Corpus inscriptionum medii aevi Helvetiae: I Die Inschriften des Kantons Wallis bis 1300 9783110905991, 9783110180671


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German Pages 192 [284] Year 1977

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Corpus inscriptionum medii aevi Helvetiae: I Die Inschriften des Kantons Wallis bis 1300
 9783110905991, 9783110180671

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CORPUS INSCRIPTIONUM MEDII AEVI HELVETIAE Die frühchristlichen und mittelalterlichen Inschriften der Schweiz

SCRINIVM

FRIBVRGENSE

VERÖFFENTLICHUNGEN DES MEDIÄVISTISCHEN INSTITUTS DER UNIVERSITÄT FREIBURG SCHWEIZ HERAUSGEGEBEN VON DEN PROFESSOREN PASCAL LADNER CARL PFAFF ALFRED A. SCHMID

Sonderband 1

CORPUS INSCRIPTIONUM MEDII AEVI HELYETIAE Die frühchristlichen und mittelalterlichen Inschriften der Schweiz

Herausgegeben von

CARL P F A F F

I

Die Inschriften des Kantons Wallis bis 1300 Gesammelt und bearbeitet von

CHRISTOPH J Ö R G

Mit 105 Abbildungen auf 44 Tafeln

1977 UNIVERSITÄTSVERLAG FREIBURG

SCHWEIZ

Veröffentlicht mit der Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftl. Forschung, des Hochschulrates der Universität Freiburg Schweiz und der Regierung des Kantons Wallis Die Auflage beträgt 500 Exemplare © 1977 by Universitä tsver lag Freiburg Schweiz Druck: Paulusdruckerei Freiburg ISBN 3-7278-0164-6

INHALT

Vorwort

7

I. Einführung

11

Geschichtlicher Überblick über die Fundorte der Inschriften

13

Die nichtoriginal überlieferten Inschriften

21

Epigraphische Auswertung

22

Zur Benützung des Katalogs

30

II. Katalog Nr. 1-59 Unbestimmbare Fragmente (Nr. 60 I - X I I ) III. Verzeichnisse

33 35 159 167

Bibliographische Abkürzungen

169

Literaturverzeichnis

171

Personen-, Orts- und Sachregister Index verborum

178 184

Paläographisches Register

188

Tafelverzeichnis

190

Nachweis der Abbildungen

192

VORWORT

Das Mittelalter hat eine Fülle von Inschriften geistlichen und weltlichen Inhalts auf Stein, Metall, Holz, auf Leder, Textilien und Glas hinterlassen, die zu einem erheblichen Teil auf dem originalen Inschriftenträger und am ursprünglichen Standort erhalten sind. Während jedoch die antiken Inskriptionen als Geschichtsquellen schon seit den Humanisten die gebührende Beachtung gefunden hatten, wurde der historische Erkenntniswert mittelalterlicher Inschriften eher gering veranschlagt. Die zahlreichen älteren Sammlungen des 17. und 18. Jahrhunderts beschränkten sich in ihrem engen heimatkundlichen und genealogischen Blickwinkel vor allem auf nachreformatorische Grabschriften und beachteten nur ausnahmsweise das Material aus den mittleren Jahrhunderten. In seinem gewaltigen Bemühen um die Aufarbeitung der mittelalterlichen Quellen hat das 19. Jahrhundert den urkundlichen und historiographischen Denkmalen den fast absoluten Vorzug gegeben; es ist bezeichnend, daß noch David Viollier in seinem den Inschriften unseres Landes gewidmeten Artikel im vierten Band des Historisch-biographischen Lexikons der Schweiz (1927) nur über die römische Epigraphik referiert und die mittelalterliche nicht einmal erwähnt. Mit dem Aufschwung der christlichen Archäologie hatte indessen auch bei uns ein gewisses Interesse an den christlichen Inschriften der Spätantike und des Frühmittelalters eingesetzt: die mit großer Sorgfalt angelegte Sammlung der betreffenden Zeugnisse aus der Schweiz vom 4. bis 9. Jahrhundert, die Emil Egli im Anschluß an die bekannten Publikationen von Edmond Le Blant und Franz Xaver Kraus veröffentlicht hat, und die bis heute grundlegenden epigraphischen Untersuchungen des späteren Freiburger Bischofs Marius Besson sind davon die überzeugendsten Früchte. Emil Egli hatte selbst die Absicht, seine Sammlung fortzusetzen und dereinst den gesamten mittelalterlichen Inschriftenbestand der Schweiz zu erfassen. Der Zürcher Kirchenhistoriker stellte aber seine eigenen, nicht sehr zahlreichen Abschriften seinem jüngeren Kollegen Ernst Alfred Stückelberg zur Verfügung, als dieser 1895 mit dem Plan hervortrat, alle schweizerischen Inschriften vom 9. bis zum 16. Jahrhundert zu publizieren. Stückelberg verstand seine Sammlung als ein Quellenwerk zur Geschichte, Kultur- und Kunstgeschichte der Schweiz, das ihm um so dringender erschien, als der Denkmälerbestand durch Verwitterung und Demolierung alter Gebäude sich rasch verringere. An zahlreiche historische Vereinigungen versandte er zu diesem Zweck ein Zirkular. Von ihren Mitgliedern erwartete er Hinweise und Zitate, genaue Abschriften oder Durchzeichnungen, Abgüsse und Fotografien, während er von der Zürcher Antiquarischen Gesellschaft eine bescheidene finanzielle Unterstützung erwirkte. Sein Unternehmen gedieh jedoch über die Anfänge nicht hinaus. Die eigenen Notizen Stückelbergs und die eingegangenen Hinweise auf 335 Blättern in drei Mappen kamen zuhanden der Antiquarischen Gesellschaft in die Zürcher Zentralbibliothek (Ms. N 207-209). Es handelt sich überwiegend um bibliographische Angaben zu Inschriften, die nur zum Teil aus dem Mittelalter stammen. Als Materialgrundlage für eine moderne Edition der mittelalterlichen Inskriptionen kommen diese Kollektaneen nicht in Betracht. 7

Seitherige Inschriftensammlungen hatten ausnahmslos einen lokalen und speziellen oder mehr volkskundlich-heimatkundlichen Charakter und bezogen sich wiederum überwiegend auf die Moderne. Dagegen führen die Bearbeiter der Kunstdenkmälerbände im Prinzip auch die mittelalterlichen Inschriften auf; dabei verfolgen sie primär denkmalpflegerische Zwecke, eine spezifisch epigraphische Zielsetzung liegt ihnen fern. Inzwischen hat die Mittelalterepigraphik außerhalb der Schweiz einen beträchtlichen Aufschwung genommen. In Deutschland und Österreich wird der Gedanke, das eigene Inschriftenmaterial sogar über das Mittelalter hinaus in seiner Gesamtheit wissenschaftlich zu erschließen, konsequent verfolgt. Auf Initiative des Heidelberger Germanisten Friedrich Panzer wurde 1934 das große Deutsche Inschriftenwerk (DI) ins Leben gerufen. Die Akademien von Heidelberg, Berlin, Göttingen und Leipzig sowie die Bayerische und die Wiener Akademie der Wissenschaften übernahmen die Betreuung des Unternehmens. Nach einer langjährigen, kriegsbedingten Unterbrechung haben sie, nunmehr ergänzt durch die Akademien von Mainz und Düsseldorf, 1959 grundsätzlich beschlossen, den ursprünglichen Plan weiterzuführen. In Frankreich ist der erste, von Henri Irénée Marrou herausgegebene Band des neuen «Le Blant» bereits erschienen. In Poitiers hat sich unter der Leitung von Edmond-René Labande ein Arbeitszentrum gebildet, das die mittelalterlichen Inschriften ganz Frankreichs kritisch edieren will; der erste Faszikel ist 1974 herausgebracht worden. Das Mediävistische Institut der Universität Freiburg hat sich schon vor einiger Zeit die Aufgabe gestellt, den Gedanken Eglis und Stückelbergs in stark veränderter Form wieder aufzunehmen und eine dem DI analoge Sammlung der mittelalterlichen schweizerischen Inschriften herauszugeben. Zu diesem Zweck konstituierte sich in Freiburg ein Kuratorium, dem Henri Meylan, Lausanne, Dietrich W. H. Schwarz, Zürich, Alfred A. Schmid, Pascal Ladner und Carl Pfaff (als Vorsitzender), Freiburg, sowie Fräulein Theresia Payr, Leiterin des Mittellateinischen Wörterbuches, und Rudolf M. Kloos von der bayerischen Arbeitsstelle des DI, beide München, angehören. Der Schweizerische Nationalfonds hat schon im Herbst 1971 die Finanzierung übernommen, so daß im Oktober desselben Jahres der Bearbeiter, Dr. phil. Christoph Jörg, seine Forschungen beginnen konnte. Das CIMAH setzt sich nach den vom Kuratorium genehmigten Richtlinien zum Ziel, den gesamten im Original oder abschriftlich überlieferten Bestand an lateinischen oder vulgärsprachlichen Inschriften aus der mittelalterlichen Schweiz in inländischem kirchlichem, öffentlichem und privatem Besitz - in ausländischem, sofern sich eindeutig ein mittelalterlicher schweizerischer Vorbesitzer nachweisen läßt - aufzunehmen und zu publizieren. Da sich eine Neubearbeitung der Sammlung Eglis aufdrängt, werden die altchristlichen Zeugnisse ebenfalls erfaßt: als terminuspost gilt demnach das Jahr 377 (Inschrift des Asclepiodotus im Rathaus von Sitten), als vorläufiger terminus ante - wie beim französischen Inschriftenkorpus - das Ende des 13. Jahrhunderts. Die spätmittelalterlichen Inschriften werden einem zweiten Arbeitsgang vorbehalten. Im Gegensatz zum DI wird aber auf die Ausweitung in die Neuzeit überhaupt verzichtet, was sich weniger aus paläographischen als aus inhaltlichen und praktischen Gründen rechtfertigen läßt. Das spätere Material ist so zahlreich und mehr von lokalem Interesse, daß es nicht von einer einzigen Arbeitsstelle aus bewältigt werden kann und mit Vorteil wie bisher durch örtlich oder regional beschränkte Sammlungen erschlossen wird. 8

Für das Mittelalter erstrebt das CIMAH Vollständigkeit des Materials; ausgeschlossen bleiben nur eindeutig römische und Runeninschriften sowie Hauszeichen, Beschauzeichen und dergleichen, ferner alle Inskriptionen, die Gegenstand von Spezialwissenschaften sind, wie der Sphragistik, Heraldik und Numismatik. Jede Inschrift wird für sich als Einzelquelle untersucht, und samt dem Inschriftenträger genau beschrieben, transkribiert, übersetzt und nach textkritischen Gesichtspunkten ediert, sodann überlieferungsgeschichtlich, paläographisch und nach ihrem historischen Kontext kommentiert und so genau wie möglich datiert und außerdem mit einer Bibliographie versehen. Die Bearbeitung geschieht kantonsweise. Die Publikation richtet sich nach der Menge der bearbeiteten Inschriften, indem inschriftenreiche Kantone eine eigene Publikation erhalten, andere dagegen nach Kulturbereichen zusammengelegt, aber in eigenen Abteilungen veröffentlicht werden. Die Anordnung innerhalb der Kantone erfolgt streng chronologisch, da sich nach Ansicht der meisten Epigraphiker eine Anordnung nach Inschriftenträgern nicht bewährt hat. Erschöpfende Register machen dafür Provenienz, Standort, Vorbesitzer, Inschriftenträger und -art leicht auffindbar. Vielleicht in stärkerem Maße, als es bei bisherigen vergleichbaren Inschrifteneditionen der Fall gewesen ist, will das CIMAH den schriftgeschichtlichen Gesichtspunkt berücksichtigen und gerade damit einen wesentlichen Beitrag zur mittelalterlichen Epigraphik leisten, die sich noch immer in statu nascendi befindet. Das ganze Unternehmen ist aber so angelegt, daß es - wie wir hoffen - allen interessierten historischen Disziplinen, der Kirchen- und Landesgeschichte, der Genealogie, der Rechts-, Wirtschafts-, Kunst- und Kulturgeschichte oder der Volkskunde und der Sprachgeschichte in fruchtbarer Weise dienen kann. Endlich bleibt dem Herausgeber die angenehme Pflicht, den Mitgliedern des Kuratoriums für all ihre wertvollen Anregungen und Ratschläge zu danken. Besonders dankbar fühlt er sich aber Fräulein Dr. Theresia Payr und Herrn Dr. Rudolf M. Kloos verbunden, die weder Zeit noch Mühe scheuten, ihre Erfahrung und ihr Wissen in den Dienst des Corpus zu stellen. Gerne vermerkt er an dieser Stelle auch das hilfsbereite Interesse, das dem Bearbeiter bei den Herren Can. Dr. Leo Müller (St-Maurice), Domdekan Joseph Bayard, Dr. François Olivier Dubuis, Albert de Wolff und Maurice Wenger (Sitten), den Betreuern des Walliser Inschriftenmaterials, begegnet ist. Ein freundlicher Dank richtet sich auch an Frau Dr. Gisela von Preradovic und Herrn Professor Bruno Boesch in Freiburg im Breisgau für die Durchsicht des germanischen Namenmaterials und schließlich an die Herren Dr. Josef Leisibach und stud. phil. Peter Jäggi für das Mitlesen der Korrekturen. Ohne großzügige finanzielle Unterstützung durch den Schweizerischen Nationalfonds wäre es freilich undenkbar gewesen, sich an ein Inschriftenwerk zu wagen, das den analogen ausländischen Unternehmungen entsprechen soll. In dankenswerter Weise übernahm der Nationalfonds ebenfalls den größten Teil der Druckkosten des vorliegenden Bandes, dessen Erscheinen auch durch namhafte Beiträge des Hochschulrates der Universität Freiburg und des Staatsrates des Kantons Wallis ermöglicht worden ist. Der Jubiläumsstiftung des Schweizerischen Bankvereins dankt schließlich das Mediävistische Institut Freiburg für eine beachtliche Spende, die den Aufbau der unerläßlichen Fachbibliothek wesentlich erleichtert hat. CARL PFAFF

9

EINFÜHRUNG

GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK ÜBER DIE FUNDORTE DER INSCHRIFTEN Der Kanton Wallis umfaßt den Quellbereich der Rhone bis zur Mündung in den Genfersee 1. Während sein Gebiet im oberen Teil gegen das bis ins 12./13. Jahrhundert kaum erschlossene Gotthardmassiv ausläuft, stößt es bei Martigny, wo die Rhone im rechten Winkel von Westen nach Norden abbiegt, auf die wichtige Paßstraße des Großen St. Bernhard, die Oberitalien und Aosta mit dem unteren Wallis und dem Genfersee verbindet. In vorrömischer Zeit siedelten hier vier keltische Stämme : die Nantuates (St-Maurice), die Veragri (Martigny), die Seduni (Sitten) und die Uberi (Visp). Ungefähr zur gleichen Zeit wie die rätischen Pässe, das heißt um 15 vor Christus, als Augustus die große römische Expansion nach Norden einleitete, gelangte auch der Große St. Bernhard und mit ihm das Rhonetal bis zum schon unterworfenen Genferseegebiet unter römische Herrschaft. Anfänglich der Provinz Rätien zugeteilt, gehörte das ganze heutige Wallis als Civitas Vallensium mit Hauptstadt Octodurus / Martigny wohl seit der Mitte des 1. Jahrhunderts nach Christus zu den Alpes Graiae et Poeninae und seit der diokletianischen Reichsreform (284-305) zur gleichnamigen Provinz innerhalb der Diözese Gallien. Römerzeitliche Funde zeigen, daß die keltische Bevölkerung, deren Dichte von Siders an rhoneaufwärts sehr gering gewesen sein muß, sich insofern nur äußerlich romanisierte, als sie die lateinische Verwaltungssprache sowie die wirtschaftliche und soziale Struktur von den Römern übernahm, jedoch manche keltischen Götter und Namen beibehielt. Das Christentum dürfte sowohl aus Oberitalien über den Großen St. Bernhard als auch aus Südfrankreich über Vienne, Lyon und Genf ins Wallis gelangt sein. Es wird zuerst im historisch gesicherten Bischof Theodor von Octodurus/Martigny (381) greifbar, der nach dem glaubhaften Bericht des Eucherius von Lyon (f 450) die Gebeine der im Jahre 285 oder 286 bei St-Maurice hingerichteten thebaischen Soldaten aufgefunden hat. Das älteste datierte Zeugnis der Christianisierung des Wallis - und der ganzen heutigen Schweiz - ist jedoch die aus dem Jahre 377 stammende Sittener Bauinschrift, die den römischen Amtsträger Pontius Asclepiodotus durch ein Christusmonogramm als Christen ausweist (Kat.-Nr. 1).

1

Wichtigste Literatur zur Geschichte des Wallis bis 1300 (in alphabetischer Reihenfolge): AEBISCHER, La christianisation du Valais. - BESSON, Antiquités. - DERS., Recherches sur les origines, 1-44. - BÜTTNER, Zur frühen Geschichte des Bistums Octodurum-Sitten. - BÜTTNER / MÜLLER, Frühes Christentum, 195 (Reg.). - CARLEN, Die Kreuzzugsbewegung im Wallis. - EGGS, Die Geschichte des Wallis im Mittelalter. GAY, Histoire du Valais. - GREMAUD, Doc. I-II. - GRUBER, Die Stiftungsheiligen. - Histoire de la Savoie, passim. - HOWALD / MEYER, Die römische Schweiz, 195-218. - MARTIN, Etudes critiques, 3-72. - MAYER, Die Alpen und das Königreich Burgund, 57-76. - MEYER, Römische Zeit, in: HSG I, 59-61, 63, 71 f., 75, 84, 88 f. - DERS., Zur Geschichte des Wallis in römischer Zeit. Basler Zeitschrift für Geschichte 42(1943) 59-78. - MÜLLER, Zur Entstehung der Pfarreien im Wallis. - PEYER, Frühes und hohes Mittelalter, in: HSG I, 95-97, 100 f., 110, 115, 123, 126 f., 138, 140 f., 155 f. - PFISTER, Kirchengeschichte I, 546 (Reg.). POUPARDIN, Le royaume de Bourgogne, 17, 88, 97-100, 181, 193, 276, 279, 322, 430, 456. - SAUTER, Préhistoire. - SEVERIN, Savoia ed il Vallese. - STAEHELIN, Die Schweiz in römischer Zeit, 650 (Reg.). - TAMINI/ DÉLÈZE, Nouvel essai de Vallesia Christiana. - E. VOGT, Urgeschichte, in: HSG I, 35, 39,43,45, 49 f.

13

Die Völkerwanderung und der römische Machtzerfall bilden den Hintergrund für den nächsten bedeutenden Einschnitt in der Walliser Geschichte. Nachdem nämlich die aus dem Norden stammenden Burgunder als römische Föderaten am Mittelrhein gegen die Hunnen eine vernichtende Niederlage eingesteckt hatten, ließ der römische Feldherr Aerius im Jahre 443 ihre Reste in der schwer lokalisierbaren Sapaudia in der Umgebung von Genf ansiedeln. In der Folge weitete diese germanische, dem Arianismus verpflichtete Völkerschaft mit einem König an der Spitze ihren Machtbereich im mittleren Rhonebecken um Lyon, im Norden um den Genfersee und über den Jura sowie im Osten über das Wallis und bis zur Aare aus, wobei die Frage nach ihrem eigentlichen Siedlungsraum und ihrer Siedlungsstärke noch sehr umstritten ist. Die Assimilation der burgundischen Siedler mit der spätrömischen Beamtenaristokratie, dem katholischen Klerus und der größtenteils romanisierten Bevölkerung vollzog sich jedenfalls reibungslos und so schnell und gründlich, daß es bis heute noch kaum gelungen ist, das burgundische Element in Sprache und Kultur zu eruieren. Auf kirchenpolitischem Gebiet fällt wohl noch in die Frühzeit der Burgunderherrschaft die Loslösung des Bistums Octodurus/Martigny von der Metropole Mailand und seine Eingliederung ins Erzbistum Vienne. Für das Wallis und insbesondere für St-Maurice ist außerdem der schon früher angebahnte, im Jahre 515 durch die Machtübernahme König Sigismunds offiziell vollzogene Übertritt vom Arianismus zum Katholizismus von großer Bedeutung. Ist es doch Sigismund gewesen, der im Jahre 515 - auf Anregung des Erzbischofs Avitus von Vienne den seit Bischof Theodor von Octodurus/Martigny als Wallfahrtsstätte, noch nicht aber als monasttsche Niederlassung bekannten Ort Agaunum / St-Maurice reich beschenkt und mit einer Klosterstiftung nach Art des südgallischen Mönchtums dotiert hat. Auf eine erste große Blüte und Ausstrahlung der Abtei St-Maurice, die vor allem dem nach orientalischem Vorbild eingeführten immerwährenden Gotteslob (laus perennis) zuzuschreiben ist, folgte die Eingliederung Burgunds ins fränkisch-merowingische Reich und die Zeit der Langobardeneinfälle. Politische Unsicherheit sowie Streitigkeiten zwischen dem Bischof von Octodurus/Martigny und der Abtei St-Maurice mögen dazu geführt haben, daß der Bischofssitz in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts endgültig nach Sitten verlegt worden ist. Vom späten 6. Jahrhundert bis zur Karolingerzeit fließen die Geschichtsquellen im Wallis sehr spärlich. Während aus den wenigen archäologischen Kleinfunden der Merowingerzeit, die im ganzen Unterwallis und hinauf bis Visp gemacht worden sind, nur geringe Schlüsse über die Bevölkerung gezogen werden können, lassen die literarischen Quellen, die Inschriftenfunde und die Überreste von Kirchenbauten sowie zwei nachweisbare Münzprägstätten immerhin die anhaltende Bedeutung von St-Maurice und das Erstarken der neuen Bischofsstadt Sitten erschließen. Unter den Karolingern, die im Rahmen ihrer Italien- und Westalpenpolitik am Großen St. Bernhard und damit am ganzen Wallis interessiert waren, verloren sowohl die Abtei St-Maurice als auch das Bistum Sitten ihre in fränkisch-merowingischer Zeit erworbene Selbständigkeit. Die Verwaltung beider Institutionen wurde nunmehr in Personalunion von Vertretern und vielleicht sogar Verwandten der Karolinger ausgeübt. In diese Zeit fällt die Bildung der Grafschaft Wallis, die zunächst das ganze Bistumsgebiet bis zum Genfersee umfaßte. Auf kirchenpolitischem Gebiet löst sich der Bischof von Sitten, der in merowingischer Zeit wohl noch kirchliche und weltliche Macht miteinander verbunden hatte, vom Erzbistum Vienne, um fortan der Metropolitankirche von Tarentaise anzugehören. 14

Anläßlich der spätkarolingischen Reichsteilungen wurde das Wallis nacheinander zum Reich Lothars I. (839), Ludwigs II. (859) und schließlich zum Königreich Hochburgund (888) geschlagen. Mit der Entstehung dieses letzteren Staates gewannen das Wallis und insbesondere das inzwischen königliche Eigenkloster St-Maurice an Bedeutung, basierte doch die Macht der burgundischen Rudolfinger zum großen Teil auf der Kontrolle des Großen St. Bernhard. Vermutlich wurde damals das Gebiet unterhalb des Ottans-Kreuzes bei Martigny von der Grafschaft Wallis abgetrennt und der später savoyischen Grafschaft Chablais angegliedert. Im Jahre 999 schenkte der letzte Burgunderkönig Rudolf III. die Grafschaft Wallis dem Bischof von Sitten, womit dieser weltlicher Herr über das Rhonetal bis Martigny wurde. Die Schwäche der letzten Rudolfinger, die von den Ottonen, von den lokalen und benachbarten Grafengeschlechtern sowie von brandschatzenden Sarazenen und Ungarn ausgenützt wurde, führte schließlich zur Eingliederung Burgunds ins deutsche Reich. Dabei suchte der Bischof von Sitten vor allem gegen die aufkommenden Savoyer, die das untere Wallis mit St-Maurice zu beherrschen begannen, für seine Grafschaft die Reichsunmittelbarkeit zu wahren. Die folgende Zeit bis 1300 ist gekennzeichnet durch den Kampf der Bischöfe von Sitten um ihre weltliche Macht, die sie allmählich zugunsten des Hauses Savoyen, vorübergehend auch der Zähringer und der Oberwalliser Territorialherren verloren.

Bourg-St-Pierre Im Val d'Entremonts, das den Großen St. Bernhard mit Martigny verbindet, liegt nahe der Waldgrenze das Dorf Bourg-St-Pierre 1 . Zur Zeit der Römer befand sich außer dem Heiligtum und Hospitium Möns Iovis auf der Paßhöhe des Großen St. Bernhard auch in Bourg-St-Pierre eine mansio für Reisende. Während vom Weiterbestehen eines Hospitiums auf der Paßhöhe in frühmittelalterlicher Zeit nichts bekannt ist, darf angenommen werden, das tiefer gelegene Bourg-St-Pierre sei eine der schon früh erwähnten clusae oder Grenzbefestigungen gewesen, die im Jahre 574 in die Hände der Langobarden fielen. Im 9. Jahrhundert ist ein monasterium sancti Petri belegt, das Bourg-St-Pierre seinen Namen gab. Die Bedeutung des Ortes in karolingischer Zeit läßt sich daran ablesen, daß Lothar II. anläßlich der Abtretung eines Reichsteiles an seinen Bruder Ludwig II. Bourg-St-Pierre für sich zurückbehielt. Mit der Herrschaft der Rudolfinger setzten auch die Ungarn- und Sarazeneneinfälle ein, die zur zeitweiligen Lahmlegung des Paßverkehrs und zur Verwüstung von Bourg-St-Pierre führten. Eine nicht mehr original überlieferte Bauinschrift (Kat.-Nr. 46*) bezieht sich auf diese Vorgänge und auf die unter Bischof Hugo von Genf wiederhergestellte Klosterkirche.

1

Wichtigste Literatur zu Bourg-St-Pierre : Armoriai valaisan, 40 f. - B L O N D E L , L'église et le Prieuré de BourgSt-Pierre. - BÜTTNER / MÜLLER, Frühes Christentum, 80. - COTTINEAU, Répertoire 1,1320 f. - D O N N E T , Saint Bernard et les origines de l'hospice du Mont-Joux, 39-51. - G R E M A U D , D O C . I , 553 (Reg.); I I , Nr. 951. HBLS I I , 330. - MÜLLER, Zur Entstehung der Pfarreien im Wallis, 20-22. - Q U A G L I A , La Maison du Grand-Saint-Bernard. - M. RIBORDY, La paroisse de Bourg-Saint-Pierre et ses Prieurs. Annales valaisannes I I E sér. 28 (1953) 313-345. - SAUTER, Préhistoire (1950) 70 f. ; (1960) 248 f.

15

Das um 1050 durch Bernhard von Aosta auf der Paßhöhe gegründete Hospiz gewann bald die Oberhand über Bourg-St-Pierre, indem letzteres als Priorat und Pfarrei in Abhängigkeit zum Großen St. Bernhard geriet. Über engere Beziehungen zwischen St-Maurice und BourgSt-Pierre oder dem Großen St. Bernhard ist nichts bekannt. Ob das wahrscheinlich in StMaurice entstandene Petrus-Büstenreliquiar (Kat.-Nr. 50) wie die übrigen Reliquiare von St-Maurice aus dem 12. Jahrhundert mit dem Geld der kreuzfahrenden Savoyer, die damals auch Bourg-St-Pierre und den Großen St. Bernhard beherrschten, hergestellt worden ist und ob es ursprünglich für Bourg-St-Pierre bestimmt war, ist unsicher.

Nax Der fünfzehn Kilometer östlich von Sitten am Eingang zum Val d*Herens gelegene Ort Nax 1 weist vereinzelte Plattengräber aus einer nicht näher bestimmbaren Epoche sowie einige Armspangen aus latenezeitlichen Gräbern auf. In burgundischer Zeit dürfte Nax zum Königsgut Bramois gehört haben, das 515 an die Abtei St-Maurice fiel. Hier wurde die bisher einzige frühmittelalterliche, mit einer Inschrift versehene Gürtelschnalle des Wallis gefunden (Kat.-Nr. 18). Ein Zusammenhang zwischen dieser Inschrift und den zeitgenössischen epigraphischen Dokumenten von St-Maurice scheint nicht zu bestehen.

Nenda^ Das historische und administrative Zentrum dieser weitläufigen Walliser Gemeinde liegt am Eingang zum Val de Nenda%, ungefähr sieben Kilometer südwestlich von Sitten im heutigen Basse-Nendaz 2. Die Pfarrei mit der Pfarrkirche St. Leodegar dürfte im 10./11. Jahrhundert, vielleicht auch früher von der Abtei St-Maurice, die über Conthey schon sehr früh zu Besitzungen im Räume Nendaz gekommen war, gegründet worden sein. Während die zu Kastvögten bestellten Grafen von Savoyen allmählich ihren Einfluß in Nendaz ausdehnten, trat die Abtei St-Maurice um 1165 die Pfarrkirche St. Leodegar gegen diejenige von St-Maurice (St. Sigismund) an den Bischof von Sitten ab. Das aus der Pfarrkirche stammende Glasgemälde (Kat.-Nr. 58) dürfte im Zusammenhang mit dem gotischen, bis ins Jahr 1880 bestehenden Chor entstanden sein.

1

2

Wichtigste Literatur zu Nax: Armoriai valaisan, 181. - BÜTTNER / MÜLLER, Frühes Christentum, 84. GREMAUD, Doc. I, 580 und II, 616 (Reg.). - GRUBER, Die Stiftungsheiligen, 144 f. - HBLS V, 237. MÜLLER, Zur Entstehung der Pfarreien im Wallis, 52 f. - SAUTER, Préhistoire (1950) 116; (1960) 262 f. Wichtigste Literatur zu Nendaz: Armoriai valaisan, 181 f. - BÜTTNER / MÜLLER, Frühes Christentum, 82. Geographisches Lexikon der Schweiz III, 525. - GREMAUD, DOC. I, 581 und II, 616 (Reg.). - GRUBER, Die Stiftungsheiligen, 40, Nr. 39; 187 f. - HBLS V, 242. - Lucien LATHION, Nendaz au moyen âge. Annales valaisannes 7 (1929-32) 37-64. - MÜLLER, Zur Entstehung der Pfarreien im Wallis, 51. - SAUTER, Préhistoire (1950) 1 1 6 f.; (1960) 263.

16

St-Maurice St-Maurice 1 , das sich in der Anzahl früh- und hochmittelalterlicher Inschriften stark von Sitten und vom übrigen Wallis abhebt, weist eine außerordentliche geschichtliche Kontinuität auf, die der geographischen Lage an einer wichtigen und leicht sperrbaren Handels- und Militärstraße sowie der frühen Einpflanzung einer christlichen Kultstätte mit großer Ausstrahlungskraft zuzuschreiben ist. Der fließende Übergang von der römischen Spätantike zum christlichen Frühmittelalter ist nicht allein durch die thebaischen Märtyrer, sondern auch durch archäologische und epigraphische Funde belegbar. So hat man neben römischen Bauresten die Fundamente der ersten, gegen Ende des 4. Jahrhunderts entstandenen MärtyrerKapelle und des damit zusammenhängenden Hospitiums gefunden. Über die Klerikergemeinschaft, die in der Zeit vor der Klostergründung von 515 den sicher schon rege besuchten Wallfahrtsort betreute, weiß man nichts Bestimmtes. Datierbare inschriftliche Zeugnisse aus dieser Zeit fehlen, doch ist die im 5. Jahrhundert wachsende Bedeutung von St-Maurice durch archäologisch gesicherte Erweiterungsbauten bezeugt. Ein Markstein in der Geschichte von St-Maurice ist die Klosterstiftung im Jahre 515 durch König Sigismund von Burgund, der damit seinen Übertritt vom Arianismus zum Katholizismus augenfällig bekundete. Die literarischen, archäologischen und epigraphischen Quellen von St-Maurice nehmen im Zusammenhang mit diesem Ereignis in auffallender Weise zu, wobei letztere den überragenden Grundstock für sämtliche frühmittelalterlichen Inschriften des Wallis bilden. Zur Organisation des neuen Klosters waren Mönche burgundischer und romanischer Abstammung aus den Grigny-Klöstern bei Vienne und von der Insula Barbara in Lyon zugezogen worden. In Erzbischof Avitus von Vienne, der - auch im Auftrage König Sigismunds von Burgund - brieflichen Kontakt mit Ostrom pflegte, ist der Vermittler der erstmals im abendländischen Bereich eingeführten laus perennis zu sehen. Die Ausbreitung dieser neuen Form von Gottesdienst, die vor allem in Richtung Frankenreich geschah, ließ St-Maurice zu einem der wichtigsten frühmittelalterlichen Klöster diesseits der Alpen werden. Die damit zusammenhängende große bauliche Tätigkeit betraf nicht nur die Erweiterung des an den Felsen gelehnten Kultzentrums (Lageskizze: A), sondern wohl auch die Errichtung einer 200 Meter südlich davon gelegenen Johanneskirche (Lageskizze: B), die zur Grabkirche für den im Jahre 525 ermordeten König Sigismund wurde und heute Pfarr1

Wichtigste Literatur zu St-Maurice : Hans Hubert ANTON, Studien zu den Klosterprivilegien der Päpste im frühen Mittelalter. Unter besonderer Berücksichtigung der Privilegierung von St-Maurice d'Agaune (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 4). Berlin-New York 1975. - Armoriai valaisan, 227. - AUBERT, Trésor. - VAN BERCHEM, L e martyre. - VAN BERCHEM, La réforme canoniale. - BESSON,

Monasterium Acaunense. - BLONDEL, L'abbaye. - DERS., Les anciennes basiliques. - DERS., La chapelle Notre-Dame Sous-le-Bourg. - COTTINEAU, Répertoire II, 2805 f. - DUPRAZ, Les passions. - GREMAUD,

Doc. I, 543 und II, 626 (Reg.). - HOMBURGER, Früh- und hochmittelalterliche Stücke. - KRÜGER, Königsgrabkirchen, bes. 55-67. - F. MASAI, La et les débuts du monachisme à SaintMaurice d'Agaune, in: Festschrift Bernhard Bischoff. Stuttgart 1971,43-69. - MÜLLER, Zur Entstehung der P f a r r e i e n i m W a l l i s , 1 5 - 2 0 . - OSWALD / SCHAEFER / SENNHAUSER, V o r r o m a n i s c h e K i r c h e n b a u t e n , 2 9 6 - 3 0 1 . -

POUPARDIN, Le royaume de Bourgogne, 501 (Reg.). - PRINZ, Frühes Mönchtum, 69 f., 102-104. - SAUTER, P r é h i s t o i r e ( 1 9 5 0 ) 1 2 6 - 1 3 4 ; ( 1 9 5 5 ) 2 1 - 2 4 ; ( 1 9 6 0 ) 2 7 1 - 2 7 3 . - THEURILLAT, L ' a b b a y e .

17

Lageskizze von St-Maurice mit Fundort und Anzahl der Inschriften A = Abtei mit Kirche, Martolet und Maison Panisset (46) B = Pfarrkirche St-Sigismond (3) C 1 = Condemines, Notre-Dame Sous-le-Bourg (3) C2 = Notre Dame Sous-le-Bourg, zweiter Standort vom 13. Jh. bis 1810 D = Hospitium St-Jacques E = Älteste Rhonebrücke F = Stadtmauer des 13. Jhs. G = Schloß

kirche ist. Archäologisch ungeklärt ist die verschwundene Friedhofkirche Notre-Dame Sousle-Bourg (Lageskizze: C1), die - nach einem inschriftlichen Fund zu schließen (Kat.-Nr. 21) möglicherweise in bischöflichem Besitz war. Bis in frühmittelalterliche Zeit zurück reichen auch die Anfänge des klösterlichen Kirchenschatzes, worunter sich merowingische Reliquienauthentiken, ein in merowingisch-frühkarolingischer Zeit eingefaßtes Sardonyxgefäß sowie das kunstgeschichtlich und epigraphisch interessante Teuderigus-Reliquiar aus dem 7. oder beginnenden 8. Jahrhundert befinden (Kat.-Nr. 28). Unter dem Druck der ersten Karolinger und wahrscheinlich gegen den Willen der Abtei wurde in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts die Verwaltung von Abtei und Bistum zusammengelegt. Dies führte zwar zu einem materiellen Aufschwung des Klosters, der in Erweiterungsbauten, Landschenkungen und in der Bereicherung des Kirchenschatzes seinen Ausdruck fand; andererseits erlag das Stift der damit verbundenen Verweltlichung, so daß es

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sich um 830 der benediktinischen Reformbewegung des Benedikt von Aniane verschloß und in ein weltliches Chorherrenstift umgewandelt wurde. Vollends in weltliche Hände fiel das Kloster in der 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts und besonders unter den burgundischen Rudolfingern, die St-Maurice zu einem ihrer Hauptsitze machten. Nach dem Aussterben der Rudolfinger ging St-Maurice im Jahre 1034 an das Haus Savoyen über, das vorerst für eine religiöse Erneuerung des Stiftes nichts unternahm. Erst im 12. und 13. Jahrhundert, als Bischof Hugo von Grenoble und Graf Amadeus III. von Savoyen im Jahre 1128 die Augustinerregel einführen ließen und 1147 die Abtswürde wieder hergestellt war, erlebte die Abtei eine neue Prosperität. Während die kirchlichen Bauten vom frühen 11. bis ins 17. Jahrhundert in ihrer Substanz keine wesentlichen Veränderungen erfuhren, zeigt sich der unter Amadeus III. begonnene und bis um 1300 andauernde äußere Aufschwung der Abtei sehr deutlich in den wertvollen Neuanschaffungen für den Reliquienschatz, die nicht nur eine bedeutende einheimische Goldschmiedewerkstatt wahrscheinlich machen (Kat.-Nr. 49-52), sondern auch wichtige Beziehungen nach außen - so beispielsweise zu König Ludwig IX. von Frankreich (Kat.-Nr. 54) - illustrieren.

Siders / Geronde Der Bezirk Siders, der heute die Sprachgrenze zwischen dem deutschen Ober- und dem französischsprachigen Unterwallis bildet, war bis ins 8./9. Jahrhundert rhoneaufwärts die letzte dicht besiedelte Gegend des Wallis. Römerzeitliche und frühmittelalterliche Funde zeigen, daß bis ins 12./13. Jahrhundert hauptsächlich der östlich vom heutigen Siders 1 gelegene Hügel Geronde bewohnt war. Einen Hinweis auf die Bedeutung dieser spätantik-frühmittelalterlichen Siedlung, die burgundisches Königsgut wurde und im Jahre 515 an die Abtei St-Maurice fiel, liefert eine unlängst im Kloster St-Martin von Geronde entdeckte Inschrift einer clarissima femina2 sowie ein wohl schon früh hierher gebrachtes Konsulardiptychon aus dem Jahre 488 (Kat.-Nr. 2). Obschon die siedlungsgeschichtliche Entwicklung von Siders / Geronde in merowingischer Zeit noch kaum geklärt ist, darf auf Grund des im Räume Geronde gefundenen Siegelrings eines merowingischen Würdenträgers angenommen werden, Geronde habe sich im frühen Mittelalter als befestigte Zufluchtsstätte weiterentwickelt, was durch die Tatsache, daß die erste Pfarrkirche von Siders hier zu suchen ist, noch unterstrichen wird. In der Folgezeit geriet Geronde, das bis ins Spätmittelalter seine Vorrangstellung gegenüber dem heutigen Siders behaupten konnte, allmählich unter die Herrschaft der Bischöfe von Sitten.

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Wichtigste Literatur zu Siders / Géronde: BLONDEL, Sierre, ses origines et ses châteaux disparus (1953). L'église et le couvent de Géronde à Sierre (1956). - BÜTTNER / M Ü L L E R , Frühes Christentum, 84 f. COTTINEAU, Répertoire I, 1279. - G R E M A U D , Doc. I, 566, 595 und II, 602, 630 (Reg. : Gironda, bzw. Sirrum). - HBLS VI, 357 f. - M Ü L L E R , Zur Entstehung der Pfarreien im Wallis, 40-42. - SAUTER, Préhistoire (1950) 138-141; (1955) 25-27; (1960) 273 f. Cf. G. W A L S E R / T. Z A W A D Z K I , Une 'Clarissima femina' dans une nouvelle inscription latine trouvée à Géronde (Sierre). Vallesia 26 (1971) 1-5. DERS.,

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Sitten Die heutige Kantonshauptstadt Sitten 1 liegt abseits der wichtigen Paßstraße über den Großen St. Bernhard. Dies erklärt ihre in römischer Zeit zweitrangige Stellung gegenüber der günstiger gelegenen Provinzhauptstadt Octodurus / Martigny. Ganz unbedeutend war jedoch die Civitas Sedunensis auch damals nicht, denn unter den wenigen römerzeitlichen Inschriften - deren Provenienz allerdings nur teilweise gesichert ist - befindet sich auch ein Fragment, das die Stadt mit einem Constitutius Praeses Provinciae in Verbindung bringt 2 . Ebenso darf angenommen werden, die erste christliche Inschrift der Schweiz, die den Provinzpraeses oder Gouverneur Asclepiodotus als Erneuerer unbestimmter, kaiserlicher Gebäude nennt, beziehe sich auf ihren heutigen Standort Sitten (Kat.-Nr. 1). Octodurus/Martigny, das bis heute noch keine frühmittelalterlichen Inschriften geliefert hat, ist von 381 bis 549 als Bischofssitz bezeugt. Als erster nennt sich Bischof Heliodor im Jahre 585 a Sedunis, was die kirchenpolitische Kräfteverlagerung von Octodurus /Martigny und St-Maurice nach Sitten widerspiegelt. Obschon nun Sitten zunehmend an Bedeutung gewann, indem kirchliche Gebäude errichtet wurden, der Bischof sich in politische Geschäfte einließ, und die Stadt Münzen prägte, sind doch keine Inschriften aus merowingischer Zeit überliefert, was - gemessen am epigraphischen Reichtum von St-Maurice - erstaunlich ist und vielleicht nicht nur auf die günstigeren Erhaltungsumstände in St-Maurice zurückgeführt werden kann. Erst unter den Karolingern, die an der Zusammenlegung des Bistums und der Abtei St-Maurice aus strategischen Gründen interessiert waren, nehmen die Sittener Geschichtsquellen zu und treten vereinzelt inschriftliche Zeugnisse auf Reliquiaren auf (Kat.-Nr. 29, 31). Eine größere bauliche Tätigkeit, die im ganzen noch viel zu wenig erforscht ist, kann immerhin nach neuen archäologischen Untersuchungen in St. Theodul nachgewiesen werden 3. Nachdem die Abtei St-Maurice an die burgundischen Rudolfinger gefallen war, veränderte sich die Machtstellung des Bischofs von Sitten in entscheidender Weise im Jahre 999, indem dieser weltlicher Herr über die Grafschaft Wallis wurde. Seine Bemühungen richteten sich in der Folge nicht nur auf die Wahrung der 1032 erworbenen Reichsunmittelbarkeit, sondern auch auf die Erhaltung der inneren Unabhängigkeit gegen das auf der Burg Valeria residierende Domkapitel. Abgesehen von einigen nur schwer datierbaren Inschriftenfragmenten aus der Kirche St. Theodul, bieten nur noch zwei hölzerne Schatz- oder Archivtruhen aus dem Archiv des Domkapitels von Sitten epigraphische Zeugnisse aus der Zeit vor 1300 (Kat.Nr. 55-56). 1

Wichtigste Literatur zu Sitten: Armoriai valaisan, 244-247. - BLONDEL, Les origines de Sion (1953). BÜTTNER / MÜLLER, Frühes Christentum, 192 (Reg.). - DUBUIS, Aperçu du développement de Sion. - GREMAUD, Doc. I, 593 und II, 627 f. (Reg.). - HUOT, L'ordinaire de Sion, bes. 84-126. - LEISIBACH, Schreibstätten, 7-44. - MÜLLER, Zur Entstehung der Pfarreien im Wallis, 36-40. - VON ROTEN, Zur Zusammens e t z u n g des D o m k a p i t e l s . - SAUTER, P r é h i s t o i r e ( 1 9 5 0 ) 1 4 1 - 1 4 7 ; ( 1 9 5 5 ) 2 8 - 3 0 ; ( 1 9 6 0 ) 2 7 5 - 2 7 9 . - TAMINI,

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La cathédrale. HOWALD / MEYER, Die römische Schweiz, Nr. 47. Cf. DUBUIS, Sepulcrum beati Theodoli, 17-52; DERS., Archéologie, tradition et légendes, 317-326.

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DIE NICHTORIGINAL ÜBERLIEFERTEN INSCHRIFTEN Im Verhältnis zu den original überlieferten Inschriften des Wallis machen die epigraphischen Texte, deren Original verloren ist, eine verschwindende Minderheit aus Die bedeutendste Gruppe bilden die Epitaphien oder Elogien 2 der ersten vier Äbte von St-Maurice, die auf schwacher und später handschriftlicher Basis zusammen mit den Lebensbeschreibungen der ersten drei Äbte überliefert sind 3. Bruno Krusch, der die Viten mit den Epitaphien ediert hat, bezeichnete das Ganze als karolingische Fälschung ohne sicheren Quellenwert. Durch die Entdeckung eines kleinen, unscheinbaren Steinfragments zum Epitaph des ersten Abtes Hymnemodus (Kat.-Nr. 4) und durch die über das Philologische hinausgehenden Textuntersuchungen Bessons und Theurillats 4 hat sich diese Meinung aber wohl als Fehlurteil erwiesen, was Krusch später zumindest in bezug auf Hymnemodus auch zugegeben hat 5 . Die vier literarisch überlieferten Texte, die in Katalognummer 4 sicher, in 5* und 7* vermutlich und in 6* ohne sichere Anhaltspunkte auf wirklich ausgeführten Inschriften beruhen, sind zu unbestimmter Zeit an die nach Besson kurz vor 550 redigierten Lebensbeschreibungen angehängt worden. Unklar bleibt, warum das Epitaph des vierten Abtes Tranquillus (Kat.-Nr. 7*) zwischen die Viten und Epitaphien der drei ersten Äbte zu stehen kam, und ob die ganze Epitaphiengruppe, die im Verlaufe der handschriftlichen Überlieferung sprachlich wohl geglättet wurde, auch wesentlich von den allfälligen effektiv ausgeführten Inschriften abweicht. Im 18. Jahrhundert kopierte der Walliser Historiker Sebastian Briguet in Bourg-St-Pierre eine Bau- und Weiheinschrift aus der Zeit um 1000 (Kat.-Nr. 46*), die gegen das Ende des 19. Jahrhunderts bereits vollständig zerstört war. Inhaltliche und formale Merkmale sowie die Tatsache, daß Briguet in der Lesung und Entzifferung der letzten Zeile Schwierigkeiten bekundete, lassen an der Echtheit dieser Inschrift keine Zweifel aufkommen. Bei den beiden übrigen nichtoriginal überlieferten Inschriften handelt es sich um Fragmente (Kat.-Nr. 33* und 60 III*), die in jüngerer Zeit entdeckt und anschließend verlegt oder wieder zugedeckt worden sind.

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Nichtoriginal überliefert sind die Kat.-Nr. 5*-7*, 33*, 46* und 60 III*; teilw. Kat.-Nr. 2 und 4. Epitaph ist hier als Erinnerungsschrift verstanden, die gegenüber der eigentlichen Grabinschrift auf einem Grabstein (-platte, -mal) in keinem direkten Bezug zum Grab steht (Hie requiescit sim.); cf. RDK V, 872 f., wo der Begriff jedoch bedeutend enger gefaßt ist. Insofern bleibt die kaum mit Sicherheit zu beantwortende Frage offen, ob ein literarisch überliefertes Epitaph jemals auf Stein ausgeführt wurde oder nicht. Kat.-Nr. 4, 5*-7*. Cf. Kat.-Nr. 4: Besson unter Lit.; dazu THEURILLAT, L'abbaye, 32-43. E. KRUSCH, in: MG Script, rer. Mer. VII, 327.

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EPIGRAPHISCHE AUSWERTUNG Als die Aufarbeitung der früh- und hochmittelalterlichen Inschriften des Wallis in Angriff genommen wurde, rechnete man mit einer Anzahl von ungefähr 20 Objekten. Diese Zahl hat sich im Verlaufe der Bearbeitung mehr als verdreifacht, so daß eine selbständige Publikation und eine kurze, den Rahmen eines Katalogs nicht übersteigende Auswertung des Walliser Materials gerechtfertigt erscheint. Die meisten Walliser Inschriften bzw. Inschriftenfragmente stammen aus St-Maurice und befinden sich heute noch dort 1 . Daß die Bischofsstadt Sitten und das übrige Wallis zusammen nur etwa den vierten Teil der in St-Maurice überlieferten Inschriftenproduktion aufweisen, kann nicht allein dem zufälligen Fundglück oder besonders günstigen Uberlieferungsumständen in St-Maurice zugeschrieben werden. In Wirklichkeit dürfte das Verhältnis zur allgemeinen Schriftlichkeit zumindest im frühen Mittelalter in St-Maurice besser gewesen sein als in Sitten oder anderswo im Wallis 2. Mit Ausnahme der nichtoriginalen Überlieferung sowie von einer nach Zürich, einer nach Solothurn und zwei ins Ausland abgewanderten Inschriften befinden sich alle hier berücksichtigten Stücke noch im Wallis. Die auf 377 bis 1300 fixierte Grenze, mit anderen Worten das verhältnismäßig hohe Alter der hier inventarisierten Inschriften, bringt es mit sich, daß ihr heutiger Standort vornehmlich in Museen, Kirchenschätzen und archäologischen Depots zu suchen ist. Bei den wenigen, scheinbar in situ gelegenen Steininschriften handelt es sich außerdem wohl ausnahmslos um Bauelemente in Zweitverwendung. Der wissenschaftlich ungenügenden Ausgrabungsmethode aus der Zeit um 1900, in der die meisten Inschriften gefunden und zum ersten Mal festgehalten wurden, ist es zuzuschreiben, daß der genaue Fundort und die begleitenden Fundumstände nur in den seltensten Fällen genügend erfaßt sind. Die Inschriftenträger lassen sich vom Material her in drei Hauptgruppen unterteilen 3. Die erste und wichtigste Gruppe bilden mit ungefähr 70 Prozent aller Inschriftenträger die Gesteine und die aus ihrer Verarbeitung gewonnenen Nebenprodukte. Von den Natursteinen gelangte praktisch nur Kalkstein zur Verwendung, wobei der importierte Jurakalkstein aus La Raisse am Neuenburgersee vor allem bei den älteren Stücken und bei späteren Zweitverwendungen, der einheimisch-alpine, weniger haltbare Serizitmarmor oder Kalkschiefer jedoch vom 6. Jahrhundert an das ganze Mittelalter hindurch anzutreffen ist 4 . Neben

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Cf. Reg.: Fundort, Standort. Es ist eine allgemeine Erscheinung des Frühmittelalters, daß neu entstandene Bischofsstädte kulturell hinter den Klöstern zurückstehen; cf. H. KELLER, Spätantike und Frühmittelalter im Gebiet zwischen Genfer See und Hochrhein (Frühmittelalterliche Studien 7). Berlin-New York 1973, 21. Cf. Reg.: Material. Cf. J. MICHEL, Les pierres de taille employées à St-Maurice d'Agaune depuis le temps des Romains jusqu'à nos jours, in: Société helvétique de Saint-Maurice. Mélanges d'histoire et d'archéologieII. Fribourg 1 9 0 1 , 1 6 0 - 1 6 3 . - A n dieser Stelle sei Herrn Prof. Dr. Marcel Burri, Lausanne, der die Inschriftensteine von St-Maurice petrographisch bestimmt hat, bestens gedankt.

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•/Sierre ,'Sideia Sion ! Sitten

/ • Martipny

/ Bourg-St-Pierre

5 -J

* Gd-St-Bernard Lageskizze des Wallis mit Fundort und Anzahl der St-Maurice 52 Sierre / Siders Sion / Sitten 8 Nax Bourg-St-Pierre 2 Nendaz

la km 1

Inschriften: 2 1 1

den Natursteinen haben sich mehrere Ziegel- oder Backsteine mit Inschriften erhalten 1. Es ist vorläufig nicht mit Sicherheit nachweisbar, aber sehr wahrscheinlich, daß in St-Maurice selber in römischer Zeit und bis ins 5./6. Jahrhundert Ziegel gebrannt wurden 2. Einen sehr kleinen Bruchteil machen schließlich die Inschriftenträger aus Stuck, Mörtel und Glas aus, wobei die Seltenheit dieser Inschriftenträger viel mehr der leichten Vergänglichkeit des Materials als einer wirklich geringen Verwendung zuzuschreiben sein dürfte. 1

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Sie gehören zur großen, im Turmdepot der Abtei aufbewahrten Ziegelmenge, die sich aus römischen Dachziegeln, Backsteinen, Hypokaustplatten sowie wahrscheinlich aus Bestandteilen eines Ziegelbrennofens zusammensetzt und zum größten Teil in Grabverkleidungen eine Zweitverwendung gefunden hatte. Dafür sprechen Kat.-Nr. 9 und die große Menge der oben in Anm. 1 genannten Ziegel, worunter sich quadratische, mit zwei seitlichen Kerben versehene Platten befinden (cf. Kat.-Nr. 32), die in ähnlicher Art in Chancy / Genf gefunden und von P. CAILLER / H. BACHOFEN, in: ASA 24 (1922) 28, Fig. 4 und 31, Fig. 7

als Bodenplatten eines römischen Ziegelbrennofens nachgewiesen worden sind. Außerdem soll St-Maurice auch geringe Tonlager und eine eingegangene Ziegelei besessen haben (frdl. Mitteilung von Herrn Can. Dr. Leo Müller).

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Die zweite Hauptgruppe bilden mit ungefähr 20 Prozent die Inschriftenträger aus Metall. Davon sind die meisten aus Silber oder silbervergoldet und vereinzelte aus Gold, vergoldetem Kupfer, Blei und Bronze. Die letzte Materialgruppe, in der Inschriftenträger aus organisch gewachsenen Produkten zusammengefaßt sind, ist nur durch wenige Einzelstücke aus Elfenbein, Holz und Wolle vertreten. Der Erhaltungszustand der Walliser Inschriften ist im allgemeinen schlecht. Vollständig erhalten ist nur ungefähr ein Drittel der gesamten, aus der Zeit von 377 bis 1300 überlieferten Inschriftenproduktion. Eine rapide Verschlechterung des Erhaltungszustandes, wie man sie bei spätmittelalterlichen und neuzeitlichen, der Witterung ausgesetzten Inschriften ganz allgemein antrifft, ist hier allerdings nur bei den wenigen Mörtel- und Stuckfragmenten sowie in geringerem Maße bei den Ziegelinschriften zu befürchten. Mit dem Material der Inschriftenträger hängt aufs engste die Ausführung der Inschrift zusammen x. Sämtliche Inschriften auf Naturstein sind eingehauen, wobei mehr oder weniger sorgfältig nur die Technik des keil- oder dreieckförmigen Kerbschnittes zur Anwendung kam 2. Während die Stuck- und Mörtelfragmente eingehauene, geritzte oder al secco gemalte Inschriften aufweisen, sind die Ziegelinschriften entweder in den gebrannten Ton geritzt oder mit dem Finger in den weichen, ungebrannten Ton gedrückt. Als Ausnahme erscheint eine Ziegelinschrift, die möglicherweise aus frühkarolingischer Zeit stammt und wie eine Steininschrift sorgfältig eingehauen ist. Im Unterschied zu den Steininschriften variieren die Ausführungsarten bei den Metallinschriften viel stärker. Am häufigsten sind erhaben getriebene und gravierte, vereinzelt nieliierte, geritzte, vertieft getriebene und auf guillochiertem oder emailliertem Grund ausgesparte Metallinschriften anzutreffen. Ganz ungewöhnlich dürfte eine späte Inschrift aus St-Maurice sein, die in Form eines bronzenen Drahtes an einem Bronzemörser appliziert ist (Kat.-Nr. 57). Keine besondere Ausführungstechnik bieten hingegen eine in Wolle gestickte und die wenigen aus Elfenbein und Holz geschnitzten Walliser Inschriften. Während die Inschriftenträger sich vom Material her sauber gruppieren lassen und auch eine Klassierung nach ihrer Art bis auf eine Gruppe unbestimmbarer Inschriftenträger leicht durchführbar ist 3 , kann der Versuch, die Inschriften selber nach ihrem Inhalt einzuordnen, nur teilweise befriedigen, weil der Zweck vieler Inschriftentexte undurchsichtig oder vieldeutig erscheint 4 . Es heben sich zwar zwei Hauptgruppen in der Art von Grabinschriften und Bildlegenden ab, wie auch der Typus einer Bau-, Weihe- oder Stifterinschrift einigermaßen erfaßbar ist; bei Inschriften aber, die nur etwa einen Namen oder einen Spruch bieten, ist die Art oft nur durch die Begleitumstände hypothetisch oder wie bei vielen Inschriftenfragmenten gar nicht bestimmbar.

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Cf. Reg.: Ausführungstechnik. Es fehlen vollständig die erhaben ausgehauenen und die rechteckig eingehauenen, meist ausgelegten Inschriften, wie sie in klassisch-antiker, karolingischer, spätmittelalterlicher und neuerer Zeit vereinzelt vorkommen. Cf. Reg.: Inschriftenträger. Cf. Reg.: Inschriftenart.

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Die Auswertung der Schriftformen ist allein anhand des vorliegenden Walliser Materials noch nicht möglich 1 . Ganz allgemein ist vorläufig festzuhalten, daß die vorhandenen Walliser Inschriften größtenteils in lateinischen Majuskeln geschrieben worden sind, welche die Entwicklung der lateinischen Monumentalschrift von der klassisch-antiken Kapitalis bis zur gotischen Majuskel aufscheinen lassen 2. Ein gutes Beispiel klassisch-antiker Ausgewogenheit bietet Katalognummer 1 aus dem Jahre 377. Während das Konsulardiptychon von 488 (Kat.-Nr. 2) der spätrömischen Actuaria oder Gebrauchsschrift näher steht als der breiten Monumentalis, ist die Grabinschrift des Rusticus (Kat.-Nr. 10) aus dem 6. Jahrhundert, die neben wenigen breiten Kapitalisformen vorwiegend schlanke Buchstaben aufweist, als Übergangsschrift zwischen der klassisch-antiken und der schlanken, ausgeglichenen Kapitalis des 6. Jahrhunderts, bzw. der schlanken, unausgewogenen Kapitalis des 7.-8. Jahrhunderts zu werten. Vergleicht man die vorkarolingischen Inschriften des Wallis mit deutschem, französischem und italienischem Material, so fällt auf, daß das germanisch-eckige, von den Runeninschriften beeinflußte Element, das die meisten fränkischen Inschriften Deutschlands kennzeichnet, hier zum größten Teil fehlt, womit die Zugehörigkeit des unteren Wallis zur romanischen und insbesondere zur gallischen Schriftprovinz angedeutet ist. Die karolingische Renaissance, deren Inschriften in ihrer gepflegtesten Form nur im Gesamtbild von klassischantiken Inschriften zu unterscheiden sind, ist hier am augenfälligsten durch das Fragment Katalognummer 35 vertreten 3. Auf den ersten Blick mutet auch das Epitaph des Bischofs Vultcherius (Kat.-Nr. 41) karolingisch an, doch zeigen - wie noch ausführlicher dargelegt wird - inhaltliche und formale Gründe sowie paläographische Vergleiche mit sicher datierbaren Stücken, daß diese Inschrift erst gegen Ende des 10. Jahrhunderts entstanden sein kann. Mit einiger Sicherheit datierbare Inschriften sind von karolingischer Zeit bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts im Wallis so selten, daß die Entstehungszeit gewisser Stücke allein auf Grund paläographischer Untersuchungen, die wegen fehlender Vorarbeiten 4 oft hypothetisch ausfallen mußten, ermittelt werden konnte. Erst die Gruppe der um 1150 entstandenen Reliquiarinschriften (Kat.-Nr. 49-52) bietet wiederum einen sicher faßbaren Schrifttyp, den man wegen seiner vollschlanken, regelmäßigen Buchstabenformen ohne gotisch-unziale Elemente eine spätromanische Majuskel nennen möchte. Die gotische Majuskel schließlich mit ihren charakteristischen Schwellungen und keilförmig nach außen sich verbreiternden Hasten und Balken erscheint im Wallis in sicherer Datierung zuerst im Jahre 1225 auf dem Nantelmus-Schrein aus St-Maurice (Kat.-Nr. 53). Stilistisch uneinheitlicher und im Falle von Katalognummer 57 etwas manieriert wirken die übrigen gotischen Majuskelinschriften Katalognummer 55, 56, 58, 59 und 60 IX, die später als der Nantelmus-Schrein entstanden sein dürften, aber wohl noch in den hier behandelten Zeitraum fallen. 1

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Nach Abschluß der ersten Arbeitsetappe ist ein ausführliches paläographisches Register und eine Studie zu den epigraphischen Schriftformen der Schweiz bis 1300 vorgesehen. Cf. Reg.: Schriftarten. Das schönste Beispiel aus der Westschweiz ist wohl das Epitaph des Diakons Gisoenus aus Lausanne, a. 875; cf. KDM Vaud II, 55 f., Fig. 32; Cathédrale de Lausanne, 700 e anniversaire de la consécration solennelle, Catalogue de l'exposition, Lausanne 1975, Nr. 24. Es fehlen insbesondere alphabetische Formenlisten wie sie etwa Le Blant (Paléographie), Gray (The paleography) und Boppert (Die frühchristlichen Inschriften) für die Frühzeit bieten. Paläographische Untersuchungen im Sinne Deschamps' (Etude) und Kochs (Paläographie), die diesbezüglich wegweisend sind, müßten auf alle Länder und Inschriftentypen ausgedehnt werden.

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Von besonderem paläographischem Interesse sind auch die wenigen nichtmonumentalen Inschriftenzeugnisse des Wallis. Da sie von ihrem notizenhaften Charakter her wohl die in ihrer Zeit üblichen Gebrauchsschriften auf Papier und Pergament widerspiegeln, aber wegen der Besonderheit von Schreibstoff und Schreibgerät weniger kursiv ausfallen mußten, ist es oft schwer, eine paläographische Datierung vorzunehmen. Als frühestes Beispiel zeigt Katalognummer 9 eine schlanke Majuskel, die mit dem Finger in den noch weichen Ton eines Dachziegels gedrückt ist und der spätrömischen Majuskelkursive nahesteht. Aus dem späten 6. bis 7. Jahrhundert stammen zwei in den gebrannten Ziegel geritzte Minuskelkursiven (Kat.-Nr. 21 und 23), deren erste außerdem einen Auszeichnungsteil in Majuskeln aufweist. Schwieriger ist die Bestimmung einer mit Kapitalis vermischten Minuskelinschrift (Kat.Nr. 32), die ebenfalls in den schon gebrannten Ton geritzt ist, aber so wenig Buchstabenmaterial bietet, daß ihre Minuskelformen höchstens vage mit dem Typus einer vorkarolingischen oder karolingischen Buchminuskel verglichen werden können. Als regionales epigraphisches Schriftenzentrum oder als Teil einer größeren epigraphischen Schriftprovinz kann das Wallis mangels entsprechenden Vorarbeiten noch nicht charakterisiert werden. Für gewisse Perioden mögen sich zwar einmal typische Inschriften aus St-Maurice oder aus dem Wallis abzeichnen, es scheint aber schon heute festzustehen, daß das Wallis in epigraphisch-paläographischer Hinsicht während der ganzen hier berührten Epoche vornehmlich von Vienne und Südfrankreich - in späterer Zeit außerdem von Aosta, Norditalien und Savoyen beeinflußt war und den Rahmen eines eher rezipierenden Durchgangsgebietes nicht sprengte. Die Sprache der hier katalogisierten Inschriften ist ausschließlich Latein Bekannte philologische Spracheigentümlichkeiten 2 sind besonders auf den merowingerzeitlichen Inschriften häufig anzutreffen. Abgesehen von manchen unaufgelösten oder unauflösbaren lateinischen Inschriftenfragmenten, zeigt einzig die Gürtelbeschläginschrift Katalognummer 18 einen Text, dessen Latinität im Schlußteil fragwürdig erscheint. Dieses Einzelstück gehört zu den sogenannten burgundischen Gürtelbeschlägen, die in der übrigen Westschweiz, im französischen Jura und insbesondere im Waadtland ziemlich häufig vorkommen. Es ist hier nicht der Ort, darüber zu entscheiden, ob die oft noch unverständlicheren Inschriftentexte auf Gürtelbeschlägen dieser Art burgundische Sprachreste enthalten oder einfach von der magischen Bedeutung unverstandener Schriftzeichen und indirekt vom Unverständnis für die lateinische Sprache zeugen. Auffallend bleibt jedenfalls der Gegensatz zwischen dieser Schnalleninschrift und den übrigen epigraphischen Denkmälern aus der Gegend. In sprachlich-stilistischer Hinsicht lassen sich zwei Hauptgruppen unterscheiden. Die sicheren Versinschriften 3 - nach ihrer Häufigkeit Hexameter, Distichen und leoninische Verse machen dabei etwas mehr als zehn Prozent der gesamten Inschriftenproduktion aus, wobei 1

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Anderssprachige Inschriften sind mir aus der Zeit vor 1300 nur in St-Maurice in Form einer griechischen oder koptischen Stoffinschrift aus dem 6. oder 7. Jh. (cf. E. VOGT, Frühmittelalterliche Stoffe aus der Abtei St-Maurice. Z A K 18, 1958, 120 f., Fig. 30,2) und in Form einer arabischen oder pseudoarabischen Inschrift auf einem Limoger Krummstab aus dem 13. Jh. (cf. AUBERT, Trésor, 182 f., Nr. XXVII, Fig. X X X I X - X L ) begegnet. Cf. Index verborum. Cf. Reg.: Versinschriften.

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allerdings zu bedenken ist, daß der Großteil der vielen kleinen Inschriftenfragmente sprachlich-stilistisch nicht mehr geklärt werden kann. Zeitlich verteilen sich die Versinschriften vornehmlich auf Perioden allgemeiner Erneuerung: auf das frühe 6. Jahrhundert, die karolingische und ottonische Renaissance und das 12. Jahrhundert. Häufiger sind die in Prosa abgefaßten Inschriften, bei denen - unter Ausklammerung der Bibelzitate und Namen - besonders das Formular 1 als wertvolle Datierungshilfe herangezogen werden muß. Dies gilt weniger für die selteneren Prosainschriften auf mobilen Kleingegenständen, deren Inhalt stark variiert, als für die vielen Grabinschriften mit einheitlichem Inhalt und zeitlich stärker gebundenem Formular. Die vorkarolingisch-christlichen Inschriften aus St-Maurice, die in Formular und Vokabular durch das grundlegende epigraphische Sammelwerk von Ernst Diehl leicht erschließbar sind, verraten allgemein einen südgallischen Einfluß und in der Sub hoc titulo-Votmel vielleicht auch eine lokale Formulierung. Für die spätere Zeit fehlt es dagegen an umfassenden epigraphischen Quelleneditionen, welche ausreichende Formularvergleiche ermöglichen würden. Immerhin läßt sich in der Inschriftengruppe Katalognummer 41-44, worunter sich auch das umstrittene Epitaph des Bischofs Vultcherius (Kat.-Nr. 41) befindet, bei der Wendung Domine miserere animae famuli tui ein aus der Liturgie eingedrungenes Formular erkennen, das frühestens am Ende des 10. Jahrhunderts belegbar ist und außerhalb von St-Maurice epigraphisch sehr selten vorkommt. Die Personennamen, die in den Walliser Inschriften auftauchen, sind für die früh- und hochmittelalterliche Onomastik sicher nicht uninteressant. Weniger zwar die Namen Heiliger oder biblischer Personen, die sich ausschließlich auf mobilen Gegenständen und insbesondere auf Reliquiaren befinden und hier nicht weiter berücksichtigt werden sollen, als vielmehr die auf Grabsteinen erwähnten Namen, deren Träger sonst meistens unbekannt sind. Sie lassen sich in zwei Hauptgruppen unterteilen: die griechisch-lateinischen und die germanischen Personennamen, wobei die germanischen, die im 6. Jahrhundert nur vereinzelt, vom 7. und 8. Jahrhundert an aber sehr oft zu finden sind, gesamthaft nicht ganz so häufig erscheinen wie die besonders im 6. Jahrhundert anzutreffenden griechisch-lateinischen Personennamen2. In manchen Fällen bieten die vorliegenden germanischen Personennamen Formen, die sonst kaum belegt sind, und bei den Namen Hymnemodus (Kat.-Nr. 4) und Thoctebadus (Kat.Nr. 12), die vielleicht burgundischen Ursprungs sind, fehlen Parallelen und sichere etymologische Erklärungen überhaupt. Der schwierigste Punkt in der epigraphischen Auswertung ist die Datierung der Inschriften 3. Dies ist in erster Linie auf die geringe Zahl sicher datierter Stücke zurückzuführen. Dazu kommt die bereits angedeutete, kaum korrigierbare und unzulängliche Erfassung des Fundortes und der Fundumstände anläßlich früherer Ausgrabungen. Während bei den Kunstgegenständen die Kunstgeschichte wertvolle Datierungshilfe bietet, muß sich die Datierung von Inschriftenfragmenten, die aus dem archäologischen Kontext gerissen sind, fast ausschließlich auf die Untersuchung der Schriftformen stützen. Es ist daher gerechtfer1 2

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Cf. Reg.: Formeln und Sprüche. Cf. Reg.: Personennamen; zur griechisch-lateinischen Gruppe können auch die seltenen, biblisch oder hagiologisch beeinflußten Namen gezählt werden, z. B. Andreas in Kat.-Nr. 11. Cf. Reg.: Datierungen.

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tigt, daß der Schriftkommentar im vorliegenden Katalog einen breiten Raum einnimmt, auch wenn - mangels Vorarbeiten auf diesem Gebiet - manche Datierungsvorschläge sich als diskutabel erweisen. An zwei beispielhaft herangezogenen Walliser Inschriften soll abschließend gezeigt werden, welche Ergebnisse aus einer umfassenden epigraphischen Auswertung des Materials zu gewinnen sind. Als erstes Beispiel dient Katalognummer 21, ein im Jahre 1951 auf dem heute überbauten Gelände der ehemaligen Kirche Notre-Dame Sous-le-Bourg in St-Maurice entdeckter Backstein 1. Die übereilt von Louis Blondel durchgeführte Ausgrabung ergab, daß es sich bei den bloßgelegten Fundamentresten mit zahlreichen Gräbern um die Spuren einer aus dem 7. Jahrhundert stammenden Friedhofkirche handelte, die vielleicht ursprünglich zum größeren Verband der fünf Mönchsgruppen oder turmae gehörte, die ihrerseits das immerwährende Gotteslob in St-Maurice gewährleisteten. Die Inschrift auf dem Backstein, dessen Fundort nicht mehr genau zu bestimmen war, veröffentlichte Blondel im Rahmen seines archäologischen Berichtes im Jahre 1953, indem er die Inschrift, die ihm zufolge in den ungebrannten Ton geritzt war, dem 7. Jahrhundert zuwies und den schlecht entzifferten Text als Herstellernotiz betrachtete. Eine nähere Untersuchung des Materials zeigte zunächst, daß die Inschrift nicht in den weichen Ton, sondern in den gebrannten Ziegel geritzt war und somit nicht als Beweis für eine Ziegelproduktion im 7. Jahrhundert herangezogen werden konnte. Die eingehende Prüfung der Schriftform schließlich führte zu einer Datierung der Inschrift ins 6./7. Jahrhundert und zur Lesung Heliodorum episcopum tego, nemo me tangat: Ich decke den Bischof Heliodor, niemand soll mich berühren, was einen Sinn bekam und auch durch Parallelen in Paläographie und Formular untermauert werden konnte. Damit ließ sich nicht nur ein Bischof von Sitten, der sonst nur durch eine einzige, literarische Quelle belegt ist, historisch besser fassen, sondern es zeigte sich auch der historisch-archäologische Fragenkomplex um Notre-Dame Sous-le-Bourg, mit anderen Worten ein Stück frühmittelalterlicher Kirchengeschichte des Wallis in einem neuen Licht. So ist die verschwundene Marienkirche nicht mehr einfach als Friedhofkirche - was sie in einer zweiten Phase sicher gewesen ist - oder als eine Kirche, die dem Abteiverband angehörte, sondern viel mehr als bischöfliche Eigenkirche zu interpretieren. Damit gewinnt auch die ältere Hypothese, wonach der Vorgänger von Heliodor in St-Maurice Grundeigentum besaß, an Aussagekraft, was außerdem durch das Marienpatrozinium und vielleicht durch den Flurnamen Condemines (Herrengut ?), wo die Kirche erbaut worden war, untermauert werden kann. Ein anderes Beispiel für die in der epigraphischen Auswertung liegenden Möglichkeiten bietet Katalognummer 41, das Epitaph des Sittener Bischofs Vultcherius 2. Die große Jurakalkplatte, die in merowingischer und vielleicht auch in karolingischer Zeit als Altartisch gedient haben mag, war wahrscheinlich schon dem Walliser Kirchenhistoriker Petrus Branschen (f 1616) bekannt. Er erwähnt sie im Rahmen seiner Walliser Bischofsliste unter dem Namen Vulcarius (760/62-785) - womit einer der bedeutendsten Walliser Bischöfe, der in literarischen Quellen vielfach bezeugt ist, gemeint war - mit der Bemerkung ...sepultus in eodem coenobio (St-Maurice), ut testatur eius epitaphium ibidem. In der Folgezeit blieb der Stein 1 2

Lit. zu Folgendem unter Kat.-Nr. 21. Lit. zu Folgendem unter Kat.-Nr. 41.

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verschwunden, bis ihn Pierre Bourban im Jahre 1896 in zerbrochenem Zustand unter dem Schutt der ältesten, gegen den Fels gelehnten Abteikirche wiederentdeckte und wie Petrus Branschen ohne Zögern dem berühmten Vulcarius oder Wilchar aus dem 8. Jahrhundert zuwies. Über die Person des Wilchar, dessen Namensform sehr unterschiedlich überliefert ist, wurden insofern Zweifel laut, als man die sehr lange und vielseitige Laufbahn dieses Prälaten auflösen und zwei verschiedenen Personen zuweisen wollte. Die Inschrift selber wurde zwar schon früh in paläographischer und philologischer Hinsicht in Frage gestellt, indem Jules Michel sie als Gedenkschrift aus dem 11. Jahrhundert interpretierte. In neuerer Zeit hat jedoch Jean-Marie Theurillat versucht, nicht nur Wilchar als einzigen Träger aller angeführten Ämter nachzuweisen, sondern auch die vorliegende Inschrift als dessen Epitaph mit zwar frühen, aber durch die geographische Lage von St-Maurice bedingten, karolingischen Schriftstileinflüssen zu werten. Bei der Bearbeitung dieser Inschrift fiel nun vorerst auf, daß Vultcherius, der nach der literarischen Überlieferung als Wilchar die Ämter eines Abtes, Bischofs, Erzbischofs, Kurialen und päpstlichen Legaten ausgeübt haben muß, in der Inschrift nur Sedunensis episcopus genannt wird. Außerdem bot nur die vorliegende, aus Vulthu(Herrlichkeit) und -gairu (Speer) zusammengezogene Namensform Vultcherius gegenüber den vielen literarischen, meistens aus Wilja- (Wille) und -harja (Heer) zusammengesetzten Formen den Beleg für einen «eingeschobenen» t-Laut oder den Stamm Vultbu-, was grundsätzlich auf zwei verschiedene Namen schließen ließ. Abgesehen davon, daß auch für die Schriftform der Vultcherius-Inschrift im Wallis vor dem 9. Jahrhundert keine Parallelen zu finden sind, daß hingegen der Schrifttyp bis ins beginnende 11. Jahrhundert möglich ist, sprach schließlich das Formular mit der liturgischen Wendung Domine miserere animae famuli tui für eine spätere Entstehungszeit. Wenn somit der epigraphisch überlieferte Vultcherius nicht mehr mit dem bekannten Wilcharius aus dem 8. Jahrhundert identifiziert werden konnte und das Epitaph ins späte 10. oder frühe 11. Jahrhundert zu datieren war, so mußte ein bisher unbekannter Bischof Vultcherius von Sitten in Erwägung gezogen werden. Ganz abwegig scheint eine solche Hypothese nicht zu sein, reichen doch die Bischofslisten von Sitten, die bis ins 11. Jahrhundert hinein beträchtliche Lücken aufweisen, in ihrer Entstehungszeit nicht über das 16. Jahrhundert zurück. Und wenn auch vorläufig in den spärlichen Quellen zur Walliser Kirchengeschichte der spätkarolingischen und hochburgundischen Epoche ein möglicher Bischof von Sitten namens Vultcherius nicht ausfindig gemacht werden konnte, so ist aufgrund der kritischen Untersuchung der Inschrift doch anzunehmen, Vultcherius sei ein in Vergessenheit geratener Bischof aus dem späten 10. oder frühen 11. Jahrhundert, zumal in diesem Fall die bloße Anfertigung einer Gedenktafel für einen früheren Bischof sehr unwahrscheinlich ist. Mit diesen einleitenden Bemerkungen mögen einige Schwerpunkte, die sich aus der Bearbeitung des vorliegenden Walliser Inschriftenmaterials ergaben, angedeutet sein. Wenn die erst begonnene, systematische Aufarbeitung der mittelalterlichen Inschriften der Schweiz mit fortschreitender Materialkenntnis methodisch auch noch verbessert und verfeinert werden kann - was die Zahl der unvermeidlichen Hypothesen und Fehler sicher vermindern wird so dürfte diese erste Sammlung doch den praktischen Beweis erbringen, daß besonders die Inschriften des Früh- und Hochmittelalters, das an literarischen Quellen verhältnismäßig arm ist, ein wertvolles Hilfsmittel für alle Geschichtsdisziplinen sein können. 29

ZUR BENÜTZUNG DES K A T A L O G S Mit Ausnahme einer Gruppe unbestimmbarer Fragmente (Kat.-Nr. 60 I-XII) ist der vorliegende Katalog in chronologischer Reihenfolge angelegt. Die Kopfzeile bietet von links nach rechts die Laufnummer (* = nichtoriginal überliefert), den Kurztitel und das Datum der Inschrift. Vor der Wiedergabe der Inschrift werden in vier Abschnitten der Standort, die Geschichte und eine genauere Beschreibung des Inschriftenträgers sowie der Ort und die Ausführungsart der Inschrift mitgeteilt. Die Maße des Inschriftenträgers sind bei der genaueren Beschreibung in der Reihenfolge: Höhe mal Breite mal Tiefe (0 = Durchmesser) ausgedrückt. Für die Angabe der Buchstabenhöhe wurde die Abkürzung Bu. verwendet (Z. = Zeile). Die original überlieferten Inschriften sind durchwegs in Majuskeln, die nichtoriginalen Inschriften in Minuskeln wiedergegeben. Die Zeilentrennung hält sich nach Möglichkeit ans Original; sonst wird ein Schrägstrich (/) eingesetzt, der außerdem in besonderen Fällen (z. B. Kat.-Nr. 52 V = zerschnittene Inschrift) zur Anwendung kommen kann. Die Worttrennungszeichen und Interpunktionen am Original werden beibehalten und einheitlich durch einen Punkt in Zeilenmitte gekennzeichnet. In Anlehnung an das Leidener Klammersystem 1 gilt folgender Zeichenschlüssel: ( [

) ]

[...] [

] ]

ABC AE vw

Auflösung von Abkürzungen. Ergänzung von Lücken, d. h. zerstörten oder weggebrochenen Stellen, durch den Herausgeber. Größe der Lücke ist berechenbar; die Zahl der Punkte gibt die Anzahl der vermutlich fehlenden Buchstaben an. Größe der Lücke ist nicht berechenbar. Fehlen unbestimmter Textteile oder mehrerer Zeilen, deren Anzahl sich nicht feststellen läßt. Die Klammer steht an der Stelle, wo die Lücke beginnt oder endet. Ergänzung von Lücken oder nachgetragene Buchstaben am Inschriftenträger; z. B. bei Restauration. Unsicher gelesene Buchstaben, deren Reste auch anders gedeutet werden könnten. Ligatur von zwei Buchstaben. (1Yacaf). Freier Raum auf dem Original, hier im Ausmaß von drei Buchstabenbreiten.

Auf die Wiedergabe des Inschriftentextes folgen in der Regel die Übersetzung sowie allfällige textkritische Anmerkungen. Der Schriftkommentar gliedert sich in eine allgemeine Charakterisierung der Schrift, in eine Beschreibung der Zeichen, Ligaturen, eingeschriebenen Buchstaben und der einzelnen Buchstaben in alphabetischer Reihenfolge sowie in die Aufzählung

1

Cf. G . K L A F F E N B A C H , Griechische Epigraphik (Studienhefte zur Altertumswissenschaft 6). Göttingen 2 1966, 102 f.

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verwandter Schriftdenkmäler. In der Rubrik Formular und Inhalt, wo der Inschriftentext gesamthaft und im einzelnen kommentiert wird, beziehen sich die Randzahlen auf die entsprechenden Zeilen im Text 1 . Die Literaturangaben am Schluß der einzelnen Katalognummern, die in chronologischer Reihenfolge gemacht sind, beschränken sich auf die Erstveröffentlichung sowie auf eine Auswahl wichtigster Hinweise und Untersuchungen zur Inschrift. Das kumulative Personen-, Orts- und Sachregister bringt grundsätzlich nur Begriffe, die direkt mit dem Inschriftentext zusammenhängen. 1

Es werden im Kommentar noch folgende, weniger gebräuchliche Abkürzungen verwendet: a. = anno; o. D. = ohne Datum; sim. = similis oder similiter. - 'Cf. Lit.' verweist den Leser auf die Literatur am Schluß der einzelnen Katalognummern, nicht auf die allgemeine Bibliographie.

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KATALOG

1

BAUINSCHRIFT DES PRAETORS ASCLEPIODOTUS

377

Rathaus, Vestibüle, an der Nordwand, rechts vom Ausgang eingemauert. - Taf. 1, Fig. 1-2. SITTEN,

Im Jahre 1723 zum ersten Mal von J.-J. Scheuchzer (cf. Lit.) veröffentlicht. Nach der um 1630 von Constantin a Castello verfaßten Chronik (Archives d'Etat du Valais AVL 136, S. 11; dazu AVL 139, S. 10 f.) ist die Inschrift kurz zuvor in einem unbestimmten Keller Sittens ausgegraben worden und dann in den Besitz des Obersten Balthasar Ambüel gelangt. Wohl seit dem Neubau des Rathauses im Jahre 1660 am heutigen Standort. Jurakalkstein; rechteckige (47 x 77 x ? cm), gelb-braune Platte mit zahlreichen Absplitterungen an der polierten Oberfläche. Inschrift in 8 regelmäßigen Zeilen sorgfältig und mitteltief eingehauen; Bu. 4,5-5 cm (Z. 1); 4 cm (Z. 2-8).

5

DEVOTIONE • VIGENS • AVGVSTAS PONTIVS A E D I S - A ^ w RESTITVIT • PRAETOR • LONGE PRAESTANTIVS -ILLIS • QVAE • PRISCAE • STETERANT • TALIS • RESPVBLICA • QVERE • D(OMINO) N(OSTRO) GRATIANO AVG(VSTO).IIII.ET MER(OBAVDE)• CO(N)S(VLIBVS)• PONTIVS • ASCLEPIODOTVS • V(IR) P(ERFECTISSIMVS) • P(RAESES) D(ONVM) D(EDIT)

In hingebungsvoller Pflichterfüllung hat Pontius als Praetor das kaiserliche Gebäude wiederhergestellt, viel prächtiger als jenes, das früher hier stand. Solche Männer suche dir, Staat! Unter dem vierten Konsulat unseres Herrn Kaisers Gratian und dem des Merobaudes. Pontius Asclepiodotus, Hochwohlgeboren, Statthalter, hat es geschenkt (cf. Übersetzung nach H O W A L D / MEYER, Nr. 46). SCHRIFT: Regelmäßige, sehr ausgewogene römische Kapitalis mit klassischen Sporen an Hasten- und Balkenenden. Kein Abstand zwischen den Wörtern, jedoch konsequent durchgeführte Worttrennung in Form von Dreieckpunkten; die fehlenden dürften durch Absplitterung verlorengegangen sein. Klassische Abkürzungen in der Datums- und Schlußzeile (Z. 7-8) in Form von Suspensionen ohne Abkürzungszeichen. Eingeschriebene Buchstaben: D in D (Z. 8: donum dedit). A mit waagrechtem Querbalken (cf. Alpha im Christogramm), oben spitz zulaufend. E mit kurzen bis mittellangen Querbalken. G einmal (Z. 2) mit kurzer, leicht eingerollter, sonst mit senkrecht aufsteigender Cauda. M mit leicht schräg gestellten Hasten und bis zur Grundlinie gezogenem Mittelteil. Q mit kurzer, waagrechter und spitz auslaufender Cauda. R mit ziemlich langer, gerader, die Grundlinie berührender Cauda. Das Christusmonogramm, flankiert von Alpha und Omega, am Schluß der 2. Zeile (Fig. 2), ist allem Anschein nach gleichzeitig mit der Inschrift entstanden (cf. HSG I, 97, Anm. 8). Es gehört zum Typus 'X von P durchzogen, mit Alpha links und Minuskelomega rechts', der

35

in Rom seit 340, in Gallien seit dem 4. und in Spanien seit dem 5. Jh. nachweisbar ist (cf. DACL1,7). Eine paläographische Eigenheit, die griechischen Einfluß verrät, bietet das Alpha mit schräg aufsteigendem, am unteren Ende der linken Haste ansetzendem Querbalken; ob der zusätzliche Abstrich nach der zweiten Rundung des Minuskelomegas zum Buchstaben gehört oder von einer Verletzung der Steinoberfläche herrührt, ist unsicher. - Verwandte Schriftdenkmäler: RICG I, Nr. 39: Trier, Mitte 4. Jh. SPRACHE UND FORM

: Die ersten 6 Zeilen bilden 3 Hexameter.

: Bauinschrift ; während die ältere Geschichtsschreibung in dem von Asclepiodotus aufgerichteten Gebäude ein religiös-heidnisches oder christliches Bauwerk (Kirche) sehen wollte, nimmt man heute allgemein an, es habe sich um ein staatliches Verwaltungsgebäude gehandelt. Die Meinung Lathions (cf. Lit.), wonach die Inschrift ursprünglich an einem Gebäude von Octodurus/Martigny, der damaligen Provinzhauptstadt, angebracht war und bei der Bischofssitzverlegung nach Sitten mitgenommen wurde, ist sehr fragwürdig. Es ist im Gegenteil wahrscheinlich, daß die Inschrift in Sitten stand, weil eine andere Inschrift, die einen praeses Constitutius nennt, ebenfalls in Sitten zum Vorschein gekommen FORMULAR UND INHALT

ist (cf. HOWALD/MEYER, N r . 4 7 ) .

7 - prosaische Datierungs- und Schlußzeilen im Anschluß an poetische Inschriften finden 8 sich in Antike und Mittelalter häufig (cf. Kat.-Nr. 4). 8 D D : verschiedene Auflösungsmöglichkeiten: dono oder donum dedit ( H O W A L D / M E Y E R , Nr. 4 6 ) ; dono oder donum dedicavit; dedit oder dedicavit ( D I E H L , Nr. 2 8 1 ) . : Asclepiodotus ist ein griechischer Name, der auch von Römern oft getragen wurde (cf. D E - V I T , Onomasticon I, 504 f.; PERIN, Onomasticon I, 184; D I E H L , Bd. 3, 15). Pontius Asclepiodotus, der in anderen Quellen nicht überliefert ist, gehörte dem Ritterstand an {vit perfectissimus) und war nach Howald / Meyer (cf. Lit.) und RE Suppl. VIII, 608 (gegen RE XIX, 672) Praeses, d. h. Gouverneur oder Statthalter der Provinz Alpes Poeninae, obgleich er im poetischen Teil der Inschrift - wohl dichterisch-archaisierend - Praetor genannt wird. NAMEN

: Das Konsulat Kaiser Gratians und des Merobaudes fällt ins Jahr 3 7 7 (LIEBENAM, Fasti consulares, 38). Gegen eine Datierung der Inschrift und des Christusmonogramms in diese Zeit ist paläographisch und formularmäßig nichts einzuwenden.

DATIERUNG

L I T E R A T U R : Johann Jakob SCHEUCHZER, Itinera per Helvetiae alpinas regiones. Lyon 1723, 489 (Erstveröffentlichung). - BLAVIGNAC, Histoire (1853) 10 f., 191, 259. - MOMMSEN, ICHL (1854) Nr. 10 (mit ält. Lit.). - L E B L A N T , Inscriptions I (1856) Nr. 369, Fig. 231 (Nachzeichnung). - GREMAUD, Doc. I (1875) Nr. 2. - CIL XII (1888) Nr. 138. - E G L I , CIS (1895) Nr. 1, Fig. 1,1. - BÜCHELER, Carmina I (1895) Nr. 303. - D I E H L (1925, 19703) Nr. 281. - HOWALD/ M E Y E R , Die römische Schweiz (1940) Nr. 46. - STAEHELIN, Die Schweiz in römischer Zeit (19483) 586, Fig. 185. - Lucien LATHION, A U temps de saint Ambroise. Théodore d'Octodure et les origines chrétiennes du Valais. Lausanne 1961, 25-36. - HSG I (1972) 88, 96 f. D R A C K / SCHIB, Illustrierte Geschichte I (1971) Fig. S . 115 (A und O). - Rudolf DEGEN, in: Ur- und frühgeschichtliche Archäologie der Schweiz. Bd. 5 (1975) 144, Fig. 30,3.

36

2

DIPTYCHON DES KONSULS RUFIUS ACHILIUS SIVIDIUS

PARIS,

488

Bibliothèque Nationale, Cabinet des Médailles, Ivoire No. 296 (24). - Taf. 2, Fig. 3.

In der 2. Hälfte des 18. Jhs. befand sich das vollständige Diptychon im Priesterseminar von Siders/Géronde, welches aus einer Besitzung hervorgegangen war, die nacheinander die Abtei St-Maurice, die Augustinerchorherren von Abondance, die Kartäuser, Karmeliter und Jesuiten innehatten, und die heute ein Frauenkloster (Bernhardinerinnen) ist. Das Diptychon ist wohl anläßlich der Franzoseneinfälle verlorengegangen. Im Jahre 1880 erwarb der Westschweizer Antiquar Morel-Fatio den vorliegenden Rückdeckel von einem Eisenbahnbeamten und schenkte ihn dem Cabinet des Médailles der Bibliothèque Nationale in Paris. Die Vorgeschichte ist unbekannt. Elfenbein; rechteckige (34,7 x 10,6 x 0,5 cm) Tafel mit wulstigem Rahmen; in der Mitte ein Medaillon, von dem Akanthusranken ausgehen; in den Ecken Rosetten. Der verlorene Vorderdeckel war in gleicher Weise gearbeitet. Inschrift im zentralen Medaillon, fünfzeilig, mitteltief geschnitzt; Bu. 0,6 cm; auf dem verlorenen Vorderdeckel gleicher Ort und gleiche Ausführung. Die mittelalterlichen, unidentifizierten Schriftspuren auf der Rückseite (so DELBRÜCK, Consulardiptychen, 107) scheinen zufällige Kratzer zu sein. I) am Rückdeckel : RVFIVS ACHILIVS SIVIDIVS V(IR) C(LARISSIMVS) ET INL(VSTRIS) EXPRAEF(ECTVS) VRBIS II) am verlorenen Vorderdeckel: [PATRICIVS ITERVM PRAEF(ECTVS) VRBIS CONSVL ORDI NARIVS] Rufius Achilius Sividius, ein vornehmer Mann senatorischen Ranges, gewesener Stadtpräfekt, [Patricius, zum zweiten Mal Stadtpräfekt und ordentlicher Konsul]. Ergänzung nach De Levis (cf. Lit.).

37

SCHRIFT: Schlanke, von der Kursive beeinflußte römische Kapitalis, deren Hasten und Balken teilweise durch quergestellte Striche abgeschlossen sind. Keine Worttrennung in den Zeilen, jedoch Zeilentrennung, die immer mit einem Wort- oder Silbenschluß zusammenfällt. Abkürzungszeichen in Form eines waagrechten, durch schräggestellte Sporen begrenzten Striches über VC (1,3: VIR CLARISSIMVS); die durch Suspension abgekürzten Wörter (1,4; 11,3) besitzen kein Abkürzungszeichen. A oben stumpf zulaufend, einmal (1,2: ACHILIVS) ohne, sonst mit waagrechtem Querstrich. B mit größerer unterer Rundung. C kurzarmig und wenig gerundet. D mit leicht absackendem Bauch. E mit kurzen, sporentragenden Querbalken. F größer als die übrigen Buchstaben, mit links übergreifendem, rechts aufwärts geschwungenem oberem Querbalken und sehr kurzem mittlerem Querbalken (cf. Namen). L mit links übergreifendem, rechts unter die Linie gezogenem Querbalken. P mit kleiner, geschlossener Rundung. R mit kleiner Rundung und gerader, bis zur Grundlinie gezogener Cauda. S kurzarmig. T etwas höher als die übrigen Buchstaben, mit kurzem, waagrechtem Deckbalken. V unten stumpf zulaufend. - Verwandte Schriftdenkmäler: VOLBACH, Elfenbeinarbeiten, Nr. 5, Fig. 15,5: Rom, a. 480; ibid., Nr. 2, Fig. 1,2: Rom, a. 428; ibid., Nr. 21, Fig. 5,21 : Konstantinopel, a. 517; ibid., Nr. 6, Fig. 2,6: Rom, a. 487. FORMULAR UND INHALT :

Namen und Titel des Konsuls, der das Diptychon anläßlich seiner Ernennung zum Konsul verschenkt hat. Die vorliegende Inschrift entspricht dem Typus des weströmischen Konsulardiptychons, auf dem in der Reihenfolge: Rückdeckel-Vorderdeckel die Namen und Titel des Konsuls angegeben sind (cf. DELBRÜCK, Consulardiptychen, 16 f.). Bei den im Nominativ stehenden Namen ist sinngemäß ein donum dedit oder dedicavit zu ergänzen. Rufius Achilius Sividius - wegen des sehr kurzen mittleren Querbalkens beim Buchstaben F wurde auch Rutius gelesen (so D E LEVIS ; cf. Lit.) - stammt aus einer Familie, die in Rom seit dem Jahre 400 n. Chr. nachweisbar ist (cf. DELBRÜCK, 1. c., 106). Sividius, der auch durch andere Quellen belegt ist (cf. LIEBENAM, Fasti consulares, 50), war Stadtpräfekt, Patricius und bei der Erhebung zum Konsul ein zweites Mal Stadtpräfekt. Vielleicht wurde er später noch Quaestor palatii (cf. DELBRÜCK, I.e., 106, Nr. 8; DIEHL, Nr. 70a, adn. ; DESSAU, ILS, Nr. 1302).

NAMEN:

Das Konsulat des Sividius fällt ins Jahr 4 8 8 (LIEBENAM, Fasti consulares, Einer paläographischen Datierung des Diptychons in dieses Jahr steht nichts entgegen.

DATIERUNG:

50).

LITERATUR: Eugenio D E LEVIS, De Rutii Achilii Sividii praefectura et consulatu epistola. Turin 1809 (Erstveröffentlichung). - MOMMSEN, ICHL (1854) 76, Nr. 342,1 (mit alt. Lit.). CIL XII (1888) Nr. 133. - DESSAU, ILS (1892) Nr. 1302. - EGLI, CIS (1895) Nr. 2. - Emile MOLINIER, Histoire générale des arts appliqués à l'industrie. Bd. 1 : Les ivoires. Paris 1896, 19 f., Fig. (Nachzeichnung) ibid. - CIL XIII (1901) Nr. 10032, 14d. - BESSON, Antiquités (1910) 82 f. - DACL IV (1920) 1109, Nr. 6. - DIEHL (1925, 19703) Nr. 70a. - DELBRÜCK, Consulardiptychen (1929) 10, 16, 31, 106 f., 171 f., Nr. 8. - SAUTER, Préhistoire (1950) 141. VOLBACH, Elfenbeinarbeiten (1952) 24 f., Nr. 7, Fig. 3,7. - DERS., Frühchristliche Kunst (1958) 62, Fig. 96a.

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3 GRABSTEIN DES DIAKONS (?) ANOLFUS(?) ST-MAURICE,

504 (?)

Pfarrkirche St. Sigismund, unter dem Chor eingemauert. - Taf. 3, Fig. 4-5.

1962 anläßlich der Kirchenrenovation von St. Sigismund und der sie begleitenden Ausgrabungen in der Krypta entdeckt (cf. B L O N D E L , L'abbaye de St-Maurice, 1 6 1 ; DUBUIS, La eure de Saint-Sigismond, 196; ein Ausgrabungsbericht liegt noch nicht vor). Nach dem Standort (Türschwelle?) zu schließen, handelt es sich um eine Zweitverwendung. Serizitmarmor; rechteckige (180 x 47 x 10 cm), grau-braune, an der Oberfläche ursprünglich polierte, stark lädierte und in der Mitte gebrochene Platte. Inschrift in der obern Plattenhälfte zwischen vorgerissener Lineatur (Z.-Abstand ca. 2 cm), dreizeilig, mitteltief und ziemlich unregelmäßig eingehauen; von weiteren möglichen Zeilen sind wegen der starken Zerstörung keine sicheren Spuren feststellbar; Bu. ca. 6,5 cm. H(I)C • R(E)Q(VIESCIT) • ANOLVFtS ?] DIAC(ONVS?)A Q[VI !f AC CETEC[ ] [ -

Hier ruht der Diakon (?) Anolfus (?), der ... S C H R I F T : Schlanke Kapitalis mit keilförmig sich verbreiternden Hasten- und Balkenenden. Worttrennung in Form von dreieckigen Punkten (Z. 1, sonst wohl zerstört). Waagrechte Abkürzungsbalken über HC (Z. 1: HIC, belegt durch D I E H L , Nr. 1455: Caraglio, o. D.; ohne Abkürzungszeichen häufig; der vertikale Balken über C scheint von einer Verletzung des Steines zu stammen), RQ (Z. 1: REQVIESCIT, Belege cf. Kat.-Nr. 11) und DIAC (Z. 2: für DIACONVS, seit frühchristlicher Zeit anzutreffen). Ligaturen: Z. 1: AV oder AN; VF vielleicht Metathese (FV). Eingeschriebene Buchstaben: I in D (Z. 2), unsicher. Die Buchstaben Q (Z. 1) und C (Z. 2 und 3) sind kleiner als die übrigen Buchstaben und hochgestellt. A mit waagrechtem Querbalken und keilförmig sich verbreiternder Spitze. C mit dreieckigem Sporenabschluß oben und verlängertem, spitz auslaufendem Unterarm. E mit kurzen, teilweise (Z. 3, zweites E) eingerückten Querbalken. F mit gewölbtem oberem Querbalken. L mit kurzem, waagrechtem Querbalken. O oval und nicht ganz so hoch wie die übrigen Buchstaben. Q rund (Z. 1) bis oval (Z. 2), mit sichelförmiger, den Buchstabenkörper durchschneidender und auf der Grundlinie aufliegender Cauda. R mit kleiner Rundung und durchgebogener, die Grundlinie nicht berührender Cauda. T mit kurzem, in Dreiecksporen auslaufendem Deckbalken. - Verwandte Schriftdenkmäler: MEC II, Fase. II, Fig. 11,4: Como, a. 502; cf. Kat.-Nr. 11, 12, 14: St-Maurice, 6. Jh.

Grabinschrift; die einfache Eingangsformel ohne bonae memoriae oder in pace weist auf frühe Entstehungszeit hin (cf. L E B L A N T , Manuel, 2 3 , Anm. 6 , der in Gallien nach dem Jahre 487 keine einfache Hic requiescit-Votrad mehr kennt).

FORMULAR UND I N H A L T :

39

2 DIAC: zu erwarten ist eine Standesbezeichnung, für die sich DIACONVS aufdrängt. A: unklar; zu DIAC gezogen, ergäbe sich eine sonst nicht nachweisbare Abkürzung für diaconissa; alleinstehend oder in Verbindung mit dem nächsten Buchstaben (Q) wäre an eine abgekürzte Ortsbezeichnung (z. B. Acaunensis oder Aquilensis-, cf. DIEHL, Nr. 1311: Grado, o. D.; COLLART, Inscriptions latines, 6 f. Nr. 4 : St-Maurice, um 2 0 0 ) zu denken. Q: wohl QVI, gefolgt von obiit, depositus est sim. Zur Ergänzung der 3. Zeile muß hier außerdem der erste Teil einer römischen Monatsdatierung (z. B. Kalendas) angenommen werden. 3 AC: möglicherweise eine der häufig anzutreffenden Abkürzungen für den Monatsnamen Augustus (AC, AG, AVC, AVG etc., cf. DIEHL, Bd. 3, 295). - CETEC...: wohl Name des Konsuln Fl. Cethegus (cf. Datierung) und somit Anfang der Datierungsformel nach Konsulatsjahren (Ceteco oder Cetego consule\ cf. EGLI, CIS, Nr. 12 oder DIEHL, Nr. 2910 adn.: Genf, a. 505). Platzmäßig bot die Inschrift demnach am Schluß nur das Todesoder Begräbnisdatum, was auf spätantiken und frühmittelalterlichen Grabinschriften häufig vorkommt (cf. etwa DIEHL, Nr. 1016: Nola, a. 523; Nr. 1018: Pozzuoli, a. 435; Nr. 1656: Cavillon, 6. oder 7. Jh.). 1: es bieten sich paläographisch gesehen zwei Möglichkeiten an: AVOLF[VS] oder ANOLF[VS]. Vom sprachlichen Gesichtspunkt aus ist sowohl die Lesung Anolf (cf. FÖRSTEMANN, PN, 102) als auch Avolf (ibid. 219; H. NAUMANN, Altnordische Namenstudien. Acta Germanica N. R. H. 1. 1912, bes. 24) berechtigt. Die wahrscheinlich fränkische oder alemannische Form -olf (gotisch -wulfs) ist allerdings im 6. Jh. noch kaum belegbar (cf. CIL XIII, Nr. 7814: Remagen, 6.-7. Jh.? Reodolfus; SCHÖNFELD, Wörterbuch, 128; GAMILLSCHEG, Romania Germanica III, 160, 169). Im Wallis sind sonst keine Träger dieser Namen bekannt. NAMEN : Z .

: Die Inschrift läßt sich paläographisch, formularmäßig und gestützt auf das ins Jahr 5 0 4 fallende Konsulat des Cethegus (cf. LIEBENAM, Fasti consulares, 5 2 ) ins 5./6. Jh. datieren. Für eine spätere Entstehung im 7.-8. Jh. spricht allerdings die Brechung in der -olfus-Endung des germanischen Personennamens.

DATIERUNG

ERSTVERÖFFENTLICHUNG.

40

4 EPITAPH DES ABTES HYMNEMODUS ST-MAURICE,

516

Abtei, Vestibüle, Ostwand, rechts vom Ausgang eingemauert; Inv.-Nr. 40. -

Taf. 3, Fig. 6. Nach mündlicher Überlieferung (L. Dupont-Lachenal) wurde das erhaltene Fragment zu unbestimmter Zeit (wohl nach 1896) anläßlich von Arbeiten im Garten nahe der Mauer zwischen dem Hause Sarrasin, dem Kirchturm und dem Martolet gefunden. Vor 1903 entdeckte es P. Bourban beim Pfarrer von Verossaz oberhalb St-Maurice, der es als Briefbeschwerer benützt hatte. - Zur Textüberlieferung cf. Kat.-Nr. 5* und Einleitung S. 21. Jurakalkstein; unförmiges (11 x 8 x ? cm), gelblich-braunes, an der Oberfläche poliertes Fragment, mit Bruchstellen seitlich und unten; von P. Bourban zur Rekonstruktion des literarisch überlieferten Textes in eine graue Marmorplatte eingelassen. Inschrift in 3 Zeilen schwach eingehauen; von P. Bourban mit roter Farbe nachgezeichnet; Bu. 2 cm.

5

[ReliJCTOR [seculi, presbiter sanctus HymnemJODVS AB[ba, s(an)c(t)orum exempla secutus, laudabilis vi]TA A D [laudem omnes invitans, dei auxilio exemploque suo vota canentium iuvans, LX. post vitae annum corpore requiescit Acauno, meretoque sanctis in caelesti regno coniunctus est. Obiit tertio Nonas Ianuarias cons(ule) Petro]. Der die Welt hinter sich ließ, der heiligmäßige Priester und Abt Hymnemodus, lud, dem Beispiel der Heiligen folgend, durch sein lobenswertes Leben alle zum Lobe ein; mit Gottes Hilfe und durch sein eigenes Beispiel unterstützte er das fromme Bemühen der Sänger. Nach sechzig) ährigem Leben ruht sein Leib in Agaunum, er (selbst) ist verdientermaßen mit den Heiligen im himmlischen Reich vereint. Er starb am dritten Tag vor den Nonen des Januar (3. Januar) unter dem Konsulat des Petrus (cf. französische Übersetzung bei A. HYRVOIX, in: Revue de la Suisse catholique 20, 1889, 895). Textergänzung nach der Vita abbatum Acaunensium, ed. B. K R U S C H , in: MG Script, rer. Mer. I I I , - Zeilentrennung und Abkürzung s(an)c(t)orum (Z. 2 ) vom Bearbeiter. - Die von BESSON, Antiquités, 74 vorgeschlagene und von P. Bourban bei der Ausführung der ergänzten Marmortafel übernommene Zeilentrennung ist fragwürdig; denn bei frühmittelalterlichen Grabinschriften wird im allgemeinen eine ungefähr senkrechte linke Zeilenbegrenzung angestrebt, während die rechte Zeilenbegrenzung oft unabhängig vonWort-und Versschluß vorgenommen wird ; Text und Zeilentrennung nach BESSON, 1. c. : 180.

[ReliJCTOR [saeculi presbiter sanctus Himnem]ODVS AB[ba sanctorum exempla secutus laudabili vi]TA AD [laudem omnes invitans

41

Dei auxilio exemploque suo vota canentium iuvans L X post vitae annum corpore quiescit Agauno meritoque sanctis coniunctus est in caelesti regno obiit III nonas ianuarias consule Petro]

Gedrungene, nicht sehr regelmäßige Kapitalis, ohne Worttrennung. A mit leicht nach außen gebogenen Hasten und waagrechtem Querbalken. C kurzarmig. B mit größerer unterer Rundung, in der Mitte offen. D mit absackendem Bauch. O oval und etwas kleiner als die übrigen Buchstaben. S leicht nach vorne geneigt. T mit sehr kurzem Deckbalken. Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 16: St-Maurice, 6. Jh. SCHRIFT:

SPRACHE UND FORM: Stilistisch ist ein Bemühen um Endreime erkennbar. Nach Krusch (MG Script, rer. Mer. III, 171) ist der Text oratione pedestri compositum, immixtis flosculis poeticis.

Poetisches Epitaph mit Altersangabe und Sterbedatum. 2 - laudabilis vitä: cf. DIEHL, Nr. 4725: Aquileia, o. D . 3 ad laudem omnes invitans: Anspielung auf die unter den ersten Äbten eingeführte laus perennis-, cf. auch Z. 4: vota canentium; Kat.-Nr. 5*, 13 f.: St-Maurice, a. 520; DIEHL, Nr. 1073,11: Lyon, a. 573; D E R S . , Bd. 3, 362 (laus); KRAUS II, Nr. 86: St. Blasien, 11. Jh. 4 vota canentium iuvans: cf. oben Z. 3. 5 LX. post vitae annum: cf. Kat.-Nr. 7 * , 2 0 : St-Maurice, a. 5 2 6 ; DIEHL, Nr. 1 0 4 1 , 6 : Lodi, a. 4 7 6 . 6 caeleste regnum: epigraphisch wiederholt anzutreffen; cf. DIEHL, Bd. 3 , 3 2 4 f. 7 Die auf einen poetischen Text folgende, prosaische Angabe des Sterbedatums in Form der römischen Monatsdatierung mit anschließendem Konsulatsjahr findet sich in frühmittelalterlichen Grabinschriften oft; cf. bes. DIEHL, Nr. 1070b: Lyon, a. 501 und Kat.Nr. 7*, 20 f.: St-Maurice, a. 526. FORMULAR UND INHALT:

Hymnemodus, sprachgeschichtlich umstritten; wohl kaum latinisierte Form des burgundischen Ememund oder Imemund (so W . WACKERNAGEL, Sprache und Sprachdenkmäler der Burgunden, in: BINDING, Geschichte des burgundisch-romanischen Königreichs, 363 f., 386; BESSON, Monasterium Acaunense, 151; FIEBIGER / SCHMIDT, Inschriftensammlung, 60 f.), sondern vielmehr aus burgundisch bimins und möths (cf. GAMILLSCHEG, Romania Germanica III, 129, 140; FÖRSTEMANN, PN, 1126 f.) gebildet. Nach KRUSCH (MG Script, rer. Mer. III, 172) nimmt der Name Bezug auf die Verdienste des Hymnemodus um den liturgischen Gesang (Hymnus). Die Person ist nur aus der vorliegenden Grabinschrift und aus der Vita abbatum Acaunensium (ed. KRUSCH, in: MG Script, rer. Mer. III, 174-183, bes. Kap. 1-7) bekannt. Hymnemodus - natione barbarus (KRUSCH, 1. c., 175) - war wohl Burgunder. Er wurde Ende 515 aus einem der Grigny-Klöster bei Vienne als erster Abt nach St-Maurice berufen. Seine Regierungszeit kann nur wenige Monate gedauert haben (cf. auch Kat.-Nr. 5*, Namen). NAMEN:

Das Konsulat des Petrus oder Flavius Petrus fällt ins Jahr 5 1 6 (LIEBENAM, Fasti consulares, 53; Todestag des Hymnemodus: 3. Januar). Für eine Entstehung in dieser Zeit sprechen sowohl das Formular des überlieferten Textes als auch die Schriftformen des erhaltenen Fragments. DATIERUNG:

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(vor der Entdeckung des Fragments) : Wilhelm ARNDT, Vita sanctorum abbatum Agaunensium (ed., Kleine Denkmäler aus der Merowingerzeit). Hannover 1874, Einl. u. Kap. 11. - ActaSS, Nov. I (1887) 554. - Albert HYRVOIX, Les saints de la Suisse d'après les Bollandistes : Vie des premiers abbés d'Agaune. Revue de la Suisse catholique 20 (1889) 895 (Kommentar und franz. Übersetzung der Vita). - EGLI, CIS (1895) Nr. 4. - Bruno KRUSCH, La falsification des vies de Saints Burgondes, in: Mélanges J . Havet. Paris 1895, 47-52. DACL I (1903) 855. - Marius BESSON, La Vita abbatum Acaunensium et la critique récente. ASG 2 (1904) 267-280. - Bruno KRUSCH, Vita abbatum Acaunensium, ed. in: MG Script, rer. Mer. III (1906) 180. (Nach der Entdeckung des Fragments): Wilhelm SCHNYDER, Die ältesten Denkmäler aus christlicher Zeit zu St-Maurice im Wallis. Schweizer Rundschau 4 (1903/1904) 285 (erster Hinweis). - BESSON, Antiquités (1910) 74, Fig. XXXII (Erstveröffentlichung des Fragments). - FIEBIGER/SCHMIDT, Inschriftensammlung (1917) 60 f., Nr. 106. - Bruno KRUSCH, Vita abbatum Acaunensium absque epitaphiis, ed. in: MG Script, rer. Mer. VII (1920) 327. - DIEHL (1925, 1970 3 ) Nr. 1648B. - SAUTER, Préhistoire (1950) 133. - THEURILLAT, L'abbaye (1954) 38, 42 f. LITERATUR

43

5* EPITAPH DES ABTES AMBROSIUS

520

Der Text wurde zusammen mit Kat.-Nr. 4, 6* und 7* im Anschluß an die nach Besson um 550 (cf. Lit.), nach Krusch im 9. Jh. (cf. Lit.) entstandene Vita abbatum Acaunensium überliefert.

Ambrosius, gestis cui caeli regna patescunt, Huic quoque promeruit membra donare solo. Protegit hunc tellus sanctorum sanguine pollens, Quem caeli meritis clarior axis habet. 5 Sic pater omnipotens, quos mundum temnere cernit, Martiribus voluit consociare suis. Et licet hoc templum fulgenti luce coruscet, Hic quoque Sublimat corpore templa suo, Quem templum servasse fidei vitamque futuram 10 Perpetuasse bonis gloria celsa docet. Nam meruit primam abbatis nomine palmam, Cum sanctis fratrum coepit amica fides Auctoris nostri laudem sine fine canendam Psallere succiduo perpetuoque choro. 15 Hunc si martirii vidissent tempora iustum, Post primum Victor iste secundus erat. Auch Ambrosius, dem dank seiner Werke das Himmelreich offensteht, war es beschieden, seine Gebeine diesem Boden zu überlassen. Nun deckt die vom Blut der Heiligen fruchtbare Erde ihn, den die leuchtende Höhe des Himmels seiner Verdienste wegen beherbergt. So wollte der allmächtige Vater diejenigen seinen Märtyrern zugesellen, die er als Verächter der Welt erkennt. Und obschon dieses Heiligtum in strahlendem Lichte erglänzt, verleiht jener ihm durch seinen Leib noch höheren Glanz, dessen himmlische Glorie zeigt, daß er das Heiligtum des Glaubens bewahrt und durch seine guten Werke das künftige Leben für immer erlangt hat. Denn er hat als Abt die höchste Ehre erworben, als die gläubige Schar der Brüder, den Heiligen innig verbunden, anfing, den Lobpreis unseres Schöpfers, der ihm ohne Ende gebührt, in unablässigem und immerwährendem Chore zu singen. Hätten die Zeiten des Martyriums diesen Gerechten gesehen, nach dem ersten Sieger (Victor) wäre dieser der zweite gewesen (cf. französische Übersetzung bei A. HYRVOIX, in Revue de la Suisse catholique 20, 1889, 896). Text aus Vita abbatum Acaunensium, ed. B. KRUSCH, in: MG Script, rer. Mer. III, 180 f. - Zu fidei statt fide (Z. 9) cf. unten Sprache und Form. SPRACHE UND FORM : 8 elegische Distichen. Z . 9 (templum servasse fidei): fide Krusch, fidei (Jedei) - - codd.; zur zweisilbigen ( - - ) Messung von fidei cf.ThLL VI/1,662,44 ff. - Z. 11 (me-

44

ruit primam abbatis nomine palmam) : primus ist nicht im Sinne der zeitlichen Abfolge, sondern im Sinne der Rangordnung zu verstehen. FORMULAR UND INHALT : Poetisches Epitaph ohne Angabe des Alters und des Todesdatums ; in frühmittelalterlicher Zeit wiederholt anzutreffen (cf. Kat.-Nr. 7* : St-Maurice, a. 526 ; DIEHL, Nr. 56 f., 60 f., 63 f., 66 und öfter). 3 Protegit hune tellus sanctorum sanguine pollens: cf. DIEHL, Nr. 1135,3: Rom, o. D. 7 Licet hoc templum fulgenti luce coruscet: wohl Anspielung auf die unter Ambrosius erbaute Basilika von St-Maurice (cf. Namen). 13- laudem sinefinecanendam / psallere ... choro: Anspielung auf die laus perennis, deren Einfüh14 rung in St-Maurice - vielleicht mit graduellen Unterschieden - sowohl Hymnemodus (cf. Kat.-Nr. 4,3 f.) als auch Ambrosius zugeschrieben werden kann. 16 Postprimurn Victor iste secundus erat: mit Victor ist wohl nicht nur der siegende Märtyrer schlechthin, sondern auch der den thebaischen Heiligen zugesellte Viktor von Agaunum (cf. LCI VIII, 555) gemeint; dazu: Egli unter Lit.

NAMEN: Ambrosius war der zweite Abt des im Jahre 515 von König Sigismund von Burgund gestifteten Klosters St-Maurice (516-520; cf. Cat. abb., ed. KRUSCH, in: MG Script, rer. Mer. III, 183.). Sein Leben ist in der Vita abbatum Acaunensium (ed. KRUSCH, bes. Kap. 8) beschrieben. Zuerst Weltkleriker, dann Mönch und Abt des Klosters Ile-Barbe bei Lyon, kam er im Jahre 515 nach St-Maurice, wo er 516 den nur wenige Monate regierenden Abt Hymnemodus (cf. Kat.-Nr. 4) ablöste. Unter ihm erreichte das Kloster eine erste Blüte, was ihm in der Grabinschrift den Satz meruit primam abbatis nomine palmam (Z. 11) eintrug. Die in diesem Zusammenhang von Krusch (MG Script, rer. Mer. III, 171 f. und VII, 327), Egli (cf. Lit.) und Besson (Monasterium Acaunense, 152; cf. auch Analecta Bollandiana 16, 1897, 86) diskutierte Frage, ob Hymnemodus oder Ambrosius der erste Abt von St-Maurice gewesen sei, ist aufs einfachste dahin zu beantworten, daß prima palma in der 11. Zeile nicht die erste, sondern die höchste Ehre bedeutet (dazu oben Sprache und Form). Ambrosius errichtete in St-Maurice die erste, vom Fels losgelöste Basilika (cf. BLONDEL, Les basiliques, 23-26, Fig. 3), in der er begraben worden ist, und auf die wohl Z. 7 anspielt. DATIERUNG : Gegen eine Entstehung dieses Epitaphs kurz nach 520 ist in sprachlicher und

inhaltlicher Hinsicht nichts einzuwenden.

LITERATUR: Wilhelm ARNDT, Vita sanctorum abbatum Agaunensium (ed., Kleine Denkmäler aus der Merowingerzeit). Hannover 1874, 1 f., 21. - ActaSS, Nov. I (1887) 5 4 3 - 5 5 1 , 553 f. - Albert HYRVOIX, Les saints de la Suisse d'après les Bollandistes : Vie des premiers abbés d'Agaune. Revue de la Suisse catholique 20 (1889) 896 f. - EGLI, CIS (1895) Nr. 5. Bruno KRUSCH, La falsification des vies de Saints Burgondes, in: Mélanges J. Havet. Paris 1895, 4 7 - 5 2 . - DACL I (1903) 855, 860. - Marius BESSON, La Vita abbatum Acaunensium et la critique récente. ASG 2 (1904) 2 6 7 - 2 8 0 . - Bruno KRUSCH, Vita abbatum Acaunensium, ed. in: MG Script, rer. Mer. III (1906) 180 f. - BESSON, Monasterium Acaunense (1913) 1 4 1 - 1 6 9 , bes. 163 f. - THEURILLAT, L'abbaye (1954) 3 2 - 4 3 .

45

6* EPITAPH DES ABTES ACHIVUS

523

Cf. Einleitung zu Kat.-Nr. 5*. Amore Christi fervidus Castusque sanctis moribus Heres Achivus praemii Iure aeterni canitur. 5 Vitae exemplum nobilem Vir Deo plenus proferens, Summam perfecti muneris Abba electus docuit. Benigna quies nunc virum 10 Beatae luci transtulit; Ad caelum mittens spiritum, Membra hic liquit fratribus. Artavit corpus crucibus, Mentem levavit pondere, 15 Semper quem blanda gaudio Probo coniunxit Caritas. Achivus, von glühender Liebe zu Christus erfüllt und heiligmäßig in der Reinheit seiner Sitten, wird zu Recht als Erbe des ewigen Lohnes besungen. Durch sein beispielhaftes und edles Leben hat der gotterfüllte Mann als Abt die Vollendung eines vollkommenen Dienstes gelehrt. Nun hat ihn der wohltätige Frieden (des Todes) in das Licht der Glückseligkeit versetzt, er hat seinen Geist zum Himmel geschickt, seinen Leib den Brüdern hienieden gelassen. Er hat seinem Leib manches Kreuz auferlegt, den Geist von aller (Erden-)Last freigemacht, er, den zärtliche Liebe stets in Freude mit Probus verband (cf. französische Übersetzung bei A. HYRVOIX, in: Revue de la Suisse catholique 20, 1889, 897 f.). Text aus Vita abbatum Acaunensium, ed.

B . KRUSCH,

in: MG Script, rer. Mer. III, 181.

SPRACHE UND FORM: 16 jambische Trimeter mit Akrostichon ACHIVVS ABBA aus den ersten 11 Zeilen - Akrostichen werden in frühmittelalterlichen Grabinschriften häufig gebildet (cf. z. B. DIEHL, Nr. 148, 316, 412, 452 und öfter). - Z. 9: virum Krusch, verum codd. FORMULAR UND INHALT : Cf. Bemerkungen zu Kat.-Nr. 5* (Formular und Inhalt). 13 artavit corpus crucibus: cf. DIEHL, Nr. 4 6 , 1 0 : Lyon, a. 5 0 6 ; Nr. 2 4 4 0 , 6 : Vienne, NAMEN :

a. 518.

Achivus - aus dem Griechischen achaios = achäisch - kommt als Personenname nur

selten vor (cf. DE-VIT, Onomasticon I, 36 f.; PERIN, Onomasticon 1,21; MORLET, Les noms

de personne II, 14a). Das Leben des Achivus, des dritten Abtes von St-Maurice (520-523; cf. 46

Cat. abb., ed. KRUSCH, in: M G Script, rer. Mer. III, 183), ist in der Vita abbatum Acaunensium (ed. KRUSCH, bes. Kap. 9) beschrieben. In seiner Jugend leistete er mit seinem Vater Heraclius in der Gegend von Grenoble Militärdienst. Nach seinem Eintritt ins monasterium Grenencense gelangte er im Jahre 515 mit Hymnemodus (cf. Kat.-Nr. 4) und dem Priester Probus nach St-Maurice, wo er die Nachfolge des Abtes Ambrosius (cf. Kat.-Nr. 5*) übernahm. Sein Freund Probus (cf. Z. 15-16), der in der Vita mehrfach in Verbindung mit Achivus genannt ist (MG Script, rer. Mer. III, 177,22.33; 178,27; dazu 177,8 und 179,23), wird in den von einem Priester Pragmatius kurz vor 550 verfaßten Versus de vita sancti Probi (ed. KRUSCH, in: M G Script, rer. Mer. III, 181-183; dazu BESSON, Monasterium Acaunense, 158 f., 167-169) gefeiert. Möglicherweise bezieht sich die Grabinschrift Kat.-Nr. 14 auf diesen Probus. Gegen eine Entstehung dieses Elogiums kurz nach 523 ist weder in sprachlicher noch inhaltlicher Hinsicht etwas einzuwenden. DATIERUNG:

Emil E G L I , Eine Grabinschrift aus Agaunum. ASA 23 (1890) 315 f. CIS (1895) Nr. 6. - DACL I (1903) 865 f. - sonst wie Kat.-Nr. 5*. LITERATUR:

EGLI,

47

7* EPITAPH DES ABTES TRANQUILLUS

526

Cf. Einleitung zu Kat.-Nr. 5*.

5

10

15

20

Qui mundi laqueos vicit labente palestra, qui pectore sincero Semper meruit cernere Christum, ut monachus Tranquillus iste mitis sanctusque sacerdos, cui claruit benigna fides, moribus de nomine vita, cum meritis animam sidera clara tene[n]t. Dum fragilis seculi tumidos evitat honores, vanaque dispiciens, domini praecepta secutus, ieiuniis precibusque psalmis permansit honestus. Insuper leprosis pius addedit servire minister humilis, ut altam possit viam mercari salutis, cum meretis redditur aeterni regis merces promissa laborum praemia quae patent iustis retribuente deo, quod iudex caeli rector, librato pondere, pensat. Ibi iam probatus gaudet suscepta munera Christi; honoribus ditatus summis, possidet caelestia dona. Et cum Vitalis redeunt animas in corpore necti, quandoque caro recipit surgens post funera vitam, sie iterum ut nova rursus utantur sanguine membra, tunc rutilo decore terris regressus lumine fulgit. LXXXVI. post vitae annum corpore requiescit Acauno. Obiit pridie Idus Decembris. Wer die Fallstricke der Welt überwunden hat, im Kampf, bei dem man leicht zu Fall kommt, wer mit reinem Herzen Christus immerdar zu schauen verdient hat - wie der Mönch Tranquillus, dieser sanfte und heilige Priester, dem ein starker Glaube zur Zierde gereichte und ein Leben, das in den Sitten seinem Namen entsprach dessen Seele mit ihren Verdiensten hat den leuchtenden Himmel als Wohnstatt. Indem er die nichtigen Ehren dieser vergänglichen Welt mied, das Eitle verschmähte und des Herrn Gebote befolgte, blieb er, in Fasten, Gebet und Psalmengesang verharrend, stets ehrbar. Mehr noch: er widmete sich dem Dienst an den Aussätzigen barmherzig und voll Demut, um sich so den Weg zur Höhe des Heils zu erwerben, dann, wenn für erworbne Verdienste gewährt wird des ewigen Königs verheißener Lohn aller Mühen, der Preis, der dem Gerechten bereitet ist, vom Gott der Vergeltung, so wie ihn der Richter, der Lenker des Himmels, mit der Waage der Gerechtigkeit zumißt. Er hat schon bestanden vor seinem Gericht und freut sich nun der von Christus empfangenen Gaben; mit höchsten Ehren bedacht, besitzt er die Güter des Himmels. Und wenn einst die lebendigen Seelen in die Bande des Leibes zurückkehren, wenn das Fleisch vom Tode erstehend, wieder Leben emp-

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fängt und in den neugeschaffenen Gliedern wieder Blut durch die Adern fließt, dann kehrt auch er auf die Erde zurück und strahlt im leuchtenden Glanz der Verklärung. - Nach dem 86. Jahr seines Lebens ruht nun sein Leib in Agaunum. Er starb am Vortag der Iden des Dezember (12. Dezember; cf. französische Übersetzung bei A. HYRVOIX, in: Revue de la Suisse catholique 2 0 , 1 8 8 9 , 8 9 5 ) . Text aus Vita abbatum Acaunensium, ed. B. KRUSCH, in: MG Script, rer. Mer. III, 179 f. - Interpunktion teilweise geändert (cf. Übersetzung). - Zu tenent statt tenet (Z. 5) cf. unten Sprache und Form. SPRACHE UND FORM: Krusch (MG Script, rer. Mer. III, 171) bezeichnet den Text als versus in orationem solutam translatos. Die 'Textrekonstruktion' Traubes (bei KRUSCH, 1. c.) in Form von 18 Hexametern ist sehr fragwürdig, weil es genug original überlieferte Inschriften in loser metrischer Form gibt.

I

labentepalestra: 'auf dem Kampfplatz, auf dem man leicht zu Fall kommt': Für die Subjekts- bzw. Objektsverschiebung (cf. W. HÄVERS, in: Handbuch der erklärenden Syntax. Heidelberg 1931, 167, § 147), mit der ein Partizip bzw. Adjektiv in ungenauer Weise an ein Substantiv angeschlossen wird, gibt es in allen Sprachen Beispiele (café dansant, cf. die reiche Belegsammlung bei H. PAUL, Deutsche Grammatik IV. Halle 3 1957, 68 ff.). Formal ist die Formulierung ohne Einfluß von VERGIL, Aen. 3, 281 (exerceant patrias oleo labente palaestras) kaum denkbar (wobei auch an dieser Stelle eine ähnliche Verwendung von labente 'das Öl, an dem der Ringer abgleitet' - trotz ThLL VII/2, 787,35 - nicht auszuschließen ist), (frdl. Auskunft von Th. Payr, MLW und H. Wieland, ThLL). 5 animam sidera clara tenent: tenet codd., Krusch; tenent Versus de vita sancti Probi, 56 (cf. Formular und Inhalt). 9 addedit servire: zu addo mit inf. (= darüber hinaus, zusätzlich, wiederholt tun) cf. ThLL I, 587,36 ff. und MLW I, 166,23-25. FORMULAR UND INHALT : Poetisches Epitaph (cf. Kat.-Nr. 4 ) . Gewisse Parallelen zwischen dem vorliegenden Text (cf. Z. 1, 5 und 8) und den von Pragmatius verfaßten Versus de vita sancti Probi (ed. KRUSCH, in: MG Script, rer. Mer. I I I , 181-183, bes. v. 32, 53 und 56) zeigen die Möglichkeit auf, daß Pragmatius der Autor dieses Epitaphs ist. 1

2 3 4 5 8 II 16 1619

20 4

qui mundi laqueos vicit: cf. Versus Probi, ed. KRUSCH, 1. c., 1 8 2 , 5 3 . quipectore sincero...meruit cernere Christum: cf. Matth. 5,8. mitis sanctusque sacerdos: cf. DIEHL, Nr. 1061a,1: Aquileia, 5. Jh. moribus de nomine vita: cf. DIEHL, Nr. 6 3 B , 3 : Rom, 4. Jh.; Nr. 1 1 9 6 , 1 3 : Rom, a. 474. cum meritis animam sidera clara tenent: wie Versus Probi, ed. KRUSCH, in: MG Script, rer. Mer. III, 182,56. ieiuniis precibusque: cf. Versus Probi, ed. KRUSCH, 1. c., 182,32 f. cum meretis redditur...merces: cf. DIEHL, Nr. 2167,1 f.: Rom, o. D . redeunt...in corpore necti: cf. DIEHL, Nr. 1 6 3 , 2 : Rom, o. D . ; Nr. 3482,8: Ñola, o. D . Zur Hoffnung auf Auferstehung in frühmittelalterlichen Grabinschriften cf. DIEHL, Nr. 3 4 5 8 - 3 4 8 0 ; L E BLANT, Inscriptions II, Nr. 4 6 7 , Kommentar. LXXXVI. post vitae annum...requiescit Acarno: cf. Kat.-Nr. 4,5: St-Maurice, a. 516. 49

20- obiitprtdie Idus Decembris: cf. Kat.-Nr. 4,7: St-Maurice, a. 516. - Die auf einen poetischen 21 Text folgende, prosaische Angabe des Sterbedatums in Form der römischen Monatsdatierung ohne Konsulatsjahr ist selten (cf. DIEHL, Nr. 1071: Lyon, o. D . ; Nr. 3309,6: Rom, o. D.). Tranquillus, seltener lat. Personenname (cf. DIEHL, Nr. 4002F: Rom, o. D.: Trancullina; MG Conc. I, 111: Genf, a. 549: Tranquillus presbyter; MORLET, Les noms de per sonne II, 112b: Gallien, 6. Jh.: Tranquilla). - Tranquillus, vierter Abt von St-Maurice (523526; cf. Cat. abb., ed. KRUSCH, in: MG Script, rer. Mer. III, 183), ist nur aus dem vorliegenden Text und einem Satz bekannt, der die Vita abbatum Acaunensium abschließt (MG Script, rer. Mer. VII, 336) oder von der Vita zu den Epitaphien überleitet (MG Script, rer. Mer. III, 179). Konkret ist daraus zu schließen, daß der Priester Tranquillus dem Achivus als Abt nachfolgte, 86jährig wurde und an einem 12. Dezember verstarb. NAMEN:

Formal und inhaltlich ist gegen eine Entstehung dieses Epitaphs kurz nach 526 nichts einzuwenden.

DATIERUNG:

LITERATUR: EGLI, C I S

50

(1895) Nr. 7. -

DACL I

(1903) 866. - sonst wie Kat.-Nr. 5*.

8

MARMORFRAGMENT

5.-6. JH.

ST-MAURICE, Abtei, Westkrypta (tombeau de samt Maurice), als nördlicher Kämpfer des Arkosoliums eingemauert; Inv.-Nr. 87,3; BLONDEL, Plan et inventaire, Nr. 134. - Taf. 4, Fig. 7.

Im Jahre 1919 anläßlich der eingehenden Untersuchungen der schon in den Jahren 1905-1907 aufgefundenen Westkrypta von N. Peissard entdeckt (cf. Lit.; 2ur Situierung auch: OSWALD/ SCHAEFER/SENNHAUSER, Vorromanische Kirchenbauten, 301). Cippolinmarmor; stark lädierte Platte unbestimmten Gesamtumfangs, von der ein rechteckiger Streifen (64 x 15 x 9 cm) als nördliche Nischendecke über dem Kopf des Sarkophags sichtbar ist. Inschrift am rechten Plattenrand, von unten zu lesen, in 5 Zeilen, deren 3. durch Lädierung verloren gegangen ist, regelmäßig und mitteltief eingehauen; Bu. 4,3-4,5 cm. —]C-TI(TVLVM?) [—]NIA[-... —]ONS 5 [—.]SPI(RITVM?) [SCHRIFT: Vollschlanke Kapitalis mit ausgeprägten Dreiecksporen an Hasten- und Balkenenden. Worttrennung in Form von Dreieckpunkten (Z. 1 und 2). Waagrechte Abkürzungsbalken über TI (Z. 1: TITVLVM?; cf. TI für titulum ohne Abkürzungszeichen bei DIEHL, Nr. 3594: Worms, o. D.) und SPI (Z. 5: SPIRITVS?, wie DIEHL, Nr. 3391A: Rom, o. D.). A mit waagrechtem Querbalken und dreieckiger, fast gespaltener Spitze. C oval, mit dreieckigem Sporenabschluß oben und unten. N mit breitem, stumpfem Zusammenschluß oben und leicht eingerücktem Schrägbalken unten. O kreisrund. P mit spitz auslaufender, offener Rundung. S mit schwachen Rundungen und leicht gespaltenen Abschlußsporen. T mit kurzem Deckbalken. - Verwandte Schriftdenkmäler: HÜBNER, Exempla, 254, Nr. 247: Rom, a. 431; DERS., IHC Suppl., 10, Nr. 307: Mertola, a. 566; GOSE, Katalog, Nr. 752b: Trier, o. D.; Kat.-Nr. 10: St-Maurice, 6. Jh. FORMULAR UND INHALT:

Grabinschrift wahrscheinlich.

1 2

möglicherweise [SVB HVN]C TI(TVLVM); cf. Kat.-Nr. 10, 12, 13: St-Maurice, 6. Jh. ...NIA: vielleicht Schluß eines weiblichen Personennamens (cf. Namen); sinn- und platzgemäß wäre davor ein abgekürztes requiescit (RQ; cf. Kat.-Nr. 3 und 11: St-Maurice, a. 504? bzw. 6. Jh.) zu ergänzen. 4 ...ONS: wohl ...C]ONS(VLE) und davor der Name eines Konsuln im Ablativ, was der üblichen Datierung nach Konsulatsjahren entsprechen würde; vom Platz her gesehen, dürfte in Z. 3-4 nur ein mehr oder weniger ausgeschmücktes Todes- oder Begräbnis-

51

datum {quae obiit, deposita est, obiit in pace sim. ; cf. D I E H L , passim) ausgefallen sein; cf. Kat.-Nr. 3: St-Maurice, a. 5 0 4 ? 5 SPI: wohl eine Form von spiritus ; am ehesten würde man die Wendung reddere spiritum = sterben erwarten (cf. D I E H L , Bd. 3, 4 0 9 D ) . Z. 2 ( . . . N I A ) : wenn es sich um einen weiblichen Personennamen handelt, so bieten sich viele Möglichkeiten an : Lavinia, Leonia, Licinia, Magnia, Petronia sim. NAMEN:

Die Tatsachen, daß die ehemalige Westkrypta nicht im 4 . , sondern erst im 8. Jh. entstanden ist, und daß auch das ältere Grab mit Arkosolium, das vielleicht aus dem 5. Jh. stammt, Veränderungen erfahren hat (cf. BLONDEL, Les basiliques, 30), unterstützen den paläographischen Befund, wonach die Inschrift nicht dem späten 3. (so Peissard), sondern eher dem 5. oder 6. Jh. zuzuweisen ist.

DATIERUNG:

Nicolas PEISSARD, La découverte du tombeau de Saint Maurice. St-Maurice 1922, 37, 40^4-2, Fig. V (Erstveröffentlichung; Nachzeichnung eines schwer ausführbaren Abklatsches). - COLLART, Inscriptions latines (1941) 75, Anm. 237. LITERATUR:

52

9

5.-6. JH.

MAGNUS-ZIEGEL

ST-MAURICE,

Abtei, Turmdepot; Inv.-Nr.

56.

- Taf. 4 , Fig.

8.

Im Jahre 1951, anläßlich der Ausgrabung der bis ins 6./7. Jh. zurückreichenden Kapelle Notre-Dame Sous-le-Bourg in St-Maurice/Condemines entdeckt (cf. BLONDEL, La chapelle Notre-Dame Sous-le-Bourg, 1 0 , 1 2 ) . Der Ziegel hatte als Bodenplatte eines karolingischen(P) Grabes gedient (cf. THEURILLAT, L'abbaye, 9 3 ; genauere Angaben fehlen). Leistenziegel römischer Art von guter Qualität, mit Fingermarke in Form von drei Halbkreisen am untern Rand. Maße: 49 x 33,5 x 2,8 cm ohne Leiste; Leistenhöhe 5 cm. Inschrift an der Ziegeloberfläche, zwischen den beiden Leisten, über der Fingermarke, in 2 Zeilen, mit dem Finger in den noch weichen Ton gedrückt; Bu. 3-10 cm.

CCL CXA Für Magnus 250 [Leistenziegel]; 110 A[= Hohlziegel]. : Schlanke Kapitalis mit kursiven und unzialen Elementen. Ligatur: Z. 1: MA. A mit gebrochenem Querbalken; der mit M verbundene Buchstabe ist der senkrechten MHaste angepaßt. G unzial, mit gerader, schräg nach hinten und weit unter die Grundlinie gezogener Cauda (cf. Kat.-Nr. 21: St-Maurice, um 600). L mit langem, leicht unter die Grundlinie gezogenem Querbalken. M mit senkrechten Hasten und sehr hoch liegendem, in der Mitte sich kreuzendem Mittelteil. O kreisrund bis oval, kleiner als die übrigen Buchstaben. X mit langer, fast senkrechter Haste von links oben nach rechts unten und kürzerer, unter die Grundlinie gezogener Gegenhaste. - Verwandte Schriftdenkmäler: L E BLANT, Inscriptions II, Nr. 378, Fig. 256: Briord, 6. Jh.; Nr. 458 S, Fig. 350: Vienne, 6. Jh.; Nr. 545, Fig. 423: Marseille, 6. Jh.; L E BLANT, Nouveau recueil, Nr. 261: Antigny, 6. Jh. (?). SCHRIFT

Wahrscheinlich Herstellernotiz, in der ein Ziegelproduzent oder Ziegelstreicher den Namen des Auftraggebers (Z. 1: Magnus) sowie die Anzahl der zu brennenden Leisten- (CCL = 250) und Hohl- oder Deckziegel (CX =110, gekennzeichnet durch A) vermerkte. Einen ähnlichen Text bietet eine Ziegelinschrift aus Rom (CIL XV, Nr. 6123): BENEBENTO TEGVLAS INDIXIT LVLIO N(VMER)0 CCCI VT DEFERANTVR AT POR(TVM) NEAPO(LITANVM); cf. auch M. Bös, in: Kölner Jahrbuch für Vor- und Frühgeschichte 4 (1959) 38 f. Unhaltbar ist die Ansicht Theurillats (cf. Lit.), wonach MAGNO den Namen eines Verstorbenen, die Zahlen und Zeichen christliche Invokationssymbole darstellen und die Inschrift ins 8. Jh. zu datieren sei. FORMULAR UND INHALT:

Magnus, in Antike und Mittelalter oft vorkommender Name (cf. D E - V I T , Onomasticon I V , 277 f.; PERIN, Onomasticon I I , 180 f.; MORLET, Les noms de personne I I , 73b und FÖRSTEMANN, PN, 1071); im Wallis sonst nicht überliefert.

NAMEN:

53

: Während die einzelnen Buchstabenformen vom 4.-8. Jh. nachweisbar sind, ist der Schrifttyp als Ganzes besonders im 6. Jh. anzutreffen. Von der Tatsache ausgehend, daß die Dachziegelproduktion in nachrömischer Zeit abnahm, dürfte eine vorsichtige Datierung ins 5.-6. Jh. gerechtfertigt sein. DATIERUNG

LITERATUR: BLONDEL, La chapelle Notre-Dame Sous-le-Bourg (1953) 10, 12, Fig. 4 (Erstveröffentlichung, Nachzeichnung). - THEURILLAT, L'abbaye (1954) 93, Nr. 5c. - SAUTER, Préhistoire (1955) 24, Nr. 3.

54

10

GRABSTEIN DES MÖNCHES RUSTICUS

ST-MAURICE,

6. JH.

Abtei, Katakombeneingang, an der Ostwand aufgestellt; Inv.-Nr. 70. - Tai. 5,

Fig. 9. Am 17. Juni 1974, anläßlich von Grabungen im Untergeschoß der Maison Panisset (Nordostecke der Abtei), in einem Gräberverband (Memoria), der zwischen dem 6. und 10. Jh. von einer Kalkmörtelschicht überdeckt worden war, entdeckt. Die Platte lag mit der Inschrift nach oben in Zweitverwendung über einem der Gräber der Memoria (genauere Fundumstände bei P. EGGENBERGER U. W . STÖCKLI, La découverte en l'abbaye de Saint-Maurice d'une épitaphe dédiée au moine Rusticus. Helvetia archaeologica 6, 1975, 22-27). Cippolinmarmor; rechteckige, nach oben sich leicht verjüngende, in einem Spitzgiebel zulaufende (54 x 38,5-36 x 7-9 cm; Giebelhöhe 13 cm), an der Oberfläche polierte, grünlichgraue Platte, mit vertieftem, ca. 1-3 cm breitem Rand. Das Giebelfeld, das an der Basis durch ein und seidich durch zwei schmale Bänder gerahmt ist, enthält im Flachrelief einen henkellosen Kelch, flankiert von zwei daraus trinkenden Tauben. Der zweibändrige Rahmen des rechteckigen Schriftfeldes zeigt an der Basis ein zusätzliches Ornamentband aus punktierten, gleichseitigen, ineinander verzahnten Dreiecken, das von einem weiteren Schmalband überhöht ist. Ausgezeichneter Erhaltungszustand. Inschrift in der oberen Hälfte des Schriftfeldes, fünfzeilig, zwischen vorgerissener Lineatur (Z.-Abstand 1,5 cm; eine 6. Zeile ist vorgerissen, aber unbeschrieben), tief und sorgfältig eingehauen; Bu. 4,7 cm. SVB HVNC TETO LVM REQVIESCIT BONE MEMORII RVSTICVS MONA CHVS Unter dieser Grabinschrift ruht der Mönch Rusticus seligen Angedenkens. SCHRIFT: Vorwiegend schlanke Kapitalis mit dreieckigen Sporen an Hasten- und Balkenenden. Keine Worttrennung in den Zeilen (der Punkt zwischen HVNC und TETO/LVM in Z. 1 dürfte von einer Verletzung der Steinoberfläche stammen), jedoch Zeilentrennung, die immer mit einem Wort- oder Silbenschluß zusammenfällt. Ligatur: NE (Z. 3, seit der Antike häufig). A mit gebrochenem, in einem Dreiecksporn zusammenlaufendem Querbalken und einem in die Länge gezogenen Dreiecksporn auf der Spitze. B mit größerer unterer Rundung und Öffnung zwischen Rundungszusammenschluß und Haste. C überwiegend mit längerem Unterarm (Z. 1, 2 und 4) sowie Dreiecksporenabschluß oben und unten. E mit kurzen Querbalken, deren Dreiecksporen am obern sowie untern Querbalken in Form von angehängten, bzw. aufgesetzten Keilen, am mittleren Querbalken teilweise (Z. 3 : MEMORII)

55

nur in Form eines feinen Abschlußstriches ausgeführt sind. H einmal breit (Z. 1), einmal schlank mit fehlendem Dreiecksporn an der rechten Haste oben (Z. 5). L mit kurzem, über der Grundlinie liegendem Querbalken, jedoch abgeschlossen durch einen Dreiecksporn, der die Grundlinie berührt. M mit senkrechten Hasten und hochliegendem, höchstens bis zur Buchstabenmitte gezogenem (Z. 2), in einem Dreiecksporn zulaufenden Mittelteil. N mit leicht eingerücktem Schrägbalken. O kreisrund (Z. 3), oval (Z. 4) oder spitzoval und kleiner als die übrigen Buchstaben (Z. 1). Q mit fast kreisrundem, die obere Zeilenhälfte einnehmendem, unten offenem Buchstabenkörper und fast senkrechter, durchgewellter Cauda, die durch die Öffnung zur Grundlinie führt. R mit kleiner, unten offener Rundung und leicht bis stark gewellter, spitz über der Grundlinie auslaufender Cauda. S teilweise leicht nach vorne geneigt (Z. 1 und 4). T mit kurzem Deckbalken, der überwiegend unter der oberen Zeilenbegrenzung liegt und durch Dreiecksporen begrenzt ist, die mit einer Ecke die obere Linie berühren; einmal (Z. 5) fällt der Deckbalken mit der oberen Zeilenbegrenzung zusammen, was den Steinmetz veranlaßte, die Abschlußsporen in Form von angehängten Keilen auszuführen (cf. Buchstabe E). V mit leicht aufgerichteter linker Haste und verlängertem Dreiecksporn unten. - Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 8 und 12: St-Maurice: 5.-6. Jh.; W. NEUSS, Die Anfänge des Christentums im Rheinlande. Bonn 2 1933,59, Fig. 38: Bonn/Vochem, 6. Jh. SPRACHE:

Zu Z. 1 {requiescit, sub mit Akkusativ statt mit Ablativ) cf. Formular und Inhalt.

Grabinschrift mit einfachem Formular: Eingangsformel, Namen und Stand; in frühchristlicher und frühmittelalterlicher Zeit häufig. Der ausgesparte Platz auf der unteren Plattenhälfte könnte darauf hinweisen, daß ursprünglich ein umfangreicherer Text - vielleicht mit Altersangabe und Datum - vorgesehen war; wie jedoch der zwecks Silbentrennung gedrängte erste Zeilenschluß zeigt, hatte der Skulptor die Inschrift weder zeilenweise noch gesamthaft vorgezeichnet, so daß anzunehmen ist, er habe sich lediglich platzmäßig verrechnet. 1 - SVB HVNC TETOLVM: mit kleinen Varianten in St-Maurice und im burgundischen 2 Bereich verhältnismäßig stark vertreten; cf. DIEHL, Nr. 3487: Angers, 6. Jh. (?); Kat.Nr. 12: St-Maurice, 6. Jh.; Kat.-Nr. 24: St-Maurice, 6.-7. Jh.; EGLI, CIS, Nr. 43: Baulmes, 7./8. Jh. Cf. auch die besonders im mittelrheinischen Gebiet vertretene Eingangsformel In hunc titulo (BOPPERT, Die frühchristlichen Inschriften, 22, 25, 29, 36, 50, 79, 82, 111). 2 - BONE MEMORII: im Frühmittelalter allg. belegt; cf. L E BLANT, Inscriptions I, S . X 3 oder Manuel, 23 f., 77, 199, der diese Formel von 473 bis 689 insbesondere in Südgallien nachweist; dazu Kat.-Nr. 30: St-Maurice, 8. Jh. 4 - MONACHVS: die Standesbezeichnung monachus erscheint auf datierten Inschriften erst 5 im 6. Jh.; dazu DIEHL, Nr. 1659b: Spanien, a. 543; Kat.-Nr. 7*,3: St-Maurice, a. 526; Kat.-Nr. 26: St-Maurice, 7.-Anfang 8. Jh.; cf. DIEHL, Nr. 1644,36: Arles, a. 553 und Kat.-Nr. 15: St-Maurice, 6. Jh. FORMULAR UND INHALT:

NAMEN : Rusticus, in Antike (cf. PERIN, Onomasticon II, 5 7 4 ) und Frühmittelalter (cf. DIEHL, Bd. 3, 139; MORLET, Les noms de personne II, 99) oft anzutreffender Name. In St-Maurice und im Wallis ist er sonst nicht nachweisbar.

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Schrift und Formular weisen diese Grabinschrift ins 6. Jh. Gewisse antikisierende Formen, sowohl in der Ausstattung als in der Schrift, sprechen eher für die Zeit zwischen der Klosterstiftung von 515 und der Mitte des 6. Jhs. als für die 2. Hälfte des 6. Jhs.

DATIERUNG:

Peter EGGENBERGER/Werner STÖCKLI/Christoph JÖRG, La découverte en l'abbaye de Saint-Maurice d'une épitaphe dédiée au moine Rusticus. Helvetia archaeologica 6-21 (1975) 22-32 (Erstveröffentlichung). LITERATUR:

57

11

GRABSTEIN DES DIAKONS ANDREAS

ST-MAURICE,

Pfarrkirche St. Sigismund, Abstellraum über der Sakristei. - Taf.

6,

Fig.

10.

1962 anläßlich der Kirchenrenovation von St. Sigismund entdeckt (cf. Kat.-Nr. 3). Genauer Fundort nicht abgeklärt. Jurakalkstein; rechteckiges (35 x 39 x 1-10,5 cm), grau-gelbes Grabsteinfragment mit rundbogigem, beiderseits um je einen cm nach innen versetztem Aufsatz (14 x 37 cm) und Hauptbruchstelle unten; polierte, jedoch durch Absplitterungen lädierte Oberfläche; unter dem Rundbogen schwach eingehauene Zierzeile in Form von ineinander greifenden Halbkreisen (cf. Kat.-Nr. 15: St-Maurice, 6. Jh.). Hinten ist der Stein in grober Behauung bombiert (1-10,5 cm). Inschrift unter dem Rundbogen, in 4 Zeilen, deren unterste von der Bruchstelle erfaßt ist, zwischen vorgerissener Lineatur (Z.-Abstand 2,5-3 cm), mitteltief und sorgfältig eingehauen; Bu. 5 cm. HIC R(E)Q(VIESCIT) B(ONAE) M(EMORIAE) Ai^DREAS DIAC(ONV)S Q(VI) VI XIT IN P(A)C(E) [. Hier ruht der Diakon Andreas seligen Angedenkens, der gelebt hat in Frieden ... SCHRIFT: Vollschlanke Kapitalis mit teilweise gespaltenen Dreiecksporen an Hasten- und Balkenenden. Keine Worttrennung (cf. Abkürzungszeichen zu QVI in Z. 3), jedoch mit Wort- oder Silbenschluß zusammenfallende Zeilentrennung. Waagrechte Abkürzungsbalken über RQ (Z. 1: REQVIESCIT, belegt durch Kat.-Nr. 3: St-Maurice, a. 504 ?; DIEHL, Nr. 673: Mantua, a. 540; Nr. 1005: Ravenna, a. 570; Nr. 1036: Ravenna, a. 494), B und M (Z. 1: BONAE MEMORIAE, belegt durch Kat.-Nr. 12: St-Maurice, 6. Jh.; DIEHL, Nr. 243: Rom, a. 525; Nr. 736b: Rom, a. 517; Nr. 305: Vercelli, o. D.; Nr. 4955: Mailand, o. D.; L E BLANT, Nouveau recueil, Nr. 175: Arles, 6. Jh.; MEC II, Fase. II, Fig. 11,6: Como, 6. Jh. und öfter). Großer dreieckiger, mit Schlaufen verzierter Punkt neben Q (Z. 3) als Abkürzungszeichen für QVI, wohl nicht als Worttrennung (Q für QVI ist oft anzutreffen). Ohne sichtbare Zeichen sind abgekürzt: DIACS (Z. 3: DIACONVS; cf. DIEHL, Nr. 1205: Capua, a. 565 und TRAUBE, Nomina sacra, 253) und PC (Z. 4: PACE, im 6. Jh. mehrfach). Ligatur: ND (Z. 2, seit der Antike belegt). A mit waagrechtem, ziemlich hoch liegendem Querbalken und Dreiecksporn oben. B mit größerer unterer Rundung. C rund, oben in gespaltenen Sporn, unten spitz auslaufend. D mit breiter, ausgewogener Rundung. E mit kurzen Querbalken in Form von dicken Dreiecksporen. H mit gespaltenen Sporen und hoch liegendem Querbalken. M mit senkrechten Hasten, gespaltenen Sporen und spitz zulaufen-

58

dem, bis zur Buchstabenmitte gezogenem Mittelteil. P unten leicht geöffnet. Q unausgewogen oval, die Zeile ausfüllend, mit gerader, den Buchstabenkörper durchbrechender Cauda. R mit kleiner, leicht geöffneter Rundung und gerader, die Grundlinie berührender Cauda sowie gespaltenem Sporn am Hastenende oben. V unten spitz zulaufend, mit gespaltenen Sporen oben. - Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 15 I/II: St-Maurice, 6. Jh.; MEC II, Fase. III, Fig. 1,4: Pavia, a. 539. FORMULAR UND INHALT: Grabinschrift mit einfachem Formular: Eingangsformel, Namen,

Stand und Alter; in frühchristlicher und frühmittelalterlicher Zeit oft vorkommend. Auf dem verlorenen unteren Teil der Inschrift stand möglicherweise das Todes- oder Begräbnisdatum. 1 HIC REQVIESCIT BONAE MEMORIAE...: besonders in Gallien vom 5.-7. Jh. wiederholt anzutreffende Eingangsformel; cf. Kat.-Nr. 10,2f.: St-Maurice, 6. Jh. 3 D I A C O N V S : seit frühchristlicher Zeit auf Inschriften nachweisbar; cf. DIEHL, Bd. 3, 340; D A C L I V , 738-746.

3 - QVT VIXIT IN PACE: Beginn der in Nordafrika, Südgallien und Germanien vom 5.-7. Jh. sehr häufig verwendeten Altersformel (cf. LE BLANT, Manuel, 77, 80; DIEHL, Bd. 3, 383 f.); zu ergänzen wäre etwa: annos plus minus NN, obiit NN, consule NN. Zwei bis zur Bruchstelle fast identische Formulare bieten DIEHL, Nr. 2765: Gresny-sur-Aix (Savoyen), a. 485 und Nr. 2916: Clermont-Ferrand, a. 612.

4

NAMEN : Zum oft belegten Personennamen Andreas cf. DE-VIT, Onomasticon I, 293; PERIN,

Onomasticon I, 119; MORLET, Les noms de personne II, 19. Ein Diakon Andreas ist im Wallis sonst nicht überliefert. DATIERUNG: Während vom Formular her eine Datierung ins 7. Jh. noch möglich wäre, weisen paläographische Eigenheiten (bes. Abkürzungen) die Inschrift eher ins 6. Jh. ERSTVERÖFFENTLICHUNG.

59

12

GRABSTEIN DES THOCTEBADUS

6. JH.

ST-MAURICE, Abtei, Vestibüle, an der Ostwand rechts vom Ausgang eingemauert; Inv.-Nr. 41. - Taf. 6, Fig. 11.

Wohl anläßlich der von P. Bourban in den Jahren 1896-1906 im Martolet durchgeführten Ausgrabungen gefunden. Bis 1942 im Turmmuseum der Abtei. Nach der Beschädigung des Turmes im Jahre 1942 und nach der Kirchenrenovation von 1948 am heutigen Standort. Von den meisten im Vestibüle ausgestellten Stücken sind weder der genaue Fundort noch das genaue Funddatum überliefert. Serizitmarmor; rechteckige (80 x 29 x ? cm), grau-braune Platte mit lädiertem rechten Rand und zahlreichen Absplitterungen an der ursprünglich polierten Oberfläche. Inschrift in Plattenmitte, vierzeilig, regelmäßig und mitteltief eingehauen; von P. Bourban mit roter Farbe nachgezeichnet; Bu. 4-4,5 cm. SVB HVNC TITVLO REQVIESCIT B(ONAE) M(EMORIAE) THOCTEBA DVS Unter dieser Grabinschrift ruht Thoctebadus seligen Angedenkens. : Schlanke Kapitalis mit ziemlich starker Dreiecksporenbildung an den Hasten- und Balkenenden. Keine Worttrennung, jedoch Zeilentrennung, die mit dem Wort- oder Silbenschluß zusammenfällt. Waagrechter Abkürzungsbalken über BM (Z. 3: BONAE MEMORIAE; cf. Belege in Kat.-Nr. 11). Eingeschriebene Buchstaben: V in S (Z. 1; nur teilweise), O in L (Z. 1). A mit waagrechtem Querbalken und verlängertem Dreiecksporn auf der Spitze. B mit größerer unterer Rundung und Öffnung zwischen Rundungszusammenschluß und Haste (cf. Kat.-Nr. 10). C langarmig, einmal (Z. 1) mit Dreiecksporenabschluß oben und unten, sonst nur oben (cf. Kat.-Nr. 20). D mit leicht absackendem Bauch. E mit kurzen Querbalken in Form von verlängerten Dreiecksporen. M mit senkrechten Hasten und einem bis zur Buchstabenmitte gezogenen, in einem Dreiecksporn zulaufenden Mittelteil. N mit oben und unten leicht eingerücktem Schrägbalken. O spitzoval. Q kreisrund, mit leicht gebogener, den Buchstabenkörper durchschneidender und weit unter die Grundlinie gezogener Cauda. T mit sehr kurzem Deckbalken. V unten in einem verlängerten Dreiecksporn zulaufend. - Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 10: St-Maurice, 6. Jh. (cf. ibid.); Nr. 15 III, 17 und 20: St-Maurice, 6 . Jh.; Nr. 24: St-Maurice, 6 . - 7 . Jh.; L E BLANT, Inscriptions I, Nr. 211, Fig. 139: Chartres, a. 573; II, Nr. 458 T, Fig. 354: Vienne, o. D.; SILVAGNI, ICUR II, Nr. 4791, Fig. XXIII, b5: Rom, 5. Jh. (?). SCHRIFT

SPRACHE: Zu Z. 1 (requiescit, sab mit Akkusativ statt mit Ablativ) cf. Kat.-Nr. 10, Formular und Inhalt.

60

Grabinschrift mit einfachem Formular: Eingangsformel und Name; in frühchristlicher und frühmittelalterlicher Zeit vielfach belegt. 1 SVB HVNC TITVLO: cf. Kat-Nr. 10: St-Maurice, 6. Jh. 2-3 REQVIESCIT BONAE MEMORIAE: cf. ibid. FORMULAR UND INHALT:

: Z. 3-4 : THOCTEBADVS ; erster Bestandteil etymologisch ungeklärt. Während das zweite Glied des Namens - badus sicher germanischer Herkunft ist und schon im 5. und 6. Jh. bei burgundischen Namen (z. B. Gundobad) vorkommt (cf. FÖRSTEMANN, PN, 224 f. ; KAUFMANN, Erg.-Bd., 51 f.; GAMILLSCHEG, Romania Germanica III, 104, 161), könnte Thocte - allerdings mit ungeklärtem r-Ausfall - wie Droctebadus (cf. PROU, Les monnaies mérovingiennes, Nr. 123: Izernore / Ain und Nr. 1265: Gizia / Jura) oder Droctebodes (cf. D I E H L , Nr. 3126: Toulouse, o. D . ) von burgundisch erschlossenem drohts aus gotisch drauhtinassus, drauhtinon und draubtiwitoth stammen. Thoctebadus, der wohl nicht Mönch war (cf. Kat.-Nr. 10), ist im Wallis sonst nicht überliefert. NAMEN

Schrift und Formular sowie die Namensform sprechen für eine Datierung der Inschrift ins 6. Jh. DATIERUNG:

L I T E R A T U R : BESSON, BERG,

Antiquités,

Inschriften ( 1 9 2 3 )

f., Fig. 3 0 (Erstveröffentlichung). - STÜCKELPréhistoire ( 1 9 5 0 ) 1 3 2 , Nr. 2 . - THEURILLAT, L'abbaye

(1910) 75

2 3 2 . - SAUTER,

( 1 9 5 4 ) 91, N r . 2, A n m . 19.

61

13

GRABSTEINFRAGMENT

ST-MAURICE,

Abtei, Turmdepot; Inv.-Nr.

51.

- Taf.

6,

Fig.

12.

Das Stück stammt aus dem unklassierten, größtenteils aus den Grabungen der Jahre 18931906 im Martolet der Abtei St-Maurice zusammengetragenen Fundmaterial. Genauer Fundort und Funddatum unbekannt. Schiefermarmor; ursprünglich rechteckige (39 x 28 x 2,3 cm), dunkelgraue Platte, deren Ecken oben rechts und unten links fehlen; polierte Oberfläche. Inschrift an der oberen Ecke links, zwischen der ersten von 3 vorgerissenen Zeilen (Z.-Abstand 2,6-3 cm), mitteltief und regelmäßig eingehauen; unvollendet; Bu. 1,5-2 cm.

+ SVB HV w w wwwwwv TVWTWWW

Unter dieser [Grabinschrift... Schlanke, regelmäßige Kapitalis wie Kat.-Nr. 12. Lateinisches Kreuz als Symbolinvokation zu Beginn der Inschrift, etwas überhöht (in Gallien seit dem 5./6. Jh. wiederholt anzutreffen; cf. L E BLANT, Manuel, 28 f.). - Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 12: St-Maurice, 6. Jh. (vielleicht gleiche Hand). SCHRIFT:

SPRACHE:

Cf. Kat.-Nr.

12.

: Cf. ibid.; möglicherweise handelt es sich um den mißlungenen Versuch (Abbrechen der Ecken), die Grabinschrift des Thoctebadus (Kat.-Nr. 12) in Stein zu hauen; cf. ähnlichen Fall in Kat.-Nr. 42: St-Maurice, 10./11. Jh. FORMULAR UND INHALT

DATIERUNG:

Wie Kat.-Nr.

ERSTVERÖFFENTLICHUNG.

62

1 2 : 6.

Jh.

14

GRABSTEINFRAGMENT DES PRIESTERS (?) PROBUS (?)

ST-MAURICE,

Pfarrkirche St. Sigismund, Abstellraum über der Sakristei. - Taf. 7, Fig. 13-14.

1962 anläßlich der Kirchenrenovation von St. Sigismund (cf. Kat.-Nr. 3) im Nordostflügel der Krypta entdeckt. Serizitmarmor; rechteckige (127 x 39 x 8 cm), graue, oberhalb der Mitte gebrochene Platte, mit ursprünglich polierter, durch Absplitterungen stark lädierter Oberfläche; es fehlt die untere Ecke rechts; von einer Zweitverwendung zeugen eine ca. 10 cm breite Vertiefung, die der Länge nach hinter dem linken Plattenrand angebracht ist, sowie eine grob ausgehauene Kerbe, die sich an der Oberfläche, von links nach rechts abfallend, vom oberen rechten Plattenrand bis zur Plattenmitte zieht. Inschrift in der oberen Plattenhälfte, sechszeilig, etwas unregelmäßig und schwach eingehauen; von weiteren Zeilen sind wegen der starken Zerstörung keine sicheren Spuren feststellbar; Bu. 4,2-5,4 cm. T(I)T(V)L(V)M PRO[.?]I[.?] PR(E)S[B(ITER)I ?] • CVI[VS] HIC CO[NDVN] TVR MfEMBRA] 5 QVT-V(I)X(I)T A[N(NOS) ?] LXX [— Grabinschrift des Priesters Pro .., dessen Gebeine hier beerdigt sind. Er hat 70 (?) Jahre gelebt. SCHRIFT: Schlanke, gedrängte Kapitalis mit ausgeprägten Dreiecksporen an Hasten- und Balkenenden. Teilweise Worttrennung in Form von dreieckigen Punkten (Z. 2 und 5; sonst wohl zerstört). Waagrechte Abkürzungsbalken über TTLM (Z. 1: TITVLVM, in dieser Kontraktionsform, jedoch ohne Abkürzungszeichen bei DIEHL, Nr. 3410 oder MEC II, Fase. I, Fig. IX,9: Mailand, 5. Jh.), PRS[BI?] oder PRS[IP] (Z. 1: wohl PRESBITERI; cf. die zahlreichen Abkürzungsvarianten bei DIEHL, Bd. 3, 391; TRAUBE, Nomina sacra, 262), VXT (Z. 5: VIXIT, nur Spur eines Balkens, der sich vielleicht auf das nächste Wort bezieht; ohne Abkürzungszeichen ist diese Kontraktion schon seit der Antike bezeugt; cf. CALDERINI, Epigrafia, 338 und Kat.-Nr. 26: St-Maurice, 7.-Anfang 8. Jh.) und A[N?] (Z. 5: wohl für ANNOS; cf. die zahlreichen Abkürzungsvarianten bei DIEHL, Bd. 3, 484-486). Leicht eingeschriebene Buchstaben: M in L (Z. 1). C kurzarmig mit Dreiecksporenabschluß oben und unten. L mit kurzem, waagrechtem und eingerücktem Querbalken. M mit senkrechten Hasten und bis zur Buchstabenmitte gezogenem Mittelteil. O oval bis spitzoval. P unten geöffnet. Q spitzoval, mit angehängter, gerader und leicht nach rechts unter die Grundlinie gezogener

63

Cauda. R mit kleiner Rundung und gerader, bis zur Grundlinie gezogener Cauda. S nur leicht gerundet und nach vorne geneigt. T mit kurzem Deckbalken. - Verwandte Schriftdenkmäler MEC II, Fase. I, Fig. IV,5: Mailand, a. 510. FORMULAR UND INHALT :

Grabinschrift mit ungewöhnlicher Eingangsformel sowie einfacher Angabe von Namen, Stand und Alter; prosaische Grabinschriften, die von einem einfachen, starren Schema abweichen und Anklänge an poetische Formeln bieten, kommen in frühchristlicher und frühmittelalterlicher Zeit ziemlich häufig vor; cf. z. B. DIEHL, Nr. 53: Karden, o. D.; Nr. 1533: Mainz, o. D.; Nr. 1587: Vienne, a. 491; Nr. 1652: Narbonne o. D.; Nr. 4 8 2 3 : Lyon, a. 510. 1 TITVLVM: titulus (DIEHL, Nr. 177: Turin, o. D.; Nr. 3574E: Rom, o. D.) oder die Nebenform titulum (DIEHL, Nr. 3050: Trier, o. D.; Nr. 4169A: Calabrien, o. D.; cf. Nr. 3578: Vaison, o. D.: titulo) zu Beginn einer Grabinschrift nicht selten. Der darauffolgende Name des Verstorbenen kann im Nominativ oder - etwas häufiger - im Genitiv stehen. Für den Genitiv spricht hier eine I-Haste am Schluß der Zeile. 3 - CVIVS HIC CONDVNTVR MEMBRA: gehört zur Eingangsformel; wohl im Anklang 4 an poetische Grabinschriften; cf. z. B. DIEHL, Nr. 1325: Rom, o. D. und bes. Nr. 4823: Lyon, a. 510. 5 QVIVIXIT ANNOS: wie Kat.-Nr. 26: St-Maurice, 7.-Anfang 8. Jh.; einfachste Formel für die Altersangabe; in frühmittelalterlicher Zeit oft anzutreffen (cf. DIEHL, Bd. 3, 486, 607-611; Kat.-Nr. 11: St-Maurice, 6. Jh.). 6 LXX: es ist unklar, ob auf die Jahreszahl noch eine Angabe folgte; sowohl Grabinschriften mit vorliegendem Schluß, als auch solche, die zusätzlich ein Todes- oder Begräbnisdatum liefern, sind zahlreich. NAMEN: Mit PRO... beginnende, lateinische Namen sind auf gallischem Boden im Frühund Hochmittelalter oft belegt (cf. MORLET, Les noms de personne II, 93 f.). In St-Maurice hieß der 24., sonst nicht überlieferte Abt aus der Zeit Karl Martells Protadius (cf. THEURILLAT, L'abbaye, 56), doch dürfte dieser in der Abtei begraben worden sein. Der 3. Bischof von Martigny/ Sitten (cf. BESSON, Recherches, 3 7 - 4 1 ) hieß Protasius (5. Jh.), wozu presbyter auf vorliegender Grabinschrift nicht paßt. Vielleicht bezieht sich die Grabinschrift auf den Priester Probus, der im 6. Jh. mit Achivus (cf. Kat.-Nr. 6*) von Frankreich nach St-Maurice gezogen war (cf. Vita abbatum Acaunensium, ed. MG Script, rer. Mer. III, 1 7 4 - 1 8 1 , genannt in Kap. 5-8, 10 und 13), vom Priester Pragmatius in einem langen Gedicht verewigt wurde (cf. Versus de vita saneti Probi, ed. MG Script, rer. Mer. III, 1 8 1 - 1 8 3 ) und in der Grabinschrift des Achivus genannt ist (Kat.-Nr. 6*,15 f.). DATIERUNG :

Sowohl von der Schrift als auch vom Formular her ist die Inschrift eher dem 6. als dem 7. oder 8. Jh. zuzuweisen. ERSTVERÖFFENTLICHUNG.

64

15

GRABSTEIN DER AQU ELI NA UND ANDERER

6. JH.

Abtei, Nordtrakt, an der Südwand des auf Martolet-Höhe gelegenen Korridors, 40 cm über dem Fußboden eingemauert; Inv.-Nr. 59. - Taf. 8, Fig. 15-16. ST-MAURICE,

1970 anläßlich der Renovation des Korridors unter mehreren Verputzschichten und Übertünchungen entdeckt. Die Mauer, in der das Stück eingelassen ist, stammt frühestens aus dem 11. Jh. Serizitmarmor; rechteckige (51 x 36,5 x ? cm), grau-braune Platte mit anscheinend ursprünglichem, leicht abgerundetem Rand rechts und in der unteren Hälfte links sowie Hauptbruchstellen oben, unten und in der oberen Hälfte links; oben Spuren eines schwach bis mitteltief eingehauenen Ornamentbandes aus ineinander greifenden Halbkreisen auf einer vorgerissenen Zeile (wie Kat.-Nr. 1 1 : St-Maurice, 6. Jh.); unten Rest eines in gleicher Weise eingehauenen Kantharus mit Blattranken (in Gallien von 450-563 belegt; cf. LE BLANT, Manuel, 28 f.). Inschrift unter dem Ornamentband von 2 oder 3 Händen in 4 Zeilen eingehauen. Hand I: Z. 1 und 4, mitteltief und ziemlich sorgfältig eingehauen; Bu. 5-6 cm. Hand II: Z. 3 (PRVI), schwach eingehauen; Bu. wie Hand I: 5-6 cm. Hand III: Z. 2 und 3 (CANE), schwach und regelmäßig eingehauen; Bu. 4 cm. Hand III schrieb wohl nach I/II.

I) III) II/III)

SEP(VLTVRAE ?) • LO(CVS ?) AQVELINE-ET.. PRVI(?)/ CANE

I) MONACIG). Der unbekannte Priester Teuderigus kann als Urheber des vorliegenden Reliquiars bezeichnet werden. - N O R D O A L A V S (Z. 8): cf. M O R L E T , Les noms de personne I, 174b: Nordoaltus, Nordoardus, Norduala, Nortaldus: Gallien, 8. Jh.; F Ö R S T E M A N N , PN, 1171, ebenfalls ohne vorliegende Form, mit Beispielen aus dem 8. und 9. Jh. - RIHLINDIS (Z. 9): weiblicher Personenname; cf. M O R L E T , Les noms de personne I, 189a: Gallien, a. 774-10. Jh.; F Ö R S T E M A N N , PN, 1266: 8. Jh. In den sonst unbekannten Nordoalaus und Rihlindis dürfte das Stifterehepaar des vorliegenden Reliquiars zu sehen sein. - V N D I H O (Z. 12): cf. M O R L E T , Les noms de personne I, 141b: Undico: Gallien,

NAMEN:

FÖRSTEMANN,

90

a. 782;

PN, 1482: Undico, 8. Jh.; Undicho, 8./9. Jh. - E L L O (Z. 13): cf. M O R L E T , Les noms de personne 1,32b : Gallien, 8./9.-11. Jh. ; FÖRSTEMANN, PN, 79, ab 7. Jh. häufig. An Tello aus einer Verschleifung von E T T E L L O (cf. MOOSBRUGGER-LEU, Die Schweiz zur Merowingerzeit B, 87, Anm. 3) ist wohl nur zu denken, wenn Ello als Name nicht nachweisbar wäre, und wenn beim Anbringen der Inschrift Platznot bestanden hätte. Die als Goldschmiede zu bezeichnenden Undiho und Ello sind sonst nicht bekannt. FÖRSTEMANN,

Die Kunstgeschichte schwankt in der Datierung dieses Reliquiars zwischen dem 7 . und 8 . Jh. (cf. R E I N L E unter Lit.). Paläographisch und sprachlich steht fest, daß es sich um eine vorkarolingische Inschrift handelt.

DATIERUNG:

L I T E R A T U R : Ferdinand DE LASTEYRIE, in: Mémoires de la société des antiquaires de France 26(1859)76 (Erstveröffentlichung). - LE BLANT, Inscriptions II (1865) Nr. 684, Fig. 543 (Nachzeichnung). - AUBERT, Trésor (1872) 141-145, Fig. X I - X I V (Nachzeichnung). EGLI, CIS (1895) Nr. 8. - D A C L I (1903) 867-871, Fig. 192 f. (Nachzeichnung, m. ält. Lit.). G U Y E R , Die christlichen Denkmäler (1907) 59 f. - BESSON, Antiquités (1910) 23, Fig. X I XIII und 12. - BRAUN, Die Reliquiare (1940) 198 ff., 681, 713, Fig. 138. - Julius BAUM, Das Warnebertusreliquiar in Beromünster. Z A K 8 (1946) 206, 210, Fig. 12. - THEURILLAT, Le trésor (1953) 260-263, Fig. S. 261. - HOMBURGER, Früh- und hochmittelalterliche Stücke (1954) 340, Fig. 157. - THEURILLAT, L'abbaye (1954) 88 f. - Günther HASELOFF, Der Abtstab des heiligen Germanus zu Delsberg (Delémont). Germania 33 (1955) 210-235, Fig. 24 f. R E I N L E , Kunstgeschichte I (1968) 239 f., Fig. 271 f. - MOOSBRUGGER-LEU, Die Schweiz zur Merowingerzeit (1971) A,270, Anm. 4; B,87, Anm. 3; 92,Taf. 81, Farbtaf. D. - G R I M M E , Goldschmiedekunst (1972) 79 f. - BOUFFARD, Saint-Maurice d'Agaune (1974) 59-65, 188, Fig. S. 33, 55, 61, 63.

91

29 ADALRICUS-RELIQUIAR SITTEN,

Domschatz (Sakristei); o. Inv.-Nr. - Taf. 17, Fig. 38-39.

1902 von E. A. Stückelberg unter dem wohl im 17. Jh. wegen unzureichender Authentizität ausgeschiedenen Reliquienmaterial im Archiv des Domkapitels auf Valeria entdeckt (cf. STÜCKELBERG, Aus der christlichen Altertumskunde. Zürich 1904, 46 f.). Beinplatten über Holz; bursaförmiges Schreinchen mit Walmdach (9,6 x 10,8 x 4,5 cm); rechteckige Bleiplättchen im Zentrum der Breitseiten (Vorderfront: 1,1 x 4,5 cm; Rückseite: 1,2 x 6,2 cm); der Verschlußdeckel an der Bodenfläche fehlt; Spuren von roter und weißer Bemalung an der Verkleidung. Die Beinplatten zeigen einfache Strich- und Kreisornamente, welch letztere teilweise mit dem Zirkel eingeritzt sind (cf. ähnliche Zierelemente auf den Reliquiarfragmenten von Chillon; BESSON, L'art barbare, 3 3 - 3 5 , P I . V). Inschrift auf der Bleiplatte der Vorderfront, einzeilig, schwach und flüchtig eingeritzt; Bu. ca. 1 cm. APA^Ricvs : Schlanke, unregelmäßige Kapitalis ohne Gestaltung der Hasten- und Balkenenden. Ligaturen: A D und A L , seit der Antike nachweisbar; die von E. A. Stückelberg (cf. Lit.) vorgeschlagene Lesung einer vierfachen Ligatur A M A L ist nach dem heutigen Zustand der Inschrift nicht vertretbar und auch durch keine Parallelfälle zu belegen. A mit gebrochenem Querstrich; vom zweiten A ist nur die rechte, mit dem Buchstaben L zusammenfallende Haste sowie der untere Ansatz der Linkshaste sichtbar (Rest verwischt). C eckig, mit kurzen Querstrichen und wie V und S etwas kleiner als die übrigen Buchstaben. D in Ligatur mit A, an den Buchstaben A angepaßt, mit absackendem Bauch, dessen Rundung in der unteren Hälfte unterbrochen ist. L mit leicht übergreifendem und aufsteigendem Querstrich, dem vorausgehenden A angepaßt. Das fragwürdige M ist nach den wohl retouchierten Abbildungen Stückelbergs und Bessons (cf. Lit.) aus der rechten Haste der beiden Buchstaben A ( = M-Hasten) sowie aus dem oberen Teil der D-Rundung und der linken Haste des zweiten A ( = Mittelteil, fast bis zur Grundlinie gezogen) gebildet; gegen diese Lesung spricht vor allem der nicht übersehbare und sonst nicht erklärbare untere Ansatz der D-Rundung. R mit flacher, bis zur Buchstabenmitte gezogener Rundung und leicht durchgebogener, stark verkürzter Cauda. S mit dreifach gebrochener oberer und kurzer, nach unten auslaufender unterer Rundung. V unten offen, mit verkürzter, gerader Linkshaste und durchgebogener, unten stark übergreifender Rechtshaste. - Verwandte Schriftdenkmäler: entfernt: LOWE, CLA I, Nr. 93: Frankreich, 8. Jh.; V, Nr. 660b: Nordfrankreich, 8.-9. Jh.; VII, Nr. 930: Norditalien, 8.-9. Jh.; Nr. 933: St. Gallen, 8. Jh.; I X , Nr. 1345b: Süddeutschland, 8.-9. Jh. SCHRIFT

FORMULAR UND INHALT:

92

Personenname (cf. unten); vielleicht Besitzer- oder Stiftereintrag.

Das Schreinchen ist unter dem Namen Amalricus bekannt geworden. Paläographische Schwierigkeiten, die durch die Lesung von ADALRICVS behoben werden können (cf. oben Schrift), sprechen gegen eine Auflösung in AMALRICVS. Zum Namen Adalricus, der in dieser Form seit der 2. Hälfte des 8. Jhs. sehr häufig anzutreffen ist, cf. FÖRSTEMANN, PN, 177 und MORLET, Les noms de personne 1,17b. Im Wallis ist er - wie auch Amalricus sonst nicht belegt. NAMEN:

Die Kunstgeschichte datiert das Stück ins 7 . oder 8 . Jh. Aus paläographischen Gründen und wegen der erst im 8. Jh. belegten Namensform dürfte eine Datierung dieser ungepflegten, wohl zusammen mit dem Reliquiar entstandenen Inschrift ins 8. Jh. eher gerechtfertigt sein.

DATIERUNG:

Ernst Alfred STÜCKELBERG, Aus der christlichen Altertumskunde. Zürich 1904, 48-50, Fig. S. 49 (Erstveröffentlichung). - GUYER, Die christlichen Denkmäler (1907) 60 f. BESSON, L'art barbare (1909) 34, Fig. 13. - D E R S . , Antiquités (1910) 21, Fig. X. - FIEBIGER / SCHMIDT, Inschriftensammlung (1917) 134 f., Nr. 281, mit Fig. - BRAUN, Die Reliquiare (1940) 199. - D I E H L (1925, 19703) Nr. 2023. - MOOSBRUGGER-LEU, Die Schweiz zur Merowingerzeit (1971) B, 86, Anm 12. LITERATUR:

93

30

GRABSTEINFRAGMENT DES SEDONIUS(P)

8. JH.

Abtei, Vestibüle, an der Ostwand, rechts vom Ausgang eingemauert; Inv.Nr. 34. - Taf. 17, Fig. 40. ST-MAURICE,

Fundumstände wie Kat.-Nr. 12. Serizitmarmor; annähernd rechteckiges (19 x 23 x ? cm), graues Fragment mit Hauptbruchstellen oben, links und unten sowie Spur des rechten, ursprünglichen Randes mit eingehauenem Weinrankenornament (cf. Ambo von St-Maurice bei REINLE, Kunstgeschichte I, 208, Fig. 221: 8. Jh.), wozu vielleicht auch das Fragment Inv.-Nr. 62 mit schlaufenförmiger Verzierung gehört. Inschrift in Richtung der Längsseiten, zweizeilig (von der 3. Zeile ist noch ein Abkürzungsbalken sichtbar), ziemlich regelmäßig und mittelstark eingehauen; die Inschrift ist von P. Bourban mit roter Farbe nachgezeichnet worden; Bu. 5,7 cm.

]T-BOf^p — [MEMORffi] SEDO [NIVS.....TT..— ...Sedofnius] seligen [Angedenkens]... SCHRIFT : Schlanke, dynamische Kapitalis mit starker Dreiecksporenbildung an Hasten- und Balkenenden. Worttrennung in Form eines dreieckigen Punktes (?) zwischen T und B (Z. 1). Waagrechter Abkürzungsbalken über zwei unbestimmten Buchstaben der 3. Zeile. Ligatur: NE (Z. 1, seit der Antike belegt). Eingeschriebene Buchstaben: O in der untern B-Rundung (Z. 1, sonst nicht nachweisbar; cf. HÜBNER, IHC, Nr. 86: Medina Sidonia, a. 649: I in B; GRAY, The paleography, Nr. 62: Verona, a. 837: E in B; Kat.-Nr. 38: St-Maurice, 9.-10. Jh.). B mit kleiner oberer und großer, absackender unterer Rundung; Öffnung zwischen Haste und Zusammenschluß der Rundungen. E mit kurzen, eingerückten Querbalken. O kreisrund. S schmal gestreckt. - Verwandte Schriftdenkmäler: MEC II, Fase. III, Fig. 11,1: Pavia, a. 763; Fig. 111,3: Pavia, a. 735 od. 750; beide mit ovalem O.

Grabinschrift; unsicher, ob prosaisch oder poetisch. 1 ...T: möglicherweise Hic requiescit, quiescit, iacet sim., was für eine prosaische Grabinschrift mit einfachem Eingangsformular sprechen würde. 1 - BONE MEMORIE: cf. Kat.-Nr. 10: St-Maurice, 6. Jh.; bis ans Ende des 7. Jhs. beson2 ders in Gallien anzutreffen; in Norditalien vereinzelt noch im 8. und 9. Jh. bezeugt; cf. MEC II, Fase. II, Fig. VIII,5: Como, 8. Jh.; GROSSI-GONDI, Excursus, 166, Nr. 56: Mailand, 9. Jh. Nicht auszuschließen ist die seltene Formel bone recordationis (DIEHL, Nr. 1463: Bordeaux, a. 643). FORMULAR UND INHALT:

94

3

...: zu erwarten ist eine Standesbezeichnung wie diaconus (cf. Kat.-Nr. 3 und 11 : St-Maurice, 6. Jh.; Nr. 35: St-Maurice, 9. Jh.), monachus (cf. Kat.-Nr. 10: St-Maurice, 6. Jh.; Nr. 26: 7.-Anfang 8. Jh.) oder presbyter (cf. Kat.-Nr. 44: St-Maurice, 10./11. Jh.; Nr. 34: St-Maurice, 8.-9. Jh.?), die besonders gern abgekürzt werden und in der Regel auf den Namen (SEDONIVS) folgen.

NAMEN: SEDONIVS (Z. 2-3), hier in der späten Form des in spätantiker und frühmittelalterlicher Zeit ziemlich oft getragenen Namens Sidonius (cf. PERIN, Onomasticon II, 624; DIEHL, Bd. 3, 148). In Gallien ist er in dieser Form im Jahre 756 bezeugt; cf. MORLET, Les noms de personne II, 105b. Im Wallis ist ein Sedonius oder Sidonius sonst nicht überliefert. DATIERUNG: Während vom Formular her eine Entstehung der Inschrift im 6. oder 7. Jh. denkbar ist, sprechen die Schrift- und Namensform sowie das Weinrankenornament eher für eine Datierung ins 8. Jh. LITERATUR: BESSON, Antiquités (1910) 80, Fig. X X X I V , 3 (Erstveröffentlichung). - SAUTER, Préhistoire (1950) 133, Nr. 4.

95

31

ALTHEUS-RELIQUIAR

UM 800 UND 9.-12. JH.

SITTEN, Domschatz (Sakristei); o. Inv.-Nr. - Taf. 18, Fig. 41-42. Das wohl um 800 für die Kathedrale von Sitten hergestellte Reliquiar (cf. Inschrift I) ist in den bekannten Kirchenschatz- und Reliquieninventaren von 1364 (GREMAUD, DOC. V , Nr. 2 0 8 9 ) , von 1366 (GREMAUD, DOC. V , Nr. 2 1 0 9 ) und von 1642 (STÜCKELBERG, Geschichte der Reliquien I, XXIX-XXXIII) nicht namentlich aufgeführt. Als gesichert gilt eine barocke Umgestaltung der Rückseite, wobei die Dachfläche eine getriebene Sonnenblume und die Hinterfront zwei Zellenschmelzplättchen mit den vier Evangelisten, die dem 8. Jh. angehören, erhielten (cf. REINLE, Kunstgeschichte I, 239). Silbergetriebenes, teilweise vergoldetes, nach oben sich verjüngendes Bursareliquiar mit abgewalmtem Dach und seitlichen Tragringen (15 x 16,5 x 6 cm). Die durch Perlenreihen halbierten und gerahmten Vorderseiten zeigen in Treibarbeit oben zwei stehende Heiligenfiguren (II) und unten zwei baumähnliche stilisierte Pflanzenmotive (III). Inschrift I: an der Bodenfläche, zwischen Perlenreihen, zweizeilig erhaben getrieben; Bu. 0,8-1,2 cm. II: auf der vorderen Dachfläche, rechts und links neben den beiden Heiligenfiguren, in 4 vertikal angelegten Zeilen (Z. 4 ist horizontal zu Ende geführt) getrieben; Bu. 0,8-1,3 cm. III: auf der Vorderfront a) links neben dem ersten Pflanzenmotiv, in 2 Zeilen; Bu. 0,4-0,6 cm; b) links neben dem zweiten Pflanzenmotiv, in einer vertikal angelegten, von links zu lesenden Zeile; Bu. 0,6 cm; c) rechts neben dem zweiten Pflanzenmotiv, einzeilig; Bu. 0,4-0,5 cm, alle flüchtig eingeritzt.

I) An der Bodenfläche (Taf. 18, Fig. 42) + HANC-CAPSAM DICATA INJIONORp S(AN)C(T)E IylARI4E ALXHEVS EP(ISCOPV)S FIERI ROGAVIT Dieses zu Ehren der heiligen Maria geweihte Kästchen hat Bischof Altheus anfertigen lassen. II) An der Dachfläche (Taf. 18, Fig. 41) + S(AN)C(T)A MARIA + S(AN)C(TV)S IOHANf^JiS III) An der Vorderfront a) DANI EL b) MAR[IA?] c) P[E]TRVS (?) 96

I) Schlanke, gedrängte und ziemlich unregelmäßige Kapitalis mit keilförmig sich verbreiternden Hasten- und Balkenenden. Worttrennung in Form eines runden Punktes nur zwischen dem 1. und 2. Wort der 1. Zeile. Abkürzungszeichen in Form eines waagrechten Balkens über SCE (Z. 1: SANCTE) und EPS (Z. 2: EPISCOPVS), beide seit frühchristlicher Zeit anzutreffen. Ligaturen: NH (Z. 1, selten; cf. HÜBNER, Exempla, Nr. 345: Pozzuoli, antik: NTH), R E (Z. 1, seit dem 8. Jh. vereinzelt; cf. GRAY, The paleography, Nr. 38: Cividale, a. 762-786; Nr. 48: Bologna, a. 740?), MA, A E (Z. 2, schon in der Antike bezeugt) und T H E (Z. 2, seit dem 8. Jh. überliefert; cf. GRAY, The paleography, Nr. 9, 10, 19, 51: Italien, 8.-9. Jh.). Eingeschriebene Buchstaben: I in D (Z. 1, seit der Antike belegt). Symbolinvokation in Form eines lateinischen Kreuzes zu Beginn der Inschrift, seit dem Frühmittelalter oft anzutreffen. A mit waagrechtem Querbalken und stumpfer Spitze. C mit verlängerter oberer Rundung. E mit sehr kurzen Querbalken in Form von Dreiecksporen. F mit kurzem, leicht gebogenem oberem Querbalken. G mit eingerollter Cauda. M alleinstehend (Z. 1) mit senkrechten Hasten und bis zur Buchstabenmitte gezogenem Mittelteil; in Verbindung mit A (Z. 2), mit schräggestellten Hasten und bis zur Grundlinie gezogenem Mittelteil. N mit eingerücktem Schrägbalken. O rautenförmig, mit dreieckigen Sporen oben und unten. R mit mittelgroßer Rundung und gerader, verkürzter sowie vor der Haste ansetzender Cauda. S meist nach vorne geneigt. V mit stumpfer Spitze unten. - Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 31 I I : St-Maurice, um 800 (gleiche Werkstatt, vielleicht gleiche Hand); HÜBNER, IHC, Nr. 172: Baylen, a. 691; GRAY, The paleography, Nr. 98, Fig. X V I I I , 1: Soriano, Anfang 9. Jh. SCHRIFT:

FORMULAR UND INHALT: Stifter- und Weihinschrift; nach BRAUN, Die Reliquiare, 7 0 9 , zum Typus der urkundlichen Inschriften gehörend; seit dem Frühmittelalter auf Reliquiaren vereinzelt anzutreffen; cf. Kat.-Nr. 28 und 53: St-Maurice, 7.-8. Jh. bzw. a. 1225. 1 CAPSA: seit karolingischer Zeit für Reliquienkästchen literarisch und epigraphisch vorkommend; cf. M L W II, 2 4 4 f . ; BRAUN, Die Reliquiare, 4 0 ^ 2 , 286-295. - DICATA: cf. DIEHL, B d . 3, 3 4 0 .

1 - F I E R I R O G A V I T : epigraphisch erst in karolingischer Zeit nachweisbar; cf. D I E H L , 2 Nr. 784: Rom, 8.-9. Jh. - SANCTE MARI A E : kann sich sowohl auf eine der bischöflichen Marienkirchen von Sitten als auch auf die im Reliquiar aufbewahrten Marienreliquien (cf. Inschrift II) beziehen. NAMEN: Altheus, germanischer, seit dem 8. Jh. vereinzelt vorkommender Personenname; cf. FÖRSTEMANN, PN, 54; M O R L E T , Les noms de personne I , 18a. Der vorliegende Träger dieses Namens war als Nachfolger Wilchars (760/62-785; cf. Kat.-Nr. 41: St-Maurice, 10./ 11. Jh.) zugleich Bischof von Sitten und Abt von St-Maurice. Er war ein Freund und vielleicht ein Verwandter Karls d. Großen. Wahrscheinlich spielte er im Jahre 804 in einem Streit zwischen Tegernsee und Freising eine Vermittlerrolle. Sein Todesjahr ist unbekannt (vor 824; zur Person cf. GREMAUD, Catalogue, 489, 496; T A M I N I / D E L E Z E , Nouvel essai de Vallesia christiana, 48; DUPONT-LACHENAL, Catalogue, 246, 273 f.; SANTSCHI, Le catalogue Branschen, 97; THEURILLAT, L'abbaye, 52, 56, 119; M. BESSON, Episcopus sedis ignotae. Revue Charlemagne 1, 1911, 22). 97

DATIERUNG: AUS paläographischen und inhaltlichen Gründen drängt sich eine Datierung dieser Inschrift in die Zeit um 800 auf. II) SCHRIFT : Vollschlanke bis breite Kapitalis mit wenig ausgeprägten Verdickungen an Hastenund Balkenenden. Abkürzungszeichen in Form von waagrechten Balken über SCA (Z. 1 : SANCTA) und SCS (Z. 3: SANCTVS), beide seit frühchristlicher Zeit anzutreffen. Ligatur: N E (Z. 4, seit der Antike belegt). Symbolinvokation in Form eines lat. Kreuzes zu Beginn der 1. und 3. Zeile. Einzelne Buchstaben wie Inschrift I, mit folgenden Abweichungen: C einmal mit verlängertem (Z. 1), einmal mit verkürztem, jeweils spitz auslaufendem Unterarm. E mit mittellangen Querbalken. M mit leicht schräg gestellten Hasten und bis zur Buchstabenmitte gezogenem Mittelteil. N mit vollständig ausgezogenem Schrägbalken. O spitzoval. - Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 31 I: St-Maurice, um 800 (gleiche Werkstatt), cf. ibid.; dazu: GRAY, The paleography, Nr. 125, Fig. X X I , 2 : Capua, um 850. FORMULAR UND INHALT: Figurenbezeichnungen; dazu allg. BRAUN, Die Reliquiare, 692697; cf. Kat.-Nr. 27: St-Maurice, 7.-8. Jh.; Nr. 51; 52 I, IV; 53 II: St-Maurice, um 1150 bzw. a. 1225. Es ist unklar, ob sich die Figuren und ihre Bezeichnungen auf die im Kästchen aufbewahrten Reliquien beziehen, oder ob sie nur wegen des Bestimmungsortes, nämlich einer der beiden bischöflichen Marienkirchen, die auch je einen Johannes-Ev.-Altar besaßen (cf. HUOT, L'ordinaire de Sion, 127, Anm. 5; 128, Anm. 1; 226, Anm. 3; 274f.; ibid. 44, 101, 103, 127, 275, 302, 439), am Reliquiar angebracht worden sind. 1 - SANCTA MARIA : cf. Inschrift I ; zur Ikonographie cf. GUYER, Die christlichen Denk2 mäler, 112 f.; BESSON, Antiquités, 34; allg. LCI III, 154-182. 3 - SANCTVS IOHANNES: wohl Johannes d. Evangelist; zur Ikonographie cf. GUYER 4

und BESSON, 1. c. ; dazu allg. L C I V I I , 108; RÉAU, I A C I I I / 2 , 708-713.

DATIERUNG : Die Schrift macht einen fortschrittlicheren Eindruck als Nr. I. Da vom kunstgeschichtlichen Standpunkt aus nichts für eine spätere Anfertigung der Heiligenfiguren spricht und der vorliegende Schrifttyp schon um 800 möglich ist, muß angenommen werden, die Inschrift sei ungefähr gleichzeitig wie Nr. I entstanden. HI) SCHRIFT: a) Mischschrift von Kapitalis und Minuskel. A in Majuskelform, kleiner als die übrigen Buchstaben, mit waagrechtem Querbalken und oben stumpf zulaufend. D in Minuskelform mit absackendem Bauch und senkrechter Oberlänge. E in Minuskel- und Unzialform mit verlängertem Querstrich. L in Minuskelform mit kurzem, leicht gebogenem Querstrich und senkrechter Oberlänge. N in Majuskelform, sehr breit und mit eingerücktem Schrägstrich. - b) Eckige Kapitalis, A schlank, mit leicht aufsteigendem Querstrich. M breit, mit leicht schräg gestellten Hasten und bis zur Zeilenmitte in die rechte Buchstabenhälfte gezogenem Mittelteil. R mit gebrochener Rundung in Form eines gleichschenkligen Dreiecks und gerader, an der Haste ansetzender, bis zur Grundlinie gezogener Cauda. - Verwandte Schriftdenkmäler: M E C I, F i g . X V , 1 : R o m , a. 795-816; B . BISCHOFF, Bemerkungen zu den 98

Chiemseer Inschriften (Abhandlungen Bayer. Akad. d. Wiss. Phil.-hist.-Kl. NF 65A). München 1966, 274, Fig. LXXXIIIb: Frauenchiemsee, 10.-11. Jh. (?). - c) Mischschrift von Kapitalis und Minuskelkursive. P mit gebrochener, bis in die untere Buchstabenhälfte gezogener Rundung (Majuskel). R in Minuskelform, jedoch gleich groß wie die übrigen Buchstaben, mit Aufstrich und abgespaltenem, kurzem waagrechtem Schulterstrich. T in Majuskelform mit Deckstrich, der an der P-Haste oben ansetzt und rechts nur wenig über den Schaft reicht. U oder V in eckiger U-Form, gleich groß wie die übrigen Buchstaben, mit dem Schulterstrich von R verbunden. S unsicher, möglicherweise in langer Minuskelform, in Ligatur mit der rechten U-Haste. : Personen- oder Heiligennamen ; Bedeutung unklar. Reliquien des Propheten Daniel sind meines Wissens nicht bekannt, wie Reliquien von Propheten überhaupt selten waren; cf. STÜCKELBERG, Geschichte der Reliquien I, Nr. 95: Schaffhausen, a. 1064: Zacharias; Nr. 107: Engelberg, um 1100: Zacharias und Abacuc. b) MARIA? c) PETRUS?: Marien- und Petrusreliquien sind im Mittelalter oft anzutreffen; cf. Inschrift II und Kat.-Nr. 50: Bourg-St-Pierre, um 1150. FORMULAR UND INHALT

a)

DANIEL:

Das geringe Buchstaben- und Vergleichsmaterial läßt eine sichere Datierung kaum zu. Die Inschriften dürften zwischen dem 9. und 12. Jh. entstanden sein. DATIERUNG:

L I T E R A T U R : BLAVIGNAC, Histoire (1853) 134-137, Atlas, Fig. XXIII (Erstveröffentlichung; Nachzeichnung). - E G L I , CIS (1895) Nr. 41, Fig. 111,41. - STÜCKELBERG, Geschichte der Reliquien 1(1902) Nr. 27.-BESSON, Antiquités (1910) 31, Fig. 14; 34, Fig. XVII-XIX. - G U Y E R , Die christlichen Denkmäler (1907) 112-114. - DACL III (1912) 1144, Fig. 2705, mit ält. Lit. - Marc ROSENBERG, Zellenschmelz. Bd. III. Frankfurt a. M. 1922, 63 f., Fig. 98-103. B R A U N , Die Reliquiare (1940) 199-202, 652, 681, 684, 691, 709, Fig. 141. - Julius B A U M , Das Warnebertusreliquiar. ZAK 8 (1946) 206, Fig. 102. - HOMBURGER, Früh- und hochmittelalterliche Stücke (1954) 347 f., Fig. 158. - SCHWARZ, Die Kultur der Schweiz (1967) 60, Fig. 50a/b. - REINLE, Kunstgeschichte I (1968) 239. - MOOSBRUGGER-LEU, Die Schweiz zur Merowingerzeit B (1971) 87, Anm. 1; 88, Anm. 5.

99

32

EODEFREDUS-ZIEGEL

ST-MAURICE,

8.-9. JH.

Abtei, Turmdepot; Inv.-Nr. 58. - Taf. 19, Fig. 43.

Fundumstände wie Kat.-Nr. 13. Ziegelstein; quadratische (31,5 x 31,5 x 3,8 cm), gelblich-rote Platte von schlechter Qualität (hoher Sandgehalt), mit je einer rechteckigen Kerbe (5,5 x 3,5 cm) an zwei gegenüber liegenden Seiten; an der rauhen Oberfläche kreuzartiges Ornament, das durch diagonales Bestreichen des ungebrannten Ziegels mit drei Fingern erreicht wurde (zu dieser Ziegelform, die im Turmdepot der Abtei St-Maurice in zahlreichen Exemplaren vorkommt, cf. H. B A C H O F E N , Fouilles d'un four à tuiles, de l'époque romaine, à Chancy. A S A 24 [1922] 28,31, Fig. 1,4,7). Inschrift längs einer einschnittfreien Seite, zwischen zwei Armen des Kreuzornaments, nach dem Brennen des Ziegels, in einer Zeile, schwach eingeritzt; Bu. 1,5-2,6 cm.

EOQEFREDVS Mischung von Kapitalis und Minuskel. Ligatur: d E (sonst nicht nachweisbar; cf. HÜBNER, IHC, Nr. 117: Arjona, a. 650: D E und q E ; Nr. 234: Santiago de Compostella, a. 912: D E ) . D in Minuskelform, mit kleiner Rundung und großer, senkrechter, leicht unter die Grundlinie gezogener Haste. E in Majuskelform, mit mittellangen, teilweise schräg liegenden Querstrichen, deren oberer zudem eingerückt ist; das nicht mit Sicherheit zu lesende, dritte E (o?) erscheint in Minuskelform, wobei der Mittelstrich fehlt. F in Minuskelform, mit leicht gebogener Oberlänge sowie mit Unterlänge und waagrechtem, durch die Haste gezogenem Querstrich. O klein und oval. R in Minuskelform, unter der Grundlinie liegend, mit Ansatzsporn oben links und leicht gebogenem, auf der Grundlinie liegendem Schulterstrich. S in Minuskelform (lang), ungespalten, mit leicht gebogener Oberlänge und unter die Grundlinie geführt. V in Minuskelform, mit breiter Rundung und senkrechter Schlußhaste. - Verwandte Schriftdenkmäler: cf. etwa Kat.-Nr. 21 : St-Maurice, um 600 und eine karolingische Minuskel, z. B. S T E F F E N S , Lateinische Paläographie, Fig. 46: Tours, um 800. SCHRIFT:

Personenname; da wohl die meisten im Turmdepot der Abtei St-Maurice aufbewahrten Ziegel in Zweitverwendung als Grabverkleidungen gedient haben (cf. Kat.-Nr. 21 : St-Maurice, um 600), liegt es nahe, in der Inschrift den Namen eines Verstorbenen zu sehen. Ein Name allein kommt auf Grabinschriften jederzeit häufig vor. FORMULAR UND I N H A L T :

N A M E N : Eodefredus ist ein zweigliedriger, germanischer Personenname, der sich aus Eutha(cf. F Ö R S T E M A N N , P N , 490 hier in der fränkischen Form Eod-; dazu S C H Ö N F E L D , Wörterbuch, 81 f.) und -frithu (cf. F Ö R S T E M A N N , PN, 526) zusammensetzt. A m nächsten kommt ihm Eodfrid, den F Ö R S T E M A N N (PN, 490) im 8. Jh. in Deutschland nachweist; cf. auch M O R L E T , Les noms de personne I, 85b: Savigny, a. 961 : Eudefredus; Kat.-Nr. 26: St-Maurice, 7.-Anfang

100

8. Jh.: ...defredus. Das zerstörte Minuskel-e ließe paläographisch gesehen auch eine Lesung o (= Eodefrodus) zu, doch sind auf -frod ausgehende Personennamen nicht bekannt (cf. FÖRSTEMANN, P N , 5 4 1 ) .

Paläographisch kann die Inschrift kaum näher als ins 7 . - 9 . Jh. datiert werden. Die einmalige Überlieferung des Namens Eodfrid im 8. Jh. macht eine Entstehung der Inschrift im 8. oder 9. Jh. wahrscheinlich. DATIERUNG :

cf. BLONDEL, La chapelle Notre-Dame Sous-le-Bourg ( 1 9 5 3 ) 1 2 , wo mit dem Satz l'un d'entre eux [carreaux] portait, dans les fouilles de l'abbaye un graffite en cursive de l'époque mérovingienne ou carolingienne wohl der vorliegende Ziegel gemeint war. ERSTVERÖFFENTLICHUNG;

101

33* FRAGMENT EINER GEMALTEN GRABNOTIZ

8.-9. JH.

Abtei, zwischen den Katakomben von St. Sigismund und dem Eingang zur alten Ost-Krypta, zugeschüttet; Inv.-Nr. des Grabes nach BLONDEL, Plan et inventaire, Nr. 82. - Taf. 19, Fig. 44. ST-MAURICE,

Im September 1902 von P. Bourban entdeckt; die Inschrift des spätestens seit 1924 wieder 7 ugeschütteten Grabes war schon bei ihrer Entdeckung in fragmentarischem Zustand (cf. PEISSARD und BOURBAN unter Lit.). Gemauertes, mit rotem Mörtel ausgekleidetes Grab von rechteckiger, gegen den Fuß sich verjüngender Form (183-58-50 x ? cm); nach Norden gerichtet. Inschrift an der östlichen Grabinnenwand oben, in einer Zeile flüchtig mit schwarzer Farbe (wohl al secco) auf den roten Mörtel gemalt; Bu. ? [

]NS ME FECIT ABEBAT A ^ n (?) ANNVS P(LVS) M(INVS?)

LV MENSES

[

X

]ns hat mich gemacht. Er lebte ungefähr 55 Jahre und 10 Monate.

Transkription nach P. Bourban (cf. Lit.): [ ]NS ME FECIT A B E B A T A ^ i i M V N V S P(RESBYTERATVS) / L V MENSES X. - E. A. Stückelberg und N. Peissard (cf. Lit.) lesen L X MENSES X.

Die Schriftart ist aus der um 1 9 1 5 aufgenommenen Photographie (Fig. 4 4 ) kaum ersichtlich. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Mischschrift aus Kapitalis und Minuskel oder Kapitalis und Unziale. Nach P. Bourban erinnert die Inschrift an den Stil der römischen Katakomben-Inschriften. N. Peissard (cf. Lit.) stützt sich auf folgendes paläographisches Gutachten von F. Steffens : Steffens...place cette inscription à la fin du huitième siècle ou au commencement du neuvième, soit à la période carolingienne tardive. SCHRIFT:

SPRACHE: A B E B A T f ü r H A B E B A T . FORMULAR UND INHALT :

Grabnotiz ; cf. Kat.-Nr. 2 1 : St-Maurice, um 600. P . Bourban (cf. Lit.) vermutet, es handle sich um eine Grabinschrift, die der Verstorbene zu Lebzeiten in Auftrag gegeben habe, und die zwischen dem Todes- und Begräbnistag ausgeführt worden sei. Unhaltbar und durch den archäologischen Befund widerlegt (cf. PEISSARD und BLONDEL unter Lit.) ist seine Annahme, das Grab habe Tranquillus, dem 4. Abt von St-Maurice (cf. Kat.-Nr. 7* : St-Maurice, a. 526) gehört. ...NS: wohl Schluß eines Personennamens und in N(V)S aufzulösen. ME FECIT : bezieht sich auf das Grab, das der Verstorbene für sich hatte bauen lassen und auf das damit erworbene Grabrecht; cf. Kat.-Nr. 21 : St-Maurice, um 600. Die sonst nicht nachweisbare Formel ist in Anlehnung an die in spätantiker Zeit häufigen Wendungen locum se vivo fecit, titulum fecit sim. (cf. DIEHL, Bd. 3, 524, 546, 599) entstanden. 102

ABEBAT ANNVS PLVS MINVS NN: Altersangabe; in dieser Form seit frühchristlicher Zeit ziemlich oft belegt; cf. DIEHL, Nr. 2265: Rom, o. D. : abuit a.n.n.p.l. m. XXXI; Nr. 4398A : Aquileia, o. D. : abuit ann. V mesis VIII. - Die Lesung von P. Bourban : ABEBAT MVNVS PRESBYTERATVS ist sehr fragwürdig und durch keine Parallelfälle belegbar. A ^ f l : Christusmonogramm, flankiert von Alpha und Omega, in einem Kreis. Das Omega in Majuskelform ist in frühchristlicher Zeit so selten und in Verbindung mit der vorliegenden Monogrammform nicht nachzuweisen (cf. DACL I, 7-11), so daß auch hier die Lesung von P. Bourban in Frage gestellt werden muß. NAMEN:

Rest eines Personennamens wohl in

...]NS (=]N(V)SP).

Während Blondel (cf. Lit.) vage vermutet, das Grab könnte im 1 1 . Jh. entstanden sein, datiert Steffens (cf. oben) die Inschrift paläographisch ins 8.-9. Jh., was auch besser zur Sprache und zum Formular paßt.

DATIERUNG:

LITERATUR: Pierre BOURBAN, La tour de l'abbaye de St-Maurice en Suisse et ses antiques basiliques des martyrs. Nuovo Bullettino di archeologia cristiana 22(1916) 137, Fig. VIII,3 (Erstveröffentlichung). - STÜCKELBERG, Inschriften (1923) 240. - Nicolas PEISSARD, Fouilles à l'abbaye de Saint-Maurice. AS A 26 (1924) 94. - BLONDEL, Plan et inventaire (1966) 33, Nr. 82.

103

34

VALENCIO-ZIEGEL

ST-MAURICE,

8.-9. JH. (?)

Abtei, Turmdepot; Inv.-Nr. 57. - Taf. 20, Fig. 45.

Fundumstände wie Kat.-Nr. 13. Ziegelstein; annähernd rechteckige (50 x 27,5-21,5 x 8,5 cm), von oben nach unten sich verjüngende, stark lädierte rot-braune Platte von ziemlich guter Qualität. Ursprünglicher Rand rechts und oben rechts (?). Hauptbruchstellen und zahlreiche Absplitterungen unten, links und oben links. Inschrift in der oberen Plattenhälfte, parallel zu den Schmalseiten, in 2 % von 5 vorgerissenen Zeilen (Z.-Abstand 2,1-2,4 cm) ziemlich regelmäßig und tief eingehauen; vielleicht unvollendet; Bu. 6-6,5 cm.

—MART]IR(VM) ? f—JVALENCIO [—P(RES)B(ITE)?]R S C H R I F T : Schlanke, gedrängte und regelmäßige Kapitalis mit ziemlich starker Dreiecksporenbildung an den Hasten- und Balkenenden. Waagrechter Abkürzungsbalken über ..]R (Z. 3 : wohl P B R = P R E S B I T E R , seit frühchristlicher Zeit belegt). Abkürzungszeichen in Form eines schräg durch die R-Cauda gezogenen Balkens (Z. 1: - R V M , seit dem 8. Jh. häufig; cf. Kat.-Nr. 47: St-Maurice, 8.-11. Jh. und G R A Y , The paleography, passim; hier wohl für M A R T I R V M , das in Suspension mit waagrechtem Abkürzungsbalken seit frühmittelalterlicher Zeit anzutreffen ist. Die Lesung eines Buchstaben X dürfte auszuschließen sein, weil die längere Haste von links oben nach rechts unten, oben mit der vorausgehenden Haste (R-Haste) zusammentreffen würde. Eingeschriebene Buchstaben: E in L und I in C (Z. 2, seit der Antike bezeugt). A mit waagrechtem Querbalken (Spitze lädiert). O spitzoval und über der Grundlinie liegend. R mit kleiner, geschlossener Rundung und vorne ansetzender, leicht nach außen gebogener, bis zur Grundlinie gezogener Cauda. V mit Dreiecksporn unten. - Verwandte Schriftdenkmäler: M E C I , Fig. X L V , 2 : Rom, ca. a. 826; Fig. X L V , 3 - 4 : Rom, 9. J h . ; MEC II, Fase. I, Fig. V , 3 : Mailand, nach 783; G R A Y , The paleography, Nr. 62: Verona, a. 837-38.

Unbestimmt; die Inschrift, die unvollendet zu sein scheint, hängt möglicherweise mit einer Reliquienniederlegung oder einer Altarweihe zusammen; cf. D I E H L , Nr. 1980-2112, bes. 1991A: Rom, 4. J h . ; Nr. 2087,2096: Nordafrika, o. D . ; Nr.2105, 2107: Spanien, a. 630 und 644.

F O R M U L A R UND I N H A L T :

1 2

M A R T I R V M ? : literarisch und epigraphisch seit frühmittelalterlicher Zeit in zahlreichen Verbindungen möglich; cf. D I E H L , 1. c.; MEC I , Fig. X V I , 1 : Rom, a. 8 9 1 - 9 6 . V A L E N C I O : Personenname im Nominativ oder - falls zu Beginn der 3. Zeile eine Silbe (-NIS, -NI, - N E , - N E M ) verlorengegangen ist - auch im Genitiv, Dativ, Ablativ od.

104

3

Akkusativ. Es ist unklar, ob VALENCIO zu MARTIRVM gezogen werden muß, oder in einem anderen Satzzusammenhang steht; cf. Namen. P R E S B I T E R ? : Wenn R den letzten Buchstaben des abgekürzten Wortes darstellt, so dürfte die Ergänzung auf P R E S B I T E R richtig sein. Sollte jedoch die Inschrift und mit ihr das abgekürzte Wort nicht vollendet worden sein, so bieten sich zur Ergänzung auch andere Wörter und Formen wie SANCTORVM, P R E S B I T E R I sim. an. Auch hier ist nicht klar, ob das Wort in direktem Zusammenhang mit der vorausgehenden Zeile (VALENCIO) steht.

NAMEN: Valencio (-onis) ist ein aus Valens gebildeter, seltener lateinischer Personenname. Ein Valencio figuriert als Märtyrer und Gefährte des Pasicrates im Martyrologium Romanum (ed. Rom 1930, 119: 25. Mai); cf. auch M G Script, rer. Lang. 539,15: Valentio, abbas, 6./ 7. J h . ; M G Epist. II, 16,27: Valentio, episcopus, a. 598 und Bündner Urkundenbuch I, Nr. 140 (ed. E. M E Y E R - M A R T H A L E R und F. P E R R E T , Chur 1948): Valencio, presbjter; D I E H L , Nr. 2845: Poitiers, o. D . ; Nr. 4104A und 4342: Rom, o. D. Es ist nicht auszuschließen, daß es sich hier um eine verderbte Form des öfter anzutreffenden Valentinus handelt (cf. z. B. ActaSS, Mai VI, 23: Formidinem ensis eximens Valentino, capite resecto [Text: refecto] Pasicrates expiravit, wo Valentinus für Valencio verwendet wird). Unter den zahlreichen Heiligen dieses Namens findet sich auch ein Priester und Märtyrer aus Rom (Mart. Rom.: 14. Febr.), der in der Diözese Sitten verehrt wurde (cf. HUOT, L'ordinaire de Sion, 798). Sonst ist aber im Zeitraum bis 1300 im Wallis weder ein Valencio noch ein Valentinus nachgewiesen. Obschon die einzelnen Buchstabenformen vom 8. Jh. bis in hochmittelalterliche Zeit anzutreffen sind, dürfte die Inschrift vom Gesamteindruck her eher dem 8. oder 9. Jh. zuzuweisen sein. DATIERUNG:

ERSTVERÖFFENTLICHUNG.

105

35

GRABSTEINFRAGMENT

Abtei, Vestibüle, an der Ostwand, rechts vom Ausgang eingemauert; Inv.Nr. 33. - Taf. 20, Fig. 46. ST-MAURICE,

Im Jahre 1896 im Martolet der Abtei St-Maurice entdeckt (cf. J. Michel unter Lit.); sonstige Fundumstände wie Kat.-Nr. 12. Serizitmarmor; rechteckiges (37 x 21 x ? cm), graues, aus 2 Bruchstücken zusammengesetztes Fragment mit stark lädiertem, wohl ursprünglichem Rand rechts, Hauptbruchstellen links und unten sowie mit ursprünglicher Begrenzung in Form von 3 breit und tief eingehauenen Randlinien oben. Inschrift parallel zu den Schmalseiten in 5 Zeilen, deren letzte von der unteren Bruchstelle erfaßt ist, tief und regelmäßig eingehauen; v o n P. Bourban mit roter Farbe nachgezeichnet; Bu. 4 cm.

[—SE]PVLCRO [—..]E VITA(M) [—.]A R E G N A [—.]SVMPNS [—..]HOSPES Z. 5 (HOSPES): Der Buchstabe S zwischen O und P ist - wohl zeitgleich mit der Inschrift - zwischen der 4. und 5. Zeile erhöht nachgetragen.

Breite, ausgewogene Kapitalis mit klassischer Dreiecksporenbildung an Hastenund Balkenenden. Waagrechter Abkürzungsbalken über V I T A (Z. 2: V I T AM, seit karolingischer Zeit oft anzutreffen). Ligatur: M E (Z. 4, seit der Antike belegt). Eingeschriebene Buchstaben: R in C (Z. 1, seit der Antike vorkommend). A mit waagrechtem Querbalken und oben stumpf mit Dreiecksporn als Abschluß. C langarmig. G in C-Form, mit senkrecht bis zur Buchstabenmitte gezogener Cauda. M sehr breit, mit senkrechten Hasten und bis zur Grundlinie, leicht in die rechte Buchstabenhälfte gezogenem Mittelteil. O kreisrund. R mit geschlossener Rundung und an der Rundung vorne ansetzender, leicht durchgebogener, bis zur Grundlinie gezogener Cauda. - Verwandte Schriftdenkmäler: DESCHAMPS, Etüde, Fig. 11,2: Saint-Martin de Tours, a. 840; MEC I, Fig. 11,6: Rom, nach 795; MEC II, Fase. I, Fig. V,5: Mailand, a. 817; K D M Vaud II, 55f., Fig. 32f.: Lausanne, a. 875 (?) SCHRIFT:

SPRACHE U N D FORM

: Möglicherweise

Hexameterschlüsse; cf. Formular und Inhalt.

Poetische Grabinschrift; seit frühmittelalterlicher Zeit häufig. SEPVLCRO: wahrscheinlich in dem auf VERGIL, Aeneis X,558 (membra sepulcro) zurückgehenden, im Frühmittelalter, in karolingischer und ottonischer Zeit in der Eingangsformel zu poetischen Grabinschriften sehr oft anzutreffenden Hexameterschluß membra sepulebro.

FORMULAR U N D INHALT:

1

5

106

2

...E VITAM: cf. DIEHL, Nr. 1236,2: Rom, o. D. : totam qui sancto ternit moderamine vitam und MG Poet. lat. IV, 1032, Nr. XII,3 : laudato laicam tenuit moderamine vitam (nach DIEHL, 1. c. Vorlage bei OVID, Metamorphosen II, 48, 67). Im übrigen bieten sich für das auf E auslautende Wort zahlreiche Ergänzungsmöglichkeiten; cf. z. B. DIEHL, Nr. 1093,3: Spanien, a. 550: qui meritis sanctam peragens in corpore vitam; Nr. 179,3: Marseille, o. D. : exuit...oneroso corpore vitam; Nr. 78a,3: Solin, o. D.; Nr. 92,2: Rom, um 400; Nr. 170,3: Salerno, o. D.; Nr. 985,1: Rom, 6. Jh.; Nr. 1052,10: Vercelli, o. D.; Nr. 2341,3: Solin, o. D.; Nr. 4827: Amberre, o. D.; MG Poet. lat. I, 85, Nr. LVI,25; V, 333, Nr. 105,3 und öfter. 3 ...A REGNA: kann zu CAELESTIA REGNA ergänzt werden; diese letztlich wohl auf OVID, Ex Ponto IV, 8, 59 zurückgehende Verbindung kam in poetischen Grabinschriften das ganze Mittelalter hindurch oft zur Anwendung; cf. auch MG Poet. lat. 1,109, Nr. IV, 11 : exemplo et verbis animos ad caelica regna. 4 SVMENS : cf. DIEHL, Nr. 1851,11 : Spoleto, o. D. : praemia laeta sibi concesso munere sume\ns\ 5 HOSPES: cf. MG Auct. ant. IV, 79, Nr. 1,15: si ab externisproperavit sedibus hospes-, dazu MG Poet. lat. I, 85, Nr. LVI,5 : ut tua sed lector properans bue noscat et hospes; II, 659, Nr. XIII, 1 : Quisquis ad hunc tumulum proper as concivis et hospes. DATIERUNG : Von der Schrift und vom Formular her betrachtet, ist eine Entstehung dieser Inschrift im 9. Jh. wahrscheinlich. LITERATUR: Jules MICHEL, Les fouilles sur l'emplacement des anciennes basiliques de StMaurice, in: Société helvétique de St-Maurice. Mélanges d'histoire et d'archéologie I. Frib o u r g 1897, Nr. X I I I , 2 4 (erster Hinweis). - BESSON, Antiquités ( 1 9 1 0 ) 81, Fig. X X X V , 1 (Erstveröffentlichung). - SAUTER, Préhistoire ( 1 9 5 0 ) 133, Nr. 5.

107

36

DIACONUS-ZIEGEL

ST-MAURICE,

Abtei, Turmdepot; Inv.-Nr.

9. J H . 53.

- Taf. 2 1 , Fig.

47-48.

Fundumstände wie Kat.-Nr. 13. Ziegelstein; rechteckige (23,5 x 30,5 x 6 cm), dunkelrote, aus 6 Fragmenten zusammengeklebte Platte von guter Qualität mit zahlreichen Absplitterungen an der Oberfläche und fast geraden Hauptbruchstellen oben und unten. Inschrift in der oberen Plattenhälfte, parallel zur Längsseite, über zwei vermutlich gleichzeitig entstandenen Schnörkelzeilen, einzeilig, schwach und flüchtig in den schon gebrannten Ton geritzt; Bu. 4-4,5 cm.

EGO DIA(CO)N(V)S SCHRIFT : Ziemlich breite Kapitalis mit Dreiecksporen an den meisten Hasten- und Balkenenden, die nicht vertieft ausgehoben, sondern nur linear umrissen sind. Keine Worttrennung. Gewellter Abkürzungsstrich (cf. Kat.-Nr. 21 : St-Maurice, um 600) über DIANS (DIACONVS, wie KRAUS I , Nr. 260: Lehmen a. d. Mosel, o. D . ; dazu DIEHL, Nr. 1222). Ligaturen: ANS, wobei der Schrägstrich von N entweder aus der rechten A-Haste oder aus dem Ansatzstrich des langen Minuskel-S gebildet ist (AN, seit der Antike belegt; NS, in Spanien seit dem 7. Jh. vereinzelt; cf. HÜBNER. IHC, Nr. 65,11: Sevilla, a. 641; Nr. 117,2: Arjona, a. 650; Nr. 142,5: León, a. 630). A mit kurzem, waagrechtem Deckstrich und gebrochenem, hoch liegendem Querstrich, der in einem Dreiecksporn endet. G rund, mit senkrecht aufsteigender, in einem Dreiecksporn endender Cauda. O kreisrund. S in langer Minuskelform, mit gespaltenem, die Grundlinie nicht berührendem Schaft. - Bei den von gleicher Hand in 2 Zeilen eingeritzten Schnörkeln handelt es sich um eine Zeile Zweiriemengeflecht mit zusätzlich 2 oben hinausragenden M- oder SS-förmigen Zeichen sowie eine Zeile Achtergeflecht. Während das Achtergeflecht seit dem Ende des 7. Jhs. (cf. STEFFENS, Lateinische Paläographie, Fig. 28), besonders aber im 9. Jh. einen Bestandteil des bienenkorbartigen Subskriptionszeichens auf Königs- und Kaiserurkunden bildet (cf. A. DE BOÜARD, Manuel de diplomatique française et pontificale. Paris 1929, 323), erscheint die Verbindung von Achter- und Zweiriemengeflecht auf zwei St. Galler Urkunden vom Jahre 857, bzw. 861 (Diplomata Karolinorum, ed. A. BRUCKNER, Basel [1974] Nr. 36 und 40) und die Verbindung von Achtergeflecht mit M- oder SS-förmigen Zeichen auf einer Churer Urkunde von 831 (ibid. Nr. 11).

Unklar; scheidet man die Möglichkeit aus, daß es sich um eine bloße Spielerei oder Schriftübung handelt, so ist am ehesten - ähnlich Kat.-Nr. 21 : St-Maurice, um 600 und Nr. 33*: ibid., 8.-9. Jh. - an eine Grabnotiz zu denken. Die Formel Ego mit darauf folgender Standesbezeichnung und Namen ist im Frühmittelalter seltener überliefert FORMULAR UND INHALT:

108

(cf. D I E H L , Nr. 464A : Concressault, o. D . ) als die Reihenfolge Ego und Name (cf. D I E H L , Bd. 3, 520) und meistens im Zusammenhang mit der Erwerbung eines Grabes oder eines Grabrechtes angewandt. Der Rest der Inschrift mit dem Personennamen und einer Wendung wie feci, comparavi, emi sim. dürfte mit dem unteren Teil des Ziegels verlorengegangen sein. Das Subskriptionszeichen könnte darauf hinweisen, daß hier ein Diakon, der vielleicht als Notar in königlichen Diensten stand (cf. POUPARDIN, Le royaume de Bourgogne, 327-330, wonach in St-Maurice unter den Burgunderkönigen eine Kanzlei eingerichtet worden war) und mit den Kanzleigebräuchen vertraut war, ein Grabrecht erworben und dieses auf dem Ziegelstein auf eigene Weise bekundet hat. - Daß es sich bei der Inschrift um das Fragment einer ganzen, auf Ziegel geschriebenen Urkunde handelt, ist unwahrscheinlich. DATIERUNG:

Schrift und insbesondere die Subskriptionsschnörkel weisen die Inschrift ins

9. Jh. L I T E R A T U R : BLONDEL, La chapelle Notre-Dame Sous-le-Bourg (1953) 13, Anm. 8 (erster Hinweis). - THEURILLAT, L'abbaye (1954) 93, Nr. 5b (Erstveröffentlichung). - SAUTER, Préhistoire (1955) 23, Nr. 6.

109

37

STUCKFRAGMENTE

8.-10. JH.

SITTEN, Kant, archäologischer Dienst, Fundnummer 282-283. - Taf. 22, Fig. 49-50. Im Jahre 1962 anläßlich der von F. O. Dubuis durchgeführten Grabungen in der Kirche St. Theodul von Sitten zwischen der karolingischen Apsis und der Nordwand der im 16. Jh. entstandenen Kirche unter dem damals (16. Jh.) aufgeschütteten Material entdeckt; cf. DUBUIS, Archéologie, tradition et légendes, 319, PI. 2 (Fundstelle ca. 1 m von Punkt C entfernt). Stuck, grobkörnig; 4 zusammengehörende, unförmige (I: 14 x 8,5 x 4,8 cm; I I : 10,7 x 6,2 x 4 cm; I I I : 8 x 9,5 x 4,4 cm; I V : 6 x 10 x 4,5 cm), stark lädierte weiße Fragmente mit Bruchstellen allseitig; Rest der ursprünglichen, rechten Randbegrenzung vielleicht auf Fragment I V in Form einer senkrecht aufsteigenden Linie. Während Fragment II sicher über III, und I V wahrscheinlich rechts neben III zu stehen kommt, läßt sich Fragment I vorläufig nicht einordnen. Inschrift zwischen vorgerissener Lineatur (Z.-Abstand ca. 2 cm), auf Fragment I in 2 Zeilen, deren erste von der Bruchstelle erfaßt ist, auf den Fragmenten I I - I V in 3 Zeilen, mitteltief und ziemlich regelmäßig eingehauen; Bu. 2,5 cm.

I)

— ]ON4J± M[—] [—]T4RÍ^yL[—

II) III/IV)

—..]ACO[—] [—]ILIVS[—] [—ANN]OS X/LVIII [ -

SCHRIFT : Vollschlanke, regelmäßige Kapitalis mit schwachen Verdickungen an Hasten- und Balkenenden. Worttrennung nicht feststellbar. Ligaturen (unsicher): A E (I, 1), wobei E dem Buchstaben A angepaßt scheint, seit der Antike belegt; AN oder AV, bzw. ANR oder AVR (I, 2 ; während die Verbindungen AN, AV und NR seit der Antike vorkommen, sind die dreifachen Ligaturen ANR und AVR in dieser Form nicht nachweisbar) und N V (I, 2, seit der Antike anzutreffen; der eingerückte Schrägbalken von N stammt möglicherweise von einer Verletzung des Stucks, so daß IV zu lesen wäre). A mit waagrechtem Querbalken und oben stumpf zulaufend; einmal (I, 2) mit senkrechter Linkshaste, was auf eine Ligatur mit N hindeutet (cf. oben). C mit waagrecht auslaufenden Rundungen. M (I, 1, unsicher) mit senkrechten Hasten und sehr kurzem Mittelteil. N einmal (I, 1) in Normalform, einmal (I, 2, unsicher; cf. NV-Ligatur) mit eingerücktem Schrägbalken. O eiförmig. R mit offener Rundung und gerader, bis zur Grundlinie gezogener Cauda. S einmal (III) mit gebrochenen Rundungen. V einmal (II, 2) in einen Dreiecksporn, einmal (IV) stumpf zulaufend. - Verwandte Schriftdenkmäler: MEC II, Fase. III, Fig. 111,4: Pavia, a. 740-50 (?); GRAY, The paleography, Nr. 126: Cimitile bei Nola, Anfang 9. J h . ; Nr. 35: Osimo, a. 773 (?); Nr. 94: Anagni, um 826. 110

FORMULAR UND INHALT: Unklar; für eine Grabinschrift sprechen die Fragmente I , 1 und III/IV (cf. unten). Grabinschriften auf Stuck sind allerdings ungewöhnlich; zu erwarten wäre etwa eine Weihe- oder Bauinschrift. I, 1 ...ONAE M...: könnte zu der auf frühmittelalterlichen Grabinschriften häufigen, vereinzelt bis ins 9. Jh. anzutreffenden Eingangsformel BONAE MEMORIAE (cf. Kat.Nr. 30: St-Maurice, 8. Jh.) ergänzt werden. - 2 ...TARNVL...: unklar; vielleicht Teil eines Personennamens wie ARIVL(FVS), RIVL(FVS) oder ARNVL(FVS) (cf. Namen), dem eine Verb- bzw. Partizipendung ...T ('requiescit? iacet? sim.) oder ...TA vorausgehen würde. II,1 ...ACO...: wahrscheinlich auf DIACONVS zu ergänzen; seit frühchristlicher Zeit belegt; cf. Kat.-Nr. 11: St-Maurice, 6. Jh. - 2 ...ILIVS: vielleicht FILIVS; eine unkorrekte Schreibweise von ILLIVS dürfte auszuschließen sein. III/IV ...OS XLVIII: wahrscheinlich ANNOS XLVIII, was einer seit der Antike in Grabinschriften geläufigen Angabe des Lebensalters entsprechen würde; cf. Kat.-Nr. 14: StMaurice, 6. Jh.; Nr. 26: St-Maurice, 7.-Anfang 8. Jh.

1,2: Ariulfus (cf. FÖRSTEMANN, PN, 784), Arnulfus ( M O R L E T , Les noms de personne I, 41a) und Riulfus (ibid. 189b; FÖRSTEMANN, PN, 1271) sind germanische Personennamen, die - mit Ausnahme von Arnulfus, der sich länger gehalten hat - besonders im 8.9. Jh. nachweisbar sind. Im Wallis sind vom 13. Jh. an verschiedene Träger dieses Namens bezeugt (cf. GREMAUD, DOC. I, Nr. 255, 297, 322, 535, S. 459), die jedoch kaum in Betracht fallen dürften. NAMEN:

Von der Schrift und in geringerem Maße vom Inhalt her, dürfte die Inschrift dem 8.-10. Jh. zuzuweisen sein. DATIERUNG:

ERSTVERÖFFENTLICHUNG.

111

38

GRABSTEINFRAGMENT

9.-10. JH.

ST-MAURICE, Abtei, Vestibule, an der Ostwand, rechts vom Ausgang eingemauert; Inv.Nr. 38. - Taf. 23, Fig. 51.

Fundumstände wie Kat.-Nr. 35. Serizitmarmor; fünfeckiges (15 x 19 x ? cm), graues Fragment mit zahlreichen Absplitterungen an der polierten Oberfläche; Hauptbruchstellen rechts, links und unten; oben wahrscheinlich ursprünglicher Rand. Inschrift parallel zu den Längsseiten in 2 Zeilen, deren untere von der Bruchstelle erfaßt ist, regelmäßig und mitteltief eingehauen; von P. Bourban mit roter Farbe nachgezeichnet; Bu. 5,5 cm. [---]P FLEBILE Ç[—] [—.È]VOÇ[— SCHRIFT : Vollschlanke Kapitalis mit mäßiger Dreiecksporenbildung an Hasten- und Balkenenden. Keine Worttrennung. Eingeschriebene Buchstaben: E in L (Z. 1, seit der Antike belegt) und I in B, wobei die I-Haste beide Rundungen besetzt (Z. 1, in dieser Form nicht nachzuweisen; I in der unteren B-Rundung seit dem 7. Jh. vereinzelt; cf. Kat.-Nr. 30: StMaurice, 8. Jh. und GRAY, The paleography, Nr. 78: Rom, a. 827-844). B mit größerer unterer Rundung ; es ist unklar, ob die Rundungen gegen die Hastenmitte schließen. F mit leicht aufsteigendem oberem Querbalken. O oder Q kreisrund. P mit spitz auslaufender offener Rundung. - Verwandte Schriftdenkmäler : cf. MEC II, Fase. I, Fig. XI, 6 : Mailand, Ende 9. Jh.; GRAY, The paleography, Nr. 155: Mailand, a. 9 0 0 ; Nr. 1 5 7 : Mailand, a. 9 2 1 - 9 3 1 .

Wahrscheinlich poetische Grabinschrift; cf. Kat.-Nr. 35: St-Maurice, 9. Jh. 1 ...P FLEBILE C... : während der Buchstabe P, der kaum Wortauslaut sein kann, am ehesten Teil einer Kürzung ist (PER?), bietet sich für das folgende Wortpaar die auf OVID, Epist. 15,7 und Trist. 5,1,5 zurückgehende Verbindung FLEBILE CARMEN an, die in poetischen Grabinschriften des Mittelalters wiederholt zur Anwendung kam ; cf. DIEHL, Nr. 727,21 : Rom, o. D.; MG Poet. lat. I, 112, Nr. VIII,28; I, 490, Nr. XXVI,21.

FORMULAR UND INHALT:

DATIERUNG: Schrift und Wortschatz machen eine Entstehung dieser Inschrift im 9. oder 10. Jh. wahrscheinlich. LITERATUR: Jules MICHEL, Les fouilles sur l'emplacement des anciennes basiliques de StMaurice, in: Société helvétique de St-Maurice. Mélanges d'histoire et d'archéologie I, Fribourg 1897, Nr. XIII, 2 4 (erster Hinweis). - BESSON, Antiquités (1910), 80 Fig. X X X I V , 2 (Erstveröffentlichung). - SAUTER, Préhistoire (1950) 133, Nr. 8. 112

39

STEINFRAGMENT

9.-10. JH.

Abtei, Vestibule, an der Ostwand, rechts vom Ausgang eingemauert; Inv.Nr. 31. - Taf. 23, Fig. 52. ST-MAURICE,

Fundumstände wie Kat.-Nr. 12; wahrscheinlich handelt es sich um das Stück, von dem P. Bourban (cf. Lit.) 1899 sagte: Un fragment d'une inscription chrétienne du IVe ou Ve siècle, recueilli par les cuisiniers de l'abbaye; on y lit, en très beaux caractères, le mot SACERDOTIS. Marmor, unbestimmt; unförmiges (12,5 x 23,5 x ? cm), dunkelgraues Fragment mit Bruchstellen allseitig ; zahlreiche Absplitterungen an der ursprünglich polierten Oberfläche. Inschrift in 2 Zeilen, deren untere größtenteils von der Bruchstelle erfaßt ist, ziemlich regelmäßig und tief eingehauen; von P. Bourban mit roter Farbe nachgezeichnet; Bu. 5 cm. —SAC]ERDOTIS[—] [—..E](M)BRIS [— SCHRIFT: Breite, jedoch ziemlich gedrängte Kapitalis mit klassischen Dreiecksporen an Hasten- und Balkenenden. Waagrechter Abkürzungsbalken über verlorengegangenem ...EJBRIS (Z. 2, für MEMBRIS, SEPTEMBRIS, NOVEMBRIS oder DECEMBRIS, seit karolingischer Zeit möglich. Eingeschriebene Buchstaben: O in D (Z. 1, seit der Antike belegt). D sehr breit. E eckig, mit mittellangen Querbalken. O (eingeschrieben) kreisrund. R mit ziemlich großer, geschlossener Rundung und an der Rundung vorne ansetzender, durchgebogener, bis zur Grundlinie gezogener Cauda. - Verwandte Schriftdenkmäler : Kat.-Nr. 35 : St-Maurice, 9. Jh.; Nr. 38: St-Maurice, 9.-10. Jh.; Nr. 40: St-Maurice, 9.-10. Jh. (?); Nr. 41 : St-Maurice, 10./11. Jh. (weitere Beispiele ibid.); GRAY, The paleography, Nr. 142: Rom, wahrscheinlich a. 928-929.

Möglicherweise Grabinschrift. SACERDOTIS: epigraphisch seit frühchristlicher Zeit anzutreffen; cf. DIEHL, Bd. 3, 399 f. Sacerdos wird oft als Synonym für Episcopus verwendet. 2 ...EMBRIS: kann zu MEMBRIS, SEPTEMBRIS, NOVEMBRIS oder DECEMBRIS ergänzt werden. FORMULAR UND INHALT: 1

DATIERUNG:

Von der Schrift her dürfte das Fragment dem 9 . - 1 0 . Jh. zuzuweisen sein.

Pierre BOURBAN, Wallis (Kleinere Nachrichten aus den Kantonen). AS A 1 (erster Hinweis). - BESSON, Antiquités ( 1 9 1 0 ) 7 5 , 8 1 , Fig. 2 9 (Erstveröffentlichung). - SAUTER, Préhistoire ( 1 9 5 0 ) 1 3 3 , Nr. 1 0 . LITERATUR:

(1899) 161

8

113

40

STEINFRAGMENT

9.-10. JH.(?)

ST-MAURICE, Abtei, am ersten, mit der Südwestecke des Turmes verbundenen Pfeiler, im Gang, der heute auf der Höhe des Martolet liegt, ca. 2,5 m über dem Fußboden eingemauert; Inv.-Nr. 52. - Taf. 23, Fig. 53. Wohl in der ersten Hälfte des 11. Jhs. beim Bau des Kirchturms und der neuen Basilika (cf. BLONDEL, Les anciennes basiliques, 37, Fig. 8) als Bauelement verwendet. Kein Standortwechsel bekannt. Marmor, unbestimmt; annähernd rechteckiger (45 x 29 x ? cm), grauer Stein mit ursprünglichem (?) Rand rechts und Hauptbruchstellen oben, links und unten. Die rauhe Oberfläche ist teilweise durch Abblätterungen lädiert. Inschrift in der unteren Steinhälfte, parallel zu den Schmalseiten, einzeilig, tief und regelmäßig eingehauen; Bu. 6-6,5 cm. Der Stein wurde so eingemauert, daß die Inschrift heute von oben nach unten verläuft.

[—JI-AVDA

SCHRIFT: Breite, regelmäßige Kapitalis mit klassischen Dreiecksporen an Hasten und Balkenenden. Worttrennung in Form eines dreieckigen Punktes zwischen I und A V D A . A mit waagrechtem Querbalken und Dreiecksporn oben. D sehr breit. - Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 39: St-Maurice, 9.-10. Jh. (weitere Beispiele ibid.); cf. COLLART, Inscriptions latines, 6 - 1 0 , Nr. 4 Fig. 3 , 5 : St-Maurice, um 200; 69 f., Nr. 21, Fig. 2 3 , 2 1 : St-Maurice, 3. Jh. FORMULAR UND INHALT: Unbestimmt; A V D A dürfte den Anfang einer auf audax zurückgehenden Wortbildung wie audacia, audacter, audaciter sim. darstellen; cf. Namen. NAMEN: Sollte es sich bei A V D A um einen Personennamen oder um einen Teil desselben handeln, so kommen wohl eher die germanischen, aus Aud- oder Audal- (cf. MORLET, Les noms de personne I, 4 3 - 4 6 ; GREMAUD, Doc. I, Nr. 150: Auda uxor Ebrardi, a. 1168) gebildeten Formen in Frage; ein römisch-lateinischer Personenname wie Audax (PERIN, Onomasticon I, 210), Auda, Audacilius, Audaeus, Audas, Audasius sim. (cf. DE-VIT, Onomasticon I, 573), die im Hochmittelalter kaum anzutreffen sind, dürfte nur in Frage kommen, wenn das Stück aus der Antike stammen sollte. DATIERUNG : Da die Schrift keine eindeutig karolingischen Formen bietet und mit Ausnahme des terminus ante (11. Jh.) kaum etwas aus den Begleitumständen oder dem Inhalt zu gewinnen ist, muß eine mögliche Anfertigung der Inschrift im 9.-10. Jh. in Frage gestellt werden. ERSTVERÖFFENTLICHUNG.

114

41 EPITAPH DES BISCHOFS VULTCHERIUS

10./11. JH.

Abteikirche, in der südöstlichsten Seitenkapelle (Chapelle des Saints-Abbês) an der Nordwand aufgestellt; Inv.-Nr. 42 (Kopie im Schweiz. Landesmuseum, Zürich). Tai. 24, Fig. 54. ST-MAURICE,

Wohl im Jahre 1576 erstmals von Petrus Branschen erwähnt (cf. S A N T S C H I , Le catalogue, 97, Nr. 7). Wahrscheinlich anläßlich von Felsstürzen in den Jahren 1582 und 1611 überschüttet (cf. G R E M A U D , Doc. I, Nr. 27). Am 3. 12. 1896 von P. Bourban im Verlaufe von Grabungen im Räume der ältesten, gegen den Fels gelehnten Basilika, 1,70 m unter dem Niveau des Martolet, in zerbrochenem Zustand, teils auf einem Sarkophag und teils auf einem Ziegelgrab aufruhend, wiederentdeckt (cf. B O U R B A N und M I C H E L unter Lit. ; B L O N D E L , Plan et inventaire, 31, Nr. 13). Bis 1942 befand sich die Platte im Turmmuseum der Abtei; seit 1948 in ergänztem und restauriertem Zustand am heutigen Standort. Jurakalkstein; rechteckige (137 x 159 x 12 cm), in der Mitte gebrochene und rechts stark lädierte, fragmentarische, gelblich-braune Platte mit schwach hervortretender, ca. 6 cm breiter Randleiste und rechteckiger (8 x 15,5 x 10 cm), vor der Inschrift angebrachter Vertiefung in der Mitte, was - zusammen mit dem hinten gestuften oder abgeschrägten Rand - auf eine Erstverwendung als Altartisch schließen läßt (cf. M I C H E L unter Lit., mit Querschnitt durch die Platte; B . B I S C H O F F , in: Suevia Sacra, Nr. 35, Fig. 21: Augsburg, nach 887). In zwei kleineren, quadratischen Vertiefungen über der 1. Zeile, die später mit Stein ausgefüllt worden sind, dürften frühere Steinzangenlöcher zu sehen sein. Die an der Oberfläche polierte, durch Absplitterungen jedoch stark lädierte Platte ist im Jahre 1948 mit Zement ausgebessert worden. Inschrift in der oberen Plattenhälfte, in Längsrichtung, fünfzeilig, mitteltief und ziemlich regelmäßig eingehauen; von P. Bourban mit roter Farbe nachgezeichnet; Bu. 4,5-5 cm. Anläßlich der Restauration und Aufstellung der Platte im Jahre 1948 wurden die fehlenden Teile der Inschrift « » teilweise falsch ergänzt.

+ D(OMI)NE M I S E R E R E ANIMAjï FAMVLI TV W L T C H E R I I S E D V N E < N ) S I S EP Q V I OBIIT-VII K(A)L(ENDAS) IV(II) • EQVI ETERNA(M) D O N A EI D(OMI)E E T L V X L V C E A T E I AMN Herr, erbarme dich der Seele deines Dieners Vultcherius, Bischofs von Sitten, der am 7. Tag vor den Kaienden des Juni (26. Mai) gestorben ist. Herr, gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm. Amen. Z. 2: EP bei der Restauration von 1948 wohl falsch ergänzt. Die Spur einer Haste nach EP gehört wahrscheinlich zu einem I. Richtiger wäre EP(ISCOP). - Z. 4: als Wort wohl richtig ergänzt; in der Form PPA fragwürdig; besser wäre .

115

SCHRIFT : Vollschlanke, ziemlich ausgewogene Kapitalis mit mäßiger Dreiecksporenbildung an Hasten- und Balkenenden. Worttrennung in Form von dreieckigen Punkten nur zwischen Todesdatum und Text (Z. 3); sonst mit dem Wortschluß zusammenfallende Zeilentrennung. Abkürzungszeichen in Form eines waagrechten Balkens über DNE (Z. 1: DOMINE, frühchristlich), IVN (Z. 3: IVNII) und ETERNA (Z. 4: ETERNAM), beide seit karolingischer Zeit überliefert. Abkürzungszeichen als waagrechter, durch den Buchstaben L gezogener Balken bei KL (Z. 3: KALENDAS, in dieser Form selten; cf. K R A U S II, Nr. 284: Eich, a. 1035). Die bei EPI (Z. 2: EPISCOPI, seit frühchristlicher Zeit belegt) und PPETVA (Z. 4: PERPETVA; Per-Kürzung epigraphisch erst seit karolingischer Zeit verbreitet) anzunehmenden Kürzungszeichen fehlen infolge Lädierung des Steines. Ligatur: AE (Z. 1, antik). Symbolinvokation in Form eines lateinischen Kreuzes zu Beginn der Inschrift. A mit waagrechtem Querbalken und Dreiecksporn oben. B mit größerer unterer Rundung. C langarmig. K mit kurzem, schräg abfallendem Querbalken in Hastenmitte, von dem die nicht ganz bis zur Zeilenbegrenzung gezogenen Schrägbalken ausgehen. M einmal (Z. 1: MISERERE) mit senkrechten Hasten und stumpf zulaufendem, bis in die untere Buchstabenhälfte gezogenem Mitteilteil; sonst mit schräg gestellten Hasten und spitz zulaufendem Mittelteil. O oval bis kreisrund. P mit unten geöffneter Rundung. Q kreisrund bis oval, mit angehängter, unter der Grundlinie leicht nach rechts gebogener, spitz auslaufender Cauda. R mit großer, geschlossener Rundung und vor der Haste ansetzender, durchgebogener und bis zur Grundlinie gezogener Cauda. - Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 42: St-Maurice, 10./11. Jh. (vielleicht gleiche Hand); Nr.43f.: St-Maurice, 10./11. Jh.; K R A U S II, Nr. 272, Fig. XXIX,2: Eltville, 10./11. Jh., Renaissance (?); G R A Y , The paleography, Nr. 86: Rom, a. 893; MEC I, Fig. XVII,2: Rom, 10. Jh.; Fig. XVIII,5: Rom, a. 1012; Fig. XX,4: Rom, a. 1075.

Prosaisches Epitaph mit Gebetsformeln; vereinzelt seit frühchristlicher Zeit anzutreffen; cf. D I E H L , Nr. 2 3 5 8 - 2 3 8 7 und bes. R. BAUERREISS, Über ein frühmittelalterliches, dem hl. Gregor d. Gr. zugeschriebenes Gebet. Studien und Mitteilungen zur Gesch. d. Benediktiner-Ordens und seiner Zweige 5 6 ( 1 9 3 8 ) 2 0 2 - 2 0 4 : Regensburg, St. Emmeram, kurz nach 1000 (?). 1 DOMINE MISERERE ANIMAE FAMVLI TVI: Eingangsformel; cf. Kat.-Nr. 42, die vielleicht den unvollendeten Versuch darstellt, die vorliegende Inschrift auszuführen (dazu auch Kat.-Nr. 13: St-Maurice, 6. Jh.), und Nr. 43f.: St-Maurice, 10./11. Jh. Die Verbindung der drei Ausdrücke domine miserere, animae und famuli (-ae) tui (-ae), die teilweise alttestamentlichen Ursprungs sind (cf. Ps. 6,3 und öfter; 2. Par. 6,21) und gesondert oder in völlig abweichenden Konstruktionen schon früh in die Liturgie aufgenommen wurden (cf. P. BRUYLANTS, Les oraisons du missel romain, in: Etudes liturgiques 1 , Bd. 2. Louvain 1952, Nr. 51 f., 683,905 f., 909, 931), erscheint zum ersten Mal im 9. oder 10. Jh. in einem Gebet, das in der Messe für eine verstorbene Frau verrichtet wird: Quaesumus, domine, pro tua pietate miserere animae famulae tuae N, et a contagiis mortalitatis exutam in aeternae salvationis partem restitue (cf. BRUYLANTS, 1. c. Nr. 929; im Prager Sakramentar des 8. Jhs. fehlt das Wort animae\ cf. A. D O L D / L . EIZENHOEFER, in: Texte und Arbeiten 1. Abt. Heft 38-42. Beuron 1949, Nr. 299,1). Als Vorlage für die vorliegende Formel dürfte jedoch die Oratio pro defuncto episcopo anzusprechen sein, die mit Miserere, quaesumus domine, animae famuli tui N. episcopi beginnt und zuerst im römisch-germaniFORMULAR UND INHALT:

116

sehen Pontifikale aus der Zeit um 950 überliefert ist (C. V O G E L / R . ELZE, Le pontifical romano-germanique du X e siècle, Bd. 1, in: Studi e testi 226. Vatikan 1963, Nr. 153,1; dazu BRUYLANTS, 1. c. Bd. 1, 201). Cf. auch JÖRG unter Lit. 3 QVIOBIIT VIIKALENDAS IVNII : Sterbedatum in Form der römischen Monatsdatierung; im ganzen Mittelalter wiederholt anzutreffen. 3 - REQVIEM ETERNAM...LVCEAT EI AMEN: Schlußformel, die auf das 4. Buch 5 Esdras 2, 34 f. zurückgeht und schon früh in die Totenliturgie aufgenommen wurde (cf. LThK 2 VIII, 1246 f. ; DACL XIV, 2381 f.). Der erste Teil davon erscheint mit kleinen Varianten auf mehreren nordafrikanischen Grabinschriften des 5.-6. Jhs. (cf. DACL, 1. c. ; dazu D I E H L Bd. 3, 318; PANOFSKY, Grabplastik, 49 f.). Ohne Amen findet sich die gleiche liturgische Formel in den Epitaphien eines Diakons [Gisoenus] in Lausanne (cf. KDM Vaud II, 55 f., Fig. 32 f. : 2. Hälfte 9. Jh.) und des Abtes Ramwold in Regensburg (cf. R. BAUERREISS, 1. c. : kurz nach 1000 [?]). : Z. 2 : VVLTCHERIVS, germanischer Personenname, der wohl aus Vulthu- (cf. PN, 1663 f.) und -gairu (ibid. 571 f.), richtiger -gai^a ( K A U F M A N N , Erg.-Bd. 132 f.) gebildet ist. Davon sind Formen wie Ultegerius und Vultkerus nachgewiesen (cf. M O R L E T , Les noms de personne I, 231b: 7.bzw. 9.-10. Jh.). Ähnlich lautende, aber von Wit-jWid- stammende Namen sind Widger, Witcher (cf. FÖRSTEMANN, PN, 1567 f.) oder Witgerius (cf. MORLET, Les noms de personne I, 221a: 9. Jh.). Unhaltbar ist jedenfalls die Zurückführung von Vultcherius auf Vilja- (so in der Vermischung von Wilchar und Vultcherius bei THEURILLAT, L'abbaye, 114). In den Jahren 740-785 sind aus verschiedenen literarischen Quellen unter ähnlichen Namensformen (cf. THEURILLAT, 1. c., 114), die größtenteils auf Vilja- und - h a r j a , jedoch nie auf Vulthu- zurückgeführt werden können, ein Bischof von Vienne, ein Mönch von St-Maurice, ein Mitglied der Kurie in Rom, ein päpstlicher Legat für die Beziehungen zu Pippin und Karl dem Großen, Bischöfe von Mentana, Sitten und Sens, ein Abt von StMaurice und schließlich ein Erzbischof der Provinz Gallien überliefert. Die Geschichtsforschung hat diese Funktionen so verteilt, daß sie in einer Person den ehemaligen Bischof von Vienne, Mönch und Abt von St-Maurice sowie Bischof von Sitten und in einer zweiten Person den römischen Kurialen, Bischof von Mentana und sukzessive päpstlichen Legaten, Bischof von Sens und Erzbischof von Gallien gesehen hat. Theurillat (L'abbaye, 113-119) hat nachzuweisen versucht, daß es sich um ein und dieselbe Person handelt, die diese Ämter bekleidet hat, und für die auch die vorliegende Inschrift bestimmt gewesen wäre. Gegen diese, wahrscheinlich schon von Petrus Branschen im Jahre 1576 vorgetragene Verbindung der Inschrift mit dem literarisch bekannten Wilchar aus dem 8. Jh. sprechen die vorliegende Namensform Vultcherius, die einfache Standesbezeichnung Sedunensis episcopus sowie das Formular mit der erst im späten 10. Jh. verbreiteten Wendung Domine miserere animae famuli tui. Ein Sittener Bischof Vultcherius ist sonst nicht bekannt. Bei der sehr schlechten Überlieferung der Bischofslisten von Sitten, die in ihrer Entstehungszeit nicht über das 16. Jh. zurückreichen und bis ins 11. Jh. beträchtliche Lücken aufweisen (cf. GREMAUD, Catalogue, 465; SANTSCHI, Le catalogue, 88 f.; DIES., Stumpf, 157-161), liegt allerdings ein in Vergessenheit geratener Bischof von Sitten durchaus im Bereich des Möglichen (cf. JÖRG unter Lit.). NAMEN

FÖRSTEMANN,

117

DATIERUNG: Theurillat, der die Inschrift mit dem bekannten Wilchar verbindet, datiert sie als zeitgenössisches Dokument ins Ende des 8. Jhs. (L'abbaye, 92, bes. Anm. 21). Dagegen vermutet Jules Michel, es handle sich um eine im 11. Jh. angefertigte Gedenkschrift (cf. unter Lit.; dazu Compte rendu du 4 e congrès scient, internat, des catholiques. 10e sect. Fribourg 1898, 8). Während in paläographischer Hinsicht eine Datierung ins 8. Jh. ziemlich fragwürdig erscheint, jedoch ins 9. bis frühe 11. Jh. möglich ist, spricht das Formular für eine Entstehung im späten 10. oder frühen 11. Jh. LITERATUR: Pierre BOURBAN, Inscription chrétienne. ASA 30/1 (1897) 35 f. (Erstveröffentlichung). - DERS., L'archevêque saint Vultchaire et son inscription funéraire. Fribourg 1900, auch in : Société helvétique de St-Maurice. Mélanges d'histoire et d'archéologie II. Fribourg 1901, 247-287, bes. 281-284, Fig. VII. - Jules MICHEL, Un autel mérovingien à Saint-Maurice. La dalle de Vulcharius, évêque de Sion, abbé de Saint-Maurice d'Agaune. Revue de la Suisse catholique 31 (1900) 309-323. - DACL I (1903) 866, Fig. 191 (Nachzeichnung). BESSON, Antiquités (1910) 76, 90, F i g . X X X I . - DESCHAMPS, Etude (1929) 13, A n m . 1. SAUTER, Préhistoire (1950) 132, Nr. 1. - THEURILLAT, L'abbaye (1954) 92 f., 1 1 3 - 1 1 9 . -

Christoph JÖRG, Vultcherius Sedunensis episcopus ein vergessener Bischof von Sitten? Z S K G 71 (1977) 2 0 - 2 9 .

118

42

EPITAPHFRAGMENT

10./11. JH.

Abtei, Turmkapelle St. Michael, an der Ostwand, nahe der Nordost-Ecke unten befestigt; Inv.-Nr. 45. - Taf. 25, Fig. 55. ST-MAURICE,

Wohl in der ersten Hälfte des 11. Jhs. beim Bau des Kirchturms der Abtei St-Maurice (dazu: B L O N D E L , Les anciennes basiliques, 35-37) als Bauelement verwendet. Kurz vor 1900 von P. Bourban über der Turmtreppe entdeckt, die von der Michaelskapelle in das obere Turmstockwerk führt (cf. B O U R B A N unter Lit.). Beim partiellen Einsturz des Kirchturms von 1942 löste sich die Platte, wobei ein Bruchstück [E ANI] verlorenging. Seit 1948 am heutigen Standort. Serizitmarmor; annähernd rechteckiges (56 x 57 x 8 cm), aus 2 Bruchstücken (ein 3. mit [E ANI] ging verloren) zusammengesetztes, dunkelgraues Fragment mit Hauptbruchstellen rechts und unten sowie mit hellem Rand links und oben, der von der früheren Einmauerung über der Turmtreppe herrührt; zahlreiche Absplitterungen an der ursprünglich polierten Oberfläche. Inschrift in der oberen Plattenhälfte, einzeilig, mitteltief und ziemlich regelmäßig eingehauen, unvollendet; Bu. 4,5 cm.

+ D(OMI)NE M I S E R E R [ E ANI] Herr, erbarme dich [der Seele]. [ E A N I ] ergänzt nach J . Michel u n d P. Collart (cf. Lit.).

SCHRIFT:

Wie Kat.-Nr. 41 : St-Maurice, 10./11. Jh. (vielleicht gleiche Hand).

Wie Kat.-Nr. 4 1 . Die Inschrift ist unvollendet (cf. Kat.-Nr. 1 3 : St-Maurice, 6. Jh.) und bildet wahrscheinlich den mißlungenen Versuch, das Epitaph des Vultcherius (Kat.-Nr. 41) auszuführen. F O R M U L A R UND I N H A L T :

DATIERUNG:

Wie Kat.-Nr.

41:

St-Maurice, 10./11. Jh.

L I T E R A T U R : Jules M I C H E L , Documents concernant la construction de l'église et des bâtiments de l'abbaye de Saint-Maurice, in : Société helvétique de St-Maurice. Mélanges d'histoire et d'archéologie II. Fribourg 1 9 0 1 , 2 0 8 , 2 4 2 (Erstveröffentlichung). - Pierre B O U R B A N , L'archevêque saint Vultchaire (zit. unter Kat.-Nr. 4 1 ) , 2 8 1 f. - C O L L A R T , Inscriptions latines ( 1 9 4 1 ) 7 2 , Anm. 2 0 3 (liest : N E M I S E R E R E A N I ) . - T H E U R I L L A T , L'abbaye ( 1 9 5 4 ) 9 2 , Nr. 4c. S A U T E R , Préhistoire ( 1 9 5 5 ) 2 3 , Nr. 4 .

119

43

EPITAPHFRAGMENT

10./11. JH.

ST-MAURICE, Abtei, Turmkapelle St. Michael, an der Ostwand, nahe der Nordost-Ecke oben befestigt; Inv.-Nr. 44. - Taf. 25, Fig. 56.

Fundumstände wie Kat.-Nr. 42, jedoch bis zum partiellen Einsturz des Kirchturms unsichtbar vermauert. Kalkschiefer (La Bâtiaz) ; unförmiges (70 x 83 x 7 cm), aus 4 Bruchstücken zusammengesetztes, graues Fragment mit Hauptbruchstelle unten sowie zahlreichen Abblätterungen an der Oberfläche. Inschrift in Richtung der Längsseiten, in 3 Zeilen, deren 2. teilweise und deren 3. fast vollständig von der Bruchstelle erfaßt ist, mitteltief und regelmäßig eingehauen; Bu. 9 cm. + D(OMI)NE MISERERE ANI[MAE FAMVL]I TVI

[?]E[-

Herr, erbarme dich der Seele deines Dieners E... Ziemlich schlanke, ausgewogene Kapitalis mit starker Dreiecksporenbildung an Hasten- und Balkenenden. Keine Worttrennung erkenntlich, jedoch mit dem Wortschluß zusammenfallende Zeilentrennung. Abkürzungszeichen in Form eines waagrechten, in der Mitte mit einer kleinen Ausbuchtung nach oben (unsicher) versehenen Balkens (seit dem 10. Jh. vereinzelt, im 11. und 12. Jh. oft anzutreffen) über DNE (Z. 1 : DOMINE, frühchristlich). Symbolinvokation in Form eines lat. Kreuzes zu Beginn der Inschrift. E mit kurzen Querbalken, deren Dreiecksporen oben angehängt und unten aufgesetzt sind. M mit schräg gestellten Hasten und bis in die Buchstabenmitte gezogenem Mittelteil. N mit oben leicht eingerücktem Schrägbalken. R mit offener Rundung und einer Cauda, die einmal (Z. 1, erstes R) durchgebogen und einmal gerade (Z. 1, zweites R) bis zur Grundlinie gezogen ist. S mit starken Rundungen. T mit schmalem Deckbalken, dessen Dreiecksporen angehängt sind. - Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 41 f., 44: St-Maurice, 10./ll.Jh.; MEC I, Fig. XVI,3: Rom, a. 963; GRAY, The paleography, Nr. 159: Verona, a. 979. SCHRIFT:

Wie Kat.-Nr. 41 : St-Maurice, 10./11. Jh. Der Buchstabe E in Z. 3 dürfte zum Namen (cf. unten) des Verstorbenen gehören. FORMULAR UND INHALT:

[?]E... (Z. 3): Es ist nicht sicher, ob vor dem Buchstaben E, der auch ein F sein könnte, ein Buchstabe ausgefallen ist.

NAMEN:

DATIERUNG:

Wie Kat.-Nr.

LITERATUR: THEURILLAT,

120

41:

St-Maurice,

10./11.

Jh.

L'abbaye (1954) 92, Nr. 4b. -

SAUTER,

Préhistoire (1955) 23, Nr. 4.

44

EPITAPH DES PRIESTERS APPOLONIUS

10./11.JH.

ST-MAURICE, Abtei, Turmkapelle St. Michael, an der Ostwand, nahe der Südost-Ecke aufgestellt; Inv.-Nr. 43. - Taf. 25, Fig. 57-58. Fundumstände wie Kat.-Nr. 42; während jedoch J. Michel und P. Bourban um 1900 den Text am damals sichtbaren, heute dunkleren, oxydierten rechten Rand als unleserlich bezeichneten (cf. Lit. in: Kat.-Nr. 42), las COLLART, Inscriptions latines (1941) 72, Nr. 26b, der die Inschrift als möglicherweise römisch aufnahm: DN/MV/NII. Jurakalkstein; rechteckige (113 x 73 x 8 cm), grau-braune, im unteren Teil mehrfach gebrochene, an den Rändern mit Zement ausgebesserte (1948) Platte mit Hauptbruchstelle unten. Die ursprünglich polierte Oberfläche ist durch zahlreiche Absplitterungen, kleinere Risse und Löcher lädiert. Am rechten Rand ca. 22 cm breiter, dunkler Streifen, der den bei der früheren Vermauerung sichtbaren Teil der Platte darstellt. Inschrift in der unteren Plattenhälfte, parallel zu den Schmalseiten, in 4 Zeilen, deren unterste teilweise von der Bruchstelle erfaßt ist, ziemlich regelmäßig und schwach eingehauen; Bu. 9 cm.

+ MISEiyîHyï D(OMI)NE ANIMA FAMV LI TVI APPOLONII PR(ES)B(ITER)I ATQ(VE) SEÇD[? Erbarme dich, Herr, der Seele deines Dieners Appolonius, des Priesters und ... Z. 2: ANIMA statt A N I M A E oder ANIME, keine sprachlich mögliche Entstellung, sondern Fehler des Steinmetzen.

SCHRIFT: Ziemlich schlanke, gedrängte Kapitalis mit mäßiger Dreiecksporenbildung an Hasten- und Balkenenden. Keine Worttrennung, jedoch mit Wort- und Silbenschluß zusammenfallende Zeilentrennung. Waagrechte Abkürzungsbalken über DNE (Z. 1 : DOMINE), PRBI (Z. 4: PRESBITERI, beide seit frühchristlicher Zeit belegt) und SECD (Z. 4: unbestimmt). Abkürzungszeichen in Form eines Doppelpunktes neben ATQ : (Z. 4 : ATQVE, literarisch seit dem 8. Jh., epigraphisch seit dem 10. Jh. verbreitet). Ligaturen: zweimal RE (Z. 1), wobei der Buchstabe E die R-Cauda als Haste benützt, vereinzelt im 7.-8. Jh. (cf. Kat.Nr. 26 : St-Maurice, 7.-Anfang 8. Jh. ; dazu GRAY, The paleography, Nr. 38 : Cividale, 2. Hälfte 8. Jh.), vermehrt im 10.-11. Jh. anzutreffen (cf. HÜBNER, IHC, Nr. 276: Oviedo, a. 1048; DESCHAMPS, Etude, 23: Vienne, 2. Hälfte 11. Jh.; FAVREAU / MICHAUD, CIFM 1,1, Nr. 85, Fig. 40: Poitiers, 10./11. Jh.; R. FAVREAU, Les inscriptions de l'église de Saint-Savinsur-Gartempe. Cahiers de civilisation médiévale 19, 1976, Pl. III, Fig. 1,3; Pl. IV, Fig. 6: 11. Jh.). Eingeschriebene Buchstaben: I in L und O in L (Z. 3, seit der Antike belegt).

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Symbolinvokation in Form eines lateinischen Kreuzes zu Beginn der Inschrift. A mit waagrechtem Querbalken und ziemlich breitem Dreiecksporn oben. B mit größerer unterer Rundung und leicht eingerollten, von einander abstehenden und die Hastenmitte nicht berührenden Rundungsenden. C möglicherweise eckig (cf. zweitletzter Buchstabe der 4. Zeile). M mit schräg gestellten Hasten und bis in die Buchstabenmitte gezogenem, spitz zulaufendem Mittelteil. O oval. P mit unten geöffneter, leicht eingerollter Rundung. Q mit senkrecht im Buchstabenkörper aufsteigender Cauda. R mit offener, leicht eingerollter Rundung und an der Haste ansetzender, ziemlich stark nach außen gebogener, bis zur Grundlinie gezogener Cauda. - Verwandte Schriftdenkmäler: Kat.-Nr. 43: St-Maurice, 10./11. J h . ; GRAY, The paleography, Nr. 159: Verona, a. 979; MEC III, Fase. I, Fig. V I , 3 : Lucca, 10. Jh. SPRACHE

: Zu anima (Z. 2) cf. Anm. zum Text.

Wie Kat.-Nr. 41 : St-Maurice, 10./11. Jh. 1 - M I S E R E R E . . . F A M V L I T V I : cf. Kat.-Nr. 41; hier in der Reihenfolge miserere domine, 3 was der liturgischen Formel noch näher steht. 4 P R E S B I T E R I A T Q V E SECD (?): Standesbezeichnung (presbiter). SECD unklar; zu erwarten wäre etwa ein Titel (abbas) oder eine weitere Standesbezeichnung. Der unsichere Buchstabenbestand ( E vielleicht auch F ; C auch E oder F ; D auch B , P oder R) könnte als Wort in SEC(VN)D(VM) aufgelöst werden. Nicht auszuschließen ist SE(DVNENSIS) oder SED(VNENSIS), gefolgt von einer unbestimmten Amtsbezeichnung. FORMULAR UND INHALT:

NAMEN: Appolonius (auch Appollonius oder Apolonius), Personenname griechischen Ursprungs ; im Mittelalter ziemlich selten ; cf. MORLET, Les noms de personne II, 20a : Gallien, a. 848, 991, 9.-11. Jh. Im früh- und hochmittelalterlichen Wallis ist ein Träger dieses Namens sonst nicht bekannt. DATIERUNG:

Wie Kat.-Nr. 41 : St-Maurice, 10./11. Jh.

Inscriptions latines (1941) 72, Nr. 26b (Erstveröffentlichung, teilw.). Préhistoire (1950) 131, Nr. 24 (wiederholt Collart). - THEURILLAT, L'abbaye (1954) 92, Nr. 42 (Erstveröffentlichung). - SAUTER, Préhistoire (1955) 23, Nr. 3. L I T E R A T U R : COLLART, SAUTER,

122

45 BUCHDECKEL VON SITTEN LONDON,

Victoria and Albert Museum; Inv.-Nr.

UM 1000 567-1893.

- Taf.

26,

Fig.

59.

Spätestens seit dem 14. Jh. im Besitz des Domkapitels von Sitten; es ist ungeklärt, ob der Buchdeckel vorher in Sitten oder St-Maurice lag (cf. LEISIBACH, Schreibstätten, 18 f.). Im Jahre 1851 an den Genfer Antiquar Alexander Kuhn verkauft; über den Marquis de Ganay gelangte er im letzten Viertel des 19. Jhs. in die Collection Spitzer, w o er restauriert wurde. Seit 1893 am heutigen Standort (cf. STEENBOCK unter Lit.). Vorderdeckel eines um das Jahr 1000 geschriebenen Evangelistars (24,2 x 21 cm). Goldgetrieben, teilweise emailliert und cabochonbesetzt über erneuertem Holzkern (Buche); im vertieften, rechteckigen (10,3 x 6,4 cm) Zentralfeld thronende und segnende Maiestas D o mini, in Gold getrieben. Inschrift auf 4 Seiten, um das Zentralfeld laufend, von innen zu lesen, auf einem schmalen Emailband (0,9 cm) mit blauem Grund und grünem Rand, in weißem Email ausgelegt; fehlende Teile der Inschrift « » sowie ein verkehrt eingesetztes Bruchstück (Z. 3) sind anläßlich der Restauration in der Collection Spitzer (vor 1893) ergänzt, bzw. umgestellt worden; Buchstaben teilweise lädiert; Bu. ca. 0,5 cm.