt worden, um an ihr Gehirn und ihr Knochenmark zu gelangen.7 Fast ein Jahrhundert hat man die Neandertaler aufgrund der Funde zertrümmerter Knochen an anderen Orten einschließlich Krapina in Mähren (Tschechische Republik) des Kannibalismus bezichtigt, obwohl die dort lebenden Menschen die menschlichen Knochen nur gesäubert hatten, vielleicht um sie anschließend zu bestatten. Jedenfalls hatten sie kein Knochenmark entnommen. Warum also verdächtigte man sie des Kannibalismus? Verzehrten die Neandertaler regelmäßig, wenn auch selten, Menschenfleisch? Oder handelte es sich um gelegentliche Vorkommnisse, Bestandteile einfacher Totenrituale, in denen die Lebenden vielleicht Kraft von den gerade Verstorbenen bezogen? Wir werden es nie erfahren. Wir wissen aber, dass die Neandertaler die ersten Menschen waren, die ihre Toten begruben, auch wenn sie es möglicherweise aus praktischen Gründen taten, um die Leichname vor Raubtieren zu schützen.8 Die Bestattungen selbst verraten uns nur wenig. Die meisten Neandertalergräber fand man in verlassenen Siedlungsschichten in Höhlen und unter Felsvorsprüngen. Einige der Gräber enthielten steinerne Werkzeuge oder Teile von Tierknochen, aber diese könnten auch versehentlich zusammen mit der Leiche vergraben worden sein, als man die Grube füllte. Trotz gegenteiliger Behauptungen, mit denen wir uns an dieser Stelle nicht aufhalten wollen, gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass ein Begräbnis bei den Neandertalern mehr

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darstellte als eine praktische Methode, die Verstorbenen zu beseitigen, sowie im Wesentlichen eine dem Selbstschutz dienende Maßnahme, insbesondere im Winter, da in Höhlen lebende Menschen oft von Raubtieren heimgesucht wurden. Ein Grund für den offensichtlichen Mangel an Ritualen mag darin liegen, dass die Neandertaler der vollständig artikulierten Sprache nicht mächtig waren und so der ständige, mit Konversation einhergehende Austausch fehlte. Dessen ungeachtet kommunizierten sie auf der praktischen Ebene sicherlich sehr effektiv. Das mussten sie auch, denn der Jagderfolg hing von funktionierender Kommunikation ab. Die Neandertaler besaßen Gehirne, die so groß waren wie die moderner Menschen, dennoch verhielten sie sich ganz anders. Opportunistisch jagend und sammelnd durchstreiften sie die Landschaft in einer Weise, die uns vermuten lässt, dass sie größtenteils ohne Sprache lebten. Sie nutzten ihre Gehirne auf ihre eigene Art und verfügten über ein komplexes Kommunikationssystem, das sich über Tausende von Jahren hinweg durch Selektionsdruck entwickelt hatte. Kooperatives Verhalten zu fördern und zu verbessern muss ein wichtiger Teil des Neandertalerlebens gewesen sein. Der Archäologe Steven Mithen hat eine provokante Theorie über die Kommunikation der Neandertaler entwickelt. Er glaubt, dass sie gemeinsam Musik machten – ein einfaches Summen oder rhythmisches Wiederholen von Lauten, vielleicht begleitet von einem Tanz –, um auf diese Weise die Interaktion und Kooperation bei künftigen Jagdaktivitäten zu fördern.9 Mithen ist überzeugt, dass eine Veranlagung zum Musikmachen und -hören bereits seit sehr langer Zeit im menschlichen Erbgut verankert ist. Sprache überträgt Informationen, Musik drückt Gefühle aus und überträgt sie. Aus diesem Grund, so argumentiert er, könnte Musik eine der Grundlagen des Neandertalerdaseins gewesen sein. Mithen nennt das Kommunikationssystem der Neandertaler „Hmmmmm“ – „holistisch, manipulativ, multimodal, musikalisch und mimetisch“. Er ist überzeugt, dass sich rudimentäre Formen dieses Systems schon wesentlich früher herausgebildet hatten, die Neandertaler es jedoch bis zu einem bemerkenswert fortgeschrittenen Niveau weiterentwickelten – so weit, dass sie es schafften, eine Viertelmillion Jahre selbst in Zeiten dramatischer Umweltveränderungen zu überleben. Mithen beschreibt sie bündig als die „singenden Neandertaler“. Ihre Lieder hatten keine Worte, waren aber sehr emotional. Es gab die Themen „glückliche Neandertaler“, „neidische Neandertaler“, „Neandertaler mit Schuldgefühlen“, „traurige Neandertaler“ und „verliebte Neander-

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taler“. Mithen geht davon aus, dass solche Emotionen wichtig für sie waren, weil ihre Lebensweise nicht nur das ständige und informierte Treffen von Entscheidungen erforderte, sondern auch umfassende soziale Kooperation. „Hmmmmm“ ist natürlich nicht mehr als eine intelligente Spekulation, aber das Konzept ist logisch und einleuchtend. Die Neandertaler lebten wie ihre Vorfahren in kleinen Gruppen verstreut über eine riesige und abwechslungsreiche Landschaft. Sie hatten kaum jemals Kontakt mit Fremden und kannten einander sicherlich auf sehr intimer Ebene – durch die Familiengeschichte und soziale Beziehungen sowie aufgrund alltäglicher Aktivitäten. Große Treffen, Fernhandelsbeziehungen und spezialisierte Aktivitäten wie die Fertigung maßgeschneiderter Kleidung kannten sie – im Gegensatz zu ihren Nachfolgern – nicht. Besaßen die Neandertaler die Fähigkeit, komplexe Informationen von einer Generation an die nächste weiterzugeben? Wie Musik ist auch Sprache nicht fassbar. Sie lässt sich nur indirekt studieren, indem man sich insbesondere winzige Knochen wie das Zungenbein ansieht, das mit dem Knorpel des Kehlkopfes verbunden ist, an dem wiederum die zum Sprechen benötigten Muskeln befestigt sind. Nur ein einziges Zungenbein eines Neandertalers wurde bisher gefunden, das zu einem 63 000 Jahre alten Skelett aus der israelischen KebaraHöhle gehört. Es lag tiefer im Hals als das Zungenbein des Homo sapiens.10 Die Maße des Hypoglossuskanals, durch den die vom Gehirn zur Zunge führenden Nerven laufen, entsprechen dagegen jenen moderner Menschen. Ebenso ist der Kanal in den Brustwirbeln, der die Zwerchfell und Atmung steuernden Nerven beherbergt, ähnlich gebaut. Dank dieses Befundes wissen wir, dass die Neandertaler die gleiche motorische Kontrolle über ihre Zunge und ihre Atmung hatten wie wir. Auch scheinen sie identische Strukturen zur Wahrnehmung von Lauten und einen Teil der zum Sprechen erforderlichen „Hardware“ besessen zu haben. In den Knochen von zwei der in El Sidrón gefundenen Neandertaler ließ sich zudem das Forkhead-Box-Protein P2 (FOXP2) nachweisen, das zur Sprachfähigkeit und zum Spracherwerb beiträgt, indem es sowohl das Gehirn als auch die Nerven beeinflusst, die die Gesichtsmuskulatur steuern. All diese anatomischen Merkmale legen nun die Vermutung nahe, dass die Neandertaler nicht fließend sprechen konnten (die Kommunikation bestand eher aus Gesten und einzelnen Worten). Mithen argumentiert, dass sie dank „Hmmmmm“ keine neuen Formen der Äußerung, wie Sprache sie darstellt, benötigten: „Sie hatten nicht viel zu sagen, was nicht entweder schon viele Male zuvor gesagt worden war oder nicht durch eine Veränderung der Intonation,

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des Rhythmus, der Tonhöhe, Melodie und begleitenden Gesten im Rahmen ihrer größtenteils allgemeinverständlichen, einfachen Äußerungen hätte ausgedrückt werden können.“11 Mithen glaubt, dass wir einige Plätze identifizieren können, an denen Neandertaler tanzten und Musik machten, wie beispielsweise eine tiefe Kammer, die einige hundert Meter vom Höhleneingang der südfranzösischen BruniquelHöhle entfernt liegt. Der etwa fünf Meter mal vier Meter große Raum wird von Stalaktiten und Stalagmiten eingefasst. Hier tanzten und sangen die Neandertaler möglicherweise im Schein eines Feuers oder flackernder Fackeln. Der Klang muss von den Wänden widergehallt und ein Echo in den dunklen Gewölben erzeugt haben, während ihre Schatten an den Wänden erschienen und wieder verschwanden. Ein in der Mitte des Raumes gefundenes Fragment eines Bärenknochens wurde auf ein Alter von 47 600 Jahren datiert. Die Wände der Bruniquel-Höhle hätten eine hervorragende „Leinwand“ für Höhlenmalereien oder -ritzereien abgegeben, aber man hat dort keine Kunst entdeckt. Einige andere Fundorte zeichnen sich dadurch aus, dass die Neandertaler auf sehr engem Raum siedelten, während sich in unmittelbarer Nähe freie Flächen befanden, wo sie – vielleicht – tanzten. Aber das ist natürlich reine Spekulation. Generationen von Archäologen ist es – von einigen mit Kratzern versehenen Knochen und Steinen einmal abgesehen – nicht gelungen, irgendwelche absichtlich bearbeiteten Objekte der Neandertaler zu finden, die man als Kunst oder Artefakte mit einer über ihre Form hinausgehenden symbolischen Bedeutung bezeichnen könnte. Möglicherweise haben die Neandertaler ihre Körper mit einer Mischung aus Manganoxid und Wasser oder anderen Flüssigkeiten bemalt. Körperbemalungen besitzen jedoch nicht zwangsläufig symbolische Bedeutung. Sie können als Tarnung auf der Jagd oder zur Aufwertung der eigenen Erscheinung, vielleicht um attraktiver zu wirken, eingesetzt worden sein. Denkbar ist, dass die Neandertaler Tieren, Bäumen, auffälligen Landmarken und anderen markanten Erscheinungen der Natur symbolische Bedeutung beimaßen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie dies auf einer höheren als der grundlegendsten Ebene taten, denn um Objekten – gleich welcher Art – derartige Bedeutungen zuzuschreiben, benötigt man Sprache. Wir tun das jeden Tag. Selbst wenn ich an meinem Computer sitze, fallen mir auf Anhieb mindestens sechs Objekte mit symbolischer Bedeutung ins Auge. Mithen argumentiert, es sei kaum vorstellbar, dass die Neandertaler mehr als 200 000 Jahre existierten, ohne eine Form der Kommunikation wie zum Beispiel Hmmmmm für diesen Zweck genutzt zu haben, zumal sie in einer Umwelt

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lebten, die hohe Anforderungen an sie stellte und in der sie oft nur knapp überleben konnten. Das Hauptargument gegen eine Sprachentwicklung ist die lange Stabilität der Neandertalerkultur. Die von ihnen gefertigten Werkzeuge und ihre Lebensweise existierten quasi unverändert von vor 250 000 bis vor 30 000 Jahren. Sprache ist ein Mittel zur Veränderung und zum Austausch von Ideen, durch sie entstehen komplexe Gedankengänge. Sicher war die Kultur der Neandertaler extrem vielfältig und ihr Verhalten komplex. Sie wussten gute Steine für die Werkzeugherstellung zu schätzen und vermutlich ebenso anderes Rohmaterial, aber es gab keine Innovationen, nur ein kleines Repertoire uralter Technologien, die über Tausende von Jahren ihr Überleben sicherten. Kein Neandertaler erfand jemals Nadel und Faden, eine Harpune oder Pfeil und Bogen. Solche Erfindungen waren die Domäne der Sprache verwendenden modernen Menschen. Doch wie funktionierte der Verstand der Neandertaler? In mancher Beziehung erscheinen uns die Neandertaler ausgesprochen modern. Sie fertigten komplexe Artefakte, machten Jagd auf alle möglichen Tierarten und überlebten trotz gewaltiger Klimaumschwünge über mehr als 200 000 Jahre hinweg. Dennoch fehlte ihnen die Fähigkeit zu sprechen und ihre Kultur blieb über Hunderttausende von Jahren praktisch unverändert. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sie Symbole und theoretische Konstrukte verstanden. Mithen hat hierzu eine andere Theorie.12 Er ist der Ansicht, dass die Neandertaler etwas besaßen, was er als „domänenspezifische Intelligenz“ bezeichnet. Sie verfügten über einen enormen Fundus an Wissen über die Natur und reagierten auf diese in fast moderner Art und Weise. Sie waren sehr geschickt darin, komplizierte Werkzeuge zu fertigen; ihre sozialen Beziehungen waren sowohl komplex als auch beständig. Aber sie waren zu keiner Zeit in der Lage, ihr handwerkliches Geschick einzusetzen, um Artefakte zur Verhandlung sozialer Beziehungen herzustellen, wie beispielsweise Kleidung oder Schmuck. Auch entwarfen sie keine speziellen Jagdwaffen und schufen keine aus mehreren Komponenten bestehenden Artefakte, wie es die modernen Menschen taten, weil sie außerstande waren, ihre technischen Kenntnisse und ihr Wissen über das Jagdwild in einem gemeinsamen konzeptionellen Gedankengang zu vereinen. Wie Mithen betont, fehlten den Neandertalern die zusätzlichen neuralen Schaltkreise im Gehirn, die Werkzeugfertigung, Sozialverhalten und Interaktionen mit der Natur verknüpft hätten. Der Archäologe Thomas Wynn und der Psychologe Frederick Coolidge vermuten, dass diese fehlenden Schaltkreise

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mit dem Arbeitsgedächtnis verwandt sind, das ihnen erlaubt hätte, gleichzeitig verschiedene Informationstypen aktiv zu verarbeiten.13 Aus diesem Grund, so nimmt Mithen an, drückten die Neandertaler komplexe Emotionen und Informationen über die Natur durch komplizierte kultisch-symbolhafte Gesten, Tanz und die Nachahmung von Lauten und Gesang aus, aber ihr Kommunikationssystem bestand aus weitegehend festgelegten Äußerungen, die dazu beitrugen, konservative Gedanken und eine statische Kultur aufrechtzuerhalten. Das Leben der Neandertaler war geprägt von Entscheidungen über Leben und Tod. Solche Entscheidungen betrafen jeden Aspekt des täglichen Lebens: Wo sollte man auf die Jagd gehen und wann? Welche Tiere sollte man verfolgen und wer taugte als potenzieller Jagdpartner? Wer passte auf die Säuglinge, die Schwerverletzten oder die Kinder einer Person auf, die bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war? Solche Entscheidungen erforderten nicht nur die Verarbeitung von Informationen, sondern auch die Fähigkeit zu empfinden. Das Treffen optimaler Entscheidungen basiert auf Gefühlen, was bedeutet, dass die Neandertaler wahrscheinlich ausgesprochen emotionale Menschen waren, die ihr Empfinden durch Gesten und Laute ebenso wie durch Körpersprache ausdrückten. Ihr Überleben hing von der Kooperation bei der Jagd oder beim Sammeln pflanzlicher Nahrung ab und davon, dass man sich um das Wohlergehen jedes Gruppenmitglieds kümmerte. In einer Welt seltener Kontakte mit Außenstehenden – die es gleichwohl gegeben haben muss, um den Genpool gesund zu erhalten und das Überleben der Gruppen als soziale Einheiten zu gewährleisten – war es von großer Bedeutung, eine soziale Identität herzustellen und zu bewahren. Vielleicht wurde dies durch gemeinsames Singen und Tanzen erreicht. Vor etwa 45 000 Jahren sollte sich das gleichförmige Leben dieses Volkes dramatisch ändern: Die Cro-Magnon-Menschen erschütterten die Grundfeste der Neandertalerkultur.

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Kapitel 5 Die 10 000. Großmutter

„Stellen Sie sich eine Tafel vor, die für ein Dinner mit eintausend Gästen gedeckt ist. Jeder Mann sitzt zwischen seinem Vater und seinem Sohn. An einem Ende des Tisches sitzt vielleicht ein Nobelpreisträger im Frack mit weißer Fliege und dem Verdienstorden der Ehrenlegion am Revers. Am anderen Ende sitzt ein in Tierfelle gekleideter Cro-Magnon-Mann mit einer Kette aus Höhlenbärenzähnen um den Hals. Jeder von ihnen wäre in der Lage, sich mit seinen direkten Sitznachbarn zu unterhalten, da es sich entweder um seinen Vater oder seinen Sohn handeln würde. Folglich ist der Abstand zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart nicht wirklich groß.“1 Das hypothetische Bankett des verstorbenen finnischen Paläontologen Björn Kurtén lässt uns am selben kognitiven Tisch Platz nehmen wie die CroMagnon-Menschen, selbst wenn man tatsächlich 2000 Gäste zu diesem Zweck einladen müsste. Eine große kulturelle Kluft trennt den Nobelpreisträger von dem in Felle gekleideten Gast am anderen Ende des Tisches, aber sie besitzen die gleichen kognitiven Fähigkeiten. Beide sind Homo sapiens, der „wissende Mensch“. Wir „wissenden“ oder „weisen“ Menschen verfügen über beachtliche intellektuelle Fähigkeiten und logisches Denken. Wir sprechen fließend und gewählt. Wir kommunizieren nicht nur über praktische Dinge, sondern projizieren auch eine Unzahl von Gefühlen, subtilen Bedeutungen und Emotionen. Wir planen im Voraus und setzen uns mit unserer Umwelt auseinander, während wir mit ihr interagieren. Wir verhandeln miteinander, kooperieren, streiten und verlieben uns. Wir kämpfen und wir hassen und sind vor allen Dingen Opportunisten, aber auch innovativ. Wir erfassen die Welt über symbolische Begriffe. Wir sind Menschen mit einem Bewusstsein und der Erkenntnis über das eigene Ich, die jeden Teil unseres Lebens beeinflussen. In seinem Werk Man’s Place in Nature verglich Thomas Henry Huxley Neandertaler und afrikanische Affen. Huxleys Essay wurde 1863 veröffentlicht, kurze Zeit nach der sensationellen Entdeckung des Neandertalerschädels, aber noch vor den Cro-Magnon-Ausgrabungen im Jahr 1868, die die neuzeitlichen Nachfolger des sehr viel älteren Menschentyps zutage förderten. Ganze Generationen von Wissenschaftlern nahmen an, dass die Cro-Magnon-Menschen weltweit die ersten modernen Menschen waren und die Neandertaler ihre Vor-

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di E 10 000. grossm ut tEr

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fahren. Diese Wissenschaftler lebten in einer ethnozentrischen Welt, die nur auf Europa – die Geburtsstätte der modernen industrialisierten Zivilisation – blickte. Für sie drehte sich die Frage aller Fragen um die frühe Abstammung des Menschen und das mutmaßlich „fehlende Bindeglied“ zwischen Affe und Mensch. In seinem acht Jahre später veröffentlichten Werk The Descent of Man (deutscher Titel: Die Abstammung des Menschen) verwies Charles Darwin auf Afrika als mögliche Wiege der Menschheit. Anderthalb Jahrhunderte später besitzen wir gesicherte Erkenntnisse, dass die Menschheit vor 2,5 Millionen Jahren südlich der Sahara entstand. Viele Einzelheiten sind weiterhin ungeklärt, aber wir haben Huxleys fundamentalste Fragen über unseren ultimativen Ursprung beantwortet. Heute dreht sich die Frage aller Fragen zu den Anfängen der Menschheit nicht länger um die ersten Menschen, sondern um ein anderes Rätsel von grundlegender Bedeutung: Wo, wann und wie tauchte Homo sapiens erstmals auf? Wir können die Cro-Magnon-Menschen nicht verstehen, ohne zu wissen, woher ihre Vorfahren stammten. Wie in Kapitel 1 bereits erwähnt, verlagerte sich die Suche nach dem Ursprung der modernen Menschen vor dem Zweiten Weltkrieg von Europa in den Nahen Osten. Im Jahr 1929 legte Dorothy Garrod, eine Archäologin der britischen Universität Cambridge, eine Reihe von Höhlen in den Hängen des Berges Karmel nahe der Küste des heutigen Israels frei (Karte 3).2 Garrod war eine erfahrene Höhlenausgräberin, und sie kannte die Cro-Magnon-Artefakte aus den europäischen Felsstationen sehr gut. Im Laufe einer Reihe von Grabungskampagnen, die sie mit einem äußerst mageren Budget finanzierte, ergrub sie zwei Höhlen: Mugharet el-Wad und etTabun. Als sie im Zuge ihrer Arbeiten in der el-Wad-Höhle immer tiefer ins Erdreich vordrang, legte sie erst von Homo sapiens hinterlassene Siedlungsschichten frei, dann die von noch früheren Jägern, die wie die Neandertaler die Technologie des Moustérien anwandten. In der Fundstätte et-Tabun konnten sogar eine einzelne Neandertalerbestattung und ein noch früherer Zeitabschnitt nachgewiesen werden. Erst Neandertaler, dann neuzeitliche Menschen: Die beiden Höhlen im Karmel gaben nichts Überraschendes frei. Doch dann ergrub der Anthropologe Ted McCown von der American School of Prehistoric Research in Cambridge, Massachusetts (USA) eine wenig einladende, etwa 100 Meter östlich von el-Wad liegende Felshöhle namens es-Skhul.3

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kapitEl 5

Nordatlantik

Mittelmeer

SAHARA

Berg Karmel, Qafzeh

mögliche Wanderrouten Golf von Aden

Omo Kibish Herto

Olduvai-Schlucht Tanganijikasee

Atlantik

Malawisee

Indischer Ozean

Sibudu Klasies River Blombos

karte 3: die karte zeigt einige der in den kapiteln 5 und 6 genannten orte sowie einige mögliche routen aus afrika heraus.

Er legte mindestens acht Bestattungen frei, denen Neandertalerwerkzeuge beilagen. Die Skelette von Skhul ruhten in Hockerstellung in kleinen Gräbern, und ihre Knochen standen in auffallendem Kontrast zu denen der aus Europa bekannten Neandertaler. Dies waren schlanke Menschen gewesen, die offenbar vor ca. 40 000 Jahren gelebt hatten und deren Knochen eine Mischung aus archaischen und neuzeitlichen Merkmalen aufwiesen. McCown und Garrod glaubten, dass sie das Übergangsstadium vom Neandertaler zum modernen Menschen darstellten und sich die entscheidende Entwicklung vom vorzeitli-

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chen zum neuzeitlichen Menschen nicht in Europa, sondern im Nahen Osten vollzogen habe. 1938 veröffentliche Garrod einen berühmten Aufsatz, in dem sie argumentierte, der Ursprung der Cro-Magnon-Menschen liege in dieser Region. Von dort aus seien sie in kleiner Zahl nach Mittel- und Westeuropa gewandert und hätten neue Technologien und Jagdmethoden mitgebracht.4 Die Funde von Skhul lenkten die Aufmerksamkeit auf den Nahen Osten. Garrods Theorie schien noch untermauert zu werden, als der französische Archäologe Bernard Vandermeersch 1965 mindestens sieben Homo sapiens-Gräber in einer Neandertalersiedlungsschicht in der riesigen Qafzeh-Höhle im Hinterland von Haifa (Israel) freilegte. Dies blieb der Status quo, bis die mitochondriale DNS und unsere 10 000. Großmutter auf der Bildfläche erschienen. Die Sensation war perfekt, als die Molekularbiologen Rebecca Cann, Mark Stoneking und Alan Wilson 1987 im Wissenschaftsjournal Nature ihre bahnbrechende Studie veröffentlichten.5 In ihrem Bericht präsentierten sie die Ergebnisse aus sieben Jahren Forschung, in denen sie mitochondriale DNS aus der Plazenta von Neugeborenen gesammelt hatten. Ihre Proben stammten von 147 Individuen, deren Vorfahren in Afrika, Asien, Europa und Neuguinea gelebt hatten. Nach einer langwierigen Aufbereitung im Labor wurden anhand der Proben 133 unterschiedliche Typen mitochondrialer DNS (mtDNS) identifiziert. Einige Kinder besaßen einander sehr ähnliche Sequenzen, als ob sie vor Jahrhunderten eine gemeinsame Großmutter gehabt hätten. Andere hatten eine Ahnin gemeinsam, die vor Tausenden von Jahren gelebt hatte. Im Abstract zu ihrer Arbeit schrieben die drei Genetiker: „Sämtliche dieser mitochondrialen DNS-Sequenzen gehen auf eine einzige Frau zurück, von der wir annehmen, dass sie vor etwa 200 000 Jahren lebte, wahrscheinlich in Afrika.“ Natürlich tauften die Wissenschaftsjournalisten diese schemenhafte Ahnin sofort „Afrikanische Eva“. Sie erklärten, dass sie unsere Vorfahrin in der 10 000. Generation gewesen sei, obwohl sie natürlich selbst einer sehr kleinen Population angehörte. Die Nature-Veröffentlichung löste hitzige Debatten und Kontroversen aus. Die Anthropologen teilten sich in zwei Lager: Die „Multiregionalisten“ gingen davon aus, dass sich Homo sapiens in verschiedenen Regionen der Alten Welt aus früheren Menschentypen entwickelt hatte. Ihre Gegner waren auf der Seite der Genetiker und befürworteten die Hypothese, der Ursprung von Homo sapiens habe im tropischen Afrika gelegen und von dort aus habe sich der moderne Mensch dann in der Welt der ausgehenden Eiszeit verbreitet. Eine Generation später legte sich die Aufregung angesichts neuer, sogar noch komplizierterer

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Adam und Eva auf der Spur – mitochondriale DNS und Y-Chromosomen seit den 1980er Jahren erforschen molekularbiologen die herkunft des modernen menschen sowie die genetische geschichte moderner populationen. dabei haben sich zwei Forschungsansätze als zielführend erwiesen: Bei dem ersten handelt es sich um den Vergleich genetischer Variationen zwischen heute lebenden Bevölkerungsgruppen mit dem Ziel, den letzten gemeinsamen Vorfahren jedes heute lebenden menschen zu finden. der zweite ansatz widmet sich der isolierung von dns-sequenzen aus Homo sapiens-Fossilien und solchen vorzeitlicher menschen wie den neandertalern. molekularbiologen erstellen phylogenetische Bäume, die auf daten basieren, die aus verschiedenen abschnitten des genoms bestehen, sowie auf abweichungen innerhalb dieser systeme, die man in heute lebenden gesellschaften beobachten kann. in den meisten Fällen werden abweichungen in den dns-sequenzen verwendet, um die stammbäume zu erstellen, wobei der früheste gemeinsame Vorfahr an dem punkt abgebildet wird, von dem alle Äste des Baums abzweigen. den ursprünglichen gemeinsamen Vorfahren mithilfe des phylogenetischen Baums zu finden, ist letztlich eine Übung in statistischer wahrscheinlichkeit, die unter anderem auf annahmen über die populationsgröße fußt. den frühesten träger des gemeinsamen Erbguts zu finden, ist eine sache, eine andere ist es, ihm oder ihr eine datierung zuzuweisen. hierzu muss der Forscher das tempo der genetischen Veränderungen errechnen und eine molekulare uhr kalibrieren. man darf nicht unerwähnt lassen, dass die phylogenetischen Bäume keinerlei hinweise auf an der Entstehung unserer spezies beteiligte Veränderungen des körperbaus oder Verhaltens liefern. hier kommen die archäologie und die skelettanatomie ins spiel. die genetischen Bäume werden überwiegend durch das studium mitochondrialer dns-abweichungen unter heute lebenden personen erstellt. mitochondrien sind die motoren der Zellen, die nährstoffe und wasser in Energie umwandeln. sie behalten ihre spezifische dns außerdem über Zehntausende von Jahren hinweg bei. die mitochondriale dns besitzt über 16 000 paarige nukleotid-untereinheiten (Basen), die sehr viel einfacher zu analysieren sind als dns aus Zellkernen. Überdies hat sie einen unschlagbaren Vorteil: sie wird nur von der mutter vererbt, und zwar vollständig von einer generation auf die nächste. dieser umstand erlaubt es den wissenschaftlern, sich ausschließlich auf die durch mutationen verursachten Veränderungen zu konzentrieren. indem sie die Zahl der mutationen auswerteten, die in der dns von primaten stattfanden, deren evolutionäre abspaltung vor millionen von Jahren über fossile knochen nachgewiesen ist, entwickelten die wissenschaftler eine molekulare uhr für die mtdns. mitochondriale dns mutiert viel schneller als genetisches material aus Zellkernen und verändert sich alle 100 Jahre. dadurch kann man sie als messinstrument für kurzfristige evolutionäre Entwicklungen verwenden und insbesondere als Zeitmesser dafür, wann sich die modernen menschen von einem gemeinsamen Vorfahren weg-

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zuentwickeln begannen. rebecca cann und ihre kollegen veröffentlichten einen Evolutionsbaum, der zeigt, dass der ursprung der modernen menschen (Homo sapiens) in afrika liegt, wo sie vor zwischen 180 000 und 90 000 Jahren entstanden. in jüngerer Zeit von dem molekularbiologen michael ingman und anderen durchgeführte analysen des gesamten mtdns-genoms bestätigten die Ergebnisse der ersten studie.6 wir wissen jetzt, dass drei der am weitesten zurückreichenden Zweige des mtdns-Baums ausschließlich afrikanisch sind, während der nächstältere eine mischung aus afrikanern und nichtafrikanern zeigt. alle nichtafrikanischen dns-Zweige gehen ungefähr gleich weit zurück. ingman und seine kollegen glauben, dass sich die mtdns-linie bereits eine Zeit lang in afrika etabliert hatte, bis eine kleine gruppe von menschen aus afrika auszog. Es gab einen Bevölkerungsengpass, gefolgt von einer Zunahme der population. alle späteren Erblinien des europäischen und des asiatischen Homo sapiens entstammen ursprünglich dieser kleinen afrikanischen Bevölkerung. die Forscher konnten auch die chronologie präzisieren und datierten den frühesten gemeinsamen Vorfahren auf vor 171 500 Jahre (+/– 50 000 Jahre). der früheste Zweig, der sowohl afrikaner und nichtafrikaner umfasst, ist 52 000 Jahre alt (+/– 27 500 Jahre). die Y-chromosomen sind in vielerlei hinsicht das männliche pendant der mtdns. das Y-chromosom wird über generationen hinweg vererbt, aber in der männlichen linie. Ein großteil des chromosoms wird im Verlauf der meiose neu kombiniert, das heißt, gene werden neu angeordnet. die teile des chromosoms, die dies nicht tun, werden zur konstruktion phylogenetischer Bäume herangezogen. in einem richtungsweisenden, im Jahr 2000 veröffentlichten aufsatz legten 20 wissenschaftler ihre weltweite untersuchung von Y-chromosomen vor, an der männer aus dutzenden Bevölkerungsgruppen auf jedem kontinent teilgenommen hatten. unter Verwendung derselben methoden, wie sie bei früheren mtdns-studien zum Einsatz gekommen waren, konstruierten sie einen männlichen stammbaum, der auf abspaltungen in der geschichte der chromosomen basiert. das resultat war das gleiche wie für die mtdns: auch dieser Baum hat seine wurzeln in afrika. allerdings lebte der „afrikanische adam“ nicht vor 150 000, sondern erst vor 59 000 Jahren – mehr als 80 000 Jahre später als die afrikanische Eva. Es mag sein, dass sich diese Einordnung als zu jung erweist, doch wie dem auch sei, so liefert uns die molekularbiologie letztlich einen überzeugenden Zeitrahmen für den ursprung von Homo sapiens in afrika vor mehr als 150 000 Jahren.

Sachverhalte, die sich aus der Erforschung sowohl der mtDNS als auch des YChromosoms ergaben. Die genetische Beweislage ist eindeutig: Homo sapiens ging vor etwa 170 000 Jahren in Afrika aus einer Population gemeinsamer Vorfahren hervor.7 Die Afrikanische Eva ist eine fiktive Person, ein Produkt der Molekularbiologie, die uns mithilfe der mitochondrialen DNS zeigt, dass wir alle – wo auch

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immer wir leben – ursprünglich afrikanischer Abstammung sind. Falls solch eine Person tatsächlich existierte, ist sie dunkelhaarig und dunkelhäutig gewesen, Mitglied einer kleinen Gruppe von Jägern und stark genug, um Fleisch mit bloßen Händen zu zerreißen und schwere Lasten zu tragen. Sie war weder die einzige Frau auf der Erde noch war sie die attraktivste oder die mit den meisten Kindern. Aber sie war so fruchtbar, dass sie eine gewisse Menge ihrer Gene an jeden heute lebenden Menschen weitervererbte. Die Molekularbiologie hat den Ursprung der Cro-Magnon-Menschen bis weit ins tropische Afrika hinein aufgespürt, bis in den Lebensraum der hypothetischen Afrikanischen Eva. Das genetische Rahmenwerk ist plausibel, aber wie kann die Archäologie dazu beitragen, es zu untermauern? Als Bernard Vandermeersch die israelische Qafzeh-Höhle ergrub, ging er ursprünglich davon aus, dass die neuzeitlich anmutenden menschlichen Bestattungen dort ca. 40 000 Jahre alt wären. Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Canns Forschungsergebnissen untersuchten dann jedoch französische und israelische Wissenschaftler Steinabschläge von dieser Fundstätte mit der Thermolumineszenzmethode. Ihre Untersuchungen ergaben ein Alter von etwa 92 000 Jahren.8 Auf einen Schlag wurde damit die gesamte Chronologie der Homo sapiens-Geschichte im Nahen Osten um 50 000 Jahre weiter in die Vergangenheit verschoben. Vor einiger Zeit wurden schließlich auch die Bestattungen aus der es-SkhulHöhle neu datiert; sie gehören in nahezu denselben Zeitabschnitt und sind damit ebenfalls sehr viel älter als ursprünglich geschätzt (das ursprüngliche Alter lag bei 40 000 Jahren). Auf der Grundlage der mtDNS-Daten und der Neudatierung der QafzehFunde entstanden nun neue Theorien, die auf der Annahme basieren, dass sich Homo sapiens vor 150 000 Jahren im tropischen Afrika entwickelte und vor 100 000 Jahre im Nahen Osten ausbreitete.9 Doch warum kam es zu solchen Wanderungen der Bevölkerung? Eine Theorie lautet, dass die Küste des Nahen Ostens zu Lebzeiten der Menschen von Qafzeh ein Teil Nordostafrikas war, der damals besser als heute mit Wasser versorgt und sowohl von Arabien als auch vom Niltal aus leicht zugänglich war. Zweifellos gab es vor 100 000 Jahren unregelmäßige Wanderungen menschlicher Populationen durch dieses gewaltige halbtrockene Gebiet, vielleicht durch die mittlerweile ausgetrockneten und versandeten Flusstäler der Sahara, die Gruppen von Homo sapiens ins westliche Asien führten, entweder als gelegentliche „Besucher“ oder als dauerhafte Bewohner. Es gab nie sehr viele Mig-

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ranten. Sie jagten und sammelten wahrscheinlich auf fast die gleiche Weise wie ihre Zeitgenossen, die Neandertaler, und ihre Technologie dürfte praktisch identisch mit der ihrer Nachbarn gewesen sein. Ihr Aussehen entsprach wohl einer Mischung aus archaischen und modernen Merkmalen mit den weniger ausgeprägten Überaugenwülsten und dem neuzeitlichen Sprechapparat der Menschen von es-Skhul. Grundsätzlich waren sie moderne Menschen, aber ihre intellektuellen Fähigkeiten entsprachen denen ihrer Vorläufer, auch wenn sie etwas geschickter und flexibler in der Herstellung von Steinwerkzeugen waren als diese. Die „kognitive Revolution“, die schließlich die vorgeschichtlichen in moderne Menschen verwandeln sollte, hatte noch nicht stattgefunden. Interessanterweise war einer der in es-Skhul gefundenen modernen Menschen zusammen mit einem Rothirschgeweih bestattet worden, während ein anderer aus der ebenfalls in der Region um den Berg Karmel gelegenen Kebara-Höhle einen Wildschweinkiefer als Grabbeigabe erhalten hatte. In den Kebara-Gräbern fand man auch durchbohrte Muscheln. Der ebenfalls dort gefundene rote Ocker stammt von 30 Kilometer entfernten Orten. Es sieht so aus, als hätten die kleinen Gruppen neuzeitlicher Menschenpopulationen weitreichendere Sozialkontakte als ihre Vorgänger gehabt. Was wissen wir über die frühen Homo sapiens-Populationen in Afrika aus der Zeit der Qafzeh-Funde und davor? Unsere Kenntnis ist äußerst lückenhaft. Nach einer Handvoll afrikanischer Fossilien zu urteilen, die auf ein Alter von zwischen 50 000 und 300 000 Jahren datiert werden, war ihre Evolution ein langsamer Prozess, der sich über mindestens 500 000 Jahre erstreckte. In diesen Jahrtausenden muss es eine beachtliche Zahl von Varianten unter den Afrikanern gegeben haben, die vielleicht letztlich zu einer „modernen“ Schädelform und einem größeren Gehirn mit neuzeitlichen intellektuellen Fähigkeiten führten, die erst relativ spät im Laufe dieses Prozesses entstanden. Einige wenige Funde geben uns Hinweise. Ein großer, stattlicher Mann mit breiter Stirn und recht schmalen Überaugenwülsten lebte vor ca. 195 000 Jahren im äthiopischen Omo Kibish. 1997 legte der äthiopische Paläoanthropologe Yohannes Haile-Selassie in Herto (ebenfalls Äthiopien) drei vollständig neuzeitliche, 160 000 Jahre alte Schädel frei, darunter einen Kinderschädel. Diese Schädel belegen, dass die anatomische Entwicklung von Homo sapiens abgeschlossen war, denn sie sind praktisch mit den Schädeln moderner Menschen identisch.10 Die Funde von Omo Kibish und Herto belegen schlüssig, dass modern aussehende Menschen im tropischen Afrika bereits viel früher als vor 100 000 Jahren gediehen. Ihre Zahl war gering, und sie lebten in kleinen isolierten Gruppen.

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Unsere Informationen über die abgeschiedene Lebensweise der damaligen Menschen verdanken wir der Forschung des von National Geographic geförderten, groß angelegten Genographic Project, das mithilfe von DNS-Analysen die Migrationen der frühen Menschen nachzuvollziehen versucht. Im Rahmen dieses ehrgeizigen Projekts konstruierte ein Team von Genetikern einen matrilinearen (die mütterliche Linie repräsentierenden) Stammbaum aus 624 vollständigen mtDNS-Genomen zeitgenössischer Afrikaner.11 Sie konzentrierten sich hierbei hauptsächlich auf die südafrikanischen Völker der Khoi und San, da diese Angehörige uralter Jäger-und-Sammler-Kulturen sind – Menschen mit einem schlanken, leichten Körperbau, die sich stark von den gedrungenen, kälteangepassten europäischen Neandertalern unterscheiden. Ihre väterlichen und mütterlichen Abstammungslinien zählen zu den am weitesten zurückreichenden der gesamten neuzeitlichen Menschheit. Das Team ist überzeugt, dass es vor zwischen 210 000 und 140 000 Jahren zu einer gravierenden Aufspaltung im menschlichen mtDNS-Stammbaum kam, vielleicht verursacht durch eine Gendrift aufgrund der Isolation der spärlichen damaligen Populationen. In jener Zeit wurden kleine Gruppen von Homo sapiens in Ost- und Südafrika über einen 70 000 Jahre langen Zeitraum, also bis vor etwa 70 000 Jahren, voneinander getrennt. Afrika ist ein riesiger Kontinent, auf dem die frühe menschliche Bevölkerung selbst in Perioden mit ausreichend Regen stets dünn gesät war. Eine kleine Population ist eine Sache, extreme Isolation eine andere, weshalb die Gründe im Klima zu suchen sind. Wir wissen immer noch nicht, wie das südlich der Sahara liegende Afrika während dieser wichtigen 70 Jahrtausende aussah, denn bis vor Kurzem stammten die einzigen Informationen zu Klimaveränderungen, die sich vor weniger als 150 000 Jahren ereigneten (also jünger sind), aus Tiefseebohrkernen und nicht vom Festland. Damals wie heute spielten Monsunregen und El Niños eine große Rolle. Sie versorgten das Land mit ausreichend Niederschlag oder lösten Dürre in den Ländern südlich der Sahara aus, wo die ersten Menschenpopulationen erblühten – zumindest scheinen sie dort gediehen zu sein, bis vor 135 000 Jahren eine Reihe von Megadürren Ostund Südafrika heimsuchte. Wir besaßen keine genauen Kenntnisse über diese Trockenperioden, bis ein Forscherteam mit großem Aufwand eine Bohrinsel im Malawi- und im Tanganjikasee, zwei der ältesten und tiefsten Seen der Welt, aufstellte. Der Malawisee ist definitiv ein typischer Binnensee.12 Ich erinnere mich daran, wie ich mich über seinen tiefsten Stellen befand, als plötzlich aus heiterem Himmel ein Sturm aufkam. Innerhalb von Minuten drohten kurze, steile Wellen unsere

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kleine offene Barkasse zu überspülen. Glücklicherweise war der Kapitän mit dieser Situation vertraut. Er drehte den Bug in Richtung des Windes und der Wellen und hielt das Boot mit Motorkraft an seinem Platz, aber das wilde Geschaukel machte uns alle seekrank. Ich wünschte, ich wäre nie geboren worden. Als die Sonne unterging, endete der Sturm ebenso abrupt wie er begonnen hatte, und wir waren dankbar, an die Küste zurückkehren zu können. Wenn Sie mir damals erzählt hätten, dass der Malawisee vor 70 000 Jahren so gut wie ganz ausgetrocknet war, hätte ich Sie ausgelacht. Aber genau das war geschehen. Ein aus den nördlichen Tiefen des Sees entnommener Bohrkern durchdrang ein Areal, das in der letzten Million Jahre wasserbedeckt gewesen war. Der Bohrkern belegte große Klimaschwankungen, die vor 135 000 Jahren begannen und mit einer sehr langen und extremen Dürreperiode einhergingen, die etwa alle 11 000 Jahre durch kurze Zeitabschnitte mit starken Niederschlägen unterbrochen wurde. Vor zwischen 135 000 und 75 000 Jahren gab es ausgeprägte Dürreperioden, die den Wasserstand des Sees um mindestens 95 Prozent reduzierten. Das Ausmaß der Trockenheit ist kaum vorstellbar: Vor 75 000 Jahren bestand der 550 Kilometer lange Malawisee aus kaum mehr als einer Reihe bedeutungsloser Wasserstellen, von denen keine mehr als zehn Kilometer im Durchmesser groß und tiefer als 200 Meter war. Erst nach 70 000 Jahren vor unserer Zeit kehrte ein feuchteres und stabileres Klima zurück, das den Wasserpegel des Sees dramatisch steigen ließ. Mitochondriale Erblinien weisen darauf hin, dass die modernen Menschen in dieser Zeit ihren Lebensraum erweiterten, da sie nicht länger isoliert waren und ihre Zahl stieg. Auf der anderen Halbkugel der Erde siedelten sie als glückliche Überlebende einer gigantischen Naturkatastrophe, die beinahe den Untergang von Homo sapiens besiegelt hätte. Südostasien vor etwa 73 500 Jahren. Das Leben in den dichten Wäldern nimmt seinen gleichförmigen Lauf. Der Alltag ändert sich nur wenig im Wechsel der Jahreszeiten. Zwei oder drei mit Bambusspeeren bewaffnete Männer stellen zwischen Bäumen und am Rande von Lichtungen Affen und anderem kleinen Wild nach. Ihr Jagdgebiet ist klein. Seine Größe hängt von den Beständen an genießbaren Pflanzen ab, die überwiegend von den Frauen gesammelt werden, sowie denen der Tiere. Wichtig sind auch die Unterkünfte, die nur wenig mehr als ein Haufen Gras oder Dächer aus Palmwedeln sind, vertraute Fixpunkte in einer feuchten Tropenwelt – bis die Asche kommt. Ohne Warnung bricht sie über die Menschen herein – grau, lebensfeindlich und alles einhüllend. Beißende Asche und Staub fallen vom Himmel und legen

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sich gleichermaßen über Wälder und offenes Land. Mindestens sechs Tage und Nächte lang hält der Ausnahmezustand an. Tiere und Menschen keuchen in der alles erstickenden Asche und Hitze. Es gibt kein Entrinnen. Überall hinterlässt die Katastrophe graue, leblose Landschaften. Tiere und Menschen sterben, machtlos gegen diesen plötzlichen Angriff. Nur einige Gruppen von Jägern überleben – diejenigen, die das Glück haben, sich in der Nähe von Höhlen und Felsvorsprüngen zu befinden oder in den wenigen sehr geschützt gelegenen Gebieten zu leben, wo die Topografie und die vorherrschenden Winde sie schützen. Doch selbst die dem Tod Entronnenen leiden nun Hunger. Viele von ihnen sterben in der jetzt von Südostasien und Südasien bis nach Arabien reichenden breiten Schneise einer zerstörten Tropenwelt ... Der Toba, ein großer Vulkan auf Sumatra, der zum berüchtigten Pazifischen Feuerring gehört, ist in einem der gewaltigsten Vulkanausbrüche aller Zeiten explodiert.13 Es war eine Eruption von unvorstellbaren Ausmaßen: 2800 Kubikkilometer des Bergs wurden zersprengt. Der folgende Lavastrom ergoss sich über 20 000 Quadratkilometer und erreichte die südwestlichen und nördlichen Küsten im Norden Sumatras. Auf Hunderten Quadratkilometern zerbarsten Unmengen soliden Gesteins und wurden in Form gigantischer Vulkanaschewolken in die Atmosphäre geschleudert. Millionen Tonnen Schwefelgas erreichten die Stratosphäre, wo sie über Jahre hinweg blieben. Heute erinnert an den Ausbruch nur ein riesiger Krater, der den weltgrößten Vulkansee mit einer Länge von 100 Kilometern, einer Breite von 30 Kilometern und einer Tiefe von 505 Metern beherbergt. Die Eruption des Toba war der heftigste Vulkanausbruch in den letzten 23 Millionen Jahren. Um das Ereignis in Relation zu setzen, erinnere man sich nur an den Ausbruch eines anderen Vulkans in Südostasien, des Tambora im Jahr 1815. In weiten Teilen der Welt verdeckten Aschewolken die Sonne und sorgten 1816 für das berühmte „Jahr ohne Sommer“.14 Die Bauern in der Schweiz hungerten. Die Kälte an den Schweizer Seen zwang die dort weilenden Dichter Lord Byron, Percy Bysshe Shelley und Shelleys künftige Ehefrau Mary Godwin im Haus zu bleiben. Sie vertrieben sich die Zeit mit dem Erzählen fantasievoller Geschichten, woraus Marys Frankenstein-Roman entstand. Der Ausbruch des Tambora war 40 Mal schwächer als der des Toba. Der berühmt-berüchtigte Ausbruch des Krakatau im Jahr 1883 war zwar über Hunderte von Kilometern hinweg weit zu vernehmen, aber wesentlich schwächer – und doch immer noch eine gewaltige Katastrophe.

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Woher wissen wir von diesem gigantischen Vulkanausbruch, wenn einzig und allein ein Vulkansee an ihn erinnert? Es hat Jahre geduldigen Kartierens und Beobachtens per Satellit bedurft, bis man das Ausmaß der Explosion und insbesondere des Ascheniederschlags über einem Großteil Asiens rekonstruiert hatte. Großformatige Karten zeigen, dass sich die Aschewolken des Toba in Richtung Norden und Westen ausbreiteten. Vulkanschutt bedeckte einen riesigen Teil der tropischen Welt, Land und Wasser – das nordöstliche Arabische Meer, große Teile des Indischen Ozeans bis 14 Grad südlicher Breite, Nordindien und Bangladesh bis 25 Grad nördlicher Breite sowie den größten Teil des südöstlichen asiatischen Festlandes mit seinen Inseln und das Südchinesische Meer. Die Mächtigkeit der Ascheschicht variierte von Ort zu Ort. Manchmal waren es einige Zentimeter, oft mehr. Einige Aschedepots in indischen Seen sind bis zu drei Meter stark. Der Ausbruch des Toba war die menschliche Katastrophe schlechthin. Vielleicht 10 000 Personen, womöglich weniger, überlebten dessen kurz- und langfristigen Folgen, die meisten von ihnen in kühleren, weit vom Zentrum der Explosion entfernten Regionen. Die Menschheit wäre um ein Haar ausgestorben. Der Ascheregen war aber nur das erste Kapitel des Unglücks. Das beim Ausbruch ausgetretene Schwefelgas bildete eine lange bestehende Dunstglocke in der Stratosphäre, die das Sonnenlicht reflektierte und eine längerfristige globale Abkühlung gravierenden Ausmaßes auslöste. Fast über Nacht sank die Temperatur des Südchinesischen Meeres um ein Grad Celsius. Ein aus Grönland stammender Eisbohrkern zeigt eine massive Zunahme der Schwefelwerte vor 71 000 Jahren, die sechs Jahre anhielt. Aus demselben Bohrkern lässt sich eine 200-jährige Periode mit ungewöhnlich hohen Staubanteilen in der Atmosphäre ablesen, vermutlich verursacht durch einen Rückgang bodendeckender Vegetation. Über Grönland dürfte die Temperatur um bis zu sechs Grad Celsius gefallen sein. Einige der niedrigsten Temperaturen der ausgehenden Eiszeit fielen mit dem Toba-Ausbruch zusammen und dauerten bis zu 2000 Jahre an. Das Schwefelgas stieg ungewöhnlich hoch in die Atmosphäre auf. Die Auswirkungen waren so schwerwiegend, dass die nur relativ kurzfristigen Folgen der Ausbrüche des Tambora oder des Krakatau vergleichsweise unbedeutend erscheinen. Noch Jahre nach dem Toba-Ausbruch schien die Sonne nur schwach hinter einem Staubschleier, und die Temperaturen fielen. Die Tropen litten besonders stark, denn ihre Wälder reagieren extrem anfällig auf Abkühlung. Die Samenvorräte sind häufig begrenzt und das oberirdische Pflanzenmaterial stirbt rasch ab, selbst wenn die Temperaturen nur einige Tage lang niedrig sind. Auch den Wäldern gemäßigter Zonen kann ein kalter Sommer

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schwer zusetzen, vor allem Laubbäumen, die ihre sprießenden Blätter fast augenblicklich verlieren. Die plötzliche Kälte fiel möglicherweise mit einer signifikanten Abkühlung des Südwestpazifiks und einem Rückgang der Passatwindzirkulation zusammen. Eine Folge könnten El-Niño-artige Wetterbedingungen gewesen sein, die die in weiten Teilen Afrikas bereits vorherrschende Megadürre noch verstärkten. Die Katastrophe kostete etliche Menschenleben. Tausende verhungerten jämmerlich, einschließlich der meisten – wenn nicht aller – Homo sapiensGruppen im Nahen Osten. Da sie aus Afrika stammten und an ein wärmeres Klima angepasst waren, wurden sie mit den wesentlich niedrigeren Temperaturen wahrscheinlich nicht fertig. Genetiker vertreten deshalb die Theorie, dass es vor 70 000 Jahren zu einem Bevölkerungsengpass auf einem riesigen Gebiet kam. Solche Engpässe bewirken einen erheblichen Rückgang der Populationen und führen letztlich zum Aussterben zahlreicher genetischer Linien. Die Chinesischen Flussdelfine sind ein Beispiel hierfür. Ihr Bestand ist inzwischen auf unter 100 Tiere gesunken und hat damit einen solchen Engpass erreicht. Aufgrund von Überfischung und Umweltverschmutzung wird diese Delfinart möglicherweise aussterben. Gefährdete Arten, die nicht aussterben, können später auch wieder höhere Bestandszahlen erreichen, jedoch mit geringerer genetischer Vielfalt. Der Mangel an genetischer Vielfalt im menschlichen Erbgut ist die Folge mehrerer Engpässe, zu denen es im Verlauf der letzten Million Jahre oder noch früher kam, wobei die Wissenschaftler davon ausgehen, dass das Toba-Ereignis vor 70 000 Jahren den letzten dieser Engpässe verursachte. Im Vergleich zu unseren engsten lebenden Verwandten, den Schimpansen, ist unsere genetische Vielfalt gering. De facto ist die genetische Vielfalt der Mitglieder von westafrikanischen Schimpansengruppen größer als die aller auf der Erde lebenden Menschen. Die Toba-Katastrophe ließ die Tier- und Pflanzengemeinschaften in weiten Teilen der Tropen schrumpfen. Die menschliche Bevölkerung Afrikas war während des letzten Interglazials, das mildere Temperaturen und stärkere Regenfälle in den Nahen Osten gebracht hatte, erheblich gewachsen. Es waren diese Klimabedingungen, die einige Homo sapiens-Gruppen durch Westasien zu den Höhlen von Qafzeh und es-Skhul hatten ziehen lassen. Südlich der Sahara hatte die extreme Trockenheit der Megadürren die Menschengruppen bereits dezimiert.

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Der Ausbruch des Toba brachte ungewöhnlich starke Kälte und noch trockenere Bedingungen in die Klimagleichung ein. Afrikas Bevölkerung litt erneut, als trockene Wetterbedingungen und Kälte Hungersnöte mit sich brachten. Genetiker schätzen, dass die afrikanische Population auf eine Gesamtzahl von zwischen 4000 und 10 000 Frauen im gebärfähigen Alter schrumpfte. Denken Sie sich durchschnittlich zwei Kinder, einen Mann und eine kleinere Gruppe alter Menschen dazu und Sie erhalten eine Gesamtbevölkerung, die nicht mal ein größeres Bundesliga-Fußballstadion komplett füllen würde.15 Auf jeden Fall war dies ein sehr enger Flaschenhals, insbesondere wenn man sich vor Augen führt, dass heute etwa eine Milliarde sich fortpflanzender Frauen die Erde bevölkert. Die Überlebenden zogen sich an Zufluchtsorte in Ost- und Südafrika zurück, wo sie vollkommen isoliert vom Rest der Welt und in der Regel auch abgeschnitten von benachbarten Gruppen lebten. Die Auswirkungen der Gendrift könnten eingesetzt haben, das heißt die Zunahme zufälliger Veränderungen von Genfrequenzen in isolierten Populationen im Laufe der Zeit. Der genetische Engpass hielt rund 20 000 Jahre an. Dieser Zeitabschnitt zählt zu den wichtigsten der Menschheitsgeschichte, denn in diesen Jahrtausenden entwickelte Homo sapiens seine gesamten kognitiven Fähigkeiten. Sobald der Engpass endete und mehr Niederschlag einsetzte, wuchs die Bevölkerung Afrikas wieder rasch. Wieder einmal zog Homo sapiens aus den Tropen aus, doch diesmal unter anderen Voraussetzungen: Er besaß all die geistigen Fähigkeiten des modernen Menschen. Wie erwarben wir die kognitiven Fähigkeiten, die wir heute besitzen? Das ist die Frage aller Fragen, deren Beantwortung sich für die Forscher schwierig gestaltet, führt sie doch in unsicheres Terrain. Sprache und Gedanken, symbolische Bedeutungen und Emotionen sind flüchtige Phänomene, die sich Archäologen nur indirekt zeigen, denn wir blicken durch eine verschleierte Linse in das Reich des uralten nicht Fassbaren. Dieser Umstand macht es uns sehr schwer, die Anfänge der menschlichen Kognition zu finden, wir können sie nur ganz vage und aufgrund indirekter Hinweise fassen. Solche „Wegweiser“ finden wir in Afrika in etwa zur Zeit der Toba-Katastrophe und danach. Zu ihnen zählen insbesondere einige besondere Produkte der Steinbearbeitung. Vor etwa 300 000 Jahren oder vielleicht sogar noch früher, lange bevor sich die Neandertaler schließlich in Europa entwickelten, stellten einige Menschengruppen in Afrika große, dicke Steinklingen (eine Klinge ist ein Abschlag, der

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länger als breit ist) her. Sie verwendeten vor allem lokales, ihnen leicht zugängliches Gestein und unternahmen offenbar keine Anstrengungen, feineres Rohmaterial von anderen Orten zu beschaffen. Dieser Technologie blieben sie jahrtausendelang treu. Doch dann entwickelten einige südafrikanische Jägerund-Sammler-Gruppen vor etwa 70 000 Jahren während der kalten, trockenen Periode, die mit dem Ausbruch des Toba zusammenfiel, komplexere Steinartefakte. Statt große Speerspitzen herzustellen, schlugen sie dünne Steinklingen aus Kernen feinen Gesteins nicht lokaler Herkunft. Viele dieser Rohlinge wurden auf der Rückseite abgestumpft, bevor sie als Speerspitzen oder zu anderen Zwecken auf Holzgriffe gesetzt wurden. Diese Verbesserungen waren jedoch nicht von Dauer. In den folgenden wärmeren Jahrtausenden wurden diese Steinwerkzeuge wieder durch die größeren Artefakte vom älteren Typ ersetzt. Wann immer die neuen Technologien eingesetzt wurden, waren die auf ihrer Grundlage gefertigten Werkzeuge stets um einiges kleiner, ganz so, als gingen sie mit einer grundlegenden Veränderung der Jagdmethoden einher. Doch es gibt noch mehr zu entdecken als nur vorübergehende Veränderungen bei Steinartefakten.16 In der Blombos-Höhle nahe der Südspitze Südafrikas ernährten sich die Bewohner vor etwa 73 000 Jahren sehr vielseitig. Auf ihrem Speisezettel standen nicht nur Jagdwild und Pflanzen, sondern auch Fische und Weichtiere. Sie jagten mit sorgfältig gefertigten, steinspitzenbewehrten Speeren, verwendeten aber auch feine Knochenspitzen – scharfe und tödliche Projektile, vor allem wenn sie mit Pflanzengiften präpariert waren, die dort vielleicht zum ersten Mal verwendet wurden. Die nahe gelegene Sibudu-Höhle wurde vor ungefähr 61 000 Jahren besucht, wobei uns die Jäger und Sammler eine Projektilspitze aus Knochen hinterließen.17 Sie stellten ebenfalls kleine Werkzeuge mit abgestumpften Rückseiten her, die vielleicht als Widerhaken für Jagdwaffen dienten. Viele von ihnen weisen Bruchstellen und Risse auf, die typisch für einen harten Aufprall sind. Die Abnutzungsspuren an den Kanten entsprechen denen von Artefakten, die als Widerhaken oder geschäftete Spitzen eingesetzt wurden. Hauptbeute der Jäger von Sibudu war der Ducker (Duiker), eine kleine, sehr scheue Antilopenart, die gerade einmal fünf Kilogramm wiegt und in bewaldeten Gegenden lebt. Man kann sich vorstellen, wie ein Jäger seiner Beute nachstellt, die einsam das kurze, braungelbe Gras unter einer immergrünen Baumgruppe abweidet. Der fliegenumschwärmte Ducker peitscht mit dem kurzen Schwanz. Konzentriert ignoriert sein Verfolger die surrenden Insekten. Er hält den kurzen Speer wurfbereit und schleicht sich noch näher gegen den Wind

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an, die wenigen Bäume als Deckung nutzend. Der Ducker frisst nun im Schatten, um der Mittagshitze zu entgehen. Beim leisesten Geräusch blickt er auf. Von Zeit zu Zeit verharrt der Jäger minutenlang völlig still, bis er sich fast unbemerkt noch weiter nähern kann. Schließlich ist er in Wurfreichweite, praktisch unsichtbar hinter einem strategisch günstig stehenden Baum verborgen. Der rasch geworfene Speer trifft den Ducker in die Flanke. Die messerscharfen Steinhaken lassen die Verletzung stark bluten. Dann bricht der Speerschaft ab, während die Spitze in der Wunde zurückbleibt. Als sich der Ducker aufbäumt und zu fliehen versucht, setzt sein Verfolger schnell eine neue Spitze auf den Speer, läuft hinterher und zielt erneut auf das strauchelnde Tier ... Könnte also die Herstellung von Spitzen aus Knochen und die Verwendung kleinerer Steinwerkzeuge eine einschneidende Veränderung der Jagdmethoden bedeuten? Schwere Speere, ob mit oder ohne Steinspitze, sind wirksame Waffen für die Jagd auf größere Tiere, die ohne Zuhilfenahme von Pflanzengiften nur auf diese Art und Weise erlegt werden können. In den trockenen, offenen Lebensräumen Südafrikas dagegen werden vor 70 000 Jahren leichte Waffen zur Jagd auf kleinere Tiere wie den Ducker effektiver gewesen sein, vor allem wenn man sie mit Pflanzengift bestrich. Solche Speere dürften auch eine größere Reichweite besessen haben, was in offenem Gelände sehr hilfreich ist, da ein Anschleichen bis in unmittelbare Nähe hier sehr schwierig ist. Kleinere Steinwerkzeuge und Waffen mit Knochenspitzen kamen auf und verschwanden wieder, um erneut aufzukommen und vor zwischen vor 70 000 und 60 000 Jahren aus der afrikanischen Welt zu verschwinden, bis sie Tausende von Jahren später erneut auf der Bildfläche erscheinen. Das sollte uns nicht überraschen, denn die starke Trockenheit und die Klimaveränderungen jener Zeit zwangen die dünn gesäten und isoliert lebenden Gruppen von Jägern zu ständigen Anpassungen an neue Bedingungen. Eine weitere Veränderung fand in etwa zur selben Zeit statt. Die Menschen begannen nun, die Steine für die Werkzeugherstellung sehr sorgfältig auszuwählen.18 Diejenigen, die Spitzen aus Stein und andere kleinere Artefakte fertigten, benötigten feineres Gestein wie Obsidian (ein Vulkanglas), das man oft im Umkreis von 40 Kilometern um einen Vulkan findet. So holten die Bewohner in Prolonged Drift im kenianischen Rift Valley beispielsweise die Hälfte ihres Obsidians aus einer Entfernung von 50 Kilometern und 40 Prozent aus einer Entfernung von 40 Kilometern, obwohl es Quellen gab, die 30,5 Kilometer und näher an ihrer Wohnstatt lagen. Zu jener Zeit war die Umgebung kalt und trocken, weshalb die Menschen möglicherweise größere Jagdgebiete durchstreiften, um Nahrung und Steine zur Werkzeugherstellung zu suchen.

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Wo auch immer die Menschen lebten, mussten sie mit der kahlen, trockener gewordenen Landschaft zurechtkommen, in der Jagdwild, Pflanzennahrung und Wasservorräte über riesige Gebiet verteilt waren und manchmal nur an bestimmten Stellen gehäuft vorkamen. Sie konnten sich nicht länger auf die uralte Strategie verlassen, im Einklang mit den Erntezeiten für Pflanzen und den Gewohnheiten ihres Jagdwilds durch kleine, vertraute Landstriche zu ziehen. Jetzt verlagerten und veränderten sich Nahrungsquellen und Wasserstellen jahreszeitlich bedingt sowie aufgrund des wesentlich unberechenbareren Niederschlags. Jede Jägergruppe, so isoliert sie auch leben mochte, war auf Informationen aus Gebieten jenseits des Horizonts angewiesen, von Nachbarn, die durch nahe gelegene Gegenden zogen. Jeder war dem Risiko, zu verhungern, ausgesetzt, weshalb von einem Informationsaustausch über Jagdwild, Wasser und reifende Nüsse viel abhing. Letztlich könnte ein solcher Austausch auch die Entwicklung des fließenden Sprechens, der komplexen Kommunikation, begünstigt haben. Wir besitzen natürlich keinerlei Kenntnisse darüber, wie Informationen gesammelt wurden, aber vielleicht ähnelte das Vorgehen dem mittlerweile gut untersuchten Hxaro-System der Partnerschaft zwischen nahen und entlegeneren Nachbarn, das vom Volk der San in der Kalahari-Wüste praktiziert wird. Das System basiert auf der Vergabe von Geschenken und gegenseitigen Verpflichtungen.19 In solch unberechenbaren, trockenen Lebensräumen ist es äußerst hilfreich, Risiken zu reduzieren. Ich habe Jäger der San beobachtet, die scheinbar nichtstuend im Schatten saßen und sich stundenlang unterhielten. Bald schon begriff ich, dass ihr scheinbarer Müßiggang tatsächlich überlebenswichtig ist – hier tauschten Menschen, die weite Gebiete durchstreifen, Informationen über Nahrungs- und Wasservorkommen aus. Einige Archäologen glauben, dass die ersten solcher Systeme des Informationsaustausches erstmals vor ungefähr 70 000 Jahren infolge lang anhaltender Dürre und der Auswirkungen des Toba-Ausbruchs entstanden. Noch sind sie nicht sicher, ob feine Steine zur Werkzeugherstellung oder vielleicht die daraus schon fertiggestellten leichten Waffen getauscht wurden. Problematisch an solchen Geschenken ist, dass sie verbraucht werden, zerbrechen oder sich abnutzen. Möglicherweise wurden dauerhafte Gegenstände ausgetauscht, wie beispielsweise Ketten mit Perlen aus Straußeneierschalen. Solche Ketten werden heute noch im Rahmen des Hxaro in der Kalahari getauscht. Sie werden als Symbole gegenseitiger Verpflichtung getragen und zur Schau gestellt. Sie dürften auch sichtbare Zeichen sozialer Solidarität sowie Zeichen von Bündnissen

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und Partnerschaften zwischen in der Nähe und in der Ferne lebenden Menschen gewesen sein, die extrem anpassungsfähig sein mussten, um in gefährlichen Lebensräumen, wie sie der Ausbruch des Toba geschaffen hatte, bestehen zu können. Im Laufe der Zeit revolutionierten solche Netzwerke das Sozialverhalten und die Kommunikation. Im Rahmen dieses Prozesses, bei dem auch Ideen ausgetauscht wurden, könnten die ersten Schritte in Richtung spezialisierter Werkzeuge, die leicht zu transportieren, zu ersetzen oder zu reparieren waren, gemacht worden sein. Die harten Lebensbedingungen nach der Toba-Katastrophe erzeugten einen starken Druck, über größere Entfernungen zu kooperieren. Eine solche Zusammenarbeit dürfte in den wachsenden sozialen Netzwerken weit über die beschränkten Kontakte zwischen Nachbarn hinausgegangen sein. Eine höhere soziale Aktivität könnte zu gelegentlichen Treffen und Zeremonien geführt haben, während Verwandte und einander Beschenkende Informationen austauschten und Einzelheiten der Jagd diskutierten. Solch ein Erfahrungsaustausch wird sich nicht nur auf zwischenmenschliche Beziehungen erstreckt haben, sondern auch auf die komplexen Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Beute sowie die Verbindungen zwischen Lebenden, Toten und noch nicht Geborenen. Es war ein neues Reich symbolischer Bedeutungen entstanden, das in einer Welt partnerschaftlicher Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt expandierte und sich in Worten sowie erstmals auch in Kunst manifestierte. So kennen wir aus der Blombos-Höhle Streifenverzierungen aus rotem Ocker sowie die frühesten Schmuckstücke: durchbohrte Nassarius-Schneckenhäuser. (Mit ähnlichen Bohrungen versehene Schneckenhäuser fand man vor Kurzem in einer marokkanischen Höhle.) Es handelt sich hier um die ersten Kunstwerke der Menschheit – schlichte Objekte zwar, aber erste Anzeichen dafür, dass Homo sapiens die kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln begonnen hatte, die die 70 000 Jahre alten Afrikaner zu Menschen wie uns machten. Eine kleine Zahl von Menschen mit sämtlichen kognitiven Fähigkeiten des modernen Menschen wanderte nun von Afrika nach Asien und noch über Asien hinaus. Das geschah etwa vor zwischen 70 000 und 50 000 Jahren. Woher haben wir unsere Kenntnisse über die spätere und endgültige Migration? Das Y-Chromosom liefert uns eine männliche Abstammungsgeschichte, die nahelegt, dass bis vor 59 000 Jahren keine modernen Menschen außerhalb Afrikas lebten.

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In der Molekularbiologie schreitet die Forschung schneller voran als in der Archäologie, wo es Jahre dauern kann, eine einzige Fundstätte auszugraben. Auf jeden Ausgrabungsmonat kommen mindestens drei Monate Arbeit im Labor. Bislang sind die Wege, denen Homo sapiens aus Afrika heraus folgte, noch unbekannt. Richtungsweisende Indizien sind selbst unter Idealbedingungen kaum zu erkennen.20 Nur ein paar Tausend Personen, die sich in kleinen Gruppen bewegten, werden nach Asien gewandert sein, vielleicht das Niltal entlang, den damals gefüllten Wasserwegen der Sahara folgend oder über das Rote Meer, das während der ausgehenden Eiszeit wesentlich niedrige Wasserstände aufwies. Es waren Menschen, die es gewohnt waren, mit anderen über weite Entfernungen hinweg in Verbindung zu bleiben, und für die gegenseitiges Geben und Nehmen sowie der Austausch von Informationen zum Alltag gehörte. Sie kooperierten mit anderen, besaßen effiziente Waffen und konnten es nicht nur mit großen und kleinen Tieren aufnehmen, sondern auch andere Nahrungsquellen nutzen, insbesondere Pflanzen. Vor allem aber waren sie Planer und Denker – Menschen, die Beziehungen zu Lebenden und Dahingeschiedenen sowie zu Tieren und Pflanzen pflegten und schätzten. Sie waren mit ihrer Umwelt aufs Engste verbunden und nicht mehr nur ein Raubtier unter vielen, sondern echte Menschen wie wir. Diese anatomisch modernen Menschen waren die Urahnen der Cro-Magnon-Menschen. Innerhalb bemerkenswert kurzer Zeit wanderten einige ihrer Nachfahren aus dem Nahen Osten unter anderem nach Europa ein – in eine vollkommen andere Welt.

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Kapitel 6 Die Zeit der Wanderungen

Das Niltal vor 50 000 Jahren. Das blaue Wasser umspült schwarze, in der heißer werdenden Morgensonne glänzende Steine. An dieser Stelle bahnt sich der Nil den Weg durch ein enges Tal, das an beiden Ufern von der Wüste bedrängt wird. Nur ein schmaler Grünstreifen trennt das Wasser vom windgepeitschten Sand – gerade breit genug, um als Aufenthaltsort für eine kleine Menschengruppe zu dienen, die zwischen einigen Felsen vor dem Nordwind Schutz gesucht hat. Die Stromschnellen ergießen sich in einen tiefen See, wo das klare Wasser auf seinem Weg zum Grund träger fließt. Zwei Männer stehen mit Speeren in den Händen auf Steinen. Sie blicken in das ruhige, flachere Wasser in Ufernähe. Sie wissen, dass sich hier Welse dicht unter der Oberfläche aufhalten, um in Schlamm und Sand nach Nahrung zu suchen. Einer der Fischer hebt seinen mit einer Knochenspitze versehenen Speer und richtet ihn auf einen Schatten am schlammigen Grund. Der dunkle Umriss bewegt sich träge vorwärts. Blitzschnell und zielsicher wirft der Mann den Speer. Das Wasser schäumt und wirbelt auf, während der Wels zu entkommen versucht. Eine geschickte Bewegung des Speers und der Fisch liegt auf dem Trockenen, wo er hilflos in der sengenden Sonne zappelt. Sekunden später tötet der Jäger seine Beute mit dem raschen Schlag einer Holzkeule und schleift das Tier in den Schatten. Ohne zu zögern, nimmt er die Jagd sofort wieder auf. Bis die Sonne ihren Zenit erreicht hat, haben die beiden Männer genug Fisch für die Abendmahlzeit gefangen. Währenddessen pflücken die Frauen bündelweise Zyperngras, das zwischen dem Schilf am Fluss wächst, dabei stets Ausschau nach Krokodilen haltend. Sie ziehen reife Wurzelknollen aus dem Boden und bringen sie zum Lagerplatz, wo sie die faserreichen Knollen auf flachen Steinen zerdrücken und zerreiben, bevor sie sie wässern, um die bitteren Toxine herauszuspülen. Als die Männer mit ihrer Beute zurückkehren, nehmen alle gemeinsam die Fische aus und schneiden das Fleisch in schmale Streifen. Einige davon werden sie über dem Feuer garen. Das übrige Fleisch hängen sie zum Dörren auf Holzgestellen in die Sonne. Woher wissen wir, dass Jäger und Sammler vor 50 000 Jahren am Nil fischten? Leider können wir nicht mit Gewissheit sagen, dass es sich so zutrug, aber die

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beschriebene Szene gibt höchstwahrscheinlich wieder, was sich tatsächlich dort ereignete, als kleine Zahlen moderner Menschen aus Afrika auszogen. Das Niltal ist eine von mehreren gut nachvollziehbaren Wanderrouten in Richtung Norden und Osten. Gleiches trifft auf die seit Langem ausgetrockneten Wasserwege im Herzen der Sahara zu, sofern die Wüste zu jener Zeit etwas feuchter war. Eine andere potenzielle Reiseroute führt Jägergruppen entlang des Roten Meeres, das damals wesentlich niedrigere Wasserstände aufwies, nach Arabien und weiter nach Norden. (Informationen über Klimaveränderungen der ausgehenden Eiszeit sind in Abb. 5 aufgeführt.) Die Suche nach Hinweisen auf die Wanderungen, die Homo sapiens vor 50 000 Jahren aus Afrika herausführten, gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wir haben es mit umherziehenden Menschen zu tun, die an trockenes, offenes Gelände angepasst waren und deren Jagdgebiete oft Hunderte von Quadratkilometern umfassten. Orte, an denen eine Gruppe längere Zeit bleiben konnte, waren rar. Fast überall wurden die Lager nur vorübergehend angelegt und im günstigsten Fall einige Tage oder Wochen bewohnt. Wenn die Bewohner weiterzogen, hinterließen sie Samenhülsen und -spelzen sowie andere pflanzliche Überreste, ein paar zertrümmerte Tierknochen und vielleicht eine zusammengefallene Unterkunft aus Gras oder verstreute Steinabschläge und -werkzeuge. Innerhalb weniger Monate verschwand alles organische Material und für den neugierigen Archäologen blieben nur ganz vereinzelt Mahlsteine und Steinfragmente übrig. Ich habe Tage damit verbracht, in Zentralafrika nach solch kurzlebigen Lagern zu suchen. Tag für Tag hielt ich nach kleinen Haufen von Steinabschlägen Ausschau, die man häufig in den Eingängen frisch angelegter Kaninchenbaue oder auf frisch verbranntem Boden entdecken kann. Es ist die heißeste und ödeste Arbeit, die ein Archäologe sich vorstellen kann – selbst wenn der Boden mit Steinwerkzeugen übersät ist wie beispielsweise in langen Abschnitten des mittleren Sambesi-Tals. Nur selten findet man ein fertiggestelltes Artefakt oder eine Feuerstelle. Meistens bestehen die Funde aus Abschlägen und Steinknollen – den Hinterlassenschaften eines vorübergehenden Aufenthalts. Wenn meine Erfahrungen repräsentativ sind, ist die Untersuchung der Details von Steinartefakten, die in offenen Lagern in der Heimat der frühesten modernen Menschen und an den Mittelmeerküsten gefertigt wurden, eine der unergiebigsten Beschäftigungen – es sei denn, die Erhaltungsbedingungen sind ungewöhnlich gut, was jedoch in halbtrockenen Gebieten selten der Fall ist.

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Alter in Jahrtausenden vor heute abb. 5: klimaveränderungen in der ausgehenden Eiszeit. oben: Ein diagramm der klimaschwankungen von zwischen 110 000 und 10 000 Jahren vor heute. das diagramm wurde aus einer reihe von Quellen rekonstruiert, insbesondere aus daten grönländischer Eisbohrkerne. angegeben sind zudem die entsprechenden sauerstoffisotopenstufen (ois). Jahre vor heute 12 000 11 000

Ereignis Beginn des holozäns kälterückfall der Jüngeren dryaszeit

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schwankendes klima

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letztes kältemaximum allmähliche abkühlung mit einigen wärmeren intervallen

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unregelmäßige klimaveränderungen

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kurze warmzeit Beginn einer extremen kälteperiode Beginn der ersten langsamen klimaverschlechterung letztes interglazial

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Klimabedingungen wärmer werdend nahezu glazial unregelmäßige Erwärmungen sehr kalt

einige extrem kalte Zeitabschnitte

warm-gemäßigt

Es wäre naiv anzunehmen, dass ihre Hersteller brav sorgsam gefertigte Steinwerkzeuge als Zeichen ihrer Wanderung von Afrika bis nach Westasien und dann in Europa auslegten. Wir wissen nur, dass die modernen Menschen vor 45 000 Jahren über ein weiträumiges Gebiet im Nahen Osten verteilt lebten.

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Die meisten menschlichen Siedlungen der ausgehenden Eiszeit konzentrieren sich hier in einem schmalen Waldstreifen mit Eichen-, Terebinthen- und Kiefernbewuchs an der Mittelmeerküste sowie an den Flanken des Jordangrabens. Dieses bewaldete Gebiet bot reiche Nusserträge, eine Vielzahl von Jagdwildarten und relativ zuverlässige Wasservorräte. Dieser schmale, von Wüsten begrenzte Landkorridor, der Mittelmeerraum sowie die Gebirgszüge wiesen eine abwechslungsreiche Landschaft mit zahlreichen Felshöhlen und -überhängen auf, die sowohl von Neandertalern als auch von modernen Menschen über lange Zeiträume hinweg aufgesucht wurden. Die menschliche Bevölkerung dieser strategisch wichtigen Region dürfte nie groß gewesen sein – eine Schätzung geht von 6400 Personen aus und selbst das mag zu hoch gegriffen sein.1 Wie viele von ihnen moderne Menschen im Verhältnis zu Neandertalern waren, ist ebenso umstritten wie ihre Beziehung zueinander. Vor ca. 45 000 Jahren ließen sich die modernen Menschen dann jedoch ohne zu zögern in trockeneren Lebensräumen mit geringeren Erträgen nieder, die von den Neandertalern nur selten aufgesucht wurden. Sie jagten auch ein größeres Spektrum von Tieren, darunter Kaninchen sowie andere Nager, Vögel und Schildkröten, die ihnen eine breitere Überlebensgrundlage boten. Ihre Waffen waren leichter, und sie verwendeten kleine Steinspitzen für ihre Speere (Abb. 6), gelegentlich auch welche aus Knochen. Sie waren äußerst anpassungsfähige Jäger und Sammler, die in Wüsten ebenso zu Hause waren wie in feuchteren Gegenden. Es sieht so aus, als habe sich das menschliche Verhalten urplötzlich verändert, so dass man von einer Zäsur gegenüber früheren Zeiten sprechen kann.

abb. 6: Emireh-spitze (ein leichter, im nahen osten weit verbreiteter speerspitzentyp), etwa 45 000 Jahre alt.

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Doch wie und warum kam es zu dieser Zäsur? Auf der Suche nach den Ursachen ist der Klimawandel ein naheliegender Ausgangspunkt. In den letzten Jahren wurde er zunehmend als wichtiger Faktor in diesem Entwicklungsabschnitt der frühen modernen Menschen erkannt. Speläotheme (Stalagmiten und Stalaktiten) aus zwei israelischen Höhlen liefern direkte Beweise für die schwankenden Niederschläge im Kerngebiet der menschlichen Besiedlung des Nahen Ostens. Vor zwischen 75 000 und 70 000 Jahren, in der Zeit des ersten Kältemaximums des letzten Glazials, gingen sowohl die Regenfälle als auch die Temperaturen erheblich zurück. Ein zweites Kältemaximum datiert vor zwischen 47 000 und 42 000 Jahren. Wie uns Pollendiagramme verraten, dünnte der Baumbestand erheblich aus, während sich eine Steppen- und Wüstenvegetation ausbreitete. Viele kleinere, wärmeliebende Tierarten verschwanden und wurden von größeren, Kälte bevorzugenden Arten abgelöst.2 Zur Zeit des Kälteeinbruchs vor etwa 70 000 Jahren lebten immer noch kleine Gruppen moderner Menschen im Nahen Osten, die mit der ersten Migrationswelle aus Afrika gekommen waren. Sie verschwinden urplötzlich aus den „Annalen“ der Ur- und Frühgeschichte, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als der Toba ausbricht und ein „vulkanischer Winter“ die Erde heimsucht. Bald darauf wurde der Nahe Osten trockener und kühler. Die Sahara und die arabischen Wüsten expandierten beträchtlich. Dadurch wurde das winzige Häuflein moderner Menschen in einer kleinen Enklave mit spärlichen Wasservorkommen und kleinen Waldflecken isoliert. Vor zwischen 75 000 und 70 000 Jahren starben die ersten aus Afrika eingewanderten Homo sapiens-Gruppen allmählich aus. Danach kehrte ein milderes und wärmeres Klima in den Nahen Osten wie auch ins tropische Afrika zurück. Vielleicht erwarten Sie jetzt, dass die modernen Menschen noch einmal aus Afrika auswanderten, doch das war nicht der Fall – wahrscheinlich aufgrund des Bevölkerungsengpasses, der ihre Zahl auf einige tausend Personen reduziert hatte. Da Afrika geradezu leergefegt war, bestand keine Notwendigkeit, in Richtung Norden zu expandieren. Stattdessen bewohnten Neandertaler weite Teile dieser Region. Ob sie von anderen Orten in die jetzt menschenleeren Gegenden gezogen waren oder ob sie schon die ganze Zeit dort gelebt hatten und ihre Zahl zwischenzeitlich gestiegen war, ist immer noch ungeklärt. Rund 20 000 Jahre später zwang eine 5000 Jahre dauernde Kältewelle die Neandertaler, sich in wesentlich kleineren Gebieten nahe der Mittelmeerküste zusammenzudrängen. Von da an lebten sie längere Zeitabschnitte in den Nie-

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derungen entlang der Küsten. Die Feuerstellen wurden größer; die Menschen ernährten sich von bei ihnen nicht so beliebten großen Tierarten; sie aßen mehr pflanzliche Kost und benutzten stärker spezialisierte Werkzeuge. Offenbar musste sich jeder mehr anstrengen, um zu überleben. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass sich die Neandertaler bis in den Norden Afrikas oder ins Niltal ausbreiteten. Trotz aller Anpassungen blieb ihr uralter Lebensrhythmus grundsätzlich unverändert. Wir wissen weder, wie viele von ihnen im Nahen Osten lebten, als die modernen Menschen dort eintrafen, noch ob die beiden Völker in Kontakt kamen. Die Nahrungsquellen waren begrenzt, Wasserstellen lagen oft weit auseinander und die Erträge des Landes reichten kaum für die mehr als spärliche menschliche Population aus. Wir können also davon ausgehen, dass der Wettbewerb um Nahrung und Wasser hart war. Bedeutet das nun letztendlich, dass die Neuankömmlinge die urtümlichen Bewohner des Landes in Randgebiete abdrängten, wo sie schließlich ausstarben? Oder waren die Neandertaler bereits in den extrem trockenen Jahrtausenden im Nahen Osten ausgestorben, bevor Homo sapiens dort ankam? Wir wissen es nicht. Nach 45 000 Jahren vor unserer Zeit tauchen keine Neandertalerfossilien mehr in den archäologischen Fundstätten der Region auf. Die Neandertaler scheinen ausgestorben zu sein, vielleicht nicht zufällig, da zur selben Zeit erneut kleine Gruppen moderner Afrikaner die dürregeplagten Landschaften besiedelten. Speläotheme und andere Klimaindikatoren vermitteln uns das Bild einer trockenen Landschaft mit sehr viel weniger Bäumen und mehr Steppen- und Wüstenpflanzen als im tropischen Afrika. Das scheint die Neuankömmlinge jedoch nicht abgeschreckt zu haben. Sie kamen von einem sehr trockenen Kontinent und aus Lebensräumen, in denen sowohl Nahrungs- als auch Wasserquellen über weite Gebiete verteilt waren. Aufgrund von Bestattungen wissen wir, dass die Neulinge hochgewachsen, schlank und langbeinig waren – eine Anpassung an Tropenbedingungen, die ihnen half, sich weit über das Land auszubreiten, das sich jetzt in eine halbtrockene bis trockene Steppen-Wüsten-Region verwandelt hatte. Hier konnten sie in Gebieten gedeihen, die selbst für die geschicktesten Neandertaler, die ihren Beutetieren wie seit Tausenden von Jahren zuvor folgten, eine extreme Herausforderung darstellten. Kooperation, Planung und Intelligenz waren die Trompetenstöße, die die sprichwörtlichen Mauern von Jericho für den Homo sapiens im Nahen Osten zum Einsturz brachten. Die Neuankömmlinge waren in der Nutzung sozialer Netzwerke in einer Art und Weise versiert, die den früheren Menschen fremd

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war. Das verschaffte ihnen einen Vorsprung in der Erschließung trockener, aber vielfältigerer Landschaften. Sie waren an trockene Lebensräume gewöhnt, ebenso daran, sich schnell durch große Jagdgebiete zu bewegen, in denen das Beschaffen von Informationen und Kontakte mit anderen von nicht zu unterschätzender Bedeutung waren. Die modernen Menschen brachten einfache, bewährte Technologien mit, die anfangs noch denen der Neandertaler ähnelten. Allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied: Die Neulinge besaßen die Fähigkeit, Dinge zu erfinden und neue Steinabschlagmethoden sowie Werkzeuge für sich ändernde, oft stark spezialisierte Tätigkeiten zu entwickeln. Der Schwerpunkt ihrer Waffenherstellung lag zunehmend auf dünnen gleichseitigen sowie dreieckigen Steinklingen, die aus sorgfältig vorbereiteten konischen und pyramidenförmigen Kernen geschlagen wurden. Überall wurden die Werkzeugausstattungen filigraner, selbst die von den Neandertalern gefertigten, aber die Neuankömmlinge verfeinerten die Herstellungsmethoden für Klingen noch weiter. Leichte, mit todbringenden Steinspitzen besetzte Waffen waren ausgesprochen vorteilhaft, besonders weil sie es dem Jäger ermöglichten, mithilfe eines einfachen Wurfstocks geschleudert zu werden, auch wenn das bislang nicht bewiesen ist. Speerschleudern, die ausführlicher in Kapitel 8 beschrieben werden, dienen als Verlängerung des Hebels und erhöhen sowohl die Reichweite als auch die Geschwindigkeit einer Jagdwaffe (siehe Abb. 10). Es handelt sich dabei um wichtige Faktoren, wenn es darum geht, Jagdwild in offenem Gelände mit wenig Deckung zu erbeuten, und wenn man kleinen, wendigen Tieren nachstellt. Jill Rhodes und Steven Churchill verglichen die Anatomie heutiger Speerwerfer mit der einer kleinen Gruppe von Neandertalern und Cro-MagnonMenschen. Dabei stellten sie Parallelen in Bezug auf die asymmetrische Ausbildung der Oberarmknochen fest, die man sowohl bei regelmäßig Speere werfenden modernen Athleten als auch modernen Menschen der späten Eiszeit findet. Im Gegensatz dazu scheinen die Neandertaler nicht regelmäßig Speere geworfen zu haben, sondern nutzten diese mehr zum Zustoßen.3 Die Neuankömmlinge genossen abwechslungsreiche Nahrung. Wildpflanzen aller Art waren über Hunderttausende von Jahren Bestandteil der menschlichen Ernährung gewesen. Zweifellos spielten solche Nahrungsmittel auch jetzt immer noch eine große Rolle, insbesondere in Gegenden mit etwas höheren Niederschlagsraten, wo die Nussernte im Herbst leicht zu lagernde Vorräte lieferte ...

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Zwei Frauengruppen, die sich von früheren Begegnungen kennen, treffen sich unter Nussbäumen. Nachdem sie sich gegenseitig begrüßt haben, sitzen sie in der Hitze des Tages im Schatten, um einige Nüsse zu essen und Wasser zu trinken, das sie in auf dem Rücken getragenen Behältnissen aus Tierhaut mitgebracht haben. Das Jahr war ungewöhnlich kalt und trocken, weshalb die Nussernte spät stattfindet. Jede musste eine lange Strecke zurücklegen, um an diese Nahrungsquelle zu gelangen. Die Frauen lachen und unterhalten sich, aber dann wendet sich das Gespräch einem ernsten Thema zu: der Wasserversorgung. Die sonst zuverlässigen Wasserstellen trocknen zunehmend aus. Eine der Frauen zieht mit einem Zweig Linien im Sand und benutzt kleine Steine zur Darstellung von Felsformationen und Nussbaumhainen, um zu zeigen, wo sie vor einigen Tagen auf Wasser stieß. Die anderen nicken, berichten aber, dass diese Stelle bereits ausgetrocknet gewesen sei, als sie am Tag zuvor dort eintrafen. Die Frauen beschließen, dass der beste Ort, um Wasser zu finden, ein nahe gelegener Hügelkamm ist, wo sie vielleicht fündig werden, wenn sie in einem trockenen Flussbett graben, das die meiste Zeit des Jahres Wasser führt. Während die Hitze nachlässt, laden sich die Sammlerinnen mit Nüssen gefüllte Ledersäcke auf ihre Rücken. Sie werden sich wieder treffen, wie sie es schon viele Male zuvor getan haben. In eines der Lager kehren die Männer mit einer Gazelle zurück. Sie haben ebenfalls mit ihren Nachbarn gesprochen und von einem großen Wasservorkommen erfahren, das vielleicht zwei Tagesmärsche entfernt liegt. Niemand behält Informationen für sich, weil alle wissen, dass der Austausch überlebensnotwendig ist. Schnelligkeit, Mobilität, ständige Innovationen, Planung und Ideenreichtum – diese Eigenschaften halfen Homo sapiens während der großen „Diaspora“, infolge derer moderne Menschen von Afrika in den Nahen Osten wanderten. Kleine Zahlen von Menschen legten in erstaunlichem Tempo gewaltige Strecken zurück, was vermutlich auf weiträumige Trockenheit und ein Leben zurückzuführen ist, das von ständiger Mobilität abhing. Wir entdecken jetzt Hinweise auf soziale Abstufungen, auf individuelle und Gruppenidentitäten in Siedlungen der Neuankömmlinge. Wieder betreten wir das Reich des nicht Fassbaren, der längst vergangenen Symbole wie Körperbemalung, bestimmte Frisuren, Kopfputz und bunte Federn, die verwandtschaftliche Beziehungen und Gruppenzugehörigkeiten auf einen Blick signalisieren. Wie immer haben wir nur die Objekte, die die Zeit überdauerten: Anhänger und Perlen, einschließlich durchbohrter Muscheln, Meeresschneckenhäuser

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und Zähne, ebenso Perlen aus Straußeneierschalen, von denen einige über Entfernungen von 80 Kilometern und mehr getauscht wurden. Wenige Köpfe zählend, weit verstreut über ein unwirtliches Gelände – das waren die uralten Vorfahren der Cro-Magnon-Menschen. Innerhalb weniger Jahrtausende zogen einige ihrer Nachkommen aus dem Nahen Osten in andere Regionen Eurasiens – in eine vollkommen andersartige Welt. Sie trafen in kleinen Zahlen im Norden ein, angepasst an offene Landflächen und Wälder sowie an Lebensräume, in denen sich die Nahrungsquellen nur an bestimmten, weit verstreuten Orten konzentrierten, insbesondere in geschützt gelegenen Gegenden, in der Nähe beständig Wasser führender Quellen und entlang der Wanderrouten des Wildes.4 Sie zogen offenbar ohne Probleme in ein neuartiges Gebiet, in dem Wintertemperaturen unter Null Grad Celsius die Regel und die Tierbestände allgemein größer und vielfältiger waren, und wo vor allem zahlreiche Raubtierarten existierten. Warum Homo sapiens vor zwischen 50 000 und 40 000 Jahren gewaltige Strecken zurücklegte (Karte 4), liegt auf der Hand. Primär waren es die natürliche Dynamik des Jagens und Sammelns sowie die damit verbundene flexible Lebensweise in den gewöhnlich trockenen Gebieten, die die Menschen innerhalb bemerkenswert kurzer Zeit große Entfernungen bewältigen ließen. Innerhalb von etwa 10 000 Jahren nachdem sie Afrika verlassen hatten, waren moderne Menschen in großen Teilen in südlichen Regionen Eurasiens heimisch geworden. Wie und wann das genau geschah, sind immer noch zwei heiß diskutierte Fragen. Aufgrund der geringen Anzahl von Menschen im betreffenden Verbreitungsgebiet sind die Überreste erwartungsgemäß mager. Hinzu kommen auch noch ungünstige Erhaltungsbedingungen. Wir können nur mit den dünnen, in Flusstälern abgelagerten Siedlungsschichten Osteuropas und den Höhlen und Felsen im Donaukorridor sowie im Westen arbeiten. Glücklicherweise gibt es einen wichtigen Anhaltspunkt: einen weiteren heftigen Vulkanausbruch, der vor 39 000 Jahren Asche über weite Teile Osteuropas niederregnen ließ. Der Ausbruch des Vesuvs im August 79 n. Chr. dezimierte die Bevölkerung der in der Bucht von Neapel gelegenen römischen Städte Herkulaneum und Pompeji, indem er Tausende von Menschen tötete. Das war jedoch nichts im Vergleich zu der Eruption in Kampanien, die dasselbe Gebiet vor 39 000 Jahren verwüstete.5 Bei dem heftigen Ausbruch kollabierte ein riesiger Vulkankessel von 230 Kilometern Durchmesser in einem Gebiet, das heute unter Neapel und

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kapitEl 6

Sungir

Ostsee

Nordsee

41-42 kya

Kostenki 41 kya

Hohlenstein Stadel, Vogelherd 41 kya

AT L A N T IK Saint Césaire

Arcy-sur-Cure 41-42 kya Cro-Magnon Höhle von Chauvet Aurignac

41 kya

Gibraltar

Don

Pes˛tera Cu Oase 42–44 kya

Bacho Kiro Schwarzes Meer Temnata Dupka

*

Mittelmeer

*

= Ausdehnung der kampanischen Asche = Ort des Vulkanausbruchs

45–47 kya

kya = tsd. Jahre

karte 4: Besiedlung Europas durch moderne menschen. Ebenfalls eingezeichnet ist die ausbreitung der asche des Vulkanausbruchs in kampanien.

seiner nordwestlichen Bucht liegt. Die Lavaströme erstreckten sich über mindestens 80 Kilometer. Eine riesige Aschewolke stieg bis in 44 Kilometer Höhe in die Atmosphäre auf und ging über einem Großteil des östlichen Mittelmeerraums sowie mehr als 2500 Kilometer nordöstlich im Balkangebirge und bis weit nach Osteuropa hinein nieder. Wie der Ausbruch des Toba muss sich auch die kampanische Explosion gravierend auf die Jagdgebiete und die Nahrungsversorgung ausgewirkt haben. Glücklicherweise war das Land nur dünn besiedelt, weshalb zahlreiche Menschen die darauffolgende Kälte überlebten, indem sie in Gebiete zogen, in denen sie Jagdwild und genießbare Pflanzen fanden. Die über eine riesige Fläche verteilte Vulkanascheschicht ist für uns ein wichtiger Indikator für die Altersbestimmung archäologischer Fundorte. Auf die Eruption folgte ein klassischer Vulkanwinter. Aus geologischer Sicht war die kampanische Eruption im Vergleich zur Toba-Katastrophe vor 73 500 Jahren winzig, aber die daraus resultierenden Ablagerungen sind ein Segen für die Archäologen, die den Spuren der unmit-

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telbar vor der Katastrophe im Norden beheimateten Cro-Magnon-Menschen folgen. Es ist ein Glücksfall für die Wissenschaft, dass ihre Werkzeuge und Nahrungsreste gelegentlich sowohl über als auch unterhalb der Bimsstein- und Vulkanascheschicht auftreten. Sie sind quasi die Füllung eines geschichteten Kuchens, dessen Stücke wir selbst noch im russischen Kostenki im Tal des Don entdecken. Winzige Gruppen von Menschen ließen sich in diesen östlichen Ebenen nieder. Sie hinterließen nur schwache Spuren im Boden, selbst an lange genutzten Wohnstätten wie Kostenki, einem für seine Mammutknochen und archäologischen Fundplätze bekannten Ort. (Das russische Wort kost bedeutet „Knochen“.) Die meisten der zahlreichen Siedlungen in Kostenki und im nahe gelegenen Borshchevo liegen an den Mündungen tiefer Schluchten, die sich in das westliche Ufer des Don gegraben haben. Dort treten Quellen aus der Erde, und es muss hier Jagdwild in Hülle und Fülle gegeben haben. Die ersten Siedler bewohnten Lager auf der zweiten Terrasse über dem Fluss, die sowohl unter- als auch oberhalb der verwitterten Ascheschicht des kampanischen Vulkanausbruchs liegen. Generationen von Archäologen haben in Kostenki gegraben, aber niemand war so gründlich wie ein internationales Team von Wissenschaftlern, das zwischen 2001 und 2004 dort tätig war. Sie führten paläomagnetische Untersuchungen durch und setzen die 14C- und Lumineszenzmethode ein. Außerdem entnahmen sie Pollen- und Bodenproben, um die entsprechenden Schichten zu datieren.6 Es war sehr kalt, als eine kleine Gruppe moderner Menschen (die anhand eines äußerst aufschlussreichen Zahns identifiziert wurden, der vielleicht sogar über ein Individuum hinausgehende Rückschlüsse zulässt) mit knochenspitzenbesetzten Speeren und anderen leichten Waffen vor etwa zwischen 45 000 und 40 000 Jahren für kurze Zeit in Kostenki XIV lagerte. Wesentlich milder war es dagegen, als etwas später eintreffende Besucher an der nahe gelegenen Kostenki-XVII-Fundstätte lagerten. Ein weiterer einzelner Zahn belegt, dass auch sie moderne Menschen waren, die Klingen, Knochenwerkzeuge sowie Schmuck aus durchbohrten Weichtierschalen verwendeten. Zudem gibt es Streufunde anderer Artefakte, unter denen sich ältere Artefakttypen wie beispielsweise Schaber und dreieckige Projektilspitzen befinden. Kostenki liefert uns einen archäologischen Fußabdruck der ersten Siedler, der vielleicht sogar um die 45 000 Jahre alt ist, allerdings kommt der Werkzeugbestand aus den Schichten, die unter der Asche des kampanischen Vul-

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kanausbruchs liegen, nur im Tal des Don vor. Er steht nicht in Beziehung zu Artefakten aus derselben Zeit, die an Fundorten im Nahen Osten oder weiter westlich entdeckt wurden. Das sollte uns jedoch auch nicht weiter verwundern, denn die Neuankömmlinge waren äußerst mobil, kamen nur in kleinen Zahlen vor und waren daran gewöhnt, sich mit neuen Jagdwaffen und Werkzeugen den lokalen Bedingungen anzupassen. Neben diesen Funden wurden noch weitere Spuren der neu eingetroffenen Menschen weiter im Westen und entlang der Mittelmeerküste entdeckt. Auch sie liegen in Schichten unterhalb der kampanischen Ascheschicht. Beispielsweise barg die bulgarische Temnata-Dupka-Höhle Werkzeug in Form von Klingen und Schabern sowie Gegenstände, von denen man annimmt, dass es sich um Projektilspitzen handelt, vergleichbar mit den dreieckigen Spitzen aus dem Nahen Osten. Die Siedlungsschicht befindet sich unterhalb des Vulkanaschesediments und ist somit älter als 40 000 Jahre. Artefakte aus der 140 Kilometer südwestlich gelegenen Bacho-Kiro-Höhle befanden sich oberhalb der früheren Neandertalersiedlungsschichten und sind etwa 43 000 Jahre alt. Dank der vor einigen Jahren entdeckten Höhle Pes˛tera cu Oase im Südwesten Rumäniens wissen wir jetzt, dass diese Neuankömmlinge anatomisch moderne Menschen waren. Die Höhle liegt in den Karpaten, einer von zerklüfteten Berggipfeln und tiefen Tälern geprägten Landschaft.7 Ein unterirdischer Fluss schuf hier eine Reihe miteinander verbundener Galerien, die später so stark verschüttet wurden, dass die Entdecker der Fundstätte mit Taucherausrüstungen in die unter Wasser liegenden Korridore vordringen mussten. Die früheren Eingänge wurden schließlich elektromagnetisch geortet, jedoch nicht geöffnet. Dennoch transportierten die Forscher sämtliche Knochen und andere Grabungsfunde aus den Tiefen der Galerien heraus – eine eindrucksvolle Leistung. Pes˛tera cu Oase war ein Ort, an dem Höhlenbären überwinterten. Die Galerien enthielten mindestens acht ihrer Nester und die Knochen von mehr als 100 Tieren, die regelmäßig bis vor ca. 46 500 Jahren hierher kamen. Später nutzten Wölfe die Höhle als Unterschlupf. Zu keiner Zeit lebten Menschen in Pes˛tera, dennoch wurden unter anderem der Kiefer eines jungen Erwachsenen und der Schädel eines 15-Jährigen hier gefunden, wahrscheinlich hereingespült im Zuge einer plötzlichen Überflutung, denn die Höhlengalerien wurden regelmäßig von Hochwasser heimgesucht. Datiert werden die menschlichen Knochen auf ein Alter zwischen 40 000 und 42 500 Jahren. Beide Knochenfunde stammen von modernen Menschen, weisen jedoch auch einige archaische Merkmale einschließlich des ausgesprochen großen

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dritten Backenzahns auf. Dies sind unseres Wissens die frühesten modernen Menschen in Europa, die denen des Nahen Ostens stark ähneln. Sie waren, wie der Anthropologe Erik Trinkaus sagt, „modern, ohne besonders neuzeitlich zu sein“.8 Die Spuren moderner Menschen vor der Eruption erstrecken sich bis nach Griechenland und Italien. Sie datieren auf ein Alter von etwa 42 500 Jahren. Hinweise auf eine frühe Besiedlung, die häufig schwer bestimmbare Mischungen aus älteren Technologien und eher neuzeitlichen Artefakten aufweist, tauchen ungefähr zur selben Zeit auch im Südwesten Europas auf, und zwar bis ins nördliche Katalonien hinein und entlang der Pyrenäen bis zur spanischen Nordatlantikküste. Glücklicherweise fertigten die Menschen, die sich entlang der Mittelmeerküsten verteilten, sehr gut zu identifizierende Lamellen aus speziell vorbereiteten Steinkernen an, die größere Rohlinge lieferten. An vielen Fundorten aus diesem Zeitraum finden wir charakteristische Spitzen, vermutlich Segmente von aus mehreren Komponenten gefertigten Jagdwaffen, bei denen die rasierklingenartigen Feuersteine mit Harz an hölzernen Schäften befestigt wurden (zur Schäftung von Speerspitzen siehe Abb. 14). Sie treten in hinreichender Anzahl auf, um ein gewisses Maß an kultureller Kontinuität auf dem riesigen Gebiet Südeuropas vor dem großen Vulkanausbruch vor 39 000 Jahren zu vermuten.9 Der große Vulkanausbruch war möglicherweise ein entscheidendes Ereignis in einer Zeit, als die europäische Homo sapiens-Population nicht mehr als einige Tausend Menschen in kleinen, isolierten Gruppen zählte, die vor 45 000 Jahren vielleicht aus nicht mehr als einigen hundert Personen hervorgegangen waren. Die Daten aus den grönländischen Eisbohrkernen zeigen, dass sie Europa während einer Warmphase vor zwischen 42 000 und 40 000 Jahren betraten. Wir wissen nicht, wie sich dieser Prozess abspielte, aber ich denke, dass er ähnlich verlief wie bei der kleinen Anzahl späterer Cro-Magnon-Menschen, die sich vor 17 000 Jahren in Richtung Norden in der europäischen Tundra auszubreiten begannen (siehe Kapitel 12). Vielleicht erschlossen die Pioniere während der milderen Monate neue Gebiete, indem sie Pferde- und Rentierherden sowie anderem Wild folgten. Es waren Jahrtausende der Erkundung und des Kennenlernens, in denen Informationen über neue Landstriche, neue Steinvorkommen zur Werkzeugherstellung und andere Ressourcen gesammelt wurden. Dann veränderten der Vulkanausbruch und ein Kälteeinbruch den Lauf des menschlichen Lebens. Durch Nahrungsmangel und Kälte könnten Kontakte zu anderen Gruppen nun höchst wichtig geworden sein, und zwar in solchem Ausmaß, dass sich die

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Cro-Magnon-Populationen in enger umrissenen Gebieten konzentrierten. Die Isolation wurde aufgegeben. Technologische Neuerungen erlebten eine Blütezeit. Im Laufe der Jahrhunderte erfasste diese geistige Regsamkeit auch das soziale Leben und den rituellen Bereich wie Kunst, Musik und komplexe Glaubensvorstellungen, die die unwirtliche und stets im Wandel befindliche Welt definierten. Vor 39 000 Jahren hatten moderne Menschen bereits mindestens 2000 bis 3000 Jahre lang in Südeuropa gelebt. Bald nach dem Vulkanausbruch erlebten die gleichen üblichen Werkzeugsätze, der gleiche Schmuck und die gleichen sozialen Institutionen vom Tal des Don bis zum Atlantik eine Blütezeit. Diese kulturelle Tradition wird von den Archäologen als „Aurignacien“ bezeichnet (Artefakte aus dieser Zeit siehe Abb. 7). In Kostenki fanden sich Werkzeuge aus dem Aurignacien oberhalb der Ascheschicht des kampanischen Vulkanausbruchs. Zu dieser Zeit, das heißt vor zwischen 39 000 und 30 000 Jahren, töteten die Hersteller der AurignacienWerkzeuge große Gruppen von Pferden, die sie wahrscheinlich vom Haupttal des Don in sich verengende, abzweigende Schluchten trieben. Solche Sackgassen waren natürliche Fallen, in denen man die Beute umstellen und töten konnte. An den Stellen, wo die Pferde geschlachtet wurden, findet man unzählige kurz nach dem Tod zertrümmerte Knochen einschließlich vollständiger Wirbelsäulen und Fußknochen. Sie bezeugen groß angelegte Jagden, die von Menschen aus benachbarten Lagern organisiert wurden. Die Jagdmethoden erinnern stark an jene, die Jahrtausende später an demselben Ort und an einer anderen Fundstätte, wo die Cro-Magnon-Menschen unter anderem Pferde töteten, angewandt wurden (siehe Kapitel 10).10 Woher kommt der exotisch anmutende Name Aurignacien? Alles begann in Frankreich im Jahr 1858 in einem kleinen Ort namens Aurignac am Fuß der Pyrenäen. Ein Straßenarbeiter fand in einem Kaninchenbau einige Menschenknochen. Er grub sie aus und legte ein Abri mit 17 menschlichen Skeletten frei. Der örtliche Magistrat rief „Mord!“, und ordnete an, die Knochen auf dem lokalen Friedhof beizusetzen. Zwei Jahre darauf widmete sich der später durch Les Eyzies zu Ruhm gekommene Édouard Lartet der Erforschung der Felsstation und entdeckte dabei Werkzeuge aus Feuerstein und Geweih sowie die Knochen ausgestorbener Tierarten, die er als „aus der ältesten Urzeit stammend“ deklarierte. Ähnliche Artefakte kamen bald darauf auch während Lartets Ausgrabungen in den Felsstationen von Les Eyzies ans Tageslicht.

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Aurignacien, Gravettien, Solutréen, Magdalénien ... archäologen sind großartig darin, kategorien und weitere Einteilungen zu definieren – so sehr, dass kein Bericht über die cro-magnon-menschen ohne die geheimnisvollen Bezeichnungen ihrer kulturen auskommt. während meines grundstudiums verbrachte ich viele tage damit, reihe um reihe von steinartefakten zu betrachten, vor allem aus Frankreich. da hier ein großteil der ersten Forschungen über die cro-magnon-menschen stattfand, tragen viele typische artefakte und kulturen, denen sie entstammen, französische Bezeichnungen. (seit langem ist es in der archäologie übliche praxis, Funden die namen ihres ersten Fundortes zu geben.) so wurde das magdalénien beispielsweise nach dem abri la madeleine, das in der nähe von les Eyzies liegt, benannt. in diesem Buch verwende ich sechs kulturbezeichnungen, die allgemein anerkannt sind: moustérien, châtelperronien, aurignacien, gravettien, solutréen und magdalénien. um sie ohne weitere Erläuterung in den folgenden kapiteln verwenden zu können, sei an dieser stelle ein kleiner Blick auf die namensgeschichte dieser kulturen geworfen. die Bezeichnungen, die die archäologen für die unterschiedlichen kulturellen traditionen der cro-magnon-menschen vergeben, sind aufs Engste mit der geschichte der archäologie verbunden und gehen auf die 1860er Jahre zurück. Es ist die Zeit von Édouard lartet und henry christy, die le moustier (moustérien) und la madeleine (magdalénien) ergruben. wie bereits geschildert, verbinden sich mit dem namen lartet zudem die Forschungen in der Felsstation von aurignac (aurignacien). das ausgehende 19. Jahrhundert war eine Zeit heftig geführter dispute über die Evolution, die auf der annahme fußten, die industrialisierte Zivilisation sei der gipfel menschlicher leistung, den alle menschlichen gesellschaften anstrebten. so überrascht es kaum, dass der französische prähistoriker gabriel de mortillet 1867 über den „unausweichlichen Fortschritt des menschen“ schrieb, der sich seiner ansicht nach an den ordentlich aufgereihten steinwerkzeugen aus ergiebigen siedlungsschichten in den Felsstationen von les Eyzies manifestierte. mortillet und seine anhänger entwickelten eine stufenartige abfolge der menschlichen kulturen, die mit dem moustérien begann und mit dem magdalénien endete. Bis zum Ende des Jahrhunderts hatte sich diese abfolge zu einem komplexen schema der Evolution entwickelt, in dem auf das aurignacien das kurzlebige solutréen folgte (benannt nach dem schlachtort der pferde in solutré). dann kam das magdalénien. wie es bei all solchen kulturellen schemata der Fall ist, wurde diese struktur wieder verändert und verfeinert, insbesondere durch den in der archäologie weltweit bekannten priester henri Breuil, der später in seinem leben einen beinahe mythischen status für seine Erforschung der cro-magnon-höhlen erlangte. lange bevor die Farbfotografie aufkam, kopierte der begabte künstler die malereien von altamira sowie anderen höhlen. seine interpretationen beeinflussen immer noch unsere wahrnehmung dieser kunst, seine weniger bekannte Erforschung der artefakte war jedoch nicht minder

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einflussreich. im Jahr 1912 veröffentliche er einen konferenzbeitrag über die cromagnon-kulturen, in denen er charakteristische artefaktformen unterschied, die wir heute als „leitfossilien“ bezeichnen, um nicht nur die wichtigsten kulturen, sondern auch ihre untergruppen zu definieren. Breuil arbeitete fast ausschließlich an westeuropäischen Fundstätten, wo er auf sein umfassendes Fachwissen zu ihnen und ihren siedlungsschichten aufbauen konnte. Beispielsweise waren zwei bestimmte leitfossilien – an der Basis gespaltene knochenspitzen und kielkratzer – typisch für das aurignacien (abb. 7). Er zog siedlungsschichten aus den höhlen von laugerie haute und la madeleine an der Vézère heran, um nicht weniger als sechs weitere unterteilungen des magdalénien vorzunehmen, der letzten und komplexesten der cro-magnon-kulturen, für deren letzte zwei abschnitte harpunen mit einer widerhakenreihe ebenso typisch sind wie solche mit einer doppelten (siehe abb. 23). Breuils Beitrag wurde für generationen von archäologen zum Evangelium. seine Einteilungen sind bis heute gültig, wenn auch in stark abgewandelter Form. Es ist noch gar nicht so lange her, dass seine sechs unterteilungen des magdalénien in die wissenschaftliche diskussion gerieten. manche folgten Breuil, unter ihnen auch der in les Eyzies grabende archäologe denis peyrony, der die meinung vertrat, es habe zwei gleichzeitig existierende kulturelle traditionen gegeben: das aurignacien und das périgordien, das später von den Bezeichnungen „châtelperronien“ und „gravettien“ abgelöst wurde. die heutige klassifikation von artefakten basiert überwiegend auf statistischen methoden, die erstmals in den 1960er und 1970er Jahren von den französischen wissenschaftlern François Bordes und denise de sonneville-Bordes auf neandertaler- und cro-magnon-Funde angewandt wurden. sie entwickelten detaillierte kategorien von steinartefakten, die unter anderem auf ihrer prozentualen häufigkeit fußten. die heute eingesetzten methoden sind sogar noch komplizierter, liefern jedoch informationen von unschätzbarem wert zu Einzelheiten der cro-magnon-technologie. dessen ungeachtet blieben die grundlegenden Bezeichnungen für die kulturen (bis auf das périogordien) bestehen. die Experten verwenden heute üblicherweise die folgende unterteilung als sehr groben chronologischen rahmen: moustérien

châtelperronien aurignacien

eine weit verbreitete technologie diverser menschlicher gesellschaften, die im allgemeinen mit den neandertalern in Verbindung gebracht wird, von vor etwa 120 000 bis 40 000 Jahren (siehe abb. 4) rätselhafte kulturstufe im westen Europas vor ca. 40 000 Jahren (abb. 8) weit verbreitet in Europa bis in den nahen osten hinein, von vor etwa 39 000 bis 29 000 Jahren (abb. 7)

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gravettien solutréen magdalénien

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weit verbreitet in Europa mit lokalen Varianten, von vor etwa 29 000 bis 22 000 Jahren (siehe abb. 14) in nordspanien und südwestfrankreich, von vor etwa 22 000 bis 17 000 Jahren (siehe abb. 22) von nordspanien bis mitteleuropa, von vor etwa 17 000 bis 11 000 Jahren (siehe abb. 23 und 25)

Jede „kultur“ zeichnet sich durch charakteristische artefakte aus geweih, knochen und stein aus, von denen einige in den kapiteln dieses Buches abgebildet sind. die feineren nuancen dieser cro-magnon-kulturen sind eher für spezialisten interessant als für allgemein interessierte leser. wenn ich im Folgenden vom aurignacien und solutréen spreche, beziehe ich mich auf unterschiedliche kulturelle Erscheinungsbilder, die sich durch für sie typische werkzeugformen auszeichnen, die man oft über große gebiete hinweg findet, die sich im laufe vieler Jahrtausende veränderten. Eine grundlegende Frage bleibt allerdings unbeantwortet: was bedeuten diese archäologischen Begriffe in Bezug auf das, was wirklich während der ausgehenden Eiszeit geschah? gab es tatsächlich eine menschliche kultur, die sich mit dem archäologischen Begriff „magdalénien“ verbinden lässt, oder entwickelte sich die gesellschaft der cro-magnon-menschen einfach aus dutzenden von stammesgemeinschaften auf sogar noch kompliziertere art und weise kontinuierlich ab 40 000 Jahren vor unserer Zeit bis zum Ende der Eiszeit und darüber hinaus? wir werden es vermutlich nie herausfinden. die derzeit verwendeten archäologischen Bezeichnungen verleihen lediglich dem umstand ausdruck, dass es im laufe der Zeit bedeutsame und längerfristig bestehende kulturelle unterschiede zwischen den weit verstreuten cro-magnon-gruppen gab, selbst wenn wir noch nicht völlig verstehen, was jeder die jeweiligen Begriffe jeweils für die menschen jener Zeit bedeutete. gegenwärtig sind sie jedoch am besten geeignet, um allgemein interessierten lesern einen pfad durch ein gewirr widersprüchlicher kategorisierungen von artefakten zu ebnen.

52 Jahre nach den Entdeckungen von Aurignac definierte der Archäologe Henri Breuil eine frühe Cro-Magnon-Kultur und taufte sie zu Ehren ihres ersten Fundortes „Aurignacien“.11 Die Menschen des Aurignacien besaßen eine einfache, aber höchst effektive Technologie. Sie schufen Kratzer und Stichel sowie die einzigartigen pointes d’Aurignac, Projektilspitzen aus Geweih oder Knochen, die an der Basis gespalten waren, so dass sie sich auf Speere setzen ließen.12 Die Zusammensetzung des Werkzeuginventars kann dabei von Ort zu Ort variieren, wobei die grundlegenden Werkzeugformen stets die gleichen bleiben: dicke Schabewerkzeuge,

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abb. 7: werkzeuge des aurignacien. die auf klingen basierende technologie des aurignacien brachte viele werkzeugformen hervor, die als messer, geräte zur holzbearbeitung, Beitel und als speerspitzen verwendet wurden. (a) kielkratzer mit steilen arbeitskanten. (b) klingenkratzer mit kantenretusche. (c) klinge mit gebuchteter kante, die vermutlich zur Bearbeitung von häuten und holz benutzt wurde. (d) stichel. die pfeile kennzeichnen die arbeitskanten und geben die richtung an, wie sie geschlagen wurden. (e) knochenspitze mit gespaltener Basis, sog. pointe d’Aurignac.

hergestellt durch Abschlagen kleiner Lamellen, und häufig recht große, an den Kanten bearbeitete Klingen mit offenbar absichtlich angebrachten Einkerbungen. Letztere werden in der Annahme, dass sie zum Glätten von Knochen oder Holz eingesetzt wurden, oft als „Schabhobel“ angesprochen (Abb. 7c). Anders als viele andere Kategorien bezeichnet der Begriff „Aurignacien“ keine regionale, ausschließlich auf Südwestfrankreich beschränkte Kultur. Menschen, die gleichartige Artefakte einschließlich an der Basis gespaltener Projektilspitzen herstellten, lebten auf einer gewaltigen Fläche in ganz Europa, von Kostenki im Osten bis an den Atlantik im Westen. Vor dem Zweiten Weltkrieg identifizierte Dorothy Garrod Siedlungsschichten des Aurignacien in Mugharet el-Wad auf dem Berg Karmel im Nahen Osten und stellte dabei die kühne These auf, die Aurignacien-Menschen seien als erste moderne Menschen nach Europa eingewandert, wo sie die Neandertaler verdrängten.13 Selbst zu ihrer Zeit, als man sehr viel weniger Informationen über die ausgehende Eiszeit besaß, stand die weiträumige Verteilung der Aurignacien-Fundstätten in Europa in deutlichem Kontrast zur Verteilung von Fundorten späterer Cro-Magnon-Gesellschaften. Eine bemerkenswerte Konti-

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nuität von Fertigungspraktiken der Aurignacien-Technologie war über Entfernungen von etwa 4000 Kilometern feststellbar, vom Nahen Osten bis in den Nordwesten Spaniens und nach England. Nie wieder gab es während der ausgehenden Eiszeit eine solche technologische und vermutlich auch kulturelle Homogenität. Hatte Garrod Recht? Waren die Aurignacien-Menschen tatsächlich die ersten Siedler oder hatten uns unbekannte Gruppen bereits vor ihnen Europa erreicht? Wir können uns glücklich schätzen, dass die Ascheschicht des kampanischen Vulkanausbruchs unsere Datierungen präzisiert. Durch sie lassen sich einige weit verstreut liegende Siedlungsspuren moderner Menschen auf eine Zeit vor 39 000 Jahren datieren, während alle bekannten Aurignacien-Fundorte entweder in die Zeit des Ausbruchs fallen oder auf Zeitpunkte danach. Das Aurignacien dauerte insgesamt 10 000 Jahre und endete vor etwa 29 000 Jahren.14 Ein internationaler Zusammenschluss von Forschern befasst sich mit der Chronologie des Aurignacien und den Übergangsstadien der Werkzeugherstellung, die in die Jahrtausende vor dem kampanischen Vulkanausbruch datieren. Einige davon sind Mischungen aus früheren Neandertalertechnologien und der Kunstfertigkeit moderner Menschen in der Klingenherstellung. Legen diese Mischformen nun nahe, dass sich die neue Technologie aus früheren Traditionen entwickelte, statt von außen eingeführt worden zu sein? Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen alter und neuer Technologie; beide sind im Wesentlichen sehr einfach. Als die modernen Menschen eintrafen, verwendeten viele Neandertalergruppen ein wesentlich vielseitigeres Spektrum an Werkzeugen. Vielleicht war dies eine Reaktion auf das sich ändernde Klima, das auch für die neuzeitliche Anmutung einiger ihrer Artefakte ursächlich sein könnte. Wir wissen nur, dass die modernen Menschen vor dem kampanischen Vulkanausbruch in Europa eintrafen und in der Zeit danach die AurignacienKultur in einem gewaltigen Gebiet ihre Blütezeit erlebte. Von Bedeutung ist vielleicht die Tatsache, dass die Migration nach Norden während einer wärmeren Periode erfolgte, vielleicht als die Umweltbedingungen im Nahen Osten trockener und die halbtrockenen Gebiete unwirtlich waren – ein klassisches Beispiel dafür, dass die Wüsten klimatische Lungen besitzen, die die Menschen in die Randzonen „bliesen“. Wo liegt nun der Ursprung der Aurignacien-Menschen? Ihre Werkzeuge wurden in Felsstationen im Nahen Osten gefunden, aber einige Zeit später entdeckte man sie auch in Europa, was die Vermutung nahelegt, dass sich ein paar Gruppen in Richtung Süden ausbreiteten, vielleicht während des kälteren Kli-

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C-Datierungen, Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen

wann trafen die ersten modernen menschen in Europa und Eurasien ein? wie lange überlebten die neandertaler an ihrer seite? Ein paar tausend oder Zehntausende von Jahren? die antworten auf diese heiß diskutierten Fragen hängen von einer äußerst fein kalibrierten chronologie ab, die – ob es uns nun gefällt oder nicht – fast ausschließlich auf 14c-datierungen basiert. Entwickelt wurde die radiokohlenstoffdatierung (14c-methode) in den 1950er Jahren von dem an der university of chicago tätigen chemiker willard libby. Er verwendete einen geigerzähler, um die Zerfallsquote von in der Erdatmosphäre durch die reaktion von neutronen auf stickstoff produzierten 14c-isotopen festzustellen. wenn ein organismus stirbt, enthält er den gleichen anteil an kohlenstoff wie die ihn zum todeszeitpunkt umgebende atmosphäre. dieser kohlenstoff zerfällt nur langsam: nach 5730 Jahren ist nur noch die hälfte der ursprünglichen menge übrig, und in diesem tempo setzt sich der Zerfall fort. die menge an 14c in einer 40 000 Jahre alten materialprobe ist verschwindend gering, woraus sich schließen lässt, dass die in diesem kapitel beschriebenen Ereignisse so ziemlich im grenzbereich der mit der 14c-methode erfassbaren Zeitskala liegen. libby ging davon aus, dass der anteil an 14c in der atmosphäre über die Zeiten konstant bleibt. inzwischen wissen wir aber, dass das nicht der Fall ist. alle radiokohlenstoffdatierungen sind lediglich statistische näherungswerte und geben eher ein radiokohlenstoffalter statt ein alter in kalenderjahren an. um eine historische chronologie in Jahren vor unserer Zeit zu liefern, müssen sie kalibriert werden. die radiokohlenstoffdatierung ist heutzutage wesentlich präziser als zu libbys Zeit. durch den Einsatz der Beschleuniger-massenspektrometrie kann ein labor winzige proben datieren, wie etwa ein einzelnes samenkorn oder ein stückchen verkohlten holzes, das an einer projektilspitze aus knochen haftet. hieraus ergeben sich wesentlich genauere altersangaben als aus den händen voller kohle, die man noch vor 30 Jahren zur datierung benötigte. Vor allem konnten solche mengen aus einer Feuerstelle stammen, die über einen längeren Zeitraum hinweg genutzt wurde, oder gar aus einer gesamten siedlungsschicht. nichtsdestotrotz gibt es immer noch das problem potenzieller kontaminationsquellen sowie zu berücksichtigende Bedingungen in den schichten, aus denen die probe stammt. Einige dieser probleme lassen sich durch eine äußerst behutsame ausgrabung und dokumentation sowie besondere Vorsichtsmaßnahmen im labor umgehen. die radiokohlenstoffdatierung hat immer noch ihre probleme, aber man kann mit gutem gewissen sagen, dass sie mittlerweile wesentlich weiter entwickelt ist als noch vor einer generation. die ersten radiokohlenstoffkalibrierungen stammen aus dem Vergleich von 14cwerten mit chronologien, die auf Baumringdaten von prähistorischen europäischen Eichen und anderen Bäumen basieren. solche kalibrierungskurven liefern präzise Zeitskalen für die letzten Jahrtausende der letzten Vergletscherung und die gesamte

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geschichte seit der Eiszeit. Je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto problematischer wird die Bestimmung, da unsere kenntnisse der 14c-anteile in der atmosphäre immer noch lückenhaft sind. die kalibrierung ist mit zahlreichen technischen schwierigkeiten behaftet und hängt in erster linie von äußerst präzisen chronologien ab, die aus solchen Quellen wie den wachstumsringen von korallen sowie Eis- und tiefseebohrkernen gewonnen werden. während der letzten Vergletscherung waren die 14c-werte in der atmosphäre extrem hoch. das betrifft insbesondere den Zeitabschnitt, in dem die modernen menschen die neandertaler in Europa ablösten, und erschwert die kalibrierung noch zusätzlich. in den letzten Jahren entstand eine kalibrierungskurve, für deren Erstellung korallenwachstumssequenzen mit daten grönländischer Eisbohrkerne des gisp2-Eisbohrprojekts sowie mit angaben aus den bemerkenswert präzisen tiefseebohrkernen aus dem golf von cariaco (Venezuela) verglichen wurden. die chronologischen Beziehungen zwischen Ereignissen, die in diesen Bohrkernen und anderen Quellen dokumentiert sind, wurden durch einen Vergleich mit grönländischen Eisbohrkernen hergestellt, die über uran-thorium-messungen datiert wurden. die chronologien waren hinreichend zufriedenstellend und werden zurzeit anhand von stalagmitendaten aus der nordchinesischen hulu-höhle noch weiter präzisiert.15 die uns heute vorliegende, fein abgestimmte kalibrierungskurve liefert uns zumindest einen provisorischen kalender für die Zeit von vor 45 000 bis 25 000 Jahren und damit für die Ereignisse, die thema dieses und der folgenden kapitel sind. Zwei hilfreiche punkte auf dieser Zeitlinie verdanken wir genau datierten Vulkanausbrüchen: der kampanischen Eruption vor 39 395 Jahren (+/– 51 Jahre) und einer weiteren, die in Form einer 54 500 Jahre (+/–1000 Jahre) alten ascheschicht im nordatlantik zu fassen ist. niemand würde die jüngste kalibrierungskurve als endgültig und bindend bezeichnen, aber bislang ist sie das präziseste, was wir haben. Jede chronologie in kalenderjahren kann nur als äußerst provisorisch betrachtet werden, aber wir wissen genug, um relativ sicher sein zu können, dass einige radiokohlenstoffdaten aus der Zeit der Begegnung zwischen neandertalern und cro-magnon-menschen 4000 bis 5000 Jahre zu jung datiert wurden. wir können uns glücklich schätzen, über die gut dokumentierten Bimsstein- und ascheschichten des kampanischen Vulkanausbruchs als zeitliche markierung zu verfügen. die langfristige lösung wird darin bestehen, daten aus unterschiedlichen radiokohlenstofflaboren zu vergleichen, um Fehler auszuschließen, und andere datierungsmethoden wie den paläomagnetismus und die lumineszenzdatierung in kombination mit der 14c-methode heranzuziehen. gegenwärtig können wir die daten nur in Jahrtausendspannen angeben und hoffen, dass diese im laufe der nächsten Jahre weiter eingegrenzt werden können. wie wir noch sehen werden, ist das problem der präzisen datierung überaus wichtig, wenn es darum geht, potenzielle kontakte zwischen den neandertalern und den neuankömmlingen zu untersuchen. die neueste kalibrierungskurve können sie unter http://www.calpal.de einsehen.

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mas ab der Zeit vor 39 000 Jahren. Höchstwahrscheinlich entwickelte sich die kulturelle Tradition der Aurignacien-Menschen in Europa selbst auf der Grundlage der sehr kleinen Werkzeugbestände früherer moderner Menschen, wie wir sie in den Schichten von Kostenki XIV und anderswo antreffen. Vielleicht wurde sie von den Umwälzungen infolge des kampanischen Vulkanausbruchs ausgelöst, die dafür sorgten, dass die bis dahin isolierten Populationen dichter zusammenrückten, was sie in die Lage versetzte, sich gemeinsam an die immer kälter werdenden und häufig schwankenden Witterungsbedingungen anzupassen. Auffällig ist, dass die Aurignacien-Kultur fast gleichzeitig in ganz Europa entstand, und ebenso bemerkenswert ist es, dass die erste Besiedlung dieses riesigen Gebietes gemessen an prähistorischen Standards extrem schnell erfolgte, nämlich innerhalb von lediglich 3000 bis 5000 Jahren. Im Vergleich dazu benötigten die Vorfahren der Cro-Magnon-Menschen knapp 10 000 Jahre, um aus dem Nordosten Afrikas in die äußersten Winkel Westeuropas zu migrieren. Doch was ist mit den Neandertalern? Aufgrund der Verteilung der Fundorte wissen wir, dass die höchste Besiedlungsdichte durch Aurignacien-Populationen in geografisch günstigen Gebieten wie dem Donautal und insbesondere in Südwestfrankreich lag. Hier lieferten die südlichen Randgebiete der Mammutsteppe reichlich Nahrung. Der nahe Atlantik sorgte für mildere Winter und längere Vegetationsperioden. Vor allem beherbergten diese Landschaften mit ihren tiefen Flusstälern und schnell fließenden Strömen eine vielseitige und üppige Tierwelt. Einige Flussniederungen wie die Dordogne und das Tal der Vézère waren wichtige Wanderrouten von Rentierherden. Auch lebten dort zahlreiche Wisente und Wildpferde. Die Anordnung der hiesigen Siedlungsschichten weist darauf hin, dass die Bevölkerungsdichte der späten Neandertaler in diesen Tälern besonders hoch war – womöglich so hoch, dass sie hier noch lange Zeit überlebten, nachdem Gruppen moderner Menschen in den Westen gezogen waren – vielleicht noch weitere 2000 Jahre oder länger. So wie es aussieht, umgingen die Neuankömmlinge die Neandertaler, als sie vor 41 000 Jahren in den Nordosten und Nordwesten Spaniens kamen, sich jedoch offensichtlich nicht in der Dordogne niederließen. Dass es Kontakte zwischen Alteingesessenen und Einwanderern gab, steht außer Frage, selbst wenn sie Abstand voneinander hielten. Es gibt Artefakte, die das belegen, darunter ein bestimmter Rückenspitzentyp (die sogenannte Châtelperronspitze, Abb. 8)

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abb. 8: châtelperronspitzen, die in dieser Form als einzelne werkzeuge benutzt oder als rückengestumpfte artefakte auf speere gesetzt wurden.

und Steinabschläge mit gezähnten Kanten. Derartige Artefakte fand man in der Grotte des Fées in Châtelperron, Allier, im Osten Mittelfrankreichs. Sie lagen in einer Schicht, die sich zwischen Siedlungsschichten der Neandertaler befand, auf die eine AurignacienSiedlungsschicht folgte.16 Die Châtelperronspitzen und andere Werkzeuge sorgten für Verwirrung, weil sie Merkmale von Neandertaler- und Aurignacien-Werkzeugsätzen vereinten. An einem anderen Ort, an dem diese Spitzen gefunden wurden, La Grotte du Renne im mittelfranzösischen Arcy-sur-Cure, fertigten die Menschen des Châtelperronien sogar sorgfältig gearbeitete Knochen- und Elfenbeinwerkzeuge und schmückten sich mit durchbohrten, auf Ketten gezogenen Tierzähnen. Solche Sieldungsschichten des Châtelperronien finden wir auch anderswo, hauptsächlich in Mittel- und Westfrankreich sowie ganz vereinzelt in Nordspanien. Dann stieß man in Siedlungsschichten des Châtelperronien in Arcy-surCure und im westfranzösischen Saint Césaire auf Neandertalerknochen. Waren diese scheinbar der Aurignacien-Kultur zugehörigen Artefakte von Neandertalern hergestellt worden oder hatten diese sie von benachbarten Aurignacien-Gruppen eingetauscht? Die Radiokohlenstoffdatierung ist präzise genug, um uns wissen zu lassen, dass die Siedlungsschichten des Châtelperronien von sieben Fundstätten in Frankreich und Nordspanien etwa 41 000 Jahre alt sind. Frühe Besiedlungen durch moderne Menschen in Nordspanien fallen in denselben Zeitraum. Doch das ist noch nicht alles: In Saint Césaire wurden die Siedlungsschichten der Neandertaler, die sich unterhalb des Châtelperronien-Horizonts befanden, auf ein Alter von 43 000 Jahren datiert – ein Datum, das sich mit dem einer vergleichbaren Schicht am Referenzfundort Le Moustier (von hier leitet sich der

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Begriff „Moustérien“ ab) deckt. Darüber hinaus belegen drei oder vier Fundstätten in Frankreich und Nordspanien, dass die Hersteller der Châtelperronien-Werkzeuge und die Menschen des frühen Aurignacien tatsächlich zu verschiedenen Zeiten die Höhlen besuchten, aber so regelmäßig, dass ihre Artefakte abwechselnd in den Schichtanordnungen vorkommen. Vielleicht nicht weniger wichtig ist die aus Radiokohlenstoffdaten resultierende Information, dass sich die Menschen, die Aurignacien-Werkzeuge herstellten, erst später als vor 39 000 Jahren in den relativ dicht von Neandertalern besiedelten Gebieten Südwestfrankreichs niederließen, also später als in Spanien. Die scheinbare Zurückhaltung der Aurignacien-Gruppen, sich in dieser Region anzusiedeln, mag mit klimatischen und anderen Umweltfaktoren zusammenhängen, vor allem aber dürfte die ausnehmend hohe Bevölkerungsdichte der Neandertaler in diesem Gebiet der Grund gewesen sein. Genau hier finden wir auch die höchste Konzentration an Châtelperronien-Werkzeugen. Südwestfrankreich war eine der Regionen, in denen die Neandertaler am längsten überlebten – in einer günstig gelegenen, relativ geschützten Enklave, in der die Jagdgebiete relativ klein waren und in der sie weiter in ihrem uralten Lebensrhythmus existieren konnten. Auf der anderen Seite der Pyrenäen lebten die modernen Menschen in anderen, etwas milderen und trockeneren Lebensräumen. Sie drangen kaum jemals auf die Nordseite der Berge vor. Wenn sie es gelegentlich taten, dann vielleicht infolge kurzzeitiger Klimaveränderungen und zunehmender Populationsdichte oder einfach aufgrund der periodischen Tierwanderungen, nach denen sich das Jäger-und-Sammler-Leben richtete. Zu jener Zeit kam es zu sporadischen Kontakten mit den Neandertalern. Von dem Augenblick an, als sich Homo sapiens in Europa auszubreiten begann, waren die Neandertaler im Nachteil. Archaische und moderne Menschen machten auf die gleichen Beutetiere Jagd, die Waffen Letzterer aber waren leichter und besaßen eine höhere Durchschlagskraft. Die Neandertaler lauerten bevorzugt Tieren aus dem Hinterhalt auf – die modernen Menschen taten das ebenfalls. Dennoch waren die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden unüberwindbar. Die Aurignacien-Menschen besaßen die voll entwickelte Sprache und sämtliche kognitiven Fähigkeiten des Homo sapiens. Die Neandertaler waren dagegen keineswegs langsam oder dumm, doch war ihre Kommunikationsfähigkeit vergleichsweise begrenzt. Vor allem fehlten ihnen die Gabe der Vorstellungskraft, der Fantasie, sowie das Ich-Bewusstsein der modernen Menschen, des Weiteren deren Fähigkeit, vorausschauend zu planen, und schließlich all die komplexen sozialen Mechanismen der Cro-Magnon-Gesellschaft.

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Die Menschen des Aurignacien lebten in immer größer werdenden Gruppen mit verbesserter sozialer Interaktion und höherer Lebenserwartung. Ständig wurde Neues erfunden und Wissen mühelos von einer Generation an die nächste weitergegeben. Die modernen Menschen und die Neandertaler beobachteten einander wahrscheinlich aus sicherer Entfernung, vorsichtig und leise, wobei Letztere die raffiniertere Technologie ihrer Nachbarn genau im Auge gehabt und manchmal zurückgelassene Werkzeuge von den Böden der Felsstationen aufgehoben haben mögen. Experimente, bei denen Neandertaler-Artefakte nachgebaut wurden, haben erwiesen, dass diese kompetente Werkzeughersteller waren. Sie konnten Steine so leicht „lesen“ wie Sie und ich ein Buch – eine Fähigkeit, die heutige Steinmetze ebenfalls besitzen. Daher war es für sie ein Leichtes, einfache Werkzeuge wie Projektilspitzen aus Knochen sowie Rückenmesser zu kopieren und sie in ihren täglich benutzten Werkzeugbestand zu integrieren. Aber der Grad ihrer eigenen Innovationsfähigkeit, ihres eigenständigen Denkens erlaubte ihnen nicht, die Technologie der Neuankömmlinge zu verbessern, geschweige denn Werkzeuge und Waffen herzustellen, die sich mit denen der AurignacienMenschen messen konnten. Ihr Aussterben gleicht enem langsamen Tod, der sich am Rande der Aurignacien-Welt abspielte.17 Einige Gruppen mögen bei Auseinandersetzungen um Jagdgebiete ausgelöscht worden sein, bei denen die Männer starben und die Neandertaler allmählich nachgaben, indem sie sich in die Randgebiete ihrer einstigen Lebensräume oder in zuvor unbewohnte Gegenden zurückzogen. Ein in der südwestfranzösischen Höhle von Les Rois gefundener Kieferknochen weist von Steinwerkzeugen beigebrachte Bearbeitungsspuren auf, die auf das Heraustrennen von Zähnen und der Zunge zurückgehen. Der Archäologe Fernando Rozzi ist überzeugt, dass hier ein Neandertaler eines gewaltsamen Todes starb, umgebracht von modernen Menschen, die anschließend seine Zähne herausbrachen und vielleicht den Schädel und Kieferknochen als Trophäen mitnahmen. Diese faszinierende Entdeckung bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Cro-Magnon-Menschen öfter Neandertaler töteten und verzehrten, falls dies überhaupt geschah, aber es ist ein sicherer Hinweis darauf, dass die modernen Menschen mit ihnen konkurrierten und so zu ihrem Aussterben beitrugen.18 Andere Neandertalergruppen dürften einfach in der Landschaft untergetaucht sein und ihr Leben so weit entfernt wie möglich von den Neuankömmlingen gefristet haben, in entlegenen Höhlen, schwer zugänglichen Tälern und

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an Orten, an denen es weniger Wild gab. Als ihre Zahl abnahm, weil Männer Jagdunfällen zum Opfer fielen und sich ihre Gruppen zusammenschlossen, dürften die Neandertalerpopulationen immer stärker isoliert worden sein bis zu dem Punkt, an dem alle Frauen im gebärfähigen Alter starben und Gruppe um Gruppe langsam verschwand. Es gab keinen dramatischen Moment der Ausrottung, sondern viele einzelne Ereignisse, die zum Aussterben beitrugen. Wir werden nie erfahren, wo die letzten Neandertaler lebten, weil sie so weit über enorme Distanzen hinweg verstreut waren. Spanien war eine der letzten Regionen, an denen Neandertaler überlebten, und dort können wir einen Blick auf sie erhaschen, kurz bevor sie ausstarben. Die Gorham-Höhle am Fuß des Felsens von Gibraltar war in der Zeit von vor 125 000 bis 30 000 Jahren die Heimat von Neandertalergruppen, wobei die genaue Datierung unsicher ist.19 Sie lag damals am Rand einer mit Strauchsavanne bedeckten Küstenebene. Dies war ein Ort, wo eine Gruppe von Jägern kleinen Landtieren, Meeressäugern und Fischen nachstellen konnte. Ein weiterer Rückzugsort der Neandertaler befand sich möglicherweise in Russland in Byzovaya am Ufer der Pechora. Die kürzlich dort entdeckten Steingeräte, zu denen typische Formen des Moustérien gehören, lagen in einer Schicht, die anhand von Knochenfunden auf ein Alter von 34 000 bis 31 000 Jahren datiert wurde. Allerdings ist diese Datierung bislang nicht gesichert. Ebenso muss die genaue Stellung des Fundplatzes noch geklärt werden. Nach 30 000 Jahren vor unserer Zeit verwandelte die zunehmende Kälte die Savanne in eine halbtrockene Steppe, und die bereits abnehmende Neandertalerpopulation verschwand gänzlich.

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Kapitel 7 Das Reich des Löwenmenschen

Frankreich im Sommer vor 37 000 Jahren. Die Männer sind weit gereist, sie folgten dem gewundenen Pfad durch tiefe Flusstäler und über schnell fließende Ströme hinweg. Wachsam, die Speere griffbereit, halten sie nach Löwen Ausschau, die sich in der Dunkelheit der dicht am Ufer stehenden Bäume verbergen. Im Wald steigt eine dünne Rauchfahne aus einer kleinen Höhle am Fuß einer Felsformation auf. Während die Männer näherkommen, hallt das Klackklack der Steinbearbeitung von den düsteren Felsen wider. Bedächtig werden Grüße ausgetauscht, getrocknetes Fleisch wird angeboten, eine Mahlzeit wird zubereitet. Bei Einbruch der Nacht schüren die Frauen das Feuer, und der Tauschhandel beginnt. Die Besucher präsentieren einige durchbohrte Muschel- und Meeresschneckengehäuse, die sie sorgfältig in Lederbeutel gelegt haben. Ihre Gastgeber begutachten die Ketten aus Weichtierschalen im Schein des Feuers, drehen und wenden sie. Ein Junge verschwindet in den Schatten, um mit einer Handvoll sorgfältig bearbeiteter Feuersteine zurückzukehren. Dann sind die Gäste an der Reihe, die Tauschware eingehend zu untersuchen. Sie reiben die Steine zwischen den Händen, um ihre Qualität zu prüfen. Das Feilschen zieht sich über Stunden hin, gewürzt mit Klatsch, Gelächter und den unvermeidlichen Anekdoten über Jagdabenteuer. Langsam wachsen die Steinund Muschelhaufen. Am nächsten Morgen brechen die Männer auf, die Lederbeutel voller neuer Steine zur Werkzeugherstellung ... Von dem Augenblick an, als die Cro-Magnon-Menschen ihre neue Heimat betraten, änderten sich ihre Tauschhandelspraktiken grundlegend – teils ihrer Fähigkeit wegen, fließend zu sprechen, teils jedoch auch aufgrund ihrer hohen Intelligenz, ihrer großen Mobilität und ihren persönlichen Beziehungen zu anderen Gruppen, die sich weit hinter den Horizont erstreckten. Diese Kenntnis verdanken wir der Tatsache, dass die Menschen des Aurignacien – anders als die Neandertaler – ihre Steine für die Werkzeugherstellung oft aus großen Entfernungen (80 Kilometer und mehr) beschafften, waren sie doch aufgrund der von ihnen verwendeten Technologie auf gutes Rohmaterial angewiesen. Feinkörniges Gestein ist eine nahezu unabdingbare Voraussetzung für die Herstellung kleinerer Klingenrohlinge. Es lässt sich leichter zu Steinkernen schlagen, die eine große Zahl an Rohlingen liefern.

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Stellen Sie sich eine einzige Steinknolle als eine Art „steinernes Sparschwein“ vor, das man vielleicht in einem Lederbeutel am Gürtel mitführte, um den Stein herauszunehmen und zu bearbeiten, sobald eine Projektilspitze zerbrach oder schnell ein Werkzeug zur Holzbearbeitung gebraucht wurde. Wenn einem Jäger eine Speerspitze zerbrach und er sie nicht mehr reparieren konnte, warf er sie schließlich weg, schlug einen neuen Rohling ab und fertigte innerhalb weniger Minuten eine neue. Die beschafften Materialien verraten uns, dass die Aurignacien-Menschen für ihre Zwecke regelmäßig geeignete Lagerstätten aufsuchten. Entweder besuchten sie diese zu bestimmten Zeiten im Jahr oder wenn sie gerade ohnehin in der Nähe waren. Vielleicht lagen die Standorte auch außerhalb ihrer Jagdgebiete und befanden sich im Besitz einer anderen Gruppe. Wir wissen, dass durchbohrte Zähne, Muscheln und anderer Schmuck bereits vor dem Aurignacien über große Distanzen hinweg gehandelt wurden. So kann man sich leicht vorstellen, dass diese Kontakte zwischen einzelnen Personen auch den Austausch von Geschenken und den Aufbau langfristiger Beziehungen beinhalteten, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden. Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende verbanden unsichtbare Tauschhandelsnetzwerke die Gruppen und ihre Gebiete miteinander, und zwar über große Teile der Cro-Magnon-Welt. Das feinkörnige Gestein stellte womöglich viel mehr dar als nur ein Material zur Herstellung von Artefakten. Falls das Verhalten der Cro-Magnon-Menschen dem der australischen Aborigines auch nur ein wenig ähnelt, dann könnten die wichtigsten Vorkommen von Gestein für die Werkzeugherstellung auch Kraftorte gewesen sein, während die Steine selbst ein Medium für diese Kraft darstellten. Zugegebenermaßen ist das eine weit hergeholte Analogie, aber vielleicht eine zutreffende. Die Aborigines vom Stamm der Yoingu im östlichen Arnhemland sind traditionsgemäß die Besitzer der Quarzitvorkommen in Ngilipitji. Sie glauben, dass die Steine unter der Erde wachsen und dadurch entstehen, dass die Erde schwanger wird und kleine Steine wie Eier produziert. Das Quarzitgestein glänzt – eine Eigenschaft, die es mit Blut gemeinsam hat und die als bir’yun bezeichnet wird. Quarzit mag effiziente Speerspitzen liefern, aber seine ästhetischen Qualitäten gehen weit über seinen praktischen Nutzen hinaus. Diese Gesteinsformationen stellen weitaus mehr dar als nur Felsen: Aufgrund ihrer magischen Eigenschaften verbanden sie Menschen über weite Gebiete hinweg in symbolträchtigen Netzwerken. Das dürfte in der ausgehenden Eiszeit nicht anders gewesen sein.1

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Die australischen Eingeborenen schätzen auch natürliche Pigmente wie Ocker, eine Form von Eisenoxid, das in allen möglichen Farbabstufungen von Gelb über Rot bis Braun vorkommt. Eine ganz ähnliche Beobachtung können wir bei den Menschen des Aurignacien machen: Auch von ihnen wurde Ocker sehr geschätzt. An ihren Wohnstätten fanden wir den Farbstoff in großen Mengen. Sie zermörserten Ocker zu Pulver und vermischten ihn anschließend mit Wasser oder anderen Flüssigkeiten wie Speichel oder Blut. Die so gewonnene Farbe wurde vielseitig verwendet, vor allem zu symbolischen Zwecken oder um den sozialen Status anzuzeigen: zur Körperbemalung, zur Dekoration von Artefakten oder zum Färben des Haares, und natürlich für Höhlenmalereien. Auch hier gilt, dass die Ockervorkommen von großer Bedeutung gewesen sein dürften, wenn man die australischen Ureinwohner nochmals als Referenz heranzieht. Die Aborigines schreiben den Pigmenten heilende Wirkung zu, zudem sollen sie seinem Benutzer Stärke verleihen. Wir können natürlich nur mutmaßen, ob die Cro-Magnon-Menschen dieselben Eigenschaften mit dem Farbstoff in Verbindung brachten. Die Aborigines leben in extrem trockenen Gebieten und sehen in dem tiefroten Ocker das Blut ihrer Vorfahren. Könnte die symbolische Assoziation mit den Vorfahren bei den Cro-Magnon-Menschen die gleiche gewesen sein, da viele Bestattete des Aurignacien und späterer Epochen mit rotem Ocker bestreut waren? Wenn den Steinen zur Werkzeugherstellung tatsächlich noch andere Eigenschaften zugesprochen, sie als Lebewesen betrachtet und über große Entfernungen hinweg von Hand zu Hand weitergereicht wurden, dann muss sich die Gesellschaft der Aurignacien-Menschen sehr stark von der ihrer Vorgänger unterschieden haben. Und in der Tat: Die aurignacienzeitliche Welt war ganz anders, wie selbst ein flüchtiger Blick auf den Löwenmenschen verrät (siehe Tafel I). Der Mann mit Löwenkopf scheint eine Brücke zwischen dem Reich der Menschen und dem der Tiere zu schlagen, als ob er die Eigenschaft besäße, sich selbst von einem Jäger in den Gejagten zu verwandeln. Hier erkennen wir etwas Mystisches, eine Verbindung zwischen den Lebenden, das heißt dem Diesseitigen, und dem Übernatürlichen, die anders ist als alles, was uns zuvor begegnete. Der Löwenmensch ist die älteste Darstellung eines Fantasiewesens. Gefunden wurde die beeindruckende Figur in der Höhle von HohlensteinStadel, die in der gleichnamigen Felswand am südlichen Ausläufer des Lonetals in der Schwäbischen Alb liegt. Im Jahr 1939 entdeckten die Archäologen Otto Völzing und Robert Wetzel hier eine Wohnstätte aus dem Aurignacien,

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Ostsee

Nordsee

Timonovka

NORDEUROPÄISCHE TIEFEBENE

ATL AN TI K Roc de Sers Les Eyzies Brassempouy Altamira KANTABRIEN

Dolní Veˇstonice Isle de France Pavlov Rouffignac Milovice La Gravette PÉRIGORD Solutré Lascaux

Prˇedmost

Mežiricˇ Avdeevo

Kostenki

Willendorf

Pech Merle

Asowsches Meer

Schwarzes Meer

Cancecaude Tuc d’Audoubert Gargas

Parpallo

Mittelmeer

karte 5: die karte zeigt die in den kapiteln 7 bis 11 erwähnten Fundorte.

zu deren Funden auch zahlreiche Bruchstücke aus Mammutelfenbein gehörten. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs fanden die Ausgrabungen ein jähes Ende und wurden erst 1954 für eine Dauer von sieben Jahren wieder aufgenommen. Es stellte sich heraus, dass die Schichten aus dem Aurignacien mehr als 34 000 Jahre alt sind.2 Die Sammlung aus der Hohlenstein-Höhle schlummerte nahezu vergessen bis in die späten 1960er Jahre im Ulmer Museum vor sich hin, bis Joachim Hahn begann, einige der größeren Elfenbeinfragmente, die aus einem Winkel der Höhle stammten, zusammenzusetzen. Zu seinem Erstaunen formierten sie sich zu einer menschlichen Gestalt mit dem Kopf eines Löwen. Als Elisabeth Schmid und Ute Wolf die Rekonstruktion im Jahr 1988 abschlossen, hatten sie eine rund 29 Zentimeter messende längliche Figur vor sich. Der linke Arm weist rillenartige Markierungen auf, die Narben oder Tätowierungen darstellen könnten. Die aufrechte Haltung ist eindeutig die eines Menschen, aber die

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Füße sehen eher wie Pfoten aus. Die Figur kann nicht eigenständig auf ihnen stehen, als sei es ihr Zweck gewesen, in einem Loch platziert oder an etwas angelehnt zu werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das dargestellte Wesen männlich, da es keine Brüste besitzt. Der Löwenmensch ist sowohl Tier als auch Mensch – und weltweit die erste uns bekannte Gestalt seiner Art. Er steht für die durchlässige Grenze zwischen der Welt der Menschen und der sie umgebenden gefährlichen Tierwelt. Die Menschen des Aurignacien, die in Hohlenstein-Stadel und anderen nahe gelegenen Höhlen im oberen Donauraum siedelten, gehörten einer blühenden Cro-Magnon-Kultur an, die ein breites Spektrum an Tieren nutzte, darunter große und ehrfurchtgebietende wie Auerochse, Bär, Mammut und Nashorn. Aus Mammutelfenbein stellten sie Anhänger, Stäbe, Elfenbeinperlen sowie andere Artefakte her, die allesamt in dieser Form ausschließlich in dieser Region gefunden wurden. Sie schnitzten auch kleine Tierfiguren, die nur einen kleinen Ausschnitt der sie umgebenden Tierwelt wiedergeben. Es handelt sich dabei fast ausnahmslos um Darstellungen großer und starker Tiere. Die Schnitzereien zeigen oft ausgeprägte Gesichtszüge wie Mund, Ohren und Nase. In einigen Fällen ist sogar der Ausdruck klar zu erkennen. Der Körper ist gut wiedergegeben, die Gliedmaßen jedoch sind entweder verkürzt oder fehlen ganz. Auf den Flanken einiger der geschnitzten Figuren sind geometrische Muster eingeritzt: Punkte, Wellenlinien, Winkel und andere Motive. Einige der Figuren dienten vielleicht als Amulett oder wurden in Lederbeuteln getragen. Experimente ergaben, dass es ungefähr 40 Stunden dauert, eine Pferdefigur, wie man sie in der Vogelherd-Höhle fand, anzufertigen (Abb. 9).3 Der Hohle Fels, eine ebenfalls in Süddeutschland gelegene Höhle, gab eine sechs Zentimeter hohe weibliche Figur aus Mammutelfenbein frei. Die Frau besitzt riesige Brüste, eine sehr große und deutlich hervortretende Vulva sowie

abb. 9: das pferdchen aus der Vogelherd-höhle.

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einen massigen Bauch und wuchtige Schenkel. Sie entspricht vom Typ her stark den späteren in Kapitel 9 beschriebenen Frauenfiguren. Die Fertigung solcher Frauenskulpturen mit übertrieben betonten Geschlechtsmerkmalen war definitiv schon sehr frühzeitig ein Teil der Aurignacien-Kultur.4 Der Löwenmensch und die anderen hier genannten Figuren zählen zur frühesten Kunst der Geschichte. Die ernsten Züge dieses Tiermenschen und die stark abgenutzten Figürchen wehrhafter Beutetiere ziehen eine deutliche Grenze zwischen den Menschen des Aurignacien und den Neandertalern. Allein die Existenz einer Skulptur, die teils Mensch, teils Tier ist, verleiht unserer Wahrnehmung von den Cro-Magnon-Menschen eine völlig neue Dimension. Diese Werke sind mehr als nur Kunstobjekte. Sie sind Symbole einer aufkeimenden, offenkundig komplexen und vielschichtigen spirituellen Welt. Ich habe den Neandertalern die Rolle der stummen Menschen, der stillen Beobachter zugewiesen, die bald schon die Minderheit darstellen sollten. Sie waren vermutlich unaufdringliche Nachbarn, die den modernen Menschen nur wenig zu sagen hatten. Sie besaßen eine Art von Sprache, aber ob diese ausreichte, um im täglichen Umgang mit ihren neuzeitlichen Konkurrenten kommunizieren zu können, ist nicht bekannt. Sprachen sie vielleicht eine Art von „Pidgin-Aurignacien“, durch das sie ihre sprachlichen Fähigkeiten in beschränktem Umfang verbessern konnten?5 Selbst wenn sie es taten, war die Kommunikation wahrscheinlich eingeschränkt und bestand überwiegend aus Gesten und einfachen Worten. Wir wissen, dass Neandertaler in verschiedenen Teilen Europas, insbesondere im Südwesten Frankreichs, Werkzeuge wie Châtelperronspitzen kopierten und vielleicht sogar einige andersartige Jagdmethoden übernahmen. In Pech de l’Azé, einer Höhle in der Nähe von Les Eyzies, benutzten sie möglicherweise schwarzes Pigment zur Körperbemalung, was jedoch nicht bedeutet, dass sie in der Lage waren, das komplexe Denken und die geistige Welt ihrer neuen Nachbarn zu begreifen. Auch müssen sie persönlichen Schmuck nicht notwendigerweise als soziale Ausdrucksform verstanden haben. Die Neandertaler verwendeten roten Ocker und bemalten vielleicht auch ihre Körper, aber es entzieht sich unserer Kenntnis, ob sie dies von den Aurignacien-Menschen lernten. Möglicherweise erhielten sie im Rahmen eines Tauschhandels durchbohrte Zähne oder stahlen sie heimlich. Beide Schmuckformen verlangen ihrem Benutzer keine großen intellektuellen Leistungen ab, es sei denn, sie werden in einem sozialen Kontext verwendet. Ist Letzteres der Fall, wird die Körperoberfläche selbst zu einer Art von Sprache, die eine im

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Laufe des Lebens – und durch den Tod – sich wandelnde soziale Identität ausdrückt. Ebenso gibt es rituelle Formen der Verzierung, die nur gelegentlich eingesetzt werden, wie etwa Schmuck und Symbole, die mit der Jagd oder der Geburt eines Kindes in Verbindung stehen. Die Figuren und Schnitzereien, die die Aurignacien-Menschen in der Vogelherd-Höhle und anderen schwäbischen Felsstationen herstellten, waren aus Knochen und Elfenbein gefertigt, das von Fleischfressern wie Löwen und Wölfen oder mächtigen Tieren wie Mammuts stammte. Es ist womöglich kein Zufall, dass das gefährlichste Raubtier in Skulpturen wiedergegeben wurde, die aus Rohmaterial von ebenso ehrfurchtgebietenden Tieren bestanden. Vielleicht sollte auf diese Weise die soziale Stellung des Löwen unterstrichen werden. Solche Feinheiten dürften jenseits der Vorstellungskraft der Neandertaler gelegen haben. Die Neandertaler kopierten vielleicht den Körperschmuck ihrer Nachbarn, aber sie taten dadurch vermutlich nichts anderes, als lediglich vorzutäuschen, Aurignacien-Menschen zu sein. Sie bedienten sich selektiv und ignorierten Bilder, aufwendige Bestattungen und andere komplexe Rituale im Leben der modernen Menschen. Sie befanden sich auf einer vollkommen anderen Bewusstseinsebene. Ihre Beziehungen basierten auf Alter, Geschlecht, Erfahrung und Körperkraft. Vieles ihrer Bildersprache, ihrer Art, sich mitzuteilen, stand in Beziehung zu ihren motorischen Fähigkeiten, die wiederum von einer stark begrenzten Vorstellungskraft gelenkt wurden. Die Vorstellungskraft der Cro-Magnon-Menschen dagegen gestattete diesen, geistige Bilder in Figuren umzusetzen, die sie in Felswände ritzten, malten oder aus einem Stück Elfenbein formten. Ihre Fantasie ging auf Erkundungsreise, sie drückte sich nicht nur in ihren motorischen Fähigkeiten aus, sondern bezog sich auch auf alle möglichen anderen Dinge: die ziehenden Wolken an einem blauen Himmel, die Farben der Rentiere zu verschiedenen Jahreszeiten oder auch die kaum bemerkbaren Bewegungen von Schatten an einer Höhlenwand im Licht eines flackernden Feuers. Die Aurignacien-Menschen beschworen ein übernatürliches Reich ihrer Vorfahren herauf, Geisterwesen, Fabeltiere, Bewegung, sich änderndes Licht und brillante Farben. Jede Person – ob Mann oder Frau, Kind oder Erwachsener – besaß eine lebhafte Vorstellungskraft und nutzte diese auf ganz individuelle Weise. Das höher entwickelte Bewusstsein der Cro-Magnon-Menschen schuf nicht nur das Konzept eines Reichs des Übernatürlichen, sondern es bereitete die Menschen auch darauf vor. Die Mächte der übernatürlichen Welt umgaben sie stets – manchmal waren sie wohlgesinnt, oft aber auch feindselig, bedrohlich,

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verführerisch. Sie boten jedoch auch Führung und spendeten Zuversicht. Man lebte sein Leben und manövrierte sich durch Glück und Unglück, indem man sich der Fähigkeiten und Denkformen bediente, die durch das Erzählen von Geschichten, Singen und Rituale von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden. Die aufsehenerregenden Flöten aus Knochen und Elfenbein, die unter anderem in der Hohle-Fels-Höhle gefunden wurden, sind rund 35 000 Jahren alt und belegen die musikalischen Fähigkeiten der Cro-Magnon-Menschen. Eine dieser Flöten wurde aus den Knochen eines Gänsegeiers gefertigt. Sie ist 21,8 Zentimeter lang, besitzt fünf Löcher und ein eingeschnittenes Ende. Die aus Mammutelfenbein gefertigten Flöten produzierten wahrscheinlich tiefere Töne, waren jedoch wesentlich schwieriger herzustellen. Hierfür musste man das Elfenbein längsseitig spalten, aushöhlen, die Löcher bohren, die beiden Hälften wieder zusammenfügen und dauerhaft miteinander verbinden. Wie diese Instrumente belegen, waren die Menschen nicht länger nur Raubtiere in der Nahrungskette. Sie waren jetzt dynamische Partner in einer Welt, die von Tieren bevölkert war, die als Mitgeschöpfe angesehen wurden und denen man Respekt zollte. Zwar waren die Tiere nach wie vor Beute, von der die Menschen lebten, aber sie verliehen ihnen überdies wichtige Kräfte in einer Welt, in der die Lebenden und das Übernatürliche zusammengehörten. Ich bin überzeugt, dass hierin der grundlegende Unterschied zwischen den Cro-Magnon-Menschen und den Neandertalern bestand. Die Fähigkeit der Cro-Magnon-Menschen, geistige Bilder zu schaffen und diese zu manipulieren, muss ihre Beziehung zu den Neandertalern beeinflusst und ihnen ein Gefühl der Überlegenheit vermittelt haben. Die Neandertaler hatten sich mehr als 160 000 Jahre lang behauptet. Ihre Herausforderung hatte vor allem darin bestanden, sich einem Lebensraum zu stellen, in dem es bis zur Ankunft der Aurignacien-Menschen keinerlei menschliche Konkurrenz gab. Sie waren außerstande, das nicht Greifbare in der Gesellschaft der Cro-Magnon-Menschen zu imitieren, die komplizierten Prozesse, denen die Beziehungen zwischen Einzelnen und Gruppen mittlerweile unterlagen. Diese neue und ständig sich wandelnde Partnerschaft zwischen den Lebenden und dem Reich des Übernatürlichen ist der Schlüssel zum Verständnis des Löwenmenschen, eines Fabelwesens, halb Mensch, halb Tier. Die heutige Tschechische Republik im tiefsten Winter vor 35 000 Jahren. Um eine prasselndes Feuer kauert eine in Felle gehüllte Gruppe von Menschen un-

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ter einem Zeltdach, das an der Felswand eines Abris lehnt. Die Kinder schmiegen sich an ihre Eltern. Draußen herrschen Temperaturen weit unter Null Grad Celsius; unter dem Zeltdach liegen sie knapp über Null Grad Celsius, wobei der Rauch des Feuers hoch über den Köpfen der hier Siedelnden unter dem Abzugsloch hängen bleibt. Die meisten Mitglieder der kleinen Gruppe sind jung, die ältesten von ihnen sind Anfang 20. Ein Mann hebt sich von den anderen ab. Sein wettergegerbtes Gesicht lugt aus einer Parkakapuze hervor. Er ist älter und hat einen steifen Arm von einem lange zurückliegenden Jagdunfall. Sein Ausdruck spiegelt seine in vielen Jahren erworbene Lebenserfahrung. Er ist der Geschichtenerzähler, der Mentor der Gruppe. Er erzählt von dem in grauer Vorzeit liegenden Tag, an dem die Welt zu existieren begann, geschaffen von den bekannten intelligenten Tierarten, ihrem Jagdwild. Im Laufe der Zeit schufen die Tiere nicht nur Felsen und Täler, Flüsse und Wälder, sondern auch die Menschen, Männer und Frauen. Der Stammesälteste spricht stundenlang. Seine Stimme hebt und senkt sich. Gelegentlich hält er inne, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, oder gestikuliert dramatisch, während er den Charakter eines Menschen oder Tieres beschreibt. Jeder hat diese Geschichte schon einmal gehört, aber seine Zuhörer sind so aufmerksam, als würden sie ihr zum ersten Mal lauschen. Die Erzählung beflügelt ihre Fantasie, beschwört uralte Kräfte und die spirituellen Beziehungen, die die Jäger und ihre Welt schützen. Während er spricht, malen sie sich im Geiste den Kosmos, die imaginäre Welt seiner Erzählung aus. Eines Tages, wenn der Stammesälteste ein verehrter Ahn geworden ist, wird einer seiner Nachfahren dieselbe Geschichte erzählen. Weder der Alltag noch die Erzählung werden ganz gleich sein, aber es wird stets eine enge, sich ständig wandelnde Beziehung zwischen beiden geben ... Wer war nun der Löwenmensch? War er ein Fabelwesen oder eine lebende Person mit ungewöhnlichen übernatürlichen Kräften? Die löwenköpfige Figur lässt auf eine Form der Verwandlung schließen, eine mühelos passierbare Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich des Übernatürlichen. Wir werden natürlich niemals herausfinden können, zu welchem Zweck die Skulptur des Löwenmenschen geschaffen wurde, aber es ist naheliegend, dass sich dahinter eine Persönlichkeit mit großer Macht in ihrem gesellschaftlichen Umfeld verbarg – jemand, der gute Beziehungen zur Welt der Lebenden und zu den Kräften des Übernatürlichen pflegte. Menschen mit übernatürlichen Kräften spielen bis heute in vielen Gesellschaften eine große Rolle. Sie werden oft verallgemeinernd und irreführend als „Schamanen“ bezeichnet, ein Begriff, der dem Wort saman (es stammt von

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den sibirischen Hirten) entlehnt ist.6 Die sibirischen samans vermitteln zwischen der Welt der Lebenden und anderen Reichen, in denen Götter, Vorfahren und die Natur lenkende Geister leben. In durch Selbsthypnose oder durch Halluzinogene herbeigeführter Trance wechseln sie zwischen diesen Reichen hin und her. Auch sind sie sich der Macht einer eindrucksvollen Darbietung und der Angst vor dem Unsichtbaren stark bewusst. Schamanen benutzen häufig aufwendige Utensilien: exotischen Kopfputz, Federn und Tierfelle, Masken, Amulette und Anhänger, die von ihrer Kleidung herabbaumeln, sowie vor allem Rasseln und Trommeln. Sie sind sehr einflussreich. Nicht alle Menschen mit solchen Kräften sind Schamanen, aber all diese Personen zeichnen sich durch gemeinsame typische Verhaltensweisen aus. In Gesellschaften, in denen keine Grenzen zwischen Menschen und ihrer Umwelt sowie zwischen Lebenden und ihren Vorfahren einschließlich des Reiches des Übernatürlichen existieren, führen sie Rituale der Verwandlung durch, des Übergangs von einem Reich in ein anderes. Dieses Kontinuum zwischen der Welt der Lebenden und dem Jenseitigen finden wir in vielen Jäger-und-Sammler-Kulturen und bäuerlichen Gesellschaften, wo es bereits seit sehr langer Zeit ein fester Bestandteil ihrer Kultur ist. Die Existenz des Löwenmenschen in der Hohlenstein-Höhle spricht dafür, dass diese durchlässigen Grenzen bereits in der Gesellschaft der AurignacienMenschen bestanden. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass es Schamanen unter den Cro-Magnon-Menschen gab. Allerdings wird es Personen gegeben haben, die besondere Beziehungen zur Welt des Übernatürlichen pflegten. Das sollte uns nicht überraschen, denn das Leben der Aurignacien-Menschen drehte sich – ebenso wie das der Neandertaler und der späteren CroMagnon-Kulturen – um den Rhythmus der Jahreszeiten, die Erntezeiten und die Litanei von Geburt, Leben und Tod. Jede Jäger-und-Sammler-Gesellschaft der Geschichte ist in die gleichen zyklischen, sich endlos wiederholenden Routineabläufe eingebunden. Die Menschen verstanden sich als Teil einer belebten Welt, in der Tiere, Pflanzen, ja sogar Landmarken und unbelebte Objekte animiert waren. Die Umwelt des Menschen war beseelt, definiert durch fassbare oder nicht fassbare Mächte oder Persönlichkeiten, ob menschlicher oder nichtmenschlicher Natur. Um in solch einer Welt zu leben, benötigte man eine starke Vorstellungskraft, die Fähigkeit, in Konzepten zu denken, zu singen, zu musizieren und Geschichten zu erzählen. Menschen mit übernatürlichen Kräften sind stets Männer und Frauen mit Charisma und besonderen persönlichen Eigenschaften, weshalb sie auch oft

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gefürchtet werden. Es ist eine eindrucksvolle Erfahrung, solch eine Person bei der Ausübung ihrer Fähigkeiten zu erleben. Vor vielen Jahren wurde ich Augenzeuge, wie sich ein Medium für Geister vom Volk der Danda im zentralafrikanischen Sambesi-Tal in Trance versetzte und die Genealogie und Geschichte seiner Vorfahren derart präzise rezitierte, dass die dort versammelte Menge überzeugt war, die Vorfahren sprächen tatsächlich durch diese Person. Das Medium befand sich in einer heiklen Position, denn den Vorfahren lag in erster Linie das Wohl der Menschen am Herzen, und es musste den Ruf wahren, glaubwürdig und authentisch zu sein. Das Medium führte über viele Jahre eine gutgehende „Praxis“, deren Erfolg es teilweise seiner klugen Einschätzung der öffentlichen Meinung verdankte. Manchmal waren Menschen mit derartigen Kräften Heiler und Magier, und möglicherweise nahmen sie diese Positionen auch in der Gesellschaft der CroMagnon-Menschen ein, wo sie in der Lage waren, Glück und Unglück über die Menschen zu bringen. Anhand der Höhlenmalereien in fern vom Tageslicht gelegenen Kammern können wir vermuten, dass sich einige von ihnen weitab von der Welt der Lebenden in Einsamkeit und Dunkelheit der Suche nach Antworten widmeten.7 Solche Individuen besaßen schauspielerische Fähigkeiten und waren sich der Macht von Rassel und Trommel, flackerndem Feuerschein und geheimnisvollen Schatten, von Erzählungen und Tänzen sehr wohl bewusst. Sie nahmen die Meinung der anderen genau wahr, verkündeten Urteile und führten Jagdrituale durch. Vor allem waren sie diejenigen, die ein riesiges Repertoire an mündlich überlieferten Traditionen und Legenden sowie das Wissen um die korrekte Durchführung von Ritualen bewahrten. Der Löwenmensch ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass zumindest einige derartiger Rituale bei den Menschen des Aurignacien im oberen Donaugebiet durchgeführt wurden. Diese Rituale setzten eine enge Beziehung zwischen den Menschen und den von ihnen als mächtig empfundenen Tieren voraus, die sich grundlegend von der Beziehung der Neandertaler zu den Tieren unterschied. Alles, was wir über die Rituale und die Glaubenswelt der Cro-Magnon-Menschen wissen, verdanken wir ihrer Kunst. Jahrelang gingen die Fachleute davon aus, dass sich die Aurignacien-Menschen als Künstler ausprobierten, ihr Geschick möglicherweise nicht groß war und ihr zeremonielles Leben eher kümmerlich. Es gab nur wenige Höhlenmalereien, die sich ihnen zuschreiben ließen, und die Gravuren, die sie auf Geweih oder Knochen anbrachten, waren

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nicht besonders aufwendig. Der Löwenmensch erschütterte diese Überzeugung, ganz zu schweigen von den Entdeckungen in der Grotte Chauvet. Am 18. Dezember 1994 zwängten sich drei an Archäologie interessierte Höhlenforscher – Eliette Brunel Deschamps, Jean-Marie Chauvet und Christian Hillaire – durch eine schmale Öffnung in einer Wand des Cirque d’Estre in der Ardèche. Der Eingang war lediglich 80 Zentimeter hoch und 30 Zentimeter breit und führte in einen schmalen Vorraum mit unebenem Boden. Die drei Forscher spürten einen Luftzug aus der Richtung eines verschütteten Ganges, räumten die ihn blockierenden Steine beiseite und erblickten eine riesige, drei Meter tiefer liegende Kammer. Nachdem sie mit einer Strickleiter zurückgekehrt waren, stiegen sie in ein Höhlensystem hinab, das atemberaubende Kalzitsäulen birgt. Verkalkte Bärenknochen und -zähne lagen neben flachen Senken am Boden, in denen die Tiere überwintert hatten. Plötzlich schrie Deschamps überrascht auf. Das Licht ihrer Lampe war auf zwei mit rotem Ocker gezogene Linien gefallen, dann erfasste es das kleine Bild eines Mammuts. Bald darauf gelang es der Gruppe, in die Hauptkammer vorzudringen, wo sie weitere Malereien entdeckte: Handabdrücke und Darstellungen von Mammuts und Höhlenlöwen. Dem Maul eines Höhlenlöwen entweicht ein Kreis aus Punkten. Als sie auf die Malereien starrten, überkam die drei Forscher „ein seltsames Gefühl. Alles war so schön und sah so neu aus, beinahe zu neu. Die Zeit war ausgelöscht – als ob die Zehntausende von Jahren, die uns von den Schöpfern dieser Malereien trennen, nicht mehr existierten.“8 Die Grotte Chauvet war seit der ausgehenden Eiszeit unberührt geblieben. Der ursprüngliche Eingang ist verschüttet, aber in seiner Nähe befinden sich drei in Rottönen gehaltene Malereien von Höhlenbären, die man an ihrer steilen Stirn erkennen kann. Eine natürliche Wölbung im Fels bildet die Schulter des größten Bären. Chauvet war eine Bärenhöhle, lange bevor Cro-Magnon-Menschen sie besuchten. Die sorgsam arrangierten Bärenknochen und -schädel deuten darauf hin, dass die Menschen den Bären auf diese Weise ihre Ehrerbietung erwiesen. Nach jahrtausendelanger Nutzung war die Höhle verlassen worden, vielleicht als der Zugang unerwartet einstürzte, wobei der Boden jedoch intakt und unverändert blieb. Die Feuerstellen am Boden wirkten, als seien sie erst am Vortag gelöscht worden. Flammende Fackeln waren an den Höhlenwänden gerieben worden, um das verkohlte Material zu entfernen, damit sie weiterhin Licht gaben. Etwas tiefer in der Kammer lag eine von der Decke herabgefallene Steinplatte, auf der ein Bärenschädel platziert war; dahinter befanden sich die

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Überreste einer kleinen Feuerstelle. Mehr als 30 kalzitbedeckte und bewusst arrangierte Bärenschädel rahmten die Steinplatte ein. In einer angrenzenden Kammer am Ende der Höhle entdeckten die drei Forscher ein zehn Meter hohes Panneau, das schwarze Figuren zeigt, dominiert von Löwinnen oder mähnenlosen Löwen, Nashörnern, Wisenten und Mammuts. Experten wurden herbeigerufen, und man nahm 14C-Proben von den Malereien. Zum großen Erstaunen aller Beteiligten erwiesen sich die jüngsten Malereien als 33 000 Jahre alt. Neukalibrierungen dieser Radiokohlenstoffdaten korrigierten das Ergebnis schließlich auf ein Alter von 36 000 Jahren. Wenn diese Datierung stimmt, haben Aurignacien-Menschen die Grotte Chauvet besucht und darin gemalt. (Fotos von den Höhlenmalereien aus Chauvet finden Sie auf den Tafeln I und II.) Die Menschen hinterließen ihre Abdrücke an den Wänden. In einer seitlichen Kammer in der Nähe des Eingangs brachte ein Aurignacien-Besucher Anhäufungen roter Tupfen auf einer vorspringenden Felsoberfläche an. Er oder sie erzeugte die Tupfen mit der in rote Farbe getauchten Handfläche, die dann gegen den Fels gedrückt wurde. Stellenweise sind sogar Spuren der Finger zu erkennen. Fast alle Tupfen befinden sich auf derselben Höhe, als ob ein und dieselbe Person sie erzeugt hätte. Eine kleinere Person, vielleicht ein Jugendlicher, bemalte eine andere Fläche. An einer anderen Stelle wiederum erstreckt sich eine geneigte Bildfläche über eine Länge von etwa zwölf Metern. Hier malte der Künstler rote Nashornfiguren. Über einigen Handabdrücken befindet sich eine gewellte lange Linie. Es gibt auch Negative von Handabdrücken, die nur die Kontur abbilden, während die Fläche leer ist. Das gesamte Bild ist ein kompliziertes Palimpsest von Tieren, geometrischen Zeichen und Handabdrücken, die allesamt in Rot aufgebracht wurden. Eine Kammer ohne Bilder führt zu einem anderen Abschnitt der Höhle, in dem sich in Schwarz gehaltene Malereien befinden und eingeritzte Motive häufig sind. Große, parallel herabhängende Felsen weisen Gravuren auf. Eine davon zeigt eine Waldohreule, die ihr Gesicht dem Betrachter zuwendet, während die Vorderseite des Rumpfes abgewandt ist. Es ist das älteste uns bekannte Bild einer Eule, das ihre Fähigkeit, den Kopf um 180 Grad zu drehen, dokumentiert. Hieraus können wir ersehen, wie gut der Künstler mit seiner Umwelt vertraut war. In vielen Kulturen werden Eulen mit übernatürlichen Kräften in Verbindung gebracht, stehen für die Unterwelt oder stellen Geister Verstorbener dar. Niemand Geringeres als William Shakespeare schrieb: „Die Eule wars [sic], die schrie, der Unheilsbote, / Der gräßlich gute Nacht wünscht.“9 Er wusste, dass

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Das Rätsel von Chauvet die malereien in der grotte chauvet zählen zu den spektakulärsten höhlenmalereien der cro-magnon-menschen. die künstler besaßen ein komplexes Verständnis der perspektive und anderer gestaltungsprinzipien, und zwar derart, dass die Fachwelt zunächst davon ausging, die malereien seien vor weniger als 8000 Jahren angefertigt worden. die aus winzigen proben weniger Bilder sowie aus holzkohle vom höhlenboden gewonnenen 14c-daten sorgten für eine sensation. sie datierten die nutzung der höhle auf einen Zeitraum von vor ungefähr zwischen 36 000 bis mehr als vor 24 000 Jahren. sollten sich diese datierungen als korrekt erweisen, waren viele dieser malereien das werk von aurignacien-künstlern. nach anfänglichem Erstaunen akzeptierten die meisten Fachleute die datierung dieser kunstwerke in das aurignacien. aber liegen sie damit richtig?10 höhlenkunst zu datieren ist nie einfach, selbst wenn man kleinste proben für die Beschleuniger-massenspektrometrie aus einzelnen malereien entnehmen kann, ohne diese zu beschädigen. sofort standen Fragen zu den chauvet-daten und ihrer Bedeutung im raum. wurden die malereien alle zur selben Zeit geschaffen? wurden sie später ausgebessert und die probe stammte von einer nicht mehr nachweisbaren auffrischung eines Bildes? woher wissen wir, ob die höhle nicht wiederholt über viele Jahrtausende hinweg genutzt wurde, oft mit langen perioden zwischen den Besuchen, in denen sie ungenutzt blieb. im Fall von chauvet zogen sich die Besuche und das Erstellen der malereien offenbar Zehntausende von Jahren hin, falls die derzeitige zeitliche Einstufung zuverlässig ist. selbst wenn man von den schwierigen Fragen möglicher kontaminationen von proben absieht, die entweder aus unachtsamkeit im labor entstanden oder bevor man die proben aus der malerei entnahm, benötigt man eine wirklich große probenzahl von verschiedenen Bildern, um eine auch nur vorläufige chronologie erstellen zu können. Bislang wurden nur sechs proben von drei Bildern zur datierung der chauvetmalereien herangezogen, die alle in demselben labor für 14c-datierungen untersucht wurden. Vor dem hintergrund der Erfahrungen mit anderen datierungssequenzen ist dies wahrscheinlich ein manko. Viele der radiokohlenstoffdaten stammen aus holzkohleablagerungen auf dem höhlenboden, die nicht direkt mit den malereien an den wänden in Verbindung gebracht werden können. sie könnten Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende vor oder nach dem aufbringen der malereien entstanden oder dort entsorgt worden sein. darüber hinaus besitzen wir nur sehr wenige artefakte. in der regel handelt es sich dabei um kaum mehr als abschläge oder klingen, die ohne datierbaren kontext über den Boden verstreut lagen. sie finden sich definitiv nicht gehäuft in der nähe eines bestimmten motivs oder panneaus. Es gibt noch andere heikle punkte. Experten für höhlenkunst weisen darauf hin, dass viele der stilistischen und technischen merkmale der darstellungen in der grotte

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chauvet anderswo unbekannt sind und erst sehr viel später auftauchen. auch ist nicht sämtliche kunst dieser höhle homogen – es gibt verschiedene stile, was jedoch nicht zwingend bedeutet, dass sie später geschaffen wurden. andere uns bekannte Beispiele für aurignacien-kunst an höhlenwänden sind selten, auch wenn man bemalte steinplatten in höhlenschichten gefunden hat. doch wie erklärt man dann das plötzliche Erscheinen anspruchsvoller höhlenmalereien an nur einem ort? und warum gibt es praktisch keine Fundorte des aurignacien in der nähe der grotte chauvet? die höhle ist ein einsames meisterwerk. man kann natürlich argumentieren, dass menschen aus großen Entfernungen zu ihr kamen oder ihre Besucher in temporären lagern, deren spuren vollkommen verschwunden sind, in der nähe kampierten, aber allein der mangel an Fakten lässt das ganze noch rätselhafter erscheinen. wo stehen wir also jetzt? niemand glaubt, dass die höhlenmalereien das werk einer oder mehrerer personen sind, die all das im Zuge einer einzigen kreativen phase schufen. die menschen kamen mehrfach zur grotte chauvet – vielleicht um hier Zeremonien durchzuführen und zu malen. in anbetracht der ungenauigkeit der 14cdatierungen ist es wahrscheinlich am unverfänglichsten zu sagen, dass sich unter den höhlenmalern auch menschen des aurignacien befanden. später mögen noch andere hinzugekommen sein. im rahmen dieses Buches habe ich viele der höhlenmalereien von chauvet den aurignacien-menschen zugeschrieben. theoretisch waren sie auf jeden Fall in der lage, malereien zu erschaffen, die genauso eindrucksvoll wie die ihrer nachfolger sind. das problem besteht darin, diese Zuweisung frei von jedem vernünftig begründeten Zweifel zu belegen. Zu diesem Zweck wird man eine noch sehr viel größere Zahl von radiokohlenstoffdatierungen und ebenso umfangreiche wie sorgfältige archäologische untersuchungen benötigen.

viele Menschen den Vogel als Ankündiger unseres letzten, tiefsten Schlafes sahen. Unter einigen Indianergruppen im Südosten Alaskas wie beispielsweise den Yupik wurden Eulen oft als helfende Geister angesehen, die in Zeremonien mit Gesängen und Maskentänzen geehrt wurden. In diesen Zeremonien wurden Tiere als lebende Menschen gefeiert, die sowohl hilfreich als auch gefährlich sein konnten. In der letzten Kammer der Höhle sehen wir zur Linken neun Löwen und ein Ren. Zur Rechten tummelt sich eine Gruppe von 17 Nashörnern auf eine Art und Weise, die deutlich die Absicht des Künstlers belegt, sie als zusammengehörig darzustellen. Sie haben alle kleine Ohren, eine gewölbte Kieferpartie und rundliche Füße. Die Konturen sind in den Fels geritzt. Ein vollständig sichtbares Nashorn steht ganz oben im Bild; der Künstler fügte dem vorderen Horn noch zwei Hörner hinzu und dem hinteren noch drei, die sukzessive kleiner

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werden. Mit nur wenigen Linien schuf er oder sie so eine Perspektive. Man hat den Eindruck, dass hier eine ganze Herde von Tieren dicht gedrängt steht, eine Illusion, die durch die geraden Linien ihrer Rücken noch verstärkt wird. Das künstlerische Niveau ist atemberaubend. In einer kleinen Mulde sehen vier Wildpferde einander an. Jedes von ihnen hat eine dichte, schwarze Mähne und eine detailliert gemalte Schnauze. Der Maler benutzte die Finger, um eine Paste aus Holzkohle so zu verteilen, dass die Konturen der Figuren verstärkt wurden und fast reliefartig hervortreten. Auf einem anderen Fries kämpfen zwei Nashörner Stirn an Stirn. Ihre Hörner kreuzen sich, und die Stellung ihrer nur grob skizzierten Beine verrät, dass sie um Halt ringen. Darüber hat der Künstler einige frühere Gravuren abgetragen, um anschließend zwei Nashörner und einen Hirsch sowie zwei Mammuts und einige Auerochsen zu zeichnen. Schließlich malte ein einzelner Künstler vier Pferde, indem er oder sie mit dem Pferd ganz links anfing und dann rechts weiterarbeitete. Er/Sie nutzte die Wölbung der Felsoberfläche geschickt aus, indem er/sie Lehm von der Oberfläche mit Holzkohle vermengte, um unterschiedliche Schattierungen zu erzielen. Etwa 40 Pferde wurden in der Grotte Chauvet gezeichnet – eine recht geringe Anzahl im Vergleich zu anderen abgebildeten Tieren: 76 Mammuts, 75 Raubkatzen (überwiegend Löwen) und 65 Nashörner. An einer anderen Stelle – einer Wand, die rechts von der zentralen Erweiterung der Höhle liegt – verfolgt ein Rudel von 16 Löwen sieben Wisente. Löwenmännchen wie -weibchen sind angespannt, vollkommen auf die Jagd fixiert. Nur ihre Köpfe und Vorderbeine sind zu sehen, aber als Relief, wodurch sie aus der Wand herauszuspringen scheinen. Diese einzigartige Szene ist vermutlich das Werk eines einzelnen Künstlers oder einer einzelnen Künstlerin. Unter den späteren Höhlenmalereien der Cro-Magnon-Menschen gibt es nichts Vergleichbares. Auf den Wänden der Grotte Chauvet sind so gut wie keine Menschen abgebildet. Mächtige und oft gefährliche Tiere beherrschen die Höhle. Einige Schritte vom Löwenmotiv entfernt am Ende der Höhle und auf der gegenüberliegenden Seite sind zwei schwarze Raubkatzen und ein Pferd auf einer Seite eines herabhängenden Felsens aufgebracht, während auf der anderen Seite eine schwarze, aufgerichtete Kreatur steht. Ihr Oberkörper entspricht einem Wisent, die untere Körperhälfte einem Menschen. Beide Beine sind deutlich zu erkennen. Wenn man die Höhle betritt, sieht man dieses Motiv als erstes. Ein ausgefülltes Dreieck ist vorne auf den Rumpf aufgemalt. Die konkav geformte Basis trägt eine Markierung.

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Eine andere Formation herabhängender Felsen reicht bis auf 1,30 Meter zum Boden hinab. Schwarze Zeichnungen und Gravuren bedecken alle vier Seiten, darunter die Umrisse von vier Löwen, einem Pferd, zwei Mammuts und einem Auerochsen. Dann gibt es dort auf dem unteren Teil des Felsens noch eine seltsame Darstellung eines weiblichen Unterleibs, ebenfalls in Schwarz ausgeführt. Man kann die sich verjüngenden Beine erkennen, das Schamdreieck und die Vulva, die durch eine vertikale, eingeritzte Linie kenntlich gemacht ist. Ein schwarzer Wisent steht zu ihrer Rechten ein wenig oberhalb von ihr. Die Beine enden nicht in den üblichen Stümpfen, sondern laufen in dünnen Linien aus. Der Altmeister der französischen Höhlenkunst, Jean Clottes, fragt sich, ob die Linien statt der Beine eines Tieres nicht menschliche Hände darstellen sollen. In dieser Lesart würde sich aus der Frau und dem Wisent ein zusammengesetztes Geschöpf ergeben – teils Mensch, teils Wisent. Vielleicht, so merkt er an, „sehen wir einen Zusammenhang mit uralten Mythen, in denen eine Sterbliche eine Beziehung zu einem Gott oder einem übernatürlichen Wesen in Tiergestalt pflegte.“11 Welche Bedeutung hat diese Kunst? Die Höhlenkunst der Cro-Magnon-Menschen hat seit ihrer Entdeckung im späten 19. Jahrhundert für Kontroversen gesorgt. Die ersten Forscher gingen davon aus, dass die Tiere als „Kunst um der Kunst willen“ gemalt wurden oder die Bilder in den dunklen Höhlen als eine Art „um Gunst bittender Jagdzauber“ fungierten. Die Bedeutung dieser Kunstwerke zu entschlüsseln hat ganze Generationen von Wissenschaftlern beschäftigt, die statistische Analysen der Überschneidungen und Platzierungen der Malereien erstellten und unter anderem versuchten, die Entwicklung dieser Kunst durch eingehende Untersuchungen einzelner Friese und Höhlen zu erschließen.12 Seit sich die ersten Forscher vor dem Ersten Weltkrieg im Schein von Karbidlampen mit Pauspapier in den dunklen Höhlen abmühten, haben sich die Methoden zum Kopieren der Bilder erheblich weiterentwickelt. Heutzutage nutzen Wissenschaftler die Farb- und Infrarotfotografie sowie sämtliche technologischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters. So können wir beispielsweise einzelne Bilder datieren, was auch zunehmend getan wird. Aber wir sind immer noch weit davon entfernt, die Bedeutung dieser Kunstwerke zu erfassen. Wir können lediglich durch eine verschleierte Linse und auf die Kunst anderer Jäger-und-Sammler-Kulturen blicken sowie auf mündliche Überlieferungen zurückgreifen, die uns einige der Wege aufzeigen, wie Menschen Kunst verwendeten, um mit dem Reich des Übernatürlichen zu kommunizieren.

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Wir sehen gemalte Bilder als in sich abgeschlossene Kunstwerke, die man über Generationen, ja sogar Jahrtausende hinweg bewundern und schätzen soll. Aber die Bilder der Cro-Magnon-Menschen waren mit Sicherheit weitaus mehr als Kunst. Sie waren bedeutsame Objekte – Bilder, die mit so symbolträchtigen Substanzen wie Ocker und Blut geschaffen wurden. Wir müssen nur einen Blick auf zeitgenössische Jäger-und-Sammler-Gesellschaften werfen, um das zu verstehen, auch wenn uns die genaue Bedeutung der Cro-Magnon-Bilder natürlich verborgen bleibt. Im Rahmen ihrer an Ritualen reichen Kultur, die gemeinhin unter dem Begriff „Traumzeit“ zusammengefasst wird, malten die australischen Aborigines Tiere und komplizierte Symbole auf Felsoberflächen. Das Jäger-und-SammlerVolk der San in Südafrika malt seit Tausenden von Jahren. Die San stellen Jagdszenen dar, Eindrücke vom Leben im Lager, tanzende Männer und Frauen, Jäger bei der Verfolgung von Wild und Menschen, die sich um sterbende Elenantilopen scharen. Wie die australische Kunst sind auch diese Werke mehr als nur reine Kunst. Zwischen 1866 und 1874 sammelte der deutsche Sprachwissenschaftler Wilhelm Bleck mündliche Überlieferungen zu Felsmalereien von Jägern der San, die als Sträflinge an den Wellenbrechern im Hafen von Kapstadt arbeiteten. Alsbald gerieten die Aufzeichnungen in Vergessenheit, bis der Felskunstexperte David Lewis-Williams sie schließlich wiederentdeckte. Er erfuhr aus ihnen sowie aufgrund seiner eigenen Beobachtungen, wie die San in ihren Darstellungen lebende Menschen mit der Welt des Übernatürlichen in Verbindung brachten. In vielen Bildern der San tritt ein Mensch oder Tier durch eine Felsspalte in die Welt ein oder verlässt sie durch diese, erklimmt einen zerklüfteten Fels oder materialisiert sich aus einer Felswand. Vielleicht waren die Höhlen Eingänge zur Geisterwelt, und die Wände selbst stellten eine Art Vorhang dar, der die Welt der Lebenden von der des Übernatürlichen trennte. Lewis-Williams erfuhr auch, dass die San ihre Bilder nicht nur betrachteten, sondern sie auch berührten. Einige Friese unter Überhängen und in Höhlen zeigen Abnutzungsspuren, die von wiederholten Berührungen mit Händen stammen. Anderenorts befinden sich mit Farbe aufgetragene Handabdrücke an den Höhlenwänden.13 Inwieweit können uns nun die Bilder, die von afrikanischen Künstlern geschaffen wurden, hilfreich sein für das Verständnis der Menschen des Aurignacien und der Grotte Chauvet? Ich glaube, dass es auf einer allgemeinen Ebene sehr viele verblüffende Gemeinsamkeiten bei zahlreichen Jäger-und-SammlerGesellschaften gibt. Sowohl in der Grotte Chauvet als auch in Südafrika besteht

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eine enge Beziehung zwischen den aufgemalten Figuren und der Form der Steine. Auch hier hinterließen die Menschen bewusst aufgetragene Handabdrücke an den Wänden, als ob sie etwas aus dem Stein ziehen wollten, vielleicht Kraft. Dann gibt es noch die Mensch-Tier-Figuren: den Löwenmenschen von der Schwäbischen Alb, die rätselhaften, teilweise menschlichen Figuren aus der Grotte Chauvet, die nahelegen, dass man Tiere als Personen ansah und einige Mitglieder der Gesellschaft fähig waren, sich in ihrer und der Vorstellung ihrer Zuschauer in Tiere zu verwandeln. Die Grotte Chauvet beherbergt eine Menagerie gefährlicher und respekteinflößender Tiere, während nur wenige nicht so spektakuläre, leichter zu erbeutende Tierarten vertreten sind. Eine einzelne Eule wacht über eine der Kammern. Viel später wurde sie zu einem Verbündeten des Übernatürlichen. Niemand, der die Grotte Chauvet besucht, wird an der Komplexität und Vielschichtigkeit des Lebens der Cro-Magnon-Menschen zweifeln. Die ersten neuzeitlichen Europäer bereicherten die menschliche Existenz um neue aufregende Elemente: ihre Vorstellungskraft und den Glauben, dass sie ihr Leben umgeben von den lebendigen Mächten der übernatürlichen Welt inmitten einer Landschaft führten, deren tiefe symbolische Bedeutung überall präsent war. Offensichtlich waren diese allgemeinen Glaubensvorstellungen bereits uralt, als die Menschen in das Europa der ausgehenden Eiszeit Einzug hielten. Wir wissen, dass Glaubenskonzepte wie die der San in riesigen Gebieten Ostund Südafrikas verbreitet waren, und so ist es nicht allzu weit hergeholt, anzunehmen, dass auch die ersten modernen Menschen, die vor mehr als 50 000 Jahren aus Afrika auszogen, glaubten, in den Tieren würden Menschen weiterleben, erbeutetes Jagdwild verleihe ihnen dessen Kräfte und es gäbe ein Reich des Übernatürlichen. Im Laufe der Zeit könnten diese Glaubensvorstellungen die spirituelle Grundlage der Cro-Magnon-Gesellschaft gebildet haben, wenn sie sich auch in Details und den betreffenden Tierarten voneinander unterschieden haben mögen. Es hat nie eine Jäger-und-Sammler-Kultur des Homo sapiens auf der Erde gegeben, die nicht über eine Reihe komplexer Glaubensvorstellungen verfügte oder sich selbst als Teil eines stark symbolbehafteten Reiches verstand. Aus diesen Vorstellungen und Annahmen schöpften kleine nomadische Gruppen, die oft in Zeiten großer Klimaumschwünge lebten, Kraft. Beispielsweise müssen sich die in den Wüstengebieten im Herzen Australiens lebenden Eingeborenen ständig an die Dürreperioden anpassen. Sie tun es, indem sie umherziehen, wobei sie ihr Werkzeug oder ihre Lebensweise nur minimal verändern. Was sich allerdings verändert, ist das Geflecht ihrer religiösen Vorstellungen und

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die Ausübung von Ritualen, die auf die starke Dürre oder andere sich ändernde Lebensumstände abgestimmt werden.14 Die Aurignacien-Menschen verbreiteten sich schnell in Europa und durchquerten sich rasch wandelnde, häufig kalte und unwirtliche Landschaften, die auf ihre Weise nicht weniger herausfordernd als die australische Wüste waren. Vielleicht sollte es uns nicht überraschen, dass sie ein vielschichtiges spirituelles Leben führten. Die Cro-Magnon-Menschen überlebten in Eurasien, weil sie sowohl Wege gefunden hatten, jenseits des Horizonts lebendes Jagdwild und andere Nahrungsquellen ausfindig zu machen, als auch Mittel, um die entsprechenden Informationen über weite Entfernungen hinweg auszutauschen. Ihre Technologie zur Fertigung von Projektilen war hoch entwickelt und in Kombination mit den häufig über große Distanzen gepflegten Beziehungen sehr effektiv. Diese Beziehungen gingen mit einem komplexen Symbolismus und vielschichtigen Verbindungen zur mächtigen Welt des Übernatürlichen einher, wie sie beispielsweise brillant in den Gravuren und Malereien der Grotte Chauvet dokumentiert sind. Als es in ihrer neuen Heimat vor 37 000 Jahren zunehmend kälter wurde, gelang es den Cro-Magnon-Menschen, sich in den Jahrtausenden noch nie dagewesener und oft rasch wechselnder Klimaverhältnisse in einer der lebensfeindlichsten Umgebungen der Erde zu behaupten.

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Kapitel 8 Fell, Fett und Feuerstein

Mähren gegen Winterende vor 29 000 Jahren. Der zwölfjährige Junge sitzt teilnahmslos an der Feuerstelle. Er macht einen erschöpften Eindruck, und seine Schultern hängen herab. Er hat den Tag in der Kälte verbracht und mit seinem Vater Fallen für Polarfüchse aufgestellt. Gegessen hat er nur einige Händevoll getrocknetes Fleisch. Dies ist die Zeit des Hungers, wenn nur wenige Rentiere in der Gegend sind und die Menschen den größten Teil ihres Körperfetts verbrannt haben. Die Mutter des Jungen mustert ihn mit geschultem Blick, greift in ihre kostbare Vorratstasche mit Rentierfett von den Jagden im Herbst und schmilzt einen Klumpen davon über dem Feuer. Sie füllt das gehaltvolle Schmalz in einen Lederbeutel und reicht ihn ihrem Sohn, der es gierig trinkt. Er hüllt sich in dicke Felle und fällt allmählich in tiefen Schlaf. Als die kalte, graue Morgendämmerung anbricht, erwacht der Junge, inzwischen wieder voller Energie. Sein Vater will, dass er ihn auf seiner Route zu den aufgestellten Fallen begleitet, aber die Mutter ist dagegen. Seine Stiefel sind zu klein und die Sohlen beinahe durchgelaufen. Er zappelt nervös herum, während sie ihn auf einer am Boden ausgebreiteten Rentierhaut stehen lässt. Dann hockt sie sich zu seinen Füßen nieder und schneidet mit einem scharfen Messer aus Feuerstein um seine Fußsohlen herum. Als er nicht ruhig stehen bleibt, weist sie ihn scharf zurecht. „Wir gehen jetzt“, erklärt sein Vater, der noch seinen Speer poliert, ärgerlich. Aber die Mutter besteht darauf, ihr Werk zu vollenden. Sie muss noch weitere Maße nehmen. Mit dem braunen Haarkleid auf der Innenseite spannt sie sorgfältig vorbereitete Rentierbeinfelle um seine Beine. Sie nimmt genau Maß und schneidet präzise zu, Stück für Stück. Mit sicherer Hand heftet sie die Hauptnähte, vor allem um die Knöchel herum. Die Stiefel nehmen wie eng um die Beine ihres Sohns gehüllte Röhren Gestalt an. Zufrieden fordert sie ihn auf, sie vorsichtig auszuziehen. Dann reicht sie die Stiefel an die ältere Schwester des Jungen weiter. Der Vater seufzt ungeduldig und winkt seinem Sohn, ihm nach draußen zu folgen. Sie nehmen ihre Jacken und Speere und brechen auf. Die Mutter bleibt neben ihrer Tochter sitzen und sieht ihr aufmerksam zu. Anfangs verbindet das Mädchen nur zaghaft die Streifen des Rentierbeinfells mit Nadel und Faden. Das Fell der Vorderbeine kommt auf die Vorderseite der Stiefel und das der Hinterläufe auf die Rückseite. Die Mutter wechselt zwischen Nörgeln und Ermutigung ihrer Tochter, prüft, ob die

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kapitEl 8

Nähte auch dicht und so regelmäßig genäht sind wie möglich. Dann überwacht sie das Übernähen der ursprünglichen Heftnähte, das die Säume wasserdicht machen soll.1 Weder Mutter noch Tochter verlassen an diesem bedeckten, eisigen Tag die Feuerstelle, aber der Jäger und sein Sohn sind weit draußen unterwegs. Ein leichter Wind von Norden kündigt Neuschnee an. Das schneebedeckte Tal liegt grau und still unter der niedrigen Wolkendecke. Die Nadelbäume in den höheren Lagen sind schwarz und unbewegt. Ein einsam am Fluss stehender Wisent kratzt mit dem Huf im Schnee, um an Flechten heranzukommen. Ohne auf die beißende Kälte zu achten, schreiten Vater und Sohn langsam durch die ebenerdige Flussaue. Ihre Blicke stehen nie still. Stets halten sie nach Raubtieren Ausschau, die zwischen den dunklen Felsen am Rand des Wassers lauern könnten. Die Jäger sind stundenlang unterwegs, ohne einen einzigen hermelinweißen Polarfuchs über das offene Gelände laufen zu sehen. Um ein derart scheues Wild zu erbeuten, benötigt man unendliche Geduld und großes, auf langer Erfahrung beruhendes Geschick. Während sie die Landschaft durchstreifen, kommentiert der Vater die Suche und vermittelt dem Jungen sein Wissen über Füchse, das auf seinen eigenen mühsam erworbenen Kenntnissen und denen seines schon lange verstorbenen Vaters basiert. Er erzählt, wie ihre Beute im Sommer auf der Suche nach Beeren und kleinem Getier auf den Ebenen weite Kreise zieht. Das Sommerfell ist fahlbraun, und die Füchse sind nur schwer zu entdecken, geschweige denn zu jagen. Polarfüchse werden im Winter gejagt. Dann ist ihr Fell weiß, und die Tiere sind im Schnee fast unsichtbar, weshalb die Erfahrung bei der Jagd so wichtig ist. Der Jäger hat die Fallen in der Nähe von Raubtieren erlegter Tiere aufgestellt, die er schon vor dem Schneefall entdeckt hat. Die Füchse wittern diese Plätze und graben sich dorthin führende Tunnel durch den Schnee. Er erinnert seinen Sohn an einen lange verlassenen Fleischvorrat aus einem früheren Sommer, den ein Fuchs angelegt hatte, jedoch nie verzehrte. Er berichtet, dass die Füchse in den Schnee urinieren, um das unter der Oberfläche liegende Aas zu markieren. An solchen Orten pflegt er seine Fallen aufzustellen.2 Die Urinflecken sind blass, reichen aber aus, um anzuzeigen, dass ein Fuchs in der Nähe war. Zwei kleine angehäufte Schneeberge führen zu einem dunklen Quadrat am Boden. Die Jäger vernehmen die Laute panikartigen Scharrens. Der Sohn prescht vor und schaut in das Loch. Er stößt einen triumphierenden Ruf aus. Ein Fuchs ist auf den angespitzten Geweihenden am Boden der Falle aufgespießt. Der Vater tötet ihn mit einem raschen Speerstoß. Sein Sohn

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liegt bäuchlings im Schnee und hebt das tote Tier heraus. Er legt es zur Seite, nimmt es flink aus und hilft, die Falle erneut einsatzbereit zu machen. „Deshalb brauche ich dich hier“, sagt der Vater, während sie die biegsamen Stöcke neu ausrichten, die erst nachgaben und dann wieder in ihre Ausgangsposition zurückfederten, als der Fuchs durch sie in das Loch eingebrochen war. Dann bestücken sie die Falle zwischen den beiden angehäuften Schneereihen, die die Füchse direkt zu den verführerischen Bissen lenken, auf der gegen den Wind liegenden Seite mit einem neuen Köder und ziehen weiter zur nächsten Falle. Am Ende des Tages kehren die Jäger mit vier gefangenen Füchsen zurück. Jetzt sieht der Vater zu, wie sein Sohn mit einer kleinen, scharfkantigen Feuersteinklinge Einschnitte auf den Innenseiten der Beine anbringt. Dann zieht er den Füchsen das Fell ab, indem er die Haut um die Lippen herum entfernt, das Fell über den Kopf zieht, es umkrempelt und schließlich vollständig vom Körper löst. Danach kratzt seine Schwester mit einem Steinschaber das Fett von der Hautseite und spannt die Felle im Zelt zum Trocknen auf Holzgestelle auf ... Der Junge aus unserer Geschichte weiß nicht, dass sich das europäische Klima und mehr noch die europäische Geografie in einem gravierenden Wandel befinden.3 Die Welt der Cro-Magnon-Menschen wurde kälter. Schnee und Frost dauerten bis in den Mai oder sogar Juni hinein an. Den ersten Frost gab es Mitte September, manchmal sogar früher. Der Winter währte nun mehr als sechs gute Monate, manchmal sogar bis zu neun Monaten, vor allem in der bitterkalten offenen Tundra. Eisbohrkerne, Pollensequenzen und geologische Beobachtungen im gesamten Westen ergaben, dass die Schneegrenzen fielen und das Gletschereis unerbittlich die nördlichen Bergflanken herabwanderte. Vor 27 000 Jahren hatte sich der Skandinavische Eisschild gewissermaßen von nichts auf eine derartige Größe erweitert, dass er ganz Norwegen und Schweden sowie die heutige Ostsee und zwei Drittel der Britischen Inseln bedeckte. Fernab im Süden erstreckten sich die großen Alpengletscher auf sehr viel niedriger gelegene Hänge. Die Ausläufer der Pyrenäen waren eine eisige Wildnis (Karte 6). Wo keine Gletscher das Land bedeckten, war die Landschaft baumlos und die Vegetation spärlich. Insektenfossilien verraten uns, dass die Durchschnittstemperatur im heutigen England im Juli vor zwischen 40 000 und 25 000 Jahren bei etwa zehn Grad Celsius lag – und das in einer Gegend, in der grundsätzlich ein Meeresklima herrscht. Eine Mammutsteppe von gewaltiger Größe erstreckte sich von England aus nach Osten und über die damals nahezu wasserlose Nordsee bis nach Sibirien.

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karte 6: Europa während des letzten kältemaximums.

Während der vorangegangenen wärmeren Jahrtausende war die nordeuropäische Ebene im Westen abwechselnd mit Nadelwäldern und Tundra im Norden sowie in kühleren Perioden mit einem Mosaik aus Tundra und kalter Steppe bedeckt gewesen. Doch jetzt verwandelten sich große Teile Europas allmählich in eine Eiswüste. Vor 22 000 Jahren lag der Meeresspiegel um 100 Meter oder mehr niedriger als heute. Der größte Teil der Nordsee war eine trockene Landfläche, Großbritannien gehörte zum europäischen Kontinent und war ein großflächiger Festlandsockel westlich des heutigen Frankreichs. Überall war der Baumbewuchs spärlich oder fehlte ganz, außer in geschützten Gegenden wie tiefen Flusstälern nördlich des 42. Breitengrades, auf dem Mittelitalien liegt. Mittlerweile war die osteuropäische Ebene extrem kalt und trocken. Die Ausdehnung arktischer Pflanzen reichte 1800 Kilometer weiter in den Süden als heute. Während die Sommertemperaturen bei ca. elf Grad Celsius lagen,

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also nur zwei bis drei Grad unter den heutigen Werten, sahen die Temperaturverhältnisse im Winter ganz anders aus. Nach dem zu urteilen, was wir über die Vegetation wissen, betrug die Durchschnittstemperatur im Januar ungefähr minus 3,8 Grad Celsius. In weiten Gebieten herrschte Permafrost. Europa hatte bereits eine ähnlich langsam fortschreitende Abkühlung bis hin zu extremer Kälte überstanden, und zwar in den Jahrtausenden, die zu dem ersten Kälteeinbruch des letzten Glazials vor etwa 70 000 Jahren geführt hatten. Zu jener Zeit waren die Neandertaler die einzigen Menschen in Europa gewesen. Sie überlebten, indem sie in geschützte Täler und in die etwas wärmeren Regionen Italiens und südlich der Pyrenäen zogen, doch selbst während milderer Jahrtausende ließen sie sich nie dauerhaft in den Flusstälern der offenen Mammutsteppe im Norden und Osten nieder. Wir können ziemlich sicher sein, dass ihnen hierfür die Werkzeuge und vor allem angemessene Bekleidung fehlten. Ihre Zahl war zu gering und ihre Jagdmethoden waren vornehmlich opportunistisch. In deutlichem Kontrast zum Schicksal der Neandertaler erlebten die CroMagnon-Menschen in Mittel- und Osteuropa eine Blütezeit, als sie Tausende von Jahren später mit einer ähnlich starken Abkühlung konfrontiert wurden. In einem Lebensraum, der bald schon zu den kältesten der Erde zählen sollte, nahm ihre Zahl erheblich zu. Warum waren die Cro-Magnon-Menschen unter den Bedingungen erfolgreich, die den Rückgang der Neandertaler einläuteten?4 Wir können auf ihre überlegenen kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten verweisen sowie auf ihre Gabe, zu kooperieren und im Voraus zu planen, und ihr vielschichtiges spirituelles Leben. Doch all diese Eigenschaften waren bereits seit der Ankunft der Menschen des Aurignacien jahrtausendelang etabliert. Was wirklich eine Rolle spielte, als die Kälte hereinbrach, war die Innovationsfähigkeit, die Homo sapiens von Anfang an auszeichnete. Wir neigen dazu, zu vergessen, vor wie kurzer Zeit die Vorfahren der Cro-Magnon-Menschen die offenen Ebenen Afrikas und Südwestasiens verlassen hatten – Umgebungen, in denen sie in weitläufigen Gebieten gejagt und weit verstreut liegende pflanzliche Nahrungsquellen genutzt hatten. Die ersten in Eurasien eintreffenden Cro-Magnon-Menschen verdankten ihrer afrikanischen Herkunft noch sehr viel, vom Jagdgeschick bis hin zu leichteren Waffen, die an offene, relativ trockene Landschaften angepasst waren. Sie waren gewandt und schnell, geschickt im Beschleichen ihrer Beute und darin, sich die geografischen Merkmale der Landschaft zum Belauern von Jagdwild zunutze zu machen. All diese Fähigkeiten waren für die Aurignacien-

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Menschen während der wechselhaften, etwas wärmeren Klimabedingungen in der Zeit von vor 29 000 Jahren von großem Vorteil. Wilde Pflanzen und Früchte waren in Gegenden mit extrem kurzen Wachstumsperioden nicht wichtig. Eine Studie über moderne Karibujäger aus Alaska ergab, dass die meisten Menschen im Jahr wahrscheinlich nicht mehr als durchschnittlich eine Tasse pflanzliche Nahrung zu sich nahmen. Trotz einiger kurzer warmer Intervalle waren die Winter auf dem größten Teil des Kontinents lang und bitterkalt, insbesondere in Mittel- und Osteuropa. Doch genau hier, in flachen Flusstälern und in Behausungen, die teilweise in den Boden gegraben waren, verfeinerten die Gruppen der Cro-Magnon-Menschen ihre Fähigkeit, in kalten Wüstenlandschaften zu jagen, auf gewaltigen Flächen und an den Rändern der Nadelwälder, so dass es ihnen gelang, sich an eine wesentlich kältere, oft baumlose Welt anzupassen. Über Tausende von Jahren hinweg hatten ihre Vorfahren dank ihrer Mobilität und der Herstellung kleiner, gut zu transportierender Werkzeuge – die zudem vielseitig verwendbar waren – überlebt. Die im Donaubecken, in den Tälern am Rand der nördlichen Tundra und auf den scheinbar endlosen Flächen der osteuropäischen Ebene lebenden Menschen passten sich mühelos an die stets kälter werdenden Wetterbedingungen an. Dabei erfolgten die kulturellen Veränderungen kam spürbar von einer Generation auf die andere, in ihrer Gesamtheit jedoch brachten sie die ersten wirklich an arktische Verhältnisse angepassten Kulturen hervor. Unverändert blieben hingegen die wesentlichen Aspekte im Kampf ums Überleben: Man brauchte Fleisch, aber auch – und diese Dinge waren nicht minder wichtig – Fett und Fell sowie Nadel und Faden.5 Angesichts der Tatsache, dass die kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten in extrem kalten Lebensräumen natürgemäß begrenzt sind, sind die verschiedenen Cro-Magnon-Gesellschaften der ausgehenden Eiszeit mit ihrer Umsicht, ihrer Erfindungsgabe und ihrer ausgesprochenen Vielseitigkeit beispielhaft für alle späteren arktischen Jäger-und-Sammler-Kulturen. Offenbar waren sich diese Menschen ohne Ausnahme der Gefahren bewusst, denen sie ausgesetzt waren: Überhitzung, Erfrierungen und Fettabbau durch den Verzehr von zu viel magerem Fleisch. Fett lieferte lebenswichtige Kalorien und war ein wichtiger Bestandteil ihrer Ernährung. Die Cro-Magnon-Menschen lebten in Gegenden, in denen Nahrungsquellen in den Wintermonaten Mangelware waren. Fett ist ein wichtiger Wärme- und Energielieferant, wenn Nahrung knapp ist. Beispielsweise verbrauchen Vögel und Säugetiere mehr als 85 Prozent der täglich mit der Nahrung aufgenomme-

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nen Kalorien dafür, ihre Körpertemperatur konstant zu halten. Die genetisch verankerte Fähigkeit, Fettreserven rasch zu speichern, ist eine Anpassung an die Zeiten im Jahr, in denen wenig Nahrung zur Verfügung steht. Viele Tiere verwenden Körperfett, um Energie aus Zeiten der Fülle in die Perioden mitzunehmen, in denen es an Nahrung mangelt. Die meisten während der ausgehenden Eiszeit in Eurasien lebenden Säugetiere benötigten große Fettreserven, um unter den harten Bedingungen des Winters zu überleben. Im Laufe des Winters verloren sie stark an Gewicht – manchmal so viel, dass sie starben. Glücklicherweise endete diese kräftezehrende Phase im Frühjahr für die meisten Tiere. Verhielt es sich bei den Cro-Magnon-Menschen anders? Betrachtet man den Menschen, so hat Muskelfleisch nur wenige Kalorien, etwa 1000 bei einer Menge von einem Kilogramm Trockengewicht. Jäger, die sich in kalten Umgebungen draußen stark verausgaben, können ohne Weiteres 4000 bis 5000 Kalorien pro Tag verbrennen, was etwa vier bis fünf Kilogramm magerem Trockenfleisch entspricht. Diese Menge würde gerade ausreichen, um das Gewicht zu halten, zunehmen kann man so nicht. Fett von Beutetieren stand den Cro-Magnon-Menschen jedes Jahr nur während eines relativ kurzen Zeitraums zur Verfügung, und zwar im Spätsommer und Frühherbst, wenn Rentiere und andere Tierarten große Fettdepots angelegt hatten. Deshalb waren die Jagd im Spätsommer und Herbst auch so wichtig, und vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum so viele an den Höhlenwänden abgebildete Tiere mit einem stark gewölbten Rumpf dargestellt sind – mit den großen Fettreserven, die ihnen halfen, im Winter zu überleben. In der herbstlichen Jagdsaison waren alle, Mensch und Tier, auf der Suche nach Fett. Daher, so argumentiert der Paläontologe R. Dale Guthrie, wäre es fatal gewesen, größere Mengen davon im Lager aufzubewahren und sich damit der Gefahr eines Angriffs auszusetzen. Er geht davon aus, dass die Menschen zunahmen, indem sie sehr viel Fett verzehrten, sobald sie seiner habhaft wurden.6 Die Cro-Magnon-Menschen unterlagen den gleichen Einschränkungen wie die historischen Eskimo- und Inuitgesellschaften und reagierten ebenso darauf, wie Letztere es bis in das vergangene Jahrhundert hinein taten und sogar heute noch tun. Deshalb erlaubt uns ein Vergleich mit ihnen auch gewisse Rückschlüsse auf die Jagdmethoden und die Lebensweise der Menschen gegen Ende der Eiszeit. Sie lebten in genauso unwirtlichen, wenn nicht sogar lebensfeindlicheren Umgebungen wie die modernen Eskimos und Inuit. Zudem ist die Zahl der Möglichkeiten, einen Polarfuchs ohne Schusswaffen zu erlegen,

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naturgemäß begrenzt. Wie wir in unserem Beispiel vom Vater und seinem Sohn sahen, hängt der Erfolg solcher Techniken von einer genauen Beobachtung des Jagdwilds und seiner Gewohnheiten ab sowie von der Erkenntnis, dass das Ausbringen von Fallen der einzig gangbare Weg ist, um an die Felle zu gelangen. Selbst in milderen Jahren lebten alle in Lebensräumen, in denen die Temperaturen rasch wechseln konnten, in denen Feuerholz oft rar war und Erfrierungen sowie Unterkühlung allgegenwärtige Gefahren darstellten. Während der kurzen Sommer kam es dagegen oft zur Überhitzung. Um trotz dieser Temperaturschwankungen überleben und effektiv jagen zu können, benötigten unsere Vorfahren eng anliegende Kleidung aus mehreren Schichten. Zur Anfertigung bedurfte es allerdings nicht nur zahlreicher Felle, sondern auch einer Nadel. Dieses Utensil konnten die Cro-Magnon-Menschen jedoch nur herstellen, indem sie die einzigen Rohmaterialressourcen nutzten, die ihnen zur Verfügung standen: Geweih, Knochen und Elfenbein. Während der kälteren Perioden war ein Großteil Mittel- und Osteuropas so gut wie baumlos. Jäger und Sammler gemäßigter Zonen und in den Tropen benutzten in erster Linie Holz, um Speere, Keulen und sämtliche andere Artefakte herzustellen. Die sehr viel früheren Europäer verfuhren genauso. Offenbar wurde Holz immer noch zur Herstellung von Speerschäften verwendet, aber gerade gewachsene Hölzer dürften rar und damit äußerst begehrt gewesen sein. Der feuergehärtete Stoßspeer mit seiner begrenzten Reichweite war inzwischen ein Anachronismus. Stattdessen verließen sich die Cro-MagnonMenschen auf leichte Kompositwaffen, die präzise über Distanzen von fast 15 Metern geworfen werden konnten. Die Effizienz dieser neuen Technologie basierte auf ebenso scharfen wie tödlichen Projektilspitzen aus Stein und Knochen. Im Laufe der Zeit wurden daraus schließlich Speere, deren Spitzen mit kleinen, rasiermesserscharfen Widerhaken aus Stein besetzt waren. Selbst mit Speeren ohne Speerschleuder, die eine Reichweite von 15 Metern besaßen, musste der Jäger dicht genug an seine Beute herankommen, um sie wenigstens teilweise so zu verletzen, dass er das schwächer werdende Tier verfolgen konnte, bis es schließlich starb. Anders als vom Bogen abgeschossene Pfeile erreichen von Hand geworfene Speere keine hohen Geschwindigkeiten, selbst in der Hand von Experten nicht, es sei denn, sie werden mit einem hakenförmigen Gerät geworfen, das man als Speerschleuder bezeichnet. Die ältesten uns bekannten Speerschleudern stammen aus Siedlungsschichten französischer Felshöhlen und sind ca. 18 000 Jahre alt. Es handelt sich um

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Geräte vornehmlich aus Geweih, was aber nicht heißt, dass nicht bereits sehr viel früher Speerschleudern aus Holz in Gebrauch waren. Speerschleudern dürften in der Tundra sehr effektiv gewesen sein, vor allem wenn die Jäger einer kleinen Pferde- oder Rentierherde auflauerten. Wie die Nähnadel war auch die Speerschleuder ein überlebenswichtiges Artefakt. Ein Jäger kann einen leichten Speer schnell und weit werfen, aber die Geschwindigkeit der menschlichen Armbewegung ist begrenzt. Speerschleudern sind praktisch eine Verlängerung des Armhebels und verlängern die Reichweite des Speers, da sie die Kraft erhöhen, mit der er geschleudert wird. Die Waffe lässt sich so auf einer größeren Distanz einsetzen und erreicht eine höhere Geschwindigkeit – allerdings nur, wenn sie leichter ist als der konventionelle, mit dem Arm geschleuderte Wurfspeer. Sie fliegt in einer weniger steilen Flugbahn und hat in der Regel eine stärkere, tödliche Durchschlagskraft. Hinzu kommt, dass sie durch die höhere Geschwindigkeit kürzere Zeit in der Luft ist und dadurch zum einen eine höhere Treffsicherheit besitzt, während die Beute zum anderen weniger Zeit hat, sich zu bewegen. In ihrer einfachsten Form war die Speerschleuder nicht mehr als ein Stab mit einem Haken, in den der Speer genau passte und parallel zur Schleuder eingelegt wurde. Doch die Speerschleuder der Cro-Magnon-Menschen war viel mehr als einfach nur ein Haken und ein Geschoss. Experimente haben gezeigt, dass diese Waffe genau wie Pfeil und Bogen für ihren Besitzer maßgefertigt sein muss. Der Schwerpunkt des in die Schleuder eingehakten Speers variiert von Person zu Person, was sorgfältige Anpassung erfordert, die bei den Cro-Magnon-Menschen gewiss auf den gesammelten Erfahrungen von Generationen basierte. Jeder optimierte seine Schleuder individuell, indem er sie beschwerte, Material abtrug, den Speer kürzte und ausbalancierte. Ein wichtiger Faktor war zudem das Gewicht. So haben moderne Experimente ergeben, dass der Speer umso kürzer sein muss, je länger die Speerschleuder ist. Allerdings wird es – abhängig von dem Jagdwild, dem man nachstellte, und von den angewandten Strategien – zahlreiche Varianten gegeben haben. Als ich die moderne Nachbildung einer nordamerikanischen Speerschleuder benutzte, fand ich heraus, dass ein guter Werfer seinen Arm beim Abwurf leicht anspannt, gewissermaßen als eingebaute Sprungfeder, die am Ende des Bewegungsablaufs zusätzliche Kraft freisetzt. Der Einsatz einer beschwerten Schleuder verstärkt diesen Effekt, weshalb spätere Speerschleudern mit aufwendig geschnitzten, als Gewichte dienenden Tierfiguren verziert sind (siehe Tafel V).

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Im Gegensatz zu Projektilspitzen waren Speerschleudern wahrscheinlich hoch geschätzte persönliche Wertgegenstände, die lange in Gebrauch waren. Das würde auch erklären, warum so viele von ihnen derart prächtig verziert sind. Die meisten Speerschleudern der Cro-Magnon-Menschen dürften jedoch eher einfache Geräte gewesen sein, die, leicht herzustellen und zu tragen, in den Händen eines geschickten Jägers jedoch höchst effektive Waffen waren. Einige an später datierten Fundstätten entdeckte Speerschleudern könnten ausschließlich von Kindern benutzt worden sein, die mit Sicherheit sehr früh anfingen, den Gebrauch dieser Waffe zu erlernen. In einer baumlosen Umgebung muss man schon kreativ sein, um Rohmaterial zur Herstellung solch raffinierter Artefakte wie die Speerschleudern zu finden. In den meisten unbewaldeten Lebensräumen im Norden verwendeten die Menschen Geweih und Knochen, und zwar nicht nur für ihre Werkzeuge und Waffen, sondern auch als Baumaterial und Brennstoff. Niemand wäre in der Lage gewesen, in der offenen Mammutsteppe zu jagen, geschweige denn sich dort niederzulassen, ohne einen leichten Zugang zu Tierskeletten zu haben. Um das Potenzial von Mammutelfenbein, Rentiergeweihen und Röhrenknochen jedoch ausschöpfen zu können, benötigten die Cro-Magnon-Menschen leistungsfähige Steinwerkzeuge. Ohne sie hätten sie ihre vielseitigen und leichten Waffen oder so filigrane Artefakte wie Ahlen aus Knochen und die revolutionärste Erfindung überhaupt, die Nähnadel mit Öhr, nicht herstellen können. Die Rohlinge für diese Steingeräte lieferten die in Punchtechnik gefertigten Klingen. Aus ihnen gingen letztlich – einzig begrenzt durch den Ideenreichtum des Steinschlägers – die verschiedensten multifunktionalen Werkzeugformen hervor – eine Technik, die an das moderne Schweizer Messer erinnert: ein Gehäuse, das eine Reihe unterschiedlicher Werkzeuge enthält (Abb. 10).7 Das wichtigste Werkzeug im Schweizer Taschenmesser der Cro-MagnonMenschen war der Stichel, der Meißel des ausgehenden Eiszeitalters. Mit ihm konnte man durch die zähen Oberflächen von Geweih, Knochen und Mammutelfenbein hindurchschneiden (Abb. 11).8 Stichel sind recht unscheinbare Geräte, die sich durch ihre spitz zulaufend geformten Enden auszeichnen. Es gibt sie in zahlreichen Varianten: Einige besitzen nur einfache, einseitige Kanten, andere doppelte Enden, und manche weisen sogar eine schnabelartige Retuschierung auf. Die Klassifikation von Sticheln kann Archäologen in den Wahnsinn treiben, weil sich diese Artefakte nicht in Schubladen stecken lassen. Sie zählten allerdings zu den wichtigsten Werkzeugen, die die Cro-Magnon-Menschen jemals herstellten.

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abb. 10: Ein schweizer messer im Vergleich zu den leichten kompositwaffen der cro-magnon-menschen. Ein großteil der „cro-magnon-technologie“ basierte auf relativ einheitlichen klingen, die von feinkörnigen steinkernen abgeschlagen wurden. den steinkern kann man mit dem gehäuse des schweizer messers gleichsetzen. Ein heutiger Benutzer dieses messers klappt einfach nur die darin enthaltenen werkzeuge aus. Viele cro-magnon-menschen führten wahrscheinlich steinknollen mit und schlugen die rohlinge für ihre artefakte von ihnen ab, wenn sie ein spezielles werkzeug brauchten.

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Die Klingentechnologie oder das Schweizer Messer der Cro-Magnon-Menschen wie so viele andere Entwicklungen in der cro-magnon-gesellschaft nahm auch die Verwendung von klingen als rohlinge für mehrzweckwerkzeuge tausende von Jahren zuvor ihren anfang. wie wir sahen, trat die klingentechnologie bereits etwas später als vor 70 000 Jahren in afrika auf und wurde bis vor 43 000 Jahren im nahen osten und Europa oft häufig angewandt. die frühen hersteller dieser klingen verwendeten dabei fast ausnahmslos schlagsteine, um große, relativ einheitliche rohlinge von den kernen abzuschlagen – eine technik, die sie schließlich verfeinerten: noch bevor die temperaturen vor etwa 30 000 Jahren zu fallen begannen, gingen die cro-magnonmenschen dazu über, schlägel aus geweih und knochen zu verwenden, um dünne klingen von bemerkenswert einheitlicher größe von sorgsam vorgeformten konischen steinkernen abzuschlagen. dazu benötigten sie allerdings hochwertiges, für die herstellung von werkzeugen geeignetes gestein. Zweifellos ist das auch einer der gründe dafür, warum die Jägergruppen mittel- und osteuropas derartiges material von weit entfernten Vorkommen bezogen. dank der Experimente versierter heutiger Experten auf dem gebiet der steingeräteherstellung wissen wir sehr viel über die techniken der klingenherstellung. in einem workshop zur steinbearbeitungstechnik versuchte ich tagelang, die klingenherstellung zu meistern, aber es kamen immer nur einige krude abschläge dabei heraus. wahre könner wie der verstorbene don crabtree aus idaho und Jeff Flenniken aus washington state konnten beziehungsweise können konische steinkerne und dutzende von klingen in erstaunlich einheitlicher größe innerhalb von minuten produzieren. indem ich ihnen zusah, lernte ich, dass der klingenrohling selbst ein sehr effektives mehrzweckwerkzeug ist. seine schnittkante ist so scharf, dass crabtree einige klingen aus obsidian fertigte, die der chirurg dann sogar bei crabtrees augenoperation verwendete. Bei alledem versteht es sich nahezu von selbst, dass man die grundlegenden Fertigkeiten erst einmal erlangen und üben sowie ein gefühl für die wesentlichen Eigenschaften eines steins zur werkzeugherstellung entwickeln muss, um diesen überhaupt zu einem steinkern schlagen zu können. die cro-magnon-menschen konnten die klinge mit einem einfachen Zwischenstück aus geweih, das mit der spitze auf den steinkern aufgesetzt wurde, und einem schlagstein oder einem hölzernen schlägel abschlagen. ganz gleich mit welcher methode, sie waren in der lage, in nur wenigen sekunden eine einzelne klinge oder ein halbes dutzend von ihnen herzustellen. Jeder konische steinkern ergab zahlreiche klingen, die alle potenzielle rohlinge für alle möglichen spezialwerkzeuge waren. anders als die artefakte der neandertaler oder sogar viele der aurignacien-menschen dienten diese ahlen, stichel, messer, projektilspitzen und kratzer hochspezialisierten tätigkeiten. sie waren jedoch auch vielseitig genug, um sie innerhalb weniger minuten als mehrzweckgeräte einsetzen zu können. Feine ahlen bohrten löcher in nähnadeln; mit eingekerbten und gezähnten

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klingen glättete man geweih, knochen und holz. messerscharfe klingen mit steilem rücken lieferten die spitzen von Jagdwaffen und dienten außerdem als feine messer. das museum in les Eyzies ist eine der besten anlaufstellen, um sich mit der verblüffenden Vielfalt der stein- und knochentechnologie der cro-magnon-menschen und ihrer Entwicklung vor 30 000 Jahren vertraut zu machen. die Exponate sind ein Zeugnis der optimalen ausnutzung von stein und knochen. hier kam mir auch zuerst die analogie zwischen den cro-magnon-werkzeugen und dem schweizer messer oder leatherman in den sinn. letzterer besitzt ein gehäuse mit stabilen aufhängungen darin, in dem alle möglichen spezialwerkzeuge untergebracht sind: messer, nagelfeilen, sägen, ja sogar eine schere. mir wurde klar, dass die cro-magnon-menschen mit ihren sorgsam geformten steinkernen für die klingenrohlinge die gleiche idee hatten. der steinkern war das gehäuse ihres schweizer messers, die Basis für zahlreiche kleine werkzeuge, von denen fast alle entstanden, indem man ein wenig material abtrug oder einen rohling aus dem kern mit einem rücken versah. Ein cro-magnon-mensch, der eine Feuersteinknolle und ein schlaggerät aus geweih mit sich führte, konnte auf der stelle mit einem raschen schlag und etwas geschickter nachbearbeitung jedes werkzeug anfertigen, das er oder sie benötigte. Ein speerschaft musste geglättet werden, eine gekerbte klinge diente als hobel. Eine projektilspitze zerbrach, und innerhalb weniger minuten war Ersatz zur hand. die in punchtechnik hergestellte klinge war ein wunderbar vielseitiger rohling für alle möglichen artefakte.

Stichel ließen sich vielseitig einsetzen. Beispielsweise konnten mit ihnen frische Rentier- und Rothirschgeweihe geöffnet und ausgekehlt werden – die dabei angewandte Methode, die sogenannte Spantechnik, zeugt erneut vom Innovationsgeist der Cro-Magnon-Menschen. Desgleichen funktionierten die Stichel auch bei Mammutelfenbein, insbesondere wenn ein Stoßzahnstück zuvor in Wasser eingeweicht wurde. Zudem wurden sie dazu verwendet, um Gravuren etwa auf Knochen und Höhlenwänden anzubringen. Der Stichel war grundsätzlich ein Werkzeug zum Erzeugen von Hohlkehlen, mit dem man durch die tiefen Rinnen eines frischen Geweihs oder – und dies war viel aufwendiger – Röhrenknochen in Scheiben schnitt. Doch wie effektiv war dieses Werkzeug? Der französische Prähistoriker André Rigaud kerbte mit einem (doppelt facettierten) Mehrschlagstichel Rentiergeweih ein. Er schnitt längsseitig zwei sich an einem Ende kreuzende Furchen in eine frische Geweihstange. Der scharfe Feuerstein durchschnitt die harten Oberflächenschichten, was nur mit einer harten, scharfen Schnittkante gelingt.9 Eine große Rentiergeweihstange lieferte diverse Späne, die man gewann, indem man die harte Außenseite bis in das schwammartige Innere hinein aufschnitt. Dann wurde mit einer Ahle ein Loch durch die innere Substanz gebohrt, ein stabiler Lederrie-

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abb. 11: (a) Eine mit dem stichel eingeritzte rentiergeweihstange, aus der sich späne als rohlinge für projektile gewinnen lassen. (b) Verschiedene sticheltypen der ausgehenden Eiszeit. die pfeile kennzeichnen die arbeitskanten und zeigen die richtung an, wie sie geschlagen wurden. (c) Eine nadel mit Öhr aus dem magdalénien.

men hindurchgeschoben und schließlich ein Span nach dem anderen herausgehoben. Die so gewonnenen Rohlinge ließen sich wie Steinklingen bearbeiten – man konnte aus ihnen problemlos Projektilspitzen oder andere Waffen fertigen. Knochen war schwerer zu bearbeiten. Nach der in historischer Zeit angewandten Methode zu urteilen, wurden die Gelenkstücke der Röhrenknochen entfernt und der verbleibende Knochen wurde einen Tag lang mit Wasser getränkt, wodurch er weicher wurde. Sobald er genügend eingeweicht war, wurde der in ein Fellstück geschlagene Stichel vom Bearbeiter so auf dem Knochen angesetzt, dass er ihn vorsichtig zu sich ziehen konnte. Bei diesem Vorgang – bei dem ein kratzender Laut zu hören war – erhitzte sich der Knochen und begann beißend zu riechen. Sobald der Bearbeiter die Kerbe für tief genug befand, klopfte er darauf und die Späne fielen heraus.

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Wie bei der Steingeräteherstellung kann man sich auch das vollständige Geweih als ein weiteres Schweizer Messer vorstellen. Es ist der Rohstoff für alle möglichen Platten, Scheiben und Stäbe, aus denen Speerspitzen, Harpunen, Nadeln und andere kleine Objekte hergestellt wurden. Ohne diese beiden Schweizer Messer wäre es den Cro-Magnon-Menschen nahezu unmöglich gewesen, in der Steppe wirklich leichte Waffen herzustellen. Das revolutionärste Artefakt von allen aber, das mithilfe eines Stichels angefertigt wurde, war die Nadel mit Öhr (Abb. 11c). Es ist sicherlich nicht übertrieben zu sagen, dass dieses so unscheinbar anmutende Gerät den Lauf der Geschichte veränderte. Neben der Zähmung des Feuers gebührt auch der bescheidenen Nadel ein Ehrenplatz unter den frühesten bedeutsamen Erfindungen der Menschheit. Zehntausende von Jahren hatten sich die Neandertaler und ihre Vorläufer in um den Körper drapierte Felle gekleidet, die ihnen wie Capes als Schutz vor der Kälte dienten. Wie die Neandertaler vermutlich wussten, konnte man ein Faserstück oder ein Lederband nehmen und zwei Felle mit einer Naht verbinden, indem man an ihren Rändern mit einem Steingerät Löcher vorbohrte und den „Faden“ von Hand hindurchführte. Das auf diese Weise gefertigte Kleidungsstück war allerdings bestenfalls ein grobschlächtiges Konstrukt, vielleicht ein röhrenförmiges Paar Beinlinge. Nadeln dagegen erlaubten es, maßgeschneiderte und mehrschichtige Kleidung herzustellen. Heutzutage werben Outdoor-Ausstatter für wettertaugliche Kleidung so, als ob diese eine aufregende Neuerfindung wäre. Dank der Nadel stellten die CroMagnon-Menschen jedoch schon vor mehr als 25 000 Jahren einen ganz ähnlichen mehrlagigen Wetterschutz her, wenn auch aus anderen Materialien. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte konnten nun Kleidungsstücke angefertigt werden, die individuell und den unterschiedlichen Zwecken angepasst waren, beispielsweise leichte Hemden und lange Hosen für Sommertage sowie dicke Fellparkas und Beinkleider für den Winter. Dabei wurden Häute und Felle von verschiedenen Tierarten verwendet, die den jeweils besten Schutz boten. Zum Beispiel wissen die heute lebenden Eskimos, dass zwei mit dem dichten Fell nach innen zusammengenähte Rentierfelle einen hervorragenden Schlafsack ergeben, der zwar schwer, in vorübergehenden Winterlagern aber sehr effektiv ist.10 Gewiss benutzten die Menschen der ausgehenden Eiszeit ebenfalls solche Schlafsäcke. Wie ein ethnologischer Vergleich nahelegt, werden sich die Cro-MagnonMenschen jedoch wohl nicht ausschließlich auf die Nutzung von Fellen und Häuten beschränkt haben. Wahrscheinlich machten sie – ebenso wie die

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Schneider der historischen Inuit und Alëuten – Gebrauch von so exotischen Materialien wie Vogelbälgern und Seehundmägen, die jeweils sehr nützliche Eigenschaften für die Fertigung so alltäglicher Gegenstände wie Schlafsäcke besaßen. Wie die früheren Eskimos und zweifellos auch die Cro-Magnon-Menschen genau wussten, reichte selbst die beste Fellkleidung nicht aus, um unbeweglich verharrende Jäger bei Temperaturen unter Null Grad Celsius zu schützen. Die Jäger mussten stets darauf achten, in Bewegung zu bleiben, ja sogar zu laufen, um sich warm zu halten. Ebenso konnte es in den wärmeren Monaten leicht passieren, dass sich ihre Körper überhitzten, beispielsweise wenn sie Fleisch transportierten oder andere harte Arbeiten im Freien verrichteten. Während der meisten Zeit des Jahres dürften leichtere Jacken, die über den schwereren Kleidungsschichten getragen wurden, am nützlichsten gewesen sein. So konnten die Jäger der Gefahr entgegenwirken, sich zu überhitzen und ihre Kleidung zu stark zu verschwitzen, was wiederum eine Auskühlung nach sich gezogen hätte. Das An- oder Ablegen von Kleidung in Kombination mit dem gesunden Menschenverstand dürfte es ihnen ermöglicht haben, sich unabhängig von der Temperatur angenehm warm zu halten. Das Fehlen maßgeschneiderter, mehrlagiger Kleidung könnte einer der Gründe dafür gewesen sein, warum sich die Neandertaler kaum für längere Zeit in der nordeuropäischen Ebene aufhielten. Es gibt zwei potenzielle Quellen, die Hinweise auf die Bekleidung der CroMagnon-Menschen liefern könnten. Leider geben Bestattungen – eine potenzielle Primärquelle – nur wenige Details über die Kleidung preis, wenn man einmal von den in Kapitel 9 beschriebenen spektakulären Beisetzungen der Menschen von Sungir absieht. Ebenso wie bei den Jagdmethoden können wir uns jedoch an der traditionellen Kleidung der Eskimos und Inuit orientieren. Betrachtet man historische Völker der Arktis, war der meist aus Rentierfell gefertigte Kapuzenparka das wichtigste Kleidungsstück.11 Parkas wurden stets mit innenliegender Fellseite und der Haut auf der Außerseite getragen. Die tiefe Kapuze war mit einem Fell eingefasst, von dem sich der Schnee leicht abschütteln ließ. Ein Gürtel sorgte dafür, dass im Bereich des Zwerchfells keine Wärme verlorenging. Solche Jacken waren ausgesprochen warm, wenn man sie mit langen Hosen kombinierte, bei denen das Fell ebenfalls nach innen gedreht war. Die Cro-Magnon-Menschen besaßen vielleicht auch leichtere Beinkleider, denn bei Temperaturen über Null Grad Celsius wären Hosen aus Rentierfell zu warm gewesen und hätten die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Vielleicht

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schützten sie auch ihre Gesichter durch einen Bart. Der Anthropologe Richard Nelson beobachtete, dass sich viele Eskimos in Wainwright (Alaska) jeden Herbst Oberlippenbärte wachsen ließen, die sie bis zum Frühjahr trugen. Die Barthaare hielten die beißende Kälte besser ab als die ungeschützte Haut, und im Notfall konnte man das an ihnen haftende frische Eis als Trinkwasser nutzen. Die Jagd erforderte, dass die Cro-Magnon-Männer stundenlang draußen arbeiten mussten. Selbst an längeren, wärmeren Tagen konnten die Temperaturen gefährlich niedrig sein. Sie müssen sehr genau gewusst haben, dass man über die Gliedmaßen Körperwärme verliert, weshalb eine Kopfbedeckung, Handschuhe und Schuhwerk sehr wichtig waren, selbst in den kurzen Sommern. Hier liefern uns die traditionellen Stiefel der Eskimos einen Hinweis darauf, was die Cro-Magnon-Menschen getragen haben könnten.12 Die Sohle war der wichtigste Teil des Stiefels. Sie könnte hergestellt worden sein, indem man Stücke aus einer Haut zuschnitt, von der die Haare zuvor mit einem Kratzer entfernt worden waren oder die man im Sommer zum Verrotten ausgelegt hatte. Eine Sohle konnte rutschig sein, weshalb möglicherweise Querstreifen aus Leder über den Fersen- und Zehenbereich genäht wurden. Für den oberen Teil des Stiefels bot sich die Haut von Rentierbeinen an, und zwar von einem im Herbst erlegten Tier, das in bestem Zustand war. Die Beine mussten mit größter Sorgfalt gehäutet werden, indem man die Vorderläufe auf der Vorderseite aufschnitt und die Hinterläufe auf der Rückseite. Sobald die Fellstücke getrocknet waren, wurde die Haut geschabt, bis ihre Innenseite weich und geschmeidig war. Anschließend wurden die vier Häute der Beine mit geflochtenen Sehnen zusammengenäht. Sie reichten knapp bis zu den Knien, und ein Zugband aus Sehnen verhinderte das Eindringen von Schnee. Einlegesohlen aus Rentierfell und lange Socken mit innenliegendem Haarkleid hielten die Füße warm und hatten überdies den Vorteil, dass sie nicht in den Stiefeln festfroren. Diese Art Schuhwerk ist sehr effektiv – vorausgesetzt der Träger achtet darauf, alles gut zu trocknen. Feuchte Stiefel und Socken dürften an den Dächern der Behausungen zum Trocknen aufgehängt worden sein. Das Ren mit seinem kurzen Haarkleid wird auch das Rohmaterial für Handschuhe geliefert haben. Einfache Fäustlinge aus den Fellen von Rentieren, Wölfen oder sogar Bären wären für die meisten Wetterbedingungen ausreichend gewesen. Umherziehende Jäger hängten sich ihre Handschuhe mit Sicherheit um den Hals, um sie nicht zu verlieren.

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Der Fuchsjäger und sein Sohn, mit denen wir zu Beginn des Kapitels Bekanntschaft schlossen, waren in Eis und Schnee vollkommen heimisch, nicht nur ihrer mehrlagigen Bekleidung und effizienten Technologie wegen, sondern auch, weil sie Fähigkeiten besaßen, die ihre Eltern ihnen von Geburt an vermittelt oder die sie aufgrund eigener harter Erfahrungen erworben hatten. Die für sie notwendige Fachkenntnis entsprach in vielerlei Hinsicht der, auf die sich ihre entfernten afrikanischen und nahöstlichen Verwandten verlassen hatten: die Fähigkeit, Jagdwild anhand kleinster, weit über Fußspuren hinausgehender Hinweise aufzuspüren, ein erstaunliches Geschick darin, eine Beute bis in unmittelbare Nähe zu beschleichen, und natürlich die Fähigkeit, mit relativ einfachen Waffen ernsthafte Verletzungen beizufügen oder zu töten. Unendliche Geduld und Ausdauer waren ebenfalls Eigenschaften, die sowohl Jäger der Tropen als auch solche in kalten Klimazonen auszeichnete. In allen Lebensräumen war die mentale Stärke sehr wichtig. Wir können diese Fähigkeiten natürlich nicht von archäologischen Fundorten oder von Höhlenkunst ableiten, doch glücklicherweise benötigt jeder, der in arktischen und periglazialen Gegenden (in der Nähe von Eisschilden) lebt, in etwa die gleiche Konstellation an Eigenschaften. Richard Nelsons 1969 erschienenes Buch Hunters of the Northern Ice (Jäger im nördlichen Eis) ist ein klassischer Bericht über die Herausforderungen, die das Leben in einer extremen Umwelt mit sich bringt.13 Ohne Abstriche stehe ich zu meinem Vorgehen, seine Analyse des Verhaltens von Eskimos auf die Cro-Magnon-Kultur zu übertragen, denn es gibt nur wenige andere Möglichkeiten, in einer von Eis und Kälte geprägten Welt zu überleben. Wie Nelsons Eskimos muss jeder Cro-Magnon-Mensch, egal ob Mann oder Frau, ein geradezu enzyklopädisches Wissen über die Umwelt zu jeder Jahreszeit besessen haben – ein Wissen, das weit über die Routine der Wanderschaft und Existenzsicherung hinausging. Hierzu dürften ungewöhnliche Ereignisse gezählt haben wie ein plötzlicher Schneesturm oder Temperatursturz, ebenso die Erfahrung, von einer Überschwemmung aufgrund von Frühjahrstauwetter eingeschlossen zu werden, oder eine Jagdverletzung. Wir würden viele dieser Situationen als Notlagen bezeichnen, denen wir oft hilflos gegenüberstehen. Vor dem Hintergrund von Nelsons Erkenntnissen dürften die Cro-MagnonMenschen instinktiv auf solche Situationen reagiert haben bis zu dem Punkt, dass sie diese gar nicht mehr als unabwendbares Schicksal ansahen. Zum Beispiel werden Jäger sofort damit begonnen haben, ein Lager an einem möglichst sicheren Ort aufzuschlagen, wenn ein Schneesturm urplötzlich über sie hereinbrach, oder sie werden sich auf höher gelegenes Terrain zurückgezogen haben,

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wenn plötzliches Tauwetter einen Fluss über die Ufer treten ließ, an dem sie jagten. Sie kannten die verräterischen Anzeichen für eine Gefahr und handelten dementsprechend. Wie alle modernen Jäger und Sammler, unabhängig von ihrer Heimat, versuchten auch die Cro-Magnon-Menschen, so viel wie möglich von anderen zu lernen, besonders von Männern mit großer Erfahrung, die sie aufgrund ihres Wissens rund um die Jagd respektierten. Nelson berichtet, dass die Eskimos einander beim Jagen zusahen, um ihre Beobachtungen später auszutauschen. Auf diese Weise wurden gewiss auch die gesammelten Lebenserfahrungen der Cro-Magnon-Gruppe von einer Generation an die nächste weitergegeben. Nelson beobachtete zudem, dass sich jeder Eskimo auf sein Wissen verließ, was bei den Cro-Magnon-Menschen nicht anders gewesen sein dürfte. Die Cro-Magnon-Menschen reisten mit leichtem Gepäck in Form eines Satzes von Mehrzweckwerkzeugen, ohne sich mit den Mengen an Nahrungsmitteln und Kleidung zu überfrachten, die die meisten von uns heutzutage als notwendig erachten. Hierdurch wurde nicht nur ihr Reisegepäck leichter, sondern sie hatten auch mehr Kapazitäten, um Jagdbeute zu transportieren. Nach Nelsons Erfahrung bei den Eskimos zu urteilen, muss ihr Erfolgsgeheimnis in einer extrem gründlichen Vorbereitung, einem sorgsamen Abwägen möglicher Gefahren und der Beobachtung der Wetterlage bestanden haben. Außerdem stand für sie außer Frage, dass jede Aufgabe zu erledigen war, ganz gleich, wie hart sie war und wie viel Zeit sie in Anspruch nehmen würde. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass der leichteste Weg durch unwegsames Gelände nicht darin bestand, es einfach zu durchqueren. Vielmehr erkundeten sie es gründlich und wählten dann die sicherste Route, selbst wenn diese länger war. In den meisten Fällen dürften die Cro-Magnon-Menschen aber jede sinnvolle Abkürzung genommen haben, um überflüssige Anstrengungen zu vermeiden. Beharrlichkeit ging Hand in Hand mit vorausschauendem Denken und Handeln, vor allem während der Jagd oder in anderen potenziell gefährlichen Situationen. Wie die heutigen Jäger der Arktis werden auch die Cro-Magnon-Menschen nie vermeidbare Risiken eingegangen sein, wie zum Beispiel Flüsse mit dünner Eisdecke zu überqueren. Sie wägten bei jeder Aktivität die damit verbundenen Risiken ab und hätten sich nie freiwillig in Gefahr gebracht. Wachsamkeit ging mit Weitsicht einher, einer geistesgegenwärtigen Wahrnehmung der Umgebung, selbst wenn man mit einer einzigen Aufgabe beschäftigt war, die sämtliche Aufmerksamkeit beanspruchte. Die Cro-MagnonMenschen konnten es sich in einer Welt voller Raubtiere, in der Jäger auch

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Gejagte waren, nicht leisten, sich von einer einzigen Aktivität derart vereinnahmen zu lassen. Ein Jäger musste beim Aufstellen einer Falle stets seine Umgebung im Auge behalten und nach lauernden Bären oder Löwen Ausschau halten. Eine Frau, die Nüsse sammelte, war stets auf der Hut vor hungrigen, sich anschleichenden Raubtieren. Wie bei den historischen im Norden lebenden Gesellschaften wird die Nahrungssuche auch bei den Cro-Magnon-Menschen kein standardisierter Prozess gewesen sein. Sich in ihrer Welt zu behaupten, erforderte sowohl Einfallsreichtum als auch die Fähigkeit, zu improvisieren. Ein klassisches und oft zitiertes Beispiel hierfür dafür sind die nordischen Jäger, die gefrorenes Fleisch nahmen, um damit Schlittenkufen zu ersetzen, oder sie nutzen es im Notfall sogar ganz als Schlitten. Niemand arbeitete allein, denn Kooperation bei der Jagd, dem Sammeln oder auf der Reise waren – wie in jeder anderen arktischen Gesellschaft – von fundamentaler Bedeutung für die Cro-Magnon-Menschen. Alle arbeiteten zusammen und halfen einander, selbst bei den trivialsten Aufgaben – nicht, um ein Dankeschön dafür zu erhalten, sondern weil das gesamte Gefüge des Lebens auf gegenseitiger Verpflichtung beruhte. Natürlich gab es Ausnahmen von der Regel: streitsüchtige Personen, angespannte Familiensituationen, zwischenmenschliche Gewalt und andere Umstände, die weit von einem idealen Zusammenleben entfernt waren. Grundsätzlich jedoch waren die Charaktereigenschaften der Cro-Magnon-Menschen und ihr enzyklopädisches Wissen über ihre Lebenswelt die mächtigsten Waffen, um ihr Überleben zu sichern. Effektive Technologie, eine genaue Selbsteinschätzung und eine enge Beziehung zu ihrer Umwelt zeichneten diese Menschen aus, deren Persönlichkeitsstruktur sie so erfolgreich machte.

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Kapitel 9 Die Zeit des Gravettien

Mähren zu Beginn des Frühjahrs. Laut krächzende Schneehühner picken nach Flechten zwischen den Felsen am Rande des Wassers. Weite Streifen blassblauen Himmels an einem der wenigen sonnigen Tage vor 27 000 Jahren kämpfen gegen die gewaltigen weißen Wolken, die der starke Nordwind bringt. Große Schwärme der hell gefiederten Vögel kreisen über dem schnell fließenden, eisdurchsetzten Fluss. Noch lieber halten sie sich am Boden auf, um praktisch unsichtbar im Schnee zwischen den dunklen Felsen am Wasser nach Nahrung zu suchen. Scharen von ihnen wandern stromaufwärts und picken sich ihren Weg durch den immer noch festen Schnee, während der Wind ihr Gefieder zersaust. Ein Stück vom Wasser entfernt stehen zwei Frauen leicht gegen den Wind gewandt reglos da und beobachten die Vögel. Am Vortag haben sie parallel zum Fluss einen einfachen Zaun aus Reet gebaut, der in der Mitte verführerische, mit Ködern besetzte Lücken aufweist. Die stets neugierigen Schneehühner untersuchen das Hindernis und picken an seiner Basis im Sand und Schnee. Einer der Vögel steckt seinen Kopf durch die Lücke, um sich kurz darauf mit gestrecktem Hals hindurchzuschieben, geradewegs auf den Köder zu. Ein leises Schnappen ertönt. Eine Schlinge zieht sich fest um den Hals des Huhns zusammen. Eine der Frauen tötet das hilflos flatternde Tier mit einer Keule aus Geweih und richtet die Schlinge neu aus. Die übrigen Vögel schauen verstört zu, kehren jedoch bald zurück, während die Frauen erneut ihren Wachposten beziehen.1 Ihre Siedlung befindet sich auf etwas höher gelegenem Land ganz in der Nähe. Die kuppelförmigen Behausungen pressen sich dicht an den Boden. Im Schnee sind sie fast unsichtbar; nur die vom endlosen Wind gepeitschten und umherwirbelnden dünnen Rauchspuren verraten sie. Unmengen fortgeworfener, von den Windböen freigewehter Mammut- und Rentierknochen liegen in Windrichtung der Wohnstätten. Neben einem der Häuser sitzen zwei Männer auf einem Felsen. Zu ihren Füßen sammeln sich große Haufen von Steinabschlägen, während sie Steinkerne schlagen und dünne Klingen davon lösen. Einer der beiden sucht eine lange Klinge aus und stumpft eine Seite davon mit einem Geweihfragment ab. Dann hält er sie in die Sonne und begutachtet sie. Kurze Zeit später wird er die Klinge auf den neu gefertigten Speerschaft setzen, der an einem nahe gelegenen Felsen lehnt ...

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Selbst auf dem Höhepunkt des letzten Kältemaximums gab es immer einen Korridor zwischen dem Skandinavischen Eisschild im Norden und dem alpinen im Süden. Wichtige Wege in den Niederungen verbanden die nordeuropäische Ebene in Polen mit dem österreichischen Donautal im Süden. Dieses topografisch abwechslungsreiche Gebiet mit offenen Ebenen, geschützten Tälern und Bergausläufern war eine Gegend, in der sich Jägergruppen mit unterschiedlichen Traditionen trafen und austauschten. Hier pflegten die Menschen ihre Beziehungen zu anderen Gruppen, die weit entfernt an den Rändern der Mammutsteppe und in den niederen, die riesigen Ebenen zerteilenden Flusstälern lebten.2 Die nordeuropäische Ebene bildete die nördliche Grenze der Cro-MagnonWelt. Die landschaftprägende Tundra erstreckte sich dabei ostwärts bis weit ins Uralgebirge im heutigen Russland. Es war eine raue und kalte Welt, beherrscht von graubraunem Staub und Wind sowie extremer Trockenheit. Doch so lebensfeindlich sie auch scheinen mochte, so boten ihre Ebenen dennoch einer überraschend reichen Tierwelt – wie beispielsweise Mammuts, Moschusochsen, Pferden, Wisenten und Rentieren – und den zähen Gruppen von Jägern Lebensraum. Die Tundra und ihr Umland stellten ihre Bewohner auf eine harte Probe, und doch war es hier, wo sich an arktische Verhältnisse angepasste Kulturen als Erstes in den Jahrtausenden nach 40 000 Jahren vor unserer Zeit in Mittel- und Osteuropa entwickelten. Wir Archäologen bezeichnen sie als Menschen des Gravettien, benannt nach dem Abri La Gravette im französischen Périgord, wo man die ersten ihrer charakteristischen Steinartefakte fand. Der Sammelbegriff „Gravettien“ umfasst alle möglichen regionalen Varianten (siehe Kasten „Aurignacien, Gravettien, Solutréen, Magdalénien ...“ in Kapitel 6).3 Höchstwahrscheinlich entwickelten sich die Kulturen der GravettienMenschen aus Wurzeln im Aurignacien irgendwo in Mitteleuropa oder im westlichen Eurasien, wo das Klima schneller umschlug als im eher gemäßigten Westen. Hier, an den Rändern der Tundra, bildeten sich die wichtigsten technologischen Innovationen heraus. Als es immer kälter wurde, scheinen Nähnadeln, mehrlagige Kleidung und andere Artefakte und Praktiken, die auf ein kaltes Klima ausgerichtet waren, in Richtung Westen zu den Cro-MagnonGruppen im Südwesten Frankreichs und anderenorts durchgesickert zu sein. Die Heimat der Menschen des Gravettien im Osten ist von Löss geprägtes Land – hügelige Ebenen, in die eisige Nordwinde aus vegetationslosen Gebieten ausgewehtes Sediment trugen. (Das Wort „Löss“ ist dem schweizerdeutschen Begriff lösch entlehnt, was „lose“ bedeutet.) In Mitteleuropa bedeckte der Löss Tausende von Quadratkilometern. In dieser Landschaft gab es keine

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abb. 12: Zeichnung eines mammuts auf dem grand plafond aus der höhle von rouffignac (Frankreich).

einladenden Felshöhlen, und in vielen Gegenden boten nur Flussniederungen oder Gebirgen vorgelagerte Hügelketten Schutz vor Wind und Staub. Daher gruben die Menschen ihre Winterunterkünfte in den Boden. Sie hoben ovale Gruben aus und überdachten diese mit den einzigen verfügbaren Rohmaterialien: Mammutknochen, Häute und Erdreich. Indem sie die Böden mit Fellen bedeckten, schufen sie sich so wahrscheinlich auch bei Minusgraden behagliche und warme Unterkünfte. Ihre für längere Zeit angelegten Behausungen waren kuppelförmig – wenig mehr als leichte Erhebungen, die keinen Windwiderstand boten, so dass sie relativ gut gegen Kälte geschützt waren. Die Winter waren so kalt, dass jede Jägergruppe vermutlich monatelang am selben Ort blieb. Die Menschen des Gravettien waren ausgesprochen fasziniert von Mammuts (Abb. 12). Das ist zumindest der Eindruck, den man von den wichtigsten Fundstätten ihrer Kultur gewinnt. Hier findet man zuhauf Knochen dieser Elefantenart, manchmal in riesigen Mengen in der Nähe ihrer Unterkünfte, oft sorgsam in Gruben im Permafrostboden gelagert und manchmal teilweise verbrannt an Feuerstellen. Das Mammut war eine lebenswichtige Ressource, es diente nicht notwendigerweise als Nahrung, sondern vielmehr als Lieferant von Heiz- und Baumaterial zur Errichtung von Unterkünften in kalten, oft nur dünn bewaldeten Landschaften. Aus diesem Grund lagerten viele GravettienGruppen gewöhnlich an strategisch günstigen Orten in der Nähe von Flusstälern, die von Elefanten und anderen Tierarten durchquert wurden. Ebenso ließen sie sich in der Umgebung von Tälern nieder, die in Sackgassen mündeten, sowie in der Nähe von Schluchten und anderen natürlichen Fallen, in denen man Jagdwild umstellen oder in Sümpfe treiben konnte.

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Mammuts und Mammutfriedhöfe Mammuthus primigenius, das wollhaarmammut, ist eine ikone unter den tieren der Eiszeit. mit ihrem langen haarkleid und den gewaltigen stoßzähnen waren diese arktischen Elefanten imposante Erscheinungen, vor allem in einem winterlichen schneesturm, wenn sie düster und reglos im tosenden wind und schneegestöber aufragten.4 mammuts entwickelten sich in sibirien vor mindestens 700 000 Jahren, wo sie dank der üppigen Vegetation der baumlosen mammutsteppe gut gediehen. dort grasten sie im Frühjahr und sommer; im herbst und winter zogen sie dann möglicherweise südwärts in Flusstäler und andere regionen, in denen das nahrungsangebot besser war. was das Verhalten der mammuts betrifft, so können wir nur mutmaßen, dass es in vielen Beziehungen wahrscheinlich dem heutiger Elefanten entsprach. sehr viel besser sind wir dagegen dank der spektakulären mammutfunde aus dem sibirischen permafrost über ihr aussehen und ihre Ernährung informiert. 1901 erreichten sankt petersburg Berichte über eine merkwürdige „teufelskreatur“, die halb begraben im arktischen schlamm von Berezowka im entlegenen norden sibiriens lag. tatsächlich handelte es sich bei dieser kreatur um ein tiefgefrorenes wollhaarmammut, das so gut erhalten war, dass nicht nur das haarkleid und die haut die Jahrtausende überdauert hatten, sondern sogar ein großteil des Fleisches. der Zar selbst finanzierte eine Expedition, um es bergen zu lassen. geleitet wurde sie von dem Zoologen otto herz und dem geologen Eugen pfizenmayer, die das beinahe vollständig erhaltene tier in kniender position vorfanden, als sei es in eine Erdspalte gefallen, aus der es sich nicht mehr befreien konnte. während sie den kadaver ausgruben, – wobei ihnen der gestank „eines schlechtgehaltenen [sic] pferdestalls, stark gemischt mit aasgeruch“5 in die nase stieg –, verfütterten sie einiges von dem Fleisch an ihre hunde, die es mit großem appetit verschlangen. danach brachten herz und pfizenmayer proben des toten tieres mit dem hundeschlitten in das 4800 kilometer entfernte irkutsk, von wo aus diese während eines bitterkalten herbstes und winters mit der Bahn nach sankt petersburg transportiert wurden. das mammut aus Berezowka sorgte für internationales aufsehen. dabei war der gute Erhaltungszustand bei weitem keine ausnahme. so schätzte der verstorbene sibirische mammutexperte nikolai Vereshchagin, dass tausende von skeletten in sibirien ihrer Entdeckung harren. Er errechnete, dass fast 50 000 mammutstoßzähne allein im Zeitraum von 1660 bis 1915 entlang dem 695 kilometer langen arktischen küstenabschnitt zwischen den Flüssen Jana und kolyma gefunden wurden, die allesamt im gierigen schlund des Elfenbeinhandels verschwanden. Einige paläontologen vermuten mehr als fünf millionen im sibirischen Eis verborgene mammutleichname, von denen viele am selben ort liegen dürften, weshalb oft von „mammutfriedhöfen“ die rede ist. mammutfriedhöfe sind ein mythos, der nicht sterben will. Zwar gibt es anhäufungen von knochen, doch handelt es sich dabei um Zufallsprodukte und nicht um das Ergebnis einer absichtlichen Zusammenkunft dem tode naher tiere. sowohl in afrika als auch in asien gibt es ausgetrocknete Flussbetten und wasserläufe, an denen Elefanten

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wiederholt über viele generationen hinweg starben, oft aufgrund von dürren oder Überschwemmungen. allerdings waren es ganz sicher keine Friedhöfe. Vereshchagins ausgrabungen in Berelech im nordosten sibiriens legten einen solchen Fundort frei.6 dort verläuft eine zwei meter dicke schicht aus torf und eisdurchsetztem schlamm mindestens über 180 meter hinweg entlang eines Flussufers. Bewegungen des Erdreiches und durch wasser verursachte Erosionen förderten alleine im letzten Jahrhundert schätzungsweise 50 000 knochen von mehr als 200 mammuts zutage. sie stammen aus einem knochendepot, das sich mit einer noch unbekannten ausdehnung bis in einen hügel am Flussufer hinein erstreckt. Vereshchagin und seine kollegen benutzten eine pumpe und einen Feuerwehrschlauch, um den gefrorenen moorboden abzutragen, der daraufhin knochen sowie braunes und goldfarbenes mammuthaar freigab. die ausgrabungen lieferten die Überreste von 156 mammuts, darunter viele Jungbullen, die vor zwischen 14 000 und 12 000 Jahren starben. doch warum starben hier so viele junge mammuts? möglicherweise betraten die unerfahrenen tiere im Frühjahr das Eis der Flüsse, brachen prompt ein und ertranken in den darunter tobenden Fluten. ihre leichen trieben stromabwärts, wo sie Jahr für Jahr am selben ort, nämlich in einem von einer Flussbiegung abzweigenden altwassersee abgefangen wurden. sobald das wasser zurückging, verköstigten sich wölfe und andere aasfresser an den verwesenden kadavern. die anhäufung der knochen wurde also durch die natürlichen gegebenheiten verursacht und nicht durch eine freiwillige Zusammenkunft sterbender mammuts oder durch menschliches Zutun. nur einige hundert Fuß weiter flussabwärts fand Vereshchagin ein Jagdlager aus etwa demselben Zeithorizont, dessen Bewohner sich von hasen und moorhühnern ernährten. höchstwahrscheinlich nutzten sie die knochen und verzehrten vielleicht gelegentlich etwas von dem Fleisch der kadaver.

Ob sie regelmäßig zahlreiche Mammuts töteten oder lediglich ihre Kadaver nutzten, ist unklar. Falls sie sie jagten, muss dies aus dem Hinterhalt erfolgt sein, so wie sie es in Milovice in einem Seitental der Berge des mährischen Pavlov taten. Hier grub der Archäologe Martin Oliva Knochenanhäufungen von mehr als 100 jungen Mammuts aus, die zusammen mit Projektilspitzen des Gravettien freigelegt wurden. Die Tiere wurden vor etwa 22 000 Jahren getötet.7 Ob dies im Rahmen einer Jagd geschah, ob die Jungtiere hier bei einer Überschwemmung ertranken oder über Jahre hinweg immer wieder im Morast versanken und dann geschlachtet und zerlegt wurden, entzieht sich unserer Kenntnis. Die einzigen Parallelfunde stammen aus Sibirien, wo man sogenannte Mammutfriedhöfe fand. Ich nehme an, dass es in den sumpfigen Tälern, in denen die Menschen des Gravettien in Mähren und anderswo lebten, ebenfalls eine gewisse Zahl an in-

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zwischen vergangenen Mammutknochengruben gab, deren Inhalt jedoch verrottete, als die Temperaturen nach der Eiszeit anstiegen. So hinterließen sie keine Spuren, außer an Orten, an denen wassergetränkte Schichten, verwitterter Löss oder Torfboden sie konservierten. Die Jäger hatten keinen Grund, derart gefährlichen Tieren als Beute nachzustellen, wo diese doch wesentlich nützlicher als Bau- und Brennmaterial waren. Sie mussten sich nur die natürlichen Knochenvorkommen der verwesenden Kadaver sichern – ein Vorgang, der dem Abtragen von Steinvorkommen nicht unähnlich war. In jedem Sommer sammelten die Menschen Kiefer- und Röhrenknochen sowie andere nützliche Körperteile toter Mammuts, die sie mitnahmen, um sie in Gruben im Permafrostboden oder in Wasser aufzubewahren, bevor sie einige Teile davon für ihre Behausungen verwendeten. Diese Lagerungsmethoden hielten die Knochen frisch und leichter bearbeitbar. Darüber hinaus schätzten die Menschen die langen Stoßzähne, die nach dem Einweichen zerteilt und nach Belieben weiterverarbeitet – zum Beispiel beschnitzt – werden konnten. Wie bereits erwähnt, bestanden die Behausungen aus niedrigen, ovalen Konstruktionen, die teilweise in den Boden eingelassen waren. Die haltbareren Formen unter ihnen weisen dabei über weite Gebiete Mittel- und Osteuropas hinweg – von Österreich bis in die flachen Flusstäler Russlands und die Ukraine hinein – dieselben Merkmale auf. In Ermangelung natürlicher Höhlen und Felsüberhänge gruben sich die Cro-Magnon-Menschen gewissermaßen in die Landschaft hinein, um dem ständigen eisigen Wind zu entgehen. Ihre Nahrungsvorräte, ihr Baumaterial und andere wichtige Ressourcen wie die Steine zur Werkzeugherstellung kamen aus geschützten Flusstälern, der offenen Tundra und Hügeln am Fuß der Berge. Die gravettienzeitlichen Jäger und Sammler waren über ein weiträumiges Gebiet verteilt, in dem nur eine kleine Population überleben konnte. Das Leben am „Vorabend“ des letzten Kältemaximums erforderte ständige Mobilität und genaue Kenntnisse der Nahrungsquellen und Rohmaterialien aus weit entlegenen Gebieten. Jede Siedlung pflegte regelmäßige, wenngleich sporadische Kontakte zu ihren Nachbarn aus nah und fern. Nur so war es möglich, in einer rauen Welt zu überleben, in der ein Jagdunfall sämtliche Männer einer isoliert lebenden Gruppe auslöschen oder der Tod einer gebärenden Mutter den Erhalt einer Gruppe gefährden konnte.8 Mobil dürften die Jägergruppen im Frühjahr geworden sein, wenn das Eis schmolz und die Schneedecke taute – in den wichtigen Wochen, in denen Rentiere und andere Tierarten von ihren winterlichen Weidegründen zurückkehr-

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ten. Kleine, vorübergehend errichtete lederbespannte Zelte tauchten in Flusstälern und in der Tundra in einem immerwährenden Rhythmus nicht genau vorhersagbarer Wanderungen auf, der von der eigenen Erfahrung und freigiebig ausgetauschten Informationen über Wisente, Pferde, Rentiere und anderes größeres Wild bestimmt wurde. Das populärwissenschaftliche Bild der Cro-Magnon-Menschen betont vor allem ihre Fähigkeiten, solche Beute zu erlegen; ein wesentlicher Teil ihrer Nahrung bestand aber auch aus kleineren Tieren, deren Fleischausbeute pro Kadaver überraschend hoch war. Wie die Neandertaler und die Menschen des Aurignacien vor ihnen waren die Gravettien-Menschen Opportunisten, allerdings mit überlegenen leichten Waffen, Netzen aus Pflanzenfasern (an einem Fundort entdeckte man Netzfragmente) und einer raffinierten Technologie, die es ihnen gestattete, mit Fallen kleinere Tiere zu fangen, wann immer sich die Gelegenheit bot ... Stellen Sie sich einen Sommernachmittag an einem schnell fließenden Strom vor, an dessen Ufer Dutzende von Schneehasen im warmen Sonnenlicht äsen. Im ersten Tageslicht haben die Jäger zwischen zwei Felsen am Zugang zu einer im Boden verlaufenden Rinne, die sich in der Nähe der Hasenverstecke befindet, Netze aus langen Fasern gespannt. Männer, Frauen und Kinder verstecken sich zwischen den Steinen, Speere und Keulen griffbereit. Zur Jagd haben sich verschiedene Familien hier eingefunden. Im Verlauf mehrerer Stunden kreisen sie die nichtsahnenden Tiere ein. Dann rücken sie näher und schwenken langsam Stöcke und Rentierhäute. Die Hasen beginnen verwirrt im Kreis zu laufen und Haken zu schlagen. Alsbald werden einige der in Panik geratenen Tiere getötet. Viele stürzen zu ihren Verstecken, nur um wild zappelnd in den Netzen zu landen. Keulen schlagen zu und Speere fliegen. Bald schon bedecken Dutzende von toten Tieren den Boden. Die angewandte Jagdmethode beschert schnell eine reiche Ausbeute. Als die Sonne sinkt, weiden die Menschen die Hasen rasch aus, legen die Felle zur Seite und rösten einige der Tiere in der heißen Asche. Sie werden das übrig bleibende Fleisch trocknen, während die Felle erst bearbeitet und dann aufgespannt werden, um später die Kleidung zu zieren und als Babytragehilfen zu dienen ... Sobald der Winter nahte, verließen alle die offenen Lager und schlossen sich zu kleinen Gemeinschaften zusammen, indem sie die für den längeren Gebrauch errichteten Häuser bezogen, in denen sie teilweise monatelang ununterbro-

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chen lebten. Dabei scheinen sie Gegenden ohne extreme Bodenerhebungen bevorzugt zu haben, insbesondere tiefe Flusstäler und hügelige Landschaften, da diese eine wichtige Rolle in ihrer Jagdstrategie spielten. Wie wir in Kapitel 10 noch erfahren werden, waren einige dieser Umgebungen sehr ertragreich in Bezug auf die Ausbeute an umherziehenden Tierarten. Viele Gruppen kehrten über viele Generationen hinweg immer an dieselben Orte zurück – eine Erkenntnis, die wir der Tatsache verdanken, dass mehrere wichtige Fundorte des Gravettien – sowohl in Mähren als auch weitab im Osten – ovale Grundrisse zahlreicher Wohnstätten preisgaben, die dort stets am selben Ort errichtet wurden und zu einer über große Flächen verteilten Konzentration von Behausungen führten. An einigen Orten siedelten sich die Gruppen an strategisch günstigen Plätzen an, die Tausende von Jahren zuvor von den Neandertalern genutzt worden waren. Einer davon war Prˇedmost. Die Siedlung lag an einer Hauptwanderroute von Wild am südlichen Rand der Mährischen Pforte, einer natürlichen Senke in der Tundra. Leider wurden durch den Kalksteinabbau im 19. und 20. Jahrhundert große Teile von Prˇedmost zerstört. Bevor die Steinbrucharbeiter jedoch eintrafen, konnten mehr als ein Dutzend Archäologen zwei lange genutzte Siedlungen ergraben, allerdings waren sie dabei wenig erfolgreich. Dann zerstörte ein Feuer am Ende des Zweiten Weltkriegs sämtliche Artefakte und andere Funde. Daher müssen wir uns auf die unzureichenden Berichte einer früheren Ära verlassen, die die Geschichte von Prˇedmost erzählen.9 Dank Ausgrabungen in jüngerer Zeit an einer ungestörten Stelle wissen wir, dass die Menschen des Gravettien vor ungefähr 27 000 Jahren in Prˇedmost lebten, in einer Zeit milderen Klimas, in der Wälder weite Teile der Landschaft bedeckten. Hier errichteten die Jäger die uns nunmehr bekannten ovalen, teilweise in den Boden eingelassenen Behausungen, die aufgrund der hohen Konzentration an Mammutknochen – einige davon waren gewissenhaft sortiert – als solche identifiziert werden konnten. Zudem gibt es Spuren, die auf die Durchführung von Ritualen hinweisen, einschließlich der sorgsamen Beisetzung von Tieren. An einer Stelle befanden sich in der Nähe einer großen verbrannten Fläche sieben Wolfsgräber, die mit Mammutknochen eingefasst waren. Im Jahr 1894 legte der Archäologe K. J. Maška ein großes elliptisches Menschengrab am westlichen Rand der Siedlung frei. Scharfkantige Kalksteine bedeckten die Grube. Mindestens 20 Individuen ruhten in Hockerstellung in dem zweieinhalb Meter tiefen Graben. Acht davon waren Erwachsene, die anderen zwölf Jugendliche und Kinder, von denen das jüngste nur sechs Monate alt

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war. Auf einem der Skelette lag ein Fuchsschädel, während sich in der Grabgrube zuhauf Knochen großer und kleiner Tiere fanden. Bei dieser Grabgrube handelt es sich um die größte bislang entdeckte Cro-Magnon-Bestattung. Leider wurden diese Funde jedoch in einer Zeit gemacht, in der man noch nicht über eine solche Fülle an Untersuchungsmethoden verfügte wie wir heutzutage; so wissen wir leider nichts über die Kleidung und den Schmuck der Verstorbenen, die uns vielleicht Einzelheiten zu ihrem sozialen Status geliefert hätten. Bereits vor 31 000 Jahren und über einen Zeitraum von mindestens 6000 Jahre hinweg besuchten andere Jägergruppen einen Ort in Mähren, der als Dolní Veˇstonice (Unterwisternitz) bekannt ist und auf den Fluss Thaya blickt. Die Fundstätte lag in dicken Lössablagerungen, die bereits seit Langem zur Herstellung von Ziegelsteinen abgebaut wurden. Im Zuge der Ausgrabungen konnte eine komplexe Anhäufung von Wohnbauten aus dem Gravettien freigelegt werden, die sich über ein großes Areal erstreckten. Dutzende runder oder ovaler Behausungen waren einst auf Terrassen oberhalb des Flusses angelegt worden. Heute erkennt man sie unter anderem an dem gehäuften Vorkommen von Mammutknochen, an Feuerstellen, in denen Lehmgegenstände gebrannt wurden, und großen Mengen an Steinartefakten und Nahrungsresten. Wie in Prˇedmost konnten auch hier Bestattungen freigelegt werden, einschließlich eines außergewöhnlichen Grabes, in dem vor ca. 27 600 Jahren drei junge Leute beigesetzt worden waren: zwei Männer im Alter zwischen 16 und 18 Jahren und eine etwa 20-jährige Frau. Sie lagen Seite an Seite, und ihre Körper waren mit rotem Ocker bestreut. Die drei teilten einige ungewöhnliche anatomische Merkmale, einschließlich noch nicht durchgebrochener Weisheitszähne im Oberkiefer, die bei Menschen der ausgehenden Eiszeit sehr selten waren. Möglicherweise waren die Bestatteten miteinander verwandt. 10 Dolní Veˇstonice ist eine von vielen bekannten Siedlungen des Gravettien in einer Region, die vor 25 000 Jahren zu den am dichtesten besiedelten in Mitteleuropa zählte. Einige der am besten erhaltenen Lager liegen weit im Osten, in den Flussniederungen der osteuropäischen Ebene. Hier kampierten die Menschen an gut bewässerten Flussterrassen nahe am Wasser. Es waren Orte, die in unmittelbarer Nähe Steine zur Werkzeugherstellung und anderes Rohmaterial boten und oft auch über Einmündungen in kleinere Täler verfügten. Die berühmtesten östlichen Fundstätten liegen an den Ufern des russischen Flusses Don. Hier sind besonders die 21 archäologischen Fundorte von Kos-

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tenki hervorzuheben. Einige der hier gemachten Entdeckungen wurden bereits in Kapitel 6 beschrieben, da sich auch Gruppen der frühesten uns bekannten Cro-Magnon-Menschen hier niederließen. Der Fundort Kostenki I liegt in der Nähe der Einmündung in ein Seitental auf einer Terrasse oberhalb des Don. Hier gibt es eine Reihe von Siedlungsschichten, die älter als 25 000 Jahre sind – Fundstätten, deren Bewohner vor allem Pferden und Pelztieren nachstellten.11 Von 1931 bis 1936 führte der sowjetische Archäologe P. P. Efimenko hier umfangreiche Ausgrabungen durch. Dabei legte er auf einer Fläche von mehr als 700 Quadratmetern 15 große mit Abfällen gefüllte Gruben frei, die eine Reihe mittig angelegter Feuerstellen umgaben. Efimenko glaubte, dass die Menschen von Kostenki in mit Leder oder Fellen bedeckten Langhäusern lebten – eine äußerst fantasievolle Interpretation; allerdings fanden sich die hintereinander angelegten Feuerstellen auch an anderen Fundorten. In den 1970er Jahren kehrte ein anderer Archäologe, A. N. Rogacˇev, nach Kostenki zurück und grub einen weiteren, etwas kleineren Komplex aus – diesmal eine ovale Anordnung von Abfallgruben und drei zentralen Feuerstellen, die an Dolní Veˇstonice und andere weiter westlich gelegene Siedlungen erinnern. Eine weitere Fundstätte, Avdeevo nahe der heutigen russischen Stadt Kursk datiert in den Zeitraum von vor zwischen 23 100 und 20 100 Jahren. Auch hier gibt es zahlreiche Feuerstellen und abfallgefüllte Vertiefungen. Die Spuren, die die Zeit überdauert haben, erinnern an späte prähistorische Fundorte in der nordamerikanischen Arktis, wo derartige Befunde charakteristisch für im Freien aufgeschlagene Lager sind, die nur kurzfristig in dem Zeitraum bewohnt waren, in dem normalerweise weit verstreute Gruppen zusammenkamen, um Handel zu treiben, Heiraten zu arrangieren, Streitigkeiten beizulegen und Zeremonien durchzuführen. Nur wenige Ausgrabungen entlang von Flüssen im Osten haben uns ausführliche Details zu den eigentlichen Behausungen geliefert. Um genauere Informationen hierüber zu erhalten, müssen wir uns deshalb einer sehr viel später angelegten Siedlung zuwenden, die jedoch immer noch der grundsätzlich gleichen Architekturtradition halb unterirdischer Wohnstätten folgt. Der ukrainische, im Tal des Dnjepr liegende Fundort Mežiricˇ datiert auf ein Alter von etwa 15 400 Jahren – in eine Zeit, in der die schlimmste Phase des letzten Kältemaximums längst überstanden war.12 Die Winter waren jedoch immer noch extrem kalt, weshalb die ins Erdreich eingetieften Behausungen

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überlebenswichtig waren in einer Landschaft, die nur wenig natürlichen Schutz bot. Die Bewohner von Mežiricˇ bauten immer noch kuppelförmige ovale Häuser, da es keine anderen realistischen Alternativen gab (Abb. 13). Dabei fertigten sie die äußeren tragenden Wände aus mit Mustern verzierten Mammutschädeln, Kiefer- und Röhrenknochen. Jede Behausung hatte einen Durchmesser von etwa fünf Metern, war teilweise in den Boden eingelassen und mit Häuten oder Fellen sowie Grassoden überdacht. In der Nähe befanden sich mit Mammut- und anderen Tierknochen gefüllte Vorratsgruben. Die amerikanische Archäologin Olga Soffer hat ausgerechnet, dass etwa 14 bis 15 Arbeitskräfte zehn Tage brauchten, um sämtliche Häuser von Mežiricˇ zu errichten. Dreimal so viel Arbeitszeit wird – so schätzt sie – in ein noch aufwendigeres Basislager als dieses investiert worden sein. In Mežiricˇ und anderen großen Basislagern wurden zudem viele Knochen von Bibern und anderen Pelztieren gefunden, die während der Wintermonate erlegt wurden. Soffer nimmt an, dass die Menschen die Winterbasislager ca. sechs Monate im Jahr bewohnten, um dann in Sommerlager umzuziehen, in denen sie sich nur kurze Zeit – vielleicht einen Monat oder ein wenig länger – aufhielten, bis sie weiterzogen. Etwa 50 bis 60 Personen lebten jeweils in einem Winterlager, wobei jedes Haus ein bis zwei Familien gehörte. Während eines Großteils des Winters dürften sich die Menschen von im Permafrostboden gelagerten Vorräten ernährt haben. Nur gelegentlich unternahmen sie Jagdausflüge, um Schneehühner zu fangen oder mithilfe von Fallen Pelztiere zu erlegen. Hier und an anderen Orten sicherten die Wanderungen der Rentiere im Frühjahr und Sommer die Grundversorgung. Außerdem gab es ein

abb. 13: rekonstruktionszeichnung der siedlung von mežiricˇ.

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großes Spektrum anderer Tierarten, darunter Wasservögel und manchmal Fische. Diese Jagdroutinen blieben über Tausende von Jahren unverändert, vom letzten Kältemaximum an bis zum Ende der Eiszeit. Die Jagd auf Pelztiere war wichtig, denn die Menschen mussten lange Winter überstehen, in denen die Fettvorräte knapp waren und sie ihre Tage in Felle gehüllt verbrachten, um sich warm zu halten. Schlingen und Fallen gehörten zu den wichtigsten Jagdwaffen der Cro-Magnon-Menschen, da sie sowohl Männern als auch Frauen erlaubten, eine ganze Reihe kleinerer Tierarten zu erbeuten, deren Federn, Fleisch, Felle und sogar zarte Häute und Schnäbel verwendet wurden. Doch woher wissen wir, dass sie solche Geräte einsetzten? Wir können es nur indirekt erschließen, denn an den Fundstätten des Gravettien blieben nur die Knochen von Hasen, Füchsen und anderen in Fallen gefangenen und dann sorgfältig abgezogenen Tieren erhalten. Die meisten Schlingen, selbst größere Fallen, wurden weit abseits der Lager aus gerade verfügbaren Materialien wie Pflanzenfasern, Schösslingen und Lederriemen vor Ort angefertigt. Selbst ihre haltbarsten Bestandteile blieben so gut wie nie erhalten, wenn sie vielleicht auch manchmal als rätselhafte, von uns verkannte Symbole an Höhlenwänden erscheinen mögen. Indem wir die Knochen der Beutetiere analysieren, können wir uns ansatzweise ein Bild davon machen, in welchem Umfang die Cro-Magnon-Menschen Fallen ausbrachten. Darüber hinaus können wir nur mit Bedacht und kritisch Gebrauch von unseren Informationen über historische Volksgruppen machen, die in arktischen und subarktischen Umgebungen zu Hause waren.13 Sowohl Schlingen als auch Fallen sind in der Regel einfache, aber äußerst effektive Vorrichtungen, von denen man mit Sicherheit annehmen kann, dass sich ihre Konstruktionsweise in den vergangenen 25 000 Jahren nur wenig geändert hat. Hasen und Kaninchen folgen beispielsweise immer wieder denselben Pfaden, die deutlich im Schnee zu erkennen sind. In historischen arktischen Kulturen errichteten die Fallensteller auf jeder Seite eines solchen Pfades einen leichten Zaun. Dann legten sie auf dem Pfad eine Schlinge aus, die mit einer Seilkonstruktion verbunden war. Diese Konstruktion wiederum war mit einer Stange verknüpft, die auf x-förmig angeordneten Trägern ausbalanciert lag. Sobald der Hase seinen Kopf in die Schlinge steckte, löste er die Falle aus und wurde hochgezogen. Solche Schlingen ließen sich in kurzer Zeit einrichten; sie funktionierten mit tödlicher Effizienz und wurden – den großen Fundmengen an Hasenknochen nach zu urteilen – mit Sicherheit auch im Gravettien verwendet.

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abb. 14: waffen des gravettien. (a) Fein gearbeitete rückenspitzen, die wahrscheinlich als speerspitzen benutzt wurden. hier wird ihre direkte Befestigung am speerschaft sowie die Verwendung mit einem Vorschaft gezeigt. (b) Eine sogenannte Fontrobert-spitze und ihre Befestigung.

Die Menschen des Gravettien waren Meister in der Fertigung von leichten Waffen und Mehrzweckartefakten. Ihre Waffen waren ausgefeilte, aufwendige Kompositgeräte, die auf der Verwendung von aus Klingen gefertigten Steingeräten basierten. Fundorte des Gravettien lassen sich immer anhand der schmalen, gestreckten Rückenspitzen identifizieren, die oft als Gravette-Spitzen bezeichnet werden und die man auf hölzerne Speerschäfte aufsetzte (Abb. 14). In geschickten Händen waren dies tödliche Waffen. Untersuchungen der Abnutzungsspuren an ihren Rändern verraten uns, dass die Jäger solche Klingen auch als Messer nutzten, manchmal nachdem sie bei der Jagd zerbrochen waren. Einige Gruppen stellten auch kleine, gestielte Spitzen her, die auf leichte Speere gesetzt wurden.14

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Im Laufe der Zeit wurden die Projektilspitzen kleiner. Die Jäger verließen sich nun stärker auf Knochenspitzen mit abgeschrägter Basis, die aus Fragmenten von Langknochen gefertigt und dann mit der abgeschrägten Fläche auf das vordere Ende eines ebenfalls abgeschrägten hölzernen Speerschafts gesetzt wurden. Einige Abschrägungen waren aufgeraut, damit sie besser hafteten. Die Verbindungsstelle wurde vermutlich mit Harz verklebt und dann eng mit einem Riemen umwickelt. Das Ergebnis war eine stromlinienförmige effektive Waffe, mit der man große und kleine Tiere jagen konnte. Experimente der Archäologin Heidi Knecht mit Repliken ergaben, dass solche Waffen eine beeindruckende Durchschlagskraft besaßen und manchmal sogar den Körper der im Experiment verwendeten toten Ziege vollständig durchschlugen.15 Die Effizienz dieser leichten Waffen hing von der Fähigkeit des Jägers ab, sie schnell und zielsicher zu werfen, wie auch von dem Speer selbst, der so konstruiert sein musste, dass eine zerbrochene Spitze rasch gegen eine neue ausgetauscht werden konnte. Wenn Sie die Höhlenmalereien genau betrachten, sehen Sie viele Bilder verwundeter Tiere, aber oft ist kein Speer zu sehen, der sie getroffen hat. Möglicherweise liegt das daran, dass die Jäger Kompositwaffen einsetzten, deren tödliche Projektilspitzen an einem kurzen Vorschaft aus Knochen oder Holz befestigt waren, der seinerseits mit dem Speerschaft verbunden war. Wenn der Speer nun die Jagdbeute traf, brach die Spitze vom Vorschaft ab und der Schaft fiel zu Boden. Der Speerwerfer konnte ihn aufheben, rasch eine neue Spitze auf die Waffe setzen und war innerhalb kürzester Zeit wieder einsatzbereit. Die Vorzüge von Speerschleudern wurden bereits in Kapitel 8 erläutert. In Verbindung mit Kompositspeeren waren sie in den Händen eines geschickten Benutzers leistungsstarke Waffen. Noch mehr als die Menschen des Aurignacien waren die des Gravettien höchst wählerisch in Bezug auf die Verwendung von Steinen zur Werkzeugherstellung. In Dolní Veˇstonice und an anderen mährischen Fundorten verwendeten sie Feuerstein, den sie aus glazialen Ablagerungen in Schlesien und dem Süden Polens sowie aus anderen entlegenen Regionen bezogen. Ein Großteil des in Kostenki gefundenen schwarzen Feuersteins stammt aus Vorkommen an den südlichen Rändern des zentralrussischen Hochlandes in etwa 150 Kilometern Entfernung. Und es lässt sich noch ein weiterer neuer Trend beobachten: Die Steinartefakte werden sehr viel kleiner und aus wesentlich schmaleren Klingen gefertigt, die dann unter anderem zu rückenretuschierten Formen weiterverarbeitet

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wurden. Sie konnten als Widerhaken an Speerspitzen dienen – leichte, ideale Waffen für umherziehende Jäger und Sammler, die diese Geschosse in Kombination mit einer Speerschleuder benutzten. Einige kleine Klingen sind gezähnt, als ob sie zum Sägen verwendet wurden. Zur Zeit des letzten Kältemaximums stellten die Menschen des Gravettien mit bisher unerreichter Effizienz einer großen Zahl von Tierarten nach. Sie besaßen auch Hunde, die womöglich schon vor Tausenden von Jahren gezähmt worden waren – mit Sicherheit wissen wir es allerdings nicht. Die mitochondriale DNS legt einen Ursprung domestizierter Hunde bei ostasiatischen Wölfen nahe. In der belgischen Goyet-Höhle fand man in einer auf das hohe Alter von rund 31 700 Jahren datierten Schicht aus dem Aurignacien Knochen, die einem domestizierten Hund zugeordnet werden. Die ersten jedoch mit Sicherheit von Hunden stammenden Überreste wurden in Eliseevicˇi I im Tal des Dnjepr gefunden. Sie werden auf ein Alter von zwischen 13 000 und 17 000 Jahren datiert. Diese Hunde ähnelten ein wenig sibirischen Huskies, hatten jedoch eine breitere Stirn. Hunde dürften von unschätzbarem Wert gewesen sein, wenn es darum ging, kleinere Tiere zu verfolgen und sie in die Enge zu treiben. Darüber hinaus dürften sie als Nahrungsquelle gedient haben.16 Die meiste Zeit des Jahres lebten die Menschengruppen des Gravettien isoliert in kleinen Lagern, die nur wenige Wohnstätten umfassten. Die starke Häufung von Behausungen an Orten wie Kostenki I und Dolní Veˇstonice lässt den Schluss zu, dass sich mehrere Gruppen in den wärmeren Monaten zusammenschlossen, vielleicht für einige Wochen oder für kürzere Zeit. Sofern die Dichte der Wohnstätten Rückschlüsse zulässt, dürften sich manchmal mehrere hundert Menschen an einem Ort eingefunden haben. Wie es bei historischen Jäger-undSammler-Gesellschaften üblich war, trafen sie sich zu bestimmten Anlässen, um Informationen auszutauschen, Streitigkeiten beizulegen und vielleicht gemeinsam zu jagen. In dieser Zeit dürften auch Ehen arrangiert, exotische Objekte von Hand zu Hand gereicht und in Ehren gehaltene Rituale durchgeführt worden sein ... Am Ende eines langen Sommertages steht die Sonne niedrig am Horizont. Endlich einmal hat der Wind sich gelegt; es ist warm, und es sind keine Insekten mehr unterwegs. Zelte stehen in einer Reihe entlang der Flussterrasse, umringt von riesigen Haufen aus Rentierknochen, die sich im Laufe jahrelanger Früh-

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jahrs- und Herbstjagden dort angesammelt haben. Große Feuer flackern in der hereinbrechenden Dämmerung. Frauen zerbrechen Knochen, um an das nahrhafte Mark zu gelangen, und spießen Rentierfleisch auf Stöcke. Kinder rennen zwischen den Zelten umher; junge Männer in Hemden und leichten Lederhosen raufen und necken sich. Einige von ihnen sitzen schweigend da und beäugen die Mädchen, denen die musternden Blicke wohl bewusst sind. Sie wissen, dass in den nächsten Tagen die Ehen arrangiert werden. In der Nähe einer Feuerstelle sitzen vier Männer auf einem Rentierfell am Boden. Einer von ihnen kommt von weit her, aus einer flussabwärts liegenden Gegend, wo sich das Wasser wie die gewaltige Tundra bis zum Horizont erstreckt. Er schüttet eine Handvoll Muscheln auf das Fell. Die Männer beugen sich vor und das Feilschen beginnt – über Bernsteinklumpen, Anhänger aus Wolfszähnen, Elfenbeinarmreifen und andere fremdartige Objekte aus fernen Gegenden. Bei Anbruch der Nacht beginnen die Gruppen mit ihrem Festmahl aus Rentierfleisch. Dann ist die Zeit für Geschichten gekommen: über erfolgreiche Jagden, große Mammuts, die Taten der Ahnen und mythische Jäger. Ein stiller alter Mann mit wettergegerbtem Gesicht eröffnet den Reigen mit einem gespenstischen Singsang über die alten Zeiten, über den Schöpfer und die Erschaffung der Welt mit ihren Tieren. Während die vertraute Erzählung ihren Lauf nimmt, erklingt eine Knochenflöte, und die Menschen fangen an, mit den Händen auf stramm gespannte Häute zu schlagen. Junge Männer und Frauen verschwinden tanzend in den Schatten und tauchen wieder auf. Die Tänze werden sich die ganze Nacht lang fortsetzen, bis zum Morgengrauen. In einer zeitlosen Feier zelebrieren sie den ewigen Kreislauf des Lebens in einer unwirtlichen Welt ... Solche Zusammenkünfte waren die wichtigsten Ereignisse im Leben der Gravettien-Menschen, das sich in einer gigantischen Landschaft großer Distanzen und Jagdgebiete abspielte. Trotz der gewaltigen Entfernungen blieben selbst weit voneinander entfernt lebende Sippen unregelmäßig in Kontakt und festigten ihre Beziehungen mit Geschenken und dem Austausch vielfältiger exotischer Objekte. Das Wissen hierüber verdanken wir Funden an Stätten wie Kostenki. Unter anderem entdeckte man hier Bernstein, der in der Nähe von Kiew gesammelt und seines Aussehens und seiner magischen Eigenschaften wegen hoch geschätzt wurde. In Mežiricˇ gefundene Bergkristalle kamen aus dem Süden aus einer Entfernung von mindestens 100 Kilometern. Gruppen im unteren Tal des Dnjepr in der Nähe des Asowschen Meeres brachten fossile Meeresschneckengehäuse vom Schwarzen Meer in den Norden. Einige Mollusken

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erreichten eine mehr als 650 Kilometer landeinwärts liegende Siedlung in Timonovka an der oberen Desna, und auch in Kostenki – mehr als 500 Kilometer von der Küste entfernt – wurden große Zahlen von Muscheln aus dem Schwarzen Meer entdeckt. Diese exotischen Gegenstände waren mehr als nur Kuriositäten. Sie waren von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Eine Muschel, ein Stück durchsichtiger Bernstein, ein Bergkristall – jeder dieser Gegenstände stand für eine Transaktion zwischen zwei Individuen, besiegelte vielleicht eine Freundschaft oder ein anderes dauerhaftes Band, das über Jahre oder sogar Generationen hinweg bestehen blieb. Wie immer wissen wir nichts über die genauen Hierarchien im Leben der Gravettien-Menschen, die ihren Alltag mit Sicherheit beeinflussten. Nur ein einziger Fund gewährt uns hierüber einen kleinen Einblick: Die Lager der Menschen von Sungir im Norden Russlands lagen auf dem 56. nördlichen Breitengrad im Entwässerungsgebiet der Wolga nordöstlich von Moskau. Zur Zeit der Besiedlung befand sich das Lager nur 150 Kilometer vom Rand des nördlichen Eisschildes entfernt. Mammut- und Rentierjäger besuchten Sungir wiederholt vor etwa 27 000 bis 26 000 Jahren, da der Ort direkt auf der Wanderroute des Jagdwilds lag. Russische Archäologen untersuchen hier immer noch die Überreste der Cro-Magnon-Siedlungen, einschließlich eines bemerkenswerten Friedhofs mit neun Bestattungen.17 Bei den am besten erhaltenen Gräbern handelt es sich um das eines älteren Mannes, vielleicht in den Sechzigern, und das zweier Jugendlicher, die Kopf an Kopf bestattet waren. Jedes Individuum trug Halsketten, Armbänder und „Broschen“. Mehr als 13 000 Perlen aus Mammutelfenbein schmückten einst ihre Kleidungsstücke. Der ältere Mann trug eine perlenbesetzte Mütze und vielleicht eine reich geschmückte Ledertunika (Abb. 15). Ein rot bemalter Anhänger aus Schiefer zierte seinen Hals. 25 schmale, rot und schwarz angemalte Reifen aus Mammutelfenbein abb. 15: rekonstruierte darstellung eines mannes aus sungir (russland) einschließlich seiner kleidung und seines schmucks.

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lagen um seine Arme. Die Herstellung des Zierrats war ausgesprochen aufwendig. So ergaben Experimente, dass man mehr als eine Stunde braucht, um eine einzige Perle herzustellen. Um die Perlen an der Kleidung des älteren Mannes zu befestigen, wären 3000 Arbeitsstunden nötig. Die Jugendlichen, die offenbar 1000 Jahre später beigesetzt wurden, trugen eine Anzahl von Perlen, deren Fertigung 5000 Stunden in Anspruch genommen haben muss. Die Perlen waren alle einzeln durchbohrt und sorgsam so aufgezogen, dass sie ineinander übergehende Muster bildeten. Man kann daher sogar noch von einem wesentlich höheren Zeitaufwand ausgehen. Ein männlicher Jugendlicher trug einen Gürtel aus mehr als 250 Polarfuchszähnen. Eine Schiefernadel auf Höhe seiner Kehle könnte einen Mantel zusammengehalten haben. An seiner Seite lag eine schwere Lanze aus Mammutelfenbein – mit hoher Wahrscheinlichkeit eine zeremoniellen Zwecken dienende Beigabe. Sämtliche Gräber von Sungir vermitteln einen Eindruck von Wohlstand, hohem Ansehen und weisen aufwendig verzierte Kleidung auf. Solch eine aufwendige Verzierung könnte den sozialen Status, verwandtschaftliche Beziehungen und sogar persönliche Fähigkeiten der Bestatteten widergespiegelt haben. Falls die reiche Schmuckausstattung der beiden Jugendlichen irgendwelche Rückschlüsse zulässt, wurden Merkmale der sozialen Stellung der Menschen von Sungir von einer Generation an die nächste weitergegeben. Ohne Frage war die Gesellschaft der Cro-Magnon-Menschen wesentlich bunter und komplexer in ihren sozialen Beziehungen und ihrer Spiritualität, als wir annehmen. Die archäologischen Entdeckungen an Orten wie Dolní Veˇstonice und Kostenki sind nur die Spitze eines Eisbergs. Das Gleiche gilt für den dort gefundenen Schmuck des Gravettien: durchbohrte Raubtierzähne, Muscheln und Fragmente bearbeiteter Knochen-, Elfenbein- und Lehmstücke, die zu Anhängern oder Perlen verarbeitet wurden. Abgesehen von zahlreichen Knochen- und Elfenbeinfragmenten, versehen mit geometrischen Linienmustern, sowie einigen stilisierten Tier- und Menschenfiguren fehlt die große Zahl der Tierdarstellungen, wie wir sie aus den weit westlich gelegenen Höhlen, so etwa der Grotte Chauvet, kennen. Hier im Osten dienten Knochen und Elfenbein als „Leinwand“ – Kunst in einem wesentlich kleineren Format. Über die Rituale und Glaubensvorstellungen der Menschen des Gravettien wissen wir so gut wie gar nichts. Nur gelegentlich finden wir einige aufwendiger verzierte Schmuckstücke, wie die von dem Mann aus Sungir getragenen

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Armreifen aus Mammutelfenbein. Außerdem haben wir aus Avdeevo und Kostenki mit geometrischen Mustern verzierte Funde aus Elfenbein, die vielleicht als Stirnbänder dienten. Und auch in der Siedlung von Pavlov (Mähren) beschnitzten die Menschen Elfenbein. Unter anderem stellten sie eine Reihe fein gearbeiteter Ringe (Reifen) her sowie möglicherweise Stirnbänder, in die geschwungene Linien eingeritzt sind. Die künstlerischen Konventionen sind erstaunlich einheitlich – eine Beobachtung, die wir auch in der historischen arktischen Kunsttradition machen, in der ebenfalls große Entfernungen und kleine miteinander in Verbindung bleibende Populationen eine Rolle spielen. Aus dieser scheinbaren Einförmigkeit sticht eine bestimmte Kunstform besonders heraus: üppige Frauenfiguren. Sie sind so kurvenreich, dass Archäologen vergangener Tage sie als „Venusfiguren“ bezeichneten – eine zwar praktische, doch nicht angemessene Benennung, die sich bis heute mit diesen Figuren verknüpft. Venusfiguren kommen überall in Europa vor, von der Ukraine bis in den Südwesten Frankreichs. Niemand weiß, wo der Ursprung dieser Tradition liegt, aber es könnte Mitteleuropa gewesen sein, wo Künstler die ersten dieser Figuren aus Elfenbein und gebranntem Lehm herstellten. Letztere sind die ältesten uns bekannten gebrannten Lehmobjekte. Die älteste Venusfigur stammt aus dem Hohle Fels in Süddeutschland und ist ca. 35 000 Jahre alt.18 Gut bekannt ist auch die sogenannte Venus von Dolní Veˇstonice, die auf aneinandergedrückten Beinen steht. Ihr Bauchnabel ist deutlich ausgeprägt; ihre Arme sind nicht sichtbar. Die tropfenförmigen Brüste verdecken ihren Oberkörper (Abb. 16). Abgesehen von einem angedeuteten Mundschlitz fehlen ihr die Gesichtszüge, darüber hinaus hat sie keine Haare. Eine weitere berühmte Frauendarstellung ist die sogenannte Venus von Willendorf (Österreich). Sie wird auf ein Alter von etwa 29 000 Jahren geschätzt und ist in demselben Stil gefertigt. Auch ihr Kopf weist keine Gesichtszüge auf. Gekräuselte Linien stellen ihr Haar dar und ihre schweren Brüste hängen tief herab. Auf ihnen ruhen winzige Arme. Die Hüften der Frau sind so gewaltig, dass sich viele Forscher gefragt haben, ob hier vielleicht eine steatopyge Person dargestellt ist, das heißt, eine Frau, die einen Fettsteiß hatte (Abb. 17). Es handelt sich hierbei um eine große Ansammlung von Fett um die Hüften und Oberschenkel herum, die heute noch charakteristisch für einige afrikanische Frauen der San ist. In Kostenki I und an anderen Fundorten im Osten verwendeten die Menschen Elfenbein und Lehm, um die Figuren zu erschaffen. Auch hier haben

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diese tropfenförmige Brüste und übertrieben ausladende Hüften auf. Eine Figur aus Mammutelfenbein aus Kostenki I wurde einer Grube in dem gemeinschaftlich genutzten Areal entnommen. Sie scheint eine Art Mütze und vielleicht einen Gürtel zu tragen. Diese Figur besitzt muskulöse Beine, die – dünn auslaufend – einander zugewandt sind. Neben diesen vollständigen, eindeutig identifizierbaren Figuren lieferten uns die östlichen Fundplätze auch abstrakte Darstellungen von Frauen und Brüsten. Noch faszinierender als die Venusfiguren selbst ist aber ihre Platzierung in den östlichen Fundorten. So lehnte eine Figur zum Beispiel aufrecht an der Wand einer kleinen, sanduhrförmigen Grube, die einer Reihe von Feuerstellen gegenüberlag. Sie stand, umgeben von verbrannten Elfenbeinfragmenten, einigen Knochenscheiben und Steinartefakten, auf einer Schluffschicht.

abb. 16: Venusfiguren. dolní Veˇstonice (mähren) (links). abb. 17: Venus von willendorf (Österreich) (oben).

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Die Grube war mit feinem Schluff und rotem Ocker verfüllt und anschließend mit dem Schulterblatt eines Mammuts abgedeckt worden. Im etwa 125 Kilometer entfernten Avdeevo wurden rund 25 Frauenfiguren in Gruben gefunden, die um eine Reihe von Feuerstellen und Mulden im Boden angeordnet waren. Eine Grube enthielt drei Artefaktkonzentrationen einschließlich zweier Statuetten, die jeweils Kopf an Fuß und in die gleiche Richtung blickend platziert waren. Sie passen perfekt aneinander und wurden aus demselben Elfenbeinstück gefertigt. Sauberer Flusssand füllte den Boden der Grube, gefolgt von einer dunklen Schicht, die einen Löwenschädel enthielt, sowie einer abschließenden Schicht mit Siedlungsabfällen und den Überresten Dutzender Vielfraßschädel und -kieferknochen. An einem anderen Fundort, in Gagarino (Ukraine), gruben die Bewohner in gleichmäßigen Abständen zehn Vertiefungen in den Löss. Jede davon enthielt eine üppige Frauenfigur, von denen eine unvollständig ist. Vielleicht befand sich hier ein Haus für Gebärende, oder es handelte sich um die Behausung des Herstellers der Figuren. Weitere Statuetten wurden zusammen mit Fußknochen von Füchsen in einer Grube neben dem Haus gefunden, als ob die Figürchen einst in Fuchsfell eingeschlagen gewesen wären. Die gleiche künstlerische Tradition breitete sich nach Westen bis zu den südwestfranzösischen Höhlen aus, aber aus uns unbekanntem Grund nicht bis in den Norden Spaniens. Jahrtausendelang besuchten Cro-Magnon-Gruppen das Abri Laussel in der Nähe von Marquay in der Dordogne, doch es war zur Zeit des Gravettien, als sie eine Venusfigur in die Felswand meißelten. Diese Frau trägt eine nicht identifizierbare Kopfbedeckung und blickt nach rechts auf ihre rechte Hand, in der sie ein mit 13 Kerben verziertes Wisenthorn hält. Die linke Hand ruht auf dem gewölbten Bauch (Abb. 18). Abgesehen von der Tatsache, dass sie in den Kalkstein gemeißelt und nicht als freistehende Figur geschaffen wurde, entspricht sie ansonsten mit ihren schweren Brüsten, den massigen Hüften und dem gut erkennbaren Schamdreieck dem üblichen Bild. Sie ist eine der bekanntesten von einer ganzen Reihe menschlicher Figuren aus Laussel, darunter eine weitere Frauenfigur mit einem netzartigen Kopfschmuck und die Darstellung eines Mannes, der von rechts zu sehen ist und einen Gürtel sowie Hosen zu tragen scheint. Die vielleicht berühmteste französische Figur ist das aus Elfenbein gefertigte Köpfchen einer Frau aus der Grotte du Pape in Brassempouy (Landes). Diese Frau hat langes, bis in den Nacken fallendes Haar. Aufgrund der nahezu

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abb. 18: Venus von laussel (Frankreich).

abb. 19: das köpfchen von Brassempouy (Frankreich).

impressionistischen Umsetzung ihres Gesichts verändert sich ihr Ausdruck, wenn man sie aus verschiedenen Richtungen und bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen betrachtet (Abb. 19). Es ist unter anderem dieses Köpfchen, das die künstlerische Tradition definiert, in der all diese Figuren des Gravettien gefertigt wurden: Die Menschen hoben nur die wichtigsten Merkmale hervor und überließen viel der Fantasie des Betrachters. Die Kurven und Wölbungen der Figuren illustrieren die weibliche Anatomie, ja sogar Aspekte der Fruchtbarkeit. Viele interessierte Touristen haben über die Bedeutung dieser Figuren diskutiert – ein Phänomen, das der Paläontologe R. Dale Guthrie schmunzelnd als „angenehmes Chaos“ bezeichnet hat.19 Natürlich gibt es auch die Fraktion derjenigen, die glauben, die Figuren seien einem universellen Muttergöttinnenkult zuzuordnen, was bestenfalls ein weit hergeholter Schluss ist. Die ausgeprägten anatomischen Merkmale der Figuren deuten auf einen Bezug zu Geburt und Fruchtbarkeit, aber allgemeine künstlerische Konventionen sind eben nur Konventionen und nicht mehr. In den meisten heute noch existierenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften sind

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sich die Menschen der schwerwiegenden Einschränkungen sehr wohl bewusst, die eine zu hohe Kinderzahl für eine Gruppe bedeuten. Kinder sind eine zeitraubende Investition, bevor sie produktive Mitglieder der Gesellschaft werden. Beispielsweise fand der Anthropologe Richard Lee heraus, dass die !Kung San (das Ausrufezeichen steht hier für ein Zungenschnalzen) der Kalahari-Wüste strenge sexuelle Tabus in den ersten Lebensjahren eines Babys haben.20 Angesichts der Tatsache, dass die Cro-Magnon-Menschen in einem Lebensraum lebten, in dem sie von unberechenbaren Tierbeständen abhingen, müssen sie sich der Gefahren einer zeitlich unpassenden Schwangerschaft bewusst gewesen sein. Aus diesem Grund ist es sehr fraglich, ob die Venusfiguren Symbole der Fruchtbarkeit, Geburt und Erneuerung waren. In der Regel umgehen wir das Thema „Sex“, wenn wir über die Cro-Magnon-Menschen sprechen, obwohl sie häufig Menschen in Positionen darstellten, die man wirklich nur als sexuell bezeichnen kann. Guthrie argumentiert, dass sie ebenso sexuelle Gefühle hatten wie die heutigen Menschen auch. Er weist darauf hin, dass die Frauen bei sämtlichen Figuren, die detailliert genug gearbeitet sind, stets ohne Kleidung dargestellt sind. Ebenfalls nicht zu leugnen ist, dass es sich stets um Frauen auf dem Höhepunkt ihrer Reproduktionsfähigkeit handelt. Sie weisen allesamt Rundungen auf und sind im Alter von zwischen 17 und 40 Jahren. Zudem fiel ihm auf, dass die Frauen alle üppig, ja sogar korpulent sind – Eigenschaften, die sowohl biologisch als auch sozial für Fruchtbarkeit stehen. Möglicherweise als Andeutung einer sexuellen Einladung betonten die Cro-Magnon-Menschen die erotischen Regionen des Körpers – Brüste, Gesäß, Hüften und Schenkel –, während Arme, Hände und sogar Augen und Ohren in den Hintergrund treten. Hunderte von solch explizit im selben Stil gehaltenen Bildern befinden sich an den Wänden der Höhlen. Einige sind nicht mehr als Graffiti, andere zeigen nur Sexualorgane, einige wenige den Geschlechtsakt. Guthrie schreibt: „Also hinterließen uns diese fernen Verwandten Zeichen ihrer Leidenschaft und ihrer Sehnsüchte in Elfenbein und an Kalksteinwänden. Wir teilen die gleiche ungezügelte Obsession mit ihnen. Ihre erotische Kunst ist weder das Nebenprodukt verbotener Ausschweifungen noch die Ausstattung heiliger Schreine, sondern es handelt sich einfach um beiläufige Darstellungen von Brüsten und Vulvae, vermischt mit Linien, die Tierschweife und Geweihe darstellten. Es waren Symbole, die zu Gedankenspielen anregten und das Leben interessanter machten.“21 Wenn Guthrie auf der richtigen Fährte ist, dann waren die Venusstatuetten des Gravettien mit ihren prallen Brüsten und Gesäßen Verkörperungen von erotischer Attraktivität in einer Gesellschaft, in der der Konsum von Fett und

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ein hohes Gewicht halfen, das Überleben zu sichern. Die Figuren sind keine Darstellungen Schwangerer, sondern üppiger Frauen, die Körperfett in einer ganz anderen Art und Weise einlagern als bei einer Schwangerschaft, in der die Frauen das Ungeborene dicht unter dem Herzen tragen. Die proportionale Verteilung des Fettes entspricht bei ihnen der von Fettleibigkeit. Somit stehen die voluminösen Frauen in der Cro-Magnon-Kunst vielleicht für erotische Macht, für die Zeit maximaler sexueller Attraktivität – die Zeit, wenn sie an Gewicht zugelegt hatten, nachdem der Wachstumsschub der Pubertät abgeschlossen war und Babys abgestillt waren. Guthries Theorie ist logisch und passt zu den im Wesentlichen einfachen Grundlagen des Lebens der Cro-Magnon-Menschen, das sich um die Wirklichkeit des Wechselspiels von Überfluss und Mangel drehte. Schließlich hing ihr Überleben von einer effizienten Nutzung der sie umgebenden Tierwelt ab.

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Kapitel 10 Die Magie der Jagd

Das Vézère-Tal in Frankreich vor 25 000 Jahren. Die Männer halten schon seit Tagen nach Rentieren Ausschau. Warm gekleidet sitzen sie auf hohen Klippen über dem Tal im herbstlichen, keine Wärme mehr spendenden Sonnenlicht. Unter ihnen fließt die schlammig-braune Vézère gemächlich dahin und plätschert sanft über die flachen Stellen des uralten Flussübergangs. Im nahe gelegenen Lager ist die Stimmung spannungsgeladen. Die Erwartung ist deutlich zu spüren: Speere und Speerschleudern sind griffbereit, Schaber und Messer zurechtgelegt. Eine noch milde Brise fährt durch die Nadeln der dunklen Koniferen am Ufer. Und die Jäger warten und warten ... Ein grauer Morgen läutet den nächsten Tag ein. Leichter Nebel hängt über den Baumwipfeln. Krächzende Schneehühner picken im kurzen, immer noch grünen Herbstgras. Im Zwielicht regt sich etwas in der Ferne, so sanft wie ein Atemzug. Plötzlich ertönt ein Aufschrei. Die Jagd kann beginnen – die Rentiere kommen! Männer, Frauen und Kinder springen aufgeregt auf, ergreifen Waffen und Werkzeuge, allen voran die Jäger. Sie postieren sich an den Flussufern, verborgen zwischen Felsen und Bäumen. Jeder Jäger hat ein Bündel von Speeren und seine Speerschleuder dabei. Der Ansturm der Rentiere beginnt. Sie ziehen gen Norden, ein dicht gedrängter, gute 45 Meter breiter Strom von Tieren. Er teilt sich zu beiden Seiten einer Baumgruppe und schließt sich wieder, als die Tiere auf das abschüssige Ufer zusteuern. Wenige Augenblicke später betreten die Leittiere die Furt und erreichen unter Geplätscher die andere Seite. Die hinter ihnen befindlichen Tiere folgen ihnen blindlings in einer ordentlichen, zielgerichteten Prozession. Einige überqueren den Fluss an tieferen Stellen und durchschwimmen ihn. Ihre kräftigen Beine rudern, die geweihbewehrten Köpfe sind dabei in den Nacken gelegt. Sie drängen sich so dicht, dass man auf ihren Rücken trockenen Fußes den Fluss überqueren könnte. Dutzende von Tieren sind bereits am anderen Ufer angekommen, als die Jäger zuschlagen. Sie springen aus ihren Verstecken hinter Felsen und Bäumen hervor und stürmen voran. Ihr Ziel sind die Tiere in den Untiefen in unmittelbarer Nähe. Der dumpfe Aufprall von Speeren, die sich in lebendiges Fleisch bohren, hallt im Tal wider. Die ersten vorbeiziehenden Tiere stürzen noch vor dem Angriff. Sie sind gefangen im Fluss durch die von hinten nachdrängenden Artgenossen, die ihnen keine Möglichkeit zur Flucht lassen. Diejenigen, die

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sich der Furt nähern, sprengen die Formation. Sie rennen in kurzen Sprints vor und zurück – erst stromaufwärts, dann stromabwärts, bevor sie entlang des Flusses flüchten und aus dem Blickfeld der Jäger verschwinden. Die Furt hat sich in ein von toten und verwundeten Tieren übersätes Schlachtfeld verwandelt. Verletzte Rentiere rudern hilflos mit den Beinen, versuchen sich wieder aufzustemmen und zu entkommen. Andere heben die Köpfe und sehen die Jäger an, während sie sterben. Die Männer laufen um sie herum und bringen sich mit geschickten Sprüngen vor wild geschwungenen Geweihen in Sicherheit. Einige Tiere töten sie mit scharfen Steinmessern, indem sie deren Wirbelsäulen mit einem raschen Schnitt durchtrennen. Pulsierendes Rentierblut ergießt sich in den Fluss. Die Vézère färbt sich tiefrot. Lange Schlieren in einem helleren Rot ziehen sich weiter flussabwärts durch das Wasser, bevor die Strömung sie auflöst. Nur wenige Minuten nach Beginn der Jagd liegen mehr als 30 Rentiere reglos in der Furt. Jetzt beginnt der anstrengende Teil der Arbeit. Die Männer zerren die Kadaver aus dem Wasser die steile Böschung hoch. Dort schlitzen sie die Körper mit einem einzigen, langen Schnitt auf, um sie anschließend auszunehmen. Sie entfernen Leber und Nieren; dann trennen sie die Hinterläufe vom Rumpf. Rentierzungen sind eine Delikatesse, weshalb die Männer sie herausreißen, nachdem sie die unter der Zunge liegende Haut durchschnitten haben. Die Menschen greifen nach den frischen Fleischbrocken und Fett und verschlingen beides gierig. Währenddessen häuten Männer und Frauen mit geübten Handgriffen jedes Tier. Ihre Kinder helfen ihnen dabei. Sie erlernen diese Kunst durch Zusehen. Zurück im Lager. Nun werden die schweren Häute und Fleischportionen weiterverarbeitet. Während die Jäger die Gliedmaßen von den Kadavern abtrennen, das Fleisch zerschneiden und es in Streifen zum Dörren aufhängen, schaben die Frauen das Fett von den Häuten und spannen sie anschließend zum Trocknen auf. Einige nehmen sich einen Röhrenknochen, schlagen ihn an einem Stein auf und saugen das gelbe Mark heraus. Knochenmark ist Fett und stets eine Delikatesse. Auf Stöcke gespießt schmoren Rentierzungen über den Feuern. Heute Nacht werden die Gruppen ein Festmahl genießen. Als die Schatten länger werden, lassen sich die Männer an einem Feuer am Rand des Lagers nieder und beginnen Geschichten von der Jagd zum Besten zu geben. Ihre Söhne leisten ihnen Gesellschaft. Gierig saugen sie jedes Wort auf und genießen die Erzählungen. Ihr Unterbewusstsein registriert immer noch die fernen Laute der vorbeiziehenden Tiere, während die scheinbar endlose Wanderung über Nacht langsam verebbt. Plötzlich zeigt ein Mann mit dem Fin-

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ger ins Dunkel. Eine weitere Rentierherde überquert die Furt unweit des Lagers. Doch diesmal schauen die Jäger nur zu. Die Tiere überqueren den Fluss so dicht gedrängt, dass sie eine solide Masse zu sein scheinen. Dann erreichen sie höher gelegenes Gelände. Erst steuern sie geradewegs auf das Lagerfeuer zu, um sich dann in zwei Gruppen zu teilen und das Lager zu umströmen, wobei sie die dort sitzenden Cro-Magnon-Menschen vollkommen ignorieren. Drei der Tiere kommen so nah heran, dass die Männer mit den Armen wedeln und Rufe ausstoßen, um sie zum Schluss tatsächlich fortzustoßen. Augenblicke später sind die Rentiere verschwunden und wieder eins geworden mit den tiefen Schatten. All dies spielt sich in entspannter Vertrautheit ab. Die Menschen sind völlig gelassen, denn sie betrachten die Rentiere als Freunde, Lebewesen wie sie selbst.1 Tag für Tag erlegen die Jäger ziehende Rentiere, während diese den Fluss überqueren. Es erfolgt ein Überfall nach dem anderen aus dem Hinterhalt, doch nichts hält die zielstrebigen Herden auf. Dann, nach ein oder zwei Wochen, reißt die saisonale Wanderbewegung plötzlich abrupt ab – beinahe so, als habe man einen Hahn zugedreht. Die Jäger trocknen das letzte Fleisch und spannen die letzten Häute auf. Jeder isst so viel Fett und Knochenmark, wie es nur geht. Die Frauen haben die Wirbelsäulenknochen und Gelenkstücke zertrümmert und ausgekocht, um so viel Fett wie möglich zu gewinnen. Sie lagern so viel Rentierfett, wie es nur geht, in Lederbeuteln, die sie hoch über dem Boden an den Felsdecken ihrer Winterquartiere aufhängen werden, um Vorräte für die kältesten Monate zu haben. Die wichtigsten Jagden des Jahres sind vorbei, aber die Erinnerung an sie wird die bevorstehende kalte Jahreszeit überdauern ... Rangifer tarandus, das Rentier, muss für die von ihm lebenden Männer und Frauen Gegenstand von Legenden und Ritualen gewesen sein. Tausende Bruchstücke von Rangifer-Knochen liegen in den Siedlungsschichten des Gravettien in südwestfranzösischen Felsstationen, aber vermutlich stehen sie nur für einen Bruchteil der gewaltigen Zahl an Rentieren, die jedes Jahr von den Cro-Magnon-Jägern erlegt wurden. Viele der Knochen in den Abris dürften von einzelnen Jagden im Sommer oder Winter stammen, in denen kleine Rentiergruppen in stillen Flusstälern ästen. Ein Jäger und sein Sohn lauerten vielleicht einem einzelnen Tier auf, oder eine Gruppe junger Männer stellte einem Tier nach, das gerade den Fluss überquerte – so wie sie es auch mit anderem

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Jagdwild wie Steinböcken und Rothirschen taten. Bei dem größten Teil aller im Laufe eines Jahres erlegten Rentiere dürfte es sich allerdings um die reiche Ernte des Frühjahrs und Herbstes gehandelt haben. Im Frühjahr zogen Tausende von ihnen in die Gebirgsausläufer der Pyrenäen, um der Hitze und den Mückenschwärmen in den tiefen Tälern der Dordogne wie auch der Célé und der Vézère zu entgehen, während sie im Herbst aus den höher gelegenen Gebieten zurückkehrten. Ich benutze hier bewusst den Ausdruck „Ernte“, weil die Frühjahrs- und Herbstjagden genau das waren: ein von mehreren Gruppen organisiertes Einbringen von Tieren, an dem sich zahlreiche Sippenmitglieder beteiligten. Doch warum finden wir dann so wenige Spuren der von den Menschen des Gravettien geschlachteten und verarbeiteten Tiere? Diese Frage dürfte leicht zu beantworten sein. Die meisten uns bekannten Rentierknochen stammen aus den bewohnten Felsstationen, doch die Mehrzahl der Jagden im Frühling und Herbst wurde wahrscheinlich von temporären Lagern aus organisiert. Sobald sie vorbei waren, türmten sich Massen verwesender Rentierkadaver um die Lager herum auf. Das frische Fleisch wirkte wie ein Magnet auf Löwen, Hyänen und Wölfe. Selbst gegen den Wind dürften der Gestank der verrottenden Kadaver und die sie umschwirrenden Fliegen penetrant gewesen sein. Keine jagende Gruppe wird sich länger als nötig an so einem Ort aufgehalten haben, auch nicht im Schutz großer qualmender, stets brennender Feuer. Sie bauten ihre Zelte ab und zogen weiter, um große Mengen an Fleisch und Häuten zu ihren Basislagern zurückzubringen. Innerhalb weniger Jahre waren die Haufen von Rentierknochen aus den temporären Lagern verschleppt und restlos vergangen. Die im Frühjahr gejagten Rentiere waren, wie die Jäger selbst, nach den langen Wintermonaten mager und ausgezehrt. In Bestform waren sie dagegen im Spätsommer und Herbst. Dann hatten sie auch weiche und geschmeidige Felle. Ein ausgewachsenes Ren kann rund 14 Kilogramm Fett unter seiner Haut einlagern, weshalb die Herbstjagd für die Cro-Magnon-Menschen überaus wichtig war. In dieser Jahreszeit legten sie ihre Vorräte an Fett, Häuten und Dörrfleisch an, um im Winter versorgt zu sein. Wie wichtig diese Jagd war, können wir daran ermessen, wenn wir die einst in Kanadas Barren Grounds lebenden Karibujäger betrachten. Schon oft dürfte es in deren Geschichte Jahre gegeben haben, in denen die Fettvorräte nicht ausreichten, um sowohl Nahrung als auch Brennmaterial zu liefern. Dennoch

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überlebten sie in ihren unbeheizten Behausungen, weil sie funktionale Kleidung besaßen, einen Großteil der Zeit unter dicken Fellen verbrachten, dicht aneinandergeschmiegt schliefen und das im Laufe des Sommers gespeicherte körpereigene Fett verbrannten. Etwa sechs bis acht Monate des Jahres – je nachdem, wie hart der Winter war – mussten sich die Cro-Magnon-Gruppen von im Spätsommer und Herbst angelegten Nahrungsvorräten ernähren. Frühling und Sommeranfang dürften dagegen selbst in guten Jahren eine anstrengende Zeit gewesen sein, in der sie Gefahr liefen, zu hungern. Rangifer tarandus ist ein unermüdlicher Fresser, der sich von Flechten und anderen Pflanzen ernährt, die in empfindlichen Biotopen gedeihen. Rentiere sind ständig in Bewegung, wodurch sie die Schwankungen ihrer Nahrungsvorkommen ausgleichen. Des Weiteren reagieren sie empfindlich auf Hitze und Mücken. Ihre dadurch bedingten jahreszeitlichen Wanderungen waren für die Cro-Magnon-Menschen das, was die Felder bewässernden Überschwemmungen Tausende von Jahren später für die ägyptischen Bauern bedeuteten. Allerdings war auf die Wanderungen kein absoluter Verlass, ganz im Gegenteil: Wie der Nil, der launisch ist, so konnten auch die Rentiere unberechenbar sein. Ohne erkennbaren Grund änderten sie ihre Routen, nutzten andere unbekannte Engpässe oder trafen in kleinerer Zahl ein als sonst. Aber wenn man den Knochenfunden aus den Abris an der Vézère Glauben schenken kann, stellten Rentiere Tausende von Jahren das Grundnahrungsmittel der Cro-MagnonMenschen dar. Rentierzähne sind ein faszinierendes „Tagebuch“, das uns einen Einblick in die Jagdaktivitäten der Cro-Magnon-Menschen erlaubt. Der kanadische Archäologe Bryan Gordon hat die komplexen Wanderungen von Jägern der ausgehenden Eiszeit in Südwestfrankreich untersucht, indem er die Wachstumsringe von Rentier- und Karibuzähnen vermaß.2 Während der warmen Sommermonate bilden die Zähne dicke, deutlich erkennbare Wachstumsringe, während die des Winters dunkel und schmal sind, vergleichbar den Jahresringen von Baumstämmen. Gordon verglich die jahrtausendealten Zähne mit denen heutiger Tiere, wodurch er auf das Alter der an unterschiedlichen Tötungsplätzen der Cro-Magnon-Menschen erlegten Rentiere rückschließen konnte. Danach verglich er die Zähne von zweijährigen Rentieren aus dem Abri La Madeleine an der Vézère mit denen zweijähriger Tiere aus dem 200 Kilometer entfernten Canecaude in den Pyrenäen. Alle Zähne wiesen zwei winterliche Wachstums-

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schübe auf, aber die aus La Madeleine zeigten dünne Frühjahrsringe, während die aus Canecaude Merkmale aufwiesen, die typisch für das späte Frühjahr und den Herbst sind. Beide Fundorte liegen weit genug auseinander, um die normalen Aufenthaltsorte von Rentieren innerhalb ihrer winterlichen und sommerlichen Streifgebiete zu repräsentieren. Gordon glaubt, dass es Frühjahrsund Herbstwanderungen gab, bei denen die Rentierherden innerhalb weniger Wochen zwischen 200 und 400 Kilometern zurücklegten. Dies entspricht auch der Distanz, die bei Karibus in den kanadischen Barren Grounds beobachtet wurde. Gordons Forschung weist auf ausgesprochen komplexe Wanderbewegungen der den Rentieren folgenden Menschen hin, die über Tausende von Jahren hinweg stattfanden. In den letzten Jahrtausenden des letzten Kältemaximums vor 18 000 Jahren gab es acht Rentiergebiete im Westen, die wir als solche identifizieren können: drei in Südwestfrankreich, die anderen nördlich und östlich davon. Sowohl vor als auch nach dem letzten Kältemaximum orientierten sich die jährlichen Wanderungen der Cro-Magnon-Gruppen im Westen an diesen Gebieten. In der Nähe von Les Eyzies befinden sich drei bedeutende Abris: La Ferrassie, wo sich sowohl Neandertaler als auch Cro-Magnon-Menschen aufhielten, dann das vornehmlich während des Gravettien bewohnte Abri Pataud und schließlich das vor allem später intensiv genutzte Abri Laugerie Haute. Die Bewohner aller drei Felsstationen ernährten sich von Ren, Rothirschen und natürlich auch anderem Jagdwild. Sie nutzten die Abris über viele Tausende von Jahren hinweg als Basislager. Vor ungefähr 25 000 Jahren wurde der Felsüberhang von La Ferrassie nahezu vollständig von Eis und Frost zerstört, wodurch das Abri als Siedlungsplatz praktisch unbrauchbar wurde. Doch zu diesem Zeitpunkt nutzten Gravettien-Gruppen schon längst das Abri Pataud auf der anderen Seite der Vézère. Im 19. Jahrhundert befand sich hier unterhalb der Felswand der Bauernhof der Familie Pataud, zu dem auch ein Brotbackofen, Schweineställe und Werkzeugschuppen gehörten. Entdeckt wurde die prähistorische Fundstätte, als der Bauer Martial Pataud einen Weg zu seinen Gebäuden anlegte. Allerdings interessierte er sich nicht im Geringsten für Archäologie. Nachdem Pataud schließlich seine Erlaubnis erteilt hatte, wurden von verschiedenen Archäologen erste schmale Gräben in den Ablagerungen unterhalb des Hofes angelegt. Glücklicherweise untersagte Pataud jedoch konsequent sämtliche größeren Ausgrabungen auf seinem Grund und Boden. Daher blieben die Dinge bis 1949, wie sie waren, als der in Harvard lehrende Archäologe

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Hallam Movius einen Abschnitt des Geländes pachtete, um eine Sondiergrabung dort durchzuführen. Die Ergebnisse waren derart vielversprechend, dass er das Grundstück mit dem dazugehörenden Abri 1957 erwarb und dem französischen Nationalmuseum für Naturkunde überschrieb. Movius ließ die Scheune des Bauernhofs abreißen und nutzte die Steine, um etwas weiter entfernt ein neues Haus für die Nachkommen von Martial Pataud errichten zu lassen. Anschließend fanden von 1958 bis 1964 sechs Grabungen in den Tiefen von Abri Pataud statt. Das alte Wohnhaus des Hofes wurde in ein Forschungslabor umgewandelt. Im Zuge der Ausgrabungen kamen die neuesten Methoden der Zeit zur Anwendung (Abb. 20).3 Anders als es noch in den Jahrzehnten zuvor an Fundorten wie beispielsweise dem Abri Laugerie Haute praktiziert worden war, wurden hier nun keine schnellen Probeuntersuchungen von Siedlungsschichten mit hoher Funddichte durchgeführt; stattdessen untersuchte man den Siedlungsplatz minutiös, der im Zeitraum von vor etwa 34 500 bis 20 500 Jahren zuerst von Menschen des Aurignacien und danach hauptsächlich von Menschen des Gravettien besucht worden war. Zweifellos setzte diese bemerkenswerte Ausgrabung neue Maßstäbe in der Erforschung steinzeitlicher Abris, die zur Grundlage für alle späteren Untersuchungen der Cro-Magnon-Kultur werden sollten. Mehr als sieben Ausgrabungskampagnen, in denen sich die Ausgräber langsam vorarbeiteten, förderten mehr als 1,5 Millionen Funde ans Tageslicht – Artefakte, Nahrungsreste und Kunstobjekte, die in den dichten Siedlungsschichten zusammengepresst unter den vom Felsüberhang herabgestürzten Steinen begraben lagen. Diese Steine mussten erst entfernt werden, bevor die eigentlichen Ausgrabungen überhaupt beginnen konnten. Die Schichtpakete eines Abris zu ergraben zählt zu den größten archäologischen Herausforderungen überhaupt, insbesondere wenn man so genau arbeitet wie Hallam Movius, der besessen war von der korrekten Inventarisierung und dem Anfertigen umfassender Aufzeichnungen. Er ließ ein Metallgitter über den archäologischen Schichten installieren, so dass er die exakte Fundlage jedes wichtigen Artefakts und jedes Detail erfassen konnte. (Heute verwenden die Archäologen zusätzlich elektronische Aufzeichnungsmethoden.) Abfälle der Steinwerkzeugherstellung, Tierknochenfragmente, Feuerstellen und Unmengen von Werkzeugen für verschiedene Zwecke belegen Dutzende von kurzen Aufenthalten. Mithilfe von Bürsten, Zahnstochern und Maurerkellen trugen Archäologiestudenten jede einzelne Siedlungsschicht Zentimeter um Zentimeter ab, wobei sie ebenso viel Zeit in die Dokumentation wie in die

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Archäozoologie oder „Die Knochen rückten zueinander, so wie sie zusammengehörten“ woher stammen unsere kenntnisse über die Jagdmethoden der cro-magnon-menschen? unsere informationen verdanken wir zwei Quellen: Zum einen stehen uns neuzeitliche Berichte über traditionelle Jagdpraktiken der arktis zur Verfügung, die uns wertvolle hinweise liefern, wenn man von der begründeten annahme ausgeht, dass es nur eine begrenzte Zahl von möglichkeiten gibt, wie man rentiere einkesseln oder polarfüchse mit Fallen fangen kann. Zum anderen sind es die knochen der von den Jägern und ihren Familien geschlachteten tiere selbst, die rückschlüsse auf das Jagdverhalten erlauben. letztere sind unser wertvollstes archiv – allerdings eines, dessen Erschließung äußerst frustrierend sein kann. Jagdwild bestand nicht nur aus Fleisch und haut, sondern es lieferte auch das rohmaterial für werkzeuge aus geweih und knochen, für taschen, riemen und kleidung. Zungen und Eingeweide galten als delikatessen; röhrenknochen lieferten mark, und tierisches Fett diente während des gesamten Jahres als Energie- und wärmelieferant. in der regel haben nur die abfälle die Jahrtausende überdauert – zertrümmerte knochenstücke, die sich in den Böden von Felsstationen festgetreten haben und in Feuerstellen oder gruben landeten. streng genommen sind fast alle ausgegrabenen tierknochenfunde zu fragmentiert, um sie zu identifizieren. glücklicherweise aber bilden einige körperteile wie Zähne, kiefer, hörner und gelenkknochen hier eine ausnahme, wenn man sie entweder mit den knochen heutiger tierarten oder mit fossilen skeletten vergleicht. so lassen sich beispielsweise die knochen von Rangifer tarandus leicht von denen eines wildpferdes unterscheiden. sobald die knochen identifiziert sind, verkompliziert sich die lage noch mehr, denn es geht nicht allein darum, die prozentualen anteile bestimmter tierarten aus den knochenstücken zu ermitteln. das, was ein Forscher einmal als „das archäologische tier“ bezeichnete (die gezählten knochen), ist eine ganz andere kreatur als die, die getötet, zerlegt und – zumindest teilweise – zum lager gebracht wurde. indem man die einzelnen körperteile in einer siedlungsschicht sorgfältig sortiert und dokumentiert, kann man manchmal die mindestzahl von tieren im Bestand feststellen, aber bestenfalls ist auch das nur ein näherungswert. hat man schließlich eine Zahl an individuen ermittelt, so sieht man sich mit weiteren Fragestellungen konfrontiert: spiegeln die unterschiedlichen anteile, zum Beispiel an rentier und pferd, in einer siedlungsschicht des aurignacien und einer des gravettien tatsächlich veränderte Jagdmethoden wider, oder ist die Zusammensetzung rein zufälliger natur? Bedeutet die ausgeprägte dominanz des rentiers in den schichten des abri pataud, dass die Bewohner besonders ihm nachstellten und anderes Jagdwild dafür vernachlässigten? resultiert sie aus spontanen Jagden aufgrund günstiger umstände oder aus einem systematischen „abernten“ von tieren während ihrer Frühjahrs- und herbstzüge?

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Einige antworten ergeben sich aus dem alter der tiere, das sich anhand von hornschichten oder ober- beziehungsweise unterkiefern mit wenigstens einigen vollständig erhaltenen Zähnen identifizieren lässt. so sind beispielsweise die wachstumsringe von rentierzähnen hilfreich, um das alter der tiere und auch die Zeitpunkte ihrer wanderungen zu bestimmen. Ein großer anteil junger oder gerade ausgewachsener tiere kann – ebenso wie eine dominanz von älteren tieren – auf eine selektive Bejagung hinweisen. die cro-magnon-menschen waren derart effiziente Jäger, dass sie Beute jeden alters erlegen. Zu einem großen teil befasst sich die archäozoologie mit dem wälzen von prozentzahlen und gezählten tieren, um daraus sinnvolle interpretationen menschlichen Verhaltens abzuleiten. Ein Forschungsansatz besteht im studium heute lebender wildbeuter, vor allem der karibus jagenden nunamiut alaskas, die der archäologe lewis Binford vor einigen Jahren untersuchte. dabei fand er heraus, dass die strategie der nunamiut zum nahrungserwerb auf komplizierten Entscheidungsprozessen basiert, die nicht nur die Verteilung von nahrungsquellen zu unterschiedlichen Jahreszeiten einbeziehen, sondern auch die lagermöglichkeiten unterschiedlichster Jagdbeute, ebenso wie die logistik der Fleischbeschaffung und seines transports. ist es für die menschen beispielsweise einfacher, den herden zu folgen oder das Fleisch zum Basislager zurückzubringen? wir müssen uns stets vor augen halten, dass die in einem labor untersuchten Überreste von tierknochen Zeugnisse von nicht greifbaren, aber logischen Entscheidungen sind, die vor tausenden von Jahren getroffen wurden. Jeder cro-magnon-mann und jede cro-magnon-Frau wusste, wie man tiere jeglicher größe mit einem scharfkantigen steinmesser zerteilt. sie erwarben diese Fähigkeit bereits in der kindheit, vielleicht erst an rentieren und anderen mittelgroßen tieren, die relativ einfach zu häuten und zu zerstückeln sind. polarfüchse und andere pelztiere erforderten dagegen schon mehr geschick, weil das Fell so sorgsam wie möglich in einem stück abgezogen werden musste. tausende von Fuchsknochen von cro-magnon-zeitlichen Fundorten belegen, wie man das Fell an den Füßen durchschnitt und sich von dort aus nach oben vorarbeitete. diese arbeit war eine ganz andere als das nahezu „industriell“ anmutende schlachten nach erfolgreicher Jagd auf vorbeiziehende rentier- oder pferdeherden. untersuchungen von Bruchmustern verraten uns, wie die cro-magnon-menschen gliedmaßen ausrenkten, schädel aufbrachen, um die Zungen heraustrennen zu können, und langknochen zertrümmerten, um an das mark zu gelangen. sie benutzten ebenso einfache wie effektive methoden, die sich im laufe der Jahrhunderte kaum veränderten und heute noch zum Einsatz kommen.

Grabungen selbst investierten. Sie zeichneten jede Feuerstelle ein, desgleichen die sie umgebenden Artefakte und Nahrungsreste – Details, aus denen sich bei der Auswertung wichtige Informationen zu den hier stattgefundenen Aktivitäten ableiten lassen.

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abb. 20: die ausgrabungen von abri pataud (Frankreich). das gitternetz aus metall wurde verwendet, um die genaue lage der einzelnen Fundstücke zu bestimmen.

Die Funde wurden säckeweise ins Feldlabor gebracht, wo Movius und weitere Studenten das Material sichteten. Sie sortierten die Artefakte, untersuchten sie sorgfältig und halfen bei der eigentlichen Ausgrabung. Die Untersuchungen im Labor nahmen Jahre in Anspruch. Fast 50 000 Artefakte, verteilt auf 14 archäologische Schichten, stammen aus etwa 40 Lagern am Abri Pataud. Die Stichel alleine waren Gegenstand einer Doktorarbeit, deren Fertigstellung Jahre in Anspruch nahm. Die Untersuchungen dieser Sammlungen laufen bis heute, doch in ihren Grundzügen ist die Geschichte des Abri Pataud mittlerweile gut erforscht. Erst-

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malig wurde es im Aurignacien vor zwischen 34 500 und 29 000 Jahren besiedelt, wovon typische Knochenspitzen sowie Stichel, Kratzer und andere charakteristische Geräte zeugen. Intensiv wurde der Platz dann zur Zeit des Gravettien von vor zwischen 28 000 und 20 500 Jahren genutzt. Dabei hinterließen die Menschen eine Reihe von Siedlungsschichten, die archäologisch in vier Stufen untergliedert werden, von denen jede durch unterschiedliche Werkzeugtypen gekennzeichnet ist. (Auf nähere Details soll hier nicht eingegangen werden.) Jede Gruppe, die das Abri nutzte, fertigte Stichel und Kratzer zur Bearbeitung von Geweih, Knochen und Häuten an. Darüber hinaus stellten die gravettienzeitlichen Siedler Unmengen an scharfen Messern und typischen Projektilspitzen her, die im Laufe der Zeit immer kleiner wurden und mit der Tendenz zu immer leichteren und effizienteren Waffen einhergingen, von denen einige mit Widerhaken sowie mit einzelnen Spitzen besetzt waren. Eine Siedlungsschicht aus dem Gravettien, die auf ein Alter von ca. 24 000 Jahren datiert, streute um eine zeltartige Struktur von beachtlicher Größe, die man zwischen der Felswand und einigen Steinen im vorderen Bereich des Abris errichtet hatte (siehe Tafel III). Zwischen Boden und Felswand fixierte Stangen bildeten den robusten Rahmen für eine Bedeckung aus zusammengenähten Häuten. Außerhalb dieser Behausung lagen Steinbearbeitungsabfälle. Man kann sich das Abri gut an einem ungewöhnlich milden Tag im späten Winter vorstellen. Die Sonne wirft lange Schatten über eine Schicht aus zersplitterten Knochen und Steinklingen, zwischen denen einzelne große Steine liegen. Speere sind an die Felswand gelehnt, wo auch Lederbeutel mit gefrorenem Rentierfett hoch über dem Boden aufgehängt sind. Ein aus trockenen Zweigen entfachtes Feuer gibt weißen Rauch ab, der an diesem windstillen Morgen am Felsüberhang hängen bleibt. Eine Frau in einem leichten Hemd und langen Hosen kümmert sich um das Feuer, das außerhalb eines verwitterten Unterschlupfs aus lederbedeckten, soliden Stangen liegt. Darin schläft eine alte, in Rentierfelle gewickelte Frau unruhig neben einem kleineren Feuer. Der Rauch steigt zwischen Reihen zum Trocknen aufgehängter Kleidung auf. Zwei Männer, eingepackt in Sommerparkas, sitzen auf Steinen außerhalb des Zeltes. Der Jüngere schlägt Klingen von einer Feuersteinknolle. Sein Vater verwendet einen Stichel, um frische Knochen zu glätten, die er über Nacht zum Aufweichen in Wasser gelegt hat. Die Bewegung des Stichels sorgt dafür, dass die Zeltkonstruktion von schabenden Geräuschen erfüllt ist, in die sich das Geschrei von Kindern mischt, die an dem Abhang spielen, der zu dem überfrorenen Fluss führt.

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Die hohe Funddichte in den Schichten von Abri Pataud verrät uns, dass sich das Leben der Menschen des Gravettien über eine Zeitspanne von 7000 Jahren hinweg kaum veränderte. Die Bewohner machten Jagd auf Wildpferde – gedrungene, muskulöse Tiere mit verhältnismäßig großen Köpfen – und Auerochsen, deren Knochen sich in der Höhle fanden. Vor allem jedoch ernährten sie sich von Rentieren, deren Knochen zwischen 80 und 90 Prozent aller in den Siedlungsschichten gefundenen Tierknochen ausmachen. Die meiste Zeit war das Klima kalt und trocken. Das Tal war stellenweise mit kurzem Gras bedeckt und seine Hänge sowie die Flüsse säumten Nadelbäume. Während der kurzen wärmeren Perioden stellten die Jäger verstärkt Hirschen und Wildschweinen nach, doch die meiste Zeit war Rangifer tarandus ihr Grundnahrungsmittel. Darüber hinaus jagten sie viele kleinere Tierarten, darunter viele Pelztiere, einschließlich Kaninchen. Mithilfe von Schlingen fingen sie Schnee- und Moorhühner sowie Enten. Den größten Teil ihrer Zeit widmeten die Cro-Magnon-Menschen nicht der Jagd, sondern der Beobachtung von Tieren – stunden-, tage-, sogar wochenlang. Sie lebten in einer Welt mit zahlreichen Tierarten, deren Verhaltensweisen ihnen so vertraut waren wie die eigenen. Sie kannten ihre Fress- und Trinkgewohnheiten und wussten, wie sie gebaren, sich während der Balz verhielten und starben. Jeder Jäger erkannte, wann Rentiere in Bestform waren, bemerkte die leichten Farbveränderungen des Felles von Polarfüchsen und die manchmal drastischen Veränderungen des Aussehens, die mit bestimmten Verhaltensweisen aller möglichen Tierarten einhergehen. Jeder Cro-Magnon-Mensch wusste mehr über das Verhalten von Tieren als die meisten Biologen des 21. Jahrhunderts. Die Cro-Magnon-Menschen lebten in solch enger Nachbarschaft zu ihrer Beute, dass sie ein Teil ihres Lebens war. Es war dieses auf genauer Beobachtung basierende Wissen, das sie zu solch erfolgreichen Jägern machte.4 Man muss sich nur die Details der Höhlenmalereien und Schnitzereien auf Geweihstücken und Waffen ansehen, um sich dessen bewusst zu werden. Einzelne Bilder und kleinere gravierte Stücke verraten uns sehr viel über die Tiere der ausgehenden Eiszeit.5 Ein Rentier erhebt sich in eine stehende Position, indem es sich zuerst auf die Vorderbeine stützt. Eingraviert auf einem Geweih sehen wir ein männliches Tier, das die Genitalien eines Weibchens beschnuppert. Die verschiedenen Geweihgrößen zeigen dabei das Geschlecht der beiden an. Die Mähnen der Pferde sehen auf den Bildern so dicht aus wie in der Realität. Dem auf den Höhlenwänden abgebildeten Wisent fehlen die dicken

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Fellstrukturen, die typisch für seinen amerikanischen Vetter sind (es handelt sich dabei um eine Anpassung an das gefährliche Rammen mit den Köpfen). Wenn man die Cro-Magnon-Kunst mit dem entsprechenden Sachverstand betrachtet, ist sie eine reiche Informationsquelle über die Tierarten, die die Menschen jagten. Beispielsweise schaut ein Pflanzenfressern nachstellender Jäger ihnen die Hälfte der Zeit beim Fressen zu, und so mag es kaum verwundern, dass die Cro-Magnon-Menschen mitunter grasende Tiere darstellten. Pferde bevorzugen in der Regel mittelhohes Gras, aber manchmal recken sie ihre Hälse ganz nach unten, um an sehr viel kürzeres Gras zu gelangen. Die Künstler malten beziehungsweise gravierten einige Pferde, die sich genau auf diese Art und Weise mit Futter versorgen. Ebenso stellten sie entspannte Aktivitäten dar; so sehen wir zum Beispiel einen Wisent, der sich die Flanke putzt. Überwiegend jedoch malten sie Tiere, deren Schwänze wachsam aufgerichtet sind oder die sich in drohenden Posen aufbauen. Die Künstler hatten definitiv einen „Sinn für das Dramatische“.6 In der Höhle von La Mouthe bei Les Eyzies sehen wir zwei Mammuts, die Kopf an Kopf gegeneinander kämpfen. Solche Darstellungen finden wir auch in anderen Höhlen, wie etwa in der großen Höhle von Rouffignac. Es gibt Szenen, in denen sich Rentiere umwerben. Rangifer wurde mit seinem im Herbst voll entwickelten Geweih ebenso dargestellt wie Pferde mit ihrem deutlich erkennbaren Sommer- oder Winterfell. In extrem kalten Gegenden wuchs den Pferden längeres Haar rund ums Maul, was dann beinahe wie ein Bart aussah. Alle in der Höhle von Chauvet verewigten Pferde tragen solch ein Winterfell. Wisente, die an den Wänden nordspanischer Höhlen wie Altamira abgebildet sind, haben oft rötlich braunes Fell und schwarze Beine, Mähnen und Schwänze. Die weiter aus dem Norden stammenden Tiere hatten weniger spektakulär gefärbtes Fell. Oft waren sie graubraun. Die Cro-Magnon-Menschen umgaben sich mit Bildern der eindruckvollsten Tiere, die eine Herausforderung darstellten und teilweise zu gefährlich waren, um als regelmäßige Jagdbeute in Frage zu kommen. Es ist ein Fehler zu glauben, dass sich ihre Kunst ausschließlich auf Höhlen und andere vor dem Tageslicht verborgene Orte beschränkte. Jeder Jäger führte ein kleines Arsenal haltbarerer Waffen mit sich (im Gegensatz zu den Projektilspitzen, deren Lebensdauer begrenzt war), die er für sich selbst verzierte, beispielsweise mit gestrichelten Linien, geometrischen oder wellenförmigen Mustern oder aber mit den ihn überall umgebenden Tieren. Es gibt krude Skizzen, einfache Gravuren und gelegentlich auch bildliche Darstellungen, die Meisterwerke sind, ausgeführt von Personen mit echter künstlerischer Begabung. Nur ein Bruch-

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teil dieser Kleinkunst hat die Jahrtausende überdauert. Es ist zu vermuten, dass auch noch andere vergängliche Materialien als nur die haltbareren und schwerer zu bearbeitenden Rohstoffe wie Geweih, Knochen, Elfenbein und Stein verziert wurden; zu denken wäre hier etwa an Leder oder Holz. Die Menschen müssen in durchaus farbenfrohen Kulturen gelebt haben. Eventuell gab eine Körperbemalung Auskunft über den sozialen Rang und die Zugehörigkeit; helle und gedämpfte Farben könnten Speere sowie andere Artefakte geziert haben, und Vogelfedern dürften zu Kopfschmuck verarbeitet worden sein. Vielleicht fertigten die Menschen sogar bunt bemalte Masken aus Holz. Ihr Empfinden für Farben und Kontraste war sicherlich ebenso gut entwickelt wie das unsere. Malerei und Schnitzerei waren allgegenwärtig im Leben der Menschen des Gravettien und gehörten genauso zum Alltag wie Speere oder Messer. Ein Großteil ihrer Kunst war pragmatisch und persönlich – Teil eines bewegten und gefährlichen Lebens, ein Mittel, um ihren Besitz zu kennzeichnen oder ihrer sozialen Zugehörigkeit und ihrer Individualität Ausdruck zu verleihen. Ein Teil der Höhlenkunst mag auch rein dekorativen Zwecken gedient haben. In Roc de Sers in der französischen Charente erstreckte sich einst ein Fries von rund 20 gravierten Kalksteinblöcken über die Längsseite der Höhlenwand. Einer dieser Steinblöcke am Höhleneingang zeigt das Bild zweier kämpfender Bergziegen. Sie verkeilen ihre Gehörne, so wie es Steinböcke zur Paarungszeit tun, wenn sie um Weibchen kämpfen. In einer anderen Höhle, in Le Fourneau du Diable in der Nähe von Les Eyzies, ritzten Künstler zwei Auerochsen in einen großen Stein, der einst mit den Kanten im Geröll steckend leicht geneigt stand. Die beiden großen Tiere mit ihren leierförmigen Hörnern sind das Motiv zweier von insgesamt zwölf Bildern, die alleine in diesen Stein graviert worden waren. Solche Friese lagen im Tageslicht und waren für alle gut sichtbar.7 In der tiefen Dunkelheit unterirdischer Kammern verhielten sich die Dinge anders. Hier drangen die starken Mächte aus dem Reich des Übernatürlichen auf die Besucher ein, scheinbar von der anderen Seite der Felswände. Im flackernden Licht eines Kienspans oder einer Fettlampe erzeugten die Malereien die Illusion von Bewegung. Man kann sich vorstellen, wie Besucher aller Altersgruppen in die Tiefe der Höhle von Pech Merle nahe der französischen Gemeinde Cabrerets (Departement Lot) herabstiegen. Von der großen Kammer gehen weitere, darunterliegende Kammern ab, in denen nie gemalt wurde, aber in der Nähe des uralten, mittlerweile nicht mehr zugänglichen Eingangs erkennt man an der Decke ein Durcheinander von mit Fingern gezogenen Rillen. Hier bedecken gerade und geschwungene Linien sowie einige naturalisti-

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sche Darstellungen, darunter die eines Mammuts, eine große Fläche. Zudem gibt es unter den Höhlenbildern eine Gravur, die eine liegende, nach links blickende Frau darstellt. Sie hält den Körper vornüber gebeugt, ihre Brüste hängen herab und ihre großen Pobacken sind deutlich zu erkennen. Möglicherweise trug sie einst auch einen Kopfschmuck. Sie ähnelt stark einer anderen Gravur – einer ungefähr 25 100 Jahre alten Frauendarstellung aus der Höhle von Cussac in der Dordogne. Pech Merle kann sich ebenfalls rühmen, eines der berühmtesten Cro-Magnon-Friese aufzuweisen. Zwei in Schwarz ausgeführte Pferde stehen in entgegengesetzte Richtungen gewandt. Der Kopf des rechten Pferdes wird durch die natürliche Form des Gesteins noch betont. Die Tiere sind mit großen schwarzen Tupfen eingefasst, und Tupfen zieren auch ihren Rumpf; über ihnen ist ein roter Fisch zu erkennen. Umgeben sind sie von sechs schwarz gerahmten Handnegativen (siehe Tafel IV). Das rechte Pferd wurde vor 24 640 Jahren gemalt.8 Welche Bedeutung die Höhlenmalereien für ihre Schöpfer hatten, entzieht sich – mit Ausnahme vielleicht der Handabdrücke (siehe Tafel V) – unserer Kenntnis. Handabdrücke und Tiere – diese Verbindung reicht weit zurück in die frühe Cro-Magnon-Geschichte. Sie geht zurück auf die Menschen des Aurignacien und die Grotte Chauvet, und zwar mit einer Beständigkeit, die nahelegt, dass die Menschen eine Art von Kraft in sich aufnahmen, wenn sie die dunklen unterirdischen Felswände berührten. Eindrucksvolle Belege hierfür besitzen wir auch aus der Höhle von Gargas am Fuß der Pyrenäen.9 Generationen von Menschen – Männer, Frauen und Kinder, ja selbst Säuglinge – hinterließen ihre Handabdrücke an den Wänden der unteren Ebene der Höhle. Einige von ihnen liegen in der Nähe von Spalten in den Wänden, in die absichtlich Knochensplitter gesteckt wurden. Einige dieser „Gaben“ wurden auf ein Alter von 26 860 Jahren datiert. Allein in dieser einen Kammer befinden sich mehr als 200 Handabdrücke. In einer kleinen Nische an einer anderen Stelle der Höhle rahmt die Reliefstruktur der Wand einen schwarz umrandeten Handabdruck. Wie bei zahlreichen anderen Handabdrücken in der Gargas-Höhle auch sind die Finger verkürzt wiedergegeben – offenbar mit Absicht, doch die Gründe hierfür sind uns nicht bekannt. Um die Konturen ihrer Hände einzufangen, verwendeten die Menschen rotes Eisen- oder schwarzes Manganoxid, wodurch der Eindruck entstand, diese seien in den Fels eingebrannt worden. Sobald man die Hand wegnahm, belegte der Abdruck anschaulich den Kontakt mit der Welt des Übernatürlichen.

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Der massige Auerochsenbulle ist ein prächtiges Tier mit nach vorne gerichteten gebogenen Hörnern, dessen Rücken ein heller Aalstrich ziert. Er grast allein am Waldrand. Mit seinem peitschenden Schwanz verscheucht er die Fliegen. Sein schwarzer Körper ist vor dem dunklen Nadelgehölz kaum zu erkennen. Die Jäger und ihre Söhne beobachten ihn schon seit Tagen. Sie folgen ihm, als er sich zum Trinken an den Fluss begibt, wo er aufgebracht einen anderen nahen Bullen anschnaubt. Die Menschen huschen von Baum zu Baum, während ihr Jagdwild majestätisch über einen schmalen Waldpfad schreitet. Keiner der Jäger hat es eilig, denn sie alle wissen, dass ihre scheinbar friedliche Beute binnen kürzester Zeit aggressiv werden kann. Das Tier lässt selbst den größten Jäger zwergenhaft erscheinen; seine Hörner können innerhalb einer Sekunde einen angreifenden Wolf aufschlitzen. Jede Nacht unterhält die Schar der Jäger sich über den Bullen. Sie analysieren jede seiner Bewegungen, jede Verhaltensweise, seine mögliche Reaktion auf einen Angriff, seinen täglichen und erstaunlich vorhersehbaren Rhythmus. Es gibt eine Stelle auf dem Waldpfad, an der sich der Auerochse durch weichen, braunen Sand und Schlamm kämpfen muss. Dieser Abschnitt des Weges ist noch feucht von der Schneeschmelze des Frühjahrs, weil er sich im Schatten der darüber hängenden Bäume befindet. Dies ist der strategisch günstigste Ort, um die Jagd zu eröffnen. Unter der Führung eines narbenbedeckten, wettergegerbten älteren Mannes tragen die Jäger angespitzte Geweihe und Stöcke zusammen und warten darauf, dass sich der Auerochse außer Sichtweite begibt. Dann heben sie mit den Händen und mithilfe einiger Rentierschulterblätter rasch eine tiefe Grube im weichen Erdreich aus. Die Jungen klettern in das tiefer werdende Loch und wühlen den weichen Lehm heraus. Anschließend stecken ihre Väter die scharfen Stäbe aus Geweih in die matschige Grube und bedecken sie erst mit Zweigen, dann mit Sand. Die erfahrensten Jäger klettern mit einem Stoßspeer bewaffnet auf einen Ast über der Grube, während sich die anderen mit einem zu ihren Füßen liegenden starken Netz aus Pflanzenfasern in die umgebenden Wälder zurückziehen. Der Auerochse bleibt jedoch am Fluss, da er in der Nähe ein Rudel Löwen entdeckt hat. Die Jäger warten. Die Löwen ziehen weiter und der Auerochse entspannt sich. Gegen Mittag begibt er sich auf den vertrauten Pfad, wo er unter gewaltigem Getöse in die getarnte Grube fällt. Während er brüllt und sein Gehörn wild hin- und herwirft, schleudert der über ihm sitzende Jäger seinen Speer zwischen die Schultern des Bullen. Seine Gefährten werfen flink das Netz über das in Rage ausholende Gehörn und bringen sich tänzelnd und behände vor dem schlagenden

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Kopf in Sicherheit. Einen Speer nach dem anderen werfen sie in die Flanke des Bullen. Das allmählich müde werdende Tier kämpft verzweifelt, wobei es immer tiefer in den aufgewühlten Schlamm einsinkt. Während es erlahmt, nähern sich die Jäger vorsichtig, um ihm die todbringenden Stöße zu versetzen ... Die Massenjagden mögen saisonbedingte Ereignisse gewesen sein, aber den Menschen boten sie die einzige Chance, sich mit großen Mengen an Fleisch und Fellen einzudecken – eine Notwendigkeit, um die langen Winter zu überstehen. Um möglichst viele Tiere zu erbeuten, machten sie geschickt von der Topografie ihrer Jagdgebiete Gebrauch. Nicht von ungefähr liegen einige der ausgemalten Höhlen wie Pech Merle in der Nähe tiefer Schluchten, wo man Pferden und anderen Tieren auflauern konnte. In Nordspanien stellten die Jäger an Engpässen von Flusstälern und ihren Gabelungen Steinböcken und Hirschen nach. Solche Jagdstrategien hatten in ganz Europa eine lange Tradition, auch wenn wir aus dem Westen nicht viele Belege hierfür besitzen. Bereits vor 39 000 Jahren und wahrscheinlich schon früher trieben Jägergruppen in Kostenki und Borshchevo im Tal des Don bei regelmäßigen Massenjagden Pferde und Rentiere in abzweigende Hohlwege. Wie die Rentiere waren auch Pferde ein wichtiger Lieferant von Knochenmark, Fett, Haut und Fleisch.10 Ihre Hufe ließen sich als kleine Behälter nutzen oder auskochen, um eine Art Klebstoff zu gewinnen. Die Pferde der ausgehenden Eiszeit unterschieden sich stark von den domestizierten Rassen. Sie waren aggressive, agile und feurige Tiere mit kompakten Körpern. Ihre engsten lebenden Verwandten könnten die mongolischen Przewalski-Pferde sein, die 1880 von dem russischen Oberst Nikolai Przewalski entdeckt wurden. Das letzte Exemplar in freier Wildbahn wurde 1969 gesichtet; heute gibt es sie nur noch in zoologischen Gärten. Mit ihren großen Köpfen, dem falben Fell und den weißen Bäuchen erinnern sie stark an die auf Höhlenwänden abgebildeten Pferde, die oft die typischen Hängebäuche und manchmal sogar die für diese Tiere charakteristische Streifenzeichnung aufweisen (siehe Abb. 21). Es ging den Jägern nicht darum, strategisch günstig gelegene Klippen zu finden und eine durchgegangene Herde in den Tod zu treiben, wie es die nordamerikanischen Prärie-Indianer mit den Bisons machten. Die Stampede einer Bisonherde lässt sich auslösen, indem man diese auf geschickte Art und Weise treibt. Dann geraten die Leittiere in Panik und stürzen Hals über Kopf davon. Sobald die vorne laufenden Tiere die Klippen erreichen, stößt die schiere

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Wucht der nachdrängenden Herde Dutzende von Individuen in den Abgrund. Wildpferde verhalten sich dagegen vollkommen anders. Aus Untersuchungen des Verhaltens wilder Herden wissen wir, dass einzelne Pferde aus der Herde ausbrechen, im Gänsemarsch fliehen oder einfach im Gelände auseinanderstieben. Eine ganze Pferdeherde lässt sich nur töten, wenn man die Tiere in eine schmale, ausweglose Schlucht oder ein enges Tal treibt. Genau das taten die Cro-Magnon-Jäger in Solutré nahe der heutigen Stadt Mâcon ganz im Süden von Burgund. In jedem Frühjahr und Sommer trafen Pferdeherden aus ihren winterlichen Weidegründen ein. Die wärmeren Monate verbrachten sie in den Hochwassergebieten rund um den Fluss Saône und in den kühleren, insektenfreien Gebirgsausläufern des Zentralmassivs, wo sie ausreichend Schmelzwasser zum Trinken fanden. Sie passierten hierbei ein Tal, das als natürlicher Korridor an einer auffälligen Landmarke vorbeiführt – dem Felsen von Solutré, der einen Teil eines vor den Nordwestwinden geschützten Steilhangs formt. Hier machten die Herden Rast, um zu grasen, und hier lauerten ihnen die Jäger regelmäßig vor zwischen 34 000 und 12 000 Jahren auf. Der Südhang des Kalksteinabbruchs des Felsens von Solutré ist nicht sehr steil, aber das Gelände ist hier schroff und uneben – ideal als natürlicher Pferch, zumal der Steilhang in den höheren Lagen in eine Sackgasse führt. Nach tagelangem Beobachten einigten sich die Jäger auf eine Strategie. Vielleicht scheuchte eine Reihe von Treibern die Pferde vor sich her, indem sie langsam Lederstücke schwenkten, um die Tiere zu dirigieren, oder sie zündeten eine Reihe von Feuern an. Denkbar ist auch, dass die Menschen Gassen zum Treiben anlegten, die durch Steinhaufen markiert waren. Die Schwierigkeit bestand nicht darin, die Herde zu treiben, sondern sie in die richtige Richtung zu lenken. Zu diesem Zweck mussten sich Männer, Frauen und Kinder mit Bedacht aufstellen, die Windrichtung berücksichtigen und darauf achten, dass die Jäger am Ende der Sackgasse ihre Stellungen bezogen hatten. Über Generationen hinweg gesammelte, kollektive Erfahrungen flossen in die Pferdejagd von Solutré ein. Die wartenden Speerwerfer wussten, dass die verstörte Herde in alle Richtungen davonstürmen würde, um schließlich aufgrund der Beschaffenheit des Geländes doch eingekeilt zu werden. In dem entstehenden Chaos konnten sie einzelne Tiere aussondern und töten sowie sich auf die verängstigten Tiere konzentrieren, die versuchten, die zerklüfteten Hänge zu erklimmen. Mehr als 20 000 Jahre lang waren ihre Strategien erfolgreich.

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Der erste Archäologe, der in Solutré arbeitete, war Adrien Arcelin, ein lokaler Archivar, der im Jahr 1866 während eines Spaziergangs mit seinen Eltern am Fuß des Steilhangs eine verwitterte Speerspitze aus Feuerstein auflas. Daraufhin erlag er der Faszination des Ortes, von dem er fest glaubte, es habe sich um einen steinzeitlichen Tötungsplatz gehandelt. Arcelin hob tiefe Gräben in der Sackgasse und unter den eindrucksvollen Klippen des Felsen von Solutré aus. Da er wusste, wie die Prärie-Indianer Bisons in Abgründe getrieben hatten, ging er davon aus, auch die Steinzeitjäger hätten ihr Jagdwild über die hoch gelegenen Klippen getrieben – ein Irrtum, wie sich bald zeigen sollte. Man fand keine Knochen am Grunde des Felsens, nur in der nischenartigen Sackgasse auf seiner Westseite, wo es von steinernen Projektilspitzen nur so wimmelte. Vier lange Ausgrabungskampagnen begannen mit Arcelins Erkundungen und gipfelten in einer äußerst gewissenhaften, zwischen 1968 und 1998 durchgeführten Untersuchung, an der ein Team von Wissenschaftlern unter der Leitung von Jean Combier und Anta Montet-White teilnahm.11 Die Ausgrabungen von Combier und Montet-White konzentrierten sich auf die fundführenden Schichten, die bei den vorherigen Ausgrabungen unberührt geblieben waren. Das Team ließ Radiokohlenstoffdatierungen durchführen und trug genug Material für eine Langzeitstudie dessen zusammen, was sich als ein eindrucksvoller Tötungsplatz mit langer Geschichte entpuppte. So wissen wir mittlerweile, dass die Neandertaler die Ersten waren, die hier vor etwa 55 000 Jahren Pferde töteten. Dann gab es eine Unterbrechung von nahezu 20 Jahrtausenden, die sich in einer zwei Meter starken Erdschicht ohne archäologische Funde niederschlug, bis schließlich vor ungefähr 34 000 Jahren Aurignacien-Gruppen hier eintrafen und sporadisch bis vor etwa 29 000 Jahren immer wieder hierher zurückkehrten. Ihnen folgten die Jäger des Gravettien, die vor 28 000 Jahren eine Form jahreszeitlich bedingter Massenjagden entwickelt hatten, die Tausende von Jahren bestehen blieb – und das in einer Zeit raschen Klimawandels, der schließlich ins letzte Kältemaximum mündete. Die meiste Zeit war es kalt und der Steilhang war von einer offenen Steppenlandschaft – dem bevorzugten Lebensraum von Wildpferden und Rentieren – umgeben. In erster Linie stellten die Jäger Wildpferden nach. Die Gruppen ließen sich zwischen Mai und November am Tötungsplatz nieder. Sie scheinen vor allem junge Hengste bevorzugt zu haben, deren Knochen sich hier massenhaft finden. Jedes Jahr töteten die Jäger weitaus mehr Tiere, als sie benötigten. Schon vor 25 000 Jahren war Solutré ein gewaltiger Tötungsort geworden, unter dessen Erdoberfläche sich tiefe Schichten von Pferdeknochen befanden. Selbst den Boden bedeckten sie. Mindestens 30 000 Pferde fielen

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den Cro-Magnon-Jägern hier zum Opfer, viele von ihnen überflüssigerweise, wie wir wissen, denn in den dicht gefüllten Knochenschichten befanden sich auch weitgehend unversehrte Wirbelsäulen und Hinterläufe, von denen viele nur geringfügige Zerlegungsspuren durch Steinmesser aufwiesen. Die Jäger nahmen wohl nur das mit, was sie sofort verzehren oder trocknen konnten und ließen Dutzende verwesender Kadaver zurück. Wir können uns den Tötungsplatz von Solutré übersät mit verblichenen Knochen vorstellen, als die Jäger eintreffen. Vorsichtig umgehen sie die vielen hundert Tiere, die nahe den Klippen grasen. Die tagelangen Vorbereitungen gipfeln schließlich in einer anstrengenden Jagd. Bald ist das kurze Gras zertrampelt und blutgetränkt; tote Pferde liegen am Boden, während andere hilflos im Todeskampf strampeln. Jetzt machen sich die Männer und Frauen über die Tiere her, weiden sie rasch aus, schneiden die Zungen heraus und häuten sie, um sich die Felle zu sichern. Auch die Sehnen schneiden sie schnell heraus. Es gibt Fleisch im Überfluss – viel mehr, als die Menschen jemals essen könnten. Aber sie haben nur wenig Zeit, da die Raubtiere bereits auf ihren Anteil lauern. Also schneiden sie Fleischstreifen zum Dörren aus ihrer Beute und wählen vielleicht ihres Marks wegen einige Beinknochen zum sofortigen Verzehr aus. Den Rest geben sie dem Verfall preis. Sie ziehen ab, die um die Kadaver schwärmenden Fliegen und eintreffenden, jedoch außer Speerreichweite bleibenden Hyänen ignorierend. Wenige Tage später sind nur noch verrottende Berge aus Fleisch und Knochen übrig. Die Jagden wiederholten sich so lange, bis die zunehmende Kälte des letzten Kältemaximums die Jäger in die wärmeren Gefilde des Südens trieb, hatte doch die extreme Kälte Solutré und die meisten offenen Landstriche vor 21 500 Jahren unbewohnbar gemacht. Die Jagdaktivitäten endeten und die westliche Population der Cro-Magnon-Menschen schrumpfte bis vor 19 000 Jahren, als ein etwas wärmerer und feuchterer Zeitabschnitt den Cro-Magnon-Menschen die Rückkehr nach Solutré gestattete. An der Tatsache, dass sie nunmehr Rentiere statt Pferde jagten, erkennen wir, wie unwirtlich das Klima zu jener Zeit war.

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Kapitel 11 Die Zeit des Solutréen und Magdalénien

Lascaux in Frankreich vor 18 000 Jahren. Die Fettlampen am Fuß der Felswand flackern im Zwielicht und erzeugen tiefe Schatten in den Felsspalten. Zwischen den Steinen eingeklemmte, brennende Fackeln werfen ein helleres Licht auf die Wand, die den Künstlern als „Leinwand“ dienen wird. Zwei Männer stehen auf provisorischen Leitern, die sie aus kleineren, zusammengebundenen Ästen gebaut haben. Dann klemmen sie die Stämme junger Bäume in nahe Spalten und binden Querbalken und Bodenstützen daran, so dass ein grobes Baugerüst entsteht. Die Wand trägt Spuren früherer Malereien: einen Auerochsen, ein Pferd und einen Irrgarten aus eingravierten Linien. Einer der Künstler erklimmt das Gerüst und setzt sich auf einen Querbalken. Er wischt mit dem Ärmel seines Parkas über die Wand und nimmt die von einem Mädchen heraufgereichten zwei Lederbeutel und einige Pinsel aus Tierhaar entgegen. In einem der Beutel hat sie ihm sorgfältig eine als Farbe dienende Mixtur aus Wasser und rotem Eisenoxid, das nicht aus der Höhle stammt, angerührt. Er inspiziert die Farbe skeptisch, dann taucht er den Pinsel ein und zeichnet mit kühnem Strich den Umriss eines Auerochsenkopfes an die Wand. Als Erstes malt er den massiven Schädel, dann die nach vorne gerichteten Hörner. Sie haben sich tief in sein Gedächtnis eingeprägt, seit er vor einigen Tagen einem mächtigen Bullen Auge in Auge gegenüberstand. Der Mann ruft leise nach dem Mädchen und reicht ihr Farbe und Pinsel herab. Dann öffnet er den zweiten Beutel, der schwarzes Pigmentpulver enthält, und streut etwas davon in seine Hand. Äußerst behutsam bläst er das Pulver an die Felswand und füllt damit den Kopf des großen Bullen aus ... Über viele Generationen hinweg wirkten die Menschen in dieser Höhle. Immer wieder kehrten sie zurück, manchmal, um bereits existierende Bilder aufzufrischen, öfter aber noch, um neue zu malen oder einzugravieren. Jede Darstellung hat ihre eigene Geschichte, eine Botschaft und eine Beziehung zu dem Mann oder der Frau, der oder die sie schuf. Die Höhle ist ein stiller Ort der Andacht, aber manchmal weckt er auch schreckliche, wenn auch in der Regel unbegründete Ängste vor dort schlafenden Bären. Meist dient die Höhle zur Durchführung von Zeremonien. Niemand hat je an diesem heiligen Ort im Dunkeln gelebt. Nur gelegentlich kommen Besucher hierher, und dann auch

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nur, um in den Echos erzeugenden Kammern, in denen die singenden Stimmen widerhallen, mit dem Reich des Übernatürlichen zu kommunizieren. Bei diesen Anlässen flackern Fackeln aus Kiefernharz und Fettlampen im Zwielicht, die manchmal dicht an die auf den Wänden zu betrachtenden Tiere gehalten werden, worauf sich diese in dem schwachen Licht zu bewegen und umherzuspringen scheinen. Hier, zu allen Seiten von den Tieren umgeben, nehmen die Menschen Verbindung zu den mächtigen Kräften des übernatürlichen Reiches auf. Die Cro-Magnon-Menschen verfügten über viele solcher heiligen Stätten, wobei Lascaux eine der wichtigsten war.1 Entdeckt wurde die in der Nähe von Montignac in der französischen Dordogne gelegene Höhle im Jahr 1940 von vier Jungen, als ihr Hund auf der Kaninchenjagd in einem Bau verschwand. Sie hörten ihn unter der Erde bellen, besorgten eine Leiter und fanden sich schließlich einem riesigen Bullen gegenüber, der eine der Wände ziert. Lascaux war seit der ausgehenden Eiszeit verschlossen gewesen, so dass der Ort, den der Priester Henri Breuil bald als „die Sixtinische Kapelle der Vorgeschichte“ bezeichnen sollte, vollkommen unversehrt war. Der Anblick von Lascaux überwältigt die Sinne (siehe Tafeln III und IV). Ein Reigen von 17 Pferden, elf Auerochsen, sechs Hirschen, einem Bären und einem Fabelwesen ziert die Wände der ersten Kammer, die auch als „Saal der Stiere“ bezeichnet wird, da zwei gigantische Auerochsen sie dominieren. Die überlebensgroßen Tiere stehen einander gegenüber. Der linke Bulle, dessen Kopf mit braunen Tupfen bedeckt ist, wurde nicht zu Ende gemalt. Das rechte Tier ist mit einer Länge von beinahe 4,50 Metern von gewaltiger Größe. Es scheint zu schnauben und kurz davorzustehen, mit dem Huf zu scharren. Eine Reihe von Pferden galoppiert unterhalb des linken Auerochsen an ihm vorbei. Ihnen folgt ein merkwürdiges Wesen, das manche als Einhorn bezeichnen. Vielleicht handelt es sich ebenfalls um einen Auerochsen. Zudem gibt es Hirsche mit eindrucksvollen, stark verzweigten Geweihen. All diese Malereien wurden in mehreren Farben und zu verschiedenen Zeiten ausgeführt – erst die Pferde, dann die Auerochsen und schließlich die Hirsche. Der Höhlenkunstexperte Norbert Aujoulat, der die Darstellungen mit Blick auf Details zum Gewicht der Tiere und ihren Fellfarben studiert hat, geht davon aus, dass die Pferde so gemalt wurden, wie sie gegen Winterende und Beginn des Frühjahrs aussahen. Die Auerochsen tragen ihr Sommerfell, und die Hirsche präsentieren sich in ihrem Herbstgewand. Das sind genau die Jahreszeiten, in denen sich die jeweiligen Tierarten paarten.

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Der Saal der Stiere öffnet sich zur schmaleren axialen Galerie, die von mindestens 58 Tieren und zahlreichen Symbolen übersät ist. Ein großer schwarzer Hirsch mit verästeltem Geweih scheint am Eingang der Galerie zu röhren. Desgleichen blickt ein großer schwarzer Bulle auf den Eingang. Bei seiner Anfertigung verwendete der Künstler viel an die Wand geblasenes Pigment, um dann die zahlreichen Details des Kopfes und der Beine mit einem Pinsel auszuarbeiten. Drei tänzelnde Pferde mit gelben oder braunen Körpern weichen vor einer Gruppe fünf weiterer Pferde zurück. Auf einer anderen Wandfläche stehen zwei ziegelrot und schwarz gefärbte Wisente mit aufgestellten Mähnen Rücken an Rücken. Sie verdecken einander ein wenig und wurden zur gleichen Zeit gemalt – eine bewusste Komposition des Künstlers. Rund 600 Bilder, die Tiere und Symbole zeigen, sowie 1500 Gravuren, vor allem von Pferden, zieren die Höhlenwände (Abb. 21). Viele von ihnen wurden übereinandergemalt. Lascaux besitzt ein unteres Geflecht miteinander verbundener Galerien, das einst über einen eigenen Zugang verfügte. Am Ende dieses Geflechts liegt eine kleine Kammer, die jetzt nur vom Hauptbereich der Höhle aus zugänglich ist und in der viele Generationen von Künstlern arbeiteten. Einer von ihnen malte

abb. 21: Ein pferd aus der höhle von lascaux (Frankreich).

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eine ganze Szene – eine von sehr wenigen in der Cro-Magnon-Kunst. Mit gesenktem Kopf und erhobenem Schwanz greift ein Wisent eine fallende Menschengestalt mit ausgestreckten Armen, erigiertem Penis und dem Kopf eines Vogels an. Eine mit Widerhaken besetzte Waffe hat den hinteren, bereits aufgeschlitzten Schenkel des Wisents durchbohrt. Neben dem stürzenden Vogelmann befindet sich ein Vogel auf einem Stab, vielleicht einer Speerschleuder. Die Wissenschaftler diskutieren immer noch über die Bedeutung dieser Szene. Stellt sie tatsächlich einen konkreten Jagdunfall dar oder handelt es sich um die symbolische Beschreibung des Übergangs vom Leben zum Tod, wobei der Vogel für die Seele steht, die den Körper des Sterbenden verlässt? Der Höhlenkunstexperte Jean Clottes weist darauf hin, dass sich diese Malerei an einer Stelle in der Höhle befindet, an der sich schnell hohe Kohlendioxid-Konzentrationen bilden, die Unwohlsein und Halluzinationen auslösen können. Niemand kann genau sagen, wann die Höhle von Lascaux ausgemalt wurde, fest steht jedoch, dass die Menschen sie über viele Jahrhunderte hinweg aufsuchten. Leider wurden die Malereien mit Mineralpigmenten aufgetragen, die sich nicht mit der 14C-Methode bestimmen lassen, weshalb wir uns auf die Datierung von in der Höhle gefundenen Artefakten verlassen müssen, die zwischen 17 000 und 19 000 Jahre alt sind. Wir müssen davon ausgehen, dass die Künstler hier entweder nur einmal, mehrmals oder sogar über Tausende von Jahren hinweg tätig waren. Das letzte Kältemaximum hatte den größten Teil Europas nördlich des Mittelmeerraums und der Pyrenäen derart im Griff, dass sich viele Cro-MagnonGruppen in geschützte Täler zurückzogen oder südwärts in wärmere Regionen abwanderten. Dann, vor etwa 19 000 Jahren, wurde das Klima für einen kurzen, oft als „Lascaux-Interstadial“ bezeichneten Zeitraum von ungefähr 1000 Jahren wesentlich milder. Der Jagdplatz von Solutré vermittelt uns ein recht gutes Bild von dem, was damals geschah. Offensichtlich verließen sowohl die Tiere als auch die Menschen vor ungefähr 24 000 Jahren den Landstrich, um während des kurzen Interstadials zurückzukehren, das sich aus einer Bodenbildung und Erosionen innerhalb eines weitläufigen Gebietes in Südwestfrankreich und im Norden Spaniens ablesen lässt. Es war so, als sei nie etwas geschehen. In Solutré wurden die jahreszeitlich bedingten Jagden wieder aufgenommen, allerdings wurden nun verstärkt Rentiere statt Pferde bejagt.2 Diesmal verwendeten die Jäger nicht nur mit Knochenspitzen versehene Speere, sondern auch Waffen, die an ihren Spitzen das

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trugen, was die französischen Archäologen elegant feuilles de laurier – „Lorbeerblätter“ – nennen (Abb. 22). Diese kunstvoll gefertigten Steinspitzen sehen in der Tat wie idealisierte Lorbeerblätter aus und stellen die Exoten in einem ansonsten unveränderten Werkzeugbestand an Knochenartefakten, Sticheln und Kratzern dar. Diejenigen, die geschickt genug waren, sie herzustellen, hatten eine neue Steinbearbeitungstechnik entwickelt. Sie nahmen eine Geweihstange, um flache Abschläge beziehungsweise Absplisse abzutrennen, indem sie punktgenau Druck auf die Ränder einer Klinge ausübten. Durch diese sogenannte Druckretusche lassen sich dünne und formschöne, aber dennoch funktionale Speerspitzen produzieren, die sowohl „elegant“ aussehen als auch tödlich sind. Manchmal fertigten die Steinschläger auch Formen an, die man als rudimentäre Versionen von mit Druckretusche hergestellten Spitzen bezeichnen könnte, indem sie nur eine Seite des Werkzeugs entsprechend bearbeiteten. Gelegentlich stellten sie auch Speerspitzen mit einer als Fassung für den Schaft dienenden Kerbe her (sog. Kerbspitzen) (Abb. 22). Aber das Glanzstück dieser Technik war zweifellos die klassische Lorbeerblattspitze, beidseitig bearbeitet, von ansprechender Ebenmäßigkeit und dünn. Die Lorbeerblattspitzen waren nie weit verbreitet und so fragen sich einige Forscher, ob es sich bei ihnen nicht um zeremonielle Artefakte gehandelt haben könnte, die nie im Alltag eingesetzt wurden. Doch das ist unwahrscheinlich, denn sie geben durchaus robuste, effektive Waffen zum Töten von Jagdwild wie Rentieren ab.3 Die Menschen des Solutréen – um den archäologischen Ausdruck zu verwenden –, die diese Werkzeuge herstellten, sind ein schwer greifbares Volk, das einzig durch seine besonderen Speerspitzen Berühmtheit erlangte. Aufgrund der Knochenfunde aus ihren Siedlungsschichten wissen wir, dass sie im Zeitraum von vor zwischen 21 500 und 17 000 Jahren, auf dem Höhepunkt des letzten Kältemaximums, kälteangepassten Tieren nachstellten. Einige wenige von ihnen siedelten sich in den geschützten Tälern Südwestfrankreichs und den Gebirgsausläufern der zu jener Zeit vergletscherten Pyrenäen an, wohingegen viele Gruppen in den abwechslungsreicheren und wärmeren Gebieten südlich der Berge lebten. Die Gesamtzahl der Menschen des Solutréen war jedoch weitaus geringer als die der Menschen des Gravettien. Die Lorbeerblattspitzen waren die einzigen exotischen Artefakte, die die Menschen des Solutréen herstellten, deren Leben und Jagdmethoden ansonsten identisch mit denen der anderen Cro-Magnon-Menschen ihrer Zeit waren. Sie verwendeten ebenfalls stets Speere, die mit Rückenmessern und Knochen-

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abb. 22: Jagdwaffen des solutréen. (a) lorbeerblattspitze (Franz. feuille de laurier). (b) kerbspitze.

spitzen versehen waren. Diese wurden im Laufe der Zeit immer gebräuchlicher, bis die Lorbeerblattspitzen schließlich vor ca. 17 000 Jahren ganz verschwanden. Vielleicht spiegelt das Solutréen einfach eine kurzfristige Anpassung an leicht veränderte Jagdbedingungen wider, aufgrund derer mit Steinspitzen besetzte Speere eine Zeitlang von größerer Bedeutung waren. Wenn man der Chronologie von Lascaux Glauben schenken kann und dabei nicht vergisst, dass die Radiokohlenstoffdatierungen von den Artefakten in der Höhle und nicht von den Malereien stammen, dann waren es die Menschen des Solutréen, die dort malten und uns eine Momentaufnahme der vielfältigen, sie umgebenden Tierwelt hinterließen. Auerochsen, Wisente, Pferde und Hirsche beherrschen die Wände, nicht Rentiere, obwohl diese das Grundnahrungsmittel jener Zeit waren. Es scheint fast so, als habe sich ein Großteil des spirituellen Lebens der Menschen um

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größere Tiere wie etwa den Bullen des Wildrinds gedreht, der – wie beim Wisent in der oben beschriebenen Szene zu sehen – eine aggressive, furchteinflößende Beute war. Ob die Zeremonien und Glaubensvorstellungen der Menschen des Solutréen denen ihrer Vorfahren ähnelten, vermögen wir nicht zu sagen, aber wir können sicher sein, dass es enge spirituelle und übernatürliche Verbindungen zwischen den Menschen und ihrer Beute gab, so wie es auch schon in früherer Zeit der Fall gewesen war. In den fünf oder sechs Jahrtausenden nach dem Lascaux-Interstadial erfolgte sodann schubweise eine allmähliche Klimaverbesserung mit zeitweiligen Phasen sehr schneller Erwärmung. Über Skandinavien und den Alpen zogen sich die Eisdecken extrem zurück, der Meeresspiegel stieg beachtlich und es wurde immer weniger aus den nahezu vegetationslosen Gebieten angewehter Löss abgelagert. Aufgrund der zunehmenden Erwärmung zogen Cro-Magnon-Gruppen nun in Gebiete zurück, die sie Tausende von Jahren zuvor verlassen hatten, um schließlich immer weiter im Norden in Flusstälern zu jagen, die sich über die Tundra und die offenen Ebenen ihre Wege zu bahnen begannen. Hierbei spielte ein typisches Phänomen eine große Rolle: die „Atmung der Polarwüste“. Im Zuge der Klimaverschlechterung wurde die nordeuropäische Ebene trockener und immer weniger bewohnbar. Sowohl Menschen als auch Tiere wanderten bis an deren südlichen Ausläufer und darüber hinaus. Als das Klima dann wieder milder wurde und sich die Eisschilde zurückzogen, lockte das nun weniger trockene Land Mensch und Tier in Richtung Norden in die zuvor unbewohnbaren Gebiete. Nun passten sich die Cro-Magnon-Menschen an neue Umstände, etwas höhere Temperaturen und günstigere Jagdbedingungen an. Über diese Phase des kulturellen Übergangs wissen wir wenig, denn ihre Siedlungsschichten sind nur flüchtige Erscheinungen, die noch immer spärliche Populationen und sehr niedrige Temperaturen widerspiegeln. Die letzte sich in jener Zeit entwickelnde und wohl bekannteste europäische Kultur der späten Eiszeit ist das Magdalénien, benannt nach dem Abri La Madeleine am Ufer der Vézère in der Nähe von Les Eyzies; höchstwahrscheinlich ging es aus dem Solutréen hervor. Vermutlich war es eine Epoche vorsichtigen Vordringens und gelegentlicher Rückzüge über offenere Landschaften hinweg, wobei die Menschen wie immer den Pferde- und Rentierherden sowie anderem

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Jagdwild folgten, das seit Jahrtausenden die Lebensgrundlage der Menschheit bildete (siehe Tafel VII). Die frühesten Fundstätten des Magdalénien könnten jene aus dem nordspanischen Kantabrien sein, die älter als 17 000 Jahre sind. Innerhalb relativ kurzer Zeit ließen sich schließlich einige Gruppen in einem Gebiet um die 200 Kilometer entfernte Périgord-Region in Südwestfrankreich nieder. Über die Menschen, die uns diese Fundstätten hinterließen, wissen wir nur wenig bis auf das, was wir von ihren allgegenwärtigen und sich nicht sonderlich von anderen abhebenden Steinartefakten ableiten können, insbesondere den großen Mengen an Sticheln. Der große Anteil dieser Werkzeugform überrascht dabei kaum, da jede Gruppe kurze, gedrungene Projektilspitzen aus Knochen oder Geweih herstellte, von denen die meisten an der Basis angeschrägt waren (Abb. 23). Solche Waffen waren ideal für die Jagd in relativ offenem Gelände, vor allem wenn sie zusammen mit einer Speerschleuder eingesetzt wurden. Nadeln wurden ebenfalls in großer Zahl gefunden. Die Temperaturen waren niedrig und die Winter lang und hart, weshalb maßgeschneiderte Kleidung ein Muss war. Im Laufe von etwa 5000 Jahren unregelmäßig verlaufender Erwärmung stiegen die Bevölkerungszahlen der Menschen des Magdalénien allmählich so weit an, dass einige bevorzugte Standorte wie das Tal der Vézère für damalige Verhältnisse recht dicht besiedelt gewesen sein dürften. Bereits vor 14 500 Jahren hatten sich Gruppen in den nördlichen Gebirgsausläufern der Pyrenäen niedergelassen, von wo aus sie sich im Zuge der Klimaverbesserung langsam über ein wesentlich größeres Gebiet ausbreiteten. Die Technologie des Magdalénien blieb im Wesentlichen unverändert, allerdings wurden verstärkt Knochen und Geweih zur Herstellung von Artefakten aller Art eingesetzt. Wie die Menschen des Gravettien waren auch die des Magdalénien fähige Jäger, die besonders gut mit der Speerschleuder umgehen konnten. Sie fertigten zunehmend kleinere Steinwerkzeuge an, von denen zahlreiche als Widerhaken an immer leichter werdenden Waffen dienten, die auf offenem Terrain zur Jagd auf kleines Wild eingesetzt wurden. Vor rund 14 500 Jahren wurde das europäische Klima plötzlich aufgrund des sogenannten Bölling-Interstadials für mehr als etwa 1500 Jahre milder (siehe Kapitel 12). In dieser Zeit nahm die Dichte der Magdalénien-Siedlungen rapide zu, da die Cro-Magnon-Menschen nun nicht mehr zurückgezogen ausschließlich an witterungsgeschützten Orten lebten, sondern auch Einzug in lange Zeit menschenleere Landschaften hielten. Während des letzten Kältemaximums hatten die kleinen Populationen nördlich der Pyrenäen den überwie-

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genden Teil des Jahres beispielsweise noch in tiefen Flussniederungen verbracht, wo Wälder einen gewissen Schutz vor eisigen Nordwinden boten. Der kurze Sommer war die einzige Jahreszeit, in der die Jäger ohne Einschränkung draußen ihren Tätigkeiten nachgehen konnten. Während der langen Monate mit Temperaturen unter Null Grad Celsius hing das Ausmaß der Aktivitäten in und um die Basislager davon ab, wie kalt es war. Wir dürfen nicht vergessen, dass die heutigen Jäger in nördlichen Regionen zögern, lange Jagdausflüge zu unternehmen, wenn die Temperaturen auf unter minus 34 Grad Celsius fallen. Die Wanderungen der Cro-Magnon-Menschen konnten sich in der Kälte als todbringend erweisen und selbst der banalste Unfall konnte tödlich enden. Diese Verhältnisse änderten sich nun rasch mit den steigenden Temperaturen im Bölling-Interstadial. Die Winter, auch wenn sie immer noch extrem kalt waren, wurden kürzer und die Sommer etwas länger. Viele Gruppen begannen Pferde, Rentiere und andere Tierarten der Tundra zu jagen, als sie sich auf den unwirtlichen offenen Ebenen im Norden vom Pariser Becken bis ins heutige

abb. 23: werkzeuge und waffen des magdalénien. (a) knochenspitze mit abgeschrägter Basis. (b) spitze mit gespaltener Basis. (c), (d) Ein- und zweireihige harpunenspitzen. (e) kratzer. (f), kombinationsgerät, (g) papageienschnabelstichel. (h) kleine werkzeugklingen, die wahrscheinlich einst mit griffen versehen waren.

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Belgien und Deutschland hinein niederließen. Sie zogen überdies in die Täler von Rhein und Meuse sowie nach England und ließen sich in höher gelegenen Regionen als der Dordogne nieder, so zum Beispiel auf dem französischen Zentralmassiv, in den Vorgebirgen der Alpen und in den Pyrenäen, wo sie in Höhen von 500 Metern oder mehr lebten, was wenige Jahrhunderte zuvor noch undenkbar gewesen wäre. Vor 14 000 Jahren fingen die Menschen des Magdalénien an, Rentiere in Solutré zu jagen, wobei sie offensichtlich dieselben Strategien einsetzten wie ihre Vorgänger. Andere Gruppen zogen weit in den Norden, einige von ihnen nach Île-de-France im Seine-Tal, das heute im Herzen von Paris liegt, weit entfernt von den schützenden Flusstälern im Süden. Die dortigen Jagdgebiete waren weitläufig und befanden sich vor allem um Orte herum, an denen Pferde oder Rentiere abgefangen oder größere Tiere wie Wisente in Sümpfe getrieben werden konnten. Über viele Generationen hinweg kehrten die Menschen an dieselben Lagerstätten zurück und lebten in Zelten, die neben Unmengen von Pferde- und Rentierknochen aufgeschlagen wurden – Momentaufnahmen längst vergessener Jagden. Hier in der Tundra blieben die Knochen anscheinend Ewigkeiten erhalten, ohne zu vergehen. Wälder von Schädeln und Geweihen umgaben die Zelte. Die Raubzüge der Hyänen und Löwen konnten ihnen nichts anhaben. Selbst der Boden, auf dem die Lager standen, muss mit zertrümmerten Knochen gepflastert gewesen sein, die sowohl von Menschen als auch von Tieren zerlegt worden waren. Doch heute sind von diesen Behausungen nur noch verstreute Steine – große Felsbrocken, die als Anker für Zeltwände dienten – sowie Holzkohle von großen Feuerstellen übrig. Die Zelte müssen haltbar, wasserdicht und leicht herzustellen gewesen sein. Wenn man von arktischen Sommerlagern ausgeht, dürften einige kuppelförmig und andere konisch geformt gewesen sein mit Durchmessern von etwa 4,50 Metern und einer Höhe von drei Metern.4 Der Rahmen wird aus kaum bearbeiteten Holzstangen bestanden haben und mit Rentierhäuten bedeckt worden sein, die zusammengenäht wurden, wenn sie noch frisch und geschmeidig waren (siehe Tafel VIII). Große Steine sicherten die Plane am Boden, denn Holzpflöcke wären zerbrochen, bevor sie den Permafrostboden durchdrungen hätten. Getrocknete Häute dürften als „Türen“ gedient haben. Solche Zelte waren ausgesprochene Sommerbehausungen, auch wenn eine zweite Planenlage im Winter Schutz geboten haben könnte. Man vermutet deshalb, dass in den Wintermonaten halb unterirdisch angelegte Hütten mit Gestängen aus Mammutknochen, Holz und Dächern aus Grassoden, wie sie im

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Osten von den Menschen des Gravettien benutzt wurden, zum Einsatz kamen. Allerdings fehlen uns diesbezüglich Funde aus dem Westen. Während die Männer auf der Jagd waren, blieben die Frauen die meiste Zeit im Lager, wo sie nicht nur die Mahlzeiten zubereiteten, sondern auch enorm viel Zeit damit verbrachten, Kleidung herzustellen und Häute sowie Felle zu bearbeiten. Sie dürften die Häute sämtlicher Landsäugetiere bearbeitet haben, indem sie diese – manchmal mit Urin – befeuchteten und dann abschabten, was einer der Gründe dafür ist, warum an archäologischen Cro-Magnon-Fundorten Kratzer so häufig sind. Stundenlanges kräftiges Schaben löste das Fett von der Haut und machte diese geschmeidig. Dann wurde sie abermals angefeuchtet und mit der Hautseite nach außen für einen Tag oder länger aufgerollt. Als Nächstes legte die Gerberin sie aus, begutachtete sie sorgfältig und kratzte sämtliche harten Stellen ab, bevor die glattgeschabte (haarlose) Seite mit einer Mischung aus Sand und Wasser abgerieben wurde. Schließlich hängte sie die Haut zum Trocknen in der Nähe eines Feuers auf und rieb sie erneut ab, sobald sie warm geworden war. Um eine komplett enthaarte Haut zu erhalten, weichte die Gerberin das Fell für etwa vier Tage in Urin oder Wasser ein, um die Haare zu lockern. Ein penetranter Uringestank dürfte das Lager umgeben haben, begleitet vom endlosen Schabegeräusch des Steins auf Haut.5 Die Cro-Magnon-Frauen müssen die Häute einer breiten Palette an großen und kleinen Tieren gegerbt haben, einschließlich Bärenhäute, Hasenfelle (die erst abgeschabt, mit einer Art Pökelmischung überzogen und dann getrocknet wurden) sowie Vogelbälger, die vermutlich mit Knochenschabern gesäubert und mit Fischöl behandelt wurden, bevor sie durch Kneten geschmeidig gemacht wurden. Das Häuten und Gerben dürften Aktivitäten gewesen sein, die während des ganzen Jahres stattfanden, während das Nähen von Kleidung am intensivsten in den Wochen vor den Herbstjagden auf Rentiere erfolgte, bevor die Temperaturkurve steil abzufallen begann. Die Arbeit der Frauen des Magdalénien war nie getan, da sie eine ebenso wichtige Rolle im täglichen Leben und für das Überleben spielte wie die Arbeit der Männer. Die Welt des Bölling-Interstadials war voller Kontraste: Es gab ungewöhnlich warme Sommer und ungewöhnlich milde Winter, auf die Jahre extremer Kälte folgten.6 Das Leben unterlag ständigen Klimaschwankungen, die letztlich zur Folge hatten, dass sich die Umwelt veränderte und sich die Menschen des Magdalénien auf anderes Jagdwild umstellen mussten, manchmal von Ren auf Rothirsch oder Wildschwein. Zunehmend machten sie Jagd auf viele kleine Tiere, insbesondere auf Vögel und Fische. Als der Meeresspiegel des Atlantiks stieg

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und den Festlandsockel überflutete, verringerten sich die Gefälle von Flüssen wie der Dordogne und der Garonne. Seehunde tauchten in lokalen Gewässern auf, während sich riesige Lachse im Frühjahr und Herbst in strategisch günstig gelegenen Stromschnellen drängten. In dieser Zeit werden Seehunde und Lachse auf Artefakte graviert. Auf einer dieser Abbildungen tummelt sich ein Lachs zwischen den Beinen schwimmender Rentiere ... Das eisige Flusswasser des Frühlings strömt braun und schnell dahin. Es plätschert zwischen schwarzen Steinen und dort, wo sich Stromschnellen befinden. Später im Sommer wird man den Fluss hier trockenen Fußes überqueren können. Doch zuvor werden große Lachse das Flachwasser bevölkern. Auf ihrer Reise stromaufwärts zu den Laichplätzen springen sie hoch aus dem Wasser.7 Jedes Jahr tauchen sie ohne Vorzeichen mit dem Frühjahrstauwetter auf. Manchmal sind es so viele, dass sie sich in ihrem Kampf um Platz gegenseitig fortstoßen. Trotz der noch beharrlichen Kälte und Schneeschauer haben diverse Gruppen ihre Lager in Erwartung der Fische in Flussnähe aufgeschlagen. Jahr für Jahr kehren sie an dieselben Orte zurück, stellen ihre Zelte auf und reparieren die noch stehenden Gestelle zum Trocknen aus dem Vorjahr. Kinder schwanken unter der Last schwerer Feuerholzladungen für die Räucherhütten; ihre Mütter schlagen unzählige Feuersteinklingen, die als Messer zum Ausnehmen der Fische dienen werden. Lederbeutel mit Harpunenspitzen aus Geweih liegen neben Stapeln von Fischspeeren. Die Lachswanderung setzt vollkommen überraschend ein. Als sich der erste Fisch zeigt, klettern die Fischer auf ufernahe Steine unweit der robusten, im Fluss aufgestellten Holzzäune, die im vergangenen Herbst während des Niedrigwassers dort errichtet worden waren. Die Lachse schwimmen auf die Lücken in den Hindernissen zu. Mühelos balancieren die Jäger ihre Waffen zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger fast perfekt aus. Mit kurzen, zielsicheren Armbewegungen stoßen sie zu, wobei die Speere nie die Hand verlassen. Einige Fischer benutzen Speere, deren Spitze doppelreihig mit Widerhaken besetzt ist. Sie spießen ihre Beute auf und schleudern sie rasch an Land. Andere dagegen verwenden einreihige Widerhakenspitzen. Die Spitze ist auf einen Schaft aufgesetzt und an einer Leine befestigt, so dass sich der Fisch mithilfe der Schnur einholen lässt. Die Männer arbeiten blitzschnell und ziehen mit wenigen gekonnten Handgriffen Lachs um Lachs aus dem Wasser. Eine Geweihspitze zerbricht im Körper eines großen Fisches, als er ans Ufer geworfen wird. Innerhalb weniger Augenblicke hat der Mann, der ihn gefangen hat, die zerbrochene Speerspitze entfernt und durch eine neue ersetzt. Einige der Fischer ar-

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beiten langsamer, weil sie ihre Söhne beim Üben der Speerstöße beobachten. Sie ermutigen sie und helfen ihnen gelegentlich, wenn sie schwerere Fische gefangen haben. Noch mehr Jäger halten sich um den Zaun herum und an den tieferen Stellen des stehenden Wassers auf, die mit umlaufenden, an Pfählen befestigten Netzen abgeriegelt sind. Sie fangen die springenden Fische mitten in der Luft oder heben sie einfach aus dem Wasser heraus, wenn sie dicht unter der Oberfläche schwimmen. Doch die eigentliche Arbeit beginnt gerade erst. Innerhalb von Sekunden erschlagen sämtliche Männer und Frauen die an Land liegenden Lachse und ziehen die Speere heraus. Abseits des Flusses nehmen sie die Fische aus und spreizen die Körperhälften auseinander, um sie anschließend auf Stöcken und Gestellen um oder über kleinen, gemächlich brennenden Feuern oder an Orten aufzuhängen, wo sie in der Frühjahrssonne und im Wind austrocknen. Die Gruppen arbeiten Tag und Nacht. Flackernde Kiefernfackeln werfen unruhige Schatten über den von Fischen wimmelnden Fluss. Die Menschen wissen, dass sie nur ein paar Tage Zeit haben, die Lachswanderung auszunutzen, denn diese wird ebenso plötzlich enden, wie sie begann. Wenn sie vorbei ist, werden die Menschen viele hundert Fische eingeholt haben, von denen die meisten gedörrt werden, um während der kalten Monate verzehrt zu werden ... Die Lachsfischerei basierte auf Methoden zum Fallenstellen, Trocknen und Räuchern, die bereits seit Jahrtausenden zum Einsatz kamen. Doch um die größtmögliche Ausbeute aus den Lachswanderungen zu gewinnen, benötigten die Menschen neue, stärker spezialisierte Waffen wie die widerhakenbesetzte Speerspitze aus Geweih und die Harpune, deren Spitze zunächst nur auf einer Seite mit Widerhaken besetzt war, später auf beiden.8 Solche Artefakte finden wir am häufigsten an Orten in der Nähe Lachse führender Flüsse wie zum Beispiel dem Abri Laugerie Haute nahe der Vézère. Hier kombinierten Generationen von Jägern den Fischfang mit der Jagd auf Rentierherden, die durch die nahe gelegene Furt zogen. Ganze Rentierskelette liegen zwischen den überhängenden Klippen und dem Fluss. Auf einer Anhöhe in der Umgebung hoben die Jäger Gruben aus, die sie mit Knochen und Steinartefakten füllten. Vielleicht diente diese Stelle als Sichtschutz, hinter dem sie auf ihre Beute warteten, oder sie lagerten hier während der Frühlings- und Herbstjagden frisch geschlachtete Tiere. Nach wie vor stellten die Menschen des Magdalénien auch Fallen auf, um Pelztiere und Vögel zu fangen, wozu sie sich der gleichen simplen Schlingen und Fallen bedienten, die schon ihre Vorfahren verwendeten. Möglicherweise

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entwickelten sie auch eine neue Waffentechnologie: Pfeil und Bogen. Der Bogen besitzt den unschlagbaren Vorteil, dass man Pfeile nach oben und unten abschießen kann – quasi in jedem vorstellbaren Winkel und auf eine Art und Weise, die ein Speer nicht zulässt. Leider hat noch niemand einen hölzernen Bogen an einer Cro-Magnon-Fundstätte der ausgehenden Eiszeit entdeckt, so dass wir nur Vermutungen anstellen können, ab wann solche Waffen eingesetzt wurden. Man kann keinesfalls von der Größe der Steinspitze auf den Gebrauch von Pfeilen schließen, weil Speerschleudern ebenfalls mit leichten Speeren bestückt werden mussten, um zu funktionieren. Höchstwahrscheinlich wurden Pfeil und Bogen als Waffe für den Wald entwickelt. Anfangs bestanden sie vielleicht aus wenig mehr als dem Stamm eines jungen, gebogenen Bäumchens, das mit einer Schnur versehen war, um damit auf einzelgängerisch lebende Tiere wie Hirsche zu schießen. Als die Pfeile leichter und ihre Reichweite größer wurde, begannen die Jäger wahrscheinlich, auch auf fliegende Vögel oder Wassergeflügel an Weihern zu schießen, wo sie in Windrichtung warten konnten, bis die Kadaver ans Ufer gespült wurden. Viele Experten, die sich mit der ausgehenden Eiszeit beschäftigen, glauben, dass einige der frühesten Bögen vor ca. 19 500 Jahren in der Umgebung der Parpalló-Höhle nahe dem heutigen Valencia verwendet wurden, da in dieser Höhle zahlreiche filigrane Projektilspitzen ans Tageslicht befördert werden konnten. Pfeil und Bogen könnten aus den milderen, stärker bewaldeten Regionen im Zuge der Erwärmung in den Norden gebracht worden sein. Wie wir in Kapitel 12 noch erfahren werden, können wir mit Sicherheit sagen, dass diese Waffe unmittelbar nach der Eiszeit stark verbreitet war. Vor diesem Hintergrund ist es äußerst wahrscheinlich, dass die Menschen des Magdalénien in den vorangegangenen Jahrtausenden zumindest mit dieser neuen Waffengattung experimentierten, da sich ihre Welt im Umbruch befand und kleineres Jagdwild sowie Vögel langsam an Bedeutung gewannen. Anfänglich waren die Magdalénien-Populationen sehr klein und viele von ihnen konzentrierten sich in geschützten Flusstälern und in der Nähe strategisch günstig gelegener Furten, wo sie Jagdbeute fanden. Doch trotz ihrer geringen Zahl waren Kontakte zwischen benachbarten Gruppen wahrscheinlich weitaus häufiger als in der Vergangenheit, als eine größere Zahl von Menschen geografisch noch weiter verstreut lebte. Unweigerlich dürfte es zu Spannungen gekommen sein. Möglicherweise wurde über Jagdgebiete gestritten, darüber, wer das Anrecht auf Steinbrüche hatte, oder es gab Rivalitäten zwischen einzelnen Sippen. Ebenfalls unweigerlich dürfte sporadisch Gewalt angewandt

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worden sein, aber bislang besitzen wir nur einen einzigen Fund, der das eventuell belegt. Im Abri von Cap Blanc bei Les Eyzies befindet sich ein Fries mit Tierskulpturen, die im Magdalénien vor etwa 15 000 Jahren in die Wände gemeißelt wurden (Abb. 24).9 Pferde, von denen das größte zwei Meter lang ist, tummeln sich auf der Wandfläche, auf der auch Wisent- und Hirschköpfe dargestellt sind. Die Künstler bemalten die Skulpturen in leuchtenden Farben, so dass sie selbst aus weiterer Entfernung sichtbar waren. Vor dem mittleren Pferd befindet sich das Grab einer jungen Frau. Eine Projektilspitze aus Elfenbein lag in ihrer Bauchgegend (ein Befund, der nicht eindeutig bewiesen ist). Eventuell war sie die Ursache für ihren Tod. Vielleicht hatte die Frau zu den Künstlern gehört, weshalb man sie vor ihrem Werk beisetzte. Der Lebens- und Jagdrhythmus blieb in der Zeit der Erwärmung weitgehend unverändert, mit Ausnahme der immer raffinierter werdenden, oft aus mehreren Teilen zusammengesetzten Jagdwaffen und der zunehmenden Verlagerung der Jagd auf kleinere Säugetiere, Vögel und Fische. Die Landschaft und die Umwelt veränderten sich; Nadelwälder waren nun weiter verbreitet. Die Jäger des Magdalénien verbrachten viel freie Zeit mit der Beobachtung von Tieren, der Herstellung und Reparatur von Waffen sowie dem Erwerb von Informationen in Gesprächen mit anderen. Dass ihnen mehr „Freizeit“ zur Verfügung stand als ihren Vorfahren, schließen wir daraus, dass sie ihre Speere, Speerschleudern und andere Werkzeuge aus Geweih und Knochen üppig mit Gravuren verzierten, die wahrscheinlich keine besondere symbolische Bedeutung besaßen. Die uns erhalten gebliebenen Kunstobjekte stellen eine faszinierende Mischung aus nicht zu deutenden Zeichen, Mustern und gelegentlich Meisterwerken dar (siehe Tafel V). Die Menschen des Aurignacien, Gravettien und Solutréen verzierten Objekte aus Geweih und Knochen mit geometrischen Mustern und schufen

abb. 24: Ein wildpferd aus dem abri von cap Blanc (Frankreich).

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Frauenstatuetten sowie andere Skulpturen. Im Vergleich dazu erreichte die Kunst im Magdalénien nun eine neue Ebene persönlicher Dekoration. Ich sage „persönlich“, weil die Objekte, die so talentreich üppig verziert wurden, Gegenstände des täglichen Gebrauchs waren.10 Der rätselhafte bâton de commandement, ein Geweihstück mit einer oder mehreren Perforationen, ist so ein Artefakt. Das im Deutschen als „Lochstab“ bezeichnete Gerät wurde vermutlich zum Begradigen von eingeweichtem Geweih und Knochen verwendet, die zu Projektilspitzen verarbeitet werden sollten. Gleichartige Artefakte wurden einst von den Inuit benutzt (Abb. 25). (Die merkwürdige Bezeichnung bâton de commandement impliziert die unhaltbare Annahme, dass es mächtige Autoritätspersonen, sogar Könige, unter den Cro-Magnon-Menschen gab.) Die Besitzer der Lochstäbe verzierten diese manchmal mit Tierköpfen, gravierten das Bild eines röhrenden Hirsches mit herbstlichem Geweih ein oder versahen den Schaft und den Bereich um das Loch mit umlaufenden Rentiergeweihmotiven und abstrakten Mustern. Speerschleudern beschwerten sie mit kunstvoll gearbeiteten Hirschen und Steinböcken, die auf dem hakenförmigen Ende standen (siehe Tafel V). Die Tiere erleichtern sich gerade, und ihre Losung formt den Haken. Manchmal sitzt auch ein pickender Vogel darauf. Eine andere, bedauerlicherweise zerbrochene Speerschleuder ist mit einem Wisent beschwert, der seinen Kopf nach hinten gedreht hat und seine Flanke leckt. Selbst der Tränenkanal des Auges und die Mähne sind behutsam und detailliert mit sicherer Handhabung des Stichels eingraviert. Einige dieser Meisterwerke dienten möglicherweise ausschließlich zeremoniellen Zwecken. Die Längsseiten von Knochen und Geweihen weisen kreisförmige und geometrische Motive auf, die vielleicht Kopien der Muster sind, die sich die Menschen auf die Haut malten oder die Häute und Holz

abb. 25: Bâtons de commandement aus dem magdalénien.

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schmückten. Die Menschen des Magdalénien liebten es, kleine Gravuren auf Geweih und Knochen, Elfenbein und Steinen anzubringen. Sie malten Tiere aller Art, gelegentlich einzelne Menschenfiguren, und manchmal legten sie mehrere Muster in Schichten übereinander, so dass man Stunden braucht, um sie zu entziffern. Unter diesen zahlreichen, oft schnell angefertigt anmutenden Mustern, die fast jeder produziert haben dürfte, befinden sich auch einige wahre Meisterwerke. Eine Reihe von Feliden schmückt einen Knochen. Ein Relief mit einem Pferd auf beiden Seiten eines flachen Knochenstücks ist mit etwas verziert, das beinahe wie ein Halfter aussieht, aber wahrscheinlich keines ist. Es sind Wisente und Pferde, Rentiere und Hirsche, ja sogar Vögel in einer endlos erscheinenden Parade von Tieren abgebildet, ebenso wie abstrakte Muster. Außerdem finden sich jede Menge Skizzen menschlicher Figuren auf kleinen Objekten und an Höhlenwänden, wo man die ganze Pracht der Kunst des Magdalénien genießen kann. Wir werden nie herausfinden, warum gerade die Menschen des Magdalénien plötzlich derartig viel Kunst schufen, angefangen bei einzelnen Zeichen und Mustern bis hin zu wahren Meisterwerken, von denen einige vermutlich auch von ritueller Bedeutung waren. Ich vermute, dass sich hierin auch die Erderwärmung niederschlägt – die Bevölkerungszahlen stiegen, was letztlich zur Folge hatte, dass immer mehr Menschen die Jagdgebiete nutzten. Hierdurch gewannen Gruppenidentitäten und die Identität des Einzelnen immer größere Bedeutung. Die Kreativität könnte auch eine Folge der längeren Aufenthalte an wichtigen Orten gewesen sein. Manchmal legten die Bewohner ihre Zelte mit Steinplatten aus, wie beispielsweise auf dem französischen Plateau Parrain. Mit Ausnahme der in Kapitel 9 beschriebenen Bestattungen der Menschen von Sungir können wir uns kein Bild von der Komplexität der Cro-MagnonKultur machen – von den leuchtenden Farben, die die Gesichter der Menschen schmückten, den Federn und dem Kopfschmuck, der Jäger und Alte, Schamanen und Verwandte als solche kennzeichnete. Wir besitzen Ketten aus durchbohrten Tierzähnen und Muscheln, von denen einige aus so fernen Regionen wie der Mittelmeerküste stammen. Als exotische Artefakte dürften sie einen beträchtlichen Wert besessen haben. Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun oder vielmehr mit einer Reihe von Gesellschaften, die sporadische Kontakte zu Gruppen pflegten, die weit entfernt von ihnen lebten, einige von ihnen in ganz anderen Lebensräumen wie an Küsten, in Wäldern oder im Hochland. Solche Kontakte waren sinnvoll in einer Welt, in der Jagdwild riesige Strecken zurücklegte und Nahrungsmangel im Winter keine Seltenheit war.

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Trotz ihrer künstlerischen Genialität wissen wir nichts über die Festlichkeiten und kulturellen Aspekte im Leben der Menschen des Magdalénien: Farben, Gerüche, Gesang, Tanz, Flöten- und Trommelspiel – Dinge, die eine wichtige Rolle in einem zweifellos kulturell reichen Leben spielten, in dem Zeremonien äußerst bedeutsam waren. Im Winter mussten die Menschen in der Nähe ihrer Behausungen bleiben, dicht gedrängt in kleinen Hütten, wo sie die langen Nächte mit Geschichtenerzählen und Singen verbrachten. Dies waren Monate des intimen Zusammenlebens, in denen sich alles um die Familie und Verwandte drehte, in denen sich auf engem Raum zwischenmenschliche Spannungen entluden und Eigenschaften wie Toleranz und Humor gefordert waren. Höchstwahrscheinlich fanden wichtige Zeremonien in den warmen Monaten statt, wenn sich die Gruppen für einige Wochen trafen. All diese Aktivitäten trugen sich oberirdisch zu – bekannte Rituale und das Geschichtenerzählen fanden in Freiland- und in Felsstationen statt. Doch es gab auch eine unterirdische Dimension, oft weit vom Tageslicht entfernt, wo die Temperaturen stets konstant waren und die Mächte des Übernatürlichen hinter Höhlenwänden lauerten. Unter der Erde liegen auch die Orte, an denen wir einen Blick auf die Genialität der Menschen des Magdalénien sowie auf ihre komplexen Glaubensvorstellungen und ihre Spiritualität werfen können, die als Schutzzone zwischen den Lebenden und den mächtigen Kräften des Übernatürlichen dienten. Wir wissen, dass die Cro-Magnon-Menschen bis tief unter in die Erde vordrangen, bis an düstere, entlegene und wahrscheinlich furchteinflößende Orte. Jedes Mal, wenn sie sich in eine Höhle vorwagten, mussten sie sich der Angst vor dort überwinternden Bären stellen, denen viele Höhlen als Winterquartiere dienten. Über viele Generationen hinweg gingen die Forscher davon aus, dass die Besucher der tiefen Höhlenkammern ausschließlich Männer und Jungen waren, die zur Durchführung solcher Rituale wie Initiationszeremonien dorthin kamen. Wir irrten uns. Eingehende Untersuchungen von Fußabdrücken tief in den Höhlen verraten uns, dass Menschen beiderlei Geschlechts und jeden Alters die entlegenen unterirdischen Kammern aufsuchten. Selbst der Handabdruck eines Babys befindet sich weit unter der Erdoberfläche in den Tiefen der Höhle von Bédeilhac in Südfrankreich. In der Höhle von Tuc d’Audoubert in den Pyrenäen brachen die Besucher Zähne aus den Schädeln von Höhlenbären, die hier einst überwintert hatten, wahrscheinlich um Amulette für Halsketten daraus zu fertigen oder Kleidung mit ihnen zu besetzen. Tief in der Höhle, fast einen Kilometer von der Ober-

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fläche entfernt, befinden sich in einer kleinen Kammer zwei aus Lehm modellierte Wisentfiguren, die absichtlich an einen Fels gelehnt wurden (siehe Tafel VI).11 Das hintere männliche Tier scheint kurz davor zu stehen, das vor ihm stehende weibliche Tier, das seinen Schwanz erhoben hält, zu besteigen. Beide Figuren wurden aus Lehm geformt, den man dem Boden einer angrenzenden Kammer entnommen hatte. In ihrer Nähe blieben die Fußspuren eines Kleinkindes erhalten. Einige tief gelegene Höhlen waren nur schwer zugänglich. In der Höhle von Fontanet im südfranzösischen Departement Ariège überquerten die Menschen des Magdalénien einen Abgrund, um in deren tiefste Bereiche vorzudringen, wobei sie sich an Spalten im Fels festklammern mussten. Zahlreiche Fuß- und Handabdrücke auf dem Lehmboden überdauerten die Zeiten, darunter der Abdruck eines rechten Fußes, dessen verwischte Form darauf schließen lässt, dass sein Besitzer eine Art Schuhwerk trug, vermutlich aus Leder. Die Menschen des Magdalénien waren versiert in der Anfertigung von Gravuren und Skizzen. Höhlenmalereien aus der gesamten Epoche finden wir im Ural weit im Osten und bis weit nach England hin. Die schönsten Malereien kennen wir aus Südwestfrankreich und Nordspanien von so bekannten Orten wie der tiefen Höhle von Rouffignac, den Höhlen Font de Gaume und Les Combarelles bei Les Eyzies sowie einigen ausgemalten Höhlen in den Pyrenäen und in Kantabrien. Das absolute Meisterwerk aber birgt die Höhle von Altamira, gelegen in der Nähe von Santander an der Biskayaküste. Sie ist 263 Meter lang, gliedert sich in zahlreiche Kammern und Gänge und läuft in einem schmalen Gang aus, der als „Pferdeschweif“ bezeichnet wird.12 Entdeckt wurde die Höhle, als ein lokaler Landbesitzer namens Don Marcelino Sanz de Sautuola 1876 einige schwarze Markierungen an einer hinteren Wand der Höhle erblickte, sich jedoch nichts dabei dachte, bis seine achtjährige, von den väterlichen Ausgrabungen gelangweilte Tochter Maria mit einer Kerze in eine Seitenkammer wanderte: „Toros! Toros!“ („Stiere! Stiere!“), rief sie aus, und so nahm die klassische Geschichte einer archäologischen Zufallsentdeckung ihren Lauf. Staunend starrten Vater und Tochter auf den farbig gemalten Wisent an der Decke der unteren Kammer. Sautuola bemerkte die große Ähnlichkeit zwischen der Höhlenkunst und den Tierdarstellungen, die er in einer Ausstellung in Paris auf Geweih- und Knochenfragmenten aus französischen Höhlen gesehen hatte. Er war sofort überzeugt, der Wisent von Altamira sei das Werk von Steinzeitkünstlern. Seine Mühen wurden jedoch von den Gelehrten ins Lächerliche gezogen. Erst nach

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seinem Tod sollte sich aufgrund von 1895 und 1901 entdeckten Malereien und Gravuren in La Mouthe und Les Combarelles herausstellen, dass er Recht hatte. Die Kammer mit dem Wisent besitzt eine niedrige Decke. Vielleicht malte der Künstler aus diesem Grund dort, um die Vorteile der natürlichen Wölbungen der Felsoberfläche zu nutzen (Tafel VI und VII). Die Malereien bedecken die 5,80 Meter hohe Decke in einer Reihe sich überlagernder Motive. Dabei wurde in fünf Abschnitten gemalt. Zuerst kamen Gravuren, auf die verschiedene farbige Motive folgten. Dann wurden mit mehreren Linien gezeichnete Figuren aufgebracht und zum Schluss der mehrfarbige Wisent. Die Figuren, die mit Linien an die Decke gezeichnet wurden, sehen genauso aus wie einige Figuren, die man auf Kleinkunstobjekten in der Höhle entdeckte. Letztere wurden auf ein Alter von 14 480 Jahren datiert. Holzkohle, die der mehrfarbigen Wisentdarstellung entnommen wurde, datiert auf ein Alter von zwischen 13 130 und 14 820 Jahren. Danach war der Zugang zur Höhle versperrt. Wahrscheinlich hat ein einzelner Künstler die meisten der mehrfarbigen Malereien aufgetragen, selbst wenn die 14C-Datierung nahelegt, dass andere diese Motive später retuschierten. In der Höhle gibt es Darstellungen von 27 Wisenten, von vier weiblichen und einem männlichen Rothirsch sowie zwei Pferden. Der unbekannte Künstler malte die Tiere auf natürliche Vorsprünge der Decke, um ihnen Masse und Rundungen zu verleihen. Er oder sie war ein sehr genauer Beobachter. Anhand der Beobachtung heutiger Büffel kann man erkennen, dass sich einige der Wisente offenbar mit gestreckten Beinen in mit ihrem Urin getränkten Staub wälzen – eine Verhaltensweise, mit der die Tiere üblicherweise ihr Revier markieren. Die Wölbungen der Decke lassen die Wisente dreidimensional erscheinen. Zwei stehen entspannt da; andere brüllen mit hoch erhobenem Haupt. Schnell ziehen diese mehrfarbigen Bilder den Betrachter in ihren Bann und hierüber versäumt man es leicht, den anderen 70 Figuren Aufmerksamkeit zu schenken, die ganz andere Tierarten darstellen – darunter 43 Hirsche, fünf davon männlich, fünf Steinböcke, zwei Pferde, zwei Auerochsen und acht menschenähnliche Gestalten, die vogelartige Masken tragen. Sie sind schwer auszumachen, da die Absicht des Künstlers oder der Künstlerin hier eine ganz andere war als bei den farbenfrohen Wisenten. Wenn man die Malereien eingehend studiert und besonders auf den Pinselstrich der Linien achtet, bemerkt man, dass der Künstler beabsichtigte, dass diese Figuren nur vom Eingang der Galerie aus zu erkennen sind, wo der Lichteinfall besonders den Wisent an der Höhlendecke hervorhebt.

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Obwohl der ursprüngliche Eingang der Höhle vor rund 13 000 Jahren verschüttet wurde, gewinnt man einen Eindruck davon, wie die Höhle in der Blütezeit ihrer Nutzung ausgesehen hat, wenn man ihre großartige und äußerst präzise ausgeführte Rekonstruktion nur wenige hundert Meter entfernt von ihr besucht. Wie der Höhlenkunstexperte Paul Bahn anmerkt, können die Besucher die geschmückte Kammer nun im Verhältnis zu ihrem ehemaligen Eingang und zum Tageslicht betrachten.13 Bequem können wir hier die gesamte Decke studieren, wohingegen sich der Künstler und die damaligen Besucher des Magdalénien gebückt zwischen dem Boden und der niedrigen Decke bewegen mussten und jeweils nur einen Ausschnitt sehen konnten. Das Genie, das den Wisent von Altamira malte, lebte in einer Zeit, als der arktisch-eisige Griff der letzten eiszeitlichen Vergletscherung nicht mehr so unerbittlich war wie es jahrtausendelang der Fall gewesen war. Die Sommer waren länger und wärmer, und Nadelwälder bedeckten weite Teile des Vézère-Tals, während sich die südlichen Ränder der Tundra nach Norden zurückzogen. Mit der Erwärmung veränderte sich die großartige Tierwelt, die die Cro-MagnonMenschen über Tausende von Jahren hinweg ernährt hatte, unmerklich von Generation zu Generation. Als die Rentierherden in Richtung Norden zogen, traten Rothirsche an ihre Stelle. Auerochsen und Wisente wurden eine häufigere Jagdbeute. Doch schon bald sollte sich der uralte Lebensrhythmus der Cro-Magnon-Menschen im Zuge der immer schneller erfolgenden Erwärmung dramatisch verändern.

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Kapitel 12 Die Herausforderung der Erwärmung

Niaux, Ariège, vor 13 000 Jahren. Der Künstler sitzt auf einem Stein, seine Hände sind immer noch blutig von der Jagd. Während er den prachtvollen, zu seinen Füßen liegenden Wisent betrachtet, dringt das Gewirr aufgeregter Stimmen an seine Ohren. Das Tier blutet aus tiefen, tödlichen Wunden in der Flanke. Die Jäger warten ungeduldig und beobachten die länger werdenden Schatten. Sie wollen den Kadaver noch vor Sonnenuntergang häuten und zerlegen. Der Künstler zeichnet die geschwungene Rückenlinie des toten Tieres und skizziert die aus dem Körper ragenden Speerspitzen. Dann begutachtet er die Holzkohle eingehend, um gleich darauf flink die Umrisse des massiven Kopfes festzuhalten. Einige beherzte Holzkohlestriche beschreiben das Auge und die Beine in der typischen Todeshaltung. Als Nächstes folgen die Kurve der Hörner, die Mähne und das Barthaar, dann die Nüstern und der Schwanz. Der bereits ältere Maler dreht das Schulterblatt in seinen Händen hin und her. Er betrachtet seine Skizze aus verschiedenen Blickrichtungen, modifiziert die vorderen Gliedmaßen leicht, wobei ihm die leere Wandfläche in der nahe gelegenen Höhle durch den Kopf geht. Als sich der Künstler erhebt und im warmen Sonnenschein streckt, nehmen die Jäger seinen Platz ein ... Die Höhle von Niaux liegt am Fuß der Pyrenäen in einem zur Zeit des Magdalénien dicht besiedelten Gebiet. Der einst enge Eingang befindet sich am Fuß einer steilen Felswand, die zu dem 1189 Meter hohen Massif du Cap de la Lesse gehört, das vielleicht einst Teil einer symbolträchtigen Landschaft war.1 Das Labyrinth der Höhlenkammern und -galerien erstreckt sich beinahe zwei Kilometer weit in die Tiefe. Die Cro-Magnon-Besucher erkundeten jeden noch so engen unterirdischen Gang, doch wohnten sie nie hier – nur einige Werkzeuge und die Reste einer Feuerstelle wurden entdeckt. Einige von ihnen lebten in der La-Vache-Höhle auf der anderen Seite des Tals, wo vor zwischen 15 000 und 12 000 Jahren Gruppen des Magdalénien siedelten, die Steinböcken und anderem Wild nachstellten. Betrachtet man diese Lager im Vergleich zu Niaux, so zeigt sich ein interessanter Gegensatz. Etwa 500 Meter tief in der Höhle treffen vier Galerien an einer Kreuzung aufeinander. Von hier aus führt der Weg zu dem Raum, in dem hauptsächlich gemalt wurde – dem Schwarzen Salon. Mit einem Durchmesser von 20 Metern

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beeindruckt der Raum vor allem durch seine bemerkenswerte Akustik. Geräusche und Stimmen werden verstärkt, so dass er sich ideal zum Tanzen und Singen eignet – vielleicht entstanden deshalb auch so viele Malereien hier. Sechs ungleichmäßig verteilte Wandflächen zeigen Wisente, Pferde und Steinböcke, erstaunlich realistisch in Schwarz ausgeführt (siehe Tafel VIII). Auf einem Panneau sind – aufgeteilt in zwei Abschnitte – acht Wisente, zwei Steinböcke und der Rücken eines Pferdes (angedeutet durch eine Linie) abgebildet. Einer der Wisente, dessen Körper von zwei Speeren durchbohrt ist, blickt auf einen kleineren Wisentkopf. Vielleicht handelt es sich um eine Kuh mit ihrem Kalb. Die Beinhaltung des größeren Tieres lässt darauf schließen, dass es tot am Boden liegt. Ein anderer, unglaublich detailreich gemalter Wisent – diesmal ein Bulle – im unteren Feld des linken Bildabschnitts scheint absolut still zu stehen und auf etwas zu lauschen. Die Künstler von Niaux malten große und kleine Bilder aus ihrer Erinnerung an Tiere, die ihnen außerhalb der Höhle begegnet waren: Kleinste Details der Augen und des Haarkleids, das Winterfell der Pferde, ja selbst individuelle Gesichtszüge sind erkennbar. An anderen Stellen der Höhle blieben – neben Abbildungen anderer Tiere, wie denen eines Lachses und eines Wisents – Fußabdrücke von Menschen sowie Gravuren im Lehm erhalten. Die meisten Malereien (mit Ausnahme einiger rätselhafter, nicht entzifferbarer Zeichen) befinden sich jedoch im Schwarzen Salon. Niaux war ein heiliger Ort, der viele Generationen lang genutzt wurde. Viele Künstler arbeiteten hier und veränderten sogar mitten im Malen ihre Pigmentrezepturen.2 Die Höhle ist eine der wenigen Bilderhöhlen, aus denen wir 14 C-Datierungen einzelner Malereien besitzen. Ein Wisent datiert auf ein Alter von rund 13 850 Jahren, ein anderer auf 12 890 Jahre. Letzteres Datum entspricht etwa dem der Siedlung von La Vache auf der anderen Seite des Tals. Die Künstler von Niaux wirkten in einer sich verändernden Welt. Sie gehörten zu den Letzten, die eine künstlerische Tradition ausübten, die über mehr als 800 Generationen hinweg existiert hatte. Zum Zeitpunkt der Wisentjagd von Niaux war Europa längst keine Eiswüste mehr. Vor ca. 16 000 Jahren hatten die nördlichen Eisdecken längst begonnen, sich aus England und Skandinavien zurückzuziehen. Die ständigen Winde trugen Sämereien gen Norden; Zugvögel sowie andere wandernde Tiere leisteten ebenfalls ihren Beitrag hierzu. Bis dahin hatten kältetolerante Kräuter und Sträucher die sanften Hügel Mitteleuropas bedeckt. Doch als die Temperaturen zu steigen begannen, breiteten sich Wälder nordwärts aus.

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Die Erwärmung erfolgte jedoch nicht kontinuierlich, sondern das europäische Klima verhielt sich wie ein Jo-Jo, das heißt, unregelmäßige Zyklen kälterer und wärmerer Wetterverhältnisse wechselten sich, ausgelöst durch die Dansgaard-Oeschger-Ereignisse, ca. alle 1500 Jahre ab. Es gab kurzfristige Erwärmungen, auf die längere Kaltzeiten folgten. So unglaublich es auch klingen mag – Käfer sind zuverlässige Wegweiser, wenn es darum geht, eiszeitliche Temperaturen zu ergründen. Boreaphilus henningianus war in England während des letzten Kältemaximums weit verbreitet, während er heute nur noch in Finnland und im Norden Norwegens vorkommt. Während des Bölling-Interstadials mit durchschnittlichen Sommertemperaturen von ca. 17 Grad Celsius verschwand Boreaphilus völlig und wurde von Käferarten abgelöst, die weitgehend denjenigen entsprechen, die im heutigen Großbritannien heimisch sind.3 Vor 13 500 Jahren bedeckten ausgedehnte Birken-, Kiefer- und Pappelwälder England, Norddeutschland und einen Großteil Südskandinaviens in einer Warmphase, die in einigen Gegenden als Alleröd-Interstadial bezeichnet wird (Abb. 26). All diese Klimaschwankungen fanden nach geologischen Maßstäben schnell, für die Cro-Magnon-Menschen jedoch unmerklich statt. Innerhalb der Lebenszeit einer Generation bemerkten die Jäger nur geringfügige Veränderungen: einen ungewöhnlich früh anbrechenden Frühling, frühere Brutperioden, weniger Schneefall und üppigere Weidegründe für die Pferde. Die zeitlose Routine des Jagens und Sammelns verlief weiterhin im endlosen Kreislauf der Jahreszeiten. Das Leben der Menschen war der geringen Lebenserwartung der Generationen ihrer Zeit verhaftet. Sie lebten immer noch so, wie es ihre Großeltern getan hatten, und wussten, dass ihre Nachfahren die gleiche Existenz haben würden. Ihre Welt drehte sich um kleine Jagdreviere, lokale Flusstäler und die Zusammenkünfte, bei denen sie Informationen von Sippe zu Sippe austauschten. Während die Erwärmung fortschritt, dürften sich viele der Gespräche um die Wahl anderen Jagdwilds gedreht haben. Für die Jäger bedeuteten die veränderten Umweltverhältnisse, dass sie ihre Methoden des Nahrungserwerbs den neuen Gegebenheiten anpassen und grundlegend ändern mussten.4 Als die Temperaturen stiegen und sich die Wälder aus den geschützten Flussniederungen heraus, auszubreiten begannen, verlagerten sich die Rentierwanderungen, da die meisten der großen Herden mit der sich zurückziehenden Tundra nach Norden zogen. Jetzt wurden Rothirsche, Rehe sowie Wildschweine zur häufigsten Jagdbeute.

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kälter

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wärmer postglaziale Periode

vor 10 000 Jahren

Jüngere Dryaszeit 11 000

Alleröd-Interstadial 12 000

BöllingInterstadial

13 000

14 000

Ältere Dryaszeit

abb. 26: klimaveränderungen im späten glazial.

Im Zuge der Ausdehung der Waldflächen und mit dem Rückgang offener Landflächen veränderte sich die Jagd im Wald von einem oft gemeinschaftlich durchgeführten Unterfangen in eine eher von Einzelnen ausgeübte Aktivität. Jäger beschlichen im Wald Wildschweine und Hirsche, wobei sie wie früher immer noch Fallen und Netze einsetzen, jedoch auch den Speer und – vielleicht als wichtigste Jagdwaffe – Pfeil und Bogen. Zudem stellten sie einer weitaus größeren Zahl kleinerer Tierarten nach. All diese Arten waren ihnen aus früherer Zeit vertraut, doch inzwischen hatten sie an Bedeutung gewonnen, da ein Großteil der eiszeitlichen Tierwelt entweder ausgestorben oder mit der Tundra in Richtung Norden gewandert war. Kaninchen und ziehende Wasservögel waren geschätzte Nahrungsquellen auf dem Speisezettel der Menschen, auf dem nun sehr viel mehr pflanzliche Kost stand als nur die in eine Tasse passende Menge, die sie pro Jahr während der wesentlich kälteren Perioden zu sich genommen hatten.

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Nordsee

Ostsee

Star Carr AHRENSBURGER TUNNELTAL Gönnersdorf

ATL AN T I K Altamira La Riera

Île-de-France Etiolles, Pincevent

Loire

Lepenski Vir

Mas d’Azil

Schwarzes Meer

El Mírón Niaux Tajo

Mittelmeer

karte 7: die karte zeigt die in kapitel 12 erwähnten orte.

Die Cro-Magnon-Menschen waren in ihrer Lebensweise derart flexibel, dass ihre Anpassung an Landschaften mit milderem Klima mühelos erfolgte, obwohl sie größere Änderungen ihrer uralten Routinen erforderte. Altamira und Niaux zählen zu den letzten großen bemalten Felsheiligtümern, die über viele Generationen hinweg von den Cro-Magnon-Jägern genutzt wurden. Zuletzt wurden sie wohl bis wenig später als vor 12 000 Jahren aufgesucht. Danach geriet die großartige Tradition der Höhlenmalereien und -gravuren nach mehr als 20 000 Jahren in Vergessenheit (Karte 7). Wir können diese Veränderung gut an einer spanischen Höhle mit 29 Siedlungsschichten nachvollziehen. Genutzt wurde sie von Menschen, die auch in Altamira gesungen und getanzt haben könnten. Die Rede ist von der kleinen Höhle von La Riera, die 25 Kilometer westlich von dem großen Felsheiligtum entfernt liegt.5 Vor 23 000 Jahren kamen Steinbock- und Rothirschjäger hierher, von wo aus sie auf eine baumlose Landschaft blickten. Einer der Ausgräber der Höhle,

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Lawrence Straus, glaubt, dass die flechtwerkartigen Symbole an den Höhlenwänden die starken Netze zeigen, mit denen die Jäger Hinterhalte für Steinböcke einrichteten. Rund 5000 Jahre später – zu einem Zeitpunkt, als die Malereien und Rituale von Altamira längst in Vergessenheit geraten waren – hatte sich diese Landschaft nun bereits deutlich verändert. Jetzt verbargen Birken und Kiefern den Höhleneingang. Die Menschen nutzten mittlerweile vermehrt die Atlantikküste als Nahrungsquelle, an der sie in großer Zahl Napfschnecken, Seeigel und andere Schalentiere sammelten. Auch stellten sie von den Felsen aus Meerbrassen mit Speeren nach. Nach wie vor wurde auch gejagt, allerdings eher Hirsche und Vögel, denen einzelne Jäger bewaffnet mit Pfeil und Bogen nachstellten. Zudem ernährten sich die Besucher der Höhle von La Riera nunmehr überwiegend von wilden Sämereien und Wurzeln. Im Laufe der folgenden 7000 Jahre stieg der Spiegel des Atlantiks rapide, bis die Küste nur noch wenig mehr als zwei Kilometer von der Höhle entfernt lag. Abermals passten die Bewohner von La Riera sich an – diesmal, indem sie verstärkt Napfschnecken und andere Weichtiere verzehrten. Im Höhleninneren entstand ein großer Abfallhaufen – eine stinkende Masse verrottender Tierknochen, Fischgräten, fortgeworfener Muscheln und Schneckengehäuse. Wir können uns Frauen in Lederkleidung vorstellen, die mit groben Steinmeißeln haufenweise Napfschnecken von den Steinen schlugen. Nachdem sie Hunderte von Mollusken in Rothirschhäuten zur Höhle getragen hatten, entnahmen sie dort das Fleisch und warfen die leeren Gehäuse auf den Abfallhaufen. Im Laufe von Generationen türmten sich die Napfschneckenreste höher und höher auf, zumal die Populationen wuchsen und sich die Sammelaktivitäten dementsprechend an der Küste verstärkten. Schließlich zogen die Besucher an einen anderen Ort um, weil der Abfallhaufen in der Höhle zu groß geworden war und diese nicht länger eine behagliche Unterkunft darstellte. Im Großen und Ganzen fanden anderenorts vergleichbare Veränderungen statt, da die Ausläufer der Pyrenäen und Kantabrien mit ihren zahlreichen Höhlen beliebte Siedlungsstätten waren. In der Ortschaft von Mas d’Azil im Departement Ariège befindet sich eine große Höhle, in der sich die Arize – an deren Ufern die Menschen ihre Lager aufschlugen – einen Weg durch eine Kalksteinwand bahnte und dadurch einen Tunnel bildete. Hier und in anderen Höhlen der Umgebung schufen die Menschen einige der schönsten uns bekannten Werke der Cro-Magnon-Kunst: Pferde, Steinböcke und Wasservögel. Die Ablagerungen von Mas d’Azil sind

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voller exotischer Weichtierschalen und Seefischgräten, die die von weither kommenden Menschen hierher brachten. Während die Eiszeit ihren letzten Atemzug tat, befand sich hier ein wichtiges zeremonielles Zentrum, und noch lange nach der Blütezeit der eiszeitlichen Kunst blieb die Region ein vorübergehender Lagerplatz. Doch dann, vor 11 000 Jahren, interessierte sich niemand mehr für die nahe gelegenen bemalten Höhlenwände. Die Menschen lagerten nun an der Arize, um dort zu fischen. Wie ihre Zeitgenossen aus La Riera verwendeten sie Fischspeere, diesmal flache Harpunen aus Geweih, denen die Raffinesse früherer Fanggeräte fehlte (Abb. 27). Die obersten Schichten der Lager von Mas d’Azil, gelegen am Ufer gegenüber den Höhlen, lieferten uns jedoch nicht nur solche flachen Geweihharpunen, sondern auch mehr als 1500 bemalte, mit Punkten und anderen Zeichen verzierte Kiesel, die der französische Archäologe Claude Courand neben 500 weiteren von anderen Fundorten in Frankreich, Italien und Spanien studierte. Dabei identifizierte er 16 Zeichen und versuchte vergeblich, die Bedeutung der Kombinationen von bis zu vier Punkten zu entschlüsseln. Waren dies Zahlen oder, wie Courand vermutet, Aufzeichnungen der Mondphasen? Wir werden es nie erfahren, aber auf jeden Fall unterscheiden sich diese Zeichen ganz erheblich von den Bildern in den Höhlen.6 Über einen sehr viel längeren Zeitraum hinweg – von vor 41 000 Jahren bis 900 Jahre vor unserer Zeit – wurde die Höhle von El Mirón in den Felsen von Monte Pando am äußeren Rand der spanischen Kordilleren westlich von La Riera besucht. Sowohl Neandertaler als auch frühe Cro-Magnon-Menschen verweilten hier, ebenso die Jäger des Magdalénien und spätere Gruppen. Die menschliche Besiedlung nahm nach dem letzten Kältemaximum an vielen Orten in dieser Region drastisch zu. Besonders stark besiedelt war El Mirón im Magdalénien vor zwischen 17 000 und 12 000 Jahren während einer Periode starker Klimaschwankungen und regelmäßiger Erwärmungen. Die Menschen jagten vornehmlich Steinböcke im benachbarten Hochland und manchmal eher in Niederunabb. 27: Eine azilienzeitliche harpune.

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gen heimische Tiere wie Rothirsche. Sie fischten in den Flüssen Lachse und Forellen und brachten Schalentiere aus dem gut einen Tagesmarsch entfernten Golf von Biskaya mit. Vor 12 000 Jahren begannen die Waldflächen sich auszudehnen, und in Wäldern lebende Arten wie Rehe, Wildschweine und Gämsen wurden das bevorzugte Jagdwild. Es gab ständige Wanderungen zwischen der Küste und dem bergigen Binnenland – ein Muster, das für weite Teile Kantabriens Tausende von Jahren lang typisch ist.7 Die tief greifenden Veränderungen des Alltags, die in La Riera, Mas d’Azil, El Mirón und an anderen Orten dokumentiert sind, spiegeln einen im Laufe von Jahrtausenden vollzogenen langsamen Anpassungsprozess an eine neue Welt mit ganz anderen Landschaften. Ähnliche, wenn auch nicht identische Veränderungen, fanden in denselben Jahrtausenden in ganz Südeuropa statt. Doch trotz all dieser Anpassungen blieben die grundlegenden Gegebenheiten im Leben der Cro-Magnon-Menschen unverändert, obgleich sie nicht mehr in dunklen Höhlen mit den spirituellen Repräsentanten ihres Jagdwilds kommunizierten. Zwar mag es jetzt mehr Menschen in kleineren Jagdgebieten gegeben haben, aber Kooperation und der Austausch von Informationen waren noch wichtiger in den veränderten, stärker bewaldeten Lebensräumen, in denen unter anderem das Wild noch schwerer auszumachen war und das Überleben oft von Nussernten und dem Auffinden essbarer Sämereien abhing. Rund 800 Cro-Magnon-Generationen hatten Kraft von den übernatürlichen Mächten der Tiergeister bezogen, die hinter den mit eindrucksvollen Bestien und eher unspektakulärer Beute bemalten Höhlenwänden wohnten. Jetzt wurden andere Beutetiere bevorzugt; das Leben spielte sich vermehrt im Freien ab und Jagdaktivitäten wurden zunehmend einzelgängerische Unternehmungen, weshalb sich die Beziehung zwischen Jäger und Gejagtem veränderte. Legt man unsere Erkenntnisse über Jäger der jüngeren Vergangenheit zugrunde, dann dürften auch die späteren Cro-Magnon-Generationen ihre Beute immer noch als fühlende Wesen behandelt haben, zu denen sie sprachen und mit denen sie zu kommunizieren pflegten, aber die Art und Weise, wie sie es taten, hatte sich möglicherweise aufgrund der veränderten Umstände der Jagd gewandelt. Mit ihr ging eine ganz andere Form der Existenzsicherung einher, die nicht mehr auf dem Erbeuten großer Tiere und gemeinsamer Jagd basierte. Gleichzeitig war auch die „Leinwand“ eine andere geworden. Statt Geweih, Knochen und Felswänden benutzten die Menschen nun Holz und andere schneller vergängliche Materialien.

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Die gesamte Geschichte der Cro-Magnon-Menschen war von Wanderungen in sich ständig wandelnden Landschaften bestimmt. Als die Eiszeit endete und die Temperaturen stiegen, blieben einige Gruppen an ihren Standorten und passten sich problemlos an neue Wege der Nahrungsbeschaffung an. Sie wurden in gleichem Maße Jäger, Sammler und Fischer. Andere folgten ihrer traditionellen Beute in Richtung Norden in die immer noch weitläufigen Einöden ins Reich sich rasch zurückziehender Eisdecken und Schmelzwasserseen, die Tausende von Jahren später zur Ostsee werden sollten. Sie folgten aus geschützteren Gebieten heraus den Nebenflüssen der Loire, die sich nordwärts in Richtung Tundra erstreckte. Vor 17 000 Jahren begannen einige Cro-Magnon-Menschen in zuvor unbewohnte Regionen einzuwandern. Sie erreichten zuerst das obere Rheintal und zogen dann, vor 16 500 Jahren, flussabwärts ins heutige Belgien und Süddeutschland. Gut über hundert auf dem neuesten Stand der Wissenschaft durchgeführte 14 C-Datierungen dokumentieren diese Wanderungen und verraten uns, in welchem Tempo sich die ersten Jägergruppen gen Norden bewegten.8 Vor 16 000 Jahren hatten sie Nordfrankreich, Norddeutschland sowie Dänemark besiedelt. Weniger als 2000 Jahre später waren dann auch einige Gruppen nach Großbritannien vorgedrungen, das zu jener Zeit noch mit dem Kontinent verbunden war. Die höheren Temperaturen des Bölling-Stadials beschleunigten ihr Vorankommen. Wie Neuankömmlinge überall, so hinterließen auch in diesem Fall die ersten Siedler kaum Spuren ihrer Ankunft, bis auf einige Streufunde von Steinartefakten, die auf temporär aufgeschlagene, nur im Sommer bewohnte Jagdlager hindeuten. Während der kalten Monate kehrten die Jäger in Basislager an geschützteren Orten zurück. 14C-Datierungen ergaben, dass diese erste Phase der Besiedlung rund fünf Jahrhunderte andauerte. Vielleicht machten sich die Menschen in dieser Zeit mit dem Lebensraum vertraut und sammelten Informationen über Jagdwild, Trinkwasserquellen, Steinvorkommen für die Werkzeugherstellung und vieles mehr. Es war eine Zeit ständiger Temperaturschwankungen, sich rasch ändernder Lebensumstände auf den offenen Ebenen, die dafür sorgen konnten, dass Informationen von einem Jahr zum nächsten veraltet waren und sich das Errichten von Basislagern im Norden verzögerte. Genau das Gleiche dürfte sich Tausende von Jahren zuvor abgespielt haben, als die ersten Cro-Magnon-Menschen nach Europa einwanderten. Nach etwa 20 Generationen änderte sich das Besiedlungsmuster. Die Jägergruppen ließen sich jetzt dauerhaft in Jagdgebieten nieder, die sich in ehemals

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unzugänglichen Gegenden befanden, mittlerweile jedoch den Menschen und den sie ernährenden Tieren Lebensraum boten. Die milderen Temperaturen des Bölling-Interstadials gingen mit einem Bevölkerungswachstum einher, vielleicht auch mit einer gesunkenen Säuglingssterblichkeit, mit Sicherheit aber mit großer Mobilität. Die neuen Landflächen erstreckten sich bis weit in die Ferne. Vielleicht waren sie nicht immer einladend, aber ganz gewiss boten sie den Menschen, deren Vorfahren lange, harte Winter und häufig Hungerzeiten überstanden hatten, Nahrung und die Aussicht auf ein gutes Leben. Die Winter waren immer noch bitterkalt und gingen gelegentlich mit Nahrungsmangel einher, aber die tief verwurzelte Flexibilität der Jäger und Sammler sorgte dafür, dass sie ebenso wie das von ihnen begehrte Jagdwild in Richtung Norden zogen, angelockt von den besser bewässerten Landflächen. Vor 15 000 Jahren jagten Magdalénien-Gruppen in der Île-de-France und in anderen Gegenden des Pariser Beckens. Eine Fundstätte liegt in Pincevent nahe dem Zusammenfluss von Oise und Seine, wo einige Rentierjäger während der Bölling-Periode lagerten. Schätzungsweise fünf Familien stellten hier dicht gedrängt Zelte aus Rentierhäuten auf, von denen jedes seine eigene Feuerstelle besaß. Die Bewohner kehrten mit teilweise zerlegten Kadavern und vielen Geweihen zum Lager zurück, wo sie die Tiere dann gänzlich zerstückelten und unter den Familien aufteilten. Im Rahmen einer bemerkenswerten Forschungsleistung schaffte es der amerikanische Archäologe John Enloe, das rechte Vorderbein eines Rentieres von einer Feuerstelle dem linken Vorderbein desselben Tieres von einer anderen Feuerstelle zuzuordnen. Hierbei handelt es sich um eines der ersten dokumentierten Beispiele für das Aufteilen von Nahrung in der Geschichte, wobei dies ohnehin gängige Praxis in den Cro-Magnon-Gesellschaften gewesen sein dürfte, in denen das Teilen von Ressourcen ebenso wie Kooperation ein integraler Bestandteil des täglichen Lebens und des Risikomanagements war.9 Das Pariser Becken war unter anderem beliebt wegen seines feinkörnigen Feuersteins, der sich leicht in großen Knollen aus den Vorkommen der lokalen Flusstäler herausschlagen ließ. In Étiolles im Seinetal, ungefähr 40 Kilometer nördlich von Pincevent, verbrachte die Archäologin Nicole Pigeot Monate damit, Abschläge und Knollen von fünf Konzentrationen etwa 14 500 Jahre alter Feuersteinabfälle wieder zusammenzusetzen. Die Feuersteinknollen mit den wenigsten Fehlern lagen am dichtesten an den Feuerstellen, wo vermutlich die versiertesten Steinschläger ihren Platz hatten. Die nicht so fingerfertigen unter ihnen saßen – je nach Geschicklichkeitsgrad – entsprechend weiter vom wär-

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menden Feuer entfernt. Die ganz außen sitzenden Personen waren tatsächlich vollkommen ungeschickt. Étiolles lag in unmittelbarer Nähe der Feuersteinvorkommen, weshalb es haufenweise Steine zum Üben gab. An den meisten Orten wurde wirklich hochwertiger Feuerstein wesentlich bedachter und zum großen Teil von fähigen Steinschlägern verarbeitet.10 Die Landschaften des Nordens waren reiche Jagdgründe, wo sich eine verstreute Population von Pferden und Rentieren ernährte. Das Leben hier dürfte nie leicht gewesen sein, da es von den Rentierherden abhing, deren Zahl und Wanderrouten sich von einem Jahr zum anderen ändern konnten. Wie immer waren Informationen und Mobilität die Schlüssel zum Überleben, weshalb regelmäßige Kontakte zwischen weit voneinander entfernt lebenden Sippen bestanden und jede Gruppe gezwungen war, jedes Jahr gewaltige Strecken zurückzulegen. Unsere einzige Möglichkeit, diese Praxis zu studieren, besteht in der Untersuchung exotischer Objekte, die an Fundplätzen jener Zeit geborgen werden konnten. So stammen beispielsweise in südbelgischen Höhlen gefundene Weichtierschalen aus 150 beziehungsweise 350 Kilometern entfernt gelegenen geologischen Schichten bei Paris und dem Tal der Loire. Wie stets war Rangifer tarandus das Grundnahrungsmittel, insbesondere im Herbst, wenn die Tiere in Bestform waren. Die Jagd folgte dem bekannten Muster. Beispielsweise lauerte vor 14 600 Jahren eine Gruppe von Jägern im norddeutschen Ahrensburger Tunneltal nördlich von Hamburg einer Herde nordwärts ziehender Rentiere auf, die auf ihrem Weg zwischen zwei kleinen Gletscherrandseen hindurch mussten. Als Alfred Rust vor dem Zweiten Weltkrieg den in dieser Gegend gelegenen Fundplatz Meiendorf ausgrub, fand er in den Schlammschichten des Talbodens Tausende von Rentierknochen sowie die steinernen Projektilspitzen, mit denen die Herde aus dem Hinterhalt beschossen worden war. Viele der eingekesselten und verletzten Rentiere waren in Panik in den See gelaufen. Während die Jäger die Tiere auf dem Land getötet und zerlegt hatten, ließen sie die unerreichbaren Kadaver im Wasser treibend zurück, wo diese schließlich versanken. Meiendorf liefert ein eindrucksvolles Beispiel für die Effizienz der Speerschleudern, die einer relativ kleinen Gruppe von Jägern halfen, innerhalb weniger Minuten gut über ein Dutzend Rentiere zu erlegen.11 Die hügelige Landschaft des mitteleuropäischen Westens war während des Bölling-Interstadials immer noch recht offen. Auch hier zogen jagende Grup-

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pen über große Distanzen und tauschten untereinander mehr als 100 Kilometer von den Vorkommen entfernt Feuerstein, Bernstein, Gagat und andere Güter. Familienverbände fanden sich hier ein, um im Herbst, wenn die Tiere wohlgenährt waren, in den Flusstälern gemeinsam Jagd auf Pferde zu machen. Zwei Fundstätten – Gönnersdorf und Andernach – liegen durch den Mittelrhein getrennt einander gegenüber. Sie waren in der Zeit vor etwa 13 500 Jahren bewohnt. Die Menschen der zuerst genannten Stätte lebten in soliden Winterunterkünften, die von dicken Holzpfosten getragen wurden und mit Häuten gedeckt waren. Womöglich fanden sich bis zu 100 Personen im Winter in diesem Lager ein, in praktischer Nähe der am Fluss grasenden Pferdeherden. Gönnersdorf ist berühmt für seine Gravuren, die sich auf mehr als 1500 Schieferplatten verteilen und mit Darstellungen von Tieren und Frauen verziert sind. Die Künstler verewigten Pferde und Mammuts in naturalistischer Perfektion, bis hin zu Details von Augen und Schweifen. Gelegentlich bildeten sie auch Vögel, Seehunde, Wollnashörner und Löwen ab. Die gravierten Frauendarstellungen lassen dagegen den Naturalismus der Tiere vermissen. Manchmal wurden ganze Frauenkörper dargestellt, in anderen Fällen nur abstrakte Bilder von Rücken und Gesäßen, ja sogar Gruppen in einer Reihe angeordneter Frauen, wodurch der Eindruck des Tanzens entsteht (Abb. 28). Ähnlich abstrakte Darstellungen von Frauenkörpern finden wir auch an anderen Fundorten, aber nie in so großer Zahl wie in Gönnersdorf. Warum Frauen? Wie die Venusstatuetten aus früheren Zeiten, bleibt auch dies ein Geheimnis der CroMagnon-Menschen.12 Selbst während des Bölling-Interstadials waren die Umweltbedingungen im Norden hart, wenngleich die Sommer länger und etwas wärmer waren. Zeitweise näherten sich die Temperaturen sogar den heutigen. Doch urplötzlich, vor 12 900 Jahren, fielen sie rapide, vielleicht im Laufe eines Jahrhunderts oder weniger, infolge eines 1000 Jahre anhaltenden Kälteeinbruchs, der Europa ein weiteres Mal fast glazialen Bedingungen unterwarf – eine Phase, die als Jüngere Dryaszeit bezeichnet wird (benannt nach dem lateinischen Namen einer arktisch-alpinen Pflanze). Verursacht wurde dieser drastische Temperaturabfall möglicherweise dadurch, dass der atlantische Golfstrom durch einen gewaltigen Zustrom von Gletscherschmelzwasser aus dem riesigen Laurentidischen Eisschild im Norden Kanadas zum Erliegen kam. Das Waldland ging zurück, die Tundra breitete sich aus, und Gletscher waren über ein Jahrtausend wieder auf dem Vormarsch. Trotzdem hielt sich eine dünn gesäte Population von Jägergruppen in Basislagern, die in großen Flusstälern wie dem der Elbe

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abb. 28: in stein gravierte Figuren aus gönnersdorf.

lagen. Im Frühjahr, vor allem jedoch im Spätsommer und Herbst, zogen sie in kleine Tunneltäler wie dem von Ahrensburg, wo sie Jagd auf die ziehenden Herden machten. Der Stellmoorhügel ist eine kleine Erhebung, die in das Ahrensburger Tunneltal hineinragt und einen ausgezeichneten Blick auf die umliegende Landschaft bietet, die zu jener Zeit offene Tundra war.13 Ein länglicher, schmaler See bedeckte einen Großteil der Talsohle – ein Platz, an dem die Jäger vor rund

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10 800 Jahren häufig aus Hinterhalten Jagd auf Rentiere machten. Als Alfred Rust in den 1930er Jahren in den wasserüberspülten Ablagerungen des Sees grub, legte er nicht nur die Opfer der Jagd frei, sondern auch die Waffen (darunter steinspitzenbesetzte hölzerne Pfeile), mit denen auf sie geschossen worden war. Einige der Rentierknochen wiesen von Feuersteinspitzen zugefügte Wunden auf, andere wurden von Holzpfeilen selbst verursacht. Bodil Bratlund studierte diese Verletzungen und fand heraus, dass die Jäger aus dem Hinterhalt schräg von vorne, von der Seite sowie schräg von hinten auf die Tiere zielten. Einige der Schüsse wurden auch direkt von hinten und oben abgegeben und trafen fast ausnahmslos Nacken und Schultern, was nahelegt, dass die Rentiere gerade im See schwammen. Die meisten Verletzungen waren nicht unmittelbar tödlich oder setzten die Rentiere sofort außer Gefecht. (Nur ein Drittel der Schüsse tötete die Tiere sofort.) Alle Wunden waren frisch, also arbeiteten die Jäger wohl zusammen, indem einer ein Tier verwundete, während ein anderer es schließlich tötete. Sobald die Jagd vorbei war, zerlegten die Jäger ihre Beute am Seeufer. Die Vorderläufe und der Rücken der ca. 50 im Laufe mehrerer Jagden an diesem See getöteten Rentiere wurden vor Ort verzehrt. Man entfernte Geweihe, Häute und Sehnen sämtlicher teilweise zerlegter Tiere und ließ alles andere zurück. Wir können davon ausgehen, dass die Menschen schnell und effizient arbeiteten, indem sie die Geweihe abtrennten, sie anschließend zerteilten und nur die ausgesucht langen Stücke zur Werkzeugherstellung behielten. Sie durchschnitten an jedem Knöchelgelenk die Haut und zogen diese rasch von den Kadavern ab, um sie zum Lager zu transportieren. Manchmal wurden Vorder- und Hinterbeine ihres Fleisches wegen zur Seite gelegt, mehr Zeit jedoch widmeten die Menschen Nacken und Rückgrat jedes Tieres, denen sie die vielseitig verwendbaren Sehnen entnahmen. Die erhalten gebliebenen Knochen von Stellmoor repräsentieren nur einen winzigen Teil der Tiere, die hier über Generationen hinweg getötet wurden. Die genaueste Schätzung der Gesamtausbeute beläuft sich auf 1300 Tiere aller Altersgruppen. Die Jagden dürften im September und Oktober stattgefunden haben. Um diese Zeit zogen lokale Gruppen an strategisch günstige Plätze, nachdem sie im Sommer an benachbarten Orten Gänsen und Schwänen nachgestellt hatten. Während des restlichen Jahres jagten sie opportunistisch, auch Pferde. Stellmoor ist der einzige Fundort im Norden, bei dem wir sicher sind, dass Pfeil und Bogen zum Einsatz kamen. Die Ausgrabungen förderten ausschließlich Pfeile aus Kiefernholz zutage, was insofern interessant ist, als Holz in der

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offenen, baumlosen Landschaft rar gewesen sein muss. Obwohl Pfeil und Bogen aufgrund ihrer überlegenen Reichweite einen wichtigen Faktor bei der Besiedlung der offenen Landschaften im Norden dargestellt haben könnten, müssen die Jagdgebiete ihrer Benutzer auch bewaldete Regionen eingeschlossen haben, die ihnen das Holz für diese Waffen lieferten. Bis zum jetzigen Zeitpunkt war das Klima insgesamt kalt gewesen, aber nun setzte die Erwärmung ein. Die nordwesteuropäische Landschaft veränderte sich gravierend, als die nördlichen Eisschilde zurückwichen und der Meeresspiegel stieg. Die Nordsee war eine tief liegende Marschlandfläche, in der die Vorgängerin der Elbe gen Norden in die tiefen Gewässer der Norwegischen Rinne floss. Rhein, Seine und Themse flossen in eine breite Einmündung zwischen dem heutigen England und Frankreich, den heutigen Ärmelkanal. Als die milderen Temperaturen am Ende der Jüngeren Dryaszeit vor etwa 11 000 Jahren zurückkehrten, breitete sich die menschliche Besiedlung in Richtung Norden aus – in eine dynamische, sich rasch verändernde Welt flacher Flussmündungen, Wattenmeere und Sandbänke mit unglaublichem Artenreichtum. Flache Binnenreviere und geschützte kleine Buchten beherbergten eine Fülle von Fischen, Unmengen an Vögeln sowie Schalentiere aller Art. Außerdem konnte man pflanzliche Nahrung wie genießbaren Seetang sammeln. Dies waren völlig andere Lebensräume als die der Tundra. Familienverbände konnten sich nun monatelang an einem Ort niederlassen, ja sogar dauerhaft bleiben. Leider zerstörte der gestiegene Meeresspiegel die Spuren vieler Siedlergemeinschaften, die einst an den niedrig gelegenen Küsten des Nordens lebten. Aus der Nordsee ausgebaggerte Artefakte bestätigen, dass Jägergruppen dort lebten, wo sich einst trockenes Land befand. Bedauerlicherweise besitzen wir nur Momentaufnahmen der frühesten hier siedelnden Menschen. Beispielsweise wissen wir, dass eine Gruppe vor 10 500 Jahren die Küsten eines Gletscherrandsees in Star Carr im Nordosten Englands aufsuchte und sich während des Frühlings und Sommeranfangs hier aufhielt, um Hirschen in den nahen Birkenwäldern nachzustellen. Mehrfach brannte sie das vor dem Wasser stehende Schilfgras ab, um eine bessere Sicht und Anlegeplätze für ihre Einbäume, von denen ein Paddel bis heute existiert, zu erhalten.14 Die Menschen von Star Carr lebten auf etwas höherem Terrain, wohingegen ihre an der Ostseeküste lebenden entfernten Verwandten desselben Kulturkreises nie sicher sein konnten, ob ihre Lager längerfristig vor dem steigenden Wasser sicher waren. Die Trichtermündungen wurden innerhalb weniger Tage voll-

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gespült, um für immer zu verschwinden. Aus friedlichen Bächen wurden flache Seen, Sandstrände konnten über Nacht verschwinden. Vor 10 000 Jahren rückten Eichenwälder bis an die Küsten heran, doch konnte ein von einem Sturm verursachtes, einige Tage anhaltendes Hochwasser ihre Wurzeln mit Salzwasser umspülen und so selbst große Bäume eingehen lassen. Ein stärkerer Kontrast zur Tundra ist kaum vorstellbar; doch für diejenigen, die in den Gewässern dieses Lebensraums fischten, war er wirklich ein Paradies ...15 In einer ruhigen Sommernacht gleitet der verwitterte Einbaum still über die flache Bucht. Der Mann sitzt am Bug; seine Frau paddelt am Heck. Sie tragen leichte Anoraks aus Vogelbälgern und Hosen, da es auf dem Wasser kühl ist. Ihr Paddel erzeugt nicht mal ein im Mondlicht sichtbares Kräuseln des Wassers, als sie anhalten, um jede ihre Weidenreusen zu kontrollieren. Der Mann lehnt sich aus dem Einbaum und ergreift einen tunnelartigen Korb, dessen Inhalt silbrig vor dem Hintergrund des dunklen Wassers zappelt, als er ihn schnell heraushebt und ins Boot entleert. Ein Strom aus Aalen ergießt sich zu seinen Füßen. Kurze Zeit später kehrt das Paar voll beladen ans Ufer zurück. Sie ziehen den Einbaum, in dem sich die glitschige Beute windet, auf den Kiesstrand unterhalb des Lagers und ergreifen einen Aal nach dem anderen, töten die Fische mit einem kurzen Schlag und nehmen sie mit einem scharfen Feuersteinmesser aus. Als der Mond untergeht, hängen die Aale schon über ihren Räucherofen, wo sie bleiben, bis sie so trocken sind wie Stöcke ... Einbäume, hölzerne Fischspeere, Netze, Reusen – in den überspülten Siedlungen der Ostseeküste hat sich die ganze Palette der einfachen, von den Küstenfischern benutzten Ausrüstungsgegenstände erhalten – einiges davon im Flachwasser. Vor allem zwei Waffen waren unerlässlich: der widerhakenbesetzte Fischspeer, oft mit doppelter oder dreifacher Spitze, sowie Pfeil und Bogen, die nicht nur bei der Jagd auf Hirsche und Auerochsen zum Einsatz kamen, sondern mit denen auch Vögel im Flug erbeutet wurden. Die Jäger verwendeten steinspitzenbesetzte Pfeile in verschiedenen Ausführungen, die in Köchern transportiert wurden und weniger wogen als ein einzelner Speer und eine Speerschleuder. Der Bogenschütze kauert sich in Windrichtung nieder, um absolut ruhig im Schilf zu verharren. Er beobachtet die gerade auf dem flachen See landenden Zugvögel, die sich wachsam und schnell dicht über dem Boden bewegen. Mit

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Mikrolithen – ein weiteres Schweizer Messer wenn es etwas gibt, worüber sich sämtliche archäologen in Bezug auf die werkzeuge der cro-magnon-menschen einig sind, dann ist es die tatsache, dass diese zunehmend filigraner wurden, insbesondere nach dem letzten kältemaximum vor etwa 18 000 Jahren. dies war eine logische weiterentwicklung der „schweizer-messertechnologie“ (siehe kasten kapitel 8). Es wurden nun immer feinere und effizientere klingenrohlinge produziert und weiterverarbeitet. die kleineren steinwerkzeuge waren hauptsächlich, aber nicht ausschließlich scharfkantige klingen mit steil retuschierten rücken, die höchstwahrscheinlich als steinerne widerhaken an der spitze von speeren aus geweih, knochen und holz befestigt wurden. Einige von ihnen waren so winzig, dass manche Experten glauben, die cro-magnon-menschen hätten schon früher als nach dem letzten kältemaximum pfeil und Bogen benutzt, aber der handfeste Beweis hierfür steht noch aus. höchstwahrscheinlich verwendeten sie leichte speere, die mit speerschleudern geworfen wurden – ideale waffen für die Jagd auf pferde, rentiere und andere herdentiere, denen im offenen gelände nachgestellt wurde. wir können mehr oder weniger sicher sein, dass pfeil und Bogen erstmals südlich der pyrenäen gegen Ende der Eiszeit auftauchten, doch alles, was wir über den Einsatz dieser waffe wissen, leiten wir aus kleinen gestielten steinspitzen ab, die höchstwahrscheinlich aufgrund ihres geringen gewichts als pfeilbewehrung dienten. die erste absolut gesicherte Verwendung von pfeil und Bogen ist für den rentier-tötungsplatz von stellmoor vor 10 800 Jahren nachgewiesen, wo man pfeile aus kiefernholz fand. Zu jener Zeit wurde der Einsatz dieser waffe unter umständen schon gebräuchlicher. sowohl für die Fertigung der Bögen als auch die der pfeile benötigt man qualitativ hochwertiges holz mit geradem Faserverlauf, das in den offenen landschaften der periode vor der Jüngeren dryaszeit ausgesprochen selten vorkam. aus diesem grund ist es wahrscheinlich, dass sich Bögen erst dann durchsetzten, als sich ab 10 000 Jahren vor heute wälder über Europa ausbreiteten. aufgrund ihrer größeren reichweite und hohen geschwindigkeit eigneten sich mit dem Bogen geschossene pfeile ideal für die Jagd im wald und vor allem auf fliegende Vögel, wofür schnelligkeit, Zielgenauigkeit und eine gute durchschlagskraft ein muss waren. während viele der pfeile aus stellmoor vollständig aus holz bestanden, waren andere mit kleinen steinspitzen versehen, die in den folgenden Jahrtausenden die bevorzugten projektilspitzen werden sollten. Bei den als mikrolithen (griech. für „kleine steine“) bezeichneten steingeräten handelt es sich um schmale, sehr kleine werkzeuge, die aus einer klinge gefertigt wurden, indem man diese zu immer stärker geometrisch geformten artefakten verschiedener größe und Form weiterverarbeitete. mit einem schlag wurde die klinge zunächst vom kern getrennt; dort, wo der schlag auf den kern trifft, ist die abgetrennte klinge dann dicker. danach formte der steinschläger die spitze und die seiten der miniaturklinge, um den widerhaken oder ein anderes von ihm gewünschtes werkzeug hieraus zu

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produzieren. hatte er zum Beispiel eine schlanke klinge mit einer stumpfen seite zum Befestigen und einer scharfen seite hergestellt, kerbte er die klinge ein und brach sie an einer seite durch. im handumdrehen konnte das dickere Ende entsorgt und der mikrolith an der waffe befestigt werden. mikrolithen gab es in vielen Formen: kleine rückenmesser, die sicherlich als prototypen früherer Zeit für die mikrolithen dienten, sowie unter anderem dreieckige und trapezförmige artefakte. sie fungierten als widerhaken an speeren und pfeilen, waren nützlich als feine ahlen zum nähen und konnten als teile von werkzeugen zur holzbearbeitung eingesetzt werden. wie die gravette-spitzen der Vergangenheit waren sie mehrzweckartefakte, die sich in kurzer Zeit anfertigen ließen und für alle möglichen aufgaben zu gebrauchen waren (abb. 29). auf jeden Fall sorgten die mikrolithen dafür, dass die mit ihnen ausgerüsteten waffen tödlich waren. anfang des 20. Jahrhunderts jagte der Forscher saxon pope von der university of california zusammen mit ishi, dem letzten Yahi-indianer, in nordkalifornien, um uralte Jagdmethoden ausschließlich mit traditionellen waffen zu erproben. pope stellte fest, dass steinspitzen gegen hirsche und Vögel wirkungsvoller sind als mit den schärferen stahlspitzen versehene pfeile.16 Eine steinspitze dringt schräg in das Fleisch der Beute ein, zerschneidet die haut und verletzt stark die organe, mit denen sie in kontakt kommt. wenn man eine zweite Vorrichtung wie einen widerhaken hinzufügt, reißt der pfeil eine wesentlich größere wunde. die effektivsten widerhaken überhaupt fügen quer liegende schnittwunden zu – vor allem, wenn mehrere widerhaken an einem schaft angebracht sind. die mikrolithen stellen die letzte Verbesserung der klingentechnologie der ausgehenden Eiszeit dar, die auf dem prinzip des schweizer messers basierte und dieses in Form winziger artefakte bis zur Vollendung weitentwickelte. die letzten Belege für diese technologie erscheinen vor rund 10 000 Jahren, als Jäger überall in Europa begannen, ihre klingen an zwei seiten einzukerben, um trapezförmige mikrolithen aus ihnen herzustellen, die quer auf die pfeilspitze gesteckt wurden. wenn man bedenkt, dass menschen überall auf dem ganzen kontinent die trapezförmige pfeilspitze zur selben Zeit zu nutzen begannen, muss man davon ausgehen, dass diese eine waffe von verheerender wirkung war, die sich auch gut zum Jagen fliegender Vögel eignete.

vollkommener Leichtigkeit und ganz ohne Eile legt der junge Mann an und schießt. Ein Vogel fällt tot in Nähe seiner Füße zu Boden, dann ein weiterer und noch einer ... Ein paar von ihnen fallen ins Wasser und treiben dort reglos, bis der Wind sie ans Ufer spült. Der Jäger verwundet zwei Vögel, die hilflos im Schilfrohr flattern. Zwei schnelle Schläge mit einem Holzknüppel, und er kann sie seinem Fang hinzugesellen. Seine Schwester paddelt in einem kleinen Einbaum auf den See und sammelt die außer Reichweite treibende Beute ein ...

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abb. 29: mikrolithen und ihre herstellung.

Mit einem Speer kann man keinen Vogel erlegen, wohingegen ein durchschnittlich geübter Bogenschütze eine Gans vom Himmel holen oder sie zumindest mit einem schnellen Schuss außer Gefecht setzen konnte, um das abgestürzte Tier dann am Boden zu töten. Die Wirkung des Pfeils hing dabei von seiner winzigen, fein gearbeiteten Spitze ab. Sie war so scharf, dass sie selbst Fell und dicke Haut durchdringen konnte. An den nördlichen Küsten war das Nahrungsangebot so reich, dass die Bevölkerungszahlen kontinuierlich stiegen, und zwar in solchem Ausmaß, dass mehr

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Menschen in bereits intensiv genutzte Jagdgebiete drängten. Die Jagdterritorien schrumpften und die Konkurrenz um Schalentiere und Fischgründe, um Pflanzen und Jagdgebiete nahm zu. Unweigerlich muss dieser Wettbewerb etwa 9000 Jahren vor unserer Zeit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt haben. In weiten Teilen Europas lebten die Nachfahren der früheren Cro-MagnonGemeinschaften in dichten Wäldern, die gelegentlich von Lichtungen, Seen und Marschregionen unterbrochen wurden. Kein Jagdverband zählte mehr als einige wenige Familien, die ihre Existenz teilweise durch die Jagd auf Waldtiere wie Hirsche sowie manchmal ein Wildschwein oder einen Auerochsen sicherten. Ihre Nahrungsgrundlage bildeten kleine Tiere wie Kaninchen, andere Nager und Vögel. Vor allem jedoch ernährten sie sich von wild wachsender Pflanzennahrung: Wurzelgemüse, Nüsse, Früchte und essbare Gräser. Wenn Sie die Wälder jener Zeit betreten hätten, wären Sie in einer dunklen Welt aus hohen Bäumen und oft dichtem Unterholz gelandet, in der es nur wenige Hinweise auf dort lebende Menschen gab. Sie hätten sich jedoch sicher sein können, dass stumme Beobachter Sie aus geringer Entfernung genau im Visier hatten. Vielleicht wäre Ihnen der beißende Geruch des zu einem Lager gehörenden Holzfeuers in die Nase gestiegen, und Sie hätten Hundegebell gehört; das deutlichste Anzeichen für eine nahe gelegene Siedlung aber wäre wohl ein monotones Schabegeräusch gewesen – das Zermahlen wilder Sämereien auf einem Reibstein. Diese Welt unterschied sich grundlegend von der Tundra oder der Welt der Jäger und Sammler im Norden Spaniens. Hier bestimmten Pflanzen die Lebensweise, und Frauen verbrachten jeden Tag Stunden damit, Samen zu zermahlen und Essen zuzubereiten. Sie können sich vorstellen, wie eine dieser Frauen vor einem flachen, in der Mitte leicht angerauten Stein kniet. Die Körner sammeln sich unter dem Mahlstein und verwandeln sich unter ihren geübten Händen nach und nach in ein feines Mehl. Die Frau fügt weitere Sämereien hinzu und wendet den Mahlstein, um eine gleichmäßige Konsistenz zu erhalten. Die Welt des Waldes war zwar eine andere, aber die Gesetze des Überlebens blieben die gleichen: Die Monate der Fülle lagen im Sommer und Herbst. Während der langen kalten Monate des Winters und des beginnenden Frühlings schien die Welt zu schlafen, und dies war häufig eine Zeit des Hungerns. Einige Gruppen lebten an malerischen Orten. Auf der anderen Seite Europas, jenseits der Ostsee, windet sich die Donau gemächlich durch die hügelige

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Waldlandschaft. Dann durchfließt sie das von steilen Felsen geprägte Eiserne Tor an der serbisch-rumänischen Grenze, wo sie sich ihren Weg durch die Karpaten bahnt. Während der letzten Vergletscherung stellten kleine Jägergruppen hier Steinböcken nach und fingen Lachse an einem der wenigen Orte, an denen die Wälder das letzte Kältemaximum überlebten. Im Zuge der Erwärmung wurde der Baumbestand dichter; es fiel mehr Regen und das Nahrungsangebot wurde üppiger. Zunächst überwinterten die Menschen hier, doch dann blieben sie immer länger, wie wir vom Fundplatz Lepenski Vir im Zentrum des Eisernen Tores wissen, an dem die Menschen vor 8500 Jahren das ganze Jahr über siedelten. Hier zogen im Frühling gewaltige Störe (einige bis zu neun Metern lang) stromaufwärts. Auch gab es hier Wild in Hülle und Fülle, ebenso wie genießbare Pflanzen, die nur gepflückt werden mussten. Die Siedler errichteten trapezförmige Hütten mit sorgfältig ausgekleideten Böden und Feuerstellen in der Mitte. Pfade zwischen den Unterkünften führten zu einem freien Platz im Herzen der Siedlung am Fluss. Das Gewässer war nicht nur ursächlich für die Niederlassung an sich, sondern auch für ihr komplexes Spektrum an Ritualen, von dem die überall im Dorf gefundenen Steinskulpturen zeugen. Meist handelt es sich um Steine, die zu Porträts umgearbeitet wurden, in denen manchmal – so erscheint es zumindest – Merkmale von Menschen und Fischen vereint wurden. Die Porträts lagen in den Hausfundamenten, als ob sie die Bewohner mit dem vor ihrer Siedlung fließenden großen Fluss und seinen lebenspendenden Eigenschaften verbinden sollten.17 Beinahe 6000 Jahre waren seit der Eiszeit vergangen, aber die Nachkommen der Rentierjäger lebten immer noch vom Jagen und Sammeln, wenngleich in einer ganz anderen Welt. Ihr Leben hatte sich grundlegend verändert und war vielleicht einfacher geworden, aber die menschliche Existenz war immer noch hart und verzieh keine Fehler – selbst den Menschen nicht, die an so bevorzugten Orten wie Lepenski Vir lebten. Auch hier weisen die Knochen der Toten Merkmale von gelegentlicher Mangelernährung und Hungerzeiten auf. Die Menschen überlebten, weil sie mit ihrer Umwelt bis ins kleinste Detail vertraut waren, weil sie sich aufeinander verlassen konnten und auch aufgrund ihres reichen zeremoniell-kultischen Lebens und ihres Glaubens. In dieser Hinsicht hatte sich nichts geändert, denn eine der wichtigsten Hinterlassenschaften der Cro-Magnon-Menschen war ihre Fähigkeit, die Welt des Unfassbaren und die materielle Welt mit der menschlichen Existenz in Einklang zu bringen.

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Das Leben sollte sich grundlegend verändern. Die Europäer wussten nicht, dass die 1000 Jahre der Jüngeren Dryaszeit nach langen Zeiten feuchteren Klimas verheerende Dürren im Nahen Osten verursacht hatten.18 Die Wälder gingen zurück, ebenso die Erträge der herbstlichen Nussernte; die Menschen griffen auf essbare Sämereien und andere weniger beliebte Nahrungsquellen zurück. Wenn die natürlich vorkommenden Samenstände der Gräser vergingen, säten die Menschen die Samen wieder aus, um die natürlichen Erträge zu steigern – ein naheliegendes Vorgehen, um die traditionelle Form der Nahrungsbeschaffung zu sichern. Die Landwirtschaft war nie eine spektakuläre Erfindung, auch wenn die Menschen im Nahen Osten und in der südöstlichen Türkei innerhalb weniger Generationen vollkommen vom Ackerbau abhängig wurden. Als die niederschlagsreichere Witterung gegen Ende der Jüngeren Dryaszeit zurückkehrte, breitete sich diese neue Form der Bewirtschaftung wie ein Lauffeuer über Anatolien ins südöstliche Europa aus. Bereits vor 8000 Jahren war die Landwirtschaft hier fest etabliert. Nur fünf Jahrhunderte später tauchten schließlich bäuerliche Gemeinschaften in der Ungarischen Tiefebene auf, deren Nachfahren schnell ganz Mitteleuropa und die Ukraine besiedelten. Innerhalb weniger Jahrhunderte hatten sich die Nachkommen der ersten Landwirtschaft betreibenden Siedler – die von den Archäologen nach ihren mit geschwungenen Linien verzierten Tongefäßen Linearbandkeramiker (LBK) getauft wurden – in Richtung Nordwesten über ganz Europa ausgebreitet, wobei sie im Laufe einer Generation ca. 25 Kilometer vorrückten.19 So waren sie vor 7000 Jahren bereits bis in die heutigen Benelux-Länder vorgedrungen. Um jedes Dorf herum wurden kleine Flecken leichten, fruchtbaren Bodens gerodet, der zum großen Teil aus verwittertem Löss bestand, den die Winde der Eiszeit dorthin transportiert hatten. Die Bewohner ließen sich in der Nähe zuverlässiger Wasserquellen und freier Flächen zum Anbau von Emmer und Einkorn sowie Gerste nieder. Sobald die Erde ausgelaugt war, erschlossen sie in einiger Entfernung neues Ackerland. Die Menschen wohnten in Langhäusern aus lehmverputzten Flechtwerkwänden, die über zwölf Meter lang sein konnten. Das Hausinnere gliederte sich in drei Bereiche: Wohnbereich, Koch- und Essbereich, Speicher (Abb. 30). Die kleinen bäuerlichen Gemeinschaften waren Selbstversorger, die ihre Rinder in den umliegenden Waldgebieten und ihre Schweine im Unterholz weiden ließen. Die Dörfer bestanden aus Familienverbänden und wiesen oft nicht mehr als ein Langhaus auf, doch gab es auch sehr viel größere Siedlungen.

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abb. 30: Ein dorf der linearbandkeramiker.

Überall, wo sich diese bäuerlichen Gemeinschaften ansiedelten, drängte sich der Wald bis dicht an die Flusstäler und das Ackerland. Es waren dunkle und geheimnisvolle Orte. In den tiefen Schatten verfaulten die Stämme und Wurzeln umgestürzter Bäume auf dem Waldboden, der abgesehen von den gelegentlichen Trampelpfaden des Wildes keine Wege besaß. Teppiche aus leuchtend grünem Moos bedeckten den Boden, umgaben Weiher und tiefe Sümpfe mit überschwemmter Vegetation. Hier und da drang Sonnenlicht durch die verschlungenen Äste und beschien grasende Wisente, Hirsche und Elche, die lautlos verschwanden, wenn sie einen sich nähernden Jäger bemerkten. Als die Bauern hier eintrafen, reichte der unberührte und ungestörte Urwald bis zum Horizont, außer dort, wo die heimischen Populationen das Unterholz angezündet hatten, um an den neuen Schösslingen äsendes Wild anzulocken. Nur ein paar tausend Jäger lebten im Herzen des Waldes. Sie waren scheu und vorsichtig, bewaffnet mit Pfeil und Bogen und im Besitz genauer Kenntnisse über Waldpflanzen wie Moosbeeren, Pilze und Bärlauch. Wie die Neandertaler Tausende von Jahren zuvor waren auch sie stille Menschen. Wir können uns vorstellen, wie sie im Wechsel der Jahreszeiten aus dem Schatten heraus die Männer und Frauen beim Roden beobachten, wobei sie darauf achten, außerhalb der Reichweite des beißenden Rauchs zu bleiben, wenn die Neuankömmlinge im Herbst das trockene Gras und Unterholz anzünden. Die „Ureinwohner“ verfolgten Rinder und Schweine, die am Waldrand nach Futter

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suchten, und verschwanden lautlos, sobald die Bauern anfingen, Eicheln von den großen Eichen am Rande des Tals zu ernten. Manchmal begegneten sich Jäger und Bauer, zunächst skeptisch. Vielleicht wurde Honig gegen Getreide getauscht oder Emmermehl gegen Elchfelle. Gelegentlich gerieten beide Seiten in Streit, und Pfeile flogen, wenn ein neues Dorf in einem uralten Jagdgebiet errichtet wurde. Aber die Kontakte fanden immer regelmäßiger statt und wurden allmählich zur Gewohnheit. Schließlich begannen einige der Jäger als Viehtreiber zu arbeiten, oder sie stahlen einige Tiere, um selbst sesshaft zu werden. Im Laufe der Zeit wurden immer mehr Gruppen Bauern. Zumindest widmeten sie einen Teil ihrer Zeit dem Ackerbau, und die uralte Lebensweise des Sammelns wurde Geschichte. Die Bauern heirateten Frauen der Waldbewohner, und ihre Kinder gründeten in einiger Entfernung in Langhäusern lebende Gemeinschaften. Jahrhundertelang existierten Jäger an den Rändern der Dörfer, da diese auf die allerersten Cro-Magnon-Menschen zurückgehende Tradition noch tief verwurzelt war, aber zum Schluss starb die Lebensweise der Jäger doch aus. Zur selben Zeit, als sich bäuerliche Gemeinschaften über Mittel- und Westeuropa ausbreiteten, entstanden auch Bauerndörfer entlang der Mittelmeerküste, von denen viele wahrscheinlich von zu Bauern gewordenen Jägern gegründet wurden.20 Daneben scheinen sich noch bestehende Jägergruppen in Höhlen angesiedelt und die bäuerliche Kultur nur teilweise übernommen zu haben, indem sie beispielsweise Schafe züchteten, Keramik herstellten oder Getreide anbauten, um jahreszeitlich bedingte Versorgungslücken zu schließen. Blühende Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften überlebten möglicherweise jahrhundertelang an der Seite von Bauern in Enklaven, in denen große Mengen an Fisch, Schalentieren und pflanzlicher Nahrung verfügbar waren. Solche Orte waren zum Beispiel die Täler der Flüsse Tajo und Sado im Herzen Portugals, wo sich im Laufe der Zeit gewaltige Abfallhaufen aus Weichtierschalen bildeten und die – auch als Bestattungsplätze genutzt – bis etwa 5000 v. Chr. in Gebrauch blieben.21 Rund 1000 Jahre später hatten die uralten Jäger-undSammler-Traditionen schließlich ausgedient. Bis auf den hohen Norden, wo die Lebensweise der Jäger bis vor ca. 3000 Jahren weiter bestand, war Europa ein Kontinent der Bauern geworden. Was haben uns die Cro-Magnon-Menschen letztlich hinterlassen? Die Antwort auf diese Frage können uns vielleicht die Genetiker geben.22 Einer von ihnen, Luigi Luca Cavalli-Sforza, argumentiert, dass die Gene der heute lebenden Europäer ein Ausbreitungsmuster von Osten nach Nordwesten aufweisen – ein

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Erbe der aus Griechenland eingewanderten Bauern, die sich auf dem Balkan ansiedelten und von dort aus in nordwestlicher Richtung über Europa verbreiteten. Er ist überzeugt, dass diese genetische „Welle“ mit der Besiedlung durch die ersten Bauern einhergeht. Brian Sykes von der Universität Oxford und seine Kollegen sind anderer Meinung: Sie beziehen sich auf die mitochondriale DNS, die schneller mutiert als genetisches Material aus Zellkernen und uns – zumindest theoretisch – ein präziseres Bild der Geschichte liefert. Sykes untersuchte die mtDNS von 821 Individuen aus ganz Europa und entdeckte sechs eindeutig identifizierbare genetische Linien. Danach war das Erbgut der Europäer viel differenzierter, als es Cavalli-Sforzas Wellentheorie nahelegt. Nur eine dieser genetischen Gruppen war nach Aussage der molekularen Uhr spät genug eingetroffen, um mit der Ankunft der Bauern aus Westasien in Verbindung gebracht zu werden. Doch damit nicht genug: Dieselbe Gruppe wies auch Markergene westasiatischen Ursprungs auf. Des Weiteren entsprach die Verteilung dieser Gruppe in Europa jener der beiden Wellen bäuerlicher Siedler, von denen die frühere die der Linearbandkeramiker war und die zweite diejenige, die sich entlang der Mittelmeerküste bewegte. Nur 15 Prozent der Linien innerhalb der sechs Gruppen wiesen die gleiche Genzusammensetzung auf. Alle anderen Linien waren sehr viel älter: Sie datieren auf ein Alter von zwischen 50 000 und 23 000 Jahren vor unserer Zeit. Das bedeutet, dass 85 Prozent der mtDNS-Linien in Europa existierten, lange bevor sich die bäuerliche Lebensweise hier etablierte. Sie können somit den Populationen zugeordnet werden, die wir unter dem Oberbegriff „Cro-Magnon-Menschen“ zusammenfassen. Der genetische Einfluss der zugewanderten Bauern ist demnach praktisch zu vernachlässigen. Neue Berechnungen von Cavalli-Sforza und Sykes aus jüngerer Zeit haben den prozentualen Anteil der beiden Einwandererwellen auf 28 beziehungsweise 20 Prozent heraufgesetzt, so dass dieser Disput grundsätzlich beigelegt ist. Somit besteht kein Zweifel daran, dass die Nachfahren der Cro-MagnonMenschen – die ältesten der ganz und gar neuzeitlichen Europäer – eine aktive Rolle bei der Entwicklung des Ackerbaus in Europa spielten. Damit läuteten sie den Niedergang einer Lebensweise ein, deren Blütezeit mehr als 37 000 Jahre gewährt hatte. Die Gene der Cro-Magnon-Menschen dominieren immer noch im Erbgut der heutigen Europäer. Meine DNS verrät mir, dass ich genetisch einer von ihnen bin, und darauf bin ich stolz.

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Tafel I

Die Löwenmensch-Skulptur von Hohlenstein-Stadel in Baden-Württemberg. Höhe: 29,6 cm.

Grotte Chauvet (Frankreich). Ausschnitt mit Pferden und Wollnashörnern.

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Tafel II

Grotte Chauvet. Panneau der Löwen. Ausschnitt mit Nashörnern.

Grotte Chauvet. Panneau der Löwen. Ausschnitt.

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Tafel III

Rekonstruierte Ansicht einer Fundstätte des Gravettien. Lager in Abri Pataud (Frankreich) vor etwa 24 000 Jahren.

Lascaux (Frankreich). Ein Auerochse springt über eine Gruppe kleinerer Pferde.

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Tafel IV

Lascaux. Zwei Wisente.

Pech Merle (Frankreich). Gepunktete Pferde.

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Tafel V

Ein Handnegativ aus Pech Merle, das mit an die Wand gesprühtem Farbstoff erzeugt wurde.

Mit einer Steinbockfigur verzierte Speerschleuder aus Mas d’Azil (Frankreich).

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Tafel VI

Tuc d’Audoubert (Frankreich). Wisente aus Lehm.

Altamira (Spanien). Polychrome Wisente.

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Tafel VII

Altamira. Polychromer Wisent.

Künstlerische Darstellung einer Rentierjagd der Cro-Magnon-Menschen.

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Tafel VIII

Künstlerische Darstellung eines Sommerlagers der Cro-Magnon-Menschen.

Niaux (Frankreich). Panneau mit Wisenten.

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Danksagung Die Cro-Magnon-Menschen begannen mich zu faszinieren, als ich mein erstes Studienjahr am britischen Pembroke College (Cambridge) absolvierte. Miles Burkitt, der Kopien von Höhlenmalereien angefertigt und vor dem Ersten Weltkrieg zusammen mit seinem Mentor, dem Priester Henri Breuil, an Ausgrabungen teilgenommen hatte, war nie ein besonders bekannter Archäologe, aber seine Begeisterungsfähigkeit und seine Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, zeichneten ihn aus. Er war es, der meine lebenslange Begeisterung für die Archäologie und die Steinzeit weckte. Burkitt führte Dutzende künftiger Archäologen in die Geschichte der Vergangenheit ein, und seine geflügelten Worte wie „Lasst nie die Sonne über einem noch nicht gekennzeichneten Artefakt untergehen“ sind heute noch genauso gültig wie vor einem halben Jahrhundert. Bei näherer Betrachtung wurde mir klar, dass er die Inspiration für das vorliegende Buch lieferte. Dieselbe Ehre gebührt auch Charles McBurney und Eric Higgs, die mich in steinzeitlicher Archäologie ausbildeten. Der herausragende Genetiker Spencer Wells ermutigte mich sehr, Cro-Magnon zu schreiben, nachdem wir gemeinsam das Musée National de Préhistoire in Les Eyzies besucht hatten. Ihm danke ich für seinen Enthusiasmus. Dieses Buch ist das Ergebnis jahrelanger Besuche von Fundorten, vieler in Sammlungen verbrachter Stunden und ausgedehnter Reisen. Diese Unternehmungen waren eine Herausforderung, aber sie verblassen zur Bedeutungslosigkeit im Vergleich zur Literaturrecherche, die selbst an den Maßstäben der Archäologie gemessen – einem Fachgebiet mit außerordentlich widersprüchlichen und schwer zugänglichen Publikationen – eine ausgesprochen mühsame Angelegenheit war. Eine große Zahl von Kollegen und Spezialisten hat zu meinem besseren Verständnis der Materie beigetragen. Sie beantworteten meine Fragen und erlaubten mir, als Zuhörer an Diskussionen teilzunehmen. Sie lenkten meine Aufmerksamkeit auf wenig bekannte Quellen und unterhielten sich mit mir über meine Thesen. Es ist unmöglich, alle Namen auf der in Jahrzehnten entstandenen Liste meiner Danksagungen aufzuzählen, und ich hoffe, dass diejenigen, die hier nicht erwähnt werden, mir verzeihen und ein an alle ausgesprochenes Dankeschön akzeptieren werden. Ganz besonders bedanke ich mich bei Stanley Ambrose, Paul Bahn, Christopher Chippindale, Clive Gamble, David Lewis-Williams, Paul Mellars, George Michaels, John Shea, Mary Stiner, Lawrence Straus und Chris Stringer, die mir alle im Laufe der Jahre auf die eine oder andere Art

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geholfen haben. John Hoffecker las das gesamte Manuskript mit größter Sorgfalt und bewahrte mich vor vielen Sünden. Das gilt auch für den Krimiautor und Anthropologen Aaron Elkins, von dessen Erfahrung ich in zweifacher Hinsicht profitieren durfte. Zudem danke ich all denen, die mir die Genehmigung zum Abdruck der Illustrationen erteilten. Ich habe mich sehr darum bemüht, sämtliche Inhaber von Urheberrechten zu kontaktieren. Steve Brown schuf wieder einmal Magisches mit seinen Zeichnungen; Francelle Carapetyan bewies außerordentliche Stärke bei der Beschaffung der Fotografien, die sich gelegentlich als frustrierendes Unterfangen erwies. Wie immer war Shelly Lowenkopf während der Entstehung dieses Buches an meiner Seite. Er ermutigte mich, unterbreitete Vorschläge und lieferte mir Perspektiven, wie es eben nur ein anderer Autor und Nichtarchäologe vermag. Ich stehe tief in der Schuld meiner Kollegen von der Bloomsbury Press, insbesondere Peter Ginna und Pete Beatty, deren Erkenntnisse und redaktionelle Fähigkeiten dieses Manuskript verwandelten. Ich schätze ihre Freundschaft und ihren Glauben an meine Arbeit mehr als ich in Worten ausdrücken kann. Michael O’Connor und Nate Knaebel vollbrachten Wunder bei der Produktion. Die herausragende Agentin Susan Rabiner stand die ganze Zeit hinter mir. Zu guter Letzt geht mein Dankeschön wie immer an Lesley und Ana sowie an unsere diversen Haustiere, die mich stets begleitet haben. Ich denke, dass unsere Katzen die Weltmeister im Besetzen von Computertastaturen sind. Sie können keinerlei Rechte an der Erstellung dieser Seiten geltend machen! Brian Fagan Santa Barbara, Kalifornien

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Anmerkungen Es gibt eine gewaltige Menge an Literatur über Neandertaler und Cro-MagnonMenschen. Viel davon erscheint in schwer zugänglichen archäologischen Magazinen und in Konferenzbänden, deren Zahl von Monat zu Monat rapide steigt. Die meisten dieser Publikationen sind hoch spezialisiert und daher kaum von Bedeutung für dieses Buch. Die im Folgenden genannten Quellen stellen einen Querschnitt dar und enthalten nützliche Angaben für diejenigen, die ihr Wissen vertiefen möchten. Aus gegebenem Anlass ist im Wesentlichen Literatur aus dem englischsprachigen Raum hier aufgeführt. Glücklicherweise werden die wichtigsten Beiträge in dieser Sprache veröffentlicht, die mittlerweile weithin in der Wissenschaft verwendet wird.

Kapitel 1: Entscheidende Begegnungen 1 Viele Experten halten den Begriff „Cro-Magnon-Menschen“ für unpassend. Sie bevorzugen „anatomisch moderne Menschen“. Ich verwende ihn dennoch, da er mir für dieses Buch angemessen erscheint, und benutzte ihn als allgemeinen Oberbegriff, ohne ein bestimmtes Zeitfenster oder kulturelle Assoziationen hiermit zu verbinden. 2 Eine allgemeine Abhandlung über die Neandertaler und ihre Vorfahren bieten Ch. Stringer/P. Andrews, The Complete Book of Human Evolution. London 2005. 3 Louis Lartet (1840–1899) war ein Pionier der Eiszeitforschung. Sein Vater, ein Anwalt und Paläontologe, erforschte Les Eyzies als Erster seriös. 4 Zu Lartets und Christys Ausgrabungen siehe Éd. Lartet/H. Christy, Reliquiae Aquitanicae. London 1875. – Der Geologe William Sollas verglich in Ancient Hunters and Their Modern Representatives. London 1911 Cro-Magnon-Menschen und Eskimos. 5 Eine gute Zusammenfassung liefern R. Klein/B. Edgar, The Dawn of Human Culture. New York 2002. – Siehe auch S. Wells, The Journey of Man: A Genetic Odyssey. Princeton 2002. 6 R. E. Green u. a., A Complete Neanderthal Mitochondrial Genome Sequence Determined by High-Throughput Sequencing. Cell 134/3, 2008, 416–426. 7 Der Begriff „Eskimo“ bezieht sich auf die Ureinwohner der US-amerikanischen Arktis, Inuit auf die der kanadischen Arktis. Bemerkenswerterweise wurden die ältesten in Europa gefundenen Nähnadeln auf ein Alter von 18 000 Jahren oder später datiert, wenngleich hölzerne Nadeln sicher schon früher benutzt wurden, denn wie hätten die Cro-Magnon-Menschen das letzte Kältemaximum ohne maßgeschneiderte Kleidung überlebt? 8 J. D. Clark, A Note on the Pre-Bantu Inhabitants of Northern Rhodesia and Nyasaland. South African Journal of Science 47/1, 1950, 80–85.

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9 Ich danke Sir Richard Attenborough für seinen Bericht. 10 Freundlicherweise übersetzte mir der verstorbene Professor Eric Axelson diesen portugiesischen Text: Cartas dos Vicereis do India. Lissabon o. J., 1–161.

Kapitel 2: Die Vorfahren der Neandertaler 1 Dieser Abschnitt basiert auf: R. D. Guthrie, The Nature of Paleolithic Art. Chicago 2005, zitiert von S. 214. 2 Eine gute Beschreibung von Homo ergaster geben Stringer/Andrews (Kap.1, Anm. 2) 132–138. 3 Guthrie (Anm. 1) 216. 4 M. Milankovitch, Memories, Experiences and Perceptions from the Years 1909– 1944. Proceedings of the Serbian Academy of Sciences 195, 1952, 1–322. 5 Eine sehr gute Zusammenfassung von Milankovitchs Werk liefern J. Imbrie/K. Palmer Imbrie, Ice Ages. Solving the Mystery. Cambridge 1979, Kap. 8. 6 Für eine Zusammenfassung eiszeitlicher Klimaforschung und Klimaereignisse siehe B. Fagan (Hrsg.), Die Eiszeit. Leben und Überleben im letzten großen Klimawandel. Stuttgart 2009. 7 L. Gabunia u. a., Earliest Pleistocene Hominid Cranial Remains from Dmanisi, Republic of Georgia: Taxonomy, Geological Setting and Age. Science 283, Nr. 5468, 2000, 1019–1025. 8 E. Carbonell u. a., The First Hominin of Europe. Nature 452, 2007, 465–469. – Die Klimadaten stammen aus H.-A. Blain u. a., Long-Term Climate Record Inferred from Early-Middle Pleistocene Amphibian and Squamate Reptile Assemblages at the Gran Dolina Cave, Atapuerca, Spain. Journal of Human Evolution 56/1, 2009, 55–65. 9 Zu Großbritannien siehe Ch. Stringer. Homo Britannicus. London 2006. 10 N. Goren-Inbar u. a., Evidence of Hominin Control of Fire at Benot Ya’aqov, Israel. Science 304, Nr. 5671, 2004, 725–727. 11 Stringer/Andrews (Kap. 1, Anm. 2) 148–151. – Es ist anzumerken, dass der Kiefer aus Mauer einige Neandertaler-Merkmale aufweist, weshalb einige Experten auch so weit gehen, europäische heidelbergensis-Fossilien den Neandertalern zuzuordnen. 12 Ebd. 152–153 zu den menschlichen Überresten. – Klimadaten siehe Blain (Anm. 8). 13 H. Thieme, The Lower Palaeolithic Art of Hunter: The Case of Schöningen. In: C. Gamble/M. Porr (Hrsg.), The Hominid Individual in Context. London 2005, 115– 132. 14 H. Thieme, The Lower Palaeolithic Hunting Spears from Germany. Nature 385, 1997, 807–810. 15 D. Mania, The Earliest Occupation of Europe. The Elbe-Saale Region (Germany). In: W. Robroeks/T. van Kolfschoten (Hrsg.), The Earliest Occupation of Europe. Leiden 1995, 85–101.

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16 F. C. Howell, Observations on the Earlier Phases of the European Lower Palaeolithic. American Anthropologist 68/2, 1966, 111–140. 17 M. Roberts/S. Parfitt, A Middle Pleistocene Hominid Site at Eartham Quarry, Boxgrove, West Sussex. London 1999.

Kapitel 3: Die Neandertaler und ihre Welt 1 Zur Entdeckung der Neandertaler und Theorien über sie siehe C. Gamble/Ch. Stringer, In Search of the Neanderthals. London 1995 sowie Th. H. Huxley, Man’s Place in Nature. London 1863. 2 Dieser Abschnitt über stereotype Neandertaler-Bilder bezieht sich auf Gamble/ Stringer (Anm. 1), zitiert von S. 8. 3 Stringer/Andrews (Kap. 1, Anm. 2) 154–157. – Zur Hautfarbe siehe C. Lalueza-Fox u. a., A Melanocortin 1 Receptor Allele Suggests Varying Pigmentation Among Neanderthals. Science 318, Nr. 5855, 2007, 1453–1455. 4 Eine Schilderung des arktischen Winters in Kanada wurde veröffentlicht in M. Moreau, Prehistory of the Eastern Arctic. New York 1985. 5 Die folgende Klimabeschreibung stammt weitgehend aus T. H. van Andel, Glacial Environments I. The Weichselian Climate in Europe Between the End of OIS-3 Interglacial and the Last Glacial Maximum. In: T. H. van Andel/W. Davies (Hrsg.), Neanderthals and Modern Humans in the European Landscape During the Last Glaciation. Archaeological Results of the Stage 3 Project. Cambridge 2003, 9–20. 6 E. Barron u. a., Glacial Environments II. Reconstructing the Climate of Europe During the Last Glaciation. In: Andel/Davies (Anm. 5) 57–79, ferner Kap. 6 und 7. 7 M. P. Richards u. a., Isotopic Dietary Analysis of a Neanderthal and Associated Fauna from the Site of Jonzac (Charente-Maritime), France. Journal of Human Evolution 55/1, 2008, 179–185. – Siehe auch H. Bocherens u. a., Isotopic Evidence for Diet and Subsistence Pattern of the Saint-Césaire I Neanderthal: Review and Use of a Multi-Source Mixing Model. Journal of Human Evolution 49/1, 2005, 71–87. 8 Eine wunderschön illustrierte Geschichte der Mammuts schrieben A. Lister/P. Bahn, Mammoths: Giants of the Ice Age. Berkeley 2007. 9 Als Paläontologe bezieht Guthrie in The Nature of Palaeolithic Art (Kap. 2, Anm. 1) provokant Stellung zur Tierwelt der ausgehenden Eiszeit.

Kapitel 4: Das stumme Volk 1 Eine Zusammenfassung der Forschung von Lewis Binford findet man in In Pursuit of the Past. Berkeley 2001 (überarbeitete Aufl.). 2 Warfen die Neandertaler Speere? Diskussion auf Grundlage von Knochenfunden. J. A. Rhodes/St. E. Churchill, Throwing in the Middle and Upper Paleolithic. Inferences from an Analysis of Human Retroversion. Journal of Human Evolution

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56/1, 2008, 1–10. – Professor John Shea danke ich für die Diskussion zur Reichweite der Speere. Ph. Chase, The Hunters of Combe Grenal: Approaches to Middle Paleolithic Subsistence in Europe. British Archaeological Reports. International Series 286. Oxford 1986. K. Scott, Two Hunting Episodes of Middle Palaeolithic Age at La Cotte Saint-Brelade, Jersey (Channel Islands). World Archaeology 12/2, 1980, 137–152. – Weitere Informationen über die Jagd bei den Neandertalern liefern P. Mellars, The Neanderthal Legacy. Princeton 1996 sowie M. Stiner/St. Kuhn, What’s a Mother to Do? A Hypothesis About the Division of Labor and Modern Human Origins. Current Anthropology 47/6, 2006, 953–980. C. Farizy u. a., Hommes et Bisons du Paléolithique Moyen à Mauran (Haute-Garonne). Gallia Préhistorique, XXXe supplément. Paris 1994. Eines der besten Bücher über Steinwerkzeugtechnologie schrieb J.-L. Piel-Desruisseaux, Outils Préhistoriques. Paris 2007 (5. Aufl.). A. Derfleur u. a., Neanderthal Cannibalism at Moula-Guercy, Ardèche, France. Science 286, Nr. 5437, 1999, 128–131. – Zu El Sidrón: A. Rosas u. a., Paleobiology and Comparative Morphology of a Late Neanderthal Sample from El Sidrón, Asturias, Spain. Proceedings of the National Academy of Sciences 103, 2006, 19 266–19 271. Die Bestattungssitten der Neandertaler werden seit Langem kontrovers diskutiert, siehe R. H. Gargett, Grave Shortcomings: The Evidence for Neanderthal Burial. Current Anthropology 30/2, 1989, 157–190. Dieser Abschnitt bezieht sich auf St. Mithen, The Singing Neanderthals. Cambridge 2006. Sehr spannend und anregend wie das gesamte Werk Mithens. Einen Überblick liefert Ph. Lieberman, Uniquely Human. The Evolution of Speech, Thought, and Selfless Behavior. Cambridge 1991. – Siehe auch Ph. Lieberman, The Evolution of Human Speech. Current Anthropology 48/1, 2007, 39–66. Mithen (Anm. 9) 228. St. Mithen, The Prehistory of the Mind. London 1996. Ein wunderbares und provokantes Buch über frühe kognitive Fähigkeiten. F. L. Coolidge/Th. Wynn, The Rise of Homo sapiens. The Evolution of Modern Thinking. New York 2009.

Kapitel 5: Die 10 000. Großmutter 1 B. Kurtén, Singletusk. A Story of the Ice Age. New York 1986, 61. 2 Dorothy Garrod war Disney Professor of Archaeology an der Cambridge University und die erste Frau mit einem Lehrstuhl in Oxford beziehungsweise Cambridge. Obwohl sie auch anderenorts ausgrub, wurde sie vor allem durch ihre Grabungen am Berg Carmel bekannt, siehe D. Garrod/D. Bate, The Stone Age of Mt. Carmel. Oxford 1937. 3 T. McCown/A. Keith, The Stone Age of Mt. Carmel. Bd. 2. The Fossil Human Remains from the Levalloiso-Mousterian. Oxford 1939.

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4 D. Garrod, The Relations Between Southwest Asia and Europe in the Late Paleolithic Age with Special Reference to the Origins of the Upper Paleolithic Blade Cultures. Journal of World History 1, 1953, 13–37. 5 R. Cann u .a., Mitochondrial DNA and Human Evolution. Nature 325, 1987, 31–36, zitiert von S. 31. 6 Einen guten Überblick über Genetik und Ursprung des modernen Menschen liefert Wells (Kap. 1, Anm. 5). – Ingmans Forschungsergebnisse wurden veröffentlicht in M. Ingman u. a., Mitochondrial Genome Variation and the Origin of Modern Humans. Nature 408, 2000, 708–713. – Siehe auch St. Oppenheimer, The Great Arc of Dispersal of Modern Humans. Africa to Australia. Quaternary lnternational 30, 2008, 1–12. 7 Die Kontroversen sind zusammengefasst in Wells (Kap. 1, Anm. 5) Kap. 2–4. 8 Zusammenfassung in P. M. Vermeersch, The Upper and Late Paleolithic of Northern and Eastern Africa. In: F. Klees/R. Kuper (Hrsg.), New Light on the Northern African Past. Köln 1992, 99–154. – Die Lumineszenzdatierung misst die Strahlungsrate und damit das Alter kristalliner Minerale in Objekten, die großer Hitze ausgesetzt waren, wie solchen aus Lava oder Keramik. Ebenso lassen sich geologische Sedimente mit dieser Methode datieren. 9 J. J. Shea, Neanderthals, Competition, and the Origin of Modern Human Behavior in the Levant. Evolutionary Anthropology 12/4, 2003, 173–187. – Siehe auch F. d’Errico u. a., Archaeological Evidence for the Emergence of Language, Symbolism, and Music – an Alternative Multidisciplinary Perspective. Journal of World Prehistory 17/1, 2003, 1–70. 10 Zu Omo Kibish siehe J. J. Shea u. a., Context and Chronology of Early Homo Sapiens Fossils from the Omo Kibish Formation, Ethiopia. In: P. Mellars u. a. (Hrsg.), Rethinking the Human Revolution. Cambridge 2007, 153–176. – Zu Herto siehe T. D. White u. a., Pleistocene Homo sapiens from Middle Awash, Ethiopia. Nature 423, 2003, 742–747. 11 Wells (Kap. 1, Anm. 5) Kap. 3. 12 Chr. A. Scholz u. a., East African Megadroughts Between 135 and 75 Thousand Years Ago and Bearing on Early-Modern Human Origins. Proceedings of the National Academy of Sciences 104, 2007, 16 416–16 421. 13 Der Ausbruch des Toba war ein Ereignis, dessen Bedeutung für die Menschheitsgeschichte gerade erst erkannt wurde und immer noch kontrovers diskutiert wird. Eine exzellente Zusammenfassung und umfassende Bibliografie liefern M. R. Rampino/St. Ambrose, Volcanic Winter in the Garden of Eden. The Toba Supereruption and the Late Pleistocene Human Population Crash. In: F. W. McCoy/G. Heiken (Hrsg.), Volcanic Hazards and Disasters in Human Antiquity. Geological Society of America. Special Papers 345, 2000, 71–82. 14 H. u. E. Stommel, Volcano Weather. The Story of 1816, the Year Without a Summer. Newport, RI 1983. – Simon Winchester beschreibt den Ausbruch des Krakatau in Krakatoa. The Day the World Exploded; August 27, 1883. New York 2005. 15 Persönlicher Austausch mit Professor Stanley Ambrose, dem ich für seine Hilfe bei diesem Abschnitt danke.

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16 Eine Zusammenfassung der Debatten und wichtigsten Punkte bietet S. McBrearty, Down with the Revolution. In: Mellars u. a. (Anm. 10) 133–152. 17 Zu Blombos siehe Chr. St. Henshilwood, Fully Symbolic Sapiens Behavior. Innovations in the Middle Stone Age at Blombos Cave, South Africa. In: Mellars u. a. (Anm. 10) 123–132. – Zu Sibudu siehe L. Backwell u. a., Middle Stone Age Bone Tools from the Howiesons Poort Layers, Sibudu Cave, South Africa. Journal of Archaeological Science 35/6, 2007, 1566–1580. – Eine weitere Reihe nützlicher Beiträge findet sich in M. Lombard/Chr. Sievers/V. Wood (Hrsg.), Current Themes in Middle Stone Age Research. Vlaeberg 2008. 18 Zur Beschaffung von Rohmaterial siehe St. H. Ambrose, Howiesons Poort Lithic Raw Material Procurement Patterns and the Evolution of Modern Human Behavior. A Response to Minichillo (2006). Journal of Human Evolution 50, 2006, 365– 369. 19 R. Lee, The !Kung San. Cambridge 1979. 20 Klein/Edgar (Kap. 1, Anm. 5.).

Kapitel 6: Die Zeit der Wanderungen 1 Gute Bibliografien und Resümees bieten A. Belfer-Cohen/A. Nigel Goring-Morris, From the Beginning. Levantine Upper Palaeolithic Cultural Change and Continuity. In: Mellars u. a. (Kap. 5, Anm. 10) 199–206. – J. J. Shea, Transitions or Turnovers? Climatically-Forced Extinctions of Homo Sapiens and Neanderthals in the East Mediterranean Levant. Quaternary Science Reviews 30, 2008, 1–18. 2 Zusammenfassung und Referenzen siehe Shea (Anm.1) 7–9. 3 J. J. Shea, The Origins of Lithic Projectile Point Technology. Evidence from Africa, the Levant, and Europe. Journal of Archaeological Science 33, 2006, 823–846. – Über den Ursprung der Speerschleuder wird immer noch gestritten. Möglicherweise lag er im tropischen Afrika und höchstwahrscheinlich nutzten sie anatomisch moderne Menschen in der Levante. Ich danke Professor Shea für die anregende Diskussion zu diesem komplexen Thema. – Zum Speerwerfen siehe auch Rhodes/Churchill (Kap. 4, Anm. 2). 4 Die Literatur zu diesem Thema ist teilweise widersprüchlich. Die hier genannten Quellen enthalten umfangreiche Bibliografien. Siehe O. Bar-Yosef, The Dispersal of Modern Humans in Eurasia. A Cultural Interpretation. In: Mellars u. a. (Kap. 5, Anm. 10) 207–218. – Siehe auch P. Mellars, The Impossible Coincidence. A SingleSpecies Model for the Origins of Modern Human Behavior in Europe. Evolutionary Anthropology 14, 2005, 12–27. 5 B. Giaccio u. a., The Campanian Ignimbrite (c. 40ka BP) and Its Relevance for the Timing of the Middle to Upper Palaeolithic Shift. Timescales and Regional Correlations. In: N. J. Conard (Hrsg.), When Neanderthals and Modern Humans Met. Tübingen 2006, 89–97. – Siehe auch die folgende Anmerkung. 6 J. Hoffecker u. a., From the Bay of Naples to the River Don. The Campanian Ignimbrite Eruption and the Middle to Upper Paleolithic Transition in Eastern Eu-

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rope. Journal of Human Evolution 30, 2008, 1–13. – J. Hoffecker, Desolate Landscapes. Ice Age Settlement in Eastern Europe. New Brunswick, NJ 2002, Kap. 5. – Die paläomagnetische Datierung basiert auf im Laufe der Zeit erfolgten Änderungen der Ausrichtung und Stärke des Erdmagnetfeldes. Im Rahmen der Messungen wird die Ausrichtung von Partikeln aus dem Umfeld von Funden (z. B. durchglühte Erde um eine Feuerstelle) festgestellt, um die Ausrichtung des Erdmagnetfeldes zum Zeitpunkt der Ablagerung festzustellen. Die so erhobenen Daten müssen mit 14C- und anderen Messwerten korreliert werden. J. Zilhão u. a., The Pes˛tera cu Oase People, Europe’s Earliest Modern Humans. In: Mellars u. a. (Kap. 5, Anm. 10) 249–263. E. Trinkaus u. a., The Pes˛tera cu Oase and Early Modern Humans in Southeastern Europe. In: Conard (Anm. 5) 145–164. Die zeitliche Abfolge der Besiedlung Europas ist immer noch unsicher, unter anderem aufgrund von Problemen der 14C-Datierung. Die hier genannten Quellen zur ersten Einwanderung liefern keine endgültigen Ergebnisse. Einige von ihnen gehen stark in technische Details: S. P. E. Blockley u. a., The Middle to Upper Paleolithic Transition. Dating, Stratigraphy and Isochronous Markers. Journal of Human Evolution 55, 2008, 764–771. – P. Mellars, A New Radiocarbon Revolution and the Dispersal of Modern Humans in Eurasia. Nature 439, 2006, 932–935. Ich danke Dr. John Hoffecker dafür, dass er mich auf die neuen Untersuchungen zu den Tötungsplätzen von Kostenki-Borschchevo aufmerksam machte. – J. F. Hoffecker, The Spread of Modern Humans in Europe. Proceedings of the National Academy of Sciences 10, 1073, 2009. H. Breuil, Les Subdivisions de Paléolithique Supérieur et Leurs Signification. Congrès International d’Anthropologie et d’Archéologie Préhistorique. Genf 1912. B. S. Blades, Aurignacian Lithic Technology. New York 2001. Garrod (siehe Kap. 5, Anm. 4). P. Mellars, Archaeology and the Dispersal of Modern Humans in Europe. Deconstructing the Aurignacian. Evolutionary Anthropology 15, 2006, 167–182. B. Weninger/O. Jöris, A 14C Calibration Curve for the Past 60 Ka: The GreenlandHulu U/Th Timescale and Its Impact on Understanding the Middle to Upper Paleolithic Transition in Western Eurasia. Journal of Human Evolution 55, 2008, 772– 781. – Die Uran-Thorium-Datierung ist eine radiometrische Datierungsmethode, die vor allem zur Altersbestimmung von kalkhaltigem Material wie Stalagmiten oder Korallen eingesetzt wird. Hierbei wird das Verhältnis zwischen dem radioaktiven Isotop Thorium –230 und seinem radioaktiven Ausgangsstadium Uran –234 gemessen. Die Kontroversen zum Châtelperronien dauern an. Einen kritischen Überblick über die unterschiedlichen Standpunkte liefern P. Mellars u. a., Confirmation of Neanderthal / Modern Human Interstratification at the Chatelperronian TypeSite. Proceedings of the National Academy of Sciences 104/3, 2007, 3657–3662. Meine Diskussion basiert hierauf und auf einem Bericht von Mellars (Anm. 9). – Eine weitere Analyse findet man in J. Zilhão/F. d’Errico, The Chronology and Ta-

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phonomy of the Earliest Aurignacian and Its Implications for the Understanding of Neanderthal Extinction. Journal of World Prehistory 13/1, 1999, 1–68. 17 Eine ausführliche Diskussion der verschiedenen Theorien zum Aussterben der Neandertaler findet man in Conard (Anm. 5) 145–164. 18 Bericht aus Observer (England) vom 17. Mai 2009. Als das vorliegende Buch entstand, war die Primärquelle nicht erhältlich. 19 Ich danke Dr. Ch. Stringer für die Diskussion zur Datierung des Aussterbens der Neandertaler in Spanien, das neuen Kalibrierungsmethoden zufolge sehr viel früher als vor zwischen 28 000 und 24 000 Jahren erfolgte.

Kapitel 7: Das Reich des Löwenmenschen 1 Eine Zusammenfassung über australische Aborigines liefert P. Hiscock, Archaeology of Ancient Australia. Abingdon, UK 2008. 2 J. Hahn, La Statuette Masculine de la Grotte de Hohlenstein-Stadel (Wurttemberg). L’Anthropologie 754, 1971, 233–243. 3 J. Hahn, Aurignacian Art in Central Europe. In: H. Knecht u. a. (Hrsg.), Before Lascaux. The Complex Record of the Early Upper Palaeolithic. Boca Raton, FL 1993, 229–257. 4 N. J. Conard, A Female Figurine from the Basal Aurignacian of Hohle Fels Cave in Southwestern Germany. Nature 459, Nr. 7244, 2009, 248–252. 5 Mithen (Kap. 4, Anm. 9), Kap. 15 und 16. 6 Der Schamanismus wird ausführlich diskutiert in D. Lewis-Williams, The Mind in the Cave. London 2002. – Wer die Macht von Schamanen und veränderten Bewusstseinzuständen in menschlichen Gesellschaften bezweifelt, sollte dieses Buch lesen: L. Sullivan. Icanchu’s Drum. New York 1989. 7 Schamanismus und veränderte Bewusstseinzustände bei den Cro-Magnon-Menschen sowie der Zusammenhang mit ihrer Höhlenkunst sind sehr umstritten. Siehe Lewis-Williams (Anm. 6). – Außerdem J. Clottes/D. Lewis-Williams, Shamans of Prehistory. New York 1998. 8 J.-M. Chauvet/E. B. Deschamps/C. Hillaire, Chauvet Cave. The Discovery of the World’s Oldest Paintings. London 1996, zitiert von S. 42. – Siehe auch J. Clottes. Chauvet Cave. The Art of Earliest Times. Salt Lake City 2003. 9 W. Shakespeare, Sämtliche Werke. Bd. 4. Berlin/Weimar 1994 (5. Aufl.) 626. 10 P. Bahn/P. Pettit, Art and the Middle-to-Upper Paleolithic Transition in Europe. Comments on the Archaeological Arguments for an Early Upper Paleolithic Antiquity of the Grotte de Chauvet Art. Journal of Human Evolution 55/5, 2008, 908– 917. 11 J. Clottes, Cave Art. London 2008, 50. 12 Eine gute Zusammenfassung liefern P. G. Bahn/J. Vertut, Images of the Ice Age. Berkeley 1997, Kap. 11. – Siehe auch Lewis-Williams (Anm. 6) Kap. 2. – Zur Höhlenkunst siehe D. S. Whitley (Hrsg.), A Handbook of Rock Art Research. Walnut Creek, CA 2001.

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13 D. Lewis-Williams, Believing and Seeing. Symbolic Meanings in Southern San Rock Paintings. London 1981. – Siehe auch D. Lewis-Williams/Th. Dowson, Images of Power. Understanding South African Rock Art. Cape Town 1999 (2. Aufl.). 14 Hiscock (Anm. 1) Kap. 11.

Kapitel 8: Fell, Fett und Feuerstein 1 C. Osgood, Ingalik Material Culture. New Haven, CT 1970 und R. Nelson, Hunters of the Northern Ice. Chicago 1969. 2 Zu den Fallen siehe Osgood (Anm. 1) 336 ff. 3 Van Andel/Davies (Kap. 3, Anm. 5) Kap. 2 und 5 bis 7. 4 W. Roebroeks/C. Gamble (Hrsg.), The Middle Palaeolithic Occupation of Europe. Leiden 1999. – Siehe auch Beiträge in Conard (Kap. 6, Anm. 5). 5 Hoffecker (Kap. 6, Anm. 6) Kap. 5 und 6. 6 Diskussion basiert auf Guthrie (Kap. 2, Anm. 1) 337–360. 7 Das Konzept des Schweizer Messers in der Technologie der Cro-Magnon-Menschen führte ich in meinem Buch „Journey from Eden“ (London 1990, 154–158) ein, aber die Idee verdanke ich tatsächlich Shelly Lowenkopf. – Zur Klingentechnologie allgemein siehe Piel-Desruisseaux (Kap. 4, Anm. 6) Teil 1. 8 Ebd. 111 ff. 9 A. Rigaud, La Technologie du Burin Appliquée au Material Osseux de la Garenne (Indre). Bulletin de la Société Préhistorique Française 69/4, 1972, 104–108. – Zur Knochenbearbeitung siehe Osgood (Anm. 1) 301. 10 Nelson (Anm. 1) 176. Nelson spricht hier von Beuteln aus Karibuleder, aber solche aus Rentier werden ähnlich ausgesehen haben. 11 Nelson (Anm. 1) 249–260. Enthält eine abschließende Auflistung arktischer Bekleidung. 12 Ebd. 318–319. – Siehe auch Osgood (Anm. 1) 265–266. 13 Nelson (Anm. 1) Kap. 18.

Kapitel 9: Die Zeit des Gravettien 1 Zu Schneehuhnfallen siehe C. Osgood, Ingalik Social Culture. New Haven, CT 1958, 336 ff. 2 J. Svoboda u. a., Hunters Between East and West. The Paleolithic of Moravia. New York 1996. 3 C. Gamble, The Palaeolithic Societies of Europe. Cambridge 1999, 287 ff. 4 Lister/Bahn (Kap. 3, Anm. 8). 5 A. Lister/P. Bahn, Mammuts. Die Riesen der Eiszeit. Sigmaringen 1997, 44. 6 N. K. Vereshchagin, The Berelekh “Cemetery” of Mammoths. Proceedings of the Zoological Institute, Leningrad 72, 1977, 3–50. Artikel auf Russisch. – Siehe auch Lister/Bahn (Kap. 3, Anm. 8) 62–-63, 196–170. – Lister/Bahn (Anm. 5) 50.

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7 M. Oliva, A Gravettian Site with Mammoth-Bone Dwelling in Milovice (Southern Moravia). Anthropologie 27, 1988, 265–271. 8 E. Marshall Thomas, Reindeer Moon. New York 1991. Das Buch gewährt einen guten Einblick in die Schwierigkeiten des Lebens von Jägern und Sammlern der ausgehenden Eiszeit. 9 Svoboda u. a. (Anm. 2) 223–236. 10 Ebd. 209–212. – Zur Dreierbestattung siehe Kurt W. Alt u. a., Twenty-Five Thousand Year-Old Triple Burial from Dolní Veˇstonice: An Ice Age Family? American Journal of Physical Anthropology 102, 1997, 123–131. 11 Hoffecker (Kap. 6, Anm. 6) Kap. 5 und 6. 12 O. Soffer, The Upper Palaeolithic of the Central Russian Plain. New York 1985. 13 Zu den Analogien bzgl. der Fallen siehe Osgood (Anm. 1)196 ff. 14 Francis B. Harrold, Variability and Function Among Gravette Points from Southwestern France. In: G. L. Peterkin/H. M. Bricker/P. Mellars, Hunting and Animal Exploitation in the Later Palaeolithic and Mesolithic of Eurasia. Papers of the American Anthropological Association 4. Washington, DC 1993, 69–83. 15 H. Knecht, Early Upper Paleolithic Approaches to Bone and Antler Projectile Technology. In: Peterkin/Bricker/Mellars (Anm. 14) 33–48. 16 P. Savolainen u. a., Genetic Evidence for an East Asian Origin of Domestic Dogs. Science 298, Nr. 5598, 2002, 1613–1620. – Zu den Hunden von Eliseevicˇi I siehe M. V. Sablin/G. A. Khlopachev, The Earliest Ice Age Dogs. Evidence from Eliseevichi I. Current Anthropology 43/5, 2002, 795–799. 17 Hoffecker (Kap. 6, Anm. 6) 151 ff. – Ich beziehe mich auch auf R. White, Prehistoric Art. New York 2003, 145–148. 18 Bahn/Vertut (Kap. 7, Anm. 12) 98 ff. 19 Guthrie (Kap. 2, Anm. 1) Kap. 6 liefert eine ebenso wissenschaftlich fundierte wie kurzweilige Interpretation der Frauenfiguren und anderer Frauendarstellungen in der Cro-Magnon-Kunst. 20 Lee (Kap. 5, Anm. 19). 21 Guthrie (Kap. 2, Anm. 1) 371.

Kapitel 10: Die Magie der Jagd 1 F. Mowat, People of the Deer. Boston 1952. Ich habe mich hier an Mowats klassischer Beschreibung kanadischer Karibujäger orientiert. – Zur Jagd in der ausgehenden Eiszeit siehe M. C. Stiner, Carnivory, Coevolution, and the Geographic Spread of the Genus Homo. Journal of Archaeological Research 10/1, 2002, 1–63. – Zur Fettgewinnung siehe M. C. Stiner, Zooarchaeological Evidence for Resource Intensification in Algarve, Southern Portugal. Promontoria 1/1, 2003, 1–58. 2 B. Gordon, Of Men and Reindeer Herds in French Magdalenian Prehistory. British Archaeological Reports. International Series 390. Oxford 1988. 3 Für einen Kurzbesuch in Abri Pataud: B. und G. Delluc, Visiter l’abri Pataud. Bordeaux 1998. – Unter den wissenschaftlichen Publikationen sei hier hervorgehoben

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4 5 6 7 8 9

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H. L. Movius Jr. (Hrsg.), Excavation of the Abri Pataud, Les Eyzies (Dordogne). Cambridge, MA 1975. Guthrie (Kap. 2, Anm. 1) Kap. 2 widmet sich diesem Thema im Detail. P. G. Bahn, Cave Art. A Guide to tbe Decorated Ice Age Caves of Europe. London 2007. Guthrie.(Kap. 2, Anm. 1) 61. Bahn/Vertut (Kap. 7, Anm. 12) 111–112. – Zu den Steinböcken von Roc de Sers siehe Clottes (Kap. 7, Anm. 1) 222–223. Für eine Kurzbeschreibung von Pech Merle siehe Bahn (Anm. 5) 96–101. Einen Überblick zu Gargas gibt Bahn (Anm. 5) 112–119. – Siehe auch M. Groenen, Les Representations de Mains Negatives dans les Grottes de Gargas et de Tibiran (Hautes-Pyrénées). Bulletin de la Société Royale Belge d’Anthropologie et de Préhistoire 99, 1988, 81–113. Zu Pferden und ihrer Geschichte siehe S. L. Olsen (Hrsg.), Horses Through Time. Boulder, CO 2003. J. Combier/A. Montet-White (Hrsg.), Solutré 1968–1998. Société Préhistorique Française. Mémoire 30, Paris 2002.

Kapitel 11: Die Zeit des Solutréen und Magdalénien 1 2 3 4 5

6 7 8 9 10 11 12 13

N. Aujoulet, Lascaux. Movement, Space, and Time. New York 2005. Combier/Montet-White (Kap. 10, Anm. 11). Piel-Desruisseaux (Kap. 4, Anm. 6) 45, 130. A. Leroi-Gourhan/M. Brézillion. Fouilles de Pincevent: Essai d’Analyse Ethnographique d’un Habitat Magdalénien. Gallia Préhistoire, VIIe supplément, Paris 1972. Rentier- und Karibuhäute wurden in historischen Gesellschaften des Nordens mit ähnlichen Methoden gegerbt. Dieser Abschnitt basiert auf Osgood (Kap. 9, Anm. 1) 200. H. Laville u. a., Rockshelters of the Périgord. New York 1980. Diese Rekonstruktion basiert teilweise auf Informationen aus Osgood (Kap. 9, Anm. 1) 342 ff. Zur Technologie des Magdalénien siehe Piel-Desruisseaux (Kap. 4, Anm. 6) Teile 2 und 3. Bahn (Kap. 10, Anm. 5) 54–57. Bahn/Vertut (Kap. 7, Anm. 12) Kap. 7. H. Bégouin/H. Breuil, Les Cavernes du Volp. Trois-Frères, Tuc d’Audoubert, à Montesquieu-Avantés (Ariège). Paris 1958. A. Beltrán u. a., Altamira. Paris 1998. Bahn (Kap. 10, Anm. 5) 137–147.

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Kapitel 12: Die Herausforderung der Erwärmung 1 J. Clottes. Les Cavernes de Niaux. Die altsteinzeitlichen Bilderhöhlen in der Ariège. Sigmaringen 1997. Die Interpretation von Clottes ist nachzulesen in seinem Buch „Cave Art“ (Kap. 7, Anm. 11) 194. 2 Niaux ist eine der wenigen Höhlen, in denen umfangreiche Pigment- und 14C-Untersuchungen durchgeführt wurden. – J. Clottes, Paint Analyses from Several Magdalenian Caves in the Ariège Region of France. Journal of Archaeological Science 20, 1993, 223–235. 3 N. Roberts, The Holocene. An Environmental History. New York 1998 (2. Aufl.). 4 St. Mithen, After the Ice Age. A Global Human History 20,000–5000 BC. Cambridge, MA 2003. 5 L. G. Straus/G. A. Clark, La Riera Cave. Stone Age Hunter-Gatherer Adaptations in Northern Spain. Anthropological Research Papers of Arizona State University 17. Tempe, AZ 1986. 6 C. Courand, L’ Art Azilien. Origine – Survivance. Gallia Préhistoire, XXe supplément. Paris 1985. 7 L. G. Straus, Last Glacial Settlement in Eastern Cantabria (Northern Spain). Journal of Archaeological Science 29, 2002, 1403–1414. 8 R. A. Housley u. a., Radiocarbon Evidence for the Late Glacial Recolonization of Northern Europe. Proceedings of the Prehistoric Society 63, 1997, 25–54. 9 A. Leroi-Gourhan/M. Brézillion, Fouilles de Pincevent. Essai d’Analyse Ethnographique d’un Habitat Magdalénien. Gallia Préhistoire, VIIe supplément, Paris 1972. – Siehe auch J. G. Enloe u. a., Patterns of Faunal Processing at Section 27 of Pincevent. The Use of Spatial Analysis and Ethnoarchaeology in the Interpretation of Archaeological Site Structure. Journal of Anthropological Archaeology 13, 1994, 105–124. 10 N. Pigeot, Technical and Social Actors. Flint Knapping Specialists and Apprentices at Magdalenian Etiolles. Archaeological Review from Cambridge 9, 1990, 126– 141. 11 Die beste Quelle zu Meiendorf ist der Beitrag von B. Bratlund, Hunting Strategies in the Late Glacial of Northern Europe. A Survey of the Faunal Evidence. Journal of World Prehistory 10/1, 1996, 1–48. 12 G. Bosinski/G. Fischer, Die Menschendarstellungen von Gönnersdorf der Ausgrabung von 1968. Wiesbaden 1974. – Über Frauendarstellungen schreibt Bosinski in „The Representation of Female Figures in the Rhineland Magdalenian“. Proceedings of the Prehistoric Society 57, 1991, 51–64. 13 Bratlund (Anm. 11) 17 ff. 14 Die überflutete Nordseelandschaft wird auch als „Doggerland“ bezeichnet, nach der untergegangenen Doggerbank, die heute für die Fischerei bedeutsam ist. – Star Carr wurde erstmals beschrieben in J. G. D. Clark, Star Carr. Cambridge 1954. – Die aktuellste Publikation stammt von P. Mellars/P. Dark, Star Carr in Context. Cambridge 1999. 15 G. Bailey/P. Spikins (Hrsg.), Mesolithic Europe. Cambridge 2008, Kap. 1–4.

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16 S. Pope, A Study of Bows and Arrows. Berkeley 1923. 17 D. Srejovic, Europe’s First Monumental Sculpture. New Discoveries at Lepenski Vir. London 1989. – Zum aktuellen Stand der Chronologie sowie anderen Details siehe Bailey/Spikins (Anm. 15) Kap. 10. 18 Zum Ursprung der Nahrungsproduktion siehe G. Barker, The Agricultural Revolution in Prehistory. New York 2009. 19 Ebd. Kap. 9 enthält eine Beschreibung der Linearbandkeramiker. 20 J. Zilhão, The Spread of Agro-pastoral Economies Across Mediterranean Europe. A View from the Far West. Journal of Mediterranean Archaeology 6/1, 1993, 5–63. 21 B. Cunliffe, Europe Between the Oceans. London/New Haven, CT 2008, Kap. 3. 22 Siehe L. L. Cavalli-Sforza/E. Minch, The History and Geography of Human Genes. Princeton, NJ 1994 und M. R. Richards u. a., Palaeolithic and Neolithic Lineages in the European Mitochondrial Gene Pool. American Journal of Human Genetics 59, 1996, 185–203. – Siehe auch B. Sykes, The Molecular Genetics of European Ancestry. Philosophical Transactions of the Royal Society of London B. 354, 1999, 131– 139 – Ders., The Seven Daughters of Eve. London 2001. – Eine nützliche Zusammenfassung bietet R. Lewin, Ancestral Echoes. New Scientist 2089, 1997, 32–37.

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Register A

Binford, Lewis 77, 209 Abnutzungsspuren, Analyse der 83, 189 Blombos (Südafrika) 106, 109 Bölling-Interstadial 228–229, 231–232, Aborigines 53, 138–139, 154 244, 250–254 Abri Pataud (Frankreich) 206–208, Bordes, François 79, 83, 126 210, 212 Boreaphilus henningianus 244 Acheuléen 52 Borshchevo (Russland) 121, 217 Afrikanische Eva 25, 95, 97–98 Boule, Marcellin 57–58 Afrikanischer Adam 97 Boxgrove (England) 54 Agassiz, Louis 44 Brassempouy (Frankreich) Köpfchen Âge du Renne, siehe Rentierzeitalter von 197–198 Altamira (Spanien) 23, 125, 213, Bratlund, Bodil 255 239–241 Breuil, Henri 125–127, 222 Analyse, petrologische 83 Brückner, Eduard 44 Analysen; spektrografische 83 Bruniquel (Frankreich) 89 Arcelin, Adrien 219 Byzovaya (Russland) 27, 136 Archäozoologie 208–209 Assoziationscortex, präfrontaler 59 C Äthiopien 23 14 C-Methode 130–131 Attenborough, David 33 Cann, Rebecca 25, 95, 97–98 Aujoulat, Norbert 22 Cap Blanc (Frankreich) 235 Aurignacien 23, 124–129, 132–135, Cavalli-Sforza, Luigi Luca 265–266 137–143, 146–151, 154–156, 168, 178, 183, 190–191, 207, 210–211, 215, Chase, Philip 79 Châtelperronien 125–126, 133–134 219, 235 Chauvet (Frankreich), siehe Grotte Avdeevo (Russland) 186, 195, 197 Chauvet Chauvet, Jean-Marie 148 B Christy, Henry 19, 24, 125 Bacho Kiro (Bulgarien) 122 Churchill, Steven 117 Bahn, Paul 240 Clottes, Jean 153, 224 bâton de commandement, siehe Lochstab Combe Grenal (Frankreich) 79 Bäume, phylogenetische 96–97 Combier, Jean 219 Berezowka (Ukraine) 180 Coolidge, Frederick 90–91 Beschleuniger-MassenspektroCoon, Carleton 58 metrie 130, 150 Courand, Claude 248 Bestattungssitten Crabtree, Don 168 der anatomisch modernen Menschen 9, 99, 184–185, 193–194, 235, 265 der Neandertaler 86–87, 93–94 Bevölkerungsengpass 97, 104, 115 Bilzingsleben (Deutschland) 53

D Dansgaard-Oeschger-Ereignisse 244 Darwin, Charles 56–57, 93 de Mortillet, Gabriel 125

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66–68,

rEgistEr

de Sonneville-Borders, Denise 126 Deschamps, Eliette Brunel 148 Dmanisi (Georgien) 24, 48–49 DNS, mitochondriale (mtDNS) 13–14, 25, 28, 95–98, 100–101, 191, 266 Dolní Veˇstonice (Mähren) 185–186, 190–191, 195–196

E Efimenko, P. P. 186 Eisbohrkern 13, 43, 45, 64, 66–67, 103, 113, 123, 131, 159 Eliseevicˇi I (Russland) 191 El Mirón (Spanien) 248–249 El Sidrón, (Spanien) 59, 86, 88 Engis (Belgien) 56 Enloe, John 251 Eruption, kampanische 120–122, 124, 129, 131–132 es Skhul (Israel) 93–95, 98–99, 104 et Tabun (Israel) 93 Eskimos 19, 29, 163, 171–175

283

Gesher Benot Ya’aqov (Israel) 49 Glazial 22, 42–43, 45, 61–62, 64, 113, 115, 161, 245, 254 Gönnersdorf (Deutschland) 253–254 Gordon, Bryan 204–205 Gorham (Gibraltar) 136 Gould, Stephen Jay 36 Goyet (Belgien) 191 Gravettien 23, 125–127, 177–200, 203–204, 206–208, 211–212, 214, 219, 225, 228, 231, 235 Grotte Chauvet (Frankreich) 23, 148–152, 154–156, 194, 213, 215 Grotte de Fées (Frankreich) 133 Günz-Kaltzeit 44 Guthrie, R. Dale 37, 40, 163, 198–200

H

Fähigkeiten, kognitive 8, 11, 17, 26, 28, 85, 92, 105, 109, 134, 161 Fernandez, Antonio 34 Feuerstein 19, 80–82, 84, 123–124, 169, 190, 219, 251–253, 255 Flenniken, Jeff 168 Flöten 9, 144 Fontanet (Frankreich) 239 Foraminiferen 45 FOXP2-Gen 88 Frauen -figuren, siehe Venusfiguren/-statuetten Gravuren von 197, 215, 254 Fuhlrott, Johann Carl 56

Hahn, Joachim 140 Haile-Selassie, Yohannes 99 Handabdrücke 148–149, 154–155, 215, 239 Handel, stummer 33 Harpunen 19, 90, 126, 171, 233, 248 Herto (Äthiopien) 25, 99 Herz, Otto 180 Hillaire, Christian 148 Hohle Fels (Deutschland) 141, 144, 195 Hohlenstein-Stadel (Deutschland) 139–141, 146 Hominine 24, 44 Homo erectus 47, 50 Homo ergaster 24, 38–41, 46–50 Homo habilis 38 Homo heidelbergensis 23–24, 49–52, 62 Hulu (China) 131 Huxley, Thomas Henry 8, 57, 92–93

G

I

Gagarino (Ukraine) 197 Garrod, Dorothy 93–95, 128–129 Gerberei 231 Geschichte, genetische, siehe DNS, mitochondriale

Ingman, Michael 97 Interglazial 23, 42–43, 45–46, 61, 65, 78, 104, 113 Inuit 29, 63, 163, 172, 236

F

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284

rEgistEr

J Jahr ohne Sommer 102 Jonzac (Frankreich) 70 Jüngere Dryaszeit 113, 254, 256, 258, 263

K Kalium-Argon-Datierung 44 Kannibalismus 86 Karmel (Israel), Berg 93, 99, 128 Klimawandel 11, 13–14, 37, 41–43, 45, 61, 65–67, 100–101, 107, 113, 115, 231, 244–245, 248 Klingentechnologie 82, 106, 128, 167–169, 259 Knecht, Heidi 190 Knochenchemie, Untersuchungen der 70 Körperbemalung 89, 118, 139, 142, 214 Körpersprache 91 Körperverzierung 19, 143 Kostenki (Russland) 23, 121–122, 124, 128, 132, 186, 190–195, 217 Krakatau, Explosion des 102–103 Krings, Matthias 28 !Kung, Stamm der 199 Kurtén, Björn 92

L La Chapelle aux Saints (Frankreich) 57–58 La Cotte de Saint Brelade (Kanalinseln) 80 La Ferrassie (Frankreich) 206 La Gravette (Frankreich) 178 La Madeleine (Frankreich) 125–126, 205–206, 227 La Mouthe (Frankreich) 213, 239 La Riera (Spanien) 246–249 La Vache (Frankreich) 242–243 Lala, Bauern der 32 Lartet, Édouard 24, 124–125 Lartet, Louis 19 Lascaux (Frankreich) 23, 221–224, 226

Lascaux-Interstadial 224, 227 Laugerie Haute (Frankreich) 126, 206–207, 233 Le Fourneau du Diable (Frankreich) 214 Le Moustier (Frankreich) 84, 125, 133–134 Leakey, Louis 44, 83 Leakey, Mary 44 Lee, Richard 199 Leitfossilien 126 Lepenski Vir (Serbien) 262 Les Eyzies (Frankreich) 8, 10, 14, 19, 58, 124–126, 206, 213–214, 227, 235, 239 Les Rois (Frankreich) 135 Lewis-Williams, David 154 Libby, Willard 130 Linearbandkeramiker 263–264, 266 Lochstab 236 Löwenmensch 17, 19, 139, 141–142, 144–148, 155 Lumineszenzmethode/-datierung 121, 131, siehe auch Thermolumineszenzmethode

M Magdalénien 23, 84, 125–127, 170, 178, 227–231, 233–239, 241–242, 248, 251 Malawisee (Afrika) 100–101 Mammutfriedhöfe 67, 180–181 Mas d’Azil (Frankreich) 247–249 Maška, K. J. 184 Massenjagden 217, 219 McCown, Ted 93–94 Meiendorf (Deutschland) 252, 280 Mežiricˇ (Ukraine) 186–187, 192 Mikrolithen 258–260 Milankovitch, Milutin 42, 46 Milovice (Mähren) 181 Mindel-Kaltzeit 44 Mithen, Steven 88–91 Molekularbiologie 13, 25, 95–98, 110

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rEgistEr

Montet-White, Anta 219 Moula Guercy (Frankreich) 85 Moustérien 93, 125–126, 134, 136 Movius, Hallam 207, 210 mtDNS, siehe DNS, mitochondriale Mugharet el-Wad (Israel) 93, 128 Multiregionalisten 95

N

285

Prolonged Drift (Kenia) 107 Przewalski, Nikolai 217

Q Qafzeh (Israel) Quarzit 138

95, 98–99, 104

R

Ocker 99, 109, 139, 142, 148, 154, 185, 197 Olduvai-Schlucht (Ostafrika) 44 Oliva, Martin 181 Omo Kibish (Äthiopien) 23, 25, 99

Radiokohlenstoffanalyse, siehe 14 C-Methode Radiokohlenstoffdatierung 130–131, 133–134, 149–151, 219, 226 Rentierzeitalter 19, 64 Rhodes, Jill 117 Rigaud, André 169 Riss-Kaltzeit 44 Roc de Sers (Frankreich) 214 Rogacˇev, A. N. 186 Rotes Meer 41, 110, 112 Rozzi, Fernando 135 Rust, Alfred 252, 255

P

S

Pääbo, Svante 28 Paläoklimatologie 13, 44, 66 Paläomagnetismus 121, 131 Palynologie 67 Pariser Becken 229, 251 Parpalló (Spanien) 234 Pataud, Martial 206–207 Pavlov (Mähren) 181, 195 Pech de l’Aze (Frankreich) 142 Pech Merle (Frankreich) 214–215, 217 Penck, Albrecht 44 Périgordien 126 Pes˛tera cu Oase (Rumänien) 122 Peyrony, Denis 126 Pfizenmayer, Eugen 180 Pflanzenfunktionstypen (PFT) 67 Pigeot, Nicole 251 pointes d’Aurignac 127–128 Pollenanalyse 67 Pope, Saxon 259 Prˇedmost (Slowenien) 184–185

Sado (Portugal), Flusstal des 265 Sahara 14, 27, 36–37, 40–41, 46, 69, 93, 98,100, 104, 110, 112, 115 Saint Césaire (Frankreich) 70, 133 samans 145–146 San, Jäger-Sammler der 31–32, 100, 108, 154–155, 195, 199 Sauerstoff-Isotopenstufen 45, 66, 113 Sautuola, Don Marcelino Sanz de 239 Schaafhausen, Hermann 56 Schamanen 11, 145–146, 237 Schmid, Elisabeth 140 Schöningen (Deutschland) 52–54, 78 Sibudu (Südafrika) 106 Sima del Elefante (Spanien) 24, 48 Sima de Los Huesos (Spanien) 50–51 Soffer, Olga 187 Solutréen 124–125, 127, 225–227, 235 Speläotheme 115–116 Speerschleuder 117, 164–166, 190–191, 224, 228, 234–236, 252, 257–258

Nadeln 28–29, 90, 162, 164–166, 168, 170–171, 178 Nelson, Richard 173–175 Niaux (Frankreich) 23, 242–243, 246 Nunamiut, Volk der 209

O

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rEgistEr

Sprache der Neandertaler 8, 87–88, 90, 142 Star Carr (England) 256 Stellmoor (Deutschland) 254–255, 258 Stoneking, Mark 95 Straus, Lawrence 247 Stringer, Chris 43, 51 Sungir (Russland) 172, 193–195, 237 Sykes, Brian 266

T Tajo (Portugal), Flusstal des 265 Tambora (Südostasien), Berg 102–103 Tanganjikasee 100 Tauschhandel 32, 34, 108, 119, 137–138, 142, 253, 265 Thermolumineszenzmethode 98 Temnata Dupka (Bulgarien) 122 Thieme, Hartmut 52–53 Tiefseebohrkerne 43–44, 66–67, 100, 131 Timonovka (Russland) 193 Toba (Südostasien), Berg 14, 23, 102–106, 108–109, 115, 120 Totenrituale, siehe Bestattungssitten Trinkaus, Erik 123 Tuc d’Audoubert (Frankreich) 238

U utunuta mafumo

32

V Vandermeersch, Bernard 95, 98 Venusfiguren/-statuetten 141–142, 195–200, 235, 253 Vereshchagin, Nikolai 180–181 Vesuv (Italien) 120 Vielfalt, genetische 104 Villars (Frankreich) 64 Virchow, Rudolf 56 Völzing, Otto 139 Vogelherd (Deutschland) 141, 143

W Weichsel-Kaltzeit 64 Willendorf (Österreich) 195–196 Wilson, Alan 25, 95 Wolf, Ute 140 Würm-Kaltzeit 44, 64 Wurfstock 53–54, 78, 117 Wynn, Thomas 90

Y Y-Chromosom 13–14, 25, 96–97 Yoingu, Aborigines vom Stamm der

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Bildnachweis Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz / Art Resource, NY: Tafel V oben; Centre de Préhistoire du Pech Merle, Cabrerets, Frankreich: Tafel IV unten; Charles Jean Marc / Corbis Sygma: Tafel VIII unten; Eric Guerrier. Musée de l’Abri Pataud aux Eyzies-de-Tayac, Dordogne und Institut de Paléontologie Humaine. Die Zeichnung entstand nach Vorgaben von Professor Henry de Lumley: Tafel III oben; Erich Lessing / Art Resource, NY: Abb. 17/18; Copyright© Groupe Fleurus. Illustration von Christian Jegou, Lascaux: Tafel VII unten, VIII oben; Hilde Jensen. Institut für Urgeschichte, Universität Tübingen: Abb. 9; Interfoto Pressebildagentur / Alamy: Abb. 28; Jack Unruh / National Geographic Image Collection: Abb. 13; Liban Balák: Abb. 15; Marie-Odile und Jean Plassard: Abb. 12; Martin Jenkinson / Alamy: Tafel IV oben; Ministère de la Culture et de la Communication. Préfecture de la Région Rhône-Alpes. Direction Régionale des Affairs Culturelles: Tafel I unten, II; Mit freundlicher Genehmigung von Walking Dordogne: Abb. 24; Nach G. Henri-Martin, La Grotte de Fontéchevade. Erster Teil. Archives de l’Institut de Paléontologie Humaine, Mémoires 28, Paris 1957: Abb. 8; Nach Jean-Luc Piel-Desruisseaux, Outils Préhistoriques. Paris 2007. Abdruck mit freundlicher Genehmigung: Abb. 7, 11a/b, 14, 23a/b/d/e/f, 25; Nach M. Julien, Les harpoons magdaléniens. Gallia Préhistoire, XVIIe supplément. Paris 1982: Abb. 23c; Nach P. Smith, Le Solutréen en France. Bordeaux 1966: Abb. 22; President and Fellows of Harvard College, Peabody Museum #2004.24.33363: Abb. 20; Réunion des Musées Nationaux / Art Resource, NY: Abb. 19; Tafel V unten; Robert Harding Picture Library / Alamy: Abb. 21; Tafel VII oben; Sisse Brimberg & Cotton Coulson, Keenpress / National Geographic Image Collection: Tafel VI; The Bridgeman Art Library: Tafel III unten; Thomas Stephan. Copyright © Ulmer Museum: Tafel I oben; Werner Forman / Art Resource, NY: Abb. 16

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Impressum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Englische Originalausgabe: Cro-Magnon: How the Ice Age Gave Birth to the First Modern Humans © 2012 by Bloomsbury. This Translation published by arrangement with Bloomsbury USA, a division of Bloomsbury Publishing, Inc. All rights reserved. © 2012 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Übersetzung: Bettina von Stockfleth, Hamburg Lektorat: Dr. Birgit Wüller, Stuttgart Layout und Satz: primustype Hurler, Notzingen Druck und Bindung: CPI-Ebner & Spiegel, Ulm Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.theiss.de ISBN: 978-3-8062-2583-9 Lizenzausgabe für die WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt ISBN 978-3-534-24697-7 www.wbg-wissenverbindet.de Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-2655-3 (Buchhandel) eBook (PDF): 978-3-534-73097-1 (für Mitglieder der WBG)

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